»Wie Lili zu einem richtigen Mädchen wurde«: Lili Elbe: Zur Konstruktion von Geschlecht und Identität zwischen Medialisierung, Regulierung und Subjektivierung [1. Aufl.] 9783839431801

Lili Elbe is considered a perfect hermaphrodite and at the same time the first technologically produced woman. How is sh

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German Pages 362 Year 2015

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Inhalt
Beim Ankern: Ein dankbarer Gruß an meine *Begleiter*innen
1. Wege der Auseinandersetzung: Kontextualisierende Bemerkungen zu Fragestellung, Ethik und Theorie
1.1 Kontextualisierung und Strukturierung von Fragestellung und Analyse
1.1.1 Lili Elvenes und die Bewegungen ihrer Zeit
1.1.2 Entwicklung der Forschungsfrage anhand des Verhältnisses von Desiderat und Quellenlage
1.1.3 Voraussetzungen und Aufbau der Analyse
1.2 Überlegungen zum Zweigeschlechtersystem und zur wissenschaftlichen Ethik
1.2.1 Verhandlungen des heteronormativen Zweigeschlechtersystems
1.2.2 Eigenverortung, ethische Überlegungen und sprachliche Umsetzung
1.3 Theoretische Konzepte und Schlüsselbegriffe
2. Ein karto(bio)graphischer Ansatz: Methodische Überlegungen zu Genre, Disziplin und Forschungsstand
2.1 Der Einfluss von Genrevorstellungen auf die Forschung zu Lili Elvenes
2.2 Autobiographie-theoretische Ansätze
2.2.1 Disziplinäre Polarität
2.2.2 Wirklichkeitsabbildungen zwischen Wahrheit, Selektivität und Referentialität
2.2.3 Dimensionen von Fiktion und Ästhetik
2.2.4 Versuche der Gattungseingrenzung
2.2.5 Schreiben zwischen Existenz und Nicht-Existenz des Autors
2.2.6 Lektüremodi
2.3 Eine kartographische Lesart
2.4 Das Vorwort zu Fra Mand til Kvinde: Die Übersichtskarte
3. Zwischen Schuld und Agency: ‚Lili Elbes‘ Subjektivität im öffentlichen Raum
3.1 Wer spricht? oder Welches Medium steht zwischen Subjekt und Gesellschaft?
3.2 Zur literarischen Konstruktion von Identität
3.2.1 Illustrative Paratexte als eigenständige Narrative der Repräsentation
3.2.2 Ein Tanz zwischen normativer und alteritärer Männlichkeit
3.2.3 Das künstlerische Spiel zwischen Mythos und Maskerade
3.2.4 Zwischen Schöpfung und Selbstfindung – die Transition als medizinisch-religiöses Ereignis
3.2.5 Performative Weiblichkeitskonstruktionen zwischen Integration und Abgrenzung
3.2.6 Ein Brückenschlag zur eigenen Erfahrungswelt
3.3 Die Presse als zeitgenössisches Medium der Meinungs(ab)bildung
3.3.1 Vom spielerischen Verhältnis zur Presse bis zur Desubjektivierung durch ‚Die Wahrheit‘
3.3.2 Die Auswirkungen eines begleiteten Resubjektivierungsversuchs
3.3.3 Ein fernes Morgenrot: Beiträge außerhalb der mehrheitsgesellschaftlichen Sphäre
3.3.4 Post mortem et post scriptum: Journalistisch-literarische Verschränkungen im Schatten einer neuen Zeit
3.4 Erbeichtete Agency
4. Technologien für Körper und Seele? Medizinische Diskurse und Praktiken der ‚Normalisierung‘
4.1 Das sexualwissenschaftliche Spektrum
4.1.1 Das Körper/Seele-Narrativ und die Macht der Gonaden in den Diskursen des 19. Jahrhunderts
4.1.2 Die ‚konträre Sexualempfindung‘ als Schlagwort der Jahrhundertwende
4.1.3 Vom Einfluss der Psychoanalyse über das Zwischenstufenmodell zum Transvestitismus
4.1.4 Genetik und Endokrinologie als Wegbereiter des Geschlechtswechsels
4.1.5 Verjüngungsexperimente und die Herausforderung der operativen Gonadenverpflanzung beim Menschen
4.1.6 Infrastrukturelle, technologische und terminologische Entwicklungen im Schatten der Eugenik
4.2 Gespaltene Verhältnisse? Symptomatik und erste Diagnoseversuche
4.3 Kategorisierungen und Interventionen
4.3.1 Sexualmedizinischer Transit: Berlin
4.3.2 Unter des ‚Meisters‘ Messer
4.3.3 Nachsorge, eine letzte Operation und alternative Stimmen
4.4 Interaktionen von Soma, Psyche und Techne
5. Identität hat einen Preis: Fehlende Gesetzesgrundlagen und staatliche Regulierung
5.1 Geschlechtliche Neuverortung jenseits der Kastration
5.2 Juristische Hürden
5.2.1 Namenswahl und Namensmythos
5.2.2 Die Funktion des obersten dänischen Gerichtsärzterats
5.2.3 Von der Verquickung von Ehe, Geschlecht und Sexualität bis zur finalen Namensgebung
5.3 Was kostet Identität?
6. Andere Zeiten, andere Horizonte? Ein Ausblick
6.1 Die Subjektivierung eines richtigen Mädchens
6.2 Manipulationen der Keimdrüsenfunktion
6.2.1 Die eugenische Regulierung der Fortpflanzung
6.2.2 Synthetische Hormone, stille Geschlechtswechsel und ‚plastische Kriegserrungenschaften‘
6.3 Fra Mand til Kvinde Reloaded? Christine Jorgensen, 1952
6.3.1 Anbindung an historische Fixpunkte
6.3.2 Folgen der (Re-)Medialisierung
6.4 Träume aus Licht: Ein Schlusswort
Quellenverzeichnis

»Wie Lili zu einem richtigen Mädchen wurde«: Lili Elbe: Zur Konstruktion von Geschlecht und Identität zwischen Medialisierung, Regulierung und Subjektivierung [1. Aufl.]
 9783839431801

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Sabine Meyer »Wie Lili zu einem richtigen Mädchen wurde«

Queer Studies | Band 9

Sabine Meyer, geb. 1979, promovierte am Nordeuropa-Institut der HumboldtUniversität zu Berlin. Schwerpunkte ihrer Forschungsarbeiten liegen in Fragen nach Identität und Körperlichkeit in ihrer medialen sowie ästhetischen Verhandlung und Wahrnehmung. Neben akademischen und kulturellen Projekten ist sie als wissenschaftliche Beraterin in der Filmbranche tätig.

Sabine Meyer

»Wie Lili zu einem richtigen Mädchen wurde« Lili Elbe: Zur Konstruktion von Geschlecht und Identität zwischen Medialisierung, Regulierung und Subjektivierung

Als Dissertation angenommen an der Philosophischen Fakultät II der Humboldt-Universität zu Berlin im Dezember 2014.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Sabine Meyer Umschlagabbildung: darkbird, Colorful old photo texture with stains and scratches. Gerda Wegener, unbenannte Skizze, Privatbesitz Sabine Meyer. Photographie, Lili in Paris, Privatbesitz Nikolaj Pors. Handschrift, Lili Elvenes, 1931 (Scan: Det Kongelige Bibliotek, Kopenhagen). Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3180-7 PDF-ISBN 978-3-8394-3180-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Beim Ankern: Ein dankbarer Gruß an meine *Begleiter* innen | 9 1. Wege der Auseinandersetzung: Kontextualisierende Bemerkungen zu Fragestellung, Ethik und Theorie | 13

1.1 Kontextualisierung und Strukturierung von Fragestellung und Analyse | 15 1.1.1 Lili Elvenes und die Bewegungen ihrer Zeit | 15 1.1.2 Entwicklung der Forschungsfrage anhand des Verhältnisses von Desiderat und Quellenlage | 19 1.1.3 Voraussetzungen und Aufbau der Analyse | 22 1.2 Überlegungen zum Zweigeschlechtersystem und zur wissenschaftlichen Ethik | 24 1.2.1 Verhandlungen des heteronormativen Zweigeschlechtersystems | 24 1.2.2 Eigenverortung, ethische Überlegungen und sprachliche Umsetzung | 27 1.3 Theoretische Konzepte und Schlüsselbegriffe | 29 2. Ein karto(bio)graphischer Ansatz: Methodische Überlegungen zu Genre, Disziplin und Forschungsstand | 35

2.1 Der Einfluss von Genrevorstellungen auf die Forschung zu Lili Elvenes | 43 2.2 Autobiographie-theoretische Ansätze | 53 2.2.1 Disziplinäre Polarität | 54 2.2.2 Wirklichkeitsabbildungen zwischen Wahrheit, Selektivität und Referentialität | 55 2.2.3 Dimensionen von Fiktion und Ästhetik | 58 2.2.4 Versuche der Gattungseingrenzung | 60 2.2.5 Schreiben zwischen Existenz und Nicht-Existenz des Autors | 64 2.2.6 Lektüremodi | 68 2.3 Eine kartographische Lesart | 72 2.4 Das Vorwort zu Fra Mand til Kvinde: Die Übersichtskarte | 76 3. Zwischen Schuld und Agency: ‚Lili Elbes‘ Subjektivität im öffentlichen Raum | 79

3.1 Wer spricht? oder Welches Medium steht zwischen Subjekt und Gesellschaft? | 81 3.2 Zur literarischen Konstruktion von Identität | 103 3.2.1 Illustrative Paratexte als eigenständige Narrative der Repräsentation | 103

3.2.2 Ein Tanz zwischen normativer und alteritärer Männlichkeit | 119 3.2.3 Das künstlerische Spiel zwischen Mythos und Maskerade | 131 3.2.4 Zwischen Schöpfung und Selbstfindung – die Transition als medizinisch-religiöses Ereignis | 140 3.2.5 Performative Weiblichkeitskonstruktionen zwischen Integration und Abgrenzung | 152 3.2.6 Ein Brückenschlag zur eigenen Erfahrungswelt | 172 3.3 Die Presse als zeitgenössisches Medium der Meinungs(ab)bildung | 176 3.3.1 Vom spielerischen Verhältnis zur Presse bis zur Desubjektivierung durch ‚Die Wahrheit‘ | 180 3.3.2 Die Auswirkungen eines begleiteten Resubjektivierungsversuchs | 188 3.3.3 Ein fernes Morgenrot: Beiträge außerhalb der mehrheitsgesellschaftlichen Sphäre | 200 3.3.4 Post mortem et post scriptum: Journalistisch-literarische Verschränkungen im Schatten einer neuen Zeit | 205 3.4 Erbeichtete Agency | 216 4. Technologien für Körper und Seele? Medizinische Diskurse und Praktiken der ‚Normalisierung‘ | 223

4.1 Das sexualwissenschaftliche Spektrum | 229 4.1.1 Das Körper/Seele-Narrativ und die Macht der Gonaden in den Diskursen des 19. Jahrhunderts | 230 4.1.2 Die ‚konträre Sexualempfindung‘ als Schlagwort der Jahrhundertwende | 233 4.1.3 Vom Einfluss der Psychoanalyse über das Zwischenstufenmodell zum Transvestitismus | 237 4.1.4 Genetik und Endokrinologie als Wegbereiter des Geschlechtswechsels | 240 4.1.5 Verjüngungsexperimente und die Herausforderung der operativen Gonadenverpflanzung beim Menschen | 246 4.1.6 Infrastrukturelle, technologische und terminologische Entwicklungen im Schatten der Eugenik | 249 4.2 Gespaltene Verhältnisse? Symptomatik und erste Diagnoseversuche | 253 4.3 Kategorisierungen und Interventionen | 261 4.3.1 Sexualmedizinischer Transit: Berlin | 267 4.3.2 Unter des ‚Meisters‘ Messer | 271 4.3.3 Nachsorge, eine letzte Operation und alternative Stimmen | 281 4.4 Interaktionen von Soma, Psyche und Techne | 293

5. Identität hat einen Preis: Fehlende Gesetzesgrundlagen und staatliche Regulierung | 301

5.1 Geschlechtliche Neuverortung jenseits der Kastration | 302 5.2 Juristische Hürden | 305 5.2.1 Namenswahl und Namensmythos | 305 5.2.2 Die Funktion des obersten dänischen Gerichtsärzterats | 307 5.2.3 Von der Verquickung von Ehe, Geschlecht und Sexualität bis zur finalen Namensgebung | 308 5.3 Was kostet Identität? | 314 6. Andere Zeiten, andere Horizonte? Ein Ausblick | 319

6.1 Die Subjektivierung eines richtigen Mädchens | 319 6.2 Manipulationen der Keimdrüsenfunktion | 321 6.2.1 Die eugenische Regulierung der Fortpflanzung | 321 6.2.2 Synthetische Hormone, stille Geschlechtswechsel und ‚plastische Kriegserrungenschaften‘ | 326 6.3 Fra Mand til Kvinde Reloaded? Christine Jorgensen, 1952 | 328 6.3.1 Anbindung an historische Fixpunkte | 329 6.3.2 Folgen der (Re-)Medialisierung | 332 6.4 Träume aus Licht: Ein Schlusswort | 333 Quellenverzeichnis | 337

Beim Ankern Ein dankbarer Gruß an meine *Begleiter*innen

Als mir Lili Elvenes an einem Herbstabend in Århus das erste Mal über den Weg lief, wusste ich sofort, dass sie mich von da an im Leben begleiten würde. Es war der Beginn einer aufregenden und leidenschaftlichen Reise, zu der wir so manches Mal auch Christine Jorgensen mit an Bord holten. Die Jahre seit diesem ersten Herbstabend habe ich in einer intimen Gemeinschaft mit diesen beiden Frauen verbracht und dennoch werde ich nie die Möglichkeit haben, sie persönlich um ihre Einwilligung zu den vielen Worten, die ich über sie verloren habe, zu bitten. Aber ich kann ihnen hier für die Zeit danken, die ich mit ihnen teilen durfte, und für die inspirierenden Erkenntnisse, die ihre couragierten Lebenswege in meine Gedanken und mein Herz gebracht haben. Ich habe dieser Arbeit den Titel »Wie Lili zu einem richtigen Mädchen wurde« gegeben, weil sie das Buch über ihr Leben selbst gern so genannt hätte, ihr die Möglichkeit dazu jedoch verwehrt blieb. Angesichts meiner kritischen Haltung gegenüber Geschlechterkonstruktionen und meinem queeren Selbstverständnis mag dieser Titel zunächst befremdlich anmuten, doch symbolisiert er für mich auch ein persönliches Streben jenseits dichotomer Geschlechtervorstellungen – es geht um die Reise zu sich selbst, die ich mit eben jenem richtigen Mädchen antreten und teilen durfte. Einen bedeutenden Anteil an der Überwindung stürmischer Wellen und an unvorhersehbaren Steuermanövern zum sichersten Hafen gebührt dabei Rett Rossi und Stefanie von Schnurbein, die mir den Reiz der Umwege und alternativen Ziele gezeigt haben. Während Stefanies akademische und persönliche Begleitung richtungsweisend für die Entwicklung und das Gelingen dieser Arbeit waren, hat Rett mir geholfen, meine wissenschaftlichen Höhenflüge zu hinterfragen und mich zwischenzeitlich vom Schiff gelockt. Die Herausforderungen, die sich auf dem fleißig pendelnden und mit enormer Muskelkraft operierten Rettungsboot ergaben, eröffneten mir die Möglichkeit, die Kooperation zwischen Herz und Intellekt, die nicht nur dieser Arbeit zugute gekommen ist, neu zu hinterfragen.

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Nachdem ich schon lange in See gestochen und inmitten des großen Abenteuers war, haben sich Aris Fioretos und Eveline Kilian bereit erklärt, die Gutachten nach meiner Rückkehr aufs Land zu übernehmen. Dass sie mir noch lange nach Fahrtantritt die Hand zur Weiterreise gereicht haben, stimmt mich dankbar und zuversichtlich ob zukünftiger Unternehmungen. Lili, Christine und ich waren also nicht immer einsam unterwegs. Mitunter glaubte ich, mit anderen Menschen, die sich schon länger um die beiden bemühten, buhlen zu müssen. Doch standen die engagiertesten von ihnen meiner Passion offen gegenüber. So gilt Nikolaj Pors, meinem charmanten und ähnlich leidenschaftlich für Lili entbrannten Kooperationspartner aus Kopenhagen, ein unendlich großer Dank für seine Großzügigkeit, das Teilen von Quellen sowie die gemeinsam erfahrene Freude an neuen Funden und Erkenntnissen. In Brenda Lana Smith, in Erinnerung an Christine auch liebevoll Tante B genannt, habe ich eine beeindruckende Dame kennenlernen dürfen, die nicht nur ihr Herz, ihr Haus und ihr Archiv für mich öffnete, sondern gemeinsam mit mir in Erinnerungen an ihren Lebensweg mit Christine schwelgte. Doch ohne meinen royalen und zuvorkommenden Matrosen Clemens Räthel wären viele Kurskorrekturen nicht geglückt. Dabei hat er mir nicht nur die Schatzkiste der Windsors näher gebracht, die ästhetischen Aspekte meiner Arbeit im Blick behalten und meine theoretischen Umwege gebremst, sondern mir auch die langen Tage auf der Stabi-Brücke mit gemeinsamen Ideen und geschmuggelter Zuckerware versüßt. Regelmäßig habe ich mich mit Adrian de Silva, einem weiteren Seemann, der mir die Wunder der Unterwasserwelt und der winzigen Zitronenhaibabys zeigte, in unsere stillen Forschungskajüten zurückgezogen, in denen wir uns nicht nur fachlich austauschten, sondern auch andere anregende Gespräche führten, bevor wir in der Kombüse unser nächstes motivierendes Festmahl zubereiteten. Manchmal versorgte uns auch die Schiffsmutti Jens Borcherding mit der notwendigen Stärkung und verführte mich zu aufregenden Kämpfen auf See, bei denen wir uns nicht nur gegen im Ozean verborgene Monster wie Cthulhu wehren mussten. War die Wasseroberfläche wieder etwa ruhiger, wurde ich von Jens am Bordcomputer in die Mysterien des Formatierens eingeführt. Zudem gebührt auch vielen anderen Seeleuten Dank für die unterstützende Begleitung. Im Stockholmer Hafen stand Maria Elv immer bereit und hat mit ihrem unerschütterlichen Glauben an mich und ihrer liebevollen Freundschaft so manchen Seegang weniger bedrohlich erscheinen lassen. Uwe Kalkowsky, der schon auf größeren Schiffen anheuerte, hat mich begleitet, wenn die Sirenen des Theaters uns auf ihre Inseln lockten. Mit Jan Schröder legte ich die ersten vorsichtigen Meilen auf der Suche nach den dänischen Schatzkarten zurück, die er mir oft zu entziffern half. Von der britischen Küste aus zeigte mir die unverwechselbare Mia Jackson, wie ich die Erotik im eigenen Forschungsprojekt zulassen konnte. Kurz vor Ende

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der Überfahrt – schon fast auf der anderen Seite angekommen – forderte mich Gail Mutrux mit neuen Manövern und Fragestellungen heraus. Doch gerade den letzten Teil der Wegstrecke hätte ich nicht ohne Kerstin Sievers zurücklegen können, die mich mit Humor und Verständnis immer wieder ans Steuer zu setzen vermochte. Ohne das nötige Gold geht eine solche Reise jedoch nicht weit. Kurz nach Antritt öffnete das Land Berlin seine Schatulle und stellte mir großzügig das ElsaNeumann-Promotionsstipendium zur Verfügung. Und auch kleine Abstecher vom großen Schiff fanden sowohl durch ein Gaststipendium der Georg-Brandes-Schule in Kopenhagen als auch durch die Konferenzförderungen des Nordeuropa-Instituts in Berlin edle Unterstützung. Viele Menschen haben kleinere oder größere Beiträge zur Reise beigesteuert – in Form von Quellen, Konferenzen, Seminaren, Gesprächen, Beratungen, Vorschlägen, Empfehlungen, Begleitungen oder anderen Hilfestellungen. Dafür danke ich Joanne Meyerowitz, Christian Graugaard, Dag Heede, Heiko Stoff, Susan Stryker, Hans Christian Hjort, Bente Rosenbeck, Karin Lützen, Antje Wischmann, Pamela Caughie, Ebbe Volquardsen, Lill-Ann Körber, Tobias Raun, Mons Bissenbakker, Michael Nebeling Petersen, Claudia Prangel und Anne Marie Wæver. Doch dass die Leinen losgemacht werden konnten, verdanke ich zu großen Teilen dem Hafen meiner Familie. Meine Großeltern, Irmgard und Heinz Fritz Schwertfeger, haben nicht nur ein bezauberndes Interesse für mein Projekt gezeigt, sondern auch viele andere Unternehmungen liebevoll unterstützt. Bei meinen Eltern, Petra und Wolfgang Meyer, konnte ich in der Not immer anlegen und bin ihnen unendlich dankbar für ihre bedingungslose Unterstützung und Liebe. Während meine Mutter auch die mit der Flaschenpost geschickten Worte unermüdlich las und sich an meinem Enthusiasmus erfreute, hat mir mein Vater durch eine Stipendienverlängerung und den ruhigen Glauben an mein Ziel die sichere Beendigung der Reise ermöglicht. Ahoi.

Abbildung 1

Unbekannte Quelle, ca. 1953, CJS.

1. Wege der Auseinandersetzung Kontextualisierende Bemerkungen zu Fragestellung, Ethik und Theorie

Als im Dezember 1952 die New Yorker Daily News den Geschlechtswechsel einer Amerikanerin sensationslüstern auf der Titelseite publiziert,1 rückt ein skandinavisches Land ins Zentrum der Aufmerksamkeit: Dänemark. Die wundersame Welt der Geschlechtlichkeit fegt die atomaren Tests der ‚Operation Ivy‘2 aus den Schlagzeilen, welche sich nun um die Ereignisse in einem Kopenhagener Krankenhaus drehen. Dass sich dort ein ehemaliger G.I. der US-amerikanischen Streitkräfte in eine blonde Schönheit verwandelt hat, scheint die Grundfesten der westlichen Hemisphäre mehr zu erschüttern als bis zu 10 Megatonnen starke nukleare Explosionen im Pazifischen Ozean. Mit einem Schlag wird Kopenhagen zum Nabel der medialisierten Welt, während Jorgensen und Dänemark scheinbar zum Sinnbild technologischer Möglichkeiten avancieren. Über Monate wird dieser Mythos in der internationalen Presse durch Schlagzeilen, Hintergrundberichte und karikaturistische Beiträge gefestigt, so dass dem kleinen skandinavischen Königreich bald eine als ambivalent betrachtete Kompetenz bei der Lösung unmöglich erscheinender Aufgaben zugeschrieben wird. Diese Annahmen werden nicht nur in einer ursprünglich im Buffalo Courier Express veröffentlichten Illustration deutlich (Abb. 1), sondern bewegen im Mai 1953 auch die Redakteure des Spiegel, welche dieses Bild vom nördlichen Nachbarn zu teilen scheinen: „Die Dänen haben offensichtlich die wenigsten inneren und gesetz-

1

Vgl. White, Ben: „Ex-GI Becomes Blonde Beauty. Bronx Youth Is a Happy Woman After Medication, 6 Operations“, in: Daily News, 01.12.1952, S. 1 u. S. 3.

2

Die USA zünden im November 1952 am Eniwetok-Atoll mit ‚Ivy Mike‘ die vermeintlich erste thermonukleare Kernwaffe mit einer vorhergesagten Sprengkraft von 10,4 Megatonnen. Im selben Monat wird die Kernspaltungsbombe ‚Ivy King‘ aktiviert, vgl. Dorn, William G. van: Ivy Mike. The First Hydrogen Bomb, 2008.

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lichen Hemmungen, die Natur auch da noch zu ‚korrigieren‘, wo sie nicht mehr zu korrigieren ist.“3 Angesichts der sich überschlagenden Berichterstattung rücken mannigfaltige stereotype Vorstellungen ins Zentrum der öffentlichen Debatte, viele davon auf Kosten der Frau, deren Persönlichkeitsrechte im Zuge dessen zunehmend missachtet werden: Christine Jorgensen. Visuell zwar omnipräsent, figurieren ihr Körper und spezifische Entscheidungen in ihrem Lebensweg lediglich als Projektionsfläche für eine medial gesteuerte Diskussion über gesellschaftliche Grundvorstellungen. Das Selbstverständnis des dafür funktionalisierten Individuums scheint dabei in vielen Fällen hinter dieser Projektion zu verschwinden. Im kollektiven Gedächtnis bleibt sie lediglich als Lichtgestalt erhalten, deren Geschichte zudem neue Zuschreibungen für Dänemark generiert. Dass sich ein so um Trans*-Aspekte erweitertes Bild von Dänemark – als progressiv bei Fragen des Sexuellen und des Geschlechtlichen – bis in die Gegenwart hält,4 wird in einem Beitrag von Tobias Raun deutlich. Er nimmt sich der Aufgabe an, den Ursprung dieses Mythos zu lokalisieren, um ihn anschließend zu dekonstruieren,5 denn noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts stellt sich die Lage von Trans*Individuen in Dänemark alles andere als menschenrechtskonform dar: So hängt die Anerkennung der Geschlechtsidentität weiterhin an einer Sterilisation des Individuums und einer Scheidung bei bestehender Ehe. Obwohl sich der etablierte Mythos und die lange währende rechtliche Realität konträr gegenüberzustehen scheinen, lassen sie sich in ihren Ursprüngen miteinander verknüpfen, denn zu großen Teilen sind sie an Ereignisse wie die mediale Verwertung von Jorgensens Lebensgeschichte gebunden. Jorgensen wird in diesem Zusammenhang zwar oft als ‚erste Transsexuelle‘ ‚verkauft‘, doch gibt es in Dänemark bereits zwei Dekaden vor ihr eine Frau, deren Weg mit ähnlichen Schlagzeilen und einem biographisch angelegten Buch die Öffentlichkeit bewegt: Lili Ilse Elvenes. Obwohl die Präsenz Letzterer in der zeitgenössischen Presse kaum noch eine Rolle in gegenwärtigen Diskursen spielt, wirkt ein literarischer Text zu ihrem Leben bis heute nach. Bereits zu Elvenes’ Lebzeiten beginnen populärkulturelle Diskurse mit denen der Medizin und der staatlich organisierten Rechtsprechung zu interagieren. Es ist

3

Vgl. N.N.: „Der Fall Jorgensen“, in: Spiegel, 06.05.1953, S. 32.

4

Dänemark kann in den Bereichen der Prostitution, der Pornographie sowie den Gleichstellungsbestrebungen für nicht-heterosexuell lebende Menschen durchaus ein progressiver Status zuerkannt werden.

5

Vgl. Raun, Tobias: „Denmark – A Transgender Paradise?“, in: Trikster – Nordic Queer Journal, 2010, Nr. 4, o.S., Open Access: http://trikster.net/4/raun/1.html (zuletzt eingesehen am 02.05.2015).

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die Etablierung dieser Art von Interaktionen, in der, so meine These, die Grundlage für bis heute wirksame interdiskursive Abhängigkeiten sowie für die wissenschaftliche Rezeption liegt. Dabei lassen sich Verschränkungen von dänischem Mythos und dänischen Entwicklungslinien nachvollziehen.

1.1 K ONTEXTUALISIERUNG UND S TRUKTURIERUNG F RAGESTELLUNG UND A NALYSE

VON

Die Entwicklung der Fragestellung und die Strukturierung der Argumentation erfordern zunächst einen Rückblick auf den historischen Kontext und den Forschungstand, um vor diesem Hintergrund sowohl das Forschungsdesiderat lokalisieren und die Fragestellung, die der folgenden Arbeit zu Grunde liegt, konkretisieren zu können. Daraus ergeben sich die methodische Blickrichtung sowie die analytischen Schritte zur Bearbeitung des etablierten Themas. 1.1.1 Lili Elvenes und die Bewegungen ihrer Zeit Während sich der thematische Fokus dieser Arbeit auf die Ereignisse, die das Leben von Lili Elvenes begleiten, konzentriert, geht der Blick zunächst zurück in die letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts. Inmitten der Frühphase des Imperialismus wird am 28. Dezember 1882 im jütländischen Vejle ein Kind geboren, das im folgenden Jahr auf den Namen Einar Magnus Andreas Wegener getauft wird.6 Nicht nur diesem Kind, sondern auch dem Kontinent, auf dem es geboren wird, stehen in den kommenden Jahrzehnten – auch mit der anstehenden Jahrhundertwende – einschneidende Ereignisse bevor.7 Wegener wird in eine Zeit geboren, in der sich in der Wirtschaft weiter Teile Europas neue Produktionsweisen etablieren: Die Verhältnisse der Arbeitsbereiche geraten in Bewegung und auch das Selbstverständnis der ‚arbeitenden Klasse‘ verändert sich. War die Betätigung in Wissenschaft und Kultur bisher im Wesentlichen einer ausgewählten Bevölkerungsschicht vorbehalten, wird nun zunehmend Potential für eine neue Positionierung dieser Bereiche frei. In diesem Klima gedeiht unter anderem die Forschung in dem sich etablierenden Feld der Sexualwissenschaft, dem sich zunehmend *Mediziner*innen und *Psychiater*innen zuwenden.

6

Vgl. Kirchenbuch der Sct. Nicolai Kirke, Vejle, Dezember 1882; erst 1930 erfährt Elvenes, dass der Name nach der Geburt als ‚Vegener‘ eingetragen wurde, vgl. 5.1.

7

Für eine biographische Nachzeichnung der Lebensumstände und Lebensdaten von Einar Wegener und Lili Elvenes sowie Gerda Wegener, vgl. Pors, Nikolaj: Min mand Lili (unveröffentlichtes Manuskript, erscheint voraussichtlich 2016).

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Mit der Jahrhundertwende avancieren Klasse und Geschlecht zu grundlegenden Größen sozialer Reformbewegungen und beeinflussen auch die Atmosphäre in Kopenhagen. Bisher hatte der Mittelstand die Entwicklung der dänischen Hauptstadt geprägt. Die von Karin Lützen dargestellten Brechungen des Konglomerats von kernfamiliärer Bürgerlichkeit, Wohltätigkeit und sich ankündigenden sozialen Reformen kulminieren 1893 in einem Mord, der sich hinter den Mauern eines Kinderheims ereignet. Die Vorsteherin Frederikke Vilhelmine Møller soll einen dort lebenden Jungen vergiftet haben. Zwar wird dieser zunächst unter Annahme eines Herzversagens begraben, doch angesichts bald aufkommender Gerüchte, dass die Vorsteherin neben der Verbindung zu ihrer Kollegin auch eine sexuelle Beziehung zu dem ermordeten Jungen gepflegt habe, wird sein Körper exhumiert und einer Autopsie unterzogen. Folglich wird Møller verhaftet und widmet sich im Zuchthaus der Niederschrift des eigenen Lebens. Sich selbst bezeichnet Møller darin als einen ‚Doppelmenschen‘ (Doppeltmenneske), welchem nicht nur psychisch, sondern auch physisch die Eigenschaften beider Geschlechter inne sei. Diese Selbsteinschätzung wird schnell auch Teil der gerichtsmedizinischen Argumentation zum Mord.8 Da neben der Erfragung der sexuellen Praktiken auch eine gynäkologische Untersuchung durchgeführt wird, kommt es zur Diagnose einer vermeintlichen ‚Anomalie‘ der Geschlechtsorgane und einer medizinischen Einordnung ins hermaphroditische Spektrum. Entsprechend wird der Name der beklagten Person noch vor dem Prozess zu ‚Vilhelmi‘ geändert und die Verlegung in ein Männergefängnis veranlasst,9 so dass Møller als Mann vor den Richter tritt. Bei dieser Verhandlung basiert die Verteidigung explizit auf dem persönlichen Leiden und den sozialen Umständen, die das Leben in einer falschen Geschlechterrolle hervorrufen. Das ursprüngliche Todesurteil wird später in lebenslange Haft umgewandelt.10 Das Essentielle an dieser historischen Begebenheit, wie Lützen betont, ist jedoch die bürgerliche Akzeptanz alternativer Lebensmodelle im Rahmen wohltätiger Institutionen. Oft geleitet von unverheirateten Frauen, werden in den Kopenhagener Kinderheimen und Waisenhäusern die heteronormativen Geschlechterrollen der Kernfamilie in einem homosozialen Raum nachgeahmt. Dabei übernehmen die dort tätigen Frauen die Mutter- und/oder Vaterrolle und pflegen sexuelle Beziehungen

8

vgl. Lützen, Karin: Byen tæmmes. Kernefamilie, sociale reformer og velgørenhed i 1800tallets København, Kopenhagen 1998, S. 371ff; vgl. Rosenbeck, Bente: „‚Hverken‘. Hverken eller? Eller både og?“, in: Heinskou, Marie Bruvik u. Morten Emmerik Wøldike: Byen og blikkets lyst. Festskrift til Henning Bech, Kopenhagen 2014, S. 161-181, hier S. 165ff.

9

Ob dieser Wechsel mit Møllers Einverständnis vollzogen wird, ist nicht überliefert.

10 Møller wird nach 11 Jahren entlassen, heiratet und lässt seinen Namen 1907 zu Frederik Vilhelm Schmidt ändern, vgl. Lützen 1998, S. 371ff.

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miteinander, die von den bürgerlichen *Stifter*innen dieser Einrichtungen, welche die mildtätigen Damen als Säulen der Gesellschaft betrachten, geflissentlich übersehen werden.11 Das für Møller verfasste Plädoyer verdeutlicht hingegen, dass es neben der bestehenden gesellschaftlichen Diskrepanz zwischen den zwei allgemein angenommenen Geschlechtern auch soziale und persönliche Konsequenzen für jene Individuen gibt, die von einer falschen geschlechtlichen Zuweisung betroffen sind. Bei einer Verbindung dieses Gedanken mit der sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts konstituierenden Frauenbewegung in Europa wird evident, dass es nicht nur um eine Gleichberechtigung von zwei systematisierten Gruppen geht, sondern dass Ungleichheit schaffende Systeme per se zu hinterfragen sind. Denn die von der bürgerlichen Frauenbewegung prominent geforderten Reformen der Ausbildungs-, Arbeits- und Wahlrechte innerhalb bestehender Systeme würden sich, wie die eher revolutionär eingestellte Frauenfraktion innerhalb der sozialistischen Arbeiterbewegung argumentiert, erst durch die Aufhebung der bestehenden Gesellschaftsform umsetzen lassen.12 Zwar kann in Skandinavien noch vor Ausbruch des ersten Weltkrieges ein Teil der Reformen durchgesetzt werden,13 doch klingen die Forderungen des Proletariats nach und lassen sich bereits gedanklich auf andere dichotome Systeme als das der Klassengesellschaft übertragen. In diesem Spannungsfeld zwischen sozialem Aufbruch und der Kultur des Fin de Siècle kommt Wegener zum Kunststudium nach Kopenhagen. Dem Transit von der jütländischen Beschaulichkeit zum urbanen Leben folgt eine Integration in die Künstlerkreise der dänischen Hauptstadt und die Eheschließung mit der Kunststudentin Gerda Marie Frederikke Gottlieb. Ausgebildet, künstlerisch tätig und ökonomisch unabhängig verkörpert diese später den Prototyp einer von der feministischen Bewegung idealisierten ‚neuen Frau‘. Doch während Einar Wegener mit dänischen Landschaftsbildern erfolgreich ist, scheint die moderne, dem Art déco zugewandte Kunst Gerda Wegeners in Dänemark zunächst keinen Anklang zu finden. So lassen sich die Wegeners 1912 in Paris, dem kulturellen Zentrum Europas, nieder. Hier wird Gerda zur Hauptverdienerin der ehelichen Gemeinschaft. Durch das Leben in den Kreisen der Pariser Bohème können die Wegeners sowohl ihr privates als auch berufliches Leben jenseits bürgerlicher Moralvorstellungen führen und ge-

11 Vgl. Lützen 1998, S. 363ff. 12 Vgl. Nave-Herz, Rosemarie: Die Geschichte der Frauenbewegung in Deutschland, Bonn 1993, S. 21f. u S. 31f. 13 In Finnland und Norwegen gibt es bereits das Wahlrecht und auch im Ausbildungs- und Arbeitsbereich etablieren sich Frauen zunehmend, vgl. Wischmann, Antje: Auf die Probe gestellt. Zur Debatte um die ‚neue Frau‘ der 1920er und 1930er Jahre in Schweden, Dänemark und Deutschland, Freiburg/Berlin 2006.

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nießen nicht nur bezüglich geschlechtlicher und sexueller Transgressionen die Freiheiten und Möglichkeiten des Fin de Siècle. Zur gleichen Zeit wächst das innereuropäische Konkurrenzdenken zwischen den einzelnen Staaten und kulminiert nach allseitiger Aufrüstung 1914 im Ausbruch des Ersten Weltkriegs, welcher dieser Epoche der Leichtigkeit ein jähes Ende setzt. Doch liegen die Einschnitte für die Pariser Zivilbevölkerung in einem Rahmen, der die Fortsetzung des Schaffens und Lebens der Wegeners erlaubt, die weiterhin mit den zu dieser Zeit besonders vitalen Bewegungen der internationalen Künstlerszene in Kontakt bleiben und vorsichtige Ausflüge in neue Stilrichtungen unternehmen. Auch in den wechselhaften Folgejahren bleibt Paris ihr Lebensmittelpunkt. Europa hat unterdessen mit den Kriegsfolgen zu kämpfen, bevor sich im Laufe der ‚Goldenen Zwanziger Jahre‘ ein vermeintlich neuer Aufschwung bemerkbar macht. Kultur und Wissenschaft gedeihen und insbesondere das Berlin der Weimarer Republik, welches Paris als kulturelles Zentrum ablöst, wird zum Inbegriff einer neuen Zeit. Dort erlebt die frühe Sexualwissenschaft einen Höhepunkt, der sich nicht nur in der Eröffnung des Instituts für Sexualwissenschaft unter Leitung von Magnus Hirschfeld manifestiert, sondern auch in einer nun sichtbareren Vielfalt von persönlicher Identität, Geschlechtlichkeit und Sexualität. Die Berliner Infrastruktur für alternative Lebensentwürfe erscheint im Rückblick fast unerschöpflich. Die von Hirschfeld als Transvestiten klassifizierten Menschen haben beispielsweise eigene Publikationen, Lokalitäten und Einkaufsmöglichkeiten, so dass sich auch ob der Vernetzungshilfe durch verschiedene *Mitarbeiter*innen des Instituts eine bemerkenswerte und sich politisch artikulierende Subkultur konstituiert.14 Dieser befreienden urbanen Liberalität beschert die 1928 einsetzende Weltwirtschaftskrise jedoch ein schmerzhaftes Ende, bei dem nicht nur ökonomische Hoffnungen zerstört werden. Denn im Kielwasser dieser Krise gewinnt das bis dahin eher peripher bedeutsame nationalsozialistische Gedankengut rasant an politischer Bedeutung. An diesem Übergang von den ‚goldenen Jahren‘ zu den sich ankündigenden Zeiten der Repression begibt sich Einar Wegener nach Deutschland, um Lili Elvenes mit Hilfe operativer Eingriffe ein eigenständiges und anerkanntes Leben als Frau zu ermöglichen. Als ‚Lili Elbe‘ löst diese noch kurz vor der Machtübertragung an Hitler eine kleine mediale Sensation aus. Nicht nur zirkuliert ihre Lebensgeschichte in der internationalen Presse, auch ein literarisch-biographischer Text findet seinen Weg in die Öffentlichkeit und generiert durch die Art der populären Präsenz neue Dimensionen bei der Verhandlung von Geschlecht und Identität.15

14 Vgl. Herrn, Rainer: Schnittmuster des Geschlechts. Transvestitismus und Transsexualität in der frühen Sexualwissenschaft, Gießen 2005, S. 144ff. 15 Die Geschichte von Elvenes’ Nachnamenswahl stellt sich komplex dar und wird im Laufe der Argumentation aufgeschlüsselt. Zum besseren Verständnis werde ich nachfolgend

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1.1.2 Entwicklung der Forschungsfrage anhand des Verhältnisses von Desiderat und Quellenlage Veröffentlicht wird dieser Text zunächst 1931 in Dänemark. Unter dem Titel Fra Mand til Kvinde (Von Mann zu Frau) erschienen erfährt das Buch in den folgenden zwei Jahren auch eine Herausgabe im deutsch- und englischsprachigen Raum.16 Obwohl die Transgressionen von Geschlechtergrenzen bereits in zeitlich früheren Publikationen von Bedeutung sind, scheint dieser Text eine besondere Rolle in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema Geschlecht und dem Wechsel desselben zu beanspruchen. Sandy Stone dient er in ihrem Posttranssexual Manifesto – einem zentralen Text in der Etablierung kritischer Trans*-Studien – als exemplarische Vorlage für eine Kritik an der Subjektposition transsexueller Individuen und einem Aufruf nach Ermächtigung gegenüber bestimmenden und teilweise unterdrückenden Diskursen.17 Seit Stone hat sich eine Reihe von Beiträgen unterschiedlicher disziplinärer Provenienz dem Text analytisch und historiographisch genähert. Auf einer durch Geschlechterstudien sensibilisierten literaturwissenschaftlichen Ebene hat Annette Runte neben einem Grundlagenwerk zur Biographik trans*identer Individuen Aufsätze zu Teilaspekten vorgelegt,18 während Dag Heede sich mehrfach der Textanalyse sowie übergreifenden Gedanken zur Figur ‚Lili Elbe‘ und deren Geschlechtsperformance widmet.19 Julie Nero bietet eine ikonologische Analyse an und be-

auf die private Person immer mit ‚Lili Elvenes‘ referieren, um diese so von der literarischen Figur ‚Lili Elbe‘ unterscheidbar zu machen. 16 Auf die Geschichte dieser Editionen (Ein Mensch wechselt sein Geschlecht und Man into Woman) werde ich bei den Ausführungen zur Methodik und in der Analyse genauer eingehen. Geht es mir um den Text im Allgemeinen, also nicht um eine spezifische Ausgabe desselben, werde ich nachfolgend die unterstrichene Form Fra Mand til Kvinde benutzen. 17 Vgl. Stone, Sandy: „The Empire Strikes Back: A Posttranssexual Manifesto“ (1991), in: Stryker, Susan und Stephen Whittle (Hg.): The Transgender Studies Reader, New York 2006, S. 221-235. 18 Vgl. Runte, Annette: Biographische Operationen – Diskurse der Transsexualität, München 1996; vgl. Runte, Annette: „Im Dienste des Geschlechts – Zur Identitätskonstruktion Transsexueller“, in: Bublitz, Hannelore (Hg.): Das Geschlecht der Moderne – Genealogie und Archäologie der Geschlechterdifferenz, Frankfurt 1998, S. 119-142; vgl. Runte, Annette: „Biographie als Pathographie – Lebens- und Fallgeschichten zum Geschlechtswechsel“, in: Fetz, Bernhard u. Hannes Schweiger: Spiegel und Maske – Konstruktionen biographischer Wahrheit, Regensburg 2006, S. 128-142. 19 Vgl. Heede, Dag: „At gøre kvinde. Lilli Elbe [sic]: Fra Mand til Kvinde“, in: Handicaphistorisk tidsskrift, 2003, Nr. 9, S. 16-36; vgl. Heede, Dag: „Genre og køn – Lili Elbe: Fra

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trachtet die Montage von Bild und Text im Rahmen zeitgenössischer Ästhetikdiskurse.20 Pamela Caughies Beitrag liegt in einer vergleichenden Studie21 – ein Ansatz, den auch Tim Armstrong bei der Einbettung des Textes in seine literarischhistoriographische Analyse von Technologisierung verfolgt.22 Dem Aspekt der Technologisierung nimmt sich ebenfalls Bernice Hausman an,23 deren Untersuchung an der Schnittstelle von Kulturwissenschaft und Medizingeschichte verortet werden kann. In diesem Bereich hat auch Rainer Herrn seine umfassende Studie zur Verhandlung von Transvestitismus und Transsexualität in der frühen Sexualwissenschaft vorgelegt.24 Ergänzt werden diese Analysen durch die in einem neuen Bereich der Queer Studies – den Somatechnics – angesiedelten Veröffentlichungen von Eliza Steinbock, welche die Debatte mit wichtigen Gedanken zur Subjektivierung bereichern.25 Während dabei wichtige Teilbeiträge zum Verständnis und der Kontextualisierung von Fra Mand til Kvinde geleistet werden, bleiben die Analysen ihrer jeweiligen disziplinären Anbindung verpflichtet und können oft nur spezifische Aspekte des Textes und seiner historischen Hintergründe beleuchten. Eine umfassende Stu-

Mand til Kvinde“, in: Teilmann, Katja (Hg.): Genrer på kryds og tværs, Odense 2004, S. 105-122; vgl. Heede, Dag: „Fra ‚en rigtig pige‘ til ‚en gravid mand‘: Transpersoner og reproduktion: den sidste grænse?“, in: K&K: Kultur og Klasse, 2012a, Nr. 113, 40. Jahrgang, S. 11-26; vgl. Heede, Dag: „Lili: En Projektionsyta – transkönet i memoarer, fiktion och teori“, in: Kivilaakso, Katri; Ann-Sofie Lönngren und Rita Paqvalén: Queera Läsningar, Halmstad 2012b, S. 176-201. 20 Vgl. Nero, Julie: Hannah Höch, Til Brugman, Lesbianism, and Weimar Sexual Subculture, Cleveland 2013, Open Access: https://etd.ohiolink.edu/!etd.send_file?accession=case 1347561845&disposition=inline (zuletzt eingesehen am 03.05.2015). 21 Vgl. Caughie, Pamela L.: „The Temporality of Modernist Life Writing in the Era of Transsexualism: Virginia Woolf’s Orlando and Einar Wegener’s Man into Woman“, in: Modern Fiction Studies, Fall 2013, Nr. 3, Volume 59, S. 501-525. 22 Vgl. Armstrong, Tim: Modernism, technology and the body – A cultural study, Cambridge 1998. 23 Vgl. Hausman, Bernice L.: Changing Sex: Transsexualism, Technology, and the Idea of Gender, Durham 1995. 24 Vgl. Herrn 2005. 25 Vgl. Steinbock, Eliza: „Speaking Transsexuality in the Cinematic Tongue“, in: Sullivan, Nikki und Samantha Murray (Hg.): Somatechnics: Queering the Technologisation of Bodies, Farnham 2009, S. 127-152; vgl. Steinbock, Eliza: „The Violence of the Cut: Transsexual Homeopathy and Cinematic Aesthetics“, in: Gender Initiativ Kolleg (Hg.): Gewalt und Handlungsmacht. Queer-feministische Perspektiven, Frankfurt/New York 2012, S. 154-171.

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die, die sich dem Text selbst, seiner Editionsgeschichte sowie einer historischen Kontextualisierung der mit ihm interagierenden Diskurse widmet, liegt bisher nicht vor. Diese Lücke zu schließen, ist Ziel dieser Arbeit. Um die dafür notwendigen unbearbeiteten Materialschichten freizulegen, ist es unabdingbar, die Textanalyse aus ihrem in diesem Falle (auto-)biographischen Genrekorsett zu befreien, welches meines Erachtens dazu beiträgt, dass das Potential vieler bisher vorliegender Forschungsansätze nicht ausgeschöpft wird. Zur Erschließung neuer Quellen sind mir die verschiedenen Ausgaben von Fra Mand til Kvinde unabdingbare Wegweiser, mit deren Hilfe ich bisher nicht berücksichtigte Beiträge aus medizinischen und rechtlichen Diskursen sowie Archivmaterialien und öffentlichkeitswirksame zeitgenössische Publikationen orten und der wissenschaftlichen Betrachtung zugänglich machen kann.26 Um den Verschränkungen der erschlossenen Quellen mit dem Text sowie untereinander gerecht zu werden und neue Forschungsergebnisse generieren zu können, ist es erforderlich, sich der Thematik transdisziplinär zu nähern. Dementsprechend ist neben den Beiträgen zu Fra Mand til Kvinde auch bereits geleistete Grundlagenforschung zu den das Thema tangierenden Diskursen von Bedeutung. Diese Arbeiten erlauben die Einbettung der Ergebnisse in die entsprechenden Kontexte. So erweisen sich bei der historiographischen Erarbeitung sexualwissenschaftlicher Entwicklungslinien neben der Studie von Rainer Herrn insbesondere die Überblickswerke von Volker Sigusch27 und die medizingeschichtlichen Studien zur Intersexualität von Ulrike Klöppel28 und Bente Rosenbeck29 als wichtige Begleiter. Doch auch Christian Graugaards Dissertation zu Knud Sand30 und Heiko Stoffs Untersuchung der Entwicklung von Verjüngungskonzepten31 berei-

26 Bei diesen textarchäologischen Bemühungen stand mir der dänische Journalist Nikolaj Pors, der neben einer Filmdokumentation auch ein biographisches Buch über das Leben von Lili Elvenes und Gerda Wegener vorbereitet, in vielen Fällen zur Seite. Diese Kooperation bei der Quellenlokalisierung hat uns beiden geholfen, die eine oder andere logistische und ökonomische Herausforderung im Rahmen der Recherche zu meistern. 27 Vgl. Sigusch, Volkmar: Geschichte der Sexualwissenschaft, Frankfurt am Main 2008; vgl. Sigusch, Volkmar u. Günter Grau (Hg.): Personenlexikon der Sexualforschung, Frankfurt am Main 2009. 28 Vgl. Klöppel, Ulrike: XXOXY ungelöst. Hermaphroditismus, Sex und Gender in der deutschen Medizin. Eine historische Studie zur Intersexualität, Bielefeld 2010. 29 Vgl. Rosenbeck 2014. 30 Vgl. Graugaard, Christian: Professor Sands høns – om sexualbiologi i mellemkrigstidens Danmark (Unveröffentlichte Dissertation), Kopenhagen 1997. 31 Vgl. Stoff, Heiko: Ewige Jugend. Konzepte der Verjüngung vom späten 19. Jahrhundert bis ins Dritte Reich, Köln 2004.

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chern diesen Teil meiner Arbeit. Zu den Schnittpunkten von Medizin und Rechtsstaatlichkeit im Zeitalter der Eugenik und danach gibt es ebenfalls Forschungsbeiträge. Während Lene Koch die Hintergründe rassenhygienischer Überlegungen in Dänemark bereits umfassend aufgearbeitet hat,32 liegt von Marianne Holdgaard und Bettina Lemann Kristiansen eine Studie zur rechtsgeschichtlichen Entwicklung von Fragen zu Trans* in Dänemark vor.33 Erst mit Hilfe dieser Grundlagenforschung lässt sich der transdisziplinäre Ansatz dieser Arbeit umsetzen. Dabei soll mit einem zuvorderst historiographischen Anspruch versucht werden, die Verflechtungen der literarisch und medial generierten Diskurse mit den vorder- und hintergründig agierenden Diskursen der Medizinwissenschaften und der Rechtsstaatlichkeit freizulegen. Innerhalb dieses Rahmens kann der zentralen Fragestellung dieser Arbeit nachgegangen werden: Wie wird ein geschlechtliches Subjekt konstruiert und welche Grundsätze werden bei der Verschaltung wissenschaftlicher und populärer Bewertungsmechanismen – in Bezug auf Person und Ereignis – sowohl in der öffentlichen Wahrnehmung als auch den medizinischen und rechtsstaatlichen Standards etabliert? 1.1.3 Voraussetzungen und Aufbau der Analyse Um mich dieser Fragestellung diskursanalytisch nähern zu können, werde ich im vorliegenden ersten Kapitel kurz auf ethische und theoretische Grundlagen eingehen, welche die Arbeit begleiten und unterfüttern, um dann mit einer ausführlichen Herleitung meiner Methodik im zweiten Kapitel den einleitenden Teil der Arbeit abzuschließen. Der Umfang der methodischen Introduktion ergibt sich zum einen durch die Notwendigkeit der Etablierung eines Ansatzes, der einer integrativen, quellenarchäologischen und transdisziplinären Arbeit mit als (auto-)biographisch kategorisierten Texten gerecht werden kann; zum anderen erfordert die Herleitung einer solchen Methode die intensive Auseinandersetzung mit den entsprechenden theoretischen Grundlagen innerhalb der Autobiographieforschung sowie den spezifischen, auf Fra Mand til Kvinde bezogenen Analyseansätzen. Auf Basis der etablierten Methodik werde ich in den folgenden drei Kapiteln mit einer Analyse der diskursiven Verhandlung von Elvenes sowie Fra Mand til Kvinde fortsetzen. Dabei stehen die Interaktionen und Abhängigkeiten zwischen der öffentlichen Wahrnehmung und Präsentation, den Diskursen der Medizinwissenschaft und der juristischen Aufarbeitung im Mittelpunkt. Unter Berücksichtigung eines theoretischen Konzepts von Agency sollen dabei die Abhängigkeitsmecha-

32 Vgl. Koch, Lene: Racehygiejne i Danmark 1920-1956, 2. Ausgabe, Kopenhagen 2010. 33 Vgl. Holdgaard, Marianne u. Bettina Lemann Kristiansen: Kønsskifte – juridisk set, Kopenhagen 2004.

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nismen, die das Verhältnis der Agenten untereinander bestimmen, in Bezug auf die Subjektivierungsmöglichkeiten von Elvenes untersucht werden. Das dritte Kapitel widmet sich zunächst dem Entstehungskontext und der Editionsgeschichte von Fra Mand til Kvinde, um sowohl den Hintergründen der Textproduktion als auch Elvenes’ Beteiligung an diesem Prozess nachzugehen. Nachfolgend werden mit der dänischen Ausgabe als Bezugspunkt die verschiedenen Ebenen der Textgeschichte in eine umfassende Analyse narrativer Identitäts- und Subjektivitätskonstruktionen eingebunden. Als Werkzeuge dienen dabei sowohl das ‚close reading‘ ausgewählter Textpassagen als auch die Ein- und Anbindung der literarischen Ausformung des Textes in/an eine vermeintliche historische Wirklichkeit. Nachfolgend wird diese Analyse mit der Untersuchung der ebenfalls in den öffentlichen Raum wirkenden medialen Meinungs(ab)bildung in der zeitgenössischen nationalen und internationalen Presse verbunden, um abschließend die Subjektivität und Handlungsmacht von Elvenes in diesem Rahmen zu beleuchten. Im vierten Kapitel stehen die Rahmenbedingungen medizinischer Interventionen sowie die Ver- und Behandlung des Körpers von Elvenes im Mittelpunkt der Betrachtung. Dabei werde ich zunächst auf die Implikationen des der Untersuchung zu Grunde liegenden somatechnischen Ansatzes eingehen. Dem analytischen Teil wird zudem eine ausführliche sexualwissenschaftliche Kontextualisierung vorangestellt, die sich mit Hilfe der im 19. Jahrhundert beginnenden Entwicklungslinien einer Beschäftigung mit Geschlecht und Sexualität zu den für Elvenes’ medizinische Behandlung relevanten Teilaspekten des zeitgenössischen Diskurses vorarbeitet. Mit Bezug zu den Referenzen in Fra Mand til Kvinde sollen dann die Anwendung findenden Kategorisierungen und Interventionen herausgearbeitet werden, um abschließend die eigenlegitimierende Dynamik des medizinischen Rahmendiskurses in ein Verhältnis zu den Subjektivierungsbestrebungen von Elvenes zu setzen und kritisch zu hinterfragen. Im inhaltlich anschließenden fünften Kapitel werde ich die auf medizinischer Ebene etablierten Körperpolitiken mit Hilfe des bereits integrierten somatechnischen Ansatzes auf rechtsstaatlicher Ebene betrachten. Eine entscheidende Rolle spielt dabei die Interaktion von ministerialen Prozessen mit gerichtsmedizinischen Diskursen sowie die für Elvenes etablierte spezifische Auslegung gesetzlicher Regulierungen von Geschlecht und Identität. Die damit einhergehende Vollendung der zentralen Analysekapitel leitet auf den nachfolgenden Ausblick hin. In diesem offenen Abschluss soll angerissen werden, inwieweit sich die herausgearbeiteten Analyseergebnisse in den weitergehenden historischen Entwicklungslinien nachvollziehen lassen und welchen Einfluss mögliche Verschränkungen und Veränderungen auf die Situation geschlechtlich alteritärer Menschen, insbesondere in Dänemark, haben. So werde ich neben einer kurzen Konklusion im sechsten Kapitel die zur Zeit des Nationalsozialismus nicht nur im Deutschen Reich zunehmend integrierten eugenischen Gesetze und deren Auswirkungen in ein Verhältnis zu der

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sich exponentiell entwickelnden medizinischen Disziplin der Endokrinologie setzen, um anschließend die Kulmination dieser Entwicklungen bei Christine Jorgensen zu beleuchten. In diesem Zusammenhang sollen neben der medialen Präsenz und der eingangs thematisierten Mythenbildung auch die Etablierung medizinischer Standards sowie die historischen Entwicklungen, die sich daraus für die dänische Debatte ergeben, nachvollzogen werden. Das Schlusswort zur Arbeit bietet ein alternatives Resümee an, welches sich in Ergänzung zu rein wissenschaftlichen Kategorien kritisch mit den sowohl methodischen als auch inhaltlichen Aspekten und Ergebnissen dieser Arbeit beschäftigt. Dabei wird ein bewusster Ausflug in einen fiktionalen Rahmen unternommen, um die fortwährende wissenschaftliche Relevanz sowie die populärkulturelle Faszination angesichts des Lebenswegs von Elvenes zu skizzieren sowie das Verhältnis zwischen nationalem Mythos und gegenwärtigen gesetzlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Dänemark zu beleuchten.

1.2 Ü BERLEGUNGEN

ZUM Z WEIGESCHLECHTERSYSTEM UND ZUR WISSENSCHAFTLICHEN E THIK

Bei einer Forschungsarbeit, die sich intensiv mit den Transgressionen dichotomer Systeme beschäftigt, bleiben gedankliche und sprachliche Herausforderungen nicht aus. Gerade weil bestehende Kategorisierungen und Normierungen nicht immer umgangen werden können, ist es bedeutsam, die Systeme vor der Analyse sichtbar zu machen und sich kritisch zum eigenen Umgang damit zu positionieren. Sowohl Elvenes als auch andere in dieser Arbeit besprochene Individuen sind in vielen Fällen systematischen Zuschreibungen ausgesetzt, die nicht nur der Eigenidentifikation entgegenlaufen, sondern auch dezidiert pathologisch aufgeladen sind. Um eine Tradierung dieser zu großen Teilen desubjektivierend wirkenden Pathologisierungen zu vermeiden, werde ich mich zunächst mit der Entwicklung von Zuschreibungsachsen innerhalb des in der westlichen Welt prominenten Zweigeschlechtersystems auseinandersetzen und meine eigene Terminologie unterfüttern, um dann anhand der Verortung meiner Subjektivität innerhalb dieses Systems den Versuch einer respektvollen sprachlichen und analytischen Umsetzung zu erläutern. 1.2.1 Verhandlungen des heteronormativen Zweigeschlechtersystems Thomas Laqueur formuliert für das 18. Jahrhundert einen umfassenden Paradigmenwechsel in der anatomischen Vorstellung von Geschlecht. So habe sich die vorherrschende Grundannahme, dass es nur verschiedene Ausprägungen eines Ge-

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schlechts gebe, zu einer Systematik entwickelt, die zwei eigenständige Geschlechter postuliert.34 Obwohl häufig Kritik an Laqueurs Argumentation sowie seiner historischen und disziplinären Kontextualisierung geübt wird,35 kann auf den Gedanken einer medizinischen und sozialen Etablierung eines Zweigeschlechtersystems zurückgegriffen werden, um spezifische Entwicklungslinien innerhalb der westlichen Hemisphäre nachzuvollziehen.36 Denn die Polarität einer solchen Systematik, welche zudem an eine Grundvorstellung heterosexuell organisierten Begehrens gebunden scheint, erweist sich spätestens seit den sexualmedizinischen Diskursen des 19. Jahrhunderts als instabil. Infolgedessen werden nicht integrierbare Formen von Körperlichkeit sowie alternative Begehrensstrukturen im Rahmen medizinischer Forschung pathologisiert und partiell auch auf rechtsstaatlicher Ebene sanktioniert.37 Die Polarität des Zweigeschlechtersystems bleibt dabei erhalten, so dass sich ob der vermeintlichen Divergenzen eine Terminologie entwickelt, welche das Feld zwischen den feststehenden Polen zu organisieren sucht. Diese ruft das gedankliche Spiel von Inkongruenzen zwischen Körper und Seele auf. Jenes bis heute virulente Narrativ vom ‚falschen Körper‘ ist somit systematisch gebunden. Die anfänglich noch eng miteinander verknüpften Ausprägungen transgressiver Körperlichkeit, Psyche und Sexualität werden mit der Wende zum 20. Jahrhundert zunehmend separat kategorisiert, so dass sich über eine Reihe terminologischer Zwischenstufen sukzessive Begrifflichkeiten mit den Präfixen ‚homo‘, ‚bi‘, ‚inter‘ und ‚trans‘ etablieren, die zumindest in ihrer Entstehungsgeschichte sowohl an zweigeschlechtliche Grundannahmen sowie pathologische Kategorien gebunden sind. An dieser Struktur ändert sich auch im Rahmen der Einführung einer Unterscheidung zwischen ‚sex‘ als biologisch determiniertem und ‚gender‘ als sozialem Geschlecht wenig. Denn die Ursprünge einer eigenständigen ‚gender‘-Begrifflichkeit liegen bei John Money im vermeintlichen Verhältnis von persönlichem Empfinden und Körperlichkeit bei jenen Individuen, deren Verortung an den Polen der

34 Vgl. Laqueur, Thomas: Making Sex. Body and Gender From the Greeks to Freud, Cambridge/Mass. 1990. 35 Eine aktuelle Analyse liegt dazu von Heinz-Jürgen Voß vor, vgl. Voß, Heinz-Jürgen: Making Sex Revisited. Dekonstruktion des Geschlechts aus biologisch-medizinischer Perspektive, Bielefeld 2010. 36 Der Gedanke einer Korrelation zwischen kulturell etabliertem Alltagswissen und biologischer Kategorisierung in der Konstruktion von Zweigeschlechtlichkeit wird von Stefan Hirschauer formuliert, vgl. Hirschauer, Stefan: Die soziale Konstruktion der Transsexualität, Frankfurt am Main 1993, S. 23. 37 Die sexualwissenschaftlichen Pathologisierungs- und Kategorisierungsprozesse werde ich in 4.1 genauer aufschlüsseln.

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Zweigeschlechterlogik nicht möglich ist.38 Die bis in die gegenwärtige Forschung wirkende Distinktion vom Begriff ‚sex‘ wird von Harold Garfinkel und Robert Stoller etabliert.39 Stoller bedient sich im Rahmen dieser Systematik gleichzeitig einer Dichotomie von ‚Normalität‘ und ‚Abweichung‘, bei der er nur jene Individuen als ‚normal‘ klassifiziert, bei denen ‚sex‘ und ‚gender‘ weitestgehend kongruent seien.40 Dementsprechend wird die Körper/Seele-Dichotomie der frühen Sexualwissenschaft lediglich auf einer geschlechtlichen Ebene neu terminologisiert und durch die sex/gender-Systematik ersetzt. Judith Butler führt diesen Übertragungsmechanismus bis zu den ontologischen Überlegungen René Descartes’ zurück41 und dekonstruiert diese Systematik als eine kategorisierende Ordnung, in die sie auch Begehrensstrukturen integriert sieht.42 Die theoretische Destabilisierung der Kategorien sex, gender & desire, welche bereits in den Überlegungen von Michel Foucault eine wesentliche Rolle spielt,43 wird von einer erstarkenden Emanzipationsbewegung jener Subjekte begleitet, die durch das Zweigeschlechtersystem marginalisiert und pathologisiert werden. In diesem Rahmen etablieren sich nicht nur neue Ansätze innerhalb des Feldes der Queer Studies, sondern es wird neben ‚queer‘ auch eine Reihe anderer klassifizierender, negativ konnotierter Begriffe von den Bewegungen besetzt und für das eigene Selbstverständnis neu definiert. In diesen Zusammenhängen wird gegen die Repressionen des Zweigeschlechtersystems, ähnlich wie in der bereits thematisierten ersten feministischen Welle, sowohl innerhalb des Systems als auch im Rahmen einer grundsätzlichen Systemhinterfragung opponiert.

38 Vgl. Money, John: „Hermaphroditism, Gender and Precocity in Hyperadrenocorticism: Psychologic Findings“, in: Bulletin of the Johns Hopkins Hospital, 1955, 96, S. 253-264. 39 Vgl. Garfinkel, Harold: Studies in Ethnomethodology, Englewood Cliffs 1967; vgl. Stoller, Robert J.: Sex and Gender. On the Development of Masculinity and Femininity, Volume I, New York 1968. 40 Vgl. Stoller 1968, S. 9f; dementsprechend manifestiere sich die ultimative Inkongruenz zwischen ‚sex‘ und ‚gender‘, so Stollers Argumentation, im transsexuellen Subjekt, dem Stoller den zweiten Teil seiner Studie widmet, vgl. Stoller, Robert J.: Sex and Gender. The Transsexual Experiment, Volume II, New York 1976. 41 Vgl. Butler, Judith: „Variations on Sex and Gender: Beauvoir, Wittig and Foucault“ (1986), in: Benhabib, Seyla u. Drucialla Cornell (Hg.): Feminism as Critique: Essays on The Politics of Gender in Late-Capitalist Societies, Cambridge/Minneapolis 1987, S. 128-142, hier S. 129f. 42 Vgl. Butler, Judith: Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity, New York 1990, S. 2ff. 43 Zu den Schnittpunkten von Foucault und Queer-Theorie, vgl. Spargo, Tamsin: Foucault and Queer Theory, London 1999.

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Folglich bewegen sich die Strategien von einer Reproduktion der Sprache des Zweigeschlechtersystems und einer Einordnung in die binär verfügbaren Kategorien über die Verortung auf einem Kontinuum zwischen den Polen bis hin zu einem Widerstand gegen die Systematik an sich. Dabei sind neben dem Reclaiming bestimmter Begriffe auch eine integrative Öffnung derselben von Bedeutung, die einerseits durch die Verkürzung auf ‚trans‘ oder ‚inter‘, andererseits über ein Sternchen (wie bei trans*) auf die Diversität persönlicher Identitäten verweist. In Bezug auf eine Sichtbarmachung der Ausgrenzung etabliert sich dabei die Markierung der vermeintlich einer Norm entsprechenden Menschen, deren Geschlechtsidentität also mit der vorgegebenen Körperkategorisierung zusammenfällt, als Cis-Individuen. In der akademischen Debatte von Volkmar Sigusch etabliert,44 wird der Begriff von Teilen der Bewegung politisch genutzt. Dieser Benennungsstrategie kann ob der Perpetuierung einer neuen sprachlichen Binarität zweifelsohne kritisch gegenüber gestanden werden, doch dient sie gleichzeitig der Sichtbarmachung einer Systematik der Ausgrenzung, in dem die unbeschriebene Norm einer zu beschreibenden ‚Abweichung‘ gegenübersteht. 1.2.2 Eigenverortung, ethische Überlegungen und sprachliche Umsetzung Auf theoretischer Ebene war mir diese immanente Repression durchaus klar, doch hat sich das entsprechende emotionale Bewusstsein erst im Laufe dieser Arbeit und durch den Kontakt mit den Machtstrukturen von Sprache entwickelt. Im Rahmen dieser wissenschaftlichen Reise durch ‚mein‘ Forschungsfeld habe ich mich mit den Privilegien meiner Position beschäftigt und Erfahrungen mit der Gewalt sprachlicher und sozialer Kategorisierungen bewusster reflektiert. Dabei hat insbesondere der Begriff ‚cis‘, mit dem ich nun häufiger in Berührung kam, meine Wahrnehmung geschärft. Da sich meine Eigenidentifikation nicht im Bereich von Trans* abspielt, glaubte ich zunächst, die Cis-Identifikation akzeptieren zu müssen, obwohl diese mit Gefühlen der Unsichtbarkeit und der Ausgrenzung einhergingen. Emotional war dies jedoch eine wichtige Begegnung mit gewaltsamen Kategorisierungen, denen ich in der Form vorher nicht bewusst ausgesetzt war. Diese Erfahrung hat mir nicht nur die politischen Implikationen dieser Strategie der Normbenennung verdeutlicht, sondern auch das Verhältnis zu meiner meist privilegierten Identität verändert. Dichotom organisierte sprachliche und soziale Systeme treten selten ohne ein hierarchisches Gefälle auf und im Rahmen dieses emotionalen Prozesses wähnte ich

44 Vgl. Sigusch, Volkmar: „Die Transsexuellen und unser nosomorpher Blick. Teil 1: Zur Enttotalisierung des Transsexualismus. Teil II: Zur Entpathologisierung des Transsexualismus“, in: Zeitschrift für Sexualforschung, 1991, Nr. 4, S. 225-256 u. S. 303-343.

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mich plötzlich auf der negativ konnotierten Seite, zunächst ohne die Option eine positiv konnotierte Subjektposition einnehmen zu können. Bei der Auflösung dieses persönlichen und auch akademischen Konflikts erwiesen sich die Texte von Kate Bornstein als instrumental, da sie mir das grundlegende Recht näher brachten, sich gegen eine Systematisierung aufzulehnen und ein Selbstverständnis jenseits dieser zu konstituieren.45 Trotz dieser Befreiung kann ich mich ob meiner persönlichen Vorgeschichte und sozialen Rahmenbedingungen bestimmter binärer Systeme nicht konsequent erwehren. Dementsprechend halte ich jede Art der persönlichen Subjektivierung, ob nun innerhalb des bestehenden Systems oder in radikaler Opposition dazu, für legitim, solange sie andere Subjekte nicht unterdrückt. Vor diesem Hintergrund erscheint es mir unabdingbar, die Eigenwahrnehmung der Subjekte, über die ich ohne ihr Einverständnis schreibe, zu respektieren. Denn unabhängig von persönlichen Wahrnehmungen der Zweigeschlechtlichkeit hat jedes Individuum das Recht, sich inner- oder außerhalb dieses Systems zu positionieren. Für meinen Umgang mit Elvenes bedeutet dies, dass ich sowohl ihre Eigenidentifikation als Frau ernst nehme als auch ihr Verhältnis zur geschlechtlichen Identität Einar Wegeners. Zudem werde ich sie, wenn ich nicht auf die Begrifflichkeiten anderer Quellen referiere, nicht in jene terminologische Konstrukte der ‚geschlechtlichen Abweichung‘ einordnen, die dem Zweigeschlechtersystem entspringen. Ich halte es insbesondere – aber nicht ausschließlich – bei Subjekten, die einer gewaltsamen Diskursivierung durch soziale und wissenschaftliche Zusammenhänge ausgesetzt sind, für unabdingbar, nicht mit von außen oktroyierten Kategorisierungen und Identitätszuweisungen zu operieren. Sprachlich gestaltet sich die Lossagung von Identitätszuweisungen jedoch besonders in Bezug auf eine geschlechtlich organisierte Grammatik überaus schwierig. Da ich mich nicht völlig von diesen Strukturen loszusagen vermag, sollen hier zumindest einige Worte meine Nutzung von Pronomen erklären. In Ermangelung einer nachhaltigen Alternative,46 verbleibe ich beim konventionellen er/sie und deren jeweiligen grammatischen Formen, beabsichtige damit jedoch keine semiotische Kategorisierung der so bezeichneten Personen.47

45 Vgl. Bornstein, Kate: Gender Outlaw. On Men, Women and the Rest of Us, New York 1994; vgl. Bornstein, Kate: My Gender Workbook. How to Become a Real Man, a Real Woman, the Real You or Something Else Entirely, New York 1998. 46 An dieser Stelle seien auch aktuelle Bemühungen von Lann Hornscheidt erwähnt, mit der x-Form eine alternative Sprache jenseits des Zweigeschlechtersystems zu realisieren, vgl. Hornscheidt, Lann: „Es war einmal ein X. Versuch einer geschlechtsfreien Sprache“, in: Die Zeit, 20.12.2014, o.S., http://www.zeit.de/2014/50/gender-studies-sprache-ohne-geschlecht-lann-hornscheidt (zuletzt eingesehen am 03.05.2015). 47 Für etwaige pronominale Diskriminierungen entschuldige ich mich an dieser Stelle.

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Die linguistischen Entwicklungen, die einem generischen Maskulinum entgegenzuwirken suchen, eröffnen aber zumindest bei der schriftlichen Ausformung Optionen eines inklusiven Plurals. Während das Binnen-I lediglich die Zweigeschlechtlichkeit in einem Wort abbildet, erscheinen mir sowohl der feststehende als auch der wandernde Unterstrich lediglich als Bewegungen innerhalb eines binär polarisierten Kontinuums. Das offene Sternchen wirkt stärker inkludierend, so dass ich es in die von mir vorgeschlagene Pluralform bei Gruppierungen mit heterogenen Identitäten integrieren möchte: *….*innen. Mit dieser Form soll die Offenheit gegenüber mannigfaltigen Ausgangspunkten symbolisiert werden und gleichzeitig dezidiert männlichen oder weiblichen Subjektpositionen die Integration nicht vorenthalten bleiben. Mitunter wird ist es bei der Arbeit notwendig, das Verhältnis des Subjekts zu den bestehenden Vorstellungen von Normalität zu thematisieren, um die verschiedenen Positionen, die dazu eingenommen werden, zu beleuchten. Auch hier möchte ich versuchen, von einer pathologisch entstandenen Terminologie Abstand zu nehmen. Als Alternative nutze ich zur Markierung jener Positionen, die als nicht der Norm entsprechend wahrgenommenen werden, den Begriff ‚Alterität‘, um die sich aus der Systematik ergebenen Transgressionen für die Analyse sichtbar zu machen.

1.3 T HEORETISCHE K ONZEPTE

UND

S CHLÜSSELBEGRIFFE

Ausgehend von dem zu untersuchenden Verhältnis von Alterität und Normalität in Bezug auf Vorstellungen einer geschlechtlichen Identität und daran gebundener Subjektivität konstituiert sich das theoretische Gerüst dieser Arbeit. Diese verstehe ich in der Tradition Foucaults als einen diskursanalytischen Beitrag,48 der sich sowohl der archäologischen Arbeitsweisen als auch der machtpolitischen Überlegungen seiner Schriften bedient.49 Daraus erwachsen die theoretischen Grundlagen, welche meine Arbeit begleiten. In den meisten Fällen werde ich den Kern der jeweiligen Konzepte erst erläutern, wenn sie in der Argumentation relevant werden. Somit ist dieser theoretische Überblick vorrangig als Introduktion und Klärung von Schlüsselbegriffen gedacht. Viele der zu untersuchenden Prozesse verhalten sich direkt oder indirekt zu einer diskursiv hergestellten NORMALITÄT. Dabei handelt es sich um einen oft

48 Vgl. Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt am Main 1997 (1971). 49 Vgl. Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main 1981 (1969); vgl. Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, 1983 (1976); vgl. Foucault, Michel: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975-76), Frankfurt am Main 1999 (1996).

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unausgesprochenen Begriff, dessen Bedeutungsebenen trotz seiner Omnipräsenz schwer greifbar und kaum konkretisierbar scheinen. Als grundlegendes Instrument zur Beschreibung konstanter Strukturen oszilliert er, wie Rolf Thomas in seiner Studie zur Normalität verdeutlicht, zwischen Vorstellungen natürlicher oder empirischer Regelmäßigkeiten und dem Streben nach einem vermeintlichen Idealzustand.50 Diese zutage tretenden Divergenzen schwingen in der Nutzung des Begriffs mit: Normalität fungiert somit gleichzeitig als ein beschreibendes und als ein wertendes Instrument. Aus dieser Verschränkung erwächst nicht nur eine vielschichtige Kritik zur Begriffsgeschichte,51 sondern auch ein komplexer Begriffsapparat, der dem Konstrukt des ‚Normalen‘ gegenübersteht und durch die Diskrepanz zum ‚Idealen‘ eine hierarchische Abwertung erfährt. Dass die immanente Opposition in sich bedingt ist, hat Foucault bereits für die Diskurse der Psychiatrie aufgezeigt.52 Normalität ist somit Bestandteil eines komplementären Systems, das mit Inklusions- und Exklusionsmechanismen operiert: Ob als gesellschaftlicher Standard oder als medizinischer Gegensatz zum Pathologischen konzipiert, produziert sie immer ein systematisches Außen. Dieses ‚Außen‘ oder ‚Andere‘ werde ich in meiner Argumentation mit dem vielschichtigen Begriff ALTERITÄT verhandeln. Dabei soll die Betrachtung von Alterität nicht nur auf die Wirkmacht innerhalb dichotomer Systeme beschränkt bleiben,53 sondern darüber hinaus als Raum untersucht werden, der Subjektivierungs- und Identitätsbildungsprozesse in Gang setzt. In diesem Sinne verstehe ich den Terminus Alterität als einen Drehpunkt, der Transferprozesse zwischen den verschiedenen binären Systemen, in welche er involviert ist, unterstützt. So bleiben auch das Spannungsfeld zwischen dem ‚Eigenen‘ und dem ‚Anderen‘ sowie damit einhergehenden Abgrenzungsbestrebungen eng an Konzeptionen von Normalität gebunden; die Herausbildung einer IDENTITÄT lässt sich selten davon trennen. Die Untersuchung von Identitätsbildungsprozessen stellt einen integralen Bestandteil der folgenden Analyse dar und widmet sich psychologischen, soziologischen und zum Teil auch sprachlichen Aspekten. Gekoppelt an das Zusammenspiel mannigfaltiger identitätsstiftender Faktoren steht

50 Vgl. Rolf, Thomas: Normalität. Ein philosophischer Grundbegriff des 20. Jahrhunderts, München 1999, S. 9-25. 51 Vgl. ebd., S. 20. 52 Vgl. Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt am Main 1973a (1961). 53 Eine Reduktion von ‚Alterität‘ auf eine Gegensatzfunktion kritisieren auch Anja Becker und Jan Mohr, vgl. Becker, Anja u. Jan Mohr: „Einleitung“, in: Becker, Anja u. Jan Mohr (Hg.): Alterität als Leitkonzept für historisches Interpretieren, Berlin 2012, S. 1-60, hier S. 38ff.

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die Frage nach der Möglichkeit, eine individuelle Geschlechtsidentität zu positionieren, im Mittelpunkt meiner Untersuchung. Wichtige Schnittstellen lassen sich dabei anhand des von Butler kritisch hinterfragten und durch die binäre Systematik vorgegebenen Dreiklangs von sex, gender & desire lokalisieren und in ihrer diskursiven Einbettung nachvollziehen.54 Foucault fordert sowohl in Archäologie des Wissens als auch in seinem Beitrag zum ‚Autor‘, welcher in der folgenden Analyse noch von Bedeutung sein wird, dazu auf, jene Schnittstellen freizulegen, an denen SUBJEKTIVITÄT innerhalb eines Diskurses hergestellt wird oder werden kann.55 Um dieser archäologischen Aufgabe nachzugehen, ist es bedeutsam, zunächst den Blick auf die verfügbaren Subjektpositionen sowie auf die Möglichkeiten einer Subjektivierung zu richten. Dabei ist es essentiell zwischen den miteinander verknüpften Schlüsselbegriffen zu unterscheiden. Zwischen der Herausbildung von Identität und der Subjektivierung liegt die Interaktion des Subjekts mit anderen Agenten innerhalb des Diskurses – eine Interaktion, die sich als instrumental für die Vorstellungsebenen von AGENCY erweist. In Anlehnung an Ausführungen von Cornelia Helfferich verstehe ich diesen Begriff jedoch nicht ausschließlich als synonym zu einem Verständnis von Handlungsmacht, sondern als eine Ordnung, die Momente der Ohnmacht sowie deren Verhältnis zur Macht impliziert.56 Dabei soll Agency nicht als dualistisches Konzept verstanden werden, sondern als eine „Eigenschaft vernetzter Individuen“,57 die sich im Rahmen spezifischer Handlungsspielräume bewegt58 und, wie von Foucault und Butler angedeutet, zum Teil radikale Subjektivierungsprozesse an den Schnittstellen erfordert.59

54 Eine umfassende und kritische Verhandlung der Genealogie sowie des Verhältnisses von Subjektivität und Identität in den Schriften von Foucault und Butler findet sich bei Eveline Kilian, vgl. Kilian, Eveline: GeschlechtSverkehrt. Theoretische und literarische Perspektiven des gender-bending, Königstein 2004, S. 20ff. 55 Vgl. Foucault 1981, S. 82; Foucault, Michel: „What Is an Author“, in: Harari, Josué V. (Hg.): Textual Strategies. Perspectives in Post-Structuralist Criticism (1969), Ithaka 1979, S. 141-160, hier S. 158. 56 Helfferich, Cornelia: „Einleitung. Von roten Heringen, Gräben und Brücken. Kartierung von Agency-Konzepten“, in: Bethmann, Stephanie et. al. (Hg.): Agency. Qualitative Rekonstruktionen und gesellschafstheoretische Bezüge von Handlungsmächtigkeit, Weinheim/Basel 2012, S. 9-39, hier S. 14f. 57 Ebd., S. 25. 58 Vgl., ebd., S. 21. 59 Vgl. Foucault 1983, S. 101; vgl. Butler, Judith: The Psychic Life of Power. Theories in Subjection, Stanford 1997, S. 104f.

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Die Funktionsweise von Agency wird anhand eines Modells des Theaters sehr einleuchtend von Erika Fischer-Lichte dargestellt, welche die Handlungsmacht des Schauspielers im Verhältnis zum Raum der Bühne und den Akteuren der Inszenierung beschreibt.60 Hier lässt sich an ihre Konzeptionen von PERFORMANCE und PERFORMATIVITÄT anschließen, deren Implikationen ich mit den Ausführungen Butlers zusammendenken möchte. Fischer-Lichte gruppiert ihre Argumentation um zwei Wendepunkte, die sie als performative turns bezeichnet, wobei sie einen in der weitgehenden „Theatralisierung nahezu aller kulturellen Bereiche“61 zu Beginn des 20. Jahrhunderts verortet, den zweiten in den Geistes- und Sozialwissenschaften am Ende desselben. Bei der Verhandlung der performativen Durchdringung von Diskursen orientiert sie sich an Foucault,62 variiert jedoch die Vorstellungen zum Inszenierungscharakter entsprechend der räumlichen Situierung. Bei einem Theaterereignis stelle diese spezifische räumliche Verortung „in der Regel die conditio sine qua non für ihre Wirkung“63 dar, bedeute jedoch keineswegs, dass „[d]iese Art der ästhetischen Wahrnehmung […] auf Inszenierungen im sozialen Leben übertragen werden [kann].“64 In diesem Zusammenhang sei es nicht entscheidend, wie die Inszenierung wahrgenommen werde, sondern ob sie als solche verstanden werde. An dieser Grenze der Sichtbarkeit lässt sich Butlers Theorie integrieren, die Performativität, welche sie in Bezug auf Geschlecht an den eingangs beschriebenen Dreiklang gebunden sieht, als systematisch geschaffen reflektiert. Analog zur Wahrnehmung der Inszenierung bei Fischer-Lichte bewegt sich die Sichtbarkeit der Performance bei Butler zwischen der unsichtbaren Repression und der sichtbarmachenden parodistischen Subversion.65

60 Vgl. Fischer-Lichte, Erika: „Verkörperung/Embodiment. Zum Wandel einer alten theaterwissenschaftlichen in eine neue kulturwissenschaftliche Kategorie“, in: Fischer-Lichte, Erika, Christian Horn und Matthias Warstat (Hg.): Verkörperung, Tübingen 2001, S. 1125, hier S. 18; vgl. Fischer-Lichte, Erika: „Was verkörpert der Körper des Schauspielers?“, in: Krämer, Sybille (Hg.): Performativität und Medialität, München 2004, S. 141162, hier S. 150. 61 Fischer-Lichte, Erika: Theater als Modell für eine performative Kultur: zum performative turn in der europäischen Kultur des 20. Jahrhunderts, Saarbrücken 2000a, S. 3. 62 Fischer-Lichte, Erika: „Vom ‚Text‘ zur ‚Performance‘. Der ‚performative turn‘ in den Kulturwissenschaften“, in: Kunstforum, 2000b, 152, S. 61-64, hier S. 62. 63 Fischer-Lichte, Erika: „Performance, Inszenierung, Ritual. Zur Klärung kulturwissenschaftlicher Schlüsselbegriffe“, in: Martschukat, Jürgen u. Steffen Patzold: Geschichtswissenschaft und ‚Performative Turn‘. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2003, S. 33-54, hier S. 44. 64 Ibid. 65 Butler 1990, S. 194ff.

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Um sich dem Verhältnis von performativen Akten und Subjektivierungsbestrebungen in Bezug auf Geschlecht innerhalb eines repressiven Diskurses zu nähern, erscheinen mir drei Bezugsgrößen von Bedeutung: Technologie, Körper und Text. Deren Verflechtungen lassen sich am fruchtbarsten mit dem aus den Queer- und Trans*-Theorien erwachsenen Modell der SOMATECHNICS analysieren. Mit einem Foucault verpflichteten Verständnis von Bio-Macht versucht sich dieser Ansatz an einer Erforschung des integrativen Verhältnisses von Körper und kulturellen Techniken: „‚somatechnics‘ [is] an attempt to highlight the inextricability of ‚the body‘ (as a culturally intelligible construct) and the techniques (dispositifs and ‚hard technologies‘) in and through which corporealities are formed and transformed.“66 Dieses Konzept überwindet die Vorstellung, dass sich Körper und kulturelle Techniken als eigenständige Entitäten gegenüberstehen und eröffnet damit neue Betrachtungsweisen: Techniken werden also nicht einfach auf den Körper angewendet, sondern konstituieren und positionieren ihn.67 Auf diese Art und Weise wird der Körper als Träger von spezifischen Diskursen und Praktiken sichtbar und erlaubt es, deren Zusammenspiel neu zu beleuchten. Innerhalb dieses Ansatzes lassen sich nicht nur die theoretischen Schlüsselbegriffe fassen, sondern auch eine transdisziplinäre Arbeitsweise realisieren, die diskursive und disziplinäre Verflechtung sichtbar macht und es ermöglicht, auch Fra Mand til Kvinde als eine Technik zu betrachten, welche mit Elvenes’ Körper verschränkt ist. Mit der Konstruktion dieser textuellen Technik werde ich mich nachfolgend sowohl methodisch als auch analytisch auseinandersetzen.

66 Sullivan, Nikki u. Samantha Murray: „Introduction“, in: Sullivan, Nikki u. Samantha Murray (Hg.): Somatechnics: Queering the Technologisation of Bodies, Farnham 2009, S. 1-10, hier S. 3. 67 Vgl. ebd.

2. Ein karto(bio)graphischer Ansatz Methodische Überlegungen zu Genre, Disziplin und Forschungsstand

Am 2. Dezember 1931 erscheint in Hage & Clausens Forlag in Kopenhagen Fra Mand til Kvinde: Lili Elbes Bekendelser (Von Mann zu Frau: Lili Elbes Bekenntnisse) – ein Buch, das seither in verschiedenen diskursiven Zusammenhängen verhandelt wird und welches der Autor und Journalist Teit Ritzau im Vorwort der dä1 nischen Wiederauflage im Jahre 1988 als „transsexuelle Bibel“ betitelt. Ritzau hat mit dieser Zuschreibung – wenn auch unbeabsichtigt – zentrale Rezeptionsgedanken zusammengefasst, welche die Auseinandersetzung mit dem Text seit seiner ersten Veröffentlichung in unterschiedlicher Form begleitet und geprägt haben: zum einen die Einordnung in einen Kontext von Erfahrungen, die in diversen Zusammenhängen als Transsexualität beschrieben werden; zum anderen einen innerhalb dieses Kontextes originären und maßgebenden Charakter des Textes. Ihren Anfang finden diese Rezeptionsstränge, welche sich sowohl in populären als auch wissenschaftlichen Publikationen bis in die Gegenwart nachvollziehen lassen, bereits im Vorfeld der ersten Veröffentlichung durch Beiträge in der dänischen Presse. In Buchbesprechungen setzen sich die Tageszeitungen Politiken, B.T. und 2 Socialdemokraten mit den Aufzeichnungen über die „vollständige Verwandlung“ des dänischen Malers Einar Wegener zu ‚Lili Elbe‘ auseinander – eine Begebenheit,

1

„transsexuel bibel“, Ritzau, Teit: „Forord“, in: Elbe, Lili: Fra Mand til Kvinde. Lili Elbes Bekendelser, Kopenhagen 1988, o.S.; vgl. Hertoft, Preben und Teit Ritzau: Paradiset er ikke til salg – Trangen at være begge køn, Viborg 1984, S. 84; vgl. Ritzau, Teit: „Lili Elbe’s Breve, fundet på Det kongelige Bibliotek“, in: Meddelelser fra Rigsbibliotekaren, 1984, Nr. 4, 35. Jg., S. 3-14, hier S. 6.

2

„fuldstændige Forvandling“, Rex.: „Manden der blev Kvinde. Redaktør Harthern fortæller om Bogen om Maleren Ejnar Wegener, som blev til Fru Lili Elbe“, in: Socialdemokraten, 28.11.1931, S. 6.

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die „einzigartig in der Geschichte der Menschheit“ sei. Dabei arbeiten die verschiedenen Publikationen durchweg nach einem ähnlichen Muster und unterfüttern ihre Buchankündigungen mit Interviewpassagen aus Gesprächen mit Ernst 4 Harthern, der als der hinter dem Pseudonym ‚Niels Hoyer‘ stehende Herausgeber des Buches vorgestellt wird. Einführend fokussiert jede dieser Besprechungen das Verhältnis zwischen der Herausgabe und der Autorschaft der bereits drei Monate zuvor verstorbenen vermeintlichen Protagonistin mit dem „Verfasserinnennamen 5 Lili Elbe“, welches Harthern laut Socialdemokraten folgendermaßen erläutert: „Das Buch […] ist eine Autobiographie, versehen mit einem Vorwort und einem Abschlusskapitel von mir, das ich auf Grundlage von Lili Elbes Briefen ausgearbei6 tet habe, da ihr bei ihrem Tod ein Kapitel zur Vollendung des Buches fehlte.“ Während Hartherns Beitrag zum Text in dieser Aussage sehr gering erscheint, erweckt der Bericht in B.T. den Eindruck, dass er auch an den anderen Kapiteln beteiligt ist. Hier wird berichtet, dass er Elbes Bitte um Hilfe bei der Ausarbeitung ihrer Aufzeichnungen nachgekommen sei: „Ich half ihr und ein großer Teil des Buches entstand während langer nächtlicher Gespräche. Durch andauernde Fragen und Antworten versuchten wir, zur tiefsten Wahrheit ihres Seelenlebens vorzudringen, während mein Sekretär jedes Wort mitstenographierte…“7 Der hier bereits anklingende Wahrheitsanspruch wird in allen Beiträgen unterstrichen und als zentraler Aspekt des Textes herausgearbeitet. Verknüpft wird dieser mit Hinblick auf seine

3

„enestaaende i Menneskehedens Historie“, Socialdemokraten, 28.11.1931, S. 6.

4

Ernst Ludwig Harthern Jacobson ist ein jüdischer Journalist, Autor und Übersetzer, der seit 1926 als Korrespondent des Scherl-Verlages in Kopenhagen arbeitet; mehr zu Harthern, vgl. Bosse, Jörn: Ernst Harthern: Journalist, Autor, Übersetzer – eine Auswahl aus seinen Werken, Stade 2008; im Zusammenhang mit dem Text (Fra Mand til Kvinde), den er unter seinem Pseudonym ‚Niels Hoyer‘ veröffentlicht, werde ich ausschließlich den Namen ‚Hoyer‘ benutzen, es sei denn, eine ergänzende Quelle erfordert die Nutzung eines anderen Namens.

5

„Forfatternavnet Lili Elbe“, Hn.: „Fra Mand til Kvinde. Bogen om Lili Elbe“, in: Politiken, 28.11.1931, S. 6; in Socialdemokraten wird bereits darauf hingewiesen, dass „Lili Elbe sich zuletzt im Privatleben Lili Ilse Elvenes nannte“ („kaldte Lili Elbe sig tilsidst i Privatlivet for Lili Ilse Elvenes“), Socialdemokraten, 28.11.1931, S. 6.

6

„Bogen […] er en Selvbiografi, forsynet med et Forord og et Afslutningskapitel af mig, som jeg har udarbejdet paa Grundlag af Lili Elbes Breve, da hun ved sin Død manglede et Kapitel i Bogens Fuldendelse.“, Socialdemokraten, 28.11.1931, S. 6.

7

„Jeg hjalp hende, og en stor Del af Bogen blev til under lange natlige Samtaler. Gennem stadige Spørgsmaal og Svar søgte vi at naa ind til hendes Sjælelivs dybeste Sandhed, mens min Sekretær stenograferede hvert Ord ned...“, Leo.: „Fra Mand til Kvinde. Lili Elbes Bog, som udkommer paa Onsdag“, in: B.T., 29.11.1931, S. 2.

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wissenschaftliche Rezeption, welche Harthern in den Interviews sowohl mit Aussagen Elbes als auch ihres Chirurgen Kurt Warnekros untermauert haben soll. Wäh8 rend Elbe „sich dafür begeisterte, der Wissenschaft helfen zu können“, betont Warnekros die spezifische Bedeutung des Buches für die Medizin, insbesondere für 9 die Biologie und die Psychiatrie. Der Text findet durchaus Beachtung in ausgewählten medizinwissenschaftlichen Publikationen, jedoch sind es insbesondere die Literatur- und Geschlechterwissenschaften, die sowohl historiographische Einordnungen als auch interpretatorische Auseinandersetzungen mit Fra Mand til Kvinde beziehungsweise einer der deutschen oder englischen Ausgaben des Textes anbieten. Die Lektüre von jeweils nur einer dieser verschiedensprachigen Ausgaben führt dabei zu unterschiedlichen Lesarten, da der Text in seiner Veröffentlichungsgeschichte einer Reihe von Wandlungen unterworfen ist. Diese Wandlungen spiegeln sich insbesondere in den Diskrepanzen zwischen der dänischen Erstausgabe und der 1932 erschienenen deut10 schen Version Ein Mensch wechselt sein Geschlecht sowie deren englischer Über11 tragung Man into Woman aus dem darauffolgenden Jahr wider. Obwohl die dänische Version früher verlegt wird, handelt es sich bei Ein Mensch wechselt sein Geschlecht nicht um eine Übersetzung dieser vermeintlichen Originalversion. Viel12 mehr hat Harthern das Manuskript auf Deutsch verfasst. Dieses Manuskript findet sich nur in deutlich editierter Übersetzung im finalen dänischen Text wieder. Viele Passagen aus dem Manuskript, die in Fra Mand til Kvinde nicht berücksichtigt werden, fließen in die deutsche Ausgabe wieder ein, welche darüber hinaus zusätz13 liche Erweiterungen, aber auch Streichungen durch Harthern erfährt. Im Zusammenspiel mit dem postulierten, aber konfliktbeladenen Wahrheitsanspruch führen

8

„var begejstret for at kunne hjælpe Videnskaben“, B.T., 29.11.1931, S. 2.

9

Vgl. Politiken, 28.11.1931, S. 6; vgl. Socialdemokraten, 28.11.1931, S. 6.

10 Elbe, Lili: Ein Mensch wechselt sein Geschlecht: Eine Lebensbeichte, aus hinterlassenen Papieren, herausgegeben von Niels Hoyer, Dresden 1932. 11 Von der englischsprachigen Version gibt es sowohl eine britische als auch eine amerikanische Ausgabe: Hoyer, Niels (Hg.): Man into Woman: An Authentic Record of a Change of Sex. The true story of the miraculous transformation of the Danish painter Einar Wegener (Andreas Sparre), London 1933a; Hoyer, Niels (Hg.): Man into Woman: An Authentic Record of a Change of Sex. The true story of the miraculous transformation of the Danish painter Einar Wegener (Andreas Sparre), New York 1933b. 12 Lili Elbe Buch von Niels Hoyer/Original Warnekros (Manuskript), EHA. 13 Harthern schreibt hierzu: „Gegen die dänische Ausgabe bedeutet die deutsche Ausgabe eine sehr wesentliche Verbesserung. Die dänische Ausgabe ist nicht gut aus meinem Manuskript übertragen worden. Die deutsche Ausgabe habe ich dann noch sehr ausgebaut.“, Brief von Ernst Harthern an Johanne Wegener, Kopenhagen, 9.11.32, EHA.

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diese unterschiedlichen Textausgaben rezeptionsabhängig zu widersprüchlichen Untersuchungsergebnissen, da die jeweiligen anderssprachigen Editionen keine Be14 rücksichtigung finden. Zudem werden in den verschiedenen Auflagen paratextuell neue Rezeptionsdiskurse eingeleitet, deren Einfluss in sowohl akademischen als auch populärwissenschaftlichen Abhandlungen keine ausreichend kritische Unter15 suchung erfährt. Auch wenn sich beide Richtungen – die populärkulturelle und die akademische – tendenziell unterschiedlich dazu verhalten, ist ihnen ein gewisses Ursprungsdenken gemein, welches sich auch gegenwärtig noch in einer Suche nach dem ‚ersten Fall‘ manifestiert. So wirbt die aktuellste Wiederauflage des englischen Textes von 16 2004 mit dem Titel Man into Woman: The First Sex Change und ist damit repräsentativ für die populärkulturelle Vermarktung von ‚Lili Elbe‘, die dort mit eben 17 diesem Label ‚verkauft‘ wird. Eine derartige Zuschreibung findet sich zwar nicht in identischer Form in der wissenschaftlichen Debatte wieder, jedoch greifen auch dort ähnliche Einordnungs18 parameter, wie die Übernahme von Ritzaus Terminus „transsexuelle Bibel“ durch Dag Heede verdeutlicht. Die Einordnung in einen Diskurs zu Transsexualität scheint implizit zu sein und der Gedanke von einer originären Rolle sowohl des Textes als auch der Person Lili Elvenes ist ein wiederkehrendes Element, das sich durch nahezu alle Forschungsbeiträge zieht. So gibt es einen breiten Konsens, dass 19 es sich bei Fra Mand til Kvinde um das erste wie auch immer (auto-)biogra20 21 phisch geartete Buch einer transsexuellen Person handele. Während es hier le-

14 Paratext wird hier im Sinne Genettes benutzt. 15 Mehr zu den paratextuellen Unterschieden und deren Bedeutung für die Rezeption in 3.2.1. 16 Hoyer, Niels (Hg.): Man into Woman: The First Sex Change – A Portrait of Lili Elbe: The true and remarkable transformation of the painter Einar Wegener, London 2004. 17 Vgl. Thorsen, Niels: „Den kastrerede ægtemand“, in: Politiken, 05.03.2000, Kultur S. 2; vgl. Thorsen, Niels: „Einars besynderlige rejse“, in: Politiken Weekly, 28.11.2008, S. 20f.; vgl. Lindberg, Kristian: „Lili Elbes sidste vilje“, in: Berlingske Tidende, 23.11.2008, S. 6f.; für diese Art der Presseberichterstattung gibt es auch im Zusammenhang mit der Filmproduktion von The Danish Girl zahllose Beispiele. 18 Heede greift diese Beschreibung in fast allen seinen Aufsätzen auf, vgl. Heede 2003, S. 17; vgl. Heede 2004, S. 106; vgl. Heede 2012a, S. 12. 19 Ich möchte noch einmal daran erinnern, dass ich nachfolgend bei der unterstrichenen Form von Fra Mand til Kvinde immer von der Gesamtheit aller verschiedensprachigen Ausgaben des Textes spreche, während ich auf die individuellen Ausgaben mit deren jeweiligen Titeln referieren werde. 20 Mehr zur Genrediskussion in 3.1.

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diglich um originäre Zuschreibung in Bezug auf einen Text zu gehen scheint, wird implizit bereits eine Vorstellung davon transportiert, wer als transsexuelle Person gilt und in welchem körperlich originären Bezug Elvenes somit zu Fra Mand til Kvinde steht. Noch deutlicher wird dies in jenen zumeist historiographisch orientierten Texten, die sich explizit der Frage und Suche nach dem ‚ersten Fall‘ stellen und sich somit in eine grundsätzlich problematische Konstante der Historiographie 22 23 einschreiben. Insbesondere Susan Stryker und Joanne Meyerowitz definieren in ihren historischen Abrissen, anhand welcher Parameter diese Suche nach dem ‚ersten Fall‘ organisiert ist, genauer: die Suche nach der ersten dokumentierten vollständigen operativen Genitaltransformation. Wie jedoch lässt sich eine solche definieren? Welche zeitlichen und räumlichen Aspekte sind wesentlich und welche nicht? Welche Arten der Dokumentation werden als relevant erachtet? Hier erscheint es sinnvoll, sich genauer mit den Vorstellungen von Zeitlichkeit, Vollständigkeit und Dokumentation auseinanderzusetzen. Es stellt sich zunächst die Frage, wie genau sich ‚Vollständigkeit‘ in einem solchen Kontext überhaupt definieren lässt – impliziert dieser Begriff doch gerade einen Rückgriff auf normative Körpervorstellungen, welche sich an eine als gegeben angenommene Anatomie des Zweigeschlechtersystems anlehnen. So wirkt unter anderem die Tatsache, dass diese vorgestellte postoperative genitale ‚Vollständigkeit‘ wesentlich häufiger von Mann-zu-Frau-Transsexuellen als bei Frau-zu-MannTranssexuellen zu erreichen wäre, für Letztere zusätzlich marginalisierend, da ihre so genannte genitaltransformatorische ‚Vollständigkeit‘ grundlegend in Frage ge-

21 Vgl. Steinbock 2009, S. 129f.; Runte 1998, S. 121 u. S. 124; Runte 2006, S. 128; vgl. Rosenbeck, Bente: „Sandheden om kønnet“, in: Bergenheim, Åsa und Lena Lennerhed (Hg.): Seklernas sex – Bidrag till sexualitetens historia, Stockholm 1997, S. 39-53, hier S. 46. 22 Vgl. Stryker, Susan: Transgender History, Berkeley 2008, S. 39; Stryker konzentriert sich auf den Aspekt der ersten Dokumentation; Stryker schränkt diese Sichtweise zwar in einem Gespräch mit Deborah Rudacille von 2005 ein, indem sie deutlich macht, dass nicht wirklich von jemandem als „first transsexual“ gesprochen werden kann, da sich die Einordnungsparameter sukzessive über die Zeit entwickelt haben, jedoch wird dies in ihrem geschichtlichen Abriss von 2008 nicht deutlich, vgl. Rudacille, Deborah: The Riddle of Gender – Sciene, Activism, and Transgender Rights, New York 2005, S. 52. 23 Vgl. Meyerowitz, Joanne: How Sex Changed. A History of Transsexuality in the United States, Cambridge/Mass. 2004, S. 19; Meyerowitz konzentriert sich auf den Aspekt der ersten Vollständigkeit. Dieser Gedanke wird so auch von Eliza Steinbock reproduziert, vgl. Steinbock 2009, S. 142; Deborah Rudacille geht sogar so weit, dass sie von „incomplete sex-reassignment surgeries“ und „complete surgeries“ spricht – hierbei spielt die Ausformung des entsprechenden ‚neuen Genitals‘ eine Rolle, vgl. Rudacille 2005, S. 44.

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stellt wird. Allein dieses Beispiel sollte verdeutlichen, dass ein solcher Parameter und damit auch eine daran geknüpfte unreflektierte Suche nach einem „vollständig“ genitaltransformierten Subjekt – insbesondere in konstruktivistisch orientierter Forschung – überaus fragwürdig erscheint. Das gilt insbesondere dann, wenn Erläuterungen dazu ausbleiben, wie sich das Erreichen einer ‚vollständigen‘ Transformation und somit implizit eines ‚vollständigen‘ Genitals überhaupt manifestieren könne. Unter diesen Vorzeichen stehe ich einem historiographischen Diskurs von Transgender und Transsexualität, der eine temporäre Verortung anhand von normativen Genitalvorstellungen vornimmt, kritisch gegenüber und stelle eine solche potentiell ausgrenzende Setzung von Zeitmarken grundsätzlich in Frage. Dennoch ist es sinnvoll, diesem Aspekt in der existierenden Forschung nachzugehen und in seinem Zusammenspiel mit den Vorstellungen von ‚Zeitlichkeit‘ und ‚Dokumentation‘ genauer zu betrachten. Während populärmediale Beiträge – wie bereits angedeutet – tendenziell Elvenes als erste Empfängerin eines ‚vollständigen‘ Geschlechtswechsels vorstellen, fokussiert die wissenschaftliche Auseinandersetzung in diesem Punkt eher auf Dora 25 Richter, besser bekannt als ‚Dorchen‘. Es liegt nicht in meinem Interesse, mich der einen oder anderen Seite anzuschließen und Elvenes innerhalb eines solchen ‚Wettbewerbs‘ zu positionieren. Vielmehr möchte ich die Mechanismen hinter einem solchen Positionierungszwang beleuchten und an der vorangegangenen Gegenüberstellung deutlich machen, wie sich die wissenschaftliche und die populärmediale Seite zueinander verhalten und inwieweit die Dynamik, die durch die unterschiedliche Hierarchisierung von Kategorien und Quellenmaterial entsteht, zur Rezeption und Konstruktion eines ‚Falles Lili Elbe‘ beiträgt.

24 Während die Scheidenplastik bei der operativen Behandlung von vielen Mann-zu-FrauTranssexuellen bereits seit Jahrzehnten eine zum großen Teil standardisierte Methode darstellt, wird die Phalloplastik bei Frau-zu-Mann-Transsexuellen unter anderem auf Grund der im Vergleich erhöhten Komplikationsrate, der teilweise für die Empfänger nicht zufriedenstellenden optischen Ergebnisse sowie der Einschränkung von sexueller Funktionalität bis heute wesentlich seltener durchgeführt. Zudem gibt es auch zahlreiche transidente Personen, die sich gegen eine operative ‚Genitaltransformation‘ entscheiden, ohne sich dabei anatomisch ‚unvollständig‘ in Bezug auf die eigene Geschlechtsidentifikation zu fühlen. 25 Während sich Rainer Herrn mit dem Hinweis auf die teilweise vagen Operationsdaten mit klaren Zuweisungen zurückhält, benennen sowohl Susan Stryker als auch Joanne Meyerowitz explizit Dora Richter als Empfängerin der ersten vollständig genitaltransformierenden operativen Eingriffe, vgl. Herrn 2005, S. 201; vgl. Stryker 2008, S. 39; vgl. Meyerowitz 2004, S. 19; auch Tim Armstrong verweist auf Richter, vgl. Armstrong 1998, S. 166.

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Werden die medizinischen Eingriffe, die Dora Richter durchläuft, auf einer Zeitachse betrachtet, könnte entsprechend der historischen und historiographischen 26 Quellen davon ausgehen werden, dass sie sich 1922 einer Orchiektomie unter27 zieht, während die Penisamputation und eine Scheidenplastik 1931 folgen. Elvenes hingegen – wird den Ausführungen in Ein Mensch wechselt sein Geschlecht und Man into Woman gefolgt – unterzieht sich 1930 drei Operationen, welche die Orchiektomie, die Penisamputation sowie die Implantation von Ovarien beinhalte28 ten. Es gibt keine explizite Erwähnung einer Scheidenplastik in Ein Mensch wechselt sein Geschlecht, jedoch gibt es eine Referenz zu einer bevorstehenden vierten Operation, die sie im Juni 1931 vornehmen lässt, „um durch einen letzten 29 Eingriff einen natürlichen Auslauf von der Gebärmutter“ zu erwirken. Jene letzte 30 Operation wird teilweise als Versuch gelesen, eine Gebärmutter zu implantieren , 31 teilweise als Scheidenplastik. Diese unterschiedlichen Lesarten sind in Bezug auf die Parameter ‚Zeitlichkeit‘ und ‚Vollständigkeit‘ von Bedeutung, da die Implantations-Theorie suggeriert, dass die Scheidenplastik bereits Bestandteil einer der Operationen von 1930 gewesen sei und die Betonung des Genitalen sehr deutlich macht, dass die Scheidenplastik in diesen Fällen den Zeitpunkt der ‚Vervollständigung‘ markiert. Wird der Implantations-Theorie gefolgt, wäre Elvenes’ Genitaltransformation vor der Richters abgeschlossen und sie hätte demzufolge als ‚zeitlich Erste‘ die genitale ‚Vollständigkeit‘ erreicht. Bei der Annahme, dass die letzte Operation eine Scheidenplastik beinhaltet, hätten hingegen beide Frauen diesen Eingriff im Juni 1931 vornehmen lassen und somit fast zeitgleich die vermeintliche ‚Vollständigkeit‘ erreicht. In beiden Fällen scheint demnach ‚Vollständigkeit‘ isoliert nicht zu greifen, da Richter in keinem Szenario ihre Transition vor der Elvenes’ abgeschlossen hätte. Dementsprechend lässt ‚Zeitlichkeit‘ nur in Bezug auf den früheren Beginn von Richters Transition Rückschlüsse zu. Dies scheint mir aber nicht der Schlüsselparameter zu sein, vielmehr kommt hier der dritte Aspekt ins Spiel:

26 Orchiektomie bezeichnet die Entfernung der männlichen Keimdrüsen. 27 Vgl. Abraham, Felix: „Genitalumwandlungen an zwei männlichen Transvestiten“, in: Zeitschrift für Sexualwissenschaft und Sexualpolitik, September 1931, 4. Heft, XVIII. Band, S. 223-226, hier S. 224; Herrn gibt das Jahr der Orchiektomie mit 1923 an, vgl. Herrn 2005, S. 204; für mehr Informationen zu Dora Richter, vgl. Herrn 2005, S. 201f.; vgl. Bækgaard, Ellen: „Dorchens historie“, in: Hertoft, Preben und Teit Ritzau (Hg.): Paradiset er ikke til salg. Trangen til at være begge køn, Viborg 1984, S. 79-81. 28 Vgl. Elbe 1932, S. 248; vgl. Hoyer 1933a/b, S. 284; in Fra Mand til Kvinde sind die Informationen zu den operativen Eingriffen nicht enthalten. 29 Elbe 1932, S. 248; vgl. Man into Woman 1933, S. 284. 30 Vgl. Herrn 2005 S. 208; vgl. Runte 1998, S. 126. 31 Vgl. Hausman, 1995, S. 19; vgl. Meyerowitz 2002, S. 20; vgl. Armstrong 1998, S. 282.

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die ‚Dokumentation‘, welcher eine signifikante Rolle bei der Bestimmung eines zuverlässig überlieferten ‚ersten Falles‘ zukommt. Während die Abläufe der medizinischen Eingriffe bei Richter in einem sexualwissenschaftlichen Text von Felix Abraham behandelt werden, ist die Hauptinformationsquelle zu Elvenes die vermeintlich (auto-)biographische Schrift Fra Mand til Kvinde. Da sich weder Herrn, Stryker noch Meyerowitz eingehend mit dem Text und dessen Kontext auseinandergesetzt haben, referieren sie entweder gar nicht auf 32 diesen oder verhandeln ihn per se als unzuverlässiges Material. Der Schluss, dass damit der sexualmedizinisch verortete Text in seiner Wertigkeit als dokumentierender Quellentext automatisch über dem vermeintlich (auto-)biographischen angesiedelt wird, liegt nahe. So wird insbesondere bei Herrn deutlich, dass Abrahams Beitrag als wertneutra33 le Quelle wahrgenommen wird, während Ein Mensch wechselt sein Geschlecht von diesem autobiographisch gelesen und in seinem Inhalt kritisch hinterfragt 34 wird. Wenn auch unzureichend fundiert, ist Herrns kritische Haltung gegenüber Ein Mensch wechselt sein Geschlecht durchaus berechtigt. Problematisch ist dabei – und das lässt sich in diesem Fall ebenfalls für Stryker und Meyerowitz festhalten – die unkritische Hinnahme medizinischer Texte als neutrale Quellen. Hierbei wird nicht nur das tradierte Machtverhältnis zwischen Medizin und einem als transsexuell verstandenem Subjekt reproduziert und fortgeschrieben, sondern analog eine Auf- und Abwertung von Quellenmaterial vorgenommen, bei der nicht berücksichtigt wird, dass medizinische Beiträge gleichermaßen auf menschlichem Erinnern, Konstruktionen und Hervorhebungen basieren. Gerade in Bezug auf das Genre der (Auto-)Biographie korrelieren hier der von Harthern antizipierte Wahrheitsanspruch und die konfliktbeladene Rezeptionsgeschichte autobiographischer Schriften. „Wahrheit ist wie Flugsand... ewig auf Wanderung.“

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Vorstellungen zu Wahrheits- und Authentizitätsansprüchen sind tief in der Rezeption sowie in der Theoriebildung in Bezug auf das (Auto-)Biographische in literarischen Texten verwurzelt. Sie beeinflussen implizit wie explizit Genreeinordnungen in sowohl literaturwissenschaftlichen als auch historiographischen Kontexten. Bei

32 Stryker erwähnt Elvenes in ihrer Transgender History überhaupt nicht. 33 Vgl. Herrn 2005, S. 201. 34 Vgl. ebd., S. 204. 35 Lili Elbe Buch (Manuskript), S. 8; dieser Satz wurde von der an Einar Wegener angelehnten fiktionalen Figur Andreas Sparre im Manuskript geäußert, ist aber weder in der dänischen, der deutschen noch der englischen Ausgabe des Textes zu finden.

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Fra Mand til Kvinde erweist sich diese Art von Genreeinordnung als ein Analysewerkzeug, das sich wesentlich auf die Richtung, welche die verschiedenen Sekundärtexte einschlagen, auswirkt und gleichzeitig einen entscheidenden Einfluss auf die Analyseergebnisse nimmt. Doch wird dieser Einfluss in seiner Funktion selten klar benannt.

2.1 D ER E INFLUSS VON G ENREVORSTELLUNGEN F ORSCHUNG ZU L ILI E LVENES

AUF DIE

Mit der Einordnung von Texten in Genres scheint es sich ähnlich zu verhalten wie mit der Einordnung von Personen in Geschlechterkategorien – oft erfolgt diese ohne die notwendige Reflexion über die Kategorie, welcher sich bedient wird. Dag Heede, eine(r) der zwei *Wissenschaftler*innen, die sich genauer mit dem Bezug zwischen Genre und Text bei Fra Mand til Kvinde beziehungsweise Ein Mensch wechselt sein Geschlecht auseinandergesetzt haben, weist auf die Schnittpunkte zwischen Geschlecht und Genre hin, indem er darauf insistiert, sie „mehr als Pro36 zesse, denn als Essenzen“ zu verstehen. Heede versucht hier Judith Butlers Beiträge zur Performativität von Geschlecht auf eine Genrediskussion zu übertragen und schlägt vor, dass es sich mit der Reinheit von Genres genauso verhalte wie mit den vermeintlichen Originalen eines ‚reinen Mannes‘ oder einer ‚reinen Frau‘ – sie 37 existieren einfach nicht. Dieser zunächst fruchtbar erscheinende Ansatz resultiert jedoch in einer ernüchternden Konklusion – Heede fällt es letztendlich leicht, eine 38 genaue Genreeinordnung vorzunehmen. Während er als Überbegriff „Memoiren“ wählt, konkretisiert er seine Zuordnung im Laufe der Analyse und ordnet Fra Mand til Kvinde – er arbeitet nur mit der dänischen Ausgabe – als ein Untergenre vom 39 40 41 „Wochenblattroman“ oder „der Trivialromanze“ ein: als „Arztroman“. Neben

36 „som processer snarere end essenser“, Heede 2004, S. 105; Verknüpfungspunkte zwischen ‚gender‘ und Genre finden sich bereits bei Sandy Stone, die Transsexuelle gerne als genre konstituiert sehen würde, vgl. Stone 2006, S. 230. 37 Vgl. Heede 2004, S. 107. 38 „memoirer“, ebd., S. 105; vgl. auch S. 108f.; hier weist Heede zusätzlich auf die starke Literarisierung des Textes hin. 39 „ugebladsroman“, ebd., S. 109; Heede schreibt Lili hier auch noch die Wahl des Genres ‚Damenblatt‘ zu – eine Wahl, die er versucht mit einem Brief, den Elvenes an Poul Knudsen geschrieben hat, zu belegen. Eine solche Umschreibung findet sich dort jedoch nicht, so dass Heedes Behauptung insgesamt sehr fragwürdig erscheint. 40 „trivialromancen“, ebd., S. 120. 41 „lægeroman[en]“, ebd., S. 120; vgl. Heede 2003, S. 35f.

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der Wertung, die Heede hier sowohl für den Text als auch für das als dahinter stehend angenommene Subjekt vornimmt, scheint ebenfalls der Genre-als-ProzessGedanke verloren gegangen zu sein.42 Einer ähnlich wertenden Genrezuschreibung bedient sich zudem Annette Runte, die zweite Literaturwissenschaftlerin, die sich der Genrefrage eingehender annimmt. In ihrer großangelegten Analyse transsexueller (Auto-)Biographien betrachtet auch sie das Verhältnis zwischen Arzt und ‚*Patient*innen‘ näher und bescheinigt den Gefühlsregungen Letzterer gegenüber ihren ‚Wohltätern‘ groschenromanartige 43 Qualitäten. Insgesamt siedelt sie ihre Materialakquise eher im autobiographischen 44 Bereich an und spezifiziert ihre Genreeinordnung auch für Ein Mensch wechselt sein Geschlecht – sie arbeitet ausschließlich mit der deutschen Ausgabe – zunächst 45 nicht genauer. Runte führt jedoch eine Einschränkung für die von ihr gewählten Primärquellen an, indem sie herausstellt, dass „[t]ranssexuelle Lebensgeschichten […] zu jener Sorte von Populärbekenntnissen [gehören], die die klassische Selbstbiographie durch Nivellierung der Autorschaft, thematische Zuschreibung und me46 diale Parasitierung unterhöhlt.“ Hier geht Runte weder kritisch mit dem autobiographischen Genre als solchem um noch lässt ihre Vorannahme einer Unterhöhlung zu, sich den Themen Autorschaft und mediale Unterwanderung wirklich fruchtbar zu nähern, obwohl sie die Betrachtung der Texte im Zusammenspiel mit diesen 47 Diskursfeldern als zentral herausstellt. Runte verlässt trotz ihrer Anmerkung das Terrain des (auto-)biographischen Genres nicht und verortet ihre Analyse innerhalb entsprechend abgesteckter Parameter. Damit steht sie vor genau dem Konflikt, welchen sie einleitend beschreibt – „dem Dilemma des dokumentarischen Anspruchs einer Zweckform, der als Gebrauchsliteratur die transparente Widerspiegelung einer äußeren und inneren Realität durch authentische Wiedergabe des Erinnerten und Erlebten einfach unterstellt

42 Der wissenschaftliche und ethische Umgang mit den Subjekten, über die Heede schreibt, wird auch von Tobias Raun kritisiert, vgl. Raun , Tobias: „Trans as Contested Intelligibility: Interrogating how to Conduct Trans Analysis with Respectful Curiosity“, in: lambda nordica, 1/2014, S. 13-37. 43 Runte spricht hier von einem „Chirurgentransfer“, vgl. Runte 1996, S. 599. 44 Vgl. ebd., S. 25. 45 Runte spricht in Biographische Operationen durchgehend von einer Lebensbeichte, vgl. ebd.; in einem späteren Beitrag ändert sie diese Genrezuschreibung zu ‚Biographie‘, vgl. Runte 1998; in ihrem aktuellsten Aufsatz, der sich mit Elvenes/Elbe beschäftigt, beschreibt sie Ein Mensch wechselt sein Geschlecht sowohl als autobiographisches Moment sowie als Autobiographie im sicheren Rahmen der Biographie, vgl. Runte 2006. 46 Runte 1996, S. 35. 47 Vgl. ebd., S. 60 u. S. 412ff.

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wird.“ Sie begibt sich mit ihrer Analyse aber eben doch in diese Authentizitätsfalle. Auf der einen Seite betont Runte, inwieweit gerade bei einem Zusammenspiel zwischen Biographen und autobiographischem Partner – Rollen, die sie jeweils 49 Niels Hoyer und Lili Elbe zuschreibt – etwas entsteht, was sie ‚sandwich‘50 Diskurse nennt, ohne dabei den (auto-)biographischen Bezugsrahmen zu verlas51 sen. Hierbei stellt sie eine Entwicklungslinie der doppelten Autorschaft heraus, die sich von der Fallgeschichte in die Lebensgeschichte überträgt, aber bei Letzterer nicht mehr durch die Expertenrede strukturiert wird. Vielmehr handele es sich in dieser Form um eine ‚Geständniswissenschaft‘ im Foucault’schen Sinne, welche 52 „das Erlebte auf Abruf kommentiert“. Konkludierend stellt sie für die Fallgeschichte richtig fest, dass „die Wiedergabe des Betroffenen-Diskurses in ExpertenArtikeln […] es oft schwer unterscheidbar [macht], ob es sich dabei um rekonstru53 ierte, kommentierte oder korrekt zitierte Rede handelt.“ Auf der anderen Seite bringt sie jedoch nicht die Transferleistung, dieses Ergebnis konsequent auf Ein Mensch wechselt sein Geschlecht anzuwenden. Denn Runte gelingt es in ihrer Analyse trotz allem, bestimmte narrative Stränge und Aussagen konkret Elbe oder Hoyer zuzuschreiben. Sie nimmt eine dementsprechend fragwürdige Hierarchisierung vom Authentizitätswert bestimmter Passagen im Buch vor, indem sie die vermeintlich benutzten Briefe und Tagebuch-Notizen als authentisch beschreibt – ohne diese 54 Behauptung erkennbar verifiziert zu haben. Zudem liest sie Ein Mensch wechselt 55 sein Geschlecht – ein Text, der explizit mit Pseudonymen arbeitet – zum Teil sehr 56 unkritisch im Stile eines Schlüsselromans. Dieser Lesart ist eine Authentizitätsvorstellung im Sinne der Übertragbarkeit von einem literarischen Narrativ auf eine historiographische Faktizität immanent, auch wenn dies nicht explizit in der Analy-

48 Runte 1996, S. 35. 49 Vgl. ebd., S. 438 u. S. 445; an einer anderen Stelle werden Erzählmodus und Autorschaft so vermengt, dass Runte von „‚Lili Elbe‘ (alias Niels Hoyer)“ spricht, ebd., S. 80. 50 Unter „‚sandwich‘-Diskurs“ versteht Runte hier die unentwirrbare Verquickung zweier subjektiver Reden, ebd., S. 427 u. 435ff. 51 Vgl. ebd., S. 412. 52 Runte verknüpft in diesem Zusammenhang Populärnarration mit ‚vulgarisiertem Wissen‘ und ordnet diese hierarchisch als unter der ‚wissenschaftlichen Rede‘ stehend ein, welche, so Runte, „fiktionalen Beschreibungen meist problemlos einen dokumentarischen Status“ verleihe, ebd., S. 412. 53 Ebd., S. 427; siehe auch S. 128f. zur Verquickung der „Rede eines autobiographischen Subjekts“ mit der „des sie aufzeichnenden biographischen (Ko-)Autors“. 54 Vgl. ebd., S. 438 u. S. 445. 55 Vgl. Elbe 1932, o. S. (Vorwort). 56 Vgl. Runte 1998, S. 125.

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se so gesagt wird. Runte unterläuft in diesem Versuch der Dechiffrierung zudem ein Fehler, der die Schlüssigkeit ihrer Analyse weiter beeinträchtigt. Sie glaubt, hinter 57 der Figur von Niels Hvide den Herausgeber Niels Hoyer wiederentdeckt zu haben und überführt ihre Argumentation in eine vermeintliche historische Realität, die somit noch konstruierter als der eigentliche Text erscheint. Hier wird sehr deutlich, wie problematisch eine aus einer autobiographischen bzw. schlüsselromanartigen Lesart entstandene Verquickung von einem literarischen Narrativ und einer angenommenen historischen Wirklichkeit sein kann, da sie so weder literaturwissenschaftlich noch historiographisch einen fruchtbaren Beitrag leistet. Eine teilweise unkritische Übertragung von narrativen Aussagen in einen historiographischen Kontext findet sich auch bei Heede wieder, um noch einmal den Bogen zu seiner Argumentation zu schließen. Er antizipiert eine Auseinandersetzung mit Fra Mand til Kvinde auf der Textebene, macht allerdings deutlich, dass er sich weniger inhaltlich mit diesem auseinandersetzen will, sondern ein Augenmerk auf dessen performativen Charakter zu legen beabsichtigt. Jedoch beziehen sich Heedes Hauptthese – die Funktion des Textes sei es, ‚Lili Elbes‘ Weiblichkeit herzustellen – und die sich daraus ergebenen Konklusionen eben nicht nur auf eine literarische Ebene, sondern werden darüber hinaus gerade in Bezug auf die Verifizie58 rung der Weiblichkeit der historischen Person herausgearbeitet. Während die Untersuchung des Einflusses einer literarischen Konstruktion auf die Rezeption einer historischen Figur durchaus fruchtbar ist, fällt es Heede in anderen explizit textbezogenen Teilen seiner Analyse offensichtlich schwer, sich auf die Textebene zu beschränken. Somit resultiert seine Herangehensweise in einem synonymen Wechsel59 spiel zwischen literarischen Pseudonymen und historischen Namen und impliziert, dass Schlussfolgerungen über eine historische Realität aus dem literarischen Narrativ, welches er zu untersuchen beabsichtigt, gezogen werden können. Ich möchte einer solch nahtlosen Übertragung entschieden widersprechen und weise darauf hin, dass es nicht ausreichend ist, sich auf der einen Seite kritisch einem Genre gegenüber zu verhalten, aber gleichzeitig diese Kritik nicht konsequent in die eigene Analyse zu integrieren. Dennoch ist diese Herangehensweise bei Arbeiten zu Fra Mand til Kvinde keine Seltenheit. Auch in der Forschung, die sich nicht explizit mit einer Genreproblematik auseinandersetzt, finden sich ähnliche Muster, die ihren paradoxen Höhepunkt in Bernice Hausmans Buch Changing Sex

57 Vgl. Runte 1998, S. 297; vgl. Runte 2006, S. 135; der Charakter Niels Hvide ist vielmehr eine literarische Umsetzung von Poul Knudsen und nicht ein erweitertes Pseudonym von Niels Hoyer; weitere Probleme mit der Vermengung von Pseudonymen und historischen Personen finden sich auch in ihrem Grundlagenwerk, vgl. Runte 1996, S. 449. 58 Vgl. Heede 2003, S. 17. 59 Vgl. ebd., S. 19.

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finden. Diese berichtet darin von einer Konversation zwischen literarischen Charak60 teren und historischen Personen und treibt somit die unreflektierte Vermengung von Realität und Narrativ auf die Spitze. Diese Austauschbarkeit resultiert daraus, 61 dass Hausman Man into Woman als „pseudonyme Autobiographie“ einordnet und Aussagen über jene Figuren, deren Pseudonyme sie entschlüsseln kann, automatisch auf die angenommenen historischen Figuren überträgt. Ihre Genreeinordnung 62 fügt sich in ihr Kapitel über transsexuelle Autobiographien ein, in welchem sie eine Analyse zu den „Diskursen, die von Transsexuellen selbst über ihre Erfahrung 63 produziert wurden“ avisiert. Obwohl sich Hausman kritisch gegenüber Fragen zur 64 65 Repräsentativität und zur Authentizität dieser Autobiographien äußert, schreibt 66 sie die Aussagen in diesen Texten dennoch direkt den *Autor*innen zu, welche sie nicht von den darin besprochenen transsexuellen Subjekten zu unterscheiden ver67 sucht. Hausman erwähnt zwar kontextuelle Parameter, beschränkt sich analytisch jedoch hauptsächlich auf die Achse zwischen den vermeintlichen *Autor*innen und dem Text. Gerade unter den Vorzeichen dieses Analysestils – dem Zusammenlegen von textuellem Subjekt und *Autor*innen-Persona sowie der Übertragung von textuellen Aussagen in eine historische Realität – erscheint es besonders fragwürdig, dass Hausmann Lili Elbes im Text deutlich markierte Eigenidentifikation ignoriert

60 Vgl. Hausman 1995, S. 18. 61 „pseudonymous autobiography“, ebd., S. 16. 62 Vgl. ebd., S. 141ff. 63 „discourses produced by transsexuals themselves about their experiences“, ebd., S. 141. 64 Vgl. ebd., S. 142f.; Hausman schreibt hier: „Because most transsexuals do not write their life stories, those autobiographies authored by transsexuals cannot be taken to be representative of the ‚average transsexual‘.“, vgl. ebd., S. 142f.; diese Anmerkung zu einer fehlenden ‚globalen Repräsentativität‘ hat meines Erachtens wenig mit der vermeintlichen Transsexualität der *Autor*innen zu tun, sondern ist selbsterklärend, wenn man von Menschen als Individuen ausgeht. 65 Vgl. ebd., S. 147 u. S. 173. 66 Vgl. ebd., S. 156. 67 Vgl. ebd., S. 173f.; doch auch hier geht Hausman unkritisch von einem nahtlosen Subjekt-Text-Transfer aus, der meiner Meinung nach zu kurz greift: „Yet the ‚true story‘ of transsexualism is already out, insofar as it is already at work in those autobiographies, helping to consolidate subjectivities around specifically marked parameters of behavior and narration. The official autobiography of the transsexual subject is part of the ‚true story‘ of transsexualism; without these texts we would not have the phenomenon that we have today, because within their narratives live the most important assertions – as well as the most destabilizing discontinuities – within which transsexual subjectivity is constituted.“, ebd., S.174.

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und kontinuierlich – und leider nicht als einzige – von Wegeners Autobiographie 68 spricht. Man into Woman – der Text mit dem Hausman arbeitet – impliziert weder textuell noch paratextuell eine Autorschaft Einar Wegeners. Dementsprechend kann Hausmans auktoriale Zuweisung als ein paradoxes Ausradieren der vermeintlichen transsexuellen Subjektstimme aus der eigenen Geschichte gelesen werden – Elvenes wird die auktoriale Agency entzogen, während sie gleichzeitig die Verantwor69 tung für die textuellen Aussagen übernehmen soll. Diese Lesart resultiert möglicherweise aus Hausmans Arbeit mit der englischen Textausgabe und deren paratextuellen Besonderheiten. Der Untertitel von Man into Woman – An Authentic Record of a Change of Sex. The true story of the miraculous transformation of the Danish painter Einar Wegener (Andreas Sparre) – suggeriert neben der Austauschbarkeit der Namen Einar Wegener und Andreas Sparre auch sehr deutlich einen Wahrheitsanspruch, welcher durch das Vorwort von Norman Haire nochmals unterstrichen wird: „To the reader unfamiliar with the unhappy byways of sexual pathology, the story told in this book must seem incredibly fantastic. Incredible as it may seem, it is true. Or, rather, the facts are true, though I think 70 there is room for difference of opinion about the interpretation of the facts.“ An dieser Schnittstelle von Wahrheitsversicherung und Interpretationseinladung setzt Hausmans Auseinandersetzung an. Sie versäumt jedoch, diese leitenden paratextuellen Elemente explizit zur Kenntnis zu nehmen und kritisch zu hinterfragen. Dadurch schreibt sie sich in ein Hierarchisierungsparadigma ein, in dem der durch Norman Haire repräsentierte sexualmedizinische Expertendiskurs per se als autorisierende Instanz über der angeblich autobiographischen Eigenwahrnehmung eines vermeintlich ‚abnormen‘ Subjekts steht. Diese präferierte Bezugnahme auf Expertendiskurse sowohl in paratextueller als auch in sekundärtextueller Form findet sich auch in mehreren anderen Forschungsbeiträgen wieder. Sander Gilman, der sich im Kontext einer Geschichte der ästhetischen Chirurgie mit Man into Woman auseinandersetzt, orientiert sich in seinen

68 Vgl. Hausman 1995, S. 16ff.; vgl. Nero 2014, S. 274; Tim Armstrong spricht von „Wegener’s autobiography“, Armstrong 1998, S. 165ff.; Bente Rosenbeck schreibt sogar von Andreas’ Autobiographie („Andreas skildrede i sin selvbiografi“) und ordnet somit die Autorschaft einem fiktionalen männlichen Pseudonym zu, Rosenbeck 1997, S. 47. 69 Vgl. Hausman 1995, S. 16ff. (besonders S. 19); Cressida Heyes bringt ähnliche Kritikpunkte in Bezug auf Hausmans Argumentationsstrategien an, vgl. Heyes, Cressida J.: Self-Transformations: Foucault, Ethics and Normalized Bodies, Oxford 2007, S. 39. 70 Haire, Norman: „Introduction“, in: Hoyer, Niels (Hg.): Man into Woman: An Authentic Record of a Change of Sex. The true story of the miraculous transformation of the Danish painter Einar Wegener (Andreas Sparre), London/New York 1933a/b, S. V-XII, hier S. V.

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Ausführungen am Vorwort des Sexualmediziners Haire und der schönheitschirurgischen Expertise Jean Boivins. Aus Haires Text übernimmt Gilman die Einschätzung der Autorschaftsverhältnisse hinter Man into Woman und resümiert, dass es 71 sich nicht um eine Autobiographie handele, während er gleichzeitig Haires Authentizitätsversicherung zu vertrauen scheint und vom Text auf historische Perso72 nen schließt. Zusätzlich verweist er auf Boivins Ausführungen in Beauty’s Scalpel. Dieser behauptet ebenfalls, die ‚wahre Geschichte‘ erzählen zu wollen – mit 73 der Implikation, dass diese bisher nur in verstellten Formen vorläge – und bietet Gilman damit eine Vorlage, um auf Diskrepanzen zum ‚offiziellen Buch‘ hinzuwei74 sen. Dieses kurze Tangieren von Widersprüchlichkeiten in unterschiedlichem Quellenmaterial verbleibt bei Gilman jedoch ausschließlich auf der Ebene der vermeintlichen Expertentexte, die ausschlaggebend für seine eigene Analyse sind. Auch Rainer Herrn, der in seinem Buch Schnittmuster des Geschlechts die Geschichte des Transvestitismus und der Transsexualität im Lichte der frühen Sexualwissenschaft nachzeichnet, lässt sich in seiner historiographischen Auseinandersetzung von Expertentexten leiten. Herrns Fokus liegt dabei auf der Arbeit Magnus Hirschfelds in diesem Feld und dementsprechend prominent ist Hirschfeld in seiner Wertungshierarchie. Herrn setzt sich nur ungenau mit gattungsspezifischen Fragen auseinander, etwas, dass auch daran deutlich wird, dass er bei Ein Mensch wechselt 75 76 sein Geschlecht abwechselnd von einer Autobiographie und einer Biographie spricht. Diese Austauschbarkeit der Begrifflichkeiten bei Herrn mag ein Resultat seiner Feststellung sein, dass die Autorschaft des Textes nicht eindeutig geklärt werden könne, da nicht erkenntlich sei, „ob es sich um die Einfühlung eines Außenstehenden (Hoyer) in eine Geschlechtsumwandlung, also eine Projektion handelt 77 oder um Elbes Empfindungen und Vorstellungen.“ Diese Herausstellung findet

71 Vgl. Gilman, Sander: Making the Body Beautiful – A Cultural History of Aesthetic Surgery, Princeton 1999, S. 277; Gilman bezieht sich hier offensichtlich auf folgende Ausführungen von Haire: „The story of this strange case has been written by Niels Hoyer, partly from his own knowledge, partly from material dictated by Lili herself, partly from Lili’s diaries, and partly from letters written by Lili and other persons concerned.“, Haire 1933a/b, S. VIII. 72 Vgl. Gilman 1999, S. 280. 73 Vgl. Boivin, Jean: Beauty’s Scalpel, London 1958, S. 55; Boivin lehnt sich in seinen Ausführungen dennoch an einen damals bereits existierenden Text von Hélène Allatini an, vgl. Allatini, Hélène: Mosaïques, Paris 1939, S. 198-237. 74 Vgl. Gilman 1999, S. 280. 75 Vgl. Herrn 2005, S. 197 u. S. 209. 76 Vgl. ebd., S. 204. 77 Ibid.

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ihren Weg jedoch nicht in Herrns eigentliche Argumentation, denn auch ihm scheint es leicht zu fallen, den Inhalt des Buches mit einer historischen Realität gleichzusetzen, so dass er einen Großteil der medizinischen Daten unkommentiert aus Ein Mensch wechselt sein Geschlecht übernimmt. Nur in Bezug auf die Narration zur letzten Operation und zum nachfolgenden Tod Elbes zieht er noch andere Quellen hinzu und wendet sich hier wieder an seinen leitenden Experten Hirschfeld, dessen Ausführungen dazu von Herrn unkritisch als plausibel eingeschätzt wer78 den. Und so schließt sich auch hier der hegemoniale Kreis, indem die Expertenmeinung eine höhere Wertung erfährt. Tim Armstrong kann sich in seiner Annäherung an Man into Woman ebenfalls nicht völlig von der Expertenrede – hier in Form von Haires Ausführungen – lö79 sen, doch findet sich bei ihm eine differenziertere Auseinandersetzung mit den aus dem Vorwort transferierten Informationen zur Komposition des Textes. Obwohl 80 Armstrong von einer Autobiographie spricht, setzt er sich mit den Zusammenhängen zwischen paratextuellen Elementen und Autorschaft auseinander und weist dar81 auf hin, dass es sich um „einen Text mit vielen ‚Autoren‘“ handele und der Anteil Hoyers/Hartherns am Text den eines Lektorats und einer Herausgabe deutlich über82 steige. Mit dem Hinweis, dass sich der Text aus verschiedenen Bausteinen, welche teilweise nicht klar auktorial zuzuordnen sind, zusammensetze, entscheidet sich Armstrong dennoch dafür, durchgängig von Wegeners Text zu sprechen, um so ei83 nen angenehmeren Lesefluss zu gewährleisten. Ähnlich wie bei Hausman wird auch hier die geschlechtliche und namentliche Eigenindentifikation des angesprochenen Subjekts ignoriert. Diese Fehlzuweisung Armstrongs lässt sich auch nicht durch seine stärkere Trennung zwischen extra- und intratextueller Ebene auflösen, da er sich einerseits in Bezug auf die Quellenmaterialen zu Man into Woman auf Haires Ausführungen zu verlassen scheint, andererseits aber eine genau gegenläufige Identifikationszuweisung vornimmt. Ein wichtiger und positiver Unterschied zu Hausman und anderen *Forscher*innen ist hingegen, dass Armstrong in seiner Besprechung des Haupttextes konsequent in der Sprache des literarischen Narrativs bleibt und keine unreflektierten Übertragungen in eine vermeintliche historische Realität vornimmt. Er bewegt sich in seinem Beitrag somit zumindest partiell aus der ‚autobiographischen Authentizitätsfalle‘ heraus.

78 Vgl. Herrn 2005, S. 209; Herrn bezieht sich hierbei auf folgende Quelle: Hirschfeld, Magnus: L’Amour et la Science, Voilà, 01.07.1933, Nr. 119, S. 6. 79 Vgl. Armstrong 1998, S. 165. 80 Vgl. ibid. 81 „a text with many ‚authors‘“, ebd., S. 170. 82 Vgl. ibid. 83 Ebd., S. 283.

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Diesen Schritt schafft in Ansätzen auch Eliza Steinbock mit ihren somatechnischen Überlegungen, doch verstellt sie sich durch ihre Vermengung der extra- und intratextuellen Ebene den Weg zu einem noch produktiveren Analyseergebnis. Steinbocks Argumentationslinie stützt sich stark auf das Gedankenkonstrukt, das Sandy Stone in ihrem Posttranssexual Manifesto darlegt. Ausgehend von der Kritik daran, dass Transsexuelle nicht an einem intelligiblen Diskurs teilzuhaben scheinen, 84 versucht Steinbock sich der Frage nach einer „Trans-Sprache“ kinematographisch 85 zu nähern, indem sie sich mit der „‚Sprache‘ des Kinos“ an ihr Analyseobjekt Man into Woman wendet. Steinbocks Grundgedanken und Thesen erscheinen dabei zunächst sehr fruchtbar: „I believe that by analyzing the discourse of texts on transsexuality as montage or edited material I will be able to propose a way in which transsexuality may make sense in the terms of its expression in ‚cuts‘. This suggests that transsexuality is not primarily about sex or gender, but about the presentation of material, that is, about experimenting with formal aesthetics of corporeal experience. Texts on transsexuality include a range of medical sources, sociological treatments, as well as personal accounts. Just as with cinematic text, the intended audience, the message, and the framing gaze all influence the choice of certain editing techniques and 86

not others.“

Problematisch wird Steinbocks Ansatz jedoch genau an dem Punkt, wo sie diese Grundgedanken mit ihrer Interpretation der Genre- und Autorenfragen zusammen87 liest. Sie ordnet den Text als teilweise autobiographisch ein, spricht aber durch88 gängig von Memoiren und verweist auf deren stark editierte Form. In sehr offensichtlicher Anlehnung an Stone werden von ihr auch die intra- und extratextuellen auktorialen Zusammenhänge zwischen Herausgeber, vermeintlicher Autorin und deren Pseudonymen dargelegt – mit dem Hinweis, dass es unklar sei, wer als Erzäh89 ler dieses Textes fungiert. Dennoch spiegelt sich dies in ihrer Analyse, in der sie 90 beständig von „Elbes Text“ spricht, nicht wider. Vielmehr ordnet sie jegliches textliche Bestreben Elbe zu und stellt folgende Behauptung auf:

84 „trans language“, Steinbock 2009, S. 128. 85 „‚language‘ of cinema“, ibid. 86 Ebd., S. 139f. 87 Vgl. ebd., S. 142. 88 Vgl. ebd., S. 139. 89 Vgl. ebd., S. 142; für entsprechende Ausführungen, vgl. Stone 2006, S. 224. 90 „Elbe’s text“, Steinbock 2009, S. 130; Steinbock benutzt zudem Formulierungen wie „her cuts“, „transsexuals such as Elbe negotiate“ oder „the effort that Elbe undertakes to draw a literary portrait of her life“, ebd., S. 139, S. 141 u. S. 143.

52 | »W IE L ILI ZU EINEM RICHTIGEN M ÄDCHEN WURDE « „However, even if a transsexual like Elbe commits to narrating a compressed version of her life with montage sequences, she does not necessarily obey the continuity (medical) system of editing. To specify this point, I want to look more closely at Elbe’s writing, which may be perceived as conventional in its use of gendered language. When translated into filmic terms, however, it can be appreciated anew for the ways in which it draws on editing techniques that 91

are used in the continuity system, yet to different effect.“

Mit einer solchen Aussage ordnet Steinbock Elvenes jeden einzelnen ‚Schnitt‘, das heißt jede einzelne technische Bearbeitung des Textes zu und impliziert eine Handlungsmacht auf deren Seite, die in ihrer Ausschließlichkeit zweifelhaft erscheint. Denn Elvenes war eben nicht die alleinige Schnitttechnikerin ihrer eigenen Lebensgeschichte, um in Steinbocks Terminologie zu bleiben. In der Debatte um die Subjektivität transsexueller Individuen scheint Sandy 92 Stone, auf deren Ausführungen Steinbock mit ihrer kinematographischen Textanalyse reagiert, eine genau entgegengesetzte Position einzunehmen, da sie aus Man into Woman keine Agency Elbes extrahieren kann und dies folglich auch für den Theoriebereich konstatiert: „As with males theorizing about women from the beginning of time, theorists of gender have seen transsexuals as possessing something less than agency. As with ‚genetic‘ ‚women‘, transsexuals are infantilized, considered too illogical or irresponsible to achieve true subjec93

tivity.“

Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass Stone sowohl den Authentizitätsfaktor als auch die Zuschreibung, dass es sich um Elvenes’ ‚wahre Geschichte‘ hande94 le, in Frage stellt und von einem Prozess spricht, in dem „eine plausible Geschich95 te“ konstruiert werde, mit dem Effekt, dass „authentische Erfahrung durch eine bestimmte Art von Erzählung ersetzt wird – eine, die die alten konstruierten Posi96 tionen aufrechterhält.“ Obwohl Stone Man into Woman als eine „teilweise auto-

91 Steinbock 2009, S. 141. 92 Allucquére Rosanne Stone veröffentlicht ihre Reaktion auf Janice Raymonds The Transsexual Empire unter dem ihr dort zugeschriebenen Namen, vgl. Raymond, Janice G.: The Transsexual Empire – The Making of the She-Male: A fascinating look at transsexual operations and the ‚cures‘ they promise, Boston 1979. 93 Stone 2006, S. 229f. 94 Vgl. ebd., S. 230 u. S. 233f. 95 „a plausible history“, ebd., S. 230. 96 „authentic experience is replaced by a particular kind of story, one that supports the old constructed positions.“, ibid.

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biographische Darstellung“ klassifiziert, schreibt sie dem Text auf Grund dieser Authentizitätsproblematik dennoch keinen Platz in einem „effektiven Gegendis98 kurs“ zu. Vielmehr leitet sie aus den pseudonymen auktorialen Verhältnissen zwischen Hoyer und Harthern sowie Elbe, Wegener und Sparre ab, dass es sich bei Man into Woman um einen Text ‚aus zweiter Hand‘ handele und weist textstrategi99 sche Entscheidungen Hoyer zu. Dementsprechend bleibt Stone bei ihren analytischen Ausführungen auf der intratextuellen Ebene und bietet mit ihrer Auseinandersetzung keine Übersetzung der Narration in eine vermeintliche historische Realität an, was ihre Argumentation ungemein stärkt. Bezüge zur extratextuellen Ebene stellt Stone hauptsächlich über paratextuelle Elemente her – insbesondere über die Man into Woman eingeschriebene Genre-Zuordnung – und bietet für diese folgenden Analysegedanken an: „each of these accounts is culture speaking with the voice 100 of the individual.“

2.2 A UTOBIOGRAPHIE - THEORETISCHE A NSÄTZE In Bezug auf die bisher in der Forschung deutlich werdenden divergierenden Zugänge, welche sich zwischen der Kritik an mangelnder Agency, der Zuschreibung einer absoluten Subjektivität und dem wissenschaftlichen Entzug von Agency zu bewegen scheinen, bietet Stones Aussage auch gattungstheoretisch eine Basis, von der aus es möglich ist, sich einer methodisch sinnvollen Lesart von Fra Mand til Kvinde zu nähern. Gerade das Verhältnis zwischen der auktorialen Position und Funktion des Subjekts, dem Text selbst und der kontextuellen Kultur- sowie Zeitgeschichte erscheinen zentral in der Auseinandersetzung mit der Fra Mand til Kvinde eingeschriebenen Gattungsvorstellung, die den wissenschaftlichen Lektüremodus – wenn auch mit verschiedenen Ergebnissen – nachhaltig beeinflusst. Die Bezugnahme auf das autobiographische Genre – ob in Vereinnahmung oder Abgrenzung dazu – ist allen oben erwähnten Texten immanent. Die gattungstheoretische Reflexion eines solchen Bezuges fehlt jedoch zu großen Teilen, so dass der Blick sowohl auf den eigenen Lektüremodus als auch auf die charakteristischen historiographischen und literarischen Eigenheiten des Textes verstellt wird oder zum Teil ganz verloren geht.

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„partially autobiographical account“, Stone 2006, S. 224.

98

„effective counterdiscourse“, ebd., S. 230.

99

Vgl. ebd., S. 224f. u. S. 233; hierbei geht Stone fälschlicherweise davon aus, dass es sich bei Andreas Sparre um den Geburtsnamen und bei Einar Wegener um einen Künstlernamen handele.

100 Ebd., S. 229.

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2.2.1 Disziplinäre Polarität An der gattungstheoretisch problematischen Polarität von Geschichts- und Literaturwissenschaft möchte ich ansetzen, um zu untersuchen, inwieweit sich unterschiedliche theoretische Konstrukte auf Fra Mand til Kvinde anwenden lassen und auf welche Art und Weise sich daraus eine sowohl dem Text als auch meinem Erkenntnisinteresse entsprechende Methode herleiten lässt. Hierbei orientiere ich mich zunächst an Überlegungen von Dagmar Günther, welche eindrücklich darlegt, dass eine Verschmelzung der disziplinär unterschiedlichen Arbeitsweisen unabdingbar ist, um sich Texten im Rahmen einer autobiographischen Gattungsvorstellung sinnvoll nähern zu können. Die frühe hermeneutische Autobiographie-Theorie, die bis heute in die theoretische und populäre Rezeption nachwirkt,101 schreibt sich in Anlehnung an Wilhelm Diltheys Postulat von der Selbstbiographie als der „vollkommenste[n] Explikati102 103 on“ vom „Verstehen des Lebens“ und der „geschichtlichen Beziehungen, in 104 die es verwebt ist“ in die Tradition eines historiographischen Gattungsdiskurses 105 106 ein. Doch bereits Hans Glagau und Werner Mahrholz weisen darauf hin, dass der Wert der Autobiographie als historische Quelle durchaus in Zweifel gezogen werden kann und es dementsprechend einer genrespezifischen Kontextualisierung bedarf, um sich diesem Wert sinnvoll zu nähern.

101 Auf diesen Einfluss weist besonders Jerker Spits hin, wobei er die Virulenz in wissenschaftlichen Auseinandersetzungen nur bis in die 1970er Jahre nachvollzieht, vgl. Spits, Jerker: Fakt und Fiktion: Die Autobiographie im Spannungsfeld zwischen Theorie und Rezeption, Leiden 2008, S. 21, Open Access: https://openaccess.leidenuniv.nl/bitstream/ handle/1887/12931/Thesis.pdf?sequence=1 (zuletzt eingesehen am 30.03.2015); bei Spits sowie bei Cornelia Hild finden sich zudem ausführliche aktuelle und kritische Abrisse der hermeneutischen Autobiographie-Theorie sowie weiterer theoretischer Entwicklungen, vgl. Hild, Cornelia: „Not Blood Relations, Ink Relations“ Autobiographie und Fiktion, München 2007, Open Access: http://edoc.ub.uni-muenchen.de/9866/1/ Hild_Cornelia.pdf (zuletzt eingesehen am 30.03.2015). 102 Dilthey, Wilhelm: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Gesammelte Schriften, Band VII, Göttingen 1958 (1907-1910), S. 204. 103 Ebd., S. 199. 104 Ebd., S. 204. 105 Vgl. Glagau, Hans: Die moderne Selbstbiographie als historische Quelle. Eine Untersuchung, Marburg 1903, S. 1ff. 106 Vgl. Mahrholz, Werner: Deutsche Selbstbekenntnisse: Ein Beitrag zur Geschichte der Selbstbiographie von der Mystik bis zum Pietismus, Berlin 1919, S. 8.

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Fast ein Jahrhundert später konstatiert Dagmar Günther jedoch weiterhin eine meist unzureichende Auseinandersetzung mit diesem Genre im historiographischen 107 Alltag – eine Feststellung, die sich, wie ich bereits gezeigt habe, auch in vielen der Forschungsbeiträge zu Fra Mand til Kvinde manifestiert. Günther bemängelt neben der unreflektierten Übertragung von soziokulturellen Daten zu Recht auch die validierende Nutzung autobiographischer Dokumente innerhalb der „anthroplo108 gisch-moderne[n] Kategorie der ‚gelebten Erfahrung‘“ – diese diene lediglich der Illustration: „Am Anfang stehen demnach nicht die Texte, sondern Wirklichkeits109 annahmen, die die ‚Lebenserinnerungen‘ je nachdem negieren oder bestätigen“. So entsteht der Eindruck, als hätte sich seit Mahrholz’ – unter diesen Umständen fast progressiv anmutenden – Wertebestimmung von der Selbstbiographie „als Zeugnis der Lebensstimmung einer Zeit, als Kundgabe der ungeschminkten Gefüh110 le, Ansichten und Aussichten an einem bestimmten geschichtlichen Zeitpunkt“ nicht viel getan in der historiographischen Auseinandersetzung mit dem Genre. Auch Jerker Spits’ Hinweis, dass „man der Autobiographie als zuverlässiger 111 Quelle heutzutage wesentlich skeptischer gegenüber“ stehe, mutet – zumindest auf historiographischer Ebene – etwas praxisfern an, da sich selbst solch frühe theoretische Überlegungen weiterhin selten reflektiert in zeitgenössischen Gebrauchs112 analysen widerspiegeln. 2.2.2 Wirklichkeitsabbildungen zwischen Wahrheit, Selektivität und Referentialität Der zentrale Referenzpunkt im historiographischen Gebrauch autobiographischer Schriften organisiert sich um Konzepte von ‚historischer Wirklichkeit‘, welche sich aus solchen Texten extrahieren lasse. Ihren Ursprung findet diese ‚Wirklichkeit‘ im Zusammenspiel der angenommenen Authentizität – angelehnt an die Vorstellung eines authentischen Charakters anderer ‚Ego-Dokumente‘ wie dem Brief oder dem

107 Vgl. Günther, Dagmar: „‚And now for something completely different‘ – Prolegomena zur Autobiographie als Quelle der Geschichtswissenschaft“, in: Historische Zeitschrift, 2001, Band 272, S. 25-61, S. 36-39; Günther stellt hier drei typische Lesarten der Autobiographie im historiographischen Alltag vor. 108 Ebd. S. 39. 109 Ibid. 110 Mahrholz 1919, S. 8. 111 Spits 2008, S. 33. 112 Mit Gebrauchsanalysen meine ich solche Analysen, die autobiographische Schriften ausschließlich als Quellen benutzen (und somit oft auf eine Zweckform reduzieren), die Gattung an sich aber nicht zum zentralen Untersuchungsgegenstand erklären.

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Tagebuch – mit dem der Gattung eingeschriebenen ‚Wahrheitsgebot‘. Doch stellt Jacques Voisine heraus, dass „Wahrheit […] auf keinen Fall mit der zeitlichen 115 Abfolge von Taten und Worten verwechselt werden“ dürfe und weist damit auch auf die Grenzen eines solchen Begriffes hin. In seiner Virulenz ist er jedoch weiter116 hin existent, wie Annegret Heitmann deutlich macht und sollte dementsprechend auch in Bezug auf die zu untersuchenden Texte berücksichtigt werden. Der Begriff ‚Wirklichkeit‘ bietet sich zunächst als sinnvollerer Analyseparameter an, da er zumindest eine Kontextualisierung erlaubt, die sich – wenn zunächst auch nur geringfügig – vom ‚Wahrheitskorsett‘ abhebt. In diesem Sinne merkt Günther an, dass es vielmehr als die ‚Wahrheit‘ „die kommunikative Wirklichkeit [ist], 117 die in der (traditionellen) modernen Autobiographie transportiert wird“ – eine Unterscheidung, die noch nuancierter bei Annette Runte deutlich wird, welche insistiert, dass „intelligible Aussagekomplexe […] bekanntlich nie rein informativen Data gleichkommen [können], weil die Tatsachen, die sie codieren, immer schon 118 durch bestimmte Sinn- und Wissenshorizonte vorstrukturiert sind.“ Für die historiographische Auseinandersetzung erscheint somit die sich wechselseitig kontextualisierende Beziehung zwischen ‚Wahrheit‘ und ‚Wirklichkeit‘ von Interesse, wobei zum einen eine autobiographische ‚(Un-)Wahrheit‘ von einer historischen ‚Wirklichkeit‘ vorstrukturiert wäre, zum anderen die autobiographische ‚(Un-)Wahrheit‘ diese spezifische ‚Wirklichkeit‘ dann aber auf mehr als einer Ebe119 ne transportieren könnte. Partiell wird dies schon bei Mahrholz deutlich: „Die

113 Den Begriff ‚Ego-Dokumente‘ habe ich von Dagmar Günther übernommen, vgl. Günther 2001, S. 25; zum Brief und zum Tagebuch als angenommene ‚authentische‘ Dokumente in Bezug auf Ein Mensch wechselt sein Geschlecht, vgl. Runte 1996, S. 445. 114 Insbesondere Roy Pascal hat sich – neben der Ästhetik – mit dem gattungsprägenden Verhältnis zur ‚Wahrheit‘ auseinandergesetzt, vgl. Pascal, Roy: Design and Truth in Autobiography, London 1960. 115 Voisine, Jacques: „Vom religiösen Bekenntnis zur Autobiographie und zum intimen Tagebuch zwischen 1760 und 1820“ (1974), in: Niggl, Günther (Hg.): Die Autobiographie – Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Darmstadt 1989, S. 392414, hier S. 412. 116 Vgl. Heitmann, Annegret: Selbst Schreiben – Eine Untersuchung der dänischen Frauenbiographik, Frankfurt am Main 1994, S. 13. 117 Günther 2001, S. 32. 118 Runte 1996, S. 414; konträr dazu bescheinigt Runte der ‚wissenschaftlichen Rede‘, diesen Transfer problemlos leisten zu können, vgl. ebd. S. 412. 119 Bernd Neumann verweist in diesem Sinnzusammenhang auf die Unterwerfung unter normative gesellschaftliche Regeln, vgl. Neumann, Bernd: Identität und Rollenzwang. Zur Theorie der Autobiographie, Frankfurt am Main 1970, S. 24.

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Selbstbiographie ist in dem, was sie verschweigt, die deutlichste Spiegelung der letzten Einstellungen des Menschen zu seiner Umgebung, zu seiner Zeit, zu den sie 120 beherrschenden Gedanken und Gefühlen.“ Diese Selektivität bezüglich der Inhalte hat jedoch weitreichende Implikationen und geht über ein Zusammenspiel mit der ‚Wirklichkeit‘ hinaus. Hier arbeiten ne121 ben Günther insbesondere literaturwissenschaftliche *Theoretiker*innen den oft 122 übergangenen Abstand zwischen Ereignis und Erinnerung heraus. Bei der Überbrückung dieses Abstandes scheint der Begriff ‚Referentialität‘ Abhilfe zu schaffen, da er, laut Annegret Heitmann, die sich explizit gegen eine Verwendung einer mo123 ralischen Kategorie wie ‚Wahrheit‘ als Analyseparameter ausspricht, „ein zwar nicht eindeutig geklärtes, aber doch spezielles Verhältnis zur Wirklichkeit, das sich 124 von der Fiktion – zunächst einmal – unterscheidet“, abbilden könne. Mit diesem 125 Begriff, den sie als Teil einer Gruppe von sechs Faktoren, die die Autobiographie charakterisieren, vorstellt, lehnt sich Heitmann an Phillippe Lejeune an. Dieser bezeichnet „[d]ie Biographie und die Autobiographie […], im Gegensatz 126 zu allen Formen der Fiktion, [als] referentielle Texte“, bindet diese ‚Referentiali127 tät‘ jedoch wieder an eine mögliche Überprüfung der ‚Wahrheit‘. Im Gegensatz dazu unterscheidet sich Heitmann mit ihrer literaturwissenschaftlichen Einbettung

120 Mahrholz 1919, S. 8. 121 Vgl. Günther 2001, S. 53. 122 Vgl. Pascal 1960, S.9; vgl. Gusdorf, Georges: „Voraussetzungen und Grenzen der Autobiographie“ (1956), in: Niggl, Günter (Hg.): Die Autobiographie – Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Darmstadt 1989, S. 121-147, hier S. 139; vgl. Abbott, H. Porter: „Autobiography, Autography, Fiction: Groundwork for a Taxonomy of Textual Categories“, in: New Literary History, Spring 1988, 19:3, S. 597-615, hier S. 601f.; vgl. Heitmann 1994, S. 43; vgl. Runte 1998, S. 123; hierbei möchte ich noch einmal daran erinnern, dass eine selektive Praxis sowie das problematische Verhältnis zwischen Ereignis und Erinnerung nicht nur (auto)biographische Texte betrifft, sondern durchaus auch die für diese Arbeit relevanten medizinhistorischen Abhandlungen. 123 Vgl. Heitmann 1994, S. 46. 124 Ebd., S. 43. 125 Ibid.; die fünf weiteren Faktoren sind ‚Identität‘, ‚Selektivität‘, ‚Duplizität der Zeitstruktur‘, ‚(Gattungs- oder Text-)Reflexivität‘ sowie ‚Rezeptionsvorgabe‘. 126 Lejeune, Phillippe: Der autobiographische Pakt, Frankfurt am Main 1994 (1975), S. 39. 127 Diese Idee von einer nachvollziehbaren ‚Wahrheit‘ wird auch bei Elizabeth Bruss, die sich kritisch mit Lejeunes Konzept auseinandersetzt, als eine der Grundannahmen über die Autobiographie bestätigt, vgl. Bruss, Elizabeth W.: „Die Autobiographie als literarischer Akt“, in: Niggl, Günter (Hg.): Die Autobiographie – Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Darmstadt 1989, S. 258-279, hier S. 274.

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der ‚Referentialität‘ in ein Mehr-Faktoren-Modell deutlich von der von Günther in der Geschichtswissenschaft kritisierten – und auch auf Lejeunes Modell zutreffenden – Reduktion von autobiographischen Quellen „auf ihre Inhalte, das ‚Gemeinte‘, 128 ihre referentielle Dimension“. 2.2.3 Dimensionen von Fiktion und Ästhetik 129

Das viel beschworene dichotome Paar von ‚Wahrheit und Dichtung‘, an dem sich ein großer Teil gattungstheoretischer Überlegungen zu autobiographischen Schriften abarbeitet, werde, so Günthers Kritik, „im autobiographischen Selbstverständnis 130 zunehmend als Gegensatz begriffen“. Jene Polarität erweitere dabei die Kluft zwischen historiographischer und literaturwissenschaftlicher Rezeption. Diese vermeintlich aufklaffende Lücke zwischen faktischem und ästhetischem Anspruch, die in der theoretischen Betrachtung eigentlich schon von Roy Pascal geschlossen 131 wird, führt zudem zu einer unterschiedlichen Konnotation des Begriffsbereichs um ‚Dichtung‘ und ‚Fiktion‘. Während auf der einen Seite die Implikation entsteht, dass historischer und ästhetischer Anspruch sich gegenseitig ausschließen, wird auf der anderen Seite, laut Günther, „Dichtung […] vielmehr mit ‚Lüge‘ konnotiert, von der sich die Wahrheit als historische Korrektheit scharf absetzt.“ Dieser Gleichsetzung von ‚Fiktion‘ und ‚Lüge‘ widerspricht bereits Lejeune vehement. Er versteht die ‚Lüge‘ als eine autobiographische Kategorie und betont, dass sie nicht in 132 den Bereich der Fiktion gehöre. Obwohl Lejeune eine relativ klare Grenze zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion 133 zieht, tut sich meines Erachtens gerade auf dieser Linie – insbesondere in Beziehung zum Roman – ein gattungstheoretisches Spannungsfeld auf, das sich Grenz134 überschreitungen nicht erwehren kann. So betrachtete schon Glagau die Selbst-

128 Günther 2001, S. 45. 129 Diese Dichotomie lehnt sich explizit an Goethes Werk an, vgl. Goethe, Johann Wolfgang: Aus meinem Leben. Wahrheit und Dichtung, Berlin 1870 (1811-1833). 130 Günther 2001, S. 34. 131 Pascal schreibt über die Autobiographie, dass sie „Resultat eines Zusammenklangs von Ereignissen, Überlegungen, Stil und Charakter“ sei, Pascal, Roy: „Die Autobiographie als Kunstform“ (1959), in: Niggl, Günter (Hg.): Die Autobiographie – Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Darmstadt 1989, S. 148-157, hier S. 154. 132 Vgl. Lejeune 1994, S. 32. 133 Auf diese Unterscheidung rekurriert auch seine Kritikerin Bruss, vgl. Bruss 1989, S. 269. 134 Wolfgang Iser betont in seiner Theorie der Fiktionalität, dass Fiktion nicht in einfacher Opposition zur Wirklichkeit stehe, denn diese vorgestellte Opposition „impliziert als

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biographie als „eine Tochter des Romans“ und resümierte in seiner Untersuchung, „dass die Ausscheidung der romanhaften Bestandteile aus der selbstbiogra136 phischen Quelle für den Historiker das hauptsächliche Arbeitsfeld bilden wird.“ Die Irrelevanz vermeintlich ‚fiktiver‘ Bestandteile wird somit schon früh in einen historiographischen Gattungsdiskurs eingeschrieben. Während Lejeune in seinem Pakt-Modell klar zwischen Roman und Autobio137 graphie unterscheidet, sieht Günter Niggl Letztere „im Überschneidungsfeld von Selbstdarstellung und Roman, Psychologie und Geschichtsschreibung und damit im 138 Grenzgebiet von fiktiver und nichtfiktiver Literatur“. Ähnlich äußert sich auch Porter Abbott, der die Autobiographie noch konkreter zwischen ihren „textuellen 139 Nachbarn“ – der Geschichte und dem literarischen Genre des Romans – verortet. Damit gelingt es ihm, sich von der Eindimensionalität der Kategorien des Fakti140 schen sowie des Fiktiven zu lösen und mit dem Begriff ‚Autographie‘ eine diskursiv eigenständige Kategorie anzubieten. Die literarisch-ästhetische Komponente, die der Begriff ‚Dichtung‘ – um noch einmal auf die Goethe’sche Ausgangspaarung zurückzukommen – ebenso umfasst, hat in den bisher vorgestellten theoretischen Überlegungen kaum eine Rolle gespielt. Die Auseinandersetzung beschränkt sich auf Fragen nach der Fiktionalität innerhalb der autobiographischen Schrift und blendet insofern eine Literarizität sowie deren Implikationen zunächst einmal aus. Neben Pascal, der diese Verschränkungen bereits behandelt, ist es Georges Gusdorf, der auf der zentralen Stellung der 141 Autobiographie als Kunstwerk im literarischen Bereich insistiert. Oliver Sill 142 spricht sich ebenfalls gegen die Fixierung „auf den Status einer Gebrauchsform“

‚stummes Wissen‘ immer ein Bezugssystem, das für den Akt des Fingierens als Grenzüberschreitung nicht mehr in Anschlag gebracht werden kann.“, Iser, Wolfgang: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt am Main 1991, S. 23. 135 Glagau 1903, S. 5. 136 Ebd., S. 168. 137 Vgl. Lejeune 1994, S. 29ff. 138 Niggl, Günter: „Einleitung“, in: Niggl, Günter (Hg.): Die Autobiographie – Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Darmstadt 1989, S. 1-17, hier S. 7. 139 „textual neighbors“, Abbott 1988, S. 598. 140 ‚Autographie‘ kann hier als Überbegriff ähnlich dem der ‚Ego-Dokumente‘ verstanden werden, vgl. ebd., S. 61; mehr zu Abbotts theoretischer Konzeptualisierung von ‚Autographie‘ in 2.2.4. 141 Vgl. Gusdorf 1989, S. 143. 142 Sill, Oliver: Zerbrochene Spiegel. Studien zur Theorie und Praxis modernen autobiographischen Erzählens, Berlin 1991, S. 42.

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aus und betont, dass „jede Autobiographie in ihrer literarischen Eigengesetzlichkeit 143 anzuerkennen [ist].“ Diese eigengesetzliche literarische Textkonstitution sei es dann auch, die, wie Günther fordert, von *Historiker*innen thematisiert werden müs144 se. Damit wendet sich Günther explizit gegen eine an Umberto Ecos Unterschei145 dung zwischen ‚Interpretieren‘ und ‚Benutzen‘ angelehnte disziplinäre Teilung vom Arbeiten mit Autobiographien in der Geschichtswissenschaft und dem Arbei146 ten über Autobiographien in der Literaturwissenschaft und resümiert, dass insbesondere für die historiographische Nutzung „mit Autobiographien arbeiten auch 147 über Autobiographien arbeiten [heißt].“ Dies verstehe ich als einen Appell, sich nicht mit der Reduktion auf Inhalte den Blick auf formalästhetische Aspekte zu verstellen, welche im Umkehrschluss die inhaltlichen weiter bereichern können. In Anlehnung daran erscheint mir James Ol148 neys an Pascal angelehnte Vorstellung von der Auseinandersetzung mit der Autobiographie als „einer Untersuchung von der Art wie Erfahrung in Literatur ver149 wandelt wird“ hier als sehr fruchtbar, um die Transformationsprozesse zwischen Geschichte und Literatur transparenter zu machen. 2.2.4 Versuche der Gattungseingrenzung Wird von einer grundsätzlichen Literarizität anderer Genres ausgegangen – wie der Biographie, den Memoiren oder dem Tagebuch – ließe sich Olneys Vorstellung leicht auch auf benachbarte Untersuchungsfelder übertragen. Zum einen hätte dies zwar den Effekt, dass es sich nicht um eine explizit die Autobiographie-Forschung betreffende Aussage handeln würde, zum anderen zeugt es einmal mehr von der Durchlässigkeit der autobiographischen Gattungsgrenzen, die sich ohnehin schwer 150 erfassen lassen.

143 Sill 1991, S. 42. 144 Vgl. Günther 2001, S. 59. 145 Vgl. Eco, Umberto: Die Grenzen der Interpretation, München/Wien 1992 (1990), S. 47ff. 146 Vgl. Günther 2001, S. 58f. 147 Ebd., S. 61. 148 Pascal spricht von „life organised in […] literary form“, Pascal 1960, S. 2. 149 Olney, James: „Autobiography and the Cultural Moment: A Thematic, Historical, and Bibliographical Introduction“, in Olney, James (Hg.): Autobiography: Essays Theoretical and Critical, Princeton 1980, S. 3-27, hier S. 10. 150 Mehrere *Theoretiker*innen weisen auf die Schwierigkeiten einer Definition des Genres hin, vgl. Olney 1980, S. 4f.; vgl. Heitmann, S. 51.

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Hier drängt sich der bereits bei Stone und Heede skizzierte Verweis auf die ähnliche Funktionsweise beim geschlechtlichen Abgrenzungsdiskurs auf. Analog zu der dort aufgezeigten und an bestimmte Parameter gebundenen ‚Ursprungsdebatte‘ um transsexuelle Subjekte lässt sich etwas Ähnliches in Bezug auf eine vermeintliche ‚erste Autobiographie‘ nachvollziehen, wie Olney so anschaulich aufzeigt: „The first autobiography was written by a gentleman named W. P. Scargill; it was published in 1834 and was called The Autobiography of a Dissenting Minister. Or perhaps the first autobiography was written by Jean-Jacques Rousseau in the 1760s (but he called it his Confessions); or by Michel de Montaigne in the latter half of the sixteenth century (but he called it Essays); or by St. Augustine at the turn of the fourth-fifth century A.D. (but he called it his Confessions); or by Plato in the fourth century B.C. (but he wrote it as a letter, which we know as the seventh epistle), or... and so on. Priority depends on whether we insist upon the word: […] three Greek elements meaning ‚self-life-writing‘ were combined to describe a literature already existing under other names (‚memoirs‘ and ‚confessions‘) for example.“151

An diese Formation knüpft bereits Georg Misch seine enzyklopädisch anmutende Definition an, die nicht mehr aussagt als der Begriff ‚Autobiographie‘ bereits bein152 haltet. Dabei ist es interessant zu sehen, wie intensiv sich Misch in seinem Werk an den als ‚Bekenntnisse‘ deklarierten Schriften von Augustinus von Hippo und 153 Jean-Jacques Rousseau abarbeitet. Diese Bezugnahme auf Augustinus’ „Confes154 155 siones“ und Rousseaus „Les Confessions“ ist von Beginn an tief in der gat-

151 Olney 1980, S.5f. 152 „Sie läßt sich kaum näher bestimmen als durch Erläuterung dessen, was der Ausdruck besagt: die Beschreibung (graphia) des Lebens (bios) eines Einzelnen durch diesen selbst (autos)“, Misch, Georg: „Begriff und Ursprung der Autobiographie“ (1907/1949), in: Niggl, Günter (Hg.): Die Autobiographie – Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Darmstadt 1989, S. 33-54, hier S. 38; Voisine verweist auf eine ähnliche, aber explizit dem Wörterbuch entnommene Beschreibung, vgl. Voisine 1989, S. 115. 153 Vgl. Misch, Georg: Die Geschichte der Autobiographie, Erster Band, Das Altertum, Leipzig/Berlin 1907, S. 402-440 (Augustinus); vgl. Misch, Georg: Die Geschichte der Autobiographie: Vierter Band, Zweite Hälfte, Von der Renaissance bis zu den autobiographischen Hauptwerken des 18. und 19. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1969, S. 832-886 (Rousseau). 154 Vgl. Aurelius Augustinus: Bekenntnisse/Confessiones, Wiesbaden 2008 (397-401 n. Chr.). 155 Vgl. Rousseau, Jean-Jacques: Les Confessions. Livres I à VI, Genf 1782; vgl. Rousseau, Jean-Jacques: Les Confessions, Livres VII à XII, Genf 1789.

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tungstheoretischen Auseinandersetzung verwurzelt und macht deutlich, wie stark das paratextuelle Signal des ‚Bekenntnisses‘ auch bei den Erstausgaben von Fra Mand til Kvinde und Ein Mensch wechselt sein Geschlecht in Richtung einer auto157 biographischen Rezeption weist. Gattungstheoretische Eingrenzungsversuche laufen aber – und das nicht nur den Roman betreffend – sowohl über Inklusions- als auch über Exklusionsmechanismen. Der Bezug auf vermeintlich angrenzende Genres stellt sich somit oft als gattungsdefinierend dar. Das ‚Bekenntnis‘ (auch ‚Beichte‘ oder ‚Apologie‘) wird nicht einstimmig in ein autobiographisches Genreverständnis integriert, sondern hat genau wie jede andere Form, so Elizabeth Bruss, keinen „‚angestammten‘ autobiogra158 phischen Charakter.“ Während Pascal fordert, dass Autobiographien keine Apo159 logien sein dürfen, bietet Voisine, der durchaus Gemeinsamkeiten aufzeigt und 160 dabei auf Rousseaus Schrift als Schnittstelle hinweist, sogar eine klare Unterscheidung zwischen beiden an: „die Autobiographie [ist] die Bestätigung des eigenen Ichs, während die Beichte die Bestätigung einer Ordnung ist, die der Sünder 161 übertreten hat“. Fra Mand til Kvinde ließe sich – Ego-Dokument oder nicht – in beide Genres einlesen. Ähnlich verhält es sich mit der bei Voisine angebotenen Unterscheidung zwischen Autobiographie und Memoiren und deren Arbeitsaufteilung zwischen der 162 Beschreibung der inneren und der äußeren Welt. Beide lassen sich – je nach Klärung der auktorialen Frage – bei Fra Mand til Kvinde wiederfinden. Zuletzt schafft

156 Auf Augustinus und/oder Rousseau beziehen sich von den besprochenen *Theoretiker*innen neben Olney und Misch auch Dilthey, Pascal, Spender, Voisine, Neumann, Lejeune und Heitmann. 157 Der dänische Untertitel spricht von ‚Bekendelser‘ (Bekenntnissen) während der deutsche eine ‚Lebensbeichte‘ ankündigt. Bei Man into Woman findet sich eine solche Bezeichnung nicht, doch wird mit der Unterstreichung der Parameter Authentizität und Wahrheit (An Authentic Record of a Change of Sex. The true story of the miraculous transformation of the Danish painter Einar Wegener (Andreas Sparre)) in eine ähnliche Richtung gewiesen. Elizabeth Bruss weist darauf hin, dass der Begriff ‚Bekenntnis‘ eine Auffassung des Autobiographischen bereits impliziert, vgl. Bruss 1989, S. 264; mehr zu Bruss’ Ausführungen der illokutionären Wirkung solcher Begriffe in 2.2.6. 158 Bruss 1989, S. 272. 159 Vgl. Pascal 1960, S. 16 u. S. 99ff. 160 Vgl. Voisine 1989, S. 393f. u. S. 398. 161 Ebd., S. 399; eine ähnliche Kategorisierung findet sich bei Misch und Neumann, vgl. Misch 1989, S. 50; vgl. Neumann 1970, S. 63. 162 Vgl. Voisine 1989, S. 399.

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es der Text, sich mit seinem in Teilen durchaus als fragmentarisch beschreibbaren 163 Stil auch noch in Voisines Darstellung des ‚intimen Tagebuchs‘ einzupassen. Domna Stanton attestiert diesen fragmentarischen Charakter jedoch auch der Autobiographie und macht genau daran den Unterschied zur Biographie deutlich. 164 Die Autobiographie zeichne sich demnach immer durch Unvollständigkeit aus, da sie nie das gesamte Leben – insbesondere das Sterben und den Tod – des Autors 165 abbilden könne. Auch hier würde sich Fra Mand til Kvinde, welches in seinen 166 fragmentarischsten Teilen, den Briefen, versucht, den Lebensbericht zu beenden, einer klaren Zuweisung entziehen. Ebenso wenig weist der bei Gusdorf betonte – und bei Voisine noch in Bezug auf die Memoiren angewandte – Unterschied zwischen biographischer Äußerlich167 keit und autobiographischer Innerlichkeit der Darstellungsformen eine deutlichere Richtung auf. Stephen Spenders Verschmelzung der inneren und der äußeren 168 Welt als typisches Charakteristikum der Autobiographie kommt einem Fra Mand til Kvinde beschreibenden Ansatz schon näher und bietet gemeinsam mit Gusdorfs Zugang einen Ausgangspunkt für die oft in Bezug auf die Historiographie angebrachte Kritik am faktischem Lesen, also am Lesen der Autobiographie als Biogra169 phie des Autors. Hieran lässt sich nun das semantisch am wichtigsten erscheinende Unterscheidungsmerkmal – das autos – exemplifizieren. Olney, der die unterschiedlichen Funktionen, die autos (Selbst), bios (Leben) und graphe (Schreiben) in der For170 schung eingenommen haben, aufschlüsselt, weist auf die entscheidende theoretische Fokusverschiebung vom bios zum autos hin, wonach das autos nicht mehr nur 171 als neutrales der Biographie beigefügtes Präfix verstanden wird. Das über einen Wahrheitsdiskurs hinausgehende und dadurch befreite Verständnis von bios spie-

163 Vgl. Voisine 1989, S. 407. 164 Vgl. Stanton, Domna C.: „Autogynography: Is the Subject Different?“, in: Stanton, Domna C. und Jeanine Parisier Plottel (Hg.): The Female Autograph, New York 1984, S. 5-22, hier S. 10. 165 Auch Olney hält dies für einen charakteristischen Unterschied, vgl. Olney 1980, S. 25. 166 Der Text wird durch eine Sammlung von Briefen zu Ende geführt, vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 180ff. 167 Vgl. Gusdorf 1989, S. 125 u. S. 143. 168 Spender, Stephen: „Confessions and Autobiography“, in: Olney, James (Hg.): Autobiography: Essays Theoretical and Critical, Princeton 1980 (1962), S. 115-122, hier S. 116. 169 Vgl. Olney 1980, S. 19f.; vgl. Abbott 1988, S. 603; vgl. Pascal 1989, S. 156. 170 Vgl. Olney 1980, S. 6. 171 Vgl. ebd., 19f.

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gelt sich besonders in Lejeunes Paktmodell und in Abbotts Überbegriff ‚Autographie‘ wieder. Während Lejeune weiterhin die Begriffe ‚Authentizität‘ und ‚Wahrheit‘ in Abgrenzung zur Fiktion bemüht, gruppieren sich diese lediglich um die von ihm als für die Autobiographie zentral und obligatorisch angesehene „Identität zwischen dem 172 Autor, dem Erzähler und dem Protagonisten“. Wie bei Lejeune kommt auch bei Abbott dem bios eine eingeschränkte Bedeutung zu. Dieser versucht sich mit dem Begriff ‚Autographie‘ zunächst einmal völlig davon zu lösen, um den Weg für eine neue Betrachtungsweise frei zu machen. Er verweist auf den Unterschied zwischen einem wahrheitsbezogenen faktischen Lesen und die auf die Identität des Autors gerichtete autographische Lesart, bei der die ‚Wahrheit‘ nur noch in Bezug auf die 173 Identitätsbildung eine Rolle spielt. Somit wird in diesem Diskurs die Figur des Autors zum deutlichsten Unterscheidungsmerkmal zur Biographie und zugleich zum Zentrum der Autobiographie-Theorie. 2.2.5 Schreiben zwischen Existenz und Nicht-Existenz des Autors Mit der Autorenfigur als neuem zentralen Ausgangspunkt drängt sich die Frage auf, wer diese Position in Bezug auf Fra Mand til Kvinde einnimmt. Während die dänische Erstausgabe diese Position nicht ausweist, sondern nur einen Titel und einen 174 Untertitel anbietet, wird in der deutschen Erstausgabe Lili Elbe die Autorschaft 175 zugeschrieben – mit dem Hinweis, dass Niels Hoyer als Herausgeber fungiert. Die englischsprachige Fassung markiert nur noch die Herausgabe durch Letzteren. Drei Versionen – drei verschiedene Ausgangspositionen. Auf welcher Grundlage lässt sich so eine Beziehung zwischen Autorschaft und Genre herstellen? Und an welche Person sollen theoretische Überlegungen zur Autorschaft geknüpft werden? In früheren Ausführungen habe ich bereits exemplarisch nachgezeichnet, dass 176 sich Fra Mand til Kvinde kaum in Lejeunes Paktmodell unterbringen lässt. Dieses Ergebnis lässt sich – trotz der sich unterscheidenden Autorenmarkierungen – auch auf Ein Mensch wechselt sein Geschlecht und Man into Woman übertragen. So gilt die Verwendung verschiedener Erzähler sowie verschiedener Erzählperspektiven für alle Ausgaben, was dazu führt, dass sie sich unter der Lejeune-Schablone

172 Lejeune 1994, S. 15. 173 Vgl. Abbott 1988, S. 613. 174 Die dänische Neuauflage aus dem Jahr 1988 weist Lili Elbe als Autorin aus. 175 Die deutsche Neuauflage von 1954 weist jedoch Niels Hoyer als Autor aus. 176 Vgl. Meyer, Sabine: „Divine Interventions. (Re)Birth and Creation Narratives in Fra Mand til Kvinde – Lili Elbes Bekendelser“, in: Kvinder, Køn og Forskning, Nr. 3-4, 2011, S. 68-76, hier S. 69f.

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als hybride Texte präsentieren, die zwischen Biographie und Autobiographie oszillieren. Von meiner damaligen Klassifikation von Fra Mand til Kvinde als „fiktiona177 lisierte, biographische Collage“ möchte ich jedoch Abstand nehmen, da sie mir zu kurz zu greifen scheint und für eine weiterführende Analysearbeit mit dem Text kaum methodisch fruchtbar ist, da sie unter anderem das autos völlig ausblendet. Zudem stellt sich die Frage, ob eine analytische Genrezuweisung mit entweder eher biographischem oder eher autobiographischem Fokus sich nicht ohnehin einschränkend auf die Position des autos im Text auswirkt und die Analysemöglichkeiten mehr einengt als erweitert. Denn auch ungeachtet der offenen Genreformation von Fra Mand til Kvinde erscheint mir, wie bereits in Anlehnung an Stone angedeutet, die Frage nach den auktorialen Verhältnissen als eine der wichtigsten in Bezug auf diesen Text. Es ist das autos, an dem sich die Diskussionen zu den Parametern ‚Agency‘ und ‚Identität‘ abspielen, wie bereits bei Abbotts Ausführungen zum autographischen Lesen deut178 lich wird. Stanton überträgt diese Beziehung auf das graphe und spricht in Anlehnung an Beatrice Didier von „der Eroberung von Identität durch das Schrei179 ben.“ Daran anschließend geht Heitmann, die den Schreibakt „im Mittelpunkt 180 des literaturwissenschaftlichen Interesses an der Autobiographik“ sieht, der Frage nach, ob für Elvenes mit diesem Schreibakt eine Identitätsgewinnung einhergeht. Sie weist jedoch auf die Schwierigkeiten hin, die sich daraus ergeben, dass nicht eindeutig nachvollzogen werden kann, wer die auktoriale Verantwortung für den 181 Text übernimmt. In Bezug auf Identität agiert also, wie bei Abbott illustriert, insbesondere das graphe mit dem autos. Ohne ein konkret wahrnehmbares autos lassen sich Fragestellungen nach ‚Identität‘ und ‚Agency‘ des im Text behandelten Subjekts nicht unmittelbar bearbeiten. In diesem Sinne thematisieren auch Voisine und Gusdorf das graphe als rückblickende Rekonstruktion des Lebens, welches die Voraussetzung für die Selbsterkenntnis des autos schaffe sowie einem daraus ge182 wonnen Sinn – einer Identität.

177 „fictionalized biographical collage“, Meyer 2011, S. 70. 178 Auch Olney weist auf den Zusammenhang zwischen autos und ‚Identität‘ hin, vgl. Olney 1980, S. 20. 179 „the conquest of identity through writing.“, Stanton 1984, S. 15; vgl. Didier, Béatrice: „Femme, identité, écriture: A Propos de L’Histoire de ma vie de Georges Sand“, in: Revue des Sciences Humaines, 1977, Nr. 4, Vol. 168, S. 561-576, hier S. 562. 180 Heitmann 1994, S. 9. 181 Ebd., S. 83f.; ‚Identität‘ ist einer der sechs Faktoren, die Heitmann als für die Autobiographie kennzeichnend definiert, vgl. ebd., S. 43. 182 Vgl. Voisine 1989, S. 398; vgl. Gusdorf 1989, S. 133; ähnliche Gedanken finden sich auch schon bei Pascal, vgl. Pascal 1989, S. 156.

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In Bezug auf Fra Mand til Kvinde stellt sich nun die Frage, wessen Identität sich im Schreibakt manifestiert, wenn das autos nicht klar zuzuordnen ist. Insbesondere in Anbetracht der paratextuellen Markierung ‚Bekenntnisse‘ kommt dieser Überlegung eine wichtige Bedeutung zu. Schon Stephen Spender weist darauf hin, dass diese von einem Subjekt ausgehen und an einen Empfänger adressiert sein 183 müssen. Und wenn, wie Spender argumentiert, durch das ‚Bekenntnis‘ die Wie184 deraufnahme des Subjekts in die Gemeinschaft erreicht werden soll, so scheint dies zunächst nur möglich zu sein, wenn Subjekt und autos identisch sind. Während der dänische Untertitel Lili Elbes Bekendelser noch eine auktoriale Verbindung 185 suggeriert, spiegelt der Text diese so nicht wider. Ist es also möglich, dass ‚Bekenntnisse‘ von einer anderen Person als dem Subjekt formuliert werden? Und was passiert dann mit der Identität und der Agency des vermeintlich ‚bekennenden‘ Subjekts? Runte löst diese Frage, indem sie sich der aus der Fallgeschichte übernommenen ‚doppelten Autorschaft‘ zuwendet, welche sich in die transsexuelle Lebensge186 schichte übertragen habe. Autobiographisch hergestellte Identität manifestiere sich ihres Erachtens auch für „die transsexuelle Variante des konventionellen Gen187 188 res“ durch „die psychosynthetische Funktion einer ‚leeren Rede‘.“ Bei einer Übertragung auf Runtes Vorstellungen von ‚doppelter Autorschaft‘ würde dies bedeuten, dass sich das textuelle Zusammenspiel der psychosynthetisch herausgearbeiteten Anteile nicht nur auf die Persönlichkeit des im Text besprochenen Subjekts bezieht, sondern dass sich das autos dementsprechend psychosynthetisch aus mehr als einer Person zusammensetzt. Runte nennt diese bereits als ‚sandwich‘-Diskurs angesprochene Verquickung der Rede von autobiographischem Subjekt und biographischem (Ko-)Autor in Anlehnung an Lejeune eine „Artikulation im Texttyp des 189 vécu, einer Heterobiographie in der Ichform.“ Inwieweit es dann bei den „still-

183 Vgl. Spender 1980, S. 120f. 184 Vgl. ebd., S. 120; bei Voisine ist das ‚Bekenntnis‘ noch an Sünde geknüpft, vgl. Voisine 1989, S. 398f. 185 Die deutschen und englischen Erstausgaben stellen diese Verknüpfung so nicht mehr her. 186 Vgl. Runte 1996, S. 412f. 187 Runte 1998, S. 123. 188 Ibid.; Psychosynthese ist ein vom italienischen Psychologen Roberto Assagioli geprägter Therapieansatz, bei dem von einem Modell der Psyche ausgegangen wird, das diese als Zusammenspiel verschiedener Teilpersönlichkeiten versteht, vgl. Assagioli, Roberto: Psychosynthesis. A Manual of Principles and Techniques, New York 1965. 189 Runte 2006, S. 128; vgl. Lejeune, Philippe: Je est une autre. L’autobiographie, de la littérature aux médias, Paris 1980, S. 236.

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schweigend zu ‚Heterobiographien‘“ gewordenen Texten noch möglich ist von ‚Identität‘ und ‚Selbst‘ eines Subjekts zu sprechen, bleibt fragwürdig. Runte konstatiert jedoch in Anlehnung an Foucaults Begriff einer ‚Geständnis-Wissenschaft‘ 191 zunächst eine Produktion von „Wissen und Identität auf beiden Seiten.“ Foucault macht in seinen Ausführungen deutlich, dass es sich beim Geständnis um ein Diskursritual handele, „in dem das sprechende Subjekt mit dem Objekt der Aussage zusammenfällt, und zugleich ist es ein Ritual, das sich innerhalb eines Machtverhältnisses entfaltet, denn niemand leistet sein Geständnis ohne die wenigstens virtuelle Gegenwart eines Partners, der nicht einfach Gesprächspartner, son192 dern Instanz ist“. Am Übergang vom Geständnis als Identitätsgarantie „zum Ge193 ständnis als Anerkennen bestimmter Handlungen und Gedanken als der eigenen“ manifestieren sich für Foucault die darin eingeschriebenen Wirkmechanismen. So werde auf Grundlage einer hierarchischen ‚Wahrheitsproduktion‘ eine ‚Individuali194 sierung‘ betrieben. Es sei dieser „privilegierte Moment der Individualisie195 196 rung“, welchen, so Foucault, „die Vorstellung von ‚Autor‘ konstituiert“. Hier greift Foucault in Anlehnung an Beckett die Frage „What does it matter 197 who is speaking“ auf. Er nimmt sich dieser aber weniger rigoros an als es Roland 198 Barthes in seiner Proklamation vom ‚Tod des Autors‘ tut. Foucault weist auf die historischen Entwicklungslinien der Akzeptanz von Textformen in Bezug auf die 199 daran geknüpfte Autorschaft hin und berücksichtigt im Zuge dessen, welche wichtige Rolle „die Autor-Funktion […] in unseren Vorstellungen von literarischer 200 Arbeit“ spielt. Dabei wird eine Distanz zu Lejeunes Vorstellungen deutlich, denn Foucault konstatiert: „It would be just as wrong to equate the author with the real writer as to equate him with the fictitious speaker; the author-function is carried out

190 Runte 1996, S. 440. 191 Ebd., S. 413; sie unterscheidet hier nicht zwischen Fallgeschichte und Lebensgeschichte. 192 Foucault 1983, S. 65. 193 Ebd., S. 62. 194 Vgl. ibid. 195 „privileged moment of individualization“; Foucault 1979, S. 141-160, hier S. 141. 196 „the notion of ‚author‘ constitutes“, ibid. 197 Foucault 1979, S. 141; bei Beckett heißt es jedoch „What matter who’s speaking“, Beckett, Samuel: „Texts for Nothing“ (1950-1952), in: Beckett, Samuel: The Complete Short Prose 1929-1989, New York 1995, S. 100-154, hier S. 109. 198 Vgl. Barthes, Roland: „Der Tod des Autors“ (1968), in: Jannidis, Fotis et al. (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart 2000, S. 185-193. 199 Vgl. Foucault 1979, S. 149. 200 „the author-function […] in our views of literary work“, ebd., S. 150.

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and operates the scission itself, in this division and this distance.“ Foucaults In202 teresse gilt dementsprechend nicht mehr der Frage danach, wer spricht, sondern unter welchen Umständen ein Subjekt einen Platz in der Ordnung des Diskurses 203 einnehmen kann. An dieser Stelle versucht sich Runte an Foucault anzuschließen, indem sie fragt: 204 „Aber wenn kümmert’s noch, wer spricht?“ Sie konstatiert, dass es in Bezug auf Transsexuellen-Bekenntnisse kaum relevant sei, welchen Anteil das Subjekt am Text hat, da diese Schriften „an einer Diskursform teilhaben, die Subjekteffekte al205 lererst bewirkt.“ Dabei verliert sie meines Erachtens jedoch die Frage nach dem Platz, den Trans*-Subjekte in der Diskursformation einnehmen können und sollten, völlig aus dem Blick und trägt zu deren Verschiebung in einen Objekt-Status bei. Runte versucht sich hier in einen poststrukturalistischen Diskurs einzuschreiben, der, wie Olney es beschreibt, durch die Ablösung des autos durch das graphe als zentralen Referenzpunkt gekennzeichnet ist. Und das graphe ist nun nicht als Schreibakt wie bei Heitmann zu verstehen, sondern als der Text in seiner Eigenständigkeit, dessen Ursprung und Stimme ihren wahren Ort in der Lektüre fin206 den. Auf dieser Grundlage kann, laut Barthes, der Paradigmenwechsel nur in einer absoluten Ablösung stattfinden: „Die Geburt des Lesers ist zu bezahlen mit dem 207 Tod des Autors.“ 2.2.6 Lektüremodi 208

Während Lejeune noch vom Autor als „Produzent eines Diskurses“ spricht, der mit dem Leser einen Vertrag eingeht, welcher die Autobiographie sowohl als Lese209 als auch als Schreibweise definiert, wenden sich insbesondere die französischen Poststrukturalisten von außertextuellen Bezügen ab und konzentrieren sich ausschließlich auf die Lektüreerfahrung. So zweifelt Paul de Man die zeitliche Linie von bios zu graphe hin an und argumentiert, dass durchaus auch dem graphe der originäre Charakter zugeschrieben werden könne, auf den sich dann die Produktion

201 Foucault 1979, S. 152; Lejeune weist zumindest schon auf den Unterschied zwischen Person und Autor hin, vgl. Lejeune 1994, S. 24. 202 Vgl. Foucault 1979, S. 159. 203 Vgl. ebd., S. 158. 204 Runte 2006, S. 129. 205 Ibid. 206 Vgl. Barthes 2000, S. 192. 207 Ebd., S. 193. 208 Lejeune 1994, S. 24. 209 Vgl. ebd., S. 49ff.

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von bios und autos aufbauen würde. Für de Man ist die Autobiographie keine Gattung, „sondern eine Lese- und Verstehensfigur, die mehr oder weniger in allen 211 Texten auftaucht.“ Ohne Rückkehr zu außertextuellen Ursprüngen wird bei Roland Barthes, Jacques Derrida und Julia Kristeva der Text von einem Gattungskorsett, das sich zwischen Autor und Referentialität bewegt, befreit und avanciert zu einem Konglomerat aus sich wechselseitig bedingenden Intertexten: Barthes nennt 212 dies ‚Echoraum‘ (chambre d’echos), Kristeva ‚Mosaik von Zitaten‘ (mosaïques 213 214 de citations) und Derrida ‚System von Spuren‘ (système de traces). Die Frage danach, wer das Echo erzeugt, wie sich das Mosaik zusammensetzt oder von wem die Spuren hinterlassen werden, bleibt dabei sekundär. Wenn es sich, wie Johanna Bossinade schreibt, bei der poststrukturalistischen Literaturtheorie „um einen Ansatz handelt, der die Aufmerksamkeit auf die unterbe215 lichteten oder verdrängten Prozesse der Sprache richtet“, stellt sich mir die Frage, inwieweit paratextuelle Elemente die gleiche Aufmerksamkeit erhalten und wie sich ihre Verknüpfung zu außertextuellen Prozessen in diesem theoretischen Konstrukt bearbeiten lässt. Lejeunes autobiographischer Pakt wird unter anderem über 216 die paratextuelle Markierung von Genre hergestellt – Gérard Genette nennt diese 217 taxonomische Zugehörigkeit „Architextualität“. Er macht deutlich, dass es nicht 218 so einfach ist, sich paratextuellen Informationen zu entziehen und dass über die 219 Architextualität sowohl Erwartungshorizont als auch Rezeption gelenkt werden.

210 Vgl. De Man, Paul: „Autobiography as De-Facement“, in: MLN, Comperative Literature, Dezember 1979, Nr. 5, Vol. 94, S. 919-930, hier S. 920. 211 „but a figure of reading or understanding that occurs, to some degree, in all texts.“, ebd. S. 921. 212 Vgl. Barthes, Roland: par Roland Barthes, Paris 1975, S. 78. 213 Vgl. Kristeva, Julia: „Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman“ (1969), in: Ihwe, Jens (Hg.): Literaturwissenschaft und Linguistik III, Frankfurt am Main 1972, S. 345375, hier S. 348. 214 Vgl. Derrida, Jacques: Grammatologie, Frankfurt am Main 1974 (1967), S. 113. 215 Bossinade, Johanna: Poststrukturalistische Literaturtheorie, Stuttgart/Weimar 2000, S. IX. 216 Vgl. Lejeune 1994, S. 28f. 217 Genette, Gérard: Palimpseste – Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt 1993 (1982), S. 13; Genette unterscheidet hierbei fünf Arten der Transtextualität: Intertextualität, Paratextualität, Metatextualität, Architextualität und Hypertextualität, wobei die Architextualität eng mit dem Paratext verwoben ist und auch nur in diesem Rahmen explizit zum Ausdruck kommt. 218 Vgl. ebd., S. 11f. 219 Vgl. ebd., S. 14.

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Heitmann, die sich auf Genettes übergreifendes Modell der ‚Transtextualität‘ be220 zieht, widmet in ihrem eigenen Ansatz zwei ihrer sechs Faktoren der oft paratextuell markierten Gattungsreflexivität und der sich daraus ergebenden Rezeptions221 vorgabe. Dieser Zusammenhang wird bereits bei Elizabeth Bruss aufgegriffen, die eine Analogie zu dem von den Sprechakttheoretikern John Langshaw Austin und John 222 223 Searle geprägten Begriff des ‚illokutionären Akts‘ herstellt. Ihre These ist, dass „[e]in Text […] seine gattungsgemäße Wirkung aus dem Aktionstypus 224 [schöpft], auf den er sich gerade beziehen soll“. Dementsprechend stellt für sie 225 „jeder literarische Diskurs ein System illokutionärer Typen oder Gattungen“ dar, deren Wirkung sich allein über einen paratextuellen Hinweis manifestieren kann – die Markierung ‚Bekenntnisse‘, um dies auf Fra Mand til Kvinde zu applizieren, 226 würde also implizieren, dass der Text autobiographisch aufzufassen ist. 227 Runte, die von einer „quasi-illokutionären Referentialisierungskraft“ spricht, lässt sich bei der Wahl ihrer Primärquellen von der paratextuellen Ausweisung der 228 Schriften als ‚(Auto)Biographie‘ leiten, weist jedoch gleichzeitig darauf hin, dass sie die Paratexte – insbesondere in Bezug auf das dadurch transportierte ‚Wissen‘ 229 über den Autor – für nicht verifizierbar hält: „Autobiographische Echtheit bleibt somit ein diskursiv bewirkter ‚Referenzeffekt‘, der durch institutionalisierte Äuße230 rungsinstanzen produziert wird.“ Wie kann sich nun aber diesen Äußerungsinstanzen genähert werden, wenn es doch irrelevant ist, wer spricht? Weisen paratextuelle Markierungen der (auto-)biographischen Art nicht auch als sprachliche Bestandteile explizit auf eine Außertextualität hin, die aus einem ‚Reaktor‘ der sich immer wieder neu befruchtenden Intertextualität hinaustritt? „Das Ziel lautet nicht, die Verdrängung als solche aufzuheben, was naiv gedacht wäre. […] Das Ziel lautet vielmehr, ein im Sinn der Abwehr Verdrängtes, ein

220 Vgl. Heitmann 1994, S. 14. 221 Vgl. ebd., S. 43. 222 Unter ‚illokutionärer Akt‘ ist die eigentliche Absicht des Sprechers hinter dem Sprechakt zu verstehen, vgl. Austin, John L.: How to do things with words, Cambridge 1962; vgl. Searle, John: Speech Acts: An Essay in the Philosophy of Language, London 1969. 223 Vgl. Bruss 1989, S. 261ff. 224 Ebd., S. 261. 225 Ebd., S. 262. 226 Vgl. ebd., S. 264. 227 Runte 1996, S. 36. 228 Vgl. ebd., S. 23. 229 Vgl. ebd., S. 36. 230 Ibid.

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unter dem Diktat kultureller Normen ‚mundtot Gemachtes‘ neu zum Sprechen zu 231 bringen.“ Mit dem ‚mundtot Gemachten‘ meint Bossinade hier die Sprachprozesse an sich, doch bezweifle ich, dass eine solche Einschränkung dieser poststrukturalistischen Maxime für eine Auseinandersetzung mit als autobiographisch markierten Texten gerechtfertigt ist. Während sich damit vielleicht die von Runte angesprochenen ‚institutionalisierten Äußerungsinstanzen‘ im hierarchischen Gefüge neu verorten, werden gleichzeitig ohnehin diskursiv marginalisierte Subjekte – wie Elvenes – in diesem Prozess gemeinsam mit der Autorenfigur ‚mundtot‘ gemacht. In diesem Licht lässt sich auch die Renaissance von Subjekt und Autorschaft in 232 der feministischen Autobiographie-Forschung erklären. Diese Wiederaufnahme eines außertextuellen sozial-historischen Kontextes hält auch Jerker Spits für unabdingbar bei einer postmodernen Auseinandersetzung mit der Autobiographie. Er weist – meines Erachtens notwendigerweise – darauf hin, dass die Nichtbeachtung 233 dessen im poststrukturalistischen Diskurs Gefahren mit sich bringe: „Man droht die Autobiographie nicht nur zu verfehlen, wenn man sich weigert, ihre sprachliche Dimension zu berücksichtigen, sondern auch, wenn man sich weigert, referenzori234 entierte Lektüren der Gattung ernst zu nehmen.“ Er ergänzt hiermit die von Dagmar Günther schon auf disziplinärer Ebene geforderte ‚ganzheitliche Betrachtung‘ der Autobiographie.

231 Bossinade 2000, S. IX. 232 Diese Renaissance hat sich auch in andere anknüpfende gesellschaftskritische Forschungsbereiche ausgeweitet und wird von Olney als zentral für das Studium individueller Erfahrung benannt, vgl. Olney 1980, S. 13; Günter Niggl spricht hier sehr plakativ und zudem marginalisierend von der Identitätssuche „sozialer Rand- und Sondergruppen“, Niggl 1989, S. 9; Almut Finck macht deutlich, wie sich an dieser Aussage das Zentrum von Niggls Autobiographie-Theorie manifestiere: „Das weiße, bürgerliche, männliche Ich“, Finck, Almut: Autobiographisches Schreiben nach dem Ende der Autobiographie, Berlin 1999, S. 114; Jerker Spits konstatiert zudem, dass die ‚Fokussierung auf Minderheiten‘ insbesondere die an poststrukturelle und feministische Strömungen andockende amerikanischen Autobiographie-Forschung dominiere, vgl. Spits 2008, S. 256ff. 233 Vgl. Spits 2008, S. 68. 234 Ebd., S. 84; Spits geht in seinem letzten Kapitel noch einmal genauer darauf ein, warum für ihn nur die Verschmelzung von poststrukturalistischer und referentieller Lektüre ein fruchtbares Ergebnis in der Auseinandersetzung mit der autobiographischen Schrift produzieren kann und verweist damit auf einen gattungstheoretischen Mangel – das Fehlen einer Zwischenposition. In Anlehnung an Bossinade spricht er sich konkludierend für eine pragmatische Anwendung poststrukturalistischer Konzepte aus, vgl. ebd., S. 276.

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Lejeune schreibt über die Geschichte der Autobiographie, dass sie „in erster Li235 nie eine Geschichte ihres jeweiligen Lektüremodus“ sei. Und in der Tat stellen die hier vorgestellten theoretischen Ansätze durchweg unterschiedliche Lektüremodi dar, die sich in den meisten Fällen durch die Selektivität bezüglich bestimmter Aspekte voneinander unterscheiden. Doch eine selektive Analyse, wie Günther und Spits andeuten, kann der Gesamtheit eines Textes – ob nun autobiographisch eingeordnet oder nicht – kaum gerecht werden. Um mich nun fruchtbar Fra Mand til Kvinde nähern zu können, möchte ich ein methodisches Vorgehen einbringen, dass mein Erkenntnisinteresse nicht über den Text stellt und gleichzeitig eine Brücke zwischen ‚Benutzen‘ und ‚Interpretieren‘ schlagen kann. Dazu ist es notwendig, den Text nicht nur als zu bearbeitendes Material zu betrachten, sondern ihn gleichzeitig als Zugangswerkzeug zu sich selbst wahrzunehmen. Dabei erscheint mir die Applikation eines nichtliterarischen Mediums, das gleichzeitig als Quelle und Werkzeug agiert, sehr sinnvoll – die Karte.

2.3 E INE

KARTOGRAPHISCHE

L ESART

Karten, so der Kulturgeograph Georg Glasze in seinem Abriss der Forschung zu einer kritischen Kartographie, „kategorisieren, grenzen ab, ordnen, verorten, benen236 nen und (re-)produzieren damit bestimmte Weltbilder.“ Während der Bezug zwischen kartographischen und historiographischen Funktionen auch darüber hinaus evident ist, deuten sich hierbei schon die Parallelen zu (auto-)biographischen Gattungsvorstellungen und den theoretischen Fragestellungen, die diese aufwerfen, an. Noch deutlicher werden diese Parallelen im Zusammenklang mit den drei großen Paradigmen, die Glasze für die Kartographie skizziert: „Karten als Abbild der Wirklichkeit (1), Karten als Effekte sozialer Strukturen (2) sowie Karten als Produ237 zenten sozialer Wirklichkeit (3).“ Um den Bezug zum ersten Paradigma zu beleuchten, möchte ich noch einmal auf James Olneys Ausführungen zur „Art wie Erfahrung in Literatur verwandelt 238 wird“ zurückgreifen, da sich diese Art von Transferprozess auch für das Medium der Karte nachvollziehen lässt. Die Vorstellung, dass Karten die Wirklichkeit abbilden können, resultiert bei diesem Paradigma in dem Schluss, dass die Kartographie durch eine störungsfreie Kodierung von Informationen zu einer möglichst exakten

235 Lejeune 1994, S. 51. 236 Glasze, Georg: „Kritische Kartographie“, in: Geographische Zeitschrift, 97. Jg., 2009, Heft 4, S. 181-191, hier S. 181. 237 Ebd., S. 182. 238 Olney 1980, S. 10.

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Wissenschaft gemacht werden könne. Der Kartograph Jacques Bertin konzentriert sich in seinen Auseinandersetzungen explizit mit den „graphischen Variablen“, die zur Verfügung stehen (Farbe, Form, Muster, Helligkeit, Richtung und Größe) und schlägt im Zusammenhang zur jeweils darzustellenden Information Kombinationen vor, die seines Erachtens die Information am effektivsten kommu240 nizieren. Ähnlich verhalten sich die Elemente der Sprache zu den Transferprozessen zwischen Erfahrung und Literatur. Die historiographische Vorstellung vom „Abbild der Wirklichkeit“ in autobiographischen Texten sowie die Rolle, welche die von der poststrukturalistischen Literaturtheorie fokussierte Sprache dabei spielt, lassen sich mit Hilfe dieser kartographischen Überlegungen zusammendenken, indem sprachliche Elemente als Kodierungswerkzeuge zwischen Erfahrung und Literatur betrachtet werden. Das Paradigma von ‚Karten als Effekte sozialer Strukturen‘ lässt sich ebenso erweiternd auf die literarische Ebene übertragen und spiegelt den bereits thematisierten diskrepanten Bezugskomplex zwischen ‚historischer Wirklichkeit‘ und ‚autobiographischer Wahrheit‘ wider. Die ‚kartographische Wahrheit‘ wird nicht mehr als Abbild einer historischen Wirklichkeit interpretiert, sondern als Produkt gesellschaftlicher Machtstrukturen. In diesem Kontext müssten solche gesellschaftlichen 241 Dokumente auch verstanden werden, fordert Brian Harley. Er geht zudem davon aus, dass Karten die Regeln der sozialen Ordnung ihres Entstehungskontextes bein242 halten. Und es sind genau diese Informationen, welche die autobiographische Schrift – unabhängig von der Qualität der jeweiligen ‚Wahrheit‘ – auf gleiche Art und Weise transportieren kann. Glasze weist in Anlehnung an Harley darauf hin, dass sich dadurch – auch in der Autobiographie-Forschung virulente – Fragen aufwerfen lassen, wie beispielsweise: „Was wird dargestellt und was wird nicht darge243 stellt? Was wird betont? Was wird zentriert?“ In diesem Zusammenhang wird die Karte in einem diskursanalytischen Zusammenhang neu wahrgenommen und nicht mehr als alleinstehendes Dokument betrachtet, sondern als Verknüpfung von dis-

239 Vgl. Glasze 2009, S. 182; Glasze verweist hierbei auf das besonders im englischsprachigen Raum prominente Karten-Kommunikationsmodell, welches davon ausgeht, dass Fehler in der Karte lediglich durch Störungen bei der Kodierung und/oder der Entschlüsselung entstehen. 240 Vgl. Bertin, Jacques: Graphische Semiologie, Berlin 1974 (1967), S. 15f. 241 Vgl. Harley, Brian: „Maps, knowledge and power“, in: Cosgrove, Denis und Stephen Daniels: The iconography of landscape: essays on the symbolic representation, design and use of past environments, Cambridge 1998, S. 277-312, hier S. 278ff. 242 Vgl. Harley, Brian: „Deconstructing the Map“, in: Cartographica, 1989, Nr. 2, Vol. 26, S. 1-20, hier S. 7f. 243 Glasze 2009, S. 185.

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kursiven Elementen. Glasze formuliert dementsprechend vier Aspekte für eine diskurstheoretische Arbeit mit Karten, wobei er den Blick auf ‚Hierarchien der Darstellungen‘, ‚Kartographisches Schweigen‘, ‚Geometrieren‘ sowie ‚Symbolik und 245 Ausschmückungen‘ lenkt. Diese vier Arbeitsansätze lassen sich im Zusammenspiel mit der kontextuellen Situation der Textentstehung gut auf die Auseinandersetzung mit Fra Mand til Kvinde applizieren. Das dritte Paradigma von ‚Karten als Produzenten sozialer Wirklichkeit‘ lässt sich für Fra Mand til Kvinde insbesondere auf der Rezeptionsebene finden. Auf der einen Seite manifestiert es sich in der Reproduktion von Wissen innerhalb eines populärkulturellen Diskurses, in Form von journalistischer und literarischer Auseinandersetzung, auf der anderen Seite kehrt es in Forschungsbeiträgen, wie den bereits erwähnten, von Runte und Hausman aufgestellten Thesen zur diskursiven Pro246 duktion durch die ‚Untergattung der Transsexuellen-(Auto-)Biographie‘, wieder. Ebenso wie sich Karten als Bestandteil diskursiver Prozesse in die Vorstellung ei247 ner stabilisierten und transferierbaren Form von Wissen einschreiben, haben als (auto-)biographisch deklarierte Schriften von und über Trans*-Personen einen Platz im Diskursgeflecht eingenommen, der an einer vielschichtigen Wissens(re)produktion beteiligt ist. Die von Glasze formulierte Beschreibung einer Perspektive der kritischen Kartographie ließe sich ohne weiteres in eine Auseinandersetzung mit autobiographischen Schriften übertragen: „Sie [die kritische Kartographie] untersucht die Grundlagen des Wissens für unsere Entscheidungen, situiert Wissen in spezifischen historischen Epochen und geographischen Kontexten, widersteht etablierten Kategorien unseres Denkens und fordert diese heraus und zeigt, wie die Wahrheitsansprüche von Wissen unter spezifischen Rahmenbedingungen durchgesetzt werden, die eng verwoben sind mit Macht.“248

Etwas, das die Karte trotz der Bewegungen innerhalb der Theorie zwischen Wirklichkeitsvorstellungen und poststrukturalistischer Einbettung nie verloren hat, ist ihr Status als referentielles Medium. Sie konstituiert sich aus ihrer historischen Refe-

244 Vgl. Glasze 2009, S. 185. 245 Vgl. ebd., S. 186. 246 Vgl. 2.1. 247 Vgl. Latour, Bruno: Science in Action. How to follow scientists and engineers through society, Cambridge/MA. 1987, S. 223f. 248 Glasze 2009, S. 187; Glasze skizziert hier die Perspektiven Jeremy Cramptons, vgl. Crampton, Jeremy W.: Mapping. A Critical Introduction to Cartography and GIS, Malden 2010, S. 39f.

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rentialität und bietet eine gegenwärtige Orientierungshilfe. Diese referentielle Qualität ist es, die ich auch für Fra Mand til Kvinde unterstreichen möchte, denn sie ermöglicht es, den Text in Form einer Karte seiner selbst zu verstehen und fruchtbar zu machen, ohne dass eine konkrete, vorkonnotierte Genrezuweisung dafür nötig ist, aber gleichzeitig (auto-)biographische Theoriekonstrukte berücksichtigt werden können. Mit Hilfe der Applikation der von Glasze vorgeschlagenen diskurstheoretischen Herangehensweise an Karten führt uns der Text zunächst durch seine Selektivität in bestimmte ‚Gebiete‘, die durch die referentiellen Hinweise genauer – und auch außertextuell – untersuchbar werden. Auf diese Art und Weise wird es partiell möglich, den literarischen Transformationsprozess vom Endpunkt zum Anfangspunkt hin zu beleuchten und am markierten Referenzpunkt Hinweise auf Informationen dazuzugewinnen, welche in der literarischen Kodierung verloren gegangen oder auch erst dazu gekommen sind. Die Referentialität ist in diesem Fall nicht kongruent mit einer wahrheitsgetreuen Abbildung der Wirklichkeit, sondern eher als verankerndes Werkzeug zwischen historischen Ereignissen und literarischem Text zu verstehen, welches es ermöglicht, Prozesse zwischen beidem komplexer darzustellen und sowohl die extratextuelle Sicht zu schärfen als auch die intratextuelle Analyse zu bereichern. Zweifelsohne decken sich die kritischen Zugänge zur Kartographie mit anderen Bereichen, in denen eine diskursanalytische Herangehensweise zum Tragen kommt. Der methodische Gewinn liegt hierbei in der Interaktion der Diskursanalyse mit der spezifischen Funktionsweise der Karte. Daher werde ich für meine Analyse von Fra Mand til Kvinde den Textaufbau als ein Kartenwerk im Stil eines Atlas betrachten. Über die systematischen Vergrößerungen ausgewählter Kartenausschnitte, die ich sowohl aus den Hinweisen in der Übersichtskarte – als welche ich hier das Vorwort verstehe – als auch aus den mir sinnvoll erscheinenden Fokuspunkten zusammenstelle, werde ich mich diskursiven Schnittstellen nähern, um sie von der jeweils kleinsten bis hin zur größtmöglichen Auflösung nachzuvollziehen. Hiervon verspreche ich mir eine bessere Nutzbarmachung der Referentialität des Textes, mit der gleichzeitigen Vorannahme, dass selbst eine maßstäblich hochauflösende Detailkarte nie ein identisches Abbild der Wirklichkeit darstellen kann. Das von Niels Hoyer formulierte Vorwort zu Fra Mand til Kvinde dient mir dabei als Übersichtskarte, da ich der Meinung bin, dass sie auf die relevanten Kartenausschnitte hinweist und damit sowohl die Hauptanliegen der narrativen Struktur illustriert als auch jene Textelemente herausstellt, die als referentielle Wegweiser 249 die fruchtbarsten Ergebnisse versprechen.

249 Im Gegensatz zu Franco Morettis Ansatz, der mit einer Form des ‚distant reading‘ den europäischen Literaturkanon in ein kartographisches System verwandelt, funktionali-

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2.4 D AS V ORWORT ZU F RA M AND D IE Ü BERSICHTSKARTE

TIL

K VINDE :

„Lili Elbes letztem Willen entsprechend habe ich ihre Aufzeichnungen in diesem Buch gesammelt. Es ist ein wahrheitsgetreues, menschliches Dokument über eine erschütternde, menschliche Tragödie, die außerhalb aller gewohnten Vorstellungen liegt. Der Arzt, dessen kühne Operationen es dem todkranken und verzweifelten Einar Wegener ermöglichten, sein Leben in voller Übereinstimmung mit seiner eigentlichen Natur weiterzuleben, hat das Buch in meiner deutschen Version gelesen. Gemäß Lili Elbes Wunsch werden für die Personen, die sie erwähnt, fingierte Namen benutzt. Nur ihren eigen Namen, den sie aus Dankbarkeit gegenüber der Stadt wählte, wo sie aus Mann Frau wurde und wo sie starb, wünschte sie, beizubehalten. Kopenhagen, November 1931

Niels Hoyer.“250

Die einleitenden Worte Niels Hoyers weisen mit unterschiedlicher Gewichtung auf die drei großen Themengebiete hin, die ich im Folgenden untersuchen möchte – die öffentliche, die körperliche und die rechtliche Subjektivität Lili Elbes in Bezug auf den Text und die Diskurse, an welche dieser anschließt. Als zusätzliche Richtlinie sollen hierbei folgende von Foucault formulierte Fragen fungieren: „What are the modes of existence of this discourse? Where has it been used, how can it circulate, and who can appropriate it for himself? What are the places in it where there is 251 room for possible subjects? Who can assume these various subject-functions?“ Mit dem Hinweis, dass es sich beim vorliegenden Text um eine Herausgabe handele, die dem Willen Elbes folge, signalisiert Hoyer eine Selbstartikulation und

siert meine Methode eine nahe Textarbeit, um den Strukturen auf der Mikroebene nachzugehen, vgl. Moretti, Franco: Graphs, Maps, Trees: Abstract Models for Literary History, London 2005; vgl. Moretti, Franco: Distant Reading, London 2013. 250 „Ifølge Lili Elbes sidste Vilje har jeg samlet hendes Optegnelser her i denne Bog. Det er et sandfærdigt, menneskeligt Dokument om en rystende, menneskelig Tragedie, der ligger udenfor alle tilvante Forestillinger. Den Læge, hvis dristige Operationer gjorde det muligt for den dødssyge og fortvivlede Einar Wegener at fortsætte sit Liv i fuld Overensstemmelse med sin egentlige Natur, har i min tyske Gengivelse gennemlæst Bogen. Efter Lili Elbes Ønske er der benyttet fingerede Navne til de Personer, hun omtaler. Kun sit eget Navn, som hun valgte sig i Taknemmelighed mod den By, hvor hun fra Mand blev Kvinde, og hvor hun døde, har hun ønsket at bibeholde. København, November 1931 Niels Hoyer “, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 5. 251 Foucault 1979, S. 160.

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Selbstbestimmtheit auf Seiten des Subjekts, das die Vorlage für den Text bietet. Eine eindeutige auktoriale Zuweisung impliziert dies hingegen nicht, da auf der einen Seite zwar ein Hinweis darauf gegeben wird, dass es sich um Elbes Aufzeichnungen handele, Hoyer auf der anderen aber auch seinen Beitrag im Sammeln dieser herausstellt und von seiner deutschen Version spricht. Die sich aufdrängende Frage nach den auktorialen Verhältnissen zieht auch die nach der antizipierten Agency Elbes nach sich. Mittels der suggerierten Absicht Elbes, mit dem Text an einem öffentlichen Diskurs teilzunehmen und mit ihrer eigenen Identität und ihrem eigenen Namen, der als einziger nicht in ein Pseudonym gekleidet sein soll, für den Inhalt zu bürgen, unterstreicht Hoyer die öffentlichkeitswirksam relevante ‚Menschlichkeit‘ und ‚Wahrheit‘ des Textes. Dies steht unmittelbar in Verbindung mit antizipierten Gesellschaftsnormen, in die dieser ‚außerhalb aller gewohnten Vorstellungen‘ liegende Text eingebettet werden möchte und mitunter auch eingebettet werden muss. Dieses Wechselspiel zwischen Text, Subjekt und gesellschaftlichem Kontext werde ich im ersten der folgenden analytischen Kapitel beleuchten und dabei auch den Hinweis ernst nehmen, dass es bereits bei der Veröffentlichung der dänischen Originalausgabe ein deutsches Manuskript gegeben habe. Das zweite analytische Kapitel wird auf Körperdiskurse fokussieren und deren Schnittpunkt zwischen Geschlecht, Gesundheit und Technik beleuchten. Elbes Geschichte wird im Vorwort auch im Lichte gesellschaftlicher Konventionen als Tragödie beschrieben, da Werte wie ‚Menschlichkeit‘ und ‚Natur‘ zunächst implizit in Frage stehen. Diese instabilen Begriffe sind hier stark an Geschlecht geknüpft, welches sich auf der einen Seite als fließend und veränderbar darstellt, auf der anderen Seite aber von einer eindeutigen Kategorie (Mann) in einer andere eindeutige Kategorie (Frau) transferiert wird. Diese Beschreibungen für ein und dieselbe Person, die an eine normierte Außenwahrnehmung knüpfen, scheinen in Opposition zu der Vorstellung von einer ‚eigentlichen Natur‘ zu stehen, welche nicht auf eine binäre Innenwahrnehmung hinweist. Die Diskrepanz zur eigentlichen ‚Natur‘ figuriert im Vorwort als Leiden und Krankheit und kann dementsprechend nur durch die technischen Möglichkeiten der Medizin geheilt werden. Die Hierarchie von Handlungsund Aussagemacht wird hier bereits angedeutet, auch durch den Hinweis darauf, dass der operierende Arzt das Manuskript gelesen habe und damit auch eine für den 252 öffentlichen Diskurs autorisierende Funktion übernähme. Auf dieses hegemoniale Verhältnis zwischen Subjekt und Medizin wird im Vorwort jedoch weniger fokussiert als auf das zum öffentlichen Raum.

252 Noch deutlicher wird dies im Vorwort zur deutschen Edition und zu den englischen Ausgaben, in denen die Rede von ‚gutgeheißen‘ und ‚approved‘ ist, vgl. Elbe 1932, S. 5; vgl. Hoyer 1933a/b, S. XIII.

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Auf die rechtspolitischen Strukturen wird im Vorwort so gut wie gar nicht Bezug genommen, jedoch klingen formaljuristische Zusammenhänge, wie die Änderung des Namens und die Vertretbarkeit solch ‚kühner Operationen‘ an. Warum der ausdrückliche Verweis auf einen solchen Komplex nicht im Mittelpunkt steht und inwieweit sich die genauer ausgewiesenen Detailkarten dafür anwenden lassen, soll im dritten analytischen Kapitel behandelt werden. Hierbei wird der Fokus insbesondere darauf liegen, auf welche Weise sich die Aussparungen im Text kontextualisieren lassen, wie andere Textelemente trotzdem eine Referenz dazu herstellen und welche Rückwirkung dies für die Textanalyse hat. Das Sinnbild der Karte und die daran gebundene Untersuchung des Verhältnisses vom kartographierten Medium zu seinen Referenzpunkten bilden in den folgenden drei Kapiteln die strukturelle Basis für die Auseinandersetzung mit dem Text und seinem Kontext. Dementsprechend taucht der Begriff der Karte nicht analysebegleitend auf, sondern fungiert vielmehr als eine methodische Blaupause für die analytische Arbeit, die nun ihren Ausgangspunkt in Fra Mand til Kvinde sucht.

3. Zwischen Schuld und Agency ‚Lili Elbes‘ Subjektivität im öffentlichen Raum

Das Zusammenspiel von Textualität und Subjektivität in Fra Mand til Kvinde – sowohl im intra- als auch im extratextuellen Bezugsrahmen – ist in der Forschung unterschiedlich eingeordnet, bewertet und interpretiert worden: Auf der einen Seite des Spektrums wird der Text als Ausdruck einer intelligiblen Agency des Subjekts 1 aufgefasst, auf der anderen dient er der Behauptung, dass die Protagonistin ihre 2 Agency aufgebe. Die intermediäre Bandbreite umfasst zudem analytische Ansätze, 3 welche eine dem Text zugrundeliegende Quellenauthentizität behaupten und sol4 5 6 che, die Konzepte wie Identitätsreflexion, Identitätsstiftung oder Projektion bemühen. An dieser Stelle lohnt – insbesondere in Bezug auf die Vorstellung von intelligibler Agency – ein wiederholter Blick auf das Vorwort von Niels Hoyer, um sich darüber dem Verhältnis zwischen vermeintlichem Herausgeber und vermeintlicher Autorin zu nähern. Zunächst entsteht der Eindruck, dass Letztere eine Übersicht für den Text auf Grund ihres Todes nicht mehr selbst zur Verfügung hat stellen können. Eine weitere Information in Hoyers paratextueller Introduktion verweist jedoch auf ein bereits vor der dänischen Erstausgabe existierendes deutschsprachiges Manuskript. Bei einem kartographischen Zugang zum Text wird bereits durch diesen 7 Hinweis der in Stockholm archivierte Nachlass von Ernst Harthern erschließbar.

1

Vgl. Steinbock 2009, S. 128.

2

Vgl. Stone 2006, S. 229f.

3

Vgl. Gilman 1999, S. 277; vgl. Runte 1996, S. 438 u. S. 445.

4

Vgl. Armstrong 1998, S. 159.

5

Vgl. Heede 2003, S. 17.

6

Vgl. Herrn 2005, S. 204.

7

Da Hoyer im Vorwort von seiner deutschen Version spricht, diese aber zu besagtem Zeitpunkt noch nicht in Buchform vorliegt, gehe ich von einem Manuskript aus, das sich in

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Dort ist nicht nur ein Exemplar des besagten Manuskriptes einsehbar, sondern auch eine Vielzahl von Arbeitsmaterialen, die Hoyer zum Erstellen der verschiedensprachigen Ausgaben von Fra Mand til Kvinde dienen – darunter der Entwurf eines Vorwortes, das laut der Anmerkungen auf dem Dokument im August 1931 von Lili 8 Elbe verfasst wird. Dadurch wird suggeriert, dass die Möglichkeit bestünde, dem Subjekt, dass für den Inhalt bürgt, auch die Einführung in die Schwerpunkte des 9 Textes zuzugestehen. Während sich in dieser wesentlich längeren, unpublizierten Introduktion durchaus die von Hoyer gesetzten Schwerpunkte wiederfinden, werden auch zusätzliche Akzente gesetzt. Diese können im Zusammenspiel mit Hoyers Überblick den kartographischen Zugang zum Text verfeinern. Insbesondere das Verhältnis zwischen Öffentlichkeit und Identität, welches in diesem Kapitel meiner Arbeit im Vordergrund steht, wird in Elbes vermeintlichem Wortlaut deutlich: „Ein Jahr ist vergangen. Es war ein schweres Jahr, weil ich das einzige Wesen, ausserhalb aller Gesetze stehend, das heisst, von keinem Gesetzgeber vorher in Betracht gezogen, bin innerhalb einer Gesellschaft, die nur auf das Normale, Alltägliche, Allgewöhnliche eingestellt ist. Doch jetzt fühle ich, dass der Kampf gewonnen ist.“

10

Hier wird nicht nur eine rechtliche Problematik angesprochen, sondern auch die Herausforderung der Integration eines alteritären Subjekts in eine gesellschaftliche Norm. Das Austarieren der Balance zwischen Subjektivität und Normativität gibt dabei jenes Raster vor, mit dem sich die textliche Präsentation in den öffentlichen

seinem Besitz und später in seinem Nachlass befindet. Bei der Suche nach diesem Nachlass orientiere ich mich an zeitlichen und räumlichen Daten aus Ernst Hartherns Biographie, mit Hilfe derer ich auf das relevante Archiv stoße. Hier finden sich neben den antizipierten Materialen auch solche, auf die der Text nicht direkt verweist, welche aber zu dessen Kontextualisierung beitragen. Diese Vorgehensweise sei exemplarisch vorgestellt, um das kartographische Erschließen von Quellenmaterial zu illustrieren. 8

Dieses Vorwort wird laut Hoyer von Elbe im Frühjahr 1931 auf Dänisch verfasst und von ihm ins Deutsche übertragen. Die vorliegende Fassung ist demzufolge Hoyers Übersetzung, vgl. Brief von Niels Hoyer an Harry Schumann, Kopenhagen, 24.02.1932, S. 2, EHA.

9

In einem Brief an Niels Hoyer betont Harry Schumann, der Eigentümer des Carl Reissner Verlag Dresden (hier erscheint 1932 Ein Mensch wechselt sein Geschlecht), die Wichtigkeit dieses Dokuments, welches in seiner ursprünglichen Form dennoch in keiner Ausgabe eine Berücksichtigung erfährt, vgl. Brief von Harry Schumann an Niels Hoyer, Dresden, 15.02.1932, EHA.

10 Elbe, Lili: Vorwort, August 1931, S. 1f., EHA.

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Raum einschreibt. Inwieweit sich dabei strukturelle, literarische als auch journalistische Spielräume in Bezug auf eine Identitätsformation auftun, wird Gegenstand dieses Kapitels sein.

3.1 W ER S PRICHT ? ODER W ELCHES M EDIUM STEHT ZWISCHEN S UBJEKT UND G ESELLSCHAFT ? An dieser Stelle möchte ich auf Foucaults Frage zurückkommen, inwieweit es im Diskurs Platz für Subjektivität gibt, ohne dabei in poststrukturalistischer Tradition die extratextuelle Ebene außer Acht zu lassen. Denn gerade die explizite historische Referentialität von Fra Mand til Kvinde soll berücksichtigt und in Bezug auf die integrierten Hinweise zum Schreibprozess und zur Autorschaft beleuchtet werden. Der Text gibt durchgängig Hinweise zum vermeintlichen Entstehungsprozess seiner selbst. Bereits vor dem ersten operativen Eingriff in Berlin unterstreicht eine Rückblende auf Andreas Sparres Leben die paratextuell angekündigte Form des Bekenntnisses. Nachdem sich der Weg einer operativen Behandlung eröffnet hat, ist Andreas allein nach Berlin gereist und verbringt dort viel Zeit mit seinen Freunden Inger und Niels Hvide, denen er nun – antizipierend, dass er sich später nicht mehr an die in einer männlichen Rolle gelebte Zeit erinnern würde – sein bisheriges Le11 ben darlegt. Niels stenographiert diesen Bericht mit, welchen Andreas im Nach12 klang als eine befreiende Beichte empfindet. Explizit als Beichte benannt und inszeniert, führt jene Situation nicht nur das narrative Gegenüber zwischen einer beichtenden und einer beichtempfangenden Person ein, sondern installiert den stenographierenden Beichtempfänger gleichzeitig als dokumentierende und kommentierende Instanz. Diese Konstellation suggeriert eine als Geständnis präsentierte autobiographische Erzählsituation, welche mit ihren dementsprechenden gattungsspezifischen Konnotationen als doppelte Wahrheitsproduktion figuriert. In Anbetracht der Funktion, die Niels Hvide in dieser Inszenierung übernimmt, wird gleichzeitig deutlich, dass die hier produzierte ‚Wahrheit‘ – entgegen der dazu abschließenden Aussage von Andreas – keine freie, sondern, wie Foucault es für durch Geständnisse produzierte Wahrheiten beschreibt, 13 eine von Machtbeziehungen durchzogene ist. Im Manuskript und in der deutschen Fassung greifen diese Strukturen ebenfalls, auch wenn sich die Dokumentationssituation durch folgenden Zusatz differenzierter darstellt: „Ich [Andreas] habe mir Notizen gemacht, um wenigstens den sogenannten roten Faden nicht zu verlie-

11 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 40. 12 Vgl. ebd., S. 67. 13 Vgl. Foucault 1983, S. 64.

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ren.“ Dies erscheint als ein Hinweis auf die Möglichkeit, dass jener Teil des Buches auf den Aufzeichnungen von zumindest zwei Personen basieren könnte, von denen keine mit dem Herausgeber Niels Hoyer identisch wäre. Während in der 15 „Confessio-Schleife“, wie Annette Runte diesen Abschnitt nennt, die von ihr an16 gedeutete „dialogische Struktur der Geständnishermeneutik“ durchaus deutlich wird, handelt es sich nicht um die erste ‚sandwich-Situation‘ zwischen Biograph und Subjekt, welche zu einer Erzählinstanz verschmelzen. Vielmehr wird mit dem Verweis auf Niels Hvide, dessen Figur an den damals in Berlin lebenden dänischen Autor und Juristen Poul Knudsen angelehnt ist, textuell in die Komplexität von Autorschaft und Schreibprozess eingeführt. Knudsen ist ein Freund von Lili Elvenes und Gerda Wegener und zumindest in einem frühen Stadium in das Buchprojekt involviert. Dies wird in Briefen nachvollziehbar, die Elvenes Anfang 1931 an ihn schickt. So stehen bereits im Januar ‚Andreas‘ als Deckname für Einar Wegener und ‚Werner von Kreutz‘ als das literarische Pseudonym für den Dresdner Chirurgen Kurt Warnekros fest. Knudsens Wunsch, im Text ‚Hjalmar Hvide‘ heißen zu wollen, wird von Elvenes ebenfalls 17 berücksichtigt. In Form dieser Figur soll er, so legt es die angedachte Struktur nahe, eine zentrale Rolle im Text übernehmen: „Es ist zunächst Andreas, der Poul seine Erinnerungen [aus der Zeit] erzählt, als Andreas die Überhand hatte, woraufhin Lili Poul die Erinnerungen von der Zeit an erzählt, als sie begann sich vorzuarbeiten und die Mehrheit der Anteile an ihrer Gemeinschaftsbleibe erhielt – und zum Schluss Alleininhaberin [war].“18

Von dieser ursprünglichen dramaturgischen Idee, durchgängig mit Knudsen als Lilis Gegenüber im Text zu arbeiten, ist in der von Hoyer herausgegebenen Fassung nur noch besagter ‚Rückblick‘ geblieben. Hoyer scheint zu dem Zeitpunkt der Korrespondenz zwischen Elvenes und Knudsen noch nicht in den Schreibprozess in-

14 Lili Elbe Buch (Manuskript), S. 50; Elbe 1932, S. 44. 15 Runte 1996, S. 445; in einem späteren Beitrag spricht sie auch von einer „metanarrative[n] Schleife“, Runte 2006, S. 135. 16 Runte 1996, S. 40. 17 Vgl. Brief von Lili Elvenes an Poul Knudsen, Lindevangen, 22.01.1931, S. 1f., NKS 2692. 2°. I. 2. 18 „Det er først Andreas, der fortæller om sine Erindringer til Poul, medens Andreas havde overtaget, hvorpaa Lili fortæller Erindringer til Poul fra den Tid, hvor hun begyndte at arbejde sig frem og fik Hovedparten af Aktierne i deres Fællesbo – og til sidst Eneindehaver.“ [Streichung Elvenes], ibid; meine Einschübe bei der deutschen Übersetzung sollen einem besseren Verständnis der Aussage dieses Satzes dienen.

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volviert zu sein, denn Elvenes erwähnt in einem weiteren Brief, dass Loulou Las19 sen ihre Aufzeichnungen für den dänischen Markt arrangiert und gemäßigt habe, während Elvenes’ eigenes „Manuskript […] weitaus pikanter und voller vorlauter 20 Bemerkungen“ sei. Dieser angepasste Text solle im Frühjahr 1931 in Steen Hasselbalchs Verlag in Kopenhagen erscheinen und auch mit deutschen Verlagen gäbe 21 es bereits Verhandlungen. Zudem macht Elvenes deutlich, dass es sich bei der Veröffentlichung auch um eine für sie ökonomisch erforderliche Unternehmung handele, da sie Knudsen einerseits über ihren finanziellen Notstand in Kenntnis setzt und andererseits bereits die Verteilung der Einnahmen zwischen ihm und ihr 22 anspricht. Zu einer Herausgabe kommt es im Frühjahr 1931 jedoch nicht. Elvenes erklärt dies mit der Absage durch Hasselbalch, welcher als wichtigen Grund dafür angegeben habe, „dass ein Verleumder in seinem Blatt etwas über mich [Lili] geschrieben 23 hatte“. Hier ist Marius Wulff gemeint, der in seiner Zeitschrift Sandheden (Die Wahrheit) proklamiert, dass Hasselbalch ein Skandalbuch publiziere, welches in Lili Wegeners Namen herauskomme, aber von Loulou Lassen geschrieben worden 24 sei. Schon im Voraus stehen somit gleichzeitig Autorschaft und Authentizität des Textes in Frage und es ist wahrscheinlich, dass Wulffs Artikel nicht nur Hasselbalchs Rückzug von einer Herausgabe nach sich zieht, sondern auch dazu führt, dass Lassen – auf deren Anteil in Fra Mand til Kvinde an keiner Stelle verwiesen wird – nachfolgend nicht mehr aktiv am Buchprojekt beteiligt ist. Sie erhält jedoch 25 zumindest aus den Einkünften der dänischen Originalausgabe Anteile. Neben Lassen verdient ebenfalls Gerda Wegener an Fra Mand til Kvinde und laut Hoyer belaufen sich ihre Gewinne auf fünfzig Prozent seiner eigenen Einnah-

19 Lassen (1876-1947) ist eine dänische Autorin und Journalistin, die viele Jahre für das dänische Verlagshaus Politiken arbeitet, vgl. Bramsen, Bo: Politikens Historie set indefra 1884-1984. Bind I 1884-1934, Kastrup 1983, S. 230; vgl. Bramsen, Bo: Politikens Historie set indefra 1884-1984. Bind II 1934-1984, Kastrup 1984, S. 128ff. 20 „Manuskript [er] langt mere pikant og fuldt af næbbede Bemærkninger“, Brief von Lili Elvenes an Poul Knudsen, Lindevangen, 31.01.1931, S. 1, NKS 2692. 2°. I. 2. 21 Vgl. ebd., S. 2. 22 Vgl. ibid. 23 „at en Smædeskriver i sit Blad havde skrevet noget om mig“, Brief von Lili Elvenes an Poul Knudsen, Lindevangen, 06.03.1931, NKS 2692. 2°. I. 2. 24 Vgl. Wulff, Marius: „En Bog om, hvordan Hr. Wegener blev til Frøken Wegener“, in: Sandheden, Nr. 3, ohne Datumsangabe (ca. Dezember 1930), o.S.; mehr zu diesem Pressebeitrag in 3.3.1. 25 Vgl. Brief von Niels Hoyer an Gerda Wegener, Kopenhagen, 04.01.1933, S. 2, EHA.

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men. Diese Teilung ergibt sich aus Hoyers Sicht auf Grund ihres Status als Erbin, Wegener selbst sieht es als Gegenleistung für ihren Beitrag zum Text, der sich in der narrativen Darstellung des Schreibprozesses anders als von Wegener empfunden darstellt. Ihre literarische Ausformung – Grete Sparre – wird in Form von ihr zugeschriebenen Briefen und Tagebucheintragungen als nächstfolgende Person in 27 die Chronologie der Textentstehung eingeführt. Sie figuriert jedoch nicht – wie Niels Hvide – als ein beichtempfangenes Gegenüber, sondern stellt in ihrer Rolle als intime Vertraute und als dokumentierende Begleiterin eine vermeintlich authentische Außensicht auf Lili innerhalb des Textgefüges bereit. In dieser Funktion wird 28 sie auch als Unterstützerin von Lilis eigenen Aufzeichnungen präsentiert. Während der Text hier nur vorsichtige Andeutungen in Bezug auf eine Kollaboration bietet, schätzt Gerda Wegener ihren Beitrag zum Buch weit umfangreicher ein als es durch die literarische Darstellung Grete Sparres suggeriert wird. Im Zuge dessen 29 beschimpft sie Hoyer in einem Brief an Knudsen als „dreckigen Judenmacker“, der sie bei den Einnahmen des Buches übervorteile und einen Text, den sie „beina30 31 he geschrieben hatte“, nur „banalisiert und umgearbeitet“ habe. Während sich Wegener in einer Position als Mitautorin sieht und Hoyer offensichtlich mehrmals beschuldigt, das Buch von ihr gestohlen zu haben, erkennt dieser zwar ihre Beteiligung an einem frühen Manuskriptentwurf an, sieht jedoch nur sich und ‚Lili Elbe‘ in einer Verfasserposition: „Wie liegt der Sachverhalt? Doch folgendermassen: das Lili Elbe Buch ist nicht Ihnen durch mich gestohlen worden, sondern es verdankt ausschliesslich meiner Zusammenarbeit mit Lili Elbe sein Erscheinen. Das Manuskript, das Lili Elbe und Sie, die beide keine Schriftsteller sind, verfertigt hatten, hätte niemals einen seriösen Verleger gefunden.“32

Entsprechend fokussieren die Hinweise in Fra Mand til Kvinde den Schreibprozess abschließend auf die zwei literarischen Charaktere, die an Lili Elvenes und Niels Hoyer angelehnt sind. Ermuntert durch ihren Neffen beginnt die literarische Lili nun ein Tagebuch zu führen, in dem sie ihre Gefühle und Erfahrungen auf-

26 Vgl. Brief von Niels Hoyer an Martin Mörike (Chronos Verlag), Kopenhagen, 26.09.1932, EHA; vgl. Hoyer an Schumann, 24.02.1932, S. 3. 27 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 86ff. 28 Vgl. ebd., S. 162. 29 „skidne Jødetamp“, Brief von Gerda Wegener an Poul Knudsen, Marrakech, 22.10.1933, S. 4, NKS 2692. 2°. I. 2. 30 „omtrent havde skrevet“ (Hervorhebung im Original), ibid. 31 „banaliseret og omlavet“, ibid. 32 Hoyer an Wegener, 04.01.1933, S. 1.

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schreibt. Dieses als Selbsthilfe und Hilfe für Andere angedachte Projekt resultiert 34 in einer zunehmenden Eigenanalyse, welche eine Gretes Außensicht gegenüberstehende Innensicht des Subjekts in den Text zu integrieren scheint. Der autographische Charakter des vermeintlichen Tagebuches, welches nun vermehrt zitiert wird, wirkt zusätzlich als ein authentifizierendes Moment mit einem Genre-Effekt 35 innerhalb des autobiographischen Rahmens. Die nichtliterarische Form dieser Dokumente impliziert jedoch in Hinsicht auf eine Buchveröffentlichung die Notwendigkeit einer erzählerischen Linie und so wird in einem dieser Tagebucheinträge von Lili eine lektorierende Instanz eingeführt: „Ich habe einen neuen Freund gefunden, der mir dabei helfen will, die losen Aufzeichnungen, die ich über mein Leben gemacht habe, die Bekenntnisse, die ich 36 vor mir selbst abgelegt habe, zusammenzuführen.“ Dieser Freund bekommt zwar keinen Namen in der Narration, doch wird der Rückbezug zum Vorwort und somit zu Hoyer deutlich. Durch die Integration des paratextuell vorgestellten Herausgebers Hoyer in den narrativen Schreibprozess wird nun ein expliziter Kreuzungspunkt zwischen intra- und extratextueller Ebene gesetzt. Um die bis dahin als Autobekenntnisse fungierenden Niederschriften wieder in die Form der Beichte zu überführen, figuriert dieser neue Freund – in Anlehnung an die für Andreas von Niels Hvide eingenommene Funktion – nun als beichtempfangenes Gegenüber für Lili. Zunächst gibt sie ihm ihre losen Aufzeichnungen, damit er diese liest, sie berät und

33 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 143; in den Aufzeichnungen von Elvenes’ Neffen Sigurd Wegener-Thomsen, die auch Harthern einsehen konnte, ist jedoch nie die Rede von einem Tagebuch, sondern immer von einem Buch, vgl. Brief von Sigurd WegenerThomsen an Ernst Harthern, Gentofte, 15.06.1931, EHA. 34 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 161. 35 Es bleibt festzuhalten, dass auch die Authentizität dieses textuell als autographisch ausgewiesenen Dokuments zunächst nur eine funktionalisierte narrative Suggestion darstellt. Es findet sich – meinen Recherchen zufolge – kein extratextueller Nachweis dafür, dass es ein Tagebuch gegeben hat – ein Aspekt, der in wissenschaftlichen Beiträgen oft verloren geht, da Aussagen, die auf die Verarbeitung hinterlassener Aufzeichnungen verweisen, paratextuelle Informationen aus Hoyers Vorwort und/oder Haires Einführung übernehmen und damit unweigerlich die Vorstellung einer Authentizität dieser vermeintlichen Quellen weitertransportieren, vgl. Runte 1996, S. 438 u. S. 445; vgl. Runte 1998, S. 124; vgl. Gilman 1999, S. 277; vgl. Rosenbeck 1997, S. 47; vgl. Heitmann 1994, S. 83; vgl. Armstrong 1998, S. 170; vgl. Steinbock 2009, S. 142; vgl. Steinbock 2012, S. 155 u. S. 164; vgl. Heede 2012b, S. 178. 36 „Jeg har fundet en ny Ven, der vil hjælpe mig med at sammenføje de løse Optegnelser, jeg har gjort om mit Liv, de Bekendelser, jeg har aflagt for mig selv.“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 161.

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ihr hilft, wenn sie nicht weiterkommt. Mehr und mehr werden die Treffen jedoch zu einem für Lili notwendigen mündlichen Austausch über ihre Notizen, welche sie 38 ihn bittet, für sie zu sammeln. Besagter Freund wird dabei nicht nur zu einer Reflektionshilfe, sondern zu einer Instanz, welche die Beichte in ihrer ‚tiefsten Wahrhaftigkeit‘ erst hervorzulocken vermeint: „Ich habe Ihre Beichte Seite für Seite gelesen, das wissen Sie. Und ich verstehe auch die Schüchternheit, die Sie bei Ihren Bekenntnissen fühlen. Sie sind Frau …… daher fürchten Sie sich vielleicht, ihr Äußerstes preiszugeben, denn das Äußerste ist das Brutale …… Aber alle Wahrheit ist doch brutal und zu einem gewissen Grade schamlos, und es gibt wenige Menschen, die den Mut haben das Innerste zu sehen, die vollkommenste Scham …… die Scham der Schamlosigkeit.“39

Es wird deutlich, wie sich der Prozess der Beichte zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit abspielt und sich über ein sakramentales Medium in Form des Freundes – und schlussendlich des Textes – manifestiert. In der Beichte kann es 40 keine Scham geben, da Scham die Wahrheit verstellt. Dieser Wahrheitsappell ist es auch, der abschließend in weiteren, die Beichte unterstreichenden Authentizitätsversicherungen mündet. Die sakramentale Befähigung des deutschen Freundes bei der Bewertung von Lilis Beichte geht dabei über eine Absolutionserteilung hinaus, denn er bescheinigt ihr zudem, dass sie eine fast religiös anmutende Sonderstellung einnehme und bringt sie damit zu einem kathartischen Weinen: „Ihre Brücke, Lili, führt tiefer hinein in die Vergangenheit, als Sie jetzt erahnen ...... sie führt über den Abgrund, der sonst Mann und Frau trennt …… es ist dieses Schicksal, das Sie zu einer Auserwählten macht …. zu etwas Einzigartigem inmitten der gesamten übrigen Menschheit. […] Dieses noch nur ahnende Wissen haben Sie in ihre Beichte gebracht …… oft unbewusst und oft in mangelhafte, tastende und armselige Worte gekleidet. Viele Male

37 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 162. 38 Vgl. ebd. 1931, S. 167. 39 „Jeg har Side for Side læst Deres Skriftemaal, det ved De. Og jeg forstaar ogsaa den Skyhed, De føler ved Deres Bekendelser. De er Kvinde ...... derfor frygter De maaske for at give de yderste, thi det yderste er det brutale ...... Men al Sandhed er jo brutal og til en vis Grad skamløs, og der er faa Mennesker, der har Mod til at se den inderste, den mest fuldkomne Skam ...... Skamløshedens Skam.“, ebd., S. 168. 40 Hier ergibt sich eine frappierende Diskrepanz zwischen der Heraushebung der Schamhaftigkeit der narrativen Lili und den Aussagen von Elvenes in dem Brief an Knudsen, der beschreibt, dass Loulou Lassen ihr Manuskript abmildern musste. Welche Vorstellungen von Weiblichkeit damit verbunden sind, werde ich in 3.2.5 aufgreifen.

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geben Sie nur eine Andeutung …… und viele Male verschweigen Sie auch etwas, weil Ihr Schamgefühl Sie zurückhält.“41

Durch die Augen des Freundes werden mögliche Auslassungen bereits avisiert und über die Konstitution des Subjekts legitimiert. So resümiert die Erzählinstanz am Ende dieses narrativen Stranges, dass Lilis Beichte abgeschlossen sei und dass sie, 42 „[w]as bis dahin mit ihr geschehen war, […] ehrlich bekannt“ habe. „Einmal sollten ihre Bekenntnisse – und sie lächelte bei dem Gedanken – unter die Menschen 43 gebracht werden ……“ Während Lilis Beichte und somit auch der erzählerische Textteil an der Stelle beendet werden, als sie sich ein letztes Mal auf den Weg nach Dresden macht, sind weder das Buch noch die dialogisch-dynamische Erzählstruktur zwischen Lili und besagtem Freund abgeschlossen. Im Ausklang wird die (auto-)biographische Führung durch das erzählte Leben in Form von Briefen fortgesetzt, welche Lili in ihren letzten Monaten an den deutschen Freund in Kopenhagen geschickt haben soll. Dieser plötzlich erscheinende Gattungswechsel fungiert als doppelte Authentizitätsversicherung für das vorliegende Buch. Auf der einen Seite suggeriert er, dass Lili am gesamten Text beteiligt war und unterstreicht den Fokus auf ihren Schreibakt, der genau zu dem Zeitpunkt abbrechen muss, an dem sie nicht mehr aktiv daran mitwirken kann. Auf der anderen Seite kommt in den abschließenden Briefpassagen vermeintlich ausschließlich Lili zu Wort, da nur ihre Seite der Korrespondenz abgedruckt wird. So wird die Mündlichkeit der Beichte zwar angedeutet, doch ist es die Inszenierung von Lilis Schreibakt und ihrer entsprechenden Subjektivität im Schreibprozess, die narrativ in den Vordergrund rückt. Niels Hoyers Notizen auf dem Deckblatt seines Manuskripts hingegen betonen 44 die Mündlichkeit der vorliegenden Beichte. Die Balance zwischen Mündlichkeit

41 „Deres Bro, Lili, fører dybere ind i Fortiden, end De nu aner …... den fører over den Afgrund, der ellers skiller Mand og Kvinde ...... der er den Skæbne, der gør Dem til en Udvalgt ...... til en Ener blandt hele den øvrige Menneskehed. [...] Denne endnu kun anede Viden har De bragt ind i Deres Skriftemaal ...... ofte ubevidst og ofte klædt i mangelfulde, famlende og fattige Ord. Mange Gange giver De kun en Antydning ...... og mange Gange fortier De ogsaa noget som om Deres Skamfølelse holdt Dem tilbage.“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 169. 42 „Hvad det hidtil var sket med hende, [...] ærlig bekendt“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 177. 43 „En Gang skulde hendes Bekendelser – og hun smilte med Tanken – sendes ud blandt Menneskene ......“, ibid. 44 In einem vorläufigen Untertitel schreibt er: „Nach Aufzeichnungen vieler Gespräche mit Lili Elbe“, Lili Elbe Buch (Manuskript), 1. Deckblatt.

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und Schriftlichkeit spielt sowohl intra- als auch extratextuell eine große Rolle, da sich hier nicht nur die Fragen nach einer rein textuellen Autorschaft und Gattungsspezifik entscheiden, sondern auch werbewirksame, urheberrechtliche und ökonomische Aspekte eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen. Hoyer unterstreicht nicht nur paratextuell sondern auch extratextuell wiederholt die Tatsache, dass es sich bei Fra Mand til Kvinde nicht um einen Roman, sondern 45 um einen autobiographischen Lebensbericht handele und es dementsprechend 46 keine Vermischung von Wahrheit und Dichtung gäbe. Die Gefahr, welche diese Grenzlinie mit sich bringt, ist Hoyer überaus bewusst und dementsprechend deutlich distanziert er sich von der Vorstellung, dass der Text literarisch sei. Sein Fokus liegt auf einem naturalistischen Verständnis von Wirklichkeit, indem er von der 47 confessio als einem document humain ausgeht: „Lili Elbe, die kein Literat war, soll zum Leser sprechen. Hätte daraus ein literarisches Buch gemacht werden sollen, so hätte i c h das Buch natürlich ganz anders aufgebaut, umgemodelt, – aber 48 dann wäre der Charakter des Buches gefälscht worden.“ Hoyer spricht hier drei zentrale Faktoren an: (1) er sieht sich selber in der produzierenden Position, (2) die sprechende Stimme soll die Lili Elbes sein und dabei geht es in erster Linie nicht darum, eine Verfälschung von deren Stimme zu verhindern, sondern (3) den Charakter des Buches nicht zu verfälschen – den autobiographischen Charakter. In diesem Sinne ist auch Hoyers ansonsten recht paradox anmutende Aussage zu verstehen: „Es ist also zu sagen, dass mein ganzes Buch von Anfang bis zu Ende authen49 tisch ist!“ 50 Während er den Text als „ein ehrendes Denkmal für Lili Elbe“ auffasst, wel51 chem er seine Worte und Gedanken geliehen habe, variiert seine Inszenierung der auktorialen Kompetenzen auf den verschiedenen ökonomisch bedingten Schauplätzen. Auf der öffentlichkeitswirksamen Bühne figuriert Hoyer eher als Herausgeber,

45 Vgl. Brief von Niels Hoyer/Ernst Harthern an Ali (Agence Littéraire International Paris), Kopenhagen, 16.11.1932, EHA; vgl. Brief von Niels Hoyer an Frank’sche Verlagsbuchhandlung, Kopenhagen, 17.03.1932, EHA; vgl. Brief von Niels Hoyer an Harry Schumann, Kopenhagen, 24.03.1932, S. 2, EHA. 46 Vgl. Brief von Niels Hoyer an Harry Schumann, Kopenhagen, 30.12.1931, S. 3, EHA. 47 Vgl. Brief von Niels Hoyer an Harry Schumann, Kopenhagen, 27.06.1932, S. 1, EHA. 48 Brief von Niels Hoyer an Herrn Heinrich (Carl Reissner Verlag), Kopenhagen, 16.06.1932, EHA (Hervorhebung Hoyer); Hoyer plant, einen Roman zum Thema zu schreiben, in den er noch unveröffentlichtes Material aufnehmen wolle, vgl. Brief von Niels Hoyer an Carl Th. Schrembs, 09.01.1933, EHA. 49 Brief von Niels Hoyer an Maurice Diamond (Jarrolds London), 14.11.1932, S. 2, EHA. 50 Hoyer an Wegener, 04.01.1933, S. 1. 51 Vgl. ibid.

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während er sich in den urheberrechtlichen Kulissen deutlich als der Verfasser des 52 Buches versteht. Diese Anpassung der Darstellung von Authentizität sowie Produktionsinstanz erfolgt dabei primär an publikationspolitischen Schnittstellen zwischen den verschiedenen Verlagen und Hoyer, welcher im Vertrag mit dem deutschen Carl Reissner Verlag zudem erklären muss, „im Besitz sämtlicher Urheberrechte an den Niederschriften von Lili Elbe-zu [sic] sein, und über diese frei verfü53 gen zu können.“ Der Schluss, dass Hoyers Machtposition absolut ist, liegt nahe. Doch ist Elbes vermeintliche Autorschaft wirklich nur eine Marketingstrategie und der Text, wie Runte es beschreibt, „durch eine stumme Stimme geprägt […], die allenfalls als 54 Name auf dem Buchdeckel figuriert“? Ich plädiere hier für eine differenziertere Argumentation, da die Strukturen wesentlich komplexer sind und über die durch die Form der Beichte suggerierte Dialogizität hinausgehen. Wie schon Armstrong an55 merkt, handelt es sich um „einen Text mit vielen ‚Autoren‘“, von denen sich zumindest Niels Hoyer, Lili Elvenes, Gerda Wegener und Loulou Lassen über einen explizit extratextuell formulierten Anspruch auf Autorschaft ausmachen lassen. Zwar drängen sich an dieser Stelle die bereits erwähnten poststrukturalistischen Intertextualitätskonzepte wieder auf, da Vorstellungen von Mosaik, Spuren oder Echoräumen in diesem Stimmenpluralismus durchaus fruchtbar gemacht werden 56 können, doch verstellt diese Herangehensweise den Blick auf den Platz des Sub57 jekts im Diskurs. Steinbock, die ebenfalls auf dieses Problem hinweist, versucht 58 dementsprechend die auktoriale Subjektivität bei Elbe zu verorten, während Stone

52 Angesichts einer britischen Neuauflage im Jahr 1937 beleuchtet ein Brief des dortigen Verlages die publikationsrelevanten Aspekte bezüglich der Autor- und Herausgeberschaft: „MAN INTO WOMAN appeared as edited by you, which of course is different from its appearing as being actually written by you. This distinction – though a slight one, does make the situation easier.“, Brief von Jarrolds an Ernst Harthern, London, 17.06.1938, EHA. 53 Vertrag zwischen Niels Hoyer, Kopenhagen (Ernst Harthern) und dem Verlag Carl Reissner, Dresden-N. 6, 07.01.1932, EHA. 54 Runte 2006, S. 129. 55 „a text with many ‚authors‘“, Armstrong 1998, S. 170; vgl. auch Meyer 2011, S. 70. 56 Meine frühere Beschreibung von Fra Mand til Kvinde als Collage ließe sich in diesen poststrukturalistischen Kanon einpassen, vgl. Meyer 2011, S. 70. 57 Vgl. Steinbock 2009, S. 130. 58 Vgl. ebd., 143ff.; in einem späteren Aufsatz verknüpft sie autobiographisches Schreiben mit dem kinematographischen Genre des ‚Biopic‘ (Filmbiographie), vgl. Steinbock 2012, S. 164; auch Hausmann, Heede und Rosenbeck betonen zunächst den autobiographischen Charakter des Textes und sehen in Elbe dessen Hauptproduzentin.

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sie bei Hoyer sieht. Die ausschließliche Fokussierung auf Elbe und/oder Hoyer ist 60 in Forschungsbeiträgen prominent und wird entweder an den dargelegten Polen verhandelt oder, wie bei Runte, als eine unentwirrbare Verschmelzung der „Sender61 und Empfänger-Pole zu einer einzigen Instanz“ verstanden. Ich behaupte jedoch, dass weder Elbe noch Hoyer eigenständig die sprechende Position im Text übernehmen und dementsprechend auch keine exklusive auktoriale Synthese eingehen – sie agieren also nicht als Runte’sches ‚sandwich‘. Zunächst einmal liegt ein Text vor, in dem niemand dezidiert spricht und alle Akteure Teile der Inszenierungen eines intratextuellen Schreibprozesses sind. Was Elbe und Hoyer jedoch heraushebt, ist die Tatsache, dass sie paratextuell – je nach Ausgabe variierend – mit ihrer unterschiedlich konstruierten extratextuellen namentlichen Identität für Fra Mand til Kvinde bürgen. Damit übernähmen sie, nach 62 Foucault, „eine bestimmte Rolle in Bezug zum narrativen Diskurs“, die eine klas63 sifikatorische Funktion gewährleiste. Im Namen – als Indikation für „den Status 64 des Diskurses innerhalb einer Gesellschaft und einer Kultur“ – manifestiert sich für Foucault die Autor-Funktion. Diese sei aller modernen Literaturkritik zum Trotz 65 weiterhin mit alten Projektionen besetzt und unterstütze das Verständnis spezifischer Diskursformationen: „The manner in which they [discourses] are articulated according to social relationships can be more readily understood, I believe, in the activity of the author-function and in its modifications, than in the themes or con66 cepts that discourses set in motion.“ Foucault macht zudem deutlich, dass in diesem Funktionskonstrukt der Autor nicht einfach auf ein einziges reales Individuum 67 verweist. Autorschaft sei demnach zuallererst eine Funktion und nicht unmittelbar auf eine individuelle Subjektivität übertragbar, obwohl sich das Band einer textuellen Identitätskonstruktion bevorzugt um diese beiden Fixpunkte lege. Wird die Frage nach dem ‚wer spricht‘ somit hinfällig oder hat Foucault nicht vielmehr dargelegt, dass eine erschöpfende Antwort nach Subjektivität nicht in einer paratextuellen Suggestion von Autorschaft zu finden sei? Argumentiert hat er meines Erachtens Letzteres. Damit zeigt er einen Weg auf, sich über den vorge-

59 Vgl. Stone 2006, S. 225ff. 60 Tim Armstrongs Beitrag bildet hier eine Ausnahme. 61 Runte 1996, S. 40; daran angelehnt kann auch Herrns Argumentation zur Autorschaft verstanden werden, vgl. Herrn 2004, S. 204. 62 „a certain role with regard to narrative discourse“, Foucault 1979, S. 147. 63 Vgl. ibid. 64 „the status of the discourse within a society and a culture“, ibid. 65 Vgl. ebd., S. 150ff. 66 Ebd., S. 158. 67 Vgl. ebd., S. 153.

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schlagenen Begriff der Autor-Funktion der diskursiven Verfasstheit eines Textes in Bezug auf Subjektivität anders zu nähern: über die Stellen, in denen das Subjekt eingeführt wird, über dessen Funktionsmodi und über das Abhängigkeitssystem, in 68 dem es sich bewegt. Mit Blick auf diese Parameter möchte ich mich nun dem Ausklang des Buches nähern und untersuchen, wie sich die Inszenierung von autographischer Authentizität zum Subjekt verhält. Die sukzessive auf Lili und den deutschen Freund zugespitzte Produktionssituation findet ihren finalen Höhepunkt in der Reproduktion von Briefen, die Lili an diesen geschrieben haben soll. Während durch die Präsentation von Lili als Sender und dem Freund als Empfänger die bekenntnishafte Dialogizität in Briefform fortgesetzt und auf diese beiden Pole reduziert wird, entsteht gleichzeitig der Eindruck, dass es ausschließlich Lilis Worte seien, die das Buch nun mit der größtmöglichen Authentizität vervollständigen. Ich werde hingegen argumentieren, dass dieser Teil der Veröffentlichung die Grenzen von Elvenes’ Agency in der Textproduktion am deutlichsten zu Tage treten lässt. Hoyer betont vor der Herausgabe von Man into Woman, dass Lili Elbe sein Manuskript „noch vor ihrem Tode bis auf die deutschen Druckseiten 240 bis 252 gele69 sen“ habe. Die Schlussfolgerung, dass die briefförmige Vollendung der Publikation somit ausschließlich an Hoyers Entscheidungsmacht hängt, liegt nahe. Obwohl 70 er darauf hinweist, dass es sich um „Bruchstücke aus Briefen“ handele, gelingt es ihm, den editorischen Anteil hinter Lilis vermeintlicher Stimme verschwinden zu lassen. Mit der Auswahl nur ihres Teils der dialogischen Korrespondenz lässt er sie scheinbar unkommentiert sprechen und überträgt ihr gleichzeitig die textinhaltliche Verantwortung für einen Abschluss des Buches, zu dem sie nicht ihr Einverständnis hat geben können. Lili stellt zwar vordergründig eine selbstbestimmte sprechende Instanz dar, doch bewegen sich die vermeintlich referentiellen Aussagekomplexe, über die ihre Agency suggeriert wird, ausschließlich innerhalb der Grenzen von Hoyers Regie. Dieser fokussiert seine Auswahl unter anderem auf textlegitimierende Briefpassagen, die den Veröffentlichungsimpuls außerhalb seiner Herausgeberschaft verorten. Neben Lili, die es in einem auf den 14. Juni datierten Brief als ihre 71 „moralische Pflicht“ ansieht, die Beichte unter die Menschen zu bringen, wird ebenfalls der schon im Vorwort eingeführte Arzt erneut zur Authentifizierung der Bekenntnisse herbeizitiert, denn „er meint auch, dass sie als Buch herausgegeben 72 werden sollen.“ (Abb. 2)

68 Vgl. Foucault 1979, S. 158. 69 Hoyer an Diamond, 14.11.1932, S. 2. 70 „Brudstykker af Breve“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 180. 71 „moralske Pligt“, ibid. 72 „Ogsaa han mener, at de skal sendes ud som en Bog.“, ibid.

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Abbildung 2

Fra Mand til Kvinde 1931, S. 180.

Der Bogen, der hier zwischen Vorwort und Schlussteil gespannt wird, fokussiert die Autorisierungsbemühung auf die Achse zwischen dem Arzt Werner von Kreutz und der Patientin Lili Elbe – eine Paarung, die nicht zufällig gewählt ist, sondern sich, so meine These, mit Hinsicht auf die Gattungsimplikationen des Textes in zeitge73 nössische publikationspolitische Anforderungen einschreibt. Einen auf den 14. Juni 1931 datierten Brief von Elvenes an Hoyer, in dem sich ein Teil der in Fra Mand til Kvinde abgedruckten Abschnitte wiederfindet, hat es tatsächlich gegeben, doch er beinhaltet weder die erwähnte Formulierung von Lili noch den Hinweis des 74 Arztes. (Abb. 3-5) Auch weitere Aussagen zur textuellen Zusammenarbeit mit ihrem Chirurgen finden sich nur modifiziert im publizierten Text wieder:

73 Hier ist vor allem die Übernahme des fallgeschichtlichen Musters bedeutsam, vgl. 1.1.1. 74 Vgl. Brief von Lili Elbe an Ernst Harthern, Dresden, 14.06.1931, EHA.

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Abbildung 3

Lili Elbe an Ernst Harthern, Dresden 14.06.1931, S. 1, EHA.

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Abbildung 4

Lili Elbe an Ernst Harthern, Dresden 14.06.1931, S. 2, EHA.

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Abbildung 5

Lili Elbe an Ernst Harthern, Dresden 14.06.1931, S. 3, EHA.

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96 | »W IE L ILI ZU EINEM RICHTIGEN M ÄDCHEN WURDE « Originalbrief: „Professor Warnekros möchte sehr gerne die ersten Kapitel lesen und nach und nach alles – und uns eventuell mit den Worten helfen, die wir Werner Kreutz in den Mund legen“.75 Fra Mand til Kvinde: „Der Professor hat versprochen meine Bekenntnisse zu lesen und mir dabei zu helfen, sie zu korrigieren, falls das notwendig wird…“76

Während im Buch eher die Inszenierung eines Abhängigkeitsverhältnisses im Vordergrund steht, kommt bei Elvenes’ Brief der Konstruktionscharakter der Textproduktion wesentlich deutlicher zum Tragen. Die Implikationen, die eine Formulierung wie ‚in den Mund legen‘ transportiert, machen jedoch die Produktionssituation auf eine Art und Weise transparent, die nicht die ‚Wahrhaftigkeit‘ unterstreichen würde, nach welcher Hoyer strebt. In diesem Licht lassen sich auch dessen Modifikationen nachvollziehen, da sie sich gleichzeitig in seine Authentizitätsinszenierung und in das Narrativ der engen Bindung von Lili an ihren Arzt einfügen. Jene Bindung, die historisch durchaus für Elvenes zu ihrem Chirurgen Kurt 77 Warnekros nachweisbar ist, geht in ihrer textbezogenen Bedeutsamkeit hingegen über diese Achse hinaus. Warnekros nimmt für Hoyer in dessen Verhandlungsstrategien rund um Fra Mand til Kvinde eine wichtige Position ein. Hoyer betont in seiner Korrespondenz wiederholt, dass der Mediziner sein Manuskript gelesen und 78 gutgeheißen habe und merkt an, dass er es „zur absoluten Bedingung machte, dass Herr Prof. Dr. Warnekros das Werk vor Drucklegung im Dänischen begutachten 79 müsse.“ Warnekros liest zunächst in größeren Abständen die verschiedenen Ma80 81 nuskriptbögen und nimmt punktuell Änderungen vor. Schließlich liegt ihm auch 82 das komplette Manuskript vor, in welchem er weitere Anmerkungen notiert. Der

75 „Professor Warnekros vil meget gerne læse de første Kapitler og efterhaanden alt – og eventuelt hjælpe os med de Ord, vi lægger Werner Kreutz i Munden“ (Hervorhebung Elbe), Elbe an Harthern, 14.06.1931, S. 1. 76 „Professoren har lovet at læse mine Bekendelser og hjælpe mig med at rette på dem, hvis det behøves…“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 180. 77 Elvenes versteht ihr ursprüngliches Manuskript als eine „Apotheose an Werner von Kreutz“ („Apotheose til Werner von Kreutz“), Elvenes an Knudsen, 31.01.1931, S. 1. 78 Vgl. Hoyer an Ali, 16.11.1931; vgl. Hoyer an Schumann, 24.03.1932, S. 2. 79 Hoyer an Schumann, 30.12.1931, S. 1. 80 Vgl. Brief von Kurt Warnekros an Niels Hoyer, Dresden 07.10.1931, EHA. 81 Vgl. Brief von Kurt Warnekros an Niels Hoyer, Dresden 14.08.1931, EHA; vgl. Brief von Lili Elvenes an Maria Garland, 07.08.1931, EHA; vgl. Brief von Lili Elvenes an Maria Garland, Dresden, 18.08.1931, S. 1, EHA; Garland ist die Frau von Ernst Harthern. 82 Bei dem erhaltenen Manuskript handelt es sich um Warnekros’ Exemplar.

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Austausch über die Publikation läuft bei Elvenes, Hoyer und Warnekros zunächst über alle drei Achsen. Somit liegt es nahe, dass Letzterer aktiver in den Schreibpro83 zess eingebunden ist, als der Text zunächst vermuten lässt. Da Warnekros’ Beteiligung in Fra Mand til Kvinde jedoch eher als das Absegnen eines bereits existierenden Manuskripts darstellt wird, hat seine Rolle für die Textproduktion – abgesehen von einer paratextuellen Autorisierung – in der Forschung bisher kaum Auf84 merksamkeit gefunden. Dort bleibt eher die im Text fokussierte hierarchische Arzt-Patientin-Achse zentral, während deren Inszenierungsstruktur sowie die Rolle, die Hoyer dabei übernimmt, nicht in Frage gestellt wird. Mit der wiederholten Betonung, dass Warnekros in seinem Manuskript lediglich 30-40 Zeilen geändert ha85 86 be und diese Änderungen bei Drucklegung berücksichtigt worden seien, unterstreicht Hoyer einerseits die Qualität seines Manuskripts und sichert sich andererseits über ein Expertensiegel ab. Insgesamt gelingt es Hoyer, sich sowohl intra- als auch extratextuell in die jeweils relevanten gattungsspezifischen Normen einzupassen und gleichzeitig den Verdacht der Verfälschung zu umgehen, indem er den vermeintlichen Publikationswunsch von Patientin und Arzt Elbe in die Feder legt und somit in einen autographischen Rahmen einschreibt. Wie sehr der abschließende Briefteil zu einem Sprachrohr von Hoyers publikationspolitischer Agenda avanciert, wird über die Modifikationen in Ein Mensch wechselt sein Geschlecht deutlich. In seiner Korrespondenz mit dem Carl Reissner Verlag Dresden, welche hauptsächlich über dessen Inhaber Harry Schumann läuft, kündigt Hoyer an, dass die deutsche Version des Buches eine Vielzahl neuer au-

83 Vgl. Brief von Lili Elvenes an Niels Hoyer, Dresden, 15.08.1931, EHA; es ist davon auszugehen, dass Warnekros zu Elvenes’ Lebzeiten noch nicht das gesamte Manuskript gelesen hat, vgl. Elvenes an Garland, 18.08.1931. 84 Die Analysen konzentrieren sich beim Schreibprozess auf das Verhältnis zwischen Elbe und Hoyer, während die Arzt-Patentin-Achse auf die identitätsstiftenden Aspekte der Narration beschränkt bleibt. Runte verweist zwar auf die paratextuelle Autorisierung des Textes durch den Chirurgen, führt aber nicht den dahinter stehenden Funktionalisierungsgedanken weiter, der sich nahtlos an ihre Argumentation zur transsexuellen Lebensgeschichte als einer Nachfolgerin der Fallgeschichte hätte anschließen lassen, vgl. Runte 1996, S. 438. 85 Die Zeilenangaben variieren von Brief zu Brief, vgl. Hoyer an Diamond, 14.11.1932, S. 2; vgl. Hoyer an Schumann 30.12.31, S. 1; vgl. Hoyer an Schrembs, 09.01.1933, S. 1; dass es überhaupt Änderungen von Seiten Warnekros’ gab, ist im publizierten Text nicht vermerkt, so dass der Eindruck entstehen kann, Warnekros habe diesen lediglich abgenickt und keine Korrekturen vorgenommen. 86 Vgl. Hoyer an Diamond, 14.11.1932, S. 2.

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thentischer Dokumente enthalten solle. Von diesen verspricht er sich eine erhär88 tende Wirkung für die Wahrhaftigkeit des Buches. Schumann, der sich von mög89 lichst vielen Briefen ein „ausführliches psychologisches Bild“ erhofft, unterstützt Hoyer in dessen Vorhaben, den Text dementsprechend zu ergänzen. Dieser erweitert zunächst das vierzehnte Kapitel um eine Reihe von Briefen, die Lili an Grete 90 geschickt habe, weist Schumann jedoch dezidiert darauf hin, dass er nichts dazu91 dichten dürfe, „[s]onst könnte man [ihm] daraus einen Strick drehen.“ Dementsprechend interessant sind zwei Briefe, die sich im Ausklang von Ein Mensch wechselt sein Geschlecht in den Briefreigen einreihen. Die erste, auf den 15. Juni datierte Ergänzung wird von Hoyer bereits in seiner Korrespondenz mit Schumann 92 als bedeutsam herausgehoben und beinhaltet eine Reihe von Aussagen, welche die Wahrhaftigkeit der Darstellung des Schreibprozesses sowie des Textes selbst betonen. Unter anderem wird der Rahmen der Beichte nochmals unterstrichen und der 93 deutsche Freund dezidiert als „Beichtvater“ bezeichnet. Der zweite, auf den 18. Juni datierte Brief präsentiert sich als eine unauffällige Alternative zu einem erweiterten Vorwort und zum Hinzufügen eines Epilogs. Während zunächst beides ange94 dacht wird, möchte sich Hoyer später nur auf eine ausführlichere Introduktion konzentrieren, in der er sowohl die Erzählstruktur des Textes – inklusive der wechselnden Form und den wechselnden Erzählpositionen – als auch weitere medizini-

87 Er informiert Schumann darüber, dass er von Lilis Familie nach Erscheinen der dänischen Ausgabe weitere Briefe erhalten habe, die er nun einarbeiten wolle – Empfänger dieser Briefe waren laut Hoyer Lili Elvenes’ Schwager Ing. Thomsen und Gerda Wegener, vgl. Hoyer an Schumann, 30.12.1931, S. 3; vgl. Hoyer an Schumann, 24.02.1932, S. 1f.; vgl. Brief von Niels Hoyer an Harry Schumann, Kopenhagen 04.01.1932, EHA. 88 Vgl. Brief von Niels Hoyer an Harry Schumann, Kopenhagen, 07.01.1932, S. 1, EHA. 89 Brief von Harry Schumann an Niels Hoyer, Dresden, 08.02.1932, S. 2, EHA. 90 Vgl. Hoyer an Schumann, 24.02.1932, S. 1; zu diesen Einfügungen findet sich auch im vorliegenden Manuskript bereits eine Notiz, vgl. Lili Elbe Buch (Manuskript), S. 160; in Ein Mensch wechselt sein Geschlecht ist dieser Briefteil als eigenständiges Kapitel (15) zu finden, vgl. Elbe 1932, S. 163-186; da die Version mit den eingefügten Briefen erst Monate nach Elvenes’ Tod konzipiert wird, kann sie also gar nicht, wie von Hoyer behauptet, die deutschen Druckseiten (bis. S. 239) in ihrer Gesamtheit eingesehen haben. 91 Vgl. Hoyer an Schumann, 24.02.1932, S. 1; so erwägt Hoyer zunächst auch zu den im Text ergänzten Briefen eine Fußnote einzufügen, die darauf hinweist, dass ihm diese erst nach Lilis Tod übergeben wurden – eine solche Fußnote findet sich in Ein Mensch wechselt sein Geschlecht jedoch nicht wieder, vgl. Hoyer an Schumann, 24.03.1932, S. 1. 92 Vgl. Hoyer an Schumann, 24.03.1932, S. 2. 93 Elbe 1932, S. 241. 94 Vgl. Hoyer an Schumann, 07.01.1932, S. 1.

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sche Details zu den chirurgischen Eingriffen zu erklären beabsichtigt. Letztendlich finden sich keine zusätzlichen Informationen im deutschen Vorwort, doch ähnelt jener hinzugefügte Brief diesen Ausführungen und fasst zudem Hoyers publikationspolitische Agenda konzise zusammen: „Ob ich für das Buch ein Vorwort schreiben sollte? Damit die Menschen verstehen können, weshalb ich, wenn ich von Andreas erzähle, immer in der dritten Person spreche, wie in Romanform? Ach lieber Freund, wie könnte ich denn eine andere Erzählform gewählt haben? I c h konnte doch, erzählte ich von Andreas’ Leben, nicht in der Ich-Form erzählen. Auch, wenn ich von mir selber sprach, von meinem eigenen Leben und Erleben nach – Andreas’ Fortgang, konnte ich nicht immer in der Ich-Form schreiben. Alles war mir noch zu nahe... Deshalb mußte ich auch oft mich selber auf Abstand bekommen, von mir wie von einer Dritten sprechen... Welch ein Glück, daß ich Andreas’ langen Lebensbericht in Berlin bei Niels vor der ersten Operation dort bekommen konnte. – Ja, hätte ich mit dem ganzen Buch noch warten können... was Sie mir immer wieder vorgeschlagen hatten, dann hätte ich vieles vielleicht besser, stärker, brutaler niederschreiben können. Sie sagen, die Leute, die mein Buch lesen, wollen auch etwas von der Art und dem Gang der Operationen erfahren. […] Oh, lieber Freund, mehr kann ich nicht schreiben. Sprechen konnte ich mit Ihnen über alles, das habe ich Ihnen in Kopenhagen bewiesen. Sie wissen es auch, wie ich gekämpft und gerungen habe, um die einfachste, schlichteste Form für meinen Lebensbericht zu finden. Ich bin ja kein Schriftsteller. Und dies Buch, aus Tagebuchaufzeichnungen und erzählenden Abschnitten und Briefen entstanden, mußte ich ja in so kurzer Zeit zwischen Spätherbst und Frühjahr, zwischen schwersten Operationen wie zwischen ‚Zwei Schlachten‘ schreiben.... Gewiß hoffe ich durch dieses Buch auch meine äußere Existenz aufbauen zu können. Kann man mir daraus einen Vorwurf machen? Nein! Und dann schrieb ich ja auch alles, um m i r und meinem großen Helfer Rechenschaft abzulegen! Daß er nun den deutschen Text davon gelesen und gutgeheißen hat, mit meinem Rechenschaftsbericht zufrieden ist, ist meine größte Freude und tiefste Genugtuung für mich. Mehr als ein Seelengemälde konnte ich nicht geben, ein ‚Document humain‘, eine ‚Confessio‘, wie Sie meinen Bericht nennen. Und liest sich manches Kapitel wie ein Roman, – ach, Sie und vor allem mein Helfer und Grete, Grete [sic] und Claude, Ihr alle wißt, daß es kein Roman, sondern nichts als ein harter, wahrhaftiger Lebensbericht eines Wesens ist, das Klarheit und Ruhe und Frieden sucht.... und bei seinem Freund als Gefährtin bleiben will.“96

95 Vgl. Hoyer an Schumann, 27.06.1932, S. 1; Hoyer reißt die Formulierungen für das Vorwort in diesem Brief bereits an und Schumann hält diese Ausführungen für so bedeutsam, dass er jene „wichtigen Darlegungen als ‚ersten Teil‘ […], das übrige Buch als ‚zweiten Teil‘“ bezeichnen wolle, Brief von Harry Schumann an Niels Hoyer, Dresden, 30.06.1932. S. 2, EHA. 96 Elbe 1932, S. 247ff.

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Die Wahrscheinlichkeit, dass diese dem Ausklang hinzugefügten Briefe aus der Fe97 der von Lili Elvenes stammen, erscheint sehr gering. Sie präsentieren sich vielmehr als ein Versuch, den Text von der vermeintlichen Protagonistin post mortem autorisieren zu lassen. Hierin manifestiert sich nochmals die treffende Gattungsangabe des ‚Bekenntnisses‘. Durch die Betrachtung der Produktionsgeschichte von Fra Mand til Kvinde in einem erweiterten Verständnis vom Ritual der Beichte werden viele textuelle Eigenheiten deutlich und auch die Positionen, die dabei von den unterschiedlichen Akteuren eingenommen werden. Während sich die ausschließliche Bemühung von Begriffen wie Fallgeschichte, Biographie, Memoiren oder Autobiographie durch ihre impliziten Konventionsvorstellungen eher einengend auf die Analyse auswirken und teilweise sogar die Sicht auf die publikationsrelevanten Rollen verstellen, eröffnet der bereits paratextuell bereitgestellte Terminus ‚Bekenntnisse‘ zunächst 98 ein breiteres Analysespektrum. Daher plädiere ich dafür, diese Markierung zwar kritisch zu betrachten, aber in Ihrer Bedeutung für den Text auch ernst zu nehmen – sie also nicht ausschließlich in ihrer zur Autobiographie synonymen Bedeutungsebene wahrzunehmen, sondern sie weitgehender zu reflektieren. Erst dann wird es möglich, über die Dimensionen von Authentizität und Fiktionalität hinaus die Be99 deutung von Referentialität und Autorschaft zu hinterfragen. Das ‚Bekenntnis‘ erlaubt mir zunächst, dem Gedanken von Niels Hoyers Position als der eines ‚Beichtvaters‘ nachzugehen. Hier wird es interessant, den Blick auf Man into Woman zu werfen, welches ein zusätzliches Vorwort von Norman Haire enthält. Dieser erklärt ohne Umschweife, dass es Niels Hoyer sei, der die Geschich-

97 In Hartherns Nachlass lässt sich keiner dieser Briefe im Original finden. Zudem wären diese Briefe – anders als jene, von denen er angibt, sie erst später von der Familie erhalten zu haben – bereits für die dänische Ausgabe verfügbar, da er als Adressat ausgegeben wird – und gerade eine Auslassung solch informationsreicher, vermeintlich autographischer Dokumente erscheint mir schwer nachvollziehbar. 98 An diesem Punkt wird auch deutlich, warum Runtes Konzept von der Heterobiographie die Eigenart des Textes nur partiell greifen kann. Ihre Kritik hängt stark an Gattungskonventionen, so dass sie sich mit diesen im Hinterkopf immer in Opposition zur Selbstdarstellung des Textes befindet, jedoch ohne über die Terminologie des (Auto-)Biographischen hinauszukommen. 99 In diesem Zusammenhang wird der Text auch als Werk eines Künstlers beschrieben, was mir jedoch auf zwei Ebenen nicht einleuchtend erscheint: Erstens hat sich die narrative Lili Elbe in Abgrenzung zu Andreas Sparre nicht als Künstlerin verstanden und zweitens hat die Vorstellung von Künstlerschaft in diesem Text eine völlig andere Funktion, wie ich in 3.2.3 ausführen werde, vgl. Heede 2003, S. 21; vgl. Heede 2004, S. 109; vgl. Steinbock 2009, S. 143.

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te geschrieben habe und erläutert bereits einen Teil der mannigfaltigen Quellen, die 100 dabei genutzt worden seien. Wird diesem Gedanken in Bezug auf die Beichte und den bisherigen Erkenntnissen zur Produktionsgeschichte von Fra Mand til Kvinde nachgegangen, erschließt sich, dass Hoyer sich in einer komplexen Mittlerposition befindet, die sich weder auf eine reine Herausgeberschaft noch auf sein Eigeninteresse reduzieren lässt. Vielmehr hat Hoyer die Funktion inne, eine Vielzahl von Interessen und Dis101 kursen für den öffentlichen Raum zu bündeln und auf einander abzustimmen. Somit befindet auch er sich in einem komplexen Abhängigkeitsgeflecht und kann nicht, entgegen Stones Argumentation, allein für eine vermeintliche Karikierung 102 des Subjekts verantwortlich gemacht werden. Er lässt sich zwar relativ eindeutig als Verfasser ausmachen, aber seine Rolle im Rahmen des ‚Bekenntnisses‘ verdeutlicht den Unterschied zwischen der Autorschaft eines Textes und der Dokumentation einer Lebensbeichte. Obwohl Hoyer schreibt und auf diese Weise zu einem Sprachrohr wird, heißt das nicht zwangsläufig, dass er spricht. Dennoch halte ich es weiterhin für wichtig, der Frage ‚wer spricht?‘ nachzugehen – auch wenn sie keine eindeutigen Antworten generiert, ist sie ein unverzichtbarer Wegweiser zum Verständnis der entsprechenden Diskursformation. Neben den eigenen persönlichen und ökonomischen Interessen, die ich bereits illustriert habe, ist Hoyer stark an die jeweiligen Agenden der Verlage gebunden, mit denen er die Erstausgaben von Fra Mand til Kvinde konzipiert. Nachdem er bei Hage & Clausens mit der Übersetzung und etlichen großflächigen Kürzungen in der 103 ersten Hälfte des Textes unzufrieden ist, muss er sich beim Carl Reissner Verlag in Dresden der weiteren Psychologisierung des Textes sowie einer ausführlichen Erweiterung des Bildmaterials beugen, obwohl er selbst den Schwerpunkt auf den 104 Text legt. Seine Hauptaufgabe sieht Hoyer jedoch in einem möglichst wahrheitsgetreuen Portrait von Lili Elbe und bezeichnet den Text dementsprechend als ein 105 gemeinsames Werk.

100 Vgl. Haire 1933a/b, S. VIII; auch Ruth Hanna Harthern-Tanning, Ernst Hartherns Tochter, macht in einem Brief an Teit Ritzau deutlich, dass ihr Vater das Buch nach den Aufzeichnungen von Lili Elvenes geschrieben und Elvenes selbst das fertige Buch nie zu Gesicht bekommen habe, vgl. Ritzau/Hertoft 1984, S. 85f.; vgl. Ritzau 1984, S. 9ff. 101 Heede behauptet hier eine harmonische Sinfonie von Stimmen, während er dem Text gleichzeitig den Beichtcharakter abspricht, vgl. Heede 2012b, S. 183f. 102 Vgl. Stone 2006, S. 225. 103 Vgl. Hoyer an Wegener, 09.11.1932; vgl. Hoyer an Ali, 16.11.1932; vgl. Hoyer an Schumann, 30.12.1931, S. 2; vgl. Hoyer an Schumann, 07.01.1932, S. 1. 104 Vgl. Schumann an Hoyer, 08.02.1932, S. 1f.; vgl. Hoyer an Heinrich, 16.06.1932, S. 1. 105 Vgl. Hoyer an Wegener, 04.01.1933, S. 1.

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Seiner Tochter zufolge habe sich Elvenes an Hoyer mit der Bitte um Hilfe bei 106 107 ihrem Buchprojekt gewandt, da sie weder mit der sprachlichen Qualität noch 108 mit der Form des Textes zufrieden gewesen sei. Die Dankbarkeit, die sie angesichts Hoyers Hilfe und dessen Arbeit am Buch ausdrückt, ist bis zum Schluss in 109 ihrer Korrespondenz evident und spiegelt sich in Hoyers Bemühungen, ihren Wünschen gerecht zu werden. So kann sie sich mit den Kapiteln, die ihr vorliegen, identifizieren und auch ihre Hinweise zu gewünschten Streichungen werden von 110 Hoyer berücksichtigt. 111 Elvenes, die das Buch selbst eher als einen Roman versteht, verfolgt mit der Herausgabe sowohl ökonomische Interessen als auch den Wunsch, ihre Subjektivität im gesellschaftlichen Gefüge zu behaupten. Als Titel plant sie ursprünglich 112 „Wie Lili zu einem richtigen Mädchen wurde“, da sie ‚Fra Mand til Kvinde‘ als 113 „trocken und irreführend“ empfindet. Es ist anzunehmen, dass Hoyer diesen Vorstellungen im Rahmen seiner Vertragsverhandlungen zumindest nicht in ihrer Gesamtheit hat gerecht werden können, da sowohl die Genreeinordnung als Roman als auch die Titelwahl von Elvenes einer verkaufspolitisch günstigen Platzierung zunächst entgegenlaufen. Die Priorität läge somit auf einer möglichst treuen Darstellung der Protagonistin im Text selbst, während die abschließenden Briefe und die paratextuellen Elemente mit Hinblick auf eine erfolgreiche Veröffentlichung teilweise Änderungen enthalten, die Elvenes’ Absichten widersprechen. Gerade in Bezug auf die Titelwahl bei Fra Mand til Kvinde spielen Referenzen auf bereits im Frühjahr 1931 veröffentlichte Pressepublikationen eine nicht zu un114 terschätzende Rolle. Auf der einen Seite garantiert eine den Schlagzeilen ähnliche Titelwahl einen höheren Wiedererkennungswert, auf der anderen Seite kann

106 Vgl. Ritzau/Hertoft 1984, S. 85; vgl. Ritzau 1984, S. 9. 107 Vgl. Elvenes an Knudsen, 31.01.1931, S. 1; vgl. Elvenes an Knudsen, 06.03.1931. 108 Vgl. Elvenes an Knudsen, 22.01.1931, S. 2; vgl. Elvenes an Knudsen, 06.03.1931. 109 Vgl. Elvenes an Hoyer, 14.06.1931, S. 1ff.; vgl. Elvenes an Garland 16.06.1931, S. 1; vgl. Elvenes an Garland, 24.07.1931. 110 Sie wendet sich insbesondere gegen negative, von Gerda Wegener geschriebene Passagen über den Oberarzt in Dresden, vgl. Elvenes an Hoyer, 14.06.1931, S. 2; vgl. Elvenes an Garland, 24.07.1931; vgl. Elvenes an Garland, 18.08.1931, 1f.; wie bereits erwähnt, lässt sich auch die Nutzung von Decknamen, die Hoyer im Vorwort auf Elbe zurückführt, bereits auf Elvenes Korrespondenz mit Poul Knudsen nachweisen. 111 Vgl. Elvenes an Garland, 16.06.31, S. 2. 112 „Hvorledes Lili blev til en rigtig Pige“, vgl. Elvenes an Knudsen, 31.01.1931, S. 2. 113 „tør og misvisende“, ibid; dieser Unterschied in der Titelwahl sollte später eine große Rolle in der Konstruktion Lili Elbes als transsexuell spielen. 114 Mehr zu Umfang und Gestalt dieser Publikationen in 3.3.

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damit bereits paratextuell ein direkter Anschluss zur dort erfolgten Identitätskonstruktion hergestellt werden. Auf diese Weise sind die Entgegnung zu negativer Berichterstattung sowie die Weiterführung positiver Beichterstattung auf der intratextuellen Ebene in ihrem Bezug transparenter. Gleichzeitig konstituieren diese Bezüge einen Ausgangspunkt bei der Einbettung in gesellschaftliche Normvorstellungen, welche ebenfalls der Mittlerposition Hoyers unterliegt. In dem Zusammenhang nutzt dieser auch die hegemoniale Stellung der Medizin für das Buch. Sie figuriert über die Narration aber nicht nur als aufwertender Faktor, sondern wird – speziell in Form von Kreutz – auch selbst aufgewertet. In einem breiteren Beichtverständnis treffen sich also die ‚Geständnisse‘ mehrerer Parteien bei Hoyer, welcher diese dann durch die Verschmelzung mit normativen Parametern zu einem publizierbaren Text formt, der sowohl Elvenes/Elbe, deren Umfeld, die Medizin als auch die zeitgenössischen gesellschaftlichen Normen literarisch lossprechen soll. Daran schließt sich unmittelbar die Frage an, welche jeweiligen Schuld- und Sündenkomplexe eine Absolution erfordern. Inwieweit können dadurch neue Identitätskomplexe geschaffen und normative Vorstellungen im öffentlichen Raum gefestigt werden?

3.2 Z UR

LITERARISCHEN

K ONSTRUKTION

VON I DENTITÄT

Fra Mand til Kvinde organisiert das für den Text zentrale Thema Identität fast ausschließlich um die Kategorie ‚Geschlecht‘, welche im Verlauf der Narration unter verschiedenen Gesichtspunkten beleuchtet und inszeniert wird. Die Vorstellungen von sich daran anknüpfenden Normüberschreitungen und entsprechenden Implikationen von Scham und Schuld werden somit zu Bestandteilen einer geschlechtlichen Identitätskonstruktion. Die Verbindung mit paratextuellen Elementen spielt dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle, da hier bereits deutliche Wegweiser zur Fokussierung auf das Geschlechtliche eine dementsprechend identitätsbezogene Lektüre vorbereiten und leiten. Angesichts ihrer Relevanz bei der Rezeption stelle ich die Betrachtungen dieser Elemente an den Anfang meiner Analyse, um mich dann auf dieser Grundlage den intratextuellen Identitätsstrukturierungen zu widmen. 3.2.1 Illustrative Paratexte als eigenständige Narrative der Repräsentation Die paratextuellen Identitätskonstruktionen entwickeln ihre Wirkmacht zunächst in einem graphischen Zusammenspiel von Illustrationen und Textelementen. Dabei entstehen jeweils eigenständige Narrative, welche die verschiedensprachigen Aus-

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gaben über die intratextuellen Divergenzen hinaus stark voneinander unterschei115 den. Während die dänische Erstausgabe noch relativ sparsam mit illustrativen Mitteln umgeht, werden diese in der deutschen und insbesondere in den englisch116 sprachigen Erstausgaben weiter ins Zentrum gerückt. Bereits auf den Buchde117 ckeln und Schutzumschlägen lenken sowohl textuelle als auch bildliche Darstellungen die Identitätsmarkierungen zuallererst auf die stabilen Geschlechterkategorien von ‚Mann‘ und ‚Frau‘ sowie den vermeintlichen Wechsel von einer Seite dieser 118 dichotomen Paarung zur anderen. Der Fokus ist dementsprechend allen Ausgaben gemein. Die Ausformung der Identitätszuweisungen in diesem Rahmen wird jedoch in jeder der Ausgaben von verschiedenen Ausgangspunkten her inszeniert, welche den Verlauf des paratextuellen Narrativs vorstrukturieren. So suggeriert der Buchdeckel der Erstausgabe von Fra Mand til Kvinde die geschlechtlichen Markierungen lediglich über den Titel und verzichtet auf eine illustrative Ausschmückung. Der explizit auf Lili Elbe verweisende Untertitel genügt jedoch, um die textuelle Identität der Protagonistin im vermeintlichen ‚Zielgeschlecht‘ zu verankern und den Lektüremodus zu len119 ken. Die deutsche Erstausgabe hingegen setzt auf eine geschlechtliche Identitätsdualität. Auf dem Buchdeckel finden sich Signaturen von der als Autorin ausgewiesenen Lili Elbe sowie von Einar Wegener. Der aufwendig gestaltete Schutzumschlag ist zudem mit Abbildungen versehen, welche die beiden als aus einer Quelle entspringend darstellen. (Abb. 6) Als Nährboden figuriert dabei eine Kollektion von Presseberichten, an die das Buch in seiner Außenwirkung anknüpfen kann, aus de-

115 Die paratextuellen Differenzen der jeweiligen Ausgaben ziehen insbesondere in der akademischen Verhandlung deutliche Rezeptionsunterschiede nach sich, was die Wirkmacht dieser narrativen Ebene nochmals verdeutlicht. 116 Der Umschlagtext der amerikanischen Ausgabe unterstreicht sogar explizit deren Funktion als Authentizitätsnachweis: „Startling illustrations give further evidence of the verity of this incredible case.“, Hoyer 1933b, Klappentext; eine ikonologische Analyse des Bildmaterials findet sich bei Julie Nero, vgl. Nero 2013, S. 274-282. 117 Ich berücksichtige bei der folgenden Analyse lediglich die paratextuelle Ausführung der jeweiligen Erstausgaben von Fra Mand til Kvinde, da ich eine zeitgenössische Identitätskonstruktion nachzeichnen möchte. Die jeweiligen Neuauflagen gestalten sich ihrem zeitlichen Kontext entsprechend unterschiedlich und setzen gerade auf den Buchdeckeln oft andere Akzente als die Ausgaben Anfang der 1930er. 118 Steinbock weist bereits auf die Suggestion einer sofortigen Transformation hin, vgl. Steinbock 2009, S. 145. 119 Heitmann hat bereits darauf hingewiesen, inwieweit der Name auf dem Titelblatt über die implizite geschlechtliche Konnotation auch einen ‚Identitätsgewinn‘ markieren kann, vgl. Heitmann 1994, S. 123.

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nen aber gleichzeitig eine Lenkung der Identitätskonstruktion erwächst. Für die Erstausgaben von Man into Woman spielt der Dualitätsgedanke zumindest in den einführenden paratextuellen Elementen nur eine untergeordnete Rolle. Der Lektürefokus wird hier durch die Wahl des Untertitels zunächst auf die Transformation einer männlichen Person gelenkt, während sich der Name Lili Elbe weder auf dem 121 Titelblatt, dem Buchdeckel noch auf dem Schutzumschlag wiederfindet. Die amerikanische Ausgabe, die auf Umschlagsillustrationen verzichtet, unterstreicht an 122 dieser Stelle das männliche Ausgangsgeschlecht, während die britische Version mit den Zeichnungen von zwei gegengeschlechtlich konnotierten Torsi operiert und somit die geschlechtliche Opposition visuell in den Mittelpunkt rückt. Abbildung 6

Abbildung 7

Elbe 1932 (Schutzumschlag). Köllnische Illustrierte Zeitung, 14.03.1931, S. 316.

Diese Art von paratextueller Visualisierung versteht Steinbock als einen bildlichen 123 Spiegel der intratextuellen Narration, da diese durch ihren Kontextualisierungs-

120 Das Design des deutschen Schutzumschlages erinnert an einen Artikel aus der Kölnischen Illustrierten Zeitung, der ebenfalls Eingang in die Umschlagscollage findet, vgl. Kiy, Hermann: „Die Verwandlung des Einar Wegener“, in: Kölnische Illustrierte Zeitung, Nr. 11, 14.03.1931, S. 316 (Abb. 7); für eine ausführlichere Auseinandersetzung mit dem Montagecharakter des deutschen Schutzumschlages, vgl. Nero 2013, S. 279ff. 121 Untertitel: An Authentic Record of a Change of Sex. The true story of the miraculous transformation of the Danish painter Einar Wegener (Andreas Sparre). 122 „This almost unbelievable book deals with the astounding biological phenomenon of a man who changed his sex“, Hoyer 1933b, Schutzumschlag. 123 Vgl. Steinbock 2012, S. 165.

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charakter „das literarische Selbstportrait“ als „eine audio-visuelle Art von Film125 biographie“ erscheinen lasse. Die Vorstellung eines kontextualisierenden Spiegelnarrativs greift meines Erachtens zu kurz, da sie die Wirkmacht der spezifischen Illustrationseinbettungen unterschätzt. Allein die Tatsache, dass die verschiedensprachigen Erstausgaben paratextuell unterschiedlich organisiert und kommentiert 126 sind, spricht für die Eigenständigkeit dieser Elemente. Zwar betont Jay Prosser in seinen Ausführungen zu Transsexualität und Photographie die Parallelität von autobiographischer Schrift und Photographie in Bezug auf ihren referentiellen Anspruch, doch betrachtet er beide Elemente nicht als sich gegenseitig spiegelnd, sondern hebt den unmittelbar referentiellen Effekt der Illustrationen im Rahmen einer solchen Schrift heraus: „This is the real body of the autobiographer, they declare; 127 the text you read refers to this subject you see here.“ Prosser weist zudem darauf hin, dass sich Transsexualität auf einem ähnlichen Terrain zwischen Referentialität und Repräsentation befinde und dementsprechend ebenfalls als eine parallele 128 ‚Form‘ wahrgenommen werden könne. Dabei stellt sich ihm die Frage, inwieweit die Referentialität von Transsexualität photographisch überhaupt eingefangen wer-

124 „the literary self-portrait“, Steinbock 2012, S. 164; Steinbock reflektiert dabei kaum, dass sie nicht mit der Originalausgabe, sondern mit der Neuausgabe von 2004 arbeitet. 125 „an audio-visual sort of biopic“, ibid. 126 Ich betone die Eigenständigkeit der jeweiligen paratextuellen Narrative, da sie meines Erachtens losgelöst von einem vermeintlichen Selbstportrait sowie von Hoyers editiertem Text zu betrachten sind. 127 Prosser, Jay: second skins. The Body Narratives of Transsexualiy, New York 1998, S. 209; Prosser greift hier eine bereits von Timothy Dow Adams vorgenommene Untersuchung von Roland Barthes poststrukturalistischer mit Photographien unterlegter ‚Autobiographie‘ auf und verweist auf dessen damit verbundene Rückkehr zum Referenten, vgl. Adams, Timothy Dow: „Introduction: Life Writing and Light Writing. Autobiography and Photography“, in: Modern Fiction Studies, 40, Nr. 3, Fall 1994, S. 459-492. 128 Vgl. Prosser 1998, S. 208; „transsexuality is inextricably hooked into the register of the real. Yet as this corporeal reconstruction is made possible through narrative and, indeed, as the transsexual self must be represented before it is realized in the flesh, transsexuality is equally bound to representation, dependent on its symbolization to be real.“, ebd., S. 209; „What does transsexuality in fact look like? Photographs that establish gendered realness do not reveal transsexuality, for in them the subject passes as nontranssexual. The problem of reading the transsexual in the photograph heightens the tension around reading and passing that inhabits all transsexual representation.“, ebd., S. 226; wird hier Prosser gefolgt, handelt es sich auch bei Fra Mand til Kvinde um drei überlappende Formen der Repräsentation, die jeweils auf einen vermeintlichen Referenten zurückverweisen.

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den kann: „Photographs of transsexuals are situated on a tension between revealing and concealing transsexuality. Their primary function is to expose the transsexual body; yet how to achieve this when transsexuality on the body is that which is by 129 definition concealed?“ Diese Diskrepanz wird in der Regel durch die implizite oder explizite Gegenüberstellung von mehreren Photographien, die das Subjekt zeigen, überwunden. Prosser unterstreicht, um wie viel stärker dabei die Wirkmacht 130 der Photographie im Vergleich zum geschriebenen Text sei und insistiert, die 131 Bedeutung der Bildunterschriften nicht zu unterschätzen. Unter diesen Vorzeichen möchte ich nochmals auf Steinbocks Spiegeltheorie zurückzukommen und argumentieren, dass zwar eine Wechselwirkung zwischen den Ebenen besteht, jedoch die Illustrationen die textuelle Leitlinie nicht benötigen, um sich narrativ zu entfalten. Die textuellen Elemente, welchen in Bezug auf die visuellen Darstellungen eine wesentlich größere Bedeutung zukommt, sind die Bildunterschriften, auf welche Prosser zu Recht hinweist. Hieran manifestieren sich die Auswahl der Illu132 strationen mit Blick auf ihre Repräsentativität sowie eine Lesart der Bilder be133 züglich der Frage nach „Kontinuität versus plötzlichem Wandel“. Genau an diesem Punkt unterscheiden sich die Fokusse der Paratexte in den verschieden Erstausgaben von Fra Mand til Kvinde.134 Bei der dänischen Erstausgabe handelt es sich bei den paratextuellen Elementen ausschließlich um einführendes, vor dem Haupttext platziertes Material. Der ver135 gleichsweise sparsame Illustrationszyklus beginnt direkt nach dem Titelblatt mit einer Photographie, die Einar Wegener mit einer Palette und einem Pinsel zeigt und somit explizit auf dessen Künstlerschaft anspielt. (Abb. 8) Die Folgeseite zeigt Lili Elbe im Park bei der Lektüre. (Abb. 9) Neben der Gegenüberstellung verschiedener Tätigkeitsprofile, die auch in Bezug auf die jeweilig dargestellte geschlechtliche Identität von Bedeutung sind, wird hier visuell ein Vorher-Nachher-Narrativ bemüht. Steinbock, die den visuellen Transfer einer ähnlichen Paarung von Photogra136 phien beschreibt, attestiert diesen Bildern den dokumentarischen Stil eines

129 Prosser 1998, S. 209. 130 Vgl. ebd., S. 223. 131 Vgl. ebd., S. 213 u. S. 215. 132 Vgl. ibid. 133 „continuity vs. sudden change“, ebd., S. 213. 134 In diesem Zusammenhang sei auf die zeitgenössische Bedeutung der neuen Möglichkeiten bei der Photographie hingewiesen, vgl. Nero 2013, S. 221ff. 135 Dementsprechend sollte die dänische Ausgabe zumindest auf der illustrativen Ebene am ehesten Hoyers Vorstellungen entsprochen haben. 136 Steinbock arbeitet mit der britischen Ausgabe von 2004, in der Photographien aus denselben Serien abgedruckt sind, vgl. Hoyer 2004, S. 31 u. S. 207.

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‚Make-Over-Features‘, das den *Betrachter*innen erlaube, die Transformation mit zu 137 verfolgen. Die neben der geschlechtskonnotierten Kleidung von Steinbock ebenfalls herausgehobenen Utensilien erhalten dabei die Funktion, bestimmte Tätigkeitsprofile der jeweilig abgebildeten Identität des Subjekts darzustellen und agieren dementsprechend als bildliche Requisiten einer gelebten Geschlechtlichkeit, die sich im Zusammenspiel mit der intratextuellen Ebene weiter in die jeweilige Rich138 tung schärft. Abgesehen von den Namen, die den Photographien beigefügt sind, verhalten sich die Bildunterschriften kaum zur Geschlechterdifferenz, doch wird diese auf der dritten und letzten Illustrationsseite dafür umso deutlicher markiert. Abbildung 8

Abbildung 9

Fra Mand til Kvinde 1931, o.S.

Fra Mand til Kvinde 1931, o.S.

137 Steinbock 2012, S. 165; zu den Parallelen von Makeover- und Transitionsnarrativen, vgl. Raun, Tobias: Out Online: Trans Self-Representation and Community Building on YouTube, Roskilde 2012, S. 319f., open access: http://rucforsk.ruc.dk/site/files/ 40335798/Tobias_final_with_front_page_pfd.pdf (zuletzt eingesehen am 11.04.2015). 138 Mehr dazu in 3.2.2 und 3.2.5; Prosser unternimmt eine ähnliche Analyse der Funktion von Requisiten zu einer Photographie von Mario Martino (Präsentation des Schreibaktes mit den Requisiten Pfeife und Bart), vgl. Prosser 1998, S. 207; vgl. Martino, Mario with harriet: Emergency: A Transsexual Autobiography, New York 1977, S. XII.

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Abbildung 10

Fra Mand til Kvinde 1931, o.S.

Die zwei dort abgebildeten Briefausschnitte (Abb. 10) stammen laut der Bildunterschrift aus der Feder von Einar Wegener sowie Lili Elbe und weisen eine jeweils 139 geschlechtsspezifische Handschrift auf. Im Einklang mit dem direkt darauf fol-

139 Auf die Bedeutung der veränderten Handschrift gehe ich in 3.2.4 genauer ein; bei dem zweiten, Lili Elbe zugeschriebenen Brief handelt es sich um jenen im Briefteil von Fra

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genden Vorwort von Niels Hoyer rückt die dänische Erstausgabe einen Themenkanon von Geschlechterdifferenz, Geschlechtsüberwindung und verifizierbarer Geschlechtlichkeit in den Mittelpunkt ihrer paratextuellen Präsentation. Auch Ein Mensch wechselt sein Geschlecht bemüht den Handschriftenvergleich, jedoch wird die dichotome illustrative Struktur nicht explizit an Vorstellungen von Geschlecht ausgerichtet, sondern gruppiert sich in der Bildunterschrift – 141 „Die Handschrift vor und nach der Operation“ – um das chirurgische Ereignis. Diese stärkere Konzentration auf den medizinisch-technologischen Aspekt einer ‚geschlechtlichen Identitätsschaffung‘ manifestiert sich bereits in der Auswahl der 142 Presseartikel für den Schutzumschlag. Folglich werden auch alle beigefügten Photographien in ihrer zeitlichen Relation zum operativen Eingriff eingeordnet. So zeigt das erste, gleich neben dem Titelblatt platzierte Bild Lili Elbe gemeinsam mit der Oberschwester im klinischen Kontext. Die Wahl dieser Abbildung sowie des Zeitmarkers ‚nach der Operation‘ verweist somit vor der Lektüre darauf, dass die abgelichtete Person hier in ihrer technologisch ermöglichten ‚Zielidentität‘ als Protagonistin der nebenstehend angekündigten Narration figuriert. Die nachfolgenden, den Haupttext begleitenden Illustrationen zeichnen dementsprechend – in einer teils chronologischen und teils vergleichenden Struktur – die Entwicklungsstufen dieser vermeintlichen ‚Identitätskonsolidierung‘ nach. Dabei werden zunächst künstlerische Werke gezeigt: eine Zeichnung, die den jungen „Andreas Sparre (Einar Wege143 ner)“ darstellt sowie zwei Gemälde von Gerda Wegener, zu denen laut Bildunter144 schrift „Andreas Sparre als Lili“ Modell gestanden habe. Die Verschränkungen 145 von Kunst und Maskerade werden somit illustrativ vorangestellt und leiten zu den konkludierenden Gegenüberstellungen der folgenden Photographien hin. Der erste in einer Vorher-Nachher-Dichotomie organisierte Vergleich orientiert sich an

Mand til Kvinde ‚zitierten‘ – es ist ein Abschnitt ausgewählt, der für die Drucklage nicht verändert worden ist, vgl. Abb. 2 u. Abb. 4 (hier ist der Ausschnitt für die Illustration bereits markiert). 140 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 5; vgl. 2.4. 141 Elbe 1932, S. 6.; in einem Brief im Ausklang erklärt Lili, wie diese zwei Unterschriften in das entsprechende Buch (Le livre des vikings) gekommen seien, vgl. ebd., S. 249. 142 Überschriften wie ‚Ein wissenschaftliches Phänomen‘ oder ‚Eine Frau wird erschaffen‘ schärfen diesen Fokus, vgl. Abb. 5.; auch die Ergänzung von Hoyers Vorwort um eine an Warnekros gerichtete Widmung seitens Elbe unterstreicht dies zusätzlich, vgl. Elbe 1932, S. 5. 143 Elbe 1932, S. 16. 144 Ebd., S. 32; die Bildunterschrift stammt vom ersten Gemälde, das zweite erwähnt nur noch, dass Lili abgebildet sei; vgl. ebd. S. 48. 145 Mehr zu dieser Verschränkung in 3.2.3.

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eben dieser Vorstellung von Maskerade, indem zwei Bilder der Protagonistin in weiblich konnotierter Kleidung und Pose nebeneinandergestellt und über ihren expliziten zeitlichen Bezug zur Operationsachse in zwei Bedeutungsebenen – ‚transvestitische‘ und ‚wahre‘ Geschlechtlichkeit – eingeschrieben werden. (Abb. 11) Eine nicht zu vernachlässigende Rolle spielen zudem die Ortsangaben der jeweiligen Aufnahmen, da sich die changierende intratextuelle Präsentation einer nationalen Identität parallel zur Darstellung der jeweiligen Geschlechtsidentität nachzeichnen 146 lässt. Dieser Bezug ist auch in den nachfolgenden illustrativen Gegenüberstellungen evident. Wird zunächst ein Vergleich der postoperativen Protagonistin im Dresdner und im Kopenhagener Kontext präsentiert, erfolgt abschließend der explizite Geschlechtervergleich, der sich in der Art der ausgewählten Photographien an die dänische Erstausgabe anlehnt. (Abb. 12) Abbildung 11

Elbe 1932, S. 80.

146 Hierbei ist das Dreieck Kopenhagen-Paris-Dresden zentral. Die intratextuellen Bedeutungszuweisungen in Bezug auf Nationalität werden sich in 3.2.2 bis 3.2.6 sukzessive erschließen.

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Abbildung 12

Elbe 1932, S. 112.

Durch diesen Fokus werden die illustrativ eingeschriebenen Vergleichsgrößen Maskerade, Nationalität und Geschlecht bereits außerhalb des Haupttextes zentriert und polarisiert. Folglich wirken sie im Kontext eines insgesamt auf die ‚weibliche Zielidentität‘ ausgerichteten Paratextes in die Lektüreerfahrung von Ein Mensch wechselt sein Geschlecht zurück. Die englischsprachigen Erstausgaben hingegen organisieren ihre Paratexte – wie bereits angedeutet – eher um das vermeintlich männliche ‚Ausgangsgeschlecht‘ der Protagonistin. Anstelle einer Photographie der postoperativen Lili Elbe besetzt eine den jungen Einar Wegener zeigende Zeichnung den Platz neben dem Titelblatt und unterstreicht damit nochmals den Impetus des Untertitels. Während beide Versionen von Man into Woman in der Anordnung der paratextuellen Elemente ähnlich organisiert sind, unterscheiden sich die narrativen Impulse, die durch die unterschiedlichen Illustrationsfokusse gesetzt werden, dennoch merkbar voneinander. So beinhaltet die britische Version auf der einen Seite mehr Bildmaterial, setzt auf der anderen jedoch wesentlich weniger auf jene suggestiven Bildunterschriften, die sich in der amerikanischen Ausgabe wiederfinden. Diese zusätzlichen Illustrationen

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konzentrieren sich auf zwei Schwerpunkte: zum einen die stärkere Repräsentation von Einar Wegeners künstlerischem Schaffen, zum anderen die Integration von 147 Photographien, die Gerda Wegener zeigen. Die Präsenz von Gerda Wegener unterstreicht sowohl auf persönlicher als auch auf künstlerischer Ebene deren Funktion im Leben der Protagonistin. Gleichzeitig vermitteln diese Illustrationen die präoperative soziale Integration von Einar und Lili in den jeweiligen binären Geschlechterrollen. Eine auf 1926 datierte Aufnahme, welche Einar, Gerda und zwei Freundinnen zeigt (Abb. 13), steht dabei einer Photographie von Lili und ihrem Freund Claude aus dem Jahr 1928 gegenüber. (Abb. 14) Letztere findet sich auch in der amerikanischen Ausgabe von Man into Woman wieder. (Abb. 15) Die unterschiedlichen Beschriftungen weisen dem abgebildeten Subjekt jedoch gegenläufige Identitätsmarkierungen zu. Im Gegensatz zur amerikanischen Version spricht die britische hier eindeutig von Lili und tut dies auch relativ konsequent im weiteren Begleitmaterial, sobald diese – egal ob prä- oder postoperativ – abgebildet ist. Abbildung 13

Hoyer 1933a, S. 56.

147 Die Abbildung von Gemälden aus Einars Hand sind sonst sparsam und keine der anderen Ausgaben zeigt eine Photographie von Gerda Wegener. Hiermit lässt sich auch die besondere Reaktion in England erklären, von der Gerda Wegener in ihrem Brief an Poul Knudsen berichtet, vgl. 3.1.

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Abbildung 14

Abbildung 15

Hoyer 1933a, S. 64.

Hoyer 1933b, S. 64.

Lediglich ein einziges Mal wird diese Konsistenz durchbrochen. Ein auf den Januar 1930 datiertes Photo wird mit „Einar Wegener (Andreas Sparre) impersonating Li148 li“ (Abb. 16) unterschrieben und produziert Fragen bei der analytischen Rezeption. Armstrong hat sich diese Bildunterschrift für eine kurze Analyse ausgewählt und dabei den Begriff ‚impersonating‘ mit dem Begriff ‚posing‘ gleichgesetzt. Dies impliziert für ihn eine Gleichzeitigkeit des Verdeckens und Aufdeckens einer 149 Wahrheit. Auch Prosser beschreibt dieses Verhältnis in seiner Untersuchung von Transsexualität und Photographie, impliziert jedoch, dass diese beiden Faktoren ein 150 Spannungsfeld hinsichtlich des ‚transsexuellen Körpers‘ produzieren. Während eine solche Spannung den paratextuellen Narrativen in Fra Mand til Kvinde sicher inne ist, möchte ich für diese spezielle Bildunterschrift, auf die sich Armstrongs Analyse stützt, jedoch eine andere Lesart vorschlagen. Angesichts einer erneuten Betrachtung der Bildunterschriften in der britischen Ausgabe wird deutlich, dass die bis dahin beständige Beschreibung der abgebildeten Person an dieser Stelle eine

148 Vgl. Hoyer 1933a, S. 96. 149 Vgl. Armstrong 1998, S. 170. 150 Vgl. Prosser 1998, S. 207.

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Brechung erfährt – die präoperative Lili, die vorher nicht im Kontext einer Ge151 schlechtermaskerade dargestellt wird, findet sich plötzlich in diesem wieder. Meines Erachtens wird ein Blick auf die semantische Ebene des Begriffs ‚impersonating‘ (imitieren) im Zusammenhang mit dem Verweis auf eine konkrete, eigenständige Person (Lili) bedeutsam. Abbildung 16

Hoyer 1933a, S. 96.

151 Vgl. Hoyer 1933a, S. 40 u. S. 64.

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Unter diesen Vorzeichen wird es möglich, von den in der Bildunterschrift erwähnten Personen – Einar Wegener/Andreas Sparre und Lili – als zwei separaten Subjekten mit einer jeweils eigenen Identität auszugehen, auch wenn beide einen Körper teilen. Dementsprechend kann der Untertext, welchen Armstrong eher auf einem ‚transvestitischen Kontinuum‘ zwischen zwei geschlechtlichen Ausdrucksformen einer Persönlichkeit einordnet, auch als Beschreibung einer Imitationssituation gelesen werden, in der Einar/Andreas die auf den anderen Photographien sich selbst präsentierende Lili imitiert. Eine solche Lesart, welche sich nachvollziehbarer in die Stringenz des spezifischen paratextuellen Narrativs einbettet, erfährt eine zusätzliche Verifizierung im intratextuellen Rahmen, da dort die strikte Trennung von An152 dreas und Lili ausdrücklich proklamiert wird. Diese Abstimmung des Paratextes mit dem Text ist in der amerikanischen Ausgabe nicht gegeben. Vielmehr erzählen die Illustrationen eine Geschichte zwischen Maskerade und inkonsistent erscheinenden Identitätszuweisungen. Bereits im Vergleich der Unterschriften zur Photographie, die Lili und Claude zeigt (Abb. 14 & Abb. 15) wird deutlich, dass die Identität im amerikanischen Paratext auf andere Weise konzipiert wird. Die schon in Ein Mensch wechselt sein Geschlecht markierte Operationsachse wird hier zur absoluten Grenze, ohne die eine eigenständige Identität nicht zugestanden werden kann, wie eine weitere Illustration verdeutlicht. Diese Photographie, welche sich in beiden Versionen von Man into Woman wiederfindet, zeigt die Protagonistin mit einer Krankenschwester im Garten der Frauenklinik stehend. Der Verweis auf den Zeitpunkt zwischen dem zweiten und dem dritten chirurgischen Eingriff ist den Bildunterschriften gemein, doch während die britische Ausgabe die Protagonistin ‚Lili Elbe‘ nennt, spricht die amerikanische Ausgabe von „Einar Wegener (Andreas Sparre) as Lili Elbe“. (Abb. 17 & Abb. 18) Letztere suggeriert somit, dass die präsentierte Identität nach dem zweiten chirurgischen Eingriff noch nicht der vermeintlich ‚wahren Geschlechtsidentität‘ der Protagonistin entspräche. Die Akzeptanz jenes Identitätsmerkmals wird somit an einem chirurgischen Wendepunkt inszeniert. Dabei formuliert die amerikanische Ausgabe die Anerkennung dieses – in Ein Mensch wechselt sein Geschlecht ausschließlich in der Illustrationsfolge und dem Operationshinweis implizit nachvollziehbaren – Übertritts in die ‚neue‘ Identität nun explizit und gesteht ihn der Protagonistin erst nach 153 dem vermeintlich letzten erfolgreichen chirurgischen Eingriff zu. Die exklusive Zuweisung des Namens ‚Lili Elbe‘ erfolgt jedoch ausschließlich bei zwei Photogra154 phien, welche die Protagonistin im klinischen Kontext in Dresden zeigen.

152 Vgl. dazu auch 3.2.2. 153 „Lili Elbe, Women’s Clinic, Dresden, June 1930 (after the operation)“, Hoyer 1933b, S. 128. 154 Vgl. ebd., S. 128 u. S. 152.

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Abbildung 17

Abbildung 18

Hoyer 1933a, S. 112.

Hoyer 1933b, S. 112.

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Bereits bei einer auf Oktober 1930 datierten Aufnahme aus Dänemark wird wieder ein Rückbezug auf das männliche Ausgangsgeschlecht vermittelt. (Abb. 20) Zwar ist die Rede von einer Frau, doch wird jene Einordnung neben dem männlichen 155 Ausgangsgeschlecht an die Vollständigkeit einer Transformation gebunden. Aber auch diese Art der Identitätszuweisung wird paratextuell nicht aufrechterhalten. Vielmehr stellt sich die illustrative Entwicklung als eine parabolische Kurve dar, bei der die unmittelbar postoperative Phase als Höhepunkt der Geschlechtseindeutigkeit inszeniert wird. (vgl. Abb. 19-21) Bei einem vermeintlich aus dem Februar 1931 stammenden, in Kopenhagen aufgenommenen Photo ist wieder die Rede von 156 „Einar Wegener (Andreas Sparre) as Lili Elbe“. (Abb. 21)

155 Im Zusammenhang mit der in Abb. 20 bemühten Beschreibung der Protagonistin als ‚completely transformed‘ wird eine interessante Parallele zu dem im amerikanischen trans*-historischen Diskurs virulenten Begriff ‚complete transformation‘ deutlich, vgl. Meyerowitz 2004, S. 19; vgl. Kapitel 2 (einleitender Teil). 156 Hoyer 1933b, S. 208.

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Abbildung 19

Abbildung 20

Hoyer 1933b, S. 40.

Hoyer 1933b, S. 176.

Abbildung 21

Hoyer 1933b, S. 208.

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An dieser Stelle ist es fruchtbar, sich nochmals die Korrelation von Identitätszuweisung und örtlichem Kontext bewusst zu machen. Während die Entfernung vom klinischen Umfeld zu einer zunehmenden Separation zweier Identitäten führt, scheint die Rückkehr nach Dresden im Zusammenhang mit einem erneuten operativen Eingriff diese Entwicklung wieder einzudämmen. Die letzte Abbildung, welche die Protagonistin im Juni 1931 in Dresden zeige, ist mit „Einar Wegener (Andreas 157 Sparre), now Lili Elbe“ untertitelt. Im paratextuellen Narrativ scheint es also einer bestimmten ‚operativen Vollständigkeit‘ sowie einer gleichzeitigen temporalen und örtlichen Nähe zu den transformierenden Eingriffen zu bedürfen, um die weibliche Identität so greifen zu können, dass eine eindeutige Benennung möglich ist. Folglich vermittelt das amerikanische paratextuelle Narrativ den Eindruck, dass es 158 sich um Stadien einer Maskerade handele, innerhalb welcher die Transformation ohne einen finalen Identitätsgewinn inszeniert wird. Die intratextuelle Distanzierung der Protagonistin gegenüber der von ihr als eigenständig und männlich erfahrenen Person Andreas Sparre erfährt in der amerikanischen Ausgabe paratextuell keine Berücksichtigung. Vielmehr wird hier konsequent von einer männlichen Ursprungsidentität ausgegangen, die – folgt man den Bildunterschriften – nicht über159 wunden wird. 3.2.2 Ein Tanz zwischen normativer und alteritärer Männlichkeit Nun stellt sich die Frage, wie sich diese vermeintlich männliche Ausgangsidentität der Protagonistin in Fra Mand til Kvinde insgesamt konstituiert. Während das Vorwort Einar Wegener in Zusammenhang mit dessen geschlechtlicher Natur und Verfasstheit als einen verzweifelten und todkranken Menschen darstellt, siedelt die narrative Präsentation die Männlichkeit von Andreas Sparre zwischen jenem erkrankten Status und einer unbedingten normativen Virilität an. Dieser Balanceakt wird in einer Szene deutlich, die bereits im Manuskript angedacht ist, in der dänischen Ori-

157 Hoyer 1933b, S. 240. 158 Vgl. Abb. 15 u. Abb. 18-21; Formulierungen wie ‚assuming a name‘, ‚posing as‘ oder ‚as Lili‘ unterstreichen die Implikation einer Maskerade. Die einzige Differenzierung in der amerikanischen Ausgabe stellt die Unterscheidung zwischen der präoperativen ‚Lili‘ und der postoperativen ‚Lili Elbe‘ dar. Während hier die namentlichen Identitätserklärungen aus dem Text ernst genommen werden, findet die Trennung der männlichen und der weiblichen Identität auf Seiten der Protagonistin keine Berücksichtigung. 159 Diese fehlende narrative Trennung könnte Hinweise auf die Ursprünge von Hausmans Rezeption des Textes geben. Hausman vermag es nicht, sich in ihrer Argumentation von der vermeintlich männlichen Ausgangsidentität zu lösen und unterstreicht mit ihren Ausführungen implizit die Wirkmacht des paratextuellen Narrativs.

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ginalausgabe jedoch keine Berücksichtigung erfährt. Eine Momentaufnahme, welche Andreas und Claude, der laut Text sonst eher mit Lili befreundet ist, beim Tanz zeigt, illustriert deutlich, zwischen welchen Polen versucht wird, die Männlichkeit des Andreas Sparre auszuloten: „Vielleicht veranlasste dieser ‚Drink‘ uns, einen neuen Tanz, den Claude irgendwo hierherum vor kurzem gesehen hatte, zusammen auszuprobieren. Wir tanzten also zusammen. Es war übrigens das erste Mal, dass er mit m i r [Andreas] tanzte. Kaum hatten wir die ersten Pas hinter uns, als der ‚Gèrant‘, der ‚Herr Ober‘, auf uns losgestürzt kommt und uns bittet, sofort den Tanz abzubrechen. ‚Ces Monsieurs müssten entschuldigen, er kannte uns ja beide sehr gut, aber in seinem Etablissement sei es nun leider einmal unstatthaft, dass zwei Herren mit einander tanzten…‘ Wir erklärten dem gestrengen Herrn umständlich, dass es sich für uns nur darum handelte, einen neuen Tanz flink einmal durchzuproben. Er antwortete: ‚Monsieurs, ich bin verzweifelt, aber ich muss mein Veto einlegen. Hier dürfen Herren nicht zusammen tanzen. Erlaube ich es auch nur ein einziges Mal, und ich weiss, dass es sich bei Ihnen um einwandfreie Gentlemen handelt, so wird mein Etablissement von gewissen Herrschaften überlaufen werden, wodurch der gute Ruf meines Etablissements in Gefahr kommen würde…‘“161

Die Gegenüberstellung von gutem Ruf und Moral auf der einen sowie unerwünschten, einer heteronormativen Vorstellungswelt entgegenlaufenden Lebensentwürfen auf der anderen Seite illustriert den zeitgenössischen gesellschaftlichen Konsens, der sich als ausschlaggebend für die textuelle Verhandlung von Geschlechtlichkeit und Sexualität erweisen soll. Die Gefahr einer geschlechtsspezifischen Grenzübertretung und der Sanktionierung einer solchen wird somit für den Text vorbereitet. Bereits in einer früheren Szene wird Andreas von seiner Frau Grete für geschlechtsuneindeutiges Verhalten verurteilt. So reagiert sie heftig auf seinen Unwillen, sich mit einem weiteren Arzt bezüglich seiner Beschwerden zu treffen: „Bist du ein Mann? Du führst dich ja wie ein hysterischer Backfisch auf. Du solltest dich schä162 men, verstehst du!“ Über die Figur von Grete wird somit suggeriert, dass nicht erfüllte Geschlechtervorstellungen ein Grund für Scham seien. Das bestärkt nicht

160 In Ein Mensch wechselt sein Geschlecht und den Ausgaben von Man into Woman wird diese Szene jedoch wieder aufgenommen. 161 Lili Elbe Buch (Manuskript), S. 71f.; vgl. Elbe 1932, S. 69f. 162 „Er Du et Mandfolk? Du opfører Dig jo som en hysterisk Backfisch. Du skulle skamme Dig, forstaar Du!“, Fra Mand til Kvinde, S. 10; Hysterie spielt später im Text auch eine Rolle in den frühen ärztlichen Diagnosen, die Andreas bezüglich seines ‚Leidens‘ erhält. Ich werde dieses Konzept einer neurotischen Störung, das so eng in zeitgenössische Geschlechterkonventionen eingebettet ist, in 4.2 ausführlicher aufgreifen.

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nur die Notwendigkeit des Bekenntnisses, sondern verdeutlicht zudem die für den Text wichtige Grundannahme, dass es sich bei Männlichkeit und Weiblichkeit zunächst einmal um geschlechtliche Erscheinungsformen handele, die als fundamental verschieden verstanden werden. Dementsprechend geht die Narration in ihrer Erzählstruktur von diesem binären System aus. In Anknüpfung an die als beschämend erzählte Grenzübertretung von Andreas wird dessen erkrankte Männlichkeit beschrieben, welche ihn zu Selbstmordgedan163 ken und konkreten Umsetzungsplänen treibt. Diese suizidale Disposition wird als Ausgangspunkt funktionalisiert, um die Dualität in Andreas’ Körper zu beschreiben, denn dieser beherbergt zwei Wesen, von denen eines sich gesund und weiblich fühlt, während das andere lebensmüde und männlich ist: „Denn Andreas bestand aus zwei Wesen, aus einem Mann: Andreas, und aus einer Frau: Lili …… man könnte sie auch als ein Paar Zwillinge bezeichnen, die beide zur gleichen Zeit den gleichen Körper in Beschlag genommen hatten. Vom Charakter her waren sie sehr verschieden, aber allmählich gewann Lili die Überhand über Andreas, so dass man sie immer in ihm spüren konnte, selbst wenn sie sich in den Hintergrund gezogen hatte – aber nie umgekehrt. Während er sich müde fühlte und mit seinen Todesgedanken herumging, war Lili frisch und lebensfroh und sehnte sich danach, sich zu entfalten, wie eine Larve, die davon träumt, einmal Flügel zu bekommen und ein bunter Schmetterling zu werden.“164

Steinbock argumentiert, dass ein solches Narrativ der Persönlichkeitsteilung einen 165 Prozess von ‚Gender-Editing‘ offenlege. Vergleicht man diese Textpassagen mit Elvenes’ Vorstellungen für das Buch wird hingegen deutlich, dass es ihr gerade wichtig ist, eine Darstellung für die Dualität dieser zwei Persönlichkeiten sicherzustellen - „Andreas und Lili, die seelisch nicht zusammen gehören. […] Das ist der 166 Kernpunkt im Buch, dass da zwei Seelen in einem Körper waren.“ Die Identi-

163 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 11. 164 „For Andreas bestod af to Væsener, af en Mand: Andreas, og af en Kvinde: Lili ...... man kunde ogsaa betegne dem som et Par Tvillinger, der begge paa samme Tid havde taget det samme Legeme i Besiddelse. Af Karakter var de meget forskellige, men efterhaanden fik Lili Overtaget over Andreas, saaledes at man altid kunde spore hende i ham, selv naar hun havde trukket sig i Baggrunden — men aldrig omvendt. Mendes han følte sig træt og gik omkring med sine Dødstanker, var Lili frisk og livsglad og længtes efter at folde sig ud, ligesom en Larve, der drømmer om en Gang at faa Vinger og blive en broget Sommerfugl.“, ebd., S. 13. 165 Vgl. Steinbock 2009, S. 141. 166 „ Andreas og Lili, der sjæleligt ikke hører sammen. […] Det er Hovedpointet [sic] i Bogen, at der var to Sjæle i et Legeme“, Elvenes an Knudsen, 22.01.31, S. 1f.

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tätsnachzeichnungen an Hand der Dualität stehen für sie im Vordergrund, während die von Steinbock angesprochene Prozesshaftigkeit, die sich im vorangegangen Textausschnitt durchaus nachzeichnen lässt, zunächst keine Priorität in dieser Darstellung hat. Denn es ist die dezidierte Trennung von zwei verschiedengeschlechtlichen Wesen, welche die Voraussetzung für die weiterführende Handlung bildet. Angesiedelt werden beide in einem Körper, der Andreas zugeschrieben wird und 167 demnach als kranke Hülle figuriert. Zusätzlich zu der bestehenden Suizidalität werden am ‚kranken Andreas‘ auch zeitgenössische Konzepte von psychotischen Krankheitsbildern wie Schizophrenie und manisch-depressivem Irresein aufgerufen, welche sich unter anderem in persönlichkeitsspaltenden Symptomen manifestie168 ren. Diesem als körperlich und psychisch instabil skizzierten Menschen stellt der Text nachfolgend einen Andreas gegenüber, der sich ureigenen männlichen Verhaltenskodexen und Werten unnachgiebig verpflichtet fühlt, auch wenn ihm die Abgrenzung zur weiblichen Parallelidentität dabei mitunter schwer fällt. Nachdem sich Andreas doch zu dem von Grete angeratenen Arztbesuch bei Werner Kreutz durchgerungen hat, bereitet es ihm Schwierigkeiten zu identifizieren, wem von beiden – 169 Andreas oder Lili – jener nun eine neue Jugend versprochen habe. Überzeugt zu dieser Konsultation wird jedoch eindeutig Andreas, der sich mit seinem Wahl170 spruch „Ce que femme veut, Dieu le veut!“ dem weiblichen Charme einer Freundin beugt.

167 In dem ungedruckten, Elbe zugeschriebenen Vorwort wird die Vorstellung der kranken Hülle explizit angesprochen: „Nur der Körper w a r degeneriert und wurde es immer mehr, je stärker die Zweiteilung überhandnahm und dadurch einen krankhaften Zustand schuf.“, vgl. Elbe: Vorwort, S. 2. 168 Diese psychotischen Krankheitsbilder werden noch bis ins späte 19. Jahrhundert zusammengedacht und erst 1899 bei Emil Kraepelin in Dementia praecox und manischdepressives Irresein aufgeteilt, vgl. Kraepelin, Emil: Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte, III. Band: Klinische Psychiatrie, II. Teil, 6. Auflage, Leipzig 1899; 1911 wurde der Begriff der Dementia praecox von Eugen Bleuler durch den der Schizophrenie ersetzt, welchen er 1908 zum ersten Mal öffentlich vorstellt, vgl. Bleuler, Eugen: Dementia praecox oder Gruppe der Schizophrenien, Tübingen 1988 (1911), S. 4ff.; auf die Zusammenhänge von Pathologisierung und Subjektivität werde ich in 4.2 eingehen. Die Bedeutung einer solchen Implikation für die – Anfang der 1930er immer bedeutsamer werdende – Eugenik-Debatte greife ich ebenfalls in 4.2 und noch ausführlicher in 6.2.1 auf. 169 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 21. 170 Ebd., S. 15. (Kursivierung im Text); dies entspricht dem deutschen ‚Weibes Wille ist Gottes Gesetz‘.

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Diese gottesfürchtig anmutende Haltung gegenüber dem weiblichen Geschlecht wird in einem Traum aufgegriffen, den Andreas unmittelbar nach dem Zusammentreffen mit Kreutz hat. Nachdem der Arzt ihm eine baldige Reise nach Berlin ans Herz gelegt hat, befindet sich der träumende Andreas nun bereits auf dem Weg von Paris dorthin: Neben dem Gleis erblickt er einen schwarzen Reiter, der sich mit dem Zug ein Rennen liefert. Bald drängen sich die Passagiere durch die Gänge, hin zur Lokomotive, um mehr Kohle in den Ofen zu schaufeln. Da versteht Andreas, dass es sich bei dem dunklen Reiter um den Tod handelt. Dieser greift sich nun einen Passagier nach dem anderen. Währenddessen verliert der Zug Waggon um Waggon bis letztlich nur noch die Lokomotive und der Kohlewagen übrig sind, das Ende der Welt erreichen und in den Abgrund stürzen. Doch Andreas hat es geschafft, vom Zug abzuspringen. Auf der Flucht vor dem Tod taucht plötzlich Lili an seiner Seite auf. Während der Tod immer näher kommt, schwinden Lilis Kräfte zunehmend. Andreas ruft ihr zu, weiterzulaufen, er würde für ihr Überleben mit dem Tod kämpfen. Doch der Tod gewinnt den Kampf und wirft Andreas in den Abgrund. Lili läuft weiter und als sie das Ende des Pfades erreicht, springt sie und fällt in die Arme einer weißen Gestalt. Sie ist nun nicht mehr erreichbar, da die weiße Gestalt immer größer wird und den Tod zurückdrängt. Lili landet auf einer Insel voll silberner Bir171 ken und wird von einem blassroten gotischen Engel gestützt. Diese Traumsequenz prophezeit, dass im Namen des männlichen Gestus eine 172 Opferhandlung zu Gunsten des Weiblichen zu erwarten ist. Heede beschreibt diesen Gestus als die textliche Reproduktion eines stereotypen Geschlechteruniversums, „wo sich der Mann stark und chevaleresk für die schwachen Frauen op173 fert.“ Diese Ausprägung einer immanenten Männlichkeit wird zum Charakteristikum von Andreas, welcher bemüht ist, diese unter großen Anstrengungen bis zum Ende seiner textuellen Existenz aufrechtzuerhalten. Im Laufe der tatsächlichen Zugfahrt nach Berlin werden die vermeintlich geschlechtlichen Normen wiederholt aufgerufen. Jeglicher vorhandener „Männer174 stolz“ wird bei Andreas mobilisiert. Im Zusammenklang mit seiner als typisch dänisch beschriebenen Konstitution, welche es ihm erlaube, auch tragische Dinge mit einem Lächeln zu nehmen, erleichtert dieses vermeintliche Geschlechtsmerk175 mal zumindest oberflächlich seine aktuell herausfordernde Lebenssituation. Un-

171 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 21f. 172 Für eine ausführliche Analyse der Wiedergeburts- und Schöpfungsmetaphorik des Traumes, vgl. Meyer 2011, S. 71f. 173 „hvor manden stærkt og chevaleresk ofrer sig for de svage kvinder.“, Heede 2003, S. 26; vgl. Heede 2006, S. 111. 174 „Mandefolkstolthed“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 26. 175 Vgl. ibid.

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ter der Oberfläche wird jedoch ein ambivalentes Unbehagen in den normierten Verhaltensweisen deutlich, wenn Andreas einerseits, aus Scham sich vor Männern aus176 zuziehen, darauf verzichtet einen Platz im Schlafwagen zu buchen und wenn er andererseits beim Zustieg einer Dame aus Höflichkeit nicht das Abteil wechselt, 177 obwohl er gern allein geblieben wäre. Jene Schwäche, die sich Andreas mit Blick auf seine geschlechtlich kodierten Prinzipien nicht zu zeigen erlaubt, wird von der neuen Passagierin hingegen offen zur Schau gestellt. Ihr nicht verstecktes Weinen löst bei Andreas kategorisierende Gedanken aus, die sich in einer deutlich geschlechterdichotomen Abgrenzung zu seinem Gegenüber sowie zu Lili manifestieren: „Wie wundersam Frauen sind, dachte er, so ganz verschieden von den Männern …… Haben sie gar keinen Stolz, oder sind sie wirklich so schwach? Lili! …… Wird Lili auch so werden? Ja, eigentlich war sie das schon immer gewe178 sen……“ Das Negieren von Schwäche in Form von Stolz und Erduldung wird damit zu einer geschlechtsspezifischen Kernkompetenz, auch wenn es in Bezug auf Andreas so erscheint, als ob es die Männlichkeit inklusive der ihr impliziten Normen ist, die es auszuhalten gelte. Die als männlich herausgestellten Qualitäten werden im Laufe der Zugfahrt noch mehrmals unterstrichen, auch während Andreas seinen eigenen Nekrolog verfasst. Von Tagebucheintragungen Gretes, die Andreas heimlich gele179 sen hat, inspiriert, ist dieser als ein künstlerischer Nachruf konzipiert. Durch diesen unscheinbaren Hinweis wird die darin produzierte Männlichkeit durch die vermeintlich gegengeschlechtliche Außensicht der Gattin unterstrichen. Der Nekrolog greift auf das Traummotiv vom Tod im Zug zurück und leitet somit auch narrativ 180 den Abschied vom männlichen Existenzmodus ein. Die geschlechtliche Verfasstheit steht dabei in einer wechselwirksamen Beziehung mit dem Bild der eigenen Künstlerschaft, welches Andreas hier in der dritten Person formuliert: „Man hatte doch den Eindruck, dass es vor allem die kräftigen und ausgeprägt männlich aufgefassten Unwetterbilder waren, die seine charakteristische künstlerische Bewegung auslö-

176 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 29. 177 Vgl. ebd., S. 30. 178 „Hvor Kvinder er underlige, tænkte han, saa helt forskellige fra Mændene ...... Har de slet ingen Stolthed, eller er de virkelig saa svage? Lili! …… Vilde Lili ogsaa blive saaledes? Ja, egentlig havde hun vel altid været det ......“, ebd., S. 31. 179 Vgl. ebd., S. 26. 180 Armstrong liest diesen Nachruf als Übergang von Andreas’ zu Lilis Existenz und argumentiert, dass sich an dieser Stelle ein Abschied von der künstlerischen Ausformung des Textes vollzieht, der seines Erachtens nun in eine noch fragmentarischere Form übergehe, vgl. Armstrong 1998, S. 171f.

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sten. Sie zeugen von einer stark betonten Virilität, die einen eigentümlichen Gegensatz zu seinem verfeinerten, fast feminisierten Äußeren bildeten.“181

Diese Virilität durchströme jedoch nicht nur seine Arbeit, sondern auch sein inneres Wesen und so attestiert sich Andreas neben seinem besonderen künstlerischen Können, seiner Schnelligkeit und Ernsthaftigkeit eben auch einen umfassenden 182 Wissensschatz sowie eine „ausgeprägt ritterliche Natur“. Letztere ist es, die ihn dazu führt, das ihm große Anerkennung entgegenbringende Dänemark zu verlassen, 183 um seiner Ehefrau in Paris den richtigen Nährboden für ihre Kunst zu schaffen. In Bezug auf diesen Ortswechsel wird im Nachruf nochmals das Thema nationale Identität verhandelt, welche sich bei Andreas, der zunächst noch von seiner dänischen Konstitution profitiert, als eine fließende darstellt: „Ich bin weder dänisch noch französisch, sagte er selbst, sicher nicht französisch, aber ich bin Pariser, und 184 ist das keine Nationalität, so habe ich keine.“ Eine explizit nordische Künstlerbegabung sei ihm jedoch immer inne gewesen und in Form eines Buches über nordische Sagen glaubt er, einen Beitrag zu einem Kulturtransfer geleistet zu haben, der 185 186 „die germanische Gedankenwelt für die romanische Leserwelt“ eröffne. Auf Andreas’ schwindende Gesundheit wird im Nekrolog abschließend nur kurz eingegangen, jedoch nicht ohne den Hinweis, dass er die körperlichen Schmerzen mit einem Lächeln ertragen habe – so, wie es das von ihm selbst skizzierte Männlichkeitsselbstbild verlangt. Nach der Ankunft in Berlin setzt sich das im Zug begonnene Abschiedsritual vom männlichen Existenzmodus fort, wobei nun das Gegenüber Niels Hvide auf verschiedenen Ebenen als Katalysator einer rückblickenden Aufrechterhaltung von Männlichkeit agiert. Hvide wird beim ersten Zusammentreffen gleich als „ein bril187 lantes Stück Mann […] von rein nordischer Rasse“ vorgestellt. Hier drängt sich

181 „Man havde dog Indtrykket af, at det navnlig var de kraftige og udpræget mandigt opfattede Uvejrsbilleder, der udløste hans særegne kunstneriske Bevægelse. De vidner om en stærk betonet Virilitet, der dannede en ejendommelig Modsætning til hans forfinede, næsten feminiserede Ydre.“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 26f. 182 „udprægt ridderlige Natur“, ebd. S. 27. 183 Die historische Gerda ist in Paris künstlerisch weit erfolgreicher als Einar Wegener. 184 „Jeg er hverken dansk eller fransk, sagde han selv, afgjort ikke fransk, men jeg er Pariser, og er det ikke en Nationalitet, saa har jeg ingen.“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 27. 185 „den germanske Tænkeverden for den romanske Læseverden“, ibid. 186 Einar Wegener hat 1924 tatsächlich ein solches Buch veröffentlicht, vgl. Guyot, Charles und Einar Wegener: Le Livre des Vikings. D’Aprés les anciennes Sagas, Paris 1924. 187 „et brillant Stykke Mandfolk […] af ren nordisk Race.“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 34.

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ein Rückbezug auf den kurz vorher als viril und nordisch beschriebenen Künstler Andreas Sparre auf, wobei die Einschreibung der Geschlechtlichkeit in ein rassenspezifisch normiertes Männlichkeitsbild in starkem Kontrast zur im Text illustrier188 ten alteritären Erfahrung steht. Dieses geschlechtliche Spannungsfeld zwischen Normalität und Alterität gestaltet den Raum, in welchem sich Andreas nach seiner Ankunft in Berlin bewegt und wirkt verstärkend auf ein im Text produziertes deterministisches Verständnis von Geschlecht. Dementsprechend gestalten sich auch Andreas’ Empfindungen bei seinem ersten Termin in Professor Hardenfelds Institut 189 für Sexualforschung: „Was habe ich hier zu schaffen? Er fühlte ein moralisches Unbehagen bei diesem großen Raum, welcher mehr den Eindruck machte, ein Klub für sexuell Abnorme zu sein: Frauen, die wie verkleidete Männer aussahen, und Männer, bei denen man es schwer hatte, zu glauben, dass sie wirklich Männer waren… Die Art und Weise, wie sich diese Menschen miteinander unterhielten, ihre Bewegungen, ihre Stimmen, ihre Kleidung, alles war ihm zutiefst zuwider…“190

Nach den Untersuchungen im Institut fühlt sich Andreas innerlich gequält und verspürt das dringende Bedürfnis, unter gesunde Menschen zu kommen. Über diese Suche nach Normalität, welche Andreas für sich in Anspruch nimmt, erfolgt gleich191 zeitig eine rigorose Abgrenzung des Selbst vom Alteritären. In der Runde mit

188 Für mehr zum stark durch Hans F. K. Günther (1891-1968) geprägten zeitgenössischen nordisch-rassistischen Gedankengut, vgl. Schwandt, Peter: Hans F. K. Günther. Porträt, Entwicklung und Wirken des rassistisch-nordischen Denkens, Saarbrücken 2008; auf die Verschränkungen von Alterität und Eugenik zur Zeit des Nationalsozialismus werde ich in 6.2.1 näher eingehen. 189 Dieses Pseudonym verweist recht offensichtlich auf Magnus Hirschfeld, an den der Charakter des Professor Hardenfeld angelehnt ist. Hirschfeld, in dessen Institut für Sexualwissenschaft Einar Wegener tatsächlich vorstellig geworden ist, geht in zwei seiner Schriften auf den ‚Fall Lili Elbe‘ ein, vgl. Hirschfeld 1933; vgl. Hirschfeld, Magnus: Le sexe inconnu, Paris 1935, S. 95-97. 190 „Hvad har jeg her at gøre? Han følte et moralsk Ubehag ved dette store Rum, som mere gjorde Indryk af at være en Klub for seksuelt Abnorme: Kvinder, der saa ud som forklædte Mænd, og Mænd, om hvem man havde ondt ved at tro, at de virkelig var Mænd ...... Den Maade hvorpaa disse Mennesker underholdt sig med hinanden, deres Bevægelser, deres Stemmer, deres Paaklædning, alt bød ham inderligt imod ...“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 36. 191 Hausman liest in Andreas’ Abgrenzung von den sexuellen Zwischenstufen die Etablierung von Lilis ‚normaler‘ Weiblichkeit, vgl. Hausman 1995, S. 18.

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Inger und Niels Hvide, die er unmittelbar nach der Erfahrung bei Hardenfeld aufsucht, wird Normalität im Zusammenspiel mit Geschlecht und Sexualität dann zum zentralen Gesprächsthema. Während Andreas’ gesteigerter Alkoholkonsum an diesem Abend von Niels als Zeichen der Männlichkeit gewertet wird, drückt dieser gleichzeitig Verwirrung bezüglich der Tatsache aus, dass er Andreas am nächsten Tag vielleicht wie eine Dame behandeln solle. Andreas bringt Verständnis für dieses Problem auf und versichert dem Freund mit Bezug auf seine ‚Zwei Wesen in einem Körper‘-Theorie, dass „jeder von diesen sein eigenes und […] vollkommen 192 gesundes und normales Gefühlsleben“ habe. Niels bestätigt dies, indem er darauf hinweist, dass er, obwohl er Lili bisher nicht kenne, für Andreas’ Anziehungskraft auf Frauen bürgen könne und einen besseren Beweis für dessen normative Männlichkeit gäbe es ja kaum. Dennoch unterbricht Niels diesen Gedanken, legt seine Hand auf Andreas’ Schulter – eine Geste, die sowohl freundschaftliche Sicherheit, Bedrohung oder homoerotische Möglichkeit vermitteln könnte – und stellt ihm die Frage, ob er sich jemals zum eigenen Geschlecht hingezogen gefühlt hab. Andreas’ empörte Verneinung dieses Ansinnens und seine eindeutig heterosexuelle Veror193 tung wird von Niels mit einem ‚Bravo‘ und einem Trinkspruch belohnt. Eine in Fra Mand til Kvinde ausgelassene Textstelle des Manuskriptes, welche Eingang in die anderen Ausgaben gefunden hat, zeigt einen Andreas, der sich noch ausführlicher zu den seine Person betreffenden Begehrensstrukturen verhält: „Und ich kann hinzufügen, dass sich derartige Wesen auch nie für mich interessiert haben. […] ich habe immer und allezeit Frauen gemocht. Und wie damals so auch heute. Ein bana194 les Geständnis.“ Stone stellt die Banalität diese Geständnisses jedoch in Frage, indem sie darauf hinweist, dass es nur dann greift, wenn – von den zwei Wesen in 195 Andreas’ Körper – Andreas derjenige ist, der sich äußert – und nicht Lili. Der Lebensrückblick, den Andreas im Anschluss Niels anvertraut, zeichnet jedoch ein ambivalentes Bild von den Begehrensstrukturen aus seiner Vergangenheit. Runte erläutert diesbezüglich eine interessante Konstante, die sich ihres Erachtens durch transsexuelle Biographik auch nach Fra Mand til Kvinde ziehe – „das gleich196 zeitige Auftreten heftiger antihomosexueller Diskurse und homosexueller Akte“. So wird auch der frisch in Kopenhagen angekommene Student Andreas auf dubiose Weise entjungfert: „Hier waren dann gleich ein Paar gute Kameraden, die sich der Aufgabe annahmen, mir meine provinzielle Unschuld zu nehmen, und unter deren

192 „hver af dem har sit eget og [...] fuldkomment sunde og normale Følelsesliv“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 37. 193 Vgl. ibid. 194 Lili Elbe Buch (Manuskript), S. 47f., vgl. Elbe 1932, S. 41f. 195 Vgl. Stone 2006, S. 226. 196 Runte 1998, S. 134f.

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‚Schutz‘ wurde ich – etwas brutal – in die Mysterien der Hauptstadt eingeweiht.“ Doch dieser Anflug eines homosexuellen Möglichkeitsraumes wird umgehend ausgehebelt, wenn Andreas kurz darauf an der Kunstakademie Grete kennenlernt – „[e]s war Liebe auf den ersten Blick.“ Alle Ausgaben verzichten dabei jedoch auf die noch im Manuskript vorhandene, mit sexuellen Implikationen versehende Ergänzung, dass die beiden „auf einander vom ersten Augenblick eine geradezu my198 stische Anziehungskraft aus[übten]“. Der Grund für diese Ausklammerung wird unter anderem durch die später folgende Darstellung ihrer Ehe nachvollziehbar. Als platonisches Kameradschaftsverhältnis inszeniert, dient sie dazu, jeglichem Ver199 dacht bezüglich innerehelicher homosexueller Aktivitäten vorzubeugen. Dementsprechend fällt auch folgender Manuskriptausschnitt zumindest dem dänischen Lektorat zum Opfer: „Lili [war] sehr bald ein völlig selbständiges Persönchen, und zwar eine Gespielin von Grete, i h r e eigentliche Gespielin und ihr Spielzeug zu200 gleich.“ Die bereits bei Stones Kritik avisierte Möglichkeit einer lesbischen Beziehung zwischen Grete und Lili klingt hier an, hätte aber ebenfalls das Normativitätskonstrukt der Ehe durchbrochen. Während die Sparres diese sapphische Gefahr narrativ umschiffen, sind zumindest Gerda Wegeners lesbische Neigungen ein offe201 202 nes Geheimnis. Hélène Allatini, die Lili ein Kapitel in ihrem 1939 veröffentlichen Buch Mosaïques widmet, erzählt dort eine Anekdote über Einar Wegeners Umgang mit Fragen zu seiner Sexualität. So hätte ihn unter anderem die Gastgeberin eines freundschaftlichen Abendessen darauf angesprochen: „‚Sie, Wegener, sie stehen natürlich auf Männer‘ und Einar, geistreich wie gewohnt, antwortet ihr lä203 chelnd: ‚Nein, Madame, sie irren sich, ich bin lesbisch.‘“

197 „Her var der straks et Par gode Kammerater, som paatog sig at pille min provinsielle Uskyld ud af mig, og under deres ‚Beskyttelse‘ blev jeg — lidt brutalt — indviet i Hovedstadens Mysterier.“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 43. 198 Lili Elbe Buch (Manuskript), S. 54. 199 Die dänische Presse berichtet bereits im Februar 1931, dass das platonische Verhältnis Rechtsgrundlage für die Auflösung der Ehe sei; mehr dazu in 3.3 und in Kapitel 5. 200 Lili Elbe Buch (Manuskript), S. 59; vgl. Elbe 1932, S. 54f. 201 Die Wegeners verlassen Kopenhagen unter anderem, weil Gerda eine Affäre mit der Tochter eines Politikers unterhält und ein Skandal droht, vgl. Pors vsl. 2016; zudem widmet sie sich auch künstlerisch der Darstellungen erotisch-lesbischer Szenen; obwohl Heede auf Grund dessen in eine ähnliche Richtung argumentiert, hält er die These einer innerehelichen, lesbischen Beziehung für nicht verifizierbar, vgl. Heede 2012b, S. 189. 202 Allatini steht Pate für die Figur der Elena in Fra Mand til Kvinde. 203 „‚Vous, Wegener, naturellement, vous êtes pour hommes?‘ Et Einar, plein d’esprit comme d’habitude, lui répond en souriant: ‚Non, madame, vous vous trompez, je suis lesbienne.‘“, Allatini 1939, S. 214.

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Für Andreas hingegen wird auch nachfolgend jede Art von homoerotischem Begehren, das von ihm ausgeht oder auf ihn gerichtet ist, textuell relativiert. Dass Männer ihn nun begehren, versteht er nicht als auf sich gerichtet: „Das war Lili, die 204 ihren Einfluss in mir geltend machte.“ Der als unbarmherzig beschriebene Kampf, welcher nun im gemeinsamen Körper entflammt, führt dazu, dass Andreas zuweilen Empfindungen zu Teil werden, die er als nicht zu sich gehörig wahrnimmt. So verspürt er bei einer Theaterprobe – er hatte eine Rolle im Ballett eines Freundes übernommen – das Bedürfnis, sich diesem unterzuordnen. Während dieser Drang dabei implizit weiblich konnotiert ist, gibt Andreas zu erkennen, dass er 205 sich nicht mehr wie er selbst fühle. Zwar empfindet er in dieser Situation eine 206 zunehmende Unsicherheit, gerade so „wie ein Schuljunge“, doch wird er nicht müde zu versichern, dass diese Vorkommnisse „nicht im Geringsten erotisch betont 207 waren“. Ein nur in der dänischen Ausgabe gestrichener Zusatz weist zudem darauf hin, dass es sich sowohl bei dem Freund als auch bei Andreas um „in diesem 208 Punkte kerngesunde Naturen“ handele. Auf diese ‚gesunde‘ Konstitution gelingt es Andreas jedoch nicht mehr zurückzugreifen, als er hinter den Kulissen von jemanden als Fräulein gelesen wird, die eine Hosenrolle spielt: „Wäre mir soetwas 209 früher von einem Mann gesagt worden, hätte ich ihn zu Boden geschlagen.“ Dieser demonstrativen Abwehr von diametraler Geschlechtlichkeit und Homosexualität stehen jedoch weitere, den ausgewählten Szenen immanente Funktionen gegenüber. Zuerst wird mit ihnen das unbestreitbare Passing von Lili als Frau vorbereitet, zum Zweiten wird die Konfusion über das vermeintlich Transvestitische in einem performativen Rahmen verortet, dem in Bezug auf die alteritäre Darstellung von Andreas im Übergang zu Lili noch eine wichtige Bedeutung zukommen soll. Wenn auch im sicheren Raum, wird die Sichtbarkeit von Andreas’ Alterität somit in der deutschen und den englischsprachigen Ausgaben zumindest angerissen, ebenso 210 wie der Effekt, der sich daraus auf die Wahrnehmung seiner Sexualität ergibt. Heede versteht diesen Kreuzungspunkt zwischen moralischen Vorstellungen und

204 „Det var Lili, der gjorde sin Indflydelse gældende i mig.“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 47. 205 Vgl. ebd., S. 57. 206 „som en Skoledreng“, ibid. 207 „ikke i mindste Maade var erotisk betonet“, ibid. 208 Lili Elbe Buch (Manuskript), S. 81; Elbe 1932, S. 80. 209 Lili Elbe Buch (Manuskript), S. 82; Elbe 1932, S. 81. 210 An dieses Narrativ der sichtbaren Alterität knüpfen auch die Beschreibungen von Hélène Allatini und Jean Boivin an, welche ebenfalls von der daraus folgenden Annahme der Inversion in Einar Wegeners Umfeld berichten, vgl. Allatini 1939, S. 213f.; vgl. Boivin 1958, S. 57f.

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homosexuellen Möglichkeiten als das zentrale Dilemma von Fra Mand til Kvinde 211 und konzentriert sich auf die Normalitätsbekundungen, die dem Text inne sind. Doch trotz dieses unbedingten Willens zur Normalität werden Andreas’ Erfahrungen immer wieder explizit im Zusammenhang mit alteritär erscheinenden Szenarien skizziert. Der Effekt ist dementsprechend doppelt. Während die sich bereits im Umbruch befindliche, unbedingt heteronormative Männlichkeit eine Manifestation erfährt, wird die Tendenz zum normativ weiblichen Verhalten sowie dessen Legitimation bereits angedeutet. Eine geschlechtliche Ambivalenz zeigt sich laut Andreas’ Rückblick bereits in seiner Kindheit. Von der Mutter wird er immer besonders schön gekleidet und darf, um seine Gewänder nicht zu zerstören, nie mit gleichaltrigen Jungen spielen. Auch 212 hat er „lange helle Locken und eine schneeweiße Haut“ – Eigenschaften, die dazu führen, dass er von Fremden oft für ein Mädchen gehalten wird. Im Kindergarten, wo er dann der einzige Junge unter vielen weiblichen Altersgenossinnen ist, 213 avanciert er rasch zum Schnellsten beim Nähen und Stricken. Ergänzt wird diese Darstellung der prägenden äußeren Faktoren, welche die Entwicklung in eine als weiblich dargestellte Geschlechtlichkeit befördern, durch eine Beschreibung der brüderlichen Hänseleien, welchen Andreas auf Grund seiner angeblichen Weiberstimme ausgesetzt ist: „Das ging mir nah ans Herz und ich bemühte mich, meine Stimme rau und tief zu machen… Das war, wenn ich jetzt nachträglich darüber 214 nachdenke, meine erste unbewusste Verstellung“. Die Vorstellung einer dahintersteckenden Inszenierung wird nachfolgend in Form einer angepassten Spaltung beschrieben. Mit seinen Brüdern spielt Andreas mit Zinnsoldaten, während er und seine Schwester sich gemeinsam mit Puppen vergnügen und Andreas gern ihren Puppenwagen schiebt. Die Freude am geschlechternormierten Spielzeug wird dabei über die jeweiligen Spielpartner legitimiert und 215 Andreas konstatiert rückblickend, dass daran „nichts merkwürdig“ gewesen sei. Das Muster setzt sich in Andreas’ Schulzeit und Jugend fort, nur unterliegen die als weiblich konnotierten Markierungen und Verhaltensweisen nun einer strengeren Selbst- und Fremdsanktionierung. Andreas, der sich retrospektiv als „einen richti-

211 Vgl. Heede 2003, S. 29ff.; vgl. Heede 2006, S. 115; später bezeichnet Heede Fra Mand til Kvinde als einen konformistischen, heteronormativen und homophoben Text, vgl. Heede 2012b, S. 185. 212 „lange lyse Lokker og en snehvid Hud“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 41. 213 Vgl. ibid. 214 „Det gik mig nær til Hjerte, og jeg bestræbte mig for at gøre Stemmen grov og dyb ...... Det var, naar jeg nu bagefter tænker over det, min første ubevidste Forstillelse“, vgl. ibid. 215 „ikke noget mærkeligt“, ibid.

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gen Jungen“ beschreibt, schiebt den Puppenwagen seiner Schwester nun nur noch heimlich und geht keiner Schlägerei aus dem Weg. Auf sein weibliches Äußeres reagiert seine Umwelt jedoch nach wie vor. Nachdem ihm eine Klassenkameradin deshalb einen Hut aufsetzt, muss er die Konsequenzen dieser Grenzüberschreitung tragen. Er fängt sich eine Tracht Prügel vom Rektor ein – eine Strafe, für die er 217 retroaktiv Verständnis zeigt und somit nochmals seine Konformität mit einem geschlechtlichen Normierungsregime unterstreicht. Die Schule bietet für Andreas allerdings auch die Möglichkeit, neue Zugänge zu seiner Alterität zu finden. So öffnet ihm sein Lateinlehrer die Augen für den Geist und die Kunst der Antike, insbesondere für die Bildhauerei, die ihm Modelle vorführt, mit denen er sich identifizieren kann: „Als ich mit meinen Kameraden zusammen im Bad war, ging es nicht an mir vorbei, dass ich viel feiner und geschmeidiger gebaut war als die anderen Jungen. Ich selbst fand, dass ich an die 218 Jünglingsgestalten von Praxiteles erinnerte.“ Am Kreuzungspunkt von Kunst und Mythos eröffnet sich somit ein neuer legitimierter Verortungsrahmen für Andreas’ geschlechtliche Existenz. 3.2.3 Das künstlerische Spiel zwischen Mythos und Maskerade Bereits vor der rückblickenden Beichte nimmt Niels resümierend vorweg, dass die wundersame Erfahrungswelt von Andreas in verschiedenen historischen sowie mythologischen Kontexten unterschiedlich behandelt worden wäre: „Hättest Du im alten Griechenland gelebt, wärst du vielleicht zu einem Halbgott erklärt worden und im Mittelalter wärst du verbrannt worden, denn damals waren Wunder verboten …… 219

In unseren Tagen haben doch auf jeden Fall Ärzte das Recht, als Wundertäter aufzutreten.“

216 „en rigtig Dreng“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 42. 217 Vgl. ibid. 218 „Naar jeg var i Bad sammen med mine Kammerater, kunde jeg ikke undgaa at lægge Mærke til, at jeg var meget finere og smidigere bygget end de andre Drenge. Jeg syntes selv, at jeg mindede om Praxiteles’ Ynglingeskikkelser“, ibid.; Praxiteles (ca. 390-320 v. Chr.) ist ein griechischer Bildhauer, dessen Skulpturen sich durch einen vermenschlichten und jugendlichen Charakter auszeichnen; mehr zu Praxiteles, vgl. Stupperich, Reinhard: „Praxiteles“, in: Brodersen, Kai (Hg.): Große Gestalten der griechischen Antike. 58 historische Portraits von Homer bis Kleopatra, München 1999, S. 287-295. 219 „Havde Du levet i det gamle Grækenland var du maaske blevet erklæret for en Halvgud, og i Middelalderen var du blevet brændt, for den Gang var Mirakler forbudt ...... I vore Dage har dog i alt Fald Lægerne Lov til at optræde som Mirakelmagere.“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 38.

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Der Zeitpunkt von Lilis künstlerischer Geburt findet sich dann auch im Kontext eines antiken Gedankengutes wieder. So erzählt Grete Andreas in ihrem ersten Ehejahr die Geschichte von Hermaphroditos als Verschmelzung der Tochter der 220 Aphrodite mit dem Sohn von Hermes. Sie verbindet damit einerseits den Wunsch nach einer solchen Verschmelzung, während sie gleichzeitig die mythische Existenz 221 von Wesen proklamiert, deren Körper beide Geschlechter vereinen. Vor diesem Hintergrund berichtet Andreas nun von Lilis Geburt und Taufe im Atelier. Nachdem eine Schauspielerin auf Grund einer Probe ihre Portraitsitzung bei Grete nicht wahrnehmen kann, erklärt er sich bereit, geschminkt und in weiblich konnotierten Gewändern für die Beine Modell zu stehen. Andreas erinnert sich daran, wie wohl er sich in dieser Kleidung fühlt und an die Begeisterung der Schauspielerin, die dann doch früher von der Probe zurückkehrt: „Du bist viel schöner als Frau denn als Mann. Ich bin sicher, dass du in einem früheren Leben Frau gewesen bist …… es 222 sei denn, der Natur ist ein kleiner Fehler unterlaufen.“ So nimmt sich dann auch diese Schauspielerin, die bereits die Außenwirkung der mädchenhaften Gestalt unterstrichen hat, der Namensgebung des neuen Geschöpfes an: „Sie muss doch einen Namen haben …… sollen wir sie Lili nennen?

220 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 43; während bei Ovid der Jüngling Hermaphroditos mit der Quellnymphe Salmakis verschmolzen wird, erzählt Grete diese Geschichte in abgewandelter Form: Die Tochter der Aphrodite verliebt sich in Hermes’ Sohn, welcher ihr zu entfliehen versucht. In ihrer Not wendet sie sich an Zeus, der die beiden zu einem glücklich spielenden Götterkind vereinigt, vgl. Naso, Publius Ovidius: Metamorphosen, Buch 2, Verse 274-388, Düsseldorf 2007 (ca. 1-8 n. Chr.), S. 184ff. 221 Abgesehen von der offensichtlich hermaphroditischen Referenz dieses Mythos ist die Vorstellung der Verschmelzung zweier von Hermes und Aphrodite abstammender Kinder hier von Interesse. Diese beiden mythologischen Figuren verweisen auf Charakterisierungen, die schon in Bezug auf Andreas und Grete eine Rolle gespielt haben. So ist Hermes von Olympia, eine der bekanntesten Praxiteles zugeschriebenen Skulpturen, welche Andreas als Abbild seiner eigenen körperlichen Konstitution sieht. Die von Sappho angebetet Aphrodite hingegen wird zur Mutter des Mädchens, welches die Verschmelzung ersehnt, genau wie es Grete tut. In der Geburt des hermaphroditischen Götterkindes erfährt die Schöpfung von Lili aus Andreas und Grete eine narrative Verdoppelung, vgl. Hafner, German: Bildlexikon antiker Personen, Düsseldorf 2001, S. 230; vgl. Moormann, Eric M. u. Wilfried Uitterhoeve: Lexikon der antiken Gestalten von Alexander bis Zeus, Stuttgart 2010, S. 346; vgl. Greifenhagen, Adolf: Griechische Götter, Berlin 1978, S. 19. 222 „Du er meget kønnere som Kvinde end som Mand. Jeg er vist paa, at Du i en tidligere Tilværelse har været Kvinde ...... med mindre Naturen har begaaet en lille Fejltagelse.“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 44.

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….. Das klingt so süß …… Von nun an bist du also Lili getauft, merk dir das!“ Während die Schauspielerin somit zur Taufpatin wird, ist es Grete, die das künstle224 risch erschaffene Geschöpf zu prägen scheint. Im Text als Prototyp der ‚neuen 225 Frau‘ stilisiert, schafft Grete ihr neues Lieblingsmodell nach ihrem eigenen Bilde: „Sie [Lili] war bereits zu einem Typ geworden, einem modernen Frauentyp, ge226 schaffen von der Fantasie einer Künstlerin …… wie alles Neue hier auf Erden.“ Geschlechtlichkeit, wie Armstrong es beschreibt, wird somit zum „künstlerischen 227 228 Prozess“ und Lili zu einer „Kreatur des Ateliers“. Während Runte argumentiert, dass hier aus Ovids Metamorphosen eine harmlose Zeitungsnachricht geworden sei, die ihren Ursprung in einer Zufallstravestie fän229 de, setzt sich Armstrong etwas differenzierter mit diesen Überschneidungsphä230 nomenen auseinander. Er schlägt vor, Lili – dieses „Zufallsprodukt des Ateliers“ – als eine Gemeinschaftsproduktion zu verstehen und vergleicht den kollaborativen 231 Entstehungsprozess des Portraits mit Oscar Wildes The Picture of Dorian Gray: „If Lili is a joint construction, an ‚accident of the studio‘, in which Andreas ‚acts‘ a part, Grete occupies the position of Lord Henry and the painter Basil in Wilde’s fable, producing the object of artistic desire […] In this romance the portraits that 232 Grete paints bring Lili to life.“

223 „Hun maa jo have et Navn ...... skal vi kalde hende Lili? ...... Det lyder saa sødt ...... Fra nu af er Du altsaa døbt Lili, husk det!“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 44f. 224 Heede verweist auf eine weitere mythologische Figur: „Wie Athene entspringt sie voll bekleidet aus Gerda Wegeners [sic] Künstlerhirn, mit der Schauspielerin als Taufpatin.“ („Likt Athena slår hon ut fullt påklädd ur Gerda Wegeners konstnärshjärna.“), vgl. Heede 2012b, S. 181; Heedes Verweis ist in der Verschränkung mit dem hermaphroditischen Mythos interessant, denn es ist Hermes, der Aphrodites Ehemann Hephaitos dazu bringt, Zeus Schädel zu teilen, damit Athene geboren werden kann, vgl. Flaum, Eric u. David Pandy: Enzyklopädie der Mythologie, Essen 1995, S. 84f. 225 Zur ‚neuen Frau‘ als Phänomen der Modernität/Modernisierung, vgl. Wischmann 2006. 226 „Hun var allerede blevet en Type, en moderne Kvindetype, skabt af en Kunstners Fantasi ..... som alt nyt her paa Jorden.“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 13. 227 „artistic process“, Armstrong 1998, S. 169. 228 „creature of the studio“, ibid. 229 Vgl. Runte 1998, S. 125; vgl. Runte 1996, S. 109. 230 „accident of the studio“, vgl. Armstrong 1998, S. 171. 231 Runte schlägt einen ähnlichen Vergleich vor, unterstellt jedoch ein narzisstisches Motiv: „Ausgerechnet ein Maler […] verliebt sich ins travestierte Bild seiner selbst, das wie bei Oscar Wilde in sein Leben einbrechen wird.“, vgl. Runte 1998, S. 125. 232 Vgl. Armstrong 1998, S. 171; vgl. Wilde, Oscar: The Picture of Dorian Gray. An Annotated, Uncensored Edition, London 2011 (1890).

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Die nun zum Leben erweckte Lili geht kurz darauf auf ihren ersten Künstlerkarneval und kann sich kaum vor Tanzofferten retten. Mit ihren zunehmenden Besuchen bei den Festen der Kopenhagener Bohème macht sie bald Furore, doch gleichzeitig, so beschreibt es Andreas rückblickend, verselbständigt sich ihr Charakter: „es [war] bald nicht mehr ich, der sich als Lili verkleidete ……. sie war für mich wie für Grete ein selbstständige Person geworden …… Lili und ich waren zwei un233 terschiedliche Wesen.“ Das künstlerische Produkt hat sich somit von dem bis dahin als Schauspieler agierenden Andreas emanzipiert. Die konstante Rolle, die seine Ehefrau in diesem Prozess einnimmt – eine Exemplifizierung, die sich in Fra Mand til Kvinde nicht wiederfindet – wird im Manuskript und den anderen Ausgaben wei234 ter ausgeführt. So reflektiert Grete, für die Lili zum „Spielzeug“ geworden ist, die Schöpfungsmacht, die sie ausübt: „es kommt vor, wenn sie mir Modell steht, dass in mir ein seltsames Gefühl wach wird, dass es noch mehr s i e ist, die ich 235 schaffe und forme, – als jenes Mädchen, das ich auf meiner Leinwand darstelle.“ Die bereits angedeutete Verquickung von Schöpfungs- und Schuldgedanken in Bezug auf die Figur der Grete fügt sich in das von Armstrong bemühte Dorian-Gray236 Motiv ein. Die Situation, aus der Armstrong seine Referenz bezieht, wird durch die explizite Erwähnung der Person und der Werke Wildes im Text noch verstärkt. Fra Mand til Kvinde erzählt symbolschwer, dass Grete und Andreas bei ihrer Ankunft in Paris zunächst in das Hotel ziehen, in welchem Oscar Wilde seine letzten Stunden ver237 brachte. Die in Fra Mand til Kvinde allgemein gehaltene Formulierung, dass sie 238 dort Wildes Werke lesen, bis sie diese auswendig können, eröffnet Interpretatonsräume, die zu einem Vergleich mit Dorian Gray einladen. Doch das Manuskript und die anderssprachigen Ausgaben konkretisieren die Lektüreerfahrung der Spar-

233 „det [var] snart ikke længere mig, der forklædte mig som Lili ...... hun var for mig som for Grete blevet en selvstændige Person ...... Lili og jeg var to forskellige Væsner.“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 45. 234 Lili Elbe Buch (Manuskript), S. 45; Elbe 1932, S. 55. 235 Lili Elbe Buch (Manuskript), S. 77; Elbe 1932, S. 76; Heede verweist ebenfalls auf Gretes Mitwirkung bei der künstlerischen Schöpfung, vgl. Heede 2012b, S. 281; er spricht dabei sowohl von „jungfräulicher Geburt“ („jungfrufödsel“) als auch von „lesbischer Insemination“ („lesbisk inseminering“), ebd., S. 188. 236 Die Vorstellung von Schöpfung und Schuld spielt später im medizinisch-religiösen Transformationsprozess eine entscheidende Rolle, mehr dazu in 3.2.4. 237 Wilde stirbt 1900 im Hotel d’Alsace. Armstrong nimmt dies zum Anlass, dass im Text nicht spezifizierte Hotel ebenso zu benennen und die dortige Parallelität zwischen Wildes Tod und Lilis Geburt als Pariserin aufzuzeigen, vgl. Armstrong 1998, S. 170. 238 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 47.

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res, indem sie darauf verweisen, dass es die briefartige Epistel De Profundis und 239 Ballad of Reading Gaol seien, welche die beiden fast frei zu rezitieren vermögen. Diese im Zusammenhang mit Wildes Inhaftierung entstandenen Texte gehören zu einem Zyklus, der Alterität sowie öffentliches und privates Ausgestoßensein thematisiert. Wilde fokussiert auf Fragen nach Moral, Leiden sowie Schuld und beschäf240 tigt sich mit den damit verbunden Konzepten der Reinigung und Erlösung. Die Schriften wirken dementsprechend wie Spiegel für die Konzeption der Beichte in Fra Mand til Kvinde und das Selbstverständnis der Protagonistin. Runte leitet den wiederholten Rückgriff auf mythologische, historische und literarische Referenzen über die Tatsache her, dass Andreas keinen anderen ‚Transse241 xuellen‘ kenne. Meines Erachtens vereinfacht das die Funktion, die diese Referenzen übernehmen. Im Text gibt es durchaus Personen, die sich jenseits der Geschlechtergrenzen bewegen. Sie sind jedoch ebenfalls im sicheren Rahmen der künstlerischen Bohème verortet. Diese von der mehrheitsgesellschaftlichen Moral zunächst einmal abgekoppelte Sphäre ermöglicht ihr Erscheinen, da sie in diesem Rahmen als ästhetische Katalysatoren fungieren können, während eine Alterität im 242 mehrheitsgesellschaftlichen Gefüge diese Möglichkeit nicht bietet. Innerhalb dieses Kontextes ist auch eine sich zwischen den Geschlechtern bewegende Figur, die Andreas bei einem Strandaufenthalt mit anderen *Künstler*innen auf Capri kennenlernt, anzusiedeln: „Hierher kam eines Tages ein schottischer Künstler, begleitet von einer knabenhaft gekleideten Gestalt, die sich im Badeanzug als eine hübsche 243 junge Dame entpuppte.“ Diese Figur dient dazu, geschlechtliches Cross-Dressing innerhalb eines künstlerischen Milieus zu legitimieren und schafft zugleich den Anlass für die Meinungsäußerung eines venezianischen Bildhauers, der behauptet, dass sich niemand überzeugend als das jeweils andere Geschlecht verkleiden könne

239 Vgl. Lili Elbe Buch (Manuskript), S. 62; vgl. Elbe 1932, S. 58. 240 Vgl. Wilde Oscar: „De Profundis“ (1897), in: The Complete Works of Oscar Wilde, New Lanark 2002, S. 345-355; vgl. Wilde, Oscar.: „The Ballad of Reading Gaol“ (1896), in: The Complete Works of Oscar Wilde, S. 255-260; dabei muss angemerkt werden, dass zu dem Zeitpunkt der Lektüre, die Anfang des 20. Jahrhunderts angesiedelt ist, noch keine vollständige Druckfassung von De Profundis vorliegt, sondern nur eine zensierte Form; für mehr zu den interpretatorischen und publikationsgeschichtlichen Details der Werke, vgl. Raby, Peter: Oscar Wilde, Cambridge 1988, S. 132-142. 241 Vgl. Runte 1998, S. 126. 242 Heede verweist auch für die historische Ebene darauf, dass die Wegeners sich in Bohème-Kreisen bewegen – einem Umfeld, in dem zunächst einmal andere Regeln und Normen gelten als für die ‚typisch‘ dänische Bevölkerung, vgl. Heede 2012b, S. 194. 243 „Her kom en Dag en skotsk Kunstner, ledsaget af en drengeklædt Skikkelse, der i Badedragt afsløre sig som en nydelig ung Dame.“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 48.

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– eine Herausforderung, der Grete und Andreas nicht zu widerstehen vermögen. So taucht am nächsten Tag eine junge Dame auf, die als Mademoiselle Lili Courtaud 244 sofort in die Künstlerkreise der Insel aufgenommen wird. Auch in Balgencie, einem fiktiven an das französische Beaugency angelehnten 245 Ort, der ebenfalls als Feriendomizil für die Pariser Bohème dient, erfreut sich Lili großer Beliebtheit und erregt die Aufmerksamkeit mehrerer Männer. Bei der Zusammenarbeit an einer Wohltätigkeitsveranstaltung, welche von Kunstschaffenden organisiert wird, lernt sie ihren ‚besten Freund‘ Claude kennen, mit dem sie beim 246 Ball nach der Vorstellung tanzt: „Sie tanzten glänzend zusammen. Sie waren gleich groß und sofort rhythmisch aufeinander abgestimmt …… Sie redeten nicht, 247 sondern gaben sich ganz hin im Tanz.“ Bei einem späteren Aufenthalt in Balgencie setzt sich Lili bereits deutlich von Andreas ab, den sie nun ihren Bruder nennt. Dieser, oder eher Lili, soll an einem Korso blumenverzierter Boote teilnehmen und in der Rolle des Amor die Parade 248 anführen, während Claude den Part seines Gondolieres übernimmt. Im Zuge dieser vermeintlich doppelten Maskerade wird mit Jeanne d’Arc, welche vor Jahrhun249 derten mit ihren Kriegern in diese Stadt an der Loire eingezogen war, eine weitere historische Größe aufgerufen. Als geschlechtsüberschreitende Figur, welche von 250 Leslie Feinberg zu einer ‚Transgenderkrieger(in)‘ erklärt wird, findet sie sich nicht unbedacht im referentiellen Inventar von Fra Mand til Kvinde, wird sie doch 1431 von der katholischen Inquisition, unter anderem mit der Begründung, dass sie sich weigere, das Tragen männlich konnotierter Kleidung aufzugeben, zum Tode 251 auf dem Scheiterhaufen verurteilt.

244 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 48; der Name ‚de Courteaud‘ kommt in die engere Wahl, wenn die historische Lili die Änderung ihres Nachnamens veranlasst, vgl. 5.2.1. 245 Während im Text ‚Balgencie‘ beibehalten wird, nennen die Bildunterschriften der englischsprachigen Ausgaben ‚Beaugency‘ als Aufnahmeort des Photos mir Claude (Abb. 14 & Abb. 15). 246 Hierbei handelt es sich um eben jenen Claude, mit dem Andreas in dem Lokal tanzt, in welchem miteinander tanzende Männer nicht erwünscht sind, vgl. 3.2.2. 247 „De dansede glimrende sammen. De var lige høje og straks rytmisk sammenstemte ...... De talte ikke, men gav sig helt hen i Dansen.“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 51. 248 Vgl. ibid. 249 Jeanne d’Arc hat Beaugency 1429 von den Engländern befreit, vgl. De Vries, Kelly: Joan of Arc: a military leader, Thrupp 1999, S. 110ff. 250 Vgl. Feinberg, Leslie: Transgender Warriors. Making History from Joan of Arc to Dennis Rodman, Boston 1996, S. 31ff. 251 Vgl. Schirmer-Imhoff, Ruth (Hg.): Der Prozess Jeanne d’Arc. Akten und Protokolle 1431-1456, Nördlingen 1987 (1961), S.70 u. S. 80-95.

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So klingen in den Erzählungen über Balgencie Niels Hvides Referenzen auf das Mittelalter nach. Die Lili der Moderne hingegen kann nun – in einer historisch weniger prekären Lage – die antike Figur des Amors mit Leben erfüllen. Als Kind von Venus – der römischen Ausformung von Aphrodite – figuriert sie in dieser Rolle 252 zudem als Spross der hermaphroditischen Verschmelzungsphantasie Gretes. Lilis Identität steht trotz allen Spiels in dieser Situation nie in Frage. Claude bestätigt dies, als er – von Amors liebesstiftenden Pfeil getroffen – für die Verkleidete entflammt: „Amor, Du göttlicher Schelm, als was auch immer du dich ausgibst … so 253 bist du doch eine echte Frau!“ Amor bleibt zwar eine mythologisch-festliche Maskerade, doch Lili selbst wird nicht mehr in diesem Kontext beschrieben, sondern als echte Frau, die in den folgenden Jahren Feste und Ausflüge frequentiert, während es Andreas ist, der sich künstlerisch betätigt. In Paris setzt Lili ihr eigenständiges Dasein fort. Indessen wird die Unterscheidung zwischen ihr und Andreas weiter forciert und auch von außen bestätigt. So wird ein freiender Graf, dem sie als Baronesse Lili de Courtaud vorgestellt worden ist, eines Tages an ihrer Stelle von Andreas im Atelier empfangen, woraufhin der Graf diesem keine Ähnlichkeit zu seiner Schwester Lili attestiert: „Das ist merkwürdig, ich kann nicht die entfernteste Ähnlichkeit finden, man sollte nicht denken, 254 dass Sie und die Baronesse Geschwister seien.“ Dieses Ereignis, welches im An255 schluss an ähnliche Vorkommnisse als komischer Moment inszeniert wird, unterstreicht Lilis Passing als Frau, trägt jedoch gleichzeitig zu einer zunehmenden Ermüdung Andreas’ in Bezug auf deren Abenteuer bei. Dessen ungeachtet hält er Lili, 256 genau wie alle anderen, bis zu diesem Zeitpunkt noch für „eine Künstlerlaune“. Als eine solche wird die historische Lili sowohl in der dänischen Presse als auch in ihrem persönlichen Umfeld schon über Jahre hinweg thematisiert. Bereits 1913, kurz nachdem die Wegeners Kopenhagen verlassen haben, werden sie in Ekstra Bladet mit einem Gedicht von Vigge Afrelius verabschiedet. In diesem macht der ‚Poet‘ keinen Hehl aus seinem Wissen darüber, dass hinter den erotischen Frauen257 portraits von Gerda Wegener ein Modell namens Einar stehe. Eine gute Dekade

252 Zu Amor bzw. Eros, vgl. Moormann/Uiterhoeve 2010, S. 261ff. 253 „Amor, Du guddommelige Skælm, hvad Du saa end giver Dig ud for at være ... saa er Du en ægte Kvinde!“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 52. 254 „Det er mærkeligt, jeg kan ikke finde den fjerneste Lighed, man skulde ikke tro, at De og Baronessen var Søskende.“, ebd., S. 53. 255 Runte liest einen „Moment erotischer Authentizitätsbestätigung“, Runte 1996, S. 109. 256 „et Kunstnerlune“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 55; Boivin bestätigt diese spielerische Natur auch für die historischen Wegeners, Boivin 1958, S. 57f. 257 Vgl. Afrelius, Vigge: „Ved en Bortrejse“, in: Ekstra Bladet, 04.03.1913, S. 2; zu den genaueren Implikationen dieses Gedichtes, vgl. Meyer, Sabine: „Mit dem Puppenwagen

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später, 1924, druckt die Hauptstadtzeitung København dann ein Interview mit Einar Wegener ab, in dem dieser über seine verführerische Verkleidung als junges Mädchen während des Pariser Karnevals parliert und die Kunst der Maskerade in das 258 Lebensgefühl der Pariser Bohème einbettet. Noch im selben Jahr vermerkt Elvenes’ Neffe Sigurd Wegener-Thomsen in seinem Tagebuch eine Unterhaltung mit seinem Vater, der ihm berichtet habe, dass Einar sich jetzt aus Eitelkeit als Mäd259 chen kleide. Vom künstlerischen Raum, in dem Lili spielerisch und abseits gesellschaftlicher Normen existieren kann, wendet sich Andreas nun sukzessive ab. Das damit einhergehende schwindende Interesse an der Literatur begründet er mit der literarischen Leerstelle, die sich bezüglich seiner eigenen Erfahrungswelt vor ihm auftut. Weder dort noch in den Konzepten der antiken Philosophie findet er Antworten auf 260 die Fragen zu seiner Identität und Existenz. Zwar verweist er auf das Konzept der 261 Kugelmenschen, indem er beschreibt, dass Platon von Wesen gewusst habe, deren Gefühlswelt zwischen männlich und weiblich liegt, doch erfährt er in seinem eigenen Körper keine geschlechtliche Verschmelzung. Vielmehr leben dort zwei streng voneinander abgetrennte Wesen, obwohl nur noch Platz für eines von beiden 262 ist.

in die normative Weiblichkeit. Lili Elbe und die journalistische Inszenierung von Transsexualität in Dänemark“, in: NORDEUROPAforum 20, 2010:1-2, S. 33-61, hier S. 35ff. 258 Vgl. Barfod, Thorkil: „Gerda og Einar Wegener fortæller om Paris“, in: København, 08.03.1924, S. 5; vgl. Meyer 2010, S. 37f. 259 Vgl. Brief von Sigurd Wegener-Thomsen an Ernst Harthern, Kopenhagen, 21.12.1931, S. 3, EHA. 260 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 65. 261 Der genaue Text wird in der dänischen Ausgabe nicht erwähnt. Das Manuskript und die deutsche Version verweisen jedoch explizit auf Platons Gastmahl, vgl. Lili Elbe Buch (Manuskript), S. 92; vgl. Elbe 1932, S. 94; in seinem Gastmahl lässt Platon (427-347 v. Chr.) den Dichter Aristophanes von den Kugelmenschen berichten, welche entweder aus zwei weiblichen, zwei männlichen oder aus einer männlichen und einer weiblichen Hälfte (andrògynoi) bestünden. Um seine Macht zu erhalten, teilt Zeus sie in jeweils zwei Hälften, welche seitdem über ihr sexuelles Begehren nach Wiederverschmelzung streben. Dabei sind nur die andrògynoi, welche Andreas somit als gleichsam alteritärer und normativer Bezugsrahmen dienen, heterosexuell begehrend, vgl. Platon: Das Gastmahl, (189a-193e), Stuttgart 2008 (ca. 385-378 v. Chr.), S. 28ff.; zur Aristophanesrede, vgl. Carvalho, Mário Jorge de: Die Aristophanesrede in Platons Symposium. Die Verfassung des Selbst, Würzburg 2009. 262 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 65.

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Der sich nun ankündigende Übergang vom Spielerischen zum vermeintlich Rea263 len wird in den der deutschen Ausgabe hinzugefügten Briefen besonders deutlich. Andreas ist der Maskerade seines Lebens, welches er wie eine „erbärmliche 264 Komödie als Mann“ empfindet, überdrüssig. Wie bereits von Niels Hvide angekündigt, liegt das zeitgenössische Wunder nicht mehr in antikem Gedankengut oder mittelalterlichen Sanktionen, sondern in der transformativen Kraft der Medizin. Und so ist es eine Assistentin Hardenfelds, die sich mit Ausblick auf die medizinischen Eingriffe, welche Andreas bevorstehen, an die beschränkten Möglichkeiten einer historischen Figur aus der Antike erinnert fühlt: „Ich muss an den römischen Kaiser denken, der Selbstmord beging, weil er das nicht erreichen konnte, was nun 265 ihr Schicksal sein wird.“ Hier wird dezidiert eine Übertrittsmöglichkeit in die Neuzeit geschaffen, bei dem sowohl die antike Idee als auch die Fatalität des Mittelalters hinter den neuen Möglichkeiten der Medizin zurückbleiben, welche sich nun vor Andreas eröffnen – Spielräume, über die besagter römischer Kaiser noch nicht verfügt hat; Spielräume, die über Exekution und Suizid, den auch Andreas zunächst plant, hinausgehen. Der anfängliche Trost aus dem Olymp wird nun durch die neuen Götter in Weiß ersetzt, eine Bewegung, die auch Armstrong nachzeich266 net: „she [Lili] traces a progress from fantasy and art to medical intervention.“ Bis zu jenem Termin im Institut muss das Bild der Männlichkeit sowohl privat als auch öffentlich aufrechterhalten werden: am Abend davor, als er seine Fassade – 267 „ein makelloser Männerkörper“ – im Spiegel betrachtet, bei der medizinischen

263 Sowohl Runte als auch Armstrong gehen auf diesen Übergang ein, der sich nun textuell für Andreas und Lili ankündigt, vgl. Runte 1998, S. 125; vgl. Armstrong 1998, S. 171. 264 Elbe 1932, S. 21. 265 „Jeg maa tænke paa den romerske Kejser, som begik Selvmord, fordi han ikke kunde opnaa det, der nu bliver Deres Skæbne.“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 72; sie verweist wahrscheinlich auf Elagabal (204-222), der, obwohl kein Selbstmörder, seinen Ärzten hohe Summen bietet, sollten sie ihn zur Frau machen, vgl. Cassius Dio: Römische Geschichte, Band V, Epitome der Bücher 61-80, LXXX (16), Zürich 1987 (2./3. Jhd. n. Chr.), S. 471f.; angesichts des Suizids würde Nero (37-68) eine weitere Möglichkeit darstellen: Für ihn ist jedoch nur die Hochzeit mit Pythagoras nachgewiesen, bei der er als Braut auftritt. Zugleich lässt er den Knaben Sporus kastrieren und nimmt ihn zur Frau, vgl. ebd., LXII (28) u. LXIII (13), S. 74ff. u. S. 86f.; vgl. Tacitus: Annalen, Buch XV (37), Zürich 1983 (110-120 n. Chr.), S. 740ff.; Richard Green berichtet ebenfalls über die Kaiser als trans*-geschichtlich relevante Figuren, vgl. Green, Richard: „Transsexualism: Mythological, Historical, and Cross-Cultural Aspects“, in: Benjamin, Harry: The Transsexual Phenomenon, New York 1966, S. 173-186, hier S. 176. 266 Armstrong 1998, S. 169. 267 „et lydefrit Mandslegeme“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 67.

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Untersuchung, bei welcher der Arzt ihn als „einen normal gebauten Mann“ klassifiziert und auch bei den Photoaufnahmen im Institut, wo „sein männlicher 269 Stolz“ ihm dabei zur Seite steht, nicht zusammenzubrechen. Im Zuge des künstlerischen Spiels ist die Männlichkeit zur Maskerade geworden und kann analog zu 270 Joan Rivieres Ausführungen zur ‚Weiblichkeit als Maskerade‘ gelesen werden. Doch nun, in der Klinik angekommen, kann sie von Andreas abfallen: „Endlich hatte er die Erlaubnis, einzuräumen, dass seine Kräfte aufgebraucht waren …… jetzt war da niemand mehr, der ihn sah, nicht einmal Grete, und der letzte Rest vom Männertrotz, in dem er in diesen schmerzhaften Tagen gegenüber Freunden und Ärzten Zuflucht gesucht hatte wie in einer schwerfälligen und beschwerlichen Rüstung, fiel nun von ihm ab.“271

3.2.4 Zwischen Schöpfung und Selbstfindung – die Transition als medizinisch-religiöses Ereignis Im Rahmen der Befreiung aus der metaphorischen Rüstung wird auch das letztmalige Entkleiden im männlichen Existenzmodus als ritueller Abschied inszeniert. Während sich Andreas der Requisiten seiner Männlichkeitsmaskerade entledigt, überkommen ihn jedoch Zweifel: Er fürchtet, die abgestreiften Gewänder könnten 272 ihn als Verräter empfinden. Dabei figuriert die Kleidung als eine vorläufige Projektionsfläche für die sich im Text weiter auffächernde Frage nach Schuld. In Andreas’ Gedankenwelt entfaltet sich nun – neben der Reflektion der eigenen Geschlechtlichkeit – eine quälende Ungewissheit angesichts der vor ihm liegenden Transformation und deren Implikationen. Für Stone stellt sich der nun folgende 273 Weg jedoch als ein unsichtbarer Prozess dar.

268 „en normalt bygget Mand“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 69. 269 „sin mandlige Stolthed“, ebd., S. 72. 270 Vgl. Riviere, Joan: „Womanliness as a Masquerade“, in: The International Journal of Psycho-Analysis, Volume X, 1929, S. 303-313; Riviere beschreib die Maske der Weiblichkeit als einen Schutzmechanismus, dem sich Frauen mit Wunsch nach Maskulinität bedienen, um Angst und Bestrafung (durch Männer) abzuwenden. 271 „Endelig havde han Lov til at indrømme, at hans Kræfter var brugt op …... nu var der ingen mere, der saa ham, ikke engang Grete og den sidste Rest af den Mandfolketrods, i hvilken han i disse pinefulde Dage overfor Vennerne og Lægerne havde søgt Tilflugt som i en tung og besværlig Rustning, faldt nu af ham.“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 76. 272 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 76. 273 Vgl. Stone 2006, S. 225; auch Heede greift Stones Gedanken in seiner Argumentation auf, vgl. Heede 2012b, S. 183.

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Doch avanciert das Konzept der Schuld, so meine These, nachfolgend zur Grundlage eines sichtbaren Transformationsnarrativs. Dieses bewegt sich im Rah274 men des Bekenntnisses zunehmend in eine religiös konnotierte Richtung. Das ‚alteritäre Subjekt‘ erfährt nun eine medizinisch-wissenschaftliche Neubewertung, 275 zu der über ein legitimierendes Passing und eine ausgeprägte Opfermetaphorik 276 hingeleitet wird. Bereits vor dem ersten chirurgischen Eingriff wird deutlich, dass es für Andreas nicht mehr möglich ist, im vermeintlich männlichen Ausgang277 geschlecht durchzugehen; Lili hingegen kann unbehelligt ihre Kreise ziehen. 278 Andreas, wie es sich bereits in seinem prophetischen Traum andeutet, wird der Weg abgeschnitten, so dass er nur noch durch eine sukzessive Selbstreduktion Lilis Fortgang forcieren kann. Die beschützende Elternschaft für das in der Kunst geborene Geschöpf wird im Traum beendet und so gehen Andreas und Lili die letzten Meter als Geschwister, bis sich der Bruder für die Schwester opfert, welche nun in die Arme der als Retter stilisierten Medizin fällt. Jenseits der Tiefen des Unterbewusstseins ist es jedoch Andreas, der sich am Abend vor der ersten Operation durch einen Brief an Kreutz, welcher zu einer „un279 sichtbaren Macht“ stilisiert wird, symbolisch in die Hände der Medizin begibt. Andreas erinnert sich in diesem Zusammenhang an einen Tag in Paris – kurz vor 280 dem Treffen mit Kreutz. Trotz seiner atheistischen Gesinnung hat er in St. Germain des Prés zu einer gotischen Madonna gebetet, damit ihm ein Wunder oder die Erlösung zuteil werde. Und so schläft er nun in seiner ‚letzten Nacht‘ neben dem 281 Bild einer silbernen Miniatur-Madonna, die er als Talisman bei sich trägt, ein.

274 Armstrong streift diese Koppelung, wenn er in Bezug auf den englischen Untertitel darauf hinweist, dass dieser für das Narrativ sowohl ‚Monstrosität‘ als auch ‚religiöse Bekehrung‘ verheißt, vgl. Armstrong 1998, S. 170. 275 In Bezug auf Trans* beschreibt ‚Passing‘ eine Kongruenz zwischen der geschlechtlichen Selbstidentifikation eines Individuums und der Geschlechtszuschreibung von Außen; ‚Passing‘ ist auch in Bezug auf andere soziale Kategorien wie Klasse, Rasse und Befähigung ein virulenter Begriff, vgl. Sanchez, Maria C. u. Linda Schlossberg (Hg.): Passing. Identity and Interpretation in Sexuality, Race and Religion, New York 2001. 276 Vgl. Heede 2004, S. 111. 277 Andreas wird nun vielmehr als verkleidete Frau wahrgenommen, vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 63. 278 Vgl. 3.2.2. 279 „usynlig Magt“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 78; zur religiösen Stilisierung von Kreutz, vgl. Meyer 2011, S. 73ff. 280 Allatini beschreibt den historischen Einar Wegener Fra Mand til Kvinde entsprechend als vollkommen atheistisch, vgl. Allatini 1939, S. 227. 281 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 79.

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Beim Erwachen nach dem ersten chirurgischen Eingriff – welchen Grete als 282 Entfernung der männlichen Drüsen benennt – wird Andreas noch einmal aktiviert, da es auch einer narrativen Transformation des Geschlechtsstatus bedarf. Dieser Prozess verteilt sich auf unterschiedliche, geschlechtlich kodierte Persönlichkeitsmerkmale, die postoperativ unmittelbar deutlich werden. Besonders prominent erweist sich dabei die bereits vielfach in der Forschung aufgegriffene Veränderung von Stimme und Schrift der Protagonistin. Die Verschiebung der Stimmlage hin zu 283 „einem prachtvollen Sopran“ erfolgt bereits während des Eingriffs und wird so284 wohl vom Chirurgen Dr. Gebhardt, den Krankenschwestern als auch einem Assi285 stenzarzt bestätigt. Letzterer attestiert, dass „das keine Männerstimme mehr ist.“ Auch bestätigt der Assistenzarzt die von Inger Hvide bemerkte Veränderung der Handschrift, welcher Andreas befremdlich gegenübersteht, da er sie nicht erkennt: 286 „es war eine Frauenschrift.“ Dieses Transformationsnarrativ erfährt über die be287 reits erläuterte Illustration der Schriftproben eine zusätzliche Autorisierung. Stone, die sich als erste ausführlicher mit dieser Szene auseinandergesetzt hat, kritisiert

282 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 86. 283 „en pragtful Sopran“, ebd., S. 80; Allatini bemüht eine ähnliche Beschreibung für die postoperative Verwandlung des Timbre der historischen Lili und zitiert einen vermeintlichen Brief derselben, in der diese davon berichtet, dass der Chirurg der Meinung wäre, ihr Sopran erinnere an den von Elisabeth Schumann (1888-1952, deutsche Sopranistin). Sie weist jedoch schon in zeitlich früher angesiedelten Erinnerungen auf Stimmveränderungen bei Einar hin, was zumindest darauf schließen lässt, dass es sich – wenn überhaupt – nicht um eine Erscheinung handelt, die ausschließlich im Zusammenhang mit der Entfernung der Gonaden steht, vgl. Allatini 1939, S. 213, S. 221 u. S. 223. 284 Die Figur von Oberarzt Dr. Gebhardt ist an den Chirurgen Erwin Gohrbandt (18901965) angelehnt, der den ersten Eingriff in Berlin vornimmt. Er wirkt zu jener Zeit im städtischen Krankenhaus am Urban. Zur Zeit des Nationalsozialismus arbeitet er u.a. als beratender Chirurg für die Wehrmacht; zu Gohrbandt, vgl. Winau, Rolf u. Ekkehard Vaubel: Chirurgen in Berlin. 100 Porträts, Berlin 1983, S. 31; vgl. Klee, Ernst: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945?, Frankfurt am Main 2003, S. 191f. 285 „Det er ikke mere en Mandsstemme“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 83. 286 „det var en Kvindeskrift“, ebd., S. 82; auch hier decken sich die narrativ beobachteten Veränderungen mit den Beschreibungen von Allatini. Die veränderte Schrift in Briefen von Lili habe sie überrascht, ebenso wie der veränderte Schreibstil, vgl. Allatini 1939, S. 222. 287 Vgl. Abb. 10; Hoyer merkt zudem in einem Brief an den britischen Jarrolds-Verlag an, dass die veränderte Schrift von Schriftexperten wie dem Schweizer Martin Guggenheim mittels eines Pendels analysiert worden sei, vgl. Hoyer an Diamond, 14.11.1932, S. 1.

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die Darstellung als unwahrscheinlich. Vielmehr hält sie diese für beispielhaft, wenn es darum geht, einen stufenlosen Übergang vom männlichen zum weiblichen Existenzmodus im Text zu signalisieren, denn während Orthographie eine erworbene Fähigkeit sei, hätten weder Kastration noch Hormone Einfluss auf das stimmliche 288 Timbre. Stone argumentiert, dass Hoyer dadurch versuche, die – von Elvenes nachweislich gewünschte – Separation der Subjektivität von Andreas und Lili her289 zustellen und somit die Möglichkeit der Vermischung kategorisch zu negieren. Meines Erachtens reichen die Implikationen dieser Szene deutlich weiter, da die Veränderungen der sprachlichen Ausdrucksorgane dezidiert einen hierarchischen Abstieg in eine weibliche Sprechposition markieren, der dann auch über weitere 290 Persönlichkeitsmerkmale transportiert wird. Seit dem postoperativen Aufwachen scheint es sich bei der Protagonistin nicht mehr um eine mündige, erwachsene Person zu handeln. So müssen nicht nur die neuen Expressionsmodi, sondern auch die Identität über eine Außensicht benannt und legitimiert werden. Die nun als Kind erscheinende Hauptperson darf sich nicht rühren und kann nur – immer noch unter 291 der Bezeichnung ‚Andreas‘ – fragen: „Wer bin ich? Was bin ich?“ Inger vermeidet es derweil einen Namen zu benutzen, steigt aber gleich nach der Operation von einem ‚Sie‘ auf ein ‚Du‘ um und markiert somit Lilis Übertritt in eine neue hierarchische Sphäre. Doch erst durch Claude, der auf Grund seiner langjährigen Leidenschaft für Lili eine Sonderrolle einnimmt, wird der Wahrnehmungswechsel erstmals auch namentlich bestätigt: Die von ihm ins Krankenhaus gesandten Blumen sind an Lili adressiert. Eine Doppelung erfährt diese performative Benennung durch eine 292 gleichzeitige Geburt im Nebenzimmer – es ist ein Mädchen. Geschlechtlich und

288 Vgl. Stone 2006, S. 225; Steinbock, Caughie und Heede setzen sich ebenfalls mit diesen Veränderungen auseinander und rekurrieren in ihren Beiträgen auf Stones Ausführungen, vgl. Steinbock 2009, S. 145; vgl. Caughie 2013, S. 510; vgl. Heede 2012b, S. 182f.; Heede spitzt die narrative Aussage so zu, dass er von den Testikeln als Ort der männlichen Schrift spricht, vgl. ebd., S. 193. 289 Vgl. Stone 2006, S. 226; Stone knüpft diese Vorstellung einer implizit ‚puren‘ Geschlechtsidentität an die bereits stattfindende Unterwanderung der Gesellschaft mit nationalsozialistischem Gedankengut, mehr dazu in 3.2.5 und in 6.2.1; auch Runte beschäftigt sich mit dieser Opposition, bei der „die todesähnliche Schranke der Operation“ keinen Dialog zustande kommen lasse, Runte 1998, S. 140. 290 Zur Abstiegs- und Geburtsmetaphorik, vgl. Meyer 2011, S. 72f. 291 „Hvem er jeg? Hvad er jeg?“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 81. 292 Vgl. Meyer 2011, S. 73; vgl. Heede 2012a S. 17f.; Heede versteht nicht nur diesen Moment als Taufe, sondern spricht vom gesamten Text als einer Art Taufurkunde, da dieser wiederholt Lilis Identität bezeuge.

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namentlich eingeordnet, wird Lili nun von ihrer Umwelt neu wahrgenommen. Den Status dieser frisch Geborenen zu beschreiben, obliegt jedoch Grete: „Andreas ist tot …… ihn habe ich nicht mehr vorgefunden. Aber ich habe ein bleiches und anmutiges Wesen vorgefunden. Das war Lili und dennoch nicht sie, nicht die Lili, die wir in Paris kannten, sondern eine andere, ein ganz neues Wesen. Ihre Stimme, der Ausdruck in ihren Augen, ihr Händedruck, alles war neu … Ist das eine Verwandlung oder ist das ein Wesen, das sich daran macht, sich selbst zu finden? Es muss wohl Letzteres sein. Sie ist so fraulich und so unberührt vom Leben …… nein, fraulich ist nicht der richtige Ausdruck, ich würde es eher jungmädchenhaft nennen, fast kindlich, scheu und unsicher und mit tausend Fragen auf den Lippen ……“293

Diese infantilen Zuschreibungen produzieren zunächst eine ‚Entgeschlechtli294 chung‘ der Protagonistin, welche sich dementsprechend auch in ihrer eigenen Geschlechtlichkeit erst finden müsse. Denn zu jenem Zeitpunkt weiß keiner der Involvierten, „ob sie dieses leidende Wesen noch als Mann betrachten oder ob sie sie 295 schon wie eine Frau ansprechen sollen.“ Lili wird in ihrer erzählten Unmündigkeit erst gar nicht zu ihren eigenen Wünschen befragt, vielmehr beginnt sie, sich ihrem Umfeld unterzuordnen und jegliche Zuschreibung der Außenwelt zu überlassen. So ist es erneut Grete, die auch den narrativen Fokus weg von der Vorstellung einer Verwandlung und hin zur Idee einer Selbstfindung lenkt. Die wissenschaftlich-technologischen Aspekte dieses Prozesses versucht sie dabei in den Hintergrund zu rücken: „Aber was soll man mit Klugheit und Wissen, wenn es sich um

293 „Andreas er død …... ham fandt jeg ikke mere. Men jeg fandt et blegt og yndigt Væsen. Det var Lili og alligevel ikke hende, ikke den Lili, som vi kendte i Paris, men en anden, et helt nyt Væsen. Hendes Stemme, Udtrykket i hendes Øjne, hendes Haandtryk, alt var nyt ... Er det en Forvandling, eller er det et Væsen, som er i Færd med at finde sig selv? Det maa vel være det sidste. Hun er saa kvindelig og uberørt af Livet ...... nej, kvindelig er ikke det rigtige Ord, jeg vil snarere kalde det ungpigeagtig, næsten barnlig, sky og usikker og med tusinde Spørgsmaal paa Læben ......“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 86. 294 Unter ‚Entgeschlechtlichung‘ verstehe ich in diesem Zusammenhang die von außen bewirkte Neutralisierung von Geschlecht. Ich hab mich für diesen Begriff auch in Abgrenzung zu Judith Lorbers utopischer Konzeption des ‚degendering‘ entschieden, da Lorbers Begriff einen politisch-revolutionären Hintergrund hat und eine gegenläufige Bewegung von der Subjektseite aus beschreibt, vgl. Lorber, Judith: Breaking the Bowls. Degendering and Feminist Change, New York/London 2005. 295 „om de stadig skal betragte dette lidende Væsen som en Mand, eller om de allerede skal tale til hende som til en Kvinde.“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 87.

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ein Wunder handelt?“ Doch geht diese wundersame (Wieder-)Geburt Lilis nicht ohne einen Preis einher – ein Gefühl der Schuld, das die Neugeborene gegenüber Grete empfindet, wurde diese doch von Andreas um ihre besten Jahre betrogen. Grete lokalisiert diese Schuld indessen auf einer anderen Ebene: „Es bin nicht ich, nicht ich, die von Andreas betrogen wurde, es ist sie selbst, Lili, meine süße, blasse 297 Lili, die er betrog, indem er sie um ihr Jungmädchendasein brachte“. Nun macht es Grete zu ihrer Aufgabe, Lili dabei zu helfen, diese verlorene Zeit wiedergutzumachen. Sie weist das Krankenhauspersonal darauf hin, nicht mehr von ihm zu 298 sprechen und ermöglicht diesem neuen Wesen somit, die nächsten Schritte in seine ‚Selbstfindung‘ zu wagen. Die neugewonnene Sicherheit des klinischen Kontextes zu verlassen, fällt Lili zunächst schwer. Ihr Selbstempfinden bereitet ihr große Schwierigkeiten, wie in einer hinzugefügten Passage in Ein Mensch wechselt sein Geschlecht deutlich wird: „Ich bin wie eine erbärmliche Larve, die darauf wartet, ein Schmetterling zu wer299 den.“ Folglich sind ihre ersten Schritte in Berlin durch eine Unsicherheit gekennzeichnet, welche sich aus der metaphorischen Blindheit ergibt, die Lili beim Blick 300 auf ihr neues Leben empfindet. Angesichts dieses Unbehagens bleibt ihr zunächst nur eine Flucht zurück in die Maskerade. Bei einem Essen unter alten Freunden tritt Lili als eine Pariserin namens Julie Humpert auf und parliert nur auf Französisch. Obwohl sie nicht erkannt und vollkommen als Frau wahrgenommen wird, mischt sich zum Erstaunen ob des perfekten Passings auch eine gewisse Enttäuschung darüber, nun nicht mehr von Andreas’ Gefährten wahrgenommen zu werden. Der Bruch mit diesem Teil von Andreas’ Leben erfüllt Lili mit Wehmut. Die dadurch geschürte Angst, keine neuen Freunde zu finden, wird von Grete zunächst dadurch beschwichtigt, dass Lili doch ihr ganzes Leben noch vor sich habe und sie daher 301 noch niemand kennen könne. Dennoch fühlt sich Lili weiter unsicher. Wenn ein Ausflug aus der Klinik an302 steht, ist sie furchterfüllt und wird als ein weinendes, tobendes Kind beschrieben. Erst ein erneuter Besuch bei Dr. Karner, welchen Andreas schon vor dem ersten

296 „Men hvad skal man med Klogskab og Viden, naar det drejer sig om et Mirakel?“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 86f. 297 „Det er ikke mig, ikke mig, som Andreas har bedraget, det er hende selv, Lili, min søde, blege Lili, som han bedrog ved at berøve hende hendes Ungpigetilværelse ……“, ebd., S. 87. 298 Vgl. ebd., S. 88. 299 Vgl. Elbe 1932, S. 21. 300 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 90. 301 Vgl. ebd., S. 93. 302 Vgl. ebd., S. 94.

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Eingriff aufgesucht hat, vermag es, sie zu besänftigen. Vor Scham errötend, als der Mediziner sie nicht erkennt und für Andreas’ Gattin hält, genießt Lili die Aufmerksamkeit, die ihr als Frau entgegengebracht wird, sowie die Tatsache, dass sie nicht ‚als Andreas‘ wiedererkannt wird. Somit wirkt diese Begegnung moralisch stützend für die Protagonistin, insbesondere auf Grund der Abgrenzung zwischen Lili und Andreas, welche Karner deutlich formuliert, nachdem sie beim Blutabnehmen kurzzeitig das Bewusstsein verloren hat: „deswegen müssen sie sich wirklich nicht schämen, das ist ja kein Verbrechen! …… Sie sind ja Repräsentantin für das schwache Geschlecht, während ihr Mann, wenn ich mich als Arzt ausdrücken darf, 303 mir wie ein Prototyp des masculini generis vorkam.“ In Anbetracht dieser umfassenden Geschlechts- und Individualitätsbestätigung ist Lili bereit, mit Grete spazieren zu gehen, auch wenn die Sorgen bezüglich des Passings noch nicht vollends verflogen sind. Noch immer mag sie das Antlitz nicht, welches ihr aus dem Spiegel entgegenblickt. Sie fühlt sich weiterhin wie „eine traurige, müde, blutleere Lar304 ve“. Um endlich schlüpfen zu können, glaubt sie, die Hilfe von Professor Kreutz zu benötigen. Mit diesem Gedanken verlässt sie schließlich „ihre erste Herberge 305 hier auf Erden“, um sich nach Dresden und in seine Hände zu begeben. Auf dieser Reise gen Sünden verbinden sich die von Runte als typisch ‚transbiographisch‘ herausgestellten Stränge der Todes- und Geburtsmetaphorik mit den bei ihr zeitgeschichtlich erst später angesiedelten Selbstschöpfungs- und Reise306 Symboliken. Lilis Transit nach Dresden kommt insofern eine wichtige Funktion zu, da die Zugfahrt, neben erneuten Passing-Erfahrungen, die Überschneidungspunkte zwischen Andreas und Lili thematisiert. Die vorbeiziehenden Landschaften erwecken in Lili den alten Malerblick und die Angst, dass Andreas in ihr weiterle307 be. Ihre Augen schließend reflektiert sie diese Gefühlsregung: „Sie wusste nicht, warum sie sich so davor fürchtete, die Welt anzuschauen und sie so wie Andreas

303 „det behøver De slet ikke at skamme Dem over, det er da ingen Forbrydelse! ...... De er jo Repræsentant for det svage Køn, medens Deres Mand, om jeg maa udtrykke mig som Læge, forekom mig at være Prototypen paa masculini generis.“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 96. 304 „en trist, træt, blodløs Larve“, ebd., S. 99. 305 „hendes først Herberg her paa Jorden“, ebd., S. 100. 306 Vgl. Runte 1996, S. 255; auch Heede und Steinbock stellen Reise und Transit als wichtige narrative Tropen in Fra Mand til Kvinde heraus, vgl. Heede 2012b, S. 195; vgl. Steinbock 2012, S. 155. 307 Runte liest diese Angst als die Errichtung eines Feindbildes: „Die teleologische Illusion stört ein ‚lebendiger Toter‘, den die transsexuelle Kollektivsymbolik bezeichnenderweise ausspart, ein ‚Zombie‘, der als altes Ich feindliches Alter Ego bleibt, – Gegenpart der ‚einstigen Frau‘ und unheimlicher Rivale“, Runte 1996, S. 585.

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lieben zu lernen …… war das, weil sie Angst davor hatte, nicht sie selbst zu sein 308 …… oder nicht von Andreas loskommen zu können?“ Just bei der Auseinandersetzung mit diesem inneren Konflikt – zwischen der Liebe zur Malerei und der Abgrenzung zu Andreas – erreicht der Zug die lange Elbbrücke vor Dresden, die nicht nur hinsichtlich dieser Herausforderung metaphorisch aufgeladen wird. Die Brücke erzählt eine viel weiter reichende Geschichte von Teilung und Zusammenführung – eine Geschichte, die für Lili noch bedeutsam werden soll. Zunächst führt sie aber in ein neues Leben und Lili empfindet ein Glück, das sich nur mit dem Gefühl be309 schreiben lässt, zu Hause angekommen zu sein. Der metaphorisch eröffnete Möglichkeitsraum schließt sich schnell wieder, als Lili, in der Frauenklinik angekommen, erfahren muss, dass sich ihre Aufnahme noch verzögert. Der Vorschlag von Kreutz, in der Zwischenzeit zu malen, ist für ihr Selbstverständnis vernichtend, so dass sie sich nun noch rigoroser von Andreas ab310 zugrenzen und dem männlichen Geschlecht als Ganzem unterzuordnen sucht. Projiziert wird die Subordination fast ausschließlich auf den Arzt: „Sie fühlte, dass er so viel stärker war als sie selbst, dass er ihre ganze Persönlichkeit gebrochen hatte …… sie vernichtet hatte mit einem Blick. Sie kam sich selbst wie ein Schulmädchen vor, dass von einem vergötterten Lehrer abgefertigt wurde. […] Das war das erste Mal, dass ihr Frauenherz vor einem Herrn und Gebieter erbebt war …… vor dem Mann, den sie zu ihrem Beschützer erkoren hatte …… und sie begriff, warum sie sich sofort ihm und seinem Willen unterworfen hatte ……“311

Sowohl der Unterwerfungsimpuls als auch die Angst, von dem auserwählten Arzt nicht anerkannt zu werden, resultieren bei Lili in Abscheu gegenüber einem Selbst, das sich im Übergang befindet. Die Ablehnung durch Kreutz konstruiert sie dabei über den Vorschlag, sich die Zeit mit Malerei zu vertreiben. Doch diese ist für Lili mit Andreas verbunden. Dementsprechend impliziert das Ansinnen des Arztes für

308 „Hun viste ikke, hvorfor hun var saa bange for at se paa Verden og komme til at elske den som Andreas ...... var det, fordi hun var angst for ikke at blive sig selv ...... eller for ikke at kunne komme løs fra Andreas?“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 102. 309 Vgl. ebd., S. 103f. 310 Vgl. ebd., S. 108ff. 311 „Hun følte, at han var saa meget stærkere end hun selv, at han havde knust hele hendes Personlighed ...... tilintetgjort hende med et eneste Blik. Hun forekom sig selv som en Skolepige, der er blevet affærdiget af en forgudet Lærer. […] Det var første Gang, hendes Kvindehjerte havde skælvet foran en Herre og Hersker ...... foran den Mand, hun havde kaaret til sin Beskytter ...... og hun begreb, hvorfor hun straks havde underkastet sig ham og hans Vilje ......“, ebd., S. 109.

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sie, dass jener weiterhin Andreas in ihr sehe. Die Kunst symbolisiert in Lilis Vorstellungshorizont nun sowohl das Stilmittel der Maskerade als auch jene Männlichkeit, von der sie sich abzugrenzen sucht. Somit erscheint die narrativ erfolgende Abkehr von diesem Lebensabschnitt als logische Konsequenz im Rahmen der eige312 nen Identitätsfindung. Während des Abnabelungsprozesses durchläuft sie ver313 schiedene emotionale Stadien in Bezug auf den nun als „mein toter Bruder“ bezeichneten Andreas. Zunächst empfindet sie ihm gegenüber Bitterkeit, gespeist aus dem Verlangen, ihren Körper allein besitzen zu wollen. Doch schnell mischen sich Minderwertigkeits- und Schuldgefühle in jenes Gefühlskonglomerat. Lili befürchtet, Andreas’ Mörderin zu sein und ist überzeugt, sie sei als Mensch weniger wert 314 als er. So bewegt sie auch die Angst, sich im Falle einer malerischen Betätigung als untalentiert herauszustellen. Andreas künstlerische Befähigung wird somit über seine Geschlechtszugehörigkeit begründet, welche ihn erhöht und Lili zur Unterordnung zwingt. Hier wird deutlich, wie weitreichend Stones Kritik an der transportierten Vorstellung von Weiblichkeit ist: „Hoyer can demonstrate in the coarsest 315 way that femaleness is lack“. Doch genau aus diesem Schnittpunkt von Unterordnung und ‚Mangel‘ erwächst für Lili die Grundlage für das Besondere ihres Schicksals – sie ist auserwählt. Auf diese Art und Weise wird die vermeintlich geschlechtsspezifische Symbolik mit einem christlich-religiösen Schöpfungsnarrativ vereint, das mit klar verteilten Rollen operiert. Die ‚wahre Weiblichkeit‘ Lilis, welche noch Andreas’ Schuld mit sich trägt, soll nun durch Kreutz’ göttliche Hand erweckt werden, wie Grete in ihrem Tagebuch festhält: „Bisher ist Lili wie ein Klumpen Lehm gewesen, mit dem andere gearbeitet haben und dem der Professor selbst mit nur einer flüchtigen Berührung bereits Leben gegeben hat …… und Form …… aber bis jetzt, meint er, liegt Lilis Weiblichkeit nur an der Oberfläche …… Sie ist noch nicht ganz echt, weil sie nicht in die Tiefe eingedrungen ist …… Mit einem einzigen Blick hat er gestern ihr Herz zum Leben erweckt, ein Leben, beseelt von allen weiblichen Instinkten …….“316

312 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 109f. 313 „min døde Broder“, ebd., S. 110. 314 Vgl. ibid. 315 Stone 2006, S. 227; Stone knüpft diese Argumentation zunächst an die Narration der entfernten Testikel, die Implikationen ihrer Aussage erweisen sich jedoch als wesentlich umfassender. 316 „Hidtil har Lili været som en Klump Ler, som andre har arbejdet med, og som Professoren selv, blot med en flygtig Berøring, allerede har givet Liv ...... og Form ....... men indtil nu, mener han, ligger Lilis Kvindelighed kun paa Overfladen ...... Den er endnu

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Kreutz figuriert hier als Schöpfer im Sinne des ersten Buch Mose, in dem Gott Adam aus einem Erdklumpen erschafft und ihm durch die Nase den Lebensodem 317 einbläst. Für den Arzt genügen eine Berührung und ein Blick, um aus Lili vorerst ein menschliches Wesen zu formen. Der operative Eingriff wird – ganz in Tradition der Genesis – erst nötig, wenn es darum geht, die körperliche Geschlechtlichkeit zu manifestieren. Zunächst genügt die durch Kreutz ermöglichte ‚Menschwerdung‘, um Lili zu beruhigen, die bis dahin überzeugt gewesen ist, nie in der Frauenklinik 318 aufgenommen zu werden. Jetzt hadert sie nicht mehr, sondern stellt sich ihrem Schicksal: „Sie kam sich selbst wie eine Auserwählte vor, sie war auserkoren für 319 Schmerzen und Freuden, die bisher noch niemand durchlebt hatte.“ Im Lichte dieser Erkenntnis wird Lili zu einem formbaren Objekt, welches nun freiwillig seine Subjektivität einem religiös kodierten medizinischen Transformationsnarrativ opfert. Sich als Schulmädchen fühlend übergibt sie jegliche Selbstbestimmung an den Arzt: „Sie hatte den Eindruck, dass sie nicht länger die Verantwortung für sich selbst und ihr Schicksal trug. Professor Kreutz hatte die Verantwortung von ihr genommen …… Sie hatte auch keinen Willen mehr …… auch den hatte sie dem Pro320 fessor übergeben.“ Stone argumentiert, dass Lili damit das ungewollte männliche 321 Selbst auf den als Gott figurierenden Professor überträgt. Dessen Pseudonym spiegelt seine narrative Rolle, da das Kreuz in seiner theologischen Bedeutung den Bund zwischen dem Irdischen und dem Göttlichen, also beiden Seiten der Schöp322 fung, verkörpert. Der Arzt ist somit der Schnittpunkt, an dem Lilis irdische Konstitution und ihr fast übermenschlich anmutendes Auserwähltsein zusammenlaufen. So wagt sie es zumindest in Fra Mand til Kvinde nicht, den nun folgenden Eingriff

ikke helt ægte, fordi den ikke er trængt i Dybden ...... Med et eneste Blik har han i Gaar vakt hendes Hjerte til Liv, et Liv, besjælet af alle kvindelige Instinkter ......“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 110. 317 Vgl. Die Bibel oder die ganze heilige Schrift des alten und neuen Testaments nach der deutschen Übersetzung D. Martin Luthers, Berlin 1914, S. 2. 318 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 111. 319 „Hun forekom sig selv som en udvalgt, hun var kaaret til Smerter og Glæder, som endnu ingen havde gennemlevet.“, ebd., S. 112. 320 „Hun havde Indtrykket af, at hun ikke længere havde noget Ansvar for sig selv og sin Skæbne. Professor Kreutz havde løftet Ansvaret fra hende ...... Hun havde heller ikke længere nogen Vilje ...... ogsaa den havde hun lagt over paa Professoren.“, ebd., S. 114. 321 Vgl. Stone 2006, S. 225. 322 Zur Symbolik des Kreuzzeichens im Christentum, vgl. Ratzinger, Joseph: Der Geist der Liturgie. Eine Einführung, Freiburg 2000, S. 152ff.; auf die religiösen Implikationen des Pseudonyms hat bereits Heede verwiesen, vgl. Heede 2003, S. 19.

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zu hinterfragen, in welchem Kreutz aus dem bereits menschgewordenen Wesen 324 das Weib schneiden wird. Über diesen zweiten schöpferischen Moment zu berichten, obliegt wieder Grete, die in der Nähe auf das Wunder wartet: „Nun lag Lili unter des Meisters Messer. Nein, ich fühlte keine Angst. Ich glaubte genau so blind an ihn, wie Lili es tat. […] Was war das für eine seltsame Macht, die von ihm ausströmte? Hier in der Frauenklinik war er ein Gott, den alle fürchteten, alle verehrten. Worin bestand seine Macht? […] Und ich verstand, dass ich nur eine von vielen Gläubigen war, die an diesen Mann glaubten, an ihn glaubten als den, der alles vermochte, alles konnte, als den, der es in seiner Macht hatte zu helfen.“325 326

Als alles überstanden ist, rekapituliert Grete den Weg, den dieses „Opfertier“ an ihrer Seite hat hinter sich bringen müssen, bis es sein Blut unter dem Messer des heilsversprechenden Arztes vergießen darf. Dieser findet ‚verkrüppelte‘ Keimdrüsen in dem geöffneten Leib: „Das war das Geheimnis seines Doppelwesens, welches kein Arzt hatte erkennen wollen, bis Professor Werner Kreutz schon in Paris 327 mit eines Sehers Blick das Rätsel gelöst hatte“. Nun durchströmt frisches Blut und die Kraft der Keimdrüsen einer fremden, jungen und gesunden Frau Lilis Herz. Ihr zermarterter Körper wird schließlich zusammengeflickt, als nichts mehr übrig

323 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 116; in der deutschen Erstausgabe gestaltet sich diese Situation anders, denn in einem der nachträglich eingefügten Briefe, berichtet Lili, dass sie durchaus Mut gefasst hätte, sich bei Kreutz nach den Operationsbedingungen zu erkundigen, dieser sie aber anhält, sich nicht mit solchen Dingen zu befassen, da sie ihr junges Mädeldasein belasten würden, vgl. Elbe 1932, S. 175. 324 Stone bezieht sich ebenfalls auf die Parallelen zur Genesis, wenn sie vom transsexuellen Körper als Raum kultureller Einschreibungen spricht: „Representation at its most magical, the transsexual body is perfected memory, inscribed with the ‚true‘ story of Adam and Eve as the ontological account of irreducible difference, an essential biography which is part of nature.“, Stone 2006, S. 230. 325 „Nu laa Lili under Mesterens Kniv. Nej, jeg følte ingen Angst. Jeg troede lige saa blindt paa ham, som Lili gjorde. [...] Hvad var det for en sælsom Magt, der strømmede ud fra ham? Her paa Kvindeklinikken var han en Gud, som alle frygtede, alle ærede. Hvori bestod hans Magt? […] Og jeg forstod, at jeg kun var en af de mange troende, at jeg troede paa denne Mand, troede paa ham som den, der evnede alt, kunde alt, som den, der havde det i sin Magt at hjælpe.“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 118f. 326 „Offerdyr“, ebd., S. 120. 327 „Det var hans Dobbeltvæsens Hemmelighed, som ingen Læge havde villet erkende, førend Professor Werner Kreutz allerede i Paris med en Seers Blik havde løst Gaaden“, ibid.

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ist von ihrem toten Bruder Andreas, welchen Grete nun in überirdischen Sphären wähnt. „Wer ist im Stande dies Grauenhafte, dies Fantastische, dies Unglaubliche, 328 das geschehen ist, zu begreifen?“ Lili selbst kann sich kaum an des Wunders 329 Nachwehen, „welche sie die ersten Tage nach ihrer eigentlichen Geburt nennt“, erinnern. Schon im Morphiumrausch ist sie sich der schmerzhaften (Wieder-)Geburt bewusst, zahlt den Preis angesichts dessen, was ihr geschenkt wird, jedoch mit Freude: „Das Leben, ein Leben als Frau. Alles war schön und gut und voller Hoffnung. Ihr weißes Klinikdasein kam ihr vor wie das Paradies und der Professor war 330 der Wächter des Paradieses.“ Elvenes selbst schreibt über die Lili im Buch, „dass sie sich neugeboren fühlt – rein und jungfräulich – und seelisch ganz und gar nicht 331 wie ein Mann, der zu einem Mädchen geworden ist!!!“ In Elvenes’ Augen handelte es sich also nicht um eine geschlechtliche Transformation, sondern, wie es das Lili Elbe zugeschriebene Vorwort bereits verheißt, um eine Resurrektion: „Ein junges, lebensfrisches Weib aufersteht aus Andreas krankem und hinfälligem Kör332 per.“ Und so denkt Elvenes ihr ursprüngliches Manuskript Kreutz – der göttli333 chen Hand, die Lili von Andreas trennt – als Apotheose zu. Die narrative Lili fühlt in dieser Verherrlichung nun all ihre weiblichen Urinstinkte in sich erwachen und wendet sich gläubig und fast verzaubert ihrem neuen Leben und ihrer neuen Jugend zu, welche sie ausschließlich ihrem Dresdner Chirurgen und Schöpfer zu 334 verdanken glaubt: „Mein Leben ist sein Werk“. Und in einer Neuübersetzung der Bibel, welche der deutsche Freund ihr geschenkt hat, findet sie sich in einer Allegorie ihrer eigenen Schöpfung wieder: „Und die Erde war Wirrnis und Wüste. Finsternis allüber Abgrund. Braus Gottes brütend allüber den Wassern.“335

328 „Hvem er i Stand til at fatte dette grufulde, dette fantastiske, dette utrolige, der er sket?“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 121. 329 „som hun kalder de første Dage efter sin egentlige Fødsel.“, ebd., S. 122. 330 „Livet, et Liv som Kvinde. Alt var skønt og godt og fuldt af Haab. Hendes hvide Klinikværelse forekom hende at være Paradiset, og Professoren var Paradisets Vogter.“, ebd., S. 123. 331 „at hun føler sig nyskabt – ren og jomfruelig – og absolut ikke sjæleligt et Mandfolk, der er bleven til et Pigebarn!!!“, Elvenes an Knudsen, 22.01.1931, S. 2. 332 Elbe: Vorwort, S. 1. 333 Vgl. Elvenes an Knudsen, 31.01.1931, S. 1; auch Stone spricht vom apotheotischen Charakter solcher Transformationsnarrative, vgl. Stone 2006, S. 226. 334 „Mit Liv er hans Værk“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 128. 335 Ebd., S. 162.

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„Ich dachte, dass so mein Anfang gewesen war.“ Auferstanden aus der Finsternis, fühlt sie sich neugeschaffen als Kind dieser schönen Stadt an der Elbe und lässt 337 nun sämtliche Erinnerungen, die Andreas hatte, im Getöse der Schöpfung zurück. Doch erst bei Lilis erster Reise nach Dänemark darf Andreas Sparre seinen endgültigen Tod sterben. Nachdem er sich bereits unterbewusst geopfert hat, in Berlin sein gonadales und in Dresden sein fleischliches und mentales Ableben hat hinter sich bringen müssen, wird er nun in der alten Heimat sowohl familiär als auch bürokra338 tisch zu Grabe getragen: „Andreas Sparre war tot.“ Nach einer anfänglichen Krise in Dänemark kommt dieser endgültige Abschied für Lili einem Reinigungsprozess gleich, der es ihr erlaubt, neue Facetten ihrer Identität zu entdecken und zuzulassen. In einem Brief berichtet sie Kreutz davon und gibt nun explizit Dresden als ihren Geburtsort an: „Ich bin wie neugeschaffen. Ich bin in der Frauenklinik geboren und mein Geburtstag ist jener Apriltag, an dem 339 Sie mich operierten.“ 3.2.5 Performative Weiblichkeitskonstruktionen zwischen Integration und Abgrenzung Die Vorstellungen von Weiblichkeit, die Lilis Leben bestimmen sollen, werden in Fra Mand til Kvinde schon lange vor dieser eigentlichen Geburt gelegt und heben sich von der Konzeption der ursprünglich auf einer künstlerischen Ebene erschaffenen Figur deutlich ab. Während die frühe öffentliche Lili, von Grete gemalt und nach deren Vorbild geformt, den Typus einer ‚neuen Frau‘ verkörpert, sieht sich die private Lili eher einem traditionellen Frauenbild verpflichtet. Lilis Vorstellungen von ‚wahrer Weiblichkeit‘ speisen sich somit aus der Abgrenzung von jenen modernen Idealen, die eine erste feministische Bewegung in die Figur der ‚neuen Frau‘ 340 projiziert. Die postoperative Lili soll, wie Andreas es bereits vor dem ersten ope-

336 „Jeg tænkte, at saaledes havde min Begyndelse været“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 162, Allatini zitiert bezüglich der religiösen Konnotationen einen Brief von Lili, in dem diese Warnekros als „allmächtigem Gott“ („un dieu tout-puissant“) und ihr neues Leben als „das Werk eines Gottes“ („l’œuvre d’un dieu“) beschreibe, Allatini 1939, S. 224f.; Armstrong verweist ebenfalls auf die narrative Bibellektüre und stellt eine Verknüpfung zwischen der Genesis und Lili als ‚neuer Eva‘ her, vgl. Armstrong 1998, S. 169. 337 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 136. 338 „Andreas Sparre var død.“, ebd., S. 155. 339 „Jeg er som nyskabt. Jeg er født paa Frauenklinik, og min Fødselsdag er hin Aprilsdag, da De opererede mig.“, ebd., S. 156. 340 Unter Gretes ebenfalls künstlerisch tätigen Freundinnen empfindet sich Lili – abgesehen von einer Auslassung in Fra Mand til Kvinde – dann auch „als die weiblichste von

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rativen Eingriff andeutet, nicht zu einem ‚Phänomen‘ werden, sondern sich entspre341 chend in traditionelle gesellschaftliche Normen einpassen: „ich will eine ganz 342 normale und durchschnittliche Frau sein.“ Anhand Lilis narrativer Entwicklung zeige ich nachfolgend, auf welche Art und Weise sich der Prototyp einer ‚normalen Frau‘ textuell ausformt, wie er performativ hergestellt wird und mit welchen Ambivalenzen diese Konstruktion konfrontiert wird. An dieser Stelle möchte ich auf Heedes zentrale These zum performativen Charakter von Fra Mand til Kvinde zurückkommen. Er argumentiert, dass der Text 343 ‚Weiblichkeit‘ in der Figuration des Geschlechtsmodels ‚Frau‘ herstelle – eine Argumentationslinie, die sich durch alle seine Beiträge zieht. Heede versteht die textuellen Strategien der Geschlechtsperformance dabei auch als abgrenzende Reaktion auf jene phänomenalen Zuschreibungen, denen die Protagonistin ausgesetzt 344 ist. Trotz dieses Abgrenzungsgedankens, den er in einer aktualisierten, intersektional angelegten Analyse in der Verschränkung mit Identitätsparametern, wie Alter 345 und Nationalität, betrachtet, bleibt der Charakter der textuellen Kategorie ‚Frau‘ 346 für ihn eine stereotype Größe. Integraler Bestandteil dieses als stereotyp rezipierten Weiblichkeitsideals ist dabei eine Vorstellung von Schönheit, die sich in Jugendlichkeit sowie einer spezifischen Körperlichkeit manifestiert. Schon früh im Text artikuliert Andreas, dass Lili

allen“, Lili Elbe Buch (Manuskript), S. 65; Elbe 1932, S. 62; Heede argumentiert, dass sich die Ehe der beiden somit als umgekehrtes Geschlechtermodell darstelle, in dem Gerda (Heede bezieht dies auf die historische Person) als Antithese zur Weiblichkeitskonstruktion Lilis figuriere, vgl. Heede 2012b, S. 186 u. S. 188. 341 Hier wird ein Passing angestrebt, welches, wie Stone es beschreibt, eine Reinheit von Geschlecht impliziert, die jegliche Art von Überschneidungserscheinungen von vornherein ausschließe, vgl. Stone 2006, S. 226. 342 „jeg vil være en ganske normal og almindelig Kvinde.“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 35. 343 Vgl. Heede 2003, S. 17; Armstrong greift mit ‚making a woman‘ ein ähnliches Narrativ auf, bezieht es aber eher auf die technologischen Aspekte der ‚Geschlechtsherstellung‘, vgl. Armstrong 1998, S. 159; Hausmann weist in Anlehnung an Butler ebenfalls auf die dem Text immanente Geschlechterperfomance hin, vgl. Hausman 1995, S. 147. 344 Vgl. Heede 2012a, S. 14; in Folge dessen zeichne sich Fra Mand til Kvinde, so argumentiert Heede, als „ein wichtiges Dokument in der modernen Konstruktionsgeschichte von Weiblichkeit“ („et vigtigt dokument i den moderne kvindeligheds konstruktionshistorie“) aus, Heede 2003, S. 18; vgl. Heede 2004, S. 106; vgl. Heede 2012b, S. 194. 345 Vgl. Heede 2012b, S. 180 u. S. 194f. 346 Vgl. ebd., S. 186; auf diese stereotypen Ausformungen von Weiblichkeit verweist schon Rosenbeck, vgl. Rosenbeck 1997, S. 47.

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keine Existenzberechtigung habe, wenn sie nicht mehr jung und schön sei. Damit steuern die bevorstehenden operativen Eingriffe, wie bereits von Heede markiert, nicht nur den Identitätsmarker Geschlecht, sondern avisieren im Anschluss daran 348 ebenso die Verjüngung und Verschönerung des Subjekts. Eine Veränderung der körperlichen Linien bei Andreas deutet sich bereits präo349 perativ an. Diese Entwicklung wird für den historischen Einar Wegener sowohl bei Allatini als auch Boivin bestätigt: „Bé’s [Einar’s] whole appearance became more and more effeminate. His waist grew smaller, and instead of his usual walk he 350 351 developed an undulating glide.“ Bei Allatini erinnert Einar an eine Odaliske, 352 mit der schmalen Taille und den sich entwickelnden Brüsten, welche Allatini nach intimer Betrachtung als „die schönsten Brüste einer Frau, die ich jemals gese353 hen habe“, beschreibt. Dieses Changieren zwischen ‚Verweiblichung‘ und ‚natürlicher Weiblichkeit‘ werde in Fra Mand til Kvinde, so Hausman, zu Gunsten der 354 Natürlichkeit entschieden. Pamela Caughie führt diesen Ausschlag auf die Stabi355 lisierung einer spezifischen Subjektposition zurück. Im Text werden die Implikation der spezifischen Körperlichkeit durch das Auftreten menstruationsartiger Beschwerden erweitert, die bei Andreas in Form von 356 Nasenbluten, Schmerzen und zyklischen Depressionen auftreten. In einem erst ab

347 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 55. 348 Vgl. Heede 2004, S. 114; vgl Heede 2012a, S. 16. 349 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 55. 350 Boivin 1958, S. 57; Bé ist der Kosename Einars in seinem Bekanntenkreis, vgl. Allatini 1939, S. 201. 351 Haremsdienerinnen werden als Odalisken bezeichnet. Ihre Darstellung in der bildenden Kunst des 19. Jahrhunderts bis hin in das frühe 20. Jahrhundert (u.a. durch Henri Matisse) hat einen wichtigen Beitrag zu ihrer kulturellen Rezeption geleistet. Dementsprechend finden sie sich auch in Allatinis Ausführungen wieder, vgl. Stevens, MaryAnne (Hg.): The Orientalists: Delacroix to Matisse. European Painters in North Africa and the Near East, London 1984. 352 Vgl. Allatini 1939, S. 213. 353 „les plus beaux seins de femme que j'aie jamais vus“, ebd., S. 218. 354 Vgl. Hausman 1995, S. 18. 355 Vgl. Caughie 2013, S. 507. 356 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 57; Allatini macht ebenfalls eine Andeutung bezüglich monatlicher Leiden bei Einar, vgl. Allatini 1939, S. 214; laut Laqueur wird Nasenbluten seit Aristoteles mit Menstruation assoziiert, Laqueur 1990, S. 37; in einem von Lilis ärztlichen Gutachten ist die Rede von Blutungen aus der Nase sowie aus dem Rektum, vgl. Warnekros, Kurt: Ärztliches Gutachten, Dresden 18.07.1930, E 1953; mehr zur medizinischen Relevanz dieser Blutungen in 4.2.

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der deutschen Ausgabe inkludierten Ausklangsbrief betont Lili zudem, dass es sich 357 bei diesem Blut bereits um das ihre und nicht um Andreas’ gehandelt habe. Das erste Auftreten der Blutungen fällt mit dem erwachenden Bedürfnis nach Unterordnung zusammen, welches Andreas überkommt, nachdem er eine Rolle im Ballett 358 seines Freundes übernommen hat. Das geschlechtlich kodierte körperliche Symptom wird somit an den Wesenszug der Subordination angegliedert, der zum Schlüsselelement von Lilis neuer Weiblichkeit avancieren sollte, wie bereits das religiöse Selbstfindungsnarrativ verdeutlicht. Die neue Lili, welche nach der ersten Operation zu erwachen beginnt, ist diesem Unterordnungstopos schließlich ganz und gar verschrieben und wird auch von Außen mit dementsprechenden Identitätszuweisungen betrachtet – so zum Beispiel durch Grete, die in ihr eine Vereinigung von 359 kleiner Mutter und umsorgtem Kind sieht. Steinbock argumentiert, dass Lili an dieser Stelle noch nicht begreift, „was ihr Verlangen, ‚ganz Frau‘ zu sein wirklich 360 bedeutete“, doch führt sie damit, meines Erachtens, nur ein in Fra Mand til Kvinde vorgegebenes Infantilisierungsnarrativ weiter und übersieht die für Lilis Entwicklung wegweisenden Weiblichkeitsbilder, die der Text bis dahin produziert hat. Sich dieser literarischen Infantilisierung anzunehmen, erweist sich analytisch jedoch als sehr fruchtbar. Es stellt sich die Frage, inwieweit dieses Motiv mit einem Übertritt in die anvisierte Form von Weiblichkeit zusammenhängt. Ich möchte argumentieren, dass die Infantilisierung drei narrativen Strängen dient: (1) dem (Wieder-)Geburtsmotiv, (2) dem weiblichen Unterordnungstopos sowie (3) der Vorstellung, dass das neugeschaffene Wesen erst zur Frau werden müsse. Dabei stellt sich der letzte Aspekt als äußerst ambivalent dar, da die textuelle Präsentation, um einen Gedanken Simone de Beauvoirs zu bemühen, zwischen ‚Weiblichkeit als Essenz‘ 361 und ‚Weiblichkeit als Konstruktion‘ oszilliert. Gebündelt werden die drei ‚Infantilisierungsstränge‘ in der Hand von Kreutz, der als Schöpfer, Vater und männliches Gegenüber der (wieder-)geborenen Lili figuriert. Er formt und fördert sowohl ihre Weiblichkeit als auch die daran geknüpfte Unterordnung. Gleichzeitig wird er zum Kreuzungspunkt, an dem Lili ihren besonderen Status vom Irdisch-Phänomenalen befreien kann, indem sie in den einer Überirdisch-Auserwählten eintritt. Religiöse Erweckung und weibliches Erwachen in Bezug auf Kreutz gehen während Lilis narrativer Adoleszenz somit Hand in Hand: „sie war nur eine kleine, demütige Frau,

357 Vgl. Elbe 1932, S. 247. 358 Vgl. 3.2.2. 359 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 99. 360 „what her desire to be ‚fully woman‘ really meant.“, Steinbock 2009, S. 142. 361 Vgl. De Beauvoir, Simone: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau, Hamburg 1989 (1949), S. 265.

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die bereit war zu gehorchen, glücklich damit, sich dem Willen eines anderen zu un362 terwerfen.“ Stone und Heede argumentieren, dass die Konstruktion Lilis als geschlechtliches Wesen ganz zentral unter Kreutz’ männlichen Blick falle. Dieser Blick forciere eine bestimmte Linie und lasse gleichzeitig die Grenzen zwischen seiner professio363 nellen und seiner geschlechtlichen Position gegenüber Lili unscharf werden. Auch in der textuellen Logik wird eine solche Distinktion nicht forciert, da die männliche Position von Kreutz in der Konstruktion eines binären Geschlechtersystems eine ausschlaggebende Rolle spielt. Die Geschlechterhierarchie in der Frauenklinik ist klar aufgeteilt und Lili fühlt sich auf der Seite der sich unterordnenden Patientinnen so integriert, dass es ihren persönlichen Identitätsvorstellungen entspricht: „Lili war glücklich. Sie bewegte sich ganz natürlich, wie eine junge Frau zwischen anderen jungen Frauen […] Und das war nur einer Handbewegung vom Meister, von ihrem Schöpfer, vom Professor geschuldet […] und sie fühlte sich verteidigt und beschützt. Hier in diesem kleinen Staat im Staat herrschten die Männer uneingeschränkt – mit dem Professor an der Spitze.“364

Die in diesem Motiv deutlich werdende patriarchalisch hierarchisierte Geschlechtertrennung kommt für Lili sowohl dem Wunsch nach Abgrenzung von der männlichen Geschlechtskategorie entgegen als auch dem Bedürfnis nach Integration in die weibliche. Armstrong argumentiert, dass die Herausstellung einer unbedingten Binarität auch im Interesse des Chirurgen sei. So könne er seine ödipale Position, die sowohl geschlechtlich, erotisch und hierarchisch aufgeladen sei, untermauern. Gleichzeitig könne damit die Gefahr, welche Lili für die etablierten Geschlechter365 strukturen darstelle, eingedämmt werden. Die dabei bereits implizite erotische

362 „hun var kun en lille, ydmyg Kvinde, der var rede til at adlyde, lykkelig ved at underkaste sig en andens Vilje.“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 114. 363 Vgl. Stone 2006, S. 224f.; vgl. Heede 2003. S. 34; vgl. Heede 2004, S. 118ff.; Runte argumentiert ähnlich, bemüht dazu jedoch die Figur des Pygmalion, „dem seine Schöpfung mit erotischer Konnotation ‚hörig‘ ist.“, Runte 1996, S. 598. 364 „Lili var lykkelig. Her gik hun ganske naturligt om som en ung Kvinde mellem andre unge Kvinder. [...] Og det skyldtes kun en Haandbevægelse fra Mesteren, fra hendes Skaber, fra Professoren [...] og hun følte sig værget og beskyttet. Her i denne lille Stat i Staten herskede Mændene uindskrænket — med Professoren i Spidsen.“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 115. 365 Vgl. Armstrong 1996, S. 169; Armstrongs Ausführungen von Kreutz als Ödipal sind auch in Bezug auf die narrativen Infantilisierungsbemühungen von Interesse, da die

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Komponente der Fokussierung auf Kreutz dient gleichzeitig einer Heteronormati366 vierung des aufkeimenden Begehrens der infantilisierten Protagonistin. Für Lili ist in diesem Modell jedoch zunächst die unumstößliche Integration auf der weiblichen Seite bedeutsam, welche ihr im Rahmen des Klinikkontextes durch die Vorsteherin nochmals explizit bestätigt wird: „warum sollten Sie anders sein als all die 367 anderen Patientinnen?“ Während sich diese Differenzierung in Fra Mand til Kvinde als ausreichend darstellt, wird mit dem Einfügen von Briefen, die Lili in Dresden geschrieben haben soll, mit der deutschen Ausgabe ein zusätzliches Abgrenzungsbestreben in den Text integriert. Die bis dahin im Klinikalltag homogen erscheinende Gruppe der Patientinnen wird in sich aufgebrochen und Lili setzt sich narrativ von den ‚modernen Frauen‘ ab. Exemplifiziert wird dies durch Gespräche mit zwei Damen, die sie in der Frauenklinik kennenlernt: eine Mitpatientin, genannt Teddybärchen, mit der sich Lili angefreundet, und deren Bekannte, eine Ärztin. Mit Letzterer führt Lili zunächst ein angeregtes Gespräch über eher nichtige Dinge: „Ich lachte sehr viel. Spielte dabei wohl auch die Oberflächliche, Sorglose. Das tut so gut... Aber dadurch hatte ich das Mißfallen der Ärztin erregt. Plötzlich sagte sie: ‚Sie sind ein hundertprozentiges Weib.‘ Das klang sehr mitleidig. – ‚Woraus schließen Sie das?‘ fragte ich lachend. – ‚Sie sind kokett und haben nur Albereien im Kopf. Bei Ihnen werden es die Männer leicht haben. Ich glaube, Sie lassen sich gern von den Herren der Schöpfung tyrannisieren. Aber vielleicht erreichen Sie damit mehr als wir m o d e r n e n Frauen. Was wir uns von ihnen erkämpfen müssen, erreichen Sie im Handumdrehen mittels einiger Tränen. Sie kommen mir vor wie ein Frauentyp einer entschwundenen Zeit.‘“368

Der vermeintlichen Leichtigkeit und Komik, welche dieser Szene innewohnen, steht der explizite Vergleich zwischen einer traditionellen und einer modernen Frauenrolle gegenüber, wobei die ‚hundertprozentige‘ Weiblichkeit im traditionellen Rahmen verortet wird. Die damit einhergehende Abgrenzung vom vermeintlich

ödipale oder phallische Phase nach Freud in das vierte bis fünfte Lebensjahr falle, vgl. Freud, Sigmund: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, Leipzig 1910 (1905), S. 34ff.; vgl. Freud, Sigmund: „Der Untergang des Ödipuskomplexes“ (1924), in: Freud, Sigmund: Schriften über Liebe und Sexualität, Frankfurt 1994, S. 163-168. 366 Runte hält in diesen Zusammenhang fest, dass jener von ihr als ‚Chirurgen-Transfer‘ bezeichneter Affekt eine Gefühlsbewegung darstelle, die sich für viele Mann-zu-FrauTranssexuelle nachvollziehen lasse, vgl. Runte 1996, S. 599. 367 „hvorfor skulde De være anderledes end alle de andre Patienter?“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 116. 368 Elbe 1932, S. 168f. (Hervorhebung im Text).

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weniger weiblichen Typus der ‚neuen Frau‘ fungiert gleichzeitig als Bestätigung der eigenen ‚unverfälschten Weiblichkeit‘. Doch die Demarkation scheint diesbezüglich nicht ausreichend. Die – nach der Rückkehr des zwischenzeitlich verreisten Kreutz – erneut operierte Lili verfällt nun wieder stärker in einen Subordinationsmodus, den sie auch angesichts der postoperativen Schmerzen nicht zu verlassen vermag. Sie entschuldigt sich sogar beim Professor für ihr unbeherrschtes Betragen 369 angesichts der Leiden, die ihr eine verstopfte Kanüle bereitet hat – ein Verhalten, mit dem Lili bei Teddybärchen und deren Freundin nur Unverständnis erntet: „Und dann erklärten beide wie aus einem Munde, daß es geradezu lächerlich sei, sich vor dem Professor zu fürchten, mein Respekt vor ihm sei direkt komisch. – Er sei der liebenswürdigste Mensch, überhaupt sei eine moderne Frau, die sich vor einem Mann fürchte, das lächerlichste Geschöpf... Kaum hatten beide dies zum besten gegeben – da öffnete sich die Tür und der Professor stand im Zimmer. Und meine beiden Geschlechtsgenossinnen zogen sich errötend fluchtartig zurück... Erst nachdem der Professor längst das Feld geräumt hatte, wagten sie zum Vorschein zu kommen. – Teddybärchen war jetzt sehr kleinlaut. Doch das gelehrte Fräulein von der medizinischen Fakultät saß wieder auf sehr hohem Roß. ‚Darin liege die Methode, Herrschaften, euch Sklavinnennaturen derart zu unterjochen. Könnte mir nie passieren.‘“370

Hiermit wird die Figur der ‚neuen Frau‘, von der sich Lili zunächst nur abgrenzt, sowohl entmachtet als auch der Lächerlichkeit preisgegeben. Gleichzeitig transportiert diese Szene, dass sie sich de facto nur in der Fassade von der traditionellen Frau unterscheide. Heede, der sich in einem aktuelleren Analyseansatz ebenfalls mit dieser Episode aus Ein Mensch wechselt sein Geschlecht befasst, argumentiert, dass dort ein ausgeprägter Antifeminismus als Beweis ‚echter Weiblichkeit‘ inszeniert 371 werde. Doch steht in diesen Szenen nicht die antifeministische Motivation im Vordergrund, sondern vielmehr das Austarieren zwischen geschlechtsspezifischer Integration und Abgrenzung, um die narrative Identität Lilis zu stabilisieren. Ein weiterer Identitätsparameter, den die der deutschen Ausgabe hinzugefügten Briefe konsolidieren, spielt auch in Fra Mand til Kvinde eine wichtige Rolle. Über

369 Vgl. Elbe 1932, S. 181; hier wird der bereits von Heede herausgearbeitete Kontrast zwischen der inszenierten Leichtigkeit Lilis und der Schmerzhaftigkeit – nicht nur der Operationen – deutlich, vgl. Heede 2003, S. 25. 370 Elbe 1932, S. 184. 371 Vgl. Heede 2012b, S. 186f; problematisch erscheint bei Heedes Darlegung die Nähe zu Raymonds transphober Argumentation. Diese setzt Antifeminismus als Transitionsmotor für Mann-zu-Frau-Transsexuelle, welche dann mit Hilfe des Geschlechtswechsels die lesbisch-feministische Szene infiltrieren würden, vgl. Raymond 1979, S. 99ff.

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die Infantilisierung und die gleichzeitige Vergötterung des Arztes erwacht in Lili eine zunehmende Religiosität, die nicht nur mit Hinblick auf ihren ‚Schöpfer‘ und 372 den in der Frauenklinik entdeckten „Garten Eden“ seinen Ausdruck findet, sondern auch eine zukunftsgewandte Perspektive verdeutlicht: „Ich bin so gläubig ge373 worden... so gläubig... und so dankbar... und so voller Hoffnung...“ Dennoch erweist sich der Gedanke, Abschied von dieser paradiesischen Welt zu nehmen, als beängstigend für sie. Mit der Idee, ihre Zukunft als Krankenschwester zu verbringen, verdrängt sie zunächst die Furcht vor diesem Übertritt aus dem klinischen Kontext. Wenig später erwächst aus diesem Plan eine religiöse Vision – Lili möchte Nonne werden. Vom Eintritt in ein Kloster verspricht sie sich Anonymität in Bezug 374 375 auf ihre Herkunft und ihr Schicksal. Von einer solchen „Nonnenperiode“ kurz nach der Operation berichtet auch Elvenes’ Neffe in seinen Aufzeichnungen. Später sollen sich diese Phasen jedoch mit recht konträren Ideen abgewechselt haben: „Den einen Tag sprach sie davon, ins Kloster zu gehen. Den nächsten darüber, in 376 einen Harem zu gehen.“ Dass sich die zweite Seite dieser Medaille in keinem der narrativen Stränge wiederfindet, spricht für eine Homogenisierung von Lilis Charakter im Text. Dabei werden Brechungen vermieden und durch eine stringente Narration – in diesem Fall von einer religiös motivierten sexuellen Enthaltsamkeit – überschrieben. Runte argumentiert, dass es genau jener religiöse Diskurs sei, der ein Schuldbewusstsein wach halte und dieses nicht, wie vermeintlich avisiert, bekämpfe: „Das transsexuelle Verlangen, nun im Nonnen-Ideal konkretisiert, ist gegen ihn [den religiösen Dis377 kurs] resistent.“ Während ich der Verschränkung von religiösem Diskurs und Schuldzusammenhängen zustimme, erscheint mir die Reduktion des Lili eingeschriebenen ‚Komplexes‘ auf ein ‚transsexuelles Verlangen‘ als eine Vereinfachung ihrer narrativen Selbstidentifikation. Dass Fra Mand til Kvinde ein persönliches Schuldbewusstsein transportiert, das sich gegen ein als unerwünscht kodiertes ‚Verlangen‘ richtet, lässt sich nicht nachvollziehen. Der Text thematisiert hingegen – neben den gesellschaftlich bedingten Auslösern für Schuld – einen in sich unauflösbaren ‚Komplex‘, der an die Individuen geknüpft ist, die von den Auswirkungen dieses langjährigen Selbstfindungsprozesses unmittelbar betroffen sind: Grete, An-

372 Elbe 1932, S. 171. 373 Ebd., S. 169. 374 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 127f. 375 „nonneperiode“, Wegener-Thomsen an Harthern, 15.06.1931, S. 14 (Eintrag vom 06.10.). 376 „Den ene dag talte hun om at gå i kloster. Den næste om at gå i harem.“, vgl. ibid; hier spiegelt sich Allatinis Vergleich zu einer Odaliske wieder. 377 Runte 1996, S. 429.

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dreas und Lili selbst. Ihre Schuldgefühle gegenüber Grete kann Lili langsam ablegen. Dabei erweist es sich als hilfreich, dass auch Gretes neuer Partner, Ridolfo 379 Ferruzzi, Lili akzeptiert und als eine kleine Schwester ansieht. Die dunklen Gefühle gegenüber Andreas bleiben jedoch bestehen. Auf der nun anstehenden Reise gen Norden fürchtet sich Lili davor, den Menschen zu begegnen, die Andreas gekannt haben. Sie benennt ihre Schuld ihm gegenüber nun ganz konkret: „Ich habe 380 das Gefühl, dass ich ihn umgebracht habe ……“ Eine Befriedung dieser Gefühle lässt sich auch in Dänemark angekommen nicht 381 erwirken. Zwar beteuert Lili in Gegenwart von Andreas’ Schwester, dass sie nicht seine Mörderin sei, sieht sich aber dennoch schweren Vorwürfen ausgesetzt: „Es war gewiss an jenem Tag, als meine Schwester erklärte, dass alles, was dort in Dresden passiert war, eine Frechheit, ein Verbrechen gegen die Natur gewesen wä382 re, ein Spiel mit dem Schicksal.“ Die zwischen retroaktiver Bestätigung (über gemeinsame Kindheitserinnerungen) und gegenwärtigen Verletzungen (wenn die Protagonistin als Andreas angesprochen wird) changierende Konversation zwischen Lili und der Schwester mündet in der misogyn anmutenden gemeinsamen Erkennt383 nis, dass Andreas ein besserer Mensch als Lili gewesen sei. Kurioserweise muss 384 Lili im Verlauf dieser Unterhaltung weinen, jedoch nur in Fra Mand til Kvinde, denn im Manuskript und auch in den anderssprachigen Ausgaben gestaltet sich die385 se Szene konträr dazu: „Und ich weinte auch keine Tränen.“ In diesem Vergleich wird deutlich, dass bei der dänischen Übersetzung und dem entsprechenden Lektorat die emotionale Zeichnung der Figur verzerrt wird, um damit den vermeintlich weiblichen Modus verstärkt aufrecht zu erhalten – eine Ver-

378 Die Schuld gegenüber Lili wird dabei Andreas zugeschrieben, vgl. 3.2.4. 379 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 133 u. S. 137; die Figur des Ferruzzi ist an Fernando Porta angelehnt, mit welchem Gerda Wegener ab 1931 für ein paar Jahre verheiratet ist und in Marokko lebt, vgl. Pors vsl. 2016; Allatini berichtet in diesem Zusammenhang sogar davon, dass das Paar Elvenes als seine Tochter hätte annehmen wollen, vgl. Allatini 1939, S. 229. 380 „Jeg har Fornemmelsen af, at jeg har myrdet ham ……“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 141. 381 Auf literarischer Ebene fühlt sich Lili nach ihrer (Wieder-)Geburt nicht an Andreas’ Verwandte gebunden, vgl. ebd., S. 147. 382 „Det var vist den Dag, da min Søster erklærede, at alt, hvad der var sked i Dresden, havde været en Formastelse, en Forbrydelse mod Naturen, en Leg med Skæbnen.“, ibid. 383 Vgl. ebd., 146ff. 384 Vgl. ebd. S. 147. 385 Lili Elbe Buch (Manuskript), S. 177; die deutsche Ausgabe besagt: „Ich weinte nicht …“, Elbe 1932, S. 201.

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stärkung, die angesichts der zwischen Andreas und Lili hergestellten Geschlechterhierarchie durchaus nachvollziehbar erscheint. Denn nicht nur die hierarchisch differenzierte Positionierung beider Individuen wird unterstrichen, sondern auch Lilis Abgrenzung vom männlichen Existenzmodus, dessen Umgang mit Emotionen sich 386 anders gestaltet als der ihrige. Vor diesem Hintergrund erschließt sich die nachfolgende Verteidigung gegen selbst- und fremdauferlegte Schuld zumindest im narrativen Kontext: „[I]ch weiß, dass ich als Mensch weitaus geringer bin als er es war …… ich werde nie erreichen können, was er erreichte …… ich werde nie dazu kommen, so zu malen wie er malte …… ich fühle keinen Drang dazu und ich habe Angst davor, es zu probieren und meine Ohnmacht zu erkennen …… aber genau dadurch siehst du ja, dass es zwei verschiedene Wesen waren, die im gleichen Körper wohnten, die unter dem Herzen unserer Mutter entstanden …… Glaubst du, dass ich so viel gewonnen habe mit dem Leben, das ich nun endlich ganz für mich selbst bekommen habe? …… Du sagst, dass Andreas sowohl stärker als auch tüchtiger war als ich, aber er hat doch auch ein langes Leben bekommen, wo er lebte und arbeitete, während ich es kaum wage, mich zu zeigen. Zeige ich mich, werden es alle, genau wie Du, Betrug, Schwindel und Narrenspiel nennen ……“387

Diese narrativ aufgezeigten Spannungen spiegeln sich in den Aufzeichnungen von Elvenes’ Neffen wieder. Er berichtet, dass seine Mutter, die als Vorlage für die Figur der Schwester dient, den operativen Eingriffen ablehnend gegenüberstünde und insgesamt wenig Verständnis für die ganze Situation aufbrächte. Zudem sei sie betroffen, „dass ihr Bruder, von dem sie so viel hielt, zu einem albernen, eitlen Wesen geworden ist. Auch den Name ‚Lili‘ findet sie entsetzlich. So hätte ihn seine Mutter 388 nie genannt, wenn er als Mädchen auf die Welt gekommen wäre.“ Zwar akzep-

386 Zu Andreas’ Umgang mit Emotionen, vgl. 3.2.2. 387 „jeg ved godt, at jeg som Menneske er langt ringere, end han var ...... jeg vil aldrig kunne naa, hvad hun naaede ...... jeg vil aldrig komme til at male, som han malede ...... jeg føler ingen Trang til det, og jeg er bange for at prøve paa det og mærke min Afmagt ...... men netop der af ser Du jo, at det var to forskellige Væsener, der boede i det samme Legeme, som blev til under vor Moders Hjerte ...... Synes Du, at jeg har vundet saa meget ved det Liv, som jeg nu endelig har faaet helt for mig selv? ...... Du siger, at Andreas var baade stærkere og dygtigere end jeg, men han fik jo ogsaa et langt Liv, hvor han levede og arbejdede, medens jeg knapt nok tør vise mig. Viser jeg mig, vil alle, ligesom Du, kalde det Bedrageri, Svindel og Narrespil ......“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 148. 388 „at hendes bror, som hun holdt så meget af, – er bleven et pjanket, forfængeligt væsen. – – også navnet ‚Lili‘ – finder hun forfærdeligt. Det havde hans mor aldrig kaldt ham,

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tiert die Schwester in Fra Mand til Kvinde letztendlich, dass diese Entscheidungen wohl nicht ohne das Einverständnis des ritterlichen und pflichtbewussten Andreas 389 getroffen worden wären, doch fühlt sich die Lili im Text nach diesem Wechselbad der Gefühle mehr denn je in einem Kampf um ihre Daseinsberechtigung gefangen. Fast gezwungen, der Schwester ihre Weiblichkeit zu demonstrieren, greift sie, 390 wie Heede herausstellt, zur bewussten Performance: „Durch mein ganzes Wesen, durch die gesamte Art und Weise, wie ich mich bewegte, durch alles, was ich sagte, tat ich, was ich konnte, um ihr zu beweisen, dass ich ein anderer Mensch als Andreas war. Er war klug und geistreich, lebhaft interessiert, er war ein Mensch, der in die Tiefe ging …… Ich war ganz oberflächlich …… und ich war das mit Vorsatz …… ich wollte ihr zeigen, das ich eine ganz andere war, dass ich eine Frau war …… Ich war gedankenlos, albern, putz- und vergnügungssüchtig, ja, ich kann wohl sagen kindlich …… und nun kann ich es ruhig gestehen, es war bestimmt nicht alles Verstellung …… Ich war wirklich unbekümmert, sorglos, unlogisch und launisch …… Ich unterstrich es nur, führte mein Wesen ein Stück weiter aus.“391 392

Obgleich Elvenes nachweislich solch eine narrative Strategie wünscht, bedauert Heede, dass sie die Verstärkung einer Oberflächlichkeit und Dummheit produziere, 393 die der Protagonistin in dieser Form gar nicht inne gewesen sei. Zudem betont er den frappanten Kontrast, in welchem die Darstellung der Protagonistin als sorglos

hvis han havde begyndt som pige. – –“, Wegener-Thomsen an Harthern, 15.06.1931, S. 7 (Eintrag vom 22.08.). 389 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 148. 390 Vgl. Heede 2003, S. 24f.; vgl. Heede 2004, S. 110; Caughie greift den Gedanken der bewussten Performance ebenfalls auf, vgl. Caughie 2013, S. 510. 391 „Gennem hele mit Væsen, gennem hele den Maade, jeg bevægede mig paa, gennem alt, hvad jeg sagde, gjorde jeg, hvad jeg kunde, for at bevise hende, at jeg var et andet Menneske end Andreas. Han var klog og aandfuld, levende interesseret, han var et Menneske, der gravede i Dybden ...... Jeg var ganske overfladisk …… og jeg var det med Vilje ...... jeg vilde vise hende, at jeg var en helt anden, at jeg var en Kvinde …… Jeg var tankeløs, pjanket, pyntesyg og fornøjelsessyg, ja, jeg kan godt sige barnlig ...... og nu kan jeg roligt tilstaa det, det var afgjort ikke altsammen Forstillelse ...... Jeg var virkelig ubekymret, sorgløs, ulogisk og lunefuld …… Jeg understregede det bare, førte mit Væsen et Stykke videre ud.“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 148f. 392 „und ich wünsche gerade herauszubringen, dass ich kokett, sorglos, oberflächlich und albern bin“ („og jeg ønsker netop at faa frem, at jeg er koket, sorgløs, overfladisk og pjanket“), Elvenes an Knudsen, 22.01.31, S. 2. 393 Vgl. Heede 2003, S. 24; vgl. Heede 2004, S. 110.

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und unbekümmert „nicht nur zu den vielen und oft äußerst schmerzhaften Operationen [steht], sondern auch der starken sozialen Angst, Stigmatisierung und Ein394 samkeit, die dem Text folgend das kurze Leben von Lili prägen sollte.“ Diesen Gedanken Heedes möchte ich weiterverfolgen, um die Notwendigkeit, die sich bei Lili für eine solch ausgeprägte Performance ergibt, nachzuvollziehen. Caughie, die sich mit der Bedeutsamkeit von Lilis spezifischer Subjektposition 395 und der daran geknüpften Performativität auseinandergesetzt hat, argumentiert, dass im Text postoperativ eine wesentlich stärkere Geschlechtsperformance evident sei, als vor den medizinischen Interventionen: „Indeed, it is as if the surgery has taken away Andreas’s natural femininity. The postoperative Lili worries that she is ugly, an ‚improbable phenomenon‘ whereas earlier the cross-dressing Andreas has 396 no such worries about being taken as a fraud.“ Während die operativen Eingriffe dabei durchaus als Grenzsetzungen figurieren, erscheint mir nicht der Faktor der vermeintlichen ‚geschlechtlichen Natürlichkeit‘ in Bewegung zu geraten, sondern vielmehr ist der Wechsel in anders kodierte performative Räume von Bedeutung. Mit diesen räumlichen Übergängen, die für die Protagonistin jedes Mal als Herausforderung dargestellt werden, verändert sich auch das Verhältnis zwischen Subjekt, Raum und Art der Performance. Die Spielräume, die Sicherheit und Akzeptanz verheißen, gestalten sich dabei sowohl im künstlerischen und klinischen Kontext anders als im familiär privaten und im öffentlichen Raum, in den sich Lili während der Zeit in Dänemark sukzessive zu integrieren versucht. Zunächst knüpft sich an die privat unterfütterte Unsicherheit, welche sich im Verhältnis zur Schwester herauskristallisiert, die Angst vor einer Stigmatisierung im öffentlichen Raum. Auf diesen Raum werden die bereits angerissenen Vorstellungen einer für Lili spezifischen Weiblichkeit übertragen: „Ich fühlte, dass alle hier in Kopenhagen, auch meine Familie, auf mich als ein Phänomen sahen. […] Sowieso hatte ich Todesangst, jedes Mal, wenn ich zusammen mit meinem Neffen den Garten verließ, um eine Spaziertour zu unternehmen. Die kleinste Unreinheit in meinem Teint machte einen gewaltigen Eindruck auf mich und veranlasste mich, einen dichten Schleier umzuwerfen. Ich kam mir selbst wie ein Paria vor. Alle anderen Frauen hatten das Recht unschön zu sein, hässlich zu sein, alle möglichen Mängel und Fehler in ihrem Äußeren zu haben. Aber ich musste hübsch sein; wenn ich nicht gut aussah, hatte ich jegliches Anrecht

394 „til ikke bare de mange og ofte yderst smertefulde operationer, men også den stærke sociale angst, stigmatiseringen og ensomheden, der ifølge teksten kommer til at præge Lilis korte liv.“, Heede 2003, S. 25. 395 Caugie knüpft dabei an Bordieus Habitus-Konzept sowie Butlers Konzept von der ‚Performance als Akt der Verkörperung‘ an, vgl. Caughie 2013, S. 507 u. S. 509ff. 396 Ebd., S. 511.

164 | »W IE L ILI ZU EINEM RICHTIGEN M ÄDCHEN WURDE « verloren, zu existieren, Frau zu sein …… denn dann machte ich dem, der mich erschaffen hatte, Professor Werner Kreutz, keine Ehre mehr.“397

Lili ist somit weiter an Kreutz’ Blick gebunden und findet außerhalb der Frauenklinik zunächst keinen sicheren Raum. Ihre Angst, als Phänomen wahrgenommen und sich nicht frei in ihrer selbst empfundenen Identität bewegen zu können, führt dabei zu einer Überhöhung geschlechtsspezifischer Stereotype, die über einen ‚Passing‘Wunsch deutlich hinausgehen. In die ursprünglich angestrebte ‚durchschnittliche Weiblichkeit‘ kann sich die Protagonistin nur schwer fallen lassen, denn eine solche Existenz scheint an ein Geburtsrecht gebunden, das jenen Frauen vorbehalten ist, die dem mütterlichen Leib und nicht dem Operationstisch entsprungen sind. Daraus ergibt sich für Lili die Notwendigkeit, weiblicher als jene Frauen agieren zu müssen, denen das ‚Geschlechtsprivileg‘ von Anfang an zu eigen ist: Dem vermeintlichen Mangel und der Scham, die aus der chirurgischen Hilfestellung erwachsen, 398 sucht sie nun in Form von geschlechtlicher Perfektion entgegenzuwirken. Diese Art der Performance lässt sich nicht mit der künstlerischen Maskerade der präoperativen Phase vergleichen. Vielmehr handelt es sich um einen narrativen Komplex, der ob seiner historiographischen Übertragbarkeit relevant erscheint, da sich die Kernaussagen mit Wegener-Thomsens Tagebuchaufzeichnungen decken. Zwar reflektiert dieser die Hintergründe für Elvenes’ Verhalten kaum, doch beschreibt er

397 „Jeg følte, at alle her i København, ogsaa min Familie, saa paa mig som et Fænomen. [...] Alligevel var jeg dødensangst, hver Gang jeg sammen med min Søstersøn gik udenfor Haven for at foretage en Spadseretur. Den mindste Urenhed i min Teint gjorde et voldsomt Indtryk paa mig og fik mig til at tage et tæt Slør paa. Jeg forekom mig selv som en Paria. Alle andre Kvinder havde Lov til at være uskønne, til at være hæslige, til at have alle mulige Mangler og Fejl i deres Ydre. Men jeg maatte være køn; hvis jeg ikke saa godt ud, havde jeg mistet enhver Adkomst til at eksistere, til at være Kvinde ...... for saa gjorde jeg ikke længere ham, der havde skabt mig, Professor Werner Kreutz, Ære.“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 149; im Dänischen findet sich im Satz ‚Men jeg maatte være køn.‘ (Aber ich musste hübsch sein.) eine interessante Doppeldeutigkeit, da ‚køn‘ sowohl ‚hübsch‘ als auch ‚Geschlecht‘ bedeutet und somit die Implikation, von dem was Lili sein muss, verdoppelt wird. 398 Zentral erscheint mir dabei, dass die Geschlechtsperformance narrativ über Schuld und Angst motiviert ist, so dass sich der Bogen zu Rivieres These schließen lässt, die ich bereits im Zusammenhang mit ‚Männlichkeit als Maskerade‘ bemüht habe. Auch wenn Lili, anders als das Subjekt bei Riviere, keinen expliziten Wunsch nach Maskulinität artikuliert, hat sie doch das Gefühl, jede Eigenschaft, die Maskulinitätsassoziationen erwecken könnte, hinter der Maske ihrer potenzierten Weiblichkeit verstecken zu müssen, vgl. 3.2.2.

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deren suizidale Gedanken, falls sich ihr Äußeres als inadäquat herausstelle, sowie 400 ihre Vorstellung, „dass ‚Schönheit die Existenzberechtigung einer Frau sei‘!!“ Auch Elvenes’ Angst vor dem öffentlichen Blick wird deutlich: „Wenn wir spazieren gehen sollen, fragt sie, ob man ‚etwas sehen kann‘. – In Anbetracht der enormen Menge ‚Kosmetik‘, die angewendet wird, – ist das in der Regel unmöglich. – Antworte ich verneinend – glaubt sie mir nicht – sondern bindet ein seidenes Taschentuch um den unteren Teil des Gesichtes als hätte sie Zahnschmerzen.“401

Während Wegener-Thomsen seine Tante anfangs als schüchtern und menschen402 scheu beschreibt, zeichnet er später eine Entwicklung hin zur Koketterie nach. Dabei erscheint Elvenes’ Interesse an Männern, deren Blicke ihr ein wohliges Un403 behagen bereiten würden, enorm. Diesen bereits für Kreutz spezifizierten männlichen Blick nimmt der Text auf, um Lili im heteronormativen Gefüge zu verorten und ihr einen sichereren Zugang zum öffentlichen Raum zu verschaffen: „Eines Tages, als Inger und sie über den Rathausplatz gingen, trafen sie ein paar Herren, die Andreas’ Studienkameraden gewesen waren. Nicht nur zeigten sie [die Studienkameraden] kein Zeichen des Wiedererkennens, aber sie [Inger und Lili] hörten den einen zum anderen flüstern: ‚Du, da waren ein paar kesse Beine!‘ Das waren Lilis Beine und sie jubelte, nicht wegen des Kompliments, sondern weil sie sich nun ganz sicher fühlte.“404

399 Vgl. Wegener-Thomsen an Harthern, 15.06.1931, S. 8 (Eintrag vom 23.08.). 400 „at ‚skønhed er en kvindes existens [sic] berettigelse‘!!“, ebd., S. 10 (Eintrag vom 18.09.). 401 „Når vi skal gå en tur, spørger hun, om man kan ‚se noget‘. – I betragtning af den enorme mængde ‚kosmetik‘ anvendt, - er dette som regel umuligt. – Svarer jeg benægtende – tror hun mig ikke – men binder et silkelommetørklæde om underansigtet, som havde hun tandpine.“, ibid. 402 Vgl. ebd., S. 10f.; anfangs merkt Wegener-Thomsen in seinen Beschreibungen an, dass er den unteren Teil des Gesichts als Problemzone sehe, da dieser doch sehr maskulin wirke, während die Augen sowie ihre ganze Psyche und menschliche Atmosphäre vollendet feminin seien, vgl. ebd., S. 3f. 403 Vgl. ebd., S. 11. 404 „En Dag, da Inger og hun kom gaaende over Raadhuspladsen, mødte de et Par Herrer, der havde været Andreas’ Studiekammerater. Ikke blot viste de ikke Tegn paa Genkendelse, men de hørte den ene hviske til den anden: ‚Der var et Par flotte Ben, du!‘ Det var Lilis Ben, og hun jublede, ikke for Komplimentens Skyld, men fordi hun nu følte sig ganske sikker.“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 150; Caughie verweist an dieser Stelle darauf, dass Lilis Beine bereits im Atelier eine geschlechtsspezifische Rolle spielten

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Als würde der männliche Blick als Schlüssel dienen, überwindet Lili ihre anfängliche Krise nach der Ankunft in Kopenhagen. Dieser Moment lässt sie einerseits aus dem ungeliebten Phänomen-Schaukasten heraustreten und macht sie dadurch mehrheitsgesellschaftsfähig, anderseits eröffnet es ihr den Zugang zu einem Kontext, in dem sie Begehrensobjekt werden kann. Das auf sie gerichtete Begehren stört nun weder die heteronormative Ordnung, noch kann es zum Ziel ‚devianter Lust‘ werden, denn der erotisierende Gedanke ist narrativ von einem eindeutig männlichen auf ein eindeutig weibliches Individuum gerichtet. Heede verfolgt bezüglich der Verschränkung von Lilis Existenz mit dem ‚männlichen Blick‘ eine engführende Argumentation, indem er konstatiert, dass „Lili zuallererst als Sexualobjekt exi405 stiert.“ Die Verschiebung der Protagonistin auf einen dezidierten Objektstatus in puncto Sexualität sehe ich kritisch, denn eine sexuelle Subjektivität Lilis – wenn auch allegorisch – wird in Fra Mand til Kvinde durchaus erzählt. Um die Untertöne einer eigenen sexuellen Identität zulassen zu können, bedarf es zunächst sowohl Lilis persönlicher als auch administrativer Abgrenzung von Andreas und dessen Lebenslauf. In diesem Zusammenhang kristallisieren sich eine Reihe miteinander verschränkter Markierungen heraus, die es nun narrativ zu justieren gilt. Neben dem Namen, der Nationalität und dem Alter sind dies auch der Familienstand und die daran geknüpfte Möglichkeit, ein eigenständiges Begehren zuzulassen. Abgrenzung bedeutet für Lili dabei weder die Auslöschung von Andreas’ Vergangenheit noch die Übernahme seines Erbes. Dementsprechend genügt es ihren Vorstellungen kaum, dass Andreas’ Name aus dem Kirchenregister gestrichen und durch ihren ersetzt wird. Lili lehnt es ab, Andreas’ Geburtsdatum zu überneh406 men, da dieses eine Hürde für ihre weitere Existenz darstelle – ein Problem, mit dem sie sich an einen Juristen wendet, um deutlich zu machen, wie entscheidend ihr individuelles Alter für ein zukünftiges Leben sei: „Sie dürfen nicht vergessen, dass jedes Mal, wenn ich in einem Hotel einchecke, jedes Mal, wenn es eine Volkszählung gibt oder wenn ich eine Anstellung suche oder mich verheiraten will – immer muss ich die Frage nach meinem Alter beantworten. In meinem Pass, in allen meinen Legitimationspapieren steht ein Alter, das nicht das meine ist.“407

und stellt diese ‚Neuentdeckung‘ in Frage, doch auch in diesem Zusammenhang erscheint mir der räumliche Kontext entscheidend, vgl. Caughie 2013, S. 511. 405 „Lili eksisterer først og fremmest som seksualobjekt.“, Heede 2003, S. 33; vgl. Heede 2004, S. 118. 406 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 156ff. 407 „De maa ikke glemme, at hver Gang, jeg tager ind paa et Hotel, hver Gang, der er en Folketælling, eller hvis jeg søger en Stilling eller vil gifte mig – altid maa jeg besvare

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Dem Vorschlag des Juristen, das Alter ebenso wie das übrige Erbe von Andreas anzuerkennen, steht Lili protestierend gegenüber, da dies sowohl auf der persönlichen als auch der administrativen Ebene ihren Abgrenzungsbestrebungen nicht entspricht – sowohl Andreas’ Andenken als auch ihre eigene Existenz würden so untergra408 ben. Um den Affront zu unterstreichen, verweist sie in diesem Zusammenhang nochmals auf die eklatanten Bedeutungs- und Wesensunterschiede zwischen beiden Individuen: „Meine Nächsten, also Andreas’ Verwandte, erzählen mir täglich, wie wesensverschieden ich von ihm bin, wie völlig anders Andreas in seiner Art zu sein 409 war.“ Wegener-Thomsen zeichnet unterdessen ein differenzierteres Bild sowohl des Wesens als auch des Alters der historischen Lili Elvenes: „Psychisch, als Frau, hat sie zwei Alter. – Wenn sie das Wissen, das Einar hatte, nutzen kann – und das von seinem Charakter, was allgemeinmenschlich ist – ist sie eine gutmütige, kluge und witzige Frau – gut in den Vierzigern! – Aber wenn sie über ‚Männer‘ oder ‚Kleider‘ redet – ist sie ein albernes Mädchen von sechzehn.“410

Die vermeintlich an Einar erinnernde Seite findet jedoch in der narrativen Zeichnung keinen Eingang, da sie die Abgrenzungsbemühungen unterwandern würde. Lilis Existenz hängt an jenem Mädchen, das sich mit den Privilegien der Jugend ein neues Leben aufbauen will. So hätte es ihrem Wunsch entsprochen, dass Andreas mit dem Eintrag im Kirchenregister seine dänische Vergangenheit hätte behalten können, während sie selbst einen Nansen-Pass begehrt, der ihr biologisches Alter 411 führt.

Spørgsmaalet om min Alder. Paa mit Pas, paa alle mine Legitimationspapirer staar der en Alder, som er ikke min.“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 157. 408 Vgl. ebd., S. 157f.; Armstrong beschreibt diese absolute Abgrenzung mit dem Bedürfnis, das Gegenstück zu Andreas („Andreas’s ‚other‘“) sein zu wollen, Armstrong 1998, S. 175. 409 „Mine nærmeste, det vil sige Andreas’ Slægtninge, fortæller mig daglig, hvor væsensforskellig jeg er fra ham, hvor helt anderledes Andreas var i sin Maade at være paa.“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 158. 410 „Psykisk – som kvinde, har hun to aldre. – Når hun kan bruge den viden som Einar havde – og det af hans karakter, – der er almenmenneskeligt – er hun en godmodig, klog og vittige kvinde – godt op i fyrrene! – Men når hun taler om ‚mænd‘ eller ‚klæder‘, – er hun en pjanket pige på sejsten [sic]!“, Wegener-Thomsen an Harthern, 15.06.1931, S. 15 (Eintrag vom 06.10.). 411 An dieser Stelle wird das bereits bei Andreas oszillierende Verhältnis zur eigenen Nationalität aufgegriffen, vgl. 3.2.2; bei dem von Fridthjof Nansen konzipierten und 1922 eingeführten Pass handelt es sich um ein Identitätsdokument für staatenlose Flüchtlinge

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Gemeinsam mit der bereits für ungültig erklärten Ehe hätte dieses adäquate Alter auch Lilis jungfräulichen Status unterstreichen sollen. Letztendlich ist es jedoch 412 die durch eine königliche Resolution annullierte Ehe und die damit verbundene Abgrenzung von Grete, die diesen Status im Text herausstellt. Durch die Annullierung wird die Beziehung der beiden Sparres nicht nur administrativ für nicht existent erklärt, sondern gleichzeitig rückwirkend entsexualisiert. Diese Strategie lässt sich auch auf allen historischen Diskursebenen nachvollziehen. Sie wird sowohl von der Medizin, der Justiz als auch der Presse als Legitimationsinstrument einge413 414 setzt und in der Dokumentation von Wegener-Thomsen bestätigt. Allatini hingegen betont eine Verliebtheit des Paares, verortet die Zärtlichkeiten auf Grund der vermeintlich inadäquaten genitalen Ausstattung Einars jedoch nicht in einem sexu415 ellen Rahmen. Dabei ist das zeitgenössische Verständnis von Sexualität sehr bedeutsam: Erotische Spielarten jenseits der Penetration werden nicht als sexueller Akt im eigentlichen Sinne verstanden. Nichtsdestotrotz werden narrativ Implikationen in diese Richtung vermieden, um das heteronormative Gefüge nicht ins Wanken zu bringen. Paradoxerweise hätte der virile Andreas Sparre demnach überhaupt keine Sexualität gelebt – auch sie wird der Jungfräulichkeit Lilis geopfert. Die Befreiung des Textes von jeglichen Konnotationen dieser Art unterliegt somit einer bestimmten Programmatik, deren Paradoxie durch eine Ergänzung in Ein Mensch wechselt sein Geschlecht noch deutlicher zu Tage tritt: „Wäre die Natur zusammen mit der Kunst meines Professors mir nicht zu Hilfe gekommen, so daß ich von diesem Gefühlsleben Andreas', von seinen erotischen Sensationen, die er durch Frauen erlebt hat, in meinem Blute und in meinem Herzen nichts mehr f ü h l e , so

und Emigranten, vgl. Stiller, Martin: Eine Völkerrechtsgeschichte der Staatenlosigkeit. Dargestellt anhand ausgewählter Beispiele aus Europa, Russland und den USA, Wien 2011, S. 108ff.; mehr zu den zeitgenössischen Vorstellungen zum biologischen Alter in 4.1.5 und 4.3.2. 412 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 144; Wegener-Thomsen datiert die historische Eheauflösung auf den 6.10.1930, vgl. Wegener-Thomsen an Harthern, 15.06.1931, S. 13 (Eintrag vom 06.10.); mehr zum rechtlichen und administrativen Ablauf der Eheauflösung in 5.2.3. 413 Vgl. dazu 3.3.2 (Presse), 4.3.2 (Medizin) und 5.2.3 (Rechtssprechung). 414 „Er und Gerda waren ja nie so verheiratet: waren nur gute Kameraden und haben sich gegenseitig unterstützt“ („Han og Gerda havde jo aldrig sådan været gift: kun været gode kammerater of suppleret hinanden.“), Wegener-Thomsen an Harthern, 15.06.1931, S. 4 (Eintrag vom 16.08.). 415 Vgl. Allatini 1939, S. 211f.

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würde ich als Frau durch dieses Fühlen fremder Geschlechtserotik mich [sic] wie geschändet, mich [sic] beschmutzt vorkommen.“416

Der Jungfräulichkeit Lilis kommt ein universeller Wert zu. In Fra Mand til Kvinde erlaubt deren Manifestation das Überwinden einer Krise sowie eine körperliche Entwicklung, die als Entdeckung einer eigenständigen Sexualität gelesen werden 417 kann: „Auf diese Art und Weise erwachte ein ganz neues Gefühlsleben in mir.“ Jedoch quält Lili angesichts der Verliebtheit von Grete und Ferruzzi der Gedanke, nie eine Erfüllung dafür finden zu können, so dass sich jenes Gefühl mitunter in Leere und Schmerz verwandelt: „Sie konnte dieses Gefühl nicht richtig erklären und es war auch so, als ob sie zurückwich, als ob sie es nicht wagte, an jenes Unbekannte zu denken, das sich in ihr rührte. Es begann Frühling zu werden. Der Garten rund um das Haus, wo sie ihre kleinen Giebelzimmer hatte, erhielt seinen ersten grünen Schimmer und Lili spürte, wie auch ihr eigener Körper begann aufzublühen. Aber sie fühlte gleichzeitig, dass da in ihr etwas war, das drängte und hinauswollte …… etwas, dass sie weder benennen konnte noch zu benennen wagte.“418

Die Verwirrung über ihre Gefühlsregungen versucht Lili zunächst durch emsige Arbeit an ihren Niederschriften sowie die Hingabe zur Hand- und Hausarbeit zu verdrängen, um sich somit ihre jungfräuliche Keuschheit zu bewahren – eine Eigenschaft, die Wegener-Thomsen anfänglich auch Elvenes attestiert, die zu seinem Be419 dauern jedoch bald völlig verschwindet. Narrativ wird diese Strategie aus sowohl moralischen als auch geschlechtsstabilisierenden Gründen aufrechterhalten. So ist Claude, der Lili im späten Frühjahr in Kopenhagen besucht, zunächst darauf bedacht, sie nicht zu kompromittieren. Doch seine bloße Anwesenheit erweckt in Lilis 420 Innerem dieses „süße und dunkle Geheimnis“, das sie immer noch nicht zu artikulieren vermag. Doch Claude, der glaubt, dass Lili einen Menschen braucht, der

416 Elbe 1932, S. 242f. 417 „Paa denne Maade vaagnede et helt nyt Følelsesliv i mig.“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 155. 418 „Hun kunde ikke rigtig forklare denne Følelse, og det var ogsaa, som om hun veg tilbage, som om hun ikke turde tænke paa dette ukendte, der rørte sig i hende. Det begyndte at blive Foraar. Haven omkring Huset, hvor hun havde sine smaa Gavlværelser, fik sit første grønne Skær, og Lili følte, hvorledes ogsaa hendes eget Legeme begyndte at blomstre op. Men hun følte samtidig, at der inde i hende var noget, der pressede paa og vilde frem ...... noget, som hun ikke kunde og ikke turde give Navn.“, ebd., S. 167. 419 Vgl. Wegener-Thomsen an Harthern, 15.06.1931, S. 17 (Post Scriptum). 420 „en sød og dunkel Hemmelighed“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 170.

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ihr in diesen Belangen sowohl Mutter als Mann sein kann, gibt Lili mit einem Heiratsantrag die Möglichkeit, sich ihrem ‚ersten Kuss‘ hinzugeben. Zwar durchströmt 421 sie dabei ein Reigen erschreckend schöner Gefühle, doch lehnt Lili das Angebot von Claude – im Glauben, sich nicht ohne das Einverständnis von Kreutz vermählen zu dürfen – vorerst ab. Sie bittet ihren Verehrer abzureisen und solange auf sie zu warten, bis ihr diese unbekannten Gefühlsregungen vertrauter werden und sie 422 sich des Segens ihres Dresdner Schöpfers gewiss sein kann. Inwieweit Lilis letzte Reise mit der Hoffnung, ihre Sexualität ausleben zu können, verbunden ist, wird im Text nur unterschwellig deutlich. Denn abschließend erweisen sich diese Bemühungen lediglich als Vorbereitung für den ultimativen Weiblichkeitsbeweis. Zurück in Dresden bittet Lili Kreutz ein letztes Mal um ärztliche Hilfe: „Sagen Sie mir, Herr Professor, glauben Sie, das ich nun stark genug bin für die letzte Operation? Ich möchte so gerne ein kleines Kind 423 bekommen.“ Der Wunsch nach dem finalen Eingriff wird über die moralischen Instanzen von Ehe und Reproduktion motiviert und somit von rein sexuellen Konnotationen narrativ entkoppelt. Die auf medizinisch-technologischer Ebene sparsame Erzählweise von Fra Mand til Kvinde wird dabei durch einen ab der deutschen Ausgabe eingefügten Epilog-Brief erweitert, welcher die folgende Operation als 424 Herstellung eines „natürlichen Auslauf[s] von der Gebärmutter“, also die Konstruktion des Vaginalkanals, beschreibt. Während die Funktionalität dieses Geschlechtsorgans sowohl der Sexualität als auch der Reproduktion dient, wird dessen Implantation auch in den Zusätzen der deutschen Ausgabe primär an eine potentielle Mutterschaft geknüpft. Elvenes’ Korrespondenz aus dieser Zeit spricht eine andere Sprache. So lassen sich weder eine bevorstehende Ehe noch der Reproduktionswunsch nachvollziehen. In Briefen an Maria Garland, Hartherns Ehefrau, äußert sie sich zur Bedeutung der bevorstehenden Operation, „ohne welche [sie] nie ganz gesund werde, weder phy425 sisch noch moralisch“ und macht deutlich, welchem Zweck diese diene: „Wenn ich jetzt gut davonkomme, kann ich mich verheiraten, falls mich jemand haben

421 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 172. 422 Vgl. ebd., S. 175. 423 „Sig mig, Hr. Professor, tror De, jeg nu er stærk nok til den sidste Operation? Jeg vilde saa gerne kunne faa et lille Barn.“, ebd., S. 179; hier lässt sich Armstrongs Argumentation bezüglich des Ödipuskomplexes fortsetzen, da Freud im Wunsch nach dem Kind die Ablösung vom Wunsch nach dem Phallus sieht, vgl. Freud 1924, S. 168. 424 Elbe 1932, S. 248. 425 „uden hvilken jeg aldrig bliver helt rask, hverken fysisk eller moralsk.“, Elbe an Garland, 16.06.1931, S. 2.

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will.“ Die Möglichkeit, eine Ehe vollziehen zu können, erscheint somit als das zentrale Anliegen des letzten Eingriffs. Die Hinwendung zur Mutterschaft im literarischen Bekenntnis hingegen ergibt sich auch aus dem religiösen Erzählstrang des Textes, der nun in Bezug auf Zweck und Ort der Sexualität – in der Ehe und ausschließlich der Reproduktion dienend – weitergeführt wird. Als Lili sich im brieflichen Ausklang von Fra Mand til Kvinde nach der letzten 427 Operation komplett und „wie alle anderen Frauen“ fühlt, wird nicht deutlich, ob sie dies primär auf ihre sexuelle Funktionalität oder auf ihre Gebärfähigkeit bezieht – eine interpretatorische Projektionsfläche, die in Ein Mensch wechselt sein Geschlecht jedoch beseitigt wird. Die ergänzenden Briefpassagen erklären die Mutterschaft in unzähligen Wiederholungen zum finalen Wunsch und zum „eindeutigsten 428 Wahrheitsbeweis […], Weib von Anbeginn gewesen zu sein.“ Heede liest hierin die Kulmination von Lilis Erwachsenwerden, da Weiblichkeit und Reproduktion 429 untrennbar miteinander verwoben werden. Die Mutterschaft wird ab der deutschen Ausgabe als Entdecken der eigenen schöpferischen Kraft inszeniert, in der sich sowohl die Unabhängigkeit von Andreas als auch die eigene Identität manifestieren: „Nicht mit meinem Gehirn, nicht mit meinen Augen, nicht mit meinen Händen möchte ich schöpferisch sein. Mit meinem Herzen, mit meinem Blut will ich es sein. Dies ist das inbrünstige Verlangen meines Frauenlebens: Mutter eines Kindes 430 zu werden!“ Runte knüpft hieran einen Exkurs zu nationalsozialistischen Ideologemen, wenn sie Lili in diesem Zusammenhang zumindest eine verbale Nähe zu 431 den „vitalistischen Tönen des ‚Blut & Boden‘-Diskurses“ unterstellt. Sicher verführen sowohl der zeitgeschichtliche Kontext als auch die Identifikation, die Lili 432 mit Deutschland aufbaut, zu solchen Assoziationen. Meines Erachtens fußen jedoch auch die im Text deutlich werdenden Reproduktionswünsche sowie das Bedürfnis nach einer nationalen Zugehörigkeit mehr auf der Suche nach einer eigenständigen Identität denn auf einer gesellschaftlich zunehmend an Bedeutung gewinnenden nationalsozialistischen Ideologie.

426 „Naar jeg nu kommer godt fra det kan jeg gifte mig om nogen vil have mig.“, Elbe an Garland, 24.07.1931. 427 „som alle andre Kvinder.“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 181. 428 Elbe 1932, S. 241. 429 Vgl. Heede 2012a, S. 14. u. S. 19; Heede stellt in seinem Beitrag die Reproduktion als entscheidenden Unterschied zwischen Trans*- und Cis*-Individuen dar – als „letzte Grenze“, vgl. ebd., S. 13. 430 Elbe 1932, S. 245. 431 Runte 1996, S. 365. 432 Auch Stone und Heede gehen dieser Interpretationslinie nach, vgl. Stone 2006, S. 226; vgl. Heede 2012b, S. 196.

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3.2.6 Ein Brückenschlag zur eigenen Erfahrungswelt Fra Mand til Kvinde scheint sich zunächst an normativen und binären Konstruktionen zu orientieren und eine dementsprechende Lesart zu forcieren, doch insbesondere zum Ende hin erschafft der Text Räume, in denen Alterität darstellbar und entsprechende Abhängigkeitsverhältnisse sichtbar werden. In Anbetracht dieser Räume möchte ich sowohl Stones These, dass der Text in 433 Bezug auf Geschlecht keine Zwischenräume zuließe, als auch Heedes Behauptung, dass Lili gerade deshalb zu einer Projektionsfläche werde, weil ihre Charak434 terzeichnung so konturlos sei, widersprechen. Was Heede als Konturlosigkeit beschreibt, identifiziert Steinbock als eine fehlende Artikulationsmöglichkeit zur eigenen Subjektivität. Sie greift dabei die Textstelle auf, in der Andreas seine eigene Erfahrungswelt nicht mehr in den ihm bekannten literarischen Diskursen abge435 bildet sieht, also jenen Moment, in dem der fehlenden Repräsentation der eigenen 436 Subjektivität erstmals ein narrativer Ausdruck verliehen wird. Aus der Identifikation dieser deskriptiven Leerstelle entwickelt sich der offensichtliche Konflikt der Protagonistin zwischen einer Integration in die Kategorien, die das gesellschaftliche Gefüge bereitstellt und der Suche nach einem Ausdruck für die eigene Subjektivität. Im Universum von Fra Mand til Kvinde führt dieser Weg zunächst zu einer vermeintlichen Assimilation in den binär strukturierten gesellschaftlichen Normenkontext, wobei auch vor gewaltsamen Abgrenzungen von diesbezüglich als ‚abnorm‘ eingeordneten Subjekten nicht zurückgeschreckt 437 wird. Während die Bestätigungsmomente einer nahtlosen Integration permanent aufgerufen werden, signalisiert der Text gleichzeitig, dass sich die Einbettung in ein normatives Gefüge für die Protagonistin weder von innen noch von außen reibungslos gestaltet. Binär organisierte Normierungen und die eigene alteritäre Erfahrung stehen somit in Opposition zueinander. Diese Integrationsherausforderung wird angesichts der Geschlechterdichotomie besonders deutlich: Die textuellen Strategien scheinen zwischen deren Aufrechterhaltung und Dekonstruktion zu changieren. Obwohl in Bezug auf Lili mit einem rigorosen Abgrenzungsverhalten die duale Geschlechterseparation häufig forciert

433 „There is no territory in between.“, Stone 2006, S. 225; Caughie vertritt eine ähnliche These und beklagt, dass eine Verschmelzung der Geschlechter im Narrativ nicht deutlich wird, vgl. Caughie 2013, S. 508 u. S. 510. 434 Vgl. Heede 2012b, S. 180. 435 Vgl. 3.2.3. 436 Vgl. Steinbock 2012, S. 171. 437 Runte spricht hier von einer „apologetischen Defensive“, in der das Ausgegrenztwerden der Selbstabgrenzung entspricht, Runte 1996, S. 297.

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wird, bietet der Text schon im Rahmen der ersten Zugfahrt nach Dresden mit der Metapher der ‚Brücke‘ kurzfristig eine integrative Lösung des Konfliktes an. Zunächst verworfen, wird dieser Möglichkeitsraum zum Ende des Textes hin explizit aufgegriffen, um die Erfahrungswelt der Protagonistin beschreibbar zu ma438 chen. Dabei entsteht der Eindruck, dass Empathie für die eigene Alterität sowie die Alterität anderer erst aus einer narrativen Stabilisierung und ‚Normalisierung‘ erwachsen könne. So entdeckt Lili im Laufe ihres abschließenden Schreib- und Beichtprozesses, dass sie dabei ist, eine Brücke zu bauen, die über jene normalisierten Erfahrungshorizonte hinausgeht, denen sie sich bis dahin zu unterwerfen sucht: „Aber das ist keine normale Brücke. Am einen Ufer stehe ich …… das ist die Gegenwart und dort habe ich den ersten Pfeiler gesetzt. Und von diesem Ufer werde ich meine Brücke bauen, frei schwebend hoch in der Luft hinüber zum anderen Ufer, welches ich oft gar nicht oder nur undeutlich wie in einem Nebel sehe. […] Und so weiß ich nicht, ob dieses Ufer die Vergangenheit oder die Zukunft symbolisiert.“439

Während Lilis Brücke zunächst Offenheit symbolisiert, verankert der deutsche Freund, welcher ihr bei der Erarbeitung des Textes hilft, das andere Ende in der Vergangenheit und suggeriert ihr damit, dass sie als erste und einzige eine Brücke über den Abgrund, der Mann und Frau trenne, gebaut habe: „In Ihnen schlummert 440 die unbekannte Gefühlsverbindung zwischen den zwei Geschlechtern.“ Ein Gedanke, den Lili freudig aufnimmt, bevor sie das letzte Mal bewusst jenes Bauwerk über die Elbe mit dem Zug passiert, welches Pate für dieses metaphorische Bild 441 steht. Nicht ohne Grund ist es gerade diese Brücke, denn sie quert den Fluss, der 442 namensgebend für die Protagonistin ist. Die narrative Funktion dieser Namens443 gebung geht somit über die in der Forschung konstatierte soziale Verankerung,

438 Vgl. Heede 2012b, S. 184f. u. S. 197; für Caughie, die den Überbrückungsgedanken später aufgreift, symbolisiert diese Metapher zunächst eine Einbahnstraße von Mann zu Frau, vgl. Caughie 2013, S. 513 u. S. 515ff. 439 „Men det er ikke nogen almindelig Bro. Paa den ene Bred staar jeg ...... Det er Nutiden, og dèr har jeg rammet de første Pæle ned. Og fra denne Bred skal jeg bygge min Bro, frit svævende ud i Luften over mod den anden Bred, som jeg ofte slet ikke og ellers kun skimter som i en Taage. [...] Og saa ved jeg ikke, om denne Bred betyder Fortiden eller Fremtiden.“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 161. 440 „I Dem slumrer den ukendte Følelsesforbindelse mellem de to Køn.“, ebd., S. 169. 441 Vgl. ebd., S. 177f. 442 Inwieweit ‚Elbe‘ eine Rolle bei der Namenswahl der historischen Person Lili Elvenes spielt, werde ich in 5.2.1 ausführen. 443 Vgl. Ritzau/Hertoft 1984, S. 84; vgl. Ritzau 1984, S. 7.

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mimetische Affinität und Rubikon-Metaphorik hinaus, denn nun versinnbildlichen sowohl der Name als auch die geographische Entität der ‚Elbe‘ das Fließen zwischen den beiden Ufern, zwischen den beiden Geschlechtern. Der Name der Protagonistin wird mit Hilfe der Brücken-Metapher zum Zeichen ihrer Alterität. Subtextuell setzt diese erneute Ankunft in Dresden, wenn auch vordergründig dem Weiblichkeitsideal der Mutterschaft geschuldet, das geschlechtliche Selbstverständnis in eine differenziertere Relation zum mehrheitsgesellschaftlichen Normenkonstrukt. So konstatiert Lili in den angefügten Briefausschnitten, dass ihr die Pflicht, andere aufzuklären, immer deutlicher wird: „Mir wird immer klarer, dass es meine moralische Pflicht ist, meine Beichte unter die Menschen zu bringen, um sie 446 zu lehren, nicht zu urteilen ……“ Eine Einsicht, die sich aus ihren eigenen Erfahrungen speist und in einer textuellen Revolte resultiert, die in ihrer Stoßrichtung erst durch die Ergänzungen in Ein Mensch wechselt sein Geschlecht umfassend deutlich wird: „Ich kämpfe gegen die Voreingenommenheit des Spießbürgers, der in mir ein 447 Phänomen, eine Abnormität sucht.“ Jener Spießbürger figuriert jedoch nicht als eine universelle Erscheinung, sondern schlägt sich explizit in dem Bild nieder, das von den Dänen gezeichnet wird, welchen „nur das Landläufige, Alltägliche, Unkomplizierte – sie nennen es ‚das Gesunde‘, ‚das Normale‘ – liegt, weil es das Bequemste ist, und meine Landsleute 448 sind geistig, und nicht nur geistig – unerhört bequem!“ Dass diese unreflektiert erscheinenden antidänischen Ressentiments nicht in Fra Mand til Kvinde auftauchen, überrascht kaum. Die narrativen Ursprünge dieser Ressentiments gehen jedoch über den nationalen Bezug zu Dänemark hinaus. Lilis Idealisierung der deutschen Gesellschaft, welche zu oben erwähnten nationalsozialistischen Assoziationen in der Forschung führt, manifestiert sich in erster Linie über die Abgrenzung von Dänemark und die Fokussierung auf Kreutz. Die Funktionalität dieser Idealisierung ist jedoch nur gegeben, weil sich Lili im Deutschen Reich fast ausschließlich in spezifisch geschützten Kontexten bewegt und mit der deutschen Mehrheitsgesellschaft so gut wie keinen Kontakt hat – nur so kann der Unterschied zu der von ihr erlebten dänischen Wirklichkeit so eklatant zu Tage treten. Auch darf die politisch-ökonomische Lage, der sich Hoyer und der Carl Reissner Verlag bei der Herausgabe ausgesetzt sehen, nicht unterschätzt werden.

444 Vgl. Steinbock 2009, S. 147. 445 Vgl. Armstrong 1998, S. 172. 446 „Jeg bliver mere og mere klar over, at det er min moralske Pligt at lade mit Skriftemaal komme ud mellem Menneskene for at lære dem ikke at dømme ......“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 180. 447 Elbe 1932, S. 243. 448 Ebd., S. 242.

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Ein Mensch wechselt sein Geschlecht kommt fast parallel zu den Reichstagswahlen 449 im November 1932 auf den Markt und während schon die thematische Aufstellung des Buches in dieser politisch turbulenten Phase ein Risiko darstellt, hätten antideutsche Ressentiments dessen Überleben auf dem Buchmarkt auf sowohl öko450 nomischer als auch politischer Ebene zusätzlich gefährdet. Demzufolge konzentrieren sich das universelle Feindbild sowie die darin implizierte Ablehnung und das Unverständnis gegenüber der Protagonistin auf Dänemark. Im Angesicht des nahenden Todes nach dem letzten operativen Eingriff wird Lilis Überleben als Beweis der eigenen Daseinsberechtigung stilisiert, um so ihre Subjektivität gegenüber diesen unterdrückenden Kräften zu verteidigen: „Wie ich jetzt bin, so bin ich eine ganz gewöhnliche Frau unter Frauen. Der Zweifel des Spießers oder besser ausgedrückt, der allzu bequemen Mitmenschen, die nur das Alltägliche als das Allein-Lebensberechtigte anerkennen, die mich und mein Schicksal mit Sensation umkleiden, bedrückt mich aber oft so stark, daß ich manchmal wünsche, sterben zu dürfen, tot zu sein, den Freitod zu suchen. Aber der Lebenswille in mir ist stärker als jede Demütigung, die ich von meinen Mitmenschen erfahren habe, vielleicht noch weiter erfahren werde. […] Würde ich psychisch unterliegen, den Freitod suchen, so hätten ja alle die Leute das Recht auf ihrer Seite, indem sie behaupten: das, was mit mir geschehen, sei wider die Natur geschehen, sei ein Vermessen des Unnatürlichen, des Künstlichen gegen das Natürliche, die Natur; ein Wesen, das als Zwitter geboren, habe Zwitter zu bleiben, zumal es ein Menschenleben lang als Zwitter gelebt habe. […] Daß aber ich, Lili, lebensfähig, lebensberechtigt bin, habe ich durch mein Leben seit 14 Monaten bewiesen. Diese 14 Monate seien nicht viel? Mir erscheinen sie als ein ganzes und glückvolles Menschenleben. Der Preis, den ich gezahlt habe, erscheint mir gering.“451

Schlussendlich stellt sich Lilis ambivalentes Verhältnis zur ‚Normalität‘ als die Suche nach einem Platz in der Gesellschaft dar, welcher sowohl prä- als auch postoperativ schwer zu finden scheint. Dieses Verhältnis ist gekennzeichnet von einem Kampf gegen Ungerechtigkeiten und Verleumdungen, mit denen, so Allatini, auch

449 Die NSDAP wird bei den Reichstagswahlen am 6. November 1932 trotz der Verluste im Vergleich zum Juli 1932 mit 33,1% wieder deutlich stärkste politische Kraft – ein Wahlergebnis, auf dessen Grundlage nach der kurzen Regierungszeit von Kurt von Schleicher am 30. Januar 1933 die Machtübertragung an Hitler erfolgt. 450 Dem Buch ist auf dem deutschen Markt kein ökonomischer Erfolg beschert – eine Tatsache, die Hoyer mit den politischen Umständen begründet, vgl. Hoyer an Wegener, 04.01.1933, S. 2.; vgl. Abrechnung für Herrn Niels Hoyer Kopenhagen über das Werk Lili Elbe ein Mensch wechselt sein Geschlecht im ersten Semester 1933, EHA. 451 Elbe 1932, S. 243f.

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Elvenes zu kämpfen hat, sowie einem Wunsch nach Akzeptanz und Integration. So verdoppeln sich die Konnotationen von ‚Normalität‘ in diesem Textabschnitt. Wenn Lili davon spricht, eine ‚normale‘ Frau zu sein, dann bedeutet das für sie, ein Mensch zu sein, der das Recht hat, mit dem angemessenen Respekt von außen in seiner Identität leben zu können. Wenn sie jedoch von der feindlichen ‚Normalität‘ spricht, meint sie das Ausgrenzungsregime einer Gesellschaft, die sie nicht als integralen Teil anerkennen will. Paradoxerweise muss sie sich also die Assimilation in die Mehrheitsgesellschaft wünschen, um vor genau dieser geschützt zu sein. Auf diese Weise werden normative Werte von der Protagonistin nicht einfach übernommen: Lilis Verhältnis zum öffentlichen Raum und seinen Kategorisierungen bleibt ein gespaltenes. Einerseits ist sie dieser Sphäre ausgesetzt, andererseits macht sie sich diese zu Nutze, soweit die Möglichkeiten es zulassen.

3.3 D IE P RESSE ALS ZEITGENÖSSISCHES M EDIUM DER M EINUNGS ( AB ) BILDUNG Die Debatten und sich daran anschließenden Normierungen einer Mehrheitsgesellschaft sind stark mit medizinischen sowie rechtlichen Diskursen verquickt, welche eine öffentliche Meinungsbildung prägen und forcieren. Dementsprechend wird das in Ein Mensch wechselt sein Geschlecht abschließend aufgebaute Feindbild des Spießbürgertums auch durch diese im Text nur eingeschränkt verdeutlichten diskursiven Bereiche gespeist. Die daraus erwachsenen Konstruktionen von Geschlecht und Sexualität werden in Fra Mand til Kvinde jedoch überaus deutlich: von vielen 453 Forschern als stereotyp und klischeehaft beschrieben, zeichnen sie sich durch die dualistische Gegenüberstellung von Frau und Mann, von ‚gesunder‘ eindeutiger Geschlechtlichkeit und ‚kranker‘ körperlicher Alterität sowie von ‚regulärer‘ Heterosexualität und ‚devianter‘ Homosexualität aus. Diese Darstellung miteinander 454 verschränkter dichotomer Strukturen, in denen die Protagonistin permanent nach einer Verankerung sucht, können auch als Referenz zu den zeitgenössischen gesell455 schaftlichen Milieus gelesen werden, in denen sich Lili Elvenes bewegt. In Fra Mand til Kvinde wird die Atmosphäre in Kopenhagen einführend als eine 456 der „Oberflächlichkeit, Verantwortungslosigkeit und Scheidungen“ beschrieben und als Grund für die frühe Abkehr der Sparres von der dänischen Hauptstadt ange-

452 Vgl. Allatini 1939, S. 219. 453 Vgl. Heede 2003, S. 21; vgl. Rosenbeck 1997, S. 47f.; vgl. Stone 2006, S. 227. 454 Vgl. Heede 2004, S. 110. 455 Vgl. 1.1.1. 456 „Overfladiskhed, Ansvarsløshed og Skilsmisser“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 12.

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führt. Heede konstatiert für diese Stelle einen logischen Zusammenbruch des Tex457 tes, da er einen Widerspruch zu Lilis späterer Charakterzeichnung darstelle. Gleichzeitig präsentiert sich diese Beschreibung als Kontrast zu den zeitgenössischen Vorstellungen von Paris und zur Ansiedelung des normativen Spießbürgers in einem dezidiert dänischen Milieu. So scheint es, als ob Vorstellungen von moralischen sowie freiheitlichen Räumen neu lokalisiert und erzählt würden, um die Protagonistin durchgehend auf der vermeintlich sittlichen Seite darstellen zu können. Diese teilweise paradox erscheinenden Neupositionierungen illustrieren die Schwierigkeiten, sich als alteritäres Subjekt im gesellschaftlichen Kontext zu verorten. Die in sich verbundenen abgrenzenden und integrativen Bemühungen münden so zwangsläufig oft in erzählerischen Sackgassen, welche der Text nicht immer aufzulösen vermag. Doch genau an diesen Stellen, so meine These, eröffnen sich referentielle Schnittstellen, die auf zeitgenössische gesellschaftliche Gegebenheiten verweisen. Die physische Einheit von Andreas und Lili wird als ein nichtnormativer Körper beschrieben, also eine Erscheinung, die im gesellschaftlichen Gefüge weder anerkannt noch verankert ist. Gleichzeitig wird diesem Körper per se eine ‚sexuelle Devianz‘ attestiert, da die normierte Form der Sexualität heterosexuell und dementsprechend als Begehren zwischen eindeutig weiblichen und eindeutig männlichen Individuen angesiedelt ist. Ein alteritärer Körper entzieht sich hier der Einordnung. Der gesellschaftlichen Festschreibung dieser Systematik von Geschlecht und Sexualität steht mit §177 zudem ein strafrechtliches Instrumentarium zur Seite, welches von 1866 bis 1933 die illegale ‚widernatürliche Unzucht‘ (Omgængelse mod 458 459 Naturen) reguliert. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein Individuum über einen referentiellen Text, der seine Identität offenbart, freiwillig und bewusst in einen strafbaren Kontext manövrieren ließe, erscheint mit gering. Vor diesem Hintergrund lassen sich auch die unterschiedlichen Strategien zur Umschiffung des gefährlichen Terrains der Sexualität lesen, die in Fra Mand til Kvinde bemüht werden und in ihrer gegenläufigen Logik unauflösbare Ambivalenzen produzieren.

457 Vgl. Heede 2004, S. 115. 458 ‚Omgængelse mod Naturen‘ ist ein in Dänemark gängiges Idiom für den besagten Paragraphen. 459 Zwar wird bereits 1930 eine neue, entkriminalisierende Gesetzgebung beschlossen, doch tritt diese erst 1933 in Kraft. Zu einer ausführlicheren Zeichnung der rechtlichen Regelung nichtnormativer Sexualität in Dänemark, vgl. Rosen, Wilhelm von: „Denmark 1866-1976. From Sodomy to Modernity“, in: Rydström, Jens u. Kati Mustola (Hg.): Criminally Queer. Homosexuality and Criminal Law in Scandinavia 1842-1999, Amsterdam 2007, S. 61-90; vgl. Justitsministeriet: Straffelovrådets betænkning om seksualforbrydelser Bind I & Bind II, Kopenhagen 2012.

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Die initiale Strategie verfolgt eine Darstellung der Spaltung der Körperinnewohnenden in zwei eindeutig gegengeschlechtliche Seelen, die unabhängig voneinander ein ‚moralisch einwandfreies‘ heterosexuelles Begehren in sich tragen. Eine weitere Strategie zielt auf die rückwirkende Entsexualisierung der Protagonistin, so dass das Problem ‚devianter Sexualität‘ gar nicht erst ins Blickfeld rücken kann und 460 sich somit einer, wie Stone es nennt, Zeit der sexuellen Repression beugt. Die finale und nachhaltigste Strategie ist jedoch jene, den Körper in die gesellschaftlichen Normierungen einzupassen, so dass dieser zuallererst die Möglichkeit erhalte, einem heterosexuellen Begehren nachzugehen. Zeitgenössische Moralvorstellungen sind somit eng mit strafrechtlichen Vorgaben verquickt und regulieren öffentlichkeitswirksam die persönliche Sexualität. Passt der Körper nicht in dieses binäre organisierte System, gestaltet es sich schwierig, die eigene Identität gesellschaftlich zu positionieren. Fra Mand til Kvinde präsentiert sowohl moralisch erstrebenswerte als auch unerwünschte Daseinsformen und Lebensentwürfe in Form von Schablonen, an denen sich die narrative Ausformung von Andreas und Lili orientiert und im Interesse der Integration auch orientieren muss, da deren ‚naturgegebener Körper‘ einer normalisierten Typisierung nicht zu entsprechen scheint. So wird Andreas – unmittelbar nachdem Niels und Inger Hvide als Abbilder der perfektionierten Geschlechtlich461 keit und Heterosexualität vorgestellt werden – von medizinischer Seite ein gegenläufiger Erfahrungshorizont außerhalb des ‚Normalen‘, zugeschrieben: „Wir anderen, die als normale Menschen geboren wurden, können uns das sicher nicht 462 vorstellen ……“ Unter diesem Vorzeichen, welches ‚Normalität‘ mit gesellschaftlicher Integration gleichsetzt, erscheint es mir fruchtbar, Andreas’ und Lilis Wunsch nach einer solchen Integration sowie das entsprechende Abgrenzungsver463 halten genauer in den Blick zu nehmen. Andreas’ Aussage, dass Lili kein Phänomen, sondern eine ‚normale Frau‘ sein möchte, bedeutet dann in erster Linie, als Teil der Gesellschaft wahrgenommen zu werden und keine Ausgrenzung zu erfahren. Angesichts dieses Grundbedürfnisses kann auch die rigorose Abgrenzung von den ‚Abnormen‘ in Hardenfelds Institut sowie der Wunsch, unter ‚normalen Menschen‘ zu sein, als Appell gegen die eigene Marginalisierung gelesen werden. Dem nachvollziehbaren Streben, als moralisch wertvoller Teil der Gesellschaft wahrge-

460 Vgl. Stone 2006, S. 226. 461 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 34; an dieser Stelle wird ein schablonenartiges Bild der beiden eingeführt, das im Laufe des Textes noch Erweiterungen erfährt. 462 „Vi andre, der er født som normale Mennesker, kan vist ikke forstille os det ......“, ebd., S. 38. 463 An dieser Stelle möchte ich noch einmal auf Runtes Gleichsetzung von Ausgegrenztwerden und Selbstabgrenzung verweisen, vgl. Runte 1996, S. 297.

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nommen zu werden, steht einzig der Weg der (operativen) ‚Normalisierung‘ of464 fen. Denn bereits die als inkongruent gekennzeichneten Geschlechtsmarkierungen bei Andreas – zwischen korrekter (männlicher) Kleidung und effeminiertem Körper und Habitus – tragen lediglich dazu bei, ihn weiter aus der moralistischen 465 Mehrheitsgesellschaft zu verdrängen. Durch solche Szenarien werde der Text, so Stone, zu einem Mikrokosmos der gesellschaftlichen Gegebenheiten, in dem die eindeutige Geschlechtsrolle zu einer sozialen Pflicht avanciere, während das Individuum zum Sprachrohr der kulturellen und gesellschaftlichen Umstände werde, de466 ren Akzeptanz es sich über ‚Normalisierung‘ und ‚Verschwinden‘ erkaufe. Um diese Situation in Bezug auf Lili zu verdeutlichen, bemüht Stone einen Begriff aus dem Neuen Testament, der die Technik der körperlichen Einschreibung markiert: „endeuein, or the putting on of the god, inserting the physical body within 467 the shell of cultural signification“. Sie beschreibt damit gleichzeitig, welche Rolle die religiös aufgeladene Institution der Klinik bezüglich Lilis Körper einnimmt und in welchem Maße dadurch die zeitgenössischen Werte der Mehrheitsgesellschaft reproduziert werden. Während Fra Mand til Kvinde zunächst suggeriert, dass die Protagonistin im technologischen Zeitalter der Moderne das Privileg habe, ihren 468 Körper ‚normalisieren‘ zu lassen, wird die Medizin trotz aller Innovationen kaum als übergreifend progressive Institution dargestellt. Vielmehr wird aufgezeigt, inwieweit im klinischen Kontext gesellschaftliche Normen nicht nur reproduziert, sondern auch verpflichtend hergestellt werden – sowohl in der diagnostischen Pra469 xis, der hierarchischen Organisation als auch im Lauf der operativen Eingriffe, welche im Interesse einer ‚Körpernorm(alis)ierung‘ stattfinden. Diese Form der

464 Dementsprechend möchte ich Runtes These, dass es sich bei Fra Mand til Kvinde um eine „Darstellung der konstitutiven Normalität des Anomalen“ handele, nicht nur in ihrer Formulierung, sondern auch inhaltlich entschieden widersprechen, denn sie bedient sich damit sprachlich der Marginalisierungsinstrumente, welche die körperliche Alterität für die Protagonistin narrativ erst zur moralischen Integrationshürde werden lassen, Runte 1996, S. 271. 465 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 63; Boivin beschreibt für Einar Wegener sehr eindringlich, wie sehr die effeminierte Erscheinung in der Öffentlichkeit als Zeichen von Homosexualität gelesen wird, vgl. Boivin 1958, S. 58. 466 Vgl. Stone 2006, S. 226ff. 467 Ebd., S. 227; Stone bezieht sich auf das Verb ένδύειν aus dem in der Koine geschriebenen Neuen Testament, welches den Moment der Taufe beschreibt, vgl. ebd., S. 234. 468 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 62 u. S. 72. 469 In Paris werden bei Andreas sowohl Hysterie (ein zeitgenössisch typisch weibliches Krankheitsbild) als auch Homosexualität diagnostiziert, vgl. ebd., S. 64; mehr zu den Implikationen dieser Diagnosen in 4.2.

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operativen Geschlechtsvereindeutigung schließt sich an eine bereits im 19. Jahrhundert praktizierte Suche nach dem ‚wahren Geschlecht‘ an und führt diese Praxis 470 nur technologisch ausgefeilter fort. In diesem Sinne veranschaulicht Stone die 471 Klinik auch „als eine Technologie der Einschreibung.“ Dort werden Körper, welche, wie Armstrong argumentiert, „eine Bedrohung für eine etablierte Struktur der 472 Geschlechterteilung“ darstellen, resozialisiert. Der Geschlechteressentialismus 473 unterläge also einer technologisch-manipulativen Wiederherstellung, wobei die Medizin als exekutiver Arm einer rechtlich-administrativ geleiteten Meinungsbildung agiert. Doch selbst angesichts dieser – religiös aufgeladenen – Wertewiederherstellungen an Lilis Körper scheint ihre gesellschaftliche Integration nicht umfassend gegeben. Sowohl die Technologie-Ablehnung von Andreas’ Schwester als auch die übersteigerten Ansprüche an die eigene Weiblichkeit angesichts des fehlenden Privilegs einer ‚normalen Geburt‘ halten die Protagonistin in einem fortwährenden Ausgrenzungskreislauf gefangen. Die gesellschaftlichen Normierungen der Öffentlichkeit, die sich stark über die Verschränkung von gesetzlichem Rahmen, medizinischer Konzeption und deren Ausführung konstituieren, betreffen nicht nur die literarische Lili, sondern berühren auch die historische Person. Deutlicher soll dies durch einen ausführlichen Blick auf die Berichterstattung der zeitgenössischen Presse werden, die damals als das zentrale meinungs(ab)bildende Medium fungiert. 3.3.1 Vom spielerischen Verhältnis zur Presse bis zur Desubjektivierung durch ‚Die Wahrheit‘ Dave King zeigt in seinem Beitrag zum Verhältnis von Presse und Transsexualität auf, inwieweit sich die öffentliche Verhandlung alteritärer Geschlechtserfahrung an wiederkehrenden journalistischen Strukturen orientiert und stellt somit ein Instru474 mentarium bereit, das auch für diese Analyse fruchtbar gemacht werden kann. So verweist er gerade bei Pressenachrichten vor 1950 auf den virulenten Gebrauch des 475 Begriffs ‚Maskerade‘, dem ich zunächst in Bezug auf die Berichterstattung über Einar Wegener vor der Transition nachgehen werde.

470 Vgl. 4.1.1. 471 „as a technology of inscription.“, Stone 2006, S. 230. 472 „a threat to an established structure of gender-division“, Armstrong 1998, S. 169. 473 Vgl. ebd., S. 175. 474 Vgl. King, Dave: „Cross-Dressing, Sex-Changing and the Press", in: Ekins, Richard und Dave King: Blending Genders – Social Aspects of Cross-dressing and Sexchanging, London/New York 1996a, S. 133-150. 475 Vgl. ebd., S. 134f.

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Abgesehen von dem Hinweis, dass es in Kopenhagen sowohl solche Pressever476 treter gebe, die Andreas wohlgesonnen seien, als auch andere, hält sich Fra Mand til Kvinde bezüglich des frühen Verhältnisses zum zeitgenössischen Journalismus sehr bedeckt. Das Leben und die Arbeit der Wegeners hingegen spielen schon in den 1910ern und 1920ern eine prominente Rolle in den Medienorganen der dänischen Hauptstadt. Die Presse hält die Kopenhagener Öffentlichkeit wesentlich expliziter informiert, als es ursprüngliche narrative Konstruktionen vermuten lassen. So versucht Hoyer im Manuskript noch die Illusion des Mysteriums aufrechtzuerhalten, wenn er bezüglich Gretes neuer Muse schreibt: „Aber niemand wusste, wer sich hinter dem Modell verbarg, Legenden bildeten sich darum. Auch der Klatsch begann zu wispern, ohne aber dem Geheimnis auf die Spur zu kom477 men.“ Nicht ohne Grund taucht diese Passage in keiner der Druckversionen auf, denn zumindest die *Leser*innen von Ekstra Bladet werden im März 1913 informiert, wessen weibliche Formen Gerda Wegener seit einigen Jahren inspiriert ha478 ben. Doch scheuen sich die Wegeners auch bei einem späteren Besuch in Kopenhagen nicht vor den Journalisten. Vielmehr berichtet Einar von seinen Erlebnissen 479 beim Pariser Karneval, dem er als junges Mädchen gekleidet beiwohnt. Diese mit poetischer und karnevalesker Leichtigkeit daherkommenden journalistischen Versatzstücke rücken den Topos der künstlerischen Maskerade in den Mittelpunkt und bieten einen Anknüpfungspunkt zu Kings Beobachtungen, welcher den Terminus ‚Maskerade‘ insbesondere für die Berichterstattung im Rahmen des Cross480 Dressing verzeichnet. Auch hier möchte ich daran erinnern, die Kontexte, in denen diese Begrifflichkeit auftaucht, ernst zu nehmen und nicht mit ähnlichen Zuschreibungen aus postoperativen Pressebeiträgen gleichzusetzen. Denn die spielerisch leichten Meldungen finden 1930 ein jähes Ende. Sie müssen einem Bericht ‚der Wahrheit‘ (Sandheden) – einer dänischen Zeitschrift – weichen. Während Fra Mand til Kvinde nach den ersten Operationen lediglich auf das 481 Aufkommen von Gerüchten in Kopenhagen hinweist, geben sowohl das Manuskript als auch die deutsche Ausgabe dezidiert an, dass „durch die Indiskretion einer Pariser Freundin das ganze Geheimnis um Andreas und Lili verraten und schließlich von einem üblen Schmutzblatt auf die hässlichste Weise ausgenutzt worden 482 483 war.“ Einen ähnlichen Verweis auf historischer Ebene geben sowohl Elvenes

476 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 28. 477 Lili Elbe Buch (Manuskript), S. 60. 478 Vgl. Ekstra Bladet, 04.03.1913, S. 2; vgl. 3.2.3. 479 Vgl. København, 08.03.1924, S. 5; vgl. 3.2.3. 480 Vgl. King 1996a, S. 135. 481 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 150f. 482 Lili Elbe Buch (Manuskript), S. 180; Elbe 1932, S. 207.

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als auch deren Freundin Elna Tegner, welche diese Publikation spezifisch als „ein 484 Blatt mit dem vielversprechenden Namen: ‚Sandheden‘ (Die Wahrheit)“ beschreibt. In dieser Publikation findet sich Ende 1930 tatsächlich eine Meldung mit 485 dem Titel „Ein Buch darüber, wie Herr Wegener zu Fräulein Wegener wurde“. 486 Ein „Skandalbuch“ ankündigend, wird dieser Bericht ausschlaggebend für die Formierung der öffentlichen Subjektivität von Lili Elvenes sowie der erzählten Subjektivität von Lili Elbe, wie die folgende Analyse verdeutlichen soll. Abbildung 22: „In unseren Zeiten kann man alles erwarten. Neulich kam mein Vetter her und besuchte mich. Sie war zu einer Kusine geworden, seitdem ich sie zuletzt sah.“

Sandheden, ca. Dezember 1930, o.S. (Scan: Det Kongelige Bibliotek, Kopenhagen).

Eingangs operiert der Artikel mit einem Geflecht aus den Schlüsselwörtern Skandal, Anstößigkeit und Wahrheit, welche den Lesemodus vorstrukturieren. Gleichzeitig fällt die prominente halbseitige Karikatur ins Auge, welche sich humoristisch zur Thematik verhält. (Abb. 22) Die Intention von Sandheden wird somit schnell

483 Vgl. Elvenes an Knudsen, 06.03.1931. 484 „et blad med de lovende navn: ‚Sandheden‘“, Brief von Elna Tegner an Tan-Tan und Onkel Joh, Meudon, 20.12.1930, RTM. 485 „En Bog om, hvordan Hr. Wegener blev til Frøken Wegener“, Sandheden, o.S. 486 „skandalebog[en]“, ibid.

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deutlich – das Blatt sieht seinen Beitrag darin, das gesellschaftliche Rechtsbewusstsein zu alarmieren, indem es sich der Aufgabe annimmt, sowohl die Öffentlichkeit im Allgemeinen als auch die Polizei im Besonderen auf ein skandalöses, sich in Ar487 beit befindliches Buch hinzuweisen. Während Sandheden einerseits ein Einschreiten gegen die erwartete Publikation für notwendig hält, verzichtet das Blatt andererseits keinesfalls darauf, die Öffentlichkeit ausführlich über die Vorgänge in Deutschland zu unterrichten, „wo Wegener sich auf dem Operationstisch von Mann 488 zu Frau verwandeln ließ.“ Nach einem kurzen technologischen Intermezzo macht sich der Beitrag sogleich daran, die ‚vielschichtige Devianz‘ des besprochenen Sub489 jekts aufzuzeigen, indem unter der Überschrift „Eine unglückliche Ehe“ die Auswirkungen einer ‚anomalen Geschlechtlichkeit‘ dargelegt werden: „Die Ehe des Malers war unglücklich. Er war kein gesunder und natürlicher Mann. Zur Hälfte war er Frau, was zu gewaltsamen Zwistigkeiten im Heim führte. Wegener litt sehr unter dem verzweifelten häuslichen Verhältnis. Er liebte seine Ehefrau mit tiefer und echter Hingabe, aber das natürliche männliche Begehren, welches ein richtiger Mann gegenüber der Frau, die er liebt, fühlt, hatte er ihr gegenüber nicht. Gleichzeitig führte er einen verzweifelten Kampf gegen die Anziehungskraft, die andere Männer auf ihn ausübten.“490

An diesem ‚devianten‘ Zustand verzweifelt Wegener, so Sandheden, bis er von einem Arzt hört, „der Menschen von seiner Sorte gesund und natürlich macht, indem 491 er ihnen das rechte Geschlecht gibt.“ Diese klar aufgerufenen dichotomen Sy-

487 Die Polizei wird explizit angesprochen, da das Blatt der Meinung ist, sie kümmere sich nicht mehr um die Sittlichkeitsparagraphen, da sie zu beschäftigt damit sei, den amtierenden dänischen Justizminister Karl Kristian Steincke zu beschützen. Auf Steincke, der bezeichnenderweise ein Anhänger der Eugenik ist und Zwangssterilisierungen befürwortet, wird am 10.12.1930 ein Attentatsversuch unternommen, vgl. Christensen, Jacob: K.K. Steincke: Mennesket og politikeren: En biografi, Kopenhagen 1998, S. 226. 488 „hvor Wegener paa Operationsbordet lod sig forvandle fra Mand til Kvinde.“, Sandheden, o.S. 489 „Et ulykkeligt Ægteskab“, ibid. 490 „Malerens Ægteskab var ulykkeligt. Han var ikke en rask og naturlig Mand. Halvvejs var han Kvinde og det medførte voldsomme Brydninger i Hjemmet. Wegener led meget under de fortvivlede Forhold i Hjemmet. Han elskede sin Hustru med dyb og ægte Hengivenhed, men han havde ikke imod hende det naturlige mandige Begær, som en rigtig Mand føler overfor den Kvinde, han elsker. Han kæmpede samtidigt en fortvivlet Kamp mod en Dragelse mod andre Mænd, som han følte i sig.“, ibid. 491 „som gør Mennesker af hans Slags sunde og naturlige ved at give dem deres rette Køn.“, ibid.

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steme von Geschlecht, Gesundheit, Natürlichkeit und Sexualität reiben sich an Wegeners alteritärem Leib und evozieren in der Berichterstattung die Heraufbeschwö492 rung des Narrativs vom ‚falschen Körper‘, welches de facto den vorausgehenden Körpereinschreibungen widerspricht. Mit der Vorstellung eines „Schicksals, das 493 ihm eine Frauenseele in einem Männerkörper gegeben hatte“, wird der zunächst als ‚krank‘ und ‚anomal‘ erzählte Körper wieder in ein binäres Denkmuster gedrückt. Für Sandheden ergibt sich zudem der logische Schluss, dass das angespannte Eheverhältnis einer Auflösung bedürfe. Dementsprechend sei der Scheidungswunsch von der sexuell nicht begehrten Ehegattin ausgegangen, während sich We494 gener selbst mittels einer Operation in Berlin „zu einer richtigen Frau“ habe machen lassen. Fokussiert wird dabei auf die Dekadenz des Eingriffs, der in einer Privatklinik im vornehmen Teil der deutschen Hauptstadt stattgefunden habe. Die als kaum einschneidend dargestellten medizinischen Aspekte rücken angesichts des gravierenderen Problems inkongruenter Identitätspapiere in den Hintergrund der Berichterstattung. Bezüglich der eigenen Aufgabenstellung erscheint es jedoch nicht überraschend, dass Sandheden die Wiederherstellung der rechtlich-administrativen Ordnung in den Mittelpunkt rückt. Der sich schwierig gestaltende Weg zur festgeschriebenen Identität sei erst nach mannigfaltigen Konsultationen mit medizi495 nischen Instanzen und der Eintragung des Fräuleins „Lily Wegener“ ins Kirchenbuch unumstößlich vollzogen worden. Doch nach dieser Festschreibung einer anerkannten Geschlechtsidentität erscheint das Rechtssystem in der journalistischen Darstellung wesentlich zugänglicher für weitere, durchaus erstaunliche Suggestionen, wie die zum familiären Verhältnis von Gerda und jener Lily Wegener: „Die zwei Damen schlossen eine neue Freundschaft und das führte dazu, dass sie sich darüber einigten, dass Gerda ihren früheren Mann adoptieren sollte, so dass sie ihre Tochter würde. Es ergaben sich keine großen Schwierigkeiten bei der Adoption. Das Ministerium bewilligte gerne, dass Frau Wegener Fräulein Lily Wegener adoptierte und auf diese Art der frühere Ehemann nun Tochter im Haus seiner ehemaligen Gattin wurde.“496

492 Ulrica Engdahl hat sich näher mit den Implikationen eines solchen Narrativs beschäftigt, vgl. Engdahl, Ulrica: „Fel kropp-berättelsen: vad är fel med den?“; in: Kvinder, Køn og Forskning, Nr. 3-4, 2011, S. 39-48. 493 „Skæbne, der havde givet ham en Kvindesjæl i en Mandskrop.“, Sandheden, o.S. 494 „til en rigtig Kvinde“, ibid. 495 Ibid. 496 „De to Damer sluttede et nyt Venskab, og det endte med at de enedes om at Gerda skulde adoptere sin tidligere Mand, saa hun blev hendes Datter. Der viste sig ikke store Vanskeligheder ved Adoptionen. Ministeriet bevilgede gerne, at Fru Wegener adoptere-

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Jene bis zu diesem Punkt berichteten Ereignisse werden in Sandheden – mit Implikationen für die Mehrheitsgesellschaft – als gut und schön deklariert: „Was aber die Empörung eines jeden gesund denkenden Menschen wecken muss, ist der Umstand, dass Fräulein Wegener [Lily] nun ein Skandalbuch herausbringen will. Das Buch gibt eine ausführliche Schilderung von den erotischen Empfindungen, die der Mensch Wegener erlebt hat, teils als Mann und teils als Frau.“497

Schon die Aussicht auf Ausführungen erotischer Natur wird von Sandheden als „zu 498 abstoßend“ deklariert, womit eine moralische Lesart für die vermeintlich folgende Buchveröffentlichung bereits vorgegeben ist. Während sich das Blatt dem ‚Phänomen‘ gegenüber selbst jovial inszeniert, gruppieren sich die Elemente der Berichterstattung um eine juristisch begründete, vermeintliche Devianz des besprochenen Subjekts. Damit bedient Sandheden eine der Klassifikationen, die King vorschlägt. Er unterscheidet die journalistische Darstellung des Subjekts als ‚normal‘ oder ‚deviant‘, weist jedoch gleichzeitig darauf hin, dass sich die Trennlinie nicht immer eindeutig 499 ziehen lasse. In diesem Falle erscheint mir die Klassifikation augenfällig. Die Hinweise auf die geschlechtliche und sexuelle Devianz der ‚Lily Wegener‘ genannten Person sowie deren dekadente Lebensweise und antizipierte skandalöse öffentliche Artikulation produzieren ein publikumswirksames Bild, welches explizit an die Moral des Verlagshaus Hasselbalch und der enttarnten Ghostwriterin Loulou Lassen appelliert. Wie bereits angedeutet, zieht sich Hasselbalch in Folge dieser Publikation von dem Projekt zurück, so dass für Elvenes daraus nicht nur zusätzli500 che gesellschaftliche, sondern auch ökonomische Probleme erwachsen. Diese ökonomische Bedrängnis wird in Fra Mand til Kvinde aufgegriffen und im Zusammenhang mit einer Vernissage verhandelt. Lilis prekäre Lage zwingt sie bald dazu, den Vorschlag eines Freundes anzunehmen und einer Ausstellung mit 501 Andreas’ hinterlassenen Bildern zuzustimmen. Erklärt wird diese Unternehmung

de Frk. Lily Wegener, og paa denne Maade blev den tidligere Ægtemand nu Datter is Huset hos sin forhenværende Hustru.“, Sandheden, o.S. 497 „men det, der maa vække enhver sundttænkende Mands Forargelse, er den Omstændighed, at Frk. Wegener nu vil udgive en Skandalebog. Bogen [...] giver en udpenslet Skildring af de erotiske Fornemmelser, Mennesket Wegener har oplevet, dels som Mand og dels som Kvinde.“, ibid. 498 „for utiltalende“, ibid. 499 Vgl. King 1996a, S. 140f. 500 Vgl. 3.1. 501 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 163.

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zunächst mit einem Klinikaufenthalt Andreas’, für den Geld benötigt werde, doch sieht sich Lili bald den in Kopenhagen kursierenden Gerüchten ausgesetzt und kann kein einziges Gemälde veräußern. Würde sich Lili, wie eine Freundin vorschlägt, als Andreas verkleiden und in der Ausstellung auftauchen, könnte sie mit einem 502 Mal alle Gerüchte aus der Welt schaffen. Doch dieses Ansinnen, das ‚Werkzeug der Maskerade‘ im eigenen Interesse zu nutzen, weist Lili empört von sich. Abhilfe leistet letztendlich der journalistische Einfluss einer weiteren Freundin: „Aber da kam ihnen eine von ihren Freundinnen, die eine bedeutungsvolle Stellung bei einem der führenden Blätter der Stadt hatte, zur Hilfe. Sie hatte schon vor einiger Zeit einen ganz nüchternen und objektiven Artikel über Andreas’ und Lilis Entwicklung und Schicksal schreiben wollen, doch Lili hatte den Gedanken an eine solche Veröffentlichung, welcher sie einschüchterte, bis dahin abgewiesen. Ihre Freundin erklärte ihr jedoch, dass nun der Zeitpunkt gekommen sei, an dem die Öffentlichkeit das Bedürfnis danach hätte, die reine Wahrheit zu erfahren.“503

Eine solche Berichterstattung mit Hinblick auf eine Ausstellung der Wegener’schen Werke lässt sich im Februar und März 1931 tatsächlich in den Publikationen aus dem Haus Politiken finden. Dabei tritt die bereits als Buchlektorin agierende Loulou Lassen federführend auf. Am 26. Februar veröffentlicht Politiken zunächst einen Ausstellungsbericht. Das Gros der Kunstwerke wird schon im Titel Gerda Wegener zugeschrieben, doch seien auch Arbeiten von Einar Wegener dabei, „aber Frau Gerda machte keinen Hehl daraus, dass die Ausstellung für seine Person als 504 der Abschluss seines Wirkens betrachtet werden kann.“ Illustriert wird dieser Beitrag bezeichnenderweise mit einem von Gerda Wegener gemalten Porträt, welches ‚Fru Lili‘ zeigt (Abb. 23), obwohl Letztere in der Ausstellungsbeschreibung keine Rolle spielt. Durch den illustrativen Zusatz wird dieser journalistische Beitrag zum Ausgangspunkt für einen nun folgenden Artikelreigen, welcher versucht, der Berichterstattung von Sandheden entgegenzuwirken.

502 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 163f. 503 „Men da kom en af deres Veninder, der havde en fremskudt Stilling ved et af Byens ledende Blade, dem til Hjælp. Hun havde allerede for længere Tid tilbage villet skrive en ganske nøgtern og objektive Artikel om Andreas’ og Lilis Udvikling og Skæbne, men Lili havde hidtil afvist Tanken om en saadan Offentliggørelse, der havde skræmt hende. Men hendes Veninde erklærede, at nu var Tidspunktet kommet, da Offentligheden havde Krav paa at faa den rene Sandhed at vide.“, ebd., S. 164. 504 „men Fru Gerda lægger ikke Skjul paa, at Udstillingen for hans Vedkommende kan betragtes som Afslutning paa hans Virksomhed.“, K.P.: „Gerda Wegeners Udstilling“, in: Politiken, 26.02.1931, S. 4.

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Abbildung 23: Gerda Wegener: „Ung pariserinde til karneval“ (1928)

Privatbesitz (Photo: Nikolaj Pors).

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3.3.2 Die Auswirkungen eines begleiteten Resubjektivierungsversuchs 505

Beginnend am 28. Februar 1931 wird eine Artikeltrilogie veröffentlicht, die sich über zwei Tage und zwei Zeitungen aus dem Verlagshaus Politiken erstreckt: Poli506 tiken und Ekstra Bladet. Es kann also davon ausgegangen werden, dass die Komposition dieser Veröffentlichungen in einer Hand liegt und über die mit Elvenes bereits zusammenarbeitende Loulou Lassen ein exklusiver Zugang zu Informationen und Quellen für das Verlagshaus etabliert wird. Während dabei zunächst die öffentliche Wahrnehmung in den Blick gerät, erfährt die Berichterstattung durch die Auffächerung in mehrere Beiträge eine Erweiterung um medizinische, rechtliche 507 und historische Aspekte. Die implizite Bezugnahme auf die Kernaussagen aus Sandheden wird dabei unmittelbar deutlich. Vor diesem Hintergrund lässt sich eine entgegnende journalistische Argumentation nachzeichnen und gleichzeitig die Wirkmacht dieser ersten postoperativen Presseberichterstattung darlegen, welche in der Inszenierung einer neuen ‚subjektivierenden Wahrheit‘ an vielen Stellen mitschwingt. Zumindest Teile der Trilogie lassen sich somit, um an Kings Kategorisierungen der Presseberichterstattung anzuknüpfen, auf der Seite des Spektrums verorten, welche – anders als Sandheden – die ‚Normalität des Phänomens‘ in den Mit508 telpunkt rückt. Der erste von Loulou Lassen verfasste und in Politiken veröffentlichte Artikel greift das Karneval-Gemälde von Gerda Wegener (Abb. 23) als einleitende Illustration auf und bezieht sich auch textuell auf die bildliche Demaskierung der dort dar509 gestellten Dame. ‚Fru Lili‘ – das Modell – stünde dem Blatt nun Rede und Antwort. Sie selbst erläutert die Hintergründe der Ankündigung, dass das künstlerisches Schaffen des Malers Einar Wegener ein Ende gefunden habe: „er existiert […] nicht mehr, er hat sich freiwillig ausgelöscht, um für jemand anders Platz zu schaffen, welcher, wie er meinte, ein größeres Recht hätte zu existieren als er selbst,

505 Für eine ausführlichere Analyse dieser Artikeltrilogie, vgl. Meyer 2010; die Argumentation in der vorliegenden Arbeit orientiert sich an den Ergebnissen dieses Aufsatzes. 506 Ekstra Bladet, welches ursprünglich als Beilage zu Politiken erschienen ist und 1905 zu einer eigenständigen Publikation wird, gehört bis heute zum gleichen Verlagshaus wie Politiken (aktuell: JP/Politikens Hus). 507 King beschreibt solche Auffächerungen und konstatiert, dass die Folge von mehreren Artikeln mit verschiedenen Fokussen nicht ungewöhnlich sei, vgl. King 1996a, S. 137f. 508 Vgl. ebd., S. 140. 509 Für die Abbildung in dieser Arbeit nutze ich eine Photographie des Originalgemäldes von Gerda Wegener, da der Charakter des Bildes in den verfügbaren Mikrofilmdrucken der entsprechenden Zeitungen nicht deutlich genug wird.

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und diese Andere – das bin ich…“ Diesbezüglich empfindet es die als Lili Elbe vorgestellte Interviewte als ihre „Pflicht gegenüber seinem [Einars] künstlerischen 511 Nachruhm, die Wahrheit zu erzählen.“ Die Suggestion, dass sie nun für sich selbst spricht, produziert eine ‚Wahrheit‘, die sich gegen jene in Sandheden vermittelte wendet und gleichzeitig dem dadurch gefährdeten Buchprojekt wieder auf die 512 Beine verhelfen soll. Die journalistische Argumentation nimmt somit eine Reihe narrativer Stränge aus Fra Mand til Kvinde vorweg. Das illustrativ verdeutlichte Fallenlassen der Maske und die Herauslösung aus einem künstlerischen Raum gehen auch bei Politiken Hand in Hand. Nicht nur die 513 ambivalenten Konnotationen der Maskerade werden verabschiedet, sondern es entsteht auch eine Raum, in dem eine genuine Weiblichkeit der Interviewten sichtbar werden kann, die den geschlechtlichen Devianzzuschreibungen aus Sandheden 514 entgegentritt. Diese Weiblichkeit spiegelt sich in den journalistischen Beschreibungen der geschlechtlichen Selbst- und Fremdwahrnehmungen während der Kindheit und zieht sich bis hin zur Interviewsituation selbst. Die Interviewte, deren Füße 515 516 hochhackige Schuhe zieren, gehe in „weiblichen Beschäftigungen“ auf und hätte bereits bei der ersten Untersuchung durch Kurt Warnekros von ihrer ‚wahren

510 „han eksisterer […] ikke mere, han har frivilligt udslettet sig selv for at give Plads for en anden, som han mente havde større Ret til at eksistere end ham selv, og denne anden – det er mig...“, Fru Loulou: „Et Liv gennem to Tilværelser. En Fortid som Mand og en Fremtid som Kvinde. Lili Elbe fortæller om Maleren Einar Wegener og om sig selv“, in: Politiken, 28.02.1931, S. 5-6, hier S. 5. 511 „Pligt over for hans kunstneriske Eftermæle at fortælle Sandheden“, ibid. 512 Zu diesem Zeitpunkt scheint Hoyer bereits die editorische Arbeit von Lassen übernommen zu haben, da er für das Zustandekommen des Manuskriptes die Zeitspanne von Februar bis August 1931 angibt, vgl. Hoyer an Schumann, 27.06.1932, S. 1; auch spricht die Nutzung des Nachnamens Elbe für eine Verknüpfung zur entstehenden Buchpublikation. 513 King merkt an, dass ‚Maskerade‘ gerade journalistisch in einer Sinneinheit mit anderen eher abschätzigen Begrifflichkeiten steht: „The same mode of interpretation was conveyed in a number of similar terms – ‚pose‘, ‚impersonate‘, ‚hoax‘, ‚disguise‘“, vgl. King 1996a, S. 134f. 514 Die Kunst figuriert dabei lediglich als ein Transformationsraum für ein Alteritätsgefühl, das der Fehlbestimmung des Geschlechts nach der Geburt entstamme. Übertitelt wird dieser Abschnitt von Lassen mit „Durch die Kunst zu Erkenntnis der Wahrheit“ („Gennem Kunsten til Sandhedens Erkendelse“), Politiken, 28.02.1931, S. 5; vgl. Meyer 2010, S. 41f. 515 Vgl. Politiken, 28.02.1931, S. 5. 516 „kvindelige Sysler“, ebd, S. 6.

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Geschlechtlichkeit‘ erfahren: „Er […] stellte fest, dass ich nicht – so wie man es aus mir machen wollte, ein Mann war, sondern in weit überwiegendem Grade eine Frau 517 …“ Der Bericht stellt sich ebenfalls die Aufgabe, den sexuellen Devianzimplikationen aus Sandheden entgegenzutreten, und bedient sich der entsexualisierenden Strategie, die später auch in Fra Mand til Kvinde eingesetzt wird. Mit Zwischentiteln 518 wie „Freundschaft und Zusammenarbeit“ oder „Eine neue Identität und eine un519 gültige Ehe“ setzt Lassen klare Akzente. Das Motiv der Kameradschaftsehe zieht 520 sich durch die entsprechenden Textabschnitte und widerlegt nicht nur den Devianzverdacht, sondern auch die Annahme, ein später folgendes Buch würde vor ‚erotischen Anstößigkeiten‘ nur so überquellen. Dessen moralische Legitimation sowie die Eheauflösung lassen sich anschließend gut inszenieren, denn der Fall der jungfräulichen Lili beschwöre eine Öffentlichmachung geradezu herauf, da er von über521 aus großem wissenschaftlichen Interesse sei. So antizipiert Lassen im Hinblick auf weitere Veröffentlichungen ein fortlaufendes Interesse der Leserschaft und stellt journalistische Weichen, indem sie vorsichtig damit beginnt, die Medizin als wun522 dersamen Akteur ins Bild zu rücken. In einem supplementär erscheinenden Artikel, der am gleichen Tag bei Ekstra Bladet gedruckt wird, stehen die Institutionen der Medizin sowie der Justiz im Mittelpunkt der Berichterstattung. Ekstra Bladet widmet der Nachricht einen großen Teil seiner Titelseite – inklusive Vorher-Nachher-Illustrationen – und zielt deutlich auf das Sensationelle. Geschuldet ist dies der Marktausrichtung des Blattes, welches das eher boulevardeske Segment bedient. So wird die Relevanz der Berichterstattung auch über den allgemeinen Sensationsbedarf hergestellt, da die „scheinbar 523 ganz unglaubliche Geschichte […] heute alle Gemüter beschäftigte.“ Um dieses Interesse zu befriedigen, befragt Ekstra Bladet sowohl den Chirurgen Warnekros als auch einen anonymen Juristen. Die öffentlichkeitswirksame Hierarchisierung der diskursiven Kompetenzen wird dabei unmittelbar deutlich, denn das autoritäre

517 „Han […] fastslog, at jeg ikke – saaledes som man havde villet gøre mig til, var en Mand, men i langt overvejende Grad en Kvinde...“, Politiken, 28.02.1931, S. 5. 518 „Venskab og Samarbejde“, ibid. 519 „En ny Identitet og et ugyldigt Ægteskab“, ebd., S. 6. 520 Vgl. Meyer 2010, S. 45. 521 Vgl. Politiken, 28.02.1931, S. 6. 522 Vgl. ebd., S. 5. 523 „tilsyneladende ganske utrolige Historie […] optog i Dag alle Sind.“, Dr. Rank: „Manden der blev Kvinde. Professor Warnekros fortæller. Lili Elbe blev til ved et i Lægevidenskabens Annaler enestaaende Indgreb“, in: Ekstra Bladet, 28.02.1931, S. 1 u. S. 9, hier S. 1.

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Expertenwort wird explizit über die Stimme des Subjekts gestellt. So proklamiert das Blatt, dass Warnekros „der einzige ist, der sich in dieser Sache mit Gewicht äu524 ßern kann“. Der Dresdner Mediziner, der per Telefoninterview befragt und dann vermeintlich zitiert wird, hebt die Einzigartigkeit des Eingriffs sowie seine eigene medizinisch-wissenschaftliche Leistung in diesem Zusammenhang hervor. Die Relevanz, welche ihm hier zuteil wird, steht in starkem Kontrast zu der Bagatellisierung, die der medizinische Aspekt in Sandheden erfährt und trägt dazu bei, dass die Vorstellungen einer dekadenten Selbstverwirklichung des Subjekts durch eine neue Perspektive ersetzt werden. Die Notwendigkeit der risikobehafteten Eingriffe motiviere 525 sich über das Leiden der Patientin. Die bereits in Politiken angedeuteten biologistischen Alteritätshintergründe werden hier dezidiert in ein dementsprechendes Narrativ übertragen, wobei Lili Elbe zur Leidenden und zum Opfer der Launen der Na526 tur avanciert. Warnekros betont, so Ekstra Bladet, dass er die Symptomatik, welche zunächst nur psychisch evident gewesen sei, auch körperlich habe diagnostizieren können: „Zu meiner Überraschung stellte ich damals fest, dass, obwohl sie äußerlich ausgeprägt männlichen Züge hatte, diese Züge nur von sekundärer Natur waren – in Wirklichkeit war ihre Anatomie die einer Frau. Für den Fachmann konnte nicht der geringste Zweifel bestehen, dass die Natur hier eine Frau hatte schaffen wollen, aber dass durch den einen oder anderen unglückseligen Umstand Unordnung ins Werk gekommen war.“527

Diese Feststellung korrespondiert mit den Geschlechtszuweisungen in Politiken und wirkt als Legitimation für jenen risikoreichen Heilungsansatz, den Warnekros mit

524 „er den eneste, der i denne Sag kan udtale sig med nogen Vægt“, Ekstra Bladet, 28.02.1931, S. 1; King weist darauf hin, dass neben den Subjekten oft vermeintliche Experten zu Worte kommen, um die Öffentlichkeit von solchen ‚Phänomenen‘ zu unterrichten, vgl. King 1996a, S. 139f. 525 Mehr zum ‚Leiden‘ als Daseinsberechtigung der Medizin in der Einleitung zu Kapitel 4. 526 King arbeitet heraus, dass es sich bei ‚Leiden‘ und ‚Opfer‘ um virulente journalistische Motive handele, vgl. King 1996a, S. 141. 527 „Jeg fandt da til min Overraskelse, at skønt hun i det Ydre havde udpræget mandlige Træk, var disse Træk kun af sekundær Natur – i Virkeligheden var hendes Anatomi en Kvindes. Der kunde ikke for Fagmanden være mindste Tvivl om, at Naturen her havde villet skabe en Kvinde, men at der ved et eller andet ulyksaligt Tilfælde var kommet Kludder i Værket.“, Ekstra Bladet, 28.02.1931, S. 1; das Motiv des ‚Fehlers der Natur‘ wird in Fra Mand til Kvinde bei Lilis erster Sitzung im Atelier aufgegriffen, vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 44; vgl. 3.2.3.

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den operativen Eingriffen verfolgt – ein Problemfeld, über das er sich jetzt öffentlich Gedanken macht. Doch die Tatsache, dass die Patientin als „eine vollkommen 528 normale Frau“ ohne Leidensdruck leben könne, legitimiere sein Vorgehen: „wenn es sich so verhält, muss man da nicht sagen, dass dieser eigenmächtige Eingriff in die Ordnung der Natur – oder, wenn sie wollen, Unordnung – voll verant529 wortbar gewesen ist?“ Zudem stellt das Interview weitere Informationen für die Analyse des in Fra Mand til Kvinde suggerierten Kinderwunsches bereit und untermauert somit meine These, dass der letzte, noch folgende Eingriff nicht der Reproduktion dient. Auf die Frage, ob Elbe „sich auch mit einem Mann verheiraten könne, so es sie dazu 530 drängt“, antwortet Warnekros, dass dies theoretisch möglich wäre, weist jedoch auf die Grenzen der Medizin hin: „Und in jedem Fall könnte man mit einer erneuten Operation die Hindernisse, die sich eventuell noch in den Weg stellen, beseitigen. Aber kinderlos wird eine solche Ehe unter allen Umständen bleiben… das ist die einzige Schwierigkeit, welche die Medizin nicht zu überwinden vermag – ansonsten ist nichts unmöglich!“531

In einem separaten Anhang zum Interview gibt Ekstra Bladet seiner Leserschaft einen Einblick in die aktuelle Rechtslage. Dass es sich bei den Wegeners, wie von Sandheden kolportiert, nicht um eine Ehescheidung handele, hat schon Politiken klargestellt. Der von Ekstra Bladet befragte Jurist erläutert nun mit Bezug auf das Scheidungsrecht und die fehlenden Bestimmungen zum Geschlechtswechsel die Hintergründe für die rechtlich erzielte Lösung: „Es wäre unrichtig, die Scheidungsregeln des Gesetzes anzuwenden – und die einzig richtige Lösung wäre, die Ehe einfach als nicht existent zu betrachten, da es ja die gesetzliche Voraussetzung ist, dass Ehen nur zwischen Personen unterschiedlichen Geschlechts eingegangen werden.“532

528 „en fuldt normal Kvinde“, Ekstra Bladet, 28.02.1931, S. 9. 529 „naar Forholdene ligger saaledes, maa man da ikke sige, at dette egenmægtige Indgreb i Naturens Orden – eller, om De vil, Uorden – har været fuldt forsvarligt?“, ibid. 530 „vil kunne gifte sig med en Mand, hvis hun føler Trang dertil“, ibid. 531 „Og i hvert Fald vil man ved en fornyet Operation nemt kunne fjerne de Hindringer, som eventuelt endnu maatte stille sig i Vejen. Men barnløst vil et saadant Ægteskab under alle Omstændigheder blive... det er den eneste Vanskelighed, som Lægevidenskaben ikke formaar at overvinde – ellers er intet umuligt!“, ibid. 532 „Det vil være urigtigt at bringe Lovens Skilsmisseregler i Anvendelse – og den eneste rigtige Løsning vil være simpelthen at betragte Ægteskabet som ikke eksisterende, idet

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Wie zentral die Aufrechterhaltung einer heteronormativen Ordnung auch in Fragen des Eherechts ist, wird sowohl in dieser Aussage als auch in der Bestätigung deutlich, dass einer Eheschließung Elbes nun nichts mehr im Wege stünde. Dass es in Dänemark generell an rechtlichen Bestimmungen fehle, die sich zum Geschlechtsstatuswechsel verhalten, lässt der Jurist nicht unkommentiert. So wird in Anbetracht 533 zweier historischer Fälle ein knappes forensisches Regelwerk vorgestellt. Die Feststellung des ‚wahren Geschlechts‘, welches über eine Zusammenarbeit von Medizin und Justiz ermittelt werden solle, steht dabei im Mittelpunkt. Daran anknüpfend erscheint am Folgetag ein weiterer Beitrag in Politiken, der 534 den Fokus auf die nationale Forschung lenkt und den Sexualbiologen Knud Sand zu Wort kommen lässt. Vorgestellt als Experte, dessen „Forschung zu Geschlechtsumwandlungen und Geschlechtshormonen insgesamt der Öffentlichkeit bekannt 535 536 ist“, soll Sand sich zu „abnormen Geschlechtszuständen beim Menschen“ äußern. Obwohl der Artikel Elvenes nicht explizit erwähnt, wird der Bezug deutlich. Sand, der behauptet, die Presse bis dahin gemieden zu haben, nutzt dieses Medium jetzt, um seine wissenschaftliche Meinung kundzutun sowie seine Vorstellungen von relevanten diskursiven Verschränkungen publik zu machen. Zwar möchte er 537 sich nicht zum aktuellen Fall äußern, doch nimmt er indirekt wiederholt darauf Bezug. Einleitend konstatiert er, dass sich das öffentliche Verständnis für solche Probleme erweitert habe und weist darauf hin, dass „[a]bnorme Geschlechtsausprägungen bei Menschen in Wirklichkeit weitaus häufiger sind, als die Leute glauben. […] Insgesamt verhält es sich so, dass vielleicht nur ganz wenige von uns als abso538 lute Männer oder Frauen charakterisiert werden können“. Während Sand mit der

det jo er Lovens Forudsætning, at Ægteskaber indgaas mellem Personer af forskelligt Køn.“, Ekstra Bladet, 28.02.1931, S. 9. 533 Hier wird über eine Johanne Katrine Nielsdatter berichtet, deren Status 1820 von weiblich zu männlich geändert worden sei, sowie über die Leiterin eines Kinderheimes, bei der es sich um Vilhelmine Møller handeln dürfte, vgl. 1.1.1; ausführlicher zum forensischen Regelwerk, vgl. Meyer 2010. 534 Ausführlicher zu Sand, vgl. 1.1 u. 4.1.4. 535 „hvis Forskninger over Kønsomdannelser og Kønshormoner i det hele er Offentligheden bekendt“, Fru Loulou: „Kønskarakteren og dens Svingninger. Prof. Knud Sand udtaler sig om abnorme Kønstilstande hos Mennesker“, in: Politiken, 01.03.1931, S. 5-6, hier S. 5. 536 „abnorme Kønstilstande hos Mennesker“, ibid. 537 Diese Einstellung ist sicher durch den Fakt motiviert, dass Sand im Fall Elvenes als rechtsmedizinischer Gutachter agiert, vgl. 4.3.3 u. 5.2.2. 538 „Abnorme Kønstilstande hos Mennesker er i Virkeligheden langt hyppigere, end Folk tror. [...] I det hele forholder det sig saaledes, at maaske kun ganske faa af os kan karak-

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Vorstellung eines geschlechtlichen Kontinuums ein progressiv anmutendes Konzept bemüht, wirkt die gleichzeitige Verwendung des Begriffs ‚abnorm‘ diesem diametral entgegen. Paradoxerweise befänden sich die ‚normgerechten‘ Menschen dann in der Minorität. Doch auch innerhalb der ‚abnormen Majorität‘ nimmt Sand weitere Abstufungen vor und erklärt die ‚hermaphroditischen Fälle‘ zu den ‚Abnorm539 sten‘. Damit liegt auf der Hand, wo sich Elvenes auf Sands geschlechtlicher Normalitätsskala wiederfände. Als ursächlich benennt Sand die fehlerhafte Geschlechtsbestimmung nach der Geburt. Die von ihm als unglücklich beschriebenen Menschen hätten einen Hilfebedarf, dessen sich die Medizin anzunehmen habe. Doch auch ihm Rahmen dieser Zuständigkeitszuschreibung bleibt Sand, auch in indirekter Abgrenzung zu Warnekros, auf Distanz zu wundersamen Behandlungsmethoden und legt den Fokus auf 540 sein eigenes Forschungsgebiet, die Endokrinologie. Er schlägt dabei einen Bogen zur strafrechtlichen Relevanz solcher Fälle und versucht, forensischen Normalisierungsinstrumenten einen Hilfsethos einzuschreiben. Die vorgestellte Hierarchisierung der verschiedenen Akteure wird dabei unmissverständlich publik gemacht. 541 Dem Subjekt denkt Sand keine diskursiv wirksame Rolle zu. Die Artikeltrilogie liest sich zweischneidig in Bezug auf Elvenes’ Subjektivität. Sie selbst ist jedoch dankbar für das Mitgefühl, dass ihr die Menschen nun entgegenbringen und avisiert, dass sich bezüglich der Herausgabe ihres Buches das Blatt 542 gewendet habe und nun ausländische Angebote eingegangen seien. Auch Fra Mand til Kvinde fokussiert auf eine subjektivierende Richtigstellung: „Alle die vielen, die den Gerüchten mit einem frivolen Lächeln gelauscht hatten, verstanden nun, dass es sich nicht um Pikanterie drehte, sondern um eine menschliche Tragö543 die.“ So kann die literarische Lili fortan mit mehr Ruhe auf den Kopenhagener Straßen flanieren. Nicht einmal beim Kauf ausländischer Magazine, die über ihr Schicksal berichten, wird sie erkannt. Die internationale Berichterstattung trägt weiter zum Stadtgespräch bei, an dem sich in Lilis Beisein auch eine schwedische Da544 me beteiligt. Ob diese bereits aus der schwedischen Presse davon erfahren hat,

teriseres som absolut Mænd eller Kvinder“ [Hervorhebung im Original], Politiken, 01.03.1931, S. 5. 539 Vgl. ibid. 540 Vgl. ibid. 541 Vgl. ibid. 542 Vgl. Elvenes an Knudsen, 06.03.1931. 543 „Alle de mange, der med et frivolt Smil havde lyttet til Rygterne, forstod nu, at det ikke drejede sig om et Pikanteri, men om en menneskelig Tragedie.“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 164. 544 Vgl. ebd., S. 164f.

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bleibt uns im Buch verborgen. Historisch lässt sich jedoch nachweisen, dass eine Reihe skandinavischer Publikationen das Thema aufgreifen. Obwohl hauptsächlich Versatzteile aus der Trilogie übernommen werden, setzen die Blätter auch eigene Akzente. So zeigt sich eine weitere dänische Zeitung angesichts der zahlreichen historischen Beispiele wenig geschockt ob dieses ‚Wunders‘ und wagt einen Blick in die gesellschaftliche Zukunft: „Im Augenblick meint man, dass man sich an gewisse Wandlungen nicht recht gewöhnen kann. Wer weiß, ob nicht der Tag kommt, da sie als ganz und gar nicht erstaunlicher Ausschlag der Launen der Natur aufgefasst werden, weil sie vielleicht viel zahlreicher vorkom545 men, als die Menschen bisher ahnen können?“ Sydsvenska Dagbladet merkt den 546 „Reklamewert“ einer solchen Geschichte angesichts einer laufenden Ausstellung an. Schnell verbreitet sich die Nachricht über die Grenzen Skandinaviens und findet im Laufe der folgenden Wochen und Monate insbesondere in deutschen Presseer547 zeugnissen verschiedenster Art Eingang. Neben den Kölnischen Nachrichten, die in ihrer Morgen-Ausgabe vom 4. März 1931 in einer Kurznachricht die – in Dänemark von Sand angestoßene – Hermaphroditismus-Debatte auf eine populärkulturelle Stufe übertragen, indem sie von 548 einem „Fall von echtem Zwitter“ schreiben, sind es zunächst die Dresdner Zeitungen, die ob der lokalen Relevanz die Neuigkeit verbreiten. Als deutscher Vorreiter berichten die Dresdner Nachrichten am 3. März von der „Geschlechtsumwand549 lung eines Künstlers“. In Anlehnung an die dänischen Blätter wird hier sugge-

545 „Man synes i Øjeblikket, at man ikke ret kan vænne sig til visse Forvandlinger. Hvem véd, om der ikke kommer en Dag, hvor de opfattes som aldeles ikke forbavsende Udslag af Naturens Luner, idet de maaske forekommer langt talrigere, end Menneske hidtil har kunnet ane?“, N.N.: „Mand eller Kvinde“, in: unbekannte Quelle, ca. März 1931, liegt als Kopie im EHA vor. 546 „reklamvärde“, N.N: „Ejnar Wegener blev Lili Elbe“, in: Sydsvenska Dagbladet Snällposten, ca. März 1931, liegt als Kopie im EHA vor. 547 Es kann jedoch von einer internationaleren Verbreitung der Geschichte ausgegangen werden. Bereits im März 1931 erfolgen Anfragen für die US-amerikanischen Presse, die u.a. Warnekros um seine Bewertung des Falles sowie die Bereitstellung von Material und die Adresse der Patientin bittet, vgl. Brief von Helene Kreckow an Kurt Warnekros, Berlin, 14.03.1931, EHA. 548 N.N.: „Ein Fall von echtem Zwitter. Einar Wegener zur Lili Elba operiert“, in: Kölnische Zeitung, 04.03.1931, Morgenausgabe, o.S. 549 N.N.: „Geschlechtsumwandlung eines Künstlers. Gelungene Operation eines Dresdner Gynäkologen“, in: Dresdner Nachrichten, 03.03.1931, S. 2; am 22. März liefert das Blatt dann noch eine Abbildung von ‚Frau Lili Elbe‘ nach, vgl. Dresdner Nachrichten, 22.03.1931, S. 19.

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riert, dass dieser – nun als „Frau Lilli Elbe“ auftretend – gerne die Gelegenheit ergreife, sich den Journalisten zu offenbaren. Die inhaltliche Führung des Artikels wird größtenteils aus der Kopenhagener Presse übernommen, mit dem Schluss, dass die operativen Prozesse zur Freilegung der ‚wahren Natur‘ geführt hätten: „Frau Elbe fühlt sich nun glücklich, von der Lebensart befreit worden zu sein, die ihr im Laufe von 50 Jahren ihrer richtigen Beschaffenheit zum Trotz aufgezwungen wur551 de.“ Am Folgetag meldet sich der Dresdner Anzeiger, das lokal führende Infor552 mationsmedium für eine bürgerlich-konservative Leserschaft, mit einer Eilmeldung zu Wort. Der Fokus der Berichterstattung richtet sich dabei fast ausschließlich auf die chirurgische Leistung des Dresdner Gynäkologen. Dieser hätte die hier ‚Lili Elven‘ genannte Patientin durch eine Reihe von Operationen zu einer Frau verwandelt. Das Hermaphroditismus-Argument, welches die deutsche Berichterstattung 553 insgesamt bestimmten sollte, greift das Blatt ebenfalls auf. Die sich mit Selbstmordgedanken tragende Elven sei ein echter Zwitter gewesen, mit männlichem Äußeren, während der Organismus hauptsächlich durch die weiblichen Eigenschaften beeinflusst gewesen sei. Trotz der überaus gelungenen Eingriffe wolle Warnekros noch die mittelfristige Entwicklung abwarten, bevor er in Fachkreisen darüber refe554 riere und publiziere. Zwei Tage später folgt im gleichen Blatt ein ausführlicher Bericht mit ähnlichem Tenor. Hierbei wird der Anschluss an die Kopenhagener Neuigkeiten deutlich. Wie schon bei der Eilmeldung wird Warnekros von der Redaktion kontaktiert, um seine Gedanken zu dem Fall zu teilen. Er beschreibt den Hintergrund der Patientin, welche an dem Zwiespalt zwischen äußerer Erscheinung – „seine sekundären 555 Geschlechtsmerkmale waren die eines ziemlich normal ausgebildeten Mannes“ – und eigenem Fühlen gelitten habe. Sie sei jedoch männlich und christlich erzogen worden, so dass sie sich in diese Rolle gezwungen hatte und versuchte, selbst den eigenen Kunstwerken einen virilen Charakter zu verleihen. Zur Differenzierung wird hier der seelischen Determinante zunächst keine biologistische, sondern eine

550 Dresdner Nachrichten, 03.03.1931, S. 2. 551 Ibid. 552 Der Dresdner Anzeiger gilt als die erste Zeitung Dresdens und blickt zu diesem Zeitpunkt bereits auf eine 200jährige Geschichte zurück, vgl. Zeißig, Herbert: Eine deutsche Zeitung. Zweihundert Jahre Dresdner Anzeiger. Eine zeitungs- und kulturgeschichtliche Festschrift, Dresden 1930. 553 Vgl. N.N.: „Aufsehenerregender Operationserfolg. Ein wissenschaftliches Experiment von Prof. Warnekros“, in: Dresdner Anzeiger, 04.03.1931, S. 2. 554 Ibid. 555 Schriftl, D.: „Geschlechtsumbildung? Die gelungene Operation des Dresdner Gynäkologen Prof. Dr. Warnekros“, in: Dresdner Anzeiger, 06.03.1931, S. 5.

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kulturelle entgegengesetzt. Als Erkenntnismoment der eigenen Geschlechtsalterität bei Elven wird jener Maskenball in Paris angeführt, der schon in der Kopenhagener Presse eine so große Rolle spielt. Aus medizinischer Sicht hat Warnekros, laut Dresdner Anzeiger, von Anfang an den Verdacht, dass es sich bei dem Fall um echtes Zwittertum handele, „das heißt, 556 daß in einem Körper männliche u n d weibliche Keimdrüsen vorhanden seien.“ Untermauert würde diese Annahme durch die Ergebnisse mikroskopischer Untersuchungen und durch den wissenschaftlichen Austausch mit Magnus Hirschfeld: „die Gelehrten kamen übereinstimmend zu der Meinung, daß sie hier tatsächlich ein 557 Neutrum vor sich hatten.“ Gemeinsam mit dem Wunsch der Patientin, von jeglichen männlichen Charakteristika befreit zu werden, legitimiere sich darüber der Eingriff für beide Wissenschaftler, da – und diese Aussage ist angesichts der Berichterstattung in Sandheden bedeutsam – „Wegener ohne jeden Zweifel ein ernst zu nehmender, künstlerisch lebhaft interessierter Mensch war, der nicht querulierte, 558 sondern wirklich im schwersten inneren Konflikt mit sich selbst lag.“ Neben dem expliziten Verweis auf die Art der medizinischen Eingriffe nimmt sich der Bericht auch der rechtlich-administrativen Fragen an. Aus Dankbarkeit gegenüber Dresden hätte sich die Dame ‚Lilli Elbe‘ nennen wollen, „mußte aber, da Namen in Dänemark geschützt sind und der Name Elbe dort schon vorkommt, ‚Lilli 559 560 Elven‘ daraus machen.“ Auch die „natürlich für ungültig“ erklärte Ehe findet einen Vermerk, bevor sich die Ausführungen in einem Hinweis auf den Roman, den sie geschrieben habe, erschöpfen. Warnekros, welchen sie als ihren Neuschöpfer sehe, solle – ganz in der Tradition der Fallstudien bei Krafft-Ebing und Hirschfeld – eine wissenschaftliche Beurteilung dazu beisteuern. Als die Dresdner Neue Presse berichtet, dass „[d]ie erste Geschlechtsumbildung 561 gelungen“ sei, avanciert der Fall am 8. März 1931 sogar zur Titelgeschichte. Wieder wird „Professor Dr. Warnekros […] in den Mittelpunkt des Tagesinteresses 562 gerückt“ – eine Strategie, die im Gros zu einer Reproduktion der Informationen

556 Dresdner Anzeiger, 06.03.1931, S. 5; bei allen anderen Fällen handele es sich, so Warnekros, um Scheinzwitter. 557 Ibid.; Hirschfeld äußert sich später gegenteilig, vgl. Hirschfeld 1935, S. 96; vgl. 4.3.1. 558 Dresdner Anzeiger, 06.03.1931, S. 5. 559 Ibid; die Namensschutzregel ist korrekt, doch ‚Elbe‘ war nie erste Wahl für den Nachnamen, vgl. 5.2.1. 560 Dresdner Anzeiger, 06.03.1931, S. 5. 561 N.N.: „Die erste Geschlechtsumbildung gelungen. Einzelheiten zu der aufsehenerregenden Operation des Dresdner Gynäkologen Professor Dr. Warnekros“, in: Dresdner Neue Presse, 08.03.1931, o.S. 562 Ibid.

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der lokalen Nachbarzeitung führt. Der Mediziner sehe den Fall – wie schon sein dänischer Kollege Sand – zwar lieber noch nicht in der Presse verhandelt, doch da 563 „die Dame der Öffentlichkeit ihren früheren Zustand preisgab“, sieht er sich nun auch befugt, auf das Besondere des Organismus derselben hinzuweisen: „Bisher 564 kannten wir echte Zwitterbildung nur bei Tieren.“ Entschärft werden diese ambivalent anmutenden Subjektpositionierungen durch ein abschließendes Äquivalenzversprechen des Arztes. Der bereits im Dresdner Anzeiger erwähnte Roman, den die Patientin geschrieben habe, solle natürlich nicht nur durch Warnekros’ Expertise gewinnen, sondern er selbst würde diesen auch „für seine wissenschaftliche Be565 urteilung des Falles mit heranziehen“. Auf die geplante wissenschaftliche Verwertung verweist auch Das 12 Uhr Blatt aus Berlin, welches sich am 9. März dazu meldet und auf vorangegangene Publikationen bezieht. Es werden Passagen aus Politiken in direkter Übersetzung wiedergegeben sowie Informationen aus den deutschen Presseerzeugnissen reproduziert. Erweitert werden diese Versatzstücke mit einer vorsichtigen Einbettung in den Berliner Sexualwissenschaftskontext. Indem das Blatt ‚Lilli Elven‘ mit den Worten 566 „Mein Leben ist ganz anders, als bei allen anderen“ zitiert, evoziert es Assoziationen zu dem 1919 veröffentlichten Film Anders als die Anderen, an dem auch 567 Magnus Hirschfeld beteiligt ist. Dessen Arbeit bleibt eine Konstante für Das 12 Uhr Blatt, welches sich nicht nur auf die Kooperation zwischen Hirschfeld und Warnekros bezieht, sondern auch vermerkt, dass es sich nicht unbedingt um die ersten solchen Eingriffe handele – es wären lediglich, „die ersten dieser Art, die Pro568 fessor Warnekros unternahm“. Das 12 Uhr Blatt druckt neben diesen Erläuterungen auch eine wichtige Aussage Warnekros’, welche die in Ekstra Bladet gemachten Ausführungen zur Reproduktionsmöglichkeit der Patientin um eine wesentliche Information erweitert: „Die Operationen führten zur Einpflanzung eines gesunden Ovariums, das durch Operation bei einer anderen Frau entfernt worden war, wo-

563 Dresdner Neue Presse, 08.03.1931, o.S. 564 Ibid. 565 Ibid. 566 N.N: „Das Werk eines Dresdner Arztes. Aus Mann wird Frau. Wie aus dem dänischen Maler Einar Wegener eine Frau Lilli Elven wurde“, in: Das 12 Uhr Blatt, 09.03.1931, o.S. 567 Anders als die Anderen gilt als einer der ersten Filme, die sich offen mit dem Thema Homosexualität auseinandersetzen und spricht dezidiert §175 an. Mit der Wiedereinführung der Filmzensur 1920 wird der Film, der bis dahin heftige Debatten entfacht hat, verboten und die Originalkopien werden vernichtet, vgl. Volk, Stefan: Skandalfilme. Cineastische Aufreger gestern und heute, Marburg 2011, S. 19ff. 568 Das 12 Uhr Blatt, 09.03.1931, o.S.

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durch natürlich keine Gebärfähigkeit hergestellt werden konnte, da die Gebärmutter 569 fehlt.“ Neben der Tagespresse sollen hier noch zwei illustrierte Publikationen erwähnt sein, die einen Übergang von der journalistischen Berichterstattung zum narrativen Charakter von Fra Mand til Kvinde vorbereiten. Zunächst veröffentlicht die Kölnische Illustrierte Zeitung am 14. März 1931 einen Bericht ihres Kopenhagener Korrespondenten Hermann Kiy. Da Kiy ein Kollege mit ähnlichem Arbeitsbereich wie Hoyer ist und Letzterer selbst eng mit dem entsprechenden Blatt zusammenarbeitet, 570 dürfte es sich bei diesem Bericht um eine Kooperation handeln. Zwar bietet das Blatt kaum neue journalistische Impulse, doch erscheint mir zumindest das Verhältnis zum Begriff des Zwittertums und zum zeitgenössischen Geschlechtsessentialismus von Bedeutung. Anders als beim abgebildeten Artikel der Kölnischen Zeitung wird zumindest in der Überschrift auf die Zwittermarkierung verzichtet. Ersetzt wird sie durch ein markiertes ‚Mann‘, welches einem nicht markierten ‚Frau‘ 571 gegenübersteht. (Abb. 7) Während das Zielgeschlecht somit zur Tatsache wird, zeigt sich das vermeintliche Ausgangsgeschlecht lediglich als eine Zuschreibung, die im Artikel selbst durch eine neue ersetzt wird: Es handele sich um „einen Menschen, der ein ausgesprochener Zwitter war, zu einer Frau gemacht und gleichzeitig 572 verjüngt [wurde]“. Kiy lässt so die deutschen und dänischen Presseaussagen vorsichtig mit Ideen für das Buch zusammenfließen, welche Hoyer in Scherl’s Magazin selbst noch weiter in Richtung der späteren narrativen Struktur verschiebt. Dort präsentiert sich der – wie die deutsche Erstausgabe – mit „Ein Mensch 573 wechselt sein Geschlecht“ betitelte Beitrag als eine werbewirksame Kostprobe für das avisierte Buch. Geteilt in vier Sektionen nimmt er einen Teil der strukturellen Hintergründe der Buchproduktion bereits vorweg, bezieht sich aber nur noch zaghaft auf die deutschen Pressebeiträge der vorangegangenen Wochen. Primär

569 Das 12 Uhr Blatt, 09.03.1931, o.S.; dieser Information zufolge kann der letzte operative Eingriffe nicht, wie in Ein Mensch wechselt sein Geschlecht suggeriert, einen natürlichen Auslauf von der Gebärmutter hergestellt haben. 570 Die Überschneidungen der Arbeitsbereiche von Harthern/Hoyer und Kiy sowohl im journalistischen Bereich als auch im Feld der Übersetzung (bei Hamsun-, Nexø- und Laxness-Übertragungen ins Deutsche tauchen die drei Namen immer wieder auf) sind augenfällig. Zudem spricht die Übernahme des Layouts bei Ein Mensch wechselt sein Geschlecht für eine Kooperation. 571 Vgl. Kölnische Illustrierte Zeitung, 14.03.1931, S. 316. 572 Ibid. 573 Hoyer, Niels: „Ein Mensch wechselt sein Geschlecht“, in: Scherl’s Magazin, Mai 1931, Heft 5, S. 439-446, hier S. 439, Open Access: www.illustrierte-presse.de/die-zeitschriften/werkansicht/dlf/73383/41/0/cache.off (zuletzt eingesehen am 19.04.2015).

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wird von Hoyer auf die dänische Artikeltrilogie verwiesen, aus der er teilweise In574 terviewsegmente übernimmt. Zwischen diesen Passagen scheint schon die textuelle Führung durch, die später sowohl den sprachlichen und strukturellen Aufbau von Fra Mand til Kvinde ausmachen soll. So kommen anschließend an Hoyers Ausführungen sowohl Gerda Wegener als auch der als K.v.W. bezeichnete Mediziner 575 zu Wort, während zum Schluss ein Teilkapitel namens „Fahrt durch die Nacht 576 von Lili Elbe“ beigefügt wird. In der Einleitung zu dieser Kostprobe wird bereits eine Autorschaft der Protagonistin suggeriert sowie werbewirksam auf das Buch 577 hingewiesen, „das im Spätsommer u.a. in deutscher Sprache vorliegen soll“. Inhaltlich wird die Zugfahrt von Paris nach Berlin gewählt und mit folgenden Worten angekündigt: „Zum letztenmal trifft er [Einar] als Mann mit einer Frau zusammen, 578 zum letzten Mal darf er ‚Ritter‘ dem ‚schwachen Geschlecht‘ gegenüber sein.“ Der Tenor von Fra Mand til Kvinde klingt sowohl in den einleitenden Worten als auch in der Leseprobe deutlich an. Auf die Berichterstattung in Sandheden reagierend, kommt eine Bewegung in die skandinavische und deutsche Presseberichterstattung, die sich an ihren jeweiligen lokalen Kontexten orientiert und nicht nur die zeitgenössische öffentliche Debatte des Falles nachhaltig beeinflusst, sondern über Fra Mand til Kvinde bis heute die Rezeption einer historischen Person mitbestimmt. Über reproduzierte Normierungen prägen die journalistischen Stränge das Abbild der Protagonistin sowie der gesellschaftlichen Umstände, in denen sich diese bewegt, tiefgreifend. Gleichzeitig produzieren sie Einschreibungen, Einpassungen sowie Abgrenzungen. 3.3.3 Ein fernes Morgenrot: Beiträge außerhalb der mehrheitsgesellschaftlichen Sphäre Zwei Artikel, die im Anschluss an die populärkulturelle Berichterstattung entstanden sind, werde ich hier separat besprechen. Obwohl sie einen wesentlich geringeren und weniger nachhaltigen Einfluss auf die allgemeine Rezeption von Elvenes’ Leben haben, erscheinen sie mir ob der spezifischen Kontexte, in denen sie entstehen, von Interesse. Sie verdeutlichen das Spannungsfeld zwischen einer kritisch subjektivierenden Auseinandersetzung mit dem öffentlichen Diskurs und der Nut-

574 Vgl. Scherl’s Magazin, Mai 1931, S. 439ff. 575 Vgl. ebd., S. 442f.; während in der Presse sonst durchweg von Warnekros die Rede ist, wird hier schon vorsichtig der Umstieg auf Werner von Kreutz (später Werner Kreutz) vorbereitet. 576 Ebd., S. 444. 577 Ibid. 578 Ibid.; in diesem Vorabdruck heißt der Protagonist noch nicht Andreas, sondern Einar.

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zung desselben für einen objektivierenden wissenschaftlichen Kontext und erweisen sich somit als bereichernde Quellen, um die zeitgenössischen Gegebenheiten sowie die folgenden Entwicklungsstränge nachzuvollziehen. Die Welt der Transvestiten, ein Sonderteil des lesbischen Berliner Stadtmaga579 zins Die Freundin, bezieht bereits am 1. April 1931 kritisch Stellung zur Presseberichterstattung der vorangegangenen Wochen. Der Autor Paul Weber nutzt die Möglichkeit, um im Zuges dessen auf die rechtliche, medizinische und gesellschaftliche Lage der Transvestiten in Deutschland aufmerksam zu machen. Zunächst gibt es auch hier einen kurzen Abriss der Geschehnisse um ‚Lilli Elven‘, wobei der Fo580 kus auf den Effekten des medizinischen Eingriffs liegt. Weber betont, dass sich angesichts der Berichterstattung bei vielen Transvestiten der Wunsch nach ähnlichen Behandlungen einstelle, welche aber den meisten nicht zugänglich seien, da sie ohne eine ‚Zwitterdiagnose‘ kaum einen Wissenschaftler dazu veranlassen könnten, diese nicht ungefährlichen Eingriffe vorzunehmen: „Selbst wenn man in seinen Wünschen nicht so weit gehen will, bleibt doch die Tatsache, daß es in Deutschland noch Dinge gibt, die inbezug auf den Transvestitismus stark der Re581 form bedürfen.“ Dementsprechend empört es Weber auch, dass die Presse sich lediglich auf den sensationellen und in seinen Augen privilegierten Einzelfall stürzt, während die weitreichenden Implikationen für eine insgesamt marginalisierte Gruppe keine Beachtung finden: „Was wir bei der Polemik über den Fall Lilli Elven in den Tageszeitungen lebhaft bedauern, ist die Tatsache, daß nicht eine einzige Zeitung darauf hingewiesen hat, daß dieser Fall durchaus nicht alleinstehend ist. In keiner Zeitung fand sich auch nur eine Zeile, daß es auch in Deutschland Transvestiten gibt, die dafür kämpfen, ihrem wahren Wesen entsprechend zu leben. […] Fehlen die zwitterhaften Voraussetzungen, die im Falle Lilli Elven glücklicherweise vorhanden waren, so gelingt es noch nicht einmal, eine Änderung des z.B. männlichen oder weiblichen Vornamens zu erreichen. […] Der interessierte Leser muß also feststellen, daß die mit so großem Geschrei verkündete gewiß anzuerkennende Tat, für die Tageszeitun-

579 Zur Bedeutung der Transvestiten-Beilage für die Berliner Subkultur und zu weiteren einschlägigen medialen Erzeugnissen, vgl. Herrn 2005, S. 144ff.; ausführlicher zu Die Freundin, vgl. Schader, Heike: Virile, Vamps und Veilchen. Sexualität, Begehren und Erotik in den Zeitschriften homosexueller Frauen im Berlin der 1920er Jahre, Königstein 2004, S. 43ff.; vgl. Vogel, Katharina: „Zum Selbstverständnis lesbischer Frauen in der Weimarer Republik. Eine Analyse der Zeitschrift ‚Die Freundin‘ 1924-1933“, in: Berlin-Museum (Hrsg.): Eldorado. Homosexuelle Frauen und Männer in Berlin 18501950, Berlin 1984, S. 162-168. 580 Vgl. Weber, Paul: „Aus Mann wird Frau“, in: Die Freundin, 01.04.1931, o.S. 581 Ibid.

202 | »W IE L ILI ZU EINEM RICHTIGEN M ÄDCHEN WURDE « gen nichts weiter als eine willkommene Sensation war […] Im Kampf für die Freiheit und für das Recht der Transvestiten blinkt ein fernes Morgenrot, und unsere Sache muß es sein, im Kampf nicht zu ermüden. Versuchen wir uns frei zu machen von jeder Hascherei nach Sensation und vermeiden wir es, unliebsames Aufsehen in der Öffentlichkeit zu erregen, um so früher wird die Anerkennung einsetzen.“582

Die Wahl, den Schritt in die Öffentlichkeit zu wagen, welcher wohlgemerkt der diffamierenden Berichterstattung in Sandheden geschuldet ist, kann somit nicht als universelle Integrationsstrategie für eine gesamte marginalisierte Gruppe gelten, auch wenn die historische sowie die literarische Lili später eine diesbezügliche Erleichterung empfinden. Schon im zeitgenössischen Kontext sind die Integrationsansätze divers und werden durch die individuellen Kontexte der Subjekte bestimmt. Trotz dieser unterschiedlichen Ausrichtung zu Fragen der gesellschaftlichen Integration geht es sowohl in Webers Argumentation, im Ansatz von Elvenes als auch in der Strategie von Fra Mand til Kvinde um das Wohl des einzelnen Subjekts. Diametral dazu macht sich der Literaturwissenschaftler André Jolles, zu jener Zeit Professor an der Universität Leipzig, kaum Gedanken zur Lage der Subjekte, die er als Aufhänger für seine volkskundliche und literaturwissenschaftliche Studie anführt, welche im August 1931 in den Mitteldeutschen Blättern für Volkskunde erscheint. Nach einem kurzen Exkurs zu theatralen Verwandlungen wendet er sich der populären Presse zu und konstatiert, dass dort Fälle anzutreffen seien, „in denen aus dem Spiel Ernst geworden ist, in denen ‚Rock-‘ und ‚Hosenrolle‘ im Leben, in der Gesellschaft, im Volke verwirklicht worden sind, ja, in denen wir den Ge583 schlechtswechsel physiologisch vollzogen sehen.“ An diese Einführung anschließend berichtet er von Düsseldorfer Morden, welche angeblich von einem Mann verübt worden seien, der ‚Frauenkleider‘ angelegt habe. Jolles’ überaus abjekte Darstellung des Subjekts bleibt auch angesichts dessen Unschuld erhalten: „Man konnte sich später von seiner Harmlosigkeit überzeugen, doch der Leser der Notizen hatte das peinliche Gefühl von etwas Verächtlichem 584 und Ekligem gegenüber dem widerlichen Gebaren eines Irren.“ Von diesen Beschreibungen ausgehend, leitet Jolles nahtlos auf die Berichterstattung zu Elvenes über, welcher er auf Grund ihres medizinisch-wissenschaftlichen Geleitschutzes gemäßigter begegnet: „Diesem Fall läßt sich indessen ein zweiter gut zur Seite stel-

582 Die Freundin, 01.04.1931, o.S. 583 Jolles, André: „Geschlechtswechsel in Literatur und Volkskunde“, in: Mitteldeutsche Blätter für Volkskunde, August 1931, 4. Heft, S. 145-161, hier S. 145; Jolles konstatiert später im Text, dass er die Tageszeitung für volkskundlich wertvoll halte: „sie wirkt am meisten als Wirklichkeit auf das allgemeine menschliche Bewußtsein.“, ebd., S. 156. 584 Ebd., S. 145.

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len, noch wunderlicher und weitgehender als jener, aber verbürgt durch die Erklä585 rungen eines bekannten Arztes.“ Das hierarchische Gefälle zwischen Wissenschaft und Subjekt könnte nicht deutlicher zu Tage treten. In Anlehnung an eine Reihe der besprochenen deutschen Pressebereichte reproduziert Jolles die Eckpunkte der Geschichte, um dann auf zwei Beispiele von gegenläufigen Geschlechtswechseln einzugehen. Den Übertritten vom weiblichen in den männlichen Modus steht er dabei weit offener gegenüber. Er stellt einen zitierten Bericht über den operativ behandelten 14-jährigen Yvon-Marie, der bei der Geburt zunächst dem weiblichen Geschlecht zugeordnet worden ist, Elvenes’ Geschichte gegenüber: „Dort [bei Lili] war das Ergebnis die etwas peinlich kokette Dame, hier [bei Yvon-Marie] 586 drückte der ‚kleine Athlet‘ die wesenhafte Verwandlung aus.“ Auch dem letzten von Jolles betrachteten volkskundlichen Fall von „[d]er weiblichen Buchhalterin in 587 Männerkleidern“ bringt er Wohlwollen entgegen, da sie als „charaktervolle Frau 588 und treusorgende Mutter“ die Maskerade nur zum Wohl ihrer Kinder bemühe. Vor der wertenden Schablone dieser ausgewählten volkskundlichen Fälle beginnt Jolles seine Analyse der literarischen Darstellungen des Geschlechtswechsels, welche das moralische Muster der beschriebenen Fälle perfekt bedienen. Von Ovid über Boccaccio bis zu Gottfried Keller erscheinen die Übertritte zum weiblichen Geschlecht als unmoralisch, während denen zum männlichen Geschlecht eine sittliche Größe innezuwohnen scheint. Nach der Kategorisierung dieser literarischen Er589 scheinungen kommt Jolles zu den zeitgenössischen volkskundlichen Bezügen zurück und hinterfragt seine Schlüsse, jedoch mit einem ernüchternden Ergebnis: „Es wäre ein merkwürdiger Zufall, wenn alle Mädchen, die sich als Jungen verkleidet haben, besonders treue Seelen gewesen wären, alle Knaben, die sich als Mädchen anzogen, damit eine Entweihung begangen, eine Schuld auf sich geladen hätten. Die pathologischen Individuen sind uns gleich unsympathisch, zu welchem Geschlecht sie auch gehören.“590

585 Jolles 1931, S. 145. 586 Ebd., S. 146. 587 Ibid; hier habe sich eine verwitwete Frau mit zwei Kindern aus ökonomischen Gründen dazu entschieden, in männlich konnotierter Kleidung eine besser bezahlte Stelle als Buchhalter anzunehmen. 588 Ebd., S. 147. 589 Jolles kategorisiert die literarischen Erscheinungen in (A) ein gynandrisches und (B) ein androgynes Motiv. Mit Motiv A verknüpft er „eine Entweihung“, bei der die *Protagonist*innen Schuld auf sich laden, sowie einen „erotischen Zweck“ verfolgten, während er bei Motiv B von Aufopferung und „negativer Erotik“ in Form von Treue schreibt, ebd., S. 150. 590 Ebd., S. 159.

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Nun stellt sich die Frage, wo für Jolles – gerade in Bezug auf die Literatur – das Spiel endet und das Pathologische einsetzt. Obwohl er die Grenzen nicht klar markiert, verweist er auf die Rolle der Reproduktion in diesem Zusammenhang. Dazu stellt er seiner Analyse ein bewertendes Instrumentarium zur Seite, welches auf Hierarchisierung von Lebensformen und Geschlechtskategorien basiert. Einerseits baut er seine Argumentation auf die Ansicht, dass der Mann das bessere Geschlecht sei und sich demnach mit einem Geschlechtsübertritt entwürdigen würde, andererseits beschäftigt er sich mit der „Frage des Vorhandenseins von Geschlecht und Ge591 schlechtern in der Welt überhaupt.“ So sei der saisonale Geschlechtswechsel in der erzeugenden Natur nichts Ungewöhnliches, würde der Acker doch sowohl befruchten als auch befruchtet werden. Aber trotz Jolles abschließender Kritik am „Doppelethos der Geschlechtshete592 rogenität“ können seiner oft widersprüchlichen Argumentation zufolge diese fließenden Reproduktionsanalogien für den Menschen nicht gelten: „Auf verschiedenen Gesellschaftsstufen gibt es da Unterschiede. Der Mann tut die Arbeit der Frau ebensowenig wie sie die des Mannes. Befruchten und Gebären stehen einander 593 gegenüber. Im Menschen trennen sich die Geschlechter.“ Neben der Reduzierung der Geschlechtlichkeit auf die Reproduktionsdimension geht damit eine implizite Entmenschlichung und dementsprechende hierarchische Herabstufung jener Subjekte einher, die dieser Trennung nicht entsprechen oder die versuchen, sich aus welchen Gründen auch immer über diese Trennung hinwegzusetzen. Auch außerhalb einer breiten Öffentlichkeit zeichnen die Beiträge von Weber und Jolles ein nachhaltiges Bild bezüglich der Subjektivität der besprochenen Individuen, denn deren Wahrnehmung als Subjekte steht einem wissenschaftlichen Objektsstatus gegenüber – eine fundamentale Opposition, die sich in ihrer historischen 594 Entwicklung teilweise bis in die Gegenwart nachvollziehen lässt.

591 Jolles 1931, S. 159; Jolles verweist in diesem Zusammenhang auch auf die Wirksamkeit von Sprache. 592 Ebd., S. 161; Jolles beschäftigt sich auch mit den Zusammenhängen von Genesis und Geschlechtswechsel. 593 Ebd., S. 160. 594 Obwohl sich Webers Art der Argumentation gegenwärtig sowohl in aktivistischen als auch akademischen Kreisen wiederfinden lässt, gibt es weiterhin wissenschaftliche Auseinandersetzungen, die ihren Forschungsgegenstand nicht als Subjekt definieren; zu dieser Problematik, vgl. Namaste, Ki: „‚Tragic Misreadings‘: Queer Theory’s Erasure of Transgender Subjectivity“, in: Beemyn, Brett u. Mickey Eliason: Queer Studies. A Lesbian, Gay, Bisexual and Transgender Anthology, New York/London 1996, S. 183203; vgl. Namaste, Viviane K.: Invisible Lives. The Erasure of Transsexual and Transgendered People, Chicago 2000.

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3.3.4 Post mortem et post scriptum: Journalistisch-literarische Verschränkungen im Schatten einer neuen Zeit Elvenes’ Tod im September 1931 entfacht ein erneutes journalistisches Interesse. Die rückblickenden Meldungen dienen dabei größtenteils der medizinischen Absolution des Arztes und leiten nahtlos in ein Marketing für das kurz darauf erscheinende Fra Mand til Kvinde über, welches nun selbst den journalistischen Diskurs beeinflusst. 595 596 Neben der Bewertung von Elvenes’ Leben als tragisch, eigentümlich, fan597 598 tastisch, und phänomenal erinnert die populäre Presse speziell an die Operationen. Von besonderem Interesse erscheinen dabei der letzte Eingriff und dessen Zusammenhang mit dem Tod von Elvenes. Während in Fra Mand til Kvinde ein Nierenleiden und eine sich daraus ergebende Herzlähmung als Todesursache angeführt werden, berichtet die Mehrzahl der Blätter von einer Krebserkrankung, welche jedoch nicht mit der gut verlaufenen abschließenden Operation in Zusammenhang 599 stünde. In einigen Dresdner Blättern ist sogar die Rede von einem „Frauenlei600 den“ oder genauer von einem vermeintlich „durch eine Bauchschwangerschaft 601 verursacht[en]“ Tod. Insgesamt versuchen die meisten Publikationen die chirurgischen Eingriffe und die Todesursache zu trennen und somit Warnekros zu entlasten. Eine Ausnahme bildet die dänische Zeitung B.T. (Berlingske Tidende), welche

595 Vgl. Fru Loulou: „En tragisk Livsskæbne afsluttedes i Gaar. Lili Elvenes – tidligere Maleren Einar Wegener – er død paa Frauenklinik i Dresden“, in: Politiken, 14.09.1931, S. 5; vgl. Bast, Jørgen: „Lili Elvenæs, alias Einar Wegener, er afgaaet ved Døden. En tragisk afslutning paa en fantastisk Livsskæbne“, in: B.T., 14.09.1931, S. 2; vgl. nh.: „Tragisches Schicksal“, in: Berliner-Lokalanzeiger, 14.09.1931, Abendausgabe, o.S. 596 Vgl. Politiken, 14.09.1931, S. 5. 597 Vgl. B.T., 14.09.1931, S. 2; vgl. N.N.: „Phantastische Frauenschicksale. Zum Tode von Lilli Elven“, in: Dresdner Neue Presse, 20.09.1931, o.S. 598 Vgl. N.N.: „Als Mann geboren – als Frau gestorben. Das Phänomen Lili Elbe“, in: Der Tag, 15.09.1931, o.S. 599 Vgl. Politiken, 14.09.1931, S. 5; vgl. N.N.: Lili Elven †. Der Dresdner Fall operativer Geschlechtsumwandlung“, in: Dresdner Anzeiger, 15.09.1931, S. 7; vgl. Weber, Paul: „Lili Elbe tot!“; in: Die Freundin, 30.09.1931, Nummer 39, o.S. 600 Vgl. Dresdner Neue Presse, 20.09.1931, o.S. 601 Vgl. Hoyer an Schumann, 27.06.1932, S. 2; Hoyer, der sich gegen diese Gerüchte wehrt, gibt den Namen der Zeitung nicht an, die diese Todesursache veröffentlicht haben soll. Er erwähnt nur, dass es sich um ein Dresdner Blatt handele. In den Dresdner Zeitungen, die ich eingesehen habe, konnte ich diese Berichterstattung nicht nachweisen.

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bei den Eingriffen von „einer Art Vivisektion, zu der sich das Opfer freiwillig mel602 dete“ spricht und auf die fatalen Konsequenzen der medizinischen Eingriffe ver603 weist: „Die Natur ließ sich doch nicht trotzen.“ Mit dieser technologiekritischen Perspektive steht B.T. recht allein da, denn die meisten Blätter betonen die Notwendigkeit der Eingriffe und in Dresden wird sogar von „den Fortschritten und Großta604 ten der medizinischen Wissenschaft“ getönt. Angesichts dieser Progression wird das autobiographische Manuskript, welches Elvenes im Angesicht des Todes vollendet habe, sowohl von der populären Presse als auch von subkulturellen Kreisen 605 gespannt antizipiert. Wenige Monate später, Anfang Dezember 1931, erscheint Fra Mand til Kvinde in dänischer Sprache und wird sogleich im Feuilleton der dänischen und norwegischen Presse besprochen. Während die dänischen Blätter kurz vor der Herausgabe Ernst Harthern interviewen, publiziert die norwegische Tidens Tegn nach dem Erscheinen eine Zusammenfassung des Buches. Einen sympathisierenden Ansatz teilen die skandinavischen Publikationen. In Dänemark betont Harthern, dass die letzten Gedanken der Sterbenden sich 606 um das Buch drehten und sie sich dadurch erhoffte, die Missverständnisse bezüglich ihres Lebens aufzulösen und ihrer Umwelt zu vermitteln, dass diese andere 607 Menschen nicht unbedacht verurteilen solle. Zudem sei sie begeistert gewesen, 608 der Wissenschaft helfen zu können. In diesem Zusammenhang weist der Herausgeber darauf hin, dass Warnekros sie zur Niederschrift aufgefordert und den Text

602 „en Slags Vivisektion, hvor Ofret meldte sig frivilligt.“, B.T., 14.09.1931, S. 2. 603 „Naturen lod sig alligevel ikke trodse.“, ibid. 604 Dresdner Neue Presse, 20.09.1931, o.S.; Weber weist in Die Freundin zudem darauf hin, dass auch in Berlin ähnliche Eingriffe vorgenommen wurden, so dass es sich nicht um einen Einzelfall handele, vgl. Die Freundin, 30.09.1931, o.S. 605 In der Subkultur wird davon ausgegangen, dass es sich bisher nur um Notizen handele, aber mit der inständigen Hoffnung auf die Herausgabe der Textes: „Vielleicht gelingt es doch einem mit der Materie vertrauten Fachmann, dieses Material zu sichten und zu verarbeiten.“, Die Freundin, 30.09.1931, o.S. 606 Vgl. Politiken, 28.11.1931, S. 6; vgl. B.T., 28.11.1931, S. 2. 607 Vgl. Politiken, 28.11.1931, S. 6; vgl. B.T., 28.11.1931, S. 2; in einem späteren Brief erläutert Hoyer nochmals die Bedeutung des Textes für Elvenes: „Lili Elbe hatte mir kurz vor der Abreise gesagt: „Glauben Sie mir, mein Buch m u s s schon deshalb erscheinen, damit ich mein Leben rechtfertigen kann wie mein – Sterben… Man hat Einar und mich im Leben besudelt… man wird es auch nach meinem Tode wieder versuchen. Geht aber meine Beichte in die Welt hinaus, so wird man die Wahrheit um ihn und mich kennen lernen… aber auch erst dann…“, Hoyer an Schumann, 27.06.1932. S. 2. 608 Vgl. B.T., 28.11.1931, S. 2.

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im Anschluss durchgesehen habe. Dennoch sieht sich Harthern der Frage ausgesetzt, ob das Buch nicht als reine Spekulation aufgefasst werden könne und Empö610 rung erwecken würde. Diesen offensichtlichen Anknüpfungen an die antizipierenden Vorwürfe durch Sandheden entgegnet der Herausgeber mit einer entschiedenen Verneinung. Er betont die sensationsfreie Form der Autobiographie, Elvenes’ Streben nach einer wahrhaftigen Darstellung sowie deren große Angst vor öffentli611 cher Aufmerksamkeit. Bezüge zur Narration selbst sind in Politiken und B.T. nur 612 vereinzelt anzutreffen, während Socialdemokraten zumindest die Normalisierungsstrategien von Fra Mand til Kvinde aufgreift, um klar zu stellen, dass Einar männlich und keineswegs homosexuell gewesen sei, während es sich bei Lili um 613 eine normale, weibliche Frau gehandelt habe. Auch versäumt es Harthern nicht, darauf hinzuweisen, dass das Buch demnächst auf Deutsch, Englisch und Franzö614 sisch veröffentlicht werde. Doch zunächst erreicht die dänische Ausgabe Norwegen und wird von Tidens Tegn als „das merkwürdigste Buch des Jahres, ja eines der merkwürdigsten Bücher, 615 das jemals gedruckt werden wird“ vorgestellt. Nach einem Verweis auf das Ableben der Protagonistin macht sich das Blatt daran, die narrativen Stränge des Textes, der hier als Tagebuch bezeichnet wird, zusammenzufassen und bedient sich dabei derselben Abbildungen und handschriftlichen Dokumente wie die dänische Originalausgabe. Wie schon der Geist des Buches, wird auch die von Harthern in der dänischen Presse formulierte Argumentation zum moralischen Charakter des Textes übernommen: „Das unendlich schwierige Thema wird mit so großem Takt behandelt, dass kein Mensch Anstoß daran nehmen kann, aber man merkt, dass die Nerven derjenigen, die das Tagebuch geschrieben hat, auf Hochspannung waren. Aber 616 wer kann ihr das verdenken.“

609 Vgl. B.T., 28.11.1931, S. 2; vgl. Socialdemokraten, 28.11.1931, S. 6. 610 Vgl. Politiken, 28.11.1931, S. 6; vgl. Socialdemokraten, 28.11.1931, S. 6. 611 Vgl. B.T., 28.11.1931, S. 2; vgl. Socialdemokraten, 28.11.1931, S. 6. 612 B.T. illustriert seinen Beitrag jedoch mit den Schriftproben aus dem Buch, vgl. B.T., 28.11.1931, S. 2. 613 Vgl. Socialdemokraten, 28.11.1931, S. 6. 614 Vgl. ibid. 615 „Årets merkeligste bok, ja en av de merkeligste bøker som nogengang vil bli trykt“, N.N.: „Manne som blev kvinne. Et utsnitt av maleren Einar Wegeners lidelseshistorie. Lili Elbes opsiktsvekkende bekjennelser offentliggjort“, in: Tidens Tegn, 03.12.1931, S. 6 u. S. 9, hier S. 6. 616 „Det uendelig vanskelige emne er behandlet med så stor takt, at ikke et menneske kan ta forargelse av det, men man merker, at den, som har skrevet dagboken har hatt nervene på høispenn. Men hvem kan fortenke henne i det.“, ebd., S. 9.

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Während in den skandinavischen Blättern kaum eine kritische Auseinandersetzung mit Fra Mand til Kvinde zu finden ist, nimmt sich die danophile Elisabeth von Castonier ein paar Monate später im Prager Tagblatt, einer deutschsprachigen in 617 Böhmen erscheinenden Tageszeitung, dieser Aufgabe an. In ihrem mit „Eine 618 Frau wird geschaffen“ betitelten Beitrag nimmt sie zunächst Bezug auf das Buch, um sich danach einer eingehenden Kritik des Textes bezüglich wissenschaftlicher, gesellschaftlicher aber auch inhaltlicher und formaler Aspekte zu widmen. Zunächst setzt sie sich mit den medizinischen Praktiken auseinander und wirft den Pariser Medizinern, welche Lili laut Fra Mand til Kvinde konsultiert hat, vor, „[m]it den 619 üblichen Redensarten des Arztes […] ihre totale Unwissenheit“ zu verschleiern und sich an Stelle dessen hinter dubiosen Diagnosen und Behandlungsmethoden zu verstecken. Der ihr als Zwangsbegutachtung anmutenden Untersuchung im Berliner Institut für Sexualwissenschaft steht sie ebenfalls skeptisch gegenüber: „er [Einar] muss natürlich ins Institut für Sexualwissenschaft, wird von verschiedenen Autoritäten untersucht, begutachtet und von allen Seiten photographiert, ehe er auf den 620 621 Operationstisch darf.“ Auch vor dem lokal relevanten Prof. Warnekros, zu 622 dem Lili in „seltsame[r] Abhängigkeit“ stehe und „der sie, wie ein Gott, zur Frau 623 geformt hat“ macht Castonier nicht halt. Sie erlaubt sich, die Frage zu stellen, ob jener letzte Eingriff medizinisch zu verantworten war und bezieht sich dabei auf die abschließenden Briefpassagen der Protagonistin:

617 Die in Berlin geborene Castonier arbeitet neben ihrer journalistischen Tätigkeit auch als Schriftstellerin; für mehr zu Castonier, vgl. Frings, Dagmar u. Jörg Kuhn: Die Borchardts. Auf den Spuren einer Berliner Familie, Berlin 2011, S. 83ff. 618 Castonier, Elisabeth von: „Eine Frau wird geschaffen“, in: Prager Tagblatt, Der Sonntag, 06.03.1932, S. I. 619 Ibid. 620 Ibid.; diese Art von Kritik an den Begutachtungspraktiken innerhalb der deutschen Sexualwissenschaft lässt sich bis heute nachvollziehen, vgl. De Silva, Adrian: „Transsexualität im Spannungsfeld juristischer und medizinischer Diskurse“, in: Zeitschrift für Sexualforschung, September 2005, Heft 3, S. 258-271; vgl. Güldenring, AnnetteKathrin: „Zur ‚Psychodiagnostik von Geschlechtsidentität‘ im Rahmen des Transsexuellengesetzes“, in: Zeitschrift für Sexualforschung, Juni 2013, Heft 2, S. 160-174; vgl. Hamm, Jonas A. u. Arn Thorben Sauer: „Perspektivenwechsel: Vorschläge für eine menschenrechts- und bedürfnisorientierte Trans*-Gesundheitsversorgung“, in: Zeitschrift für Sexualforschung, März 2014, Heft 1, S. 4-30. 621 Warnekros ist als Nachfolger von Prof. Wilhelm Weibel im Gespräch und soll Ordinarius für Gynäkologie und Geburtshilfe an der Deutschen Universität Prag werden. 622 Prager Tagblatt, 06.03.1932, S. I. 623 Ibid.

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„Wie Hoyer bemerkt, wurde als Todesursache ein altes Nierenleiden angegeben, an dem Einar Wegener gelitten hatte, zu dem Herzlähmung trat. Und es bleibt dabei die Frage offen, ob nicht gerade dies alte Leiden nach der Operation aufgeflackert ist oder ob der ganze Organismus infolge der schweren Eingriffe und Erschütterungen zu schwach war, um den letzten Eingriff zu ertragen, denn ihre wörtlich wiedergegebenen Tagebuchnotizen betonen immer wieder, wie schwach sie sich fühlt und wie furchtbar sie gelitten hat.“624

Doch Castoniers Kritik erschöpft sich nicht bei den medizinischen Praktiken, vielmehr schaut sie sich auch die in Fra Mand til Kvinde geschilderten Auswirkungen derselben an, welche ihr weniger den sehr schnell wirksamen technologischen Eingriffen, denn einem neuen Selbstbewusstsein und Identitätsverständnis seitens der Protagonistin geschuldet scheinen: „Diese Umwandlung scheint mir etwas sehr rasch vorgegangen zu sein, denn gleich nach der äußeren, plastischen Operation sollen sich Stimme und Handschrift völlig verändert haben. Und nach der Drüsenübertragung war Lili eben einfach da. Es scheint mir aber, als ob nicht der Eingriff, sondern hauptsächlich das Bewußtsein, ganz Frau zu sein, sie bestärkt habe, sich völlig als Frau zu fühlen.“625

Die Autorin spricht einen wichtigen Faktor von Identitätsbildung und gesellschaftlicher Integration an, zu dem sich ein weit schwierigerer dazugesellt – eine durch die populäre Presse gesteuerte Sensationslust. Diese, so Castonier, habe sich mit ihrer Berichterstattung im vorangegangenen Jahr nicht mit Ruhm bekleckert, sondern „die Angelegenheit wohlig schmatzend durchgekaut und sensationell aufgezogen. […] Erst nachdem eine große Tageszeitung in einem Artikel klarmacht, daß es sich nicht um pikante Dinge, sondern um eine menschliche Tragödie handelt, wird 626 Mitgefühl große Mode“. Auch wenn Castonier Hoyers Abkehr von der Sensationsgier unterstützt und seine Gewissenhaftigkeit beim Zusammentragen des Buches nicht bezweifelt, weist sie dennoch darauf hin, dass der Herausgeber „auch sehr viel Eigenes gefühlsmäßig 627 dazugegeben“ habe. Der Text fühle sich streckenweise romanhaft an und werde ihren Vorstellungen von einem authentischen Dokument nicht gerecht: „Hoyer hat den Stoff bearbeitet, Dokumente sind nur vereinzelt wiedergegeben, statt daß nur Notizen, Briefe und, soweit zugänglich, die medizinischen Dokumente veröffentlicht wurden.

624 Prager Tagblatt, 06.03.1932, S. I. 625 Ibid. 626 Ibid. 627 Ibid.

210 | »W IE L ILI ZU EINEM RICHTIGEN M ÄDCHEN WURDE « Denn die Geschichte dieser märchenhaften Umwandlung und Erschaffung einer Frau aus einem erwachsenen Mann durch das Messer ist nur da erschütternd, wo dieser Mensch sich selbst mit seinen eigenen Worten äußert.“628

In Anbetracht der Veränderungen, die der Text bis zur Veröffentlichung von Ein Mensch wechselt sein Geschlecht erfährt, kann Castoniers Appell nach mehr Authentizität nicht an Hoyer vorbeigegangen sein. Zwar bezieht er sich bei den Ände629 rungen auf vermeintliche Forderungen in Politiken, doch de facto läßt sich ein 630 Großteil der Impulse in Castoniers Kritik finden, welche Hoyer bekannt ist. Als Ein Mensch wechselt sein Geschlecht im Oktober 1932 auf den Markt kommt, ist die politische Lage in Deutschland angespannt. Während die Vor- und Nachwehen der Reichstagswahl vom 6. November 1932 die Titelseiten bestimmen, findet sich in den Literaturbeilagen einiger Publikationen noch Platz für eine Rezension oder zumindest einen Hinweis auf die literarische Neuerscheinung. Das 12 Uhr Blatt widmet dem Text bereits Ende Oktober einen Artikel, beschränkt sich 631 aber auf eine kurze Zusammenfassung des Inhaltes. Auch das Magazin Die Woche, welches etwas später dazu publiziert, fasst sich kurz, weist jedoch darauf hin, dass es sich bei Ein Mensch wechselt sein Geschlecht um ein Buch handele, das nicht von einem literarischen Standpunkt her beleuchtet werden könne – die Ausdruckskraft läge hier im Stoff selbst. Hoyers redigierende Arbeit am authentischen Material wird gewürdigt und mit dem Hinweis versehen, dass dieser Text sein Ge632 wicht auf den seelischen Prozess und nicht die biologischen Tatbestände läge.

628 Prager Tagblatt, 06.03.1932, S. I. 629 „Dieses Blatt forderte, dass man jetzt nach Lili Elbes Tod noch mehr derartiger Dokumente Lili Elbes veröffentliche: dieser Forderung kommt die deutsche Ausgabe nach, in der zum erstenmal alle Briefe Lili Elbes aus der Dresdner Zeit veröffentlicht werden, die ein getreues, erschütterndes Bild der nackten Tatsachen gibt, ebenfalls Briefe, die Lili Elbe während ihrer zweiten Dresdner Zeit geschrieben hat, die erst unmittelbar vor ihrem Tod abbrechen…“, Hoyer an Schumann, 27.06.1932, S. 2. 630 Vgl. Brief von Richard Rosenheim (Prager Tagblatt) an Niels Hoyer, Prag, 10.03.1932, EHA. 631 Vgl. N.N.: „Der Mann der als Frau starb. Die hinterlassenen Papiere der Lili Elbe“, in: Das 12 Uhr Blatt, 31.10.1932, o.S. 632 Vgl. Dr. N: „Neue Bücher. Lili Elbe: Ein Mensch wechselt sein Geschlecht. Aus hinterlassenen Papieren herausgegeben von Niels Hoyer. Karl Reißner-Verlag, Dresden“, in: Die Woche, 12.11.1932, Nr. 46, o.S.; Die Publikation veröffentlicht auch einen Hinweis bezüglich der Zielgruppe: „Für enge Geister und für junge Mädchen ist dieses Buch nicht geschrieben; noch weniger für Leser, die brutale Sensationen wünschen. Denn sein Ernst ist so gewaltig, daß die Sensation gänzlich darin erlischt.“, ibid.

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An dieser Stelle setzt auch die Bremer Weser-Zeitung an, welche den Text als ein Werk für den psychologisch interessierten Leser versteht. Dabei wird insbesondere Hoyers Arbeit gewürdigt, welcher aus reiner Nächstenliebe das Geheimnis von Lilis Existenz freigelegt und somit zur Beleuchtung der „seelische[n] Seite des 633 Schicksals“, welche sonst im Dunkeln geblieben wäre, beigetragen habe. Doch auch auf die medizinischen und physiologischen Aspekte verweist das Blatt, indem es seine *Leser*innen darauf aufmerksam macht, welche Grundfesten des zeitgenössischen Wissens und Glaubens dadurch wiederholt in Frage gestellt werden müssten: „Dieser unerhörte Fall beschäftigte nicht nur die Ärztewelt, vielmehr wurden Psychologen, Pädagogen, ja vermutlich jeder denkende Mensch auf das Problem 634 der Zweigeschlechtlichkeit erneut hingewiesen.“ Da die Weser-Zeitung sich eher den übergreifenden gesellschaftlichen Fragen angesichts dieser Buchveröffentlichung widmet, verbleibt Wolfgang von Einsiedel die Aufgabe, in der Frankfurter Zeitung eine literarische Kritik anzubringen. Das Blatt weist bereits Ende Oktober 1932 auf Ein Mensch wechselt sein Geschlecht 635 hin, veröffentlicht seine Rezension jedoch erst einen Monat später. Einsiedel 636 greift ebenfalls die „polaren Grundformen menschlichen Daseins“ auf und verweist damit auf die ursächliche Problematik eines dichotomen Geschlechtersystems. Doch verweilt er nur kurz bei diesem Gedanken und steigt schnell in eine inhaltliche und ästhetische Analyse ein, die sich zu Teilen mit den Ansprüchen, die Castonier gestellt hat, deckt. So bemerkt er, dass bei der Geschichte zwar etwas Banales mitschwinge, hebt jedoch gleichzeitig den dokumentarischen Eindruck des Textes heraus, welchen er durch die Beigabe der Bilder und der Schriftproben verstärkt sieht: „Daß die vorliegenden Aufzeichnungen nicht zur Form gediehen, sondern gleichsam Improvisationen geblieben sind, erhöht ihren dokumentarischen Wert. Denn auf diese Weise wird die Art der an sich literarisch anspruchslosen, fast dilettantischen Darstellungen mindestens so aufschlußreich wie die berichteten Tatsachen selbst: als unverfälschter Ausdruck einer eigentümlichen Zwitterhaftigkeit. Und es spricht für den Takt des Herausgebers, daß er überall das Phänomen selbst sprechen läßt und auch da, wo er verbindenden Text einschalten mußte,

633 Vgl. A-y.: „Lili Elbe, Ein Mensch wechselt sein Geschlecht. Eine Lebensbeichte herausgegeben von Niels Hoyer. (Carl Reißner Verlag, Dresden)“, in: Weser-Zeitung, 20.11.1932, o.S. 634 Ibid. 635 Vgl. N.N.: „Neue Bücher. Eingegangen vom 19. Bis 25. Oktober 1932“, in: Frankfurter Zeitung, Literaturblatt, 30.10.1932, S. 18. 636 Einsiedel, Wolfgang v.: „Das Phänomen eines Geschlechtertausches“, in: Frankfurter Zeitung, Literaturblatt, 27.11.1932, S. 17.

212 | »W IE L ILI ZU EINEM RICHTIGEN M ÄDCHEN WURDE « die Diktion der Verfasserin beibehält und gleichsam das Gefühlsklima der Aufzeichnungen wahrt.“637

Einsiedel liest das Buch dementsprechend genau so, wie sich Hoyer die Rezeption 638 nach den Änderungen vorstellt. Zudem spielt er sowohl Hoyers Absichten, einen Roman zu verfassen sowie einer wissenschaftlichen Behandlung durch Warnekros in die Hand, wenn er anmerkt, dass das Material noch nicht ausgeschöpft sei: „Das Wort haben nunmehr: der Dichter, der dieses befremdliche Schicksal ins Gleichnishafte erheben, und der Wissenschafter [sic], der es nach allen Richtungen hin analysieren muß.“ Gerade weil seine Forderung einer weiteren Aufarbeitung des Materials an die Erschütterung der Zweigeschlechtlichkeit gebunden ist, stellt er sehr prägnant heraus, warum eine differenziertere Betrachtungsweise des Falles so bedeutsam sei: „eins muß in aller Deutlichkeit jetzt schon ausgesprochen werden: vom Standpunkt der bloßen Sexualpathologie wird man dem Phänomen Lili Elbe n i e 639 m a l s gerecht werden können.“ Die amerikanischen Publikationen, welche sich nach der dortigen Veröffentlichung von Man into Woman im Jahr 1933 zu Wort melden, verhalten sich hingegen kaum analytisch zum Text oder zum betreffenden Subjekt. Ähnlich wie anfangs die deutsche Presse konzentrieren sich die beiden Magazine, die ich nachfolgend besprechen werde, auf den Hermaphroditismus der Protagonistin. Sexology unterscheidet Elbe auf Grund ihrer körperlichen Verfasstheit dementsprechend von Fällen rein psychischer Natur, welche im Rahmen von Geistesstörungen verhandelt 640 werden. Dieser Fokus, der sicher auch der thematischen Ausrichtung der Zeitschrift geschuldet ist, wird partiell auch in einem weiteren Artikel übernommen. Hier wird die Protagonistin – wieder mit Rückbezug auf Man into Woman – zwei weiblich sozialisierten Personen gegenübergestellt, bei denen ebenfalls auf Grund einer Hermaphroditismus-Diagnose medizinische Schritte eingeleitet worden sind, 641 damit sie in Zukunft im männlichen Geschlecht weiterleben können. Der Titel

637 Frankfurter Zeitung, 27.11.1932, S. 17. 638 Nur den Schutzumschlag empfindet Einsiedel als zu reißerisch und dementsprechend dem Buch nicht zuträglich, vgl. ibid; zu Hoyers Vorstellung, vgl. 3.1. 639 Frankfurter Zeitung, 27.11.1932, S. 17. 640 Vgl. N.N.: „A Man Becomes a Woman“; in: Sexology, Dezember 1933, 1:4, S. 252ff.; Meyerowitz hält diese von der amerikanischen Presse kolportierte Vorstellung einer intersexuellen Protagonistin für unwahrscheinlich, vgl. Meyerowitz 2002, S. 30. 641 Vgl. N.N.: „When Science Changed a Man Into a Woman!“, Quelle unbekannt, ca. 1934, Virgina Prince Collection, Oviatt Library, California State University at Northridge (ich danke Joanne Meyerowitz, die mir diese Quelle zur Verfügung gestellt hat); vgl. Meyerowitz 2002, S. 31f.

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des Berichtes greift mit „When Science Changed a Man Into a Woman“ – wie auch Sexology – auf die Symbolik des Geschlechtswechsels zurück. Aus diesem Modus heraus entfaltet sich eine Erzählart, die King bereits beschrieben hat und die sich insbesondere für die amerikanische Presse als typisch erweisen soll: „The press are most comfortable with the story of the man who not only changes sex but who 643 also appears to embody to a high degree the cultural attributes of femininity.“ Und genau diese Attribute sind es, die den mit „the Danish painter who became a 644 beauty“ untertitelten Bericht fast wie eine Südstaatenromanze daherkommen lassen, in der kulturelle Inskriptionen von Geschlecht in einer essentiellen Natürlichkeit aufgehen: „It [Man into Woman] relates in detail Wegener’s transformation into ‚Lili Elbe,‘ a beautiful and enchanting woman, who not only assumed feminine dress but all the artifices of make-up and adornment which naturally accompany it. […] Nature had intended him to be a woman but, in some wretched way, had bungled her handiwork. […] He was actually the belle of many a ball. [….] Now into Lili’s readjusted life, which she enjoyed to the utmost, reveling in her smart frocks and hats and things, returned a young man […], Claude Lajeune [sic]. And what did he do but propose marriage to Lili!“645

So pittoresk diese Szene auch erblüht, das Schicksal einer weiteren Veröffentlichung von Fra Mand til Kvinde in anderen nationalen Kontexten gestaltet sich auch hinsichtlich der politischen Verschiebungen in Europa zunehmend schwierig. Hoyer steht zwar mit verschiedenen internationalen Verlagen in Kontakt, doch kommt es nach der Herausgabe der englischsprachigen Editionen im Jahr 1933 zunächst zu keinen weiteren Veröffentlichungen. Es gibt Verhandlungen mit Budapest und Belgrad und bereits Vorabdrucke des Buches in den Zeitungen Az Est und Политика (Politika).646 Warum diese Projekte nicht realisiert werden, ist meiner Recherche zufolge nicht nachvollziehbar. Verhandlungen mit Schweden scheitern bereits in der Anfangsphase. Die dort Vermittelnden – Friedrich und Maja Laudon – sehen die Ursache in der gesellschaftspolitischen Stimmung im Land: „Das konservative 647 Schweden scheint in der Lili Elbe Sache zu starke Hemmungen zu haben.“

642 Quelle unbekannt, ca. 1934. 643 King 1996a, S. 145; diese journalistische Lust an überhöhter Weiblichkeit wird bei der Berichterstattung zu Christine Jorgensen in den 1950ern noch deutlicher. 644 Quelle unbekannt, ca. 1934. 645 Ibid. 646 Vgl. Hoyer an Schumann, 30.12.32, S. 2; vgl. Brief von Politika an Niels Hoyer, Belgrad, 23.02.1933, EHA. 647 Brief von Friedrich und Maja Laudon an Ernst Harthern, Berlin, 03.04.1932, S. 1, EHA.

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Für das vermeintlich offenere Frankreich hingegen gibt es mehrere Pläne. Nicht nur soll dort, wie von Hoyer angekündigt, das Buch veröffentlicht werden, sondern Hélène Allatini hat sogar einen Schriftsteller aufgetan, der den Stoff als Bühnen648 stück und Roman bearbeiten will. Doch die Auswirkungen der sich in Deutschland zuspitzenden politischen Lage lassen auch diese Vorhaben nicht über die Planungsphase hinauskommen. Zumindest können sich die französischen *Leser*innen Ende 1934 an einer reich illustrierten Kurzfassung des Buches erfreuen, die in einer fünfteiligen Serie in Voila erscheint. Einleitend zum ersten Teil von „Vice-Versa. 649 Un homme change de sexe“ weist Hoyer auf die nationalsozialistischen Praktiken in Bezug auf unerwünschte literarische Werke hin und merkt an, dass Ein Mensch wechselt sein Geschlecht einer Bücherverbrennung in Berlin zum Opfer gefallen sei – eine Aussage, die er auch in seiner späteren Korrespondenz wieder650 holt. Im Lichte dieser politischen Entwicklung wirkt Lili auf einer der Illustrationen des zweiten Teils der Serie fast entblößt. Das Photo zeigt sie in jenem Karnevalskostüm, in dem sie Gerda Wegener für das von der Presse so oft verwendete Gemälde Modell stand.651 (Abb. 24) Zwar sind die spielerischen Zeiten längst vorbei, doch die Symbolik der Maskerade hängt der Protagonistin nach.

648 Brief von E. de Waal an Niels Hoyer, Passy, 08.01.1932, EHA. 649 Hoyer, Niels: „Vice-Versa. Un homme change de sexe. D’après le documents authentiques et scientifiques réunis par Niels Hoyer“, in: Voila, 06.10.1934, Nr. 185, S. 10-11; Voila, 13.10.1934, Nr. 186, S. 12-13; Voila, 20.10.1934, Nr. 187, Seitenangabe unbekannt; Voila, 27.10.1934, Nr. 188, S. 14-15; Voila, 03.11.1934, Nr. 185, S. 14-15. 650 „Es ist hinzuzufügen, dass die deutsche Version von ‚Ein Mensch wechselt sein Geschlecht während der Hitler’schen Bücherverbrennung in Berlin auf einem öffentlichen Platz verbrannt wurde“ („Ajoutons que la version allemande de ‚Un homme change de sexe‘ fut brûlée en place public, lors de l'autodafé hitlérien de Berlin“), Voila, 06.10.1934, S. 10; vgl. Brief von Ernst Harthern an Bastel, Sigtuna, 26.08.1954, S. 1, EHA; die Bücherverbrennungen werden als Höhepunkt der ‚Aktion wider den undeutschen Geist‘ inszeniert. Neben unzähligen anderen Schriften enden in Berlin am 10. Mai 1933 sowohl die Werke als auch eine Büste Magnus Hirschfelds im Feuer, nachdem das Institut für Sexualwissenschaft bereits wenige Tage zuvor geplündert wurde. Zwar findet sich Ein Mensch wechselt sein Geschlecht auf keiner der durch den nationalsozialistischen Bibliothekar Wolfgang Herrmann erstellten ‚schwarzen Listen‘, doch kann davon ausgegangen werden, dass es im Ermessen der Ausführenden lag, auch andere Bücher zu verbrennen. Der Zusatz der ersten schwarzen Liste ‚Schöne Literatur‘ („Die Liste erhebt keinen Anspruch auf Ausschließlichkeit.“) spricht dafür, dass auch eine Unzahl anderer Bücher der Aktion zum Opfer fallen, vgl. Treß, Werner: „Wider den undeutschen Geist“ Bücherverbrennung 1933, Berlin 2003, S. 103ff. 651 Ich nutze hier angesichts der Druckqualität die ursprüngliche Photographie.

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Abbildung 24

Photo aus dem Besitz von Nikolaj Pors.

Die Brüche, die sich im öffentlichen Diskurs andeuten, erfassen dabei weit mehr als die politische Dimension. Nicht nur das ideologische Regime, welches den europäischen Kontinent sukzessive infiltriert, wirkt sich auf die Repräsentation von Elvenes und deren Leben aus, sondern auch die Unmöglichkeit, nach dem eigenen Tode – und über Fra Mand til Kvinde hinaus – in jene Repräsentation einzugreifen. Post mortem und post scriptum werden dementsprechend spezifische Repräsentationsstränge gefestigt, die sich außerhalb der Handlungsmacht des Subjekts bewegen, so dass sich die Suche nach Lili Elbes und auch Lili Elvenes’ Agency im öffentlichen Raum als ein vielschichtiger Fragenkomplex darstellt, der, wie ich abschließend in diesem Kapitel zeigen werde, über einfache Zuschreibungs- oder Aberkennungsargumente hinausgeht.

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3.4 E RBEICHTETE A GENCY Für die abschließende Annäherung an Elvenes’ Agency im öffentlichen Raum möchte ich kurz an die Zuschreibungen von Handlungsmächtigkeit in der Forschung erinnern.652 Bisher haben sich nur Stone und Steinbock explizit dieses Themenkomplexes angenommen, wobei ihre Ergebnisse sich an den verschiedenen Polen eines Spektrums befinden und sie Agency entsprechend als nicht vorhanden oder als ungebrochen wahrnehmen. Angesichts der fehlenden Berücksichtigung von Brechungen kann ich keiner dieser Argumentationen uneingeschränkt zustimmen. Dennoch halte ich Steinbocks Ausgangspunkt, das Verhältnis zwischen Handlungsmacht und Gewalt neu zu hinterfragen, für eine fruchtbare Basis, um sich dieser Frage im Zusammenhang mit Elvenes sowie Fra Mand til Kvinde zu nähern. Steinbock legt nahe, das im radikalen Feminismus bemühte dichotome Verhältnis von Gewalt und Agency neu zu überdenken und diese Paarung nicht als Opposition zu verstehen, sondern in ihrer Verschränkung zu analysieren. Hierüber leitet sie anschließend die Grundlage für die Agency der Protagonistin her, welche sich über die Lektüre von Man into Woman erschließe: „working through the difficulties of Elbe’s self-narration of sex change will demonstrate an enabling refusal to be neither a coherently proper victim of her condition or cure, nor a sovereign subject created ex nihilo.“653 Die Grundlage, um dieser ‚ermöglichenden Verweigerung‘ nachzugehen, findet Steinbock bei Butler, die Subjektivierung – in Anlehnung an verschiedene philosophische Konzepte – als gewaltsamen Akt versteht.654 Das sich bei Steinbock anknüpfende Modell der Verteilung von Agency auf alle Agenten im Netzwerk spielt, wie bereits in den theoretischen Grundlagen ausgeführt, gerade in den neueren sozialwissenschaftlichen Ansätzen zum Agency-Begriff eine wichtige Rolle.655 Diese Agency-Dispersion innerhalb von Netzwerken möchte ich insbesondere bezüglich des zentralen Aspekts der Handlungsspielräume beleuchten,656 denn dieser erscheint mir im Rekonstruktionsversuch von Elvenes’ Agency als grundlegend. Wie bereits in der vorangegangenen Analyse deutlich wird, sind sowohl der narrative als auch historische Zugang zu subjektivierenden Strategien immer über den

652 Vgl. 2.1; ich schreibe hier von Elvenes’ Agency, da in diesem Zusammenhang die extratextuellen Effekte der öffentlichen Repräsentation im Zentrum stehen sollen. Die narrative Handlungsmacht der Figur in Fra Mand til Kvinde lese ich diesbezüglich als historisch relevant, da der Text in die Erfahrungswelt von Elvenes zurückwirkt. 653 Steinbock 2012, S. 155f. 654 Vgl. ebd., S. 157; vgl. Butler 1997, S. 104f. 655 Vgl. 1.3. 656 Vgl. Helfferich 2012, S. 21.

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spezifischen Handlungsraum vorstrukturiert. Innerhalb dieser Kontexte fokussiere ich – auch wenn meine Perspektive vielfältige Agenten im jeweiligen Raum berücksichtigt – meine Ausführungen primär auf die öffentlichen Er- und Entmächtigungsprozesse bei Elvenes. Jene Prozesse lassen sich an den Schnittstellen, der narrativen Ausformung sowie der historischen Darstellung des Subjekts sowohl intraals auch extratextuell nachvollziehen. Als sehr hilfreich erweist sich dabei FischerLichtes Konzeption von Agency, die sich wohlgemerkt am theatralen Kontext orientiert.657 Ihre illustrativen Ausführungen vom Schauspieler, der auf der Bühne eingeschränkt handlungsmächtig wird, lassen sich gut auf eine weiter gefasste Sphäre übertragen. Auch für Elvenes fungieren die verschiedenen öffentlichen Räume als ‚Bühnen‘, welche mit ihren immanenten kulturellen Einschreibungen den Spielrahmen des Subjekts begrenzen und vorstrukturieren sowie ein bestimmtes Kontingent an miteinander agierenden Mitspielern (Agenten) und Requisiten (Ausdrucksmitteln) zur Verfügung stellen, mit welchen sich das Subjekt arrangieren muss, um auftreten zu können. Auf Grundlage dieses Systems möchte ich im Folgenden beleuchten, wie für die Figur Lili Elbe auf narrativer Ebene, also in Fra Mand til Kvinde, Agency hergestellt wird und auf welche Art und Weise die Präsentation inhaltlich mit der ‚historischen Wirklichkeit‘, auf die sie referentiell Bezug zu nehmen angibt, interagiert. Von zentralem Interesse erscheinen dabei die Wirkmacht der öffentlichen Artikulation in Form eines Buches sowie die Nachhaltigkeit narrativer Schwerpunktsetzungen angesichts der postmortalen Veröffentlichung und Presseberichterstattung. Meine These ist, dass Fra Mand til Kvinde auf Grund seiner gattungsspezifischen und damit moralisch aufgeladenen Präsentation zu einer ermächtigenden Bühne im Sinne Fischer-Lichtes werden kann. Die Spielanordnung bildet dabei das Verhältnis von imaginierter Schuld und Scham auf der einen sowie der Beichte und einer vermeintlichen Absolution auf der anderen Seite. Über das Zugeständnis, dass die eigene Alterität Schuld generiert, eröffnet sich dem Subjekt der religiöse Reinigungsund Zugangsprozess der Beichte, so dass die literarische Form als Hintertür in den mehrheitsgesellschaftlichen Raum figuriert. Trotz der nicht nur mit Rückbezug auf Foucault deutlich werdenden unfreien und begrenzenden Rahmenbedingungen, möchte ich mich an dieser Stelle zunächst vom Verhältnis zwischen ‚Geständnis‘ und ‚Wahrheitsproduktion‘ lösen und argumentieren, dass über diese Zugangsmöglichkeit die spezifische Agency der Protagonistin erst sichtbar gemacht werden kann und der sakramental konnotierte Raum zur Bühne der Handlungsmacht von Lili Elvenes wird. Zur Untermauerung dieser These dienen die folgenden ineinandergreifenden Fragestellungen, deren Betrachtung mir für die Nachzeichnung und Einordnung der

657 Vgl. Fischer-Lichte 2001, S. 18; vgl. Fischer-Lichte 2004, S. 150.

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Handlungsspielräume geeignet scheint: (1) Auf welchen Ebenen möchten die narrative Figur und die historische Person handlungsmächtig sein und welche Ziele verfolgt sie damit? (2) Welche Strategien stehen dem Subjekt zur Verfügung, um diesen Zielen im öffentlichen Raum nachzugehen? (3) Welche Anpassungsprozesse sind nötig, um diese Strategien implementieren zu können? (4) Gegen welche dieser Anpassungsprozesse wird Widerstand geleistet? (5) Sind diese Widerstände im Rahmen der versuchten öffentlichen Subjektivierung wirkmächtig? In Fra Mand til Kvinde lassen sich für die Protagonistin aufeinander aufbauende Stufen für eine zielgerichtete Handlungsmächtigkeit nachzeichnen. Dem Grundinteresse, von ihrer Umgebung als Frau wahrgenommen zu werden, stehen ein nach und nach stärker werdender Wunsch nach gesellschaftlicher Integration sowie Subjektivierungsbestrebungen zur Seite. Um diesen Zielen nachzugehen, werden im Laufe der Narration diverse Räume getestet und verschiedene Strategien genutzt. Durch deren spezifische Beschränkungen werden die ineinandergreifenden Interessen in ihrer Komplexität sichtbar und gleichzeitig neue Rahmenbedingungen für die Zielverfolgung produziert. So wird die öffentliche Wahrnehmung zunächst im Rahmen der Bohème auf einen Raum beschränkt, der sich in seinen Bedingungen von einer mehrheitsgesellschaftlichen Sphäre unterscheidet. Während sich die Integration in dieses Umfeld und die Interaktion mit den dort vorherrschenden kulturellen Codes und Agenten als relativ barrierefrei darstellen, zeigt sich der Raum selbst als massiv eingrenzend. Die fast ghettoisierend wirkende Beschränkung erlaubt keine Übertragung der dort erworbenen Agency auf einen gemeinen öffentlichen Raum, sondern forciert vielmehr durch die abgrenzenden Maskerade- und Alteritätsimplikationen eine Verortung der Protagonistin im Bereich des Phänomenalen. Da sich die narrative Lili jedoch von gerade diesen Zuschreibungen abzugrenzen sucht, kann dieser Raum letztendlich nicht den Rahmen für einen Ausdruck ihrer Subjektivität darstellen. Somit wird die Integration in eine Mehrheitsgesellschaft zu einem weiteren Ziel. Um dieses zur erreichen, stehen ihr zunächst zwei Strategien zur Verfügung, welche beide narrativ ausprobiert werden. Auf der einen Seite eröffnet sich die Möglichkeit, durch Einpassung die ihr bei der Geburt zugewiesene geschlechtliche Rolle als Mann auszufüllen, auf der anderen kann sie sich durch medizinische Intervention einen mehrheitsgesellschaftlichen Bereich auch als Frau erschließbar machen. Das bereits praktizierte Einpassen in die männliche Rolle stellt sich für Lili dabei als der größere Verlust von Subjektivität und als massive Gewalterfahrung dar. Zwar ermöglicht diese Option einen partiellen Gewinn normativ öffentlicher Wahrnehmung, doch geht sie mit mangelndem Passing, fehlender Präsentation der persönlichen Identität sowie einer lebenslangen Gefangenschaft in der männlichen Maskerade einher. Dementsprechend reduzieren die somatischen und psychischen Einwirkungen nachhaltig jegliche Handlungsmacht auf ein Minimum. Bei der ope-

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rativen Variante hingegen, so Steinbock, ermögliche die kurzfristige somatische Gewalterfahrung eine Erlangung von Handlungsmächtigkeit.658 Wird der klinische Kontext unter Steinbocks Vorzeichen betrachtet, kann dieser durchaus als eine Art Agency-Schleuse verstanden werden, in der das Subjekt kurzfristig seine Handlungsmacht aufgibt, um sie danach langfristig zu stabilisieren. Doch genau in dieser zeitlichen Begrenzung liegt, wie Fra Mand til Kvinde so anschaulich illustriert, die Krux dieser Sphäre. Obwohl sie eine Ankerfunktion übernimmt, bleibt die Klinik narrativ ein Raum der Durchschleusung. Inszeniert als Ort, an dem die gewünschte Geschlechtsidentität technologisch hergestellt werden kann, steht dieser ermächtigenden Dienstleistung ein Regime aus hierarchischem Gefüge, diagnostischen Kategorisierungen und somatischen Klassifikationen im Sinne des Zweigeschlechtersystems gegenüber, welches die verfügbaren Zielidentitäten vorgibt.659 Zwar scheinen die Interessen und Bedürfnisse der Protagonistin sich zumindest angesichts der Strukturen der Frauenklinik in dieses System gut einzufügen, doch scheitert sie an der zeitlichen Begrenztheit ihres Aufenthaltes dort: Die Integration ist nur vorübergehend. Währenddessen fungiert die Klinik als ein von der Außenwelt abgespaltenes Vakuum, welches die modifizierte Protagonistin nicht, wie man nach Steinbocks Ausführungen antizipieren könnte, als ‚mehrheitsgesellschaftsfähiges‘ Individuum ausstößt. Zwar erfolgt der Transfer in den öffentlichen, rechtsgesteuerten Raum unmittelbar nach dem Verlassen der Klinik, doch kann von handlungsmächtiger Integration in eine Mehrheitsgesellschaft kaum die Rede sein. Die Protagonistin sieht sich in diesem Umfeld einer Reihe anderer Agenten gegenüber, deren Aktionsradius sich unmittelbar auf ihre persönliche Agency auswirkt. Dabei handelt es sich um sowohl individuelle Agenten in Form einzelner Personen oder öffentlicher Organe als auch institutionelle Akteure wie das Rechtssystem und die Mehrheitsgesellschaft an sich. Neben den narrativ eher unterrepräsentierten rechtlichen Institutionen, die sich nur im Vorübergehen als Hürde für die persönliche Selbstentfaltung darstellen, sind es vor allem Einzelereignisse, welche zu allgemeingültigen Schlüssen führen, an denen sich Lilis Subjektivierungsprozesse reiben. So wird die von der Schwester artikulierte Meinung zu einer allgemeinen. Gleichzeitig erweist sich die im privaten Raum ermächtigende Geschlechtsperformance als Zugangswerkzeug für einen mehrheitsgesellschaftlichen Raum.660 Die Bewegung vom Individuum zur Gemeinschaft lässt sich auch in Bezug auf den journalistischen Anstoß zu einer öffentlichen

658 Vgl. Steinbock 2012, S. 162. 659 Mehr zur Subjektivität im medizinisch-klinischen Raum in 4.4. 660 Hier wird deutlich, inwieweit die Performativitätskonzepte der Butler’schen Tradition mit denen des performative turn zusammengedacht werden können, da Verkörperung und Handlungsmacht hier in einem Inszenierungsansatz verschmelzen, vgl. 1.3.

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Artikulation nachvollziehen. So ist es die Indiskretion einer Freundin, die dazu führt, dass laut Fra Mand til Kvinde Gerüchte in Kopenhagen aufkommen, beziehungsweise eine desubjektivierende Veröffentlichung in einem dubiosen Blatt erscheint. Diese Presseveröffentlichung avanciert somit zu einem oppositionellen Agenten, der einem unbehelligten Leben der Protagonistin im Wege steht. Die Veröffentlichung von Sandheden betrachte ich dabei als den referentiellen Schnittpunkt zwischen narrativen und historischen Ermächtigungsprozessen. Auf beiden Ebenen wird als Reaktion das Recht auf eigene öffentliche Artikulation bemüht – zunächst auf dem journalistischen Markt, um den Gerüchten schnellstens entgegenzuwirken und später in Form eines Buches, um eine nachhaltige Repräsentation des Subjekts zu gewährleisten. Während diese Requisiten der Artikulation im öffentlichen Raum eine weitreichende Meinungsäußerung zulassen, sind sie bezüglich der Handlungsmacht durch verschiedene Faktoren eingeengt. Die Inkaufnahme des eigenen Ausgestelltseins und die Konformität mit dem vorherrschenden moralischen Konsens unter den anderen Agenten im öffentlichen Raum stellen sich dabei als Voraussetzungen dar. Nur unter diesen Prämissen sind eine Persönlichkeitsentfaltung und eine vermeintliche Integration möglich. Diese Art der Konformität ist die Zugangsbedingung zu den öffentlichen Medien und wirkt sowohl in die Presseberichterstattung hinein, in welche Elvenes involviert ist,661 als auch in die literarische Konstruktion des Bekenntnisses. Die Einpassung in das Genre der Beichte erfordert das moralische Zugeständnis, die eigene alteritäre Erfahrung zunächst als eine mit Schuld behaftete zu präsentieren, um so Zugang zur mehrheitsgesellschaftlichen Sphäre zu generieren. Dieses Zugeständnis bleibt so im Sinne Foucaults ein Spiegel der unfreien Machtbeziehungen, in denen sich das Subjekt bewegt. Gleichzeitig wird meines Erachtens über die Autorfunktion, die jenes Genre in sich trägt, eine Handlungsmacht im öffentlichen Raum zumindest suggeriert. Der Name auf dem Buchdeckel mag zwar nicht unmittelbar auf eine individuelle Subjektivität übertragbar sein, doch markiert er im Falle von Fra Mand til Kvinde den Subjektivierungsversuch der Protagonistin und auch der historischen Figur, auf die damit verwiesen wird. Gleichzeitig stellt er im Zusammenhang mit der Gattungszuschreibung die Positionen dar, in denen das Subjekt an seiner eigenen Diskursivierung teilhaben kann, und in welchem Abhängigkeitssystem es sich dabei bewegt. Die Grenzen einer vermeintlichen Integration in den öffentlichen Raum über die Beichte werden auch in Fra Mand til Kvinde deutlich. So rebelliert die Protagonistin zum Ende des Textes hin explizit gegen einen Teil dieser ihr nicht rechtmäßig erscheinenden Einschränkungen der eigenen Agency. Narrativ stehen dabei der Widerstand gegen normative Bewertungen und den gesellschaftlichen Einpassungs-

661 Vgl. 3.3.2.

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zwang im Vordergrund, ohne welche eine Integration als gleichwertiges Mitglied der Gemeinschaft nicht möglich scheint. Evident wird diese Tatsache in der weiterführenden und insbesondere der postmortalen Berichterstattung, welche den Verlust einer nachhaltigen Agency deutlich macht. Abgesehen von Castoniers Beitrag im Prager Tagblatt erfolgt häufig ein Rückbezug auf die abgelehnten Zuschreibungen von Maskerade und Phänomenalität, derer sich die Protagonistin explizit zu entziehen sucht. Die öffentliche Handlungsmacht ist somit beschränkt wirkmächtig und trägt zumindest zeitgenössisch nur partiell zu einer Subjektivierung von Elvenes bei. Dementsprechend stellt sich Elvenes’ Agency als komplexes Konstrukt dar und geht weder mit einer absoluten Ent- noch einer uneingeschränkten Ermächtigung einher. Trotz der Rahmenbedingungen, in welche sie sich zu fügen hat, erkämpft sich Elvenes Räume der Artikulation und Identitätsentfaltung. Auch wenn sie diesen nicht dominiert, wird sie Teil des Diskurses um ihre Subjektivität. In Fra Mand til Kvinde avanciert Lili Elbe sogar zum fordernden Subjekt, das sich mitunter dem hierarchischen Gefüge zwischen der individuellen und der institutionellen Ebene widersetzt. So begehrt sie gegen Ungerechtigkeiten des Rechtssystems auf und erbittet beim Arzt einen zusätzlichen operativen Eingriff. Inwieweit sich diese öffentlich inszenierte Handlungs- und Artikulationsmacht innerhalb dieser institutionalisierten Bereiche auf eine historische Ebene übertragen lässt, soll Fragestellung der folgenden zwei Kapitel sein.

4. Technologien für Körper und Seele? Medizinische Diskurse und Praktiken der ‚Normalisierung‘

Die technologischen Aspekte, die sich in Fra Mand til Kvinde als subjektivierend darstellen, spitzen sich in dem als Wegweiser dienenden Vorwort von Niels Hoyer auf eine Wechselwirkung zwischen Erkrankungen von Körper und Seele sowie operativer Intervention zu.1 Damit werden bereits einleitend der medizinische Blick auf das leidende Subjekt und die daran geknüpften Normalisierungsinstrumente in ein untrennbares Verhältnis gesetzt. Im Rahmen der bisherigen Analyse ist deutlich geworden, dass eine Reihe weiterer Faktoren auf die Integrationsprozesse sowie die Körperlichkeit des Subjekts einwirken. Steinbock versteht in diesem Zusammenhang ‚die Sprache‘ selbst als etwas, das den Körper technologisiert. Mit Hilfe eines cineastischen Begriffsinventars betrachtet sie den Text Man into Woman analog zum medizinischen Skalpell ebenfalls als eine Technologie, die mittels ‚Cuts‘ die kulturelle Intelligibilität des Körpers beeinflusst und ihn geschlechtlich positioniert:2 „As a perceptible non-sensuous object, gender has its own ‚language‘, or way of sparking attention through the flashes produced by the cuts. Gender can thus be analyzed as detached from the body, as a non-sensuous similarity that is then incorporated and made manifest matter when read. Reading is thus a somatechnical involvement, a system that incorporates that which one understands as the body through a looping of the material into the semiotic.“3

Steinbock illustriert, dass Technologien, die auf den Körper wirken, unterschiedlich gefasst werden können und sich über die medizinische Intervention hinausgehend aus verschiedenen diskursiven Zusammenhängen speisen, doch in ihrer Ausführung

1

Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 5; vgl. 2.1.

2

Vgl. Steinbock 2009, S. 128f. u. S. 139f.

3

Ebd., S. 136.

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immer wieder an Sprache gebunden sind. Dementsprechend zeigt sich subjektive Körperlichkeit als durch verschiedene Technologien herstellbar, mit denen sie per se verquickt ist.4 Bevor ich näher auf die Implikationen eines somatechnischen Ansatzes für die folgenden Betrachtungen eingehe, sollen die für die Arbeit relevanten akademischen Vorstellungen eines Zusammenspiels von Geschlecht und Technologie kurz angerissen werden. In Bezug auf trans*-theoretische Überlegungen muss an dieser Stelle auf Hausmans Arbeit verwiesen werden, die sich diesem Verhältnis diskursanalytisch zu nähern versucht und die These vertritt, dass bestimmte Diskurse und technische Praktiken den Geschlechtswechsel erst möglich gemacht hätten. Ausgewählte Subjektpositionen wären demnach zwangsläufig an medizinische Diskurse und Praktiken gebunden.5 Im Zuge dessen kritisiert sie die fehlende Berücksichtigung dieser medizintechnologischen Abhängigkeiten zugunsten einer Positionierung von Transsexualität innerhalb eines Gender-Diskurses6 und merkt an, dass solche Argumentationslinien den Blick auf die vermeintlichen Normativierungen dieses Diskurses verstellen würden: „Reading for the subversion of technology, in other words, allows us to see how the normalizing narratives of gender work to obscure the radical discontinuities at the heart of the transsexual phenomenon.“7 Den Zusammenhängen dieser Diskontinuitäten widmet sich Hausman jedoch nicht, sondern stellt vielmehr eigene Diskontinuitäten her, indem sie ihrer Kritik an einem Gender-Diskurs medizinische Technologien als Schnittstellen der Subjektivierung gegenüberstellt und somit behauptet, dass dadurch unter anderem auch ‚Lili Elbe‘ als ein forderndes, technologisch hergestelltes Subjekt hervorgebracht worden sei.8 Diese Argumentation funktioniert jedoch nur bei einer somatischen Verortung von Geschlecht, einer Reduktion der Betrachtung auf medizinische Diskurse sowie einer damit einhergehenden Reproduktion der binären Geschlechterlogik, welche Hausman mit ihrer Gender-Kritik eigentlich zu umgehen sucht.9 Dem in vielen Beiträgen

4

Vgl. Steinbock 2009, S. 134 u. S. 141.

5

Vgl. Hausman 1995, S. 2ff. u. S. 14; Hausman bezieht sich dabei auf Teresa de Lauretis’ Ausführungen zur Technologie von Gender sowie Foucaults Vorstellungen von Technologie als einem Anzeiger der Produktion des Sexes durch die Synthese von Macht und Wissen, vgl. De Lauretis, Teresa: Technologies of Gender. Essays on Theory, Film, and Fiction, Bloomington 1987; vgl. Foucault 1983.

6

Vgl. Hausman 1995, S. 9.

7

Vgl. ebd., S. 173.

8

Vgl. ebd., S. 15; auch generell spricht Hausman von transsexuellen Individuen als „engineered subjects“, ebd., S. 147.

9

Für eine ausführlichere Hausman-Kritik, vgl. Genschel, Corinna: „Erstrittene Subjektivität: Diskurse der Transsexualität“, in: Das Argument, Heft 243, 2001, S. 821-833, hier S.

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kritisierten Ansatz, dass ‚Transsexualismus‘ sowie daran gebundene Subjektpositionen alleiniges Produkt medizintechnologischer Entwicklungen seien, widerspricht bereits Runte.10 Doch erst aktuellere theoretische Überlegungen im Zusammenhang mit Somatechnics erlauben es, sich den medizintechnologischen Aspekten differenzierter und in einem breiteren Kontext zu nähern. An dieser Stelle ist es bedeutsam, sich noch einmal das Vorwort aus Fra Mand til Kvinde vor Augen zu führen, welches Natürlichkeit als Referenzpunkt setzt und mit einem leidenden, erkrankten Subjekt sowie einem heilenden und regulierenden Mediziner operiert. Hierauf lassen sich Nikki Sullivans Überlegungen zu ‚modellierbarer Körperlichkeit‘, die sie angesichts der Somatechnics von Intersexualität formuliert, gut applizieren. Sie argumentiert, dass vor der Schablone von ‚kranken‘ oder ‚falschen‘ Körpern insbesondere operative Eingriffe einen korrektiven und ordnungswiederherstellenden Charakter erhalten. Dementsprechend wirken sie nicht nur technologisch am Körper, sondern auch bei der Konstruktion von Kategorien wie Körper, Natürlichkeit und Realität.11 „[Sullivan] deploys the term somatechnics to think through the varied and complex ways in which bodily-being is shaped not only by the surgeon’s knife but also by the discourses that justify and contest the use of such instruments. […] the conceptions of, debates around, and questions about specific modificatory practices are themselves technologies that shape corporeality at the most profound level[.]“12

Auf Grundlage dieser Vorannahmen möchte ich den körperlichen Konstruktionen in Fra Mand til Kvinde nachgehen und insbesondere die von Jessica Cadwallader somatechnisch aufgearbeiteten Parameter des ‚Leidens‘ und der ‚Pathologie‘ berücksichtigen. Dazu werde ich vier dichotom organisierte und miteinander verschränkte Systeme in den Blick nehmen: (1) Männlichkeit und Weiblichkeit, (2) Gesundheit und Krankheit, (3) Körper und Seele sowie (4) Geschlechtseindeutigkeit und Geschlechtsuneindeutigkeit.

823f.; vgl. Rubin, Henry S.: „Phenomenology as a Method in Trans Studies“, in: GLQ: A Journal of Lesbian and Gay Studies, 4 (2), 1998, S. 263-281. 10 „In der positivistischen Sexualpathologie taucht der typische Wunsch nach einer ‚Geschlechtsumwandlung‘ schon auf, bevor er medizinisch realisiert werden konnte. Es wäre also verfehlt, Transsexualismus für ein bloßes Produkt der technologischen Entwicklung zu halten […]. Stattdessen müßte archäologisch der Verzahnung bestimmter Praktiken mit Diskursen nachgegangen werden.“, Runte 1996, S. 46. 11 Sullivan, Nikki: „The Somatechnics of Intersexuality“, in: GLQ: A Journal of Lesbian and Gay Studies, 15 (2), 2009, S. 313-327, hier S. 313f. 12 Ebd., S. 314.

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Der Text suggeriert einleitend, dass Andreas Sparre seit längerer Zeit krank sei und unter Schmerzen leide.13 Die spezifische Form des Leidens wird zunächst kaum konkretisiert. Vielmehr rückt eine fast außerkörperlich erzählte Geschlechtlichkeit in den Vordergrund: wenn „Andreas behauptet, dass er in Wirklichkeit überhaupt kein Mann sei – sondern eine Frau“;14 wenn im Text konstatiert wird, dass „Andreas aus zwei Wesen bestand, aus einem Mann: Andreas, und aus einer Frau: Lili […], die beide zur gleichen Zeit den gleichen Körper in Besitz genommen hatten“;15 wenn die Rede davon ist, dass er „lieber eine Frau als ein Mann wäre“.16 Innerhalb weniger Seiten variieren die geschlechtlichen Identitätszuschreibungen enorm, bleiben jedoch in ihrer Ausdrucksweise dem Zweigeschlechtersystem verhaftet und werden so in entsprechende Geschlechterkonzepte eingeschrieben. Hier schließt sich die Frage an, in welchem Verhältnis diese normalisierenden Einschreibungen zu der eingangs als krank definierten Person stehen. Während sich zunächst argumentieren ließe, dass diese inkonsistent erscheinenden Verschiebungen ausschließlich die fehlende sprachliche Artikulation aufschlüsseln, tragen sie meines Erachtens auch das Potential für verschiedene Normalisierungs- und Pathologisierungsstrategien des medizinischen Diskurses in sich. Durch die Entkörperlichung der Geschlechtlichkeit wird der fehlende Zusammenhang zwischen Körper und Seele postuliert, welcher sich bis heute in den bereits problematisierten Narrativen vom ‚falschen Körper‘ manifestiert.17 Da der Körper somit nur noch als fleischliche Hülle figuriert, kann er theoretisch außerhalb des als normal konstruierten Subjekts als krank definiert werden. Doch auch die Koexistenz zwei ‚normaler Seelen‘ in einem Körper kann eine Psychopathologisierung erwirken. Um die Implikationen dieser Prozesse zu verdeutlichen, habe ich das Verhältnis von Zweigeschlechtlichkeit und Pathologisierung anhand der vier oben genannten Systeme graphisch aufgearbeitet. (Abb. 25) Die durch das Zweigeschlechtersystem eingeschränkten Artikulationsmöglichkeiten der eigenen Geschlechtlichkeit eröffnen somit einen medizinwissenschaftlichen Zugang, bei dem Leiden in unterschiedlichen Zusammenhängen eingeschrieben werden kann. Doch warum ist es überhaupt notwendig, dieses omnipotente Leidenspotential zu schaffen und nutzbar zu machen?

13 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 11; Allatini berichtet auch über Einars ‚Leiden‘, vgl. Allatini 1939, S. 215. 14 „Andreas paastod, at han i Virkeligheden slet ikke var nogen Mand — men en Kvinde.“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 11. 15 „Andreas bestod af to Væsener, af en Mand: Andreas, og af en Kvinde: Lili [...], der begge paa samme Tid havde taget det samme Legeme i Besiddelse.“, ebd., S. 13. 16 „jeg hellere vil være Kvinde end Mand.“, ebd., S. 15. 17 Vgl. 1.2.1.

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Abbildung 25: Pathologisierungsprozesse auf Basis eines normierenden Zweigeschlechtersystems (ohne besondere Berücksichtigung von Begehrensstrukturen)

Hier setzt Cadwalladers Auseinandersetzung zum Verhältnis von Leiden, Krankheit und Pathologie an. Sie bezieht sich dabei auf Eric Cassell, welcher die grundlegende Idee, dass Leiden eine „direkte Manifestation von Krankheit“18 sei, untersucht: Das Mandat der Medizin und somit auch deren Legitimation in der Gesellschaft

18 „lineal manifestation of disease“, Cassell, Eric J.: The Nature of Suffering. And the Goals of Medicine, New York/Oxford 1991, S. 97.

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manifestiere sich demnach über ihre Pflicht, Leiden zu linden.19 Damit, so Cadwallader, werde die Medizin zur der somatischen Gegenwartstechnologie20 und gleichzeitig zur Quelle der Vorstellung von körperlicher Dominanz und Devianz: „How, precisely, is the stability of the dominant imaginary, allegedly defined by its opposition to suffering, maintained? I want to suggest that the centrality of medical discourse here ought not to be underestimated: as I already indicated, it is a major source of authority in the formation of the dominant imaginary of ‚the body‘. It is telling, I would suggest, that medicine both provides a clear imaginary of ‚the body‘, and offers a discursive and practical framework for negotiating with suffering.“21

Vor dieser Folie, die sich auch auf psychiatrische Aspekte übertragen lässt, wird die Vorstellung von Leiden zur legitimierenden Indikation für medizinische Praktiken und Diskurse. Diese Indikation werde durch die Pathologie selbst geschaffen und sei, so Cadwallader, an die Vorstellung eines gesunden Staatskörpers gebunden, als deren ausführender Arm die Medizin agiere.22 Letztere fungiert dabei – entgegen einer dominanten Wahrnehmung – nicht als neutrale Form des Wissens, das die Welt beschreibt und nicht an deren Konstruktion beteiligt ist,23 sondern, wie Foucault argumentiert, als Macht-Wissen, welches im Interesse des Staatskörpers diszipliniert und reguliert: „Die Medizin ist ein Macht-Wissen, das sich auf die Körper wie die Bevölkerung, auf den Organismus wie die biologischen Prozesse erstreckt und also disziplinierende und regulierende Wirkungen hat. Noch allgemeiner läßt sich sagen, daß das Element, das vom Disziplinären zum Regulatorischen verläuft und sich auf dieselbe Weise auf den Körper und die Bevölkerung bezieht [...], daß dieses Element, das vom einen zum anderen zirkuliert, die ‚Norm‘ ist.“24

19 Cassell 1991, S. 64. 20 Vgl. Cadwallader, Jessica: „Diseased States: The Role of Pathology in the (Re)Production of the Body Politic“, in: Sullivan, Nikki und Samantha Murray: Somatechnics: Queering the Technologisation of Bodies, Farnham 2009, S. 13-28, hier S. 13. 21 Ebd., S. 19. 22 Vgl. ebd., S. 14f.; Cadwallader bedient sich der Staatstheorie von Thomas Hobbes, der den Staatskörper in seinen Funktionen dem menschlichen Körper gegenüberstellt, vgl. Hobbes, Thomas: Leviathan, Oxford 2012 (1651), S. 16; auf den Zusammenhang zwischen Staatskörper und medizinischem Diskurs gehe ich in 4.4 und 5.3 nochmals ein. 23 Vgl. Cadwallader 2009, S. 13. 24 Vgl. Foucault, Michel: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975-76), Frankfurt am Main 1999 (1996), S. 298.

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Über ihr selbstlegitimierendes Wissen besitzt die Medizin somit einen exklusiven Zugang zu spezifischen Technologien, die auf körperliche Subjekte einwirken. Vor diesem theoretischen Hintergrund soll im Folgenden zunächst die historische Entwicklung der zeitgenössischen sexualwissenschaftlichen Erkenntnisse in den Blick genommen werden, um dann die bei Elvenes zur Anwendung kommenden Diagnose- und Therapiepraktiken zu kontextualisieren sowie die Schnittpunkte mit forensischen Entwicklungen und einer subjektiven Eigendefinition zu beleuchten.

4.1 D AS

SEXUALWISSENSCHAFTLICHE

S PEKTRUM

Bei der Betrachtung der dänischen und der deutschen Ausgabe von Fra Mand til Kvinde wird zunächst nur ein vorsichtiger Bezug zu zeitgenössischen sexualwissenschaftlichen Erkenntnissen deutlich. Diese Abkehr von der bis dahin dominanten Präsentation in Form von Fallstudien relativiert sich in den englischsprachigen Ausgaben jedoch. Durch die paratextuelle Einführung des britischen Sexologen Norman Haire wird in Man into Woman eine sichtbare Expertenebene integriert, um durch die Reproduktion des Fallstudien-Schemas den *Leser*innen die Geschichte aus sexualwissenschaftlicher Sicht näher zu bringen. Haire konzentriert sich zunächst auf aus dem Text entnommene Aspekte wie Symptomatik, Diagnostik sowie Behandlung und verweist in diesem Zusammenhang auf die Parallelen zur Forschung des ebenfalls intratextuell in allen Ausgaben präsenten Eugen Steinach.25 Nach diesem Abriss verkündet er die Zuständigkeit der Sexualpathologie und erläutert – ähnlich wie Sand in Ekstra Bladet – mit Hilfe von Begriffen wie ‚Normalität‘, ‚Ambiguität‘ und ‚Anomalie‘, dass jeder Mensch zumindest rudimentäre Anlagen der Organe des anderen Geschlechts habe und hundertprozentige männliche oder weibliche Individuen lediglich theoretische Typen seien.26 Obgleich die Kategorie der sexuellen Zwischenstufen, der sich Haire in offensichtlicher, wenn auch nicht namentlicher Anlehnung an Hirschfeld bedient, somit keine Rarität darstelle, seien Fälle mit einer hermaphroditischen Ausprägung wie bei Andreas Sparre dennoch selten.27 Die Implikationen der Intersexualität seien aber nicht nur somatischer Art, sondern auch die psychischen Aspekte in Form einer „Verdoppelung der Persönlichkeit“28 erscheinen Haire bedeutsam und dienen

25 Vgl. Haire 1933a/b, S. VII; vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 11. 26 Vgl. Haire 1933a/b, S. VIIIf.; in diesem Zusammenhang kritisiert er auch die postnatale Geschlechtsbestimmung anhand der Genitalien. 27 Vgl. ebd., S. XIf.; Haire geht sogar soweit, zu behaupten, dass ein solch extremer und zudem gut dokumentierter Fall noch nie aufgetreten sei, vgl. ebd., S. X. 28 „duplication of personality“, ebd., S. XII.

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ihm als Vorlage für einen postum vorgeschlagenen, alternativen Behandlungsansatz. Haire, welcher sein eigenes Hauptwerk Encyclopædia of Sexual Knowledge erst nach Elvenes’ Tod veröffentlicht, knüpft in seiner Einführung zu Man into Woman bereits an ausgewählte Stränge der Sexualwissenschaft an. Die sich bis dahin entwickelnde Systematik, Theorie und Methodik dieses Feldes stellt sich jedoch wesentlich komplexer dar. Um die unterschiedlichen Diagnose- und Behandlungsansätze einordnen zu können, sollen diese Entwicklungen – auch im Zusammenhang mit Elvenes – bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgt werden. Selbst wenn es in der zeitgenössischen westlichen Sexualwissenschaft konkurrierende Schulen gibt, bestehen enge Zusammenhänge zwischen den Ansätzen und Erkenntnissen der unterschiedlichen Akteure. 4.1.1 Das Körper/Seele-Narrativ und die Macht der Gonaden in den Diskursen des 19. Jahrhunderts Durch den Juristen Karl Heinrich Ulrichs findet das Narrativ einer diametralen Körper/Seele-Beziehung Eingang in die moderne Sexualtheorie. In seinen Überlegungen zur gleichgeschlechtlichen Liebe, welche er als ‚Uranismus‘ beschreibt,29 charakterisiert er die zunächst von ihm beforschten mannmännlich liebenden Subjekte, die „Urninge“,30 mit der Eigenart einer ‚weiblichen Seele im männlichen Körper‘,31 die zum Teil auch mit dem Wunsch, weibliche Kleidung zu tragen, einherginge.32 Diese Körper/Seele-Verknüpfung stellt sich für Ulrichs als ‚drittes Geschlecht‘ dar, welchem er in seiner 1865 konzipierten Systematik ein viertes zur Seite stellt: die weibweiblich liebende ‚Urnin‘, deren Körper/Seele-Verfasstheit das noch freie Spektrum von der ‚männlichen Seele im weiblichen Körper‘ bedient.33

29 Seine Beweggründe, diese nach dem Gott Uranus und seiner mutterlosen Tochter Urania zu benennen, leitet Ulrichs über Platons Gastmahl her, vgl. Numantius, Numa: Vindex. Social-juristische Studien über mannmännliche Geschlechtsliebe. Erste Schrift über mannmännliche Liebe, Leipzig 1864a, S. 2. (Ulrichs schreibt seine Abhandlungen zunächst unter dem Pseudonym Numa Numantius); vgl. Platon 2008, S. 16. 30 Numantius 1864a, S. 1. 31 Vgl. Numantius, Numa: Inclusa. Anthropologische Studien über mannmännliche Geschlechtsliebe. Zweite Schrift über mannmännliche Liebe, Leipzig 1864b, S. 12; zu dieser Metapher, vgl. Weiß, Volker: … mit ärztlicher Hilfe zum richtigen Geschlecht. Zur Kritik der medizinischen Konstruktion der Transsexualität, Hamburg 2009, S. 30ff. 32 Vgl. Numantius 1864b, S. 14. 33 Ulrichs berücksichtigt in dieser Systematik, welche er später mehrmals überarbeitet, die Geschlechtskongruenz von Körper und Seele mit den Bezeichnungen ‚Dioning‘ und

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Die Geburtsstunde jenes Narrativs, welches später dominant mit Transsexualität verbunden sein sollte, liegt demnach in den Emanzipationsbestrebungen zur gleichgeschlechtlichen Liebe, auch wenn dieselbe seinerzeit noch Anknüpfungspunkt für verschiedenste Auseinandersetzungen mit Geschlecht und Sexualität bleibt.34 So bedient sich Ulrichs einer Analogie zum Hermaphroditismus und überträgt dabei für die gleichgeschlechtliche Liebe die These einer „geistige[n] Zwitterbildung“35 des Rechtsmediziners Johann Ludwig Caspers. Diese Vorstellungsebene findet sich im Diagramm auf der als ‚deviante Verknüpfung I‘ bezeichneten Achse wieder. (Abb. 25) Obwohl sich die vier Geschlechter Ulrichs in den ‚Normverbindungen‘ sowie der ‚deviante Verknüpfung II‘ lokalisieren lassen, ist für seine Klassifikation unbedingt anzumerken, dass er von gesunden Subjekten ausgeht und nicht beabsichtigt, eine Pathologisierung dieser Achsen herbeizuführen.36 Während Ulrichs beginnt, sich mit den Fragen des Uranismus zu beschäftigen, ist die Suche nach den Grundfesten der Geschlechterdifferenz auf somatischer Ebene bereits in vollem Gange.37 Nachdem die Gonaden angesichts der Herstellung von Reproduktionsstoffen schon seit einem beträchtlichen Zeitraum als Zeichen des Geschlechts bewertet werden, avancieren sie ab Anfang des 19. Jahrhunderts zum Inbegriff desselben.38 So formuliert Rudolf Virchow in einem Vortrag von 1848 dann auch die Bedeutung des Ovariums für den Geschlechtsausdruck der Frau: „Das Weib ist eben Weib nur durch seine Generationsdrüse; alle Eigenthümlichkeiten seines Körpers und Geistes oder seiner Ernährung und Nerventhätigkeit: die süsse Zartheit und Rundung der Glieder bei der eigenthümlichen Ausbildung des Beckens, die Entwicklung der Brüste bei dem Stehenbleiben der Stimmorgane, jener schöne Schmuck des Kopfhaares bei dem kaum merklichen, weichen Flaum der übrigen Haut, und dann wiederum diese Tiefe des Gefühls, diese Wahrheit der unmittelbaren Anschauung, die Sanftmuth, Hingebung und Treue – kurz, Alles, was wir an dem wahren Weibe Weibliches bewundern und verehren, ist nur eine Dependenz des Eierstocks. Man nehme den Eierstock hinweg, und das Mannweib in sei-

‚Weib‘ und führt zusätzlich drei Ausprägungen des Zwittertums an, vgl. Sigusch, 2008, S. 157ff. 34 Die Terminologie von Homo- und Heterosexualität wird 1868, also fast parallel zu Ulrichs ‚Uranismus‘, von Karl-Maria Kertbeny entwickelt; in der Fachliteratur findet sich diese jedoch erst 1880 wieder, vgl. Jäger, Gustav: Die Entdeckung der Seele, Leipzig 1880, S. 264ff. 35 Casper, Johann Ludwig: Practisches Handbuch der gerichtlichen Medizin. Erster Band (Biologischer Theil), Berlin 1864, S. 164. 36 Vgl. Sigusch 2008, S. 55. 37 Vgl. Klöppel 2010, S. 235-297. 38 Vgl. ebd., S. 255ff.

232 | »W IE L ILI ZU EINEM RICHTIGEN M ÄDCHEN WURDE « ner hässlichsten Halbheit mit den groben und harten Formen, den starken Knochen, dem Schnurrbart, der rauhen Stimme, der flachen Brust, dem missgünstigen und selbstsüchtigen Gemüth und dem schiefen Urtheil steht vor uns.“39

Die Dominanz der den Keimdrüsen zugeschrieben Rolle wird jedoch, so Ulrike Klöppel, schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts und insbesondere mit vermeintlich hermaphroditischen Körpern als Forschungsobjekten problematisiert.40 So tauchen auch in Dänemark in den 1840ern die ersten Studien zum Hermaphroditismus in der Zeitschrift Bibliotek for Læger (Bibliothek für Ärzte) auf.41 In diesem Publikationszusammenhang veröffentlicht Rasmus Schmidt einen Artikel über den pathologischen Hermaphroditismus und postuliert, dass, obwohl es schwierig sein kann, das Geschlecht einer Person zu determinieren, diese doch immer nur ein singuläres Geschlecht haben könne.42 Bente Rosenbeck argumentiert, dass damit das Konzept der Suche nach dem einzig ‚wahren Geschlecht‘ eines Individuums auch in dänische Medizindiskurse vorgedrungen sei.43 Die Bestimmung jenes ‚wahren Geschlechts‘ anhand der Keimdrüsen stellt sich im Laufe des 19. Jahrhundert jedoch als schwierig dar. Diagnostische Operationen sind mit beträchtlichen Risiken versehen und können angesichts der teilweise fehlenden Anästhesie und Antisepsis kaum durchgeführt werden.44 Und auch die eher seltene postmortale Sektion ist für die Geschlechtsbestimmung am lebenden Subjekt für die Medizin nur partiell von Wert.45 Angesichts dieser Hürden, so Klöppel, richte sich der medizinische Blick auf andere Möglichkeiten der Geschlechtsbestimmung, wobei sich Samen und Menstruation, sowie die Neigungen und der Geschlechtstrieb des Subjekts als von besonderem Interesse erweisen.46 Dadurch wird speziell in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine diskursive Verschmelzung der Verhandlung von Hermaphroditismus und Uranismus deutlich.

39 Virchow, Rudolf: „Der puerperale Zustand. Das Weib und die Zelle“ (1848/1856), in: Virchow, Rudolf: Sämtliche Werke, Band 16.2, Hildesheim 2007, S. 735-779, hier S. 747. 40 Vgl. Klöppel 2010, S. 260ff. 41 Vgl. Rosenbeck 2014, S. 162. 42 Vgl. Schmidt, Rasmus: „Om den pathologiske Hermaphrodisme“, in: Bibliotek for Læger, Oktober 1847, S. 241-262, hier S. 261. 43 Rosenbeck stützt diese Argumentation auf Foucaults Ausführungen zum Hermaphroditismus im Zusammenhang mit Herculine Barbin, vgl. Rosenbeck 1997, S. 43f.; vgl. Rosenbeck 2014, S. 162ff. 44 Vgl. Klöppel 2010, S. 277. 45 Zu einer im frühen 19. Jahrhundert vielfach diskutierten Person namens Derrier/Durrgé, welche nach ihrem Tod 1835 einer Sektion unterzogen wird, vgl. ebd. S. 278. 46 Vgl. ebd., S. 277f.

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Die Theorien zur gleichgeschlechtlichen Liebe und die virulenten Vorstellungen zur Geschlechtsbestimmung, die nicht an der Untersuchung des individuellen Begehrens vorbeigehen, kumulieren dann auch bei Ulrichs im Fallenlassen einer Unterscheidung zwischen psychischem und somatischem Hermaphroditismus, so dass er 1880 verkündet, dass der ‚Uranismus‘ am besten als „Species von Hermaphroditenthum“47 beschrieben werden solle.48 Als 1892 eine postmortale Sektion an einer auf Grund der Genitalien als hermaphroditisch vermuteten Person vorgenommen wird und sich diese angesichts des Fundes von Ovarien und des Fehlens von Hoden zumindest in den Augen der Medizin als weibliches Subjekt herausstellt, nimmt sich der dänische Arzt Richard Blom der Aufgabe an, das ‚wahre Geschlecht‘ jenseits der Gonaden zu suchen.49 Er fokussiert seine Untersuchungen auf die Begehrensrichtung des Subjekts und postuliert dies zwar nicht als ausschließliches Kennzeichen, jedoch als Richtschnur.50 Indem er bei der Geschlechtsbestimmung ein körperliches Kriterium durch die Richtung des Sexualtriebes überschreibt, ermöglicht Blom eine partielle Ausschaltung der Vorstellung des gleichgeschlechtlichen Begehrens. 4.1.2 Die ‚konträre Sexualempfindung‘ als Schlagwort der Jahrhundertwende Während die Hermaphroditismus- und Uranismus-Debatten bereits untrennbar miteinander verwoben sind, stehen mit der Veröffentlichung der 1886 erscheinenden ersten Ausgabe der langjährig populären Psychopathia sexualis des Psychiaters Richard von Krafft-Ebing weitere Verknüpfungsprozesse an. Den 1869 von seinem Fachkollegen Carl Westphal vorgeschlagenen Terminus der ‚conträren Sexualemp-

47 Ulrichs, Karl Heinrich: Critische Pfeile. Denkschrift über die Bestrafung der Urningsliebe. An die Gesetzgeber, Leipzig 1880, S. 3. 48 Ausführlich zur diskursiven Verschmelzung von Hermaphroditismus und Homosexualität, vgl. Mildenberger, Florian: „Diskursive Deckungsgleichheit – Hermaphroditismus und Homosexualität im medizinischen Diskurs (1850-1960)“, in: Stahnisch, Frank u. Florian Steger (Hg.): Medizin, Geschichte und Geschlecht. Körperhistorische Rekonstruktionen von Identität und Differenzen, Stuttgart 2005, S. 259-283. 49 Vgl. Rosenbeck 1997, S. 45; vgl. Rosenbeck 2014, S. 163. 50 Vgl. Blom, Richard: „Et Tilfælde af pseudohermafroditismus feminus externus (Klebs)“, in: Gynækologiske og Obstetriske Meddelelser, Kopenhagen 1893, S. 194-216, hier S. 214f.; bei unentschiedenen Fällen von Geschlechtsambivalenz schlägt Blom jedoch die Wahl des männlichen Modus vor, hauptsächlich um die Institution und den Vollzug der Ehe durch sexuelles Vorwissen sicherzustellen oder gegebenenfalls einen Eheverzicht zu erwirken, vgl. ebd., S. 209; vgl. Rosenbeck 1997, S. 49; vgl. Rosenbeck 2014, S. 163ff.

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findung‘, welcher den Wunsch, dem anderen Geschlecht anzugehören oder sich wie dieses zu kleiden, widerspiegelt,51 verschmilzt Krafft-Ebing mit Ulrichs’ stärker an sexuelle Aspekte gebundenen Uranismus-Begriff. So greift er in seinem Kapitel zu den ‚conträren Sexualempfindungen‘ einen Großteil von Ulrichs’ Überlegungen auf, jedoch nicht ohne jenen als „selbst mit diesem perversen Trieb behaftet“52 zu beschreiben. Die von Casper geprägte Vorstellung der ‚geistigen Zwitterbildung‘ findet sich ebenfalls wieder, jedoch ohne konkrete Schnittpunkte zum Hermaphroditismus. Wie der Titel seiner Arbeit bereits vermuten lässt, liegen Krafft-Ebings Interessen in den Bereichen der Pathologie und der Forensik. Diese Ausrichtung beinhaltet – im Vergleich zu Ulrichs Einordnung des ‚Uranismus‘ als einer physiologischen Erscheinung – einen expliziten sexualmedizinischen Paradigmenwechsel hin zum Pathologischen.53 So werden die konträren Sexualempfindungen bei Krafft-Ebing als krankhafte Erscheinungen systematisiert. Den Subjekten, welche als leidende Individuen innerhalb der beigefügten Fallstudien zum Teil selbst zu Wort kommen, wird eine psychiatrische Symptomatik eingeschrieben. Den häufig attestierten neurotischen und psychotischen Zuständen, welche sich zwischen Hysterie, Manie und Schwachsinn bewegen, stehen Beschreibungen eines konträrgeschlechtlichen Habitus sowie entsprechend geschlechtlich konnotierter Interessen zur Seite.54 Insbesondere der Bereich der ‚konträren Sexualempfindung‘ wird in den folgenden Auflagen der Psychopathia sexualis sukzessive erweitert und deckt ein breiteres Spektrum geschlechtsbezogener und sexueller Ausprägungen ab. So erhöht sich die Vielfalt der Fallstudien: Zunehmend sind Personen vertreten, die sich ausdrücklich als dem anderen Geschlecht zugehörig fühlen; weitere werden von Krafft-Ebing per se in separate Kategorien wie ‚Androgyne‘ (Frauen mit männlicher Ausprägung) und ‚Gynandre‘ (Männer mit weiblicher Ausprägung) eingeordnet. Entsprechend erweitert sich auch die dargestellte Symptomatik. So treten Aspekte wie das Anlegen geschlechtsspezifischer Kleidung prominenter hervor.55

51 Vgl. Westphal, Carl: „Die conträre Sexualempfindung. Symptom eines neuropathischen (psychopathischen) Zustandes“, in: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, Berlin 1870, S. 73-109. 52 Krafft-Ebing, Richard von: Psychopathia sexualis. Eine klinisch-forensische Studie, Stuttgart 1886, S. 58. 53 Vgl. ebd., S. 57f. 54 Vgl. ebd., S. 60f. 55 Vgl. Krafft-Ebing: Psychopathia sexualis. Mit besonderer Berücksichtigung der conträren Sexualempfindung. Eine klinisch-forensische Studie, 8. Auflage, Stuttgart 1893, S. 186-352; diese Erweiterung ist sicher nicht zuletzt dem Erscheinen von Albert Molls ebenfalls mehrere Auflagen starkem Buch zur Thematik geschuldet, vgl. Moll, Albert: Die conträre Sexualempfindung, Berlin 1891.

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Kurz vor der Jahrhundertwende greift dann auch der britische Sexualforscher Havelock Ellis das Thema des konträren Geschlechtsgefühls auf. In Zusammenarbeit mit John Addington Symonds setzt er sich ausführlich mit der Affinität zur vermeintlich gegengeschlechtlichen Kleidung auseinander56 und bemüht in diesem Zusammenhang einen Exkurs zum Verhältnis von künstlerischer Veranlagung und Inversion. Dieser eröffnet angesichts der in Fra Mand til Kvinde proklamierten Abkehr Lili Elbes von der Kunst sowie ihrer Abgrenzung gegenüber der Homosexualität eine erweiterte Sicht auf die Zusammenhänge der narrativen Entscheidungsebenen: „Etwas Ähnliches [wie bei den Schauspielern] gilt auch für Musiker und bildende Künstler, bei denen auch homosexuale Neigungen über den Durchschnitt hinausgehen. Sie finden die Anlage dazu in ihrem Künstlernaturell, und Gelegenheit zu ihrer Befähigung und Entwicklung in ihrer Art zu leben, die sie antreibt, die ganze Fülle des Gefühlslebens durchzuleben und zum Ausdruck zu bringen. Ihr ganzes Milieu führt sie, wenn sie nicht sehr entschieden differenziert sind, zu Experimenten und Erfahrungen in allen Leidenschaften.“57

In seiner weiteren Auseinandersetzung verwirft Ellis Ulrichs’ Körper/Seele-These als unwissenschaftlich und konzentriert seine Betrachtung auf eine latent vorhandene Zweigeschlechtlichkeit in der fötalen Entwicklung. Seines Erachtens sei die Herausbildung von Invertierten und psychosexuellen Zwittern, wie er Subjekte mit auf beide Geschlechter gerichtetem Begehren nennt, ‚anomalen Prozessen‘ in der fötalen Phase geschuldet.58 Dabei stützt er sich auf Erkenntnisse, welche die Inversion als Übergang zwischen Voll-Mann, Voll-Weib und echtem Zwitter ansehen und bereits Hirschfelds Zwischenstufenmodell avisieren.59 Auch wenn sich Ellis bestimmter Normierungskategorien bedient, verwehrt er sich gegen eine Gleichsetzung der Vorstellungen von ‚abnorm‘ und ‚krankhaft‘ und argumentiert in Anlehnung an Virchow, dass es gelte, die Pathologie und die Nosologie60 disziplinär auseinanderzuhalten. Gleichzeitig unterschreibt er damit die genetischen Implikationen, die Virchow für das Pathologische formuliert.61

56 Vgl. Ellis, Havelock u. J.A. Symonds: Das konträre Geschlechtsgefühl, Leipzig 1896, S. 230f.; die englischsprachige Ausgabe des Textes erscheint erst im Folgejahr. 57 Ebd., S. 229. 58 Vgl. ebd., S. 237ff. 59 Vgl. ebd., S. 244. 60 Nosologie ist ein medizinischer Fachbereich, der sich mit der Kategorisierung von Krankheiten befasst. 61 Vgl. Ellis/Symonds 1896, S. 241ff.; Virchow charakterisiert diese ‚Anomalien‘ als erblich, jedoch nicht als per se schädlich.

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Bezüglich der somatischen Aspekte, so Klöppel, geraten mit dem ausgehenden 19. Jahrhundert eine Reihe von Diagnose- und Therapieansätzen zur Geschlechtsbestimmung in das Blickfeld, die zu großen Teilen die Sexualwissenschaft des beginnenden 20. Jahrhunderts bestimmen sollten. Auf gonadaler Ebene zeigen histopathologische Befunde, dass verkümmerte Gonaden zum Teil fälschlicherweise für Eierstöcke oder Hoden gehalten wurden, während sich gleichzeitig ein immer stärker werdendes Interesse an der ‚inneren Sekretion‘ der Gonaden herauskristallisiert. Besonders die letztgenannten Entwicklungen schlagen sich später in den für die Erforschung der Sexualhormone so wichtigen Experimenten Eugen Steinachs nieder.62 Doch auch die genetische Determination von Geschlecht gewinnt, wie bereits bei Ellis und Virchow anklingt, an Bedeutung und fordert das Kriterium des gonadalen Geschlechts heraus.63 Im Sinne dieses Wandels rückt um die Jahrhundertwende eine psychische Bestimmung von Geschlecht ins Blickfeld. Die Gynäkologen Leopold und Theodor Landau, welche seit 1892 eine private Klinik betreiben, setzen sich dafür ein, das Geschlechtszugehörigkeitsgefühl der Hermaphroditen stärker zu berücksichtigen und sprechen sich für angleichende Genitaloperationen auf Wunsch der *Patient*innen aus.64 Während genitalplastische Eingriffe insbesondere an erwachsenen Hermaphroditen immer häufiger werden,65 rücken gleichzeitig und insbesondere durch die Arbeiten des polnischen Gynäkologen Franciszek Ludwik Neugebauer psychosexuelle Aspekte in den Mittelpunkt der Betrachtung.66 Diese nun etwas differenzierter als bei Blom erfolgende Abkehr vom Keimdrüsengeschlecht zugunsten der Psychosexualität muss auch im Zusammenhang mit den Anfängen der Psychoanalyse gelesen werden.

62 Vgl. Klöppel 2010, S. 262f.; „Das Keimdrüsengeschlechtskriterium konnte nicht mehr unbestritten als Inbegriff des wahren Geschlechts gelten, sondern hatte nur noch den Charakter einer Konvention, d.h. einer Übereinkunft, dass in Ermangelung besserer Kriterien das Geschlecht anhand der Gonaden klassifiziert werden sollte.“, ebd., S. 264f. 63 Vgl. ebd., S. 264f. 64 Vgl. Berliner medicinische Gesellschaft: „Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften“, in: Berliner klinische Wochenschrift, 21.02.1898, Jahrgang 35, Nr. 8, S. 175-182, hier S. 179; vgl. Landau, Theodor: „Ueber Hermaphroditen. Nebst einigen Bemerkungen über die Erkenntnis und die rechtliche Stellung dieser Individuen“, in: Berliner klinische Wochenschrift, 13.04.1903, Jahrgang 40, Nr. 15, S. 339-343, hier S. 343; vgl. Landau, Theodor: „Mann oder Weib? Bemerkungen zu dem Aufsatz von Neugebauer’s in d. Bl. 1904 Nr. 2“, in: Zentralblatt für Gynäkologie, 20.02.1904, Jahrgang 28, Nr. 7, S. 203-204, hier S. 204; vgl. Klöppel 2010, S. 280f. 65 Vgl. Klöppel 2010, S. 281. 66 Vgl. ebd., S. 283.

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4.1.3 Vom Einfluss der Psychoanalyse über das Zwischenstufenmodell zum Transvestitismus Als der prominenteste Vertreter des psychoanalytischen Ansatzes sei hier Sigmund Freud genannt, dessen in Zusammenarbeit mit Josef Breuer 1895 veröffentlichten Studien über Hysterie psychoanalytische Überlegungen in ein stark weiblich konnotiertes Krankheitsbild einbringen. Zwar wird die Vorstellung von Hysterie als einer in der Gebärmutter sitzenden Krankheit, die nur das gebärende Geschlecht ereilen könne, bereits vom Franzosen Jean-Martin Charcot widerlegt, doch findet sich auch bei Freud weiterhin eine weibliche Dominanz bei diesem neurotischen Krankheitsbild. Jene Tatsache unterstreicht Letzterer auch in seinen 1905 erstmals veröffentlichten Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie.67 Mit dieser Publikation schreibt er sich zudem in einen zeitgenössischen sexualwissenschaftlichen Diskurs ein. Mit Bezugnahme auf viele der oben genannten Akteure nimmt er sich des Themas der Inversion an.68 Bei gleichzeitiger Setzung der heterosexuellen Penetration als ‚normalem Geschlechtsakt‘ grenzt sich Freuds Argumentation69 insbesondere von der Ulrichs’ ab und verwehrt sich gegen die Vorstellung eines angeborenen Charakters. Zur Illustration dessen bemüht er die Bisexualität70 – das Verwischen der Geschlechter – als Abgrenzungsphänomen und erläutert ähnlich wie Krafft-Ebing, dass es keine unmittelbare Nähe zwischen der psychischen und der somatischen Ausprägung des Hermaphroditismus gebe.71 Seine ausgesprochen psychopathologi-

67 Vgl. Freud 1910, S. 17. 68 Vgl. ebd., S. 1. 69 Volkmar Sigusch stellt fest, dass diese Argumentation stark an Albert Molls Ergebnissen zur Thematik orientiert sei, vgl. Sigusch, Volkmar: „Freud und die Sexualwissenschaft seiner Zeit“, in: Quindeau, Ilka u. Volkmar Sigusch (Hg.): Freud und das Sexuelle. Neue psychoanalytische und sexualwissenschaftliche Perspektiven, Frankfurt am Main 2005, S. 15-35, hier S. 17; der Arzt und Psychiater Moll, welcher sich, wie bereits erwähnt, 1891 mit einem Buch zur konträren Sexualempfindung zu Wort meldet, ist ein weiterer wichtiger Akteur in der frühen Sexualwissenschaft. 70 In Abgrenzung zur heutigen begehrensstrukturellen Begrifflichkeit wird ‚Bisexualität‘ in der frühen Sexualwissenschaft als Entsprechung der Begriffe Hermaphroditismus und Intersexualität benutzt. 71 Vgl. Freud 1910, S. 6ff; Freud bezeichnet das Begehren in Richtung beider Geschlechter als psychosexuellen Hermaphroditismus oder amphigene Inversion. Auf somatischer Ebene fügt er sich einem zeitgenössischen Konsens in der Sexualwissenschaft, der einen gewissen Hermaphroditismus im Menschen für ‚normal‘ erachtet. Für eine genauere Untersuchung von Freuds Argumentationen zu den psychischen und somatischen Bedingungen der Inversion, vgl. Weiß 2009, S. 126ff.

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sche Einordnung des Konträrgeschlechtlichen wird in einer Schrift zu Daniel Paul Schreber deutlich.72 Freud bemüht darin die These, dass der männlichen Paranoia ein homosexueller Konflikt zugrunde liege und verortet Schrebers zentralen Wahn, sich in ein Weib zu verwandeln, im ödipalen Rahmen.73 Magnus Hirschfeld, bei dem viele der angerissenen sexualwissenschaftlichen Stränge zusammenlaufen, vertritt eine andere Ansicht. Während Freud die Homosexualität individualhistorisch betrachtet, besteht Hirschfeld darauf, dass sie konstitutioneller Natur sei.74 Dennoch existiert zunächst eine Kooperation zwischen Hirschfelds Arbeit und der Psychoanalyse. Freud bedient sich des Zwischenstufenmodells,75 während Hirschfeld 1908 einen ‚psychoanalytischen Fragebogen‘ entwickelt, eine Art Vorfassung seines späteren ‚psychobiologischen Fragebogens‘.76 Aber auch Ulrichs prägt mit seiner Systematisierung die Arbeit Hirschfelds, welcher in der Anfangsphase seines Wirkens die Kategorie des ‚dritten Geschlechts‘ aufgreift.77 Diese verwirft er jedoch sukzessive, „denn in die Logik der Zwischenstufentheorie, die postulierte, dass jeder Mensch männlich und weiblich ist, passte keine Konstruktion eines dritten Geschlechts.“78 Die Idee der Zwischenstufen spiegelt sich bereits in dem seit 1899 von Hirschfeld herausgegebenen Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen wider, welches in der Tradition der Forschung des 19. Jahrhunderts weiterhin die Diskurse zur Homosexualität und zum Hermaphroditismus bündelt. Bereits in der ersten Ausgabe erläutert Hirschfeld,

72 Schreber, der selbst einen Text über die Erfahrungen mit seiner vermeintlichen Nervenkrankheit verfasst, wird von mehreren Akteuren der Psychoanalyse aufgegriffen, vgl. Schreber, Daniel Paul: Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, Frankfurt am Main 1985 (1900). 73 Vgl. Freud, Sigmund: „Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia paranoides)“, in: Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen, III. Band, 1. Hälfte, Leipzig/Wien 1911, S. 9-68. 74 Vgl. Sigusch 2005, S. 22. 75 Vgl. Freud 1910, S. 4. 76 Vgl. Hirschfeld, Magnus: „Psychoanalytischer Fragebogen“, in: Zeitschrift für Sexualwissenschaft, Nr. 1, 1908, S. 684-695; Hirschfeld gründet zudem 1910 gemeinsam mit anderen Sexualforschern und Analytikern die Berliner Psychoanalytische Vereinigung, verlässt diese im folgenden Jahr jedoch wieder, vgl. Sigusch 2005, S. 20f.; vgl. Sigusch 2008, S. 268ff. 77 Hirschfeld veröffentlicht um die Jahrhundertwende auch etliche Schriften unter diesem Vorzeichen. 78 Weiß 2009, S. 121.

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„dass zwischen Mann und Weib in allen geistigen und körperlichen Punkten nur graduelle, quantitative Unterschiede bestehen, dass zwischen ihnen nach allen Richtungen Mischformen in ausserordentlicher Mannigfaltigkeit vorkommen, an deren Grenzen, so paradox es klingen mag, Männer mit weiblichen und Frauen mit männlichen Geschlechtsteilen existieren.“79

Auf dieser Basis verfasst er auch sein Nachwort zu Aus eines Mannes Mädchenjahren und bezeichnet den Protagonisten trotz seiner männlichen Eigenidentifikation als eine sexuelle Zwischenstufe, fügt jedoch hinzu, wo er das menschliche Geschlechtszentrum verortet: „Das Geschlecht des Menschen ruht viel mehr in seiner Seele als in seinem Körper“.80 Zwar unterstützt Hirschfeld damit eine persönliche Geschlechtsidentifikation, verleiht jedoch durch seine paratextuelle Expertenrede dem von ihm als autobiographisch kategorisierten Text gleichzeitig eine kasuistische Form und beeinflusst somit die Rezeption des Subjekts.81 Eine Theorie seines Zwischenstufenmodells publiziert Hirschfeld 1910 und verdeutlicht, dass die Zweigeschlechtlichkeit sich in einer fast unerschöpflichen Vielzahl sexueller Zwischenstufen auflöse.82 Die duale Polarisierung bleibt bei dieser Systematik jedoch bestehen, da an den konstanten Größen von Männlichkeit und Weiblichkeit festgehalten wird.83 Zwischen diesen Polen gruppiert Hirschfeld vier Kategorien, an denen sich die Differenzen manifestieren: (1) „die Geschlechtsorgane“, (2) „die sonstigen körperlichen Eigenschaften“, (3) „den Geschlechtstrieb“, (4) sowie „die sonstigen seelischen Eigenschaften“.84 Auf Grundlage dieser in sich weiter unterteilten Kategorien führt er die Hauptgruppen der Zwischenstufenkonzeption an, welche er 1918 in seiner Sexualpathologie namentlich noch deutlicher markiert. Entsprechend handele es sich bei (1) um Hermaphroditismus, bei (2) um Androgynie, bei (3) um Homosexualität und bei (4) um Transvestitismus.85

79 Hirschfeld, Magnus: „Die objektive Diagnose der Homosexualität“, in: Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, 1. Jahrgang, Leipzig 1899, S. 4-35, hier S. 4. 80 Hirschfeld, Magnus: „Nachwort“, in: N. O. Body: Aus eines Mannes Mädchenjahren, Berlin 1907, S. 211-218, hier S. 214. 81 Fabienne Imlinger forscht ausführlicher zu diesem Thema. 82 Vgl. Hirschfeld, Magnus: „Die Zwischenstufen-‚Theorie‘“, in: Sexual-Probleme, Februar 1910a, 6. Jahrgang, S. 116-136, hier S. 129; später – in seinem Opus Magnum – konkretisiert Hirschfeld die Anzahl der Varietäten auf 316, vgl. Hirschfeld, Magnus: Geschlechtskunde. 1. Band: Die körperseelischen Grundlagen, Stuttgart 1926, S. 595f. 83 Runte und Weiß bringen hier Kritik an, vgl. Runte 1996, S. 97; vgl. Weiß 2009, S. 120. 84 Hirschfeld 1910a, S. 122. 85 Vgl. ebd., S. 123ff.; vgl. Hirschfeld, Magnus: Sexualpathologie. Ein Lehrbuch für Ärzte und Studierende. Zweiter Teil. Sexuelle Zwischenstufen. Das männliche Weib und der weibliche Mann, Bonn 1918.

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Den Begriff des Transvestitismus stellt Hirschfeld jedoch nicht in seiner Zwischenstufen-Systematik vor, sondern in dem ebenfalls 1910 erscheinenden Band Die Transvestiten, welcher zwei Jahre darauf durch einen separaten kasuistischen Bildteil ergänzt wird.86 Obwohl Hirschfelds Terminologie aus dem Drang, vermeintlich gegengeschlechtliche Kleidung tragen zu wollen, erwächst, beschränken sich seine Ausführungen nicht auf diesen Aspekt.87 Vielmehr erfasse jenes Bedürfnis die gesamte soziale Geschlechtsrepräsentation, so dass Hirschfeld auch von einem „Geschlechtsverwandlungstrieb“88 spricht. In der Sexualpathologie belebt Hirschfeld in diesem Zusammenhang auch die Vorstellung des „seelische[n] Zwittertum[s]“89 wieder, womit er sich bedürfnisabhängig die Möglichkeit einer physiologischen Diagnostik offenhält. 4.1.4 Genetik und Endokrinologie als Wegbereiter des Geschlechtswechsels Angesichts der von Hirschfeld avisierten diagnostischen Möglichkeitsräume, bieten die Vorstöße Richard Goldschmidts in der Genetik, mit der sich Hirschfeld selbst nur peripher auseinandersetzt,90 einen wichtigen Schnittpunkt zu seiner Arbeit. Goldschmidt selbst wahrt jedoch weitgehend die Distanz zum Sexualwissenschaftler, auch wenn er sich dessen terminologischen Beiträgen nicht ganz verschließen kann. 1912 veröffentlicht er Ergebnisse zu ‚sexuellen Zwischenstufen‘ bei spezifischen Pflanzen und Tieren,91 wobei sein Hauptinteresse den Schmetterlingen gilt. Anhand von Kreuzungsversuchen europäischer und japanischer Exemplare des Schwammspinners, „die in einer lückenlosen Reihe von einem Männchen zu einem Weibchen und umgekehrt führen“,92 erklärt er wenige Jahre später auch den

86 Vgl. Hirschfeld, Magnus u. Max Tilke: Der erotische Verkleidungstrieb (Die Transvestiten). Illustrierter Teil, Berlin 1912; ausführlicher zum Begriff des Transvestitismus bei Hirschfeld, vgl. Herrn 2005. 87 Vgl. Hirschfeld, Magnus: Die Transvestiten. Eine Untersuchung über den erotischen Verkleidungstrieb, Berlin 1910b, S. 159ff. 88 Ebd., S. 167. 89 Vgl. Hirschfeld 1918, S. 164. 90 Vgl. Hirschfeld 1910a, S. 121f. 91 Vgl. Goldschmidt, Richard: „Erblichkeitsstudien an Schmetterlingen I. Untersuchungen über die Vererbung der sekundären Geschlechtscharaktere und des Geschlechts“, in: Zeitschrift für induktive Abstammungs- und Vererbungslehre, April 1912, Band 7, Heft 1, S. 1-62, hier S. 57. 92 Goldschmidt, Richard: „Die biologischen Grundlagen der konträren Sexualität und des Hermaphroditismus beim Menschen“, in: Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie,

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menschlichen Hermaphroditismus. Angesichts der Tatsache, dass es sich um verschiedene kontinentale Ursprünge des Falters handelt, kommt Goldschmidt zu dem Schluss, dass bei ‚Rassenkreuzungen‘ ein ‚Drehpunkt‘ hin zu einer intersexuellen Entwicklung einsetze.93 Da er diese Ergebnisse als auf den Menschen übertragbar betrachtet, leistet Goldschmidt damit auch rassenhygienischen Entwicklungen Vorschub.94 In der genetischen Intersexualitätslehre, die er im Zuge dessen entwickelt, unterscheidet er nicht zwangsläufig zwischen psychischer und somatischer Intersexualität, sondern ordnet die sexuellen Zwischenstufen psychischer Ausprägung den „Stufen biologischer Intersexualität“95 zu. Somit sei das gesamte Spektrum, welches über Homosexualität und Hermaphroditismus reiche, genetisch determiniert.96 „Durch diese Entkopplung von somatischer und psychischer Intersexualität gelang zweierlei: einerseits konnten somatische Intersexe ohne eine entsprechende psychische Entwicklung nach dem Modell erklärt werden, andererseits konnten Homosexuelle nun auch […] [als Menschen] aufgefasst werden […], die genetisch und psychisch/psychosexuell dem einen Geschlecht, somatisch (fast) vollständig dem anderen zugehören. […] So wurde Goldschmidts Modell der geschlechtlichen Erbfaktoren universal: Es konnte alles erklären, jede sexuelle Zwischenstufe, ob psychisch oder somatisch.“97

Diese Ergebnisse Goldschmidts sind für Hirschfelds situationsabhängige Diagnostik von großer Bedeutung, dennoch ist seine Zusammenarbeit mit der genetischen Schule – sicher auch auf Grund von Goldschmidts Abgrenzung – gering. Seine Kooperationsbestrebungen richten sich vielmehr auf das wachsende Feld der Endokrinologie. Einer der populärsten Vertreter dieser Disziplin ist ohne Zweifel der in Wien wirkende Eugen Steinach, welcher bereits 1912 über seine Versuche an den Gona-

Nr. 12, 1916/18, S. 1-14, hier S. 5; beim Schwammspinner handelt es sich um einen Nachtfalter. 93 Vgl. Goldschmidt, Richard: „Intersexuality and the Endocrine Aspects of Sex“, in: Endocrinology, Oktober 1917, Band 1, Heft 4, S. 433-456, hier S. 437ff; zu den Unterschieden zwischen dem deutschen und dem englischen Aufsatz insbesondere bezüglich des Auftauchens der Bezeichnung ‚Rasse‘, vgl. Satzinger, Helga: Rasse, Gene und Geschlecht. Zur Konstitution zentraler biologischer Begriffe bei Richard Goldschmidt und Fritz Lenz, 1916-1936, Berlin 2004, S. 25. 94 Goldschmidt versucht diesen Interpretationen seiner Arbeit jedoch nachträglich entgegenzuwirken, vgl. Satzinger 2004, S. 24ff. 95 Goldschmidt 1916/18, S. 7. 96 Vgl. ebd., S. 7ff. 97 Vgl. Weiß 2009, S. 203f.

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den von Ratten und Meerschweinchen berichtet.98 Er pflanzt kastrierten Männchen Ovarien ein und verzeichnet bei der Versuchsreihe eine 45%ige Erfolgsquote, welche er unter anderem auf das postoperative Warmhalten der Tiere zurückführt.99 Im Erfolgsfall stellt Steinach fest, „dass die Ovarien im männlichen Körper anheilen, wachsen und funktionsfähig werden“;100 jedoch stelle sich ein solches Ergebnis ausschließlich bei vorangegangener Kastration ein.101 Unter Anwendung dieser integrativen Methode beobachtet Steinach – neben der Unterdrückung einer sich fortsetzenden männlichen Ausprägung – eine somatische sowie psychische Verweiblichung der Versuchstiere. Die wenig später gestarteten Experimente zur Vermännlichung weiblicher Tiere stellen sich hingegen schwieriger dar, „weil das Hodengewebe bei der Verpflanzung viel weniger widerstandsfähig ist wie das Ovarium.“102 Nichtsdestotrotz kommt Steinach auch hier zum antizipierten Ergebnis. Seine Beobachtungen führen ihn zu dem Schluss, dass sowohl Geschlechtsausprägung als auch Sexualtrieb über die Keimdrüsen steuerbar seien.103 So lässt die Übertragung der Ergebnisse auf den Menschen nicht lange auf sich warten und regt Steinach dazu an, den Ursprung der Homosexualität in den Gonaden, spezifischer in einer ‚zwittrigen Pubertätsdrüse‘,104 zu suchen. Gemeinsam mit seinem Kollegen Robert Lichtenstern, der bereits 1916 über eine erfolgreiche Hodentransplantation beim Menschen berichtet, leitet er einen Behandlungsansatz her,105 der durch eben diesen Eingriff eine heterosexuelle Umstimmung erwirken soll.106 Die durch Steinach bewiesene Tatsache, dass Homosexualität einen endogenen Charakter habe,

98

Vgl. Steinach, Eugen: „Willkürliche Umwandlung von Säugetier-Männchen in Tiere mit ausgeprägt weiblichen Geschlechtscharakteren und weiblicher Psyche. Eine Untersuchung über die Funktion und Bedeutung der Pubertätsdrüsen“, in: Pflüger’s Archiv für die gesamte Physiologie des Menschen und der Tiere, Februar 1912, Band 144, Ausgabe 3-4, S. 71-108, hier S. 77.

99

Vgl. ebd., S. 80ff.

100 Ebd., S. 81. 101 Vgl. ebd., S. 78. 102 Steinach, Eugen: „Feminierung von Männchen und Maskulierung von Weibchen“, in: Zentralblatt für Physiologie, Oktober 1913, Bd. 27, Nr. 14, S. 717-723, hier S. 722. 103 Vgl. ebd., S. 723. 104 Steinach, Eugen: „Pubertätsdrüsen und Zwitterbildung“, in: Archiv für Entwicklungsmechanik der Organismen, November 1916, Bd. 24, 3. Heft, S. 307-332, hier S. 323ff. 105 Vgl. Lichtenstern, Robert: „Mit Erfolg ausgeführte Hodentransplantation am Menschen“, in: Münchener Medizinische Wochenschrift, 09.05.1916, Nr. 19, S. 673-675. 106 Vgl. Steinach, Eugen u. Robert Lichtenstern: „Umstimmung der Homosexualität durch Austausch der Pubertätsdrüsen“, in: Münchener Medizinische Wochenschrift, 05.02. 1918, Nr. 6, S. 145-148.

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passt perfekt in Hirschfelds Systematik und verdeutlicht das fließende Wesen der sexuellen Zwischenstufen.107 Steinachs Zugang und Forschung haben auch auf die dänische Medizinwissenschaft einen enormen Einfluss und prägen insbesondere die Arbeiten von eben jenem Knud Sand, der 1930 als rechtsmedizinischer Gutachter für Lili Elvenes agieren sollte. Als Sand 1914 Assistent am rechtsmedizinischen Institut der Kopenhagener Universität wird, erweist sich neben der institutionellen Anbindung auch das Umfeld als prägend für seine fachliche Zukunft. Während Sand zunächst im rechtsmedizinischen Bereich veröffentlicht, stößt ihn der neue Institutsleiter Vilhelm Ellermann auf das sexualbiologische Forschungsfeld.108 Ellermann selbst veröffentlicht 1914 einen Aufsatz zur forensischen Beurteilung von Hermaphroditen. Darin verbindet er eine Problematisierung des Parameters ‚wahres Geschlecht‘ mit dem Hinweis, sich bei der Geschlechtsbestimmung nicht ausschließlich an der Histologie der Keimdrüsen zu orientieren. In Anlehnung an Steinachs Arbeiten schlägt Ellermann vielmehr vor, das medizinische Interesse auf die chemischen Aspekte der Gonaden, also auf die Sekretion, zu fokussieren.109 Sand nimmt sich dieser Aufgabe an und nutzt ebenso wie Steinach Ratten und Meerschweinchen, um die Versuchsreihen für seine 1918 vorgelegte Dissertation Experimentelle Studier over Kønskarakter hos Pattedyr (Experimentelle Studien zum Geschlechtscharakter bei Säugetieren) durchzuführen. Er nimmt Gonadenüberpflanzungen an sowohl kastrierten als auch nichtkastrierten Tieren mit weiblichem, männlichem sowie gemischtem Geschlechtscharakter vor und versucht bei den nichtkastrierten Männchen durch intratestikuläre Ovarientransplantation eine zwittrige Pubertätsdrüse herzustellen. Dabei beobachtet er, dass die männlichen und weiblichen Zellen „in der intimsten Gemeinschaft gedeihen“110 Somit wäre Steinachs ursprüngliche These widerlegt, dass Überpflanzungen auf unkastrierte Männchen nicht möglich seien.111

107 Vgl. Hirschfeld 1918, S. 6ff. u. S. 14f. 108 Vgl. Graugaard 1997, S. 37f. 109 Vgl. Ellermann, Vilhelm: „Den retsmedicinske Bedømmelse af Hermafroditerne“, in: Ugeskrift for Læger, 12.11.1914, Nr. 46, Jahrgang 76, S. 1971-1982. 110 „trives i det mest intime fællesskab“, Sand, Knud: Experimentelle Studier over Kønskarakter hos Pattedyr, Kopenhagen 1918, S. 170. 111 Sand veröffentlicht 1919 auch eine Kurzfassung seiner Ergebnisse in Deutschland und bestätigt im Großen und Ganzen Steinachs Beobachtungen, nutzt die Publikation jedoch vor allem, um auf den Erfolg seiner intratestikulären Ovarientransplantation zu verweisen, vgl. Sand, Knud: „Experimenteller Hermaphroditismus“, in: Pflüger’s Archiv für die gesamte Physiologie des Menschen und der Tiere, Dezember 1919, Band 173, Ausgabe 1, S.1-7.

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Ebenso wie der Wiener Endokrinologe ist sich Sand bewusst, dass seine Ergebnisse humanmedizinische Relevanz haben.112 Schon vor Fertigstellung seiner Dissertation beginnt er im Rahmen von zwei klinischen Jahren beim Chirurgen Niels Thorkild Rovsing eine Spezialausbildung und nutzt diese Möglichkeit, seine tierexperimentellen Modelle der klinischen Probe zu unterziehen.113 Diese Kooperation geht auch an Rovsing, einem Spezialisten für Unterleibschirurgie, nicht spurlos vorbei. So wird er unter anderem im satirischen Jahrbuch Blæksprutten (Der Tintenfisch) sowohl durch einen Liedtext als auch eine Karikatur mit operativen Geschlechtsumwandlungen in Verbindung gebracht.114 (Abb. 26) Abbildung 26: „In Prof. Rovsings Wartezimmer: Frühjahr 1920 – Herbst 1920.“

Blæksprutten 1920, S. 19. (Scan: Det Kongelige Bibliotek, Kopenhagen)

112 Vgl. Sand 1918, S. 3; sicher erklärt sich daraus auch die beachtliche öffentliche Aufmerksamkeit angesichts der Verteidigung seiner Arbeit, von der unter anderem in Politiken, Ekstra Bladet und B.T. (Berlingske Tidende) berichtet wird, vgl. Graugaard 1997, S. 39. 113 Vgl. Graugaard 1997, S. 43. 114 Vgl. Blæksprutten 1920, S. 18f.

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Sand selbst unternimmt dann zu Beginn der 1920er Jahre Hodentransplantationen bei vier vermeintlich homosexuellen Männern, wobei nur bei einem die erwünschte Heterosexualisierung erreicht wird.115 Im Zuge dessen wird auch eine nach Hirschfeld als ‚Transvestit‘ diagnostizierte Person bei Sand vorstellig und bittet um operative Aufhebung der Diskrepanz zwischen somatischer Männlichkeit und psychischer Weiblichkeit, um femininer zu wirken und auch öffentlich in der empfundenen Geschlechtsrolle anerkannt zu werden. Sand verweigert zu diesem Zeitpunkt eine solch tiefgreifende Intervention, nimmt jedoch eine Biopsie der Testikel sowie eine explorative Laparotomie (einen Bauchschnitt) vor, wobei die präoperativen Vorstellungen von Arzt und behandeltem Subjekt weit auseinandergehen: „Vorher musste man dem Patienten jedoch feierlich versprechen, eventuelle weibliche Elemente nicht zu entfernen, obwohl man ihm eingehend erklärt hat, dass dies die einzige richtige und eine sehr günstige, aber leider unwahrscheinliche Lösung der Frage sei.“116 Sand befindet die Person abschließend als eindeutig männlich, setzt sich jedoch dafür ein, dass sie weiter unbehelligt Frauenkleidung tragen dürfe. Der dänische Gerichtsärzterat zögert jedoch diesbezüglich, da es eine Reihe solcher Fälle gebe, womit die Sache zunächst ohne eine entsprechende Zulassung ad acta gelegt wird.117 Sand konzentriert sich im Anschluss wieder auf Tierversuche und geht eine Kooperation mit den französischen Endokrinologen Albert Pézard und Ferdinand Caridroit ein. Anhand von Transplantationseingriffen bei verschiedenen Hühnerrassen formuliert die Gruppe Ergebnisse mit genetischen und endokrinologischen Implikationen,118 die zum Teil an Goldschmidts Forschung erinnern. Analog erklären sie ihre Resultate ebenfalls als von humanmedizinischem Interesse und betonen die Verknüpfung nicht nur zur Biologie, sondern auch zu Erblichkeitslehre und zur Rechtsmedizin119 – Anknüpfungspunkte, die in den Folgejahren noch an Bedeutung gewinnen sollten.120

115 Vgl. Graugaard 1997, S. 43f.; Graugaard stellt fest, dass Sand abgesehen von einer wesentlich später publizierten Fußnote diese Eingriffe in keiner Publikation erwähnt, sondern nur in internen Aufzeichnungen. 116 „Forud maa man dog højtideligt love pt. ikke at fjærne eventuele [sic] kvindelige elementer, tiltrods for at man indgaaende forklarer ham, at dette ville være den eneste rigtige og en saare heldig, men desværre usandsynlig løsning paa spørgsmaalene.“, Knud Sand Journalnotat 15.10.1921 (zitiert nach Graugaard 1997, S. 45). 117 Vgl. Retslægeraadet Aarsberetning for 1922, Kopenhagen 1923, S. 304; vgl. Graugaard 1997, S. 46. 118 Vgl. Graugaard 1997, S. 48f. 119 Vgl. ebd., S. 49. 120 Vgl. 5.2.2 u. 6.2.

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4.1.5 Verjüngungsexperimente und die Herausforderung der operativen Gonadenverpflanzung beim Menschen Doch nicht nur auf der Ebene der Geschlechterdifferenz ist das Interesse für die Keimdrüsen von Bedeutung, sondern auch in Bezug auf verjüngungstherapeutische Ansätze. Die Schnittmenge der zeitgenössischen Akteure, die sich beiden Bereichen verschreiben, ist dabei hoch. Wiederum ist es Steinach, der zunächst als Pionier gefeiert wird und in den populären Medien mit seinen Experimenten und Erfolgen präsent ist.121 Nicht nur die Presse berichtet über ihn, sogar ein Foxtrott wird nach ihm benannt. Zudem erfährt seine Arbeit im sogenannten Steinach-Film, welcher 1923 in einer populären Fassung im UFA-Palast am Zoo uraufgeführt wird, eine Würdigung auf Zelluloid.122 Zunächst werden die Verjüngungstechnologien am Tier getestet. Steinach bedient sich dabei wieder der Ratten und etabliert in einem Beitrag von 1920 vier dominante Revitalisierungstherapien für die Gonaden. Voraussetzung für die Verjüngung stelle eine Senilität der Pubertätsdrüse dar.123 Steinach versucht dieser bei männlichen Tieren durch Vasoligatur (Unterbindung des Samenleiters), Vasektomie (Durchtrennung des Samenleiters) und Hodenimplantate entgegenzuwirken.124 Da die Unterbindung und Durchtrennung der Eileiter bei weiblichen Tieren nicht den erwünschten Effekt haben, schlägt Steinach neben von ihm erfolgreich durchgeführten Ovarientransplantationen die Behandlung mit leichter Röntgenbestrahlung vor.125 Die Übertragbarkeit dieser Methoden auf den Menschen betrachtet Steinach als erwiesen. Die Vasoligaturen beim Mann zeigen erfolgreiche Verjüngungsergebnisse, während aussagekräftige Versuchsreihen bei Frauen noch fehlen. Doch geht

121 Bereits weit vor Steinach gibt es Ansätze, insbesondere des Physiologen CharlesÉdouard Brown-Séquard, das Leben mit Hilfe von Keimdrüsensekreten zu verlängern; ausführlicher zu diesen Entwicklungen, vgl. Stoff 2004. 122 Von diesem Film gibt es sowohl eine wissenschaftliche als auch eine gekürzte populäre Fassung, vgl. Herrn, Rainer: „Die Darstellung des Arztes in zwei frühen Sexualaufklärungsfilmen“, in: Hausheer, Cecilia u. Jutta Phillips-Krug (Hg.): Frankensteins Kinder. Film und Medizin, Zürich 1997, S. 55-65; vgl. Herrn, Rainer u. Christine N. Brinckmann: „Von Ratten und Männern: Der Steinach-Film“, in: montage/av, 2005, Nr. 2, 14. Jahrgang, S. 78-100; Julie Nero beleuchtet zudem die Bedeutung des Films für die zeitgenössische Kunst und Populärkultur, vgl. Nero 2013, S. 249ff. 123 Vgl. Steinach, Eugen: „Verjüngung durch experimentelle Neubelebung der alternden Pubertätsdrüse“, in: Archiv für Entwicklungsmechanik der Organismen, Juli 1920, Band 46, 4. Heft, S. 557-610, hier S. 573. 124 Vgl. ebd., S. 575ff. 125 Vgl. ebd., S. 595ff.

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er davon aus, dass die Implantation junger Ovariensubstanz sowie eine leichte Ovarienbestrahlung zu positiven Ergebnissen führen werden.126 Nachdem auch andere Akteure, wie Sand und der russisch-französische Chirurg Serge Voronoff, Tierversuche mit dem Ziel der Verjüngung vorgenommen haben, werden die Technologien bald großflächig in die Humanmedizin übertragen.127 Voronoff, der bereits revitalisierende Hodenüberpflanzungen an Tieren vorgenommen hat, widmet sich beim Menschen dem Bereich der Xenotransplantation128 und überträgt unzähligen Männern die Hoden von Menschenaffen.129 Von Lichtenstern und einer Reihe weiterer Mediziner werden jedoch menschliche Transplantate genutzt. Obwohl wesentlich seltener, sind auch ovariale Behandlungsmethoden zur Verjüngung der Frau in der Forschung nachweisbar. Neben dem Transplantationsansatz etabliert sich dabei die leichte Röntgenbestrahlung des Eierstocks – eine Methode, der sich auch der später prominente Vertreter der Transsexualismus-Forschung Harry Benjamin bedient.130 Bei den nachgewiesenen Überpflanzungen von humanem Ovarialgewebe durch Paul Sippel stammen die Transplantate von Frauen, denen die Ovarien auf Grund von Tumoren im Uterus oder wegen einer Lungentuberkulose entnommen wurden.131 Während die Eingriffe weiter an Popularität gewinnen, erscheint nun auch eine Reihe von Übersichtstexten zum Thema der Verjüngung. Norman Haire, der selbst in diesem Feld aktiv ist, veröffentlicht 1924 eine Zusammenfassung des Forschungsstands und macht die Ergebnisse von Steinach, Voronoff, Sand und anderen

126 Vgl. Steinach 1920, S. 603ff. 127 Sand nimmt unter anderem eine Vasektomie bei einem Hund vor und beobachtet dabei eine Verjüngung des Tieres, vgl. Sand, Knud: „Vasektomie beim Hunde als Regenerations-Experiment“, in: Wiener Medizinische Wochenschrift, 1922, Nr. 30/31, 27. Jahrgang, S. 1315-1319. 128 Unter Xenotransplantation wird die Übertragung von lebenden Zellen, Geweben oder Organen zwischen Individuen verschiedener Spezies verstanden. 129 Vgl. Voronoff, Serge: Verhütung des Alterns durch künstliche Verjüngung. Transplantation der Geschlechtsdrüsen vom Affen auf den Menschen, Berlin 1926 (1924); der Transplantation von Affenovarien auf Frauen widmet Voronoff nur ein kurzes Kapitel; er berichtet zwar von Erfolgen, könne aber noch keine Langzeitprognose geben, vgl. ebd. S. 126ff. 130 Benjamin nimmt zudem Vasoligaturen vor, vgl. Benjamin, Harry: „Preliminary Communication regarding Steinach’s Method of Rejuvenation“, in: New York Medical Journal, 21.12.1921, Nr. 12, S. 687-692. 131 Vgl. Sippel, Paul: „Die Ovarientransplantation bei herabgesetzter oder fehlender Genitalfunktion“, in: Archiv für Gynäkologie, 12.05.1923, 118. Band, S. 445-489.

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dem englischsprachigen Publikum zugänglich.132 Auf dem deutschsprachigen Markt nimmt sich der Biologe Paul Kammerer bereits 1921 der Aufgabe an, ein allgemeinverständliches Büchlein zu dieser Thematik zur Verfügung zu stellen.133 Doch wie viele andere Akteure ist Kammerer nicht nur an Verjüngungsphänomenen interessiert, sondern beschäftigt sich auch mit der Thematik der Geschlechtsverwandlung, zu der er im gleichen Jahr zwei Vorträge publiziert.134 Dass sich jener Bereich zu einem eigenständigen Thema innerhalb der Sexualwissenschaft entwickelt, hängt sicher mit Hirschfelds Transvestitismus-Terminologie, aber auch mit der Veröffentlichung einer Fallstudie von Max Marcuse zusammen. Marcuse berichtet 1915 über eine sich weiblich fühlende Person, die angesichts der Presseberichterstattung zu gelungenen Vermännlichungs- und Verweiblichungsexperimenten bei Tieren einen ähnlichen Eingriff für sich selbst erbittet.135 Nach Abriss der Symptomatik und einer Transvestismus-Diagnose, die für ihn zumindest psychopathologische Implikationen hat,136 erörtert Marcuse verschiedene Behandlungsansätze vom Austausch der Keimdrüsen bis hin zur Psychoanalyse,137 hält jedoch keine dieser Therapien für übermäßig erfolgversprechend. Zudem verweist er auf die rechtlichen Herausforderungen insbesondere der chirurgischen Intervention, da eine Kastration nicht ohne weiteres juristisch vertretbar sei, die Ovarien wohlmöglich aus einem erkrankten Körper stammen und die zu behandelnde, psychopathologisch eingeordnete Person auf Grund verminderter Geschäftsfähigkeit keine gültige Einwilligung in den Eingriff geben könne.138 Somit beschränkt sich Marcuse auf die Behandlung mit Ovarialpräparaten, in diesem Fall Oophorin, einem tierischen Hormonextrakt, und vermerkt zusätzlich eine Linderung der Symptomatik, wenn den explizit transvestischen Trieben nachgegangen wird.139

132 Vgl. Haire, Norman: Rejuvenation. The Work of Steinach, Voronoff, and Others, London 1924. 133 Vgl. Kammerer, Paul: Über Verjüngung und Verlängerung des persönlichen Lebens. Die Versuche an Pflanze, Tier und Mensch gemeinverständlich dargestellt, Stuttgart/Berlin 1921a. 134 Vgl.

Kammerer,

Paul:

Geschlechtsbestimmung

und

Geschlechtsverwandlung,

Wien/Leipzig 1921b. 135 Vgl. Marcuse, Max: „Ein Fall von Geschlechtsumwandlungstrieb“, in: Zeitschrift für Psychotherapie und Psychologie, März 1915, Bd. 6, Heft 3 u. 4, S. 176-192, hier S. 176. 136 Vgl. ebd., S. 183f.; Marcuse bemüht den Begriff ‚Transvestismus‘ und nicht Hirschfelds ‚Transvestitismus‘. 137 Vgl. ebd., S. 186f. 138 Vgl. ebd., S. 187. 139 Vgl. ebd., S. 190.

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4.1.6 Infrastrukturelle, technologische und terminologische Entwicklungen im Schatten der Eugenik Auch wenn Hirschfeld die Ansicht der Triebauslebung teilt, geht dies bei ihm mit einem weit weniger pathologischen Grundverständnis vom Transvestitismus einher. Er setzt sich bereits frühzeitig, auch auf behördlicher Ebene, dafür ein, dass Transvestiten das Tragen der gewünschten Kleidung ermöglicht wird, indem er Gutachten verfasst, die den jeweiligen Personen zu einer diesbezüglichen Genehmigung, dem sogenannten ‚Transvestitenschein‘, verhilft. Diese Gutachten, in denen mit latent gegengeschlechtlichen Ausprägungen, besserem Passing, unauffälliger Sexualität und Suizidgefahr argumentiert wird, werden für jene Transvestiten, die auch eine Namens- und Personenstandsänderung anstreben, auf eine dezidierte Hermaphroditismus-Diagnose ausgeweitet.140 Der Beitrag, den Hirschfeld somit für die soziale Integration der Transvestiten leistet, wird mit der Eröffnung des Instituts für Sexualwissenschaft im Mai 1919 sukzessive um infrastrukturelle Elemente erweitert.141 So wird bereits in den Anfängen des Instituts eine Ehe- und Sexualberatungsstelle eingerichtet, die sich explizit auch der Beratung von Homosexuellen sowie Transvestiten widmet und diese unter anderem durch Integration in ein persönlichkeitsbejahendes Milieu in ihrem Selbstverständnis zu stärken sucht. Neben Hirschfeld übernehmen der Psychiater Arthur Kronfeld und später der Sexualforensiker Felix Abraham die Beratung der Transvestiten.142 Abraham zeigt dabei verstärkt Bemühungen, die Menschen, die ihn zu Beratungszwecken aufsuchen, mit der bemerkenswerten Berliner Transvestitenszene in Kontakt zu bringen.143 Im Institutskontext mehren sich im Laufe der Jahre auch die Anfragen, sich durch operative Eingriffe dem empfundenen Geschlecht anzunähern. Angesichts der Grenzen von Gesprächs- und Milieutherapie sowie dem Einfluss von Steinachs Wirken auf Hirschfeld und seinen Kreis werden bald erste Versuche in diese Richtung unternommen. So berichten Kronfeld und der dem Institut verbundene Chirurg Richard Mühsam von einem ‚Sexualneurotiker‘, welcher 1920 und 1921 bei ihnen in Behandlung ist. Dieser wird zunächst kastriert, erhält dann von anderer Seite eine Ovarientransplantation und bittet schlussendlich um eine Penisamputation. Da sich

140 Vgl. Herrn 2005, S. 79ff. 141 Für genauere Ausführungen zum Institut, vgl. Herrn, Rainer: „Vom Traum zum Trauma. Das Institut für Sexualwissenschaft“, in: Schoeps, Julius H. und Vera-Elke Kotowski: Der Sexualreformer Magnus Hirschfeld. Ein Leben im Spannungsfeld von Wissenschaft, Politik und Gesellschaft, Berlin 2004, S. 173-199. 142 Vgl. Herrn 2005, S. 120f. 143 Vgl. ebd., S. 123; zur Infrastruktur für Transvestiten im Berlin der Weimarer Republik, vgl. 1.1.

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Mühsam zu diesem Eingriff nicht entschließen kann, vernäht er mit Einverständnis der behandelten Person das Geschlechtsorgan in Richtung Damm und erwirkt durch Matratzennähte „eine scheidenartige Bildung der Skrotalhaut“.144 In den zwanziger Jahren setzen sich am Institut zunächst nur die Kastrationseingriffe durch und auch diese hauptsächlich auf Grund der Gefahr, dass die zu behandelnden Personen ansonsten selbst Hand anlegen würden. Diese Problematik wird zu einem diskutierten Thema in sexualwissenschaftlichen Kreisen. Im Rahmen einer Studie stellt der Psychiater Otto Kankeleit sechs Fälle von Transvestitismus sowohl weiblicher als auch männlicher Ausprägung vor,145 wobei die besprochenen Personen, so Herrn, teilweise ohne ihr Wissen und ihre Zustimmung ausgestellt und entanonymisiert werden.146 Unter ihnen befindet sich die eingangs erwähnte Dora Richter (Dorchen),147 zu der 1924 im Institutsrahmen eine Dissertation von Werner Holz entsteht.148 Dorchen hatte versucht, sich das Genital mit einer Schnur abzubinden, und wendet sich 1923 zwecks Kastration und Penisamputation an das Institut, von dem sie mittelbar durch den Steinach-Film erfährt. Während die Kastration noch im selben Jahr durchgeführt wird, erwirkt der Chirurg, dass sie zunächst vom Amputationsansinnen Abstand nimmt, obwohl dies für sie als Loslösung vom ungewollten männlichen Geschlechtsmodus figuriert: „Aber dann bin ich doch wenigstens nicht mehr Mann!“149 Der Eingriff sollte jedoch, wie bereits einleitend erwähnt, noch einige Jahre auf sich warten lassen. So bleibt die Kastration zunächst der häufigste Eingriff bei ‚männlichen Transvestiten‘, während die ‚Transvestitinnen‘ auf Amputationen der Brüste und des Reproduktionsapparats hoffen dürfen.150 Angesichts der sich häufenden Operationsanfragen sowie der Fülle der sexualwissenschaftlichen Beiträge zum Thema erscheint eine feinere Differenzierung von Hirschfelds Transvestitismus-Begriff unausweichlich. In der Psychopathia Sexualis,

144 Mühsam, Richard: „Chirurgische Eingriffe bei Anomalien des Sexuallebens“, in: Therapie der Gegenwart, Oktober 1926, 67. Jahrgang, S. 451-455, hier S. 453; besagte Person lässt den letzten Eingriff wenige Monate später rückgängig machen, da sie wieder als Mann leben will, vgl. Herrn 2005, S. 167ff. 145 Vgl. Kankeleit, Otto: „Über Selbstbeschädigungen und Selbstverstümmelungen der Geschlechtsorgane (mit Lichtbildern)“, in: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, 1927, 79, S. 475-484. 146 Vgl. Herrn 2005, S. 175ff. 147 Vgl. einleitender Teil von Kapitel 2. 148 Vgl. Herrn 2005, S. 181. 149 Holz, Werner: Kasuistischer Beitrag zum sogenannten Tranvestitismus (erotischer Verkleidungstrieb) mit besonderer Berücksichtigung der Ätiologie dieser Erscheinung (unveröffentlichte Dissertation), 1924, S. 8 (zitiert nach Herrn 2005, S. 182). 150 Vgl. Herrn 2005, S. 182.

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die mittlerweile in der Überarbeitung von Moll erscheint, klingt dies bereits an. Moll bezieht nun die Arbeiten von Steinach und Sand mit ein und entscheidet sich, die konträre Sexualempfindung (außerhalb des Geschlechtstriebes) wieder thematisch von der Homosexualität zu trennen.151 Hirschfeld hingegen hat bereits in der letzten Ausgabe vom Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen aus dem Jahr 1923 mit dem Begriff des „seelischen Transsexualismus“,152 einer geschlechtlichen Variation, welche er als Vorstufe zum Hermaphroditismus versteht, gespielt, entscheidet sich in seiner Geschlechtskunde jedoch für eine feingliedrigere Aufteilung des Transvestitismus-Begriffs. So differenziert er nun zwischen zehn verschiedenen Ausprägungen, wobei er diejenigen, die „nicht nur ihr künstliches, sondern auch ihr natürliches Kleid, ihre Körperoberfläche andersgeschlechtlich umgestalten möchten“,153 als „extreme Transvestiten“154 bezeichnet. Ellis hält Hirschfelds Wahl des Begriffs Transvestitismus jedoch weiterhin für unglücklich und entscheidet sich selbst für ‚Eonismus‘.155 Nachdem Ellis zunächst mit sexo-ästhetischer Inversion argumentiert, aber ähnlich wie Hirschfeld lieber eine historisch angebundene Bezeichnung finden will,156 schlägt der Jurist und Sexologe Eugen Wilhelm die Begriffe ‚Deonimus‘ oder ‚Eonimus‘ in Anlehnung an den Namen des/der in der sexualwissenschaftlichen Literatur oft erwähnten Chevalier/Chevalière d’Eon vor.157 Ellis nutzt seinen Begriff erstmals 1920 in einer Abhandlung und veröffentlicht acht Jahre später eine ausführliche Studie dazu.158

151 Vgl. Krafft-Ebing, Richard von: Psychopathia Sexualis – mit besonderer Berücksichtigung der konträren Sexualempfindung. Eine medizinisch-gerichtliche Studie für Ärzte und Juristen (Vollständig umgearbeitete Auflage von Albert Moll), Stuttgart 1924, S. IVf. 152 Vgl. Hirschfeld, Magnus: „Die intersexuelle Konstitution“, in: Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, 23. Jahrgang, Stuttgart 1923, S. 3-27, hier S. 14. 153 Hirschfeld 1926, S. 592. 154 Ibid. 155 Vgl. Ellis, Havelock: Studies in the Psychology of Sex. Volume VII. Eonism and Other Supplementary Studies, Philadelphia 1928, S. 1. 156 Vgl. Ellis, Havelock: „Sexo-Aesthetic Inversion“, in: The Alienist and Neurologist, Mai 1913, 34. Jahrgang, S. 3-14 u. Oktober 1913, 34. Jahrgang, S. 1-31. 157 Vgl. Wilhelm, Eugen: „Die Transvestiten und das Recht (nebst bibliographischem und historischem Material)“, in: Sexual-Probleme, Juni u. Juli 1914, S. 393-408 u. S. 495503, hier S. 500; d’Eon (1728-1810) verbringt einen Teil des Lebens als Frau und einen anderen als Mann; mehr zu d’Eon, vgl. Burrows, Simon, Jonathan Conlin, Russell Goulbourne u. Valerie Mainz (Hg.): The Chevalier d’Eon and his Worlds. Gender, Espionage and Politics in the Eighteenth Century, London/New York 2010. 158 Vgl. Ellis 1928, S. 28.

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Trotz terminologischer Differenzen gibt es einen Zusammenschluss vieler Sexualwissenschaftler, welche im Rahmen der Weltliga für Sexualreform und in Form von Kongressen ein internationales Netzwerk etablieren. Im Rahmen der divergierenden Auffassungen setzen sie sich für weniger staatliche Kontrolle bei Sittlichkeitsfragen ein und betrachten die Sexualwissenschaft als Reformgrundlage.159 Nachdem der Berliner Kongress von 1921 rückwirkend als Gründungszusammenkunft gilt, organisiert der dänische Arzt Jonathan Høegh von Leunbach, der damit auch für die dänische Anknüpfung an den Zusammenschluss sorgt, 1928 den zweiten Kongress in Kopenhagen, welchem unter anderem Hirschfeld und Ellis vorsitzen. Leunbach ist Sexualreformer und Eugeniker in Personalunion und spiegelt damit das zeitgenössische Klima innerhalb der Sexualwissenschaft und auch die Entwicklungsrichtung der Weltliga wider, die in ihrer Programmatik die Anwendung eugenischer Erkenntnisse für eine Verbesserung der Rasse proklamiert160 und somit paradoxerweise die staatliche Kontrolle in dieser Frage zu forcieren sucht.161 Diese Tendenz führt in Dänemark bereits im folgenden Jahr zu neuen Gesetzgebungen bezüglich der Kastration und der Sterilisation, wobei Leunbach, Sand und der bereits erwähnte Justizminister Karl Kristian Steincke eine federführende Rolle spielen.162 Die dänische Vorreiterposition bleibt im europäischen Kontext nicht ohne Wirkung und beeinflusst auch die sexualwissenschaftlichen Kreise. Und es ist dieses Klima der Verschränkung von experimenteller und bedürfnisorientierter Technologisierung mit einer zunehmenden Regulierung von Sexualität und Geschlecht,163 in der sich Wegener/Elvenes an die Medizinwissenschaft wendet.

159 Vgl. Dose, Ralf: „The World League for Sexual Reform: Some Possible Approaches“, in: Journal for the History of Sexuality, Januar 2003, Nr. 1, 12. Jahrgang, S. 1-15. 160 Vgl. Riese, Hertha u. Jonathan Høgh von Leunbach (Hg.): Sexual Reform Congress, Copenhagen 1-5. : VII : 1928. World League for Sexual Reform, Kopenhagen/Leipzig 1929, S. 10. 161 Auch Hirschfeld befürwortet seit dem beginnenden 20. Jahrhundert zunehmend eugenische Indikationen, vgl. Herrn, Rainer: „‚Phantom Rasse. Ein Hirngespinst als Weltgefahr‘. Anmerkungen zu einem Aufsatz Magnus Hirschfelds“ (1993), in: Seeck, Andreas (Hg.): Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit? Textsammlung zur kritischen Rezeption des Schaffens von Magnus Hirschfeld, Münster 2003, S. 111-120, hier S. 111f. 162 Mehr dazu in 6.2.1; zu Steincke, vgl. 3.3.1 u. 6.2. 163 Sand, der 1926 in Max Marcuses Handwörterbuch der Sexualwissenschaft u.a. die Beiträge zur Geschlechtsumwandlung, zum Hermaphroditismus und zur Regeneration verfasst, arbeitet zu diesem Zeitpunkt schon parallel an der dänischen Kastrationsgesetzgebung mit, vgl. Marcuse, Max (Hg.): Handwörterbuch der Sexualwissenschaft, Bonn 1926; vgl. Graugaard 1997, S. 103ff.

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4.2 G ESPALTENE V ERHÄLTNISSE ? S YMPTOMATIK UND ERSTE D IAGNOSEVERSUCHE „Er [Andreas] beabsichtigte nicht, sich zum Narren zu machen, indem er sich von einem neuen Quacksalber untersuchen lässt, sei dieser nun aus Frankreich, aus Deutschland oder aus Hindustan! …… Er hatte genug von diesen Blutsaugern, von diesen Scharlatanen ……“164

Diese in Fra Mand til Kvinde eingangs formulierte, ablehnende Haltung gegenüber der Medizin und ihrem Fachpersonal macht zumindest narrativ deutlich, dass jener Wissenschaftsbereich nicht per se als helfende Institution verstanden wird. Das hängt auf der einen Seite sicher mit den individuellen Bedürfnissen des Subjekts zusammen, welches sich Hilfe erhofft, auf der anderen Seite kann trotz der westlichen Internationalisierung sexualmedizinischen Wissens nicht davon ausgegangen werden, dass dieses eine unmittelbare und universelle Verbreitung erfahren hat. Vielmehr handelt es sich trotz der populärmedialen Präsenz um eine sich konstituierende Disziplin, zu der nicht jedes Individuum einen gleichberechtigten Zugang erhält. Zwar kann in der zeitgenössischen Medizin von verschieden gelagertem Grundwissen zu Fragen von Geschlecht und Sexualität ausgegangen werden, doch führt bereits die Berührung mit nur ausgewählten sexualwissenschaftlichen Erkenntnissen zu äußerst divergierenden Pathologisierungs- und Behandlungsstrategien, da das Feld, wie gezeigt, mit den unterschiedlichsten Ansätzen und Bewertungen aufwartet. Für Andreas stellt es sich im Text somit schwierig dar, angesichts seiner selbstempfundenen Symptomatik, die erwünschte ärztliche Hilfe zu erhalten. Bereits das skizzierte Beschwerdemuster lädt die konsultierten Mediziner zu diversen Pathologisierungsansätzen ein. Viele der erfolglosen Arztbesuche in Frankreich werden bereits auf einer der ersten Seiten von Fra Mand til Kvinde zusammengefasst.165 Jedoch erlaubt es die Textführung kaum, die dort beschriebenen Diagnose- und Behandlungsansätze an eine konkrete Symptomatik zu knüpfen und in den medizinischen Diskurs einzuordnen. Erst im Laufe der Narration kristallisieren sich aus der zunächst diffus erscheinenden Thematisierung von Krankheit drei zentrale Symptome heraus, welche an Begleiterscheinungen in Form von Depressionen und körperlichem Abbau gebunden sind: auf somatischer Ebene wird von (1) einer äußerlichen Feminisierung166 und (2) menstruationsähnlichen Blutungen berichtet;167 von psychischer Re-

164 „Han agtede ikke at gøre sig til Nar ved at lade sig undersøge af en ny Kvaksalver, enten han saa var fra Frankrig, fra Tyskland eller fra Hindustan! ...... Han havde faaet nok af disse Blodsugere, af disse Charlataner ......“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 9. 165 Vgl. ebd., S. 11. 166 Vgl. ebd., S. 55.

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levanz erscheint im zeitgenössischen Medizindiskurs hingegen die Tatsache, dass sich (3) zwei Seelen diese physiologische Körperlichkeit teilen.168 Während der letztgenannte Aspekt eine zentrale Rolle im gesamten Verlauf des Textes spielt, werden die somatischen Veränderungen nur in gezielt als transformativ angelegten Passagen positioniert. So wird auch die bei Allatini als Entwicklung der Brüste und Atrophie (Verkleinerung) der Genitalen konkretisierte Feminisierung169 in Fra Mand til Kvinde lediglich als Veränderung der körperlichen Linien angedeutet. Dass die Beschreibungen hier bei einer vagen Ästhetik verweilen, fügt sich in die Schwerpunktsetzung des Textes, welcher proklamiert, dass Andreas in seiner aktiven Männlichkeit bis zum Schluss eindeutig gewesen sei. Die an einem narrativen Wendepunkt auftretenden und nachfolgend meist aus der Nase erfolgenden Blutungen scheinen die Geschlechtseindeutigkeit hingegen nicht zu stören. Vielmehr figuriert diese – ab Ein Mensch wechselt sein Geschlecht explizit der Person Lilis zugewiesene – Erscheinung170 außerhalb von Andreas’ Persönlichkeitssphäre und stellt mit ihren symptomatischen Begleiterscheinungen und dem zyklischen Charakter ein zentrales Symbol somatischer Weiblichkeit dar: „In fast regelmäßigen Abständen bekam ich die mysteriösen Blutungen, die eine starke Depression mit sich führten und von heftigen Schmerzen begleitet waren“.171 In einer nachfolgenden, in der dänischen Ausgabe ausgesparten Passage wird zudem die Angst vor einem verzerrten oder sogar verschobenen Organ thematisiert.172 Vor diesem Hintergrund wird es möglich, die zu Beginn des Textes angeführten Diagnosen nachzuvollziehen. Angesichts der befürchteten organischen Ursache überrascht die erste ärztliche Einschätzung kaum: „Ein Spezialist in Versailles hatte ihm ohne weiteres unterstellt, hysterisch zu sein, und ihm geraten, sich zusammenzureißen und sich wie der normale Mann aufzuführen, der er sonst sei.“173 Wie

167 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 57f. 168 Vgl. ebd., S. 13. 169 Vgl. Allatini 1939, S. 216; auch Boivin berichtet davon, vgl. Boivin 1958, S. 57f. 170 Vgl. Elbe 1932, S. 248. 171 „Med næsten regelmæssige Mellemrum fik jeg de gaadefulde Blødninger, der medførte en stærk Depression og var ledsaget af heftige Smerter“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 58. 172 Während die deutschsprachigen Texte signalisieren, dass sich „irgendein inneres Organ verzerrt hätte“, ist in der englischsprachigen Übersetzung von Verschiebung die Rede: „At first I thought I had displaced some internal organ.“, Lili Elbe Buch (Manuskript), S. 82; Elbe 1932, S. 82; Hoyer 1933a/b, S. 99. 173 „En Specialist i Versailles havde uden videre beskyldt ham for ar være hysterisk, og raadet ham til at tage sig sammen og opføre sig som den normale Mand, han ellers var.“, vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 11.

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Armstrong anmerkt, ist die ‚wandernde Gebärmutter‘ bereits bei Hippokrates das zentrale Symptom hysterischen Verhaltens.174 Auch wenn dieses Konzept bereits im 17. Jahrhundert und später von Charcot und Freud problematisiert wird, ist es nicht unwahrscheinlich, dass solche Konnotationen in der Diagnosepraxis weiterhin mitschwingen. Obwohl die Forschungsliteratur des beginnenden 20. Jahrhunderts bereits eine Abschaffung des ‚Hysterie‘Begriffs fordert, fungiert dieser noch weit über das 19. Jahrhundert hinaus als eine Art Sammelbegriff für psychische Erscheinungen mit unklarer Diagnose,175 woran auch Freuds psychosomatischer Ansatz einer ‚Konversionsneurose‘ nichts zu ändern vermag.176 Dementsprechend lassen sich auch Andreas’ Symptome in die hysterische Kategorie pressen und sind zusätzlich mit geschlechtsspezifischen Implikationen unterlegt. Trotz – und gleichzeitig wegen – der Arbeiten von Charcot und Freud bleibt die Hysterie in weiten Teilen der Medizin und insbesondere im populären Gebrauch weiblich konnotiert, wie zwei intratextuelle Passagen veranschaulichen. Sowohl die Aussage des Arztes als auch die bereits besprochene von Grete177 machen deutlich, dass hysterisches Verhalten kein normales männliches Verhalten sei. Dennoch bedienen die Zuschreibungen der Hysterie in Fra Mand til Kvinde nicht ausschließlich das psychopathologische Stigma, sondern bewirken durch die spezifischen Implikationen eine gleichzeitige Einschreibung in das empfundene Geschlecht. Obwohl die Diagnose von Andreas empört abgelehnt wird, erscheint die Verschränkung dieser beiden Ebenen im zeitgenössischen Kontext als unvermeidlich. Denn die erwünschte Anerkennung der eigenen Identität setzt die unerwünschte Durchquerung der Pathologisierungsschleuse voraus. (Abb. 25) Zwar spielt die Pathologisierung des Subjekts in den folgenden Konsultationen mit zwei anderen Ärzten eine untergeordnete Rolle, doch liegt dass nicht ausschließlich am Ansatz der Mediziner, sondern auch an deren fehlenden diagnostischen Kompetenzen und chirurgischen Kapazitäten. So stellt der erste von beiden zwar Besonderheiten in Andreas’ Konstitution fest, kann ihn jedoch nur damit trösten, dass er sich ob seiner Kräfte und durchgehenden Gesundheit keine Gedanken

174 Vgl. Armstrong 1998, S. 173; Hippokrates (460-376 v. Chr.) übernimmt die Symptomatik aus dem Altägyptischen und benennt das Krankheitsbild nach dem im Körper wandernden Organ, der Gebärmutter (altgriechisch: hystéra), vgl. Nolte, Karen: Gelebte Hysterie. Erfahrung, Eigensinn und psychiatrische Diskurse im Anstaltsalltag um 1900, Frankfurt am Main 2003, S. 113. 175 Vgl. Mentzos, Stavros: „Entwicklung des Hysteriekonzepts“, in: Böcker, Heinz (Hg.): Psychoanalyse und Psychiatrie. Geschichte, Krankheitsmodelle und Therapiepraxis, Heidelberg 2006, S. 91-102, hier S. 92f. 176 Vgl. Freud, Sigmund u. Josef Breuer: Studien über Hysterie, Leipzig 1895. S. 250ff. 177 Vgl. 3.2.2.

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um die körperlichen Veränderungen zu machen brauche.178 Der zweite hingegen vermag es, Andreas zumindest Hoffnung zu geben: „Nur ein Wiener Arzt, ein Freund von Steinach war mit seiner Diagnose auf der richtigen Spur. – ‚Nur ein kühner Chirurg, der vor nichts Angst hat, kann ihnen helfen‘, hatte er gesagt, ‚aber wo gibt es ihn?‘……“179 In offensichtlicher Art und Weise werden hier bereits die spätere Behandlungsrichtung und auch der kühne Operateur avisiert.180 Bedeutender ist in diesem Moment jedoch die psychologisch positive Erfahrung mit dem nicht pathologisierenden Mediziner, welche bei Berücksichtigung einer in Fra Mand til Kvinde gestrichenen Textstelle in ihrem wegweisenden Charakter noch deutlicher wird: „Ohne dass dieser Arzt etwas Bestimmtes oder Direktes gesagt hatte, gab mir dies Gespräch doch Zuversicht und eine fast mystische Hoffnung…“181 Angesichts dieser durch die Anbindung an die Steinach’sche Forschung geschürten Hoffnung erscheint die Verknüpfung von Wünschen nach Jugend und Schönheit mit der geschlechtlichen Identifikation als logische Konsequenz.182 Die Lebensberechtigung des bereits suizidgefährdeten Subjekts hängt somit an diesen beiden bei Steinach bearbeiten Themenkreisen. In jenem Kontext sollte dann auch die narrativ nächstfolgend erwähnte Behandlung durch einen Radiologen betrachtet werden. Dieser „hatte ihn einer sehr energischen [im Sinne von: hoch dosiert] Röntgenbehandlung unterzogen, die ihn beinahe umgebracht hätte.“183 Angesichts der im Text skizzierten Symptomatik und Behandlungsvorstellungen auf Seiten Andreas’ könnte die Strahlenbehandlung, deren Effekt von Kreutz als auf die Keimdrüsen gerichtet spezifiziert wird,184 zwei Indikationen gefolgt sein: Sie dient im zeitgenössischen Kontext nämlich nicht nur als Verjüngungstherapie, sondern stellt auch ein dezidiertes Kastrationsverfahren dar, welches insbesondere bei als eugenisch oder strafrechtlich relevant eingestuften ‚Krankheitsbildern‘ zur Anwendung kommt. Da die Dosierung der Strahlen sowohl von Wissen, Erfahrung und Intention des Radiologen abhängt, ist es durchaus möglich, dass bei einer verjüngenden Behandlung überdosiert oder per se eine Kastration angestrebt wird, ob nun mit oder ohne Einverständnis der behandelten Person.

178 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 11. 179 „Kun en wiensk Læge, en Ven af Steinach havde i sin Diagnose været inde paa det rigtige Spor. — ‚Alene en dristig Kirurg, der ikke er bange for noget, kan hjælpe Dem‘, havde han sagt, ‚men hvor findes han?‘ ......“, ibid. 180 Die ‚kühnen Operationen‘ in Hoyers Vorwort machen den Bezug eindeutig, vgl. 2.4. 181 Lili Elbe Buch (Manuskript), S. 83; vgl. Elbe 1932, S. 82. 182 Vgl. 3.2.5. 183 „havde underkastet ham en meget energisk Røntgen-Behandling, der havde været lige ved at slaa ham ihjel“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 11. 184 Vgl. ebd., S. 16.

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Ob solcher Erfahrungen treiben diese Arztbesuche Andreas – trotz der vorübergehenden mystischen Hoffnung – in eine sich sukzessive verschlimmernde Depression, die medikamentös, jedoch ohne Resultat, behandelt wird.185 An diesem Tiefpunkt wendet sich Andreas nun selbst dem Studium sexualwissenschaftlicher Bücher zu und gelangt zu der Erkenntnis, dass die Ausführungen zu gewöhnlichen Männern und Frauen nicht auf ihn zutreffen: „Allmählich kam ich zu der Überzeugung, dass ich beides – Mann und Frau – war, und dass es die Frau war, die im Begriff stand, die Macht in meinem Körper zu übernehmen …… nur diese Theorie konnte die physischen und psychischen Störungen erklären, die mir mehr und mehr Qualen verursachten.“186

In Fra Mand til Kvinde wird nicht ausgeführt, um welche Schriften es sich dabei gehandelt haben könnte und ob die Konsultation der Fachliteratur historisch für Einar/Lili oder doch eher für Hoyer nachweisbar ist. Der Text spiegelt eine solche Lektüre und entsprechende Einbettung in den sexualwissenschaftlichen Diskurs jedoch mehrfach wider.187 Neben den im Hirschfeld’schen Kreis suggerierten Zusammenhängen zwischen Suizidgefahr und den sich daraus eröffnenden Behandlungsoptionen188 sticht eine Korrespondenz zu menstruationsähnlichen Beschwerden und der entsprechenden Verortung in einer Zwischenstufe hervor, welche Moll in den konträrgeschlechtlichen Kasuistiken der von ihm überarbeiten Psychopathia sexualis beschreibt. Während dort mehrere sich als weiblich identifizierende Personen über Molimina (prämenstruale Beschwerden) mit sowohl psychischen als auch somatischen Symptomen klagen,189 berichtet eine von ihnen sogar über „eine regelmäßige Blutung aus After, Zahnfleisch oder linkem Nasenloch […], worauf die Beschwerden sich minderten, oft gänzlich legten.“190 Dass Andreas’ geschlechtliche Selbstverortung angesichts der Lektüre sowie der im Text an die Vorstellung von Menstruieren und Weiblichkeit geknüpften Blutungen aufeinanderfolgend themati-

185 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 56. 186 „Efterhaanden kom jeg til den Overbevisning, at jeg baade var Mand og Kvinde, og at det var Kvinden, der var i Færd med at tage Magten i mit Legeme ...... kun denne Teori kunde forklare de fysiske og psykiske Forstyrrelser, der voldte mig flere og flere Kvaler.“, ebd. S. 58. 187 Vgl. Runte 1996, S. 433f. 188 Andreas spricht konkret von Suizid und setzt sich selbst eine Frist, vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 61. 189 Vgl. Krafft-Ebing/Moll 1924, S. 591, S. 602 u. S. 605. 190 Ebd., S. 609.

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siert werden,191 legt nahe, dass hiermit eine Anbindung an eine medizinische Legitimation von Geschlecht hergestellt werden soll. Als sich Andreas schließlich konkret mit seiner Theorie von ‚zwei Geschlechtern in einem Körper‘ an eine Reihe von Chirurgen wendet, wird er von einer weiteren diagnostischen Zuschreibungswelle überrollt, die kaum seiner eigenen Empfindung entspricht.192 Angesichts dieser Korrelation wird die Diskrepanz zwischen zeitgenössischer Sexualwissenschaft und medizinischem Breitenwissen umso deutlicher. So wird Andreas zunächst als homosexuell klassifiziert – eine Klassifikation, die angesichts der begrifflichen Überschneidungen während der Formierung des sexualwissenschaftlichen Feldes kaum überrascht.193 Ein anderer Chirurg stellt eine den Blinddarm betreffende Diagnose, während ein dritter Andreas per se eine Absage erteilt, da er keine Schönheitsoperationen vornehme.194 Die auf pathologisierender Ebene bedeutsamste Zuschreibung betrifft jedoch den psychischen Zustand von Andreas, denn der letzte von ihm aufgesuchte französische Chirurg deutet an, „dass Andreas vollständig verrückt sei. Darin würden ihm sicher die meisten Recht geben, da Andreas behauptete, dass er in Wirklichkeit überhaupt kein Mann sei – sondern eine Frau.“195 In Anknüpfung an den sich im Text wiederholenden Topos der zwei Seelen in einem Körper, die respektive auch mit verschiedenen Stimmungslagen in Verbindung gebracht werden, schreibt sich Fra Mand til Kvinde insbesondere mit der zuletzt zitierten Aussage bestätigend in das weit über die neurotischen Zuschreibungen der Hysterie hinausgehende Paradigma der Psychose ein. Zwar verwehrt sich der Text wiederholt gegen die externen Zuschreibungen einer degenerierten Psyche, doch eröffnet er gerade durch die skizzierte Überschneidung von geschlechtlicher Zweiteilung und körperlichem Verfall einen pathologisierenden Zugang. Besonders deutlich wird dies in dem unveröffentlichten, Elbe zugeschriebenen Vorwort, das die Vorstellungsebene in einem Satz subsumiert: „Nur der Körper w a r degene-

191 Haire schreibt diese diagnostische Verknüpfung eindeutig Andreas zu, vgl. Haire 1933a/b, S. VI. 192 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 58. 193 Vgl. ebd., S. 64; Allatini merkt später zu dieser Diagnose an, dass sie mit Einschreibungen von Perversion einherginge und versucht, anhand einer Überschneidungstheorie von Homosexualität und Hermaphroditismus zu erklären, dass es sich dabei nicht um perverse Individuen handele, vgl. Allatini 1939, S. 219f. 194 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 11; die hier bereits verdeutlichte Verschränkung mit der plastischen Chirurgie werde ich in 6.2.2 aufgreifen. 195 „at Andreas var fuldstændig forrykt. Heri vilde sikkert de fleste give ham Ret, for Andreas paastod, at han i Virkeligheden slet ikke var nogen Mand — men en Kvinde.“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 11.

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riert und wurde es immer mehr, je stärker die Zweiteilung überhandnahm und dadurch einen krankhaften Zustand schuf.“196 Zwar figuriert dieser degenerierte Körper in Anlehnung an den Phönix-Mythos letztendlich als Ort der Auferstehung,197 doch wird dieses als einzigartig betonte Menschenschicksal, wie durch besagten Chirurgen demonstriert, damit gleichzeitig anfällig für psychopathologische Zuschreibungen im Bereich des Wahnsinns oder der Verrücktheit. Diese Begrifflichkeiten bleiben auch nach der Jahrhundertwende weiterhin virulent, obwohl der Psychiater Emil Kraepelin sie 1899 in eine neue binäre Klassifikation von endogenen Psychosen – dem ‚manisch-depressivem Irresein‘ und der ‚Dementia praecox‘ (vorzeitige Demenz) – aufbricht.198 Das zweite Krankheitsbild geht etwa eine Dekade später in der differenzierteren Konzeption der Schizophrenie seines Schweizer Kollegen Eugen Bleuler auf.199 Gerade die populär verbreitete Vorstellung von der Schizophrenie als Persönlichkeitsspaltung hat dementsprechend eine enorme Rückwirkung auf ein Zwei-Seelen-Narrativ, welches sich zudem als wahnhafte Vorstellung in das eigentliche Krankheitsbild einschreiben ließe. Dem gegenüber stehen die affektiven Schwingungen der in einem Körper vereinten Seelen. Somit würde die Tatsache, dass Lili heiter ist, während Andreas von Depressionen heimgesucht wird, auch der Diagnose einer manisch-depressiven Psychose Vorschub leisten. Für die Protagonistin in Fra Mand til Kvinde und für Elvenes selbst stellt sich diese Verquickung von alteritärer Geschlechtserfahrung und dem Aufrufen psychopathologischer Bilder im medizinischen Prozess letztendlich nicht als von übergeordneter Bedeutung dar. Dennoch handelt es sich um eine Kombination, die sich bereits im Gedankengut der rassenhygienischen Diskurse konsolidiert. Sie ist wegweisend für die postmortale Bewertung von Elvenes und beeinflusst die Entwicklungslinien, welche als trans* identifizierte Menschen der westlichen Hemisphäre bis über das 20. Jahrhundert hinaus begleiten sollen.200 Wie wirkmächtig solche Einschreibungen und Assoziationsketten sind, zeigt sich bis heute in der Forschung zu Fra Mand til Kvinde. Während der Text neben seinen eigenen pathologischen Zugängen vielmehr die – wenn auch konfliktreiche – Koexistenz zweier Seelen in einem Körper betont, werden weiterhin pathologisch aufgeladene Begriffe zur Beschreibung von Individuum und Textstruktur verwandt. So deutet Heede an, dass der Text eine „schizophrene Form“201 habe, während Run-

196 Elbe: Vorwort, S. 2. 197 Vgl. ibid. 198 Vgl. Kraepelin 1899. 199 Vgl. Bleuler 1988. 200 Vgl. Kapitel 6. 201 „skizofrene form“, Heede 2004, S. 111; vgl. Heede 2012a, S. 15.

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te von einer „Semantik des gespaltenen Ichs“ spricht,202 welche bei ihren Beschreibungen der Persönlichkeitsebene in einer dezidiert hervorgehobenen „Persönlichkeitsspaltung“203 mündet, um letztendlich als fantastisch anmutender „Horror der ‚multiplen Persönlichkeit‘“204 dem platonischen Ideal der Kugelmenschen gegenübergestellt zu werden. Selbst Steinbock, die dieses Zwei-Seelen-Narrativ als ermächtigendes Moment liest, kann sich spezifischen Begrifflichkeiten, wie „interner Spaltung“205 und „bipolar“206 nicht entziehen. Somit werden narrative Pathologisierungsstrategien tradiert und wirken bis in die Gegenwart nach, ohne dass ihr kontextueller Zusammenhang und dessen negative Langzeitwirkung deutlich werden. Bei Elvenes sollen die psychopathologischen Bilder nämlich Zuschreibungen vorbeugen, welche die Anerkennung der Identität gefährden. Im Zuge dessen wird trotz des enormen Bestrebens nach Integration eine alteritäre Position in Kauf genommen, die nicht nur psychotischen Interpretationen auf Seiten der Medizin und der *Rezipient*innen Vorschub leistet, sondern sowohl prä- als auch post-operativ Konzepte von ‚Monstrosität‘ aufruft. So droht sich die Protagonistin durch die technologische Körperveränderung in ein ‚Frankenstein’sches Monster‘ zu verwandeln.207 Eine Art der Alterität, die ihr fast per se eingeschrieben scheint, da sie sich ob eines ‚Fehlers der Natur‘208 auf einer Linie bewegt, die schon im 19. Jahrhundert eng an die Kategorie des Monströsen geknüpft ist.209 Aufgehoben wird diese Vorstellung in Fra Mand til Kvinde durch die des Göttlichen, auf welches der Text von Beginn an hinarbeitet. In einem mystisch inszenierten Spannungsbogen wird die Erlösung durch Kreutz vorbereitet. Nachdem dessen Leistung bereits in Hoyers Vorwort hervorgehoben wird, präsentiert der Text angesichts der demotivierenden Arztbesuche die an Grete gerichtete Prophezeiung einer russischen Seherin: „Ihr Mann muss noch zu einem weiteren Arzt gehen, einen, den er nicht kennt, dann wird alles, was er sich wünscht, in Erfüllung ge-

202 Runte 1996, S. 65. 203 Runte 1998, S. 126. 204 Runte 2006, S. 134. 205 „internal split“, Steinbock 2009, S. 141 206 „bi-polar“, ebd., S. 144. 207 Vgl. Armstrong 1998, S. 171; erst viel später fordert Susan Stryker ein Reclaiming des Begriffs ‚Monster‘, vgl. Stryker, Susan: „My Words to Victor Frankenstein above the Village of Chamounix“ (1994), in: Stryker, Susan u. Stephen Whittle (Hg.): Transgender Studies Reader, New York/London 2006, S. 244-256, hier S. 246. 208 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 10; vgl. 3.2.3. 209 Zur Verwandtschaft dieser Vorstellungsebenen, vgl. Zürcher, Urs: Monster oder Laune der Natur? Medizin und die Lehre von den Missbildungen 1780-1914, Frankfurt am Main 2004.

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hen.“210 Nachdem Andreas selbst zu der Ansicht kommt, dass ihm nur ein Wunder und „ein Arzt mit Fantasie […], der nicht nur Wissenschaftler, sondern gleichzeitig Künstler wäre“,211 helfen könne, und ihm das Potential des richtigen Mediziners auch von seiner Umwelt wiederholt gespiegelt wird,212 sind es Niels’ Worte in Berlin, die sowohl die Körperlichkeit als auch die medizintechnologische Intervention mit dem wundersamen Göttlichen verknüpfen.213

4.3 K ATEGORISIERUNGEN

UND I NTERVENTIONEN

Im Vorwort Hoyers ist die Rede davon, dass ein mutiger Chirurg, welcher sich im Text schnell als Werner Kreutz entpuppt, Einar Wegener dazu verhilft, sein Leben in voller Übereinstimmung mit seiner eigentlichen Natur fortzuführen.214 Darüber, wie sich diese ‚eigentliche Natur‘ konstituiert und welche verfügbaren Technologien zur (Wieder-)Herstellung der Übereinstimmung Anwendung finden sollten, gibt es bis heute divergierende Ansätze. Bereits 1933 merkt Haire in seiner Introduktion zu Man into Woman an, dass die im Text dargestellten Fakten unterschiedlich interpretiert werden könnten.215 Runte sieht sich auch ohne diese Einladung im Stande, die therapeutischen Maßnahmen an selbstdiagnostische Vorannahmen auf Seiten der Protagonistin zu binden.216 Hausman argumentiert darüber hinaus, dass Lili – wie vermeintlich viele Transsexuelle – erst ihren eingeforderten ‚technologisierten Körper‘ als den eigentlichen ansehe, da ihr der ‚adäquate Körper‘ eben nicht durch die Natur zugestanden worden sei.217 Die initiale Konsultation mit Kreutz, welche bereits zu Beginn von Fra Mand til Kvinde in die Erzählung einfließt, zeigt hingegen kein Subjekt, das sich mit einer sicheren Selbstdiagnose vorstellt und eine ‚technologische Renaturalisierung‘ fordert. Vielmehr geht Andreas angesichts der vorherigen Erfahrungen mit Angst in diese Begegnung,218 die in ihrer literarischen Ausformung von Warnekros beein-

210 „Deres Mand skal gaa til endnu en Læge, en, han ikke kender, saa vil alt, hvad han ønsker, gaa i Opfyldelse“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 10. 211 „en Læge med Fantasi, [...] der var ikke alene Videnskabsmand, men samtidig ogsaa Kunstner“, ebd., S. 11. 212 Vgl. ebd., S. 8, S. 14 u. S. 62. 213 Vgl. 3.2.3. 214 Vgl. 2.4. 215 Vgl. Haire 1933a/b, S. V. 216 Vgl. Runte 1998, S. 126. 217 Vgl. Hausman 1998, S. 166. 218 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 15.

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flusst wird.219 Nachdem Kreutz in dieser Szene die schmerzenden Stellen bei Andreas identifiziert und sich offensichtlich einen Überblick über die bisherige Diagnostik sowie die entsprechenden Behandlungsansätze verschafft, stellt er die Vermutung an, dass Andreas eventuell auch weibliche Keimdrüsen besitze: „Ich höre, dass Sie ein Radiologe einer Röntgenbehandlung unterzogen hat …… und das ohne vorher irgendwelche chemischen oder mikroskopischen Untersuchungen angestellt zu haben …… Es ist unmöglich zu sagen, ob er damit ihren Geschlechtsdrüsen geschadet hat, also auch den eventuell vorhandenen weiblichen Drüsen …… das wird sich erst durch nähere Untersuchung zeigen. […] ich nehme nämlich an, dass Sie sowohl weibliche als auch männliche Organe haben, aber dass keins von ihnen die Möglichkeit gehabt hat, sich ganz zu entwickeln …… es ist ein Glück für Sie, dass Sie sich in einem so ausgeprägten Grad als Frau fühlen …… daher glaube ich, dass ich Ihnen helfen kann.“220

Haire bestätigt diese Annahme in seinen Ausführungen und schlägt zudem vor, dass sich die rudimentären Ovarien sowie die ebenfalls vorhandenen Testikel in ihrer Entwicklung wohlmöglich gegenseitig unterdrückt hätten.221 Angesichts der potentiellen Beschädigung jeglicher gonadalen Organe durch die Röntgenbehandlung wird in einem die deutsche und die englischsprachigen Ausgaben ergänzenden Brief von Andreas erklärt, dass er „beinahe nicht als lebendes Wesen angesehen werden könne, weil […] diese Behandlung ins Blinde hinein meine Organe – sowohl die männlichen wie die weiblichen – zerstört habe.“222 Damit wird nicht nur

219 Warnekros erwähnt in einem Brief an Hoyer ausdrücklich, dass er Änderungen in diesem Textteil vorgenommen hat – Änderungen, die sich im erhaltenen Manuskript nachvollziehen lassen, vgl. Warnekros an Hoyer, 14.08.1931; vgl. Lili Elbe Buch (Manuskript), S. 12ff. 220 „Jeg hører, at en Radiolog har givet Dem en Røntgenbehandling ...... og det uden først at have foretaget nogen kemisk eller mikroskopisk Undersøgelse ...... Det er umuligt at sige, om han derved har skadet Deres Kønskirtler, altsaa ogsaa de eventuelt tilstedeværende kvindelige Kirtler ...... det vil først vise sig gennem nærmere Undersøgelse. [...] jeg antager nemlig, at De har kvindelige, saavel som mandlige Organer, men at ingen af dem har haft Mulighed for at udvikle sig helt ...... det er en Lykke for Dem, at De i en saa udpræget Grad føler Dem som Kvinde ...... derfor tror jeg, at jeg kan hjælpe Dem.“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 16f. 221 Vgl. Haire 1933a/b, S. VIf.; Runte leitet über die These der gegenseitigen Entwicklungsblockade eine zweifelhafte Verbindung zum „eugenische[n] Unterton faschistoider Biopolitik“ her, da impliziert sei, dass es für die zwittrigen Geschlechtsdrüsen nicht genügend Raum gebe, Runte 2006, S. 134. 222 Elbe 1932, S. 20.

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die fortwährende Bedeutung der gonadalen Funktionalität im zeitgenössischen Diskurs deutlich, sondern auch die universelle Tragweite von Geschlechtervorstellungen bei der Definition von Leben. Die von Kreutz implizierte Annahme eines somatischen Hermaphroditismus wird jedoch von vielen Seiten bezweifelt. So werden nicht nur bei Hirschfeld, 223 sondern auch in einer Reihe von aktuelleren Forschungsbeiträgen diesbezüglich Bedenken geäußert: Teilweise wird die Überspielung eines per se gesetzten Transvestitismus durch die intersexuelle Kondition angenommen,224 hauptsächlich jedoch das Legitimationsargument bezüglich der weiblichen Identität sowie der chirurgischen Eingriffe hinterfragt.225 Insbesondere Volker Weiß setzt sich mit dieser Fragestellung auseinander und weist darauf hin, dass sich im zeitgenössischen Rahmen gerade die genetische Theorie Goldschmidts, in der psychischer und somatischer Hermaphroditismus in einem Modell zusammenlaufen, dazu eignet, die Eingriffe zum Geschlechtswechsel zu ermöglichen.226 Angesichts der HermaphroditismusDiagnose können Andreas dementsprechende Interventionen chirurgischer Art in Aussicht gestellt werden: „[I]ch hoffe, dass ich Ihnen ein neues Leben und eine neue Jugend geben kann […] ich werde Sie selbst operieren, ich werde Ihnen ein Paar frische weibliche Geschlechtsdrüsen geben und innerhalb kurzer Zeit werden Sie eine neue Lebenskraft spüren, die sie über den Stillstand hinausbringen kann, der gleichzeitig mit der Pubertät in Ihre Entwicklung eintrat.“227

Mit der Ankündigung eines neuen Lebens und einer neuen Jugend, welche angesichts der Steinach’schen Forschung unmittelbar an eine Behandlung der Gonaden

223 Vgl. Hirschfeld 1935, S. 96. 224 Vgl. Runte 1996, S. 598; vgl. Meyerowitz 2002, S. 31; ich möchte zu bedenken geben, dass die unkritische Setzung von ‚Transvestitismus‘ hier zur Perpetuierung zweigeschlechtlicher Normierungen nicht nur in Bezug auf Elbe/Elvenes beiträgt. 225 Vgl. Hausman 1995, S. 16; vgl. Runte 1996, S. 62f.; vgl. Gilman 1999, S. 280; vgl. Meyerowitz 2002, S. 30. 226 Vgl. Weiß 2009, S. 202ff. 227 „jeg haaber, at jeg kan give Dem et nyt Liv og en ny Ungdom. [...] jeg vil selv operere Dem, jeg vil give Dem et Par friske kvindelige Kønskirtler, og om kort Tid vil De faa en ny Livskraft, der kan bringe Dem ud over den Stilstand, der indtraadte i Deres Udvikling samtidig med Pubertetsalderen.“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 17; ab der deutschen Ausgabe ist zudem die Rede davon, dass die unvollkommenen männlichen Organe entfernt werden sollen und dass Andreas bis zum Eingriff Medikamente zum Erhalt der inneren Organe von Kreutz bekommen würde. Dabei könnte es sich um tierische Ovarialextrakte handeln, vgl. Elbe 1932, S. 20f.

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gebunden ist, verdoppelt sich die Indikation des angekündigten Eingriffs. Während Lebenserhaltung oder Lebensgewährleistung klar medizinisch motiviert scheinen, bewegen sich Verjüngungstechnologien im vermeintlich eher ästhetischen Bereich. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass Warnekros – schon zu seiner eigenen Absicherung – daran gelegen ist, die medizinische Indikation in den Vordergrund zu stellen, da er jegliche Hinweise auf Verjüngungsversprechen in diesem Dialog gestrichen hat. (Abb. 27) Dass diese Streichungen im Text nicht konsequent übernommen werden, liegt wahrscheinlich an den bewussten narrativen Bezügen zur Steinach’schen Schule. Doch nicht nur die ästhetischen und somatischen Komponenten tragen dazu bei, dass die Frage der Indikation einen so prominenten Eingang in die Forschung gefunden hat. Auch die Dichotomie von Körper und Seele, an deren Verknüpfung sich der Behandlungsansatz orientiert, beeinflusst die Debatte über lange Zeit. Während Armstrong argumentiert, dass Kreutz’ Diagnostik darauf ziele, das psychische Wissen um das eigene Geschlecht mit Hilfe von chirurgischen Eingriffen auch somatisch freizulegen, kulminieren die Einordnungen Gilmans in einer genau gegenläufigen Argumentation, die auf den ästhetischen Aspekt fokussiert. Mit Bezug auf Boivin, der den in Fra Mand til Kvinde angedeuteten psychischen Effekt der somatischen Eingriffe klar herausstellt,228 behauptet Gilman: „Transgender Surgery is aesthetic surgery if it is deemed to operate on the psyche.“229 Und laut Carl Gustav Jung, auf den Gilman ebenfalls rekurriert, handele es sich bei solchen Eingriffen nicht mehr um Indikationen im Bereich der Medizin.230 Der Text hingegen suggeriert, dass eine medizinische Notwendigkeit für die Interventionen bestehe. Deren Relevanz sucht Kreutz auch durch eine differentialdiagnostische Frage bezüglich des Begehrens von Andreas sicherzustellen.231 Zudem teilt der Arzt mit, dass die Eingriffe in Dresden stattfinden werden, wobei eine vorherige Untersuchung in Berlin jedoch unabdingbar sei. Hiermit wird die prominente Stellung des Berliner ‚Instituts für Sexualwissenschaft‘ angedeutet. Kreutz’ spezifische Erfahrung wird abgesehen vom vermeintlich internationalen Ruf seiner Frauenklinik hingegen kaum nachvollziehbar. Zwar behauptet Runte, dass es sich bei Kreutz um „ein[en] Experte[n] auf dem Gebiet geschlechtskorrigierender Operationen bei Zwittern“232 handele, doch geben weder der Text noch die Vita von Warnekros eine solche Einordnung her.

228 Vgl. Boivin 1958, S. 59. 229 Gilman 1999, S. 271. 230 Vgl. Jung, Carl Gustav: „Zur Frage der ärztlichen Intervention“ (1950), in: Jung, Carl Gustav: Das symbolische Leben, Solothurn/Düsseldorf 1995, S. 375-376, hier S. 376. 231 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 17f. 232 Vgl. Runte 1996, S. 307.

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Abbildung 27

Lili Elbe Buch (Manuskript) mit Streichungen von Kurt Warnekros, S. 15, EHA.

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Der einzige Hinweis, dass Warnekros weitere Eingriffe mit ähnlicher Indikation vorgenommen hat, findet sich zwei Dekaden später in Briefen, welche die deutschstämmige Amerikanerin Charlotte von Curtius an Christine Jorgensen und deren Eltern schickt. Sie schreibt darin, dass Warnekros bei ihr 1929/1930 ähnliche Eingriffe wie bei ‚Lily Elbe‘ vorgenommen habe233 und gibt zudem an, dass die Operationen beider Frauen durch namhafte Sexualwissenschaftler, auch dänischer Provenienz, gefördert worden seien: „Prof. Leunbach was one of the first to recognize the necessity of a physical adjustment – through surgery – in fact Prof. Magnus Hirschfeld (Berlin), Havelock Ellis (London) and he – sponsored Lily Elbe and my ‚adjustments‘“234 Während der finanzielle Aspekt in Fra Mand til Kvinde kaum Berücksichtigung findet, spricht ein ab der deutschen Ausgabe ergänzter Brief diese Problematik konkret an.235 Weitere potentielle Probleme, die mit den Interventionen einhergehen, werden im Rahmen der Konsultation mit Kreutz jedoch in allen Editionen thematisiert: „Übrigens muss ich darauf aufmerksam machen, dass diese Operation, die die erste in ihrer Art ist, Anlass für mehrere Schwierigkeiten, nicht zuletzt in juristischer Hinsicht, geben wird“.236 Dabei sind nicht nur die bürokratischen Herausforderungen, die Lili bevorstehen, von Bedeutung, sondern auch die rechtlichen Konsequenzen, welche den involvierten Medizinern angesichts der Eingriffe drohen.237 Auch in medizinischer Hinsicht stellen die angedachten Interventionen ein Risiko dar und können mitunter tödliche Folgen haben.238 Mit Hinblick auf die bereits existierenden Suizidgedanken bei Einar als auch Andreas dürfte dies zumindest für den Protagonisten in Fra Mand til Kvinde kaum ein Hindernis dargestellt haben.239

233 Die Daten der Eingriffe variieren in den verschiedenen Briefen, vgl. Brief von Charlotte von Curtius an George William und Florence Jorgensen, New York, undatiert (ca. Jahreswechsel 1952/53), S. 1, CJS; vgl. Brief von Charlotte von Curtius an Christine Jorgensen, New York, 20.02.1953, S. 1, CJS; Meyerowitz verweist bereits auf diese Korrespondenz, nutzt für Curtius jedoch das Pseudonym ‚Carla Van Crist‘, vgl. Meyerowitz 2002, S. 30. 234 Curtius an G.W. & F. Jorgensen, undatiert, S. 1f. 235 Vgl. Elbe 1932, S. 21f. 236 „Forresten maa jeg gøre opmærksom paa, at denne Operation, der er den første i sin Art, vil give Anledning til adskillige Vanskeligheder, ikke mindst i juridisk Henseende [...]“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 18. 237 Eine Kastration ohne eindeutige Indikation ist auch zu diesem Zeitpunkt strafbar, vgl. Herrn 2005, S. 211. 238 Vgl. Boivin 1958, S. 58. 239 Allatini bestätigt in ihren Ausführungen eine ausgeprägte Suizidalität auch bei Einar Wegener, vgl. Allatini 1939, S. 217.

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Dementsprechend bleibt der psychologisch positive Effekt des Gesprächs zunächst erhalten.240 Während jener Eindruck in Fra Mand til Kvinde auf Grund einer Streichung ungestört nachklingt, werden im Manuskript und den anderssprachigen Ausgaben Bedenken ob der experimentellen medizinischen Technologien deutlich: „Wäre es vielleicht richtiger gewesen, auf dieses phantastische Experiment zu verzichten? …. Denn ein Experiment ist es doch, was man mit ihm vorhat…“241 4.3.1 Sexualmedizinischer Transit: Berlin Die Bedenken, welche Andreas bezüglich der ihm bevorstehenden medizinischen Reise hat, äußern sich in Fra Mand til Kvinde als Angstzustände im Zusammenhang mit jenem prophetischen Traum, der ab der deutschen Ausgabe aus dem Text gestrichen wird.242 Noch bei der tatsächlichen Zugfahrt nach Berlin verfolgen ihn diese Gedanken und scheinen sich auch somatisch zu manifestieren. Andreas berichtet von Schmerzen, fiebrigen Zuständen und einem Ohnmachtsanfall.243 Während diese Symptomatik die medizinische Indikation zu unterstreichen scheint, wirft sie ebenfalls die Frage auf, ob sich Andreas’ physische und psychische Konstitution nicht auch angesichts eines bestrahlungsbedingten Hormonausfalls in diese Richtung entwickelt haben könnte.244 Die erste Untersuchung, der Andreas in Berlin unterzogen wird, gilt dann auch der Ermittlung des Hormongehalts im Blut. Der dafür aufgesuchte Professor Arno wird als Erfinder einer neuen Methode zur Blutuntersuchung vorgestellt,245 so dass Herrn hinter diesem Pseudonym den Physiologen Emil Abderhalden vermutet. 246 Jedoch gibt es auch Stimmen, die vom institutsinternen Felix Abraham ausgehen.247 Angesichts des Charakters der Untersuchung liegt Herrn mit seiner Annahme zumindest in der Richtung nicht falsch, da es sich bei der Methode mit großer Wahr-

240 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 18; Allatini berichtet, dass sie ein regelrechtes Aufblühen auf Seiten Einars nach dieser Konsultation beobachten konnte, vgl. Allatini 1939, S. 220. 241 Lili Elbe Buch (Manuskript), S. 29; Elbe 1932, S. 25. 242 Vgl. 3.2.2. 243 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 29f. 244 Die angegebene Symptomatik deckt sich mit der des Östrogen- und/oder Testosteronmangels, vgl. Lehnert, Hendrik (Hg.): Rationelle Diagnostik in Endokrinologie, Diabetologie und Stoffwechsel, 3. Auflage, Stuttgart 2010, S. 247 u. S. 274. 245 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 36. 246 Vgl. Herrn 2005, S. 207. 247 Vgl. Armstrong 1998, S. 166; vgl. Rudacille 2005, S. 46; Rudacille will Abraham dabei auch gleich zum operierenden Chirurgen machen

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scheinlichkeit um die heute wissenschaftlich angezweifelte ‚Abderhalden’sche Reaktion‘248 – eigentlich ein Schwangerschaftstest – gehandelt haben dürfte. Entwickelt vom Veterinärmediziner Arthur Weil, einem Mitarbeiter Abderhaldens, wird diese Methode auch von Hirschfelds Kreis interessiert aufgenommen, welcher Weil zwischenzeitlich in der Funktion des Leiters der Abteilung für innere Sekretion an das Institut für Sexualwissenschaft binden kann.249 Inwieweit sich Arno auf eine historische Person zurückführen lässt, kann jedoch auch dadurch nicht sicher geklärt werden. Im Text wird er als angenehmer und rücksichtsvoller Arzt beschrieben, der die anamnetische Befragung und Untersuchung respektvoll gestaltet: „Danach nahm er ein paar Blutproben, während er erklärte, wie er durch eine Reihe von serologischen Reaktionen den Hormoninhalt des Blutes bestimmen könne, der entscheidend für Lilis Lebensmöglichkeiten sei.“250 Anschließend schickt Arno Andreas mit deutlichen wissenschaftlichen Distanzbekundungen zum Sexualpsychologen Professor Hardenfeld.251 Die Verortung Hardenfelds im „Institut für Sexualforschung“252 legt den Bezug zu Hirschfeld unmittelbar nahe. Die schon bei der Ankunft im Institut evidente Abneigung gegen die anderen dort anwesenden Personen scheint einen milieutherapeutischen Ansatz per se auszuschließen.253 Und auch die Befragung durch Hardenfeld empfindet Andreas als ein vernichtendes Verhör: „Das war eine unbarmherzige Inquisition, eine seelische Tortur für Andreas …… aber das war wohl notwendig.“254 Hirschfeld, der später

248 Vgl. Deichmann, Ute u. Benno Müller-Hill: „The fraud of Abderhalden’s enzymes“, in: Nature, 14.05.1998, Nr. 393, S. 109-111. 249 Vgl. Sigusch/Grau 2009, S. 736; Weil veröffentlicht zu Beginn der zwanziger Jahre auch drei Bände zu inneren Sekretion. 250 „Derefter tog han et Par Blodprøver, medens han forklarede, hvorledes han gennem et Række serologiske Reaktioner kunde bestemme Blodets Hormonindhold, der var afgørende for Lilis Livsmuligheder.“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 36. 251 Vgl. ibid. 252 „Institut for Seksualforskning“, ibid; die anderen Ausgaben leiten den Fokus mit den Bezeichnungen ‚Institut für Seelenkunde‘/‚Institute for Psychiatry‘ auf das Psychiche, vgl. Elbe 1932, S. 39; vgl. Hoyer 1933a/b, S. 51. 253 Ellen Bækegaard, die in Paradiset er ikke til salg von ihren Aufenthalten im Institut berichtet und Dorchens Geschichte nach Angaben von Hirschfelds Freund und Schüler Karl Giese nacherzählt, gibt an, dass Einar Wegener das Institut nicht gemocht habe und auf Grund einer Klassendivergenz zwischen ihm und Dorchen auch nicht in die gleiche Kategorie einsortiert werden wollte, vgl. Ritzau/Hertoft 1984, S. 82f. 254 „Det var en ubarmhjertig Inkvisition, en sjælelig Tortur for Andreas …... men det var vel nødvendigt.“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 36.

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von seiner Begegnung mit Einar Wegener berichtet, erklärt: „Obwohl sehr feminin in seinem Habitus und vor allem bei seinen Bewegungen, zeigte das Subjekt trotzdem nicht die geringste Spur von somatischem Hermaphroditismus, ebenso wenig von ausgeprägter Androgynie.“255 Herrn geht dementsprechend davon aus, dass Hirschfeld ihn als extremen Transvestiten klassifiziert habe.256 Hirschfeld selbst äußert sich nirgends zu einer konkreten terminologischen Einordnung. Im Anschluss an den Besuch bei Hardenfeld konsultiert Andreas noch einen Dr. Karner, der mit ihm ein Gespräch führt und eine zusätzliche Blutprobe nimmt. 257 Ausschlaggebend für die weitere Entscheidungsfindung bezüglich der Eingriffe sind jedoch Arno und Kreutz, die zu dem Schluss kommen, dass die erste Operation von einem jungen Chirurgen in Berlin unternommen werden sollte258 – nicht zuletzt, um Andreas auf den Aufenthalt in einer geschlechtsspezifischen Einrichtung vorzubereiten: „Kreutz ist Direktor einer Frauenklinik …… und Ihr Fall, Professor [Arno] lächelte, ist doch ein wenig …… ungewöhnlich, selbst für uns Ärzte …… Aber so bald Sie hier in Berlin operiert worden sind, sind Sie nicht mehr Andreas Sparre ……“259 Hier wird bereits deutlich, dass es sich bei dem geplanten Eingriff um eine Kastration handelt, wobei nochmals die Dominanz des Keimdrüsengeschlechts unterstrichen wird. Die fehlenden Testikel, also im Freud’sche Sinne der kastrierte Mann, manifestieren die Nichtzugehörigkeit zum männlichen Geschlecht und die Möglichkeit, in einer Institution für Frauen aufgenommen zu werden. Dass Arno – der bei dem Eingriff dabei sein wird – dem zu Operierenden mitteilt, dass Hardenfeld auf seelischer Ebene eine achtzigprozentige Weiblichkeit festgestellt habe, welche er selbst mit seinen serologischen Untersuchungsergebnissen bestätigen könne,260 erscheint dabei nur von untergeordneter Signifikanz. Dennoch stellt sich die Frage, inwieweit die somatischen Blutuntersuchungen und die psychische Einschätzung von Hardenfeld dabei korrespondieren. Die Schnittpunkte werden zumindest in Fra Mand til Kvinde nicht deutlich. Dennoch interessiert auch im Institut der somatische Aspekt: Andreas muss sich dort vor der Einweisung noch für

255 „Très féminin dans son habitus et surtout dans ses mouvements, le sujet ne présentait pourtant pas la moindre trace d’hermaphroditisme somatique, ni même d’androgynie prononcée.“, Hirschfeld 1935, S. 96. 256 Vgl. Herrn 2005, S. 207. 257 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 36f. 258 Hirschfeld spricht sich postum trotz des nichtdiagnostizierten somatischen Hermaphroditismus auch für die operativen Eingriffe aus, vgl. Hirschfeld 1935, S. 97. 259 „Kreutz er Chef for en Kvindeklinik …… og Deres Tilfælde, Professor smilede, er jo lidt ...... usædvanlig, selv for os Læger ...... Men saa snart De er blevet opereret her i Berlin, er De ikke mere Andreas Sparre ......“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 38. 260 Vgl. ibid.

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kasuistische Fotografien bereithalten261 – eine Diagnose- und Begutachtungspraxis, die ihm offensichtlich große Schwierigkeiten bereitet und, wie bereits erwähnt, von Castonier als inhuman kritisiert wird.262 Nach der körperlichen Eingangsuntersuchung beim Chirurgen Dr. Gebhard, welcher seinem Patienten einen normal gebauten männlichen Körper mit weiblichen Formen bestätigt,263 überkommen Andreas nochmals Zweifel, ob er den richtigen Weg eingeschlagen hat.264 Doch wenig später – der Text datiert den Zeitpunkt auf Anfang März 1930 – erhält Andreas, der kaum etwas über die anstehende Operation weiß, ein Schlafmittel und gibt sein Einverständnis: „Professor Arno stand neben seinem Bett und bat ihn eine Erklärung zu unterschreiben, in der steht, dass er, Andreas Sparre, sich gemäß seinem eigenen Wunsch operieren lasse, und dass Oberarzt Gebhard, falls die Operation einen unglücklichen Ausgang nehmen sollte, von jeder Verantwortung enthoben sei.“265

Zwischen der folgenden Narkosespritze und dem schmerzerfüllten Aufwachen am nächsten Tag liegt in autobiographischer Manier eine textuelle Leerstelle,266 die erst durch die Wiedergabe der postoperativen Kommunikation zwischen Grete und den Medizinern vorsichtig gefüllt wird. Während die noch Andreas genannte Protagonistin eine intravenöse Nachbehandlung erhält und ihr Krankenlager nicht verlassen darf,267 berichtet Grete, dass es sich nur um einen einleitenden, aber wichtigen Eingriff handele: „Andreas hat nun aufgehört zu existieren, sagen sie [die Ärzte], die Drüsen, die ihn zum Mann gemacht haben, sind entfernt.“268 In der deutschen Aus-

261 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 38 u. S. 72. 262 Vgl. 3.3.4.; zunächst ist für Ein Mensch wechselt sein Geschlecht ein öffentlicher Abdruck dieser tatsächlich im Institut angefertigten Fotografien angedacht, letztendlich entscheidet sich der Verleger jedoch dagegen, vgl. Schumann an Hoyer, 08.02.1932, S. 2; vgl. Schumann an Hoyer, 21.07.1932, S. 1f. 263 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 69. 264 Vgl. ebd., S. 71. 265 „Professor Arno stod ved Siden af hans Seng og bad ham underskrive en Erklæring, hvori der stod, at han, Andreas Sparre, ifølge sit eget Ønske lod sig operere, og at Overlæge Gebhard, hvis Operationen skulde faa et uheldigt Udfald, var fritaget for ethvert Ansvar.“, ebd., S. 78. 266 Vgl. ebd., S. 79f.; an jenes Aufwachen knüpft sich die Veränderung von Stimme und Schrift, vgl. 3.2.4. 267 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 81. 268 „Andreas er nu ophørt at eksistere, siger de, de Kirtler, der gjorde ham til Mand, er fjernede.“, ebd., S. 86.

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gabe wird – weniger poetisch – angesprochen, dass es sich um die Kastration handele, wobei Haire in seiner Introduktion im folgenden Jahr hinzufügt, dass dabei beide Testikel entnommen worden seien.269 Mehr erfahren wir in den Texten nicht über diesen Eingriff und auch Erwin Gohrbandt, der die Orchiektomie bei Wegener vorgenommen hat und Pate für die Figur des Dr. Gebhard steht, hat nicht zu diesem Eingriff publiziert – eine Tatsache, die sich Herrn mit der Brisanz des Themas erklärt.270 Somit scheint die Arbeit der Berliner Ärzte getan und nach einer abschließenden Blutuntersuchung bei Dr. Karner steht der Reise nach Dresden nichts mehr im Wege: „was des Weiteren unternommen werden muss, wird in Dresden von Professor Werner Kreutz gemacht werden …… die Ärzte haben auch etwas über Hormone gesagt“.271 4.3.2 Unter des ‚Meisters‘ Messer Die chirurgische Hilfe auf hormoneller Ebene ist der Fokus des Aufnahmegesprächs in der Frauenklinik. Nachdem Lili zögerlich von ihrem Aufenthalt in Berlin berichtet, von dem sie zumindest bezüglich der medizinischen Ergebnisse wesentlich weniger zu wissen scheint als Kreutz, teilt ihr dieser mit, dass „die bereits vorgenommenen Untersuchungen ein günstiges Resultat gezeigt haben, sie bestätigen alle unsere Annahmen.“272 Im Manuskript lautet der Satz noch anders: „Alles bestätigt unsere Annahme, dass sie ein weibliches Wesen sind.“273 Die hier von Warnekros vorgenommene Streichung deutet an, dass sich eine solch eindeutige Aussage nicht mit dem in der Presse vielfach kolportierten Argument von einem echten Zwitter deckt und wirft Fragen ob seiner eigenen medizinischen Kategorisierung auf. Bereits in einem ärztlichen Zeugnis vom April 1930 bestätigt er die in Fra Mand til Kvinde eingangs angenommene Existenz weiblicher Keimdrüsen sowie einer Form von Hermaphroditismus:274 „Es handelt sich bei Einar Wegener um einen sogenannten Pseudo-Hermaphroditismus masculinus, d. h. um einen Zustand, bei dem durch die secundären äusseren Geschlechtscharakte-

269 Vgl. Elbe 1932, S. 248; vgl. Haire 1933a/b, S. VII. 270 Vgl. Herrn 2005, S. 197. 271 „vad der videre skal foretages, vil blive gjort i Dresden af Professor Werner Kreutz ...... Lægerne snakkede ogsaa noget om Hormoner“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 86. 272 „at de Undersøgelser, der er foretaget, har vist et gunstigt Resultat, de bekræfter alle vor Antagelse.“, ebd., S. 107. 273 Lili Elbe Buch (Manuskript), S. 135. 274 Dieses Zeugnis sowie ein weiteres Gutachten sind erhalten, da sie in die rechtsmedizinische Bewertung von Elvenes eingeflossen sind, vgl. 5.2.2.

272 | »W IE L ILI ZU EINEM RICHTIGEN M ÄDCHEN WURDE « re ein männliches Individuum vorgetäuscht wird, während die Untersuchung der Keimdrüsen bezw. Ihrer Sekrete ergibt, dass es sich tatsächlich um ein weibliches Individuum handelt. Bei Einar Wegener hat die Untersuchung der inneren Drüsen, die Hormonbestimmung und die mikroskopische Untersuchung einwandfrei ergeben, dass weibliche Geschlechtsdrüsen vorhanden sind, sodass es sich also bei Einar Wegener um eine weibliche Person handelt, da das Geschlecht immer nach der Keimdrüse bestimmt wird, und die secundären äusseren Geschlechtscharaktere keinen Einfluss für die Geschlechtsbestimmung haben.“275

Warnekros, der damit ebenfalls die Bedeutung des Keimdrüsengeschlechts perpetuiert, weist der Patientin fälschlicherweise die Diagnose ‚Pseudohermaphroditismus masculinus‘ zu, obwohl es sich bei seinen nachfolgenden Erklärungen um die nosologischen Eigenschaften der mit femininus bezeichneten Ausprägung handelt – ein Fehler, den der Mediziner nach einem Hinweis des dänischen Gerichtsärzterats in einem noch umfangreicheren Gutachten vom Juli 1930 korrigiert: „Es handelt sich meiner Meinung nach zweifellos um einen sogenannten Fall von Pseudohermaphroditismus femininus.“276 (Abb. 29) Dort beschreibt er zudem ausführlicher, welche Untersuchungsergebnisse ihn zu dieser Diagnose veranlassen (Abb. 28): „Bei dem Patienten W e g e n e r , der als Einar Wegener zu mir in Behandlung kam, handelt es sich um eine Person von ausgesprochenem weiblichen Körperbau. Arme und Beine waren durchaus weiblich, kein Bartwuchs, die Stimme feminin. Die Clitoris war zu einem ca 3 cm langen penisartigen Gebilde entwickelt mit einer leichten Hypospadie; unterhalb dieses Organs fand sich ein skrotumähnliches Gebilde, das aber keine Geschlechtsdrüsen enthielt. Bei der Betastung fühlte man in dem linken Leistenkanal ein ca pflaumengrosses, längliches Organ, das sich nachder [sic] Bauchhöhle hin verschieben liess. Der Pat. machte bei der ersten Untersuchung einen sehr deprimierten Eindruck und äusserte Selbstmordgedanken, da er mit sich seit längerer Zeit in ernste Konflikte über seinen Zustand geraten war. Auf Grund der äusseren, scheinbar männlichen sekundären Geschlechtsorgane war er als Knabe erzogen worden und hatte frühzeitig geheiratet. Zu einem Geschlechtsverkehr ist es nie gekommen, da die penisartig entwickelte Clitoris nicht erektil war; das Verhältnis der beiden Ehegatten war ein rein geschwisterliches. Im Laufe der Jahre waren dem Patienten aber immer mehr Bedenken gekommen, ob er überhaupt ein Mann wäre, da seine Neigungen durchaus weiblich waren und sich immer mehr in diese Richtung entwickelten. Er fühlte sich am wohlsten in Frauenkleidern und hatte auch innige Freundschaften mit Männern. Der Pat. gab ausserdem an, dass er in regelmäßigen 4 wöchentlichen Intervallen sehr heftige Leibschmerzen und ausstrahlende Schmerzen in der linken Leistengegend bekäme, wobei fast regelmässig ein Blutabgang aus dem Darm oder aus der Nase eintrat. Die mehrmals vorgenommene mikroskopi-

275 Ärztliches Zeugnis von Kurt Warnekros, Dresden, 10.04.1930, E 1953. 276 Ärztliches Gutachten von Kurt Warnekros, Dresden, 18.07.1930, S. 2, E 1953.

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sche Untersuchung auf Spermatozoen war negativ. Die zweimal ausgeführte Harnuntersuchung auf Ovarialhormone fiel dagegen jedesmal positiv aus.“277

Abbildung 28

Ärztliches Gutachten von Kurt Warnekros, Dresden, 18.07.1930, S. 1, E 1953.

277 Ärztliches Gutachten Warnekros, 18.07.1930, S. 1; bei einer Hypospadie ist die Harnröhre auf der Unterseite des Penis gelegen.

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Abbildung 29

Ärztliches Gutachten von Kurt Warnekros, Dresden, 18.07.1930, S. 2, E 1953.

Obwohl sich Warnekros nicht präzise zum Charakter des vermeintlich ertasteten Organs äußert, scheint er damit die Existenz ovarialen Gewebes suggerieren zu wollen, während er die vorangegangene Entfernung der Testikel in beiden für juristische Zwecke verfassten Texte elegant verschweigt.278 Zudem werden die Ergebnisse der mikroskopischen Untersuchungen so präsentiert, dass kaum deutlich wird, wann sie stattgefunden haben. Dementsprechend erscheinen die Aussagen zum Hormonspiegel der Patientin zumindest in Bezug auf ihre zeitliche Relevanz fragwürdig. Denn sollten in Dresden weitere Blut- oder Urinuntersuchungen stattgefun-

278 Dies führt auf dem Gutachten zu der fragenden Anmerkung des dänischen Gerichtsärzterats, „durch wen“ („af hvem?“) diese Untersuchungen denn durchgeführt worden seien, vgl. Abb. 30.

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den haben, erklären sich die negativen Ergebnisse beim Spermatozoennachweis ob der bereits vorgenommenen Kastration von selbst. Da das im April verfasste ärztliche Zeugnis dezidiert nach dem ersten operativen Eingriff in Dresden geschrieben ist,279 könnten auch die nachgewiesenen Ovarialhormone bereits Folge einer abgeschlossenen Keimdrüsentransplantation sein, die dann ebenfalls für das abdominal tastbare Organ verantwortlich wäre. Als erste in Dresden vorgenommene Intervention wird in Fra Mand til Kvinde dann auch die Keimdrüsenüberpflanzung dargestellt. Diesen Eingriff kündigt Kreutz bereits beim klinischen Aufnahmegespräch an:280 „Es gilt, das notwendige Material heranzuschaffen, damit meine ich die frischen Drüsen, die Ihnen neues Leben geben sollen“.281 Dass im Text nicht von Ovarien, sondern Drüsen die Rede ist, geht wiederum auf eine Streichung Warnekros’ zurück.282 Zwar erklärt Elvenes in einem Brief, dass es sich nur um „rein wissenschaftliche Einwände, gegen das, was ich missverstanden habe“,283 handele, doch erscheint mir, dass Warnekros durch den Austausch von Begrifflichkeiten auch eine Bagatellisierung der Ovarienspende, zumindest innerhalb des öffentlichen Rahmens, zu erreichen sucht. Die Tatsache, dass einer vermeintlich gesunden jungen Frau eben jene Organe, welche sie innerhalb des narrativen Universums erst zur Frau machen, entnommen werden sollen, um sie einer anderen – in diesem Fall Lili – zu transplantieren, macht den

279 Vgl. Ärztliches Zeugnis Warnekros, 10.04.1930. 280 Für Herrn ergibt sich die Notwendigkeit einer Keimdrüsenüberpflanzung schon angesichts des kastrationsbedingten Hormonausfalls, welcher – folgt man dem Text – bereits radiologisch erwirkt sein könnte, vgl. Herrn 2005, S. 207; Hausman greift ein ähnliches Argument auf, wenn sie feststellt, dass die Unterleibsoperation notwendig sei, um Lilis Körper mit Östrogen zu versorgen, welches zu diesem Zeitpunkt noch nicht als chemisch isoliertes Hormonpräparat verfügbar ist, vgl. Hausman 1995, S. 16; in seinem Gutachten suggeriert Warnekros, dass der Hormonausfall bereits der radiologischen Behandlung geschuldet sein könne, macht jedoch nicht deutlich, ob er eine vorhergehende Hoden- oder Ovarienproduktion substituiert: „Ausserdem wurde ein normales Ovarium in die Bauchmuskulatur transplantiert, da vor einigen Monaten in Paris eine Röntgenbehandlung der Unterbauchgegend wegen der menstruationsähnlichen Beschwerden vorgenommen worden war und somit zu befürchten war, dass durch diese Bestrahlung die Keimdrüsen in ihrer Funktionstüchtigkeit geschädigt worden wären.“, Ärztliches Gutachten Warnekros, 18.07.1930, S. 2. 281 „Det gælder om at skaffe det nødvendige Materiale, dermed mener jeg de friske Kirtler, der skal give Dem nyt Liv ......“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 108. 282 Vgl. Lili Elbe Buch (Manuskript), S. 136. 283 „rent videnskabelige Indvendinger, overfor hvad jeg har misforstaaet“, Elvenes an Garland, 07.08.1931.

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Eingriff sowohl auf rechtlicher als auch auf medizinischer Ebene zu einer fragwürdigen Unternehmung. Diese Ambivalenz wird im Text vorsichtig aufgegriffen, wenn Lili sich wundert, warum einer gesunden Frau die Keimdrüsen entfernt werden. Doch die angesprochene Oberschwester wiegelt ab und erklärt der Protagonistin, dass sie nicht die anatomischen Kenntnisse hätte, um die Zusammenhänge zu verstehen.284 Wie zentral diese strategisch platzierte Implikation einer medizinischen Notwendigkeit der Drüsenentnahme für Warnekros und den Klinikkontext ist, wird auch in seinen die Entnahme legitimierenden Streichungen im Manuskript deutlich, die jeden Verdacht einer unnötigen Kastration eines anderen Individuums zu vermeiden sucht: Gestrichene Manuskriptversion: „Die junge Frau, die Ihnen ihre Ovarien geben wird, ist nämlich kaum 27 Jahre alt.“285 Von Warnekros vorgeschlagene Version: „Die Frau, bei der die Operation vorgenommen werden muss, ist nämlich kaum 27 Jahre alt.“286 Fra Mand til Kvinde: „Die Frau, von der sie [die Drüsen] stammen, ist nämlich nicht älter als 27 Jahre.“287

In Fra Mand til Kvinde wird zudem angedeutet, dass es sich bei der Spenderin bereits um die zweite Person handelt, die in Betracht gezogen wird, da eine zuvor operierte Frau „kein ‚geeignetes Material‘ hätte bereitstellen können.“288 Inwieweit da-

284 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 115f. 285 Lili Elbe Buch (Manuskript), S. 144. 286 Ibid.; dieser Satz wird in der deutschen Ausgabe zwar übernommen, doch tauchen dort auch die von Warnekros gestrichenen Ovarien auf: „Seien sie übrigens froh, Frau Lili, die neuen Ovarien, die der Professor an Ihnen transplantieren will, werden Ihnen neue Lebenskraft und neue Jugend geben. Die Frau, bei der die Operation vorgenommen werden muß, ist nämlich kaum 27 Jahre alt.“, Elbe 1932, S. 149; in den englischsprachigen Versionen wird die Notwendigkeit eines Eingriffs kaum noch deutlich: „You will be very pleased to know, Miss Lili, that the new ovaries which the Professor proposes to ingraft upon you will give you new vitality and new youth. The woman who is to be operated upon is, in fact, scarcely twenty-seven years old.“, Hoyer 1933a/b, S. 172. 287 „Den Kvinde, de stammer fra, er ikke mere end syv og tyve Aar gammel.“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 116. 288 „ikke havde kunnet yde ‚et velegnet Materiale‘“, ebd., S. 114; auch hier ist Warnekros bemüht, die Notwenigkeit der Operation in den Fokus zu rücken, indem er im Manu-

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bei Blutgruppen- und Gewebeverträglichkeit Berücksichtigung finden, lässt sich im Text jedoch nicht weiter nachvollziehen. So wird Lili mit wenig Wissen, aber der frohen Aussicht, dass ihr Alter sich den zukünftigen Keimdrüsen anpasse, unter Einfluss einer Morphiumspritze und mit Äthermaske in den Operationssaal gebracht.289 Der Eingriff selbst stellt zunächst wieder eine narrative Leerstelle dar, die, nachdem Kreutz Grete informiert, dass alles gut verlaufen sei, wie gewohnt von dieser gefüllt wird: „Sein [Andreas’] armer, gequälter Körper war geöffnet worden und man hatte etwas festgestellt, was keine menschliche Vorstellungskraft für möglich gehalten hätte. In seinem Inneren hatte man ein paar verkrüppelte weibliche Geschlechtsdrüsen gefunden, die nicht im Stande gewesen waren zu wachsen und zu gedeihen, da ihm ein rätselhaftes Schicksal auch männliche Drüsen gegeben hatte. Das war das Geheimnis seines Doppelwesens […] Und jetzt hat man diesen vom Schicksal gefesselten Menschen von all dem befreit, was der natürlichen Entfaltung seines Wesens hinderlich im Wege stand. Nun hat man jenem Blut, welches das Herz durchströmte und das Blut einer Frau war, durch die frischen und gesunden Drüsen einer fremden, jungen Frau eine neue Kraft gegeben ……. Und zuletzt hat man den zermarterten Leib mit Fäden und Klammern wieder zusammengeflickt.“290

Jener Drüsenfund in Lilis Körper, welcher sich nach den im Manuskript deutlich werdenden Vorstellungen Warnekros’ auch in der dänischen Ausgabe als explizite

skript „Dame“ durch „Kranke“ ersetzt, eine Korrektur die erst ab der deutschen Fassung berücksichtigt wird, Lili Elbe Buch (Manuskript), S. 142; Elbe 1932, S. 147. 289 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 117f.; die Ursache dafür, dass es Lili und allen anderen Anwesenden in der Frauenklinik schwer fällt, Informationen von Seiten des Professors zu erhalten, hat Warnekros im Manuskript gestrichen: „Bei uns wagt es niemand, den Professor nach etwas zu fragen. Wenn er kommt, so ist es immer, als wenn der liebe Gott selber käme, und niemand von uns hat etwas anderes zu sagen als: Ja, Herr Professor – nein, Herr Professor.“, Lili Elbe Buch (Manuskript), S. 145. 290 „Hans stakkels, forpinte Legeme var blevet aabnet, og man havde konstateret, hvad ingen menneskelig Indbildningskraft havde troet muligt. I hans Indre havde man fundet et Par forkrøblede kvindelige Kønskirtler, der ikke havde været i Stand til at vokse og trives, fordi en gaadefuld Skæbne ogsaa havde givet ham andre, mandlige Kirtler. Det var hans Dobbeltvæsens Hemmelighed [...] Og nu har man befriet dette af Skæbnen lænkebundne Menneske for alt, hvad der stod hindrende i Vejen for hendes Væsens naturlige Udfoldelse. Nu har man givet det Blod, der gennemstrømmede Hjertet, og som var en Kvindes Blod, en ny Kraft gennem en fremmed, ung Kvindes friske og sunde Kirtler ...... Og tilsidst har man igen sammenflikket det martrede Legeme med Traade og med Klemmer“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 120.

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Ovarienentdeckung im Text hätte wiederfinden sollen,291 taucht in seinem ärztlichen Gutachten nicht auf und wird in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung ebenfalls bezweifelt.292 Doch ist es gerade jene im Text behauptete geschlechtliche Verdoppelung der Gonaden, welche das bereits in der Presse kolportierte Argument eines echten Zwittertums untermauert.293 Der Umstand, dass Warnekros den vermeintlichen Fund in seinem Gutachten nicht erwähnt, obwohl er die Existenz von weiblichen Keimdrüsen sowohl mittels der Urinuntersuchungen als auch der Einordnung des Individuums in die Kategorie ‚Pseudohermaphroditismus femininus‘ avisiert, wirft Fragen hinsichtlich der physiologischen Diagnostik auf.294 Der an den vermeintlichen Fund geknüpfte Transplantationseingriff hingegen wird kaum hinterfragt. Dies ist sicher der Tatsache geschuldet, dass es sich dabei um eine Intervention handelt, die – trotz der eher seltenen Anwendung – angesichts der experimentellen Verjüngungschirurgie der zwanziger Jahre als sich etablierender Eingriff gilt. Nichtsdestotrotz meldet zumindest Stone Zweifel an, insbesondere ob der in Fra Mand til Kvinde fehlenden Thematisierung einer möglichen immunologischen Abstoßreaktion des implantierten Gewebes.295 Während Deborah Rudacille und Heede per se eine Abstoßung des Gewebes annehmen,296 erwägt Herrn ob der unklaren Reaktion des Körpers zusätzlich entweder eine Nekrose (Absterben) oder eine Resorption (Aufnahme) desselben. Er geht dabei von einer Einpflanzung des Organs unter der Bauchdecke – wie in der Steinach’schen Schule üblich – aus.297 Diese Annahme deckt sich mit Warnekros’ Gutachten, in welchem dieser berichtet, dass „ein normales Ovarium in die Bauchmuskulatur transplantiert“298 worden sei. Bei Berücksichtigung der Auswahl des begrenzten Spendermaterials299

291 Vgl. Lili Elbe Buch (Manuskript), S. 148; in der deutschen und den englischsprachigen Ausgaben ist die Rede von Ovarien, vgl. Elbe 1932, S. 148; vgl. Hoyer 1933a/b, S. 178. 292 Meyerowitz verhandelt den Ovarienfund im Zusammenhang mit der Intersexualitätsdebatte als höchst unwahrscheinlich, während Herrn suggeriert, dass Lili nur auf Grund der Blutergebnisse davon ausginge, dass sie von Geburt an eigene Ovarien hatte, vgl. Meyerowitz 2002, S. 30; vgl. Herrn 2005, S. 207. 293 Vgl. 3.3.2; vgl. Rudacille 2005, S. 47; vgl. Heede 2012a, S. 16. 294 Mit den Implikationen der diagnostischen Divergenzen werde ich mich in 4.4 ausführlicher beschäftigen. 295 Vgl. Stone 2006, S. 233f. 296 Vgl. Rudacille 2005, S. 47. 297 Vgl. Herrn 2005, S. 207f. 298 Ärztliches Gutachten Warnekros, 18.07.1930, S. 2. 299 Werden, wie im Text suggeriert, nur die zwei nicht mit der Protagonistin verwandten Spenderinnen in Betracht gezogen, kann es sich nur durch einen großen Zufall um Gewebe gehandelt haben, das mit dem der Empfängerin kompatibel ist. Selbst Steinach

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sowie der erst später einsetzenden Isolierung und Synthetisierung von Cortison zur Immunsuppression300 ist eine Abstoßreaktion nicht unwahrscheinlich. Nachweisen lässt sich diese jedoch weder in den Aufzeichnungen von Warnekros noch in der Narration von Fra Mand til Kvinde, in welcher nur von unspezifischen postoperativen Schmerzen die Rede ist, welche mit Morphiumspritzen behandelt werden.301 Auf psychischer Ebene hat dieser Eingriff laut Text und Gutachten eine positive Wirkung auf die Operierte.302 Es ist wahrscheinlich, dass nicht nur die Protagonistin der Bekenntnisse, sondern auch Elvenes selbst – angesichts der ihr zukommenden ärztlichen Informationen – in dem Glauben bleibt, eigene Ovarien sowie implantiertes Drüsenmaterial in sich zu tragen. Im Text kulminiert dieses Wissen in einer neuen Liebe zum eigenen Körper: „Zunächst verschreckt und scheu, aber allmählich mutiger betrachtete sie jeden Abend ihren Körper, welcher ihr eine süße und heimliche Freude bereitete. Sie sah, wie sich alle Linien in weiblicher Weichheit rundeten, das Wunder vollzog sich mehr und mehr. Viele Stunden konnte sie vor dem Spiegel stehen und sich an ihrem jungen Frauenkörper erfreuen.“303

Dieses Gefühl einer Integration in die weibliche Gemeinschaft spricht auf narrativer Ebene somit nicht nur für die chirurgischen Entscheidungen von Kreutz’, sondern weist der Frauenklinik auch den effektiveren milieutherapeutischen Ansatz zu. Ist die Protagonistin in Berlin noch vor der vermeintlichen Abnormität der anderen *Besucher*innen des Instituts erschrocken, stellt sich die Umgebung der Dresdner Institution, in der Lili als Frau unter Frauen genesen kann, als jenes psychologisch wirksame Milieu dar, das der Hirschfeld’sche Kreis mit der Vernetzung unter den Transvestiten zu schaffen sucht. Angesichts der positiven Entwicklung nach dem ersten Eingriff, sieht sich Kreutz in der Lage, eine weitere Operation durchzuführen.304 Im Gegensatz zu den

kann bei seinen Versuchen an genetisch verwandten Tieren nur eine 45%ige Erfolgsquote verzeichnen, vgl. 4.1.4. 300 Vgl. Haller, Lea: Cortison. Geschichte eines Hormons, 1900-1955, Zürich 2012, S. 73126. 301 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 123ff. 302 Vgl. ebd., S. 128ff.; vgl. Ärztliches Gutachten Warnekros, 18.07.1930, S. 2. 303 „Først skræmt og sky, men efterhaanden dristigere betragtede hun hver Aften sit Legeme, der voldte hende en sød og hemmelig Glæde. Hun saa, hvorledes alle Linier rundede sig i kvindelig Blødhed, Underet fuldbyrdedes mere og mere. Lange Tider kunde hun staa foran Spejlet og fryde sig over sit unge Kvindelegeme.“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 132. 304 Vgl. ibid.

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früheren Eingriffen wird die narrative Leerstelle der folgenden Intervention weder im Manuskript noch in Fra Mand til Kvinde nachträglich gefüllt. Lediglich das Überstehen des Eingriffs sowie die postoperativen Schmerzen werden flüchtig angerissen.305 Durch das Hinzufügen der von Lili an Grete adressierten Briefe in der deutschen und den englischsprachigen Ausgaben wird jedoch im Nachhinein versucht, diesen Informationsmangel zu kompensieren. In einer im Mai 1930 datierten Nachricht gibt Lili an, dass Kreutz nun eine letzte nebensächliche Operation vornehmen werde.306 Nachdem die zu Operierende vom Chirurgen kaum Informationen zur bevorstehenden Intervention erhalten kann, wird sie von der Oberschwester informiert, dass ein Unterleibseingriff bevorstehe, der eine weitere Vollnarkose erfordere.307 Der eigentliche Zweck der Operation wird jedoch erst in den Ergänzungen der ausklingenden Briefe formuliert. Laut dieser handele es sich um die Entfernung des männlichen Gliedes – ein Eingriff, der nun zeitlich vor der Ovarientransplantation angesiedelt wird.308 Jener neuen Chronologisierung der Interventionen im Text mag es geschuldet sein, dass Haire davon ausgeht, die Protagonistin sei bei ihrem ersten Dresden-Aufenthalt nicht zwei, sondern drei Operationen unterzogen worden. Haire bringt demzufolge die Ergänzungen aus den Briefen nicht mit der Penektomie (Penisamputation) in Zusammenhang.309 Ich werde jedoch zeigen, dass es sich hier um ein und denselben Eingriff handelt. Warnekros gibt in seinem Gutachten an, dass auf Wunsch der Patientin „die penisartige Clitoris amputiert und das Skrotum operativ entfernt [wurden].“310 Da die Entfernung des Skrotums in Fra Mand til Kvinde nicht erwähnt wird und Warnekros sich zur Anzahl der Eingriffe nirgends äußert, bleibt unklar, ob dieser Eingriff mit der Penektomie zusammenfällt. Dass es sich bei den in Ein Mensch wechselt sein Geschlecht eingefügten Beschreibung zumindest um die Penektomie handelt, legt die vergleichende Lektüre von Text und Gutachten nahe. Lili erfährt nach mehrtägigen heftigen Schmerzen, dass sie „eine Kanüle im Unterleib“311 hat. Diese bereitet ihr starke Probleme und führt dazu, dass ihre Beine zu

305 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 132. 306 Vgl. Elbe 1932, S. 170 u. S. 173. 307 Vgl. ebd., S. 175ff. 308 „Soll ich sagen, daß man dann erst das männliche Glied entfernt hat, den Leib öffnete und – meine Ovarien fand, die aber durch die falsche Behandlung in Paris verkümmert waren, – soll ich sagen, dass dann ich, Lili, neue Ovarien einer Sechsundzwanzigjährigen erhielt, die meinen ganzen Körper und dessen Funktion ‚normalisierten‘, daß ich fortab eine Frau wie andere Frauen war und bin“, ebd., S. 248. 309 Vgl. Haire 1933a/b, S. VII. 310 Ärztliches Gutachten Warnekros, 18.07.1930. S. 2. 311 Elbe 1932, S. 180.

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Einheilungszwecken an einem schweren Sandkissen festgebunden werden.312 Da Warnekros in seinem Gutachten nur von einer leichten Hypospadie spricht, kann davon ausgegangen werden, dass die Urethra (Harnröhre) – wenn auch versetzt – durch die ‚penisartige Klitoris‘ verläuft und es dementsprechend keine Mündung unterhalb des Organs gibt. Erst dieser Umstand würde bei einer Penektomie das Einsetzen einer Kanüle erfordern, da die Harnröhre sonst Gefahr liefe, während des Heilungsprozesses zuzuwachsen. Laut Ein Mensch wechselt sein Geschlecht muss Lili die Kanüle 10 Tage im Körper behalten bis sie gezogen werden kann.313 Unterdessen werden mehrere Nachbehandlungen erforderlich, in deren Folge sich herausstellt, dass die Schmerzen der Protagonistin auf ein Verstopfen der Kanüle zurückzuführen sind314 – eine durchaus ernsthafte Komplikation, die bis zu einem in die Nieren reichenden Harnrückstau führen kann.315 Doch nach zwei weiteren Eingriffen scheint das Hindernis beseitigt, so dass die Protagonistin nach Entnahme der Kanüle, intravenöser Gabe von Morphium und einer gewissen Rehabilitationszeit aus der Frauenklinik entlassen wird. Kurz nach der Abreise und einem Aufenthalt in Berlin schlägt Kreutz Lili und Grete eine Kur im Erzgebirge vor, welche die beiden auch antreten.316 Auf historischer Ebene konstatiert Warnekros im Sommer 1930, dass „[e]in weiterer operativer Eingriff […] nicht beabsichtigt“317 sei. 4.3.3 Nachsorge, eine letzte Operation und alternative Stimmen Trotz der Rehabilitationsphase fällt Lili der Austritt aus dem klinischen Kontext schwer, so dass sie sich bereits auf der Überfahrt nach Dänemark erneuten Suizidgedanken hingibt.318 Hier wird angedeutet, dass es nicht nur auf somatischer, sondern auch auf psychischer Ebene postoperativer Versorgung sowie dezidierter Integrationshilfe bedurft hätte.319 Lili ist jedoch nach der Ankunft in der dänischen Hauptstadt auf sich selbst gestellt und muss dort die bereits angesprochene Krise

312 Vgl. Elbe 1932, S. 179. 313 Vgl. ebd., S. 179ff. 314 Vgl. ebd., S. 180f. 315 Angesichts des als Todesursache angegebenen und vermeintlich schon länger bestehenden Nierenleidens der Protagonistin dürften sich diese Komplikationen nicht positiv auf ihren allgemeinen Gesundheitszustand ausgewirkt haben, vgl. 4.3.3. 316 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 137. 317 Ärztliches Gutachten Warnekros, 18.07.1930, S. 2. 318 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 139f. 319 Hausman betont, dass postoperative Fürsorge Teil der Technologien des Geschlechtswechsels sei, vgl. Hausman 1998, S. 172f.

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mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln überwinden.320 Zentral erweist sich dabei die postklinische Begegnung mit einem norwegischen Veterinärmediziner, den Lili in ihrer Kopenhagener Unterkunft kennenlernt: „Hier bei ihrer Wirtin traf sie einen jungen, norwegischen Tierarzt, der, ohne zu wissen, was mit ihr geschehen war, erzählte, dass er seit längerer Zeit damit experimentiert hatte, Geschlechtsveränderungen bei Tieren hervorzurufen. Er erzählte, wie er die Drüsen des entgegengesetzten Geschlechts entfernte und bei ihnen [den Tieren] einsetzte und von den ungeheuren Veränderungen, die diese bei ihnen mit sich brachten. Die Tiere änderten ihr Wesen und ihren Charakter vollständig und gleichzeitig waren die neuen Geschlechtsdrüsen bestimmend für ihr Alter …… Leider ließe sich diese Art von Experimenten nur an Tieren vornehmen …… man könne sich ja aus vielen Gründen vorstellen, dass es schwierig wäre, so etwas auf den Menschen zu übertragen. Lili verstand nun, das jene Krise, die sie – besonders in der ersten Zeit daheim in Dänemark – durchgemacht und die sie wohl noch nicht ganz überwunden hatte, eine natürliche Folge der Implantation war, die bei ihr vorgenommen wurde. Ihre Hirnfunktion hatte eine völlig neue Richtung erhalten.“321

Hier wird der Bezug zur Steinach’schen Forschung, die auch im populärwissenschaftlichen Bereich weiterhin präsent ist, erneut aufgegriffen und die vermeintlich erfolgreiche Übertragung solcher Experimente auf den Menschen als Novum präsentiert.322 Lili schließt daraus, dass die physischen Veränderungen an ihrem Körper

320 Vgl. 3.2.5; Wegener-Thomsen gibt an, dass Elvenes nach Kopenhagen gekommen sei, um ihr Gesicht feminisieren zu lassen, vgl. Wegener-Thomsen an Harthern, 15.06.1931, S. 3 (Eintrag vom 16.08.). 321 „Her hos sin Værtinde traf hun en ung, norsk Dyrlæge, som uden at vide, hvad der var sket med hende, fortalte, hvorledes han i længere Tid havde eksperimenteret med at fremkalde Kønsforandringer hos Dyr. Han fortalte, hvorledes han fjernede og intransplanterede Kirtler af det modsatte Køn paa dem, og om de uhyre Forandringer, det medførte hos dem. Dyrene skiftede ganske Væsen og Karakter, og samtidig var de nye Kønskirtler bestemmende for deres Alder ...... Desværre lod den Slags Eksperimenter sig kun foretage paa Dyr ...... man kunde jo af mange Grunde vanskeligt tænke sig at overføre dem paa Mennesker. Lili forstod nu, at den Krise, hun – især i den første Tid hjemme i Danmark – havde gennemgaaet, og som hun vel endnu ikke helt havde overvundet, var en naturlig Følge af den Intransplantation, der var foretaget paa hende. Hendes Hjernefunktion havde faaet en helt ny Retning.“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 155. 322 Erst im Mai 1930 veröffentlicht der Biologe Ludwig von Bertalanffy in Wissen und Fortschritt eine aktuellen Bericht zum Geschlechtswechsel und beschränkt seine Ausführung auf tierische Probanden, vgl. Bertalanffy, Ludwig von: „Neues über Ge-

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einen psychischen Effekt in sich tragen, dessen sie sich erst nach der körperlichen Regeneration bewusst werden kann. Demzufolge wird nach dem Überwinden der operativen Interventionen auch ein Einheilen des seelischen Wandels notwendig: „In den ersten Monaten nach meiner Operation drehte sich wohl alles darum, Kräfte zurückzugewinnen, und erst allmählich, als diese zurückkehrten, begannen die physischen Veränderung sich einzufinden. Meine Brust formte sich, meine Hüften wurden runder und all meine Linien wurden weicher und weiblicher. So begannen auch die psychischen Veränderungen. Neue Kräfte regten sich in meinem Hirn und arbeiteten daran, all das zu verjagen, was hier noch von Andreas übrig war …… Auf diese Art und Weise erwachte ein völlig neues Gefühlsleben in mir.“323

Die in Dänemark stattfindende psychische Stabilisierung fügt sich somit wunderbar in den dort thematisierten Schreibprozess, der mit einer Reflektion des Selbst und dem vermeintlich therapeutischen Akt der Beichte einhergeht. Dementsprechend figuriert der abschließend als diesbezügliches Gegenüber inszenierte deutsche Freund im Text gleichzeitig als Analytiker, bei welchem die Grenzen zwischen religiösem Bekenntnis und Psychoanalyse zu verschwimmen beginnen,324 während die psychologische Funktion des Schreibprozesses als alternative Nachsorge freigelegt wird. Auch wenn Fra Mand til Kvinde suggeriert, dass es sich in Kopenhagen lediglich um einen Selbstfindungsprozess handelt, bei dem die Protagonistin nebenbei ihre Papiere ordnet, sollte der im Hintergrund weiterhin aktive medizinische Diskurs nicht außer Acht gelassen werden. Denn was der literarische Text – vielleicht auch ob des Informationsstandes der verfassenden Personen – nicht vermittelt,325

schlechtsumwandlung“, in: Wissen und Fortschritt. Populäre Monatsschrift für Technik und Wissenschaft, Mai 1930, 4. Jahrgang, Nr. 5, S. 137-141. 323 „I de første Maaneder efter min Operation drejede alt sig vel om at genvinde Kræfterne, og først efterhaanden som de vendte tilbage, begyndte de fysiske Forandringer at indfinde sig. Mit Bryst formede sig, mine Hofter afrundedes, og alle mine Linier blev blødere og mere kvindelige. Saa begyndte ogsaa de psykiske Forandringer. Nye Kræfter rørte sig i min Hjerne og arbejdede for at forjage alt, hvad der endnu her var tilbage af Andreas ...... Paa denne Maade vaagnede et helt nyt Følelsesliv i mig.“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 155. 324 Vgl. 3.1; zur Überschneidung von Beichte und Psychoanalyse sowie Schuld und Neurose publiziert Andreas Snoeck bereits in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts, vgl. Snoeck, Andreas: Beichte und Psychoanalyse, Frankfurt am Main 1958 (1957). 325 Wahrscheinlich waren weder Elvenes noch Hoyer über die juristischen Entscheidungsvorgänge detailgenau informiert.

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legt Elvenes’ Rechtsakte offen: Die Schritte der Justiz hin zur Auflösung der Ehe sowie zur Namens- und Personenstandsänderung sind an die Entscheidungen des dänischen Gerichtsärzterats (Retslægeraadet) gebunden,326 dem zu diesem Zeitpunkt Knud Sand vorsteht. Letzterer befürwortet in einem Schreiben zwar die Wünsche der Antragstellerin, sieht es jedoch auf Grund des fehlenden Nachweises weiblicher Geschlechtsdrüsen nicht als erwiesen an, dass es sich um eine Frau handelt.327 (Abb. 30) Da Elvenes höchstwahrscheinlich nur über die endgültige Entscheidung bezüglich ihrer Anträge informiert wird, kann davon ausgegangen werden, dass sie von der forensischen Begutachtung ihrer medizinischen Akten nichts weiß. Zudem lässt sich in diesem Zusammenhang auch keine persönliche Konsultation mit Sand nachweisen. So tauchen die skandinavischen Mediziner in den Kopenhagener Kapiteln von Fra Mand til Kvinde lediglich in Form des als Katalysator fungierenden norwegischen Tierarztes oder als jene ‚Koryphäen des Faches‘ auf, die Lili nach der Presseberichterstattung bereitwillig ihre Dienste anbieten.328 Lili fühlt sich in dieser Hinsicht jedoch an Kreutz gebunden. Durch die Regelung der juristischen Angelegenheiten, die medialen Klärungen und den therapeutischen Schreibprozess auch mental stabilisiert, macht sie sich ein letztes Mal auf den Weg nach Dresden, um ihrem vermeintlichen Wunsch nach Mutterschaft nachzukommen: „Sagen Sie, Herr Professor, glauben Sie, dass ich jetzt stark genug für die letzte Operation bin? Ich möchte so gern ein kleines Kind bekommen.“329 Während der Kinderwunsch bereits in den ausklingenden Briefen der dänischen Ausgabe an den Vollzug der Ehe mit einem Mann gebunden ist,330 wird ab der deutschen Ausgabe angegeben, dass es sich bei dem Eingriff um die Herstellung eines „natürlichen Auslauf[s] von der Gebärmutter“331 gehandelt habe. Ob es bei der Gebärmutter um ein bereits in Lilis Körper vorhandenes oder ein noch zu transplantierendes Organ geht, wird in diesem Nachtrag indes nicht deutlich. Jedoch legt Warnekros’ Austausch mit der Presse wenige Monate vor dem Eingriff nahe, dass kein Uterus vorhanden ist und er die Implantation eines solchen Organs zur Ermöglichung der Reproduktion nicht in Erwägung zieht.332

326 Mehr dazu in 5.2.2. 327 Vgl. Schreiben von Knud Sand (Retslægeraadet) an das dänische Justizministerium, Kopenhagen, 09.08.1930, E 1953. 328 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 165f. 329 „Sig mig, Hr. Professor, tror De, jeg nu er stærk nok til den sidste Operation? Jeg vilde saa gerne kunne faa et lille Barn.“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 178. 330 Vgl. ebd., S. 180; der historische und der abgedruckte Brief stimmen an dieser Stelle überein, vgl Abb. 2 u. Abb. 4. 331 Elbe 1932, S. 248. 332 Vgl. 3.3.2.

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Abbildung 30

Knud Sand (Retslægeraadet) an das Justizministerium, Kopenhagen, 09.08.1930, E 1953.

Bei der Konzeption der Ergänzungen für Ein Mensch wechselt sein Geschlecht beschränkt sich Hoyer noch auf eine die Gebärmutter nicht thematisierende Formulierung: „Operation des Vagina-Schnittes, um einen natürlichen Auslauf der monatlichen Blutergüsse herzustellen.“333 Folglich kann die gedruckte Version als ein

333 Vgl. Hoyer an Schumann, 27.06.1932, S. 2.

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komplexer Legitimationsversuch des letzten Eingriffs gelesen werden. Auf der einen Seite werden die Gebärfähigkeit und der Kinderwunsch unterstrichen, auf der anderen Seite die Indikation für die vorgenommene Intervention. Dennoch wird eine Gebärmutterüberpflanzung in ausgewählten Forschungsansätzen zum Text in Betracht gezogen.334 Herrn hält diesen experimentellen Eingriff unter anderem auf Grund einer publizierten Demonstration von Kurt Warnekros für möglich.335 Dieser hat 1930 zwei Mal im Rahmen von Sitzungen gynäkologischer Gesellschaften in Dresden zur Scheidenplastik bei einer 18jährigen Frau mit Vaginalaplasie (unvollständige Ausbildung der Vagina) referiert.336 Obwohl der Titel des zweiten Beitrags eine Uteruseinpflanzung suggeriert, handelt es sich lediglich um das chirurgische Einnähen der Portio (Scheidenteil des Uterus) in die vorher erwirkte Scheidenplastik.337 Hier lässt sich die in Ein Mensch wechselt sein Geschlecht formulierte Indikation anschließen, da der von Warnekros demonstrierte Eingriff ebenfalls der Reproduktions- und Menstruationsfähigkeit dienen soll.338 Dementsprechend schließe ich mich dem dominanten wissenschaftlichen Konsens an, dass es sich bei der letzten Operation um eine Scheidenplastik handelt,339 und unterstütze Herrns Vermutung, dass diese nach der Schubert’schen Methode vorgenommen worden ist.340 Diese Methode wendet Warnekros bereits erfolgreich bei der Vaginalaplasie der angesprochenen Patientin an, wobei ihm ein vielzitierter Eingriff des an der Berliner Charité wirkenden Gynäkologen Georg August Wagner als Vorbild dient.341 Wagner publiziert Anfang 1930 gemeinsam mit dem Chirurgen Martin Kirschner zu einem neuen Scheidenplastikverfahren und macht in diesem Rahmen deutlich, auf welcher Grundlage eine medizinische Legitimation per se gegeben ist:

334 Runte geht zwar von einer Ovarienimplantation aus, suggeriert jedoch zugleich, dass eine Uterusverpflanzung ebenfalls geplant gewesen sei, vgl. Runte 1996, S. 62; vgl. Runte 1998, S. 126. 335 Vgl. Herrn 2005, S. 208. 336 Bei der Vaginalaplasie handelt es sich um eine unvollständige oder nicht erfolgte Ausbildung der Scheide. 337 Vgl. Warnekros, Kurt: „Demonstration einer Scheidenplastik nach Schubert mit sekundärer Einpflanzung des Uterus“, in: Zentralblatt für Gynäkologie, 07.11.1931, Nr. 45, Jahrgang 55, S. 3263. 338 Vgl. ibid. 339 Vgl. Hausman 1995, S. 19; vgl. Meyerowitz 2002, S. 20; vgl. Rudacille 2005, S. 48. 340 Vgl. Herrn 2005, S. 195. 341 Vgl. Warnekros, Kurt: „Scheidenplastik nach Schubert“, in: Zentralblatt für Gynäkologie, 06.09.1930, Nr. 36, 54. Jahrgang, S. 2286; Wagner war es bisher als einzigem gelungen, mit der Schubert’schen Methode eine geburtsfähige Scheide herzustellen.

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„Über die Berechtigung zu einer solchen Operation braucht nicht diskutiert zu werden, wenn ein menstruierender Uterus vorhanden ist.“342 Damit wird nachvollziehbar, inwieweit sich die Formulierung in Ein Mensch wechselt sein Geschlecht in den zeitgenössischen medizinischen Konsens zur Durchführung eines solchen Eingriffs einschreibt und dass es sich ob dieser Vorannahme auch um die Kaschierung einer Scheidenplastik mit anderer Indikation handeln könnte. Während Fra Mand til Kvinde einen Wunsch der Protagonistin nach dem Eingriff suggeriert, äußert sich Elvenes selbst überrascht angesichts der erneuten Operation. Nichtsdestotrotz kommt diese ihrer eigenen Zukunftsplanung entgegen und schafft die Möglichkeit, in der Klinik und in der Nähe von Warnekros zu verweilen, dessen Lächeln „all die furchtbarsten Schmerzen wert ist.“343 Sie ist sich im Klaren darüber, dass es sich um eine weitere große Unterleibsoperation handelt, von deren Verlauf wir jedoch weder in der Korrespondenz, im Text noch in den klinischen Unterlagen erfahren.344 Doch Elvenes lässt bald nach der sowohl narrativ als auch historisch am 17. Juni 1931 eingeordneten Operation einen Brief an Maria Garland schreiben, in dem sie Hinweise auf die Art des Eingriffs hinterlässt: „Ich kann noch nicht selbst schreiben. Diese letzte Operation war furchtbar. Jedesmal Verbinden verursacht mir furchtbare Schmerzen. Ich bekomme fast nichts zu essen und zu trinken. So bleibt es sicherlich noch eine Woche. Ich sehe mit Schrecken dem Moment entgegen, wenn die Klammern aus beiden Wunden entfernt werden.“345

Diese Beschreibungen – besonders die zwei Wunden und die eingeschränkte Zufuhr von Nahrungsmitteln und Flüssigkeit – legen die Schubert’sche Methode beim Ein-

342 Kirschner, Martin u. Georg August Wagner: „Ein neues Verfahren der Bildung einer künstlichen Scheide“, in: Deutsche Zeitschrift für Chirurgie, Juli 1930, 225. Band, 1. Heft, S. 242-264, hier S. 242; Wagner und Kirschner sprechen ebenfalls die Herstellung der Scheide zum ausschließlichen Zwecke der Kopulation (ohne Reproduktionsaussicht) an und weisen auf die umstrittene Berechtigung eines solchen Eingriffs hin: Sie sprechen sich aber selbst aus psychologischen sowie ehelichen Gründen dafür aus, vgl. ebd., S. 243. 343 „er all de grusomste Smærter [sic] værd.“, Elvenes an Garland, 16.06.1931, S. 1; auch die in Fra Mand til Kvinde abgedruckten Briefausschnitte spiegeln die Freude, wieder in der Frauenklinik zu sein, vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 180f; Allatini berichtet von einem ähnlichen ihr zugesandten Brief, vgl. Allatini 1939, S. 232. 344 Die klinischen Unterlagen, sofern zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch vorhanden, werden spätestens bei der Bombardierung Dresdens im Februar 1945, der auch die Frauenklinik zum Opfer fällt, zerstört. 345 Elbe an Garland, 27.06.1931.

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griff nochmals nahe. Bei dieser Art der Scheidenplastik, welche seit 1911 die erfolgreichste Behandlung einer Vaginalaplasie darstellt, wird die Ampulle des Mastdarms – das heißt der untere Abschnitt desselben, welcher den Stuhl bis zur Defäkation sammelt – nach vorne verpflanzt und zur Scheide umgebildet, für die dann bereits eine Öffnung zwischen Anus und Urethra geschaffen ist. Der tubenförmige Muskelschlauch des Darms dient dabei zur Auskleidung und zur Schaffung des Vaginalkanals. Die Darmfunktion wird durch Herunterziehen des oberen Rektumanteils durch den Schließmuskel wiederhergestellt.346 Die Vorteile dieser Methode liegen in der bereits vorhandenen Röhrenform des Eigenimplantats und der Dehnungsfähigkeit des Muskels, womit ein nachträgliches Schrumpfen der Scheide vermieden werden soll.347 Dennoch birgt diese Methode ob des enormen chirurgischen Aufwands auch eine Reihe von Risiken. Neben der Gefahr von analer Inkontinenz, Fistelbildung sowie Einengungen des Darmtraktes, kann sie bei gescheiterten Einheilungsprozessen des Implantats und des Rektums unter Umständen auch tödlich ausgehen.348 Obwohl ein Kollege innerhalb der gynäkologischen Gesellschaft Warnekros bei den Eingriffen an der 18jährigen Patientin einen glänzenden Erfolg bestätigt,349 muss bedacht werden, dass die Applikation dieser für ‚biologische Frauen‘ entwickelten Technik bei anderen somatischen Bedingungen unvorhergesehene Komplikationen hervorrufen könnte. Herrns diesbezügliche Frage nach der somatischen Reaktion auf das Scheidenimplantat ist somit ein berechtigter Ansatzpunkt zur Analyse des letzten Eingriffs und dessen Konsequenzen.350

346 Vgl. Kirschner/Wagner 1930, S. 247. u. S. 249; daneben existieren auch andere Techniken, welche Kirschner und Wagner aufgreifen, um ihre neue Methode – das Auskleiden der Öffnung mit Hautlappen – zu etablieren, vgl. ebd., S. 246ff.; mehr zur Geschichte der Scheidenplastik, vgl. King, Dave: „Gender Blending: Medical Perspectives and Technology“, in: Ekins, Richard u. Dave King: Blending Genders – Social Aspects of Cross-dressing and Sex-changing, London/New York 1996b, S. 79-98, hier S. 85; die Herstellung des Vaginalkanals durch die Inversion der abgezogenen Penishaut wird erst in den 1950ern durch den in Marokko wirkenden Gynäkologen Georges Burou etabliert, vgl. Hage, J. Joris, Refaat B. Karim u. Donald R. Laub: „On the origin of pedicled skin inversion vaginoplasty. Life and work of Dr Georges Burou of Casablanca“, in: Annals of Plastic Surgery, Dezember 2007, Nr. 6, Band 59, S. 723–729. 347 Vgl. Kirschner/Wagner 1930, S. 249f. 348 Vgl. ebd., S. 249. 349 „Die Schwierigkeiten und Gefahren dieser Operation beruhen in der genügend hohen Ablösung des Darms und der damit verbundenen Blutungs- und Infektionsgefahr, ferner in der Schrumpfung des eingepflanzten Darmstücks. Der Erfolg dieser technischen schweren Operation ist hier ein geradezu glänzender.“, Warnekros 1931, S. 3263. 350 Vgl. Herrn 2005, S. 208.

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Zwar äußern sowohl die Protagonistin als auch Elvenes selbst Hoffnung angesichts der Tatsache, dass sie nun wie alle anderen Frauen seien und mit diesem Privileg in die Zukunft blicken,351 doch stagniert ihr Zustand nach der Operation wochenlang, wird zum Ende hin sukzessive schlechter und geht mit einem Todeswunsch einher.352 Nach Elvenes’ eigenen Berichten beschränkt sich ihre Therapie letztendlich auf eine palliative Linderung der Schmerzen.353 Dementsprechend ist die Frage, ob sie an den Folgen des Eingriffs gestorben ist, auch in der Forschung durchgehend präsent. Während Herrn die Unklarheiten bezüglich der Todesursache umfassender thematisiert,354 geht eine Reihe anderer Beiträge per se von einem durch die Operation und/oder durch eine Autoimmunreaktion verursachten Tod aus.355 In Fra Mand til Kvinde hingegen wird die Todesursache dezidiert außerhalb der chirurgischen Interventionen gesucht: „Ihre Akte in der Frauenklinik zeigt, dass es nicht die Operation war, an der sie gestorben ist, sondern ein altes Nierenleiden, an dem Andreas viele Jahre gelitten hatte und welches nun erneut entflammt war. Die unmittelbare Todesursache war eine Herzlähmung.“356

Interessanterweise wird diese Ausführung zur Todesursache, welche im Manuskript noch gar nicht angegeben ist, in der deutschen und den englischsprachigen Ausgaben auf die Herzlähmung reduziert und nicht mehr an die klinischen Unterlagen Lilis gebunden.357 Wie bereits in Zusammenhang mit der Presseberichterstattung deutlich geworden ist, deckt sich die öffentliche Wahrnehmung des Todes nicht unbedingt mit der suggerierten Todesursache.358 Vielmehr geraten neben einigen obskuren Vorstellungen auch eine Krebserkrankung sowie die operativen Eingriffe unter Verdacht, den Tod hervorgerufen zu haben. Wie massiv diese Gerüchte sind, wird auch in einem Brief deutlich, den Hoyer nach Veröffentlichung von Ein Mensch

351 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 181; vgl. Elbe an Garland, 24.07.1931. 352 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 181ff; vgl. Elvenes an Hoyer, 15.08.1931; vgl. Elvenes an Garland, 18.08.1931, S. 1. 353 Vgl. Elvenes an Garland, 18.08.1931, S. 2. 354 Vgl. Herrn 2005, S. 209. 355 Vgl. Ritzau/Hertoft 1984, S. 90; vgl. Hausman 1995, S. 18; vgl. Runte 1996, S. 331; vgl. Armstrong 1998, S. 195. 356 „Hendes Journal paa Frauenklinik viser, at det ikke var Operationen, hun døde af, men en gammel Nyresygdom, som Andreas havde lidt af i mange Aar, og som nu var blusset op paany. Den umiddelbare Dødsaarsag var en Hjertelammelse.“, Fra Mand til Kvinde 1931, S. 183. 357 Vgl. Elbe 1932, S. 251; vgl. Hoyer 1933a/b, S. 286. 358 Vgl. 3.3.4.

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wechselt sein Geschlecht erhält.359 Er sieht sich daher in seiner Antwort gezwungen, nochmals die Integrität des Dresdner Mediziners zu schützen: „Sie fragen u.a., ob es stimmt, dass Lili an Herzschwäche gestorben sei. Nun, Professor Warnekros braucht nichts zu verheimlichen: Lilis Tod steht in keinem ursächlichen Zusammenhang mit den an ihrem Körper durch W. ausgeführten notwendigen Operationen. Ein altes Nierenleiden, an dem bereits vor vielen Jahren Einar (Andreas) vorübergehend gelitten, kam plötzlich wieder zum Ausbruch. Das war ein paar Wochen nach der letzten völlig gelungenen Operation. – Ein Nierenleiden wirkt sich auf das Herz aus, überanstrengt das Herz… Zu einem Zweifel an den Angaben Professor Warnekros liegt also nicht der mindeste Anlass vor. Uebrigens war er gar nicht in Dresden, sondern in Suedfrankreich, als n a c h der wohlgelungenen letzten Operation der plötzlichen, [sic] anscheinbare Rückschlag eintrat: das alte Nierenleiden. – Im Augenblick weiss ich nicht genau, ob Lili oder Andreas ueberhaupt jemals Prof. W. gegenüber eine Andeutung von dem alten Nierenleiden gemacht hat; ich glaube es nicht einmal. Mir gegenüber, dem Lili alles, aber auch a l l e s beichtete, hat sie nie erzählt, dass Einar jemals nierenleidend war. Krebs hat Lili nicht gehabt. Das ist Legende. Dass Neider Prof. W. etwas am Zeuge herumflicken möchten, ist, wie wir Menschen nun einmal sind, verständlich. Dass ohne Prof. W.s Eingreifen Einar bereits viele Monate vorher gestorben wäre, steht zweifelsfrei fest.“360

Während Hoyer den Arzt somit von jeglicher Verantwortung entbindet und auf die Verlängerung von Lilis Leben verweist, stellt Fra Mand til Kvinde die letzten Tage der Protagonistin zwar als schmerzhaft, aber gleichzeitig als ein glückliches Sterben dar – eine Schilderung, die sich nicht mit den Erzählungen von Allatini deckt.361 Demzufolge sei Elvenes auf der Reise nach Paris lediglich telefonisch mit Warnekros in Kontakt getreten. Dieser habe daraufhin die letzte Operation vorgeschlagen, auf die sich Elvenes wenig später – gegen den Willen ihres Umfeldes – einlässt. Von diesem Eingriff erholt sich Elvenes nicht mehr und Warnekros habe erkennen müssen, dass seine Patientin dem Tode geweiht ist.362 Lili sei angesichts der Tatsache, dass der geliebte Arzt trotz ihres Zustands in die Ferien gefahren sei, mit tiefer Enttäuschung und Resignation erfüllt gewesen: „Seine Abreise gab der Hoffnung des unglücklichen Mädchens den Gnadenstoß und verstärkte die Bitterkeit in ihr darüber, dass sie jenem Menschen, den sie mehr als das Leben liebte, nur ein Ver-

359 Vgl. Brief von Carl Th. Schrembs an Niels Hoyer, München, 05.01.1933, EHA. 360 Hoyer an Schrembs, 09.01.1933, S. 1. 361 Allatini gibt an dieser Stelle an, sich auf Briefe von Lili Elvenes und Konversationen zwischen Gerda Wegener und einer in der Frauenklinik beschäftigten Krankenschwester zu beziehen. 362 Vgl. Allatini 1939, S. 233f.

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suchskaninchen war und dass er sie sterben ließ.“363 Ob sich Elvenes eigenständig für die letztere Operation entschieden hätte und welche Verantwortung Warnekros an ihrem Tod trägt, kann hier nicht eindeutig geklärt werden. Interessant bleiben jedoch die Positionierungen unterschiedlicher Parteien zu dieser Frage, wobei der Expertenebene oft weniger Verantwortung zugesprochen wird als dem behandelten Subjekt. Deutlich wird dies in Hirschfelds Ausführungen zu ihrem Tod. Der Sexualwissenschaftler attestiert ihr 1933 ob der erneuten Intervention, welche er für die Ovarientransplantation hält, Unzufriedenheit mit dem Ergebnis der bisherigen Behandlung und impliziert damit ein Eigenverschulden ihres Ablebens.364 Er besinnt sich zwar zwei Jahre später auf eine Krebsdiagnose als Todesursache und befürwortet sowohl die Kastration, die Penektomie als auch die Scheidenplastik, geht aber weiterhin auf Distanz zu der gonadalen Überpflanzung.365 Dabei stellt sich die Frage, inwieweit diese Abgrenzungsversuche mit Konkurrenzverhalten und der Portraitierung seiner Person in Fra Mand til Kvinde zusammenhängen. Parallel zu Elvenes’ letztem Eingriff werden im Sommer 1931 auch in Berlin zwei vom Institut organisierte Scheidenplastiken – eine davon bei Dora Richter – von Gohrbandt durchführt.366 Bereits im September publiziert Abraham dazu und erwähnt neben dem guten Verlauf der Eingriffe auch die seines Erachtens nicht von der Hand zu weisende Problematik, dass die Operierten nachfolgend „mit erneuten und weitergehenden Forderungen zum Arzt kommen würden.“367 Da die Patientinnen Kastration und Penektomie bereits hinter sich haben, kann davon ausgegangen werden, dass auch Abraham die Ovarientransplantation als weitere Forderung avisiert und Hirschfeld über diese Zusammenhänge möglicherweise die erste von ihm publizierte Todesursache bei Elvenes generiert. Doch gerade ein ehemaliger Institutsmitarbeiter, Max Hodann, sieht in der Ovarientransplantation einen Beweis für die Übertragbarkeit der Steinach’schen Geschlechtsumwandlungsexperimente auf den Menschen.368 Während Hirschfeld sich nur gegen die Transplantate ausspricht, finden sich auch Expertenstimmen, die eine

363 „Ce départ acheva de désespérer la malheureuse fille et d'augmenter en elle l'amertume d'avoir servi de cobaye à l'être qu'elle aimait plus que sa vie, et elle se laissa mourir.“, Allatini 1939, S. 234; Boivin greift diesen Gedanken auf, hält ihn aber für das Produkt einer ‚gestörten Einbildung‘, vgl. Boivin 1958, S. 59f. 364 Vgl. Hirschfeld 1933, S. 6. 365 Vgl. Hirschfeld 1935, S. 96f. 366 Es handelt sich hierbei um eine Methode, bei der die Scheidenplastik ohne Darmtransplantat vorgenommen wird, vgl. Abraham 1931, S. 225. 367 Ibid. 368 Vgl. Hodann, Max: History of Modern Morals, London 1976 (1937), S. 50f.

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operative Behandlung generell ablehnen. Zu ihnen gehört Haire, der angesichts der vermeintlich fatalen Folgen des Operationsmarathons seinem Vorwort folgende Alternative beifügt und damit bereits eine spätere Komponente der Behandlung von als transsexuell klassifizierten Menschen avisiert: „It would, I think, have been better to try the effect of psychological treatment. Andreas Sparre might either have been cured, or at least enabled to adapt himself to life. By proper psychological treatment the duplication of personality might have been resolved and he might have been enabled to lead a reasonably happy life instead of embarking on a series of painful and dangerous operations which ended only in his death.“369

Wenn es um Elvenes geht, erstrecken sich die Meinungsdivergenzen der sexualwissenschaftlich aktiven Mediziner jedoch nicht nur auf die Interventions- sondern auch auf die Klassifikationsebene. Während es einen breiten Konsens zur Verortung in der Zwischenstufensystematik gibt, variiert die Verteilung innerhalb der Bereiche des Transvestitismus und der Intersexualität – eine Frage, bei der sich kein Einvernehmen in die eine oder die andere Richtung feststellen lässt.370 Sowohl die Mediziner, die Elvenes körperlich begutachten können als auch jene, die sich auf Grund der zur Verfügung stehenden Publikationen ein Bild machen, sind in dieser Frage geteilter Meinung. Für den spanischen Endokrinologen Gregorio Marañón gehört Elvenes indes zweifellos in ein Buch zur Intersexualität, welche er in diesem Fall weder als eigenständige Geschlechtskategorie spezifiziert, noch als Ausprägung, die sich nur somatisch konstituiert. Vielmehr zeichne sich diese durch ein individuelles Geschlechtsverständnis und eine daran gebundene Performance aus: „As a typical example of this, I may quote the case, which has recently come to our knowledge, of Einar Wegener, who was accepted as a man, married to a woman, and later underwent an operation that revealed ‚his‘ true sex, which was feminine. Naturally ‚he‘ separated from ‚his‘ former wife, and some time afterwards, as a sequel to the surgical intervention, ‚he‘ died. This woman, obviously intersexual, was always a woman, even during the phase when she passed for a man and married as such. The woman who played the wife in this sup-

369 Haire 1933a/b, S. XII. 370 Der schottische Veterinärgenetiker Francis Albert Eley Crew, welcher sich mit wenig Respekt und fragwürdigen Verknüpfungen dem Thema nähert, verweist darauf, dass die pathologische Verortung der ‚Anomalie‘ auch an der fehlenden wissenschaftlichen Qualität von Man into Woman liege: „As a scientific record it is definitely poor. As presented the narrative is not a contribution of any importance to pornography, psychology or to physiology.“, Crew, Francis Albert Eley: „Gelding the Lili“, in: The Journal of Heredity, Februar 1934, Nr. 2, Band XXV, S. 67-69, hier S. 69.

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posed marriage was markedly viriloid, not only in her morphology, but also in her artistic aptitude (both the individuals concerned were painters). Unquestionably this was a relationship between two intersexuals, in which the masculine role was played by the one more virile in character and social attributes.“371

4.4 I NTERAKTIONEN

VON

S OMA , P SYCHE

UND

T ECHNE

Das vorsichtige Infragestellen geschlechtlicher Kategorien bei Marañón kann, wie Armstrong verdeutlicht, als eine Öffnung der Grenzziehungen und eine jenseits anatomischer Systematiken verortete Vorstellungsebene von Geschlecht gelesen werden: „Marañon attempts to police the boundaries of gender, but he – like the case as a whole – also opens up the possibility that gender is a masquerade.“372 Zwar möchte ich statt des Begriffs ‚Maskerade‘ eine von außen konstatierte Performance vorschlagen, doch schmälert das nicht die Essenz von Marañóns wissenschaftlicher Verdeutlichung, dass Geschlecht und Identität nicht nur im medizinischen Diskurs verhandelbar seien. Armstrong fragt diesbezüglich zu Recht, weshalb eine somatische Verschiebung des Subjekts hin zum Pol des geschlechtlichen Spektrums erfolge, wenn es doch eine sexuelle Zwischenstufe darstelle.373 Die Herausforderung liegt jedoch nicht nur in der Bewegung hin zu den Polen, sondern im Spektrum an sich, welches mit einem somatechnischen Ansatz als Teil des medizinischen Diskurses verstanden werden kann. Auch wenn sich eine Reihe von Zwischenstufen im sexualwissenschaftlichen Feld als Konsens nachvollziehen lässt, oszillieren diese weiterhin zwischen den Referenzpunkten, welche die an den Polen lokalisierten und implizit als Normalzustand postulierten Idealtypen des Mannes und der Frau darstellen. Dieser Systematik sind die Protagonistin sowie Elvenes selbst ob der divergierenden Verortungen in den sexuellen Zwischenstufen ausgesetzt.374 Innerhalb dieses auch medizinisch perpetuierten Spektrums wird die Suche der Subjekte nach einem passenden Referenzpunkt für das eigene Selbstverständnis sowie – bei vermeintlicher Abweichung von der weiterhin an den Polen gesetzten Norm – nach dem Zielpunkt der eigenen Lebensberechtigung forciert. Dies ist insbesondere ab der deutschen Ausgabe von Fra Mand til Kvinde evident. Während die postnatalen Zuschreibungen männlich und die medizinischen Diagnosen im zwischengeschlechtlichen Bereich angesiedelt

371 Marañón, Gregorio: The Evolution of Sex and Intersexual Conditions, London 1932 (1930), S. 329. 372 Armstrong 1998, S. 168. 373 Vgl. ebd., S. 167. 374 Vgl. Steinbock 2012, S. 161.

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sind, ist das Selbstverständnis der Protagonistin das einer Frau. Die technologische Bewegung hingegen wird als von der medizinischen Kategorie (Zwitter) hin zur eigenen Identifikation (Frau) verstanden.375 Entsprechend dient die Inkongruenz der dem Spektrum immanenten Komponenten von Körper und Seele der Pathologisierung – die Angleichung hin zum polarisierten Modus wird zur medizinischen Indikation. (Abb. 25) Dadurch wird beim Subjekt zudem der Glaube an den eigenen pathologischen Zustand sowie die Abhängigkeit vom medizinischen Diskurs erzeugt – die Medizin kann ihrer leidensmindernden und lebenserhaltenden Aufgabe nachgehen. Die enge Verknüpfung ihrer Systematiken mit dem diagnostischen und therapeutischen Apparat sowie dem Körper des Subjekts und dessen Technologisierung wird in diesen Zusammenhängen evident. Der Angleichungsgedanke – wenn auch in verschiedene Richtungen des Spektrums weisend – ist sowohl somatischen als auch psychischen Therapieansätzen gemein. Elvenes’ behandelnde Ärzte ziehen jedoch die operative Behandlung am Körper vor. Dabei erweisen sich die in der Sexualwissenschaft virulenten Fragen nach dem gonadalen Geschlecht und der Sekretion als essentiell, während weitere Eingriffe eher den ästhetischen Bedürfnissen sowie dem allgemeinen Wohlbefinden der Patientin zugeschrieben werden. Dennoch bleibt die Notwendigkeit der spezifischen Therapiekomponenten auch in sexualwissenschaftlichen Kreisen umstritten. Insbesondere angesichts des frühen Todes des Subjekts stellt sich hier die Frage, warum diese vormals als ‚deviant‘ beschriebene und nun technologisch ‚normalisierte‘ Person die vorgenommenen Interventionen nicht langfristig überleben kann und inwieweit geschlechtliche Kategorisierungswerkzeuge einen Anteil an dieser Entwicklung tragen. Neben der öffentlich postulierten – an ein altes Nierenleiden gebundenen – Todesursache und der vielfach vermuteten Krebserkrankung kommen auch eine schlechte postoperative Verheilung der Wunden, Autoimmunreaktionen auf die Transplantate, vorinfiziertes Transplantationsmaterial und weitere eigene somatische Vorerkrankungen in Betracht. Im Folgenden möchte ich kurz die im vorangegangenen Kapitel vorgestellten Verschränkungen von Symptomatik und den daraus resultierenden divergierenden Diagnosen aufgreifen. Ausgangspunkt bildet dabei die letzte offizielle Diagnose, die von Warnekros überliefert ist. Mit dem ‚Pseudohermaphroditismus femininus‘ vermittelt er ein Vortäuschen männlicher Genitalien bei einem weiblichen Reproduktionsapparat im Inneren des Körpers. Einen physischen Nachweis für die Existenz der inneren Organe bringt Warnekros jedoch nicht. Eine Gebärmutter sei, so seine Aussage gegenüber dem 12 Uhr Blatt, nicht vorhanden376 und die Ovarien nimmt er nur ob der im Blut und im Urin nachweisbaren Ovarialhormone an.

375 Vgl. Elbe 1932, S. 243f. 376 Vgl. 3.3.2.

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Gleichzeitig beschreibt er die Urethra – wenn auch mit leichter Hypospadie – als durch die penisartige Klitoris laufend, während er keine Vaginalanlage, aber ein skrotumähnliches Gebilde bei der Patientin feststellt. In den Klassifikationen vom Pseudohermaphroditismus werden durchaus Individuen beschrieben, bei denen Harnröhre und Vaginalkanal im penilen Genital zusammenlaufen, hypospadisch gelagert sind und zusammen mit einer skrotalen Bildung der restlichen Vulva auftreten. Dementsprechend lässt sich Warnekros’ Einordnung im Rahmen der zeitgenössischen Diagnosemöglichkeiten durchaus nachvollziehen. Doch steht einer solchen Klassifikation Hirschfelds Aussage gegenüber, in der er einen somatischen Hermaphroditismus komplett ausschließt. Hier stellt sich die Frage, wie diese konträr erscheinenden Diagnosen zueinander in Relation gesetzt werden können. Zunächst drängt sich ein Erklärungsversuch innerhalb medizinischer Parameter auf: Während Warnekros’ Diagnose eine weibliche Form des heutigen Adrenogenitalen Syndroms (AGS) suggeriert, hält Hirschfelds Widerspruch dazu an, diese Vorstellung zu überdenken. Im Zuge dessen könnte man davon ausgehen, dass es sich bei den äußeren Genitalien nicht um eine hypertrophe Klitoris und eine skrotale Ausbildung der Vulva, sondern vielmehr um einen Penis und ein Skrotum handelt. Gemeinsam mit der beschriebenen Atrophie dieser Organe und dem vermeintlichen Nachweis von Ovarialhormonen, drängt sich ein mit dem Adrenogenitalen Syndrom verwandtes Krankheitsbild in den Vordergrund, welches sich mit den vorgeschlagenen Todesursachen einer Nieren- oder Krebserkrankung zusammendenken ließe: ein Tumor in der Nebennierenrinde.377

377 Das Besondere an diesen Wucherungen ist, dass sie mitunter endokrin aktiv werden und somit somatische Veränderungen hervorrufen, die sich symptomatisch mit dem Adrenogenitalen Syndrom decken und in der Fachliteratur auch oft mit dieser Diagnose in Verbindung gebracht werden, vgl. Charmandari, Evangelia, George Chrousos u. Deborah P. Merke: „Classic Congenital Adrenal Hyerplasia“, in: Linos, Dimitrios u. Jon A. van Heerden (Hg.): Adrenal Glands. Diagnostic Aspects and Surgical Therapy, Heidelberg 2005, S. 101-113, hier S. 104; während bei als Frauen klassifizierten Individuen zudem ob des häufig produzierten Überschusses männlicher Sexualhormone eine Hypertrophie der Klitoris, eine Irregularität des Zyklus, eine Veränderung der Stimme sowie Veränderungen im Verhalten von Haut und Haarwuchs beobachtet werden können, führt der seltenere, jedoch immer auf einen bösartigen Tumor verweisende Überschuss weiblicher Sexualhormone bei als Männern klassifizierten Individuen zum Wachstum der Brustdrüsen, einer Atrophie der äußeren Genitalien sowie Impotenz und einer Reduktion der Spermienzahl, vgl. Brauckhoff, Michael, Oliver Gimm u. Henning Dralle: „Virilizing and Feminizing Adrenal Tumors“, in: Linos, Dimitrios u. Jon A. van Heerden (Hg.): Adrenal Glands. Diagnostic Aspects and Surgical Therapy, Heidelberg 2005, S. 159-176, hier S. 167f.; Das spezifische Symptomkonglomerat tritt sowohl in Fra

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Mit Hilfe einer Distanzierung vom Begriffsinventar und der diagnostischen Praxis der Medizin wird jedoch deutlich, dass dieser Zugang Pathologisierungsprozesse fortschreiben würde. Auch wenn die Dissonanz zwischen Warnekros’ und Hirschfelds Befunden die virulente Frage aufgreift, ob es sich bei Elvenes um ein trans*- oder inter*geschlechtliches Individuum handele, trägt der Versuch einer diagnostischen Klärung nicht zum Verständnis der zeitgenössischen Technologien und ihrer Auswirkung bei. Vielmehr perpetuiert ein solcher Versuch den systematischen Rückschluss von der Identität auf das Geschlechtliche und vom Geschlecht auf das Genitale.378 Der Schlüssel liegt also im Blick auf die Verankerung der medizinischen Befunde und die damit einhergehenden geschlechtlichen Kategorisierungsprozesse. Damit schließt sich der Bogen zu der von Armstrong angesprochenen Frage nach der Verschiebung einzelner Individuen zu den Polen hin und meiner Infragestellung eines polarisierten Systems an sich. Schlussendlich lassen sich die individuellen Pathologisierungen – insbesondere mit Bezug auf eine vermeintlich geschlechtliche Ausprägung – im medizinischen Diskurs nicht ohne diese dichotome Polarität beschreiben. So wird die Klassifikation, wie von Cadwallader dargelegt, sowohl Teil der medizinischen Technologie als auch ein Instrument der Repression und der Legitimation. Wird an dieser Stelle Foucault gefolgt, ist das Subjekt nur noch Träger eines pathologischen Zustandes, Medium für die systematisierte Krankheit, deren Leiden durch die sich selbst legitimierende klinische Therapie gelindert wird. Von entscheidender Bedeutung sei dabei die Funktion des ärztlichen Blicks, welcher die Krankheit und nicht zuletzt die (geschlechtliche) Wahrheit des Körpers – zwischen Normalität und Devianz – zu dechiffrieren vermag.379 Heede schlägt diesbezüglich vor, auch die narrative Frauwerdung Lilis an das Auge des Arztes zu binden: „Es bleibt jedoch unklar, ob es Kreutz als Arzt oder als Ge-

Mand til Kvinde als auch anderen Quellen wiederholt hervor. Dabei scheint insbesondere die zwar graduelle, jedoch überraschende Entwicklung weiblicher Linien in Richtung eines Nebennierenrindentumors zu weisen. Endokrin aktiv und Östrogene produzierend, könnte dieser für die bei den mikroskopischen Untersuchungen nachgewiesenen vermeintlichen Ovarialhormone verantwortlich sein. Zudem wäre die wohlmöglich bereits durch die Röntgenbehandlung reduzierte Spermienzahl durch den Tumor weiter beeinflusst worden, jedoch ist deren Bildung schon vor Warnekros’ Gutachten durch die bereits vorgenommene Kastration unterbunden. 378 Vgl. Einleitender Teil von Kapitel 2. 379 Vgl. Foucault, Michel: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, München 1973b (1963), S. 122-136; vgl. Gugerli, David: „Die Automatisierung des ärztlichen Blicks. (Post)moderne Visualisierungstechniken am menschlichen Körper“, in: Preprints zur Kulturgeschichte der Technik, 1998, Nr. 4, S. 1-10, hier S. 2.

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schlechtswesen ist, der Lili zum Leben erweckt. […] Eher als die Operation ist es Kreutz’ Blick, welcher der entscheidende Dynamo in der Produktion von Lilis Weiblichkeit ist.“380 An dieser Stelle erweist sich die erneute Auseinandersetzung mit dem Text oder genauer gesagt mit den dort evidenten Leerstellen als fruchtbar, denn diese lassen sich gleichsam als Subjektivierungsansatz und als Bagatellisierung von Machtwissen lesen. Während Erfahrungen mit den Technologien der Medizin, die nicht mit einer Anerkennung oder Bestätigung der eigenen Identität einhergehen, detailliert und klar dargestellt werden, gestalten sich die Ausführungen zu den späteren Eingriffen als wenig greifbar. Angesichts der Tatsache, dass die technischen Details dazu erst ab der deutschen Ausgabe nachgeliefert werden, stellt sich zudem die Frage, ob der ursprüngliche Text, den Elvenes noch einsehen konnte, sich dezidiert einer Anbindung an die Technologien der Medizin verwehrt. Somit könnte analog zu den Schlussfolgerungen des dritten Kapitels zumindest Fra Mand til Kvinde als ein emanzipatorisches Moment gelesen werden. Die Handlungsmacht der Protagonistin und Elvenes’ läge dann in einen transzendentalen Abkoppelung der persönlichen Identitätsfindung von den konkreten medizinischen Praktiken. Somit stehen in der dänischen Ausgabe zunächst die persönliche Entwicklung und auch die technologisch erwirkten Anerkennungsprozesse im Fokus der literarischen Darstellung. Die narrativen Leerstellen tragen somit einen dreifachen Effekt in sich: (1) sie bestätigen das suggerierte autobiographische Genre, (2) sie entkoppeln die auf Elvenes übertragbaren Subjektivierungsprozesse der Protagonistin von Teilen des medizinischen Diskurses, aber (3) sie hinterfragen das Machtwissen der Medizin damit nur punktuell und verhindern somit eine systematische Kritik an den zugrundeliegenden Praktiken. Mit Hilfe einer kartographischen Auswertung der Referenzpunkte in den Ausgaben von Fra Mand til Kvinde wird es jedoch möglich, diese Leerstellen zu kontextualisieren und das komplexe Verhältnis, in dem Elvenes und der medizinische Diskurs zueinander stehen, zu untersuchen. Dabei werden nicht nur das bereits konkretisierte Klassifikationssystem und das Hierarchiegefälle zwischen beiden Seiten deutlich, sondern auch ein vielschichtigeres Abhängigkeitssystem. Sowohl das Subjekt selbst, als auch der männliche (ärztliche) Blick, für welchen Lili laut Stone konstruiert werde,381 unterliegen regulierenden Repressionsstrategien. Ist die Klinik, wie Stone argumentiert, „eine Technologie der Einschreibung“,382 so figu-

380 „Det forbliver imidlertid uklart, om det er Kreutz som læge eller som kønsvæsen, der vækker Lili til live. [...] Snarere end operationen er det Kreutz blik, der er den afgørende dynamo i produktionen af Lilis kvindelighed.“, Heede 2003, S. 34. 381 Vgl. Stone 2006, S. 224f. 382 „a technology of inscription“, ebd., S. 230.

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riert das klinische Personal gleichzeitig als einschreibende Instanz und Produkt derselben Einschreibungen. Auch dieser Zusammenhang prägt das Verhältnis zwischen Medizin und Subjekt, denn unabhängig von der repressiven oder ethisch motivierten Form der Interventionen bleibt das klinische Personal ebenfalls in der eigenen pathologischen Systematik gefangen. Daher plädiere ich dafür, die Rolle dieses Diskurses in Bezug auf Elvenes – und darüber hinaus – von verschiedenen Seiten zu beleuchten. Sowohl die automatisierte Einordnung der Medizin als dominantes oppositionelles Gegenüber als auch die Setzung medizinischen Wissens als übergeordnet erscheinen mir problematisch. Während sich Letzteres schon angesichts des konstruktivistischen Ansatzes dieser Arbeit disqualifiziert, empfinde ich auch die Drängung des Subjekts in eine ausschließliche Opferrolle als einen desubjektivierenden Vorgang. Die Vielschichtigkeit der Interventionen Warnekros’ lässt sich insbesondere anhand seiner Arbeit mit dem Manuskript nachvollziehen. Die dort vorgenommenen Änderungen knüpfen mittelbar an die von ihm durchgeführten operativen Eingriffe an und korrespondieren in vielen Fällen mit Hoyers Arbeit am Text.383 Denn die repressiven und, wie von Steinbock betont, gleichzeitig subjektivierenden Technologien im Operationssaal384 finden sich im narrativen Rahmen wieder. Dieser kann entweder als ein repressiver Raum verstanden werden oder, wie Runte vorschlägt, als Subjektivierungsmöglichkeit jenseits eines Opferdiskurses.385 Zwar verschwinden sowohl bei den somatischen als auch den textuellen Interventionen durch Warnekros ausgewählte Ebenen des individuellen Ausdrucks, doch dienen diese Alterationen nicht nur der Integrität des Intervenierenden, sondern zum Teil auch dem Interesse des Subjekts. Es kann zu Recht argumentiert werden, dass die Systematiken des medizinischen Diskurses bestimmte Formen von Leiden erst hervorbringen, doch wird auch an einer Linderung dieser mitgewirkt – in der versuchten Refiguration systematischer Ansätze386 und mit therapeutischen Interventionen. So fordern unter anderem Kirschner und Wagner in ihrem Beitrag, dass sich die Medizin der Linderung solcher Leiden, die sich durch die Stigmatisierung alteritärer Körper als ‚anomal‘, ‚abnorm‘, ‚defekt‘ oder ‚deviant‘ ergeben, nicht verweigern solle.387 Angesichts der evidenten Eigenlegitimation des medizinischen Diskurses scheint in der zeitgenös-

383 Vgl. 3.1. 384 Vgl. Steinbock 2012, S. 154ff. u. S. 170. 385 Vgl. Runte 1996, S. 413. 386 Insbesondere Hirschfelds Klassifikationsansätze – wenn auch den Polarisierungen des Zweigeschlechtersystems verbunden – zeigen Bemühungen, mit dem Zwischenstufenmodell systematische Vorannahmen aufzubrechen, vgl. 4.1.3. 387 Vgl. Kirschner/Wagner 1930, S. 244.

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sischen Praxis das systematisch produzierte Leiden nur durch Integration in eben jenes System gelindert zu werden. Jedoch wünscht nicht jedes Individuum eine solche ‚Einpassungshilfe‘, da sie den individuellen Handlungsspielraum begrenzt. Für Elvenes scheint es jedoch zeitweilig möglich, sich innerhalb des zur Verfügung stehenden Zeichensystem zu subjektiveren – und zwar als Frau.388 Die das Subjekt und den medizinischen Diskurs betreffenden Herausforderungen bleiben jedoch erhalten. Auch wenn die Medizin essentiell an der Etablierung und Tradierung des vorhandenen Zeichensystems mitwirkt, agiert sie nicht als unabhängiges Machtsystem, sondern im Interesse und im Auftrag des Staates. Denn bei der technologischen Regulierung von Körpern geht es, wie Cadwallader hervorhebt, auch immer um deren Integration in den Staatskörper.

388 Zur Agency innerhalb eines repressiven Systems, vgl. Steinbock 2012, S. 161 u. S. 170.

5. Identität hat einen Preis Fehlende Gesetzesgrundlagen und staatliche Regulierung

Obwohl das Vorwort von Hoyer den juristischen Aspekt vollends ausspart, findet sich schon früh im Text ein entscheidender Hinweis auf die zu erwartenden Verknüpfungen mit der rechtlichen Ebene.1 Zwar werden die dort von Kreutz angesprochenen Schwierigkeiten zunächst kaum nachvollziehbar und in ihrer spezifischen medizinischen Relevanz erst gar nicht thematisiert, doch suggeriert eine spätere Szene in Dresden, dass es bereits im Laufe der ersten Operationswelle bürokratische Bemühungen gegeben hat. Deren Notwendigkeit ergibt sich narrativ aus der Bedrückung, die Lili empfindet, als ihr in Dresden ein an Andreas adressierter Brief zugestellt wird.2 Da sie am 29. April 1930 ohne Komplikationen einen neuen Pass erhält, scheint die Ordnung ihrer Papiere zügig eingeleitet worden zu sein: „Vor einigen Wochen hatte der Professor ihr gesagt, dass er ihr dabei helfen würde, auch in den Augen der Welt das zu werden, was sie sein sollte – eine Frau. Er hatte versprochen, an die dänische Gesandtschaft zu schreiben. Und nun hielt sie einen Pass in der Hand, der mit einem Foto von ihr versehen war und auf dem der Name stand, den sie sich aus Dankbarkeit gegenüber dem Ort, an dem sie sich selbst gefunden hatte, wählte: Lili Elbe.“3

Auf historischer Ebene stellt sich der Weg zu den neuen Identitätspapieren und weiteren bürokratischen Regulierungen hingegen wesentlich komplexer dar. Neben der

1

Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 18.

2

Vgl. ebd., S. 111.

3

„For et Par Uger siden havde Professoren sagt til hende, at han vilde hjælpe hende med ogsaa i Verdens Øjne at blive det, hun skulde være, en Kvinde. Han havde lovet at skrive til det danske Gesandtskab. Og nu holdte hun i Haanden et Pas, som var forsynet med hendes Fotografi, og hvorpaa der stod det Navn, som hun af Taknemmelighed mod det Sted, hvor hun havde fundet sig selv, havde valgt: Lili Elbe.“, ebd., S. 129.

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Protagonistin, dem Mediziner und der dänischen Gesandtschaft in Berlin, deren Erwähnung einen entscheidenden kartographischen Referenzpunkt darstellt, sind auch zwei dänische Ministerien sowie der in Kopenhagen ansässige Gerichtsärzterat in diesen Prozess involviert. Inwieweit diese Akteure miteinander interagieren und welche Interessen dabei im Mittelpunkt stehen, kann dank der erhaltenen Rechtsakte des dänischen Justizministeriums nachvollzogen werden.4 Von besonderem Interesse erscheint mir in diesem Zusammenhang das Verhältnis des Staates zu einem heteronormativen Geschlechtersystem. An dieser Stelle möchte ich nochmals auf Cadwalladers Ausführungen verweisen und beleuchten, inwieweit verschiedene Entscheidungsebenen an der Wahrung des Zweigeschlechtersystems mitwirken, um sowohl ‚Gesundheit‘, ‚Normalität‘ als auch ‚Funktionalität‘ des Staatskörpers sicherzustellen.5 Die Tatsache, dass diese Prozesse zu großen Teilen in den Händen der dänischen Eugenik-Bewegung zusammenlaufen, soll dabei nicht außer Acht gelassen werden, auch wenn diese institutionelle Überkreuzung sich erst nach Elvenes’ Tod vollends entfaltet. So werde ich diese Thematik zwar nur kurz am Ende dieses Kapitels aufgreifen, doch soll sie bei der Lektüre der folgenden Analyse bereits mitschwingen. Die Analyse selbst befasst sich im Anschluss an die literarische Darstellung mit dem Zugang des Subjekts zu den zuständigen Institutionen und untersucht die Verschränkung eines rechtlichen Grundverständnisses bei Fragen des Geschlechtswechsels mit Elvenes’ zentralen Anliegen, eine Namens- und Personenstandsänderung sowie die Auflösung der Ehe mit Gerda Wegener zu erreichen.

5.1 G ESCHLECHTLICHE N EUVERORTUNG JENSEITS DER K ASTRATION In Fra Mand til Kvinde wird suggeriert, dass die Eingabe bei der dänischen Gesandtschaft durch Kreutz erfolgt, nicht zuletzt um das produzierte Bild einer hilflosen und abhängigen Frau narrativ fortzuführen. Auf historischer Ebene ist Warnekros jedoch nur Mithelfer dieser ersten rechtlichen Schritte, die laut dem überlieferten Schriftverkehr der dänischen Gesandtschaft und des dänischen Außenministeriums von Gerda Wegener eingeleitet werden. Diese wendet sich bereits während der Zeit in Berlin an das dänische Justizministerium und erbittet vorläufige Papiere, da sich bei der Operation gezeigt habe, dass Einar Wegener weiblichen Geschlechts

4

Diese Akte lässt sich mit Hilfe der kartographischen Lesart von Fra Mand til Kvinde lokalisieren. An dieser Stelle möchte ich nochmals Nikolaj Pors danken, der die Recherchearbeit übernommen und seinen Fund mit mir geteilt hat.

5

Vgl. Einleitender Teil von Kapitel 4.

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sei. Die Gesandtschaft in Berlin sieht sich ob eines uneindeutigen ärztlichen Attests6 jedoch nicht in der Lage, einen Pass mit weiblichen Identitätsangaben auszustellen. Um Elvenes dennoch den Zutritt zur Frauenklinik zu ermöglichen, werden Papiere ohne Bild auf den Namen Einar Magnus Andreas Wegener ausgestellt, die Vornamen jedoch undeutlich geschrieben, „damit sich der männliche Charakter der Namen verflüchtige.“7 In Dresden angekommen, wendet sich Gerda Wegener dann an das dänische Außenministerium, um auch die ungeklärten Fragen zur Ehe zu ordnen. Sowohl die diplomatische Vertretung als auch die Kopenhagener Zentrale sind der Meinung, dass die Angelegenheit in die Verantwortung des Justizministeriums falle, an welches dann auch ein Großteil des vorhandenen Schriftverkehrs übergeben wird, obwohl die auswärtigen Behörden ob des Aufenthaltsorts von Elvenes weiterhin in den Prozess involviert sind.8 Ein weiterer Antrag auf die Ausstellung neuer Identitätspapiere wird entsprechend direkt an das Justizministerium in Kopenhagen gestellt. Dieser von ‚Einar Wegener‘ und Gerda Wegener sowie Warnekros und der zuständigen Oberschwester Margarete Leifert unterzeichneten Erklärung wird das erste ärztliche Zeugnis beigelegt, welches die Anliegen der Antragstellerin unterstreichen soll.9 Diese bittet das Ministerium, dafür Sorge zu tragen, „1. dass mein Name in Lili Elben geändert wird. Es versteht sich, dass mir unter den gegebenen Umständen viel darin liegt, gegenüber der Umwelt mit einem ganz neuen Namen auftreten zu können […]; 2. dass dem betreffenden Kirchenregister eine Anmerkung sowohl bezüglich meines geänderten Namens als auch meines Geschlechts hinzugefügt wird; 3. dass mir ein Nachweis der Dokumentation meiner Identität als Frau mit dem Namen Lili Elben aus- und zugestellt wird;

6

Dabei dürfte es sich entweder um ein Attest von Erwin Gohrbandt oder eine Bescheinigung aus dem Institut für Sexualwissenschaft handeln – erhalten ist ein solchen Dokument meines Wissens nicht.

7

„saa at Navnets mandlige Karakter forflygtigedes.“, Brief von Laurits Bolt BoltJørgensen (Dänische Gesandtschaft) an Eduard Reventlow (Außenministerium), Berlin, 16.04.1930, S. 1, E 1953.

8

Vgl. Brief von Eduard Reventlow (Außenministerium) an Aage Svendsen (Justizministerium), Kopenhagen, 16.06.1930, E 1953.

9

Im Zuge dessen erfährt Elvenes auch, dass Einar Wegeners Nachname bei der Taufe fälschlicherweise als ‚Vegener‘ in das Kirchenregister eingetragen wurde, vgl. Taufattest Einar Magnus Andreas Vegener, ausgestellt in Vejle, 11.04.1930, E 1953; vgl. Erklärung von Einar Wegener, Dresden, 15.04.1930, E 1953 (Diese Erklärung ist dem Antrag wahrscheinlich beigefügt).

304 | »W IE L ILI ZU EINEM RICHTIGEN M ÄDCHEN WURDE « 4. dass mir ein Nachweis aus- und zugestellt wird, der eine Anerkennung darüber beinhaltet, dass die Ehe zwischen mir und Gerda Gottlieb als erloschen betrachtet wird.“10

In Folge des Antrags wird vom Legationsrat Laurits Bolt Bolt-Jørgensen in Berlin die Ausstellung eines vorläufigen Passes veranlasst. Dieses Dokument ist nun mit einer photographischen Identifikation ausgestattet, lautet auf den gewünschten Namen ‚Lili Elben‘ und gilt für 6 Monate, wobei eine Verlängerung nur bei der Gesandtschaft erfolgen könne.11 Um diesen Pass dürfte es sich bei der oben besprochenen Szene aus Fra Mand til Kvinde handeln. Dort wird der Nachname jedoch an das narrativ passendere ‚Elbe‘ angeglichen – eine Entscheidung, auf deren historische Bedeutung ich nachfolgend noch eingehen werde. Die durch Warnekros’ ärztliches Zeugnis veranlasste Ausstellung des gewünschten Dokumentes wirft Fragen hinsichtlich der Bedeutung und des Inhalts solcher Gutachten auf. Da jenes medizinische Schreiben aus Berlin, das Bolt-Jørgensen als nicht ausreichend für die Zubilligung eines neuen Namens und Personenstandes bewertet, leider nicht überliefert ist, bleibt nur der Blick auf die justizministeriale Dokumentation und die Wortwahl von Warnekros. Dabei fällt eine frappante Leerstelle ins Auge: Die in Berlin vorgenommene Kastration wird an keiner Stelle erwähnt. Sowohl Eduard Reventlow, Mitarbeiter des Außenministeriums, als auch Bolt-Jørgensen scheinen nur eine diffuse Vorstellung von dem ersten Eingriff zu haben. Dies ließe sich sowohl mit der juristischen Brisanz des Eingriffs als auch mit der durch Warnekros in den Keimdrüsen lokalisierten Geschlechtszugehörigkeit erklären. So hätte eine Erwähnung vormals vorhandener Testikel nicht nur seine geschlechtsbestimmende Diagnose in Frage gestellt, sondern auch den bürokratisch eingeschlagenen Weg zu neuen Legitimationspapieren erheblich kompliziert. Jenseits der Kastration ist es Elvenes hingegen möglich, eine vorläufige rechtliche Anerkennung des eigenen Geschlechts zu erwirken. Da ihre Papiere jedoch nur von begrenzter Gültigkeit sind, liegt ein langwieriger Prozess sowohl vor ihr als auch den Justizbeamten, welche die Namensund daran gebundene Personenstandsänderung bearbeiten und dabei ebenfalls die noch bestehende Ehe der Wegeners im Auge behalten müssen.

10 „1. at mit Navn ændres til Lili Elben. Det vil forstaas, at der under de forhaandenværende Omstændigheder er mig meget magtpaaliggende overfor Omverdenen at kunne fremtræde med et fuldstændig nyt Navn [...]; 2. at der sker Tilførsel til vedkommende Kirkebog af en Anmærkning dels om mit ændrede Navn, dels om mit Køn; 3. at der udfærdiges og tilstilles mig et Bevis til Dokumentation af min Identitet som Kvinde med Navnet Lili Elben; 4. at der udfærdiges og tilstilles mig et Bevis indeholdende en Anerkendelse af, at Ægteskabet mellem mig og Gerda Gottlieb betragtes som bortfaldet.“, Anschreiben von Einar Wegener an das dänische Justizministerium, Dresden, 15.04.1930, S. 2f., E 1953. 11 Vgl. Bolt-Jørgensen an Reventlow, 16.04.1930, S. 2.

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5.2 J URISTISCHE H ÜRDEN Das Ansuchen von Elvenes nimmt sich bei der Lektüre zwar recht einfach aus, doch ergeben sich bei der Umsetzung eine Reihe von Herausforderungen, die über die das Rechtssystem durchziehenden Geschlechternormierungen hinausgehen. Zwar stellen die Fragen nach der juristischen Verortung des vermeintlich neuen Geschlechts den Hauptteil der in Gang gesetzten Prozesse dar und betreffen sowohl die Wahl des Vornamens, den Personenstand sowie die schwebende Ehegemeinschaft der Wegeners, doch beschäftigt die Behörden anfangs der Antrag auf einen neuen Nachnamen, dessen Umsetzung sich ob einer bürokratischen Hürde auf anderer Ebene problematisch ausnimmt: Bestimmte Nachnamen sind in Dänemark vorbehalten und können von Personen, die diese nicht durch Geburt oder Eheschließung tragen, nicht gewählt werden. Somit gestaltet sich das rechtliche Prozedere zur neuen namentlichen Identität komplex, da dem Ausdruck derselben bürokratisch eine Reihe von Grenzen gesetzt wird. Angesichts dieser Zusammenhänge fällt ein neues Licht auf die metaphorisch aufgeladene Wahl des Nachnamens durch die Protagonistin in Fra Mand til Kvinde. Der narrativ produzierte Mythos einer identitätsstiftenden Nähe zu jenem Gewässer, das Dresden durchfließt, sollte an dieser Stelle überdacht werden – nicht nur in Bezug auf den Text, sondern auch in seiner Tradierung innerhalb der Forschungsliteratur.12 5.2.1 Namenswahl und Namensmythos Kurz nachdem Elvenes die ersten ihrem Geschlecht entsprechenden Identitätspapiere auf den Namen ‚Lili Elben‘ erhalten hat, wird ihr vom dänischen Justizministerium mitgeteilt, dass der gewählte Nachname bereits vorbehalten sei und sie diesen deshalb nicht weiter benutzen solle.13 Daraufhin wendet sie sich mit neuen Vorschlägen an die Behörde. In diesen Schreiben wird deutlich, dass die Impulse der Namenswahl über die Bezüge zu ihrer deutschen Geburtsstadt hinausgehen. Mit geographischen und sprachlichen Referenzen werden Parallelen zu einer nationalen Identitätsbildung evident, während Andeutungen einer mythologischen und gesellschaftlichen Positionierung durch die begriffliche Nähe zur Elfe und zur Elevin ausgedrückt werden. Diese mehrdimensionale Aufladung der Namenswahl schlägt sich bei den in folgender Reihenfolge angegebenen Alternativen nieder: (1) Elba,

12 So greifen viele Beiträge zu Elbe/Elvenes diesen Namensmythos auf, vgl. Boivin 1958, S. 58; vgl. Ritzau/Hertoft 1984, S. 84; vgl. Ritzau 1984, S. 7; vgl. Runte 1996, S. 449; vgl. Armstrong 1998, S. 172; vgl. Steinbock 2009, S. 147; vgl. Steinbock 2012, S. 154. 13 Vgl. Brief von Aage Svendsen (Justizministerium) an Eduard Reventlow (Außenministerium), Kopenhagen, 19.06.1930, E 1953.

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(2) Elven, (3) de Courteaud, (4) Elbe und (5) Dresda.14 Nach einer Konsultation mit ihrem Dresdner Chirurgen revidiert sie die Gewichtung jedoch nach dessen Wünschen, so dass nicht nur hierarchische und geschlechtliche Konnotationen prominenter in die Nachnamenswahl einfließen, sondern auch das empfundene soziale Alter oder gar eine Alterslosigkeit der Antragstellerin: „Professor Warnekros, Direktor der Staatlichen Frauenklinik in Dresden, dem ich heute die Liste vorgelegt habe, mag den Namen Elba nicht, sondern zieht Elven vor. Daher schicke ich Ihnen hiermit eine neue Liste von Namen, in der Reihenfolge, in der ich sie bevorzuge, die ich Sie höflichst bitte, an die betreffenden hohen dänischen Autoritäten weiterzuleiten. Bei näherem Nachdenken kommt mir Dresda zu geographisch vor. Es bleiben als folgende drei Namen übrig: 1.

Elven

2.

de Courteaud

3.

Elbe“15

Vom Justizministerium werden nach diesen Schreiben dennoch alle fünf vorgeschlagenen Namen geprüft. Während die bereits ausgeschiedenen Alternativen ‚Elba‘ und ‚Dresda‘ angesichts ihrer geographischen Implikationen von vornherein ausgeschlossen werden, empfinden die Ministerialbeamten das französisch klingende ‚de Courteaud‘ als „undänisch“.16 ‚Elven‘ scheidet auf Grund ähnlicher Namen, wie Elben, Elveen und Elverg, ebenfalls aus, so dass nur noch ‚Elbe‘ als Möglichkeit bleibt. Obwohl auch diese Wahl auf Grund des vorbehaltenen ‚Elb‘, der geographischen Konnotation und dem schwachen ‚e‘ der Endung zunächst abgelehnt wird,17 entscheidet das Ministerium im August 1930, dem Namen ‚Elbe‘ mit gutem Willen zustimmen zu können.18 Dementsprechend trägt Elvenes den sich als kurz-

14 Vgl. Lili Elben Wegener an Carl Theodor Zahle (dänischer Justizminister), Berlin, Juli 1930, E 1953. 15 „Professor Warnekros, Direktøren for Staatl. Frauenklinik i Dresden, som jeg idag har forelagt Listen, synes ikke om Elba, men foretrækker Elven. Derfor sender jeg Dem her en nye Liste med Navne i den Rækkefølge, jeg foretrækker dem, som jeg høfligst beder Dem lade gaa videre til de rette høje danske Autoriteter. Ved nærmere Eftertanke forekommer Dresda mig for geografisk. Tilbage bliver altsaa følgende tre Navne: 1. Elven 2. de Courteaud 3. Elbe“, Lili Elben Wegener (Einar Wegener) an L.B. Bolt-Jørgensen, Dresden, 16.07.1930, S. 1f., E 1953. 16 „udansk“, Notizen des Justizministeriums, Juli 1930, E 1953. 17 Vgl. ibid. 18 Vgl. Notizen des Justizministeriums, August 1930, E 1953.

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lebig herausstellenden Namen ‚Elbe‘ nicht auf Grund einer Präferenz ihrerseits, sondern angesichts der bürokratischen Prozesse, durch welche ihr dieser zugewiesen wird. Nachdem das Justizministerium die entsprechende Änderung zu ‚Elbe‘ veranlasst hat, wird formuliert, dass es zudem keine Einwände dagegen gäbe, sollte die dänische Gesandtschaft der Antragstellerin einen Pass auf den Namen ‚Lili Elbe‘ ausstellen.19 Angesichts der – wohlgemerkt nur vorläufigen – Klärung der Nachnamensfrage bezögen sich potentielle Einwände also auf den Vornamen der Antragstellerin. Dessen rechtliche Klärung stellt sich wesentlich komplexer dar, da er die Markierung des Geschlechts der betreffenden Person beinhaltet. Der offiziellen Anerkennung von ‚Lili‘ stehen daher zwei Faktoren im Weg: zum einen die noch bestehende Ehe, welche durch die Namensänderung in eine unrechtmäßigen Gemeinschaft zwischen zwei Frauen verwandelt würde; zum anderen der fehlende Nachweis, dass die Antragstellerin nun wirklich eine Frau sei. 5.2.2 Die Funktion des obersten dänischen Gerichtsärzterats Zur Feststellung und Begutachtung der geschlechtlichen Kategorisierung wird bereits am 19. Mai 1930, kurz nach dem Ansuchen von Elvenes, der Gerichtsärzterat hinzugezogen.20 Die bereits durch die Ministerialbeamten formulierte Skepsis ob einer Einstufung der Antragstellerin als Frau21 scheint sich dann auch in den Rückmeldungen des Rats, welcher die Angelegenheit als eine zivilrechtliche Frage behandelt, zu bestätigen. Da das ärztliche Zeugnis vom April 1930 zur Beurteilung nicht genüge, erbittet der Ratsvorsitzende Knud Sand beim Justizministerium zunächst mehr Zeit, um sich medizinisch weiter informieren zu können.22 Zu diesem Zweck wird Warnekros um ein ausführliches Gutachten ersucht. Der Rat gibt die zur Geschlechtsbestimmung relevanten Fragenkomplexe dabei bereits vor: „Vom dänischem Justizministerium ist dem hiesigen Obersten Gerichtsärzterat ein Fall zur Begutachtung unterbreitet worden, der den Herrn E. M. A. W. betrifft, dem Sie, geehrter Professor, am 10/IV 1930 ein ärztliches Zeugnis ausgestellt haben, welches wir uns in der Abschrift beizulegen gestatten. Da das Gutachten des Obersten Gerichtsärzterat sich lediglich auf Ihre Aussagen gründen kann und diese in der genannten Erklärung ja ganz summarisch sind, erlauben wir uns, Sie höflichst zu ersuchen, uns gütig zum Gebrauch bei dem vom

19 Vgl. Notizen des Justizministeriums, August 1930. 20 Vgl. Retslægeraadet: Retslægeraadets Aarsberetning for 1930, Kopenhagen 1932, S. 373. 21 Vgl. Notizen des Justizministeriums, Mai 1930, E 1953. 22 Vgl. Notizen des Justizministeriums, Juni 1930, E 1953.

308 | »W IE L ILI ZU EINEM RICHTIGEN M ÄDCHEN WURDE « Obersten Gerichtsärzterat abzugebenden Urteil eine möglichst ausführliche Erklärung zu senden, u. z. w. mit Aufschluss über 1) das Ergebnis der äusserlichen und inneren Untersuchung, womöglich mit Photographien, 2) die bei ‚der Hormonbestimmung und der mikroskopischen Untersuchung‘ erhobenen Befunde, 3) den psychosexuellen Charakter des Patienten, 4) welche Operationen ausgeführt sind und mit welchem Resultat, 5) ob neue Operationen beabsichtigt sind. Der Rat bittet ausserdem um einen Ausspruch darüber, ob Sie, sehr geehrter Herr Professor, an der Bezeichnung der beschriebenen Abnormität als Pseudohermaphroditismus masculinus festhalten wollen.“23

Erst in Folge dieses Anschreibens entsteht das zweite Gutachten von Warnekros, in welchem dieser offensichtlich den Anforderungen des Rates zu entsprechen sucht. (Abb. 28 u. Abb. 29) Nichtsdestotrotz sieht es Sand, wie bereits angedeutet, als nicht erwiesen an, dass es sich bei der Antragstellerin wirklich um eine Frau handelt. Ihm fehlt eben jener stichhaltige Nachweis, der die Geschlechtszugehörigkeit bestätigen würde: die Existenz weiblicher Keimdrüsen.24 (Abb. 30) Dass er dennoch befürwortet, dem Antrag entgegenzukommen, ermöglicht Elvenes auch auf rechtlicher Ebene eine Behandlung als weibliches Individuum. 5.2.3 Von der Verquickung von Ehe, Geschlecht und Sexualität bis zur finalen Namensgebung Der nun etablierte weibliche Personenstand der Antragstellerin stellt die Behörden jedoch vor eine Reihe neuer Fragestellungen, in deren Zentrum die offizielle Anerkennung eines entsprechenden Namens sowie die Trennungsmodalitäten stehen. Gerade für die Ehe und deren Aufhebung ist die Zuweisung des Geschlechts von größter Bedeutung. Dementsprechend setzt das Justizministerium frühzeitig fest, dass eine wirksame Vornamensänderung nicht vor einer Beendigung der Ehe vollzogen werden dürfe und bestimmt, der Antragstellerin auf offizieller Ebene bis dahin höchstens einen geschlechtsneutralen Namen zuzugestehen.25 Die Rechtslage zur Klärung der Ehefrage erweist sich dabei jedoch als recht dünn. Angesichts der fehlenden Gesetzesgrundlage werden daher sowohl die An-

23 Retslægeraadet 1932, S. 374f. 24 Vgl. 4.3.2. 25 Vgl. Notizen des Justizministeriums, Mai 1930 u. Oktober 1930, E 1953.

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nullierung als auch eine Scheidung der Parteien erwogen.26 Der Antragstellerin wird zunächst nur die gerichtliche Lösung vorgeschlagen – eine Option, die ob der 1½jährigen Trennungszeit zumindest die offizielle Anerkennung des Geschlechts und des neuen Namens lange hinauszögern würde. Doch selbst die ministerial suggerierte Scheidung – ebenso wie eine Annullierung der Ehe – stellen sich ob des 1922 eingeführten dänischen Eherechts (§44) als schwierig dar. Wäre in der Zeit vor dieser juristischen Regulierung noch die in Fra Mand til Kvinde propagierte und durch viele wissenschaftliche Texte tradierte Aufhebung der Ehe durch eine königliche Resolution möglich gewesen, hat die Gesetzgebung dieser Option nun einen Riegel vorgeschoben.27 So bleibt Elvenes angesichts des ausschließlichen Scheidungsvorschlages zunächst nur die Möglichkeit, die Trennungszeit unter formeller Wahrung der männlichen Geschlechtsrolle abzuwarten. Im Ministerium werden unterdessen auch andere Optionen geprüft. Für eine ebenfalls erwogene, durch §44 motivierte Auflösung der Ehe – auf Grund eines Verschweigens psychopathologischer Krankheitsbilder sowie diverser Geschlechtskrankheiten – ist es zu diesem Zeitpunkt jedoch schon zu spät. Die Heirat der Wegeners erfolgte 1904, der Paragraph hingegen ist nur in den ersten sechs Monaten der Ehe wirksam.28 Zudem gilt es zu klären, ob es sich bereits zur Zeit der Eheschließung bei beiden Parteien um weibliche Individuen gehandelt habe oder ob die somatische Entwicklung der Antragstellerin eine graduelle gewesen sei, so dass sie die Ehe als Mann eingegangen wäre. Im ersten Fall sei die Ehe per se ungültig, im zweiten müsste nach wie vor eine Scheidung eingeleitet werden: „Formell ist es richtig, in Übereinstimmung damit [Familienrecht] anzunehmen, dass die Ehe null und nichtig ist, falls die Ehegatten bei der Schließung dem selben Geschlecht angehörten, so dass kein Aufhebungsprozess erforderlich ist, wohingegen ein ministerielles Schreiben ausgefertigt werden sollte, das den Umstand konstatiert. Aber wenn sich das Geschlecht einer der Personen erst nach der Trauung verändert hat, kann die Ehe nicht null und nichtig sein. In diesem Fall kann formell nur die Rede von einer Auflösung ex nunc, also einer Scheidung, sein. Obwohl das Gesetz keinen Scheidungsgrund dieser Art kennt, glaube ich, dass das Gericht der Scheidung zustimmen wird, da eine entscheidende Voraussetzung für die Ehe als gescheitert betrachtet werden kann.“29

26 Vgl. Notizen des Justizministeriums, Mai 1930. 27 Vgl. ibid. 28 Vgl. ibid.; vgl. Lov om Ægteskabs Ingaaelse og Opløsning, 30.03.1922, §44. 29 „Der er form. rigtigt i Overensst. hermed at antage, at Æskbet er en Nullitet, hvis Ægtefællerne var af samme køn ved Indgaaelsen, saaledes at nogen Omstødelsesakt ikke udkræves, hvorimod der maa kunne udfærdiges en ministeriel Skrivelse, som konstaterer Forholdet. Men hvis den enes køn først er skiftet efter Vielsen, kan Æskabet ikke være en

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Trotz dieses umfangreichen Vorlaufs wird die Frage der Eheauflösung auf narrativer Ebene erst mit der ‚Rückkehr‘ von Lili und Grete nach Kopenhagen thematisiert. Für Lili geht es angesichts der neuen Beziehung von Grete auch darum, für die Freiheit ihrer Gefährtin zu sorgen, wobei ihr an einer zügigen Lösung gelegen ist. In diesem Zusammenhang wird nicht nur die unakzeptable Länge des Scheidungsprozedere angesprochen, sondern auch der Frage nachgegangen, wie man einen Menschen von einem nicht mehr existenten Ehepartner scheiden könne.30 Da die Rechtssprechung ein Schicksal, wie das von Lili, nicht habe antizipieren können, gäbe es auch keine gesetzlichen Grundlagen. Ob dieser Sachlage nehmen sich, so Fra Mand til Kvinde, Lili und Grete der Problematik selbst an und versuchen mit Hilfe eines befreundeten Juristen, die Angelegenheit über eine königliche Resolution zu regeln.31 Dass eine solche Lösung nicht möglich ist, wird bereits in den Ministerialakten deutlich. Die Bemühung eines Rechtsbeistandes ist jedoch nachweisbar. So wendet sich Gerda Wegener an die Anwaltskanzlei Oskar Fich und kontaktiert in der Angelegenheit auch den dänischen Justizminister Carl Theodor Zahle. Dieser kann der nochmaligen Bitte um Annullierung der Ehe zwar nicht entsprechen, bietet jedoch an, dass das Ministerium eine Erklärung herausgeben könne, die besagt, „dass eine zwischen zwei Personen des gleichen Geschlechts eingegangene Ehe nach dänischem Recht in sich selbst ungültig ist.“32 Angesichts der bereits geführten innerministerialen Diskussion zur geschlechtlichen Entwicklung der Antragstellerin kann eine solche Erklärung jedoch kaum weitergeführt haben. So erreicht Gerda Wegener mit Hilfe ihres juristischen Beistandes erst am 7. Oktober 1930 durch ein gerichtliches Urteil, dass die am 8. Juni 1904 geschlossene Ehe mit Einar Magnus Andreas Wegener für ungültig erklärt wird.33 Bei der Verhandlung werden sowohl die von Warnekros verfassten Gutachten und die Stel-

Nullitet. I saa Fald kan der form. kun blive Tale om Ophavelse ex nunc, altsaa Skilsmisse. Skønt Loven ikke kender nogen Skm. Grund af denne Art, vilde jeg tro, at Domstolene vilde give Skm., idet en afgørende Forudsætning for Æskabet maa siges at være bristet.“, Notizen des Justizministeriums, Mai 1930. 30 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 143; im Manuskript und ab der deutschen Ausgabe wird zudem darauf hingewiesen, dass auf juristischer Seite zunächst nur das ‚normale Ehescheidungsgesetz‘ in Betracht komme und daher der Weg über die königlichen Resolution erwogen werde, vgl. Lili Elbe Buch (Manuskript), S. 172f.; vgl. Elbe 1932, S. 198f. 31 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 143f. 32 „at et mellem to Personer af samme Køn ingaaet Ægteskab efter dansk Ret i sig selv er ugyldigt“, Carl Theodor Zahle an Gerda Wegener, Kopenhagen, 16.09.1930, E 1953. 33 Wegener-Thomsen gibt den 6.10. als Eheauflösungsdatum an, vgl. Wegener-Thomsen an Harthern, 15.06.1931, S. 13 (Eintrag vom 06.10.).

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lungnahme des Gerichtsärzterates berücksichtigt. Da sich ob der Gesetzeslage jedoch keine eindeutige anhand der geschlechtlichen Identität von Elvenes herbeigeführte Eheaufhebung beschließen lässt,34 wird der vermeintliche sexuelle Nichtvollzug der Ehe zum Zweck der Urteilsfindung herangezogen: „Da die Sache somit aufgeklärt vorliegt, muss es das Gericht als zweifelhaft befinden, ob der physische Zustand des Beklagten in sexueller Hinsicht jemals die Bedingungen für die Ehe mit einer Frau erfüllt hat, womit […] festgestellt ist, dass der Beklagte nicht in einer solchen Ehe leben kann. Danach wird es für unbedenklich befunden, die zwischen den Parteien eingegangene Ehe für nicht gültig bestehend zu erklären.“35

In Fra Mand til Kvinde wird sich zum Verlauf der Gerichtsverhandlung hingegen in Schweigen gehüllt und am Narrativ der königlichen Resolution festgehalten.36 Eine historiographische Tradierung dieser als außergewöhnlich dargestellten Trennungsmodalitäten lässt sich zudem bis in gegenwärtige wissenschaftliche Auseinandersetzungen nachvollziehen.37 Zwar gibt es auf historischer Ebene tatsächlich eine Eingabe an den König, doch betrifft diese nicht die Aufhebung der Ehe, sondern eine erneute Beantragung der Namensänderung. Bearbeitet wird dieses von Elvenes’ Rechtsvertreter Frithjof Kemp aufgesetzte Schreiben jedoch wieder vom Justizministerium, welches ein erneutes Ansuchen schon zu erwarten scheint.38 Bereits im August 1930 wird der Antragstellerin avisiert, dass sie nach erfolgter Auflösung der Ehe gegen eine Gebühr von 33,66 Kronen den Namen ‚Lili Elbe‘ führen dürfe.39

34 Klöppel gibt hingegen an, dass zu dieser Zeit – zumindest in Deutschland – Eheauflösungen auf Grund von Hermaphroditismus-Diagnosen durchgeführt werden, vgl. Klöppel 2010, S. 270ff. 35 „Som Sagen saaledes foreligger oplyst maa Retten finde det tvivlsom, om Sagsøgtes fysiske Tilstand i sexuel Henseende nogensinde har opfyldt Betingelserne for et Ægteskab med en Kvinde, hvorhos det [...] er fastslaaet, at Sagsøgte ikke kan leve i et saadant Ægteskab. Herefter findes det ubetænkeligt at erklære det mellem Parterne indgaaede Ægteskab for ikke gyldigt bestaaende.“, Udskrift af Dombogen for Københavns Byrets 12. Afdeling, Aar 1930, den. 7. Oktober, Sagen Gerda Marie Frederike Wegener mod Einar Magnus Andreas Wegener (No. B. 2242/1930), S. 2f., E 1953. 36 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1930, S. 144. 37 Vgl. Haire 1933a/b, S. VII; vgl. Rudacille 2005, S. 47; vgl. Heede 2012b, S. 177. 38 Vgl. Notizen des Justizministeriums, Oktober 1930. 39 Vgl. Aage Svendsen (Justizministerium) an Einar Wegener, Kopenhagen, 19.08.1930, S. 3, 1953 E.

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Abbildung 31

Auszug aus dem Kirchenbuch der Sct. Nicolai Kirke in Vejle, Dezember 1882.

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Abbildung 32

Auszug aus dem Kirchenbuch der Sct. Nicolai Kirke in Vejle, Dezember 1882.

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Zur Überraschung der Justizbeamten erbittet die Antragstellerin aber nicht den bereits genehmigten Namen, sondern möchte sich nun ‚Lili Ilse Elvenes‘ nennen.40 Nach einer innerministerialen Diskussion darüber, ob ‚Elvenes‘ als Nachname zulässig sei und ob der Ergänzung eines zweiten Vornamens etwas im Wege stünde,41 wird der neue Wunschname am 26. November 1930 vom Justizministerium genehmigt. In einem dementsprechenden Schreiben an die Kopenhagener Ämter wird dabei nicht nur die Aufnahme einer Notiz in das nationale Personenstandsregister erwirkt, sondern auch ein entsprechender Eintrag im Strafregister avisiert.42 Nachdem unter Zusendung der entsprechenden Unterlagen beim Kirchenministerium sowohl eine neue Taufurkunde sowie die Änderung von Namen und Geschlecht im Kirchenregister und den Ministerialbüchern beantragt werden,43 scheinen alle Schritte zur Personenstandsänderung von Elvenes eingeleitet zu sein. Die polizeiliche Dienststelle in Vejle versichert sich noch der Zulässigkeit dieser Eingabe,44 bevor nachfolgend die Änderungen durch eine kirchenministeriale Resolution angenommen und in das Ministerialbuch der Sct. Nicolai Kirke in Vejle übernommen werden. (Abb. 31 u. Abb. 32) Mit der Zustellung des neuen Taufattests im Januar 1931 wird die Akte geschlossen.45

5.3 W AS

KOSTET I DENTITÄT ?

Für das Recht, ihren neuen Namen zu tragen und somit in ihrer selbst empfundenen Identität zu leben, zahlt Lili Elvenes 33,66 Kronen – eine Summe, die auf den ersten Blick moderat erscheint. Damit sind jedoch nur die wirtschaftlich erfassbaren Kosten dieses Prozesses gedeckt; der Preis, den sie für die staatliche Anerkennung und die eigene Sichtbarkeit zahlt, bleibt hinter diesem Betrag verborgen. Diese Unsichtbarkeit der Belastungen wird durch die sparsame Behandlung der juristischbürokratischen Aspekte in Fra Mand til Kvinde fortgeschrieben: Sind diese präsent, unterliegen sie einer Art von Literarisierung, die zur Mythenbildung um Elvenes

40 Brief von Einar Magnus Andreas Wegener an Christian X. (dänischer König), Kopenhagen, 11.11.1930, E 1953. 41 Vgl. Notizen des Justizministeriums, November 1930, E 1953. 42 Vgl. Ministeriales Schreiben von Carl Theodor Zahle (Justizminister) an die Kopenhagener Ämter, Kopenhagen, 26.11.1930, E 1953. 43 Vgl. Notizen des Justizministeriums, November 1930. 44 Vgl. Brief von der polizeilichen Dienststelle Vejle an das Justizministerium, Vejle, 02.12.1930, E 1953. 45 Vgl. Brief vom Kirchenministerium an das Justizministerium, Kopenhagen, 12.01.1931, E 1953.

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beiträgt, denn kaum ein anderer Gesichtspunkt wird durchgehend so unkritisch aus der Narration übernommen und als historische Wirklichkeit präsentiert. Während die Tradierung der königlichen Resolution bezüglich der Eheauflösung den Blick auf die rechtliche Bedeutung einer heteronormativen und binären Vorstellung von Geschlecht und Sexualität verstellt, bleiben bei einer Übernahme der metaphorisch aufgeladenen Namenswahl sowohl der juristische Prozess als auch die Interessen des Subjekts im Dunkeln.46 Doch gerade anhand dieser Vorgänge ließe sich die Einbindung individueller Identitätsfindung in ein komplexes System, an dem neben dem Individuum auch juristische und medizinische Diskurse mitwirken, auf einer Mikroebene exemplifizieren. Während den tatsächlich beantragten und zu großen Teilen ministerial entsprochenen Aspekten auf narrativen Ebene nur eine begrenzte Relevanz eingeräumt wird, scheinen in Fra Mand til Kvinde gerade jene Fragen in den Mittelpunkt zu rücken, die sich juristisch nicht regeln lassen. So werden im Text sowohl die vermeintlich unklare Nationalität (keine), der empfundene Geburtsort (Dresden) und die damit verbundene rechtliche Trennung von Lilis und Andreas’ Personenstand thematisiert47 – identitätsspezifische Stränge, die allesamt in dem zentral dargestellten Wunsch nach einem individuellen – von Andreas unabhängigen – Alter münden. Während Lili diesen Gesichtspunkten im Text auch juristisch nachzugehen versucht,48 können entsprechende Schritte historisch nicht nachvollzogen werden. Die langwierigen in der Analyse deutlich gewordenen Prozesse, die zur Eheauflösung und schließlich zur Namens- sowie Personenstandsänderung führen, tauchen im Text nur als finale Effekte auf. Auf diese Art und Weise wird in Fra Mand til Kvinde ein Bild gezeichnet, das eine Selbstverständlichkeit der bürokratischen Akte suggeriert, die aus historischer Sicht so nicht gegeben ist. Angesichts dieser Diskrepanz scheint die auf mehreren Ebenen greifende Prozesshaftigkeit zunächst verloren zu gehen. Mit Hilfe einer näheren Betrachtung der narrativ berücksichtigten finalen Effekte, die hier als kartographische Referenzpunkte fungieren, ist es jedoch nicht nur möglich, den juristischen Zusammenhängen, sondern auch den Kodierungsprozessen zwischen Ereignis und Text nachzugehen. Dabei stellt sich vor allem die Frage, welche Funktion die literarischen Auslassungen übernehmen.

46 Runte begründet die Mythenbildung damit, dass die entsprechenden Dokumente für eine „quasi-polizeiliche[ ] Überprüfung von Personen oder Lebensereignissen“ nicht zur Verfügung stünden, Runte 1996, S. 433f. 47 Wie bereits erwähnt, hätte es Lili laut Fra Mand til Kvinde bevorzugt, einen Nansen-Pass zu erhalten, jegliche Staatsangehörigkeit aufzugeben und einen von Andreas separaten Eintrag im Ministerialregister zu erwirken, so dass Andreas’ eigenständige Existenz nicht ausgelöscht wäre, vgl. 3.2.5. 48 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 156ff.

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Zunächst fällt auf, dass sich Elvenes zwischen zwei Ebenen bewegt, zu denen sie jeweils nur beschränkt Zugang erhält. Ihre Handlungsspielräume sind durch tradierte Muster und weitere Agenten vorstrukturiert. Auf historischer Ebene agiert Elvenes als Antragstellerin, die ihr Anliegen einbringen kann; darüber hinaus hat sie jedoch wenig Einblick in das rechtliche Geschehen und kann nicht aktiv in die damit verbundenen Prozesse eingreifen. Folglich deckt sich Elvenes’ Erfahrung in vielen Fällen nicht mit den komplexen juristischen Vorgängen. Der eingeschränkte Zugang zu Informationen überträgt sich dementsprechend in den literarischen Text und kann darüber hinaus auch als Mitgrundlage für weitere Auslassungen gelesen werden. Vor diesem Hintergrund entfaltet sich ein komplexes Bild bezüglich der Handlungsmöglichkeiten von Lili Elbe und deren Rückwirkung auf Elvenes. Auch der narrative Raum ist vorstrukturiert, bietet jedoch neue Möglichkeiten der Subjektivierung. Dabei wird die historische Person auf den ersten Blick zu einer Projektionsfläche, deren Einforderung einer staatlichen Anerkennung der eigenen Identität hinter der Logik der literarischen Figur verschwindet. Auf der einen Seite geht dies mit dem Verlust der eigenen Stimme und somit einer Entmächtigung einher. Auf der anderen Seite schafft diese narrative Glättung der juristischen Prozesse aber den Raum für eine neue Subjektposition: Die Selbstverständlichkeit, mit der Lili Elbes Identität im literarischen Gefüge Anerkennung findet, suggeriert, dass sich für sie ein rechtlich abgesicherten Platz im gesellschaftlichen Gefüge findet – eine Suggestion, die eine Ermächtigung bewirkt. Diese literarische Darstellung verstellt jedoch den Blick auf die Tatsache, dass es im staatlichen Gefüge für bestimmte Körper eben keinen sicheren Raum gibt und die Einforderung eines solchen mit hohen Kosten auf Seiten des Subjekts verbunden ist. Die bei Elvenes juristisch verhandelten Fragen des Personenstands, des Vornamens und der Eheführung orientieren sich eng an den Vorgaben eines Systems der Zweigeschlechtlichkeit. In Bezug auf Elvenes wird diese Verflechtung in den ministerialen und gerichtlichen Prozessen sehr deutlich, dennoch scheinen diese Instanzen trotz der unsicheren Rechtslage eine optimale Lösung für die Antragstellerin zu suchen. Dass diese Bemühungen sich auf das Wohlbefinden des Subjekts auswirken, wird insbesondere in Fra Mand til Kvinde deutlich. Der Regelung dieser Angelegenheiten und der Anerkennung der eigenen Identität wird dort eine prominente Rolle bei der psychischen Stabilisierung der Protagonistin zugedacht.49 Trotz der für Elvenes gefundenen Lösungen scheint es mir bedeutsam, die Bindung des Rechtssystems an binäre Vorstellungen von Geschlecht sowie eine heteronormative Grundvorstellung von Sexualität in diesem Zusammenhang nicht aus den Augen zu verlieren, denn diese Verflechtung erweist sich als Grundlage einer Reihe von Diskriminierungsstrukturen. Die daran anschließenden strafrechtlichen

49 Vgl. Fra Mand til Kvinde 1931, S. 165.

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Aspekte stellen dabei nicht nur eine weitere frappante Leerstelle in Fra Mand til Kvinde dar, sondern sind auch in der justizministerialen Akte kaum evident. Bei der Betrachtung der sexualwissenschaftlich nachgezeichneten Entwicklungslinien wird deutlich, dass das Strafrecht bei Individuen, denen geschlechtliche und/oder sexuelle ‚Devianz‘ zugeschrieben wird, wiederholt eine Rolle spielt. Die daran geknüpfte staatliche Überwachung und Regulierung individueller Körper, wie sie bei Cadwallader anklingt, wirft somit die Frage auf, wie die juristischen Prozesse ohne jene durch den Gerichtsärzterat als rechtlich legitimierend bewerteten Operationen abgelaufen wären. Insbesondere die Beiträge von Weber in Die Freundin zeigen – wenn auch für Deutschland – einen regulierten und oft versperrten Zugang zu integrativen Instrumenten innerhalb des Rechtssystems auf.50 Doch weder bei den Studien des literarischen Textes noch dem der historischen Quellen lassen sich Hinweise auf diesen Themenkomplex finden – lediglich der kleine Vermerk Zahles, die Zulassung des Namens auch an das Strafregister zu übermitteln, verdeutlicht, dass die Transgression des Zweigeschlechtersystems auch strafrechtlich relevant ist und die grundlegende Rechtsprechung alteritäre Subjekte durch Nichtberücksichtigung in eine Art juristischen Limbus verbannt. Dieses fehlende Gefühl der Zugehörigkeit und der Gleichstellung wird für Elvenes/Elbe in dem der Protagonistin zugeschriebenen, aber nie gedruckten Vorwort deutlich, welches ich hier nochmals zitieren möchte: „Ein Zwitterwesen, Andreas Sparre, oder, wie sein bürgerlicher Name war, Einar Wegener, hat nach dem bürgerlichen Gesetz viele, viele Jahre als Mann gelebt, ist Künstler, Maler, gewesen, – war verheiratet. […] Ein junges, lebensfrisches Weib aufersteht aus Andreas ‚krankem und hinfälligen Körper.‘ Ein Jahr ist vergangen. Es war ein schweres Jahr, weil ich das einzige Wesen, ausserhalb aller Gesetze stehend, das heisst, von keinem Gesetzgeber vorher in Betracht gezogen, bin innerhalb einer Gesellschaft, die nur auf das Normale, Alltägliche, Allgewöhnliche eingestellt ist.“51

Bei einer Abweichung vom vermeintlich ‚Normalen‘ droht an vielen Stellen aber nicht nur ein juristisch unsicherer Schwebezustand, sondern auch eine strafrechtliche Verfolgung. Dieser Gefahr unterliegen bei operativen Interventionen zur vermeintlichen ‚Normalisierung‘ auch die Akteure der Medizin, solange keine Regelung für Eingriffe in den Geschlechts- und Reproduktionsapparat existiert.52 Zunächst paradox erscheinend läuft die Legitimierung dieser Eingriffe mit den entstehenden eugenisch motivierten Gesetzgebungen zusammen. Bei Betrachtung beider

50 Vgl. 3.3.3. 51 Elbe: Vorwort, S. 1f. 52 Vgl. Herrn 2005, S. 211.

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Aspekte aus Sicht einer Regulierung und ‚Normalisierung‘ des Staatskörpers wird hingegen deutlich, wie nahe die Motivation einer eugenischen Indikation an jener der geschlechtlichen Reintegration eines Menschen in die Gesellschaft liegen kann. Diese Verwandtschaft sollte sich dann auch zunehmend im juristischen Kanon vieler westlicher Staaten wiederfinden, wobei Dänemark mit den Gesetzesentwürfen zum Ende der zwanziger Jahre den Weg zu ebnen scheint und den ‚Preis‘ für individuelle Identität sukzessive erhöht.

6. Andere Zeiten, andere Horizonte? Ein Ausblick

Die Erfahrungen von Lili Elvenes lassen sich historiographisch an einem Punkt lokalisieren, der von komplexen Entwicklungen und zum Teil gegenläufig erscheinenden Veränderungen geprägt ist. Ihre Geschichte stellt sich dabei zwar weder als Einzelschicksal noch als historischer Ursprung einer modernen Debatte um Geschlechtsidentität dar, jedoch fallen die entsprechenden Ereignisse in eine Zeit, die durch diskursive Verschränkungen Handlungsspielräume auf besondere Art und Weise entstehen und verschwinden lässt. Die ambivalenten Effekte dieses Spannungsfeldes erweisen sich als nachhaltige Referenzpunkte für trans*-geschichtliche Entwicklungslinien, die sich nicht nur, aber insbesondere in Dänemark nachvollziehen lassen. Während Fra Mand til Kvinde noch seinen Weg an die Öffentlichkeit sucht, schließen sich die kurzfristig verfügbaren Artikulationsräume bereits. Medizin-technologische Fortschritte werden zunehmend an eine eugenische Rechtssprechung gebunden und im benachbarten Deutschen Reich ändern sich Ton und Zugang zur öffentlichen Debatte. Bevor ich die Zusammenhänge zwischen den nachfolgenden historischen Entwicklungen und den Effekten von Elvenes’ Erfahrungen skizziere, möchte ich kurz die Ergebnisse der Analyse mit der eingangs formulierten Fragestellung verknüpfen.

6.1 D IE S UBJEKTIVIERUNG

EINES RICHTIGEN

M ÄDCHENS

Zu Beginn meiner Untersuchung habe ich danach gefragt, wie ein geschlechtliches Subjekt konstruiert wird. Um mich den Ergebnissen meiner Analyse unter diesem Gesichtspunkt zu nähern, möchte ich zum Titel dieses Buches zurückkehren, welcher bewusst an Elvenes’ Beschreibung ihrer eigenen Erfahrung anknüpft: ‚Wie Lili zu einem richtigen Mädchen wurde‘. Mit dieser Formulierung wehrt sie sich nicht nur gegen die Zuschreibung, dass sie eine Bewegung von Mann zu Frau vollzogen habe, sondern macht auch die ihren Körper durchdringenden kulturellen Techniken

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sichtbarer. Die der Aussage immanente Prozesshaftigkeit und die Vorstellung von einem ‚richtigen Mädchen‘ implizieren, dass es auch ‚falsche‘ geben könne und eine empfundene Identität nicht zwangsläufig als eine ‚richtige‘ anerkannt werden muss. Über Elvenes’ zunächst profan anmutende Aussage wird die Komplexität der Somatechnics von Geschlecht anschaulich transportiert. Diese – die Foucault’sche Diskursanalyse bereichernde – theoretische Grundlage verräumlicht im Zusammenspiel mit der kartographischen Herangehensweise an das Material die Kreuzungspunkte zwischen den Diskursen und die Handlungsspielplätze von Elvenes zwischen merklichen und unmerklichen, zwischen frei gewählten und oktroyierten Techniken. In dem sich dadurch mehrdimensional konstituierenden Analyseraum eröffnen sich nicht nur Zugänge zum zweiten Teil der Fragestellung, der sich der Verschaltung zwischen Populärkultur und Wissenschaft sowie der Etablierung medizinischer und rechtlicher Standards annimmt, sondern auch zu den von Foucault herausgestellten Schnittpunkten, an denen eine Subjektivierung innerhalb des diskursiven Gefüges möglich wird. Die Betrachtung der auf unterschiedliche Art und Weise miteinander interagierenden öffentlichen, medizinischen und rechtlichen Diskurse verdeutlicht, wie sich im Rahmen des damit einhergehenden Transfers von Wissen, Normen und Praktiken ein Spannungsfeld zwischen konsolidierenden und brechenden Effekten entfaltet. Einen zentralen Ausgangpunkt stellen in diesem Zusammenhang jene Körperpolitiken dar, die aus der medizinischen Wissensproduktion erwachsen und über die Verschaltung mit den oben genannten öffentlichen und rechtspolitischen Prozessen eine Festigung erfahren. In dieser Interaktion konstituiert sich der Rahmen für gesellschaftliche Teilhabe, welcher für Elvenes insbesondere durch die Grenzen des Zweigeschlechtersystems abgesteckt wird. Während diese Wechselbeziehungen primär zur Konsolidierung einer bestehenden Ordnung beitragen, lassen sie sich an Transgressionspunkten wie Elvenes’ Körper brechen. Die sich zwischen dem Zugang zu Wissen und der Möglichkeit der Artikulation auftuende Schnittmenge gibt dabei das Potential für Kritik, für selbstbestimmte Identitätskonzeptionen und Applikationen von Techniken sowie für eine Rückkoppelung in die dominanten Diskurse vor. Für Elvenes ergeben sich daraus spezifische Handlungsspielräume, die den Rahmen ihrer Agency konstituieren. Die Nachvollziehbarkeit der möglichen Ermächtigungsprozesse ist zu großen Teilen, der – wenn auch eingeschränkten – Artikulation über Fra Mand til Kvinde zu verdanken. In seiner Mehrdimensionalität und seinem kartographischen Potential wahrgenommen wird die somatechnische Bedeutung des Textes evident und sein Potential als Technik der Subjektivierung kann freigelegt werden. Für Elvenes manifestiert sich dieser Prozess in dem von ihr gewählten, jedoch nicht veröffentlichten Titel: ‚Wie Lili zu einem richtigen Mädchen wurde‘.

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Im historischen Kontext betrachtet, stellt sich Elvenes’ Erfahrung jedoch nicht als eine Progressionsgeschichte dar. Die diskursiven Interaktionen, die sich durch die Schaffung von Möglichkeitsräumen auszeichnen, tragen ein ebenso desubjektivierendes Potential in sich, welches insbesondere in den Transferprozessen zwischen dem medizinischen Bereich und der Rechtssprechung deutlich wird. Die historischen Entwicklungen zeigen, wie nachhaltig die sich in diesen Zusammenhängen etablierenden Wissensregime in die folgenden Dekaden wirken.

6.2 M ANIPULATIONEN

DER

K EIMDRÜSENFUNKTION

Karl Kristian Steincke, der seit Mitte der zwanziger Jahre abwechselnd die Funktionen des dänischen Justiz- und Sozialministers bekleidet, spielt eine zentrale Rolle nicht nur bei der rechtlichen Entkriminalisierung von gleichgeschlechtlichen sexuellen Akten,1 sondern auch bei der parallel verlaufenden Etablierung einer eugenischen Bewegung im politischen Rahmen. Mit seinem 1920 veröffentlichten zweiteiligen Werk Fremdtidens Forsørgelsesvæsen (Das Versorgungswesen der Zukunft) legt er eine systematische Argumentation für zukünftige rassenhygienische Gesetzgebungen in Dänemark vor, die sich an der Schnittstelle von eugenischen Überlegungen und der Sozialpolitik des Wohlfahrtstaates bewegt.2 6.2.1 Die eugenische Regulierung der Fortpflanzung Dringenden Handlungsbedarf sieht Steincke angesichts einer drohenden ‚Degeneration‘ der Bevölkerung, der er zunächst mit dem Vorschlag der Fortpflanzungskontrolle durch ein eugenisch motiviertes Eheverbot entgegenzutreten versucht. Dementsprechend finden sich bereits in der Konstitutionsphase jenes 1922 verabschiedeten Ehegesetzes, das auch bei der ministerialen Debatte zu Elvenes eine Rolle spielt, erste Einflüsse eugenischen Denkens wieder.3 Doch angesichts der begrenzten Kontrollmöglichkeiten außerehelicher Beziehungen erweisen sich diese Überlegungen nur als begrenzt fruchtbar, so dass sich die Frage nach Keimdrüseneingriffen in den Vordergrund drängt.4

1

Vgl. Rosen 2007, S. 69f.

2

Vgl. Steincke, Karl Kristian: Fremtidens Forsørgelsesvæsen: Oversigt over og Kritik af den samlede Forsørgelseslovgivning samt Betænkning og motiverede Forslag til en systematisk Nyordning, Kopenhagen 1920.

3

Vgl. Koch 2010, S. 53.

4

Vgl. Christensen 1998, S. 132.

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Rassenhygienische Überlegungen sind jedoch nicht nur auf die Bereiche der Politik und der daran angebundenen Gerichtsmedizin beschränkt, sondern manifestieren sich ebenfalls in der einflussreichen dänischen Sexualreformbewegung, bei der Leunbach eine zentrale Position einnimmt.5 Dessen spezifisches Verständnis von sexueller Befreiung sowie vom Zugang zur Prävention und zum legalen Abort6 ergänzt sich durch seine Vorstellung, die ‚weiße Rasse‘ vor dem Untergang bewahren zu müssen.7 Über diese Art der Verknüpfung sexualpolitischer Ziele werden in den jeweiligen heterogenen Reformbewegungen zwangsläufig Streitpunkte sichtbar. Während ein rechtlich geregelter Zugang zur Schwangerschaftskontrolle, also auch zur Sterilisation – für die sich Leunbach ebenfalls ausspricht – von einem Teil der feministischen Kreise ob der sich für die Frauen ergebenen Möglichkeit einer körperlichen Selbstbestimmung begrüßt wird,8 äußert sich Steincke in diesem Zusammenhang skeptisch gegenüber solchen auch einer positiven Eugenik entgegenlaufenden Maßnahmen.9 Die bis dahin eher eigenständig verlaufenden Debatten werden 1924 durch das Einsetzen einer Sterilisationskommission gebündelt. Nachdem in Skandinavien bereits sporadisch solche Eingriffe vorgenommen wurden, zielt die Arbeit der Kommission auf eine Klärung des rechtlichen Rahmens, um sowohl den Zugang als auch die Indikation gesetzlich zu verankern.10 Angesichts der Fragen nach der Vereinbarkeit eines solchen Ansatzes der Geburtenkontrolle mit ethisch-moralischen Fragen sind auch die Kirchen in diese Debatte involviert. Zudem spielen strafrechtliche Aspekte in die Prozesse hinein.11

5

Zur dänischen Sexualreformbewegung, vgl. Hertoft, Preben: Det er måske en galskab. Om sexualreform-bevægelse in Danmark, Kopenhagen 1983.

6

Leunbach eröffnet in den zwanziger Jahren eine eigene Abtreibungsklinik, vgl. Koch 2010, S. 64.

7

Leunbach veröffentlicht 1925 ein kleines Buch, das sich mit dieser Thematik auseinandersetzt, vgl. Leunbach, Jonathan Høgh von: Racehygiejne, Arvelighed og Udvikling, Kopenhagen 1925.

8

Auch in der Frauenbewegung werden eugenische Sichtweisen vertreten, vgl. Graugaard 1997, S. 103.

9

Vgl. Koch 2010, S. 65ff; eine umfassende Studie dieser Debatten zur Eugenik und den sich daran anschließenden Gesetzgebungen findet sich bei Graugaard, vgl. Graugaard 1997, S. 103-144.

10 Vgl. Koch 2010, S. 67ff. 11 In diesem Zusammenhang ist ebenfalls die Behandlung eines als homosexuell klassifizierten und strafrechtlich auffälligen Mannes durch Knud Sand von Bedeutung: Sand transplantiert diesem nach der Steinach’schen Methode zunächst neue Testikel; als das

A NDERE Z EITEN , ANDERE H ORIZONTE ?

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Die Kommission ist unterdessen damit beschäftigt, anhand einer Unterscheidung von (auch strafrechtlich relevanten) Verhaltensmerkmalen und erblicher Disposition zu bestimmen, welche Personen als ‚degeneriert‘ anzusehen seien, wobei eine Einigung auf folgende Kategorien zu Stande kommt: ‚Imbezillität‘ (‚Intelligenzdefekt‘), ‚psychopathische Degeneration‘, Epilepsie‘, ‚Alkoholismus‘, ‚Schizophrenie‘, ‚Paranoia‘ und ‚manisch-depressive Psychose‘.12 Doch wird die Debatte nicht nur auf psychiatrischer, sondern auch auf geschlechtlicher Ebene geführt, da zunächst nicht klar ist, ob die Eingriffe auf Männer zu beschränken seien oder auch bei Frauen Anwendung finden sollen. Den Befürchtungen, dass es einen Gesetzesmissbrauch durch Frauen geben könne, die ein unbeschwertes Sexualleben führen wollen, begegnet Sand mit dem Argument der Existenz von Menschen unklaren Geschlechtscharakters, welches eine Erweiterung der Gesetzgebung erforderlich mache. Diesem Einwand folgt die Kommission und öffnet ihre Überlegungen auch in Richtung der Sterilisation oder Kastration von weiblichen Individuen.13 Im Mai 1929 wird ein entsprechendes Gesetz verabschiedet, das bereits im Juni in Kraft tritt – unterzeichnet vom amtierenden Justizminister Zahle.14 Es reguliert die vermeintlich freiwillige Sterilisation von Menschen, die in rassenhygienischer Hinsicht eine Gefahr darstellen, bleibt jedoch auf einen klinischen Kontext beschränkt. Schon ob dieser räumlichen Begrenzung erscheint die Möglichkeit einer Einwilligung in einen Eingriff fragwürdig. Die ‚erzwungene Freiwilligkeit‘ spiegelt sich dann auch im 1933 verabschiedeten Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses wider, das die rassenhygienischen Strategien des Dritten Reichs 1934 rechtlich implementiert.15 Die Bestimmungen und Kategorisierungen ähneln der dänischen Vorlage, geben dem medizinischen Personal in bestimmten Kontexten jedoch mehr Entscheidungsbefugnisse. Dennoch wird diese als ‚Sterilisationsgesetz‘ bezeichnete rechtliche Regelung ob notwendig erachteter Ergänzungen bereits bei einer Versammlung der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie im Oktober 1933 diskutiert. Dort werden im Rahmen eines Referats zu ‚Eingriffen aus eugenischer Indikation‘ verschiedene Stimmen laut, die noch weitreichendere Regelungen für die medizinische Praxis fordern. Ein Strafrechtsexperte konstatiert, dass mit dem neuen Gesetz, das auf einer (vermeintlichen) Freiwilligkeit beruhe, der sonst als Körperverletzung geltende

gewünschte Resultat jedoch ausbleibt, erwirkt er über eine justizministeriale Zulassung die als therapeutisch erfolgreich befundene ‚Totalkastration‘ des Individuums, vgl. Graugaard 1997, S. 120. 12 Vgl. Koch 2010, S. 76ff. 13 Vgl. ebd., S. 81. 14 Vgl. Lov om Adgang til Sterilisation, 01.06.1929. 15 Vgl. Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, 14.07.1933.

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Eingriff der Unfruchtbarmachung legalisiert werde.16 Trotz dieser menschenrechtlichen Bedenken werden die neuen Regelungen von einem Großteil der Referenten und *Diskussionsteilnehmer*innen befürwortet. Neben der beschlossenen ‚eugenischen Sterilisation‘ werden zudem Rufe nach einer Legalisierung der ‚eugenischen Schwangerschaftsunterbrechung‘ laut.17 Gegen diese spricht sich jedoch Eugen Fischer, Mediziner, Anthropologe und Wegbereiter nationalsozialistischer ‚Rassentheorien‘, aus: Denn der Schwerpunkt eines medizinisch verfolgten Gesamtwohls läge vor der Empfängnis. Der Umgang mit antikonzeptionellen Mitteln und der Schutz der Keimdrüsen stehen sich bei der ‚Erbhege‘ und der ‚Erbmerze‘ also konträr gegenüber.18 Ein weiteres Referat nimmt sich der technologischen Optionen bezüglich der Sterilisationseingriffe an und stellt fest, dass zu diesem Zeitpunkt nur die operative Variante zur Verfügung stehe, dass die hormonelle Sterilisierung ob des aktuellen Forschungsstandes noch zu unsicher sei und dass das Röntgenstrahlenverfahren keine Sterilisation, sondern eine vom Gesetzgeber nicht vorgesehene Kastration darstelle.19 Bisher spielen bei kaum einem Beitrag ethische oder moralische Bedenken eine Rolle. Diese werden erst durch den Pastoralmediziner Albert Niedermeyer thematisiert, der sich dieser Fragen auf individualistischer Ebene annimmt, jedoch konstatiert, dass „[d]ie Rechte des Individuums […] nicht gegen die Lebensnotwendigkeiten der Gemeinschaft ausgespielt werden [können].“20 Dennoch gebiete es die christliche Moral, sowohl der Sterilisierung als auch der Fruchttötung entschieden entgegenzutreten. Im Rahmen der sich anschließenden Erläuterungen zur Ehe und dem ausschließlich zur Fortpflanzung dienenden Geschlechtsleben stellt Niedermeyer Parallelen zwischen der avisierten eugenischen Praxis und entsprechenden Eingriffen bei ‚krankhaften Triebabweichungen‘ her: „Auf welche gefährlichen Abwege jedoch auch ärztliches Denken zu geraten droht – wie das Gefühl für den Ernst und die Tragweite der ethischen Erwägungen gefährdet ist, zeigen zahlreiche ärztliche Aufsätze, in denen als Vorzug der Sterilisierung gepriesen wird, daß sie den Trieb und die Lustfähigkeit erhält, daß es dem Sterilisierten möglich sei, ein ‚normales Geschlechtsleben‘ zu führen. Diese Auffassung unterscheidet sich in nichts davon, wenn man

16 Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie: „2. Referat: Eingriffe aus eugenischer Indikation“, in: Archiv für Gynäkologie, Berlin 1933, 1. u. 2. Heft, Bd. 156, S. 102-152, hier S. 104. 17 Vgl. ebd., S. 108f., S. 111 u. S. 137. 18 Vgl. ebd., S. 117ff. 19 Vgl. ebd., S. 131f. 20 Ebd., S. 145.

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unglücklichen Zwitterwesen durch naturwidrige Eingriffe die Keimdrüsen vertauscht, schließlich zum Zweck onanistischer Befriedigung einen Darmblindsack anoperiert und das Ganze dann ‚Ermöglichung eines normalen Geschlechtlebens‘ nennt, wie es der sowjetrussische Gynäkologe Kakuschkin getan hat. Scheidenplastiken dieser Art sind glänzend gerechtfertigt wie im berühmten Fall von Wagner, in dem sie bei einer früher normalen Frau noch mehrere Geburten ermöglichten. – In Fällen, wie dem Falle ‚Lili Elbe‘ von Warnekros mögen rein individualistisch solche Eingriffe gerechtfertigt scheinen – eugenisch und ethisch sind sie abzulehnen. Wenn man aber in solchen Fällen von ‚normalem Geschlechtsleben‘ spricht – und ich sehe auch keinen Unterschied bei der Sterilisierung – merkt man denn nicht, daß die Duldung einer solchen Auffassung des Geschlechtslebens die Axt an die Wurzeln des Gemeinschaftslebens legt? Merkt man nicht, daß solche Auffassungen den Sinn des Geschlechtslebens bis ins Letzte hinein verkehren und entleeren? Daß damit ein viel schwererer und unheilbarerer Schaden heraufbeschworen wird, als der, den man bekämpfen wollte?“21

Hier zeigt sich, dass sich Niedermeyers Argumentation nur gegen die mit christlichen Werten nicht vereinbare Praxis der Sterilisierung wendet, ihm das eugenische Gedankengut hingegen nicht fremd ist. Dass Elvenes in diesem Zusammenhang auftaucht, erscheint ob der Verknüpfung von Rassenhygiene und Sexualmedizin wenig überraschend, doch werden die potentiellen Auswirkungen der in diesem Rahmen erwogenen psychopathologischen Diagnosen noch deutlicher.22 Angesichts solcher Standpunkte wird die Notwenigkeit, Lilis letzten Eingriff narrativ an einen Reproduktionsgedanken zu binden, nachvollziehbar. Diese deutschen Entwicklungen beeinflussen auch die mittlerweile seit vier Jahren wirksame dänische Gesetzeslage zur Sterilisation. Da es sich dabei um eine vorläufige, auf fünf Jahre beschränkte Regelung handelt, die nach Ablauf sowohl parlamentarisch als auch durch den Gerichtsärzterat evaluiert werden soll,23 gewinnen auch die neuen und schärferen Gesetzgebungen in den Nachbarländern an Bedeutung, wobei sich die Achse Dänemark-Deutschland als zentral erweist. 1934 legt der Rat seinen Bericht vor und schafft damit die Grundlage für die Revision des dänischen Gesetzes.24 Während die Ergebnisse der – durchweg an vermeintlich männlichen Sexualverbrechern – durchgeführten Eingriffe sowohl in kriminaltherapeutischer als auch sozialer Hinsicht als positiv bewertet werden, kritisiert die Evaluationskommission den Anwendungsradius der bis dahin gültigen Regelung. Dabei werden neben der klinischen Anbindung und der Beschränkung auf psychiatrische Krankheitsbilder

21 Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie 1933, S. 147. 22 Vgl. 4.2. 23 Vgl. Koch 2010, S. 102f.; vgl. Graugaard 1997, S. 129. 24 Vgl. Koch 2010, S. 105.

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auch die erforderliche Mündigkeit und Zustimmung des zu sterilisierenden Subjekts thematisiert.25 Ob der europäischen Entwicklungen wird der schärfere, mit mehr Zwang verbundene Entwurf für eine Gesetzesrevision von Justizminister Zahle befürwortet26 und tritt im Mai 1935 als Lov om Adgang til Sterilisation og Kastration (Gesetz über den Zugang zu Sterilisation und Kastration) in Kraft. Dieses beinhaltet einen Paragraphen, der sich explizit dem Geschlechtstrieb widmet: „Die Kastration einer Person kann nach einer vom Gerichtsärzterat eingeholten Erklärung vom Justizminister zugelassen werden, wenn der Geschlechtstrieb des Betreffenden entweder darauf gerichtet ist, ein Verbrechen zu begehen und somit eine Gefahr für die Gesellschaft darstellt oder beträchtliches seelisches Leiden oder eine soziale Herabsetzung für ihn bedeutet.“27

Hier spiegelt sich die Stellung der Gerichtsärzterates auf unterschiedlichen Ebenen. Zum einen wird dessen körperpolitische Machtposition an der Schnittstelle medizinischer und rechtlicher Diskurse deutlich, zum anderen der sexualwissenschaftliche Hintergrund seines Vorsitzenden Knud Sand, dessen Positionen sich in der Formulierung dieses Paragraphen wiederfinden und eine so mannigfaltige Auslegbarkeit dieses Gesetzestextes produzieren, dass dieser über fünfzehn Jahre später auch bei der Orchiektomie Christine Jorgensens Anwendung finden kann. Zunächst spielen jedoch die Aushandlungen der hormonellen Balance eine Rolle. Denn während auf gerichtsmedizinischer Ebene in die Hormonproduktion der Keimdrüsen eingegriffen wird, isoliert die Endokrinologie Geschlechtshormone und macht diese in synthetischer Form verfügbar. 6.2.2 Synthetische Hormone, stille Geschlechtswechsel und ‚plastische Kriegserrungenschaften‘ Während sich das Forschungsfeld der Endokrinologie in den Hochzeiten von Steinach und Sand als ein medizinisches etabliert, entwickelt es sich im Laufe der zwanziger Jahre sukzessive zur Domäne der Biochemie. Im Rahmen der Ablösung dieser Pioniergeneration der Hormonforschung gelingt bereits in der ersten Hälfte

25 Vgl. Koch 2010, S. 123f. 26 Vgl. ebd., S. 131. 27 „Kastration af en Person kan efter indhentet Erklæring fra Retslægeraadet tillades af Justitsministeren, naar den paagældenes Kønsdrift enten udsætter for at begaa Forbrydelser og saaledes betyder en Fare for Samfundet eller medfører betydelige sjælelige Lidelser eller social Forringelse for ham.“, Lov om Adgang til Sterilisation og Kastration, 11.05.1935, §2.

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der dreißiger Jahre die chemische Isolation von Testosteron.28 In dieser von ihm selbst so genannten ‚chemischen Periode der Endokrinologie‘ verliert Sand zunehmend an wissenschaftlicher Bedeutung,29 doch wartet Dänemark bereits mit einem neuen prominenten Vertreter dieser Disziplin auf: Christian Hamburger. Dieser wird 1933 mit einer Arbeit zur Hormonforschung promoviert, für die ihm Sand zehn Männer, die zuvor auf Grund sozialer Indikation – im Rahmen der Gesetzgebung von 1929 – kastriert wurden, als Untersuchungsobjekte zur Verfügung stellt.30 Die wissenschaftliche Bedeutung Hamburgers sollte jedoch noch etliche Jahre auf sich warten lassen. Unterdessen sind die internationalen Entwicklungen in vollem Gange. Nachdem in Deutschland bereits seit 1924 Ovarialpräparate zur Behandlung der Menopause in Produktion gehen und neue Wege der Verjüngung verkünden,31 eröffnet die chemische Synthese von Testosteron völlig neue Möglichkeiten auf dem pharmazeutischen Markt und in der medizinischen Praxis der späten dreißiger Jahre.32 Die billigen synthetischen Produkte sind leicht zugänglich und werden nicht nur zur Optimierung der eigenen Geschlechtlichkeit genutzt, sondern auch bei den verschiedensten Diagnosen als Medikation eingesetzt.33 In der Tradition Steinachs wird zudem versucht, die weiterhin als pathologisch betrachtete Homosexualität zu behandeln.34 Angesichts dieser verschiedenen Anwendungsbereiche und der Verfügbarkeit in Tablettenform können sich die Hormonpräparate zu stillen Subjektivierungstechnologien für jene Menschen entwickeln, die sich von der ihnen zugewiesenen Geschlechterrolle auch körperlich zu distanzieren suchen. Einer der Menschen, die sich mit Hilfe der Endokrinologie der Verkörperung ihrer Identität nähern, ist Michael Dillon. Bei der Geburt dem weiblichen Geschlecht zugewiesen und als Mädchen erzogen nimmt er von 1938 an Testosteron-Tabletten35 und beschäftigt sich

28 Vgl. Holm, Marie-Louise u. Morten Hillgaard Bülow: Det stof, mænd er gjort af – Konstruktionen af maskulinitetsbegreber i forskningsprojekter i Danmark fra 1910’erne til 1980’erne, Roskilde 2008, S. 112f., Open Access: http://rudar.ruc.dk/bitstream/1800/ 3629/1/Det%20stof,%20m%C3%A6nd%20er%20gjort%20af.pdf (zuletzt eingesehen am 02.05.2015). 29 Vgl. Graugaard 1997, S. 85 u. S. 93. 30 Vgl. ebd., S. 77. 31 Dabei handelt es sich nicht um synthetische Östrogene, vgl. ebd., S. 86f. 32 Zur Entwicklung der Hormonpräparate in den 1930ern, vgl. ebd, S. 87ff. 33 Vgl. Holm/Bülow 2008, S. 127ff. 34 Vgl. Graugaard 1997, S. 97. 35 Vgl. Kennedy, Pagan: The First Man-Made Man: The Story of Two Sex Changes, One Love Affair, and a Twentieth Century Medical Revolution, New York 2007, S. 5.

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auch intellektuell mit dem Verhältnis von Geschlecht und Endokrinologie. Aus diesen Überlegungen erwächst 1946 ein unscheinbares, kleines Buch mit dem Titel Self, welches jenseits des einleitenden Bezuges kaum erahnen lässt, wie nahe in diesem Text wissenschaftlicher Beitrag und subjektive Artikulation liegen.36 Dillon ist jedoch kaum ob dieser Schrift oder seinem persönlichen Verhältnis zu einer sich rasant entwickelnden biochemischen Disziplin in Erinnerung geblieben, sondern als vermeintlich ‚erster Frau-zu-Mann-Transsexueller‘, da ihm vom plastischen Chirurgen Harold Gillis im Rahmen vieler Eingriffe operativ ein Penis konstruiert wird.37 Die Technik dieser Phalloplastik hat Gillis bei der Behandlung von Kriegsverletzungen entwickelt – ein Transferprozess, der sich im Rahmen chirurgischer Neuerungen in diesem Feld insbesondere in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als überaus fruchtbar erweist. Kurz nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs, in jenem Jahr, in dem Dillon sowohl seine endokrinologische Studie veröffentlicht und den langwierigen operativen Behandlungszyklus beginnt, wird Hamburger Leiter der Hormonabteilung des staatlichen Seruminstituts in Kopenhagen.38 Die folgenden Jahre in dieser Wirkungsstätte sollten nicht nur seinen wissenschaftlichen Ruf prägen, sondern ihn auch in den internationalen Populärmedien bekannt machen.

6.3 F RA M AND TIL K VINDE R ELOADED ? C HRISTINE J ORGENSEN , 1952 Nachdem die New Yorker Daily News, wie zu Beginn dieser Arbeit konkretisiert, den Dezember des Jahres 1952 mit einer Sensation aus Dänemark eröffnet hat, erreichen die lokalen Nachrichten um Christine Jorgensen am Folgetag auch Kopenhagen. Politiken übertitelt seine Meldung mit dem altbewährten ‚Fra Mand til Kvinde‘ und erinnert in einem selbstreferentiellen Artikel wage an die Frau, der das Blatt mehr als zwanzig Jahre zuvor die gleiche Überschrift widmete.39 Im Schatten

36 Vgl. Dillon, Michael: Self: A Study in Ethics and Endocrinology, London 1946. 37 Die an die Konstruktion eines Genitals gebundene zeitliche Einordnung erinnert stark an die entsprechende Debatte bei Elvenes, vgl. Einleitung zu Kapitel 2; eine ausführliche Präsentation dieser Eingriffe erfolgt jedoch erst 1957 im Rahmen eines zweibändigen Standardwerks zur plastischen Chirurgie, vgl: Gillies, Harold u. Ralph Millard: The Principles and Art of Plastic Surgery. Volume II, London 1957, S. 370ff. 38 Vgl. Holm/Bülow, S. 119. 39 Vgl. Erol: „Fra Mand til Kvinde“, in: Politiken, 02.12.1952, S. 1 u. S. 14; in der Erinnerung des Blattes hat sich Elvenes damals von einem Zeitungsartikel zu den Veränderungen in ihrem Leben inspirieren lassen.

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Christine Jorgensens sollte Elvenes eine kurze populärkulturelle Renaissance erfahren. Doch bevor Jorgensen die internationalen Titelseiten schmückt, liegt ein langer Weg vor ihr. Ähnlich wie bei Dillon führt dieser anfänglich über einen Kontakt mit der Endokrinologie. Dabei beschreibt sie die Begegnung mit Paul de Kruifs 1945 veröffentlichtem Buch The Male Hormone als zentrales Erlebnis in Bezug auf ihr Selbstverständnis.40 Um die Vorgänge in ihrem Körper besser verstehen zu können, beginnt Jorgensen zudem eine medizinische Ausbildung und behandelt sich selbst mit mittlerweile verfügbaren Östrogenpräparaten. Angesichts einer Reihe demotivierender Kontakte mit der amerikanischen Medizin und Psychiatrie beschließt sie, ihr Glück im vermeintlich fortschrittlicheren und offeneren Skandinavien zu versuchen und findet 1950 den Weg zum Kopenhagener Seruminstitut. Dort hat sich Hamburger mittlerweile etabliert. Seine Publikationen zu den Sexualhormonen weisen dabei eine Nähe zur Geschlechtersystematik Sands und zu Teilen der frühen Sexualwissenschaft auf. Mit dem Verständnis eines Kontinuums, das sich zwischen den Polen zwei essentieller Geschlechter bewege, widmet er sich nun auch Jorgensens Anliegen.41 6.3.1 Anbindung an historische Fixpunkte Jorgensen wird von Hamburger als Eonist oder echter Transvestit klassifiziert und in Folge der ersten Konsultation von weiteren Medizinern behandelt: dem bereits im Rahmen der Weltliga für Sexualreform aktiven Psychiater Georg Stürup42 sowie den Chirurgen Hans Wulff, Paul Fogh-Andersen und Erling Dahl-Iversen. Da eine psychotherapeutische Behandlung nicht anschlägt und Jorgensen die Behandlung mit Testosteron rigoros ablehnt, entscheidet sich Hamburger für eine Testbehandlung mit Östrogenen, um dadurch eine testikuläre Inaktivität zu erwirken. Dabei handelt es sich um eine zeitlich begrenzte hormonelle Kastration.43 Da die Hormongabe zu Versuchszwecken zwischendurch unterbrochen wird, um die Reaktionen der Probandin zu testen, wird diese durchweg psychiatrisch be-

40 Vgl. Jorgensen, Christine: A Personal Autobiography, San Francisco 2000 (1967), S. 70ff.; vgl. De Kruif, Paul: The Male Hormone, New York 1945. 41 Vgl. Holm/Bülow, S. 120, S. 126 u. S. 131. 42 Stürup arbeitet zudem in den 1930er und 1940ern zu ‚psychischen Abnormitäten‘ bei Strafgefangenen und ist dabei eugenischen Denkfiguren verpflichtet, vgl. Holm/Bülow, S. 138. 43 Vgl. Hamburger, Christian, Georg K. Stürup u. Erling Dahl-Iversen: „Tranvestism. Hormonal, Psychiatric and Surgical Treatment“, in: The Journal of the American Medical Association, 30.05.1953, Nr. 5, Volume 152, S. 391-96, hier S. 392ff.

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treut. Hamburger und Stürup stellen ob ihres therapeutischen Ansatzes jedoch eine sich sukzessive zeigende Verbesserung der mentalen Verfassung von Jorgensen fest.44 Doch auch ihrem Wunsch nach einer operativen Kastration wird entsprochen. Dabei, so das medizinische Team, würde sie von der weiterhin gültigen dänischen Kastrationsgesetzgebung aus dem Jahr 1935 profitieren. Somit wird die eugenisch und strafrechtlich motivierte Indikation zum Subjektivierungsschnittpunkt, jedoch um den Preis einer Pathologisierung des Geschlechtstriebes.45 Hinter den Kulissen wirkt Knud Sand – weiterhin Vorsitzender des Gerichtsärzterats – wieder an den Entscheidungsprozessen mit. Denn laut der gesetzlichen Regelung liegen die Kompetenzen der Anerkennung von Subjektivierungsbestrebungen weiterhin beim Rat und beim Justizministerium.46 Nachdem die Zustimmung dieser Institutionen vorliegt, wird der Eingriff nach einer viermonatigen Unterbrechung der Hormongabe bei Jorgensen vorgenommen. Die Östrogengabe wird anschließend fortgesetzt und nach einer Konsolidierung der hormontherapeutischen Ergebnisse und einer rechtlichen Klärung wird zudem der Penis amputiert und das Skrotum zu Labien modelliert. Eine Scheidenplastik wird entsprechend der Wünsche von Jorgensen, so das medizinische Team, nicht vorgenommen.47 Somit wird eine soziale Integration antizipiert, aber keine neue Geschlechtszugehörigkeit postuliert: „The patient will be able to move about freely without anyone suspecting that this is not a normal young woman but a male transvestite whose highest wishes have been fulfilled by the assistance of the medical profession and society.“48 Das Genitale scheint nun nicht nur in einer öffentlichen Debatte, sondern auch im medizinischen Diskurs das Keimdrüsenkriterium abzulösen. Die primären Geschlechtsorgane werden als Nachweis des Geschlechts angesehen und in der wissenschaftlichen Debatte bis in die vergangenen zwei Dekaden zum Teil noch als solche verhandelt. So spricht Dallas Denny Jorgensen ob der fehlenden Vagina den von dieser selbst empfundenen Geschlechtsstatus ab: „So let’s

44 Vgl. Hamburger et al. 1953, S. 394. 45 Hamburgers Grundverständnis dieses Eingriffs ist weiterhin ein eugenisches, vgl. Holm/Bülow, S. 137; Marie Louise Holm verweist in diesem Zusammenhang auch auf den ausschlaggebenden psychopathologischen Befund des ‚seelischen Leidens‘, vgl. Holm, Marie Louise: „Dansk transhistorie begyndte i et skæringspunkt mellem eugenik og diagnosen ‚sjælelige lidelser‘, in: Friktion: Magasin for køn, krop og kultur, 2. Jahrgang, Nr. 5, März 2015, o.S., Open Access: http://friktionmagasin.dk/?p=2429 (zuletzt eingesehen am 02.05.2015). 46 Vgl. Holm/Bülow, S. 137. 47 Vgl. ibid.; eine Vaginalplastik wird bei Jorgensen 1954 in den USA vorgenommen, vgl. Jorgensen 2000, S. 235; vgl. Meyerowitz 2002, S. 76. 48 Hamburger et al. 1953, S. 394.

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get this straight: Christine Jorgensen had no been ‚made into a woman‘ by her surgeons. She had no vagina“.49 Nur wenige Tage nach dem letzten in Dänemark vorgenommenen Eingriff geht Jorgensens Geschichte um die Welt und nach der initialen Sensation beschäftigt die amerikanische Presse zunehmend die Frage, ob es sich nun wirklich um eine Frau handele. Die Schlagzeilen bewegen sich dabei auf dem gesamten Zuschreibungsspektrum und finden ihren erschreckenden Tiefpunkt in einer invasiven Form von Investigativjournalismus, bei der ein Reporter sich lediglich ob der Möglichkeit, Jorgensens ‚wahres‘ genitales Geschlecht zu recherchieren, privat mit ihr verabredet.50 Die dänische Berichterstattung verläuft indes auf einer sachlicheren Ebene und widmet sich den Implikationen, die solchen Eingriffen vermeintlich auf nationaler Ebene zukämen. Bereits zu Beginn der öffentlichen Debatte kann Information feststellen, dass es sich bei Jorgensen nicht um einen Einzelfall handele, sondern auch unter der dänischen Bevölkerung eine Reihe von Individuen die Möglichkeit eines operativen Geschlechtswechsels in Anspruch nehmen wolle.51 Jedoch beinhalte das dänische Rechtssystem keine Bestimmung eines juristischen Geschlechtswechsels, so dass sich bei weiterer Prominenz des Themas die Notwenigkeit einer neuen Regelung ergebe.52 Viele dieser Beiträge rufen die bereits im Zusammenhang mit Elvenes geführten Debatten wieder auf, an deren Geschichte Poul Knudsen nun durch einen ebenfalls mit ‚Fra mand til kvinde‘ betitelten Artikel in Socialdemokraten erinnert.53 Doch auch auf internationaler Ebene taucht Fra Mand til Kvinde ob des scheinbar unersättlichen öffentlichen Interesses wieder auf. Denn in Ermangelung einer umgehenden Buchpublikation zu Jorgensen werden die jeweiligen Editionen aus den Archiven ‚gezaubert‘ und neu verlegt. So erscheint 1953 in den USA eine Paperback-Ausgabe, die sich binnen kürzester Zeit über eine Million Mal verkauft.54 Gleichzeitig wird eine japanische Übersetzung veröffentlicht. In Deutschland erfolgt 1954 eine Neuauflage unter dem Titel Wandlung.

49 Denny, Dallas: „Black Telephones, White Refrigerators. Rethinking Christine Jorgensen“, in: Denny, Dallas (Hg.): Current Concepts in Transgender Identity, New York/London 1998, S. 35-44, hier S. 39. 50 Vgl. unbekannte Publikation, CJS. 51 Vgl. N.N: „Flere vil nu skifte køn. Nye tilfælde til behandling i København – Hvad sagkyndige siger“, in: Information, 02.12.1952, S. 1 u. S. 3. 52 Vgl. N.N.: „Juridisk kann man ikke skifte køn. Tidligere gaves kongelig bevilling til hermafroditer – Idag findes ingen regler“, in: Information, 03.12.1952, S. 1 u. S. 8. 53 Vgl. Knudsen, Poul: „Fra mand til kvinde“, in: Socialdemokraten, 04.12.1952. S. 10. 54 Vgl. Brief von Ernst Harthern an Bastel, Sigtuna, 26.08.1954, S. 1, EHA.

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6.3.2 Folgen der (Re-)Medialisierung Während in Dänemark die Folgen des medialen Interesses zeitig reflektiert werden und bezüglich der Behandlung dänischer Staatsbürger bereits auf die begrenzten medizinischen Kapazitäten und fehlenden gesetzlichen Regelungen hingewiesen wird, finden auf internationaler Ebene Übertragungsprozesse statt, die das skandinavische Land bald zu überschwemmen scheinen. Kopenhagen wird zum Anlaufpunkt für zahlreiche Menschen, die sich ob der Repressionen des ihnen zugewiesenen Geschlechts ähnliche Eingriffe wünschen. Dieser Ansturm manifestiert sich in den über tausend brieflichen Anfragen, die das Jorgensen betreuende medizinische Team im ersten Jahr nach der Öffentlichwerdung ihrer Geschichte aus allen Teilen der Welt erreichen.55 Einige dieser Individuen machen sich sogar auf den Weg nach Skandinavien, so dass die dortigen Institutionen gezwungen sind, sich mit den populärkulturellen Rückkoppelungsprozessen auseinanderzusetzen und sich entsprechend eigener Kapazitäten dazu zu verhalten. So wird umgehend erwirkt, dass dänischen Ärzten die Kastration ausländischer *Patient*innen untersagt ist.56 Die Pforten des eugenisch konstituierten, vermeintlichen ‚Transsexuellen-Paradieses‘ schließen sich demnach unmittelbar, nachdem deren Öffnung verkündet wird. So steht unter anderem Charlotte McLeod 1953 in Kopenhagen vor verschlossenen Türen und kann sich nach Presseberichten nur von einem illegal agierenden Mediziner in einem Hinterzimmer kastrieren lassen, bevor in einem Kopenhagener Krankenhaus weitere Eingriffe an ihr vorgenommen werden.57 Im Rahmen der in den fünfziger Jahren erfolgenden (Re-)Medialisierung insbesondere von Jorgensen, aber auch von Elvenes wird deutlich, dass sich die bereits in den Dreißigern etablierten populären Fragestellungen auf vielen Ebenen kaum verändert haben. Sowohl der Dreiklang von sex, gender und desire als auch Fragen nach der Reproduktion spielen eine zentrale Rolle in der öffentlichen Wahrnehmung. Auch wenn sich Hamburgers Grundannahmen zu Geschlecht von der frühen Sexualwissenschaft kaum unterscheiden, bringt der Therapieansatz des medizini-

55 Hamburger publiziert noch 1953 eine statistische Aufarbeitung dieser Zuschriften, die zu großen Teilen aus Europa und Nordamerika, aber auch aus Staaten jenseits der westlichen Welt stammen, vgl. Hamburger, Christian: „The Desire for Change of Sex as Shown by Personal Letters from 465 Men and Women“, in: Acta Endocrinologica, Dezember 1953, Vol. XIV, S. 361-375. 56 Vgl. Meyerowitz 2002, S. 82. 57 Vgl. N.N.: „Another Ex-GI Becomes GI-RL in Denmark“, in: New York JournalAmerican, 24.02.1954, S. 1.

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schen Teams neben der Nutzung synthetisch gewonnener Hormone auch eine weitere nachhaltig wirksame Neuerung in die Behandlungspraxis ein. Der Versuch einer integrativen Methode aus den Disziplinen der Endokrinologie, der Psychiatrie und der Chirurgie etabliert sich im internationalen Rahmen und wird in weiten Teilen bis heute praktiziert. Vielerorts hat erst in den letzten Jahren und mit Hilfe der Trans*-Bewegungen eine sukzessive Auflösung dieses Trios begonnen. Der medial generierte Ansturm scheint die dänischen Entwicklungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgebremst zu haben. Nachdem einer internationalen Klientel der Riegel vorgeschoben wird, werden auch auf nationaler Ebene die sich konstituierenden Ressourcen kaum genutzt. Das bei Jorgensen etablierte Muster wird in den nächsten Dekaden unkritisch fortgeführt, wobei die Unfruchtbarmachung des betreffenden Individuums für die Personenstandsänderung bis in das 21. Jahrhundert hinein als Voraussetzung bestehen bleibt.58 Die Vorstellung eines progressiven Dänemarks bestätigt sich dementsprechend lange Zeit nicht, so dass dieser populärkulturell tradierte Mythos eine Fata Morgana bleibt, die sich in den Lichtgestalten von Lili Elvenes und Christine Jorgensen manifestiert.

6.4 T RÄUME

AUS

L ICHT : E IN S CHLUSSWORT „‚All that ended however when Andy was forty-four. That was when he picked up the pieces and traveled to Denmark and spent his life savings on a sex change.‘ ‚And came back as Anna Madrigal‘ […] ‚It’s a nice name, don’t you think? It’s an anagram.‘ […] ‚I’m very flattered that you told me, Mrs. Madrigal.‘ ‚Good. Now can we smoke that joint?‘ He laughed. ‚The sooner the … Wait a minute. How can Anna Madrigal be an anagram for Andy Ramsey?‘ ‚It’s not.‘ ‚But you said…‘

58 Vgl. Holdgaard/Kristiansen 2004, S. 8 u. S. 66; vgl. Hertoft, Preben: „Sexmodifying operations on transsexuals in Denmark in the period 1950-1977“, in: Acta Psychiatrica Scandinavica, 1980, Vol. 61, S. 56-66; Eingriffe zum Geschlechtswechsel werden in der Folge jedoch eher selten in Dänemark durchgeführt, so dass viele *Anwärter*innen ob der unzureichenden Infrastruktur und Rechtslage den Weg ins Ausland suchen; die hier nur skizzierten Zusammenhänge einer dänischen Geschichte von Trans* nach 1950 stehen im Fokus der Forschung von Marie Louise Holm, vgl. Holm 2015, o.S.

334 | »W IE L ILI ZU EINEM RICHTIGEN M ÄDCHEN WURDE « ‚I said it was an anagram, I didn’t say what for.‘ ‚Then what is it?‘ ‚My dear boy,‘ said the landlady, lighting a joint at last, ‚you are talking to a Woman of Mystery!‘“59

Diese kleine Episode aus dem zweiten Teil seiner Tales of the City-Serie hat Armistead Maupin mit ‚Mrs Madrigals Confession‘ übertitelt. Nicht nur lässt sich an diesen literarischen Ausflug die Mythenbildung zu Dänemark anknüpfen, auch spiegeln sich auf poetische Weise das Fazit dieser Arbeit sowie mein wissenschaftliches Verhältnis zu Christine Jorgensen und insbesondere Lili Elvenes wider. Wie der wissbegierige Junge in dieser literarischen Welt stehe ich oft vor den sich mir eröffnenden Bekenntnissen, versuche ihnen dankbar ob des Vertrauens gegenüberzustehen und sie gleichzeitig in ihren Abhängigkeiten und Handlungsmöglichkeiten nachzuvollziehen und zu dechiffrieren. Doch anlog zu den Übertragungsversuchen des Jungen stellt sich der theoretische Weg nicht unbedingt als der Schlüssel zu verborgenen Verständnisebenen dar. Trotz der vielfältigen Materialien und methodischen Werkzeuge bleiben mir Erkenntnisse vorenthalten und die Erotik des Geheimnisses jenseits analysierbarer Machtverhältnisse bewahrt. Daher möchte ich zum Ende dieser Arbeit ein wenig Abstand von meiner persönlichen und wissenschaftlichen Logik gewinnen, um dieser kritisch gegenüberzutreten und sie in ihrem eigenen Konstruktionscharakter zu hinterfragen. Denn meine Analyse stellt sich nicht losgelöst von der thematisierten Vermengung eines imaginierten Begriffspaars wie Wahrheit und Fiktion dar. Vielmehr penetriert es dieses, indem ein implizierter ‚Wirklichkeitsanspruch‘ darauf erhoben wird, Prozesse deutlich machen zu wollen, Materialien freizulegen und zugrundeliegende diskursive Formationen zu verstehen. Ich produziere – ob der Einbettung meiner analytischen Gedanken in das mich umgebende Diskurskonstrukt – ein neues Narrativ, welches in zukünftigen Auseinandersetzungen zu untersuchen und zu bewerten sein wird. Durch die Art und Weise, in der meine persönliche und wissenschaftliche Erfahrungswelt mit der von Elvenes interagiert, kann mein Text auch in einer Reihe anderer medialer Interaktionen verstanden werden – unabhängig von hierarchischen und gattungsspezifischen Vorstellungen. Denn nicht nur die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Elvenes prägt die Rezeption derselben, sondern auch persönliche Identifikationen, wie sie bei Roberta Cowell, Jan Morris oder Renée Richards zu finden sind,60 literarische Auseinandersetzung wie bei David Ebershoff und Ma-

59 Maupin, Armistead: More Tales of the City, Reading 1989 (1980), S. 92f. 60 Vgl. Cowell, Roberta: Roberta Cowells Story, New York 1954, S. 131f; vgl. Morris, Jan: Conundrum, London 2002 (1974), S. 38f.; Richards, Renée: No Way Renée: The Second Half of My Notorious Life, New York 2007, S. 74f.

A NDERE Z EITEN , ANDERE H ORIZONTE ?

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ria Helleberg61 und nicht zuletzt die wirkmächtige kinematographische Adaption in The Danish Girl.62 In diesem Zusammenhang möchte ich zu meiner Kritik am Dänemark-Mythos zurückkommen, um auf eine alternative Lesart jenseits politischer Realitäten einzugehen: Dänemark als Figur der Hoffnung und der Subjektivierungsmöglichkeiten. Es ist dieses utopische Potential,63 das sich in der im September 2014 in Kraft getretenen neuen dänischen Gesetzgebung wiederfindet, die es neben der überfälligen Abschaffung des Kastrationszwangs ermöglicht, den Personenstand nur auf Grund einer Erklärung der eigenen Geschlechtsidentität zu ändern:64 Dreiundachtzig Jahre nach Elvenes’ Tod liegt die Deutungshoheit darüber, ein ‚richtiges Mädchen‘ zu sein, auch rechtlich beim Subjekt.

61 Vgl. Ebershoff, David: The Danish Girl, New York 2000; vgl. Helleberg, Maria: Kærlighedshistorier, Kopenhagen 2012. 62 Der im Frühjahr 2015 unter Regie von Tom Hooper gedrehte Film The Danish Girl wird voraussichtlich im Herbst 2015 uraufgeführt. Zudem gibt es sowohl Musik- als auch Theaterprojekte, die sich mit Elvenes’ Lebensgeschichte auseinandersetzen. 63 Den Begriff des utopischen Potentials in Bezug auf Narrative von Trans* übernehme ich hier von J. Borcherding, vgl. Borcherding, J.: „Über utopische Verhältnisse von Trans*_Homo und Begehren oder: Eins und eins, das macht zwei…?“, in: Time, Justin u. Jannik Franzen (Hg.): Trans*_Homo. Differenzen, Allianzen, Widersprüche. Differences, Alliances, Contradictions, Berlin 2012, S. 99-103. 64 Vgl. Lov om ændring af lov om Det Centrale Personregister, 25.06.2014; diese Gesetzesänderung wird von einer Reihe weiterer begleitet und stößt seitdem neue kritische Gedanken in der gegenwärtigen Debatte an.

Quellenverzeichnis

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MIT

S IGLEN

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RTM Tegner Arkiv Rudolph Tegners Museum og Statuepark, Dronningmølle/Dänemark • Korrespondenz

Z EITUNGEN

UND

Z EITSCHRIFTEN

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Q UELLENVERZEICHNIS

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A USGABEN

DER

P RIMÄRQUELLE

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F ORSCHUNGSLITERATUR

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Queer Studies Wenzel Bilger Der postethnische Homosexuelle Zur Identität »schwuler Deutschtürken« 2012, 294 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2108-2

Bundesstiftung Magnus Hirschfeld (Hg.) Forschung im Queerformat Aktuelle Beiträge der LSBTI*-, Queer- und Geschlechterforschung 2014, 312 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2702-2

Martin J. Gössl Schöne, queere Zeiten? Eine praxisbezogene Perspektive auf die Gender und Queer Studies 2014, 256 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2831-9

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Queer Studies Nadine Heymann Visual Kei Körper und Geschlecht in einer translokalen Subkultur 2014, 322 Seiten, kart., z.T. farb. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2883-8

Christine M. Klapeer Perverse Bürgerinnen Staatsbürgerschaft und lesbische Existenz 2014, 344 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2000-9

Nina Schuster Andere Räume Soziale Praktiken der Raumproduktion von Drag Kings und Transgender 2010, 328 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1545-6

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