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German Pages 147 [152] Year 1912
Wilhelm von Humboldts Forschungen über Ästhetik von
Hans aus der Fnente Dr. phil.
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Gießen 1912 Verlag von Alfred Töpelmann (vormals J. Ricker)
Philosophische Arbeiten herausgegeben von
Hermann Cohen und Paul Natorp in Marburg
in Marburg
IV. Band 3. Heft
Inhalt. Seite
A. Die Prinzipien
der
Ästhetik.
I. Historische E i n l e i t u n g ( K a n t und Schiller) II. D i e G e b u r t d e s K u n s t w e r k e s aus d e m
. . . .
Bewußtsein a) H u m b o l d t s I n d i v i d u a l i s m u s b) D e r B e g r i f f d e r S t i m m u n g a l s ä s t h e t i s c h e r Eros des Genies c) D a s W e s e n d e r E r k e n n t n i s d) D i e E i n b i l d u n g s k r a f t e) D a s I d e a l i s c h e a l s E i n h e i t und T o t a l i t ä t d e s ästhetischen Bewußtseins • f) D i e ä s t h e t i s c h e I d e e g) D a s S y m b o l d e s M e n s c h h e i t s g e f ü h l s . . . . III. D a s K u n s t w e r k als Inhalt des ästhetischen B e w u ß t seins a) D e r B e g r i f f d e r i d e a l i s c h e n S c h ö n h e i t . . . b) D a s W e r d e n d i e s e s B e g r i f f e s . D i e m ä n n l i c h e und w e i b l i c h e F o r m c) D i e F o r m d e s K u n s t w e r k e s a l s A u s d r u c k d e r künstlerischen Individualität d) D i e i n n e r e F o r m 1. Die Geschichte dieses Begriffes 2. Die innere Form- als das Gesetz des Kunstwerkes 3. Die innere Sprachform e) N a t u r u n d S i t t l i c h k e i t a l s S t o f f im K u n s t w e r k und als A u s d r u c k s m i t t e l d e r k ü n s t l e rischen Individualität B. D a s S y s t e m d e r
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ästhetischen 16 21 24 26 27 38 52
55 57 63 64 69 73 82
Künste.
I. D a s Prinzip d e r E i n t e i l u n g : s t i m m e n d e u n d b i l d e n d e Künste
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II. D i e K ü n s t e a) D i e P o e s i e 1. Das ästhetische Moment in der Sprache . . . . 2. Das stimmende und bildende Moment in der Sprache
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IV
— Seite
b) c) d) e) f)
3. Poesie und Prosa 101 4. Die Arten der Poesie: epische und lyrische Dichtung 106 5. Epos (und Roman) 106 6. Ballade, Tragödie, Idylle als Arten der lyrischen Poesie 113 7. Die Komödie 121 8. Schillers Gedankenlyrik 123 D i e Musik (und die T a n z k u n s t ) 126 Die Schauspielkunst 130 Die M a l e r e i 132 Die B i l d h a u e r k u n s t 138 Die B a u k u n s t 142
Häufiger abgekürzt zitierte Schriften. W i l h e l m v o n H u m b o l d t , G e s a m m e l t e S c h r i f t e n . Herausgegeben von der K g l . P r e u ß . A k a d e m i e d e r W i s s e n s c h a f t e n , Berlin 1904fr (Zitiert durch bloße Angabe des Bandes.) W i l h e l m v o n H u m b o l d t , G e s a m m e l t e W e r k e . Herausgegeben von K. B r a n d e s . Berlin 1841 ff. (Zitiert: Alte ges. W.) D i e s p r a c h p h i l o s o p h i s c h e n W e r k e W. v. H u m b o l d t s . Herausgegeben von H. S t e i n t h a l . Berlin 1883—84. (Zitiert: Steinthal.) A n s i c h t e n ü b e r Ä s t h e t i k und L i t e r a t u r von W. v. H u m b o l d t . S e i n e B r i e f e an Chr. G o t t f r . K ö r n e r (1793—1830). Herausgegeben von F . J o n a s . Berlin 1880. (Zitiert: An Körner.) B r i e f w e c h s e l z w i s c h e n S c h i l l e r und W i l h e l m von H u m b o l d t . 3. vermehrte Ausgabe von A. L e i t z m a n n . Stuttgart 1900. (Zitiert: An Schiller.) G o e t h e s B r i e f w e c h s e l mit W i l h e l m und A l e x a n d e r v o n Humb o l d t . Herausgegeben von L . G e i g e r . Berlin 1909. (Zitiert: An Goethe.) R. H a y m , W i l h e l m von H u m b o l d t . Lebensbild und Charakteristik. Berlin 1856. (Zitiert: Haym.) S c h i l l e r s s ä m t l i c h e W e r k e . S ä k u l a r a u s g a b e in 16 Bänden. Cotta. Stuttgart und Berlin. G o e t h e s s ä m t l i c h e W e r k e . J u b i l ä u m s a u s g a b e in 40 Bänden. Cotta. Stuttgart und Berlin.
A . Die Prinzipien der Ästhetik. I. Historische Einleitung (Kant und Schiller). Will man die Einheit und den Zusammenhang der Ideen, welche das deutsche Zeitalter der Humanität bewegten, gleichsam in einer geistigen Persönlichkeit vor Augen haben, so muß man sich in das Studium der Werke Wilhelm von Humboldts vertiefen. Durch persönliche Freundschaft mit Schiller, mit Goethe, mit überhaupt fast allen großen Denkern, Dichtern und bedeutenden Frauen jenes zum reinen Menschentume strebenden Zeitalters verbunden, dabei durch Charakter und "Veranlagung wie vom Schicksal bestimmt, auch unter entgegengesetzten Bestrebungen zu vermitteln und gemeinsame Güter und Interessen klarzulegen, wußte er durch die Eigenart seiner Natur auch fremden Ideen, indem er sie sich aneignete und durch die Fülle des eigenen Wissens und der eigenen Erkenntnis ergänzt aus sich erwachsen ließ, durchaus den Stempel seiner Persönlichkeit aufzudrücken. Der Boden, in welchem dabei sein Denken wurzelte, bildete die Philosophie Kants und Schillers. *) Es ist vor allen Dingen der Geist des Idealismus, welcher Humboldt jenen großen Männern eint. „Und am Ende sind wir ja beide Idealisten und würden uns schämen, uns nachsagen zu lassen, daß die Dinge uns formten und nicht wir die Dinge,4' schreibt Schiller am 2. April 1805 an Humboldt. Man muß daher mit dem Geiste dieses Idealismus vertraut sein, wenn man die Denkungsart und Gesinnung Humboldts, Ed. Sprangers Auffassung, als ob in «iner Periode SC1QCS Ent«wicklungsganges ScheJling von maßgebendem Einfluß auf Hmriboldts Denken gewesen sei, müssen wir ablehnte«. E s wird -darauf zurückzukommen s e i n . — Zar Kritik von Sprangers Humboldt-Interpretation vgl. auch das Vorwort G. v- Stryks zu seinem Buche „Wilhelm von Humboldts Ästhetik als Versuch einer Neubegründung der Sozialwissenschaft" (Berlin, 1-911), welches im übrigen aus dem Rahmen des hier gestellten Problems herausfällt. C o h e n und N a t o r p , Philosophische Arbeiten IV
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H. aus der Fuente, Humboldts ästhetische Forschungen.
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wenn man auch seine wissenschaftlichen und künstlerischen Leistungen richtig verstehen will. Insbesondere auf dem Gebiet der Ästhetik führt eine direkte Linie von Kant über Schiller zu Humboldt. Denn die eigenartige Richtung, welche Schiller der Kantischen Ästhetik gegeben hat, wird von Humboldt gleichsam bis in die äußersten Konsequenzen verfolgt. Beide freilich, Schiller und Humboldt, verharren im wesentlichsten auf dem Boden des transzendentalen Idealismus und der transzendentalen Methode. Aber sie benutzen diese namentlich, um mit ihrer Hilfe dem p s y c h o l o g i s c h e n Interesse gerecht zu werden, welches sie beseelt. Dies ist es, worin Humboldt Schiller noch überboten hat: die Grundbegriffe der Ästhetik hüllen sich in ein psychologisches Gewand, das Interesse der Ästhetik konzentriert sich zunächst auf das künstlerische Schaffen und Erleben. K a n t s transzendentale Methode richtete sich auf die Möglichkeit der Erfahrung. In den synthetischen Urteilen der mathematischen Naturwissenschaft liegt diese Erfahrung für das theoretische Erkennen vor. Das Sein der Dinge wurde nicht mehr nach Art eines oberflächlichen Sensualismus vorausgesetzt: die Kopernikanische Drehung vielmehr, deren sich Kant rühmt, kommt in der Erkenntnis zum Ausdruck, daß das Sein der Dinge in den Gesetzen des wissenschaftlichen Erkennens bewahrt und begründet ist. Wenn Kant nach der Möglichkeit der Erfahrung fragt, so geschieht es in dem Sinne des obersten Grundsatzes: „Die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung sind zugleich die Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung." Auf dem Gebiete der sittlichen Kultur wußte freilich Kant dem Faktum der Wissenschaft kein gleichwertiges zur Seite zu stellen, weil er in der Erkenntnis des wechselseitigen Verhältnisses von Recht und Sittlichkeit nicht bis zur Klarheit durchdrang. Das Faktum der Wissenschaft wurde hier durch das Quasi-Faktum des Sittengesetzes ersetzt. Das Genie Kants, die Fruchtbarkeit seiner Methode bewirkte dennoch, daß die Grundlegung der Sittlichkeit im wesentlichen nicht verfehlt wurde. In der Ethik handelt es sich nicht um die zufällige Wirklichkeit der Natur, sondern um das Seinsollen der Idee. Die Idee aber ist die Idee der Menschheit. Der kategorische Imperativ bringt es zum Ausdruck als die sittliche Aufgabe: in jedem Menschen die Idee der Menschheit zu achten, jeden Menschen als Selbstzweck zu behandeln. Indem so von Kant die Idee der Menschheit in den Mittelpunkt des Systems gestellt wurde, ist seine Philosophie in der Tat die Philosophie
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der Humanität. Wenn aber das Sein der Menschen in der Idee der Menschheit verankert wurde, so durfte darunter nicht die Erkenntnis der Diskrepanz zwischen Idee lind Wirklichkeit leiden. Die Idee erscheint nicht: diese tiefe Einsicht hat Kant mit Piaton gemein. Allein schon Piaton sprach anders von der Idee des Schönen als von der Idee des Guten. Die Idee des Schönen spricht zu uns aus den Werken der Kunst und aus der Anmut und E r habenheit der Natur. So hat sich der transzendentalen Methode ein neues Gebiet erschlossen in der Frage: Wie ist Schönheit möglich? wie ästhetisches Sein? Auch dieser Frage gegenüber erweist sich der Sensualismus alle Zeit unfähig. Auch hier bewährt sich der Satz Kants, daß wir nur das in den Dingen a priori erkennen können, was wir selbst in sie hineingelegt haben. J a , dieser Satz gewinnt hier scheinbar eine noch konkretere Bedeutung. Die wissenschaftliche Erkenntnis sucht ihr Ziel gerade in der Ausschaltung des Individuums: die Grundbegriffe der Wissenschaft, die Kategorien und die reinen Anschauungsformen sind nicht angeborene Ideen des Subjekts; sie sind vielmehr reine Erzeugnisse des objektiven wissenschaftlichen Denkens. In der Kunst dagegen kann das Individuum nicht in gleichem Maße ausgeschaltet werden: „Schöne Kunst ist Kunst des Genies" hatte Kant gesagt. Freilich wollte er damit nicht genialischer Willkür und Laune Tür und T o r öffnen, vielmehr muß auch das Subjekt des Künstlers durch sein Werk und in seinem Werke objektiv werden. E s ist eben der Künstler und sein Genie, was sich in seinem Werke ausspricht. Das Objektivwerden aber bedeutet auch hier die Darstellung eines allgemeingültigen menschlichen Inhaltes. Schiller hatte sich lange mit dem Problem eines objektiven Kriteriums des Geschmackes und des Schönen abgemüht. Aber j e weiter er in die Materie eindrang und je mehr er sich in das Studium der Kantischen Philosophie vertiefte, desto deutlicher wurde es ihm, daß seine Fragestellung verfehlt war. „Um zu unterscheiden, ob etwas schön sei oder nicht, beziehen wir die Vorstellung nicht durch den Verstand auf das Objekt zum Erkenntnisse, sondern durch die Einbildungskraft (vielleicht mit dem Verstände verbunden) auf das Subjekt und das Gefühl der Lust oder Unlust d e s s e l b e n . " D a h e r muß das Kriterium im Subjekt, nicht im Objekt gesucht werden: Schön') Kritik der Urteilskraft § 1.
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heit ist flicht eine Eigenschaft des Objekts, sondern eine Beschaffenheit des Subjekts. Daher hatte Kant die Schönheit in die Angemessenheit an das Vorstellungsvermögen gesetzt. Schönheit ist „subjektive Zweckmäßigkeit ohne objektiven Zweck," schön ist ein Gegenstand, wenn er Unsere ErkenntnisVermögen (Verstand und Einbildungskraft) in ein harmonisches Spiel versetzt und so ästhetische Lust erweckt; und nur auf Grund dieser subjektiven formalen Zweckmäßigkeit Urteilt der Geschmack über das Schöne. Der Gedanke der Zweckmäßigkeit mußte bei Kant dazu dienen, das Reich der Naturorganismen mit dem der Schönheit zü verbinden; und diese Seite der Kantischen Kritik der Urteilskraft war es vornehmlich, welche G o e t h e für Kant gewonnen hätte. Goethe schaute die Natuf in erster Linie als Künstler, d. h. er sah ästhetische Natur, und so war bei ihm die Verbindung jener Reiche in der Tat noch eine engere als bei Kant. Denh die objektive Zweckmäßigkeit der Natur, welche Kant den Organismen zuschrieb, war durch das Moment der begrifflichen Verstandeserkenntnis doch schärfer von dem subjektiven Prinzip der Zweckmäßigkeit des Schönen geschieden, als es für Goethe, den Künstler, den Anschein haben mochte. Andererseits war es gerade Goethe, welcher hier eine tiefe und fundamentale Einsicht Kants erkannte und pries: daß es sich in der Schönheit und in der Kunst nicht um begriffliche Erkenntnis, nicht um das Mitteilen und Erkennen von begrifflichen Wahrheiten handelt, sondern daß das Kunstwerk, obgleich es der Begriffe nicht entbehren kann, doch für den Verstand immer ein Inkommensurables bleibt. 1 ) Der Künstler stellt ästhetische Ideen dar: „unter einer ästhetischen Idee aber verstehe ich diejenige Vorstellung der lEmbildungskräft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d. i. Begriff ädaequät sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann." 2 ) In zwei Punkten forderte Kants Lehre vom Schönen zu einer Fortbildung heraus, weil sie den eigenen Prinzipien des Systems nicht entsprach. Die Kritik der Urteilskraft sollte vermitteln zwischen dem Verstand als dem theoretischen und der Vernunft als dem praktischen Erkenntnisvermögen; das Reich der Schönheit sollte die Brücke schlagen vom Reiche der Sitt') Vgl. das Gespräch mit Eckermann vom 6. Mai 1827. *) Kritik der Urteilskraft, § 49.
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lichkeit zu dem der Natur. Wenn aber Kant jene Harmonie der Vermögen, auf welche er den Begriff der Schönheit zurückführte, wiederum einschränkte auf das Verhältnis des Verstandes und der Einbildungskraft zueinander, so war eben damit die subjektive Wurzel der Schönheit ganz und gar in den Bereich der Natur verlegt; die Sittlichkeit, der Wille kamen nicht zu ihrem Recht. Aber bewegen die sittlichen Probleme etwa den Künstler nicht? Geht das sittliche Verlangen der Menschheit und ihre Sehnsucht nach dem Göttlichen nicht ein in das Kunstwerk, wie es einen Sitz hat in der Seele des Künstlers? Und wird nicht durch diese Vernachlässigung jene Totalität des Seins wieder zerrissen, welche das Schöne als Mittelglied zwischen dem Guten und dem Wahren garantieren sollte? Freilich suchte Kant dem Mangel wieder abzuhelfen, da ihm das Schöne zum „Symbol des Sittlichguten" wurde. Allein so tritt eine fremde, ethische Souveränität dem ästhetischen Bewußtsein gegenüber, sodaß es das Sittliche nur nachzuahmen hat, statt daß es auf dem Boden der praktischen wie der theoretischen Erkenntnis zur Erzeugung eigenen Inhaltes erwüchse. In der Analytik des Erhabenen nun gar mußte sich der Fehler noch stärker bemerkbar machen. Das Erhabene geriet bei Kant fast in einen Gegensatz zum Schönen; denn während dieses in der Angemessenheit an unser Erkenntnisvermögen seinen Grund hat, so heißt es vom Erhabenen: „Es trifft nur Ideen der Vernunft, welche, obgleich keine ihnen angemessene Darstellung möglich ist, eben durch diese Unangemessenheit, welche sich sinnlich darstellen läßt, rege gemacht und ins Gemüt gerufen werden." 1 ) Sicherlich hat auch hier der Fehler einen Zusammenhang mit einer ästhetischen Wahrheit; denn es ist wenigstens eine der Untersuchung würdige Frage, ob nicht im Erhabenen eine regere Anteilnahme des praktischen Vermögens angenommen werden darf: eine Frage, welche bekanntlich von Schiller im wesentlichen bejaht worden ist. Allein aus den Prinzipien Kants selbst ergibt sich, daß die Entgegensetzung verfehlt sein muß. Soll das Erhabene noch Anspruch auf den Namen eines ästhetischen Zustandes erheben können, so darf es unmöglich jener Harmonie der Erkenntnisvermögen widersprechen. Niemand wohl hat die Grundgedanken der Kantischen Philosophie so rein und tief erfaßt, niemand sie in so genialer Weise für die Ästhetik fruchtbar gemacht wie S c h i l l e r . E s •>) Kritik der Urteilskraft § 23.
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kann nicht unsere Aufgabe sein, hier die Entwicklung der Schillerschen Ästhetik zu verfolgen, wie sie sich namentlich in den Vorarbeiten zu seinen akademischen Vorlesungen und im mündlichen und schriftlichen Gedankenaustausch mit Körner, Goethe und Humboldt vollzogen hat. In der Darstellung der Ästhetik Humboldts wird insbesondere auf den Briefwechsel mit Schiller Rücksicht zu nehmen sein. Hier aber kann es uns nur darauf ankommen, die Grundzüge von Schillers Ästhetik nach dem Inhalt seiner ästhetischen Hauptwerke soweit in Erinnerung zu bringen, als ihre Kenntnis zum Verständnis der Ästhetik Humboldts notwendig ist. Es kommen da in erster Linie die „Briefe über die ästhetische Erziehung", die Schrift „Über naive und sentimentalische Dichtung" und die Abhandlung „Über Anmut und Würde" in Betracht; wie sich denn die Wichtigkeit, die Humboldt selbst diesen Schriften beimaß, schon zur Genüge erkennen läßt aus einer Stelle in der „Vorerinnerung" Humboldts zu seinem Briefwechsel mit Schiller: „. . . über den Begriff der Schönheit, über das Ästhetische im Schaffen und Handeln, also über die Grundlagen aller Kunst, so wie über die Kunst selbst enthalten diese Arbeiten alles Wesentliche auf eine Weise, über die es niemals möglich sein wird, hinauszugehen." In allen diesen Werken zeigt sich der selbstdenkende Schüler Kants. Man kennt sein unumwundenes Bekenntnis zur Kantischen Philosophie, welches er gleich im ersten Brief über die ästhetische Erziehung ablegt: Die Kantischen Grundsätze vertreten die verjährten Ansprüche der gemeinen Vernunft und die Tatsachen des moralischen Instinktes, über seine Ideen mögen zwar die Philosophen streiten, aber die Menschen sind im Grunde genommen über sie doch nie uneinig gewesen. Neben dem Einflüsse Kants ist indessen auch der Fichtes überall sichtbar. Ja, man darf wohl sagen, daß Fichte zum Teil mit bestimmend war für die besondere Wendung, welche die Kantischen Ideen bei Schiller nach Seite der Psychologie nehmen. Vom Menschen der Erscheinung unterscheidet Schiller den Menschen der Idee. Der Mensch der Idee kann nicht in der Isolierung begriffen werden: er ruht seiner Natur nach in der Allgemeinheit der Menschheit, und die Art, wie er in die Erscheinung tritt, ist der Staat. Die empirische Menschheit zeigt, wie die Natur überhaupt, Mannigfaltigkeit; die Idee der Menschheit dagegen dringt auf Einheit. Diese herzustellen ohne jene ) S. 13.
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zu verletzen, muß die Aufgabe des wahren Vernunftstaates sein. Die Erfahrung zeigt dergleichen nicht; Schiller gibt hier jene meisterhafte Charakteristik der Kultur seiner Zeit und der Entwicklung bis zu diesem Zustande, welche wir hier nicht ausführlich wiederholen können. E s ist aber darauf aufmerksam zu machen, wie eine solche Betrachtungsart dem Interesse und der Veranlagung Humboldts entgegenkam. Dies ist immer, wie wir noch sehen werden, eins der Hauptprobleme gewesen, welche Humboldt sein ganzes Leben lang beschäftigt haben: die allgemeine Charakteristik des Geistes der Geschichte, der Nationen und Zeitalter. E s ist vornehmlich die Zersplitterung der menschlichen Seelenkräfte, wodurch sich unser Zeitalter von früheren unterscheidet. Die Totalität des menschlichen Charakters ist verloren gegangen; dem Idealbegriff des Menschen nach müßten im Individuum wie in der Nation alle Seelenkräfte harmonisch entwickelt sein. Heute gehen die Menschen gleichsam als Bruchstücke der Menschheit durchs Leben. Es genügt aber nicht, die Einsicht der Tatsächlichkeit unserer gegenwärtigen Lage zu haben; man muß vielmehr erkennen, daß es sich hier um einen notwendigen Durchgangszustand in der Entwicklung der Kultur handelt; einen Durchgangszustand: das Ziel kann nur in der Entfaltung der Totalität des Charakters liegen. E s gab eine Zeit, in der der Mensch jene verlorengegangene Harmonie besaß, in der die sinnliche und die vernünftige Natur des Menschen zu einem harmonischen Ganzen verschmolzen. Aber diese Totalität des Charakters war auf jener früheren Stufe nur deswegen möglich, weil die Idèe der Menschheit gleichsam verendlicht war. Das Ideal des Menschen war hier ein geringeres, aber darum wurde es auch um so vollkommener erfüllt. E s sind die Griechen, an welche Schiller hier vornehmlich denkt. „Die Griechen beschämen uns nicht bloß durch eine Simplizität, die unserem Zeitalter fremd ist, sie sind zugleich unsere Nebenbuhler, ja oft unsere Muster in den nämlichen Vorzügen, mit denen wir uns über die Naturwidrigkeit unserer Sitten zu trösten pflegen. Zugleich voll Form und voll Fülle, zugleich philosophierend und bildend, zugleich zart und energisch sehen wir sie die Jugend der Phantasie mit der Männlichkeit der Vernunft in einer herrlichen Menschheit vereinigen. Damals, bei jenem schönen Erwachen der Geisteskräfte, hatten die Sinne und der Geist noch kein strenge geschiedenes Eigentum; denn noch hatte kein Zwiespalt sie gereizt, miteinander feindlich abzuteilen und ihre Markung zu bestim-
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m e n . " E s ist die Harmonie zwischen Vernunft und Sinnlichkeit, auf welcher jene Totalität des griechischen Charakters beruhte. Mit dieser Auffassung des Griechentums kommt Humboldt durchaus überein und hat sie fortgebildet, indem er besonders dem Gedanken nachgeht, daß die mangelnde Simplizität und Einheitlichkeit der Moderne ihre positive Kehrseite in der feineren Differenzierung des Gefühlslebens habe. Schiller zeigt dann weiter, wie die Kultur selbst diese schöne Einheit und Harmonie der Antike zerreißen mußte: denn nur, indem der einzelne eine Fähigkeit gesondert ausbildete, konnte die Gesamtheit sich einem höheren Ideal annähern. Das letzte Wort aber kann mit dem, was heute erreicht ist, nicht gesprochen sein. Mag immerhin in der Erscheinung des Ganzen eine größere Totalität erreicht sein, so ist sie doch erreicht auf Kosten des Individuums. Es muß falsch sein, daß die Ausbildung der einzelnen Kräfte das Opfer ihrer Totalität notwendig macht; „oder wenn auch das Gesetz der Natur noch so sehr dahin strebte, so muß es bei uns stehen, diese Totalität in unserer Natur, welche die Kunst zerstört hat, durch eine höhere Kunst wieder herzustellen." 2 ) Der wirkliche Staat, so wie er heute zufällig ist, ist ja nun aber gerade mit allen Mängeln behaftet, welche wir an unserem Zeitalter zu tadeln fanden; und der Vernunftstaat der Idee ist noch nicht wirklich. Ehe an seine Errichtung gedacht werden kann, müßte der menschliche Charakter schon im Besitz jener Totalität sein, die wir vermissen. Und hier nun sieht Schiller die Aufgabe der ästhetischen Erziehung: die Schönheit und die Kunst müssen den Menschen erst reif machen für den Vernunftstaat. Man kann diesem Gedankengang nicht dadurch widersprechen, daß man sich auf angeblich widerstreitende Erfahrung beruft. Der Begriff der Schönheit, von dem hier die Rede ist, setzt einen anderen Quell, als die Erfahrung ist, voraus: er ist ein reiner Vernunftbegriff, der nur auf dem Wege der Abstraktion gesucht und schon aus der Möglichkeit der sinnlich-vernünftigen Natur des Menschen gefordert werden kann. „Mit einem W o r t : die Schönheit muß sich als eine notwendige Bedingung der Menschheit aufzeigen lassen." 3 ) In den Kalliasbriefen wurde die Schönheit definiert als „Freiheit in der Erscheinung": nach Analogie des ethischen soll das ästhetische Bewußtsein autonom sein, das Kunstwerk soll sich nur aus eigenen Gesetzen bestimmen. So spricht *) 6. Brief.
2
) Ende des 6. Briefes.
3
) Ende des 10. Briefes.
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Schiller von „Form der Form" und von „innerer Notwendigkeit der Form", die „im eigentlichsten Sinne zugleich selbstbestimmend und selbstbestimmt sein muß". Fragen wir aber nach der Gesetzlichkeit selbst, die im Kunstwerk walten soll, so findet sich, daß Schiller im Grunde auf Kants Gedanken vom Schönen als Symbol des Sittlichguten fußt. 1 ) Ebenso wird dann die Unterscheidung von „Anmut und Würde", die auf Kants Einteilung in „schön" und „erhaben" beruht, wesentlich auf e t h i s c h e Verhältnisse gegründet. In dieser starken Inanspruchnahme des Ethischen für das ästhetische Problem bekundet sich die Einsicht, daß jedenfalls die Einschränkung auf das Spiel von „Einbildungskraft und Verstand" nicht hinreichend ist; aber die Formulierungen Schillers stellen in Überspannung dieses ethischen Momentes andererseits die eigene Gesetzlichkeit des Ästhetischen in Frage. In den Briefen über die ästhetische Erziehung finden wir nun die Tendenz diese Klippe zu umgehen. Zunächst kommt wiederum das Ethische durchaus zur Berücksichtigung : der Stofftrieb im Menschen dringt „auf Realität des Daseins" und zwar „auf Inhalt unserer Erkenntnis u n d auf einen (endlichen) Zweck unsers Handelns"; ebenso der Formtrieb „auf Wahrheit und auf Recht", er gibt „Gesetze für jedes Urteil, wenn es Erkenntnisse, Gesetze für jeden Willen, wenn es Taten betrifft". 2 ) Es soll nun der Spieltrieb die ästhetische Hervorbringung charakterisieren, die in einer Wechselwirkung zwischen dem auf das Endliche gehenden Stofftrieb und dem auf das Unendliche dringenden Formtrieb bestehe. Der Spieltrieb läßt das Schöne hervorgehen als „Gleichgewicht der Realität und der Form." 3 ) Der Gegenstand, der diese Anschauung dem Menschen verschafft, „würde ihm zu einem Symbol seiner ausgeführten Bestimmung, folglich . . zu einer Darstellung des Unendlichen dienen". Es wird wieder durchsichtig, wie das eigentliche Schwergewicht auf dem „Unendlichen", auf der logisch-ethischen „Form" liegt. So heißt es auch: der empfangende Stofftrieb soll so empfangen, wie der Formtrieb hervorbringen würde; der Formtrieb so hervorbringen, wie der Sinn empfangen hätte; dann sind beide eins geworden, sind Spieltrieb. 4 ) Die erzeugende Form ist dabei aber die des Formtriebes selbst geblieben. Der gleiche Einwand muß sich erheben, wenn — im übrigen treffend — gesagt wird, der Stoff müsse durch die Form „vertilgt" werden. Das Ästhetische wird ') Vgl. auch O. Walzel, Einleitung zu Bd. 11 der Säkularausgabe. 3) Brief 16. Brief 12. *) Brief 14.
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nicht eindeutig als eine neue, ü b e r dem Moralischen und dem Naturhaften sich erhebende Bewußtseinsform begriffen. 1 ) Und zwar, wie Schillers ästhetische Reflexion überhaupt erwuchs aus dem Drange Klarheit zu gewinnen über die Stellung seines Dichterberufes zur Aufgabe der Menschheit, und seine Ästhetik unter dem Gesichtspunkte der „Erziehung" steht, so haftet dem Formtrieb wesentlich die Richtung aufs Moralische an; daher ist denn auch sein Erzeugnis die „Person". So bleibt schließlich die ästhetische Form eine moralische: der Standpunkt des Briefwechsels mit Körner wird nicht prinzipiell überwunden. Es ist nicht zu einer durchgreifenden Abgrenzung des ästhetischen Gebietes gegen das der Natur und das der Sittlichkeit gekommen bei Schiller. Im Verfolg der Ideen der klassischen Ästhetik hat zuerst Herrn. Cohen in seinem Buche: „Kants Begründung der Ästhetik" die systematische Herausarbeitung und Fixierung des ästhetischen Problems vollzogen. Die Formen der beiden ersten Glieder des philosophischen Systems müssen für das ästhetische Bewußtsein zum bloßen Stoff herabsinken, um aus einer neuen Form heraus den ästhetischen Gegenstand zur Erzeugung zu bringen. So hat die Ästhetik eine selbständige Methode gewonnen. Auf dieser Grundlage ist auch vorliegende Untersuchung über die Ästhetik Humboldts aufgebaut. — Es gilt zunächst noch einige Gedanken Schillers, an welche Humboldt sich angeschlossen hat, zu entwickeln. Ganz im Einklang mit der oben vertretenen Auffassung von Schillers Formtrieb stehen seine weiteren Ausführungen. Der sinnliche Trieb steht durchaus unter der Notwendigkeit der Natur, so wie der Formtrieb unter dem Gesetz der Freiheit steht. Jener hat als Gegenstand das „Leben", dieser die „Gestalt", demnach wird der Gegenstand des Spieltriebes „lebende Gestalt" heißen können; und in ihr sieht Schiller, was man in weitester Bedeutung Schönheit zu nennen pflegt. In dem Ideal, wie es die griechischen Götter darstellen, gewinnt diese Schönheit vollkommnen Ausdruck. „Sowohl der materielle Zwang der Naturgesetze als der geistige Zwang der Sittengesetze verlor sich in ihrem höhern Begriff von Notwendigkeit, der beide Welten zugleich umfaßte, und aus der *) diesem endlich Sprung
Deutlich geht dies auch aus Stellen hervor wie folgende: »Von Spiel der freien Ideenfolge ( = „freien Bilderstromes"), . . . macht die Einbildungskraft in dem Versuch einer freien Form den zum ästhetischen Spiel." (Brief 27.)
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Einheit jener beiden Notwendigkeiten ging ihnen erst die wahre Freiheit hervor. Beseelt von diesem Geiste, löschten sie aus den Gesichtszügen ihres Ideals zugleich mit der Neigung auch alle Spuren des Willens aus, oder besser, sie machten beide unkenntlich, weil sie beide in dem innigsten Bund zu verknüpfen wußten." Vorgreifend sei schon bemerkt, wie mit derartigen Betrachtungen auch Humboldts Ideal einer übergeschlechtlichen reinen Menschheit verwandt ist. Entsprechend war im Aufsatz „über Anmut und Würde" der Charakter der „schönen Seele" geschildert. „Eine schöne Seele nennt man es, wenn sich das sittliche Gefühl aller Empfindungen des Menschen endlich bis zu dem Grad versichert hat, daß es dem Affekt die Leitung des Willens ohne Scheu überlassen darf und nie Gefahr läuft, mit den Entscheidungen desselben im Widerspruch zu stehen." 2 ) Hier ist also jene Harmonie zwischen Sinnlichkeit und Vernunft erreicht. Nicht weiter wollen wir hier in die Analyse der Schrift eindringen. Hingewiesen muß aber darauf werden, wie jene Totalität des Charakters, die im Begriff der schönen Seele vorausgesetzt wird, auch hier als ein Eigentum der Griechen erscheint. Es ist die Menschheit allein, in die der Grieche alle Schönheit und Vollkommenheit einschließt. „Nie darf sich ihm die Sinnlichkeit ohne Seele zeigen, und seinem humanen Gefühle ist es gleich unmöglich, die rohe Tierheit und die Intelligenz zu vereinzeln. Wie er jeder Idee sogleich einen Leib anbildet und auch das Geistigste zu verkörpern strebt, so fordert er von jeder Handlung des Instinkts an dem Menschen zugleich einen Ausdruck seiner sittlichen Bestimmung. Dem Griechen ist die Natur nie b l o ß Natur: darum darf er auch nicht erröten, sie zu ehren; ihm ist die Vernunft niemals b l o ß Vernunft: darum darf er auch nicht zittern, unter ihren Maßstab zu treten." 3 ) Namentlich für das Verständnis des Humboldtschen Aufsatzes „Über die männliche und weibliche Form" sind diese Gedanken von Wichtigkeit. ') E n d e des 15. Briefes. Säkularausgabe Bd. 11 S. 221. Man vergleiche mit dieser Schilderung etwa folgende Stelle aus Humboldts „Rezension von Jakobis W o l d e mar": „ E s ist sogar unleugbar ein höherer Grad der T u g e n d , wenn die Ausübung der Pflicht selbst zur Gewohnheit wird, wenn sie in das W e s e n der sonst entgegenstrebenden Neigungen übergeht und nicht jede pflichtmäßige Handlung erst eines neuen K a m p f e s bedarf." I, 298—299. Am Primat der praktischen Vernunft ist dennoch, wie dort an vielen Stellen s ) Ib. S. 184. ausgesprochen ist, festgehalten. J)
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H. aus der Fuente, Humboldts ästhetische. Fqrschungen.
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In der Schrift „Über naive und sentimentaüsche Dichtung" suchte Schiller eine Anwendung seiner ästhetischen Prinzipien auf das Gebiet der Poesie zu geben. Kant hatte definiert 1 „Genie ist die angeborene Gemütsanlage (ingenium), durch welche die Natur der Kunst die Regel g i b t . " A u c h Schiller geht van einer Analyse des Geniebegriffes aus. Man kann leicht darin die von Kant aufgestellten Grundzüge wiedererkennen. Als eine charakteristische Eigenschaft des Genies wird seine Naivität behauptet. Naiv ist die Natur, wo sie die Kunst beschämt. Es ist die Natur, welche aus dem Genie heraus wirkt. Nur muß die wirkliche von der wahren Natur unterschieden werden. 2 ) Die reine menschliche Natur ist nicht identisch mit der zufällig wirklichen. „Solange der Mensch noch reine, es versteht sich, nicht rohe Natur ist, wirkt er als ungeteilte sinnliche Einheit und als ein harmonierendes. Ganze. Sinne und Vernunft, empfangendes und selbsttätiges Vermögen, haben sich in ihrem Geschäfte noch nicht getrennt, viel weniger stehen sie im Widerspruch miteinander." 3 ) Es ist, wie man sieht, der Begriff der schönen Seele, welcher hier unter der Bezeichnung der wahren menschlichen Natur wiederkehrt. E s mag hier schon als für die ganze Ästhetik Humboldts von größter Bedeutung hervorgehoben werden, wie grundlegend ihm die Verbindung des Geniebegriffes mit dem der Menschheit als wahrer Natur erschien. E r schreibt über Schillers Schrift: „Was ich aber für das größeste Verdienst Ihrer Arbeit halte, und was ich am meisten daran bewundert habe, ist daß Sie die Verschiedenheit der Dichter so unmittelbar aus dem möglichen Umfange des dichterischen Genies, und diesen selbst geradezu aus dem Begriff der Menschheit ableiten." 4 ) Nach Schillers Definition ergibt sich so der Unterschied zwischen naiver und sentimentalischer Dichtung: der naive Dichter ist Natur, der sentimentaüsche sucht die verlorene. Der naive Dichter ist Natur, d. h. die wahre, menschliche Natur handelt aus ihm heraus in ungebrochener naiver Einheit. Freilich muß das Ideal der Menschheit selbst hier eingeschränkt sein; denn dieses kann seiner Natur gemäß nie restlos erscheinen. Da nun jede Poesie, sofern sie diesen Namen wahrhaft verdienen soll, einen unendlichen Gehalt haben muß, so ') Kritik der Urteilskraft § 46. 2
) Vgl. Säkularausgabe Bd. 12, 233.
«) An Schiller S. 247.
•) ibid. 187—188.
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kann dieser bei der naiven Poesie nicht in der Materie, welche eine beschränkte ist, sondern nur in der Form gesucht werden, „sie kann ein Unendliches sein der Form nach, wenn sie ihren Gegenstand mit a l l e n s e i n e n G r e n z e n darstellt, wenn sie ihn individualisiert." *) So erreicht der naive Dichter seinen Gegenstand vollständiger, aber sein Gegenstand ist kleiner als der des sentimentalischen. Dieser sucht die Natur, d. h. jene Harmonie der Seele, aber er sucht sie auf einer höheren Stufe: sein Gegenstand ist durch die Entfernung aller Grenzen ins Unendliche gewachsen. Jener wirkt durch eine absolute Darstellung, dieser durch eine Darstellung des Absoluten. Die Zweifel, welche Humboldt gegen einen Punkt dieser Charakterisierung erhoben hatte, sind nicht ganz unberechtigt: soll die Poesie Homers nicht auch der Materie nach ein Unendliches enthalten? Es entspricht dem Grundgedanken Schillers selbst durchaus nicht, wenn Humboldt den Zustand des Naiven darin sehen will, daß „wir noch nicht die beschränkte Wirklichkeit von dem unendlichen Ideal durch Reflexion zu trennen gelernt haben, in welchem die Menschheit in uns noch ein harmonier rendes Ganze ausmacht, und wir daher eben diese Harmonie auch in der Natur 2u sehen vermeinen". „Der sentimentalische Dichter unterscheidet sich durch die Absonderung des Ideals von der Wirklichkeit." s ) Man kann sich Humboldts Erwägung daraus entspringend denken, daß auch auf der unteren Stufe des Naiven die Poesie „der Menschheit ihren möglichst vollständigen Ausdruck" geben solle, und daß diese auch hier nicht des Strebens zur Idee unteilhaftig tu denken sei. 3 ) Freilich mag sich dann auf der Stufe bewußter Sonderung von Ideal und Wirklichkeit die Möglichkeit des Strebens nach einer höher stehenden Vereinigung ergeben. Zweifellos hatten sonst gerade in dieser Richtung Humboldts Reflexionen fördernd auf Schiller eingewirkt und eine Selbstbesinnung auf den Eigenwert des modernen Geistes in ihm herbeigeführt. Der Begriff des Idealischen kehrt in einem ähnlichen Sinne, wie er hier gebraucht ist, bei Humboldt wieder. Die sich in dieser Abhandlung findende Unterscheidung der musikalischen und plastischen Poesie spielt auch in Humboldts Ästhetik eine wesentliche Rolle. Hiervon wird später noch ausführlicher zu handeln sein. Ebenso ist noch hervorzuheben, wie Schiller den Beruf zu einer be2 ') Säkularausgabe Bd. 12, 225. ) An Schiller S. 248. ) Zu dieser ganzen Schwierigkeit vgl. oben S. -9—10.
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stimmten Dichtungsart von dem Charakter des Dichters abhängig macht. So ist z. B. die strafende Satire Sache der erhabenen Seele, die scherzhafte das Anliegen eines schönen Herzens. Gelegentlich kommt Schiller auch auf den Unterschied zwischen Tragödie und Komödie zu sprechen. Nachdem er in früheren Abhandlungen über die tragische Kunst auf den Zusammenhang der Begriffe des Erhabenen und des Tragischen ausführlich eingegangen war, wird hier der Gegenstand auch mehr von Seiten des ästhetischen Subjektes erwogen. Und dies ist eben auch die Seite, welche Humboldt immer am meisten gefesselt hat. Die Komödie, heißt es hier, hat die Aufgabe, die innere Harmonie und Freiheit des Gemütes in uns hervorzubringen und zu nähren; die Tragödie ist bestimmt, die Gemütsfreiheit, wenn sie durch einen Affekt gewaltsam aufgehoben worden, auf ästhetischem W e g wieder herstellen zu helfen. „In der Tragödie muß daher die Gemütsfreiheit künstlicherweise und als Experiment aufgehoben werden, weil sie in Herstellung derselben ihre poetische Kraft beweist; in der Komödie hingegen muß verhütet werden, daß es niemals zu jener Aufhebung der Gemütsfreiheit komme." 1 ) Eben deswegen urteilt Schiller, daß die Komödie schwieriger sei als die Tragödie. Die Tragödie erweckt schon durch ihren Gegenstand allein viel Interesse; in der Komödie hingegen ist gleichsam die Person des Dichters ausschlaggebend. „Den tragischen Dichter trägt sein Objekt, der komische hingegen muß durch sein Subjekt das seinige in der ästhetischen Höhe erhalten." 2 ) — Die Bedeutung der Ästhetik Schillers für Humboldt läßt sich im wesentlichen dahin bestimmen, daß durch ihn die Philosophie Kants in einer Weise zubereitet wurde, welche es Humboldt ermöglichte, sie auf den Gebieten anzuwenden und für die Interessen zu verwerten, die seine eigensten wurden. Die Kant-Schillerschen Begriffe sind durchaus notwendige Konstituentien in Humboldts Entwicklungsgang. Diesen aber muß man zuvörderst unter dem Gesichtspunkte des Telos in Erwägung ziehen. Bei Humboldt mag dies um so mehr geboten scheinen, als ihm in hoher Annäherung zu teil wurde, was er einst so ausdrückte in einem Briefe an Schiller: „Des Menschen natürliches Ende wäre doch nur Erfüllung seines Kreises." 8 ) Und man muß mit Steinthal sagen, „daß, wenn man bei Humboldts Vielseitigkeit fragt: was er war? man ruhig antworten Säkularausgabe Bd. 12, 198.
2)
Ib. 197.
3)
An Schiller S. 155.
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kann: Sprachforscher." 1 ) J e mehr es offenkundig ist, daß die Sprachphilosophie bei Humboldt seinem höchsten Lebensziele, welches mit dem Namen der Humanität charakterisiert werden kann, untergeordnet ist, um so mehr dürften alle seine früheren Arbeiten nur ihre rechte Beleuchtung empfangen, wenn man die Vollendung der Entwicklung Humboldts, wie sie sich an seinem Geiste erst i n der Formung des Sprachproblems wirklich vollzog, weitgehend berücksichtigt. E s scheint unmöglich, daß aus der Betrachtung der Forscherarbeit, die Humboldt an diesem konkreten Stoff leistete, sich nicht alle Mißverständnisse heben sollten, zu welchen die weniger präzisen Gedankengänge früherer Schriften etwa verleiten könnten. Doch muß da aus dem, Ziel der W e g verständlich werden. 2 ) ») „Gedächtnisrede auf W.v. Humboldt" 1867 S. 16. ) Für die späteren Auseinandersetzungen sei darauf hingewiesen, daß auch hier Ed. Spranger die entgegengesetzte Ansicht vertritt: . . . . die Humanitätsidee empfängt von ihnen aus (den späteren Werken) keine wesentlich neue Beleuchtung. Eher hat umgekehrt der Humanitätsgedanke die Sprachphilosophie und i h r e n Totalitätsbegriff befruchtet." („Wilhelm v. Humboldt und die Humanitätsidee" S. 392.) Spranger beruft sich hier auch auf die Gedächtnisrede Steinthals, deren Ausführungen uns eher zu der oben vertretenen Ansicht zu leiten scheinen. Diese erfährt willkommene Bestätigung in einer der Anzeigen, welche R. A. Fritzsche über die Leitzmannsche Ausgabe von W. v. Humboldts Gesammelten Schriften veröffentlicht hat im „Literaturblatt für germanische und romanische Philologie" (Jahrg. 1910 Nr. 2). E s heißt dort: „Besäßen wir von Wilhelm v. Humboldt nur die Einleitung zum Kawiwerk, so hätten wir den ganzen Humboldt. Alles was die Werke sonst enthalten, liest sich jetzt wie Vorreden zur E i n l e i t u n g . . . . " daß wir auch die vorher bekannten Aufsätze in der Richtung auf dieses letzte Werk würdigen lernen." Ebenso wird in bezug auf Beurteilung des Aufsatzes „Über Goethes Hermann und Dorothea" gesagt: „Erst wenn wir rückwärts blicken von der ,Einleitung' her, gewinnen wir den richtigen Standort." — Von da aus sollte in den Grenzen vorliegender Arbeit Humboldts Sprachphilosophie nicht eingehender herangezogen werden, als sie z u g l e i c h ausf ü h r e n d zu seiner Ästhetik beiträgt. Das gleiche gilt für seine Auffassung der griechischen und römischen Antike. Auch das gleich wichtige Thema „Humboldts Individualismus" würde zu seiner Ausschöpfung eine eigene Arbeit erfordern. Hier ist die Beschränkung auf Klarstellung der Grundlinien und des für das Verständnis der Ästhetik Notwendigen erstrebt. Ebenso konnten hier nicht alle Wege verfolgt werden, die, wie z. B. Humboldts juristische Studien, hinleiten zur Erfüllung seines Grundbegriffes von „Mensch" und „Menschheit". Auch hierzu sei besonders auf die scharfen und feinsinnigen Markierungen hingewiesen, welche Fritzsche a. a. O. Jahrg. 1908 Nr. 1 gibt. 2
II. Die Geburt des Kunstwerkes aus dem ästhetischen Bewußtsein. a. H u m b o l d t s I n d i v i d u a l i s m u s . Wir haben oben darauf aufmerksam gemacht, wie Schiller bei der Besprechung der strafenden und scherzhaften Satire den Beruf des Dichters durch seinen Charakter bedingt sein läßt; ebenso in bezug auf die Komödie. Die Subjektivität des schaffenden Künstlers wird so gewissermaßen zur Grundlage der Ästhetik, weil sie die Natur des Kunstwerkes bedingt. Diese Betrachtungsart ist es nun eben, welche für H u m b o l d t charakteristisch ist. Man hat Humboldt einen Individualisten genannt, und die Spuren seines Individualismus überall in seiner Ästhetik wiederzufinden versucht (Haym). Sicherlich hat dieses Unternehmen seine Berechtigung; allein es gilt zuvor, sich über den Begriff des Individualismus zu verständigen. Eine gewisse Schiefheit gelangt in die Darstellung Hayms dadurch, daß er diesen Begriff nicht klar genug bestimmt. Dies zeigt sich schon in seiner Auffassung Kants; denn obgleich er häufig genug den Begriff des Transzendentalen zur Charakteristik der Kantischen Philosophie benutzt, so bezeichnet er sie doch an mehr als einer Stelle als Subjektivismus und überträgt infolgedessen den Begriff des Subjektivismus auch auf Humboldt. 1 ) Der Begriff des Transzendentalen widerspricht prinzipiell allem Subjektivismus. Es ist wahr, daß Kant selbst zuweilen und besonders in der Terminologie gegen diesen seinen Grundbegriff verstößt; allein indem er die Gleichsetzung des Apriori mit dem Angeborenen und überhaupt ein Präformationssystem der reinen Vernunft prinzipiell ablehnt, hat er den Subjektivismus der Sache nach überwunden. W a s die Transzendentalphilosophie von allem Subjektivismus unterscheidet, ist, daß sie niemals bei den Besonderheiten des Individuums stehenbleibt, sondern immer zu ') V g l . p. 51 und besonders 452: „ D i e Kantische Philosophie ist die Philosophie des Subjektivismus."
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objektiven, also allgemein gültigen Gesetzen vordringt. Auch die Psychologie der Transzendentalphilosophie kann nicht in dem Sinne Subjektivismus sein, daß sie die Zufälligkeiten und Extravaganzen des Individuums zu beschreiben sucht. Im Individuum vielmehr sucht sie die Einheit des Kulturbewußtseins der Menschheit, d. h. die Durchdringung der verschiedenen Richtungen des Kulturbewußtseins im Einzelnen. Es sind also nicht die Absonderlichkeiten, durch die sich der Einzelne vom allgemeinen Sein trennt, sondern vielmehr gerade seine Beziehungen zu diesem allgemeinen Sein, welche vom Standpunkt der Transzendentalphilosophie aus den Psychologen interessieren müssen. Dies muß man nun auch im Auge behalten, wenn man nach dem Moment des Individualismus in der Ästhetik Humboldts sucht. Schon 1791 in einem Briefe an Forster stellt Humboldt es gleichsam als das Programm seines Lebens auf: „Die Sätze, daß nichts auf Erden so wichtig ist, als die höchste Kraft und vielseitigste Bildung der Individuen und daß daher der wahren Moral erstes Gesetz ist: bilde dich selbst, und nur ihr zweites: wirke auf andere durch das, was du bist; diese Maximen sind mir zu eigen, als daß ich mich je von ihnen trennen könnte." 1 ) In diese höchste Ausbildung der individuellen Kraft wird sogar das Ziel des Lebens gesetzt: „Immer bleibt es doch wahr, daß eigentlich diese innere Kraft des Menschen es allein ist, um die es sich zu leben verlohnt." 2 ) Aber schon bei diesen Bemühungen des jungen Humboldt, sich mit dem Freunde Klarheit zu verschaffen über die Bedeutung des Einzeldaseins, wird dieses sofort in Korrelation zur Allheit gesetzt und empfängt so erst seine Bestimmung: der Einzelne muß seine Kraft zur höchsten Leistung befähigen, damit er zur Entfaltung der Menschheit beitragen kann. „Jeder Mensch muß in das Große und Ganze wirken . . . Mir heißt in das Große und Ganze wirken, auf den Charakter der Menschheit wirken, und darauf wirkt jeder, sobald er auf sich und bloß auf sich wirkt." „Man sei nur groß und viel, so werden die Menschen es sehen und nützen, man habe nur viel zu geben." Also nur um des Wirkens willen soll der Mensch nach Größe streben, vielmehr wird sie dadurch erst als Größe wertbar. Wenn also der Individualismus das Pochen auf das Problematische im Individuum, auf seine Abweichungen vom allgemeinen Sein und ') Alte ges. Werke I, 292.
s
) Ib. I, 296.
C o h e n und N a t o r p , Philosophische Arbeiten IV
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seine Absonderlichkeiten bedeuten soll, so war Humboldt niemals Individualist. Es war vielmehr seine Überzeugung, daß das Individuum nur dadurch Wert erlangen kann, daß es für die Allgemeinheit Gültiges und Notwendiges in sich zur Entfaltung bringt. Niemals aber vermag der Einzelne diese Aufgabe restlos zu lösen, sondern wie in der Natur, so ist auch im Sittlichen das Einzelne nicht das Sicherste, sondern das Problematischste. Eben darauf beruht der Anteil, den der Einzelne als Einzelner an der Entwickelung und an dem Fortschritt der sittlichen Erkenntnis hat, daß er das Besondere seiner Seele zum Problem aufstellt; nicht um es dogmatisch zu verdinglichen, sondern um neue Wege zum Allgemeinen zu erschließen. Man darf daher dies Besondere nicht unterdrücken. Humboldts Theorie der Bildung beruht auf dem Grundsatze: „Jeder muß s e i n e Eigentümlichkeit aufsuchen, und diese reinigen, das Zufällige absondern. Es bleibt dennoch immer Eigentümlichkeit; denn ein Teil des Zufälligen ist an das Individuum unauflöslich gebunden, und dies kann und darf man nicht entfernen. Nur dadurch ist eigentlich Charakter möglich, und durch Charakter allein Größe." 1 ) In diesem Sinne war er sein ganzes Leben lang bestrebt, sein Individuum, das Individuelle in seiner Seele zu erhöhen, zu reinigen und zu bilden, damit es so immer mehr das Allgemeine in seiner besonderen Form zur Darstellung bringe. Es läßt sich indessen nie eine so scharfe Trennung zwischen dem Individuum und der Welt vollziehen, daß man hoffen könnte, die Selbstbildung in der Einsamkeit des eigenen Ich vollziehen zu können; sondern sie ist nur möglich, wenn jeder die Welt mit seinem Geist soviel als möglich zu durchdringen und zu umfassen bestrebt ist. Dies hat Humboldt auch in den späteren Schriften oftmals klar ausgesprochen. Nicht nur betont er, daß häufig „das sittliche Zusammenleben der Menschen durch Mittel, die der Ausbildung des Individuums auf den ersten Anblick entgegenlaufen, zu größeren und schwerer zu erreichenden Resultaten geführt werden" müsse2), sondern er weist auch darauf hin, wie das Individuum zu seiner Vervollkommnung der Welt bedarf: „Die Selbstbildung kann nur an *) An Schiller, 23. Oktober 1795. Eng berührt sich hiermit eine Stelle aus einem Brief Goethes an Humboldt: „Das beste Genie ist das, welches alles in sich aufnimmt, sich alles zuzueignen weiß, ohne daß es der eigentlichen Grundbestimmung, demjenigen, was man Charakter nennt, im mindesten Eintrag tue, vielmehr solches noch erst recht erhebe, und durchaus nach Möglichkeit befähige." S. 286. ») VII, 6x4.
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der Weltgestaltung fortgehen, und über sein Leben hinaus knüpfen den Menschen Bedürfnisse des Herzens und Bilder der Phantasie, Familienbande, Streben nach Ruhm, freudige Aussicht auf die Entwicklung gelegter Keime in folgenden Zeiten an die Schicksale, die er verläßt." *) Schiller und Humboldt suchen diese Besonderheit, die sich als allgemein gültig gibt, zunächst im Ästhetischen. Ihr Psychologismus ist transzendental, wie der Begriff der Totalität des Charakters anzeigt, welcher bei ihnen allen ästhetischen Spekulationen zugrunde liegt, indem er auf die Einheit der Kulturrichtungen im Individuum geht.2) So hat sich denn bei Humboldt der Begriff der Individualität später in dem Sinne vertieft und entfaltet, daß er in genauere Korrelation zur Idee gesetzt wurde. In der „Geschichte des Verfalls und Untergangs der griechischen Freistaaten" heißt es z. B.: „Ein Individuum ist eine in der Wirklichkeit dargestellte Idee." 3 ) Der Charakter erscheint nicht als ein Angeborenes, Gegebenes, sondern als eine Schöpfung des Lebens. Freilich spielt hier sogleich das ästhetische Moment hinein, es tritt ein Begriff in den Vordergrund der Betrachtung, den wir erst andeutungsweise behandeln können, der Begriff der S e h n s u c h t zur Darstellung der Menschheit, auf der die Entfaltung des idealischen Charakters beruht. „Die Idealität eines Charakters hängt von nichts so sehr ab, als der Tiefe, und der Art der Sehnsucht, die ihn begeistert." 4) Der Begriff des idealischen Charakters, der so gewonnen wird, hängt nun seinerseits wieder aufs engste zusammen mit dem Begriff der idealischen Schönheit, der erst an späterer Stelle ausführlich erwogen werden kann. So viel sieht man aber bereits hier, wie Humboldt in der weiteren Entwicklung seines Denkens die Individualität mehr und mehr an Allgemeingültiges, Überindividuelles anzuknüpfen bestrebt ist.') ') VII, 33) Bezeichnend für beider Individualismus ist die Stelle aus Schillers Rezension der Bürgerschen Gedichte, die Humboldt zitiert in der „Vorerinnerung" zu seinem Briefwechsel mit Schiller: „Ehe er (der Dichter) es unternimmt, die Vortrefflichen zu rühren, soll er es zu seinem ersten und wichtigsten Geschäft machen, seine Individualität selbst zur reinsten, herrlichsten Menschheit hinaufzuläutern." S. 14. 4 ') III, 198. ) III, 205. •) Im Gegensatz zu Eduard Spranger sind wir der Überzeugung, daß diese Tendenz auf das Allgemeingültige Humboldts Idealismus von Anfang an eignet, wenn es auch richtig ist, daß er sich im Laufe der Zeit dessen immer klarer bewußt geworden ist. 2
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Um ferner den Ausgangspunkt der ästhetischen Überlegungen Humboldts genauer zu charakterisieren, muß man sie aus seiner allgemeinen wissenschaftlichen Gesinnung und dem beherrschenden Interesse seines Forschergeistes heraus zu begreifen versuchen. Wir werden auch hierbei nicht nötig haben, von der allgemeinen transzendentalen Bahn abzuweichen oder die Spuren Kants und Schillers zu verlassen. Kant hatte den Menschen zum Selbstzweck erklärt und die Autonomie der praktischen Vernunft begründet. Die intelligible Zufälligkeit der Natur verschwindet so vor der Sicherheit der moralischen Idee der Menschheit. Diese Idee bildet also den Gipfelpunkt des Systems. Eine allgemeine Charakteristik der Menschheit ist nun .auch das Problem, mit welchem sich Humboldt sein ganzes Leben getragen hat. In seinem Denken gingen die Keime auf, die Schiller ausgesät hatte, indem er, wie wir gesehen haben, in den „Briefen über die ästhetische Erziehung" und in den anderen philosophisch-ästhetischen Schriften Gedanken zur allgemeinen Charakteristik des modernen und des antiken Menschen gab. Es darf auch daran erinnert werden, wie die Abhandlung „Über naive und sentimentalische Dichtung" mit der Gegenüberstellung zweier allgemeinen menschlichen Charaktere, des Idealisten und des Realisten, endigt. So steht denn auch bei Humboldt überall der Mensch im Mittelpunkte des Interesses: „Von welchem Gegenstand man daher immer reden mag, so kann man ihn auf den Menschen und zwar auf das Ganze seiner intellektuellen und moralischen Organisation beziehen." 1 ) Mit dieser Tendenz verbindet sich in charakteristischer Weise für Humboldt die Idee der Bildung. Bei der „Charakteristik des menschlichen Gemüts in seinen möglichen Anlagen und in den wirklichen Verschiedenheiten, welche die Erfahrung aufzeigt", ist es auf die Bildung des Menschen abgesehen. 2 ) Nun haben wir schon oben darauf aufmerksam gemacht, wie diese Bildung nach Humboldts Meinung nur fruchtbar werden kann, wenn sich das Individuum zur Allgemeingültigkeit emporläutert. Selbstbildung ist die Grundlage jedes gesunden Fortschrittes der Kultur. Denn „es gibt keine freie und kraftvolle Äußerung unsrer Fähigkeiten ohne eine sorgfältige Bewahrung unsrer ursprünglichen Naturanlagen; keine Energie ohne Individualität. Deswegen ist es so notwendig, daß eine Charakteristik, wie die oben geschilderte, dem menschlichen Geiste die Möglichkeit ») II, 117.
) II, 117—118.
2
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vorzeichne, mannigfaltige Bahnen zu verfolgen, ohne sich darum von dem einfachen Ziel allgemeiner Vollkommenheit zu entfernen, sondern demselben vielmehr von verschiedenen Seiten entgegenzueilen". 1 ) Man sieht, es ist hier überall von dem Individuum und seinem Verhältnis zur allgemeinen Kultur die Rede. Humboldt sucht eine philosophische und empirische Menschenkenntnis, aber nur zu dem Zweck, zu einer „philosophischen Theorie der Menschenbildung" zu gelangen. Diese erst würde die allgemeine Grundlage zur Erziehung, zur Gesetzgebung und zur Selbstbildung jedes Einzelnen abgeben. 2 ) Die Kultur wird hierbei als Kunst bezeichnet, „sein Gemüt durch Nahrung fruchtbar zu machen"; und wir hören Schiller reden, wenn er verlangt, daß der Mensch zu -'iesem Zwecke seine Organe harmonisch stimmen müsse. Die geforderte philosophische Theorie würde sich von der Psychologie und Anthropologie unterscheiden, und zwar vermutlich eben dadurch, daß nicht das Individuelle als solches, sondern nur in seiner Beziehung zum Allgemeinen im Mittelpunkt stünde. Humboldt gesteht nämlich in einem Brief an Körner, daß sein Interesse vornehmlich dahin ziele, „einmal die Kenntnis des Menschen und die Prinzipien seiner Bildung in ihrem ganzen Zusammenhange behandelt zu sehen". 3 ) Will ein Mensch ganz seiner Bildung leben, so muß sich, so heißt es in seinem Brief an Schiller vom 2. Februar 1796, „seine intellektuelle Tätigkeit am Ende ganz darauf reduzieren, 1. a priori das Ideal der Menschheit, 2. a posteriori das Bild der wirklichen Menschheit beide recht rein und vollständig aufzufinden, mit einander zu vergleichen und aus der Vergleichung praktische Vorschriften und Maximen zu ziehn".*) Er spricht dabei von einem Bild des menschlichen Geistes und Charakters, das keinem einzelnen Jahrhundert und keiner einzelnen Nation ganz und gar gleicht, zu welchem aber alle mitgewirkt haben. Auf dieses Bild richtet sich sein Blick. In solchem Geiste entstanden auch seine ästhetischen Untersuchungen. b. D e r B e g r i f f der S t i m m u n g als ä s t h e t i s c h e r E r o s d e s G e n i e s . Die Ästhetik ist unmittelbar nur für denjenigen bestimmt, welcher durch die Werke der Kunst seinen Geschmack und durch einen freien und geläuterten Geschmack seinen Charakter zu bilden wünscht. 5 ) Schillers Gedanke der 2 8 II, 118. ) II, 1 1 8 — 1 1 9 . ) An Körner 5, auch 9. *) An Schiller 278, vgl. auch den Brief an Körner S. 9 und 10. ») II, 120.
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ästhetischen Erziehung ist- hier lebendig. Um aber die Ästhetik in diesem Sinne für die Charakterbildung fruchtbar zu machen, bedarf es eben jenes Ausgangs von der Charakteristik des künstlerischen Schaffens. Diese, obgleich anknüpfend an die Individualität des schaffenden Künstlers, dringt doch immer auf das allgemein Gültige. A m deutlichsten wird dies an einem Begriffe, den Humboldt namentlich in dem Aufsatz „Über Goethes Hermann und Dorothea", doch auch schon gelegentlich in früheren Aufsätzen und im Briefwechsel mit Körner gebraucht, und der, so will es scheinen, seinem Wesen nach von eingeschränkt individueller Bedeutung ist: es ist der Begriff der S t i m m u n g . 1 ) W o nämlich Humboldt von Stimmung redet, ist damit immer jener allgemeine Zug der menschlichen Seele zum Schönen gemeint, den schon Piaton unter dem Begriff des Eros charakterisiert. Man erinnert sich an den bedeutungsvollen platonischen Mythos im Symposion, welcher den philosophischen Eros als das Kind der Fülle und der Dürftigkeit erscheinen läßt. Fast mit den Worten Piatons sagt Humboldt: „In dieser Stimmung der schöpferischen Weihe ist, von welcher Art auch die Zeugung sein möge, das Gefühl einer überfließenden Fülle mit dem eines bedürftigen Mangels verbunden." 2 ) ') So heißt es z. B. II, 131, „daß alle Wirkung der Kunst nur durch die Stimmung des Empfindenden hervorgebracht wird". Ferner: „Man muß auch hier auf die Stimmung des Gemüts in dem Dichter und in seinem Leser zurückgehen" (151) und in den Briefen an Körner: „nehme ich daher alles zusammen, so ist mehr nur die Stimmung der Seele bestimmbar, die das Schöne empfindet als die Beschaffenheit des Gegenstandes, der diese Empfindung hervorbringt." 15. Jan. 1794. 2) 1,318. — Wir sehen hier, daß Humboldt durch die Stimmung den Zustand vor jeder Art geistiger Hervorbringung bezeichnet. Erst im Aufsatz über „Hermann und Dorothea" wird die Anwendung dieses Terminus auf das ästhetische Problem präzisiert; vgl. auch VI, 544 unten. — Für die Höhe Humboldtischen Denkens ist charakteristisch, wie es stets über jedes endliche Problem hinauswächst bis zu dem letzten Ursprung in der Idee der Humanität. So hier: aus seiner Reflexion „über den Geschlechtsunterschied" kommt er zu den Gedanken vom Eros, und nun wird umgekehrt das Verhältnis der Geschlechter vielmehr als ein Sonderfall unter den Gesichtspunkt des ästhetischen Eros gerückt; im Gegensatz zu gewissen modernen Richtungen, denen die Kunst nur aus jenem verständlich werden soll. Und wiederum ist der Aufsatz Humboldts selbst (zusammen mit dem über die männliche und weibliche Form) ein lebendiges Zeugnis für den lyrischen Eros seiner eigenen Seele. — Dieser Begriff selbst kann als der eigentliche Problembegriff des Ästhetischen erst im Verlauf der ganzen Arbeit zu genauerer Bestimmung kommen.
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Diese Erosstimmung, die als eine besondere Bewußtseinsrichtung ausgezeichnet werden soll, wird also einen eigenen Inhalt als einen reinen zu erzeugen haben. Demgemäß wird sie beschrieben als ein „in Bedürfnis übergehendes Vermögen, das N o t w e n d i g e zu ergreifen". 1 ) Wodurch bestimmt sich aber die Notwendigkeit des Ästhetischen? Für die Fixierung dieses Problems konnte kein Terminus der Denkungsart Humboldts angemessener sein, als der Kantische Begriff des G e n i e s , in welchem das Individuum in eigenartiger Gesetzmäßigkeit sich als Ursprung erweist. „Das Genie, immer neu und die Regel angebend, tut sein Entstehen erst durch sein Dasein kund, und sein Grund kann nicht in einem Früheren, schon.Bekannten gesucht werden; wie es erscheint, erteilt es sich selbst seine Richtung." 2 ) Diese Wendung zum Subjektivismus will aber durchaus nicht die Willkürlichkeit der „Genieschwünge" proklamieren, wie schon aus der früheren Stelle hervorgeht: das Notwendige „aber kann es (das Genie) nur aus seinem Innren schöpfen, oder es muß vielmehr sein eignes subjektives und zufälliges Dasein in ein notwendiges verwandeln". 3 ) So ist der transzendentale Begriff der Objektivität streng festgehalten: dem Objekt kann seine Gesetzmäßigkeit nur herkommen aus dem Geiste, dem es entsprungen ist. Da es sich hier aber nicht um eine begrifflich konstituierte Gesetzmäßigkeit handelt, so kann nur in der gesetzmäßigen Geistesstimmung des Genies der Ursprung, also die Gesetzmäßigkeit des Werkes liegen: das Genie kann die Gesetzmäßigkeit seines Produktes „nur mittelbar befördern, i n d e m es sich s e l b s t g e s e t z m ä ß i g m a c h t , und es ist ihm kein andrer Einfluß auf das Erzeugte, in dem Augenblicke der Zeugung, erlaubt, als durch die allgemeine Stimmung seiner selbst, als des Erzeugenden". 4 ) Aber die allgemeine Stimmung allein ist nicht ausreichend; daß sie wirklich zeugend werde, gehört notwendig zum Begriff des Genies („Die geistige Zeugungskraft ist das Genie", I, 316). Auch das Nichtgenie kann nach einem Worte Schillers zur Produktion gestimmt sein, aber es vermag dieselbe nicht aus sich herauszustellen. 5 ) Dies muß nicht einmal immer seinen Grund in mangelnder künstlerischer Technik haben, sondern wir dürfen Schiller dahin verstehen, daß hier der Eros, die ästhetische Stimmung nicht zeugend wird; sie verbleibt ein zu*) I, 3 1 8 (von mir gesperrt). *) An Schiller 22, ähnlich 1 , 3 1 6 — 3 1 7 . *) I, 318. *) I, 317. *) Brief an Goethe vom 27. März 1801.
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fälliger Zustand des Subjektes. Dem Genie aber wird es möglich, sich selbst objektiv zu werden, „sich aus sich selbst herauszustellen". 1 ) Wie das zugehe? Es ist „dem Genie seine eigene Wirksamkeit unbegreiflich". 2 ) Sie bleibt jeder Analyse ebenso unzugänglich, wie alles geistige Entspringen in Gedanke und Handlung. Humboldt beschreibt auch dieses als ein sich selbst objektiv Werden. Es wird sich beim Philosophen darin äußern, daß die Wahrheit seinen inneren Sinn gleich einem äußeren Objekt bewegt, beim handelnden Menschen im täglichen Leben darin, daß er sein Ich vergißt, indem er es zum Umfang einer Welt erweitert. 3 ) c. D a s W e s e n der E r k e n n t n i s . Für die nähere Beschreibung der eigenartig ästhetischen Hervorbringung wird es wertvoll sein zu zeigen, wie diese Einsichten vom Wesen der Erkenntnis überhaupt in der ausgereiften Anschauung Humboldts sich vertieften. Hatte er in seinen Jugendschriften die Rolle der Empfindung 4 ) im Erkennen und ihr Verhältnis zum Denken noch nicht klar und eindeutig zu bestimmen gewußt, so ist in der Abhandlung über Hermann und Dorothea der kritische Standpunkt völlig erreicht. In den Schriften aus seinen späteren Lebensjahren hat dieser Standpunkt zuweilen einen überraschend klaren und tiefsinnigen Ausdruck gefunden. Parmenides hatte gesagt: Denken und Sein sind identisch; das Denken spricht sich im Sein aus, und das Sein ist nur Sein durch das Denken. Das Denken hört so auf subjektiv zu sein, indem es in die Form des Begriffes eingeht; und ebenso steht das allgemeingültige, objektive Sein der Subjektivität des Denkens nicht mehr fremd gegenüber, weil es erst, indem es die Form des Begriffes annimmt, Bestimmtheit gewinnt. Dies drückt Humboldt so aus: „Jedes Begreifen einer Sache setzt, als Bedingung seiner Möglichkeit, in dem Begreifenden schon ein Analogon des nachher wirklich Begriffenen voraus, eine vorhergängige, ursprüngliche Übereinstimmung zwischen dem Subjekt und dem Objekt." 5 ) Entsprechend ist in dem Aufsatz „über das vergleichende Sprachstudium . . . " die Rede von einer ursprünglichen „Übereinstimmung zwischen der Welt 2 3 ') I, 3 1 7 ) Ib. V g l . auch besonders 1 1 , 3 2 7 . 3 2 8 . ) 1,318. *) D o c h ist für alles F o l g e n d e zu bemerken, daß der A u s d r u c k „ E m p f i n d u n g " zumeist in dem Sinne auftritt, den wir heute mit dem W o r t e „ G e f ü h l " verbinden. 6 ) „ Ü b e r die A u f g a b e des Geschichtsschreibers" IV, 47.
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und dem Menschen, auf welcher die Möglichkeit aller Erkenntnis der Wahrheit beruht". 1 ) Damit man diese Ausdrucksweise aber nicht in dem Sinne etwa eines Parallelismus des Subjektiven und Objektiven, welche so also dogmatisch vorausgesetzt wären, mißverstehe, zeigt er an dem Beispiele der Sprache, wie diese ein Mittel zur Gestaltung des Subjektiven zum Objektiven ist. „Die Subjektivität der ganzen Menschheit wird aber wieder in sich zu etwas Objektivem." 2 ) So kann natürlich das Produkt der Erkenntnis, das Gebilde des Geistes dem Geiste nicht fremd werden; und von hier aus gewinnt dann Humboldt jene großzügige Anschauung vom Wesen der Kultur, die sich in den Worten ausspricht: „Denn auch was Frucht des Geistes und der Sinnesart ist, Wissenschaft, Kunst, sittliche Einrichtung, verliert das Geistige und wird zur Materie, wenn nicht der Geist es immer von neuem belebt; alle diese Dinge tragen die Natur des Gedankens an sich, der nur erhalten werden kann, indem er gedacht wird." 3 ) Aus dieser allgemeinen Einsicht heraus ist Humboldts Auffassung vom Wesen der ästhetischen Erkenntnis geboren. In dem erläuterten Sinne verlangt er in der Abhandlung über Hermann und Dorothea, daß in der Poesie das Gedicht das Gepräge seines Urhebers an sich trage. Wir wissen jetzt, was es heißt, wenn Humboldt verlangt, daß das Genie in einer reinen und entschiedenen Individualität auftrete, die sich in der reinen und bestimmten Form des Kunstwerkes ausprägen solle. 4 ) Das Analogon im schaffenden Subjekt ist für die ästhetische Hervorbringung die Individualität des schaffenden Künstlers: „Die Dichtung ist in jedem wahren Dichter immer zugleich eine Weltansicht, sie entspringt aus der Art, wie sich seine Individualität den Erscheinungen gegenüberstellt, und bestimmt dieselben hinwiederum, beides in so innig durch') IV, 27—28. IV, 27. Kurz und prägnant heißt es in der Einleitung zum W e r k über die K a w i - S p r a c h e : „Subjektive Tätigkeit bildet im Denken ein Objekt. Denn keine Gattung der Vorstellungen kann als ein bloß empfangendes Beschauen eines schon vorhandenen Gegenstandes betrachtet werden." Die nähere Bedeutung dieser Auffassung für die Entstehung des Begriffs und der Sprache soll an einer späteren Stelle erwogen werden. (VII, 55.) 3 ) IV, 46—47. V g l . auch in der Vorerinnerung zum Briefwechsel mit Schiller: „Man kann sich im Geiste nichts als ruhend, und gelegentlich zur Tätigkeit übergehend . . . . denken. W a s in ihm ist, i s t nur 4 durch T ä t i g k e i t . " S . 29. ) II, 1 1 5 .
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drungener Wechselwirkung, daß das den ersten Impuls Gebende nicht zu erkennen ist." 1 ) Die schaffende Künstlerkraft, aus der das Kunstwerk entsprungen ist, muß auch in diesem lebendig wirksam bleiben. So wird in dem Aufsatze „Über den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluß auf die organische Natur" dem geistigen Erzeugnis eigentümliche Kraft und die Fähigkeit wieder zu zeugen zugesprochen. Die Stimmung, die ein Werk hervorbrachte, muß von diesem wieder erweckt werden können. „Alle Wirkung der Kunst wird nur durch die Stimmung des Empfindenden hervorgebracht." 2 ) In bezug auf Goethes Stil wird gesagt: „Man muß auch hier auf die Stimmung des Gemüts, in dem Dichter und in seinem Leser, zurückgehn"; man hat früher irrtümlich im Objekt gesucht, „was allein im Subjekt verborgen ist." 3 ) Aber die Stimmung ist auch hier nicht ein passiver Zustand des Bestimmtseins, sondern sie hat durchaus aktive, schöpferische Bedeutung: Von seiten des Künstlers wird die S t i m m u n g ein B e s t i m m e n , von seiten dessen, der sich der Kunst hingibt, ein Zustand bestimmt schöpferischer Wirksamkeit. d. Die E i n b i l d u n g s k r a f t . Es wird dies noch offenkundiger durch einen Begriff, der als Ergänzung der Stimmung und als Hilfsmittel ihrer eigenartig ästhetischen Objektivierungsweise eintritt. Der Begriff der Einbildungskraft ist uns von Kant her geläufig; zwar bei Kant bedeutet er ein rein theoretisches Vermögen, und wir hatten eben dies an der Kantischen Begründung der Ästhetik auszusetzen, daß hier die praktische Vernunft, die Sittlichkeit in ihrer Bedeutung für die Kunst nicht zu ihrem Recht kam. In diesem eingeschränkten Kantischen Sinne gebraucht ursprünglich auch Humboldt den Begriff der Einbildungskraft, wie sich z. B. aus einer Stelle seines Briefwechsels mit Körner ergibt. 4 ) Sehr bald aber vertieft sich die Bedeutung dieses Terminus bei ihm. Schiller hatte die Vereinigung des theoretischen und des praktischen Vermögens und ihre Harmonie für den ästhetischen Zustand durch den Begriff des Spieltriebes, in welchem sich der Formtrieb und der Stoff trieb verbinden, ausdrücken wollen.5) In der Schönheit verband sich für ihn der Gegenstand des Formtriebes mit dem des Stofftriebes, nämlich Gestalt und Leben, zur l e b e n d i g e n G e s t a l t . Die Gestalt, das Eidos, war auch das Ziel der Sehnsucht für den platonischen Eros; ') VI, 538.
*) II, 131.
') II, 151.
*) S. 3—4-
6
) Vgl. oben S. 9-10.
27]
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und so sehen wir nun, wie auch bei Humboldt die Einbildungskraft ihr Geschäft in der Erzeugung der Gestalt sieht, indem ihr die Aufgabe gestellt wird, „das Wirkliche in ein Bild zu verwandeln". l ) Diese Gestalt aber ist nur der Ausdruck der Stimmung; deswegen muß man das Wesen der Kunst „in der Stimmung der Phantasie" aufsuchen. 2 ) D i e S t i m m u n g darf die S e e l e d e r P h a n t a s i e genannt werden; so wird es möglich, daß die Phantasie des Künstlers aus dem Kunstwerk heraus die Phantasie des Beschauers zur Selbsttätigkeit erweckt. Der Künstler verwandelt „etwas Wirkliches in ein Bild", aber er erfährt bald, „daß dies nicht anders, als durch eine Art lebendiger Mitteilung, nur dadurch möglich ist, daß er gleichsam einen elektrischen Funken aus seiner Phantasie in die Phantasie andrer überströmen läßt, und dies zwar nicht unmittelbar, sondern so, daß er ihn einem Objekt außer sich einhaucht". 3 ) Dies Objekt ist nun eben, wie schon gesagt, die Gestalt; sie wird nicht einfach der Natur nachgebildet; denn wenn z. B. der Dichter seinen Gegenstand auch unmittelbar aus der Natur entlehnt, so wird die Gestalt, die er ihm verleiht, „doch immer von neuem durch seine Einbildungskraft erzeugt". 4 ). „Dadurch aber, daß jedes Kunstwerk, wie treu es auch seinem Urbilde sei, doch als eine vollkommen neue Schöpfung dem Künstler eigen ist, erleidet auch der G e g e n s t a n d eine Umänderung seines Wesens und wird zu einer andren Höhe erhoben." 5 ) Die Einbildungskraft wird die ästhetische Gestaltung nach besonderen Gesetzen zu erzeugen haben. Denn nicht schlechthin jede Hervorbringung der Phantasie ist eine ästhetische und kann auf eigene Höhe der Objektivierung Anspruch machen. Es heißt also: „die Kunst ist die F e r t i g k e i t , die E i n b i l d u n g s k r a f t n a c h G e s e t z e n p r o d u k t i v zu m a c h e n . " 6 ) e. D a s I d e a l i s c h e als E i n h e i t u n d T o t a l i t ä t d e s ä s t h e t i s c h e n B e w u ß t s e i n s . Es ist nur ein uneigentlicher Ausdruck, wenn man sagt, daß die Natur durch die Neuerzeugung im Gemüte des Künstlers erhöht wird: „Das W e r k des Künstlers und das Werk der Natur stehen nicht mehr in demselben Gebiet und erlauben daher auch nicht mehr denselben Maßstab." 7 ) Deshalb ist auch der Ausdruck, die Kunst habe die Natur nachzuahmen, an sich unbestimmt und irre') II, 126. II, 132. E s ist zu bemerken, daß die Ausdrücke „Einbildungsk r a f t " und „Phantasie" stets promiscué und gleichbedeutend gebraucht 3) II, 132. 4) II, 129. 6) II, 128. werden. ') II, 127. ') II, 130. 2)
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führend, und wenn ihn Humboldt dennoch gelegentlich selbst gebraucht 1 ), so geschieht es, nachdem er ihn korrigiert und richtiggestellt hat. 2 ) Es ist eine ganz neue, eigenartige Wirklichkeit, die der Künstler erschafft, welche unter anderen Gesetzen steht, als die gemeine Wirklichkeit. Diese neue Wirklichkeit ist i d e a l i s c h . „Denn alles ist idealisch, was die Phantasie in ihrer reinen Selbsttätigkeit erzeugt, was daher vollkommne Phantasie-Einheit besitzt." 3 ) Zweierlei also wird hier als Charakteristikum des Idealischen angegeben: einmal, daß das Idealische E i n h e i t besitzt, und weiter, sofern es ein Idealisches der Kunst ist, muß diese Einheit aus der Phantasie geboren sein. Das Idealische unterscheidet sich also vom Wirklichen durch seinen inneren Zusammenhang, gemäß welchem jede Erscheinung von der anderen abhängig ist; während das zufällig Wirkliche jede Erscheinung vereinzelt zeigt, so daß keine von der anderen abhängt. 4 ) Innere Einheit käme der wirklichen Natur nur in ihrem für uns unübersehbaren Ganzen zu, die Phantasie aber gibt uns in einem Teil der Natur ein Bild der Harmonie und Vollendung. Hier verschärft sich die Tendenz gegen den künstlerischen Naturalismus, welcher die Aufgabe der Kunst im Sinne des Sensualismus in der bloßen Wiedergabe des sinnlichen Eindrucks sieht, der immer am Einzelnen und Vereinzelten haften bleibt. In den Briefen Humboldts an Goethe über die französische tragische Bühne heißt es: „Welche Veränderung geht eigentlich mit der Natur vor, wenn sie zum Kunstwerk gemacht wird? Sie wird in einen G e d a n k e n umgeschafren, dadurch erhält sie zweierlei: sie wird der menschlichen Natur ähnlicher gemacht, da menschliche Kräfte sie in ihrer Vorstellung zusammenfassen, und sie erhält eigne, einschränkende Grenzen und wechselseitige Bestimmung ihrer Teile von der Phantasie, weil aus dem unermeßlichen All der Natur Ein Stück herausgerissen und in ein selbständiges Ganzes verwandelt ist." 5 ) Der erste Gedanke, daß die Natur in der Kunst dem menschlichen Wesen ähnlicher gemacht wird, führt zum eigenartigen, zentralen Problem zurück. ') „ D a alle Kunst, ihrem W e s e n nach, Nachahmung ist." II, 388. ) II, 1 3 2 . V g l . auch an Schiller 3 1 0 : „ . . . moderne Unart, die wieder 3 aus dem leidigen Begriff der Illusion herstammt." ) II, 1 3 3 . 4 ) cf. II, 128. V g l . dazu Schiller in den „ästhetischen Briefen": „ E t w a s idealisieren heißt mir nur, es aller seiner zufälligen Bestimmungen entkleiden und ihm den Charakter innerer Notwendigkeit beilegen." 5 ) II, 388. 2
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W i r erinnern auch hier wieder an Schillers W o r t , nach welchem die Poesie der Idee der Menschheit ihren vollkommensten Ausdruck zu geben hat — ein Ausspruch, den Humboldt enthusiastisch begrüßt: „ D a ß die Poesie bestimmt ist, der Menschheit ihren möglichst vollständigen A u s d r u c k zu geben, ist das größeste W o r t , was je über sie ausgesprochen werden kann, und drückt zugleich ihre Beschaffenheit, ihren Umfang und ihre W ü r d e aus." ') Der Dichter kann den Zuhörer zwingen, in seiner Phantasie das von ihm gewollte Bild in bestimmter Form hervorzubringen, „dazu aber bedarf er seiner ganzen Persönlichkeit, d a das W o r t , wenn es lebendige K r a f t besitzen soll, seine Wurzeln in alle Tiefen des Gemüts schlagen muß". 2 )- Ebenso •nimmt auch die bildende K u n s t „die Gesamtheit der Kräfte des Künstlers in Anspruch". 3 ) Denn nicht auf einen einzelnen Punkt des menschlichen Bewußtseins hat sich die Kunst zu richten; in der Erzeugung der Erkenntnis oder der Willenshandlung würde sie keine Eigenart finden können; also nicht ein äußeres O b j e k t gilt es zu bestimmen, oder das Selbst in der A u f g a b e der Allheit zu erringen; sondern unser natürliches Subjekt, unvollkommen wie es ist, soll hier seines Daseins froh werden können, da sein scheinbar individuellstes Gefühl v o m Grunde seines innersten W e s e n s aus, das ihm objektiv wird, zu einer Allgemeingültigkeit emporgeläutert werden soll. In solch prägnantem Sinne wird es sich in der Kunst um den M e n s c h e n handeln, um eine Objektivierung, die das eigene Innere betrifft. „ S o sucht auch der Mensch gleichsam dies Bild seiner Empfindung, mehr als irgend etwas andres, in allen schönen K ü n s t e n . " 4 ) Der Künstler „sammle nur unser eigenes W e s e n in Einen Punkt, und bestimme es, wie er es als Künstler immer tun' m u ß , sich in einem Gegenstand außer sich selbst hinzustellen (objektiv zu sein), und es steht unmittelbar (welches dieser Gegenstand auch sein möchte) eine W e l t vor uns da. D e n n unser ganzes W e s e n ist dann in uns zugleich und in allen seinen Punkten rege, und ist schöpferisch; was es in dieser Stimmung hervorbringt, muß ihm selbst entsprechen." 5 ) In diesem Satze sind alle Keime der Ästhetik Humboldts enthalten; alles Folgende wird im wesentlichen in seiner Entfaltung bestehen. 2) VI, 538. 3) Ib. ') A n Schiller S. 247. I, 167. Ebenso: der Dichter schildert die Gegenstände nie anders, „als um in ihnen den Menschen darzustellen; und soviel muß er jedesmal leisten . . . " Alte Ges. W e r k e IV, 31. ») II, 136. 4)
igo
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Zunächst läßt sich nun diese Erosstimmung ihrem Inhalte nach genauer präzisieren und vertiefen. Nicht mehr auf die. Einbildungskraft und ihre schöpferische Tätigkeit scheint es anzukommen, ein unsagbares Gefühl, welches den ganzen Menschen „in allen seinen Punkten" erfaßt, scheint Humboldt hier andeuten zu wollen. W a s kann dies „freie Spiel aller Gemütskräfte" (Kant), diese allseitig schöpferische Regsamkeit hervorrufen? W i e das Genie selbst durch „Begeisterung gewirkt" 1 ) sein muß, so ist sein Werk imstande, solche „Begeisterung unserer Einbildungskraft und unseres Gefühls" zur Erhebung zu bringen, wenn es eine Darstellung ist „des ganzen Menschen in seiner ä u ß e r e n G e s t a l t und seinem i n n e r e n W e s e n " , wenn „die Menschheit und die Natur", „durchaus dichterisch geformt", dem künstlerischen Blick erscheint. 2 ) Diese begeisterte Schau harmonischer Einheit des Leibes und der Seele, des ganzen Menschen ist das Werk des Eros. Nun aber bildet der Ausdruck „dichterisch geformt" das neue Problem, welches zunächst nur nach einer Richtung, der subjektiven, erörtert werden soll. Wie vermag die Einbildungskraft in sich das unendliche Erosgefühl, das in seiner Liebe zum Menschen auch das All umfassen soll, die Natur, die doch immer die Natur des Menschen wird sein müssen, zur Darstellung zu bringen? Die Natur, die sich dem Blick da auftut, muß eine solche sein, in der der Mensch sein Wesen wiederfindet, mit der er sich ganz eins fühlen kann; der Künstler hat „seine eigene innerste und beste Natur in sie übergetragen, und sie zu einem Wesen gemacht, mit dem er nun vollkommen zu sympathisieren vermag". 3 ) Das Streben nach Einheit, das Gefühl, das sich an die unendlichen Ideen der Vernunft knüpft, kann nicht durch die Natur der theoretischen Erkenntnis befriedigt werden. Wir sahen schon, abschließende Einheit käme ihr nur in ihrer absoluten Totalität zu, die ein Ungedanke ist. Demgegenüber war es als der Charakter des Idealischen bezeichnet, daß ein Stück der Natur „in ein selbständiges Ganze" verwandelt ist; „in einem Gegenstand . . s t e h t . . eine Welt vor uns da", eben weil in ihm die unendliche Seele des Menschen lebendig ist. Diese Welt vermag nun aller Sehnsucht des Menschen zu genügen, da sie „ihm selbst entspricht", Ausdruck des umfassenden Gefühls der Humanität ist — selbst da, wo sie die Menschen in Leid und vergeblichen Kämpfen um eigene
') I, 317.
4)
II, 218 (von mir gesperrt).
3)
II, 142.
31]
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und allgemeine Vollkommenheit zeigt. Denn eine Darstellung der vollendeten Sittlichkeit von der Kunst zu verlangen, wäre ebenso absurd, wie die banausische Zumutung, sie solle die Naturerkenntnis ersetzen oder auch nur beides befördern; in jedem Falle würde sie nicht minder ihrer Eigenart verlustig gehen, als jener Wahrhaftigkeit vereiteln. Sie aber zeigt ihre Macht darin, daß sie aus dem unvollkommnen Material, das ihr nur geboten werden kann, andersgeartete Vollkommenheit schafft. Über alle Wirklichkeit schwingt uns das Idealische, es vermag „uns von den inneren und äußern Fesseln zu lösen, durch die wir uns im wirklichen Leben so oft gehemmt fühlen". Dennoch kann es nur im endlichen Gegenstand und in endlichen Verhältnissen zur Darstellung kommen. Diese also, die Natur und die Sittlichkeit, können nur Stoff sein für die neue ästhetische Form, welche die idealische Darstellung erzeugt. Es war gesagt, dies geschehe durch die Metjiode der Einbildungskraft, „der einzigen unter unseren Fähigkeiten, welche widersprechende Eigenschaften zu verbinden imstande ist". „Wir leben mitten in der beschränkten und endlichen Wirklichkeit, aber so, als wäre sie für uns unbeschränkt und unendlich." 2 ) Denn die Einbildungskraft vermag über die Schranken, an welche die Wirklichkeit überall stößt, zu erheben. Sie erreicht dies durch den oben erwähnten „durchgängigen inneren Zusammenhang" ; im Gegensatz zur Wirklichkeit ist hier alles Zufällige getilgt, für alles Widerstreitende die höhere Einheit sichtbar, der es dient. Warum beruht aber das Idealische auf einer Einheit, die durch die Phantasie erzeugt sein muß; ist doch gerade Einheitsbildung das Merkmal des Begriffes? Die •Antwort ist nun nicht mehr schwer: der Begriff vermag nur die Einheit eines Endlichen zu leisten, darin würde der Mensch sich nicht wiederfinden; das Wesen der Kunst beruht aber gerade auf der Eigenart des Eros, der den Menschen sucht. Die Einbildungskraft indessen vermag in den endlichen Gegenstand das unendliche Wesen des Menschen hineinzubilden, denn sie „begrenzt nie, sie geht immer ins Unendliche fort", „ s o b a l d . . . das Genie des Künstlers sie begeistert". 3 ) So kommt zur Einheit als zweites Moment des Idealischen die T o t a l i t ä t . „Absolute Totalität muß eben so sehr der unterscheidende Charakter alles Idealischen sein, als das gerade Gegenteil davon ») II, 284—85. II, 127; vgl. auch den Brief an Schiller vom 22. September 1795. 3) II, 131.
2)
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der unterscheidende Charakter der Wirklichkeit i s t . " W i e wird diese Totalität erreicht? Wir wissen, die Kunst betrifft stets nur die Stimmung des Gemütes: „ E s kommt daher gar nicht darauf an, alles . . . wirklich zu z e i g e n , sondern nur darauf, uns in die Stimmung zu versetzen, alles zu s e h e n . " 2 ) Ferner, der Einheitspunkt, der die Totalität beherrscht, und in •dem auch „unser eigenes Wesen gesammelt" (vgl. oben S. 29) werden muß, um in solcher Stimmung die Totalität, die „Welt, die uns selbst entspricht", zu erschauen, kann wieder nur der Geist der Menschheit sein. So sagt Humboldt: „Alles, was er (der Künstler) hierbei zu tun hat, ist nur, seinen Leser in einen Mittelpunkt zu stellen, von welchem nach allen Seiten hin Strahlen ins Unendliche ausgehen." 3 ) Und als dieser Mittelpunkt ist, wie wir erwarten müssen, „die menschliche Natur" bezeichnet. 4 ) V o n ihm aus also bringt „jedes vollendete Kunstwerk immer" die Stimmung in uns hervor, daß wir „die menschliche Natur zugleich in allen ihren Berührungspunkten" empfinden. 5 ) Wir werden hier zunächst wieder an Kants Spiel der ganzen Bewußtseinsgebiete erinnert. Humboldt hatte im Briefwechsel mit Körner über die Bedeutung dieses Gedankens sich klar zu werden versucht und schloß, das Wohlgefallen am Schönen entstehe in einer Übereinstimmung zwischen Einbildungskraft und Verstand, „von der er sich keine Rechenschaft geben kann". 6 ) Sie ist eben die Tat des Genius. Schon in dem Aufsatz „Über den Geschlechtsunterschied . . ." heißt es, es sei „jedes echte Werk des Genies die Frucht einer freien, in sich selbst gegründeten, und in ihrer Art unbegreiflichen Übereinstimmung der Phantasie mit der Vernunft". 7 ) Die „ V e r nunft, die sich immer leichter mit der Phantasie . . . verbindet", ist an die Stelle des Verstandes getreten. 8 ) Denn die Einbildungskraft hat selbst ein Streben ins Unendliche. E s handelt sich nicht um die Bewußtseinsgebiete, sofern sie Gebiete und Massen von Vorstellungen sind, sie bedeuten überall nur die Richtungen, in denen das Bewußtsein eigenartig sich betätigt 9 ), und das Bewußtsein des Menschen wird hier in Betracht kommen müssen, sofern seinen Richtungen gerade ins Unendliche zu streben wesentlich ist. Ihre harmonische Stimmung ») ) 8 ) *) 6
4 6 II, 136. ») Ib. *) Ib. ) II, 139) II, 141. An Körner S. 3—4. ') 1 , 3 2 1 . Vgl. auch „Über Jakobis Woldemar" I, 295. Vgl. Cohen, Kants Begründung der Ästhetik S. 174.
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äußert sich als ein Gefühl allseitig erhöhten Selbstbewußtseins, die menschliche Natur wird zugleich „in allen ihren Berührungspunkten" empfunden, indem nämlich alle harmonisch zu der übersinnlichen Bestimmung des Menschen tendieren. Und diese Tendenz erklärt und ermöglicht es, daß der Übergang von einem Gefühl zu jedem anderen so leicht und befreiend vonstatten geht. „Nie gehen wir leiser von einer Empfindung zu einer andren über" 1 ) (man denke auch z. B. an den Gegensatz der Tragik und des Humors bei Shakespeare). 2 ) So vermag die Kunst die ganze Skala menschlicher Gefühle in allen Höhen und Tiefen abzuwandeln, sie mag den Gottmenschen oder seinen Zusammenhang mit dem Tier zeigen — es ist immer die Liebe, die in jeder seiner Äußerungen seinen unendlichen Beruf ahnend erfaßt. „Es ist ein Vorrecht der Dichtung, das ganze, ungeteilte Wesen des Menschen in Anspruch zu nehmen, und ihn jedesmal auf den Punkt zu führen, wo sich seine endliche Natur in Ahndung eines Unendlichen verliert." Auch hier kann man Dichtung als Kunstwerk überhaupt verstehen, wofür auch das Folgende spricht: „Denn die Empfindung trägt teils schon in ihrem Streben an sich, vorzüglich aber, wenn sie durch Kunstsinn, dessen immer im Menschen ruhendes Gefühl durch den ersten musikalischen Laut angeregt wird, geläutert ist, Verwandtschaft mit dem Unendlichen an sich." 3 ) Das sich ins Unendliche verlierende Gefühl wird vielmehr so erst für den Menschen gewonnen: durch die Kunst wird es zu reinem Menschheitsfühlen geläutert, während es sonst ein dumpfes Wogen, die Aufgabe einer unendlichen Problematik verbleiben würde. Wir erfahren so eine dauernde Bereicherung unseres Ich, indem es auch an dem subjektivsten Teile seines Wesens zur Allgemeingültigkeit erhöhbar wird. Denn allgemeingültig ist das Gefühl des Eros, das im harmonischen Spiel der auf das Unendliche gehenden Richtung des Menschengeistes die Liebe zum höchsten Menschentume erweckt. 4 ) Zu dieser eigenartigen Richtung seiner Betätigung strebt der Geist von allem Anfang an. Es ist ein ') II, 14«. Ebenso VI, 86: „Wo die Kunst aus dieser Mitte des menschlichen Gemütes entspringt, da schreitet sie, vor jedem Irrwege sicher, ewig jugendlich, auf einer Bahn fort, die ihr erlaubt, sich nach allen Seiten hin in unbeschränkter Freiheit zu bewegen." Kunstvereinsbericht vom 3) V, 335. 30. Dezember 1828. *) Mit den Terminis „Eros", „Verinnerlichung", „Einheit von Leib und Seele" hat H. Cohen die „Ästhetik des reinen Gefühls" begründet. (Berlin J 9 1 2 . ) s)
C o h e n und N a t o r p , Philosophische Arbeiten IV
H. aus der Fuente, Humboldts ästhetische Forschungen.
„immer im Menschen ruhendes Gefühl, es liegt in allen Menschen und wird durch den ersten musikalischen Laut angeregt". E s kann erst später gezeigt werden, daß Humboldt unter „musikalisch" allgemein „stimmend" versteht, es wird also die Möglichkeit der Kunststimmung als ein Allgemeines, Ursprüngliches vorausgesetzt. Ferner wird sich aus der Rolle, die der Laut in Humboldts Sprachphilosophie spielt, ein weiteres Moment der menschenverbindenden Gefühlsmacht der Kunst ergeben. Und noch in einem weiteren Sinne, wie schon kurz berührt war, erweist sich die Kraft des Eros' in gleicher Richtung fördernd. Die Bedeutung der Stimmung für die Totalität menschlichen Gefühls scheint erschöpft, aber sie erstreckt sich nicht nur auf die Welt unseres Gemütes, sondern auch auf die Welt um uns. In der Stimmung, „in die uns der Belvederische Apoll oder eine Stelle des Homer versetzt", spiegelt sich „zugleich . . . in uns die Welt, die uns umgibt, und setzt dieselbe Stimmung in uns f o r t " . A u c h die Natur wird uns durch die Kunst nahe gebracht; die Strahlen, die das Kunstwerk erhellend in die unendlichen Tiefen unseres Gefühles sandte, zünden dort eine Begeisterung, die sie wieder ins Unendliche ausstrahlt, selbst die lebtose Natur mit einem wärmenden Lichte übergießend, welches wiederum die Stimmung in uns nicht erkalten läßt. So finden wir in der Natur das Bild unserer Stimmung, und unser Herz hat sich zum All erweitert, spiegelt es in sich. Aber das Gefühl, das hier im Grunde nur ein Reflex des durch das Kunstwerk erweckten ist, bemächtigt sich nicht nur auf diesem Umwege der Natur. Sie vermag auch unmittelbar unsere Liebe zu erwecken, sie selbst wird vor unserem schöpferischen Blick zum Kunstwerk, und wir beurteilen sie wie ein Werk des Genies. Die Ästhetik hat somit nicht einen prinzipiellen Unterschied zwischen dem Kunstschönen und dem Naturschönen zu machen; es liegt hier lediglich ein Problem der Anwendung der Prinzipien vor. „Die Natur ist überhaupt nie schön, als insofern die Phantasie sie sich vorstellt." 2 ) In dem Aufsatz „Über den Charakter der Griechen" vergleicht Humboldt den Unterschied zwischen dem griechischen und dem modernen ') II, 141.
2
) II, 131. Ähnlieh erwähnt Humboldt einmal, daß die Natur „jede Gestalt annimmt, welche ihr die Empfindung gibt". (An Schiller S. 195.) „Und so ist es im höchsten Verstände wahr, daß jeder immer in eben dem Grade Fülle und Schönheit außer sich wahrnimmt, in welchem er beide im eignen Busen bewahrt." (I, 108.)
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i 238 unten. Vgl. R. A. Fritzsche (Literaturblatt für germ. und rom. Philologie, Jahrg. 1910 Nr. 2): „Kant ist uns näher gekommen, und wo Steinthal seinen Humboldt entschuldigt, müssen wir oft den Anlaß zur Entschuldigung erst suchen in Steinthals Herbartianismus." 8) VII, 612 (von mir gesperrt). 4) Ib. 5) III, 217. Vgl. Goethe, Reflexionen und Maximen: Bei der Allegorie ist „der Begriff im Bilde immer noch begrenzt und vollständig zu halten und zu haben und an demselben auszusprechen", bei der Symbolik ist 2)
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einer vorher gedachten, noch überhaupt begrifflich denkbaren Idee, sondern um das „Gefühl der Menschlichkeit". In einem Briefe, der unter dem Eindruck von Schillers Tode von besonders feierlichem Tone getragen ist, schreibt Humboldt an Körner: „Das Unbekannte und nie zu Erkennende strebt in einem sichtbaren Zeichen aus. Sich selbst so zu einem Symbol des Weltalls umzuschafifen, wäre die höchste Aufgabe der Menschheit. Gehen Sie von dieser Idee aus, die, wie ich gern gestehe, jetzt und seit längerer Zeit meine Lieblingsidee ist und für mich den Schlüssel alles Daseins, wie es ist und sein soll, enthält, so ist Rom das Symbol zugleich der Vergänglichkeit und des Weltzusammenhanges, wie er intellektuell und ästhetisch für uns existiert." 1 ) Klar ist hier die Idee Aufgabe genannt; es ist die Aufgabe der Menschheit, sich zum Symbol eines Weltzusammenhanges umzuschaffen: wie das Symbol nur ästhetisch durch das Gefühl zu erfassen ist, so sollen auch die Menschen hier durch das Gefühl der Menschheit geeint werden; auf das Gefühl weist uns auch der Ausdruck: das „nie zu Erkennende" hin. Das ist „das große Ideal Goethes", dies Ideal der Humanität, das den Künstler begeistert, das als ein unendliches Erosgefühl „in einem sichtbaren Zeichen", dem Symbole, ausstrebt. „Bis in die tiefste Ader der Brust fühlte der Grieche, daß die Kunst etwas Höheres als die Natur, und das lebendigste und sprechendste Symbol der Gottheit ist" 2 ); alles „arbeitet allein daraufhin, die Wirklichkeit, so rein und treu als möglich, zum Symbol der Unendlichkeit zu machen"; zu solcher Idealität gehört die „Methode, ihn (den Menschen) immer auf Standpunkte zu stellen, wo die Einbildungskraft schon gewohnt ist, alles Kleinliche und Gewöhnliche zu verbannen . . .", die hohe und edle Ansicht, „den Menschen immer mit den Göttern zusammenzuknüpfen". 3 ) Wie Goethe vom Zeus des Phidias sagte: „Der Gott war zum Menschen geworden, um den Menschen zum Gott zu erheben", so Humboldt („Über den Charakter der Griechen"): „Sie sind für uns, was ihre Götter für sie waren, Fleisch von unserm Fleisch und Bein von unserm Bein; alles Unglück und alle Unebenheiten des Lebens; aber ein Sinn, der alles in Spiel eine „Idee im Bild immer unendlich wirksam und unerreichbar", „selbst in allen Sprachen ausgesprochen, doch unaussprechlich". Jubiläumsausgabe 35, S. 326. ') An Schiller S. 326. ») Latium und Hellas III, 146. 3) Ib. 150, 151.
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verwandelt, und doch nur die Härten des Irdischen wegwischt, aber den Ernst der Idee bewahrt." 1 ) Heiligster Ernst ist dies Spiel, das nicht leichtfertig sich über die Schranken und Irrungen des Endlichen hinwegsetzt, sondern alle seine Härten im Lichte der Idee zu ihrem Sinne enthüllt und ob ihnen in Ahnung des Göttlichen im Menschen uns erschauern läßt. Und an diesem Bewußtsein hat der Einzelne teil, und seine Brust wird zu einem Gefühl geweitet, in dem er die Menschheit umfaßt, in dem er selbst sie symbolisiert. Dies Ideal schien Humboldt bei den Griechen verwirklicht; so kann er sagen: „Der Grieche behandelte alles symbolisch, und indem er alles, was seinem Kreise naht, in ein Symbol umschafft, wird er selbst zum Symbol der Menschheit."2) Und wie die Griechen unsere Vorbilder sein sollen, so finden wir diese Bedeutung des Symbols auch mit vorurteilsfreier Konsequenz auf das moderne Leben mit seinen sozialen Verhältnissen erstreckt: „Der Gedanke Humboldts: ,so ließen sich vielleicht aus allen Bauern und Handwerkern Künstler bilden', ist eine Ausdeutung des intelligiblen Substrats des ästhetischen Bewußtseins. In dieser Harmonisierung aller Arbeit des Bewußtseins zum ästhetischen Gefühle spricht sich die Aufgabe aus, die nicht an den Gegenstand des Schönen im individuellen Bewußtsein schlechthin ergeht ; sondern an seine symbolische Bedeutsamkeit. Jedes Werk soll als Menschenwerk den Adel der Freiheit, den Hauch des reinen Gefühls atmen, in dem die Kräfte des Bewußtseins nicht im Todeskampfe ringen, sondern im Siege des freien Lebens spielen." 3 ) ! ») VII, 609. ) III, 216. ) Cohen, Kants Begründung der Ästhetik S. 429.
s
III. Das Kunstwerk als Inhalt des ästhetischen Bewußtseins. a. D e r B e g r i f f der i d e a l i s c h e n S c h ö n h e i t . In dem Tiefsten des menschlichen Wesens, in seinem Menschheitsgefühl liegt der Ursprung, der die Kunst hervorbringt, wurzelt ihre Möglichkeit. In diesem Letzten und Innersten müssen die Menschen sich eins fühlen, hier kann alles Trennende nicht mehr empfunden werden. Indem die Kunst den Einzelnen zu einer freien Gesetzmäßigkeit seines Gefühles emporläutert, macht sie ihn zu einem Gliede dieses Menschenbundes. „Der Endpunkt, an den er Alles knüpfte, war die Herstellung der Totalität in der menschlichen Natur durch das Zusammenstimmen ihrer geschiedenen Kräfte in ihrer absoluten Freiheit", schreibt Humboldt über Schiller.1) In solcher Verbindung steht die Idee des Gefühls der Menschheit mit der ästhetischen Erziehung des Menschen. Im Einzelnen äußert sich dieses Gefühl, indem es den idealischen Charakter konstituiert. Der Charakter wurde oben als das Resultat einer fortwährenden Schöpfung bezeichnet, es wurde die Gleichsetzung des Grundtriebes oder der Urkraft, aus welcher die Individualität entspringt, mit einer angeborenen Naturanlage verboten. Demnach darf es uns nicht wundern, wenn wir den Begriff des Charakters in engster Beziehung zu dem der Aufgabenidee finden. Die Individualität des Menschen wird direkt dem Grundtriebe gleichgesetzt. 2 ) Allein dieser Trieb wird nun genauer bestimmt, ebenso wie auch das Ziel genannt wird, welchem er den Menschen gleichsam entgegenreißt. Wir sahen, er ist es, der sich in der Leidenschaft als Freundschaft und Liebe äußert; so scheint er freilich ein Drang und Affekt zu sein, dem sich die Seele nicht entziehen kann. Er ist dennoch aus dem Teile des Gemütes geboren, in welchem nur das selbstgegebene Gesetz herrscht. 3 ) Hum') An Schiller S. 12.
2
) VII, 610 unten.
3
) III, 204 unten.
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H. aus der Fuente, Humboldts ästhetische Forschungen.
boldt nennt ihn mit dem Namen der S e h n s u c h t . Wir erkennen hierin leicht eine neue Form des Eros wieder, den er in seinen früheren Schriften als Stimmung schildert. Aber wieviel präziser^ wieviel deutlicher ist nun der Gedankengehalt des Begriffes zum Ausdruck gekommen. „Sehnsucht wird vielleicht Manchem ein tändelnder Ausdruck eines verzärtelten Zeitalters scheinen, der denselben lieber mit dem, unmittelbar auf Leben und Handien gehenden Streben vertauschte. Allein Sehnsucht und Streben, auch beide gleich erhaben genommen, sind nicht durchaus gleichbedeutende Ausdrücke, da in jener mit dem Wort auch die Unerreichbarkeit des Ersehnten und die Unbegreiflichkeit ihres Ursprungs ausgesprochen wird, dieses mehr von klar gedachtem Begriff zu bestimmtem Zweck geht; das Streben durch Schwierigkeiten und Hindernisse geschwächt und vereitelt werden kann, vor der Sehnsucht aber, wie durch einen in ihr selbst liegenden Zauber, jede Fessel zerbrochen zu Boden fällt." 1 ) Das Streben ist ein rein ethischer Begriff, das Ziel muß in Zweckbegriffen fixiert werden. Hier aber sind wir bei jener Richtung des Bewußtseins, in der das Gefühl zeugend wird. „Der erfindende Künstler sehnt sich nach der Erreichung der Schönheit, die in noch unfixierter Gestalt seiner Einbildungskraft vorschwebt; erst nach gefaßtem Gedanken strebt er diesem mit seiner Ausführung nahe zu bleiben." 1 ) Es ist dieses sehnsuchtsvolle Streben, welches nach Humboldt dem Menschen seine Individualität, seinen Charakter verleihen soll („der Mensch hat daher nur insofern einen bestimmten Charakter, als er eine bestimmte Sehnsucht kennt", III, 205), es führt den Menschen auf echt idealischem Wege den „Urformen der Menschheit" entgegen. Humboldt bleibt hier also ganz in jener ästhetischen Betrachtungsweise des ethischen Charakters, zu welcher er durch Schiller geführt war. Nicht als ob er das Moralische einfach durch das Ästhetische ersetzen wollte, jenes bleibt, wie auch bei Schiller, das Höhere. 2 ) Es ist aber die Gesinnung der schönen Seele, welche hier dem Menschen anempfohlen wird, denn der i d e a l i s c h e C h a r a k t e r bringt die Gesinnung hervor wie der Künstler das Kunstwerk. 3 ) Die Idealität des Charakters hängt von der Tiefe und Art der *) III, 205—206. ') E s ist ganz im Sinne Schillers, wenn Humboldt sagt: „Denn der Ausdruck des Idealischen fügt der Moralität noch etwas anderes, nicht Höheres (denn sie bleibt immer das Höchste), aber mehr Umfassendes 3 hinzu . . ." III, 205. ) III, 205.
A . III. Das Kunstwerk als Inhalt des ästhet. Bewußtseins.
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Sehnsucht, die ihn begeistert, ab, und durch sie vermag es der idealische Charakter, so wie das Kunstwerk die Schönheit darstellt, die Menschheit in eine Tatsache der Natur zu verwandeln. Auf dieses Ideal ist er gerichtet. Aber wie soll es gelingen, das Ideal ins Leben zu verflechten, welches doch damit eben aufhören würde, Ideal zu sein? „Das Ideal ist nur ein Gedankenbild, das eben darum die Allgemeinheit der Idee haben kann, weil ihm die Bestimmtheit des Individuums m a n g e l t . " S o verbleibt ja auch der Abstand zwischen der Idee und dem Leben ewig erhalten, selbst wenn das Leben zur Idee erhoben und die Idee in Leben verwandelt wird.2) Andererseits aber betont Humboldt, wie dennoch der Begriff des Ideals es notwendig mit sich bringt, daß sich die Idee der Möglichkeit ihres Erscheinens unterwerfe. 3 ) Es gibt keinen anderen Weg für den idealischen Charakter, um dies zu erreichen, als die künstlerischen Kräfte in Bewegung zu setzen: „Zu dem Übergang vom Endlichen zum Unendlichen, der immer nur idealisch ist, taugen ausschließend die schaffenden Kräfte des Menschen: Einbildungskraft, Vernunft und Gemüt . . ."*) Sc sucht „die Kunst in der i d e a l i s c h e n S c h ö n h e i t eine reine und unkörperliche Idee auf oder besser, erzeugt sie." 5 ) Der idealische Charakter spricht sich in der Wirklichkeit aus, indem er sie in idealische Schönheit verwandelt. Wir sehen hier, wie alle früheren Untersuchungen gleichsam in diesem Ziele kulminieren. Auch die Abhandlung über „Hermann und Dorothea" hatte als erstes Erfordernis die Verwandlung der Wirklichkeit in das Idealische aufgestellt; den Begriff der idealischen Schönheit aber kann man in seiner Entstehung verfolgen von den ersten Jugendschriften Humboldts an. Und zwar sind es dieselben durch Schiller angeregten Gedankengänge, die sich hier konsequent fortentwickelt haben. Wenn der Grundtrieb, von welchem Humboldt in seinen späteren Schriften ausgeht, in einem Gebiete liegt, in welchem Freiheit und Notwendigkeit in einer höheren Idee untergehen 6 ), so wissen wir, daß es der Spieltrieb ist, in dem sich Form- und Stofftrieb begegnen. b. D a s W e r d e n d e s B e g r i f f e s d e r i d e a l i s c h e n S c h ö n h e i t . D i e m ä n n l i c h e u n d w e i b l i c h e F o r m . Humboldt geht in seinen frühesten Schriften vom Gegensatz der ') III, 140. ) III, 140.
4
3 -) Ib. ) Dazu vergleiche III, 197, VII, 610. 6 ) 111,213. ) III, 204.
s
218
H. aus der Fuente, Humboldts ästhetische Forschungen.
Form und des Stoffes aus, der uns bereits geläufig ist aus seinem Briefwechsel mit Körner. In der Schrift „Wie weit darf sich die Sorgfalt des Staates um das Wohl seiner Bürger erstrecken?" heißt es: „Die reinste Form mit der leichtesten Hülle nennen wir Idee, die am wenigsten mit Gestalt begabte Materie sinnliche Empfindung." 1 ) Dem Menschen werden zwei Naturen, eine vernünftige und eine sinnliche zugeschrieben; beide müssen zu innigster Harmonie verbunden sein, wie bei der „schönen Seele" Schillers. „Die Form scheint gleichsam in die Materie, die Materie in die Form verschmolzen; oder, um ohne Bild zu reden, je ideenreicher die Gefühle des Menschen und je gefühlvoller seine Ideen, desto unerreichbarer seine Erhabenheit. Denn auf diesem ewigen Begatten der Form und der Materie, oder des Mannigfaltigen mit der Einheit beruht die Verschmelzung der beiden im Menschen vereinten Naturen, und auf dieser seine Größe." 2 ) „Die sinnlichen Empfindungen, Neigungen und Leidenschaften" 3 ) sind Materie wie auch in Kants Terminologie; sie sind gleichzeitig die bewegenden Affekte, „sie bringen Leben und Strebekraft" in die Seele. Andererseits sind die Empfindungen analog dem Stofftrieb bei Schiller auch in theoretischer Bedeutung genommen, und wir werden an die Rolle des Mathematischen bei Plato erinnert, wenn es heißt, daß einiges Sinnliche „Verwandtschaft mit dem Unsinnlichen" habe; „so leiht das Auge der Materie seiner Empfindung die für uns so genußreiche und ideenfruchtbare Form der Gestalt, so das Ohr die der verhältnismäßigen Zeitfolge der Töne". Die Empfindung wird hier sogleich nach ihrem „Nutzen zur Bildung der Seele", d. h. für Humboldt nach ihrer ästhetischen Seite gewürdigt 4 ); die Wichtigkeit des Mathematischen hierbei wird noch erörtert werden. Man kann Humboldt beim Worte nehmen, wenn er von dem Ideale spricht, „das selbst die kühnste Phantasie der Menschheit vorzuzeichnen wagt" 5 ) — es ist ein Ideal der ästhetischen Phantasie; und nicht die praktische Vernunft ist hier das letzte formende Prinzip: „Die Form wird wiederum gleichsam Materie einer noch schöneren Form." 8) Demgemäß bekommt auch die Sinnlichkeit eine höhere Bedeutung, nicht nur „alle Stärke — gleichsam die Materie — stammt aus der Sinnlichkeit" 7 ), „unser Gefühl" ahnt ein geheimnisvolles Band zwischen Sinnlichkeit und Unsinnlichkeit, „un») 1,108. •) 1,108.
*) Ib. ») 1,165. ') 1,173.
«) 1,166.
5
) 1,174.
A. III. Das Kunstwerk als Inhalt des ästhet. Bewußtseins.
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verkennbar ist überall dies ästhetische Gefühl, mit dem uns die Sinnlichkeit Hülle des Geistigen, und das Geistige belebendes Prinzip der Sinnenwelt ist". 1 ) Nur der Eros, der Natur und Sittlichkeit des Menschen umfaßt, drängt nach seiner „zwiefachen Natur der sichtbaren und unsichtbaren Welt"; die so entstehende Natur ist Hülle des Geistigen. Aber obwohl dies Prinzip ausdrücklich als ein ästhetisch-gefühlsmäßiges genannt ist, fordert Humboldt doch, daß man es als das Prinzip anerkenne, welches dem Menschen seine Welt erst wahrhaft aufbaue. Ohne den Geschmack sind „die Tiefen des Geistes wie die Schätze des Wissens tot und unfruchtbar, ohne ihn der Adel und die Stärke des moralischen Willens selbst rauh und ohne erwärmende Segenskraft". 2 ) So wird immer auf die Einheit der Kräfte, auf Harmonie im Wesen des Menschen gedrungen, und die Sinnlichkeit soll nicht dem Geist gegenüber schlechthin zurückgesetzt werden, beide werden zu einer wahrhaft menschlichen Eigenschaft erst in ihrer Vereinigung im Gefühl. Dementsprechend sollen beide auch in ihrer ursprünglichen Anlage nicht als durchaus geschieden gedacht werden. In der Sinnlichkeit ist auch Spontaneität mitgedacht. Aber es ist „das Gesetz der endlichen Natur", „nur vermittelst der Schranken zum Unendlichen aufzusteigen, nur durch Materie zur Form und nur durch Trennung zur Harmonie zu gelangen". 3 ) Die Harmonie ist das Ideal, der W e g zu ihm macht die Scheidung nötig, und nur am Problem des Sinnlichen kommt der Geist zum Selbstbewußtsein. S o haben wir ein „Sehnen" nach der unsichtbaren Welt und das „Gefühl der gleichsam süßen Unentbehrlichkeit" der sichtbaren 4 ), und die Betätigung in b e i d e n Richtungen macht den eigentlichen Menschen aus. Andererseits ist sich Humboldt auch darüber klar, daß aus dieser Würdigung der Stellung des Sinnlichen zum Geistigen „auch die sinnlosesten Schwärmereien entstehen" können. 5 ) Die Vermutung liegt nahe, daß Humboldt an Lavater gedacht habe. Denn in einem Briefe an Forster vom 28. Oktober 1789 hatte er nach einer ausführlichen Erzählung seines Besuches bei Lavater geschrieben: „ E s mag wohl viel Schwärmerei darin liegen, die ganze Sinnenwelt nur so als eine Art anzusehen, wie die unsinnliche erscheint." Jedoch hatte er den Gedanken immerhin interessant gefunden, und nach richtiger Seite gewendet ent') 1,169.
2
) 1,170.
*) 1,357.
*) 1,169.
«) Ib.
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H. aus der Fuente, Humboldts ästhetische Forschungen.
sprach er offenbar seiner eigenen, der ästhetischen Anschauungsweise. • Er hatte darin ein Mittel gesehen, „den Genuß zu erhöhen, zu veredeln . . . die grobe Sinnlichkeit, deren eigentlicher Charakter es ist, im Sinnlichen nur das Sinnliche zu finden, zu vernichten und immer mehr auszubilden den ästhetischen Sinn' als den wahren Mittler zwischen dem sterblichen Blick und der unsterblichen Uridee". 1 ) Schon Haym hat darauf aufmerksam gemacht, welch charakteristischer Unterschied zwischen Lavater und Humboldt sich ergibt an dem Beispiele der Physiognomik. Denn während Lavater wirklich jenen Schwärmereien verfiel, wußte Humboldt einen Gewinn für die Ästhetik daraus zu ziehen, wie sein Aufsatz „ L e Musée des petits Augustins" beweist. 2 ) Aber nicht nur das menschliche Antlitz ist Ausdruck des Unsinnlichen im Sinnlichen, die ganze Gestalt kann als Produkt dieser beiden Prinzipien, des formenden und des stofflichen, aufgefaßt werden. Und es ist ein solches Verhältnis zwischen beiden denkbar, daß Ausdruck der idealischen Schönheit entsteht. Doch wird in der Wirklichkeit dieses Ideal ebensowenig erreicht wie der Charakter der schönen Seele. Nur durch Trennung kommt der endliche Mensch zur Harmonie, so ist der einzige W e g zur Idealschönheit die Scheidung in die beiden Arten der Geschlechtsschönheit. „Und ebenso wie das Ideal der menschlichen Vollkommenheit, so ist auch das Ideal der menschlichen Schönheit unter beiden auf solche Art verteilt, daß wir von den zwei verschiedenen Prinzipien, deren Vereinigung die Schönheit ausmacht, in jedem Geschlecht ein anderes überwiegen sehen. Unverkennbar wird bei der Schönheit des Mannes mehr der Verstand durch die Oberherrschaft der Form (formositas) und durch die kunstmäßige Bestimmtheit der Züge, bei der Schönheit des Weibes mehr das Gefühl durch die freie Fülle des Stoffes und durch die liebliche Anmut der Züge (venustas) befriedigt." 3) Bei beiden müssen beide Prinzipien sichtbar sein, aber die höchste Schönheit würde das genaueste Gleichgewicht von Form und Stoff, Kunstmäßigkeit und Freiheit, geistiger und sinnlicher Einheit erfordern. 4 ) Es würde aus der Verbindung der reinen Männ') Alte gesammelte Werke 1,285—286. Bei der Besprechung der bildenden Künste wird darauf zurückzukommen sein. *) Vgl. auch Bd. I, 104: Plan einer vergleichenden Anthropologie. 4) Humboldt erinnert selbst in einer Anmerkung (S. 352) an den 2)
A . III. D a s Kunstwerk als Inhalt des ästhet. Bewußtseins.
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lichkeit mit der reinen Weiblichkeit sich die Menschlichkeit bilden.1) Zur Anschauung dieses Ideals erhebt sich nur die Phantasie. Und da wird die Trennung des Endlichen sich gerade fördernd erweisen. Die Phantasie erhebt sich durch selbsttätige Kraft zur schrankenlosen Idee, indem sie beide Elemente des Ideals einzeln und in verständlicher Klarheit empfängt, aber beide in Beziehung zum Ideal gesetzt und auf dieses hinstrebend. 2 ) Diese Annäherung an das Ideal kann dargestellt werden; denn beide Geschlechter sind einer Schönheit fähig, da beide Anteil an der Menschheit haben können. „Wir sehen aus der Verbindung der Menschheit mit dem Geschlecht eine neue mittlere Schönheit hervorgehen, und diese ist es, welche man gewöhnlich unter der männlichen und weiblichen Schönheit versteht." 3 ) Würde das Gepräge des Geschlechtscharakters den Menschheitscharakter durchaus vereiteln, so wäre Schönheit unmöglich. Der Menschheitscharakter kommt dadurch in die Gestalt, daß diese außer dem sinnlichen Stoff auch das Wirken der unsinnlichen Idee verrät, außer der Empfänglichkeit auch die Sebsttätigkeit und umgekehrt (so bes. im Aufsatz „Über den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluß auf die organische Form"). Denn neben der Schranke des Geschlechts trägt der Mensch „Anlagen zur freien geschlechtslosen Menschheit in sich". 4 ) Das Fehlen der Menschlichkeit wird sich beim Manne in dem Ausdruck roher Wildheit zeigen, die aber immer noch Interesse und Staunen erwecken kann; beim Weibe wird bloßer Ausdruck des Unvermögens übrigbleiben, da die Materie die Kraft unterdrückt. 5 ) Demgegenüber ist bei der mittleren Schönheit „das Gleichgewicht des Ideals nur um so viel gestört, als es die Beschränktheit endlicher Naturen notwendig macht, und diese Störung selbst erteilt der Gestalt eine so individuelle Mischung der Züge, daß sie dadurch einen neuen Zauber gewinnt". 6 ) So gibt Humboldt selbst anmutige Schilderungen der Schönheit an den individuellen Beispielen der griechischen Göttergestalten. Begriff der Schönheit, der sich in Schillers Briefen über die ästhetische Erziehung aus dem Spiel von Formtrieb und Sachtrieb ergibt. 3 *) I, 3 3 5 - 3 3 6 I, 3 5 8 - 3 5 9 ) l 357) 1 , 3 5 7 - D e r Begriff der übergeschlechtlichen Schönheit ist der ganzen damaligen Zeit (besonders Winckelmann und Fr. Schlegel), nicht nur Humboldt wesentlich, wie auch aus der Ausführung in Sulzers „ A l l gemeiner Theorie der schönen K ü n s t e " III, S . 618 hervorgeht. — D i e Beziehungen zu Schillers Aufsatz „ Ü b e r Anmut und W ü r d e " treten überall hervor. Spranger hat besonders darauf hingewiesen S. 407. 4
' ) I> 355- 356.
•) 1 , 3 5 7 -
222
H. aus der Fuente, Humboldts ästhetische Forschungen.
Überall wird die Charakteristik zurückgeführt auf das Verhältnis der Gattungsschönheit zu den besonderen Eigentümlichkeiten des Geschlechtes. Greifen wir unter den Beispielen, die Humboldt gibt, diejenigen heraus, in welchen gleichsam die äußersten Grenzen der behandelten ästhetischen Begriffe erkennbar werden. Die weibliche Schönheit ist in ihren Merkmalen am vollkommensten repräsentiert durch die Gestalt der Venus. Mit beredten Worten schildert Humboldt ihren Reiz und ihre Anmut; die Weiblichkeit scheint hier mehr die Darstellung der Stimmung eines Moments und der Neigung als des Charakters. So ist es auf körperlicher Seite die üppige Fülle, auf geistiger das bloß Stimmungs- und Gefühlsmäßige, welches in der Venus seinen Ausdruck gefunden hat. Wenn beides sich hier wie bei jeder Schönheit dem formenden, verstandesmäßigen Prinzip gattet, so erscheint doch diese Zusammenstimmung mehr als eine nur zufällige, rein natürliche, nicht bewußt gewollte.1) Stellen wir ihr Juno, die Götterkönigin, zur Seite, so können wir hier bemerken, wie sich die weibliche Schönheit mehr jener reinen Gattungsschönheit annnähert, indem das selbsttätige, formende Prinzip bei allem Bewahren der reinen Weiblichkeit deutlicher hervortritt. „Es ist das Ideal einer geistigen Natur überhaupt, welche, um einen Körper anzunehmen, sich notwendig zu einem Geschlechte bekennen mußte, und nun das Weibliche wählte." 2 ) Wenden wir uns von dieser Darstellung einer mehr geschlechtslosen Schönheit den Bildern der männlichen Schönheit zu, so können wir auch hier wieder diese zwei Grundtypen unter den griechischen Göttern erkennen. Die an Härte grenzende Bestimmtheit der männlichen Schönheit zeigt der farnesische Herkules; er verrät überall die dem Manne eigentümliche Kraft und Heftigkeit, ohne daß doch das Ideal der Menschlichkeit in ihm ausgelöscht wäre. Wollen wir dieses aber in der dem männlichen Geschlechte erreichbaren höchsten Blüte vor Augen sehen, so müssen wir uns an der Darstellung jugendlicher Gestalten erfreuen, wie sie unter den Götterbildern der vatikanische Apoll uns gewährt. Denn hier ist männliche Bestimmtheit mit sanfter Bildung der Züge vereint.3) Wir erkennen leicht in der doppelten männlichen und weiblichen Schönheit, die hier überall zur Charakteristik herangezogen wird, Schillers Begriffe der energischen und schmelzenden Schönheit wieder. Was so unter dem Einflüsse Schillers ') 1.337-
*) I,34i.
s
) I> 345-346-
A. III. Das Kunstwerk als Inhalt des ästhet. Bewußtseins. in Humboldts Jugendwerken als eine Entdeckung von größter Bedeutung für sein ganzes Denken auftritt, ist seinem Geiste stets verwandt gewesen und ihm nie verloren gegangen. Noch in der Schrift über „Latium und Hellas" weist er auf den Gegensatz der Geschlechter hin als ein Beispiel, an welchem man sich am vollständigsten das Verhältnis des Individuums zum Ideal klarmachen könne. 1 ) c. D i e F o r m d e s K u n s t w e r k s als A u s d r u c k d e r k ü n s t l e r i s c h e n I n d i v i d u a l i t ä t . Die Sehnsucht zum Ideal ist es, welche dem künstlerischen Blick in gleicher Weise das Wesen des Organismus wie das des Kunstwerkes erschließt; das Kunstwerk selbst ist das Erzeugnis dieser Sehnsucht. 2 ) Insofern nun die Sehnsucht mit der Individualität des Künstlers identisch ist, so strömt diese, die Individualität, in das Kunstwerk ein, in welchem sich die Sehnsucht ausspricht; denn — so heißt es schon in der Schrift „Über den Geschlechtsunterschied . . . " — „das eigene Ich entäußert sich bis zu dem Grade, daß es sich selbst gern für die neue Schöpfung hingeben möchte". 3 ) So sehr bestimmt die unendliche Eros-Stimmung das endliche Werk, das auch nur so Reinheit und Objektivität erhält. Es ist ja das Eigentümliche des künstlerischen Geschehens, daß, obgleich hierbei der Geist und die Individualität des Künstlers gleichsam in das Werk hinüberwandern, dennoch die das Werk beseelende Idee zum reinsten Ausdruck kommt. „Der menschliche Geist hat eine unleugbare Kraft, unmittelbar selbst und in seiner eigentümlichsten Gestalt aus sich herauszustrahlen, an einem Stoffe zu haften, sobald dieser nur von einer Idee, als etwas seiner Natur Verwandtem, bezwungen ist, und an ihm erkennbar zusein." 4 ) So ist es die Begeisterung der Idee, welche in der künstlerischen Produktion das Ewige der vergänglichen Individualität des Künstlers rettet, indem sie nur die Idee des dargestellten Werkes rein zu enthüllen scheint. Es ist aber eben die Idee des Werkes selbst, die den Künstler in der Produktion beherrschen muß und nicht sein Ich. „So wie ein kräftiger Geist sich selbst bewußt oder unbewußt, von großen Ideen beherrscht, über einem, der Form fähigen Stoffe brütet; so kommt allemal etwas jenen Ideen Verwandtes, und daher dem gewöhnlichen Naturgange Fremdes hervor." 5 ) In dieser Hinsicht steht das geniale Schaffen des Denkers, des Dichters, des Künstlers, des Kriegers usw. auf einer Stufe. ') III, 138.
s
) 111,204.
') 1,318.
4
) III, 144.
6
) 111,363-364.
H. aus der Fuente, Humboldts ästhetische Forschungen.
Für die Kunst aber ergeben sich hieraus besonders wichtige Konsequenzen. Nur indem das Ewige, die Idee, im Subjekte des Künstlers wirksam ist, und indem das Werk ausschließend dies objektiviert, kann es eine Gemeingültigkeit behaupten und vermag eine „Art lebendiger Mitteilung" zu bilden (oben S. 27), die das reine Gefühl wieder erweckt. Da das Werk Anteil an der Idee des Schönen hat, kann man mit Fug „jedermann ansinnen", daß er es als schön beurteile. Ferner ergibt sich aus der Art, wie der Künstler die Idee erfaßt, die individuelle Einheit des Werkes, und es ist das „Ideal die Darstellung einer Idee in einem Individuum". 1 ) Um eine begriffliche Einheit kann es sich hier nicht handeln: die Einheit des Kunstobjektes wird als eine „Einheit der Form" bezeichnet.2) „ W o der höchste Grad der Objektivität erreicht ist, da steht schlechterdings nur Ein Gegenstand vor der Einbildungskraft da; wieviele sie auch derselben unterscheiden möchte, so vereinigt sie sie doch immer nur in Ein Bild; da ist der Stoff bis auf seine kleinsten Teile besiegt, da ist alles Form und durch das Ganze hin nur Ein und eben dieselbe." 3) d. D i e i n n e r e F o r m . 1. Geschichte dieses Begriffs. Der in jener aus der Frühzeit Humboldts stammenden Schrift ausgedrückte Gedanke hat sich später zu dem Begriff der i n n e r e n F o r m verdichtet, welcher in gleicher Weise dazu geeignet erscheint, die innere Einheit und die Objektivität des Kunstwerkes zu bezeichnen. Auch dieser Begriff hat seine Geschichte bei Humboldt, und schon im Briefwechsel mit Körner finden sich Ansätze, die auf ihn hinzielen. Die Anregung kam hier auch gerade von dem Problem der Objektivität des Kunstwerkes: gibt es ein objektives Kriterium des Schönen, war die Frage, welche Schiller, Körner und Humboldt beschäftigt hatte. Humboldt hatte die Meinung geäußert, es ließen sich vielleicht die Begriffe und Ideen bestimmen, die zugleich mit dem Wohlgefallen am Schönen in der Seele rege werden, und das Wohlgefallen entstände daraus, daß der Verstand eine Übereinstimmung zwischen der sinnlichen Form des Gegenstandes und seiner Kategorie anträfe. So müßte z. B. beim Anblick einer schönen Vase der Begriff der Einheit rege werden,4) Bald aber handelt es sich nicht mehr um solche einzelnen Begriffe; indem Humboldt Bedenken gegen Körners Versuch, die Schönheit völlig objektiv zu bestimmen, vorbringt, schreibt ') II, 138.
*) II, 129.
») II, 161.
4
) An Körner S. 3—4-
A. III. Das Kunstwerk als Inhalt des ästhet. Bewußtseins.
er: „Alles Eigentümliche des Schönheitsgefühles entspringt aus der Verknüpfung der denkenden und empfindenden Kräfte."') Wäre nun die Schönheit ganz in objektiven Eigenschaften der Dinge gegründet, so daß nur die Vorstellungskraft in Betracht käme, so wäre diese Verknüpfung nicht zu begreifen. In der Verknüpfung der Kräfte, die, wie schon gezeigt war, sich vertiefte zum Spiel der ganzen ins Unendliche gehenden Richtungen des Bewußtseins, liegt eben das Novum der Kunst, das nur durch das Gefühl erfaßbar ist. „Nehme ich daher alles zusammen, so ist mehr nur die Stimmung der Seele bestimmbar, die das Schöne empfindet, als die Beschaffenheit des Gegenstandes, der diese Empfindung hervorbringt." 2 ) Was bleibt nun übrig, das man von diesem Gegenstande aussagen könnte? Er muß „von der Einbildungskraft aufgefaßt und dargestellt werden können. Er muß also sinnlich, durch Zeit oder Raum oder beide konstruierbar sein". 3 ) Die Einbildungskraft soll aber mit dem Verstände übereinstimmen, so muß der Gegenstand durch die Art seines sinnlichen Erscheinens den Verstand reizen, sich mit der Einbildungskraft zu verbinden. Humboldt schließt sich hier noch eng an Kant an: die Sittlichkeit ist noch unwesentlich im Spiel der Kräfte, es handelt sich nur um die Verbindung der Einbildungskraft mit dem Verstände; und zwar muß der schöne Gegenstand gleichsam die Form des Verstandes sinnlich an sich tragen: „und so definiere ich das Schöne lieber als die Form des Verstandes in der Erscheinung . . . Diese Form enthält die wesentlichen Stücke, i. die Erscheinung, 2. die Form des Verstandes, 3. die Verbindung von beiden." 4 ) Sogleich werden die Schwierigkeiten deutlich, die in dem Terminus der Form liegen. Bei Kant bedeutet er das Gesetz der Erzeugung des Gegenstandes. S o sind Raum und Zeit die Formen der reinen Anschauung, welche mit den Kategorien, als den Formen des Verstandes, den Gegenstand der Erfahrung konstituieren. Erscheinung bezeichnet hier die eine Seite am Gegenstand, sofern er nur nach seiner Erzeugung durch die reine Anschauung in Betracht gezogen ist. Soll also der schöne Gegenstand sich vor dem Gegenstand der Erfahrung auszeichnen, so muß die Verbindung der Erscheinung mit der Form des Verstandes eine besondere sein. Nicht der Verstand für sich wird das Mannigfaltige, das die reine Anschauung darbietet, zum neuen Gegenstand formen, vielmehr wird eine neue Form ') An Körner S. 16.
*) Ib. S. 18.
C o h e n und N a t o r p , Philosophische Arbeiten IV
«) Ib. S. 24.
*) Ib. S. 24.
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H. aus der Fuente, Humboldts ästhetische Forschungen.
die eigenartige Verbindung zu leisten haben. Humboldt schildert es: es sei nicht Ausdruck von Begriffen und Ideen, sondern Ausdruck der Formen selbst, in welchen erst alle Begriffe und Ideen selbst ihr Dasein erhielten, nicht absichtlicher Ausdruck der Idee, sondern freiwilliges Begegnen zweier Naturen, des Sinnlichen und Unsinnlichen.1) Beide sind durchaus als spontan entspringend gedacht, und zwar eben in freiwilliger Harmonie, in solcher Einheit, daß in dem aus ihnen zusammengewirkten Erzeugnis das Unsinnliche leibhaftig erscheint. Daß es sich dabei um eine neue, eigenartige Formung handelt, geht auch aus der Entgegensetzung zum Charakteristischen hervor. Dieses wird nicht durch die ästhetische Form hervorgebracht, in welcher das Sinnliche und Unsinnliche eins sind; vielmehr erinnert es nur an etwas Unsinnliches, es ist zwar Körper einer Idee, aber Leib und Seele bleiben hier geschieden. 2 ) Das Charakteristische scheint mehr assoziativ zur Idee hinzulenken, das Schöne apperzeptiv, weil hier die ästhetische Idee Form des Stoffes ist. Das Wirken der Form wird beschrieben: die Verbindung der Teile, das Verhältnis des Materiellen am schönen Gegenstand stehe zur Form des Ganzen im gleichen Verhältnis wie bei den Ideen selbst, die daher durch ihn erweckt würden. 3 ) Das Materielle ist eben formerzeugt, ist nur Leib gewordene Form, und zwar Form eines Verhältnisses von Ideen. Die ästhetische Form bringt also eine besondere Proportion der Bewußtseinsrichtungen hervor, die ihr Korrelat in der Beschaffenheit des Gegenstandes hat. Es heißt dann entsprechend, das Charakteristische könne Ausdruck einzelner unsinnlicher Beschaffenheiten sein, und zwar bald dieser, bald jener; das Schöne dagegen nur gewisser systematisch miteinander verbundener und immer derselben. Es führt also in seiner Form Vollständigkeit und Unveränderlichkeit mit sich. Man kann daher nicht einmal genau sagen, das Schöne drückt Ideen aus, sondern der Zusammenhang des Sinnlichen erscheint dem des Unsinnlichen konform. 4 ) Wir hatten schon gesehen, darauf kommt es schließlich an: „ganz eigentlich nur auf die Art, wie diese unsinnliche Idee in die Sinnlichkeit verwebt ist. Ja, es ist nicht einmal eine Idee" (oben S. 41). Diese Idee, die nur eine Idee des Gefühls ist, wird in der ästhetischen Form wirksam sein und die Beschaffenheiten des Gegenstandes systematisch ver') Ib. S. 26—27.
!
) Ib. S. 25.
3
) Ib.
4
) Ib. S. 26.
A. III. Das Kunstwerk als Inhalt des ästhet. Bewußtseins.
binden zu einer Vollständigkeit, die durch die Beziehung auf die eine Idee immer dieselbe ist, immer den Charakter des Ideals hat. Dagegen fehlt beim Charakteristischen dieser verbindende Gesichtspunkt, so daß es als Ausdruck wahllos hingestellter Ideen sich dem Bereich des Idealischen entzieht und zum Wirklichen gehörig sich erweist. Die Stellung, die das Charakteristische hier erhält, erklärt sich aus der allgemeinen Anschauung der damaligen Zeit, in der vor allem auf die Ruhe der äußeren Gestalt das Schwergewicht der Beachtung fiel, wie auch Winckelmann das Leidenschaftliche mit der Schönheit für unvereinbar hielt. Schon hier war es berührt, das Schöne führe in seiner Form Vollständigkeit mit sich, die sich durch die systematische Einheit erklärt. Von hier aus kommen wir dem Wesen der inneren Form näher. Die Vollständigkeit, die später präziser Totalität genannt wird, wird nur in unserem Gefühle erzeugt, und zwar durch die Beziehung auf das unendliche Wesen des Menschen; aber dies Gefühl muß durch das Werk erweckt werden, dieses selbst muß gleichsam unendliche Umrisse haben. So schildert Humboldt das Wesen der dichterischen Behandlung. Nicht indem der Dichter „seiner Stimmung einen heftigen und leidenschaftlichen Schwung gibt, sondern indem er seinem Gegenstande dadurch, daß er alles in ihm zusammenfaßt, eine unendliche Ausdehnung erteilt, hebt er ihn aus der Wirklichkeit empor; nicht dadurch, daß er ihn von der Natur entfernt, sondern dadurch, daß er ihn ganz in ihr, aber sie selbst mit ihm in ihrer wahren und ursprünglichen Gestalt auffaßt, erhält er ihn innerhalb des Gebiets der Einbildungskraft." 1 ) Die Einbildungskraft verbindet „Unendlichkeit mit den Formen" 2 ), aber sie muß auf d e n P u n k t geführt werden, von dem aus sie die Natur in „ihrer wahren und ursprünglichen Gestalt" auffassen kann. Wie im Briefwechsel mit Körner die Konstruierbarkeit in Raum und Zeit gefordert war, bedeutet hier Natur die sinnliche Erscheinungsart überhaupt eines Kunstwerkes. „Dadurch allein erlangt sie (eine dichterische Gestalt) wahrhaft unendliche Umrisse, verbindet sie alles Wechselnde und Mannigfaltige in Ein Bild, daß sie, sich immer im Mittelpunkte erhaltend, von da aus diese Übergänge wirklich versucht und überall zwar bestimmt, aber leise, überall fest, aber mit schon wieder weitergleitendem Fuße auftritt." 3 ) Es muß also bei jedem ') II, 216.
2
) II, 131.
3
) II, 185.
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H. aus der Fuente, Humboldts ästhetische Forschungen.
Werk einen solchen M i t t e l p u n k t geben, von dem aus der Zugang zu jedem Teile möglich und alle Einzelheiten verständlich werden; so bekommt es eine Einheit und gleichzeitig Unendlichkeit. Dies schildert Humboldt an den Figuren Hermanns und Dorotheens: „Indem die Phantasie, den fixen Punkt aufsuchend, an dem das Ganze befestigt ist, immer von der einen zur andren hinüberschwanken muß, indem das Bild beider, wie ein Licht zwischen zwei Spiegeln, immerfort von der einen in die andre zurückgeworfen wird, erhalten sie immer schwellende und unendliche Umrisse." 1 ) Die Möglichkeit, einen solchen Punkt aufzufinden, liegt in einem „ v e r b o r g e n e n C h a r a k t e r " d e r D i n g e , wie es schon in dem Aufsatz „Über den Geschlechtsunterschied . . ." heißt 2 ), ebenso wie später vom inneren Charakter einer Sprache gehandelt wird. Die nähere Untersuchung wird wieder deutlich machen, daß dieser innere Charakter selbst dem Ding eben erst durch die schaffende Künstlerindividualität verliehen wird. Vorläufig dürfen wir uns also, ohne Mißverständnis befürchten zu müssen, dieser objektiven Ausdrucksweise bedienen. Der innere Charakter besteht nicht in einem Inbegriff zufälliger Äußerungen, sondern im innersten Wesen des Dinges, kann „nicht durch rhapsodistische Aufzählung der einzelnen Merkmale" erschöpft werden, sondern muß „in seiner ganzen Einheit aufgefaßt werden". Hat man den Einheitspunkt einmal erfaßt, so sieht man, wie aus dieser inneren Beschaffenheit der Wesen „jede Verbindung in der Natur" hervorgeht, aber er „enthüllt sich fast nur einem gewissen ahnenden Gefühl". 3 ) Hier setzt gerade das Unbegreifliche des künstlerischen Schauens ein. So schildert Humboldt im Aufsatz „Über Goethes Hermann und Dorothea" (Kap. 47) das „große und unermeßliche Geschäft" des Dichters. Goethe ging „auf Darstellung des ganzen Menschen in seiner äußern Gestalt und seinem innern Wesen" aus; durch die Eigenart der dichterischen Form erweckt, findet unser bildender Sinn überall Festigkeit, Zusammenhang; er schafft sich „eine durchaus übereinstimmende, durchaus organisierte Natur". Das Wesen „des ganzen Menschen" gibt also den Einheitspunkt, von dem aus diese neue Natur zu o r g a n i s i e r e n war, von da aus mußte der Künstler den inneren Charakter zu erfassen suchen. Und nun beruht „die Hauptwirkung jedes Kunstwerks . . . auf der Verbindung seiner Gestalt mit seinem Charakter". Die Art der
0 11,175.
s
) I,3i3.
•) Ib.
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Verbindung ist hier noch recht unbestimmt bezeichnet und mehr durch Vergleiche umschrieben, als in ihrem systematischen Zusammenhange festgelegt. E s tritt dabei zum erstenmal in Humboldts Schriften der direkte Name der inneren Form auf (bezeichnenderweise noch im Pluralis): die äußeren und inneren Formen des Gedichtes passen so eng aufeinander, daß sie sich gerade gegenseitig begleiten und erfüllen. Durch den schon berührten Gedanken des Organischen wird die zugrunde liegende Tendenz aufgeklärt. S o heißt es später in der Vorerinnerung zum Briefwechsel mit Schiller: „ W i e in dem organischen Bau und dem Seelenausdruck der Gestalt, gibt es in dem Zusammenhange selbst einer einfachen Begebenheit eine lebendige Einheit, und nur von diesem Mittelpunkt aus läßt sie sich auffassen und d a r s t e l l e n . " Z w a r wurde die lebendige Einheit, von der hier die Rede ist, in dem Aufsatz „Über die männliche und weibliche F o r m " noch in dem B e g r i f f des Organismus gesucht: „Denn überhaupt ist keine Gestalt eines organischen Wesens rein, nur von sich selbst abhängig, sondern jede wird durch den Begriff desselben und die ihm innewohnende Kraft bestimmt." 2 ) Dies mag freilich für den Naturorganismus zutreffen, aber wie steht es mit dem Kunstwerk? In der künstlerischen Betrachtung wird es jedenfalls nicht beim Aufsuchen des Begriffes sein Bewenden haben können. Die Organisation des Kunstwerkes muß tiefer im Geiste begründet sein. Hier ist es, wo sich unzweifelhaft der Einfluß Goethes auf Humboldt geltend macht. Freilich kann man auch sagen, daß beide Denker sich in ihrer Entwicklungsbahn hier auf einem gemeinsamen Punkt begegnen; denn wenn Humboldt den Begriff der inneren Form von nun an in einem Sinne verwertet, der dem Gebrauch dieses Wortes in Goethes philosophischer Sprache mindestens sehr nahe kommt, so haben doch, wie wir hoffen, die vorhergehenden Darlegungen gezeigt, wie alles in Humboldts Entwicklung zu diesem Punkte hindrängte. 2. Die innere F o r m 3 ) als das Gesetz des Kunstwerkes. Wenn Goethe von den Kunstgesetzen spricht, „die ebenso wahr ') A n Schiller S. 27. *) I, 347. ®) Zur Geschichte des Begriffes der inneren F o r m vergleiche die Einleitung von Oskar Walzel zu Goethes Schriften zur Literatur in Bd. 36 der Jubiläumsausgabe. Ferner B. Delbrück, „Einleitung in das S t u dium der indogermanischen Sprachen". Und Goethe-Jahrbuch 6 , 2 3 4 ; 13, 229; 14, 296; Euphorion 4, 205. 445. Minor weist hier den Begriff der inneren F o r m nach bei Denina (1776 „Bibliopoeie oder Anweisung für
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in der Natur des bildenden Genies liegen, als die große allgemeine Natur die organischen Gesetze ewig stetig bewahrt" 1), so gibt er nur scheinbar eine bloße Analogie; es ist hier vielmehr bereits deutlich der Begriff der inneren Form von seiten des O r g a n i s m u s antizipiert, und dieser Zusammenhang ist es auch, von dem aus Humboldt den Begriff der inneren Form ergriffen hat. 2 ) Er rühmt an Goethe, wie bei ihm der „Drang, von der Gestalt und dem äußeren Objekt aus dem inneren Wesen der Naturgegenstände und den Gesetzen ihrer Bildung nachzuforschen", übereinstimme mit dem Dichtungstrieb und dem Hang und der Anlage zur bildenden Kunst, und wie sich diese verschiedenen Geistesanlagen und Bestrebungen gegenseitig förderten. 3 ) In diesem Sinne verfolgte Goethe aus gleichem wissenschaftlichen und künstlerischen Interesse heraus „das geheime Gesetz" in der Metamorphose der Pflanzen. Es genügte ihm nicht, dies begrifflich ergründet zu haben, sondern nunmehr erst schien es ihm möglich, die wundervolle Erscheinung des Pflanzenlebens künstlerisch zu gestalten und zu genießen. Denn was er begrifflich von der Natur oder vom sittlichen Leben der Menschen erfaßte, verwandelte er zeugend aus seinem Genie heraus in ein künstlerisches Bild. Es ist begreiflich genug, daß es ihm, dem Künstler, schien, als ob sich damit auch erst die theoretische Erkenntnis des jeweiligen Gegenstandes vollendete. Das Gesetz des Werdens der Erscheinungen selbst ward ihm Schriftsteller"), bei Goethe, bei Körner in einem Brief an Schiller vom 19. September 1794, bei Schlegel in einem Brief von Ludwig Robert an Tieck und bei Poggel. — Am frühesten scheint der Begriff vorzukommen, wie Rieh. M. Meyer erwähnt, bei Sir Th. Browne (1605—82), welcher auch ein besonderes Interesse an der Physiognomik nahm und Lavater beeinflußt haben könnte, dessen Physiognomik wieder an Goethes Begriff der inneren Form mitgearbeitet hat. — Walzel hat darauf aufmerksam gemacht, welche Bedeutung Shaftesbury für den Begriff der inneren Form hat. Ein Ausspruch, wie etwa der f o l g e n d e : „Wo ein wahrer Charakter bestimmt angegeben und die innere Form richtig und genau geschildert ist, da muß sich notwendig die äußere Form nach ihr bequemen" (XXXII), zeigt in der Tat den Begriff der inneren Form schon ganz in Goetheschem Sinne. — Herders Bedeutung für Goethe in bezug auf dieses Problem ist hinlänglich bekannt. — Zum Begriff der i. F. bei Steinthal vgl. „Die sprachphilosophischen Werke W. v. Humboldts", besonders S. 108 ff. — Fortgebildet ist der Begriff namentlich auch v o n Scherer. ') Jubiläumsausgabe 33, 213. ) IV, 42 unten: „in den mexikanischen Zeichnungen ist kaum eine Spur von Erahndung innerer Form oder Kenntnis organischen Baues . .." 2
') VI, 5 3 7 - 5 3 8 -
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im Kunstwerk sichtbar; so wehrt er sich überall dagegen, daß dieses Gesetz, nach dessen Erfassung er mit ganzer Seele verlangte, als ein dem inneren und äußeren Sinn verborgenes aufgefaßt werde. „Man kann es den Idealisten alter und neuer Zeit nicht verargen, wenn sie so lebhaft auf Beherzigung des e i n e n dringen, woher alles entspringt und worauf alles wieder zurückzuführen wäre. Denn freilich ist das belebende und ordnende Prinzip in der Erscheinung dergestalt bedrängt, daß es sich kaum zu retten weiß. Allein wir verkürzen uns an der anderen Seite wieder, wenn wir das Formende und die höhere Form selbst in eine vor unserem äußeren und inneren Sinn verschwindende Einheit zurückdrängen." 1 ) Der gewaltige Fortschritt in der hier zutage tretenden Anschauung für die Ästhetik liegt in der Forderung, daß der Künstler das innere Entwicklungsgesetz der Erscheinungen aufsuchen müsse. Ohne dies ist die innere Form eines Kunstwerkes weder zu gestalten noch zu erfassen. Sie unterscheidet sich von der äußeren Form desselben wie der innere Sinn von dem äußeren. Und wer sie erkannt hat, der braucht nicht ängstlich an den Gesetzen der äußeren Form zu haften. 2 ) So verlangt nun auch Humboldt, daß man die organische Gestalt des Lebendigen „von innen heraus durch vorhergängiges Studium der Art, wie die äußeren Umrisse aus dem B e g r i f f und der F o r m des Ganzen entstehen, durch die Abstrahierung ihrer Verhältnisse" nachahme, welches Nachahmen aber besser als ein „von der Einbildungskraft Neugeborenwerden" bezeichnet werde. 3 ) Es ist nicht ein Ablesen, sondern ein Erzeugen der inneren, wahren Gestalt, d i e E n t f a l t u n g d e s G e i s t e s zu d e m W e s e n d e r S a c h e . 4 ) Das aus dem Geiste Geborene trägt nun auch den Charakter und die Gesetzmäßigkeit des Geistes an sich. Aber eben darum kann es als ein selbständiges Ganze dem Geist gegenübertreten und sogar befruchtend auf ihn zurückwirken. „Es ist dies die natürliche und überall wiederkehrende Erscheinung des menschlichen Wirkens. Ursprünglich ist alles in ihm innerlich, die Empfindung, die Begierde, der Gedanke, der Entschluß, die Sprache und die Tat. Aber wie ') Jubiläumsausgabe Bd. 35, 3 1 7 . Ib. 36, 1 1 5 . *) IV, 4 1 — 4 2 . ) V g l . P. Natorp in der „Sozialpädagogik", 2. A u f l . S . 346: „. . . Unkunst, wenn nicht das hinzukommt, was man die i n n e r e Gestaltung nennen kann, welches ursprünglich gar nicht liegt in dem gestalteten Ding, sondern rein in dem Ursprung der Gestalt aus der gestaltenden und in die gestaltende T ä t i g k e i t sich selbst hineinsenkenden S e e l e . " 4
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das Innerliche die Welt berührt, wirkt es für sich fort und bestimmt durch die ihm eigne Gestalt anderes, inneres oder äußeres Wirken." 1 ) Verfährt doch auch der Geist sowohl in der theoretischen Erkenntnis wie im künstlerischen Schaffen durchaus nicht willkürlich und nach Laune, sondern unter der bestimmenden Herrschaft der Gesetze, die sein eigenes Wesen ausmachen. Und eben diese G e s e t z m ä ß i g k e i t , welche das Objekt, nachdem es sich vom Geiste losgelöst hat, durchwaltet, bildet seine innere Form und verleiht ihm sein selbständiges Leben. Man sieht aber wohl, daß das so erzeugte Gebilde dem Geist nicht fremd werden kann: es vermag nur deswegen auf ihn zurückzuwirken, weil es mit ihm eines Wesens ist. So vollzieht sich in ihm jene Einswerdung von Subjekt und Objekt, von der bereits früher die Rede war, als wir davon sprachen, wie das Genie im künstlerischen Schaffen sein Ich an das O b jekt hingeben muß. Wenn Humboldt diese Erscheinung auch vornehmlich an der Sprache studiert und dargestellt hat (wie noch gezeigt werden soll), so ist er sich doch bewußt, einen allgemeingültigen Vorgang zu schildern, dessen Bedeutung durchaus nicht auf das Wesen der Sprache beschränkt bleibt. „Subjektive Tätigkeit bildet im Denken ein Objekt. Denn keine Gattung der Vorstellungen kann als ein bloß empfangendes Beschauen eines schon vorhandenen Gegenstandes betrachtet werden." 2 ) Aber das so aus dem Subjekt Erzeugte gewinnt nun selbständiges Leben: in ihm gehen dann „die Begriffe des Subjekts und Objekts ineinander über". 3 ) Wie nun im Geist keine vereinzelte Existenz bestehen kann, vielmehr alles sich wechselseitig bedingt und trägt, so wird diese organische Einheit auch auf das Erzeugnis übergehen. In der Beurteilung der griechischen Kunst findet Humboldt „die Idee unendlicher, immer wieder in sich organischer Teile, die sich leicht an einander gliedern, und eines Ganzen, das leicht in solche Teile zerfällt", überaus fruchtbar. 4 ) Es ist also die innere Form, die in der Einbildungskraft wirkt, ihr das Gesetz der Stimmung gibt, so daß es nun im Werk jeden Zug „von dem andern und das Ganze nur von sich selbst abhängig" macht. 5 ) So tritt hier die Gestalt auf „mit dem Gepräge ihrer Eigentümlichkeit gestempelt, und diese Eigentümlichkeit liegt bloß in der Form, kann nie anders als durch 2) VII, 55. 3) VII, 63. ') VII, 15-16. ') Über Hermann und Dorothea Kap. V.
4)
III, 142.
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Anschauen gefaßt, nie aber in einem Begriff ausgedrückt werden". 1 ) Das Wesen der künstlerischen Gestaltung haben wir als Zusammenschau, als Einheit von L e i b und Seele kennen gelernt: die innere Form ist das Gesetz dieser Einheitsbildung. Sie bildet sich im Gefühle und treibt nach dessen jedesmaliger Weise, in besonderer Richtung die ästhetische Idee zu erfassen, das einzelne Werk hervor, dessen äußere Einheit durchweg von jener inneren Gesetzlichkeit erzeugt ist. Und wiederum, wer sich in das Kunstwerk versenkt, wird durch die äußere Form hingelenkt zu dem inneren Wesen der Schöpfung, zu dem Mittelpunkte, von dem aus sich das Verstehen in alle Einzelheiten erschließt, so daß im Nachschaffen der Phantasie das Gefühl alle Abstufungen und Nuancen in sanftem, ungehemmten Übergange durchläuft, in allen seinen Tiefen erfaßt wird. 3. Die innere Sprachform. Der ganze Tiefsinn, welchen Humboldt in die innere Form gelegt hat, kann erst erhellt werden durch das Beispiel ihrer Anwendung auf dem Gebiete, welches das eigenste unseres Philosophen geworden ist. Zur Sprachphilosophie als der eigentlichen Vollendung seines Lebenswerkes gelangte Humboldt mit einer vielleicht außergewöhnlich zu nennenden Konsequenz der Entwicklung. Hier fand sein Streben nach Humanität das in jeder Richtung Genüge leistende Forschungsobjekt. 2 ) Das ganze Wesen des Menschen in seiner höchsten intellektuellen Ausprägung, zugleich Ausdruck nie rastenden Strebens enthaltend und beides ungeschieden vom begleitenden Gefühle, lag hier in sinnlicher Form vor ihm, und zwar, indem es dem Forscher, der der Eigenart alles Menschlichen nachgehen wollte, die Möglichkeit bot, das einheitliche Wesen des Geistes zugleich mit seinen individuellsten Erscheinungsformen zu erfassen. Und hier, wo sich ihm alle früheren Gedankengänge in eine einheitliche Richtung zusammenschlössen, erhebt er sich zu einer Höhe des Stiles nicht nur, sondern auch zu einer Klarheit des Gedankenausdrucks, den die früheren Schriften noch nicht zeigen. „Die höchste Bewußtheit spricht die Sprache der Naivität." 3 ) So finden wir in ihm gleichsam eine individuelle Bestätigung seiner Lehre, daß die ') Über Hermann und Dorothea K a p . V . ) V g l . seine hohe Auffassung vom Z w e c k des Sprachstudiums VI, 6. ) Die geistvollste und von feinstem Nachempfinden geleitete Charakterisierung Humboldtischen Stiles findet sich in R . A . Fritzsches „ A n zeigen" (Literaturblatt für germ. und rom. Philologie, 1905 Nr. io, 1908 Nr. 1, 1 9 1 0 Nr. 2).. 2 3
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reine und konsequente Ausbildung der Subjektivität selbst zur Objektivität hinleitet. „In allem, was die menschliche Brust bewegt, namentlich aber in der Sprache, liegt nicht nur ein Streben nach Einheit und Allheit, sondern auch eine Ahndung, ja, eine innere Überzeugung, daß das Menschengeschlecht, trotz aller Trennung, aller Verschiedenheit, dennoch in seinem Urwesen und seiner letzten Bestimmung unzertrennlich eins ist. Die Sehnsucht in allen konkreten Gestalten, die sie in dem ewig untermischt sinnlich und geistig angeregten Menschen annimmt, ist, so wie sie auf Ergänzung des vereinzelten Daseins geht, Aushauch dieses einen Gefühls." S o hoch ist der Gesichtspunkt, welcher Humboldt in der Entwirrung aller menschlichen Verhältnisse leitet; alle Sehnsucht, Strebung und Irrung läßt sich nur aus diesem Einheitspunkt der Allheit verstehen. Alles wahrhafte L e b e n ist nur Modifikation dieses Strebens, nur hierin lebt auch vor allem die Sprache. A b e r es offenbart sich zugleich die T r a g i k des ewig strebenden Menschen, der, seine Individualität im Ringen steigernd, sich so scheinbar nur von seinem Ziele entfernt. Hier sieht man nun der Sprache ihre besondere A u f gabe erwachsen. „ D e n n tief innerlich nach jener Einheit und Allheit ringend, möchte der Mensch über die trennenden Schranken seiner Individualität hinaus, muß aber gerade, da er, gleich dem Riesen, der nur von der Berührung der mütterlichen Erde seine K r a f t empfängt, nur in ihr Stärke besitzt, seine Individualität in diesem höheren Ringen erhöhen. E r macht also immer zunehmende Fortschritte in einem in sich unmöglichen Streben. Hier k o m m t ihm nun auf eine wahrhaft wunderbare W e i s e die Sprache zu Hilfe, die auch verbindet, indem sie vereinzelt und in die Hülle des individuellsten Ausdrucks die Möglichkeit allgemeinen V e r ständnisses einschließt." 2 ) S o bekommt die Sprache die höchste Bedeutung. Sie wird das eigentliche Charakteristikum des Menschlichen. „ D e r Mensch ist nur Mensch durch Sprache." 3) Die Sprache muß also eine immer in allen Menschen ruhende ursprüngliche A n l a g e sein, ursprünglich wie die Vernunft selbst.*) 2 ) Ib. 3) IV, 15. ') Steinthal, 155. *) Vgl. R. A . Fritzsche, „Literaturblatt für germ. und rom. Philologie", 1910 Nr. 2: „Die alte Streitfrage, ob (pvasi oder entscheidet Herder zugunsten der ipvais, er setzt die Sprache mit dem Menschen, aber Humboldt beseitigt diese Fragestellung überhaupt, der „Ursprung" der Sprache wie der Sprachen ist weder „dem freien Gedanken" zugänglich, noch der
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S o muß die Ansicht der Aufklärer abgelehnt werden, als wäre sie absichtlich zum Zwecke des Verständnisses erfunden. 1 ) Die Sprache tritt in ein viel engeres Verhältnis zum eigentlichen L e b e n des Geistes. „Sie kann aber gegen die Geisteseigentümlichkeit gar nicht als etwas von ihr äußerlich Geschiedenes angesehen werden und läßt sich daher, wenn es auch auf den ersten Anblick anders erscheint, nicht eigentlich lehren, sondern nur im G e m ü t e wecken." 2 ) S o wie die Erkenntnis überhaupt nicht aufgefaßt werden kann als ein rezeptives V e r halten der Seele gegenüber einem fertig gegebenen Stoff und das Lehren nicht als ein bloßes Hinüberleiten der Substanz des Wissens aus einer Seele in die andere, so darf man auch im Erlernen und Lehren der Sprache die Spontaneität des Lernenden nicht übersehen. Das gehörte W o r t erweckt den Geist der Sprache im Hörenden, so daß er nunmehr aus sich heraus den L a u t dem neuerzeugten Begriffe gemäß bildet. W i r finden uns hier unmittelbar an die platonische L e h r e von der Anamnesis erinnert; denn durch das W o r t „Wiedererinnerung" wollte ja Piaton in erster Linie auch dies ausdrücken, daß es keine Erkenntnis gibt, die nicht durch Selbsttätigkeit gewonnen wäre. Indessen ist es bei Piaton einzig um die logische Weltansicht zu tun: Humboldts Interesse ist auf das W e r d e n des Begriffes im Individuum gerichtet, und gerade in der Einsicht des wechselseitigen Verhältnisses zwischen der geistigen und der lautbildenden K r a f t liegt das tiefe Fundament seiner Sprachphilosophie. Man kann die Spontaneität in diesem geistigen A k t der Sprachbildung nicht deutlicher ausdrücken, als es in folgenden W o r t e n Humboldts geschehen ist. „ D i e gemeinsame Rede ist nie mit dem Übergeben eines Stoffes vergleichbar. In dem V e r stehenden, wie im Sprechenden, muß derselbe aus der eignen, innren K r a f t entwickelt werden, und was der erstere empfängt, ist nur die harmonisch stimmende A n r e g u n g . " 3) Und in diesem immer wieder Hervorgebrachtwerden besteht das W e s e n der ganzen Sprache überhaupt, sie ist „nicht als etwas fertig Gegebenes" zu denken. 4 ) „Man muß die Sprache nicht sowohl wie ein totes Erzeugtes, sondern weit mehr wie eine Erzeugung ansehen." 5 ) „Sie selbst ist kein W e r k (Ergon), sondern eine Erfahrung (vgl. Bd. VII S. 38 ff.). Das sagt er „als ein gebildeter Kantianer", er sagt es auch in grundsätzlicher Vorausnahme des Standpunktes der geschichtlichen Forschung." 2) VII, 40. >) Vgl. IV, 15. IV, 15. ») VII, 44-
4)
3)
VII, 56 cf. auch Steinthal 485.
H. aus der Fuente, Humboldts ästhetische Forschungen,
Tätigkeit (Energeia)." l ) Dennoch heißt es, damit der Mensch nur ein einziges Wort wahrhaft verstehen könne, müsse schon die Sprache ganz und im Zusammenhange in ihm liegen.2) Hier sehen wir nun die Bedeutung der inneren Form. 8 ) Die Sprache geht notwendig nach und nach aus dem Menschen hervor, „aber so, daß ihr Organismus nicht zwar, als eine tote Masse, im Dunkel der Seele liegt, aber als Gesetz die Funktionen der Denkkraft bedingt und mithin das erste Wort schon die ganze Sprache antönt und voraussetzt". 4 ) Das Gesetz der Erzeugung der Sprache liegt ursprünglich im Geiste, diese innere Form bedingt die äußere, in welcher die Sprache in die Erscheinung tritt. Die Sprache ist „die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den artikulierten Laut zum Ausdruck des Gedankens fähig zu machen". 5 ) Wir erkennen hierin die Korrelativbegriffe, mit welchen Humboldt in den früheren Schriften operierte: der Gedanke als Form, der Laut als Stoff. Aber beider Verhältnis erfährt durch die innere Form eine gänzlich neue Beleuchtung. Es ist nicht so, daß ein Lautmaterial bereitliege und durch den Gedanken zu formen wäre; erst am Laut bildet sich der Begriff, und der Begriff bildet sich in den Laut ein, so daß beide eine untrennbare Einheit im Worte sind. So spricht Humboldt von der inneren Sprache „in ihrer Einerleiheit mit dem durch sie erst möglichen Denken" 6 ), und „die Sprache ist das bildende Organ des Gedankens . . ., das Denken kann sonst nicht zur Deutlichkeit gelangen, die Vorstellung nicht zum Begriff werden". 7 ) Der Begriff wird sich seiner feststehenden Einheit gleichsam erst bewußt durch die Fixierung im Worte, erst dadurch, daß er seine Kraft der Einheitsbildung am Wort bewährt, sie in ihm zur Äußerung bringt. So kommt der Geist in jeder Richtung seiner Betätigungsmöglichkeit nur durch wirkliche Tätigkeit zum Selbstbewußtsein; er muß sich in der Sprache ausbauen und entfalten, in ihr nur lebt er. Und auch das Denken des Einzelnen ist inneres Sprechen. „Ohne daher irgend auf die Mitteilung zwischen Menschen und Menschen zu sehen, ist das Sprechen eine notwendige Bes ")Vn,46. ) IV, 14. ') Nach Delbrück ist Humboldt zum Begriff der inneren Sprachform wahrscheinlich geführt worden, indem er den von seinem Lehrer Bernhardi gebrauchten Begriff der „idealischen Sprachform" weiter entwickelte. Delbrück, „Einleitung in das Studium der indogermanischen Sprachen" S. 30. 4 5 7 ) IV, 15. ) VII, 46. •) VII, 641. ) VII, 53.
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dingung des Denkens des Einzelnen in abgeschlossener Einsamkeit." Diese Möglichkeit, den Geist aus einem inneren Chaos in das Gedankenwort zu erlösen, hängt mit der innersten Natur des Menschen zusammen, die ihn vom Tiere unterscheidet. Denn der Unterschied zwischen dem artikulierten Laut des Menschen und dem Schrei des Tieres wird nur verständlich aus der Kraft einer undämmbaren Sehnsucht, sich ans Licht des Bewußtseins zu ringen: „Wie das Denken in seinen menschlichsten Beziehungen eine Sehnsucht aus dem Dunkel nach dem Licht, aus der Beschränkung nach der Unendlichkeit ist, so strömt der Laut aus der Tiefe der Brust nach außen und findet einen ihm wundervoll angemessenen, vermittelnden Stoff in der Luft, dem feinsten und am leichtesten bewegbaren aller Elemente, dessen scheinbare Unkörperlichkeit dem Geiste auch sinnlich entspricht." 2 ) So reißt sich der artikulierte Laut aus der Brust los, beseelt von dem innersten Drange der menschlichen Natur, und auf die Einheit des Geistes gründet sich notwendig eine Einheit der Sprache, da jener ja erst an ihr sich bewußt wird. Alles Sprechen muß ein Anknüpfen an die gemeinsame Natur der Menschen sein3), in dem Sinne aus der Natur des Menschen entspringen, daß es hinstrebt zur Erfassung der Menschheit. Aus diesem Drang erklärt sich als seine erste Schöpfung die Einheit des Begriffes. Aber auch weiter die Verwandtschaft der Worte untereinander reicht nur so weit, als jener Drang vermag, die logische Verwandtschaft der Begriffe, zu deren Ausdruck er hinstrebt, in der Sprache zur Erscheinung zu bringen. Der Wortvorrat einer Sprache ist „ein Ganzes, weil Eine Kraft ihn erzeugt hat und diese Erzeugung in unzertrennlicher Verkettung fortgeführt worden ist. Seine Einheit beruht auf dem durch die Verwandtschaft der Begriffe geleiteten Zusammenhange der vermittelnden Anschauungen und der Laute". 4 ) Piatons xoivcovia ZOJV yevojv wird hier für die Psychologie der Sprache fruchtbar gemacht. Entsprechend der Verwandtschaft der Begriffe entsteht eine Verwandtschaft der Wörter; und da die Sprache aus dem Drang der ganzen Seele hervorgetrieben wird, prägt sich auch der ganze Gehalt des Gefühlslebens in das Wort ein, und die Sprache wird fähig, l) 4)
VII, ss cf. auch VI, 25. Steinthal 378.
2)
VII, 54.
*) Steinthal 283.
H. aus der Fuente, Humboldts ästhetische Forschungen. jeder leisen Bewegung des Geistes nachzufolgen. „Unmittelbarer Aushauch eines organischen Wesens in dessen sinnlicher und geistiger Geltung, teilt sie darin die Natur alles Organischen, daß Jedes in ihr nur durch das Andere, und Alles nur durch die eine, das Ganze durchdringende K r a f t b e s t e h t . " 1 ) Hierauf gründet sich die Vorstellung von einem Gesetz der inneren F o r m , die den Sprachorganismus als Einheit von Seele und Wortausdruck erzeugt. Diese innere F o r m zur Sprache wirkt bestimmend auf jedes neu auftauchende Wort, sie ist schon wirksam bei der Hervorbringung des ersten Wortes, so daß dieses „schon die ganze Sprache antönt und voraussetzt". 2 ) A b e r durch die A r t , wie das erste W o r t hervorgebracht wird, ergibt sich zugleich eine Modifikation der inneren F o r m , und während sie als allgemeine Hervorbringung des Geistes in allen Nationen gleich sein muß, tritt sie doch in jeder in einer besonderen Eigenart auf. Man kann also ebenso richtig sagen, „daß das ganze Menschengeschlecht nur Eine Sprache, als daß jeder Mensch eine besondere besitzt". 3 ) Die gemeinsame und vollendete Sprache, welche schlechthin Ausdruck der inneren Sprachform wäre, würde von allen Menschen hervorgebracht sein, wenn in allen der Geist der Menschheit in gleicher K r a f t und Richtung sich zu objektivieren vermöchte; dies kann in der Erfahrung nicht zutreffen, da die verschiedenen Nationen in verschiedener Weise bedingt sind. „Die Sprache ist gleichsam die äußerliche Erscheinung des Geistes der V ö l k e r ; ihre Sprache ist ihr Geist und ihr Geist ihre Sprache, man kann sich beide nie identisch genug denken." 4 ) J e nachdem der Sinn der Völker beweglicher oder schwerfälliger, ihr Verhältnis zur W e l t ein objektives, ruhig betrachtendes oder ein mehr miterlebendes ist, je nachdem mit anderen Worten die geistige Organisation der Völker beschaffen ist, wird auch die Sprache ein anderes Gewand anlegen. S o ist es z. B. nicht einerlei, ob eine Nation gesprächig oder schweigsam ist, ob sie Gefallen am L a u t e selbst hat und dergleichen. 5 ) Daher kann Humboldt ganz allgemein sagen, „daß der Bau der Sprachen im Menschengeschlechte darum und insofern verschieden ist, weil und als es die Geisteseigentümlichkeit der Nationen selbst i s t " . 6 ) Der Grad der Ausbildung einer Sprache wird von Humboldt geradezu danach bemessen, wie vollkommen oder unvollkommen in ihr „die S y n thesis der äußeren und inneren S p r a c h f o r m " gelungen ist. >) IV, 3. ') VII, 43-
*) IV, 15.
3
) VII, 51.
*) VII, 42.
6
) Cf. VII, 69.
A . III. D a s Kunstwerk als Inhalt des ästhet. Bewußtseins.
Dieser sprachbildende Akt, der nicht auf einen einzigen Zeitpunkt beschränkt ist, sondern, wie die Sprachbildung selbst, die Geschichte der Sprache ausmacht, durch welchen die Nation ihre eigentümliche Menschlichkeit in die Sprache ergießt, wird von Humboldt mit Recht dem Schaffen des Künstlers verglichen. Die Individualität eines Volkes tritt hier gleichsam an Stelle des künstlerischen Genies. „Überhaupt erinnert die Sprache oft, aber am meisten hier, in dem tiefsten und unerklärbarsten Teile ihres Verfahrens, an die Kunst. Auch der Bildner und Maler vermählt die Idee mit dem Stoff, und auch seinem Werke sieht man es an, ob diese Verbindung in Innigkeit der Durchdringung dem wahren Genius in Freiheit entstrahlt oder ob die abgesonderte Idee mühevoll und ängstlich mit dem Meißel oder dem Pinsel gleichsam abgeschrieben ist." Niemals aber ist Humboldt dem Fehler verfallen, den Geist des Volkes zu hypostasieren, sondern er hat in eindringenden Untersuchungen zu zeigen versucht, wie der Einzelne im Volk an seinem Teile zur Erzeugung dessen, was hier der Volksgeist genannt wird, beiträgt, indem er doch andererseits selbst durch das überkommene Sprachmaterial in der Entwicklung seines Geistes beeinflußt und bedingt ist. Denn die Sprache, in die der Mensch hineingeboren wird, ist die bestimmte Form, in der er nun aller Erscheinungen sich bemächtigt. Und zwar vermittelt ihm das W o r t jeden Gegenstand in allen Besonderheiten und Eigentümlichkeiten, mit welchen der Geist dieses Volkes ihn hervorgebracht hatte und aufzufassen gewohnt ist; wie denn das einmal gebildete Wort zunächst schon den ursprünglich zur Klarheit drängenden Begriff auf einer gewissen Stufe festhält und in Schranken bannt, dann aber sogar eine rückwirkende Kraft ausübt auf die Art, wie die innere Form neue Gestaltungen bildet, so daß selbst diese — zwar als Gesetz der Erzeugung metaphorisch denkbar ist — aber doch nicht als ein gegebenes, nicht weiter sich entwickelndes Fixum gedacht werden darf. 2 ) Also ist die Sprache „kein freies Erzeugnis des ') Steinthal 366. ) D e r inneren Sprachform entspricht ein innerer Sprachsinn („unter welchem ich nicht eine besondere Kraft, sondern das ganze geistige V e r mögen, bezogen auf Bildung und den Gebrauch der Sprache, also nur eine Richtung verstehe"), er „ist das die S p r a c h e von innen heraus beherrschende, überall den leitenden Impuls gebende Prinzip" (VII, 250 bis 2 5 1 ) und sein Streben bleibt immer „auf Gleichheit in den Sprachen gerichtet, auch abbeugende Formen sucht seine Herrschaft in irgend2
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einzelnen Menschen, sondern gehört immer der ganzen Nation an" *); denn indem der Einzelne spricht, seinem Inneren Ausdruck verleihen will, muß er es zugleich notwendig in der Art tun, . d a ß es in seinem nächsten Mitmenschen, dem Volksgenossen, Verständnis und Widerhall zu finden vermag. Der Begriff der Sprache setzt sozusagen die Existenz des anderen für den einen (Sprechenden) voraus. Humboldt hat sogar in der schönen Abhandlung über den Dualis nachzuweisen versucht, wie dieser „Urtypus aller Sprachen", nämlich die Erweiterung des gesprochenen Wortes in einem Hörenden und Erwidernden durch die Unterscheidung der zweiten Person des Pronomens von der dritten selbst einen Ausdruck gefunden hat. Er macht nämlich auf den feinen Unterschied aufmerksam, der zwischen dem „Ich und Er" und dem „Ich und Du" besteht. In dem Du liegt die unmittelbare Beziehung zum Ich. Es beruht auf einer Spontaneität der Wahl. Beide zwar, das Er und das Du, stellen ein Nicht-Ich dar; aber das Du wird dadurch nicht in die unendliche Sphäre aller beliebigen Wesen versetzt, sondern in eine Sphäre eines durch Einwirkung gemeinsamen Handelns. „Erst durch die vermittelst der Sprache bewirkte Verbindung eines Anderen mit dem Ich entstehen nun alle, den ganzen Menschen anregenden tieferen und edleren Gefühle, welche in Freundschaft, Liebe und jeder geistigen Gemeinschaft die Verbindung zwischen Zweien zu der höchsten und innigsten machen." 2 ) Aber der Andere ist der Volksgenosse, und so muß der Sprechende in die Bahn einlenken, die dem Geiste des Volkes entspricht. So ist es klar, „daß die Wirksamkeit der Einzelnen, auf welche Stufe sie auch ihr Genius gestellt haben möchte, doch nur in dem Grade eingreifend und dauerhaft ist, in welchem sie zugleich durch den in ihrer Nation liegenden Geist emporgetragen werden". 3 ) Andererseits aber ist eben das Eingreifen der Individuen möglich, ja die ganze Sprache doch wieder nur eine Schöpfung dieser. „Indem die Sprachen nun also in dem von allem Mißverständnis befreiten Sinne des Wortes Schöpfungen der Nationen sind, bleiben sie doch Selbstschöpfungen der Individuen, indem sie sich nur in jedem Einzelnen, in ihm aber nur so erzeugen können, daß jeder das Verständnis aller voraussetzt und alle dieser Erwartung genügen." 4 ) Denn das Individuum sucht seine einer W e i s e zur richtigen Bahn zurückzuleiten" (252). Die innere F o r m wird auch „Leitfaden der vollkommensten Sprachform" genannt (253). 4) VII, 40. ') IV, 24. *) VI, 2 6 - 2 7 . *) VII, 37.
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Probleme durch den Ausdruck zur Klarheit zu bringen, und j e stärker seine Eigentümlichkeit, um so größer kann die Einwirkung auf den ganzen menschlichen Geist sein, sie vermag ihm vollständig neue Bahnen zu eröffnen. Und nicht nur in der T a t des Genius wird die Sprache fortentwickelt, jedes gesprochene W o r t stellt seinen Inhalt in der bestimmten A r t dar, wie das jedesmalige Individuum ihm gegenübertritt, und da ergibt sich wie bei allem Individuellen eine unendliche Mannigfaltigkeit möglicher Beziehungen. Denn die ganze Weltanschauung, bei jedem modifiziert, beeinflußt das Ausgesprochene und lebt in der Sprache, wie auch alle Feinheiten des Gefühls in sie eingehen. „Keiner denkt bei dem W o r t gerade und genau das, was der andere, und die noch so kleine Verschiedenheit zittert, wie ein Kreis im Wasser, durch die ganze Sprache fort. Alles Verstehen ist daher immer zugleich ein Nichtverstehen, alle Übereinstimmung in Gedanken und Gefühlen zugleich ein Auseinandergehen." l ) S o bildet die Sprache auch in der Beziehung keine tote Masse, sondern enthält schon in sich eine unbegrenzte Fülle neuer Auffassungsmüglichkeiten; was ungezählte Menschengeschlechter im L a u f e der W e l t geschichte aus sich ans Licht brachten an Gedanken, Gefühlen und Hoffnungen, ruht unverstanden in seiner vollen Bedeutung in den Tiefen der Sprache als ein durch Gedankenarbeit und Dichtung noch zu hebender Schatz. W e n n wir sagten, daß in die Sprache durch den Geist des V o l k e s und der Einzelnen die Weltanschauung, die Anschauung von der den Menschen umgebenden Natur und dem Dasein seiner einzelnen Seele eingehe, so haben wir nicht unterlassen, schon darauf hinzuweisen, wie hier die Seele spontan tätig ist. E s ist nun von Interesse, zu sehen, wie Humboldt neben der Bedeutung der logischen Kategorien auch die reinen A n schauungsformen des Raumes und der Zeit für diese K o n struktion der Natur aus dem Geiste würdigt. Dies im einzelnen zu verfolgen, wäre natürlich A u f g a b e der Sprachwissenschaft. Allein wir dürfen es nicht ganz übergehen, weil sich hier wiederum eine Verwandtschaft der Sprache mit der Kunst herausstellt. Die innere Sprachform beruht, wie wir sahen, auf dem Drange der Menschheit, ihr Inneres auszusprechen, ihr Fühlen, Denken usw. zur Erscheinung und zu gegenseitigem Verständnis zu bringen. Dies aber kann sie nur, indem sie sich in der ') VII, 64—65. C o h e n und N a t o r p , Philosophische Arbeiten IV
H. aus der Fuente, Humboldts ästhetische Forschungen.
Sprachbildung der Kategorien und reinen Anschauungsformen bedient. In ihnen liegen ja die obersten Gesetze des natürlichen Seins. S o werden diese für den Sprechenden zum Stoff, zum Mittel, mit dem er das Ziel der Verständigung anstrebt. Hier ist nun die Parallele, aber auch der Unterschied zwischen Sprache und Kunst offenbar. A u c h der Künstler muß, wovon noch weiter unten die Rede sein soll, sich der Natur und ihrer Gesetze bedienen, um der inneren Form zum Ausdruck zu verhelfen. Indessen, wenn der Künstler nur auf das reine Gefühl der Humanität ausgeht, so ist es der Sprache doch in erster Linie u m das B e g r e i f e n zu tun. Die theoretische Erkenntnis des Objekts ist ihr Ziel. A b e r die Sprache bringt gerade darum dem Dichter ein so fügsames und bildsames Material entgegen, weil neben den sittlichen Anschauungen des V o l k e s doch eben auch jene allgemeinen Gesetze und Anschauungsformen des Geistes in sie eingegangen sind. „Die allgemeinen, an den einzelnen Gegenständen zu bezeichnenden Beziehungen und die grammatischen Wortbeugungen beruhen beide größtenteils auf den allgemeinen Formen der Anschauung und der logischen Anordnung der Begriffe." 1 ) e. N a t u r u n d S i t t l i c h k e i t a l s S t o f f i m K u n s t w e r k u n d als A u s d r u c k s m i t t e l d e s G e f ü h l e s d e r H u m a n i t ä t . Verfolgen wir indessen das gemeinschaftliche Moment, welches wir eben zwischen Kunst und Sprache aufwiesen, weiter in seiner Bedeutung für die K u n s t , ohne uns auf die Sprache zu beschränken. Der Künstler muß die innere F o r m mit Hilfe der Natur zum Ausdruck bringen, d. h. er muß die Natur aus dem Geiste neu erzeugen. S o ist auch er, wie gesagt, in erster Linie auf die F o r m e n des Raumes und der Zeit verwiesen. Denn die Natur steht unter den Gesetzen des Raumes und der Zeit. Soll er also die Natur zu eigenen Zwecken dienstbar machen können, so m u ß er diese Gesetze beherrschen. „ A l l e s Künstlerische und Dichterische trägt zwar den Charakter des Freiwilligen an sich, darum aber fällt doch auch dem Künstler und Dichter nicht ganz ohne Mühe ihr glücklich L o s . " 2 ) Das Kunstwerk soll als mühelos der Natur entsprungen erscheinen, die „volle Wahrheit der Naturanschauung mit der rein künstlerischen Idee" vermählt zeigen. 3 ) Dazu bedienen sich die ') Steinthal 357. Vgl. ferner über den Raum als immanente F o r m der Sinnlichkeit VI, 23; ib. S. 27, die Zahl als „eine der reinen Anschauungen des Geistes". 2) An Schiller 29—30. 3) VI, 86.
A. III. D a s Kunstwerk als Inhalt des ästhet. Bewußtseins.
schaffenden Kräfte „gewisser Formen, welche nur soviel vom Stoff annehmend, um noch sinnlich zu bleiben, mit eigentlichen Ideen in genauer Verwandtschaft stehend, und daher allbestimmbar, immer einen solchen Eindruck hervorbringen, daß ihre Bestimmtheit niemals beschränkende Grenze scheint". 1 ) Wieder werden wir an die Stellung, welche bei Piaton die Mathematik einnimmt, erinnert, wenn hier die Gestalt und der Rhythmus genannt werden. „Die Gestalt steht unter den ewigen Gesetzen der Mathematik des Raumes, hat zur Grundlage die ganze sichtbare Natur und spricht auf mannigfaltige Weise zum Gefühl. Der Rhythmus entspringt aus den geheimnisvollen, aber notwendigen Verhältnissen der Zahl, beherrscht die ganze tönende Natur und ist der beständige, unsichtbare Begleiter des Gefühls." 2 ) Die damit gegebene reine Form wird als das Wesentlichste bezeichnet; sie ist auch gleichzeitig das Früheste, und in manchen Epochen kamen die Künstler über die Beherrschung dieser Formen nicht hinaus. Auf höherer Stufe steht die Kunst, welcher zum Ausdrucke ihres Gehaltes die Kenntnis der Natur in ihrem ganzen Umfang, vor allem der belebten Natur, zu Gebote stand. Das Wesen des Organismus, der selbst wiederum den Gesetzen der Physik unterworfen ist, gilt es also neben diesen zu studieren. „Darum studiert der Zeichner Anatomie — zerstört die Erscheinung, um sie wieder aufzubauen —, Pflanzen, die Form der Berge, charakterisiert durch die sie bildenden Gebirgsarten." 3) Die großen Künstler aller Zeiten haben das eifrigste Naturund Mathematikstudium getrieben, man braucht nur an Polyklet, Leonardo und Dürer zu erinnern. Dürer z. B. schreibt: „Aber das Leben in der Natur gibt zu erkennen die Wahrheit dieser Ding . . . Dann wahrhaftig steckt die Kunst in der Natur, wer sie heraus kann reißen, der hat sie. Uberkummst du sie, so wirdet sie dir viel Fehls nehmen in deinem Werk. Und durch die Geometria magst du deins Werks viel beweisen." 4 ) „Und derselben (der Geometrie) Ursachen ihrer Beweisung sind mit Begierden zu hören und noch fröhlicher ihre Werk zu sehen." s ) Diese Freude an der reinen geometrischen Form, an dem Spiel mit ihrer Strenge, ist es auch, die Humboldt am griechischen Künstler rühmt: „Das Unerläßliche blieb ihm auch das Erste und ») III, 140. 4 ) Alb. Dürer.
Ib. ») VI, 5 3 9 - 5 4 0 . Schriftlicher Nachlaß. Berlin 1908, S. 277.
6
) Ib. 270.
H. aus der Fuente, Humboldts ästhetische Forschungen.
Höchste. AlleMannigfaltigkeitundSchönheitdesLebens hilft daher dem Künstler nicht, wenn ihr nicht in der Einsamkeit seiner Phantasie die begeisternde Liebe zur reinen Form gegenübersteht." 1 ) Denn nur mit ihrer Hilfe lassen sich die Hebungen und Senkungen des Gefühls in gesetzmäßigem Ausdruck erzeugen. Auch diese äußere, erscheinende Form muß aus dem Innern geboren sein, an ihr erzeugt und entfaltet sich erst die innere Form, wie wir es beim Verhältnis der inneren Sprachform zum artikulierten Laute sahen. Nichts wäre daher verkehrter, als beim Kunstschaffen von einer Nachahmung der Natur ausgehen zu wollen. „Der einzige Grundsatz, welcher zu einer richtigen Erklärung der griechischen Kunst führt, ist der, daß sie gerade einen entgegengesetzten Weg ging, als man gewöhnlich voraussetzt, nicht, von roher Nachahmung der Natur beginnend, sich zum Götterideale erhob, sondern, ausgehend von dem reinen Sinn für die allgemeinen Formen des Raumes, für Symmetrie und Richtigkeit der Verhältnisse, sich aus ihnen ein Götterideal schuf, und so zu den Menschen herabstieg." 3 ) Hier sehen wir nun gleichzeitig das zweite Moment in den Vorbedingungen berührt, die der Künstler zu erfüllen hat. Durch die Beherrschung aller Formen der Natur vermag er sich bis zur Darstellung des Göttlichen zu erheben. Aber ist das Göttliche, von welchem erst die Kunst zum Menschen sich herabneigt, denkbar ohne das Sittliche? Gerade weil die Sittlichkeit hier nicht das zu Erringende ist, sondern in freiem Spiel aus dem Ganzen des Werkes hervorleuchten muß, kann nur das lebendigste Verhältnis des Künstlers zur Ethik ihn befähigen, sie unbeschadet zum Stoff der Kunst zu machen. Diese Einsicht drückt sich auch bei Humboldt aus, wenn er gerade in den späteren Schriften so häufig an Stelle des Terminus der inneren Form den der Idee setzt. Der Künstler soll die Idee des Dargestellten zum Ausdruck bringen; aber in der Idee ist notwendig immer die Sittlichkeit mitgedacht. „Die Empfindung fügt zu der Form des letzteren (des Rhythmus) die Gewalt des Gefühls und folgt den leitenden I d e e n d e s G e m ü t e s . " 2 ) Die Ideen sind so als die Formen der Empfindung aufgefaßt. Es vermählen sich in der inneren Form die Formen der Natur und der Sittlichkeit. So muß vom Künstler gefordert werden, daß er die ganze theoretische und praktische Erkenntnis seiner Zeit in sich vereinige. Denn nur so vermag er sich zu dem IV, 43-
2
) III, 141 (von mir gesperrt).
3
) III, 142.
A . III. D a s K u n s t w e r k als Inhalt des ästhet. Bewußtseins.
souveränen Spiel mit den Gestaltungen zu erheben, das eine unerläßliche Bedingung jedes Kunstwerkes ist. Nur so ist es ihm möglich, „den tiefen Ernst streng beherrschender Ideen in die Erscheinung freien Spieles umzuwandeln". 1 ) Dadurch, daß der Künstler in dieser erhabenen Freiheit mit den ganzen Formen des Daseins spielt, unterscheidet er sich von dem Menschen unter dem Zwange des Mythos. Diesem treten die Geschöpfe seiner Phantasie wie fremde und äußere Mächte entgegen: im Kunstwerk aber lebt der Künstler selbst; es ist das Gefühl der Menschheit, welches ihn dennoch bei diesem Spiel vor der Willkür bewahrt. So kann auch das Kunstwerk dazu dienen, den Menschen „zum Bewußtsein der ihm innewohnenden, über die Endlichkeit hinausstrebenden Natur" zu bringen. 2 ) Wohin dieses Streben zielt und aus welcher Quelle es s t a m m t , wissen wir: es ist die Idee der Humanität, welcher der Künstler durch sein Werk Ausdruck verleiht. „Wenn es eine Idee gibt, welche durch die ganze Geschichte hindurch in mehr erweiterter Geltung sichtbar ist, wenn irgendeine die vielfach bestrittene, aber noch vielfacher mißverstandene Vervollkommnung des ganzen Geschlechtes beweist, so ist es die der Menschlichkeit, das Bestreben, die Grenzen, welche Vorurteile und einseitige Ansichten aller Art feindselig zwischen die Menschen stellen, aufzuheben und die gesamte Menschheit ohne Rücksicht auf Religion, Nation und F a r b e als Einen großen, nahe verbrüderten Stamm zu behandeln." 3 ) Wie der Künstler an seinem Teile hierzu beitragen muß und kann, hat Humboldt besonders am Dichter klargemacht. ') IV, 44-
*) A n Schiller S. 1 3 — 1 4 .
3
) Steinthal
151.
B. Das System der Künste. I. Prinzip der Einteilung: stimmende und bildende Künste. Da es Humboldt wesentlich nur ankam auf die Prinzipien der Kunst, nur auf den Punkt, der ebensosehr ihre Eigenart, wie ihren Ort innerhalb des allgemeinen Problems der Humanität charakterisiert, so kann man bei ihm über eine Theorie der einzelnen Künste kaum mehr als gelegentliche Bemerkungen erwarten. Eingehenderes Studium widmete er nur der Dichtkunst, wo sich das ästhetische mit dem Interesse an der Sprachforschung verband, und Humboldt zudem durch seine Freundschaft mit Schiller und Goethe am meisten Anregung fand und persönlichsten Anteil nahm. Wenn aber Humboldt auf seiner spanischen Reise die Schilderung und Beurteilung der Gemälde des Escoriáis gänzlich seiner Frau überließ 1 ), indem er an Goethe schrieb: „Ich habe zu sehr gelernt, wie schwer es ist, nur z. B. in der Poesie ein irgend sicheres Urteil zu haben, um auch über Bilder raten zu wollen", so werden wir demgegenüber doch sehen, daß er mit der Schärfe und Lebendigkeit seiner Prinzipien, deren Hauptvorzug wohl in der Tiefe des Gefühls liegt, der sie gerecht werden mußten, weit vordrang in die Analyse aller Kunstarten und in die Herausarbeitung des Wesentlichen in ihren Werken. Vor allem ging Humboldt wieder aus von einem allgemeinen Prinzip, das ihm eine fruchtbare Disposition und Ausgestaltung des Problems der Künste ermöglichen konnte. Dies Prinzip der Einteilung der Kunstarten ergibt sich sofort, wenn wir die gewonnenen allgemeinen Prinzipien der Ästhetik zu Ende denken. Das Gefühl, die Stimmung des Künstlers wird objektiv in seinem Werke. So treten zwei Gesichtspunkte hervor, unter 5 ) An Goethe S. 113: „Ich selbst nehme an diesen Arbeiten so gut als gar keinen Teil."
B. I. Prinzip der Einteilung der Künste.
87]
247
welche man ein Kunstwerk stellen kann. Die Beurteilung geht entweder „mehr auf die o b j e k t i v e B e s c h a f f e n h e i t des W e r k s " : dann „befördert sie die G e s e t z m ä ß i g k e i t unserer Tätigkeit", oder man kann „mehr auf den G e i s t Rücksicht nehmen, der notwendig war, es hervorzubringen" : dann bildet die Beurteilung die der Gesetzmäßigkeit „günstige S t i m m u n g unsres G e m ü t s " . 1 ) Eine ausreichende W ü r d i g u n g des Kunstwerkes kann nur dann zustande kommen, wenn der Beurteiler, indem er das W e r k in seinem Geiste nachschafft, sowohl auf das dem Kunstwerk entsprechende Gefühl achtet, wie auch auf das W e r k in seiner sinnlichen Objektivität. D a s erste Moment muß ihm offenbar den Zustand der Seele erschließen, aus welchem heraus der Künstler das W e r k geschaffen hat; aber diese Empfindung hat der Künstler in das W e r k hineingelegt, in ihm objektiviert, so daß es natürlich möglich sein muß, am Objekt selbst eine den verschiedenen erzeugenden Seelenzuständen entsprechende Unterscheidung zu treffen. Diese Zustände der Seele bezeichnet Humboldt als „den Zustand a l l g e m e i n e r B e s c h a u u n g und den e i n e r b e s t i m m t e n E m p f i n dung".2) Der erste ist den b i l d e n d e n Künsten entsprechend, der zweite den s t i m m e n d e n . Es ist gewiß — und Humboldt unterläßt nicht, darauf hinzuweisen — daß es sich nur um das Überwiegen des einen oder des anderen Momentes hierbei handeln kann: In jeder Kunst muß sowohl das stimmende wie das bildende aufzufinden sein. Und der Zustand, aus dem heraus der Dichter schafft, bedingt nur das Mehr oder W e n i g e r des einen oder des anderen. Dieser Gegensatz des Stimmenden und des Bildenden tritt bereits in den frühesten Schriften Humboldts auf, wo sich auch schon der Versuch einer Einteilung der Künste findet. S o heißt es im A u f s a t z „Über die Sittenverbesserung durch A n stalten des Staats" : „Die schönen Künste bringen eine doppelte W i r k u n g hervor, welche man immer bei jeder vereint, aber auch bei jeder in sehr verschiedener Mischung antrifft: sie geben unmittelbar Ideen oder regen die Empfindung auf, stimmen den T o n der Seele oder (wenn der Ausdruck nicht zu gekünstelt scheint) bereichern oder erhöhen mehr ihre K r a f t . " 3 ) Der Schwerpunkt liegt hier auf dem Gegensatz: die einen geben Ideen, die anderen erhöhen die Energie der Empfindung. D i e ') II, 117.
s)
II, 228.
3)
I,i68.
H . aus der Fuente, Humboldts ästhetische Forschungen.
Idee ist hier im Sinne Kants die ästhetische Idee, welche immer in der Anschauung, also in der Darstellung erscheint. Gerade das, was hier als ein Erhöhen der Energie der Empfindung genannt wird, heißt später das Stimmende. 1 ) Diese Betrachtungsart, die Humboldt immer beibehielt, finden wir vorgebildet bei Lessing und bei Schiller. Im „ L a o k o o n " teilt Lessing die Künste ein in handelnde und bildende oder in poetische und malerische. „Die Zeitfolge ist das Gebiet des Dichters, so wie der Raum das Gebiet des Malers." 2 ) Der Maler kann nur ruhige Gestalten im Räume geben, der Dichter nur Bewegung und Handlung in der Zeit. Jedoch stehen beiden gewisse Mittel zur Verfügung, durch welche sie die ihnen ursprünglich gesetzte Schranke ihrer Kunst überwinden können. Für den bildenden Künstler ist dies die Darstellung des fruchtbaren Momentes. Wichtiger aber für uns ist es, zu erfahren, mit welchen Mitteln der Dichter sich der räumlichen Gestalt bemächtigen kann. E s sind im wesentlichen zwei: erstens, er kann sie auflösen in Bewegung, indem er sie uns handelnd vorführt oder den Geist zwingt, sie aus sich heraus zu erschaffen; oder zweitens, er schildert den Eindruck derselben auf das Gemüt der Zuschauer. Den ersten Teil der Lehre hat Humboldt fast unverändert übernommen. 3 ) Das zweite Mittel führt uns zum eigentlichen Quellpunkt der Unterscheidung des stimmenden und bildenden Momentes in der Kunst. Lessing zeigt, wie Homer die Schönheit der Helena unübertrefflich dadurch charakterisieren konnte, daß er die Wirkung ihres Erscheinens auf die Greise erkennen läßt. „Malet uns, Dichter, das Wohlgefallen, die Zuneigung, die Liebe, das Entzücken, welches die Schönheit verursacht und ihr habt die Schönheit selbst gemalt." 4 ) Die Art, wie an jener Homerstelle der Eindruck der Schönheit uns mittelbar durch die zuschauenden Personen erweckt wird, läßt sich übertragen auf eine Gattung der Künste überhaupt, indem an die Stelle jener Zuschauer im Epos das Subjekt tritt, das sich dem Kunstwerke hingibt. Diese Weiterbildung des Gedankens findet sich bei Schiller. „ J e nachdem nämlich die Poesie entweder einen bestimmten G e g e n s t a n d nachahmt, wie die bildenden Künste tun, oder je nachdem sie, wie die Tonkunst, bloß einen bestimmten Z u s t a n d d e s G e m ü t s hervorbringt, ohne dazu eines bestimmten Gegen') 1 , 2 6 3 wird unterschieden: die „ e n e r g i s c h e n " — die „bildenden" 2 3 Künste. ) Reclam S . 99. ) II, 1 5 7 . *) R e c l a m S . 120.
B. I. Prinzip der Einteilung der Künste.
89]
249
standes nötig zu haben, kann sie bildend (plastisch) oder musikalisch genannt werden." 1 ) Wir dürfen aber auch nicht vergessen, daß sich bereits bei Kant die Gegenüberstellung der bildenden Künste und der des Spiels der Empfindungen findet. Jedoch ist hier die Empfindung der äußere Sinneseindruck. Die sinnlichen Empfindungen werden im Spiel der Erkenntniskräfte geformt und gewinnen dadurch Anteil an der Kunst. Bei Lessing und Schiller dagegen stehen den Künsten der Gestalt die der subjektiven Stimmung und des Gefühls gegenüber. Bei Humboldt tritt an die Stelle des Schillerschen Ausdrucks „musikalisch" gewöhnlich der mit ihm gleichbedeutende „stimmend". Der Künstler muß uns, sagt Humboldt, mit der Natur in die mannigfachste und engste Verbindung bringen. Um dies zu erreichen, muß er zugleich b i l d e n d und s t i m m e n d verfahren, d. h. er muß bald den äußeren Gegenstand, bald die innere Stimmung stärker geltend machen. 2 ) Indessen sieht doch Humboldt das allgemeine Wesen der Kunst mehr in dem bildenden und darstellenden Moment. Dies entspricht einmal seiner ihn mit Goethe verbindenden Natur, welche überall auf die Darstellung im Sinnlichen dringt; hat aber andererseits auch systematische Berechtigung, insofern es ja das W e r k ist, aus welchem wir erst den Künstler erkennen können. Dennoch kann ihm, wie schon früher gesagt, dieser Gegensatz des Stimmenden und Bildenden zu einem Einteilungsprinzip der Künste werden. Dabei gehören natürlich die bildenden Künste, Plastik und Malerei, zu den darstellenden, Musik und Poesie zu den stimmenden Künsten. Die ersteren aber sind dem allgemeinen Wesen der Kunst näher verwandt als die Dicht- und Tonkunst. 3 ) Es ist nun notwendig, daß wir die Stimmung, aus welcher *) Säkularausgabe X I I , 209 Anm. — Humboldt schreibt selbst an Schiller: „ V o n eigentlichen Ideen ist mir hierin der Unterschied zwischen musikalischer und plastischer Poesie am meisten aufgefallen. Ich kam in den letzten W o c h e n auf einem eignen W e g e auf diese Materie." (S. 250.) H. beschäftigte sich damals mit einer Charakterisierung der griechischen Dichter; er w a r dabei von dem Gegensatz des E p i s c h e n und L y r i s c h e n ausgegangen. 2 3
) V g l . II, 147.
) „In der T a t aber ist auch die bildende Kunst mit der Kunst überhaupt äußerst nahe und näher, als die Dichtkunst verwandt. Denn sie ist rein darstellend und sinnlich; und diese beiden Eigenschaften sind auch im allgemeinen Begriffe der Kunst die herrschenden." II, 1 5 t .
250
H. aus der Fuente, Humboldts ästhetische Forschungen.
heraus die Künstler in den verschiedenen Gattungen der Kunst schaffen, näher ins Auge fassen. Schon oben haben wir erwähnt, daß der Zustand, aus welchem die bildende Kunst erwächst, als der einer allgemeinen Beschauung bezeichnet wird. Er muß natürlich zunächst dadurch charakterisiert sein, daß in ihm durchaus das Objekt herrscht. Er verlangt die selbstlose Hingabe des Künstlergeistes an den Gegenstand, aber so, daß dabei das intellektuelle Vermögen sich scharf von diesem Gegenstand absondert und ihn bloß in Beziehung auf sich selbst ohne jede eigennützige Absicht betrachtet. Es ist durchaus ein Zustand gleichmütiger, nicht erregter Stimmung, in dem das geistige Auge eine große Masse von Gegenständen mit gleicher Liebe umspannen kann, nur auf Formen, Einheit und Harmonie bei denselben achtend. In dieser Gleichförmigkeit der Stimmung, in ihrer Parteilosigkeit und Allgemeinheit, welche an sich schon etwas Idealisches an sich trägt, ist dieser künstlerische Zustand der Seele dem des theoretischen Forschers verwandt. Richtet er sich auf die Menschheit, so entspringt die Geschichtsforschung; richtet er sich auf die Natur, so haben wir die Naturbeschreibung. Namentlich den Vergleich des Poeten mit dem G e s c h i c h t s f o r s c h e r hat Humboldt auch noch in seinen späteren Jahren gerne durchgeführt; aber er hat dabei nicht vergessen, neben dem Gemeinschaftlichen auch das Trennende hervorzuheben. Um den Unterschied klar zu machen, der zwischen der theoretischen und der poetischen Weltbetrachtung besteht, weist er in der Schrift „Über Goethes Hermann und Dorothea" namentlich auf den Umstand hin, daß der Forscher in seinen Bemühungen um Erkenntnis an einem einzelnen, gleichsam zufälligen Zustand der Natur ansetzen und angreifen muß; während der Dichter im Zustand der Beschauung sein Auge gleichmäßig über die Totalität der Gegenstände wandern läßt. Der spätere Aufsatz „Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers" betont auch zuerst die innere Verwandtschaft des künstlerischen Verfahrens mit dem des Geschichtsschreibers. Beide müssen gleichsam die innere Form des von ihnen behandelten Gegenstandes geben, ihn von innen heraus begreifen und darstellen. So liegt auch in der Geschichtsschreibung etwas Idealisches; aber dabei bleibt doch das Wort des Aristoteles, daß die Dichtkunst vornehmer sei als die Geschichte, in gewissem Sinne zu Recht bestehen. Das Idealische in der Geschichtsschreibung kommt auch durch die Tätigkeit der Phantasie zustande, welche ja allein die innere
B. I. Prinzip der Einteilung der Künste.
9i]
251
Form zu erfassen vermag. Und es ist auch hier die Individualität des Darstellenden, aus der die Erkenntnis der inneren Form entspringt: „Je tiefer daher das Gemüt einer Nation alles Menschliche empfindet, je zarter, vielseitiger und reiner sie dadurch ergriffen wird, desto mehr hat sie A n l a g e , Geschichtsschreiber im wahren Sinne des W o r t e s zu b e s i t z e n . " A l l e i n die Differenz zwischen Geschichtsschreiber und Dichter ergibt sich aus dem Ziel ihrer Darstellung. Jener sucht sein Ziel in der Wirklichkeit und Erfahrung; dieser schafft eine neue Wirklichkeit, indem er sich der gemeinen Wirklichkeit vermöge seines zeugenden Geistes entschwingt. Ist so die Stimmung der Seele, aus welcher der bildende Künstler schafft, festgelegt, so bleibt uns noch übrig, einige W o r t e zu sagen über das entgegengesetzte Verhalten des Gemütes in den stimmenden Künsten. Zeugend und bewegt muß freilich das G e m ü t des schaffenden Künstlers immer sein: aber in der Geburtsstunde eines W e r k e s der bildenden Kunst ist die Seele in allen ihren Teilen gleichmäßig erregt, während ein W e r k der stimmenden Künste nur entspringen kann aus einem Zustand, in welchem eine bestimmte Empfindung das Gemüt des Künstlers beherrscht. Dies aber setzt immer voraus, daß eine Beziehung auf das schaffende Subjekt dem Bewußtsein gegenwärtig bleibt. E s ist also hier weder eine so scharfe Sonderung des Objektes vom Schaffenden, noch auch eine so parteilose Hingabe an das Objekt vorhanden. Der Künstler bleibt hier gewissermaßen mehr bei sich selbst. Und so dient diese Gegenüberstellung Humboldt zugleich zu einer Charakteristik ganzer Kunstepochen, wie man sie unter den Namen der r o m a n t i s c h e n und der k l a s s i s c h e n K u n s t befaßt. Die Griechen gingen auf eine leichte und glückliche Verbindung aller Momente, die das L e b e n des Menschen ausmachen, sie hatten Gleichgewicht und Ebenmaß in allen ihren Bestrebungen; demgegenüber zeichnen die modernen Menschen sich durch ein Verfolgen der einzelnen Momente aus, das freilich nur durch A u f g a b e des einheitlichen Zusammenhanges aller Momente erkauft wird. A l s o drang sich bei jenen die unterscheidende Problematik des Einzelnen weniger der Beachtung auf, ihnen konnte der K o s m o s der einheitbildende Beziehungspunkt sein; während der moderne Mensch, innerhalb divergierender Bestrebungen stehend, den Einheitspunkt in sich selbst ') IV, 47.
252
H. aus der Fuente, Humboldts ästhetische Forschungen.
suchen muß. Es folgt daraus, daß die Alten sich der Welt gegenüber objektiv beschauend verhalten, sie von dem Ich scharf absondern konnten, dagegen die Welt dem modernen Menschen nur in bestimmt individueller Richtung mit dem Ich verknüpft sich darstellt. Hier haben wir genau den Gegensatz in dem künstlerischen Verhalten zwischen dem Zustand allgemeiner und parteilos klarer Beschauung, in dem man ruhig von Punkt zu Punkt schweift, ohne irgendwo beschränkt haften zu bleiben und so eine Totalität umfaßt, und dem der bestimmten Empfindung, bei welchem das Gefühl alles auf den fixen Punkt des Ich bezieht und in dem Wechsel seiner heiteren und trüben Stimmungen eine Totalität findet. „Das Klassische lebt in dem Lichte der Anschauung . . . Das Romantische verweilt vorzugsweise im Helldunkel des Gefühls." So ist es erklärlich, daß die Griechen in der Plastik, die Modernen in der Musik die überragende Leistung aufzuweisen haben. 1 ) Ein naheliegender Gedanke war es nun, ob nicht die Kunst durch eine Synthese des klassischen und des romantischen Elementes das Höchste erreichen könnte. Durch die „Braut von Messina" wurde Humboldt schon zu solchen Betrachtungen in einem Briefe an Schiller angeregt. Neben der „Darstellung der reinen Kunstform an seinem Gegenstande" fand er hier ein Eingehen der „Reflexion und Empfindung im Tiefen", in „feine Charakternuancen." „Wir brauchen, um auf unsre Weise gerührt zu werden, einen durch Verstand und Gefühl mannigfaltiger ausgearbeiteten Stoff. Insofern läßt sich alles sogenannt Romantische, glaube ich in Wahrheit, verteidigen." „Sollte daher nicht auch, wenn Sie den bizarren Ausdruck verzeihen, das Romantische einer Ausführung in echt antiker Kunstform fähig sein f und sollte darin nicht für uns das Höchste bestehen?" 2 ) Daß die moderne Tendenz nicht nur zu ihrer höchsten Vollendung der Verknüpfung der anderen, mehr auf das Objekt gehenden Richtung bedarf, sondern auch ohne sie leicht in bedenklichste Einseitigkeit gerät, zeigen die Philosophen der Romantik. Hamann und Jacobi machten das Gefühl zur Erkenntnisquelle 3), Schleierrnacher fand im Gefühl der Abhängigkeit vom Unendlichen die besondere Grundlage der Religion. J
5 ) VII, 6 1 4 — 6 1 5 . ) A n Schiller S . 3 1 2 — 3 1 3 . ) D a g e g e n Humboldt in seiner „Rezension von Jacobis W o l d e m a r " : „ W i e eben auch ein Trieb sein mag, so ist er immer etwas sinnlich B e dingtes, und nicht fähig, w e d e r sichre . ., noch weniger aber reine Moralität zu begründen." I, 300. 3
B. I. Prinzip der Einteilung der Künste.
253
Humboldt aber faßt auch dieses religiöse Gefühl, das bei den Romantikern ein Hauptmotiv bildete, sogleich in seiner Beziehung zur Kunst auf. Es hat nach seiner Meinung in der romantischen Kunst das moderne Bewußtsein vertieft und belebt. „Unsere ganze religiöse Kunst befindet sich in jenem, eben bezeichneten Gebiete (welches „unmittelbarer die Empfindung berührt"), und jeder Zuwachs an Tiefe und Innigkeit ist der neueren Kunst aus dieser Verbinduug mit höheren Gefühlen und heiliger Ahndung geflossen. Auch was man mit einem schwer zu erklärenden, aber ausdrucksvollen Worte r o m a n t i s c h nennt, hat hierin seine Wurzel geschlagen. Ihren Gipfel aber erreichte die Malerei erst, als in Raphaels Werken der Geist seiner Zeit vom Geiste des Altertums durchdrungen ward." 1 ) Indem aber die Romantiker einseitig sich in das Individuelle und in ihr Gefühl versenkten, erhielt ihre Kunst etwas Krankhaftes. Sie grübelten dem Irrationalen nach ohne die Tendenz, es durch das darstellende und bildende Moment in der Kunst zur Gesetzmäßigkeit zu läutern; so mußten ihre Gestalten verschwimmen: das symbolistische und mystische Element drang in den Vordergrund. Von solchen Erscheinungen konnte sich ein Geist wie Goethe nur abgestoßen fühlen, so nannte er einmal verallgemeinernd das Romantische das Kranke. Die Romantiker wurden, wie Humboldt sagen würde, manieriert. Und zwar findet sich bei ihnen sowohl das „Manierierte des Styls", wie das „Manierierte der Kunst". 2 ) Jenes besteht darin, daß das Ich des Künstlers sich überall hervordrängt und zutage tritt. So konnten die Romantiker noch am meisten auf dem Gebiete leisten, wo dieser Fehler am geringsten ist, auf dem Gebiete der religiösen Lyrik. Denn der religiöse Mythos handelt vom Verhältnis des Einzelnen zu Gott: es wird hier gewissermaßen das allerpersönlichste Interesse des Ich verhandelt. (Novalis). Das Manierierte der Kunst übertreibt die besonderen Mittel der Kunstgattung auf Kosten des allgemeinkünstlerischen Momentes. So fehlt, wie schon gesagt, bei den Romantikern die Festigkeit der Umrisse der Gestaltungen. — In einer Schrift, die etwa mit der Abhandlung „Über Goethes Hermann und Dorothea" gleichzeitig ist, hat Humboldt ein Schema der Künste entworfen. Er unterscheidet da zuerst ') Kunstvereinsbericht vom 30. Dezember 1828. ) II, 150.
J
VI, 92—93.
254
H. aus der Fuente, Humboldts ästhetische Forschungen.
K ü n s t e d e r F o r m und K ü n s t e d e r M a s s e n . E s ist nicht leicht zu sehen, was diese Einteilung bezweckt. Denn wenn Humboldt sagt, „obwohl alle Kunst durch F o r m wirkt, so macht bei einigen Künsten dennoch die Masse einen Hauptanteil der W i r k u n g a u s " 1 ) , so ist daraus nicht zu ersehen, woher der Masse an sich diese künstlerische W i r k u n g kommen soll. V i e l leicht haben auch hier Erinnerungen an K a n t Humboldt geleitet. Führt doch auch Kant die W i r k u n g des Erhabenen geradezu auf Formlosigkeit zurück; und wenn Humboldt hier auch nicht vom Erhabenen spricht, so werden wir dennoch wieder an K a n t erinnert, wenn er die Massen einteilt in Kunstmassen und Naturmassen. Die gewaltigen Erscheinungen der Natur (der bewegte Ozean usw.) mußten j a auch K a n t zur Erläuterung des Erhabenen dienen. A b e r ebenso wie K a n t hier mit seinen eigenen Prinzipien in Widerspruch gerät, weil das Prinzip der harmonischen Erregung der Seelenkräfte durchbrochen wird, so gilt dies in noch erhöhtem Maße für Humboldt. Er bekennt sich zu dem Satze Schillers, daß der Künstler den Stoff ganz in F o r m verwandeln müsse; also darf er auch der ungeformten Masse keine künstlerische W i r k u n g zuschreiben. S o ist denn auch diese Einteilung dem S y s t e m ganz äußerlich. Unter den Künsten der Massen werden, der Unterabteilung: Naturmassen — Kunstmassen entsprechend, nur zwei Künste aufgeführt, die Gartenkunst und die Baukunst; was die Baukunst angeht, so werden wir an einer späteren Stelle zu zeigen haben, d a ß Humboldt zu einer tieferen künstlerischen Erfassung ihres W e r t e s kam. D a g e g e n sind wir wieder recht im eigentlichen Mittelpunkte des Systems, wenn wir erfahren, daß die K ü n s t e der F o r m eingeteilt werden in solche der D a r s t e l l u n g und solche der S t i m m u n g ; bei jenen geht die Kunst „durch den Gegenstand auf die Empfindung", bei diesen „durch die Empfindung (die bloße R e g u n g des inneren Sinns, ohne sinnliches Bild oder logischen Gedanken) auf den Gegenstand". 2 ) Die weitere Einteilung geht von den A u s d r u c k s m i t t e l n aus. Die Künste der Darstellung zerfallen in solche, welche vermittelst toter W e r k e , und solche, welche vermittelst lebendiger Organe wirken. Die ersteren zeigen den allgemeinen Charakter der Kunst, die Darstellung, am reinsten, und hier herrscht ganz die Freude an der reinen F o r m ; es sind dies die Plastik (Körper) •) VII. 584.
!)
VII, 584.
95]
B. I. Prinzip der Einteilung der Künste.
255
und die Graphik (Bilder). W i e K a n t nämlich unterscheidet Humboldt die Graphik von der Farbenkunst, welch letztere wir unter den Künsten der Stimmung aufgeführt finden. V o n den Künsten, welche mit Hilfe lebendiger Organe wirken, sind aufgeführt die Poesie einerseits (hörbare Zeichen, Sprache) und die Mimik, Pantomime, Pantomimischer T a n z andererseits (sichtbare Zeichen und Gebärden). Eben weil diese sich der lebendigen Organe bedienen und also dem schaffenden Individuum einen größeren Einfluß erlauben, stehen sie wohl den Künsten der Stimmung schon näher. Es kann daher auch fraglich werden, ob die Poesie z. B. zu den darstellenden Künsten gerechnet werden darf. Im Aufsatz „Über Goethes Hermann und Dorothea" wird die Dichtkunst der bildenden Kunst g ( . . dadurch gegenübergestellt, daß jener die Anschaulichkeit und Stärke dieser fehlt, sie wird hier sogar gelegentlich ausdrücklich zu den stimmenden Künsten gerechnet. In unserem Schema aber umfassen die durch Rhythmus stimmenden Künste die Musik (Töne), Dekorierkunst (Linien, Bilder, Farben) und Tanzkunst (Bewegungen). D a ß hier die Farbenkunst direkt als Dekorierkunst bezeichnet wird, geht auf Kant zurück. 1 ) Zum Schluß sei noch einmal daran erinnert, daß sich nach Humboldts Meinung das stimmende und das bildende Moment in j e d e r Kunst finden muß. Deshalb werden wir uns auch in der folgenden Darstellung nicht eng an das vorliegende Schema halten; wir beginnen vielmehr mit der Kunst, die auch nach Humboldt die Ürkunst aller Künste ist, der Poesie. ') Vgl. Kritik der Urteilskraft § 51. An der früheren Stelle I, 167 bezieht sich Humboldt bei der Zusammenstellung der Wirkungsart der Musik und der „einer wechselnden Farbenmischung" ausdrücklich auf Kant.
II. Die Künste. a. D i e P o e s i e . i. Das ästhetische Moment in der Sprache. An der Sprache gelangt, wie schon ausgeführt, der Mensch zum Bewußtsein seiner selbst als eines Gliedes der Menschengemeinschaft. Denn in ihr gewinnt die Sehnsucht zur Idee zuerst objektive Gestalt. In diesem Streben, das nicht nur entsprungen ist aus dem Wunsch, sich gegenseitig begrifflich zu verstehen, sondern auch aus dem Verlangen nach einem Ausdruck für das allgemeine Gefühl der Humanität, liegt das ästhetische Moment der Sprache. Ja, wenn Hamann, Herder und Humboldt recht haben, so ist die Sprache sogar als Kunst geboren: die Poesie ist früher als die Prosa. 1 ) So ist es gewissermaßen schon ein künstlerisch geformtes Material, aus dem heraus der Dichter schaffen kann. E s ist aber nicht nur dies allgemein künstlerische Element der Sprache, dessen sich der Dichter bedienen muß; die Sprache tritt ihm in individueller Form entgegen, es ist die Sprache seiner Heimat und seiner Nation. Hier nun müssen wir uns an alles das erinnern, was oben über die Sprache im allgemeinen und über die innere Form jeder einzelnen Sprache gesagt wurde. Indem die Sprache ein Erzeugnis der ganzen Nation ist, birgt sie in sich das Leben der Nation. Und nur dann, wenn der Dichter die Sprache nicht als eine tote Masse behandelt, sondern in ihr die Keime des Zukünftigen und die Ahndung der Vergangenheit aufsucht, wird er sein künstlerisches Ziel erreichen. Aber sie wird ihm dann auch selbst zu einer Quelle der Begeisterung, welche ihn lehrt, noch Unbekanntes zu entdecken und noch nie auf diese Weise Gefühltes in der Empfindung wahrzunehmen. Dies zeigt sich in jeder Behandlung der Sprache durch eine neue und wahrhaft große Genialität. 2 ) Der Charakter einer Nation verschmilzt in allen seinen Eigentümlichkeiten mit ihrer Sprache. 3 ) Wie dies ') V g l . z . B . Brief an F . A . W o l f vom 5. Januar 1796. melte W e r k e 1 5 0 — 1 5 1 . >) V g l . VII, 62. ') V g l . Steinthal S. 498.
Alte gesam-
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Künste.
zugeht, wird aus unseren früheren Erläuterungen erinnerlich sein. D e r Einzelne steht der Sprache teils frei, teils gebunden gegenü b e r ; er wird durch sie in seinen Gedanken und Gefühlen bestimmt, so wie er sie umgekehrt mit seinen Gedanken und Gefühlen bereichert. Indem das W o r t aus Freude und L e i d geboren wird, ist es nun für den Hörenden für alle Zukunft mit einem Unterton des Gefühls verbunden, den die moderne Psychologie „Gefühlston" *) und mit bezug auf das W o r t „ W o r t gefühl" nennt. „ A n jedes irgend bedeutendere W o r t knüpfen sich die nach und nach durch dasselbe angeregten Empfindungen." 2 ) Genau genommen kommt dem W r ort eine doppelte Gefühlswirkung zu: es ist einmal der L a u t für sich, der als das musikalische oder stimmende Moment von uns später betrachtet werden soll. Hier denken wir das W o r t als Mittel des Begriffs, und da muß gesagt werden, daß „die ununterbrochene G e dankenreihe im Menschen von einer ebenso ununterbrochenen Empfindungsfolge begleitet ist". 3 ) Bedenken wir nun, daß die Sprache nicht Schöpfung des Einzelnen, sondern der Nation ist, so wird es verständlich, wie die Sprache für Humboldt direkt zu einem Spiegel der Weltanschauung der Nationen werden kann. Schon jede menschliche Individualität kann man als einen eigenen Standpunkt der Weltansicht betrachten, noch vielmehr aber „liegt in jeder Sprache eine eigentümliche Weltansicht". 4 ) Diese herauszufinden, sich ihrer zu bemächtigen und alle Mittel des Ausdrucks, die ihm die Sprache hierbei zur V e r f ü g u n g stellt, zu beherrschen und zu verwenden, ist das erste Geschäft des Dichters. Indessen, wir wiesen schon oben darauf hin, daß er nicht bei dem Gegebenen stehen bleiben kann. Drängt doch die Sprache aus sich über das Erreichte hinaus, und der Dichter führt sie ihrer eigenen Bestimmung zu, wenn er sie in seinem Gebrauch zum allgemein Menschlichen läutert, indem er hierbei dem W e s e n jeglicher Kunst getreu bleibt. „Zivilisation und Kultur heben die grellen Kontraste der V ö l k e r allmählich auf, und noch mehr gelingt das Streben nach allgemeinerer sittlicher F o r m der tiefer eindringenden, edleren Bildung. Damit stimmen auch die Fortschritte der Wissenschaft und Kunst überein, die immer nach allgemeineren, von nationeilen Ansichten entfesselten Idealen hinstreben." Dieses Streben äußert sich „am klarsten ') In „den T o n ) Steinthal 519. Ibid.
4)
2)
Vgl. Steinthal 355.
3)
Vgl. Ib. 517.
B. II. Die Künste.
263
eignet, zu verwechseln; vielmehr verfällt der Dichter, wenn er sich ihr überläßt, sofort in rhetorische Prosa. 1 ) Obwohl der Rhythmus „das eigentliche Leben" der Prosa ist, und sie „selbst vom Silbenmaß nicht sowohl frei, als vielmehr eine Erweiterung des ungefesselten Poetischen" ist, so muß man sich beide doch wohl aus einer verschiedenen inneren Form entspringend denken. Daher liegt der charakteristische Unterschied zwischen Poesie und Prosa darin, daß diese „durch ihre Form selbst erklärt, den Gedanken nur dienend begleiten zu wollen, da der poetische Vortrag auch des Scheines nicht entbehren kann, ihn zu beherrschen und gleichsam aus sich zu erzeugen". Als die am höchsten ausgebildete Prosa erkennt Humboldt die attische. „Diese aber verfolgte ihren W e g so vollständig, daß, da die Prosa zuerst gegen das Feuer der Dichtung nüchtern erscheint, sie wieder eine eigene, doch von der poetischen verschiedene Begeisterung erreichte, wie dieselbe an Plato zu allen Zeiten gefühlt und gepriesen worden ist." 2) Während die Prosa auf die Wirklichkeit hinzielt, ist es der Poesie um ein idealisches Ganzes zu tun, welches die Wirklichkeit zurückstößt. Den inneren Gegensatz zwischen Poesie und Prosa macht besonders ihr Verhältnis zur Musik deutlich. Die Prosa vertraut sich der Sprache allein an, die Poesie drängt gleichsam zur Musik hin. Ihrem künstlerischen Charakter gemäß bemächtigt sie sich tiefer des Gefühlstons der Worte. Dieser aber ist, wie wir gesehen haben, aufs engste verbunden mit dem gesprochenen Laut. So ist es vornehmlich der Laut, der das in die Sprache hineinbringt, was man, um Humboldts Ausdruck zu gebrauchen, ihr K o l o r i t nennen kann. 3 ) Es ist wiederum das subjektive Moment, welches damit bezeichnet wird; denn das Kolorit hängt nicht einseitig am Laut, es kann auch entspringen aus der Verwendung der Gestalten ; nur liegt es nicht in der bestimmten einzelnen Gestalt, sondern in der Beschäftigung der Einbildungskraft gemäß dem Gefühl. 4 ) Es ist das Kolorit, mit welchem der R e i m arbeitet. 5 ) Dieser ist daher auch besonders in der Lyrik an seinem Platz; denn in ihr handelt es sich, wie wir noch zu zeigen haben ') Ib. 518. — V g l . an Goethe (S. 199): „ W o r i n eine solche E u r h y t h mie eigentlich besteht, ist unerklärbar, wie alle Poesie und Kunst." а
) V, 343—344.
*) V g l . II, 167. б
) II, 1 7 1 .
' ) V g l . VII, 85 unten. Deshalb: es hat „jede Kunst ihr Kolorit".
Ib. A n m .
H. aus der Fuente, Humboldts ästhetische Forschungen.
werden, immer um das Erregen einer bestimmten Empfindung; sie bedarf also gerade jener Mittel, welche der Sprache zu Gebote stehen, um stimmend zu wirken. Doch scheint es fast, als ob Humboldt in dem reichlichen Gebrauch des Reimes, wie ihn die Modernen üben, eher einen Nachteil als einen Vorteil erblickt. Ihre Versmaße erscheinen ihm daher künstlich; während bei den Alten der Rhythmus, also die reine Form des Gedichtes an sich im Versmaß die künstlerische Wirkung rein aus sich hervorbringt. 1 ) Bedeutungsvoll wird der Reim, ja zu einem notwendigen Ingredienz bei jenen Kunstformen, die gleichsam auf den Laut und seinen Klang angelegt sind; so sagt Humboldt von der französischen Poesie, wenn auch einige ihrer Gedichte völlig leer an Inhalt seien, so bleibe doch eine künstlerische Eleganz übrig, für die sich wieder bei den Alten kein Beispiel fände. Das Gleiche ist dort für die Kunstform der Stanze erörtert. 2 ) Neben dem Mittel des Kolorits aber steht dem Dichter fruchtbarer noch und energischer wirkend das Mittel des R h y t h m u s zur Verfügung. Vornehmlich durch seine wundersame Macht, die er im Versmaß entfaltet, wird die Stimmung des Gemütes eine gesetzmäßige. Der Rhythmus vereinigt Einheit und Mannigfaltigkeit, und dies ist nie ohne S t e t i g k e i t zu erreichen. Mannigfaltigkeit ohne Stetigkeit ergibt bloße Diskretion und ermangelt der Einheit. Der Dichter aber, welcher seine Gestalten in der Zeit entwirft, regelt die Bewegung des Geistes nach Gesetzen der Stetigkeit. Indem das Gemüt dem Gesetz der Wortfolge, wie es der Akzent in Hebung und Senkung bedingt, folgt, wird es gezwungen, auch in seine Regungen Stetigkeit aufzunehmen. „Das Gemüt verfährt in seiner Empfindungsart meistenteils stoßweise, macht harte Einschnitte, grelle Gegensätze, offenbart seine oft zur Willkür werdende Eigenmacht. In den Bewegungen hingegen, wie in den Formen der Natur ist mehr Stetigkeit, die Übergänge sind sanfter, die Gesetzmäßigkeit zeigt sich mehr im Ganzen, als sie sich im Einzelnen vordrängt, und gerade dies ist auch die Eigentümlichkeit der Griechischen Versmaße, die überall die Rückkehr durchaus gleicher, besonders kürzerer Klauseln vermeiden, das Gesetz immer in Mannigfaltigkeit verbergen und wiederum in ihr, auch sie doch in feste Grenzen einschließend, auch zeigen, 1)
III, 149 unten. Brief an Schiller vom 12. März 1796, herausgegeben in der Deutschen Rundschau 1911. 2)
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Künste.
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das einmal Angeklungene mehr v o n selbst austönen lassen, als willkürlich abschneiden."') Man vergleiche mit dieser Charakteristik, was Humboldt in der Einleitung zur Agamemnonübersetzung über das gleiche T h e m a sagt. A u c h hier ist es der Rhythmus des griechischen Verses, den er preist, und in dem nach seinem Ausspruch die F o r m jeder A n m u t und Erhabenheit, die Mannigfaltigkeit jedes Charakters liegt. 2 ) S o wollte er im Hexameter den,,Grundton aller Harmonie des Menschen und der S c h ö p f u n g " vernehmen. Der Hexameter ist es, dessen Zauber „die wundervollsten Geheimnisse des G e m ü t s und der Schöpfung" erschlossen hat. 3 ) Die Freude an der reinen F o r m bekundet sich auch in einem Briefe an Körner, in dem Humboldt sagt: „Ich habe von jeher ein unendliches Gefallen am Rhythmus in der Rede gehabt und ein schöner Silbenfall wirkt sehr oft, ohne alle Rücksicht auf den Sinn, im eigentlichsten Verstände begeisternd auf mich." 4 ) A u c h technisch-sprachwissenschaftlich bezeichnet Humboldt das „ Z e i t m a ß " als die ästhetische Natur der Silbe, während ihr eigentümlicher L a u t ihre materielle, die Betonung ihre intellektuelle Natur genannt werden können. 5 ) Man wird dies dahin verstehen können, daß eine Sprache, die die Silben mehr nach Gesetzen des Rhythmus behandelt, als streng dem logischen A k z e n t die Herrschaft gibt oder dem Gewicht des Lautes nachgibt, darin das geistige und das sinnliche Element in eine Einheit zusammenschließt. In der T a t gehen Humboldts A u s führungen in solcher Richtung. A u c h kann bisweilen „ d e r W o h l l a u t " die grammatischen Formen reicher mit L a u t ausstatten, als es das Bedürfnis selbst seines eigenen Prinzipes erheischt; die logische F o r m wird gleichsam erdrückt. „ D a aber das dadurch hervorgebrachte größere Silbengewicht auf den Schwingen der Euphonie und des Rhythmus emporgetragen wird, so entstehen dadurch neue V o r z ü g e . " 6 ) Diese dürften vor allem für die Poesie von wesentlichster Bedeutung sein. Die Euphonie, die W i r k u n g des Lautes bildet das stimmende Moment, die Eurhythmie das bildende. 2) VIII, 135. 3) III, 147. ') III, 148. ) Vgl. II, 283. C o h e n und N a t o r p , Philosophische Arbeiten IV
H. aus der Fuente, Humboldts ästhetische Forschungen.
[114
übertretendes dargestellt wird. So steht die Ballade in engstem Zusammenhang mit dem mythischen Bewußtsein. Humboldt rühmt es nun an Schiller, daß er auch dieser Dichtungsart seinen Adel aufdrückte, indem er „alle die Ausgeburten der Phantasie" gänzlich verbannte und, „ganz den barbarischen Anstrich" vermeidend, mit einfachsten Mitteln, nur durch die Art der Behandlung „den der Ballade eigentümlichen Eindruck des Großen, Schauderlichen und Tragischen" hervorrief. 1 ) Der Lyrik ordnet Humboldt auch die T r a g ö d i e unter; aber freilich wird er sich sogleich der Einseitigkeit des Gesichtspunktes, welcher diese Unterordnung ermöglicht, bewußt. Und eben deswegen spricht er auch gelegentlich von der Möglichkeit einer anderen Einteilung aller Poesie in plastische und lyrische. 2 ) Dann würde die plastische wieder zu teilen sein in die epische und dramatische. Hier sehen wir nun die Gemeinschaft, welche die Tragödie auch mit dem Epos verbindet 3 ): es ist das plastische Moment. Denn natürlich muß auch sie ihre Gestalten scharf umreißen und mit möglichster Objektivität herausarbeiten. Aber wir dürfen uns über die Unbestimmtheit des zugrunde liegenden Einteilungsprinzips nicht wundern, war doch von vornherein festgestellt, daß jede wahre Kunst beide Elemente, das plastischbildende und das stimmende, in sich bergen müsse. Fragt man nun nach dem Unterschied von Epos und Drama, so wird man wieder auf das lyrische Element der Tragödie hingewiesen: hier herrscht der Zustand einer bestimmten Empfindung. Zwar können beide, das Epos sowohl wie die Tragödie, das Lächerliche und das Tragische, das Sanfte und das Erhabene, das Furchtbare und das Liebliche in unsrer Empfindung erregen: aber keine dieser Empfindungen erfüllt uns bei dem Epos, in dem Augenblick, da sie auftritt, ganz; wir verweilen ihr gegenüber immer in ruhiger Objektivität. Bei der Tragödie aber geben wir uns ihr eben in dem Augenblick völlig hin; sie nimmt unser ganzes Interesse in Anspruch und reißt uns mit sich. Wir sehen nun die Gedankengänge Goethes wiederkehren. Der angegebene Unterschied wird zum Teil, wie bei Goethe, hergeleitet daraus, daß es sich um das Anschauen einer gegen') Vgl. Brief an Schiller vom 9. Juli 1797. Deutsche Rundschau, 2) 11,245 Anm. Januarheft 1911. ') In einem Brief an Schiller (S. 218) heißt es geradezu: „ . . die griechische dramatische Poesie eine . . . Zusammensetzung der epischen mit der lyrischen" Dichtkunst.
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wärtigen Handlung in der Tragödie, um die Erzählung einer vergangenen im Epos handele. Es wird hervorgehoben, daß in der Tragödie alles auf einen Punkt, die Katastrophe, hindränge; ein Charakter ist es, der in der Tragödie herrscht oder wenigstens zum Schluß siegt. 1 ) In dem Briefwechsel mit Körner endlich finden wir auch die Bedeutung des Schicksals für die Tragödie im Gegensatz zum Epos betont 2 ); und in einem Briefe an Schiller wird mit Berufung auf „die Goethischen Ideen" die dramatische Poesie definiert „als eine Schilderung des Menschen in einem einzelnen Kampf mit dem Schicksal". Die Abscheidung vom Epos liegt auch gerade darin, daß es sich um einen „einzelnen Kampf" handelt; es muß sich die Kraft des Geistes und Charakters bis zur höchsten Anspannung sammeln, um die Macht des Schicksals zu überwinden, „und sich ganz in sich selbst zurückziehn, um ihr nicht zu unterliegen". 3 ) Gegenüber der Ausbreitung und ruhig entwickelten Führung durch die Mannigfaltigkeit des Lebens, die im Epos sich darstellt, „wird eine lyrische Stimmung erfordert". In diesem Zurückziehen in sich selbst und in der äußersten Konzentration zum entscheidenden Stoß scheidet sich gerade der Held vom Leben; er findet sich einsam den feindlichen Mächten gegenüber und ist nicht minder in Gefahr, den Maßstab seiner selbst zu verlieren. So werden wir gleich auf den Punkt geführt, an dem sich in der endgültigen Katastrophe der Charakter in seiner Wesenheit ohne alle zufälligen und kleinlichen Elemente darstellt. Hier muß sich das letzte Menschliche als inneres und äußeres Schicksal in einen Knoten zusammengeschürzt offenbaren. Das Hindrängen auf diesen einen Punkt bedingt natürlich auch die Beschleunigung der Handlung. 4 ) In dieser inneren Abhängigkeit aller Ereignisse voneinander und vom Schicksal, die also der Tragödie noch weniger fehlen darf als dem Epos, liegt das, was Goethe die innere Form des Dramas nannte. „Freilich, wenn mehrere das Gefühl dieser innern Form hätten, die alle Formen in sich begreift, würden wir weniger verschobne Geburten des Geistes aneklen. Man würde sich nicht einfallen lassen, jede tragische Begebenheit zum Drama zu strecken, nicht jeden Roman zum Schauspiel zerstücklen." 5 ) Wie Goethe an dieser Stelle eine äußerliche Form dramatischer J) An Körner S. 60. 3) An Schiller S. 166—167. ') Vgl. II, 242 fr. Vgl. an Körner S. 60. *) Jubiläumsausgabe Bd. 36, 115—116.
4)
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Stücke, die Wichtigkeit der „Länge und Kürze", der „Einheiten" verspottet ohne der „Ungebundenheit" das Wort zu reden, so lehnt auch Humboldt solche — im Grunde naturalistische — Vorurteile ab. Z. B. enthielt es für den Griechen „in seinem Begriff einer Tragödie keinen Widerspruch, den Agamemnon und sein Heer unmittelbar erscheinen zu lassen, ohne darum von der Länge oder Kürze seiner Fahrt Rechenschaft abzulegen". Gegenüber dem, „wie es in der Natur zu sein pflegt", hat der Künstler „Freiheit", wenn er nur „die Einbildungskraft bei den wesentlichen (Dingen) zu fesseln" versteht. 1 ) Dagegen muß das Werk künstlerisch in sich geschlossen sein, jedes angerührte Motiv muß durchgeführt werden; „ein solches Streben nach dichterischer Symmetrie und Vollständigkeit ist der Griechischen Dichtung und Kunst besonders eigen". 2 ) Hierbei fand Humboldt (durch Herdersche Gedanken angeregt) einen charakteristischen Unterschied zwischen den griechischen Künstlern und unseren. „Bei ihnen, war es Einheit des Bildes, und der Natur; bei uns des Gedankens . . . Auf den T o d des A j a x läßt auch Sophokles noch das Begräbnis folgen." 3 ) Humboldt hat seine Theorie der Tragödie besonders an Schillers „ W a l l e n s t e i n " bewährt gefunden. Hier herrscht jener straffe Zug zur inneren Einheit; trotz der gewaltigen Massen und des so umfassenden Stoffes werden wir in eine neue, konsequent zusammenhängende Welt versetzt. Die Hauptcharaktere sind nicht „durch einzelne Leidenschaften, Vorzüge und Mängel, verschieden, sie sind es durch den Griff, den sie ein für allemal in die Dinge und dadurch in ihr Schicksal getan . . . haben, daß sie — der einzig wahre Begriff der zur Tragödie notwendigen Charaktergröße — eine solche Kraft und Lebendigkeit des Wollens besitzen, daß sie sich die Richtung aus sich selbst und auf einmal vorschreiben, statt dieselbe stückweis von den Umständen zu empfangen". Dadurch soll sich die Tragödie vom D r a m a unterscheiden, dessen Begebenheiten nicht notwendige Begleiter dieser Charaktere, sondern Folgen einzelner Handlungen sind von Charakteren, welche nur durch einzelne Leidenschaften, Vorzüge und Mängel verschieden sind.4) Demgegenüber muß der tragische l)
2) VIII, 123. y m , 127. ») An Schiller 187—18g. Ähnlich muß Humboldt auch in einem (verlorenen) Brief an Goethe vom Jahre 1799 unterschieden haben; denn Goethe bezieht sich darauf und b e m e r k t , daß man sich zur Zeit der Euripidischen Stücke offenbar „schon nach dem, w a s wir Drama nennen, hinneigte". (S. 79.) 4)
i i 7]
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2 77
Held gleich „einer Naturkraft" wirken, nur aus seinem Charakter und da wieder nur aus dessen höchster Möglichkeit handeln: sein Schicksal entsteht aus dem „Verwechseln der Sphären, aus dem Suchen des Unvergänglichen im Vergänglichen". So handelt Wallenstein; auf der anderen Seite steht in Schillers Tragödie „die beschränktere Gemütsstimmung", „die äußeres Glück sucht". So zieht sich „die Summe alles Menschendaseins . . . so klar und kurz zusammen". „Die furchtbarste Idee der ganzen Dichtung, und die ihr zu einem Schauder erregenden Hintergrund dient, (ist) die Übermacht der Heere, die . . allem ruhigen Bürgerdasein einen endelosen Krieg ankündigt." Dies alles wird zum Einheitspunkt der Katastrophe geführt, wobei die Empfindung „eine unglaubliche Klarheit des Blicks . . . unmittelbar selbst ausstrahlt". Durch diese Klarheit wird der Kreis der tragischen Wirkung vollendet, sie flößt „dem Gemüt eine höhere Kraft ein, Freiheit und Schicksal . . . wieder zusammenzuknüpfen". Die notwendige Ruhe aller poetischen Wirkung wird dadurch erreicht, daß jede angeregte Stimmung mit voller Kraft bis an ihr Ende durchgeführt ist.1) In einem Brief an Körner 2 ) hat Humboldt darauf aufmerksam gemacht, wie die Abhängigkeit des Helden vom Geschick erst im Augenblick der Katastrophe völlig offenbar wird, wenigstens für den Helden; während im Epos das Schicksal den Helden gleichsam begleitet in seiner Gesinnung. Dagegen ist kein Widerspruch, wenn es über Wallenstein heißt, daß der echte tragische Held bei jedem Schritt klar vor Augen sieht, was er tut, sein Unrecht und seine Gefahr kennt. Das Gefühl seiner Größe und Kraft verführt ihn, zu glauben, daß er nie von den Umständen und dem Augenblick abhänge, so wird er nach und nach unlösbar verstrickt. Hierdurch nähert sich das Stück wieder den griechischen Tragödien. 3 ) Für diese setzt Humboldt im übrigen eine besondere Art der Tragödie an, die e l e g i s c h e , welche „bloß mit der schmerzlichen Empfindung des abhängigen Loses der Menschheit und der Ergebung in den Willen einer unbekannten Macht endigt". Dieser Gattung habe Goethe — besonders im Egmont — eine neue Schönheit zu geben verstanden. 4 ) Seine Ansichten über v ) V g l . zu allem über Wallenstein Gesagten: Deutsche Rundschau 2 3 v o m 15. März 1 9 1 1 S . 423—26. ) S . 16. ) A . a. O. S. 426.
*) S . 424, ähnlich an Schiller 167: die Schillersche Tragödiengattung wird die „einfache und heroische" genannt.
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die griechische Tragödie hat Humboldt später näher ausgeführt in der Einleitung zu seiner Übersetzung des A g a m e m n o n . Auch hier ist das Wesentliche, „wie alles Einzelne, wenn gleich äußerlich scheinbar locker verbunden, innerlich nach Einem Punkte hinstrebt". Der Bewegungsgrund ist nie aus zufälliger Persönlichkeit geschöpft, „nur die größesten und dichterischsten Ideen" walten; dergestalt hat der Dichter „alles bloß Menschliche und Irdische vertilgt", daß nur „das reine Symbol der menschlichen Schicksale" dasteht. Durch Dike und Nemesis, welche die Welt regieren, so daß unter ihrer Leitung Begebenheit sich aus Begebenheit notwendig entwickelt, ist in das Menschenschicksal, das sich vor uns entrollt, „alles, was die damalige Welt Großes kannte", verwoben. Wir haben wie im Wallenstein den „ungeheuren Hintergrund" eines Weltkrieges, und „eine Fackelreihe verbindet in einer glanzvollen Nacht Asien und Europa". In Agamemnons Hand lag die Leitung gewaltiger Geschicke, deren Fäden verstricken sich mit dem Los seines Hauses und mit eigener Schuld zu einem unentrinnbaren Netzwerk, „und er fällt mehr vom Verhängnis, als dem Arm seines Weibes, die selbst wieder einem gleichen Geschicke entgegen geht". Großes Glück führt mit Frevel gepaart von Stufe zu Stufe des Unheils: so will es die Gerechtigkeit, deren Macht im Herzen der Menschen wirksam ist. Sie ist überindividuell, aber nicht in ihrem Charakter als Idee erkannt; Klytaemnestra, die eigentlich allein handelt, handelt nur aus ihrem „einfachen Naturcharakter". Sie bedauert auch ihre Tat nicht, „sie ist der Rachdämon des Geschlechts, das sich selbst den Untergang bereitet. Eine desto stärkere Wirkung bringt gegen das Ende des Stücks die Milde hervor, mit der sie sich, mit jedem Geschick zufrieden, wenn nur des ewig vergeltenden Gemordes ein Ende wird, nach Versöhnung sehnt." Die erschütternde Schilderung des Unglücks der Kassandra „findet ihre dichterische Auflösung nur in starrer Ergebung, in entschlossenem Umfassen des Unvermeidlichen". So gerät alles Menschliche, Reihen von Geschlechtern in den Strudel des Verhängnisses; aber ist damit das letzte Wort gesprochen? Wo ist die Seele dieses Leibes, so daß ihre Einheit unsere Liebe erwecken könne ? Kassandras Weissagungen enthalten nicht nur Erinnerung und Andeutung an die ganze Kette des vorausgegangenen Unheils: „Auch daß Orestes diesem Verderben den Gipfel aufsetzen wird, verkündet sie, so daß das aufgeregte Gemüt schon in diesem Stück allein die Beruhigung findet, ohne die jede künstlerische Wirkung ihre
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wahre Auflösung vermißt". Hier ist ferner die Bedeutung des Chors von Wichtigkeit. Er bringt stets die Selbstbesinnung auf das Erhabene der Gerechtigkeit. Das plastisch-epische und das lyrische Moment sollte sich in der Tragödie verschmolzen haben. Im Agamemnon waltet das Lyrische vor: es wird „durch bloß gestaltlose Anregung von Empfindung die entsprechende Stimmung im Zuschauer hervorgebracht". Auf diesem Grund treten dann die Gestalten auf. Das lyrische Element wird hauptsächlich durch den C h o r gebildet; er gibt hier auch „eine vollständige, aber lyrische Exposition" des ganzen Stückes. 1 ) Über das Problem des Chors hatte Humboldt schon früher sich geäußert. In dem Aufsatz ,,Über das antike Theater in Sagunt" bemerkt er, daß die räumliche Absonderung des Chors von den Schauspielern, die sich allerdings zu Aeschylus' Zeit noch nicht erwarten lasse, eine besonders gute Wirkung tun mußte. „Den handelnden Personen bloß seine mitleidsvolle Teilnahme weihend, ohne sich durch die Trugschlüsse ihres leidenschaftlichen Wahns bestechen zu lassen, durfte er sich nicht in ihre Mitte mischen." Der Chor tritt aiso zwischen Zuschauer und Schauspieler und bildet ein vermittelndes Element zwischen aufnehmender Ruhe und in eignen Wahn verblendeter Leidenschaft. Es fällt an dieser Stelle noch eine interessante Bemerkung: „Wie das versammelte Volk bei dem Schauspiel, so ist er (der Chor) bei der Handlung selbst teilnehmender, aber nicht wesentlich mithandlender Zuschauer." 2 ) Dem Volk scheint also im Drama gewissermaßen auch eine aktive Rolle zugewiesen zu werden, wenigstens nicht in geringerem Maße, als dem Chor. Humboldt ist diesem Gedanken nicht weiter nachgegangen. Er kommt zu prinzipieller Bedeutung in der Ästhetik H. Cohens. Weitere Betrachtungen hat Humboldt über den Chor in Schillers „Braut von Messina" angestellt. Er weiß sich im wesentlichen einig mit den Gedanken der Vorerinnerung, die Schiller voranschickte. Humboldt würdigt den Chor zunächst als „die letzte Höhe, auf der man die Tragödie der Wirklichkeit, dem prosaischen Leben entreißt, . . (er) vollendet die reine Symbolik des Kunstwerkes". Schon Euripides habe keinen reinen Begriff mehr von ihm gehabt; seitdem sei er nur als Einwebung lyrischer Stücke gedacht worden, wobei der Begriff der Musik ') Zu allem über den Agamemnon Gesagten vgl. VIII, 119—128. *) III, 85—87.
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hoch mehr Verwirrung gebracht habe. Dagegen soll der Chor den Zuschauer der fast physischen Gewalt der Empfindung entreißen, ihn auf der Höhe reiner Kunst erhalten, so daß er nicht zur bloßen Teilnahme an den handelnden Personen als w i r k l i c h e n Wesen herabsinke. Deshalb tadelt Humboldt am Schiller'schen Chore, daß er noch zu sehr in die eigentliche Handlung verwobeh und deshalb nicht frei genug sei; sein „Urteil ist nicht das unparteiische des Schicksals, so wie es sich in Menschen ausspricht". Er soll „der Repräsentant der Menschheit" seih; eiher besonderen Motivierung bedarf er nicht: „der Chor ist wie der Himmel in einer Landschaft. Es versteht sich voh selbst, daß er da sei". 1 ) Ähnlich wird in einem Brief an Goethe „der Chor die Welt zu den einzelnen Personen der Handlung" genannt.2) So kann die Tragödie dem höchsten Anspruch gerecht werden, uns durch die Darstellung des Kampfes um seine Seele, die das Individuum in der Welt im Ringen mit allen Mächten durchzuführen hat, in Rührung zu erheben, ohne daß wir uns von der Höhe des künstlerischen Erlebens in die Wirklichkeit fortgerissen fühlen. Wir häben im Roman die Begebenheit, in der Tragödie und im Epos die Handlung als Stoff des Dichters kennen gelernt: In der I d y l l e ist es ein Zustand. Die Idylle erzählt nicht und führt uns nicht eine gegenwärtige Handlung vor, sondern sie beschreibt einen Zustand. Ein Zustand ist etwas in sich Einseitiges und Dauerndes. Die Idylle wird daher auch eine bestimmte Empfindung erwecken; aber wir werden nicht, wie beim Drama, von einer bestimmten Empfindung zur anderen hingerissen, und es ist auch nicht die Seele in gleichmäßiger Erregung, wie es der beschauende Zustand des Epos mit sich bringt, sondern hier herrscht einseitig ein und dieselbe Empfindung. 3 ) Sobald der Dichter uns in den Standpunkt stellt, wo wir nicht nur diese eine Seite der Menschheit, sondern auch alle änderen gleich klär übersehen, überschreitet er das Gebiet der Idylle und wird entweder Epiker oder S a t i r i k e r . Es ist die einseitige Stimmung der Idylle diejenige, in welcher der Mensch in seiner moralischen Natur völlig mit seinem physischen Dasein übereinstimmt. Er lebt in Harmonie mit der Natur. Diese Übereinstimmung mag auch der Satiriker schildern. Aber er tut es nur, um uns den Kontrast der Wirklichkeit zu jenem l 3
) A n Schiller S. 3 0 8 — 3 1 1 . ) Vgl. auch an Goethe S. 41.
5
) S . 198.
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Zustand um so deutlicher empfinden zu lassen; und so weist er uns denn wieder über die Einseitigkeit jenes Zustandes hinaus. 1 ) 7. Die Komödie. In wahrhaft großzügiger W e i s e wird das mit dem Satirischen verwandte Prinzip des Komischen in der Dichtkunst in einem Briefe an F.. A . W o l f behandelt. 2 ) Das Wesentliche ist nicht die Beleuchtung menschlicher Beschränktheit von dem Standpunkt einer höheren Freiheit aus; nicht nur die Schwäche, sondern „alles, a u c h das Erhabenste", kann in den Bereich des Komischen g e z o g e n werden. Und zwar gehört gerade das zur Idee des K o m i s c h e n ; Lachen m u ß eintreten, aber es muß „auf eine idealische W e i s e " . . . „ a u s dem gemeinen Kreise der bloßen Zufälligkeit gehoben" werden. Deshalb muß gerade das Höchste und T i e f s t e im Menschen unwiderstehlich dem Humor anheimfallen, ,,das Lachen eine scheinbare Auflösung der W ü r d e des Menschen" sein. Soll nun hieran die Kunst nicht gar Schiffbruch erleiden, so ergibt sich die zweite, höchste A u f g a b e für den Komödiendichter — und bei Aristophanes findet Humboldt unnachahmlich das Ideal des Komischen erreicht — es muß die W ü r d e des Menschen „auf einem anderen W e g e wieder gewonnen, oder vielmehr gerettet werden". Und dies ist der eigentümliche W e g der Kunst. Humboldt bemerkt, daß hierzu „z. B. die bei Aristophanes so merkwürdige strenge Kunstform der Dichtung sehr viel tut". Durch die Strenge der Form wird das Gemüt sogleich in eine Stimmung versetzt, in der innerliche Zügellosigkeit nicht Platz greifen kann; V e r s m a ß und Diktion zeigen gleichsam schon äußerlich an, daß die Sittenlosigkeit nicht wirklich die Herrschaft inne hat, daß vielmehr mit ihr das Spiel getrieben wird, und eine höhere Gewalt sie bändigt. Solcher Geist muß in dem Dichter herrschend sein, er soll „nicht zu prosaischer Ermahnung herabsinken", seine wahre, innerliche Größe läßt ihn „aus dem Tiefsten und Edelsten des Menschen in kernigen W o r t e n " heraussprechen. E s läßt sich verstehen, daß Humboldt sagt: „ U m so viel schwerer und größer die komische Dichtung als die tragische ist, um so viel ist auch Aristophanes für mich größer als die Tragiker der Griechen." Schon Sokrates spricht im Gastmahl des Piaton davon, d a ß der Tragödiendichter der einzig wahre Komödiendichter sei. Nur wer den Ernst des L e b e n s durch die Kunst besiegt hat, der Tragödiendichter, ])
11,250fr.
2)
Alte gesammelte W e r k e S . 3 1 0 f r .
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kann das Leben in seiner trivialen Wirklichkeit verspotten. Denn nur dieser vermag uns den Eindruck dessen zu übermitteln, „was sich in einer menschlichen Brust in allen Zeiten und Ländern ungöttlich regt, und sich göttlich regen sollte". So schließt freilich ihrem Begriff nach die Komödie das P a t h o s aus; denn das Pathos verweilt auf der göttlichen Leidenschaft, die den Menschen beseelt. Aber dieser scheinbare Nachteil gereicht ihr vielmehr zum Vorzug. Das Pathos bedeutet doch immer eine Beschränkung der Seele. Wir haben gehört, wie nach Humboldts Meinung die Tragödie uns in einen Zustand bestimmter Empfindung versetzt. So betont das Pathos der Tragödie eine große Leidenschaft, ein tiefes Gefühl, das uns mit sich reißt; aber so nimmt es auch unsere Seele gefangen, es engt gleichsam unseren Welthorizont ein, so daß der Geist nicht mehr völlig frei über den Dingen schwebt, weil er mit dem Sein und dem Schicksal zu eng verbunden ist.1) Sehr schön und gerade für die Tragödie treffend definiert Humboldt einmal das Pathetische „als schmerzhaftes Erzeugen" und stellt ihm die Kraftentwicklung gegenüber, die „so erhaben, daß darin alles Pathetische verschwindet, als freies Ausströmen der Überfülle erscheint". 2 ) Es ist hier an das zu erinnern, was Schiller im Aufsatz „Über naive und sentimentalische Dichtung" über das Verhältnis der Tragödie und Komödie gesagt hat. 3 ) Wenn er dem Tragödiendichter die Aufgabe stellt, die Freiheit des Objekts absichtlich durch ein Experiment aufzuheben, um sie alsdann wieder künstlich herzustellen, so sehen wir, wie auch er von der Tragödie verlangt, daß sie unseren Empfindungen gleichsam Fesseln anlege. Aber dem Komödiendichter ist dies nicht erlaubt : er muß der Seele ihre Freiheit bewahren. Die Komödie hat in dieser Hinsicht geradezu etwas Episches. Sie vermag so, ist ihr auch das ernste Pathos fremd, selbst mit dem Pathos zu spielen, und gerade dadurch erweckt oft der Komödiendichter den größten künstlerischen Eindruck, daß er nichtigen Dingen, gleichsam dem Beiwerk der Seele, das Pathos verleiht. Aber so wenig im Epos die beschauende Stimmung als träge Gleichgültigkeit oder Oberflächlichkeit aufgefaßt werden darf, so wenig ist auch Leichtsinn und leichtfertiges Verhalten gegenüber dem ') Vgl. auch An Körner S. 58. Deutsche Rundschau vom 15. März 1911, S. 430. 3 ) Vgl. oben S. 14.
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Objekt das Charakteristikum des Komödiendichters. Das Komische ist nicht schlechthin identisch mit dem Lachen Erregenden; schon Lessing sprach davon, daß man auch „lachend sehr ernsthaft sein" könne 1 ), und Humboldt weiß von einer ernsten Komik, in der gar nicht gelacht wird, sondern deren Charakter bloß Größe, Ruhe und Heiterkeit ist. 8. Schillers Gedankenlyrik. Indem wir von der Tragödie zur Komödie hinübergeführt wurden, ist uns das eigentliche lyrische Moment der Kunst ein wenig aus den Augen gekommen. Und doch ist seine Bedeutung für die Poesie noch nicht entfernt erschöpft. Die Poesie als stimmende Kunst ist L y r i k . Der lyrische Dichter folgt selbst dem Wirbel der Empfindungen, und es gilt von ihm, wie Humboldt sagt, das Wort des Pindar: „Kein Bildner bin icht Nicht ruhet zögernd mein W e r k auf weilendem F u ß g e s t e l l ; nein! mit vollen Segeln auf eilendem Nachen wallet mein L i e d dahin!" 2 )
Die Lyrik ist die poetischste Gattung der Poesie; denn sie macht am meisten von den der Poesie eigentümlichen Mitteln, den stimmenden Elementen der Sprache Gebrauch. Das ist es eben, was durch jenen Vers Pindars ausgedrückt werden soll, daß das plastische Element in ihr zurücktritt. Die Subjektivität überwiegt das Objekt. Aber die Subjektivität liegt nicht allein in den unbegriffenen Gefühlen und Empfindungen, sondern auch in der Gedankenentwicklung. Indem sich der Gedanke an und mit dem Worte bildet, so daß sich beide, der Gedanke und das Wort, wechselseitig stützen und fördern, trägt das Wort diesen seinen Ursprung in der Subjektivität an sich. Es gibt so weniger den einzelnen Gegenstand, sondern „seine Beziehung auf den Menschen (sein Abstammen aus ihm und sein Rückwirken auf ihn)". 3 ) So wird auch hier der musikalische Klang der Rede, das Kolorit der Sprache usw. nicht dem Gedanken äußerlich zugefügt, gleichsam wie ein Gewand, das man ablegen kann, sondern es ist der Leib, der mit der Seele geboren wird. Verfolgen wir diese Ge') Minna von Barnhelm 4. Aufzug, 6. Auftritt. II, 240. 3) Brief an Schiller von Anfang September 1800. s c h a u 1911 S. 436. 2)
Deutsche Rund-
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danken weiter, so sind wir bei Schillers „lyrisch-didaktischer" 1 ) Dichtungsart angekommen. Hier hat die Einheit von Gedanken und sprachlichem Ausdruck ihre künstlerische Vollendung gefunden. Die Gedichte Schillers teilen nicht eine fertige Idee mit, sondern erzeugen sie, indem sie sie darstellen; und so zwingen sie auch den Leser, im Reiche der Idee selbst zeugend zu werden. 2 ) Eine solche Vermählung der Gedanken mit der künstlerischen Form ist nur möglich, wenn die philosophischen Ideen wie von einer höheren Macht getrieben aus innerer Begeisterung hervorquellen. 3 ) Dann aber ergießen sie sich auch aus innerem Drang in freiwilligem Rhythmus. Zu einer solchen Begeisterung vermögen uns nur diejenigen philosophischen Ideen zu entfachen, die bis zu dem Gebiete vordringen, wo die Philosophie gleichsam notwendig in Dichtung übergeht. 4 ) Piaton, wenn ihn der philosophische Eros hinreißt, das Göttliche „jenseits des Seins" zu suchen, wenn er vom Weltschöpfer spricht und von der Geburt der Seele, wird zum Dichter und bedient sich des Mythos seines Volkes; die jüdischen Propheten, wenn sie das kommende Reich, in welchem ewiger Friede herrscht, schildern, zollen der Poesie ihren Tribut. Und in der Tat, wenn der Mensch das Absolute schildern will, das uns Menschen als ein unendlich fernes Ziel und als eine nie restlos zu erfüllende Aufgabe gegenübersteht, so muß er wohl bei der Dichtkunst zu Gaste gehen. Deswegen betont Humboldt immer, wie es sich bei Schiller um die Darstellung von solchen Ideen handelt, denen der Verstand nicht Folge zu leisten vermag. 'J An Schiller 85. Über diese Dichtungsart hat Humboldt zu allen Zeiten seines Lebens immer wieder die eingehendsten Betrachtungen angestellt. Nicht nur im Briefwechsel mit Schiller und in der Vorerinnerung dazu, in der Schrift „Über Goethes Hermann und Dorothea", in den Schriften über die indische Literatur und in den sprachwissenschaftlichen Werken überhaupt: immer wieder kehrt er auf dies sein Lieblingsthema zurück. Der Gegenstand würde daher eine Abhandlung für sich verlangen. Insbesondere wäre es lehrreich, die Fruchtbarkeit der Prinzipien Humboldts an der von ihm geübten Kritik der Schiller-Gedichte zu prüfen; wir müssen uns hier auf das für die systematische Ästhetik Notwendige beschränken. *) An Schiller S. 25. Vgl. auch besonders S. 84 und III, 116. 8 ) V, 335*) Vgl. V, 335—336 und an Schiller S. 25. — Doch macht Humboldt gelegentlich auch kritische Einschränkungen; er weiß von „verderblichen Verirrungen" durch „dichterische Philosophen und philosophierende Dichter". Es ist Grundvoraussetzung, daß „die Strenge, Reinheit und Bestimmtheit der philosophischen Begriffe unverletzt erhalten" bleibt. II, 59-
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Im Grunde genommen aber wurzelt seine Beurteilung der Schillerschen Dichtungsart in seiner ganzen Auffassung vom Werden und Wesen der Kultur. Wir wissen, wie sehr er hier Schillers Schüler ist. Doch gibt es eine charakteristische Differenz zwischen ihnen, die Humboldt selbst hervorgehoben hat. Diese Differenz bezieht sich auf den Naturzustand der Menschheit. Humboldt bedauert es, daß Schiller nicht näher auf das Wesen der Sprache eingegangen sei; er würde dann sicher eine andere Anschauung von dem Urzustände des Menschengeschlechts gewonnen haben. Wenigstens läßt die Sprache uns zu der Vermutung gelangen, „daß dieser Zustand ein friedlicher, besonnener, sich keinem tieferen und zarteren Eindruck verschließender gewesen sei". 1 ) Zu dieser Anschauung wird Humboldt gedrängt durch das Studium der ältesten poetisch-historischen Schriftwerke, von denen schon oben die Rede war (Hesiod und die indische Literatur). Der Gegensatz aber ist doch nur ein scheinbarer; denn wenigstens soweit stimmt Schiller mit Humboldt überein, daß er die Werke dieser Zeit für ein Produkt eines nicht reflektierten Schafifens ansah, wie es aus dem Zustande der Einigkeit mit der Natur entspringt. Nun aber fand Humboldt in den ältesten Literaturdenkmälern eine unbewußte und ungewollte Einigkeit des Gedankens mit dem sprachlichen Ausdruck. Dieser aber ist hier eher ein Zeichen der Armut als des Vermögens. Das Reich des Gedankens hat sich noch nicht erschlossen, und weil hier das Denken noch gleichsam an der Erdscholle klebt, vermag ihm auch das Wort so voll und ganz gerecht zu werden. Für uns aber, die wir im Fortschritt der Kultur unser intellektuelles Vermögen entwickelt haben, ist diese Vereinigung von Gedanken und Wort eine schwierige Aufgabe geworden. Diese hat nach Humboldts Meinung noch keiner vor Schiller mit solcher Vollkommenheit gelöst. Es ist auf diese Art eine wahrhaft neue Dichtungsart geboren worden, indem bei Schiller der Gedanke in der Sprache wie in seinem ureigentlichen Elemente lebt. Kann doch der Dichter sich zur Sprache zwiefach verhalten: er kann „entweder die individuelle Natur der Sprache für die Kunst oder die der Kunst für die Sprache geltend zu machen, dem gestaltlosen, toten Gedanken Form und Leben mitzuteilen oder die lebendige Wirklichkeit bildlich und anschaulich vor die Einbildungskraft hinzustellen" bemüht sein.2) Das letztere ist ') Vorerinnerung zum Briefwechsel mit Schiller S . 19.
2
) II, 1 5 9 — 1 6 0 .
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die Art Goethes und der plastisch bildenden Dichter. So war es auch bei den Alten, und man sieht leicht, wie sie das stimmende Moment in der Sprache in einer völlig veränderten Weise verwerten müssen, indem es ihnen darauf ankommt, den einzelnen Gegenstand an sich, nicht in seiner Einwirkung auf das Subjekt durch das Wort hinzustellen. Indessen wird natürlich immer die besondere Art der Poesie, deren sich der Dichter bedient, auch ihre besonderen Ansprüche an die Sprache stellen, und gerade hier wird es sich zeigen, ob der Dichter vermag, den Charakter der Sprache zu durchschauen und zu nützen. So rühmt Humboldt den zarten Sprachsinn der Griechen, die den Zusammenhang der Dichtungsarten und Sprachweisen so sehr fühlen, daß sie einer jeden Art der Dichtkunst einen besonderen Dialekt zuwiesen. „Denn wenn man die Rollen verwechselt, sich die epische Dichtung in Dorischer, die lyrische in Ionischer Mundart denkt, fühlt man sogleich, daß nicht Laute, sondern Geist und Wesen umgetauscht sind." b. D i e Musik. So haben die Griechen den nationalen Charakter, wie er sich in den einzelnen Dialekten ausdrückt, überhaupt auch verwandt, um den Geist mit Hilfe der Kunst in einer bestimmten Bahn festzuhalten. Und der Dialekt wird hier in sehr aufklärender Weise der nationalen Tonart zur Seite gestellt.2) Wir sind damit sogleich darauf hingewiesen, daß es sich auch bei der Musik für den Künstler um eine innere Form des Darzustellenden handelt. Schon Piaton empfand ja den Unterschied der verschiedenen Tonarten als einen solchen der Volkscharaktere und bewertete sie danach für die Erziehung. Wie nun Humboldt die Eigentümlichkeiten der Sprachen aus dem ihnen innewohnenden Geist und Charakter der Völker erklärte, der, sofern er sich in ihnen ausprägt, ihnen ihre innere Form verleiht, so darf man dasselbe hier mit bezug auf die Tonarten und die Musik sagen. Vor allem aber ist es das stimmende Element der Sprache, welches die Verwandtschaft von Poesie und Musik in diesem Punkte begründet, wie wir schon früher gesagt haben. 3 ) In der Fähigkeit, die Seele zu energischen Empfindungen aufzurufen, sieht Humboldt schon in seinen frühesten Schriften den eigentümlichen Vorzug der Tonkunst. Dies vermag sie aber vornehmlich durch 2 ») IV, 425. ) Vgl. Steinthal 500. ) Vgl. auch V, 378: „ E s kann dies (das Verhältnis des „Tönens zur Ideenbezeichnung") mit dem Kolorit in der Malerei verglichen werden." 3
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den Rhythmus in der Zeitfolge. Obgleich nün so die Musik zu den stimmenden Künsten gerechnet werden muß, sagt Humboldt doch in der Schrift „Über die Grenzen der Wirksamkeit des Staates", daß in ihr einzig die Zeitfolge bestimmt sei, die Reihe aber, die sie darstelle, nötige sehr wenig zu einer bestimmten Empfindung. 1 ) Indessen ist der aufgewiesene Widerspruch nur ein scheinbarer; ein Brief an Körner bringt die Erläuterung. Dort heißt es, daß die Musik nicht die Aufgabe habe zu malen, sondern Charaktere darzustellen; aber nur die Form der Charaktere, nicht die Materie. Dies wird näher dahin bestimmt, daß es die Gegenstände sind, auf die sich die Neigungen und Wünsche eines Menschen beziehen, welche die Materie des Charakters ausmachen. Diese freilich vermag die Musik nicht zu schildern, ohne über ihr eigentümliches Gebiet hinauszugehen. Form des Charakters aber ist die Art, wie die Seele von den Empfindungen bewegt wird, oder der Rhythmus, in welchem sie fortfließen. Dahin gehört die Langsamkeit oder Geschwindigkeit, Heftigkeit oder Sanftmut, Gleichmäßigkeit oder Ungleichmäßigkeit des Empfindungsganges, sowie die verschiedene Manier im Übergang von einer Empfindung zur anderen. Diese vermag der Musiker darzustellen. Es ist also nicht die Empfindung, die sich an einen bestimmten Gegenstand knüpft, sondern es ist das Spiel der Empfindungen selbst, um welches es sich in der Musik handelt. 2 ) Die Musik ahmt die innere Natur des Menschen nach, welche in dem Verhältnis der Empfindungen zueinander ruht. Dies macht sich im Leben als Sympathie und Antipathie geltend 3 ), aber der Musiker läutert sie zum Gefühl der Humanität. Es war also nur ein ungeschickter Ausdruck, wenn Humboldt die „bestimmte Empfindung" von der Musik entfernen wollte; er hat es später besser gesagt: „Nichts bringt dem unerreichten Höchsten so unmittelbar nahe, als Musik und ') 1,167. 2 ) Da dies hier den eigentlichen „Gegenstand" der Darstellung ausmacht, so kann Humboldt davon doch noch ein besonderes „Kolorit" in der Musik abstrahieren; beide sind aber „kaum noch" zu unterscheiden. Das Kolorit ist „eine gewisse schwer zu bestimmende Behandlung der Töne". II, 168 Anm. 3 ) An Körner 38—41. Noch 1802 schreibt Humboldt an Schiller: „ . . . ich habe daran aufs neue bewundert, wie Gleichheit im Takt der Empfindung, möchte ich sagen, sonst höchst verschiedene Menschen einander sehr nahe bringen kann." (Deutsche Rundschau 1910/11 Nr. 14 S. 114.)
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R h y t h m u s , da in der bildenden K u n s t die Beschränktheit auf einen b e s t i m m t e n G e g e n s t a n d immer hinderlich i s t . " 1 ) „ D e n n der T o n besitzt die glückliche Eigentümlichkeit, das Idealische auf zwei W e g e n , durch die Musik und die Sprache, berühren, und diese beiden miteinander verbinden zu können, woher der v o n W o r t e n begleitete G e s a n g wohl unbestreitbar im ganzen G e b i e t e der K u n s t , weil sich zwei ihrer b e d e u t e n d sten F o r m e n in ihm vereinen, die vollste und erhebendste E m p f i n d u n g h e r v o r b r i n g t . " 2 ) W i e d e m L a u t der Sprache, so eignet d e m T o n in der Musik ein besonderes Gefühl, und die V e r w e b u n g der T ö n e g e m ä ß den G e s e t z e n des R h y t h m u s erzeugt auf diese A r t die G e s e t z m ä ß i g k e i t des Gefühls. Der R h y t h m u s „offenbart sich an T ö n e n , also an dem, was am tiefsten die S e e l e ergreift, weil es d e m W e s e n der innern E m p f i n d u n g am nächsten steht". 3 ) A n diesem Punkte bringt uns nun H u m b o l d t s S p r a c h forschung noch einen bedeutsamen Schritt weiter. „ D i e S p r a c h e wirkt . . . sogar hauptsächlich wie eine Musik, in welcher die vergangenen und noch folgenden T ö n e nur dadurch in d e m g e g e n wärtigen mitwirken, d a ß sie ihn verstärken und brauchen." Die S p r a c h e bietet also selbst „ i m m e r f o r t zum weiteren Fortarbeiten zugleich S t i m m u n g und L e i t u n g " 4 ), und gerade darin liegt ihre A n a l o g i e zur Musik. D e m n a c h ist in der Musik ein M o m e n t wirksam, das uns beständig über den jeweils vernehmbaren T o n hinausstreben l ä ß t , der sogar eben dadurch B e d e u t u n g und Eigenart erlangt. Und wie durch solche „ A n t i z i p a t i o n " 5 ) jeder einzelne T e i l der S p r a c h e „ a u f s festeste mit allen übrigen" verbunden wird, so ist es auch möglich, d a ß der Musikvortrag nicht zerfällt in einzelne Noten, sondern als ein G a n z e s , als die Einheit eines K u n s t w e r k e s a u f g e f a ß t werden kann. Und da die A n t i zipation ein wesentliches Charakteristikum in der B e w e g u n g des Bewußtseins ausmacht — auch H u m b o l d t spricht allgemein v o n „unserer geistigen T ä t i g k e i t " und wird durch den G e d a n k e n g a n g auf die „ I d e e " g e f ü h r t 6 ) — so ließe es sich verstehen, d a ß in der Musik das W o g e n der E m p f i n d u n g e n so lebhaft ins Spiel k o m m t , und die Seele so gewaltig ergriffen und aufgerührt wird. D e r G e d a n k e der Antizipation findet sich bei H u m b o l d t l)
2) V, 120. 3) VIII, 135. III, 149 (von mir gesperrt). *) Vgl. den Br^ef an Schiller im Anfang September 1800. Deutsche Rundschau vom 15. März 1911 S. 434—435. 6) Vgl. H. Cohen, i-ogik der reinen Erkenntnis. 8) Zu dieser Stelle vgl. oben S. 42.
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nur an dieser Stelle angedeutet und auf die Musik bezogen. Nach seiner grundlegenden Bedeutung und Tragweite für Rhythmus und Musik ist er ermessen und in die Ästhetik eingeführt von Herrn. Cohen. Die Griechen machten nach Humboldts Meinung von der Musik fast nur in der Verbindung mit der Poesie Gebrauch, wo dann der Gefühlston des Sprachlautes dem des musikalischen Tones sich vereint; und so begreift sich die hohe Würdigung des Gesanges. Man sieht auch, wie sehr gerade der Musiker im Reiche der Empfindungen zu Hause sein muß; mit den feinsten Übergängen der Gemütsregungen muß er vertraut sein, um die Größe und Tiefe der Musik durch- die magische Kraft der Töne hervorbringen zu können. 1 ) Ist es doch die Fähigkeit, das Innenleben des Menschen feiner nach Nuancen des Gefühls zu differenzieren, die den Modernen in höherem Grade zur Verfügung steht als den Alten, worauf Humboldt die größere Entfaltung der Musik in der Neuzeit zurückführt. 2 ) Wir haben das Gesetz der Stetigkeit für die Dichtkunst und insbesondere für das Epos erwogen. Es muß natürlich auch in der Musik seine Gültigkeit haben, allein es ändert hier ganz seine Bedeutung; und gerade, wenn wir uns an dieses Gesetz erinnern, wird es uns vielleicht noch klarer werden, warum Humboldt die Vereinigung von Musik und Poesie im Gesang so hoch schätzte. Die Musik nämlich drückt Empfindungen der Seele aus, welche für sich selbst nicht immer eine stetige Reihe bilden. Sie erhalten die Stetigkeit erst dadurch, daß sie aus einer gemeinsamen Stimmung hervorgehen. Durch diese allein also vermag der Musiker dem Gesetze der Stetigkeit gerecht zu werden. 3 ) Nun aber wird dieselbe in weit höherem Maße durch den Vers in der Poesie erzeugt. Im einzelnen freilich kann „bei dem begleiteten Gesang die Musik" „den Übergang der Gedanken . . . fester und stetiger" machen. 4 ) Was aber dem Vers noch über den Rhythmus der Musik zu eigen ist, ist etwas, was. den plastischen Künsten zugeschrieben werden muß: die Gliederung des begrifflichen Denkens. Der Rhythmus freilich hat dennoch seine eigentliche Stellung in der Musik. Daher wird auch die Musik in ihrer Eintracht geschädigt, wenn sie sich mit einer Erscheinung verbindet, welche das reine ») Vgl. an Körner S. 68. ») Vgl. VI, 92 und VII, 614—615. 3 ) Vgl. II, 280. *) II, 82. Cohen und Natorp, Philosophische Arbeiten IV
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Hervorleuchten des Rhythmus stört. Dies ist häufig bei dem modernen T a n z der Fall. Bei den Griechen war es anders. Der Tanz diente nur dazu, den Rhythmus klarer zum Ausdruck zu bringen und zu verstärken. 1 ) Deshalb verlangt auch Humboldt ganz allgemein vom Tanz, daß durch die Aneinanderreihung einzelner Bewegungen eine ähnliche Wirkung hervorgebracht werde wie in der Musik durch die Aufeinanderfolge der Töne. 2 ) Es darf aber nicht bei der bloß rhythmischen Aneinanderreihung von Tönen oder Bewegungen bleiben, sondern sie müssen sich in schöner Harmonie, in durchgängiger Einheit zusammenschließen. 3 ) Die Stetigkeit der Bewegung darf auch hier sogar verletzt erscheinen, wenn sie nur immer aus dem höheren Gesetz einer inneren Form hervorgeht; „ihre eigentliche Stetigkeit besteht darin, daß sich aller, auch unterbrochener, auch plötzlich abspringender Wechsel im einzelnen nur in Einem Mittelpunkte vereinige": „in derselben Stimmung der Seele". 4 ) c. D i e S c h a u s p i e l k u n s t . Näher fast als der Musik ist die Tanzkunst der Schauspielkunst verwandt. „Wie nun der gute Tänzer sich nie begnügt, einzelne Schönheiten zu zeigen, sondern nach Schönheit und Harmonie im Ganzen strebt, wie er nie einzelne edle und graziöse Bewegungen, sondern einen Körper zeigen will, der sich nicht anders, als edel und graziös zu bewegen vermag, wie er den Zuschauer endlich dahin bringt, nichts als die innere organische Kraft zu bewundern, die sich in tausend mannigfaltigen Gestalten entwickelt, und alle beherrscht, und in allen ästhetisch harmonisch erscheint; so muß der Schauspieler die Einbildungskraft seines Zuschauers allein auf die Seele versammeln, die ihn belebt, und die zugleich aus seiner Stimme, seinen Mienen und Gebärden hervorstrahlt." 5 ) Eine eigentümliche Stellung nimmt die Schauspielkunst dadurch unter den Künsten ein, daß sie „nicht die Darstellung der Natur, sondern die Darstellung einer anderen vorhergegangenen künstlerischen Darstellung ist". 6 ) Ihr Vorbild ist ein gemachtes Kunstwerk, das Drama des Dichters. Daher darf man auch den Schauspieler in seiner Leistung nicht unmittelbar mit der Natur vergleichen, sondern mit der Behandlung derselben durch den Dichter. „Man darf nicht fragen: könnte Agamemnon, könnte Klytemnestra diese Bewegungen machen?, sondern: könnte es der Agamemnon, der diese Gesinnungen ') An Körner S. 6 8 - 6 9 . ) An Schiller 267.
3
') An Körner S. 92. 6 II, 280. ) II, 394.
•) II, 388.
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äußert, diese W o r t e sagt?" 1 ) So werden wir also zunächst auf das Werk des Dichters zurückverwiesen. Aber der Dichter ist ein Teil seiner Nation, daher wird sich in seiner Dichtung der Charakter seiner Nation spiegeln. Und sofern nun der Schauspieler durch die Dichtung gebunden ist, so wird auch er in dem, was für seine Kunst recht und billig scheint, abhängig sein von dem Charakter seiner Nation. Also auch hier sehen wir in der Beurteilung der Schauspielkunst ein Zurückgehen auf den Geist, aus dem das Kunstwerk geboren wird, und gleichsam das Aufsuchen der inneren Form, von der die äußere nur die Erscheinung ist. 2 ) In der Abhandlung „Über die gegenwärtige französische tragische Bühne" hat Humboldt mit Geist und Geschick von dem angegebenen Gesichtspunkt aus den Stil der französischen und der deutschen Schauspielkunst gegeneinander abgewogen. Er hat die Vorzüge und die Schwächen beider auf Nationaleigentümlichkeiten der beiden Völker zurückzuführen versucht und nicht vergessen, auch die besondere Kunstform, die in der Tragödie beider Völker herrscht und die freilich mit dem Nationalcharakter in engster Verbindung steht, in ihrer Bedeutung für die Schauspielkunst und in ihrem Einfluß auf dieselbe zu erwägen. Der Deutsche dringt überall mehr darauf, unmittelbar die Empfindungen und Gesinnungen zu übermitteln, und in diesem Streben legt er oft den Zeichen und den Mitteln der Mitteilung selbst nicht den nötigen Wert bei. Er sucht überall den Ausdruck des Seelischen und verlangt diesen daher auch zuerst vom Schauspieler. Darüber kommt bei ihm leicht der Maler und der Bildhauer, an deren Künsten die Schauspielkunst auch teilnimmt, zu kurz. Bei dem französischen Schauspieler im Gegenteil herrscht das Bestreben nach malerischen Gebärden und Bewegungen. Er verfällt darüber auch häufig in den Fehler, den Sinn, Geist und Charakter des Darzustellenden einer schönen malerischen Pose zum Opfer zu bringen, ja er wird leicht konventionell und manieriert. So freilich werden nur wir Deutsche ihn beurteilen, wo der Franzose selbst noch ganz natürlich zu sein glaubt. Dem französischen Charakter entspricht ein anderer Begriff des Natürlichen. Der Franzose verbindet mit dem Ausdruck Natur fast ausschließend den Begriff des Einfachen, Leichten und durchaus Gehaltenen, und diese Eigenschaften sind es ja, welche die französische Schau') 11,389.
2
) Vgl. besonders 11,399fr.
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spielkunst bei aller Manieriertheit immer zeigt. Der Sinn für das Malerische bewirkt es, daß der Franzose dem Äuge zumeist erfreuliche Bilder vorführt; allein die Darstellung des Gemüts wird dabei vernachlässigt. S o stellt er zwar Leidenschaft, aber zumeist keinen Charakter dar, und diese Leidenschaft selbst zeigt sich mehr in ihrer physischen als in ihrer idealischen Natur; sie erscheint als ein Erliegen unter einer fremden Macht. Und der französische Schauspieler läßt uns nicht ahnen, daß die Leidenschaft oft Ausdruck einer Seele ist, die aus Unvermögen unentwickelter Kräfte, also aus Dumpfheit, oder aus Fülle und Größe der Kraft, wo alsdann der Moment der Leidenschaft zugleich der Moment der höchsten Klarheit ist, sich oft nicht verständlich zu machen weiß. S o verschmilzt bei den Franzosen der Mensch nicht mit dem Schauspieler. E r bleibt Deklamator seiner Rolle und wird nicht ein Neuerschaffer derselben. E r wird aber in diese Fesseln besonders geschlagen durch die besondere Form des Alexandriners, der eine eigentliche Freiheit des Geistes nicht aufkommen läßt. Ein Vorzug des französischen Schauspielers, der wohl mit der Schwäche des Konventionellen zusammenhängen mag, ist, daß er mehr als der deutsche an das Publikum denkt. Er behält immer die Wirkung im Auge, die seine Stellung, seine Gebärde und sein Wort auf dieses ausüben. Freilich tut er auch darin leicht zu viel, indem er sich ganz einseitig dem Publikum zuwendet. Die Vorliebe der französischen Nation für das Konventionelle erklärt auch hier vieles in seinem Verhalten. Man sieht leicht, daß das Ideal eines Schauspielers erst aus der Vereinigung der Vorzüge jener beiden Spielarten hervorgehen würde. E s bleibt für den Schauspieler immer das Wesentliche, daß er das Dichterische und das Malerische in seiner Kunst nicht trenne, und sein Spiel muß ein Abbild der Seele des Helden, den er darstellt, bieten. Seine große Kunst besteht darin, daß er seiner Rolle durchaus Charakter gibt, daß er das bloße Gedankenbild der Poesie in seiner wirklichen Person fixiert. Man findet sich bei allen diesen Ausführungen wiederum an Goethe erinnert, der im 7. K a p . des 5. Buches von Wilhelm Meisters Lehrjahren vom Schauspieler verlangt, daß er wisse, „mit Lebhaftigkeit zu umfassen, was sich der Autor beim Stück gedacht hat, was man von seiner Individualität hingeben müsse, um einer Rolle genug zu tun". d. D i e M a l e r e i . Das malerische oder stimmende Moment muß sich in der Schauspielkunst dem Darzustellenden unter-
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ordnen. Es entfaltet aber seine reine und ideale Wirkung erst auf dem Gebiet der Kunstart, die im eigentlichsten Sinne des Wortes eine stimmende genannt werden kann. Zwar stehen der Malerei zwei Mittel zur Erzielung des künstlerischen Erfolges zur Verfügung, der Umriß und die F a r b e ; und wir sahen, wie in jenem Schema Humboldt in Verfolgung Kantischer Gedankengänge die Graphik von der Farbenkunst unterschied. In der Schrift „Über Goethes Hermann und Dorothea" würdigt er beide Mittel in ihrer Bedeutung für die einheitliche Kunst der Malerei. Das Auge, sagt er, steht „in einer doppelten Beziehung auf der einen Seite auf unsere höheren intellektuellen, auf der anderen auf die niedrigeren sinnlichen Kräfte". Mit den ersteren verbindet uns die Malerei durch die dargestellte Gestalt, mit den letzteren durch das Kolorit. Die reine Gestalt an sich ist kalt und trocken, die Farbe hingegen frisch und lebendig. 1 ) So bringt das Kolorit das Stimmende hervor. Verharrt nun aber das Kolorit in der Sphäre d e r . niederen Sinnlichkeit? „Die Wirklichkeit spricht zu den S i n n e n , die Kunst zu der P h a n t a s i e . " 2 ) Muß das Kolorit also nicht zum Idealischen erhoben werden ? Und wie könnte es dies anders als durch Form ? Es soll uns stimmen: d. h. es soll der Phantasie einen Rhythmus verleihen. Bei der Plastik wird es klar werden, daß es auch objektiv Form ist, welche zu dieser subjektiven gesetzmäßigen Stimmung hinführt. Denn alle Kunst ist Form. Wenn Humboldt verlangt, daß in einem guten Werke der Malerei das bildende Moment (der Umriß) und das stimmende (Kolorit) immer im Gleichgewicht seien 3 ), so ergibt sich das einfach daraus, daß beide in einem solchen W e r k e nicht getrennt entstehen, sondern in Einheit aus der inneren Form emporsprießen. Malt daher der Maler z. B. auch nur eine Frucht, so mag man immerhin sagen, daß die Umrisse in der Natur geradeso vollendet, die Farbe geradeso lebhaft ist, aber indem das Bild aus der Phantasie des Künstlers neu erzeugt wird, verlieren die Umrisse alles Harte und Schneidende und erhalten das Unendliche, das aller echten Kunst eignet. 4 ) Es ist sogar ein Vorzug, den die Malerei vor der Plastik behauptet, daß bei ihr die Spontaneität der Einbildungskraft einen höheren Grad erreicht; während nämlich die bildende Kunst den Gegenstand unmittelbar selbst hinstellt, so daß die Einbildungskraft nur das Idealische darin hervorbringen muß, so ist die Tätig') II, 167 Anm.
2
) II, 131.
3
) II, 167.
*) II, 131.
H. aus der Fuente, Humboldts ästhetische Forschungen.
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keit der Einbildungskraft in der Malerei schon deswegen eine größere, weil sie den Gegenstand erst selbst im Räume konstruieren muß. „Von einem Gemälde und von einer Statue z. B., die gleich mittelmäßig sind, wird doch das erstere noch mehr interessieren, weil es uns doch wenigstens das Geschäft auferlegt, uns die dargestellte Szene, die dort nur in Umrissen und Farben gezeichnet ist, wirklich vorzustellen." Es zeigt sich hier, wie das plastische Moment doch in der Malerei gegen das stimmende zurücktritt. Denn das Stimmen ist immer zugleich ein Fruchtbarmachen der Seele, so daß sie zeugend wird. Deshalb kann auch Humboldt zu einem bemerkenswerten Gedanken kommen, mit dem er über die malerischen Ideale seiner Zeit weit hinausgeht: „aber es gäbe auch einen höheren Stil für die b l o ß a u f d a s K o l o r i t b e r e c h n e t e M a l e r e i , die alsdann nach rhythmischen Gesetzen behandelt werden müßte." 2 ) Das würde nach Humboldt einen Höhepunkt der modernen Kunst bedeuten müssen, deren Fortschritt ja immer auf seiten des stimmenden Momentes liegen soll; „darauf beruht die Wirkung der in diesem Umfange dem Altertum auch unbekannt gebliebenen Farbenbehandlung in der Malerei, durch welche . . . die Malerei zu einer ganz neuen Kunst geworden ist". 3 ) Jedoch würde die Malerei auf diesem Wege leicht in die Gefahr eines unangebrachten Wettstreites mit der Musik geraten; ihr eigenstes Gebiet hat sie im „Gleichgewicht" von Umriß und Kolorit zu suchen, hier kann sie den Vorzug der Antike mit dem modernen vereinen: so „sollte man die Malerei, als die Vermittlerin zwischen Bildhauerei (in der Form) und Musik (in der Farbe) für ganz eigentlich unserer Zeit angemessen halten". 4 ) Humboldt wußte auch bei der Malerei wie bei jeder Kunst die Bedeutung der spezifischen T e c h n i k wohl zu würdigen. In ihr denkt der Künstler, so ist sie mit und in der inneren Form geboren; durch ihre besonderen Ausdrucksmöglichkeiten werden wir zur inneren Form des Kunstwerkes hingeführt. „Da die Kunst erst von der Seite ihrer Technik aus vollständig erkannt wird", zeigt die Vergleichung verschiedenartiger Kunstwerke, wie der Künstler, „um seiner allgemeinen Aufgabe zu genügen, die besondre zu lösen hat". „Erst wenn der Seele auch davon ein lebendiges Bild vorschwebt, kann ein Kunstwerk vollkommen gewürdigt werden." 5 ) Der Maler muß also vor allem „Zeichl 3
2 ) II) —39°) Hl 169 (von mir gesperrt). ) VI, 92; ebenso an Goethe 232. *) VII, 615.
VI, 579.
135]
B. II. Die Künste.
295
nung, Kolorit und Anordnung" beherrschen. „Es wäre ein augenscheinlicher Irrtum, wenn man das Nämliche auf andrem Wege zu erreichen gedächte, wenn man die Idee unmittelbar andeuten zu können und die Forderungen an die vollendete Darstellung der Erscheinung ungestraft vernachlässigen zu dürfen glaubte." Die vollkommene Beherrschung des Technischen bringt erst vollendete künstlerische Behandlung hervor, die sich in Reinheit und Einfachheit beweist. So beschreibt Humboldt ein Gemälde: „Die Figuren sind daher mit meisterhaft geringem Aufwände von Mitteln hingezeichnet, und durch diese, wenn ich so sagen darf, wundervoll keusche Behandlung des Stoffs springt der unauflöslich mit ihm verbundene Gedanke in doppelt größerer Schärfe und Bestimmtheit hervor." 1 ) Es ist schon hervorgehoben, wie Humboldt stets die Notwendigkeit des Naturstudiums für den Künstler betonte. Fast mit den W o r t e n Dürers 2 ) sagt er einmal: „Es zeigt sich . . ., daß, bei richtiger Auffassung der Natur, der Künstler nur ein Stück aus ihr herauszuschneiden und gleichsam in einen Rahmen zu fassen braucht, um seiner Wirkung gewiß zu sein, wenn es ihm nur gelingt, seiner Nachbildung das einzuhauchen, was in dem Blicke lag, mit dem er selbst den Gegenstand ansah." 3 ) Und so sehr Humboldt den Malern immer die Orientierung an den Griechen empfiehlt, so ist ihm doch nicht entgangen, wohin die in seiner Zeit so häufig pedantisch aufgefaßte Abhängigkeit von antiken Mustern führte. So gibt Humboldt eine schöne Definition der „Akademiker, welche man darum so nennt, weil sie ihre W e r k e nach allgemeinen Regeln anfertigten, so daß sich wenig oder gar kein eigentümliches Gefühl mehr in denselben regt". 4 ) Treffliche Bemerkungen hat Humboldt auch über die einzelnen Arten der Malerkunst. Der G e s c h i c h t s m a l e r sowie der P o r t r ä t m a l e r unterliegen einer gewissen Beschränkung durch die Wirklichkeit. Der Porträtmaler muß auch bei der freiesten und schönsten Behandlung seine Freiheit der gegebenen Individualität unterordnen. Dies vermag der Künstler nur dann, wenn er in gleicher Weise die Kenntnis des Charakters wie auch die äußere Erscheinung des Darzustellenden in sich aufgenommen hat. So hat Humboldt das Studium der P h y s i o ') VI, 590, 591. V g l . den Brief an Schiller vom 30. April 1803 (Deutsche Rundschau 1 9 1 1 Nr. 14): ,.. . . eins der alten Gemälde . . . voll Einfachheit und Größe und so wie mit nichts gemacht". 3 *) V g l . oben S. 83. ) VI, 597. *) X I I , 548.
H. aus der Fuente, Humboldts ästhetische Forschungen.
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g n o m i k für die K u n s t des Porträt- und Historienmalers fruchtbar zu machen gesucht. Sein Begriff der Physiognomik ist, wie früher gesagt, ein anderer als der Lavaters. Es kommt nicht darauf an, die innere Bildung aus der äußeren zu erraten; sondern er will vielmehr umgekehrt die Erkenntnis des Inneren für das Verständnis des Äußeren fruchtbar machen. Erst wenn man den Charakter des Menschen einigermaßen kennt, vermag man die Züge seines Gesichtes zu deuten. Dies schließt aber nicht aus, daß die Physiognomik als solche ein würdiger Gegenstand gleichsam naturwissenschaftlicher Beobachtung ist. Nur auf diese A r t kann der Künstler dahin gelangen zu erkennen, welche Gesichtszüge sich in der Natur zu einer Physiognomie vereinigen und welche nicht; auch nur so vermag er ganz den Reichtum und die Mannigfaltigkeit der Ausdrucksformen, deren das menschliche Gesicht fähig ist, zu ergründen. Gerade hier sündigen nach Humboldts Meinung viele Maler; so will er bemerkt haben, wie in einigen Gemälden Davids antike und moderne Gesichtsbildungen nebeneinander auftreten. Hier zeigt sich denn, daß der Maler die Freiheit der Einbildungskraft, von einer Gestalt zur anderen überzugehen, stört; wieder andere wiederholen unablässig in allen Bildern eine Lieblingsphysiognomie. Dieser Fehler ist freilich gerade bei Köpfen, die an das Idealische grenzen, schwer zu vermeiden. Die Fruchtbarkeit des naturwissenschaftlichen Studiums der Physiognomik bewahrt vor derartigen Fehlern. W e n n der Maler allein von dem moralischen Ausdruck ausgeht, so wird die Mannigfaltigkeit der Formen z. B. bei dem weiblichen Geschlecht eine geringere sein. Denn nach Humboldts Meinung prägt sich ja die Eigenart des Moralischen schon deswegen im Gesicht der Frau nicht immer in derselben Schroffheit aus wie beim Manne, weil es bei ihr weniger aus bewußtem Willen als aus einem instinktartigen Gefühl hervorgeht. 1 ) Die eigentlich künstlerische A u f g a b e des Porträtmalers soll nun darin liegen, daß er niemals die Züge des Augenblicks darstellt, „sondern die Züge, wie sie dem ganzen Innren in allen ihm eigenen Stimmungen und Gedankenentfaltungen entsprechen . . . Dies aber vermag nur das Genie des Künstlers, und j e weniger ihm Schranken gesetzt werden, das Bildnis zum Gemälde zu erheben, desto mehr verstärkt der hellere Widerschein der Kunst auch den Eindruck der bloßen Ähnlich') Vgl. zum Gesagten den ersten Brief über das „Musée des petits Augustins" II, 345 ff.
J37]
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297
keit". 1 ) Auch die Kunst, die scheinbar ihren Sinn nur darin hat, daß sie auf das Individuum geht, m u ß sich zur allgemeinen ästhetischen Gefühlshöhe erheben. Wir erinnern uns an das W o r t Humboldts, daß der Mensch nur insofern einen bestimmten Charakter hat, als er eine bestimmte Sehnsucht kennt; das Porträt aber soll den „ganzen Charakter" zeigen: so erkennen wir seine eigentümliche Leistung darin, d a ß es den Menschen in eine Einheit seines letzten Strebens mit dem beschränkt Individuellen seines besonderen Charakters umschließt und so unsere Liebe zu dieser Wesenheit der menschlichen Natur zur Erhebung bringt. Auch das Historienbild sucht Humboldt möglichst zu befreien von einschränkenden Vorbedingungen, die nicht im Wesen der Malerei selbst begründet liegen, und zugleich, es auf das allgemein Künstlerische hinauszuführen. So verlangt nach seiner Meinung Goethe damit zu viel, daß das historische Gemälde selbst „von den Motiven der Handlung Rechenschaft geben" solle. Es genüge, daß die physische Handlung völlig klar werde, und daß das Bild „gut behandelt" sei, „interessante und angenehme Stellungen und Gruppen" darstelle. Das rein stoffliche Interesse wird also abgelehnt, die malerische Qualität hervorgekehrt. Gleichsam als Seele dieses Leibes kommt in Betracht, daß „jedes historische Gemälde notwendig immer zugleich Charakterbild ist". 2 ) Bei einem guten Gemälde gewinnt, „das Bild der Menschheit in meiner Phantasie . . . neue und interessante Seiten". Dazu muß der Maler „den eigentlichen Naturcharakter, den Charakter, der . . . den Menschen, wie er . . . im Leben begegnet, nur als ein Ganzes der Phantasie, vors Auge" bringen. 3 ) Freier als Historienmaler und Porträtmaler kann der L a n d s c h a f t e r arbeiten. Ihm bietet sich das ganze weite Reich der Natur; und die Vorliebe für gewisse Gegenden ist nicht so entschieden, daß er nicht die Schönheit der Natur in allen ihren Erscheinungsformen zu ergreifen vermöchte. Es fällt für ihn auch die große Scheidewand der modernen und antiken Gegenstände fort, da die Natur in allem Wechsel der Jahrtausende unwandelbar die gleiche ist. „Er kann daher mit freier Sicherheit aus dem ganzen Reichtum schöpfen, den ihm die objektive Verschiedenheit der Natur und die subjektive der sie auf') V I , 2. V g l . auch II, 3 5 1 . -) A n G o e t h e S . 66. Goethe diesen Gesichtspunkten (S. 77).
richtet dann seine Beurteilung ' ) V g l . II, 3 5 1 , 3 5 2 .
nach
H. aus der Fuente, Humboldts ästhetische Forschungen.
[138
fassenden Empfindung darbietet, da die Einheit der Landschaft auf diesen beiden, sich in der künstlerischen Phantasie verbindenden Elementen beruht." 1 ) In der künstlerischen Schau erobert das Gefühl auch die Natur; und die „Einheit der Landschaft" ist Einheit des Gefühls, sie erzeugt sich wieder im Beschauer. So scheint die Phantasie des Künstlers in der Landschaftsmalerei nicht so strenge wie bei der Darstellung der menschlichen Gestalt bedingt und freier zu walten, „da doch in der T a t auch hier dieselben Forderungen künstlerischer Notwendigkeit an ihn ergehen".'') Das G e n r e b i l d schöpft seinen Stoff unmittelbar aus dem Leben und schildert das Leben ganz unmittelbar selbst. Es führt daher auch mehr in die Wirklichkeit hinaus als in die Seele zurück und verläßt seine Gattung, wenn es tiefere E m p findungen weckt. „Es liebt, nur leichtere anzuregen, und steht daher gern dem Piquanten und Komischen nahe. Selbst daß die Genre-Bilder gewöhnlich kleinere Bilder sind, hängt gewissermaßen mit ihrer Natur zusammen. Die scheinbare Anspruchlosigkeit und das Zusammendrängen eines in allen seinen Einzelheiten auf einem kleinen Räume dargestellten Lebens in den Reflex Eines glücklich gewählten Moments erhöht sichtbar den Effekt." 3 ) Vielleicht kann man die Gedanken Humboldts dahin erläutern: im Genre handelt es sich immer um die Darstellung einer bloßen Episode; auch in einer großen Tragödie kann eine eingeflochte Episode unter Umständen das ganze Stück blitzartig erleuchten; allein sie wird dies um so sicherer tun, je mehr der Künstler es verstanden hat, seine Darstellung gedrängt und kurz zu machen. Verweilt er dagegen bei dieser Episode, breitet sie aus und zieht sie absichtlich in die Länge, so wirkt sie störend statt fördernd. Was hier von einer zeitlichen Handlung gesagt ist, gilt auch für den Raum. W ü r d e der Maler das genrehaft erfaßte Leben auf breiten Flächen ausmalen, so würde es zerflattern und auseinandergehen, weil man die Beziehung zur Gesamtheit des Lebens aus den Augen verlieren würde. e. D i e B i l d h a u e r k u n s t . Die Skulptur, sagt Humboldt, entspricht dem reinen Begriff der Kunst am meisten. Sie ist die rein darstellende Kunst, und aus diesem ihrem Begriffe ergeben sich auch ihre Gesetze. Da sie allein durch Form wirkt, und da die Form immer auf der ganzen Gestalt ruht, so kann ) V I , 585.
!
) VI, 576.
3
) VI, 595-
B. II. Die Künste.
139]
299
sie auch nur durch das Ganze wirken. Sie unterscheidet sich hierdurch von der Dichtkunst; der Dichter muß z. B. durchaus nicht die Gestalt jedes seiner Helden bis ins einzelne schildern. E s genügt, wenn er uns dieselbe durch die Schilderung einzelner Züge lieb macht: er mag alsdann die Ausmalung des Einzelnen getrost der Phantasie des Lesers überlassen. Der Plastiker dagegen muß die Figur bis ins einzelne ausarbeiten. 1 ) Das Gesetz der Stetigkeit gilt auch für die Plastik und es gilt dann für die Urnrisse der Gestalt, die das Auge in der Wahrnehmung in Bewegung auflöst. 2 ) Wir wissen schon von Lessing, daß der Künstler die Bewegung im übrigen nur uneigentlich zu schildern vermag. 3 ) E s findet sich da auch gelegentlich bei Humboldt der Gedanke, den Lessing mit dem Ausdruck bezeichnet, die bildende Kunst habe immer den fruchtbaren Moment darzustellen. Auch in der Plastik unterscheidet er das stimmende und das bildende Moment; ja es gibt sogar eine Art von Kolorit, die in derjenigen Art der Bearbeitung des Materials liegt, durch welche der harte und tote Stein für das Auge Weichheit und Leben erhält; und hier erfolgt nun die aufklärende Bemerkung: „Obgleich dies nur durch Form hervorgebracht werden kann, so wirkt es doch nicht als Form." 4 ) E s muß also auch das stimmende Moment des Kolorits auf Form zurückgeführt werden. In der Beurteilung plastischer Bildwerke geht Humboldt wiederum auf den Charakter des Künstlers und der Nation, welcher der Künstler angehört, zurück. So in seiner Besprechung der Grabdenkmäler im „Musée des petits Augustins". E r führt z. B. den Mangel an künstlerischen Werten in den Denkmälern des 14. und 15. Jahrhunderts zurück auf den Geist der Rohheit, Unwissenheit und des Aberglaubens, der in jenem Zeitalter die französische Nation beherrschte. „Die Teile, welche am sichtbarsten das Gepräge des Geistes und der Menschlichkeit tragen, die Stirn, und die Augen sind unbedeutend, und kündigen sich auf keine Weise an, da hingegen die stark hervortretenden Backenknochen die Hauptpartie des Gesichts ausmachen. Auch fehlt es den einzelnen Teilen an Einheit und man trifft hier die bizarresten Formen an." 5 ) In der Charakteristik der Figuren hält sich Humboldt immer an die Beschreibung der einzelnen Teile und deren Zusammenhang, um erst dann den Ausdruck des Gesichtes zu charakterisieren. Bei gewissen >) II, 1 5 2 — 1 5 3 .
») II,36I.
2
) II, 280.
»J Vgl. II, 157.
4
) II, 168 A n m .
H. aus der F u e n t e , Humboldts ä s t h e t i s c h e F o r s c h u n g e n .
Figuren tadelt er die bloß handwerksmäßige Behandlung der Kunst, die sich in einer sklavischen Nachahmung der Natur gefällt. E r vergleicht sie in dieser Beziehung mit den Meistersängern in der Dichtkunst, die den bloßen Ausdruck des Gedankens in Reime gebracht haben. Es fehlt ganz der leise Hauch der Einbildungskraft, der auf einmal seinen Gegenstand mit einem sonst unbekannten Glänze überkleidet und der das eigentliche Leben der Kunst ausmacht. 1 ) Dieser kann nur in das W e r k kommen, wenn sich in ihm die schöpferische Kraft des Geistes äußert, aus dem es entsprang. Denn nur der Geist vermag den Organismus des Lebens zu ergründen, und er tut dies, indem er ihn aus sich erzeugt. Die Einheit des menschlichen Organismus ist die Einheit des Lebens. In diesem Sinne würdigt Humboldt die Plastik der Ä g y p t e r , der „es gelang, die menschliche Gestalt aus dem organischen Mittelpunkt ihrer Verhältnisse heraus aufzubauen, und die dadurch zuerst ihren Werken das Gepräge echter Kunst aufdrückte". 2 ) Schon früher wiesen wir darauf hin, wie er ebenso die Überlegenheit der G r i e c h e n als Plastik er aus dem anschauenden und bildenden Geiste ihrer Nation ableitete. 3 ) Hingeführt wurden sie hierzu durch das innige Verhältnis zum Göttlichen im Menschen; es ist die Sehnsucht zur Idee, welche die giiechische Plastik geadelt hat. 4 ) Der Grieche wußte immer die zarte Grenze zu halten, die Kunst als Kunst und nicht als Natur zu behandeln. Andererseits verschmähten es die Griechen, „die überirdische Macht der Götter hieroglyphisch in Zeichen anzudeuten, und suchten dieselbe in dem Ebenmaß ihrer Glieder unmittelbar auszudrücken". 5 ) So kommt , in der Auffassung des menschlichen Leibes der ästhetische Eros zu reinster Bezeugung, er wird ihm zum klarsten Ausdrucksmittel: in ihm fließt die göttliche und die irdische Natur des Menschen zusammen zu einer Einheit, die das Gefühl immer von neuem zu bewundernder Schau hinreißt. 6 ) In solcher Bedeutung würdigte Humboldt die römischen Kunsterlebnisse Goethes. Goethe suchte zu zeigen, „welch einen Abgrund, ein Labyrinth" er in der Gestalt der Dinge „und vor allem in der menschlichen fand". „In solcher Gegenwart wird man mehr, als man ist; man fühlt, das Würdigste . . . sei die menschliche 2 ) VII, 23. >) 1 1 , 3 6 9 - 3 7 0 . *) VII, 6 1 4 - 6 1 5 . *) V g l . dazu III, 146. Die K u n s t als S y m b o l d e r Gottheit.
») III, 1 4 4 . 6) V g l . H. Cohen, Ästhetik des reinen Gefühls (Berlin 1912) S. 2 4 2 f r .
141]
B. II. Die Künste.
jOl
Gestalt, die man hier in aller mannigfaltigen Herrlichkeit gewahr w i r d . " D a b e i betont Humboldt die „vollkommene Abwesenheit aller Täuschung durch Phantasie oder Überwürdigung". „Alles ist Klarheit und Ruhe." „Eine solche Anschauung geht auf den Begriff der Gestalt; das Gesetz ihrer innern Verknüpfung, die Reihe ihrer Entfaltungen wird zum Studium und man besorgt nicht, dadurch den Zauber der Erscheinung zu zerstören. Allein Begriff und Studium können n u r Vorbereitungen, Hilfsmittel sein, Maß angeben, Schranken setzen; die Gestalt ist immer Eins und ein Ganzes, immer mehr und ein Andres. Da tritt nun das Unbegreifliche, durch kein Studium Erreichbare ein, das was nur gefühlt und geschaffen, nicht gemacht werden kann. So geht das Kunstwerk wieder in ein Naturwerk über." 2 ) Bei liebender Versenkung in den Aufbau der Gestalt, in den Rhythmus ihrer Glieder entspringt das unbegreifliche Verstehen des Gefühlserlebnisses, welches den Künstler in der Schöpfung beseelt, das er der Gestalt als ihr L e b e n eingehaucht hat. Immer bleibt das Gefühl gemäßigt und auf der gleichen reinen Höhe erhalten durch das „Maß", welches die Gestalt umgrenzt und durch seine Harmonie den Blick immer wieder fesselt. Humboldt sucht „dem Geheimnis etwas näher zu rücken", indem er die Bedingungen des Schaffens, die dem Bildhauer gegeben sind, tiefer zu fassen strebt. Das Erlebnis wird dadurch möglich, daß der Beschauer die Begeisterung erahnt, in der der Künstler seine Idee erfaßte. Diese Kraft muß ihn so durchdrungen haben, daß sie ihm Sicherheit gab, jeden Teil des Kunstwerkes wie aus der Idee selbst heraus zu erzeugen. „Denn daraus kann eine Konsequenz und ein Zusammenstimmen der unmerkbarsten Teile aller Umrisse entstehen, die jedem Maß und jeder Andeutung im einzelnen entflieht; und selbst an der Stärke und Zartheit, mit der zwei übrigens vollkommen gleiche Linien gezogen sind, ist die verschiedene Phantasiekraft des Künstlers erkennbar." 3 ) Was er so der Tiefe seines Werkes anvertraute, konnte aus ihm wieder als freies Leben hervorstrahlen. Dies Ideal der Bildhauerkunst erfüllten die Griechen. Schon die Epoche der strengeren Kunst hat immer Härte und Trocken2 ') Humboldt zitiert hier G o e t h e . ) VI, 540—541. 3 ) III, 1 4 4 — 1 4 5 . — In der Konzeption sind die S e e l e des Künstlers und seine Idee eins, die Idee führt gleichsam selbst den Griffel. Daher bemerkt Humboldt, daß aus flüchtig hingeworfenen Zeichnungen der Charakter des Künstlers oft kühner und entschiedener hervorleuchtet als aus den Gemälden selbst (XII, 558).
H. aus der Fuente, Humboldts ästhetische Forschungen.
heit vermieden, und alle Fülle des L e b e n s u m g o ß so sehr j e n e ursprünglichen, großen Formen, „ d a ß die schlichteste Naturnachahmung bloß in einem edleren Element ihre irdische D ü r f t i g keit ausgetilgt zu haben schien. Die Kunst keiner Nation und keines Zeitalters schäumt von einem solchen Reichtum und einer solchen Üppigkeit der Gestalten über . . . " „ A u s der tiefen Kraft, die er seinen W e r k e n einhaucht, quillt ebensowohl d i e Üppigkeit einer Bacchantin als die Erhabenheit eines Zeus." Sein, Geist umfaßt die ganze Schöpfung und geht alle Momente der K r a f t des lebendigen Daseins durch, vom halb tierischen Tritonen bis zum V a t e r der Götter und Menschen. 1 ) Zum Wettstreit mit der Plastik der Alten konnten sich die Neueren nie erheben, „ d e r einzige Michel A n g e l o versuchte nur, und vielleicht ohne es zu ahnden, einen neuen Stil". 2 ) f. D i e B a u k u n s t . Schon in dem früher erwähnten S c h e m a der Einteilung der Künste zeigte es sich, wie Humboldt bei der Architektur dem außerkünstlerischen Gesichtspunkt einen sehr hohen Einfluß einräumt. In einem Brief an Schiller v o m 20. November 1795 führt er sie in einer W e i s e auf den Begriff des Gebrauches zurück, daß wir unmittelbar an K a n t s Begriff der anhängenden Schönheit erinnert werden. Der eigentliche Zweck der Architektur liegt danach nicht im Ästhetischen. Insofern aber auch sie eine K u n s t ist, muß sie natürlich durch F o r m wirken. Die Massen müssen sich in einer schönen, leicht zu übersehenden F o r m darstellen; ihre Erzeugnisse stehen zwischen den Produkten der Natur (Gebirgen, Felsen) und den rein künstlerischen der Plastik, die aus der menschlichen Phantasie geboren sind, in der Mitte und vereinigen die V o r z ü g e beider. Im übrigen aber stimmt Humboldt dem zu, was ihm von Schiller als Goethes Meinung berichtet worden war. 3 ) Goethe hatte versucht, die Gesetze der Baukunst aus den drei ursprünglichen Begriffen der Base, der Säule und des Daches abzuleiten. Die schöne Architektur als reine K u n s t sei eine Idee, mit der jedes einzelne W e r k mehr oder weniger streite. Dieser Streit entspringt daraus, daß der endliche Mensch der Wirklichkeit unter tausend Bedürfnissen steht; aber die schöne Architektur würde, wenn sie der Idee ihres eigenen W e s e n s gerecht werden wollte, für einen Idealmenschen arbeiten, der in keinem bestimmten, folglich in keinem bedürftigen Zustand sich befände. Sie m u ß jedoch auf den wirklichen Menschen Rücksicht nehmen. Der III, 145—146.
2)
VII, 615 oben.
3)
An Schiller 209—210..
143]
B. II. Die Künste.
303
Widerstreit wird aber dort am wenigsten ins Auge fallen, wo sich die Bedürfnisse des Einzelnen am geringsten geltend machen, also in öffentlichen Gebäuden. Schiller drückt dies in seiner Weise aus, indem er sagt, daß die Architektur in jedem besonderen Gebäude den Gattungsbegriff des Gebäudes überhaupt gegen den Artbegriff zu behaupten sucht, wodurch sie dann den Menschen aus einem beschränkten in einen unbeschränkten Zustand führt und ihn folglich ästhetisch rührt. Es ist also schließlich auch in der Architektur die Erweiterung des Gemüts zum Gefühl der Menschlichkeit, auf welches der Künstler ausgeht. 1 ) So sagt Humboldt, daß selbst der Begriff des Gebrauches bei einem Gebäude das Menschliche herbeiführe. Es war berührt, wie Humboldt in Abhängigkeit von den Bestimmungen der Kantischen Analytik des „Erhabenen" die Baukunst als Kunst der „Massen" bezeichnete. 2 ) Auch hier aber kam er zu methodischer Klarheit: die Masse würde nie ästhetische Erhabenheit erzeugen; auch die Baukunst muß durch reine Form wirken. Diese Einsicht bekundet Humboldt in aller Schärfe in einem Brief an Schiller bei der Erwähnung der Peterskirche in Rom. Den meisten komme sie nicht so groß vor, als sie ist, „und wahr ist, daß sie nicht ungeheuer erscheint, weil alles in so wundervollem Ebenmaße ist. Aber die recht eigentliche, reelle Größe, deren Eindruck doch viel bleibender als der des Ungeheueren ist, die lernt man erst an ihr kennen". 3 ) Nur die aus dem Ebenmaß erzeugte Größe hinterläßt den Währhaft tiefen Eindruck, weil sie sich aus der Seele des Menschen stammend erweist. So heißt es bei Humboldt, d a ß der Künstler einen Typus „der Architektonik der räumlichen Verhältnisse in der Mannigfaltigkeit ihrer Verschiedenheit und in ihrer idealischen Vollkommenheit in sich trägt". Das „Ebenmaß" wird hier zur „Eurhythmie an einem Gebäude". 4 ) Damit ist die Hineinbeziehung unter die Gesetzlichkeit ästhetischer Form vollzogen, und auch die Baukunst gewinnt ihren Anteil an menschheitlichem Inhalt. Humboldts Zeitalter lebte im neuerwachten Streben nach reinem und vollem Menschentume. Es lehrte den Menschen 2 ') A n Schiller 200—201. ) Vgl. oben S. 94. 8 ) D e u t s c h e Rundschau 1 9 1 1 Nr. 14 S. 1 2 1 . 4 ) V , 460—461. Ähnlich wird IV, 18 „architektonische E u r h y t h m i e " erwähnt.
H. aus der Fuente, Humboldts ästhetische Forschungen.
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wieder sich in sich selbst zu suchen, auf den Glauben an die Bestimmung der Menschheit das Dasein zu begründen. Wohl niemand hat bewußter als Humboldt aus der Sehnsucht nach der Idee vollkommener Menschheit sein Leben gestaltet. Es dürfte deutlich geworden sein, daß seine Ästhetik auf dem Satze ruht, der sich schon zu Beginn seiner ästhetischen Reflexion in einem Brief an Körner findet: „Schönheit ist, wenn nicht das Höchste, so doch das menschlichste Gefühl des Menschen." 1 ) ') An Körner S. 4.
Weimar. — Hof-Buchdruckerei.
Philosophische Arbeiten herausgegeben
von
Hermann C o h e n
und
in M a r b u r g i. H.
Paui N a t o r p in M a r b u r g i. H .
Vierter Band 1909—1912
Gießen Verlag vcn Alfred Töpelmann (vormals J. Ricker)
Inhalt des vierten Bandes
Seite
H a r t m a n n , N i c o l a i : Des Proklus Diadochus philosophische Anfangsgründe der Mathematik nach den ersten zwei Büchern des Euklidkommentars Tatarkiewicz,
Wladyslaw:
Die Disposition
i—58
der
Aristotelischen Prinzipien F u e n t e , H a n s a u s d e r : Wilhelm von Humboldts Forschungen über Ästhetik
59—160 161—304
Philosophische Arbeiten i.Band
Der kritische Idealismus und
l.Heft
VIII, 35 S.
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Ii. Band l . H e f t 32 S.
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Ji —.80
untersucht Ji 16.
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Jt 2.—
Die Disposition der Aristotelischen Prinzipien
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Als weitere H e f t e werden sich anschließen: Dr. O. Buek: Faraday. — Dr. E. Casslrer: SubstanzbegrifTund FunktionsbegrifT. Versuch einer syst. Darstellung der Entwickelung der neueren Philosophie. — Der Begriff der E r f a h r u n g im System der kritischen Philosophie. — Prof. Dr. H . C o h e n : Grundfragen des Idealismus. — Dr. A. Görland: Die Prinzipien der Kombinatorik als reiner E r k e n n t n i s im Dienste des Begriffs der Erfahrung. — Die Möglichkeit der Ethik. — Prof. Dr. P.Natorp: Krit. Auseinandersetzungen zur Psychologie. — Dr. J. Paulsen: Das Problem der Empfindung. II. Weimar. — Hot-Buchdruckerei.