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German Pages 332 [334] Year 2021
Christina Drobe Was ist der Sinn der Geschichte?
Tillich Research
Tillich-Forschungen Recherches sur Tillich Edited by Christian Danz, Marc Dumas, Verna Ehret, and Werner Schüßler
Volume 21
Christina Drobe
Was ist der Sinn der Geschichte?
Theologische Reflexionen zur Eschatologie von Paul Tillich
ISBN 978-3-11-072090-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-073318-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-073329-7 ISSN 2192-1938 Library of Congress Control Number: 2021943972 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
| Für Daniel Geese
Danksagungen An dieser Stelle sei all jenen besonders gedankt, ohne die das vorliegende Buch nicht in dieser Form hätte verwirklicht werden können: Herrn Prof. Dr. Christoph Schwöbel für die konstruktive jahrelange Begleitung und Beratung, Frau Prof. Dr. Elisabeth Gräb-Schmidt für ihr motivierendes Zweitgutachten, meinem Freundeskreis und meiner Familie für ihre persönliche Unterstützung sowie Dr. Albrecht Döhnert, den Herausgebenden der Reihe Tillich Research und dem Team des Verlagshauses Walter de Gruyter GmbH für die professionelle, unkomplizierte und schnelle Drucklegung meines Manuskripts. Darüber hinaus möchte ich mich ganz herzlich für Korrekturarbeiten bei Dr. Manuel Kiuntke, bei Sonja und Dr. Jörg Kohr sowie bei Katja Schmidt bedanken. Ganz besonderer Dank gilt meinem Mann, Daniel Geese, ebenfalls für Korrekturarbeiten und das Layout des vorliegenden Buches. Er war mir während der gesamten Zeit eine große Stütze.
https://doi.org/10.1515/9783110733181-202
Inhalt Danksagungen | VII Sigel | XI 1
Einführung: Was ist der Sinn der Geschichte? | 1
2 2.1 2.2
Die Geschichte als umfassendster Lebensprozess | 28 Die ontologische Grundstruktur der Selbst-Welt-Korrelation | 30 Die Grundpolaritäten des Seins, die Funktionen des Lebens in ihrer Zweideutigkeit, die ontologischen Kategorien und die Aktualisierung des Geistes als Dimension des Lebens | 31 Der Lebensprozess des Menschen und die menschliche Geschichte | 42 Essentielles und Existentielles Sein | 46 Die existentiellen Fragen der menschlichen Situation im Lichte der Offenbarung, die Methode der Korrelation und der Symbolbegriff | 50
2.3 2.3.1 2.3.2
3 3.1 3.1.1
3.1.2 3.1.3 3.2 3.3
4 4.1 4.2
Die Geschichte und die Frage nach ihrem Sinn | 60 Die geschichtliche Dimension des Lebens | 60 Geschichtliche Ereignisse und geschichtliches Bewußtsein | 60 Merkmale der Geschichte | 65 Vor- und Nachgeschichte | 70 Die Träger der Geschichte | 79 Die ontologischen Kategorien in der geschichtlichen Dimension | 85 Die Dynamik des geschichtlichen Lebensprozesses | 91 Die Zweideutigkeiten des Lebens in der geschichtlichen Dimension | 103 Geschichtsverständnisse und die Frage nach dem Reich Gottes | 110 Die geschichtliche Immanenz des Reiches Gottes | 126 Jesus Christus als zentrale Manifestation des Reiches Gottes in der Geschichte: kairos und kairoi | 126 Die Kirchen als innergeschichtliche Repräsentanten des Reiches Gottes | 140
X | Inhalt
4.3 5 5.1 5.2 5.3 6 6.1 6.2
6.3
Die Gegenwart des Reiches Gottes in der Weltgeschichte | 150 Das Reich Gottes als das die Geschichte transzendierende Ziel der Geschichte | 161 Die ewige Seligkeit des ewigen Lebens als die ewige Überwindung des Negativen | 161 Individuelle Erfüllung als Partizipation an der Universalität des Reiches Gottes | 187 Das Reich Gottes: Zeit, Ewigkeit und Trinität | 206 Auswertung: Erfüllung als Sinn der Geschichte | 221 Die Eschatologie in Paul Tillichs Systematischer Theologie | 221 Eschatologische Grundlinien in den der Systematischen Theologie vorausgehenden Schriften Tillichs | 239 Religiöser Sozialismus | 241 Kairos | 246 Prophetischer Geist | 256 Theonomie | 258 Das Dämonische | 263 Das protestantische Prinzip | 271 Fazit | 280 Das (selbst-)kritische und gestaltende Potential eines Tillich folgenden christlichen Geschichtsverständnisses | 295
Literaturverzeichnis | 303 Paul Tillich: Gesammelte Werke | 303 Paul Tillich: Ergänzungs- und Nachlaßbände | 303 Paul Tillich: Einzelschriften | 304 Weitere Literatur | 306 Personenverzeichnis | 319
Sigel GW EW ST I–III
Tillich, Paul: Gesammelte Werke Tillich, Paul: Gesammelte Werke. Ergänzungs- und Nachlaßbände Tillich, Paul: Systematische Theologie, Band 1–3
https://doi.org/10.1515/9783110733181-204
1 Einführung: Was ist der Sinn der Geschichte? Was ist der Sinn der Geschichte? – Diese Frage erweist sich aus der Perspektive zeitgenössischer Geschichtswissenschaft als anachronistisch, da im Zuge der Postmoderne nach Jean-François Lyotardt mit dem Abschied der großen MetaErzählungen – der Aufklärung von der Emanzipation der Menschheit, des Idealismus von der Teleologie des Geistes und des Historismus von der Hermeneutik des Sinns – universale Zuschreibungen von Sinn in Bezug auf die Geschichte in Gestalt einer angenommenen Universalgeschichte grundsätzlich in Frage gestellt werden.¹ Mit der grundlegenden Skepsis gegenüber einer Universalgeschichte stehen gemäß dem Historiker Lothar Kolmer „die wissenschaftliche Objektivität, der Anspruch auf Wahrheit (wegen unvermeidbarer Perspektivität) [und] der Bezug auf vergangene Wirklichkeiten (Realitäten), die sich ‚nicht beobachten‘ lassen“², in Frage. Historische Darstellungen erscheinen deshalb in erster Linie als „Konstruktionen im Medium der Sprache, abhängig von deren Regeln […]“³, die „an keiner vergangenen Wirklichkeit überprüf[t] und verifizier[t]“⁴ werden können. Die konstruktivistische Betrachtungsweise hat nach Kolmer „die Sicht auf ‚die Geschichte‘ radikal verändert. Dies betrifft vor allem die ‚Traditionsquellen‘, die Ereignisse überliefern, Geschichten erzählen. Sie gelten nunmehr als literarischen Konstruktions- und physisch-psychischen Erstellungsprinzipien unterworfen.“⁵ In den Worten Jörg Barberowskis hat die Auffassung der Geschichtsschreibung als ein „Spiel mit literarischen Fiktionen“⁶ in radikaler Weise prominent der Geschichtstheoretiker Hayden White 1973 in seinem Buch „Metahistory“⁷ herausgearbeitet, wobei das Verfahren der
1 Vgl. Kolmer, Lothar: Geschichtstheorien, Paderborn 2008, 88. 2 Ebd., 83. Kolmer zitiert hier aus: Rusch, Gebhard: Konstruktivismus und die Traditionen der Historik, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 8 (1997), 46. 3 Kolmer: Geschichtstheorien, 83. 4 Ebd. 5 Ebd., 84. 6 Barberowski, Jörg: Der Sinn der Geschichte. Geschichtstheorien von Hegel bis Foucault, 3. Aufl., München 2014, 204. 7 White, Hayden: Metahistory. The historical imagination in nineteenth-century Europe, 8. Aufl., Baltimore 1993; Ders.: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt / Main 1991. Vgl. in diesem Zusammenhang zur postmodernen Theorie der Narrativität in Bezug auf die Geschichtswissenschaft auch: Daniel, Ute: Kompendium der Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, Frankfurt / Main 2001, 432–442; Hanisch, Ernst: Die linguistische Wende. Geschichtswissenschaft und Literatur, in: Kulturgeschichte heute, Hardtwig, Wolfgang (Hg.), Göttingen 1996, 212–230 und Gossman, Lionel: Between History and Literature, Cambridge / Mass. 1990. https://doi.org/10.1515/9783110733181-001
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„Metahistory“ […] die Geschichte der Geschichtsschreibung schreibt. […] Die Metahistorie beantwortet Fragen nach der Beschaffenheit des historischen Bewußtseins in der Zeit, nach der Art der Erkenntnis, die die Geschichtswissenschaft von anderen Erkenntnisweisen unterscheidet, und sie fragt nach den Darstellungsmodi, in denen Geschichtsschreibung möglich ist.⁸
So bilden gemäß White historische Darstellungen „sprachliche Fiktionen, deren Inhalt ebenso erfunden wie vorgefunden ist und deren Formen mit ihren Gegenstücken in der Literatur mehr gemeinsam haben als mit denen der Wissenschaften.“⁹ Den Grund für die Fiktionalität der Geschichtsschreibung sieht White bereits in der Selektion der zur Überlieferung tradierten Ereignisse, die dann selbst ausschließlich im Rahmen einer Selektion der historischen Quellen durch den Historiker bearbeitet wird, denn Barberowskis Darstellung von Whites Ansatz folgend muss jeder Historiker darüber nachsinnen, in welcher Anordnung er seine Fakten präsentieren möchte, ob er die Ereignisse in ihrer zeitlichen Abfolge oder nach einer sachlichen Ordnung gruppiert, schließlich: in welcher Dramaturgie die Fakten erzählt werden. Die Geschichte ist ein Produkt unserer Einbildungskraft, die aus Fakten Erzählungen formt, die mit „der“ Geschichte nichts zu schaffen haben. […] Historische Ereignisse sind wertneutral, sie bedeuten uns nichts, wenn wir keine Absicht mit ihnen verbinden.¹⁰
White hat dementsprechend nach der Darstellung Kolmers¹¹ in Bezug auf die Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts vier Erzählstrukturen herausgearbeitet, die historische Erzählungen organisieren: Romanze, Satire, Komödie und Tragödie. Diese wiederum bedienen sich vier verschiedener Tropen: Metapher, Metonymie, Synekdoche, Ironie. Der Wahl des jeweiligen Erzählmodus liegen Anarchismus, Konservativismus, Radikalismus oder Liberalismus als fundamentale ideologische Position zugrunde, weshalb der Historiker „Teil des politischen Spiels [ist], er kann gar nicht objektiv sein.“¹² Somit macht der Historiker gemäß einer Formulierung Whites
8 Barberowski: Der Sinn der Geschichte, 204f. 9 White, Hayden: Der historische Text als literarisches Kunstwerk, in: Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, White, Hayden (Hg.), 1991, 102. 10 Barberowski: Der Sinn der Geschichte, 206. 11 Kolmer: Geschichtstheorien, 87. 12 Ebd.
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Ereignisse […] zu einer Geschichte […] durch das Weglassen oder die Unterordnung bestimmter Ereignisse und die Hervorhebung anderer, durch Beschreibung, motivische Wiederholung, Wechsel in Ton und Perspektive, durch alternative Beschreibungsverfahren und ähnlichem – kurz, mit Hilfe all der Verfahren, die wir normalerweise beim Aufbau einer Plotstruktur eines Romans oder eines Dramas erwarten. […] [Die Historiker wählen] verschiedene Arten und Fakten aus, weil sie verschiedene Geschichten erzählen wollen.¹³
Dabei werden nach Whites Konzeption in den Worten Barberowskis im Dienste der Verstehbarkeit des Erzählten „die Möglichkeiten und Formen, in denen Geschichte erzählt werden kann“¹⁴ durch die „dem Leser […] vertrauten kulturellen Überlieferung“¹⁵ begrenzt, denn der eigentlich Sinn historischer Erzählungen besteht „nicht darin, uns neue Erkenntnisse zu liefern, sondern eine vertraute Situation herzustellen“¹⁶, weil es doch „gerade die Fremdheit der in den Quellen aufscheinenden Ereignisse [ist], die uns dazu veranlaßt, ein Modell von ihnen zu schaffen.“¹⁷ Dergestalt sind die „Texte der Historiker […] aber nicht nur Modelle für die Erklärung vergangener Ereignisse, sie sind auch Modelle für die Erzähltraditionen, in denen etwas mitgeteilt wird.“¹⁸ White selbst formuliert in diesem Zusammenhang seine Position wie folgt: „Die historische Erzählung vermittelt so zwischen den darin berichteten Ereignissen einerseits und prägenerischen Plotstrukturen andererseits, die konventionellerweise in unserer Kultur verwendet werden, um unvertrauten Ereignissen und Situationen Sinn zu verleihen.“¹⁹ Zusammengefasst besteht nach White „die Souveränität des Historikers nicht in der vollständigen Erschließung vergangener Kontexte, sondern in seinem Umgang mit den Quellen, in seinem Vermögen zu entscheiden, was erzählt werden soll und was nicht. Darin zeigt der Historiker sein wahres intellektuelles Verständnis.“²⁰ Ein White folgendes Verständnis der Geschichtswissenschaft lässt sich deshalb mit Barberowski formuliert auch als „literarische Wende oder das Ende der Geschichte“²¹ bezeichnen, denn Gegenstand der historischen Betrachtung ist White folgend nicht eine Universalgeschichte im Sinne der großen MetaErzählungen, sondern die einzelnen von Historikern nach unterschiedlichen literarischen Konstruktionsprinzipien komponierten Geschichten, die implizit oder
13 White: Der historische Text als literarisches Kunstwerk, 104f. 14 Barberowski: Der Sinn der Geschichte, 207. 15 Ebd. 16 Ebd., 208. 17 Ebd. 18 Ebd. 19 White: Der historische Text als literarisches Kunstwerk, 109f. 20 Barberowski: Der Sinn der Geschichte, 209. 21 Ebd.
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explizit im Dienste der jeweiligen konkreten politischen Interessen und Absichten stehen. Der beschriebene radikal konstruktivistisch-narrative geschichtstheoretische Ansatz von White ist kontovers diskutiert worden: Richard Evans betont gegen White die Relevanz der in den Quellen dokumentierten faktischen Ereignisse, die als solche im Zusammenhang der Geschichtsschreibung nicht frei erfunden werden. Nach Evans sind Historiker keine „Produzenten von Fiktionen, sondern Interpreten von Quellen, in denen ‚reale, materielle Spuren der Vergangenheit‘ zu finden seien.“²² Deshalb begünstigt gemäß Evans ein White folgender extremer Relativismus unter Umständen die Manipulation von Belegen durch rechtsextreme Historiker oder aber auch die Leugnung historischer Ereignisse, beispielsweise des Holocaust. Gegen Evans’ Interpretation von White ist allerdings zu betonen, dass White die beschriebenen historischen Ereignisse nicht leugnet, sondern die Selektion und die Verknüpfung dieser Ereignisse „literarischen Konventionen“²³ unterworfen sieht, die es im Dienste eines annähernd realistischen Verständnisses der Vergangenheit zu analysieren gilt. So formuliert White in Bezug auf den Holocaust: This is not to suggest that we will give up the effort to represent the Holocaust realistically, but rather that our notion of what constitutes realistic representation must be revised to take account of experiences that are unique to our century and for which older modes of representation have proven inadequate.²⁴
Dennoch ist mit Evans gegen White daran festzuhalten, dass den Interpretationen von historischen Ereignisverläufen durch die jeweiligen Quellen Grenzen gesetzt sind, was Reinhard Koselleck im Sinne eines Vetorechtes der Quellen wie folgt formuliert: Jedes historisch eruierte und dargebotene Ereignis lebt von der Fiktion des Faktischen, die Wirklichkeit selber ist vergangen. Damit wird ein geschichtliches Ereignis aber nicht beliebig
22 Barberowski: Der Sinn der Geschichte, 212. Barberowski zitiert hier aus: Evans, Richard: Fakten und Fiktionen. Über die Grundlagen historischer Erkenntnis, Frankfurt / Main 1998, 115. Vgl. zu ähnlichen Kritiken an Whites Theorie auch: Iggers, Georg: Geschichtstheorie zwischen postmoderner Philosophie und geschichtswissenschaftlicher Praxis, in: Geschichte und Gesellschaft 26 (2000), 335–346, hier 339 sowie Oexle, Otto Gerhard: Sehnsucht nach Klio. Hayden Whites ‚Metahistory’ – und wie man darüber hinwegkommt, in: Rechtshistorisches Journal 11 (1992), 1–18. 23 Vgl. Evans: Fakten und Fiktionen, 227–231. 24 White, Hayden: Historical Emplotment and the Problem of Truth, in: Friedländer, Saul (Hg.): Probing the Limits of Representation. Nazism and the „Final Solution“, Cambridge / Mass. 1992, 37–53, hier 52.
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oder willkürlich setzbar. Denn die Quellenkontrolle schließt aus, was nicht gesagt werden darf. Nicht aber schreibt sie vor, was gesagt werden kann.²⁵
In einer ähnlichen Argumentationslinie profiliert Barberowski gegen White den wissenschaftlichen Anspruch historischer Untersuchungen. Wenn eine historische Untersuchung im Sinne Whites ausschließlich denselben Konstruktionsprinzipien folgen würde wie eine literarische Erzählung oder ein Roman, dann fiele damit der wissenschaftliche Anspruch von Geschichtsschreibung, da eben jene ausschließlich als Literatur zu charakterisieren sei. Geschichtswissenschaft wäre dann ihrem Gegenstand nach eine Art Literaturwissenschaft.²⁶ Aufgrund der an der Quellenlage orientierten Interpretation historischer Ereignisverläufe besteht jedoch nach Barberowski der wissenschaftliche Anspruch der Geschichtsschreibung darin, daß Historiker belegen müssen, wie sie zu einem Ergebnis gekommen sind, daß sie sich auf Dokumente beziehen müssen, mit denen sie ihre Fragen beantworten wollen. Historiker „erfinden“ keine Geschichten, sie ordnen Ereignisse, die in Texten überliefert sind, in Geschichte ein. Diese Einordnung ist überprüfbar, sie beruht auf einer Methode, und darin ist die Wissenschaftlichkeit der Geschichte begründet.²⁷
In diesem Sinne beinhaltet die Geschichtswissenschaft hinsichtlich der Quellenlage irreduzibel einen objektiven und im Hinblick auf die interpretative Verknüpfung der überlieferten historischen Ereignisse einen subjektiven Aspekt, die in einer nicht aufzulösenden, sich gegenseitig korrigierenden Wechselbeziehung stehen. Dabei vermag die Betonung des subjektiven Aspekts in Bezug auf die Quellenlage ideologisierende Wahrheitsansprüche im Sinne einer progressiven Universalgeschichte von historischen Darstellungen zu relativieren und die Betonung des objektiven Elementes, das der Geschichtsschreibung zugrunde liegt, der interpretativen Beliebigkeit durch Orientierung an der Quellenlage Grenzen zu setzen. Gemäß Kolmer hat dergestalt mit dem sich im Zuge der Postmoderne veränderten Verständnis der Geschichtswissenschaft der „Umfang, wie die Schärfe und Praktikabilität der Methoden und Theorien […] zugenommen“²⁸, da es „keinen Primat einer Geschichtstheorie mehr, eine[r] umfassende[n] ‚Großtheorie‘“²⁹ mehr gibt. Lutz Raphael folgend zeigt sich das inhaltlich an einem langsamen Ende des Euro-
25 Koselleck, Reinhard: Darstellung, Ereignis und Struktur, in: Ders. (Hg.): Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, 3. Aufl., Frankfurt / Main 1995, 144–157. 26 Barberowski: Der Sinn der Geschichte, 211f. 27 Ebd., 213. 28 Kolmer: Geschichtstheorien, 94. 29 Ebd.
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zentrismus, einer zunehmenden Internationalisierung und einer Überschreitung des Nationalen durch neue, themenorientierte kollektive Bezugspunkte der Geschichtswissenschaften, wie beispielsweise der historischen Dynamik von Genoziden.³⁰ Gleichermaßen geht mit der neuen Pluralität der Geschichtswissenschaften die Herausforderung einher, sich in der entstehenden neuen Unübersichtlichkeit zu orientieren. Eben jene Herausforderung soll im Folgenden in Bezug auf die sich im Rahmen der Globalisierung ereignende Pluralisierung der Gesamtgesellschaft und das daraus erwachsende Konfliktpotential veranschaulicht werden. Die Pluralisierung sozialer Verhältnisse erweist sich gegenwärtig vor dem Hintergrund der Globalisierungsprozesse durch erhöhte Mobilitätserfordernisse sowie globale Migrationsbewegungen als paradigmatisch für die gesamtgesellschaftliche Situation.³¹ Sie äußert sich in einer zunehmenden Differenzierung und Enttraditionalisierung vertrauter Zugehörigkeiten wie Klasse, Beruf, Kultur, Religion und Nationalität, die für den Einzelnen grundsätzlich mit einer biographischen Unsicherheit einhergeht und durch persönliche Lebensplanung oder, mit Peter L. Berger formuliert, durch einen „Lebensplan“³² bewältigt werden muss. Eben jene biographische Unsicherheit haben unter anderem Zygmunt Bauman, Peter L. Berger und Charles Taylor als „Unbehagen“³³ bezeichnet, das Berger folgend wesentlich auf einer in der Pluralisierung der sozialen Welten begründet liegenden „Heimatlosigkeit“ des zeitgenössischen Menschen beruht, weil „die Strukturen jeder einzelnen Welt als relativ labil und unverläßlich erlebt [werden].“³⁴ Dies hat eine Relativierung und Fragmentarisierung der unterschiedlichen Lebensbereiche zur Folge, so dass für das Individuum „die Selbsterfahrung realer als seine Erfahrung der objektiven sozialen Welt [wird]. Es sucht deshalb seinen ‚Halt‘ in der Wirklichkeit mehr in sich selbst als außerhalb seiner selbst.“³⁵ Ulrich Beck hat die beschriebene Verlagerung des Wirklichkeitsakzen-
30 Vgl. Raphael, Lutz: Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme, München 2003, 266– 271. 31 Vgl. exemplarisch zu einer ausführlichen Darstellung des Prozesses der Pluralisierung sozialer Verhältnisse in der Moderne bzw. Postmoderne: Eickelpasch, Rolf/Rademacher, Claudia: Identität, 3. unveränd. Aufl., Bielefeld 2010; Keupp, Heiner: Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne, 4. Aufl., Hamburg 2008; Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt / Main 1996 sowie Giddens, Anthony: Konsequenzen der Moderne, Frankfurt / Main 1995. 32 Berger, Peter L./Berger, Brigitte/Kellner, Hansfried: Das Unbehagen in der Modernität, Frankfurt / Main 1975, 66. 33 Vgl. ebd. sowie Baumann, Zygmunt: Unbehagen in der Postmoderne, Frankfurt / Main 1999 sowie Taylor, Charles: Das Unbehagen an der Moderne, Frankfurt / Main 1995. 34 Berger/Berger/Kellner: Das Unbehagen in der Modernität, 70. 35 Ebd., 71.
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tes als „Individualisierung“³⁶ beschrieben. Im Rahmen einer Pluralisierung und Ausdifferenzierung der sozialen Bezüge wird gemäß Rolf Eickelpasch und Claudia Rademacher dem Individuum „die Verarbeitung der verschiedenen Rollen, Lebensformen und Sinnelemente zu einem Sinnganzen als permanente Eigenleistung und Konstruktionsaufgabe zugemutet.“³⁷ Analog zum geschilderten konstruktivistisch-narrativen Ansatz der Geschichtswissenschaften sprechen die zeitgenössischen Sozialwissenschaften deshalb in unterschiedlichen Akzentsetzungen von Bindestrich- oder Bastelexistenzen³⁸ sowie Patchwork-Identitäten³⁹, in denen der Einzelne durch Identitätsarbeit⁴⁰ als flexibles ⁴¹ und nomadisches⁴² Selbst in Anlehnung an Heiner Keupp in einem „Herstellungsprozeß von Identität“⁴³ eben jene, beispielsweise in Form einer narrativen Konstruktion⁴⁴, selbst zu bilden hat. Im Sinne Keupps zeigt sich Identitätsarbeit dergestalt als „Passungsarbeit […], die zu einer mehr oder weniger gelungenen Einpassung des Subjekts mit all seinen oft widerstreitenden Anteilen in eine ebenfalls ambivalente, dynamische und komplexe Welt [führt]“⁴⁵, so dass „gelungene Identität ein temporärer Zustand einer gelungenen Passung [ist].“⁴⁶ Wolfgang Welsch formuliert es wie folgt: „Identität ist immer weniger monolithisch, sondern nur noch plural möglich. Leben unter heutigen Bedingungen
36 Beck: Risikogesellschaft, 121ff. 37 Eickelpasch/Rademacher: Identität, 7. 38 Vgl. hierzu Hitzler, Ronald/Honer, Anne: Bastelexistenz. Über subjektive Konsequenzen der Individualisierung, in: Beck, Ulrich/Beck-Gernsheim, Elisabeth (Hgg.): Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, Frankfurt / Main 1994, 307–325. 39 Keupp, Heiner: Auf der Suche nach der verlorenen Identität, in: Keupp, Heiner/Bilden, Helga (Hgg.): Verunsicherungen, 1989, 47–69. 40 Ders.: Identitätskonstruktionen, 109ff. 41 Vgl. zum Konzept des flexiblen Menschen: Sennett, Richard: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 1998. 42 Vgl. zum nomadischen Selbst in der Postmoderne: Baumann, Zygmunt: Wir sind Landstreicher. Die Moral im Zeitalter der Beliebigkeit, in: Süddeutsche Zeitung, 16. Nov. 1993, 17 oder auch Ders.: Flaneure, Spieler und Touristen. Essays zu postmodernen Lebensformen, Hamburg 1997. Dieser Aufsatzband erschien im englischen Original unter dem Titel: Ders.: Life in Fragments. Essays in Postmodern Morality, Cambridge 1995. 43 Keupp: Identitätskonstruktionen, 189. Vgl. für eine ausführliche Besprechung der Identitätsproblematik im Zuge der pluralisierten Sozialwelt: Drobe, Christina: Menschsein als Selbst- und Fremdbestimmung. Eine theologische Reflexion philosophischer, literarischer und sozialwissenschaftlicher Zugänge zur Identitätsfrage, Berlin 2016, 553ff. 44 Kraus, Wolfgang: Das erzählte Selbst. Die narrative Konstruktion von Identität in der Spätmoderne, 2. Aufl., Herbolzheim 2000. 45 Keupp: Identitätskonstruktionen, 276. 46 Ebd.
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ist Leben im Plural, will sagen: Leben im Übergang zwischen verschiedenen Lebensformen.“⁴⁷ Das fordert vom Individuum mit Eickelpasch und Rademacher formuliert „eine Dezentrierung des Subjekts […], den bewußten Verzicht auf jede Einheits- und Ganzheitsvision […]. Die Erfahrung einer widersprüchlichen Alltagswelt erzwingt in dieser Sicht eine Haltung, für die […] das Streben nach Eindeutigkeit nur Fesseln wären.“⁴⁸ Ein solcher Verzicht auf Einheits- und Ganzheitsvisionen ist in ähnlicher Weise paradigmatisch auch angesichts des postmodernen Abschieds von den großen Meta-Erzählungen für das zeitgenössische Verständnis der Geschichte gefordert. Geschichtsarbeit lässt sich dann analog zur individuellen Identitätsarbeit als Passungsarbeit verstehen, die auf den temporären Zustand einer gelungenen Passung zielt. Denn angesichts einer fortwährend erfahrenen Vieldeutigkeit und Offenheit der Wirklichkeit läuft ein universalgeschichtliches Verständnis Gefahr, das jeweilige Wirklichkeitsverständnis absolut zu setzen, andere Perspektiven zu nivellieren und im Dienste einer universalen Progression auf ein letztgültiges Ziel hin zu instrumentalisieren. Nach Berger ergibt sich aus der zunehmenden Individualisierung, Pluralisierung und Enttraditionalisierung eine vergleichbare Entwicklung in Bezug auf die Rolle der Religion, die sich in Form einer säkularisierenden Wirkung äußert, weil „die religiösen Wirklichkeitsdefinitionen [infolge des Fehlens wirksamer und allgemeiner gesellschaftlicher Bestätigung] ihre Evidenz verloren [haben] und zu Gegenständen beliebiger Wahl des Einzelnen geworden [sind].“⁴⁹ Diese von Berger bereits in den 1970er Jahren formulierte Analyse kann im Lichte neuerer Studien zur gesellschaftlichen Religiosität und Ausdifferenzierung von religiösen Märkten noch als aktuell gelten. So erörtert Hubert Knoblauch, dass „die Subjektivierung der Religion, das heißt die zunehmende Verlagerung der religiösen Themen in das Subjekt und damit die zunehmende Relevanz des Selbst und seiner subjektiven Erfahrungen“⁵⁰ einhergeht mit der „Entwicklung, Ausbreitung und Globalisierung eines religiösen Marktes, auf dem die verschiedensten Inhalte der historisch gewachsenen Religionen angeboten werden – und der entsprechende ange-
47 Welsch, Wolfgang: Ästhetisches Denken, Stuttgart 1990, 171. 48 Eickelpasch/Rademacher: Identität, 10. Auch Lyotardt formuliert diese Forderung nach der Aufgabe von Einheits- und Ganzheitsvisionen: Lyotard, Françios: Beantwortung der Frage: Was ist postmodern?, in: Welsch, Wolfgang (Hg.): Wege aus der Moderne, Weinheim 1988, 192–203. Einen jüngst populär gewordenen Vorschlag zum Verzicht auf eine Einheits- oder Ganzheitsvision formuliert: Gabriel, Markus: Warum es die Welt nicht gibt, Berlin 2013. 49 Berger/Berger/Kellner: Das Unbehagen in der Modernität, 74. 50 Knoblauch, Hubert: Die Sichtbarkeit der unsichtbaren Religion. Subjektivierung, Märkte und die religiöse Kommunikation, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft 5 (1997), 179–202, hier 179.
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botsorientierte Sozialformen annimmt.“⁵¹ Religion wird dementsprechend nach Knoblauch „für einen größer werdenden Teil der Gesellschaft zu etwas, das sich in der jeweils eigenen, subjektiven Erfahrung bewähren muß“⁵², wobei eben jene Marktbildung eng verbunden ist mit den Veränderungen der religiösen Kommunikation, die auf den Möglichkeiten der Entwicklung von Medien aufbaut […]. Marktbildung beruht auf der Möglichkeit der offenen Information über die Angebote, und diese Möglichkeit lebt ihrerseits von der Bereitschaft, im Gegenzug für diese Informationen Leistungen zu erbringen.⁵³
Unter „Säkularisierung“ im Sinne der Verweltlichung⁵⁴ ist in diesem Zusammenhang folgendes zu verstehen: Gemäß José Casanova und Charles Taylor lassen sich verschiedene Aspekte von Säkularisierung ausdifferenzieren. Sie unterscheiden die funktionale Differenzierung und Beschränkung der Religion auf einen Eigenbereich des Religiösen (Säkularisierung I), die Zurückdrängung der Religion in den Privatbereich (Säkularisierung II), den Niedergang religiösen Glaubens und der Bereitschaft, religiösen Normen Folge zu leisten (Säkularisierung III) und schließlich den Verlust der selbstverständlichen Gewissheit, in einer von Gott geschaffenen, von ihm im Dasein gehaltenen Welt zu leben (Säkularisierung IV).⁵⁵
Die Entwicklung religiöser Märkte lässt sich somit vor dem Hintergrund eines Säkularisierungsprozesses verstehen, indem in einer der Identitäts- und Geschichtsarbeit ähnlichen Weise religiöse Inhalte pluralisiert werden und das Individuum die entsprechende Passungsarbeit zu leisten hat, mit Berger formuliert: Religion wird zum „Ausdruck privater Sinnerfüllung. […] Der Glaube ist nicht mehr gesellschaftlich vorgegeben, sondern muß individuell erlangt werden […].“⁵⁶ Berger
51 Ders.: Populäre Religion. Markt, Medien und die Popularisierung der Religion, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft 8 (2000), 143–161, hier 143. 52 Ders.: Die Sichtbarkeit der unsichtbaren Religion, 179. 53 Ders.: Populäre Religion, 143. 54 Casanova, José: Kosmopolitismus, der Kampf der Kulturen und multiple Modernen, in: Kreutzer, Ansgar/Gruber, Franz (Hgg.): Im Dialog. Systematische Theologie und Religionssoziologie, Freiburg im Breisgau 2013, 162–188, hier 171. 55 Gabriel, Kurt: Säkularisierung und Wiederkehr der Religionen unter den Bedingungen der Globalisierung, in: Kreutzer/Gruber (Hgg.): Im Dialog, 267–277, hier 269. Vgl. für eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Eigenart der westeuropäischen Säkularisierungsthese, der Fragwürdigkeit eines globalen Säkularisierungsprozesses und der damit einhergehenden Problematik der These von der Wiederkehr des Religiösen: Casanova: Kosmopolitismus, der Kampf der Kulturen und multiple Modernen, 164ff. 56 Berger/Berger/Kellner: Das Unbehagen in der Modernität, 73f.
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sieht in einer solchen säkularisierenden Wirkung der Pluralisierung die Funktion der Religion „als eine kognitive und normative Struktur, die es dem Menschen ermöglicht, sich im Universum ‚zu Hause‘ zu fühlen“⁵⁷, ernsthaft bedroht, weil mit „der Entwicklung der Pluralisierung […] der einzelne immer mehr gezwungen [ist], Kenntnis von anderen zu nehmen, die nicht glauben, was er glaubt, und deren Leben von anderen, manchmal gegensätzlichen Bedeutungen, Werten und Überzeugungen beherrscht wird.“⁵⁸ Demnach hat im Zuge der religiösen Pluralisierung das Individuum im Rahmen seiner Religionsarbeit selbst einen zentralen Beitrag in Bezug auf die Funktion der Religion zu leisten, die Niklas Luhmann im Sinne der Kontingenzbewältigung wie folgt bestimmt: Die Religion „reformuliert […] die Bedingungen von Unsicherheit. Sie interpretiert Ereignisse und Möglichkeiten in einer Weise, die mit sinnhafter Orientierung korreliert und eine Steigerung tragbarer Unsicherheit ermöglicht.“⁵⁹ Gemäß Keupp erweist sich deshalb „für eine produktive, bejahende Annahme dieser Vieldeutigkeit und Offenheit […] Ambiguitätstoleranz“⁶⁰ als wichtige psychische Voraussetzung des Individuums, um „auf Menschen und Situationen einzugehen, diese weiter zu erkunden, anstatt sich von Diffusität und Vagheit entmutigen zu lassen oder nach einem ‚Alles-oder-Nichts‘-Prinzip zu werten und zu entscheiden.“⁶¹ Allerdings ist für den Einzelnen nach Berger durch den „Wandercharakter seiner Erfahrung der Gesellschaft und des Selbst“⁶² der damit einhergehende „metaphysische[ ] ‚Heimatverlust‘ […] psychisch schwer zu ertragen“⁶³, da die beschriebene „Unabgeschlossenheit der modernen Identität […] den einzelnen besonders verwundbar dafür [macht], daß andere ihn immer wieder anders definieren.“⁶⁴ In eben jener Herausforderung besteht Karl Gabriel folgend ein möglicher Grund für die gegenwärtige religiöse Vitalisierung: „Gruppen wie Einzelpersonen entwickeln im Horizont der globalen Erreichbarkeit aller für alle drängende Bedürfnisse nach Vergewisserung der eigenen, Schutz und Abgrenzung gewährenden Identität. In der eigenen Kultur verankerte religiöse Traditionen bieten 57 Berger/Berger/Kellner: Das Unbehagen in der Modernität, 72. 58 Ebd., 73. 59 Luhmann, Niklas: Funktion der Religion, Frankfurt / Main 1977, 80. 60 Keupp: Identitätskonstruktionen, 280. 61 Ebd. 62 Berger/Berger/Kellner: Das Unbehagen in der Modernität, 74. 63 Ebd. 64 Ebd., 70. Wenn im Folgenden von „modern“ bzw. „Modernisierungsprozessen“ die Rede ist, dann ist dies im Sinne von „zeitgenössisch“, „gegenwärtig“ oder auch „aktuell“ gemeint. Nicht zu verwechseln ist in diesem Zusammenhang die der Postmoderne vorgängige, als „Moderne“ bezeichnete Epoche.
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sich als Markierungszeichen und Stütze der eigenen Identität an.“⁶⁵ Demnach entspricht in Anlehnung an Gabriel die Behauptung, dass die säkularisierende Wirkung des Pluralismus zu einer Zurückdrängung der Religion in den Privatbereich (Säkularisierung II), einem Niedergang des religiösen Glaubens (Säkularisierung III) und einer inneren Auflösung [der Religionen führe], nicht der Wirklichkeit […]. Auf diesem Hintergrund darf nicht verwundern, dass die religiöse Vitalisierung mit der Zunahme von Religions- und Identitätskonflikten verbunden ist. […] Wie der Modernisierungsprozess insgesamt verstärkt die Globalisierung die Pluralität im Inneren der religiösen Traditionen. Der Fundamentalismus in allen Weltreligionen bezieht seine Dynamik zuallererst aus der Auseinandersetzung zwischen liberalen und diese bekämpfenden Strömungen.⁶⁶
Die im Zuge der postmodernen unbedingten Perspektivität als „Feier von Vielheit und Differenz“⁶⁷ geforderte radikale Pluralität und Relativierung der einzelnen narrativen Konstruktionen scheint somit eine dialektische Dynamik zu entfalten, die eine strukturelle Analogie zur von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer postulierten Dialektik der Aufklärung aufweist.⁶⁸ Die genannte Dynamik soll im Folgenden im Hinblick auf die Sinnhaftigkeit der der vorliegenden Arbeit zugrunde liegenden Frage nach dem Sinn der Geschichte näher erläutert werden. Die Diskussion um die gegenwärtige religiöse Vitalisierung kreist im Allgemeinen um das Stichwort „Fundamentalismus“ und die damit einhergehenden problematischen gesamtgesellschaftlichen Folgen. Dabei zeigt sich der Fundamentalismus mit Hans-Ulrich Dallmann formuliert als „Kehrseite des Säkularismus“⁶⁹ und erweist sich als
65 Gabriel: Säkularisierung und Wiederkehr der Religionen unter den Bedingungen der Globalisierung, 272. 66 Ebd. Vgl. zur Infragestellung von Säkularisierung II und III in Bezug auf die globale Entwicklung des Religiösen auch: Dallmann, Hans-Ulrich: Zwischen Religionslosigkeit und Fundamentalismus. Funktion und Transformation der Religion im Anschluss an Niklas Luhmann, in: Im Dialog. Systematische Theologie und Religionssoziologie, Kreutzer, Ansgar/Gruber, Franz (Hgg.), Freiburg im Breisgau 2013, 110f. Hinsichtlich des säkularen europäischen Sonderweges ist deshalb auch die Diskussion um die Wiederkehr der Religionen bzw. die Resäkularisierung auf globaler Ebene in Frage zu stellen. Vgl. hierzu auch: Casanova: Kosmopolitismus, der Kampf der Kulturen und multiple Modernen, 164ff sowie Gabriel: Säkularisierung und Wiederkehr der Religionen unter den Bedingungen der Globalisierung, 271ff. 67 Eickelpasch/Rademacher: Identität, 10. 68 Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, 12. Aufl., Frankfurt / Main 2000. 69 Dallmann: Zwischen Religionslosigkeit und Fundamentalismus, 111.
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heterogenes Phänomen, dem so unterschiedliche Strömungen wie die pfingstlerische und die charismatische Bewegung innerhalb des protestantischen Christentums, wie eher traditionalistische Gruppen wie die jüdischen Fundamentalisten und wie die selbst wieder heterogene Szene der islamischen Dschihadisten zugeordnet werden.⁷⁰
Dementsprechend ist bei der Kategorisierung von religiösen Phänomenen als „fundamentalistisch“ Vorsicht geboten. Casanova sieht in diesem Zusammenhang die Gefahr, dass aus unterschiedlichen Perspektiven inflationär „jegliche religiöse Veränderung, die nicht dem vorgegebenen Modell entspricht, als religiöser Fundamentalismus abgestempelt wird.“⁷¹ Darüber hinaus wird eine Klassifikation der unterschiedlichen religiösen Gruppierungen als „fundamentalistisch“ gemäß Dallmann durch den Sachverhalt erschwert, „dass ‚Fundamentalismus‘ eine Bezeichnung ist, die innerhalb des Christentums als Selbstbezeichnung einer protestantischen Bewegung in den USA zu Beginn des 20. Jahrhunderts verwendet wurde“⁷², die in Anlehnung an Erich Geldbach zwar wesentliche Aspekte der als fundamentalistisch bezeichneten Phänomene teilt, „zu dessen Verständnis man aber spezifische soziale und theologische Faktoren in Rechnung stellen muss, wie sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den USA anzutreffen waren.“⁷³ Nach Geldbach lässt sich in einem allgemeinen Sinne die zeitgenössische Verwendung der Kategorie des Fundamentalismus wie folgt zusammenfassen: Man kann „Fundamentalismus“ als einen globalen Gattungsbegriff verstehen, der Verwendung findet, um vor allem religiöse Aspekte der Vergangenheit, die durch den modernen Lebensvollzug überdeckt oder verändert wurden, wiederzuentdecken und sichtbar zu institutionalisieren. Ausgangspunkt ist [oft] ein heiliger Text oder auch nur ein Teil eines heiligen Textes, der jeder Kritik entzogen ist und der daher für alle Zeiten unveränderbar in Geltung steht. Daraus werden kulturelle und soziale Muster abgeleitet, […] das Ganze muss einheitlich geregelt sein.⁷⁴
Mit solchen als fundamentalistisch einzustufenden Bewegungen gehen oft Phänomene radikaler Abgrenzung einher, die auf Absolutheitsansprüchen in Bezug auf
70 Dallmann: Zwischen Religionslosigkeit und Fundamentalismus, 111. 71 Casanova: Kosmopolitismus, der Kampf der Kulturen und multiple Modernen, 168. Vgl. zur Problematik des inflationären Gebrauchs von „Fundamentalismus“ auch: Geldbach, Erich: Geschichtliche Kriterien zur Identifizierung des protestantischen Fundamentalismus, in: Una Sancta 69.1 (2014), 2–13 sowie Stobbe, Heinz-Günther: „Fundamentalismus“. Einige Argumente für einen vorsichtigeren Umgang mit einem Schlagwort, in: Una Sancta 69.1 (2014), 14–24. 72 Dallmann: Zwischen Religionslosigkeit und Fundamentalismus, 111. 73 Geldbach: Geschichtliche Kriterien zur Identifizierung des protestantischen Fundamentalismus, 2. 74 Ebd.
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die zugrunde liegenden Lehren und die Formen des Alltagslebens der jeweiligen Anhänger beruhen und sich mit Wilhelm Heitmeyer formuliert als „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“⁷⁵ äußern können. In eben jener gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit kommt es in den Worten Eickelpaschs und Rademachers zu „keine[r] Wechselseitigkeit der Wahrnehmungen und Perspektiven, ‚Wir‘ und die ‚Anderen‘ setzen sich nicht ins Verhältnis zueinander und verhindern damit die Relativierung ihres jeweiligen ‚Blicks‘“⁷⁶, was zu den Menschen „in Innen und Außen, in Zugehörige und Nicht-Zugehörige“⁷⁷ klassifizierenden Kollektivkategorien führt. Ein zentrales Merkmal dieser Kollektivkategorien ist eine „asymmetrische Klassifikations- und Bezeichnungspraxis, die eine unterlegene Gruppe einseitig der Definitions- und Unterscheidungsgewalt einer dominanten Gruppe ausliefert […] und […] ein ‚Wissen‘ über ‚natürliche‘ Unterschiede zwischen ‚uns‘ und ‚den Anderen‘ hervorbringt.“⁷⁸ Eine solche asymmetrische Klassifikations- und Bezeichnungspraxis folgt in ihrer Grundstruktur Bildern und Metaphern, die „ihren Ursprung im kolonialen Imperialismus“⁷⁹ haben und den Unterschied zwischen „uns“ und „den Anderen“ beispielsweise in folgenden Über- und Unterordnungen definiert: modern – vormodern, Zentrum – Peripherie, entwickelt – unterentwickelt, zivilisiert – unzivilisiert, rational – emotional, kultiviert – primitiv, selbständig – unselbständig, vernunftgeleitet – instinktgeleitet, aufgeklärt – unaufgeklärt, gottgefällig – verdammungswürdig.⁸⁰ Die beschriebene asymmetrische Klassifikations- und Bezeichnungspraxis ist demnach nicht ausschließlich auf religiöse Kontexte beschränkt und findet sich unter anderem in folgenden „globale[n] Arenen identitätspolitischer Kämpfe“⁸¹: Kultur, Ethnie, Nation, sozialer Stand, Geschlecht, sexuelle Orientierung, Religion.⁸² Dementsprechend wurde Uwe Gerber folgend der ursprünglich im Zusammenhang mit dem (protestantischen) Christentum verwendete Begriff [des Fundamentalismus] ausgeweitet auf verabsolutierende Konzeptionen und Aktivi-
75 Heitmeyer, Wilhelm: Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Religiös implizierter gesellschaftlicher Abwertungsvorgang zur Legitimation von Gewalt, in: Wunn, Ina/Schneider, Beate (Hgg.): Das Gewaltpotential der Religionen, Stuttgart 2015, 169–182. 76 Eickelpasch/Rademacher: Identität, 78. 77 Ebd. 78 Ebd., 78f. 79 Ebd., 85. 80 Vgl. ebd., 84ff. Selbständig ergänzt wurden: „gottgefällig – verdammungswürdig“. 81 Ebd., 12. 82 Die Auswahl der genannten globalen Arenen folgt ebd., 12f. Selbständig ergänzt wurden: sozialer Stand, sexuelle Orientierung und Religion.
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täten, auf Exklusivitätsansprüche und Vereindeutigungen in Religionen und Weltanschauungen und weitergehend in Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur, Politik und Medien. […] Damit ist gesagt, dass es bei Fundamentalismus und fundamentalisierenden Strömungen um Machtansprüche, um Definitions- und Herrschaftshoheit über unser Zusammenleben und Leben […] geht.⁸³
Gemäß René Buchholz werden in ähnlicher Weise selbst „dezidiert säkulare, atheistische Positionen […] in einer jeden Zweifel ausschließenden Form vorgetragen und mit missionarischem Eifer vertreten […].“⁸⁴ Im Anschluss an Gerber lassen sich so einige mögliche Merkmale von als im dargestellten erweiterten Sinne als fundamentalistisch einzustufenden Bewegungen festhalten: Wahrnehmungsblockaden, Orientierung an starken Führern, Absolutheits- und Exklusivitätsansprüche, Ausschluss von Zweifel, Ablehnung von Alternativen und Paradigmenwechseln, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit mit asymmetrischer Klassifikations- und Bezeichnungspraxis, rigorose moralische und sozialethische Direktiven, Gewaltbereitschaft, Zerstörung der Demokratie mit ihren säkularen Freiheitsrechten und ihrer Rechtsstaatlichkeit.⁸⁵
83 Gerber, Uwe: Fundamentalismen in Europa. Streit um die Deutungshoheit in Religion, Politik, Ökonomie und Medien, Frankfurt / Main 2015, 28. Vgl. hierzu auch: Ders.: Vereindeutigen dieser Welt. Fundamentalistische Religion(en), in: Ders. (Hg.): Wie überlebt das Christentum? Religiöse Erfahrungen und Deutungen im 21. Jahrhundert: Erlösung – Versöhnung – Erleichterung – Vereindeutigung – Alterität, Zürich 2008, 153–189, 155ff. sowie Türcke, Christoph: Der Markt hat’s gegeben, der Markt hat’s genommen, in: Literaturen 12.II (2005), 6–11. 84 Buchholz, René: Falsche Wiederkehr der Religion. Zur Konjunktur des Fundamentalismus, Würzburg 2017, 18. Vgl. hierzu beispielsweise die Debatte um das Gewalt- und Konfliktpotential von Religion, u.a. bei: Assmann, Jan: Totale Religion. Ursprünge und Formen puritanischer Verschärfung, Wien 2016; Ders.: Die mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus, München 2010; Juergensmeyer, Mark: Die Globalisierung religiöser Gewalt. Von christlichen Milizen bis al-Quaida, Hamburg 2009; Dawkins, Richard: Der Gotteswahn, 9. Aufl., Berlin 2010; Kippenberg, Hans G.: Gewalt als Gottesdienst. Religionskriege im Zeitalter der Globalisierung, München 2008; Beck, Ulrich: Gott ist gefährlich. So human Religion auch scheinen mag: Sie birgt stets einen totalitären Kern, in: DIE ZEIT, 52 / 2007, 12. Differenzierte Auseinandersetzungen mit diesem Themenkomplex aus christlicher Perspektive bieten u.a.: Gerber: Fundamentalismen in Europa, 99–108; Leiner, Martin: Religionen als Sündenböcke und Hoffnungsträger. Die Ambivalenz von Religionen in Gewaltkonflikten, in: Wunn/Schneider (Hgg.): Das Gewaltpotential der Religionen, 229–254 sowie Schwöbel, Christoph: Radikaler Monotheismus und die Trinität. Gottesverständnis und Gesellschaftsordnung, in: Ders.: Gott im Gespräch. Theologische Studien zur Gegenwartsdeutung, Tübingen 2011, 379–405. Eine kurze Stellungnahme aus christlicher Perspektive findet sich auch in: Drobe: Menschsein als Selbst- und Fremdbestimmung, 566ff. 85 Gerber: Fundamentalismen in Europa, 45f. Vgl. hierzu auch: Klein, Constantin: Wer mein Nächster ist, entscheide ich! Zur Psychologie des Verhältnisses von Religiosität und Vorurteilen, in: Wunn/Schneider (Hgg.): Das Gewaltpotential der Religionen, 143–167.
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Als Gründe für eben jene fundamentalisierenden Radikalisierungstendenzen werden mit Bezug auf Pluralisierung, Individualisierung und Enttraditionalisierung allgemein die mit diesen Entwicklungen möglichen Erfahrungen von Identitätskrisen, Orientierungslosigkeit und Ohnmacht gegenüber den allgemeinen Entwicklungen genannt, die durch (erlebte) ökonomische Benachteiligung, dem Fehlen eines sozialen Beziehungsnetzes sowie mangelnden Kontakt zu Angehörigen von Fremdgruppen begünstigt werden.⁸⁶ Nach Christoph Türcke kann so eine Orientierung an fundamentalistischen Bewegungen mit der ihr entsprechenden Gruppendynamik entstehen als „Versuch, den entwurzelten, verunsicherten Individuen erneut seelisch Halt zu geben, durch Kittung der Fundamente, die am Zerbröckeln sind.“⁸⁷ Zusammenfassend kann mit Thomas Meyer das gegenwärtige Phänomen des Fundamentalismus wie folgt beschrieben werden: Fundamentalismus als politische Ideologie und Bewegung ist der Versuch, den modernen Prozess der Öffnung und der Ungewissheit […] umzukehren […]. Das darauf gestützte geschlossene System des Denkens und Handelns, das Unterschiede, Zweifel und Alternativen unterdrückt, soll nach dem Willen des Fundamentalisten an die Stelle der modernen Offenheit treten und damit Halt und Sicherheit, Orientierungsgewissheit, feste Identität und Gewissheit der geglaubten Wahrheit aufs neue erzwingen und künftigem Wandel entgehen.⁸⁸
Die gegenwärtigen fundamentalisierenden Radikalisierungstendenzen erweisen sich insofern als Folge der sich im Zuge der Postmoderne ereignenden Pluralisierung, als eben jene Tendenzen zur Verabsolutierung des jeweiligen Selbst- und Weltverständnisses nicht gesellschaftlich an das Subjekt herangetragen werden, sondern sich im Kontext konstruktivistisch-narrativen Identitäts-, Geschichtsoder auch Religionsarbeit auf Basis dessen, was Säkularisierung I (funktionale Ausdifferenzierung des Religiösen) und Säkularisierung IV (Verlust der selbstverständlichen Gewissheit des Religiösen) genannt wurde, ereignen, indem das Indi-
86 Vgl. ebd., 152ff. Vgl. hierzu auch: Buchholz: Falsche Wiederkehr der Religion, 16ff. Dallmann: Zwischen Religionslosigkeit und Fundamentalismus, 109ff. Gabriel: Säkularisierung und Wiederkehr der Religionen unter den Bedingungen der Globalisierung, 272; Geldbach: Geschichtliche Kriterien zur Identifizierung des protestantischen Fundamentalismus, 12f. Eickelpasch/ Rademacher: Identität, 7ff. 87 Türcke, Christoph: Kassensturz. Zur Lage der Theologie, Frankfurt / Main 1992, 12. 88 Meyer, Thomas: Fundamentalismus. Aufstand gegen die Moderne, Reinbek 1989, 39f. Vgl. zur Bestimmung des aktuellen (modernen) fundamentalistischen Phänomens auch: Gerber: Fundamentalismen in Europa, 113ff. Khosrokhavar, Farhad: Radicalization. Why Some People Choose the Path of Violence, New York 2017; Masaeli, Mahmoud/Sneller, Rico (Hgg.): The Root Causes of Terrorism. A Religious Studies Perspective, Cambridge 2017; Dunn, James: Fundamentalisms. Threats and Ideologies in the Modern World, London und New York 2016; Armstrong, Karen: Im Namen Gottes. Religion und Gewalt, München 2014.
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viduum mit Gerber formuliert „auf seinen Umbruchskontext und seine Krisenzeit in persönlich-individuellen Entscheidungen, also ‚subjektiviert‘ antwortet.“⁸⁹ So beruhen religiöse Fundamentalismen nach Luhmann auf einer zentralen Paradoxie: „[E]inerseits ist eine individuelle Zuwendung zur Religion […] vorausgesetzt, aber andererseits geht es gerade nicht um die bloße Möglichkeit, nach eigenen Vorstellungen leben zu können.“⁹⁰ Somit sind gemäß Martin Riesebrodt fundamentalisierende Identitäts- und Gruppenbildungen als innovativer Prozess in Bezug auf die gegenwärtige Situation zu verstehen.⁹¹ Im Rahmen dieses Prozesses kommt es im Hinblick auf die mit der Pluralisierung einhergehenden Herausforderungen eine doppelte Reduktion: Zum einen wird im Zuge von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit mit asymmetrischer Klassifikations- und Bezeichnungspraxis im Modus der Abgrenzung, mit Eickelpasch und Rademacher formuliert, eine „kollektive Gegenidentität“⁹² entwickelt, die sich in einem Ausdruck Amartya Sens über die „singuläre Zugehörigkeit“⁹³ zu einer der als „globale Arena“ bezeichneten Kollektivkategorien definiert, obwohl grundsätzlich die „Kategorien, denen wir gleichzeitig angehören, […] sehr zahlreich [sind].“⁹⁴ Zum anderen reduziert sich die Identitäts-, Geschichts- und Religionsarbeit durch den komplexen Zusammenhang von Markt und Medien nach Eickelpasch und Rademacher auf einen „Kampf um Repräsentationen“⁹⁵ im Sinne von „symbolischen Auseinandersetzungen um die legitime Benennung und Interpretation sozialer Gruppen und der sozialen Welt schlechthin.“⁹⁶ Daraus erwächst die Gefahr, dass in solchen Auseinandersetzungen nicht mehr zwischen den Inhalten und den symbolischen Repräsentationen der jeweiligen Selbst- und Weltverständnisse unterschieden wird, indem gemäß Christoph Schwöbel „die Unterscheidung zwischen dem Zeichen und dem Bezeichneten [aufgehoben]“⁹⁷ sowie
89 Gerber: Fundamentalismen in Europa, 47. 90 Luhmann, Niklas: Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt / Main 2000, 296. 91 Riesebrodt, Martin: Zur Polarisierung von Religion. Überlegungen am Beispiel fundamentalistischer Bewegungen, in: Kallscheuer, Otto (Hg.): Das Europa der Religionen. Ein Kontinent zwischen Säkularisierung und Fundamentalismus, Frankfurt / Main 1996, 247–275. Vgl. hierzu auch Buchholz: Falsche Wiederkehr der Religion, 15ff. 92 Eickelpasch/Rademacher: Identität, 92. 93 Sen, Amartya: Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt, 2. Aufl., München 2012, 35. 94 Ebd., 33. 95 Eickelpasch/Rademacher: Identität, 81. 96 Ebd. 97 Schwöbel, Christoph: Ist der Konflikt der Zivilisationen ein Religionskrieg? Zur Aktualität des Problems des Götzendienstes in der postmodernen Gesellschaft, in: Ders.: Gott im Gespräch, 39–68, hier 53.
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„die eigene Identität durch […] identity markers definiert wird, die eine unbedingte Differenz zu Andersgläubigen behaupten.“⁹⁸ Die Auseinandersetzung der „unterschiedlichen Identitäten um ihre Erhaltung und Entfaltung“⁹⁹ erweist sich dergestalt als „Krieg der Symbolwelten“¹⁰⁰, in welchem die Differenz von Zeichen und Bezeichnetem in den Hintergrund tritt. So hatte nach Schwöbel [n]icht nur der Angriff auf das World Trade Center und das Pentagon am 9. September 2001 [...] eine unübersehbare symbolische Dimension […]. Diese symbolische Dimension charakterisiert auch die Symbolauseinandersetzungen in der Gesellschaft der Bundesrepublik, vom „Kruzifix-Streit“ zum „Kopftuch-Streit“ […]. Religiöse Symbole werden zum Medium einer symbolischen Identitätspolitik. [...] Die Verschärfung eines Konflikts zum Identitätskonflikt entzieht die Konfliktsituation der politischen oder wirtschaftlichen Konfliktbearbeitung und Konfliktlösung.¹⁰¹
Die Reduktion der genannten Auseinandersetzungen verwischt somit nicht nur die Differenz von Zeichen und Bezeichnetem, sondern verschleiert aufgrund der Selbstdefinition über singuläre Zugehörigkeiten auch das komplexe Zusammenspiel der unterschiedlichen Arenen. Die Auseinandersetzungen um das Kruzifix, das Kopftuch, den Moscheebau, die Minarette, die Karikaturen oder auch das 2012 veröffentlichte anti-islamische Hetzvideo The innocence of Muslims erweisen sich nicht ausschließlich als religiöse Konflikte, sie haben gleichermaßen mindestens einen kulturellen, nationalen und auch einen sozialen Stand spezifischen Hintergrund, wenn man berücksichtigt, gegen wen und aus welchen Motiven sich die entsprechende kollektive Gegenidentität richtet. Die genannten Reduktionen können so zu einer Verschärfung dessen beitragen, was in Anlehnung an Samuel Huntington oft mit dem Stichwort des „Clash of Civilisations“¹⁰², „Kampf der Kulturen“¹⁰³ beschrieben wird. Die strukturell Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung folgende Dynamik der postmodern 98 Ebd., 47. 99 Ebd., 49. 100 Ebd., 48. 101 Ebd., 48f. 102 Huntington, Samuel: The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York 1996 sowie Ders.: The Clash of Civilizations?, in: Foreign Affairs 72.3 (1993), 22–49. 103 Ders.: Kampf der Kulturen. The Clash of Civilizations. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, 10. Aufl., München 1998 sowie Ders.: Im Kampf der Kulturen, in: DIE ZEIT, 33 / 1993, 3. Vgl. für eine differenzierte und kritische Darstellung von Huntingtons These: Schwöbel: Ist der Konflikt der Zivilisationen ein Religionskrieg?, 39ff. sowie Casanova: Kosmopolitismus, der Kampf der Kulturen und multiple Modernen, 172ff. Weitere Auseinandersetzungen mit Huntington finden sich in: Danz, Christian: Die Partikularität des Universalen. Überlegungen zur Begründung ethischer Normen im Zeitalter des „Kampfes der Kulturen“, in: Amt und Gemeinde 55.11/12 (2004), 229–233; Graefe, Steffen: Der neue radikale Hinduismus. Indien im Kampf der
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geforderten radikalen Pluralisierung und Aufgabe eines universalen Sinnganzen besteht demnach darin, dass die jeweiligen partikularen Konstruktionen und Narrationen bei mangelnder Ambiguitätstoleranz verabsolutiert und mit entsprechenden Exklusivitätsansprüchen verbunden werden. Die postmoderne Kritik an den großen Meta-Erzählungen, die eine solche dialektische Dynamik gerade in deren vermeintlich objektiven Universalitätsansprüchen durch die Betonung des subjektiven Elementes aufdecken wollte, scheint eben jener Dynamik selbst in entgegen gesetzter Richtung anheim zu fallen. Individualisierung, Pluralisierung und Säkularisierung führen somit nicht notwendig zu einem Abschied von dem, was Lyotardt die „Sehnsucht nach dem Ganzen und Einen […]“¹⁰⁴ genannt hat, sondern bringen auf innovative Weise neue Formen von Einheitsund Ganzheitsvisionen hervor, die mit universalem Anspruch andere Selbstund Weltverständnisse negieren und über entsprechende Abgrenzungsstrategien von Inklusion und Exklusion¹⁰⁵ die Grundsätze der jeweils eigenen, partikularen Interpretationsgemeinschaft als universalen Maßstab für die Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens ansehen. So bringen nach Riesebrodt fundamentalisierende Bewegungen im beschriebenen Sinne eine „erfundene Tradition“¹⁰⁶ im Dienste einer eigenen Ideologie hervor und entwickeln in den Worten Shmuel N. Eisenstadts „ontologische Vorstellungen, die dem Bemühen entspringen, Raum und Zeit gemäß ihren utopischen Visionen zu konstruieren. Diese enthalten oft eschatologische Elemente, mit denen sie das Ende der Geschichte deklarieren, und eine messianische Erlösungsbotschaft, mit der sie auf eine drohende Katastrophe antworten.“¹⁰⁷ Als Beispiel dafür kann aus protestantischer Sicht mit Blick auf die erwähnten USamerikanischen Ursprünge einer protestantisch fundamentalistischen Bewegung
Kulturen, Berlin und Münster 2010; Moisi, Dominique: Kampf der Emotionen. Wie Kulturen der Angst, Demütigung und Hoffnung die Weltpolitik bestimmen, Tübingen 2009; Richter, Nicolas: Wo Huntington irrte, 25. Aug. 2013, URL: www . sueddeutsche . de; Schelwis, Benjamin: Lauter Minderheiten: der Libanon. Voller Konflikte, aber kein Beispiel für den Kampf der Kulturen, in: Zeitzeichen 9.2 (2008), 18–21; Tafner, Georg: Das islamische Kopftuch: Brennpunkt des verschleierten Kampfes um die europäische Identität. Eine europapädagogische Kurzbetrachtung, in: Österreichisches Archiv für Recht und Religion 57.1 (2010), 98–119; Todorov, Tzvetan: Die Angst vor den Barbaren. Kulturelle Vielfalt versus Kampf der Kulturen, Bonn 2011; Wolf, Hubert: Der Kampf in den Kulturen, in: Historisches Jahrbuch 127 (2007), 521–553. 104 Lyotard: Beantwortung der Frage: Was ist postmodern?, 203. 105 Vgl. zur Inklusions- und Exklusionsproblematik mit Bezug auf Luhmann auch Dallmann: Zwischen Religionslosigkeit und Fundamentalismus, 115ff. 106 Riesebrodt: Zur Polarisierung von Religion, 255. 107 Eisenstadt, Shmuel N.: Die Vielfalt der Moderne, Weilerswist 2000, 197.
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die entsprechende Interpretation des christlich theologischen topos der Heilsgeschichte dienen, dem in der genannten Bewegung gemäß Geldbach der Gedanke zugrunde [liegt], dass in der Bibel die Geschichte als Heilsgeschichte aufgezeichnet ist. Sie entfaltet sich in einer Abfolge von „Heilsbünden“, die nur dem vom Geist erleuchteten Menschen wahrnehmbar sind und die im Englischen „dispensions“ genannt werden. […] Damit ist auch der Gedanke der „Entrückung“ impliziert.¹⁰⁸
An der Entrückung haben ausschließlich die wahren Christen teil, so dass in einer Art „Endzeitfieber“ entsprechende Spekulationen darüber vorgenommen werden, wer zum Kreis der Entrückten gehören darf und wer in Anlehnung an Mt 24,40ff. preisgegeben wird, was sich in einer Fülle von Büchern über endzeitliche Ereignisse und den Vorgang der Entrückung niedergeschlagen hat.¹⁰⁹ Nach Geldbach ist das auffallendste Beispiel „eine seit 1995 auf den Markt geworfene Serie von 16 Bänden mit dem Generaltitel ‚Left Behind‘. Sie wurden von […] Jerry Jenkins […] und Tim LaHaye […] verfasst und wurden in mehr als 65 Millionen Exemplaren verkauft.“¹¹⁰ Ein solches Geschichtsverständnis erweist sich als Vorstellung einer progressiven Heilsgeschichte, indem die biblischen Texte als Information über „Anfang und Ende der Geschichte“¹¹¹ ausgelegt werden sowie Kriterien zur Inklusion und auch Exklusion an der erhofften Entrückung enthalten. Angesichts solch utopischer Visionen einer progressiven Heilsgeschichte scheinen sich die Bedenken gegen Hayden Whites Geschichtstheorie bewahrheitet zu haben: Die Dominanz des subjektiven Elementes innerhalb der Identitäts-, Religions- und Geschichtsarbeit führt zu einer problematischen Verobjektivierung subjektiv-partikularer Konstruktionen und Narrationen, was durch den Verlust des objektiv-faktischen Elementes fundamentalisierende Beliebigkeit begünstigt. Darüber hinaus wirkt die Vereinnahmung des topos der Heilsgeschichte durch fundamentalisierende Bewegungen einer konstruktiven Auseinandersetzung in Bezug auf die Frage der Heilsgeschichte in der evangelischen Theologie entgegen. Die im Hinblick auf die Problematik der Verhältnisbestimmung von Welt- und Heilsgeschichte, Inklusion und Exklusion sowie die Implikation eines sinnvollen, zielgerichteten oder auch progressiven Gesamtzusammenhangs der Geschichte ohnehin schon immer wieder in Zweifel gezogene Verwendung des
108 Geldbach: Geschichtliche Kriterien zur Identifizierung des protestantischen Fundamentalismus, 5f. 109 Ebd., 6. 110 Ebd. Vgl. für eine ausführliche Erörterung von fundamentalisierenden Elementen im Protestantismus: Gerber: Fundamentalismen in Europa, 65–97 sowie Geldbach: Geschichtliche Kriterien zur Identifizierung des protestantischen Fundamentalismus, 12f. 111 Ebd., 5.
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Ausdrucks „Heilsgeschichte“ wird durch die heilsgeschichtliche Orientierung der protestantisch fundamentalisierenden Bewegungen wesentlich unterstützt.¹¹² Angesichts der beschriebenen Sachlage möchte die vorliegende Arbeit aus christlich theologischer Perspektive nach der Möglichkeit eines Geschichtsverständnisses fragen, das imstande ist, ein subjektiv-partikulares Element mit einem objektiv-faktischen Element in einer Weise zu vermitteln, die der problematisierten dialektischen Dynamik der großen Meta-Erzählungen wie auch der fundamentalisierenden Bewegungen zu entgehen vermag. Als Grundlage der Erörterung dieser Frage soll die Rekonstruktion und Analyse des fünften Teils der dreibändigen Systematischen Theologie von Paul Tillich „Die Geschichte und das Reich Gottes“ dienen, weil Tillich hier explizit die Frage nach dem Sinn der Geschichte stellt und die christliche Eschatologie über den Begriff „Reich Gottes“ daraufhin entfaltet. Er entwickelt seine Theologie vor dem Hintergrund der von ihm erfahrenen geschichtlichen Ereignisse und des von ihm explizit immer wieder reflektierten Zeitgeistes. 1886 als Sohn des evangelisch-lutherischen Pfarrers Johannes Oskar Tillich und seiner Ehefrau Wilhelmina Mathilde, geborene Dürselen, in Starzeddel im ehemaligen preußischen Landkreis Brandenburg geboren, erlebt Tillich bis zu seinem Tod 1965 in Chicago einen Großteil der zentralen geschichtlichen Ereignisse, ausgehend vom Ende des 19. Jahrhunderts bis hin zu den Umgestaltungen der politischen Weltordnung nach dem zweiten Weltkrieg: Kindheit und Jugend sind von den letzten Zügen des deutschen Kaiserreiches geprägt, sein Studium noch stark beeinflusst vom Deutschen Idealismus. Am ersten Weltkrieg nimmt Tillich als Feldprediger teil, die Anfänge seiner dem Religiösen Sozialismus affinen Lehrtätigkeit liegen in der Zeit der jungen Weimarer Republik. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 geht für Tillich mit dem Entzug seiner Lehrerlaubnis einher und führt zu seiner Emigration in die USA, in der er bis zu seinem Tod einer akademischen Lehrtätigkeit in New York, Harvard und Chicago nachgeht, so dass er die US-amerikanischen Entwicklungen dieser Zeit, inklusive der McCarthy-
112 Vgl. hierzu insbesondere Mildenberger, Friedrich: Heilsgeschichte, in: Betz, Hans Dieter (Hg.): Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Bd. 3, 2000, 1584–1586 sowie auch Pannenberg, Wolfhart: Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie VIII, in: Müller, Gerhard u. a. (Hgg.): Theologische Realenzyklopädie, Bd. 12, 1984, 660–671. Vgl. exemplarisch für eine konstruktive Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang von Heil und Geschichte aus evangelischer, systematisch theologischer Perspektive: Schwöbel, Christoph: „Heilsgeschichte“. Zur Anatomie eines umstrittenen theologischen Konzepts, in: Frey, Jörg/Krauter, Stefan/ Lichtenberger, Hermann (Hgg.): Heil und Geschichte. Die Geschichtsbezogenheit des Heils und das Problem der Heilsgeschichte in der biblischen Tradition und in der theologischen Deutung, Tübingen 2009, 745–757.
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Ära, konkret vor Ort erlebt.¹¹³ Im Rahmen der genannten Entwicklungen sieht sich Tillich in unterschiedlicher Weise mit absoluten Universalitäts- oder auch Totalitätsansprüchen konfrontiert, ob im Kontext seiner christlich-religiösen Auseinandersetzung mit dem Sozialismus oder aufgrund seiner Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus. Seine Beschreibung der gesellschaftlichen Situation vor dem Hintergrund der Weimarer Republik aus dem Jahre 1926 scheint im Hinblick auf die geschilderte gegenwärtige gesamtgesellschaftliche Situation wenig an Aktualität eingebüßt zu haben: Die Furcht vor dem Erfolg dieser politisch beunruhigenden Kräfte und die Furcht vor der unvermeidlichen Selbstzerstörung Europas in einem neuen Kriege führt nun ihrerseits zu radikalen, die Einheit Europas fordernden Bewegungen. Vorläufige Beruhigung, starke Kräfte der Beunruhigung und relativ schwache Gegenwirkungen, das charakterisiert die äußere politische Lage. Ihr entspricht die Innenpolitik: […] Der Glaube an die Demokratie in jeder Form ist erschüttert. Aber ihr reales Schwergewicht ist nur wenig vermindert.¹¹⁴
Tillich weitet im Anschluss daran seine Betrachtung des Zeitgeistes in ähnlicher Weise auf die Situation der Wissenschaften, der bildenden Kunst und der Religion aus. So schreibt er: [D]ie romantischen Vorwegnahmen einer Einheitskultur sind zerbrochen. […] Das gilt nun insonderheit von der Religion. […] Es ist sehr still geworden von allem Positiven, was Mensch und Kultur vorzuweisen hätten. Und wenn die offiziellen Kirchen diese Stille, die unserer Lage auch im Religiösen zukommt, nicht halten, wenn sie jenes Programm, daß die Religion
113 Vgl. für ausführliche biographische Darstellungen von Paul Tillichs Leben: Aveline, JeanMarc: Paul Tillich, Marseille 2007; Albrecht, Renate/Schüßler, Werner (Hgg.): Paul Tillich. Sein Leben, Frankfurt / Main 1993; Bertinetti, Ilse: Paul Tillich, Berlin 1990; Ratschow, Carl Heinz: Protestantisches Prinzip und religiöser Atheismus bei Paul Tillich, in: Jaspert, Bernd/Ratschow, Carl Heinz (Hgg.): Paul Tillich. Ein Leben für die Religion, Kassel 1987, 57–80; Tillich, Paul: Ein Lebensbild in Dokumenten. Briefe, Tagebuch-Auszüge, Berichte, in: Ders.: Gesammelte Werke. Ergänzungs- und Nachlaßbände. Ein Lebensbild in Dokumenten. Briefe, Tagebuch-Auszüge, Berichte, Albrecht, Renate/Hahl, Margot (Hgg.), Bd. V, Berlin 1980 (im Folgenden werden die entsprechenden Bände der Ergänzungs- und Nachlassbände von Tillich als „EW“ bezeichnet); Wehr, Gerhard: Paul Tillich in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 1979; Pauck, Wilhelm/Pauck, Marion: Paul Tillich, Stuttgart 1978. Vgl. speziell zu Paul Tillichs Zeit nach seiner Emigration in die USA: Danz, Christian/Schüßler, Werner: Paul Tillich im Exil, Berlin und Boston 2017. 114 Tillich, Paul: Die geistige Welt im Jahre 1926, in: Ders.: Gesammelte Werke. Die religiöse Deutung der Gegenwart. Schriften zur Zeitkritik, Albrecht, Renate (Hg.), Bd. X, Stuttgart 1968, 94–99, hier 95. Im Folgenden werden die entsprechenden Bände der Gesammelten Werkausgabe von Tillich als „GW“ bezeichnet.
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alles ist, so deuten, daß sie, die bestimmte Kirche, einen Anspruch auf alles hat, so zeigen sie damit, wie wenig sie […] von dem Gericht über diesen Geist erlebt haben.¹¹⁵
Hier deutet sich mit der grundlegenden Skepsis gegenüber Totalitätsansprüchen einerseits sowie dem Festhalten an einer universalen Dimension der Religion andererseits schon ein grundsätzliches Anliegen von Tillichs theologischem Programm an. Sein Bemühen um eine christlich-theologische Position jenseits der Alternative von beliebigem, funktionalem Relativismus und im aktuellen Sinne fundamentalisierenden Absolutheitsansprüchen, die den besonderen christlichen Wahrheitsanspruch mit gesellschaftsgestaltender Kraft zu erhalten vermag, ohne sich selbst zu verabsolutieren, zeigt sich in Bezug auf die konkrete geschichtliche Entwicklung exemplarisch auch in seinen zehn Thesen über Die Kirche und das Dritte Reich von 1932, deren achte These wie folgt lautet: Der Protestantismus hat seinem Wesen nach nicht die Möglichkeit, sich in einer bestimmten politischen Richtung darzustellen. Er muß die Freiheit von sich selbst darin bewähren, daß Protestanten jeder politische Partei angehören können, selbst denjenigen, die den Protestantismus in seiner kirchlichen Verwirklichung bekämpfen. Er muß aber jede Partei wie überhaupt jedes menschliche Tun unter das Gericht und die Hoffnung der prophetischurchristlichen Reich-Gottes-Verkündigung stellen.¹¹⁶
Den Grund dafür, warum kein menschliches Tun sich selbst verabsolutieren darf, benennt Tillich unter anderem in seiner Rede zum 40jährigen Bestehen des „Time Magazine“ in New York Die Situation des Menschen vom 6.5.1963: Nun ist es meine Überzeugung, daß die Situation des Menschen wie allen Lebens durch die Tatsache der „Zweideutigkeit“ bestimmt ist. Zweideutigkeit in diesem Sinne ist die untrennbare Mischung von Gut und Böse, von Wahr und Falsch, von schöpferischen und zerstörerischen Kräften – sowohl im individuellen wie im gesellschaftlichen Bereich.¹¹⁷
Jener Zweideutigkeit unterliegt auch die kulturelle Dimension der Religion, die als solche unbedingt auf das verwiesen bleiben muss, was Tillich die „vertikale[ ] Dimension“¹¹⁸ des Religiösen nennt und von der aus sie ihre kritische und gestaltende Kraft entfaltet: „Religion in diesem Sinn ist der Zustand, in dem wir von
115 Tillich: Die geistige Welt im Jahre 1926, 99. 116 Ders.: Die Kirche und das Dritte Reich, in: Ders.: Gesammelte Werke. Impressionen und Reflexionen. Ein Lebensbild in Aufsätzen, Reden und Stellungnahmen, Albrecht, Renate (Hg.), Bd. XIII, Stuttgart 1972, 177–178, hier 178. 117 Ders.: Die Situation des Menschen, in: Ders.: GW XIII, 429–433, 429f. 118 Ebd., 432.
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dem unendlichen Ernst der Frage nach dem Sinn unseres Lebens ergriffen werden und bereit sind, auf Antworten zu hören und unser Handeln nach ihnen zu richten.“¹¹⁹ Auf welche Weise Tillich das sich in seinen Zeitgeistanalysen bereits andeutende theologische Programm im Hinblick auf die Frage nach einem christlichen Geschichtsverständnis entwickelt, das, um mit einer Formulierung von Patrick Becker zu sprechen, „[j]enseits von Fundamentalismus und Beliebigkeit“¹²⁰ der Geschichte einen universalen Sinn zuzusprechen vermag, ohne die jeweils kulturelle Gestalt einer christlichen Glaubensgemeinschaft zu verabsolutieren, soll Gegenstand der vorliegenden Arbeit sein, da der Problemhorizont, innerhalb dessen Tillich seine theologische Position formuliert, hinsichtlich der Spannungen von pluraler Vielfalt und fundamentalisierenden Tendenzen strukturelle Analogien aufweist. Die Auseinandersetzung mit Tillichs Geschichtsverständnis erfolgt wesentlich auf Grundlage des fünften Teils seiner dreibändigen Systematischen Theologie „Die Geschichte und das Reich Gottes“, wobei seinen dort formulierten Ausführungen zentrale Bestimmungen aus den vorangegangenen Teilen der Systematischen Theologie zugrunde liegen, die für die sich in den Kontext seines theologischen Systems einfügende Rekonstruktion und Analyse seines Geschichtsverständnisses herangezogen werden. Eben jene erfolgt in fünf Kapiteln: a) Ein erster Schritt stellt in Bezug auf seine diesbezüglichen Ausführungen im fünften Teil seiner dreibändigen Systematischen Theologie „Die Geschichte und das Reich Gottes“ die Frage danach, inwiefern gemäß Tillich Geschichte grundsätzlich als Lebensprozess zu verstehen ist. Darüber hinaus lassen sich in diesem Zusammenhang im Hinblick auf Tillichs Methode der Korrelation, seinen Symbolbegriff, den Aufbau seiner Systematischen Theologie und die Einordnung des behandelten Themenkomplexes in den Bereich der Eschatologie grundlegende methodische Voraussetzungen von Tillichs theologischem System klären. b) Darauf aufbauend erfolgt in einem zweiten Schritt eine Erläuterung von Tillichs Konzeption der Merkmale dessen, was er allgemein als „Geschichte“ bezeichnet, um daran anschließend mit der Unterscheidung eines geschichtsimmanenten sowie eines geschichtstranszendenten Elementes im Hinblick auf die den Sinn der Geschichte explizierenden christlichen Symbole „Gegenwart des göttlichen Geistes“, „Reich Gottes“ und „Ewiges Leben“ die Spezifika von Tillichs christlichem Geschichtsverständnis zu entwickeln.
119 Ebd., 432f. 120 Becker, Patrick: Jenseits von Fundamentalismus und Beliebigkeit, Freiburg im Breisgau 2017.
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c) Da Tillich von den genannten drei Symbolen „Reich Gottes“ als das umfassendste bestimmt, wird dann im Folgenden in einem dritten Schritt anhand einer Erörterung von Jesus Christus als zentraler Manifestation des Reiches Gottes in der Geschichte im Sinne des großen kairos, der Rolle der Kirchen als innergeschichtlichen Repräsentanten des Reiches Gottes sowie der Gegenwart des Reiches Gottes in der Weltgeschichte als solcher Tillichs Verständnis der geschichtlichen Immanenz des Reiches Gottes im Hinblick auf die Frage nach dem Verhältnis von Heils- und Weltgeschichte dargelegt. d) Ein vierter Schritt analysiert Tillichs Auffassung des Reiches Gottes als das die Geschichte transzendierende Ziel der Geschichte, indem die Bedeutung der Symbole „Ewiges Leben“, „Auferstehung“ und „Jüngstes Gericht“ gemäß Tillich sowie Tillichs Gottesverständnis in Bezug auf Zeit, Ewigkeit und Trinität erläutert wird. e) Der fünfte und letzte Schritt nimmt eine umfassende Auswertung von Tillichs in seiner Systematischen Theologie eschatologisch entfaltetem, christlichem Geschichtsverständnis vor, die zunächst zusammenfassend den Sinn der Geschichte als Erfüllung bestimmt und dann die Ergebnisse der Rekonstruktion und Analyse der Systematischen Theologie epigenetisch auf die eschatologischen Grundlinien in Tillichs der Systematischen Theologie vorausgehenden Schriften bezieht, wobei an einzelnen Stellen bereits in den Kapiteln 2-5 Hinweise auf die der Systematischen Theologie vorausgehenden Schriften erfolgen.¹²¹ Da Tillich jedoch erst mit der Systematischen Theologie eine umfassende Eschatologie vorlegt, werden die eschatologischen Grundlinien in den der Systematischen Theologie vorausgehenden Schriften ausführlich im Anschluss an die ausführliche Erörterung der Systematischen Theologie dargelegt, um diese im Hinblick auf den Entwicklungsprozess von Tillichs Theologie in Bezug auf seine Eschatologie in der Systematischen Theologie fruchtbar zu machen. Dabei sollen die verschiedenen Akzentsetzungen von Tillichs Theologie vor dem Hintergrund einer grundsätzlichen Kontinuitätsperspektive in Tillichs theologischem Schaffen exemplarisch anhand der Stichworte „Religiöser Sozialismus“, „Kairos“, „Prophetischer Geist“, „Theonomie“, „das Dämonische“ und „das protestantische Prinzip“ aufgezeigt werden. Abschließend wird das (selbst-)kritische und gestaltende Potential eines Tillich folgenden christlichen Geschichtsverständnisses im Hinblick auf die gegenwärtigen Probleme der Pluralisierung und den damit einhergehenden fundamentalisierenden Strömungen diskutiert.
121 Die Hinweise auf die Auswahl der verwendeten Schriften finden sich im Zusammenhang der jeweiligen Darstellung dieser Arbeit.
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Dementsprechend liegt die Absicht der vorliegenden Arbeit darin, einen Forschungsbeitrag zur Erfassung von Tillichs Eschatologie im Kontext seines theologischen Systems in der Systematischen Theologie zu leisten, indem der enge Zusammenhang von Eschatologie und christlichem Geschichtsverständnis mit Bezug auf Tillichs theologische Entwicklung epigenetisch herausgearbeitet werden soll, um die Ergebnisse dieser Betrachtung schließlich auf die Herausforderungen der aktuellen gesamtgesellschaftlichen Situation beziehen zu können. Die Erörterung orientiert sich an der deutschen Ausgabe der Systematischen Theologie, die im Evangelischen Verlagswerk Stuttgart zwischen 1956 und 1966 erstmals publiziert wurde. Die entsprechenden Literaturangaben geben dann die jeweils verwendete Auflage an. Darüber hinaus erfolgen in den Literaturangaben in eckigen Klammern die Hinweise auf die zwischen 1951 und 1963 bei der University Press of Chicago erstmals erschienene englische Ausgabe mit der entsprechenden Nennung der verwendeten Auflage. Auf Abweichungen der deutschen von der englischen Fassung wird exemplarisch nur dann verwiesen, wenn inhaltlich markant andere Nuancen gesetzt werden, da die Textgeschichte sehr komplex ist. Eine ausführliche Auseinandersetzung zur Problematik der Textgeschichte der deutschen Übersetzung findet sich bei Christian Danz.¹²² Konkret gibt es gegenwärtig erst zwei ausführlichere Forschungsarbeiten, die sich der Betrachtung von Tillichs Eschatologie in der Systematischen Theologie widmen: Das ist zum einen die Arbeit von Hermann Eberhardt Der Reich-GottesBegriff im Denken Paul Tillichs – Eine Studie zur Grundlegung der (Sozial-)Ethik durchgeführt am Reich-Gottes-Begriff Paul Tillichs¹²³ aus dem Jahre 1969 sowie die Arbeit von Eberhard Rolinck Geschichte und Reich Gottes – Philosophie und Theologie der Geschichte bei Paul Tillich¹²⁴ aus dem Jahre 1976. Während Eberhardt den Fokus seiner Studie vor allem auf die Bedeutung von Tillichs Reich-GottesBegriff für die (sozial-)ethische Grundlegung legt und Rolinck seine Analyse schwerpunktmäßig auf Tillichs Philosophie und Theologie der Geschichte im Allgemeinen konzentriert, möchte sich die vorliegende Arbeit einer ausführlichen Erörterung der Eschatologie Tillichs im Zusammenhang seines christlichen Geschichtsverständnisses widmen. Den Zusammenhang von Ethik und Eschato-
122 Danz, Christian: Textgeschichtliche Einleitung zur deutschen Übersetzung der Systematischen Theologie, in: Tillich, Paul: Systematische Theologie I–II, 9. Aufl., Berlin 2017, XV–LXV. Speziell in Bezug auf Abweichungen: LXIff. 123 Eberhardt, Hermann: Der Reich-Gottes-Begriff im Denken Paul Tillichs. Eine Studie zur Grundlegung der (Sozial-)Ethik durchgeführt am Reich-Gottes-Begriff Paul Tillichs, Diss., Univ. Münster, 1969. 124 Rolinck, Eberhard: Geschichte und Reich Gottes. Philosophie und Theologie der Geschichte bei Paul Tillich, München, Paderborn und Wien 1976.
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logie bei Tillich betrachten in einem weiteren Sinne noch eine Arbeit von Ulrich Samse sowie ein von Christian Danz im Rahmen der Reihe International Yearbook for Tillich Research herausgegebener Aufsatzband.¹²⁵ Eine Auseinandersetzung mit Tillichs Geschichtsverständnis bietet der ebenfalls von Christian Danz in der Reihe International Yearbook for Tillich Research herausgegebener Aufsatzband Interpretation of History.¹²⁶ Eine Betrachtung von Tillichs Eschatologie in Beziehung zu seiner Ontologie findet sich in der Arbeit Paul A. Wees von 1975.¹²⁷ Zum Themenfeld von Tillichs Eschatologie sind bereits Aufsätze von Christian Danz¹²⁸, Theodor Mahlmann¹²⁹, Ted Peters¹³⁰, Hartmut Rosenau¹³¹ sowie ein von Gert Hummel herausgegebener Aufsatzband mit dem Titel New Creation or Eternal Now¹³², unter anderem mit Beiträgen von Hannelore Jahr¹³³, Hans Schwarz¹³⁴ und Gunther Wenz¹³⁵, erschienen, die teilweise einen Bezug zu Tillichs Geschichtsverständnis herstellen und der Frage nach dem präsentischen und/oder futurischen
125 Samse, Ulrich: Der Zusammenhang von Eschatologie und Ethik bei Paul Tillich, Bonn 1980; Danz, Christian (Hg.): Ethics and Eschatology (International Yearbook for Tillich Research 10), Berlin und Boston 2015. 126 Ders.: Das Göttliche und das Dämonische. Paul Tillichs Deutung von Geschichte und Kultur, in: Ders. (Hg.): Interpretation of History (International Yearbook for Tillich Research 8), Berlin und Boston 2013, 1–14. 127 Wee, Paul A.: Space and Time. The relationship between ontology and eschatology in the philosophical theology of Paul Tillich, Berlin 1975. 128 Danz, Christian: Das Reich Gottes als Ziel der Geschichte. Das Reich Gottes als Geschichtsreflexion bei Paul Tillich, in: Kaennel, Lucie/Reymond, Bernard (Hgg.): Les peurs, la mort, l’espérance. autour de Paul Tillich, Münster 2009, 195–208. 129 Mahlmann, Theodor: Eschatologie und Utopie im geschichtsphilosophischen Denken Paul Tillichs, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie 7 (1965), 339–370. 130 Peters, Ted: Eschatology. Eternal Now or cosmic future?, in: Zygon 36.2 (2001), 349–356. 131 Rosenau, Hartmut: Das Reich Gottes als Sinn der Geschichte. Grundzüge einer pneumatologischen Geschichtstheologie bei Paul Tillich, in: Danz, Christian (Hg.): Theologie als Religionsphilosophie. Studien zu den problemgeschichtlichen und systematischen Voraussetzungen der Theologie Paul Tillichs, Wien 2004, 197–223; Ders.: Das Reich Gottes als Sinn der Geschichte. Grundzüge der Geschichtstheologie Tillichs, in: Härle, Wilfried/Preul, Reiner (Hgg.): Reich Gottes (Marburger Jahrbuch Theologie XI), Marburg 1999, 63–83. 132 Hummel, Gert (Hg.): New Creation or Eternal Now – Neue Schöpfung oder Ewiges Jetzt, Berlin und New York 1991. 133 Jahr, Hannelore: Vom Kairos zur heiligen Leere, in: Hummel (Hg.): New Creation or Eternal Now – Neue Schöpfung oder Ewiges Jetzt, 3–25. 134 Schwarz, Hans: Der Stellenwert der Eschatologie in der Theologie Paul Tillichs, in: Hummel (Hg.): New Creation or Eternal Now – Neue Schöpfung oder Ewiges Jetzt, 219–226. 135 Wenz, Gunther: Eschatologie als Zeitdiagnostik. Paul Tillichs Studie zur religiösen Lage der Gegenwart von 1926 im Kontext ausgewählter Krisenliteratur der Weimarer Ära, in: Hummel (Hg.): New Creation or Eternal Now – Neue Schöpfung oder Ewiges Jetzt, 57–126.
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Charakter von Tillichs Eschatologie nachgehen. Auf die Befunde der genannten Titel sowie weiterer Forschungsliteratur zu Tillichs theologischem System wird im Rahmen der vorliegenden Studie zum Zusammenhang von Tillichs Eschatologie und seinem Geschichtsverständnis an entsprechender Stelle hingewiesen. Diese werden bei Bedarf in Bezug auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede der jeweiligen Interpretationslinien diskutiert. Darüber hinaus bezieht die vorliegende Arbeit Ausführungen von Tillichs langjährigem Kollegen am Union Theological Seminary in New York, Reinhold Niebuhr, ein, mit dem Tillich in engem Austausch stand, da Niebuhrs Bestimmung des Verhältnisses von Eschatologie und christlichem Geschichtsverständnis interessante strukturelle Analogien zu Tillichs theologischem Werk aufweist.¹³⁶ Die jeweiligen Bezugsstellen aus Niebuhrs Schrift Jenseits der Tragödie. Betrachtungen zur christlichen Deutung der Geschichte, die im englischen Original 1937 unter dem Titel Beyond Tragedy¹³⁷ erschienen ist, finden sich an den entsprechenden Stellen der im Folgenden vorgenommenen Auseinandersetzung mit Tillichs eschatologischem Entwurf.
136 Das gemeinsame theologische wie auch politische Wirken von Reinhold Niebuhr und Paul Tillich im Rahmen ihrer gemeinsamen Lehrtätigkeit am Union Theological Seminary in New York wird in folgenden Beiträgen ausführlich erörtert: Erwin, Scott R.: The theological vision of Reinhold Niebuhr’s The irony of American history: „in the battle and above it“, Oxford 2013; Stone, Ronald: Politics and faith. Reinhold Niebuhr and Paul Tillich at Union Seminary in New York, Macon / Ga. 2012; Rice, Daniel: Reinhold Niebuhr and his circle of influence, Cambridge 2012; Ders.: Paul Tillich and the „German Situation“, in: Union seminary quarterly review 62.3/4 (2010), 152–186; Finstuen, Andrew S.: Original sin and everyday Protestants. The theology of Reinhold Niebuhr, Billy Graham, and Paul Tillich in an age of anxiety, Chapel Hill, NC 2009; Stone, Ronald: Tillich and Niebuhr as allied Public Theologians, in: Political Theology 9.4 (2008), 503–511; Ders.: Reinhold Niebuhr and Paul Tillich in New York. Political Conversations, in: Boss, Marc (Hg.): Éthique sociale et socialisme religieux, Münster 2005, 91–101; Dreyer, Yolande: From the other side of doubt – overcoming anxiety and fear. Paul Tillich’s „Courage to be“ and Reinhold Niebuhr’s „Christian Realism“, in: Hervormde teologiese studies 60.4 (2004), 1245–1266; Pauck, Marion: Reinhold Niebuhr, Wilhelm Pauck, and Paul Tillich. Public and Private, in: Union Seminary Quarterly Review 53.1/2 (1999), 29–45; Anderson, Victor: The wrestle of Christ and culture in pragmatic public theology, in: American journal of theology and philosophy 19.2 (1998), 135–150; Cruz, Eduardo R.: Is nature innocent? Reflections on Niebuhr and Tillich, in: Studies in science and theology 3 (1995), 215–224; Stone, Ronald: The Zionism of Paul Tillich and Reinhold Niebuhr, in: Ecumenical Institute for Theological Research (Yerûšālayim) (Hg.), Jerusalem 1980– 1981, 219–233. 137 Niebuhr, Reinhold: Jenseits der Tragödie. Betrachtungen zur christlichen Deutung der Geschichte, München 1947.
2 Die Geschichte als umfassendster Lebensprozess Gemäß Tillich erweist sich die „menschliche[ ] Geschichte als de[r] umfassendste[ ] Lebensprozeß“¹, da „die geschichtliche Dimension erst in der menschlichen Geschichte Eigenständigkeit erlangt, obwohl sie in allen Bereichen des Lebens gegenwärtig ist.“² Demnach unterscheidet Tillich die „‚geschichtliche Dimension‘, die zu allen Lebensprozessen gehört, von der eigentlichen Geschichte […], die es für uns nur in der Form der menschlichen Geschichte gibt“³, weil sich in ihr „Geist aktualisiert.“⁴ Um zu erörtern, inwiefern die geschichtliche Dimension erst in der menschlichen Geschichte als umfassendstem Lebensprozess durch die Aktualisierung des Geistes ihre Eigenständigkeit erlangt, ist zu klären, was im Sinne Tillichs unter „Lebensprozess“, der „Aktualisierung des Geistes“ sowie einer „Dimension des Lebens“ zu verstehen ist und wodurch sich der Lebensprozess des Menschen im Besonderen auszeichnet. Hierfür ist zunächst zu erläutern, was Tillich als „Leben“ bestimmt: Leben ist nach Tillich „Aktualisierung potentiellen Seins“⁵, wobei eben jene „Aktualisierung vom Potentiellen zum Aktuellen“⁶ einen Prozess darstellt, in welchem drei Elemente zu differenzieren sind: „Selbst-Identität, Selbst-Veränderung und Rückkehr-zu-sich-selbst. Nur durch diese drei Schritte wird in dem Prozess, den wir Leben nennen, Potentialität zu Aktualität.“⁷ Dadurch, dass das „Gleichbleiben-mit-sich-selbst (Selbst-Identität) […] in dem Herausgehen-aussich-selbst erhalten [bleibt]“⁸, können die benannten drei Elemente auch als „fundamentale Struktur der Selbst-Identität und der Selbst-Veränderung“⁹ bezeichnet werden, da die Rückkehr-zu-sich-selbst die Selbst-Identität im Lebensprozess erhält. Ein ähnliches Verständnis des Lebens formuliert Tillich schon 1930 in seiner
1 Tillich, Paul: Systematische Theologie, 4. Aufl., Bd. III, unveränd. photomechan. Nachdr., Berlin 1987 (Stuttgart 1966), Stuttgart 1984, 341. Im Original: Ders.: Systematic Theology, 2. Aufl., Bd. 3, (1963), Chicago 1978, 297. Von hier an werden die Seitenzahlen des englischen Originals in eckigen Klammern angegeben. 2 Ders.: ST III, 341 [297]. 3 Ebd., 341. 4 Ebd. 5 Ebd., 42 [30]. 6 Ebd., 44 [31]. 7 Ebd., 42 [30]. 8 Ebd. 9 Ebd., 44 [32]. https://doi.org/10.1515/9783110733181-002
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Schrift Sozialismus, indem er Leben als „Spannung zwischen ‚Einssein mit sich‘ und ‚Sichtrennen von sich‘“¹⁰ beschreibt. Die fundamentale Struktur von Selbst-Identität und Selbst-Veränderung bildet somit die Grundlage eines jeden Lebensprozesses und wirkt innerhalb der drei Funktionen des Lebens, die jeweils durch ein ihnen wesentliches Prinzip bestimmt werden: Selbst-Integration unter dem Prinzip der Zentriertheit; das Sich-Schaffen unter dem Prinzip des Wachstums; Selbst-Transzendierung unter dem Prinzip des Heiligen. Die fundamentale Struktur der Selbst-Identität und der Selbst-Veränderung ist in jeder Funktion wirksam, und jede Funktion ist abhängig von den Grundpolaritäten des Seins: die Selbst-Integration von der Polarität „Individualisation und Partizipation“, das Sich-Schaffen von der Polarität „Dynamik und Form“ und die Selbst-Transzendierung von der Polarität „Freiheit und Schicksal“. Und die Struktur der Selbst-Identität und Selbst-Veränderung beruht auf der ontologischen Grundstruktur der Selbst-Welt-Korrelation.¹¹
Um also im Einzelnen zu verstehen, was gemäß Tillich als „Lebensprozess“, „Aktualisierung des Geistes“ sowie „Dimension des Lebens“ zu bezeichnen ist, soll im Folgenden in einem ersten Schritt Tillichs Verständnis der ontologischen Grundstruktur der Selbst-Welt-Korrelation und in einem zweiten Schritt seine Konzeption der Grundpolaritäten des Seins im Zusammenhang mit den Funktionen des Lebens und den sie bestimmenden Prinzipien im Rahmen der Dimension des Geistes erörtert werden.
10 Ders.: Sozialismus, in: Ders.: Gesammelte Werke. Christentum und soziale Gestaltung. Frühe Schriften zum religiösen Sozialismus, Albrecht, Renate (Hg.), Bd. II, Stuttgart 1962, 139–150, hier 139. 11 Ders.: ST III, 44 [31]. Vgl. hierzu auch Tillichs Berliner Vorlesung Ontologie aus dem SoSe 1951: Ders.: Ontologie, in: Ders.: Gesammelte Werke. Ergänzungs- und Nachlaßbände. Berliner Vorlesungen III (1951–1958), Sturm, Erdmann (Hg.), Bd. XVI, Berlin 2009, 1–168. Eine ausführliche Erörterung dieser ontologischen Grundstruktur der Selbst-Welt-Korrelation findet sich in folgendem Beitrag: Acapovi, Crépion Magloire C.: „Der Mensch hat Welt.“ Die Selbst-Welt-Korrelation als Ausgangspunkt der Ontologie Paul Tillichs, in: Trierer theologische Zeitschrift 120.1 (2011), 79–87.
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2.1 Die ontologische Grundstruktur der Selbst-Welt-Korrelation Gemäß der ontologischen Grundstruktur alles Seienden stehen nach Tillich grundsätzlich Selbst und Welt in einer Korrelation, wobei der „Ausdruck ‚Selbst‘ […] umfassender [ist] als der Ausdruck ‚Ich‘“¹², so dass allen Lebewesen in gewissem Maße Selbstheit oder Selbstzentriertheit zugestanden werden [kann] und analog auch allen individuellen Gestalten, sogar im anorganischen Bereich. […] Der Mensch ist das voll entwickelte und völlig zentrierte Selbst. Er „besitzt“ sich in der Form des Selbst-Bewußtseins. […] Jedes Selbst hat eine Umgebung, in der es lebt, und das IchSelbst hat eine Welt, in der es lebt. […] Wie das griechische kosmos und das lateinische universum andeuten, ist „Welt“ eine Einheit von Mannigfaltigkeit. […] Die Welt ist das Strukturganze, das alle Umgebungen einschließt und transzendiert […].¹³
Dementsprechend bildet die Selbst-Welt-Korrelation in Bezug auf alles Seiende und somit in Bezug auf sämtliche Lebensprozesse die Grundlage für die fundamentale Struktur von Selbst-Identität und Selbst-Veränderung. Aufgrund seines Selbstbewusstseins erfasst der Mensch eben jene Korrelation von Selbst und Welt als ontologische Grundstruktur alles Seienden, denn obgleich er das Zentrum seiner Perspektive ist, ist er auch Teil dessen, was in ihm zentriert ist, ein Teil des Universums. […] Ohne seine Welt wäre das Selbst eine leere Form. Das Selbstbewusstsein hätte keinen Inhalt, denn jeder Inhalt […] liegt innerhalb des Universums. Es gibt kein Selbstbewußtsein ohne Weltbewußtsein, aber auch das Umgekehrte gilt. Weltbewußtsein ist nur möglich auf der Basis eines vollentwickelten Selbstbewusstseins. Der Mensch muss von seiner Welt völlig getrennt sein, um auf sie zu blicken. […] Die gegenseitige Abhängigkeit zwischen Ich-Selbst und Welt ist die ontologische Grundstruktur und schließt alles andere ein.¹⁴
Deshalb bestimmt Tillich den Menschen auch als „Selbst, das eine Welt hat, zu der es gehört“¹⁵, und die „Selbst-Welt-Polarität […] [als] Basis der Subjekt-ObjektStruktur der Vernunft.“¹⁶ Indem der Mensch wesentlich selbst zur Welt als Teil des Strukturganzen gehört, erweist sich für ihn jene Selbst-Welt-Korrelation sowie
12 Tillich, Paul: Systematische Theologie, 8. Aufl., Bd. II, unveränd. photomechan. Nachdr., Berlin 1987 (Stuttgart 1958), Stuttgart 1984, 200. Im Original: Tillich, Paul: Systematic Theology, 2. Aufl., Bd. 2, (1957), Chicago 1978, 169. Von hier an werden die Seitenzahlen des englischen Originals in eckigen Klammern angegeben. 13 Ders.: ST II, 200f. [169f.]. 14 Ebd., 202 [171]. 15 Ebd., 195 [164]. 16 Ebd., 202 [171].
2.2 Die Grundpolaritäten des Seins | 31
die Subjekt-Objekt-Struktur seiner Vernunft als unhintergehbar und unableitbar, weil aus der „Subjekt-Objekt-Beziehung […] weder Subjektivität noch Objektivität abgeleitet werden kann. Die Beziehung ist die der Polarität. Die ontologische Grundstruktur kann nicht abgeleitet werden, sie muß akzeptiert werden.“¹⁷ Die dem Menschen wesentliche Unhintergehbarkeit eben jener ontologischen Grundstruktur wie auch die ihm damit wesentliche Relationalität zur Mannigfaltigkeit alles Seienden in der Einheit des Universums liegt demnach dem spezifisch menschlichen Vollzug des Lebensprozesses als Selbst, das eine Welt hat, zu der es gehört, im Rahmen der fundamentalen Struktur von Selbst-Identität und Selbst-Veränderung zugrunde. Ausgehend von eben jenem Verständnis der ontologischen Grundstruktur lässt sich nun Tillichs Konzeption der Grundpolaritäten des Seins im Zusammenhang mit den Funktionen des Lebens und den sie bestimmenden Prinzipien im Rahmen der Dimension des Geistes analysieren.
2.2 Die Grundpolaritäten des Seins, die Funktionen des Lebens in ihrer Zweideutigkeit, die ontologischen Kategorien und die Aktualisierung des Geistes als Dimension des Lebens Die sich im Rahmen der Selbst-Welt-Korrelation vollziehende fundamentale Struktur von Selbst-Identität und Selbst-Veränderung ereignet sich in den drei Funktionen des Lebens Selbst-Integration, Sich-Schaffen und Selbst-Transzendierung in Abhängigkeit von den Grundpolaritäten des Seins: Individualisation und Partizipation, Dynamik und Form, Freiheit und Schicksal. Wenn alles Seiende der ontologischen Grundstruktur der Selbst-Welt-Korrelation unterliegt und im Lebensprozess die fundamentale Struktur von Selbst-Identität und Selbst-Veränderung vollzieht, dann partizipiert jedes „individuelle Selbst […] an seiner Umgebung oder im Fall der völligen Individualisation an seiner Welt.“¹⁸ Eine solche völlige Individualisation kommt dem Menschen zu, da er als „das völlig selbstzentrierte Wesen […] auch das völlig individualisierte Wesen [ist].“¹⁹ Erreicht Individualisation diese vollkommene Form, die wir „Person“ nennen, so erreicht die Partizipation die vollkommene Form, die wir „Gemeinschaft“ nennen. […] Gemeinschaft ist Partizipation an einem anderen vollständig selbstzentrierten und vollständig individualisierten Selbst. […] Individualisation und Partizipation sind in allen Schichten des Seins gegenseitig voneinander abhängig.
17 Ebd., 205 [174]. 18 Ebd., 207 [176]. 19 Ebd., 206 [175].
32 | 2 Die Geschichte als umfassendster Lebensprozess
[…] In Polarität mit Individualisation ist Partizipation die Basis für die Kategorie der Beziehung als ontologischem Grundelement. Ohne Individualisation existiert nichts, das in Beziehung sein kann. Ohne Partizipation hätte die Kategorie der Beziehung keine Basis in der Realität.²⁰
Gemäß Tillich erweist sich „Beziehung“ somit als „grundlegende ontologische Kategorie“²¹, die Tillichs Konzeption der ontologischen Grundstruktur, den ontologischen Polaritäten, seinem Lebens- und damit auch Geschichtsverständnis wesentlich zugrunde liegt. Selbst-Integration als Funktion des Lebens vollzieht sich dementsprechend in Abhängigkeit der Grundpolarität Individualisation und Partizipation, indem „Individualisation […] sich in der Funktion der Selbst-Integration durch das Prinzip der Zentriertheit [manifestiert].“²² Dabei erweist sich Zentriertheit als „eine Qualität der Individualisation, insofern das individuelle, d.h. unteilbare Ding ein zentriertes Ding ist. […] Ein vollindividualisiertes Seiendes ist daher zugleich ein vollzentriertes Seiendes. In den Grenzen unserer menschlichen Erfahrung hat nur der Mensch diese Qualität vollständig, in allem anderen Seienden gibt es Zentriertheit und Individualisation nur beschränkt.“²³ Der Mensch als Selbst, das eine Welt hat, zu der er gehört, vermag aufgrund seines Selbst- und Weltbewusstseins universal zu partizipieren, d.h. er „kann mit der ganzen Welt in Beziehung treten […]. Daher bewegt sich der Prozeß der Selbst-Integration zwischen dem Zentrum und der Mannigfaltigkeit der Welt […].“²⁴ Gelingt dieser Prozess nicht, droht die Möglichkeit der Desintegration und des Scheiterns an der lebenserhaltenden Dynamik von Selbst-Identität und Selbst-Veränderung, denn: Desintegration bedeutet die Unfähigkeit, Selbst-Integration zu erreichen oder zu bewahren. Diese Unfähigkeit kann sich in doppelter Weise äußern: entweder als Unfähigkeit, eine verengte, starre und unbewegbare Zentriertheit aufzulockern – […] es ist der Tod der reinen Selbst-Identität; oder als Unfähigkeit, zu sich selbst zurückzukehren, weil die Mannigfaltigkeit der auseinanderstrebenden Kräfte das verhindert […] – der Tod der vollständigen SelbstVeränderung. Selbst-Integration, zweideutig gemischt mit Desintegration, bewegt sich in jedem Lebensprozeß zwischen diesen beiden Extremen.²⁵
Wenn Leben als Aktualisierung potentiellen Seins begriffen wird, dann hat der Mensch als universal partizipierendes vollindividualisiertes Seiendes seine völli-
20 Tillich: ST II, 208f. [kursiv C.D.] [176f.]. 21 Ebd., 311 [271]. Vgl. für Tillichs theologische Begründung von „Beziehung“ als ontologischer Kategorie Abschn. 5.1 sowie Abschn. 6.2 dieser Arbeit. 22 Ders.: ST III, 45 [32]. 23 Ebd. 24 Ebd., 46 [33]. 25 Ebd., 46 [kursiv C.D.] [33f.].
2.2 Die Grundpolaritäten des Seins | 33
ge Zentriertheit fortwährend in der Spannung von Individualisation und Partizipation, also von individuellem Personsein und Gemeinschaft zu aktualisieren: Der Akt, in dem der Mensch seine essentielle Zentriertheit verwirklicht, ist der moralische Akt. […] Ein moralischer Akt ist daher nicht ein Akt, in dem göttliche oder menschliche Gebote befolgt werden, sondern ein Akt, in dem das Leben […] sich als Person in einer Gemeinschaft von Personen konstituiert. Moralität ist die Totalität derjenigen Akte, in denen ein potentiell Personhaftes aktuell zur Person wird. […] Deshalb ist das andere Selbst die unbedingte Grenze für den eigenen Wunsch, die ganze Welt zu assimilieren, und die Erfahrung dieser Grenze ist die Erfahrung des „Sein-sollenden“, des moralischen Imperativs.²⁶
Somit zeigt sich die Gefahr der Desintegration für den Menschen entweder in der Drohung „einer vollkommenen Kollektivierung“²⁷ oder aber „einer Einsamkeit, in der Welt und Gemeinschaft verloren gehen“²⁸, was Tillich auch als „moralisches Versagen“²⁹ bezeichnet. Der Vollzug von Individualisation und Partizipation unterliegt demnach der Zweideutigkeit von Selbst-Integration und Desintegration. In ähnlicher Weise lässt sich das Verhältnis der Grundpolarität Dynamik und Form zur Lebensfunktion des Sich-Schaffens unter dem Prinzip des Wachstums erläutern: Um den Lebensprozess von Selbst-Identität, Selbst-Veränderung und Rückkehr-zu-sich-selbst vollziehen zu können, muss etwas eine Form haben. […] Was immer seine Form verliert, verliert sein Sein. […] Das polare Element zu Form ist Dynamik. […] Der dynamische Charakter des Seins schließt die Tendenz alles Seienden ein, sich zu transzendieren und neue Formen zu schaffen. Zugleich tendiert alles dahin, seine eigene Form zu bewahren als die Basis der Selbsttranszendenz. […] Deshalb ist es unmöglich, vom Sein ohne Werden zu reden. […] Und umgekehrt wäre Werden unmöglich, wenn nichts in ihm bewahrt bliebe. […] Das Wachstum des Individuums ist das deutlichste Beispiel der Selbsttranszendenz, die auf Selbstbewahrung basiert.³⁰
Der Mensch vermag als Selbst, das eine Welt hat, zu der es gehört, „Selbstbewahrung und Selbsttranszendenz […] unmittelbar in ihm selbst [zu] erfahren.“³¹ Deshalb erscheint analog zur Polarität von Individualisation und Partizipation, die sich im Menschen als vollzentriertem und vollindividualisiertem Selbst in Gestalt einer Spannung von Personalität und Gemeinschaft zeigt, die Polarität Dynamik und Form
26 Ebd., 51–54 [38–41]. 27 Ders.: Systematische Theologie, 8. Aufl., Bd. I, unveränd. photomechan. Nachdr., Berlin 1987 (Stuttgart 1956), Stuttgart 1984, 233 [199]. 28 Ebd. 29 Ders.: ST III, 73 [58]. 30 Ders.: ST I, 210–213 [179ff.]. 31 Ebd., 233 [199].
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in der unmittelbaren Erfahrung des Menschen als die polare Struktur von Vitalität und Intentionalität. […] Vitalität ist die Macht, die ein lebendiges Wesen am Leben erhält und wachsen lässt. […] Intentionalität […] bedeutet: Bezug haben zu Sinnstrukturen, in Universalien leben, Wirklichkeit ergreifen und umgestalten. […] Die Dynamik des Menschen, seine schöpferische Vitalität ist nicht richtungslose, chaotische, in sich geschlossene Aktivität. Sie ist gerichtet, geformt, sie transzendiert sich selbst in Richtung auf sinnvolle Inhalte. Es gibt keine Vitalität als solche und keine Intentionalität als solche.³²
Im Vollzug der unaufhebbaren Grundpolarität Dynamik und Form besteht demnach die Lebensfunktion des Sich-Schaffens unter dem Prinzip des Wachstums, denn „Sich-Schaffen ist immer Schaffen von Form. Alles, was wächst, hat Form. […] Jede Form ist nur dadurch möglich, daß sie die Grenzen einer alten Form durchbricht.“³³ Ereignet sich die Spannung von Personalität und Gemeinschaft als Gestalt der Grundpolarität Individualisation und Partizipation in Form von fortwährenden moralischen Akten, so vollzieht der Mensch die Spannung von Vitalität und Intentionalität aufgrund seiner Beziehung zu allem Seienden, die in der ontologischen Grundstruktur der Selbst-Welt-Korrelation gründet, in Gestalt kultureller Akte: Kultur (cultura, abgeleitet von colere, etwas pflegen) bedeutet, sich um etwas bemühen, es lebendig erhalten, es wachsen lassen. In diesem Sinne kann der Mensch alles, dem er begegnet, „kultivieren“, aber indem er das tut, läßt er das Objekt, das er kultiviert, nicht unverändert. Er macht etwas Neues daraus, und zwar in verschiedener Weise: aufnehmend in den Funktionen der theoria und umgestaltend in den Funktionen der praxis. In beiden Fällen schafft die Kultur etwas Neues, das über die begegnende Wirklichkeit hinausgeht.³⁴
Daher birgt der Lebensprozess im Vollzug der Spannung von Dynamik und Form, von Vitalität und Intentionalität ein Moment des „Chaos“ zwischen der alten und der neuen Form, ein Moment des „Nichtmehr-Form-Seins“ und des „Noch-nicht-Form-Seins“. Dieses Chaos ist niemals absolut. Es kann nicht absolut sein, weil gemäß der Struktur der ontologischen Polaritäten „Sein“ nie-
32 Tillich: ST I, 212f. [180f.]. 33 Ders.: ST III, 65 [50]. 34 Ebd. In der englischen Ausgabe heißt es hier: „[…] he creates something new from it – materially, as in the technical function; receptively, as in the functions of theoria; or reactively, as in the functions of praxis. In each of these three cases, culture creates something new beyond the encountered reality.“ Eine umfassende Auseinandersetzung mit Tillich theologischem Verständnis der Kultur findet sich bei: Danz, Christian/Schüßler, Werner: Paul Tillichs Theologie der Kultur. Aspekte – Probleme – Perspektiven, Berlin und Boston 2011. Darüber hinaus befasst sich folgende Studie mit Tillichs kulturhermeneutischem Verständnis: Kubik, Andreas: Kulturhermeneutik als Theologie. Paul Tillich, in: Ders. (Hg.): Theologische Kulturhermeneutik impliziter Religion, Berlin und Boston 2019, 85–186.
2.2 Die Grundpolaritäten des Seins | 35
mals ohne Form ist. Aber das relative Chaos mit seiner relativen Form ist nur ein Übergangsstadium, und als solches ist es eine Gefahr für die Funktion des Sich-Schaffens des Lebens. In solchen Gefahrenmomenten kann das Leben […] sich bei dem Versuch, eine neue Form zu gewinnen, selbst zerstören.³⁵
Die Lebensfunktion des Sich-Schaffens ist demnach bedroht durch die Möglichkeit der „Zerstörung.“³⁶ In Bezug auf den Menschen, der die Grundpolarität von Dynamik und Form in Gestalt der polaren Struktur Vitalität und Intentionalität in Form von kulturellen Akten vollzieht, erscheint eben jene Gefahr der Zerstörung als „Drohung einer endgültigen Form, in der seine Vitalität verlorengehen würde, […] [sowie als] Drohung chaotischer Formlosigkeit, in der Vitalität wie Intentionalität verlorengehen würden“³⁷, was sich gemäß Tillich auch als „kultureller Verfall“³⁸ verstehen lässt. Der Vollzug von Dynamik und Form unterliegt demnach der Zweideutigkeit von Sich-Schaffen und Zerstörung. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach dem Verhältnis der beiden Lebensfunktionen SelbstIntegration und Sich-Schaffen, denn „man könnte Integration als eine Art des Sich-Schaffens des Lebens und Desintegration als eine Art von Zerstörung auffassen.“³⁹ Ihre unterschiedlichen, aber wesentlich aufeinander verwiesenen Funktionen lassen sich mit Bezug auf die ihnen zugrunde liegenden Grundpolaritäten und die sie bestimmenden Prinzipien in Bezug auf die fundamentale Struktur von Selbst-Identität und Selbst-Veränderung genauer differenzieren: Selbst-Integration konstituiert das individuelle Sein in seiner Zentriertheit, Sich-Schaffen verleiht den Impuls, der das Leben unter dem Prinzip des Wachstums von einem zentrierten Zustand zu einem anderen treibt. Zentriertheit schließt Wachstum nicht ein, Wachstum setzt Zentriertheit voraus, denn es bedeutet das Verlassen eines Zustandes der Zentriertheit und das Weitergehen zu einem anderen.⁴⁰
Somit lässt sich festhalten: Der Akzent der Selbst-Integration unter dem Prinzip der Zentriertheit in Abhängigkeit von der Grundpolarität Individualisation und Partizipation, die sich in Bezug auf den Menschen als Spannung von Personsein und Gemeinschaft äußert, liegt stärker auf dem Element der Selbst-Identität oder auch auf der Selbstbewahrung, während das Sich-Schaffen unter dem Prinzip des Wachstums in Abhängigkeit von der Grundpolarität Dynamik und Form, die sich
35 Tillich: ST III, 65 [50f.]. 36 Ebd., 44 [32]. 37 Ders.: ST I, 233 [200]. 38 Ders.: ST III, 73 [57f.]. 39 Ebd., 66 [51]. 40 Ebd.
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in Bezug auf den Menschen als Spannung von Vitalität und Intentionalität äußert, sich mehr dem Element der Selbst-Veränderung und der Selbsttranszendenz zuordnen lässt, wobei auch hier gilt, dass alle Elemente, Funktionen und Polaritäten gemeinsam die Grundlage des Lebensprozesses als Einheit bilden. Die Lebensfunktion der Selbst-Transzendierung unter dem Prinzip des Heiligen steht zur Grundpolarität Freiheit und Schicksal gemäß Tillich in einem ähnlichen Verhältnis: Die fundamentale Struktur von Selbst-Identität und SelbstVeränderung im Lebensprozess kann innerhalb der ontologischen Grundstruktur der Selbst-Welt-Korrelation nur im Rahmen einer ontologischen Spannung von Freiheit und Schicksal bzw. von Spontaneität und Gesetz vollzogen werden, denn: Freiheit in Polarität zu Schicksal ist das Strukturelement, das Existenz ermöglicht, da es die essentielle Notwendigkeit des Seins transzendiert, ohne es zu zerstören. […] Der Mensch ist Mensch, weil er Freiheit hat, aber er hat Freiheit nur in polarer Abhängigkeit von Schicksal. […] Der Mensch erfährt die Struktur des Individuums als Träger der Freiheit innerhalb der größeren Strukturen, zu denen die individuelle Struktur gehört. Das Schicksal weist auf diese Situation des Menschen hin: Er steht der Welt gegenüber und gehört ihr gleichzeitig an.⁴¹
„Schicksal“ lässt sich im Sinne eben jener größeren Strukturen, innerhalb derer der individuelle Lebensprozess vollzogen wird, analog zu „Partizipation“ und „Form“ verstehen, da das jeweils zweite Element der Grundpolaritäten Individualisation und Partizipation, Dynamik und Form sowie Freiheit und Schicksal „die gegenseitige Abhängigkeit des Seienden, seinen Charakter, Teil des Universums des Seienden zu sein, ausdrückt“⁴², während „das erste Element die Selbstbezogenheit des Seienden aus[drückt], seine Macht, etwas für sich zu sein.“⁴³ Als vollzentriertes und vollindividualisiertes Selbst, das eine Welt hat, zu der es gehört, erfährt der Mensch Freiheit als Erwägung, Entscheidung und Verantwortung […]. Erwägung weist auf den Akt des Abwägens von Argumenten und Motiven hin. Die Person, die wägt, steht über den Motiven. […] Eine Entscheidung scheidet Möglichkeiten aus […]. Die Person, die das „Scheiden“ vornimmt, muß über dem stehen, was von ihr ausgeschieden wird. […] Das Wort Verantwortung deutet auf die Verpflichtung der Person, die Freiheit besitzt, zu antworten, wenn sie über ihre Entscheidungen befragt wird. […] Jeder von uns ist verantwortlich für das, was durch das Zentrum seines Selbst geschehen ist, den Sitz und das Organ seiner Freiheit.⁴⁴
41 42 43 44
Tillich: ST I, 214f. [182f.]. Ebd., 195 [165]. Ebd. Vgl. hierzu auch ebd., 281f. [243f.]. Ebd., 216f. [184].
2.2 Die Grundpolaritäten des Seins | 37
Daraus ergibt sich nach Tillich, dass unser Schicksal das ist, aus dem unsere Entscheidungen hervorgehen […]. Wenn ich eine Entscheidung treffe, so ist das, was entscheidet, die konkrete Totalität alles dessen, was mein Sein konstituiert […]. Schicksal ist nicht eine fremde Macht, die determiniert, was mir geschehen soll. Ich bin es selbst, und zwar geformt durch Natur, Geschichte und mich selbst. Mein Schicksal ist die Basis meiner Freiheit, meine Freiheit partizipiert an der Formung meines Schicksals.⁴⁵
Freiheit im Sinne von Erwägung, Entscheidung und Verantwortung kommt Tillich folgend ausschließlich einem vollzentrierten und vollindividualisierten Selbst und damit dem Menschen zu.⁴⁶ Wenn Freiheit und Schicksal jedoch eine ontologische Polarität konstituieren [sollen], muß alles, was am Sein partizipiert, an dieser Polarität partizipieren […]; das entspricht der Situation in bezug auf die ontologische Grundstruktur und die anderen ontologischen Polaritäten. Analog können wir von der Polarität von Spontaneität und Gesetz sprechen. […] Spontaneität steht in wechselseitiger Abhängigkeit mit Gesetz. Gesetz ermöglicht Spontaneität, und Gesetz ist Gesetz nur, weil es spontane Reaktionen kontrolliert. […] Die Analogie zur Freiheit in allem Seienden macht eine absolute Determination unmöglich. Die Naturgesetze sind Gesetze für zentrierte Einheiten mit spontanen Reaktionen. Die Polarität von Freiheit und Schicksal ist gültig für alles, was ist.⁴⁷
Dies entspricht der umfassenden ontologischen Grundstruktur der Selbst-WeltKorrelation, innerhalb dessen alles Seiende den Prozess von Selbst-Identität, Selbst-Veränderung und Rückkehr-zu-sich-selbst im Rahmen der Grundpolaritäten des Seins vollzieht, wobei der Mensch in seiner vollen Selbstzentrierung und Individualisierung Individualisation und Partizipation als Personalität und Gemeinschaft, Dynamik und Form als Vitalität und Intentionalität sowie Spontaneität und Gesetz als Freiheit und Schicksal vollzieht und erfasst. Wie der Vollzug der ontologischen Spannung von Individualisation und Partizipation mit der Lebensfunktion der Selbst-Integration und die Spannung von Dynamik und Form mit der Lebensfunktion des Sich-Schaffens einhergeht, erwächst nach Tillich aus dem Vollzug der Grundpolarität Spontaneität und Gesetz bzw. Freiheit und Schicksal die Lebensfunktion der Selbst-Transzendierung des Lebens: Das Leben ist durch die ihm eigene Natur beides: Es ist in sich und über sich hinaus, und diese Situation wird offenbar in der Funktion der Selbst-Transzendierung. […] Die Polarität von Freiheit und Schicksal (und ihre Analogien in den Bereichen des Seins, die der Dimension des Geistes vorausgehen) schafft dem Leben die Möglichkeit, sich selbst zu transzendieren
45 Ebd., 217 [184f.]. 46 Ebd. 47 Ebd., 217f. [185f.].
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[…]. Das Leben ist bis zu einem gewissen Grade frei von sich selbst, d.h. von der totalen Gebundenheit an seine Endlichkeit.⁴⁸
In diesem Zusammenhang lässt sich erläutern, wie Tillich die Grundlage des spezifisch menschlichen Lebensvollzuges bestimmt: Der Lebensvollzug des Menschen unterscheidet sich Tillich folgend durch die Dimension des Geistes, wobei sich die Dimension des Geistes als eine der zahlreichen Dimensionen des Lebens erweist. Grundsätzlich gibt es nach Tillich „keine bestimmte Zahl von Dimensionen, denn Dimensionen werden nach wandelbaren Kriterien bestimmt. Man ist berechtigt, von einer besonderen Dimension zu sprechen, wenn die phänomenologische Beschreibung irgendeines Gebietes der begegnenden Wirklichkeit einheitliche kategoriale und andere Strukturen aufweist.“⁴⁹ Einheitliche kategoriale und andere Strukturen weist eine Dimension dann auf, wenn „unter ihrer Vorherrschaft die Kategorien Zeit, Raum, Kausalität und Substanz eine besondere Prägung erhalten. Die vier genannten Kategorien haben universale Gültigkeit für alles, was existiert“⁵⁰, denn: Sein heißt: gegenwärtig sein. […] Gegenwart bedeutet: sich selbst etwas gegenüber zu haben, und gegenüber ist ein räumlicher Begriff (gegen-wärtig). Gegenwart ist nicht nur auf Zeit, sondern auch auf Raum bezogen. […] Sein heißt: Raum haben. […] Kausalität drückt die Unfähigkeit jedes Dinges aus, auf sich selbst zu ruhen. In unserem Denken treibt jedes Ding über sich selbst zu seiner Ursache, und die Ursache treibt über sich hinaus zu ihrer Ursache und so ins Unendliche. […] Im Gegensatz zur Kausalität weist Substanz auf etwas, das dem Fluß der Erscheinung zugrunde liegt, etwas das relativ statisch und in sich selbst gegründet ist […]; sie ist gegenwärtig, wenn immer man von einem Etwas spricht.⁵¹
Da gemäß Tillich eben jene Kategorien universale Gültigkeit haben, erweisen sie sich auch als ontologische Kategorien. Der Vollzug von Selbst-Identität, SelbstVeränderung und Rückkehr-zu-sich-selbst durch alles endlich Seiende im Zusammenhang der Lebensfunktionen Selbst-Integration, Sich-Schaffen und SelbstTranszendierung vor dem Hintergrund der ontologischen Polaritäten Individualisation und Partizipation, Dynamik und Form, Freiheit und Schicksal ereignet sich somit innerhalb dieser ontologischen Kategorien. Im Rahmen seiner Ausführungen unterscheidet Tillich in diesem Sinne wesentlich eine anorganische oder auch materielle, eine organische oder auch physische und eine psychische Dimension des Lebens.⁵² Dabei bringt unter besonderen Bedingungen „die Dimension des Psy48 Tillich: ST III, 43f./107 [kursiv C.D.] [31/86]. 49 Ebd., 28 [17]. 50 Ebd., 28 [18]. 51 Ders.: ST I, 226–231 [192–197]. 52 Vgl. Ders.: ST III, 28ff. [17ff.].
2.2 Die Grundpolaritäten des Seins | 39
chischen eine weitere Dimension zur Verwirklichung, die des Geistigen. Soweit die menschliche Erfahrung reicht, ist dies nur im Menschen geschehen. Die Frage, ob sich das Geistige an irgendeiner anderen Stelle im Universum aktualisiert hat, kann bis jetzt weder positiv noch negativ beantwortet werden.“⁵³ Unter „Geist“ versteht Tillich dementsprechend jene Kraft, die im Lebensvollzug des Menschen bewirkt, dass dieser als vollzentriertes und vollindividualisiertes Selbst, das eine Welt hat, zu der es gehört, sich und seine Welt transzendieren und dergestalt in der Struktur von Selbst-Identität und Selbst-Veränderung Individualisation und Partizipation als Spannung von Personalität und Gemeinschaft, Dynamik und Form als Vitalität und Intentionalität sowie Spontaneität und Gesetz als Freiheit und Schicksal begreifen und die Lebensfunktionen der Selbst-Integration und des Sich-Schaffens in Form von moralischen und kulturellen Akten aktualisieren kann: Wenn der Mensch sich selbst als Mensch erfährt, wird er sich bewußt, daß er in seinem ganzen Wesen durch die Dimension des Geistes bestimmt ist […]. Der Geist als eine Dimension des endlichen Lebens wird zur Selbst-Transzendierung getrieben, er wird von etwas Letztem und Unbedingten ergriffen […], denn es gehört zum Wesen des menschlichen Geistes – im Sinne der Selbst Transzendierung [sic] des Lebens –, auf etwas Unbedingtes bezogen zu sein.⁵⁴
Wird die Selbst-Transzendierung des Lebens als Transzendenz seiner Endlichkeit verstanden, dann vermag die Frage danach, wie sich die Selbst-Transzendierung des Lebens manifestiert, […] nicht […] empirisch beantwortet [zu] werden. Man kann von ihr nur in Worten reden, die die Spiegelung der SelbstTranszendierung der Dinge im menschlichen Bewußtsein beschreiben, denn der Mensch ist der Spiegel, in dem die Beziehung eines jeden Endlichen zum Unendlichen bewußt wird. Es gibt keine empirische Beobachtung dieser Beziehung, weil alle empirische Erkenntnis sich auf das wechselseitige Verhältnis endlicher Dinge bezieht, aber nicht auf das Verhältnis des Endlichen zum Unendlichen.⁵⁵
Die Selbst-Transzendierung des Lebens zeigt sich in Bezug auf den Menschen somit darin, dass er sich der Endlichkeit alles Seienden innerhalb der ontologischen Grundstruktur der Selbst-Welt-Korrelation im Verhältnis zu einem potentiell Un-
53 Ebd., 32 [21]. 54 Ebd., 134f./155 [111f./130]. Vgl. für eine Analyse der pneumatologischen Existenz nach Paul Tillich: Chan, Keit Ka-fu: Life as spirit, Berlin und Boston 2018. 55 Tillich: ST III, 107 [kursiv C.D.] [87].
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endlichen gewahr zu werden vermag⁵⁶, denn um Endlichkeit als solche zu erfassen, muß der Mensch vom Standpunkt einer potentiellen Unendlichkeit auf sich selbst blicken. […] Das endliche Selbst steht einer Welt gegenüber, das endliche Individuum hat die Macht universaler Partizipation. Die Vitalität des Menschen ist mit seiner wesensmäßig unbegrenzten Intentionalität verbunden, als endliche Freiheit ist der Mensch in einem umfassenden Schicksal eingeschlossen. Alle Strukturen der Endlichkeit zwingen das endliche Sein, sich selbst zu transzendieren und aus diesem Grund seiner selbst als endlich gewahr zu werden.⁵⁷
Sich im Horizont eines potentiell Unendlichen als endlich gewahr zu werden, geht gleichzeitig damit einher, das eigene Sein in seiner Endlichkeit potentiell als vom Nicht-Sein bedroht zu erfahren. Dies äußert sich für den Menschen hinsichtlich der ontologischen Kategorien Zeit, Raum, Kausalität und Substanz in Form von drohender Vergänglichkeit, Ortlosigkeit, Sinnlosigkeit und Identitätsverlust.⁵⁸ Dergestalt aktualisiert der Mensch analog zur Aktualisierung der Lebensfunktionen der Selbst-Integration und des Sich-Schaffens in Form von moralischen und kulturellen Akten, jenes Bewusstsein um die Beziehung eines jeden Endlichen zum Unendlichen im Angesicht der erfahrenen Bedrohung durch das Nicht-Sein als Religion, welche Tillich als „Selbst-Transzendierung des Lebens in der Dimension des Geistes“⁵⁹ begreift, in der eben jene „Erhebung des Lebens über sich selbst […] sichtbar [wird], und zwar als die Erfahrung des ‚Heiligen‘. Als Analogie dazu findet sich in den nicht-menschlichen Bereichen der Drang des Lebens zu seiner höchstmöglichen Sublimierung.“⁶⁰ In einer ähnlichen Weise erweist sich Moralität unter dem Prinzip der Zentriertheit als Selbst-Integration des Lebens und Kultur unter dem Prinzip des Wachstums als Sich-Schaffen des Lebens in der Dimension des Geistes, weshalb nach Tillich Moralität, Kultur und Religion als
56 Da die Beziehung des Endlichen zum Unendlichen nicht durch empirische Erkenntnis erlangt werden kann, ist eben jene nach Tillich ausschließlich durch die Offenbarung des Unbedingten als Selbstmanifestation möglich. Vgl. hierzu Unterabschn. 2.3.2 dieser Arbeit. 57 Tillich: ST I, 222f. [190]. 58 Ebd., 225ff. [192ff.]. 59 Ders.: ST III, 118 [96]. Eine Darstellung von Tillichs frühem Religionsbegriff aus dem Jahre 1920 findet sich bei: Grube, Dirk-Martin: Bemerkungen zu Tillichs apologetischen Bemühungen in der Religionsphilosophie von 1920, in: Danz, Christian (Hg.): Religion – Kultur – Gesellschaft. Der frühe Tillich im Spiegel neuer Texte (1919–1920), Münster 2008, 279–300. 60 Tillich: ST III, 44 [31]. In der englischen Ausgabe heißt es an dieser Stelle: „For the way in which this elevation of life beyond itself becomes apparent, I suggest using the phrase ‘driving toward the sublime.’“ Vgl. hierzu auch Danz: Textgeschichtliche Einleitung zur deutschen Übersetzung der Systematischen Theologie, LXIV.
2.2 Die Grundpolaritäten des Seins |
41
„Funktionen des Geistes“⁶¹ zu verstehen sind. Das Heilige ist gemäß Tillich dasjenige, durch das der Mensch als Selbst, das eine Welt hat, zu der es gehört, die Beziehung alles endlich Seienden zu einem Unendlichen oder auch Unbedingten erlebt. Das Heilige stellt derart die Qualität dessen [dar], was den Menschen unbedingt angeht. […] Das Profane oder Säkulare ist die Welt dessen, was uns nur bedingt angeht. […] Dem Profanen fehlt die Dimension des Heiligen. Alle endlichen Beziehungen sind an sich profan, keine ist heilig. […] Das Profane und das Heilige können nicht voneinander getrennt werden. Das Profane kann der Träger des Heiligen werden. […] Alles Profane ist potentiell heilig […]. Überdies muß und kann das Heilige nur durch das Profane ausgedrückt werden, denn allein durch das Endliche kann sich das Unendliche ausdrücken,⁶²
weil der Mensch aufgrund der Unhintergehbarkeit seiner Bindung an die ontologische Grundstruktur der Selbst-Korrelation ausschließlich vermittelt über die Selbst-Transzendenz seines endlichen Lebens der Beziehung alles Endlichen zu einem Unendlichen oder auch Unbedingten gewahr wird. Demnach steht der Selbst-Transzendierung unter dem Prinzip des Heiligen „die Profanisierung gegenüber“⁶³, wobei das Wort „profan“ Tillich folgend den „Widerstand gegen die Selbst-Transzendierung“⁶⁴ ausdrückt. Daher ist in jedem „Akt der SelbstTranszendierung […] Profanisierung gegenwärtig, oder in anderen Worten: das Leben transzendiert sich in zweideutiger Weise“⁶⁵, weil das, „was des Menschen höchstes Anliegen repräsentiert, […] die Tendenz [hat], selbst zum höchsten Anliegen zu werden“⁶⁶, indem der Mensch „Teilwahrheiten mit der letzten Wahrheit [identifiziert]“⁶⁷, sucht, endliche Gewissheiten zu verabsolutieren⁶⁸, und eben jene Differenz zwischen dem Unbedingten, das sich im Heiligen vermittelt über endlich Seiendes erschließt, und seiner Endlichkeit nicht anerkennt. Religion als 61 Tillich: ST III, 130 [107]. 62 Ders.: ST I, 251/254 [215/218]. Vgl. hierzu auch Tillichs New Yorker Vorlesung Religionsphilosophie aus dem Frühjahr 1934 in: Ders.: Religionsphilosophie, in: Ders.: Gesammelte Werke. Ergänzungs- und Nachlaßbände. Religion, Kultur, Gesellschaft. Unveröffentlichte Texte aus der deutschen Zeit (1908–1933), Sturm, Erdmann (Hg.), Bd. XVII, Berlin 2012, 1–55, (insbesondere: 18–50). Ein Vergleich der jeweiligen Verständnisse des Heiligen bei Paul und Rudolf Otto findet sich bei: Schüßler, Werner: „My very highly esteemed friend Rudolf Otto“. Die Bedeutung Rudolf Ottos für das religionsphilosophische Denken Paul Tillichs, in: Interpretation of history (International Yearbook for Tillich Research 8), Berlin und Boston 2013, 153–174. 63 Tillich: ST III, 107 [87]. 64 Ebd., 108 [87]. 65 Ebd. [kursiv C.D.]. 66 Ders.: ST I, 252 [216]. 67 Ders.: ST II, 59 [51]. 68 Ebd., 83 [73].
42 | 2 Die Geschichte als umfassendster Lebensprozess
Selbst-Transzendenz des Lebens in der Dimension des Geistes unter dem Prinzip des Heiligen erweist sich somit fortwährend als bedroht durch die Profanisierung des Lebens, durch den Verlust der Beziehung des Endlichen zum Unendlichen, was sich für den Menschen entweder als drohender „Verlust der Freiheit durch die Notwendigkeiten, die in seinem Schicksal liegen, und […] Verlust seines Schicksals durch die Zufälligkeiten, die in seiner Freiheit liegen“⁶⁹, zeigt. In beiden Fällen könnte die fundamentale Lebensstruktur von Selbst-Identität, Selbst-Veränderung und Rückkehr-zu-sich-selbst im Rahmen der Lebensfunktion der Selbst-Transzendierung nicht vollzogen werden, indem aufgrund der Unhintergehbarkeit der ontologischen Grundstruktur der Selbst-Welt-Korrelation ein Freiheitsverlust dem Menschen die Möglichkeit der Selbst-Veränderung und ein Schicksalsverlust die Möglichkeit der Selbst-Identität nähme. Der Vollzug von Freiheit und Schicksal unterliegt demnach der Zweideutigkeit von SelbstTranszendierung und Profanisierung. Auf Grundlage der vorangegangenen Bestimmungen von Tillichs Verständnis der ontologischen Grundstruktur, den Grundpolaritäten des Seins, den Funktionen des Lebens in ihrer Zweideutigkeit, den ontologischen Polaritäten und der Aktualisierung des Geistes als Dimension des Lebens lässt sich nun im Folgenden das Verhältnis des menschlichen Lebensprozesses und der menschlichen Geschichte als umfassendstem Lebensprozess näher erörtern.
2.3 Der Lebensprozess des Menschen und die menschliche Geschichte Im Rahmen der ontologischen Grundstruktur der Selbst-Welt-Korrelation vollzieht sich gemäß Tillich alles endliche Seiende innerhalb der ontologischen Polaritäten Individualisation und Partizipation, Dynamik und Form sowie Freiheit und Schicksal bzw. Spontaneität und Gesetz vor dem Hintergrund der ontologischen Kategorien Zeit, Raum, Kausalität und Substanz. Dies geschieht in Form des Lebensprozesses durch den Vollzug der Elemente Selbst-Identität, Selbst-Veränderung und Rückkehr-zu-sich-selbst, welcher potentielles Sein aktualisiert, indem dergestalt die Lebensfunktionen Selbst-Integration unter dem Prinzip der Zentriertheit, Sich-Schaffen unter dem Prinzip des Wachstums und Selbst-Transzendenz unter dem Prinzip des Heiligen bzw. der höchstmöglichen Sublimierung realisiert werden. Für Tillich gilt eben jener Zusammenhang grundsätzlich für die Gesamtheit alles endlich Seienden, so dass dementsprechend das
69 Tillich: ST I, 243 [200].
2.3 Der Lebensprozess des Menschen und die menschliche Geschichte | 43
Universum im Sinne der Einheit von Mannigfaltigkeit – des alles endlich Seiende umfassenden Strukturganzen – als Lebensprozess zu verstehen ist, der die verschiedenen Dimensionen des Lebens wie die anorganische bzw. materielle, die organische oder auch die psychische Dimension des Lebens einschließt. Indem der Mensch Teil des benannten Strukturganzen ist, vollzieht er sein Leben gleichermaßen im Gesamtzusammenhang der Selbst-Welt-Korrelation, den ontologischen Polaritäten und Kategorien sowie allem, was nach Tillich zu einem Lebensprozess gehört. Das Spezifikum des menschlichen Lebensprozesses besteht darin, die Selbst-Welt-Korrelation als vollzentriertes und vollindividualisiertes Selbst, das eine Welt hat, zu der es gehört, begreifen zu können, weshalb er die ontologischen Polaritäten als Spannung von Personalität und Gemeinschaft, Vitalität und Intentionalität sowie Freiheit und Schicksal aktualisiert. Dem Leben des Menschen kommt demnach Tillich folgend über die Dimension des Materiellen, des Organischen wie auch des Psychischen hinaus die Dimension des Geistes zu. In dieser Dimension des Geistes aktualisiert der Mensch die Lebensfunktionen Selbst-Integration, Sich-Schaffen sowie Selbst-Transzendierung in Gestalt von Moralität, Kultur und Religion als Funktionen des Geistes, die gemäß ihrer Wesenstruktur […] ineinander [liegen]. In ihrer Einheit konstituieren sie die essentielle Struktur des Geistes, in der sie zwar unterscheidbar, aber nicht voneinander trennbar sind. Moralität oder die Konstituierung der Person als Person in der Begegnung mit anderen Personen ist essentiell mit Kultur und Religion verbunden […]. Die Kultur oder die Schöpfung eines Sinn-Universums in theoria und praxis ist essentiell mit Moralität und Religion verbunden. […] Die Religion oder die Selbst-Transzendierung des Lebens in der Dimension des Geistes ist essentiell mit Moralität und Kultur verbunden.⁷⁰
Indem nun der Mensch als Selbst, das eine Welt hat, zu der es gehört, seiner selbst im Gesamtzusammenhang des Universums als Strukturganzem gewahr wird, erfasst er in Bezug auf die Kategorien Zeit, Raum, Kausalität und Substanz seine Endlichkeit vor dem Horizont seines potentiellen Nicht-Seins als Vergänglichkeit, Ortlosigkeit, Sinnlosigkeit und Identitätsverlust sowie die Zweideutigkeiten des Lebensprozesses, der sich als Aktualisierung potentiellen Seins fortwährend als bedroht erweist: „Selbst-Integration durch Desintegration, Sich-Schaffen durch Zerstörung, und Selbst-Transzendierung durch Profanisierung […].“⁷¹ Gemäß Tillich bildet diese Aktualisierung der Dimension des Geistes im menschlichen Lebensprozess als Moralität, Kultur und Religion die Voraussetzung für die geschichtliche Dimension, welche
70 Ders.: ST III, 116f. [95]. 71 Ebd., 44 [32]. Vgl. hierzu auch Ders.: Die Zweideutigkeit der Lebensprozesse, in: Ders.: EW XVI, 335–409.
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die umfassendste von allen Dimensionen ist, die die anderen Dimensionen voraussetzt und den in diesen enthaltenen Elementen ein neues Element hinzufügt. Dieses Element kann erst vollkommen zur Entwicklung gelangen, nachdem sich in den Lebensprozessen die Dimension des Geistes aktualisiert hat. Die Lebensprozesse selbst sind horizontal ausgerichtet, und insofern aktualisieren sie die geschichtliche Dimension, wenn auch unvollkommen. […] Deshalb muß man die „geschichtliche Dimension“ […] von der eigentlichen Geschichte unterscheiden, die es für uns nur in Form der menschlichen Geschichte gibt.⁷²
Die Lebensprozesse sind Tillich folgend im Allgemeinen in dem Sinne horizontal ausgerichtet, als ihr Vollzug von Selbst-Identität und Selbst-Veränderung „innerhalb der Grenzen des endlichen Lebens“⁷³ bleibt. Ein Lebensprozess wird demnach erst dann explizit vertikal, wenn sich in ihm Geist aktualisiert und er in einer Weise „das Leben über sich als endliches Leben hinaustreibt“⁷⁴, dass es die SelbstTranszendierung in der Dimension des Geistes aktualisiert, sich also in seiner Endlichkeit zu erfassen vermag. Dies kommt dem Menschen als Selbst, das eine Welt hat, zu der es gehört, zu. Wenn Tillich also die geschichtliche Dimension des Lebens von der eigentlichen menschlichen Geschichte unterscheidet, dann begreift er unter der geschichtlichen Dimension alles endlich Seienden – wie am Beispiel des Baumes, des Universums oder auch einer Gattung illustriert – dessen Entwicklung, die sich innerhalb der ontologischen Struktur der Selbst-Welt-Korrelation, den Grundpolaritäten und Lebensfunktionen vollzieht. Die geschichtliche Dimension bildet also deshalb die umfassendste aller Dimensionen, weil sie die anderen Dimensionen des Lebens wie die materielle, die organische oder auch die psychische Dimension einschließt und im Sinne der Entwicklung von endlich Seiendem „alle anderen Dimensionen [umfaßt]“⁷⁵, weshalb sie nach Tillich „einheitliche kategoriale […] Strukturen“⁷⁶ aufweist und als eigene Dimension des Lebens gilt. Der Unterschied zur menschlichen Geschichte besteht für Tillich darin, dass alles endlich Seiende, das die geistige Dimension des Lebens nicht aktualisiert, nicht selbst erfassend zu seiner Entwicklung innerhalb des Universums als Strukturganzem in einem Verhältnis steht. Nach Tillich erweist sich „Geschichte“ somit insofern als reflexiver Relationsbegriff, als er damit nicht nur die Entwicklung eines endlich Seienden im Rahmen der ontologischen Struktur verstanden wissen will, sondern mit „Geschichte“ die durch den Menschen als vollzentriertes und vollindividualisiertes Selbst geistig erfasste Entwicklung bezeichnet. Diese erstreckt sich sowohl auf den Menschen als Individuum, auf alles zu ihm in einem
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Tillich: ST III, 341 [297]. Ebd., 43 [31]. Ebd. Ebd., 342 [298]. Ebd., 28 [17]. Vgl. auch Abschn. 2.2 sowie Unterabschn. 3.1.2 dieser Arbeit.
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Verhältnis stehende endlich Seiende als auch auf die Entwicklung der Menschheit als solcher wie auch die Gesamtheit des Universums als Strukturganzem, da der Mensch als Selbst, das eine Welt hat, zu der es gehört, in der Lage ist, einzeln endliches Seiendes – sich selbst eingeschlossen – im Gesamtzusammenhang des Universums als Strukturganzem zu erfassen. Deshalb erlangt gemäß Tillich die geschichtliche Dimension des Lebens erst in der menschlichen Geschichte Eigenständigkeit, indem der Mensch die geschichtliche Dimension nicht nur aktualisiert, sondern sie als solche in Bezug auf alles endlich Seiende begreift. Nach Tillich ist es demnach „berechtigt, Geschichte zuerst in ihrem Vollsinn als menschliche Geschichte zu behandeln, dann die geschichtliche Dimension in den anderen Bereichen des Lebens aufzuzeigen und schließlich die menschliche Geschichte in Beziehung zur Geschichte des Universums zu setzen.“⁷⁷ Denn weil Tillich folgend die geschichtliche Dimension im Allgemeinen die umfassendste aller Dimensionen darstellt, sich der menschliche Lebensprozess im Besonderen durch die Dimension des Geistes auszeichnet und der Mensch die Entwicklung der Menschheit innerhalb des Universums als Strukturganzem als menschliche Geschichte erfasst, zeigt sich die menschliche Geschichte als Geschichte der Gattung Mensch im Verhältnis zu allem endlich Seienden innerhalb des Universums als Strukturganzem für den Menschen als umfassendster Lebensprozess. Dieser vollzieht sich wie jeder einzelne Lebensprozess in der fundamentalen Struktur von Selbst-Identität und Selbst-Veränderung im Rahmen der Selbst-Welt-Korrelation, den ontologischen Polaritäten und Kategorien, den Lebensfunktionen und den mit ihnen einhergehenden Zweideutigkeiten. Eben jene ontologische Struktur der menschlichen Geschichte vermag der Mensch in ihrer Unhintergehbarkeit zu verstehen.⁷⁸ Dementsprechend erkennt der Mensch im Rahmen seiner Selbst-Transzendierung vom Standpunkt einer potentiellen Unendlichkeit aus nicht nur sich selbst, sondern auch die Geschichte als endlich und damit als bedroht vom Nicht-Sein. Er sieht das in den Kategorien Zeit, Raum, Kausalität und Substanz liegende Drohen von Vergänglichkeit, Ortlosigkeit, Sinnlosigkeit und Identitätsverlust. Er versteht, dass Desintegration, Zerstörung und Profanisierung nicht nur den einzelnen Lebensprozess, sondern die Geschichte als solche bedrohen. Diese Gefahr des NichtSeins lässt sich gemäß Tillich als Bedrohung durch das „Zerbrechen der ontologischen Spannungen“⁷⁹ zusammenfassen, woraus der Verlust der eigenen ontologischen Struktur und damit Nichtsein folgen würde, weil sich die ontologischen Po-
77 Ebd. 78 Vgl. zur Unhintergehbarkeit der Selbst-Welt-Korrelation Abschn. 2.1 dieser Arbeit. 79 Tillich: ST I, 232 [199].
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laritäten ausschließlich in der Aktualisierung ihrer Spannung als Grundlage des Lebensprozesses erweisen. Damit ist „Endlichkeit […] die Möglichkeit, die eigene ontologische Struktur zu verlieren und damit das eigene Selbst. Aber das ist eine Möglichkeit, keine Notwendigkeit. Endlich sein heißt: bedroht sein.“⁸⁰ Da dieses drohende Nicht-Sein in der ontologischen Struktur alles endlich Seienden begründet liegt und sich damit aufgrund der Unhintergehbarkeit der ontologischen Struktur als unumgänglich erweist, stellt sich im Folgenden die Frage, auf welche Weise sich die Möglichkeit eben jenes drohenden Nicht-Seins im Anschluss an Tillich erfassen lässt.
2.3.1 Essentielles und Existentielles Sein Indem der Mensch die unhintergehbare ontologische Struktur alles endlich Seienden mit der in ihr liegenden Drohung des Nicht-Seins versteht, kommt ihm in Bezug auf die Zweideutigkeiten des Lebens die Möglichkeit zu, „‚essentielle‘ Endlichkeit von ‚existentieller‘ Verzerrung zu unterscheiden.“⁸¹ Gemäß Tillich sind „Essenz“ und „Existenz“ jeweils zwei verschiedene Bedeutungsdimensionen zuzuschreiben: Essenz als das, was ein Ding zu dem macht, was es ist (ousia), hat einen rein logischen Charakter; Essenz als das, was in einer unvollkommenen und verzerrten Weise in einem Ding erscheint, trägt den Stempel des Wertes. Essenz gibt dem, was existiert, Sein und richtet es zugleich. Sie gibt allem die Seinsmächtigkeit, und zugleich steht sie dagegen als forderndes Gesetz. Wo Essenz und Existenz geeint sind, gibt es weder Gesetz noch richtendes Urteil. Aber Existenz ist nicht mit Essenz geeint, deshalb steht das Gesetz gegen alles Seiende, und das Gericht vollzieht sich in Selbstzerstörung.⁸²
Diesen Gedanken formuliert Tillich in anderer Form schon in seinem erst kürzlich veröffentlichten Text Das Unbedingte und die Geschichte, der vermutlich im Jahre 1923 entstanden ist, wobei er das, was im vorangegangenen Zitat als „Essenz“ bezeichnet, hier als „Unbedingtes“ benennt: „Das Unbedingte ist immer zugleich der aller Einzelform positiv und negativ gegenüberstehende Gehalt und die jeder Einzelform absolut gegenüberstehende fordernde Form.“⁸³
80 Tillich: ST I, 235 [201]. 81 Ebd. 82 Ebd., 237 [203]. 83 Ders.: Das Unbedingte in der Geschichte, in: Ders.: Gesammelte Werke. Ergänzungs- und Nachlaßbände. Religion, Kultur, Gesellschaft. Unveröffentlichte Texte aus der deutschen Zeit (1908–1933) I, Sturm, Erdmann (Hg.), Bd. X, Berlin 1999, 335–350, hier 345.
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Analog dazu formuliert Tillich in Bezug auf „Existenz“: „Was immer existiert, d.h. aus der bloßen Potentialität ‚heraussteht‘, ist mehr, als es im Stadium der bloßen Potentialität wäre, und weniger, als es in der Macht seines essentiellen Wesens sein könnte.“⁸⁴ Demnach wird mit der Unterscheidung von Essenz und Existenz im Sinne Tillichs „eine Verzerrung des essentiellen Seins vorausgesetzt“⁸⁵, die Tillich in Bezug auf den Menschen und damit auch in Bezug auf seine Geschichte als „Entfremdung“ bezeichnet: „Der Mensch als Existierender ist nicht, was er essentiell ist und darum sein sollte. Er ist von seinem wahren Sein entfremdet. Die Tiefe des Begriffs ‚Entfremdung‘ liegt darin, daß man essentiell zu dem gehört, wovon man entfremdet ist. Der Mensch ist seinem wahren Sein nicht fremd.“⁸⁶ Im Hinblick auf die Zweideutigkeiten des Lebens bedeutet das, dass der Mensch „moralische Selbst-Integration, kulturelles Sich-Schaffen und religiöse SelbstTranszendierung“⁸⁷ für den gelingenden Vollzug des Lebensprozess als essentiell erfährt, so dass Desintegration, Zerstörung und Profanisierung unter dem richtenden Urteil des Gesetzes der essentiellen Einheit des Lebensprozesses als „existentielle Entfremdung“⁸⁸ erscheinen, indem sie in Form von Isolation, Kollektivierung, endgültiger Form, chaotischer Formlosigkeit, Willkür wie auch Determiniertheit drohen, endlich Seiendes Vergänglichkeit, Ortlosigkeit, Sinnlosigkeit, Identitätsverlust und damit dem Nichtsein preiszugeben. Im Sinne der Beziehung als grundlegender ontologischer Kategorie zeigt sich Entfremdung dergestalt als Entfremdung von den essentiellen Beziehungen des Menschseins, als Entfremdung „vom Grund des Seins, von den anderen Wesen und von sich selbst.“⁸⁹ Demnach liegt die Möglichkeit des drohenden Nicht-Seins in der beschriebenen Verzerrung des essentiellen Seins. Jene Bedrohung ist jedoch wie beschrieben ausschließlich „eine Möglichkeit, keine Tatsache“⁹⁰, so dass gemäß Tillich die „Angst der Endlichkeit“⁹¹ als Angst vor dem Nichtsein essentieller Bestandteil der menschlichen Existenz ist
84 Ders.: ST I, 237 [203]. 85 Ebd., 236 [202]. 86 Ders.: ST II, 53 [45]. Vgl. hierzu auch Tillichs New Yorker Vorlesung aus den Jahren 1934/35: Ders.: Lehre vom Menschen, in: Ders.: EW XVII, 157–347 sowie seine Berliner Vorlesung: Ders.: Die menschliche Situation im Lichte der Theologie und Existentialanalyse, in: Ders.: EW XVI, 169–334 (insbesondere 247–334). 87 Ders.: ST III, 165 [139]. 88 Ebd., 44 [32]. 89 Ders.: ST II, 52 [44]. 90 Ders.: ST I, 235 [201]. 91 Ebd.
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und „die Frage nach dem Mut, der die Angst des Nichtseins auf sich nimmt“⁹², aufwirft. Diese Angst der Endlichkeit kann den Menschen durch die existentielle Entfremdung im Zusammenhang der Profanisierung als Widerstand gegen die Selbst-Transzendierung des Lebens in einen Zustand der Verzweiflung führen, in dem das Nichtsein nicht mehr als Möglichkeit, sondern als Notwendigkeit alles endlich Seienden erfasst wird: „Verzweiflung ist der Zustand unausweichlichen Konflikts. Sie ist der Konflikt zwischen dem, was der Mensch potentiell ist und darum sein sollte, und dem, was der Mensch aktuell ist.“⁹³ Im Zustand einer solchen Verzweiflung gerät der Mensch unter die „Herrschaft der Endlichkeit. […] Er kommt vom Nichts und kehrt zurück zum Nichts und wird von der Angst gejagt, sterben zu müssen“⁹⁴, so dass er nicht mehr in der Lage ist, die essentielle Sinnhaftigkeit seiner endlichen Existenz in ihrer ontologischen Struktur zu erleben, da die Elemente Individualisation, Dynamik und Freiheit, die die Selbstbezogenheit seines Seins ausdrücken, zu den Elementen Partizipation, Form und Schicksal, die die Abhängigkeit seines Seins im Gesamtzusammenhang des Universums als Strukturganzem erfassen, im Widerspruch zu stehen und ihnen unterworfen zu sein scheinen. Die ontologische Struktur scheint wesentlich in einem Selbst-Widerspruch zu stehen. Dergestalt entzieht sich dem Menschen im Zustand der Verzweiflung aufgrund des scheinbaren Konflikts der ontologischen Spannungen die essentielle Sinnhaftigkeit seines Lebensprozesses, was ihn in eine „Verzweiflung der Selbstzerstörung“⁹⁵ treibt. In einer solchen Verzweiflung weigert er sich im Angesicht der vermeintlichen Notwendigkeit seines Nichtseins, „seine Endlichkeit im konkreten Fall anzuerkennen, nämlich seine Schwäche, und seine Irrtümer, sein Unwissen und seine Unsicherheit, seine Einsamkeit und seine Angst […].“⁹⁶ Er sucht, endliche Gewissheiten zu verabsolutieren⁹⁷, verwechselt „natürliche Selbstbejahung mit zerstörerischer Selbstüberhebung“⁹⁸ und aktualisiert damit in Form von Desintegration, Zerstörung und Profanisierung die Entfremdung der menschlichen Existenz von ihren Lebensfunktionen
92 Tillich: ST I, 232 [198]. Vgl. für eine ausführliche Analyse des Angstbegriffs bei Paul Tillich: Ihben-Bahl, Sabine Joy: Angst und die eine Wirklichkeit. Paul Tillichs transdisziplinäre Angsttheorie im Dialog mit gegenwärtigen Emotionskonzepten, Tübingen 2020. 93 Tillich: ST II, 84 [75]. 94 Ebd., 76 [66]. 95 Ders.: ST I, 235 [201]. 96 Ders.: ST II, 59f. [51]. 97 Vgl. ebd., 83 [73]. Vgl. zu Tillichs Verständnis von „Sünde“ Unterabschn. 3.1.1 und „Prophetie“ Abschn. 6.2 dieser Arbeit. 98 Ebd., 60 [51].
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der Selbst-Integration in moralischen, des Sich-Schaffens in kulturellen und der Selbst-Transzendierung in religiösen Akten. Niebuhr kommt im Zusammenhang seines Verständnisses von „Sünde“ und „falscher Prophetie“ zu einer vergleichbaren Formulierung: Die Sünde des Menschen entspringt dem Bemühen, seine eigene Sicherheit aufzubauen, und die Sünde der falschen Propheten liegt in dem Bemühen, diese falsche Sicherheit in eine Glaubenssicherheit umzuformen. […] Die Unsicherheit des Menschenlebens entspringt ursprünglich aus seiner Schwäche und Endlichkeit.⁹⁹
Demnach treibt Selbst-Widerspruch zur Selbstzerstörung. Die Elemente des essentiellen Seins, die sich gegeneinander bewegen, haben die Tendenz, sich gegenseitig und das Ganze, zu dem sie gehören, zu vernichten. Zerstörung unter den Bedingungen existentieller Entfremdung wird nicht durch äußere Kräfte herbeigeführt. […] Man könnte eine solche Struktur mit einem scheinbar paradoxen Ausdruck „Struktur der Destruktion“ bezeichnen und damit auf die Tatsache hinweisen, daß Destruktion kein unabhängiges Sein hat, sondern von einer Struktur abhängig ist, innerhalb derer sie wirkt.¹⁰⁰
Wird diese Unterscheidung von essentiellem und existentiellem Sein im Sinne der Entfremdung als Destruktion der ontologischen Struktur in Bezug auf den „Menschen wie seiner Welt und ihren gegenseitigen Beziehungen“¹⁰¹ anerkannt, dann stellt sich Tillich folgend die Frage nach der Möglichkeit einer solchen Verzerrung […]. Wie kann das Ganze des Seienden seine eigene Verzerrung in sich schließen? Diese Frage ist immer gegenwärtig, auch wenn sie nicht immer gestellt wird. Aber wenn sie gestellt wird, weist jede Antwort offen oder versteckt auf die klassische Unterscheidung zwischen dem Essentiellen und Existentiellen hin.¹⁰²
Wenn jedoch die ontologische Struktur als solche für den Menschen unhintergehbar ist, dann ergibt sich die Frage nach der Möglichkeit einer Antwort auf die Frage danach, wie das Ganze des Seienden seine eigene Verzerrung in sich schließen kann.
99 Niebuhr: Jenseits der Tragödie, 64. 100 Tillich: ST II, 69 [60]. 101 Ebd. 102 Ders.: ST I, 236 [202].
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2.3.2 Die existentiellen Fragen der menschlichen Situation im Lichte der Offenbarung, die Methode der Korrelation und der Symbolbegriff Als vollzentriertes und vollindividualisiertes Selbst vermag der Mensch die in der Verzerrung des essentiellen Seins liegende Bedrohung durch das Nichtsein zu begreifen. Deshalb unterscheidet er Desintegration, Zerstörung und Profanisierung als existentielle Verzerrung des Lebensprozesses von Selbst-Integration, SichSchaffen und Selbst-Transzendierung, die als Lebensfunktionen die essentielle Einheit des Lebensprozesses wahren. Dabei gilt gemäß Tillich: „Jeder Lebensprozeß steht in der Zweideutigkeit, in der positive und negative Elemente gemischt sind, und zwar so, daß eine endgültige Trennung des Negativen vom Positiven nicht möglich ist: das Leben ist in jedem Augenblick zweideutig.“¹⁰³ Aus diesem Grund ist es im Sinne Tillichs nicht möglich, „die einzelnen Funktionen des Lebens […] in ihrem essentiellen Charakter, d.h. getrennt von ihrer existentiellen Verzerrung zu behandeln […], denn das Leben steht weder in seiner reinen Essenz noch in seiner reinen Existenz – es ist zweideutig.“¹⁰⁴ Dementsprechend stellt sich für den Menschen grundsätzlich die Frage nach der Möglichkeit eben jener das Leben der Bedrohung durch das Nichtsein aussetzenden existentiellen Verzerrung oder auch Entfremdung des Lebens. Indem der Mensch als vollzentriertes und vollindividualisiertes Selbst der ontologischen Grundstruktur der Selbst-Welt-Korrelation in einer deren sämtliche Elemente umfassenden Weise gewahr wird, äußert sich nach Tillich die Frage nach der Möglichkeit einer existentiellen Verzerrung des Lebens in differenzierter Weise: Im Hinblick auf die ontologische Grundstruktur als solcher zeigt sie sich als Frage nach dem Grund des Lebens in seinem essentiellen Charakter, als Frage nach dem Grund der Selbst-Welt-Korrelation, die als solche vom Menschen „nicht abgeleitet werden [kann], sondern […] akzeptiert werden [muß].“¹⁰⁵ Die Frage nach dem Grund der Selbst-Welt-Korrelation zielt demnach auf die Frage nach dem, was „der Dualität von Selbst und Welt […] voraus[geht].“¹⁰⁶ In Bezug auf die ontologischen Spannungen und die ontologischen Kategorien erscheint das drohende Zerbrechen der ontologischen Spannungen und damit die Zerstörung der ontologischen Struktur sowie das in den ontologischen Kategorien drohende Nichtsein als existentielle Entfremdung des endlichen Seins, so dass der Mensch „die Frage nach dem Mut, der die Angst des Nichtseins auf sich nimmt“¹⁰⁷ oder
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Tillich: ST III, 44 [32]. Ebd. Ders.: ST I, 205 [174]. Vgl. auch Abschn. 2.1 dieser Arbeit. Ebd. Ebd., 232 [198].
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auch die Frage nach „einem Sein, das den Zwiespalt zwischen essentiellem und existentiellem Sein überwindet“¹⁰⁸, formuliert. Hinsichtlich des als zweideutig erfahrenen Lebensprozesses fragt der Mensch „nach einer unzweideutigen Erfüllung […] [seiner] essentiellen Möglichkeiten, […] nach unzweideutigem Leben“¹⁰⁹ jenseits von Desintegration, Zerstörung und Profanisierung. Dementsprechend richten sich eben jene Fragen auf etwas, das alles endlich Seiende transzendiert, weshalb sie auch als „religiöse Fragen“ bezeichnet werden können. Wenn nun die menschliche Geschichte im beschriebenen Sinne als umfassendster Lebensprozess verstanden werden soll¹¹⁰, dann beziehen sich diese Fragen nicht nur auf einzeln endlich Seiendes, sondern auf den Gesamtzusammenhang des Universums als Strukturganzem mit allen Dimensionen des Lebens. Dergestalt zielt die Frage nach dem, was der Dualität von Selbst und Welt vorausgeht, auf das, was der menschlichen Geschichte im Gesamtzusammenhang des Universums vorausgeht, die Frage nach einem Sein, das den Zwiespalt zwischen essentiellem und existentiellem Sein überwindet, auf ein Sein, das den Zwiespalt zwischen essentiellem und existentiellem Sein in der Geschichte überwindet und die Frage nach einer unzweideutigen Erfüllung der essentiellen Möglichkeiten des Lebens auf eine sämtliche Dimensionen des Lebens umfassende Erfüllung der essentiellen Möglichkeiten des Gesamtzusammenhanges der menschlichen Geschichte. Zusammenfassend bezeichnet Tillich die genannten Fragen auch als „Fragen, die […] jeder menschlichen Existenz zugrunde liegen“¹¹¹, als „die existentiellen Fragen“¹¹², die als solche alle die „Frage nach dem Sinn“¹¹³ der endlichen Existenz, der Geschichte artikulieren. Weil der Mensch selbst nun ausschließlich innerhalb der ontologischen Grundstruktur existiert und diese nicht herleiten, sondern nur akzeptieren kann, erweist sich eben jene für ihn wie beschrieben als unhintergehbar. Die Beziehung von Bedingtem und Unbedingtem kann nicht empirisch erschlossen werden.¹¹⁴ Dementsprechend liegen die benannten existentiellen Fragen nach dem Sinn des endlich Seienden der menschlichen Existenz zugrunde, ohne dass der Mensch die den Fragen entsprechenden Antworten, welche auf das, was der ontologischen Grundstruktur vorausgeht, zielen, selbst abzuleiten vermag. Gemäß Tillich ist die Frage nach dem, was der Dualität von Selbst und Welt vorausgeht „eine Frage, bei
108 Ders.: ST II, 89 [80]. 109 Ders.: ST III, 130 [kursiv C.D.] [107]. 110 Vgl. Abschn. 2.3 dieser Arbeit. 111 Tillich: ST I, 15 [8]. 112 Ebd., 76 [61]. 113 Ders.: ST II, 83 [74]. 114 Vgl. hierzu Abschn. 2.2 dieser Arbeit.
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der die Vernunft in ihren eigenen Abgrund blickt […]. Nur […] Offenbarung kann die Antwort geben.“¹¹⁵ Tillich konzipiert seine Dresdener Dogmatik-Vorlesung aus den Jahren 1925–1927 bereits ausgehend von dem Grundgedanken, dass „Offenbarung […] Durchbruch in die endlichen Formen [ist].“¹¹⁶ Somit sind die im Offenbarungsereignis liegenden Antworten […] nur sinnvoll, sofern sie in Korrelation stehen mit Fragen, die das Ganze unserer Existenz betreffen, also mit existentiellen Fragen. […] Die Offenbarung beantwortet Fragen, die je und je gestellt worden sind, und immer wieder gestellt werden, da wir selbst diese Fragen sind. […] Menschsein bedeutet: nach dem eigenen Sein fragen und unter dem Eindruck der Antworten leben, die auf diese Frage gegeben werden. Und umgekehrt bedeutet Menschsein: Antworten auf die Frage nach dem eigenen Sein erhalten und Fragen unter dem Eindruck dieser Antworten stellen.¹¹⁷
Tillich versteht „die christliche Botschaft als Antwort“¹¹⁸ auf die „in der menschlichen Existenz liegenden Fragen“¹¹⁹, weshalb im Sinne Tillichs der Theologie die Aufgabe zukommt, „die Inhalte des christlichen Glaubens durch existentielles Fragen und theologisches Antworten in wechselseitiger Abhängigkeit“¹²⁰ zu erklären. Das dieser Aufgabe entsprechende Vorgehen nennt Tillich die „Methode der Korrelation […]. Die Theologie formuliert die in der menschlichen Existenz beschlossenen Fragen, und die Theologie formuliert die in der göttlichen Selbstbekundung [Offenbarung, C.D.] liegenden Antworten in Richtung der Fragen, die in der menschlichen Existenz liegen.“¹²¹ In diesem Sinne ist Theologie gemäß Tillich „[a]pologetische Theologie[,] heißt: antwortende Theologie. Sie antwortet auf Fragen, die die Situation stellt, und sie antwortet in der Macht der ewigen Botschaft
115 Tillich: ST I, 205 [kursiv C.D.] [174]. Vgl. zu Tillichs Verständnis von Offenbarung als Durchbruch Abschn. 4.1 sowie Abschn. 6.2 dieser Arbeit. Die folgenden Ausführungen weisen an einzelnen zentralen Stellen auf weitere Parallelen der genannten Vorlesung hin. 116 Ders.: Dogmatik-Vorlesung (Dresden 1925–1927), in: Ders.: Gesammelte Werke. Ergänzungsund Nachlaßbände. Dogmatik-Vorlesung (Dresden 1925–1927), Sturm, Erdmann/Schüssler, Werner (Hgg.), Bd. XIV, Berlin 2005, 123. 117 Ders.: ST I, 76 [61f]. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit Tillichs Offenbarungsbegriff findet sich bei: Grube, Dirk-Martin: Offenbarung und Subjektivität, in: Danz, Christian (Hg.): Wie viel Vernunft braucht der Glaube? (International Yearbook for Tillich Research 1), Berlin und Boston 2005, 65–82. Vgl. für eine kritische Stellungnahme zur Methode der Korrelation die Ausführungen zu Oswald Bayers Tillich-Kritik unter Abschn. 5.1 dieser Arbeit. 118 Tillich: ST I, 15 [8]. 119 Ebd., 78 [64]. 120 Ebd., 74 [60]. 121 Ebd., 75 [61]. Eine ausführliche, kritische Auseinandersetzung mit Paul tillichs Methode der Korrelation als Vermittlungsprinzip bietet: Clayton, John P.: The Concept of Correlation. Paul Tillich and the Possibility of a Mediating Theology, Berlin und New York 1980.
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und mit den begrifflichen Mitteln, die die Situation liefert, um deren Fragen es sich handelt.“¹²² Wenn nun Menschsein bedeutet, nach dem eigenen Sein zu fragen und unter dem Eindruck der offenbarten Antworten zu leben bzw. Antworten auf die Frage nach dem eigenen Sein zu erhalten und Fragen unter dem Eindruck dieser Antworten zu stellen, dann bilden der ontologischen Grundstruktur der Selbst-Welt-Korrelation entsprechend existentielle Fragen und offenbarte Antworten einen ebenso unhintergehbaren „Zirkel“¹²³, aus dem heraus der Mensch keinen neutralen Standpunkt einzunehmen imstande ist. Demnach werden im theologischen Denken Tillichs die existentiellen Fragen bereits unter dem Eindruck der göttlichen Antworten und die göttlichen Antworten im Zusammenhang der existentiellen Fragen formuliert, so dass in den göttlichen Antworten auch der Grund für die existentiellen Fragen selbst zu finden ist und die existentiellen Fragen durch die göttliche Offenbarung beantwortet werden. Der Inhalt der offenbarten Antworten kann dabei nicht aus den Fragen abgeleitet werden […]. Sie werden in die menschliche Existenz „hineingesprochen“ von jenseits der Existenz. Sonst wären es keine Antworten, denn die Frage ist die menschliche Existenz selbst. […] Es besteht eine gegenseitige Abhängigkeit von Frage und Antwort. […] Gott ist die Antwort auf die in der menschlichen Endlichkeit beschlossene Frage. Diese Antwort kann nicht […] hergeleitet werden.¹²⁴
Im Sinne dieser Korrelation bedeutet dies für das Gottesverständnis: Wenn […] der Begriff Gott in der […] Theologie in Korrelation mit der in der Existenz liegenden Bedrohung durch das Nichtsein erscheint, dann muß Gott die unendliche Macht des Seins genannt werden, die der Bedrohung durch das Nichts widersteht. […] Wenn die Angst als das Gewahrwerden der Endlichkeit verstanden wird, dann muß Gott der unendliche Grund des Mutes genannt werden. […] Wenn der Begriff „Reich Gottes“ in Korrelation mit dem Rätsel unserer geschichtlichen Existenz erscheint, dann muß „Reich Gottes“ der Sinn, die Erfüllung und die Einheit der Geschichte genannt werden. In dieser Weise wird ein Verständnis der traditionellen Symbole des Christentums erreicht, die die Macht dieser Symbole bewahrt und sie für die […] [existentiellen, C.D.] Fragen öffnet.¹²⁵
Jene Öffnung der christlichen Symbole für die in der menschlichen Existenz beschlossenen Fragen erweist sich nach Tillich deshalb als zentral, weil nur wer die Erschütterung der Vergänglichkeit erfahren hat, die Angst, in der er seiner Endlichkeit gewahr wurde, die Drohung des Nichtseins, […] verstehen [kann], was der Gottesgedan-
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Tillich: ST I, 12 [5]. Ebd., 75 [61]. Ebd., 78f. [64]. Ebd., 79 [64].
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ke meint. Nur wer die tragische Zweideutigkeit unserer geschichtlichen Existenz erfahren und den Sinn des Daseins völlig in Frage gestellt hat, kann begreifen, was das Symbol Reich Gottes aussagen will.¹²⁶
Tillich bezeichnet die traditionellen Inhalte des christlichen Glaubens als „Symbole“, um auszudrücken, dass der Mensch aufgrund der Unhintergehbarkeit der Selbst-Welt-Korrelation an sein endliches Sein gebunden bleibt, auch wenn er in seiner Selbst-Transzendierung in der Dimension des Geistes durch religiöse Akte unter dem Prinzip des Heiligen über sich auf ein Unendliches ausgreift, das jedoch als die Beziehung des Endlichen zum Unbedingten ausdrückendes Heiliges nicht im Endlichen aufgeht.¹²⁷ Deshalb sind nach Tillich „[r]eligiöse Symbole […] zweischneidig. Sie sind einerseits auf das Unendliche ausgerichtet, das sie symbolisieren, und andererseits auf das Endliche, durch das sie es symbolisieren. Sie zwingen das Unendliche in die Endlichkeit hinab und das Endliche hinauf zur Unendlichkeit“¹²⁸, ohne dabei die Differenz zwischen Endlichem und Unendlichem aufzuheben, indem im Sinne der Profanisierung Endliches verabsolutiert und Teilwahrheiten mit der letzten Wahrheit identifiziert werden.¹²⁹ Tillich unterscheidet in diesem Zusammenhang Zeichen und Symbol: Während das Zeichen nicht notwendig verbunden ist mit dem, worauf es hindeutet, partizipiert das Symbol an der Wirklichkeit dessen, für das es Symbol ist. Ein Zeichen kann […] vertauscht werden, je nach Zweckmäßigkeit, aber Symbole nicht. Ihre Gültigkeit ist abhängig von der Wechselbeziehung zwischen dem, was sie symbolisieren, und den Personen, die das Symbol aufnehmen. Darum kann das religiöse Symbol nur dann ein wahres Symbol sein, wenn es an der Mächtigkeit des Göttlichen partizipiert, auf das es hindeutet.¹³⁰
Daraus folgt für Tillich, dass kein Zweifel bestehen [kann], daß jede konkrete Aussage über Gott symbolisch sein muß; denn eine konkrete Aussage ist eine solche, die einen konkreten Ausschnitt der endlichen Erfahrung benutzt, um etwas über Gott auszusagen. Sie geht dabei über die Grenzen dieses Ausschnitts hinaus und schließt ihn doch zugleich ein. Der Ausschnitt der endlichen
126 Tillich: ST I, 76 [61f]. 127 Vgl. hierzu auch Abschn. 2.2 dieser Arbeit. 128 Tillich: ST I, 278 [240]. Eine Darstellung der Genese des Symbolbegriffes bei Tillich bietet: Danz, Christian: Symbolische Form und die Erfassung des Geistes im Gottesverhältnis, in: Ders. (Hg.): Das Symbol als Sprache der Religion (International Yearbook for Tillich Research 2), Berlin und Boston 2006, 59–75. Vgl. zur zentralen Bedeutung des Symbolbegriffes für Tillichs Theologie, speziell mit Blick auf die Gotteslehre: Schwöbel, Christoph: Symbolische Rede von Gott, in: Danz: Symbolische Form und die Erfassung des Geistes im Gottesverhältnis, 9–29. 129 Vgl. zur Profanisierung auch Abschn. 2.2 dieser Arbeit. 130 Tillich: ST I, 277 [239].
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Wirklichkeit, der zum Träger einer konkreten Aussage über Gott wird, wird zugleich bejaht und verneint. Er wird zum Symbol, denn ein symbolischer Ausdruck ist ein solcher, dessen gewöhnlicher Sinn durch das, auf das es hindeutet, verneint wird. Aber er wird nicht nur verneint, sondern auch bejaht – als symbolisches Material für das Unendliche.¹³¹
Indem Tillich folgend das Symbol an der Wirklichkeit dessen, für das es Symbol ist, partizipiert, grenzt sich Tillich von einem Symbolverständnis ab, das „die Nebenbedeutung des Nicht-Wirklichen hat.“¹³² Denn als Sprache, in der die Beziehung des Endlichen zum Unbedingten ausgedrückt wird, ist die „religiöse Sprache […] notwendig symbolisch. Das schwächt ihre Wirklichkeitskraft nicht ab, sondern steigert sie“¹³³ dadurch, dass sie die Beziehung des Endlichen zum Unbedingten in der Dimension des Geistes aktualisiert und in ihren im Offenbarungsereignis begründet liegenden religiösen Symbolen die diesem entsprechenden Antworten auf die existentiellen Fragen des Menschseins ausdrückt. So hat im Sinne Tillichs die „Theologie als solche […] weder die Verpflichtung noch die Macht, religiöse Symbole zu bejahen oder zu verneinen“¹³⁴, weil sie eben jene nicht konstituiert, sondern ihre „Aufgabe ist es, sie […] auszulegen.“¹³⁵ Durch die Methode der Korrelation sucht die Theologie „die Fragen, die in der menschlichen Situation enthalten sind, mit den Antworten, die in der Botschaft enthalten sind, in Korrelation zu bringen. […] [Sie] setzt Fragen und Antworten, Situation und Botschaft, menschliche Existenz und göttliche Selbstoffenbarung in Korrelation.“¹³⁶ Im Hinblick auf die existentielle Frage nach dem Sinn der menschlichen Geschichte als umfassendstem Lebensprozess gilt es nach Tillich, die folgenden traditionellen christlichen Symbole auszulegen: „Gegenwart des göttlichen Geistes“, „Reich Gottes“ und „Ewiges Leben“.¹³⁷ Dabei ist die wechselseitige Abhängigkeit der theologischen Antworten und den ihnen zugrunde liegenden existentiellen Fragen zu klären, indem die Frage nach dem Sinn der Geschichte theologisch unter dem Eindruck der in den oben genannten traditionellen christlichen Symbolen ausgedrückten Antworten auf die Frage nach dem Sinn der Geschichte gestellt wird und die Symbole der Gegenwart des göttlichen Geistes, des Reiches Gottes
131 Ebd., 277f. [239]. Eine auf dieses Zitat bezogene Auseinandersetzung findet sich in: Deuser, Hermann: Trinität und Relation, in: Härle, Wilfried (Hg.): Trinität, Marburg 1998, 95–128, 124ff. 132 Tillich: ST I, 279 [241]. 133 Ebd., 279f. [241]. 134 Ebd., 278 [240]. 135 Ebd. 136 Ebd., 15 [8]. 137 Ders.: ST III, 342 [298].
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und des Ewigen Lebens in Beziehung zur Frage nach dem Sinn der Geschichte gebracht werden:¹³⁸ Die theologische Interpretation der Geschichte muß sich im Hinblick auf ihre besondere Frage mit der Struktur der geschichtlichen Prozesse befassen, der Logik der Geschichtswissenschaft, der Zweideutigkeit der geschichtlichen Existenz und dem Sinn der geschichtlichen Entwicklung. All dies muß sie zu dem Symbol „Reich Gottes“ in Beziehung setzen […]. In der ersten Bedeutung weist es zurück auf das Symbol der „Gegenwart des göttlichen Geistes“, in der letzten leitet es über zu dem Symbol des „Ewigen Lebens“.¹³⁹
Tillich führt das Verhältnis von Geschichte und Reich Gottes am Ende seines theologischen Systems aus, das sich im Anschluss an eine einleitende Darstellung von Wesen, Aufbau und Methode der Theologie in fünf Teile gliedert, die jeweils seiner Methode der Korrelation entsprechend eine existentielle Frage des Menschseins im Zusammenhang der jeweiligen christlichen Symbole expliziert. Dabei gilt gemäß Tillich grundsätzlich: In jedem der fünf Teile des Systems, die so aufgebaut sind, daß die Struktur der Existenz mit der Struktur der christlichen Botschaft in Korrelation steht, sind die beiden Unterteile folgendermaßen aufeinander bezogen: Sofern die Existenz des Menschen den Charakter des Selbstwiderspruchs oder der Entfremdung hat, wird eine doppelte Betrachtungsweise verlangt. Die eine Seite handelt von dem, was der Mensch essentiell ist und darum sein sollte, und die andere handelt von dem, was er in seiner selbstentfremdeten Existenz tatsächlich ist und was er nicht sein sollte.¹⁴⁰
Das zeigt sich in den drei Hauptteilen von Tillichs Systematischer Theologie wie folgt:
138 Aufgrund des theologischen Zirkels nimmt Tillich in seiner Explikation der existentiellen Fragen des Menschen hin und wieder Hinweise auf einzelne Aspekte, die ausführlich erst im Zusammenhang der Auslegung der christlichen Symbole erfolgt, vorweg. Dementsprechend beinhaltet die folgende Ausarbeitung der in der Geschichte enthaltenen Frage nach dem Sinn der Geschichte theologische Implikationen, die erst ab Abschn. 3.3 3.3 der vorliegenden Arbeit ausführlich erörtert werden. 139 Tillich: ST III, 342 [298]. Eine Bearbeitung von Tillichs theologischer Antwort auf die Frage nach dem Sinn der Geschichte in den der Systematischen Theologie vorausgehenden dreißiger Jahren findet sich in: Sturm, Erdmann: Sinntheoretische Deutung der Geschichte als Antwort auf die Frage nach unserer geschichtlichen Existenz, in: Danz (Hg.): Interpretation of History, 45–70. Eine Erörterung der Genese von Tillichs der Systematischen Theologie vorausgehenden Geschichtsphilosophie bietet: Wittekind, Folkart: „Sinndeutung der Geschichte“. Zur Entwicklung und Bedeutung von Tillichs Geschichtsphilosophie, in: Danz (Hg.): Theologie als Religionsphilosophie, 135–172. 140 Tillich: ST I, 81 [66].
2.3 Der Lebensprozess des Menschen und die menschliche Geschichte | 57
[E]in Teil des Systems [muß] eine Analyse der Essenz des Menschen (in Verbindung mit der Essenz von allem, was Sein hat) sowie der Frage nach der menschlichen Endlichkeit und der Endlichkeit überhaupt geben, und er muß die Antwort geben, die Gott heißt. Dieser Teil wird deshalb „Sein und Gott“ genannt.¹⁴¹
Darüber hinaus muss ein zweiter Teil des Systems […] eine Analyse der existentiellen Selbstentfremdung des Menschen (zusammen mit den selbstzerstörerischen Zügen der Existenz im allgemeinen) bringen, und er muß die Frage, die aus dieser Situation heraus entsteht, analysieren und die Antwort geben, die Christus heißt. Dieser Teil wird deshalb „Existenz und Christus“ genannt.¹⁴²
Ein dritter Teil beruht wiederum auf der Tatsache, daß die Essenz- und Existenzmerkmale Abstraktionen sind und in Wirklichkeit in der komplexen und dynamischen Einheit erscheinen, die „Leben“ genannt wird. Die Macht des wesenhaften Seins ist in zweideutiger Weise in allen existentiellen Verzerrungen gegenwärtig. […] Deshalb muß dieser Teil des Systems eine Analyse vom lebendigen Menschen (in Verbindung mit dem Leben im allgemeinen) und von der Frage der Zweideutigkeit des Lebens geben, und er muß die Antwort geben, die „göttlicher Geist“ heißt. Dieser Teil heißt daher: „Das Leben und der Geist“.¹⁴³
Aufgrund dieser an der Methode der Korrelation und an Tillichs Bestimmung der theologischen Aufgabe orientierten Gliederung folgen die vorliegenden Ausführungen nicht denjenigen Urteilen über Tillichs Theologie, die seinen Ausführungen in der Systematischen Theologie einen zu hohen Grad der Abstraktion wie auch eine zu philosophische Herangehensweise zuschreiben.¹⁴⁴ Wie das dargestellte Symbolverständnis Tillichs gezeigt hat, steht für Tillich nicht die Abstraktion, sondern die ausschließliche Erfahrbarkeit des Unbedingten im Konkreten, des sich im Heiligen offenbarenden Profanen, im Vordergrund. Diesen drei Hauptteilen ordnet Tillich in seiner dreibändigen Systematischen Theologie den Teil „Vernunft und Offenbarung“ vor und den Teil „Geschichte und Reich Gottes“ nach.¹⁴⁵ Dabei bietet der Teil „Vernunft und Offenbarung“ ei-
141 Ebd. 142 Ebd. 143 Ebd., 81f. [66f.]. 144 Vgl. hierzu beispielsweise Ratschow, Carl Heinz: Paul Tillich, in: Greschat, Martin (Hg.): Gestalten der Kirchengeschichte, Bd. X/2, Stuttgart 1986, 123–150, 125f. Vgl. zu einer ähnlichen Kritiklinie die Ausführungen zu Tillichs Begriff der essentiellen Einheit in Bezug auf Oswald Bayer unter Abschn. 5.1 dieser Arbeit. 145 Band I beinhaltet die Teile „Vernunft und Offenbarung“ sowie „Sein und Gott“, Band II behandelt den Teil „Existenz und Christus“, Band III die Teile „Das Leben und der Geist“ sowie „Ge-
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ne „Analyse der menschlichen Vernunft […] (in Verbindung mit der rationalen Struktur der Wirklichkeit als einem Ganzen) […] und […] muß die Antwort geben, die Offenbarung heißt.“¹⁴⁶ Der im folgenden zu erörternde Teil „Geschichte und Reich Gottes“ liefert „eine Analyse der geschichtlichen Existenz des Menschen (in Verbindung mit der Natur des Geschichtlichen überhaupt) und der Frage der Zweideutigkeit aller Geschichte […] und die Antwort muß ‚Reich Gottes‘ lauten.“¹⁴⁷ Eben jener letzte Teil von Tillichs theologischem System berührt mit den Symbolen „Gegenwart des göttlichen Geistes“, „Reich Gottes“ und „Ewiges Leben“ Fragen, die wir gewöhnlich als „eschatologisch“ bezeichnen, das heißt Fragen über die „letzten Dinge“. Das Wort selbst scheint die Behandlung dieser Probleme am Ende des theologischen Systems zu rechtfertigen. Aber so ist es nicht: die Eschatologie befaßt sich mit der Beziehung des Zeitlichen zum Ewigen, und dies ist ein Thema in allen Teilen des theologischen Systems. Darum könnte die eschatologische Frage auch am Anfang der systematischen Theologie stehen, nämlich als die Frage nach dem inneren Ziel, dem telos, alles dessen, was ist.¹⁴⁸
Der Grund für Tillich, das Verhältnis des Zeitlichen zum Ewigen am Ende seines theologischen Systems zu behandeln, liegt darin, dass die „Lehre von der Schöpfung […] den Zeitmodus der Vergangenheit [gebraucht], um die Beziehung des Zeitlichen zum Ewigen symbolisch auszudrücken, während die Eschatologie diese Beziehung durch den Modus der Zukunft ausdrückt – und Zeit läuft vom Vergangenen zum Zukünftigen.“¹⁴⁹ Da das theologische System als Ganzes in seinen einzelnen Teilen die Beziehung des Zeitlichen im Modus von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zum allumfassenden Ewigen symbolisch ausdrückt, durchdringen sich die einzelnen Teile gegenseitig: Zwischen der Frage nach dem „Woher“ und der Frage nach dem „Wohin“ liegt das gesamte System theologischer Fragen und Antworten. Aber die Linie zwischen den beiden ist keine einfache Linie. Die Beziehung ist eine innere: das „Wohin“ ist bereits in dem „Woher“ enthalten; der Sinn der Schöpfung wird in ihrem Ende offenbar. Und umgekehrt ist das „Wohin“ durch das „Woher“ bestimmt; denn nur eine Schöpfung, die gut ist, macht eine Eschatolo-
schichte und Reich Gottes“. Einen einführenden werk- und problemgeschichtlichen Kommentar bietet: Danz, Christian (Hg.): Paul Tillichs „Systematische Theologie“, Berlin und Boston 2017. Für die folgenden Ausführungen sind hierfür insbesondere folgende Teile relevant: Lauster, Jörg: Die Geschichte und die Frage nach dem Reich Gottes, in: Danz (Hg.): Paul Tillichs „Systematische Theologie“, 257–275 sowie Matern, Harald: Das Reich Gottes innerhalb der Geschichte und als Ziel der Geschichte, in: Danz (Hg.): Paul Tillichs „Systematische Theologie“, 277–304. 146 Tillich: ST I, 82 [67]. 147 Ebd. 148 Ders.: ST III, 342 [298]. 149 Ebd., 343 [298f.].
2.3 Der Lebensprozess des Menschen und die menschliche Geschichte | 59
gie der Erfüllung möglich, und erst die Idee der Erfüllung verleiht der Schöpfung Sinn. Das Ende des Systems führt zu seinem Anfang zurück.¹⁵⁰
Demnach sind für eine umfassende Analyse von Tillichs theologischer Interpretation des Verhältnisses der menschlichen Geschichte zu den christlichen Symbolen „Gegenwart des göttlichen Geistes“, „Reich Gottes“ und „Ewiges Leben“ im Gesamtzusammenhang seines theologischen Systems zentrale Inhalte aus den vorangestellten vier Teilen in einer ähnlichen Weise heranzuziehen, wie dies in der vorangegangenen Darstellung der Geschichte als umfassendstem Lebensprozess mit der Bezugnahme auf die Selbst-Welt-Korrelation, die Grundpolaritäten des Seins, den Funktionen des Lebens, der Aktualisierung des Geistes in der Dimension des Lebens, der Unterscheidung von essentiellem und existentiellem Sein sowie der Erläuterung der existentiellen Fragen der menschlichen Situation, der Methode der Korrelation und des Symbolbegriffs vorgenommen wurde. In diesem Sinne sollen im Folgenden zunächst die Spezifika von Tillichs christlichem Geschichtsverständnis und der mit ihm einhergehenden existentiellen Frage nach dem Sinn der Geschichte entwickelt werden, um daran anschließend zu erläutern, inwiefern sich die christlichen Symbole „Gegenwart des göttlichen Geistes“, „Reich Gottes“ und „Ewiges Leben“ als Antworten auf eben jene Frage erweisen.
150 Ebd., 343 [299]. Vgl. zur Verbindung von Schöpfung und Eschatologie auch Unterabschn. 6.2 „Fazit“ dieser Arbeit.
3 Die Geschichte und die Frage nach ihrem Sinn 3.1 Die geschichtliche Dimension des Lebens 3.1.1 Geschichtliche Ereignisse und geschichtliches Bewußtsein Gemäß Tillich kommt dem Wort „Geschichte“ sowohl eine „subjektive[ ] als […] [auch] eine objektive[ ] Seite“¹ zu. Zum einen bezeichnet es „geschichtliche[ ] Ereignisse“² und zum anderen „geschichtliche[s] Bewußtsein“³, welchem Tillich gegenüber den geschichtlichen Ereignissen Priorität einräumt, denn: Das griechische Wort historia bedeutet in erster Linie Untersuchung, Information, Bericht und bezieht sich erst in zweiter Linie auf die Ereignisse, die erforscht werden und über die berichtet wird. […] Das bedeutet natürlich nicht, daß das Geschichtsbewußtsein zeitlich den Ereignissen vorausgeht, die es sich bewußt macht, sondern daß es bloße Vorgänge in geschichtliche Ereignisse verwandelt und in diesem Sinne den Ereignissen „vorausgeht“. Genau genommen sollte man sagen, daß dieselbe Situation sowohl geschichtliche Vorgänge als auch das Bewußtsein von ihnen als geschichtlichen Ereignissen erzeugt.⁴
Auf diese Weise bilden sich über Generationen hinweg „Gruppe[n] von Erinnerungen“⁵, die Tillich „Tradition“ nennt:
1 Tillich: ST III, 343 [299]. Diesen Gedanken eines subjektiven wie auch eines objektiven Elementes im Hinblick auf die Bedeutung von „Geschichte“ formuliert Tillich bereits 1952 in: Ders.: Sieg in der Niederlage. Der Sinn der Geschichte im Lichte christlicher Prophetie, in: Ders.: Gesammelte Werke. Der Widerstreit von Raum und Zeit. Schriften zur Geschichtsphilosophie, Albrecht, Renate (Hg.), Bd. VI, Stuttgart 1963, 126–136, 128ff. Zentrale Gedanken seiner Geschichtsphilosophie finden sich auch schon in einer Frankfurter Vorlesung aus dem WS 1929/1930, wobei hier die explizite Verbindung eben jener mit seinem theologischen System, wie er sie in seiner dreibändigen Systematischen Theologie herausarbeitet, noch nicht vorgenommen wird. Die Vorlesung zur Geschichtsphilosophie findet sich in: Ders.: Geschichtsphilosophie, in: Ders.: Gesammelte Werke. Ergänzungs- und Nachlaßbände. Vorlesungen über Geschichtsphilosophie und Sozialpädagogik (Frankfurt 1929/30), Sturm, Erdmann (Hg.), Bd. XV, Berlin 2007, 1–289, hier 1–289. Die folgenden Ausführungen weisen an einzelnen zentralen Stellen auf Parallelen der genannten Vorlesung hin. Vgl. hierzu auch folgenden erst kürzlich veröffentlichten Text aus dem Jahre 1930: Ders.: Die zwei Schichten des geschichtlichen Wahrheitsproblems, in: Ders.: Gesammelte Werke. Ergänzungsund Nachlaßbände. Religion, Kultur, Gesellschaft. Unveröffentlichte Texte aus der deutschen Zeit (1908–1933) II, Sturm, Erdmann (Hg.), Bd. XI, Berlin 1999, 270–276. 2 Ders.: ST III, 344 [300]. 3 Ebd. 4 Ebd. 5 Ebd. https://doi.org/10.1515/9783110733181-003
3.1 Die geschichtliche Dimension des Lebens | 61
Tradition ist keine zufällige Ansammlung erinnerter Ereignisse, sondern die Überlieferung solcher Ereignisse, die für die Träger oder die Empfänger der Tradition Bedeutung gewonnen haben. Die Wichtigkeit, die ein Vorgang für eine traditionsbewußte Gruppe hat, entscheidet, ob er als geschichtliches Ereignis betrachtet wird oder nicht. Es ist natürlich, daß das Geschichtsbewußtsein den historischen Bericht im Sinne der Tradition und der praktischen Bedürfnisse der Gruppe, in der die Tradition lebendig ist, beeinflußt.⁶
Jörg Lauster sieht deshalb Tillichs Geschichtsverständnis in einer Linie zur „Tradition hermeneutischer Geschichtstheorien, die auf die Standortgebundenheit und Voraussetzungshaftigkeit historischer Urteilsbildungen abhebt“⁷, so dass nach Lauster manche von Tillichs Überlegungen Vorstellungen vorwegzunehmen scheinen, „die heute im Gefolge von Jan Assmann unter dem Motto des kulturellen Gedächtnisses gefasst werden.“⁸ Die Ausführungen dieser Arbeit schließen sich Lauster darin an, dass nach Tillich im Stil der hermeneutischen Tradition „der Begriff der Geschichte nicht einseitig auf die Seite der Ereignisse oder die Deutungen hin aufgelöst werden kann.“⁹ Somit entspricht der „subjektiv-objektive Charakter“¹⁰ von Tillichs Geschichtsverständnis der ontologischen Grundstruktur der Selbst-Welt-Korrelation, innerhalb derer der Mensch als Selbst, das eine Welt hat, zu der es gehört, eben jene in Form der irreduziblen Subjekt-Objekt-Struktur seiner Vernunft vollzieht.¹¹ Daher ist in jeder Form der Geschichtsschreibung, ob in „Legenden, Sagen und epischer Dichtung“¹² oder auch in „wissenschaftliche[r] Geschichtsschreibung“¹³, irreduzibel, aufgrund des jeweiligen geschichtlichen Bewusstseins, ein subjektives oder auch „interpretative[s] Element“¹⁴ gegenwärtig, weshalb Tillich auch in Bezug auf die Geschichtsschreibung den Begriff des Symbols, welches an der Wirklichkeit dessen, für das es Symbol ist, partizipiert, verwendet¹⁵: Geschichtsschreibung geschieht, indem Ereignisse in Symbole für das Leben einer geschichtlichen Gruppe verwandelt werden. Die Überlieferung vereinigt historischen Bericht mit symbolischer Deutung; sie besteht
6 Ebd. 7 Lauster: Die Geschichte und die Frage nach dem Reich Gottes, 264. 8 Ebd., 264f. 9 Ebd., 264. 10 Tillich: ST III, 346 [302]. 11 Vgl. zur ontologischen Grundstruktur der Selbst-Welt-Korrelation auch Abschn. 2.1 dieser Arbeit. 12 Tillich: ST III, 344f. [300]. 13 Ebd., 345 [301]. 14 Ebd., 346 [302]. 15 Vgl. zum Symbolbegriff auch Unterabschn. 2.3.2 dieser Arbeit.
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nicht aus „nackten Tatsachen“ (ein höchst fragwürdiger Begriff!). Das bedeutet nicht, daß die faktische Seite erfunden ist. […] Aber in allen […] Formen der Überlieferung kann das geschichtliche Ereignis kaum noch von seiner symbolischen Deutung getrennt werden […]; denn die Art, in der geschichtliche Ereignisse erlebt werden, hängt schon von der Wichtigkeit ab, die man ihnen einräumt, und das heißt, daß die Urkunden schon in ihrer ursprünglichen Fassung von dem symbolischen Element mit bestimmt sind.¹⁶
Da das Symbol an der Wirklichkeit dessen, für das es Symbol ist, partizipiert, und der Mensch aufgrund der Subjekt-Objekt-Struktur seiner Vernunft ausschließlich vermittelt durch sein Selbst-Sein Zugriff auf die entsprechenden Ereignisse hat, schwächt das symbolische Element, wie bereits dargestellt, nicht die Wirklichkeitskraft des symbolisch Erfassten, sondern steigert sie. Dies lässt sich beispielsweise an Tillichs Verständnis von Jesus als dem Christus, den er auch als „[d]as christliche Ereignis“¹⁷ oder das „Neue Sein“¹⁸ beschreibt, weil er die christliche Antwort auf die in der menschlichen Existenz liegende Frage nach „einem Sein, das den Zwiespalt zwischen essentiellem und existentiellem Sein überwindet“¹⁹, ist, konkret veranschaulichen: Jesus als der Christus ist sowohl ein historisches Faktum als auch der Gegenstand gläubiger Aufnahme. […] Wenn die Theologie das historische Faktum ignoriert, auf das der Name Jesus von Nazareth hinweist, dann ignoriert sie die grundlegende christliche Aussage, daß die wesenhafte Gott-Mensch-Einheit in der Existenz erschienen ist und sich den Bedingungen der Existenz unterworfen hat, ohne von ihnen überwunden zu werden. […] Trotzdem aber muß die andere Seite, nämlich daß Jesus als der Christus aufgenommen wurde, ebenso stark betont werden. Ohne diese gläubige Aufnahme wäre Jesus nicht der Christus geworden […]. In diesem Sinne gehören die faktische und die aufnehmende Seite notwendig zusammen.²⁰
Die Wirklichkeitskraft, die Jesus als dem die Entfremdung überwindenden Christus zukommt, beruht dementsprechend irreduzibel sowohl auf der faktischen als auch auf der aufnehmenden Seite des christlichen Ereignisses, indem vor dem Hintergrund der ontologischen Grundstruktur der Selbst-Welt-Korrelation die existentielle Entfremdung faktisch durch Jesus Christus in der gläubigen Aufnahme des Christus überwunden ist.
16 Tillich: ST III, 345 [300f.]. 17 Ders.: ST II, 108 [98]. 18 Ebd. 19 Ebd., 89 [80]. Vgl. zum Verhältnis von Essenz und Existenz Unterabschn. 2.3.1, den in der Existenz begründeten Fragen Unterabschn. 2.3.2 sowie Tillichs Christologie Abschn. 4.1 dieser Arbeit. 20 Ebd., 108f. [98f.]. Vgl. zu Tillichs Verständnis von „Prinzip“ Abschn. 6.2 und zu Tillichs Ekklesiologie Abschn. 4.2 dieser Arbeit.
3.1 Die geschichtliche Dimension des Lebens | 63
Gemäß Tillich gilt eben jener Zusammenhang von geschichtlichem Ereignis und symbolischer Deutung analog grundsätzlich für jede Art von traditionsbildender Geschichtsschreibung, auch für eine „strenge[ ], methodische[ ] Geschichtswissenschaft. Die wissenschaftlichen Kriterien der historischen Forschung sind ebenso bestimmt, verpflichtend und objektiv wie die jeder Art von Wissenschaft. Aber in der Anwendung dieser Kriterien wirkt sich der Einfluß des Geschichtsbewußtseins aus […]“²¹, was Tillich im Folgenden erläutert: Selbst in einem der Absicht nach völlig historischen Bericht gibt es Punkte, die den Einfluß einer symbolschaffenden Vision verraten. Hierher gehört in erster Linie die Auswahl der Ereignisse, deren Faktizität untersucht werden soll. […] Dies ist einer der Gründe für die zahllosen Unterschiede in der historischen Darstellung des gleichen faktischen Materials. Ein anderer Grund […] ist das Leben der Gruppe, innerhalb derer der Historiker arbeitet; denn er nimmt an ihrem Leben teil, ihre[ ] Erinnerungen und Traditionen eingeschlossen. […] Die Geschichtsschreibung ist nicht nur von den tatsächlichen Ereignissen abhängig, sondern auch von deren Aufnahme durch ein bestimmtes Geschichtsbewußtsein.²²
Beispiele hierfür finden sich im kleineren Rahmen u.a. in ost- und westdeutschen Darstellungen von prominenten Persönlichkeiten wie Martin Luther bis insbesondere 1990: Dies wird exemplarisch deutlich in den beiden in der BRD und der DDR 1983 zum 500. Geburtstag von Luther produzierten Spielfilmen, die beide den Titel „Luther“ tragen, und z.B. Luthers Rolle im Zusammenhang der Bauernkriege und sein Verhältnis zu Thomas Müntzer entsprechend des jeweilig vorherrschenden Geschichtsbewusstseins umsetzen. Als weiteres Beispiel für die Einbettung der Geschichtsschreibung in das jeweilige Geschichtsbewusstsein kann die unterschiedliche Bewertung des Westfälischen Friedens von 1648 im Laufe der Geschichte dienen: So gilt der Westfälische Frieden aus heutiger europäischer Sicht als wichtiges historisches Ereignis auf dem Weg zu einer europäischen Friedensordnung gleichberechtigter Nationalstaaten und als Fundament der Religionsfreiheit, was die 1998 von der Stadt Münster eröffnete Ausstellung „350 Jahre Westfälischer Friede“ eindrücklich vermittelt. Zeitgenossen des Westfälischen Friedens sahen in ihm vor allem das Ende des 30jährigen Krieges, während im Zusammenhang des aufkommenden Nationalismus im 19. Jahrhundert der Westfälische Friede als Niederlage Deutschlands gegen Frankreich verstanden wurde. In einem größeren, umfassenderen Rahmen lässt sich als weiteres Beispiel der einleitende Satz aus dem Manifest der Kommunistischen Partei von Friedrich Engels und Karl Marx anführen, der die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft als Geschichte von Klas-
21 Ders.: ST III, 346 [302]. 22 Ebd., 345f. [301f.].
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senkämpfen versteht.²³ In diesem Sinne schreibt Tillich bereits 1930 in Christologie und Geschichtsdeutung: „Geschichte ist nicht objektiv feststellbar, denn Sinn und Gerichtetheit sind nicht objektiv feststellbar. […] Wo immer deutliches Geschichtsbewußtsein in der Menschheit aufgetreten ist, zeigt es die […] Beziehung auf ein vergangenes konkret-sinngebendes Prinzip, das als Mitte der Geschichte Geschichte konstituiert, ihr Anfang und Ende gibt und auf das hin der Glaube an die Sinnhaftigkeit des Geschehens gegenüber der Macht des Sinnwidrigen erfahren wird.“²⁴ Dies veranschaulicht Tillich analog zu den o.g. Beispielen an dem jüdischen Verständnis des Auszuges aus Ägypten und der Bundesstiftung auf dem Sinai, an der Erscheinung Zarathustras für den Parsismus, dem Einbruch der autonomen Geisteshaltung für die Aufklärer, etc.²⁵ Dementsprechend definiert Tillich „Geschichtsbewußtsein“ 1939 in Geschichte als das Problem unserer Zeit wie folgt: „Geschichtsbewußtsein ist das Bewußtsein davon, daß Geschichte unser letztgültiges Schicksal“²⁶ und demnach von historischem Wissen zu unterscheiden ist. Aufgrund der jeweiligen die Geschichtsschreibung beeinflussenden symbolschaffenden Vision, welche eben unter anderem die Selektion der zu untersuchenden Ereignisse bestimmt, gewinnt für Tillich durch „das interpretative Element in jeder Art von Geschichtsschreibung […] die Antwort auf die Frage nach dem Sinn der Geschichte – wenn auch nur indirekt und mittelbar – Einfluß auf die historische Darstellung.“²⁷ Im Sinne des Schicksalselementes der ontologischen Polarität von Freiheit und Schicksal erweist es sich für den Menschen als Schicksal, „einer Tradition anzugehören, in der die Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens in allen seinen Dimensionen, auch der geschichtlichen, in Symbolen ausgedrückt ist, die jede Begegnung mit der Wirklichkeit beeinflussen.“²⁸ Darin, dass in Tillichs Verständnis der Historiker nach Antworten auf sich aus einer konkreten gesellschaftlichen Situation heraus ergebenden Fragen sucht, zeigt sich eine Analogie zu Tillichs theologischer Methode der Korrelation, durch die die Theologie die in der menschlichen Existenz begründeten Fragen im Lichte der ihnen entsprechenden christlichen Antworten und die christliche Botschaft unter dem Eindruck der ent-
23 Engels, Friedrich/Marx, Karl: Manifest der Kommunistischen Partei, in: Marx, Karl/Engels, Friedrich: Werke, Scheibler, Hildegard (Hg.), 11. Aufl., Bd. 4, Berlin 1990, 461–493, hier 462. 24 Tillich, Paul: Christologie und Geschichtsdeutung, in: Ders.: GW VI, 83–96, hier 92. 25 Vgl. ebd. Vgl. ausführlicher zu Tillichs Verständnis der Mitte der Geschichte Abschn. 4.1 dieser Arbeit. 26 Ders.: Geschichte als das Problem unserer Zeit, in: Ders.: GW X, 159–169, hier 162. 27 Ders.: ST III, 346 [302]. 28 Ebd. Vgl. zu einer ausführlichen Erläuterung der ontologischen Polaritäten auch Abschn. 2.2 dieser Arbeit.
3.1 Die geschichtliche Dimension des Lebens | 65
sprechenden existentiellen Fragen formuliert und analysiert.²⁹ Christliche Theologie zeigt sich damit durch ihre christlichen Symbole im Zusammenhang einer christlichen Tradition als eine spezifische Art der Geschichtsschreibung aufgrund eines ihr eigenen geschichtlichen Bewusstseins, das – wie oben allgemein dargestellt – konkrete Ereignisse in Symbole für eine geschichtliche Gruppe verwandelt: „Zweifellos kann selbst der objektive Gelehrte, wenn er existentiell unter dem Einfluß der christlichen Tradition steht, nicht umhin, geschichtliche Ereignisse im Lichte dieser Tradition zu interpretieren, wie unbewußt und indirekt dieser Einfluß auch sein mag.“³⁰ Jesus Christus erweist sich nach Tillich wie oben dargestellt als das zentrale traditionsbildende Ereignis des christlichen Geschichtsbewusstseins. Demnach sind auch die vorliegenden Ausführungen Tillichs zu seinem Geschichtsverständnis wie auch zu den menschlich-existentiellen Fragen und den diesen entsprechenden Antworten wesentlich vor dem Hintergrund der christlichen Tradition zu verstehen. Merkmale der Geschichte Daraus, dass nach Tillich ein „geschichtliches ‚Ereignis‘ […] ein Ineinander von Tatsache und Interpretation [ist]“³¹, lassen sich aufgrund der „Vereinigung subjektiver und objektiver Elemente“³² im Zusammenhang menschlicher Geschichtsschreibung verschiedene Merkmale für die Unterscheidung der „menschliche[n] Geschichte von der geschichtlichen Dimension im allgemeinen“³³ entwickeln. Wenn also im Folgenden von „Geschichte“ gesprochen wird, dann wird damit explizit die menschliche Geschichte als umfassendster Lebensprozess im Sinne der Aktualisierung des Geistes bezeichnet:³⁴
29 Vgl. zur Beschreibung der Methode der Korrelation auch Unterabschn. 2.3.2 dieser Arbeit. 30 Tillich: ST III, 346 [302]. Den Gedanken, dass Geschichtsschreibung wesentlich ein interpretatives Element enthält, formuliert Tillich bereits in seiner Frankfurter Vorlesung Geschichtsphilosophie aus dem WS 1929/1930, indem er in Bezug auf das Verhältnis des Menschen zur Geschichte die Zuschauerrolle negiert (vgl. Ders.: EW XV, 118/289). 31 Ders.: ST III, 346 [302]. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Tillich zugrunde liegenden Geschichtsverständnis bietet: Haigis, Peter: Jesus Christus – die Mitte einer Geschichte, in: Christus Jesus – Mitte der Geschichte!?, Haigis, Peter/Hummel, Gert/Lax, Doris (Hgg.), Berlin / Münster 2007, 121–141. 32 Tillich: ST III, 346 [302]. 33 Ebd. 34 Vgl. zum Geschichtsverständnis Tillichs auch Kap. 2 dieser Arbeit. Eine Studie, die Tillichs Geschichtsbegriff aus der anthropologischen Perspektive des Personseins als telos der Schöpfung mit Bezug auf das Reich Gottes als Sinn der Geschichte erörtert (vgl. hierzu auch Kap. 4 und Kap. 5 dieser Arbeit), findet sich bei: Glöckner, Konrad: Personsein als Telos der Schöpfung. Eine Dar-
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a) Als erstes Merkmal nennt Tillich den „Charakter der Intention und des Zweckes“³⁵, der einem Vorgang, welcher traditionsbildend als geschichtliches Ereignis eingestuft worden ist, zukommt, denn „ein Vorgang wird [erst] zum geschichtlichen Ereignis […], wenn in ihm in Bezug auf die jeweilige gesellschaftliche Situation zweckhafte Handlungen geschehen. […] Vorgänge, innerhalb derer kein Ziel gesetzt ist, sind nicht geschichtlich“³⁶, weil sie im Rahmen der Interpretation von Vorgängen nicht als solche erfasst werden, unabhängig davon, ob „ein spezieller Zweck erreicht wird oder nicht […].“³⁷ b) Aufgrund der ontologischen Polarität von Freiheit und Schicksal, in der sich der Lebensprozess des Menschen in der Dimension des Geistes vollzieht, ist die menschliche Geschichte nicht nur durch das Schicksal beeinflusst, einer konkreten Tradition anzugehören, sondern auch durch menschliche Freiheit […]. Der Mensch, sofern er Ziele setzt und verfolgt, ist frei: er transzendiert die gegebene Situation und läßt das Wirkliche um des Möglichen willen hinter sich. Er ist nicht der Situation verhaftet, in der er sich befindet; und es ist eben diese Selbst-Transzendierung, die die Freiheit ausmacht. Aus diesem Grunde ist keine geschichtliche Situation vollkommen durch eine andere bedingt. Der Übergang von einer Situation zu einer anderen ist zum Teil durch den zentrierten Akt des Menschen bestimmt, das heißt durch seine Freiheit. Allerdings kann die Selbst-Transzendierung, gemäß der Polarität von Freiheit und Schicksal, niemals absolut sein.³⁸
Der Mensch kann sich jedoch in seiner Freiheit der Selbst-Transzendierung zu dem verhalten, was ihm durch das Schicksal vorgegeben ist. c) Daraus ergibt sich als weiteres Merkmal der menschlichen Geschichte „die Schaffung des Neuen“³⁹, da die Selbst-Transzendierung des Menschen innerhalb der Grenzen „durch die Gesamtheit von Elementen der Vergangenheit und der Gegenwart […] zu etwas qualitativ Neuem führen [kann].“⁴⁰ Hier zeigt sich wieder eine Parallele bei Niebuhr, der im Hinblick auf die Schaffung des Neuen in der Geschichte durch die göttliche Schöpferkraft formuliert: „Die
stellung der Theologie Paul Tillichs aus der Perspektive seines Verständnisses des Menschen als Person, Münster 2004. 35 Tillich: ST III, 346 [302]. 36 Ebd., 347 [302f.]. 37 Ebd., 347 [302]. 38 Ebd., 347 [303]. 39 Ebd. 40 Ebd. Vgl. zum Verhältnis von Altem und Neuen in der Geschichte bei Tillich auch im Folgenden Kap. 4 sowie der Gegenwart des göttlichen Geistes innerhalb der Geschichte Kap. 4, insbesondere Abschn. 4.3 dieser Arbeit.
3.1 Die geschichtliche Dimension des Lebens | 67
Schöpferkraft Gottes offenbart sich in ihm [dem Dasein], weil in alldem, was in Natur und Geschichte entsteht, etwas grundsätzlich Neues enthalten ist.“⁴¹ Grundsätzlich entsteht gemäß Tillich Neues beispielweise auch durch „die dynamischen Kräfte der Natur“ , allerdings unterscheidet sich eben jenes von Neuem innerhalb der menschlichen Geschichte qualitativ aufgrund des fehlenden Sinnbezuges in Form eines telos, der sich wegen des interpretativen Elementes des menschlichen Geschichtsbewusstseins ausschließlich im Rahmen der menschlichen Geschichte ereignet: „Leben als Sinnverwirklichung ist nach den vorausgegangenen Betrachtungen Leben, das durch die Funktionen des Geistes [Moralität, Kultur, Religion, C.D.] und die sie beherrschenden Kriterien und Prinzipien [Zentriertheit, Wachstum, Heiligkeit, C.D.] bestimmt ist.“⁴² Tillich setzt hier ein Verständnis von „Sinn“ voraus, das die „rein logische Bedeutung des Wortes (der ‚Sinn‘ eines Wortes) […] transzendiert […]“⁴³, so dass unter „Sinn“ die „Schaffung des Neuen in der Geschichte als die Schaffung neuer und einmaliger Verkörperungen von Sinn“⁴⁴ verstanden werden kann. Tillich grenzt sich mit der Verwendung von „Sinn“ hier von der Möglichkeit ab, die menschliche Geschichte von der geschichtlichen Dimension durch den Bezug auf einen Wert zu unterscheiden, weil sich dabei die Schwierigkeit stellt, „daß man ein Kriterium einführen muß, das willkürliche von gültigen Werten unterscheiden kann […] und weil […] [e]in Ausdruck wie ‚Wert des Lebens‘ […] weder die Tiefe noch die Ausdruckskraft von ‚Sinn des Lebens‘ [hat].“⁴⁵ d) An die Schaffung des Neuen schließt Tillichs letztes Merkmal der menschlichen Geschichte an, das er in der „sinnbezogene[n] Einmaligkeit geschichtlicher Ereignisse“⁴⁶ sieht, weil ausschließlich in der menschlichen Geschichte […] der einmalige Vorgang sinnbezogen [ist]. Sinnbezogen-sein heißt, über sich hinausweisen auf etwas Sinnvolles, das repräsentiert ist. […] Personen, Gemeinschaften, Ereignisse und Situationen sind sinnbezogen, wenn in ihnen mehr sichtbar wird als vorübergehende Geschehnisse in dem universalen Prozeß des Werdens. Geschehnisse, die in jedem Augenblick der Zeit in endloser Zahl kommen und gehen, sind nicht geschichtlich im eigentlichen Sinn. Aber sie können geschichtliche Bedeutung gewinnen, wenn sie eine menschliche Potentialität einmalig und unvergleichlich repräsentieren.⁴⁷
41 42 43 44 45 46 47
Niebuhr: Jenseits der Tragödie, 130. Tillich: ST III, 347 [303]. Ebd., 348 [304]. Ebd. Ebd., 347f. [303f.]. Ebd., 348 [304]. Ebd.
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Denn wie beschrieben transzendiert der Mensch in seiner Freiheit das Wirkliche auf das Mögliche hin, weshalb er imstande ist, bloße Vorgänge traditionsbildend als geschichtliche Ereignisse, in denen zweckgebunden Sinn verwirklicht wird, einzustufen und in ihnen die konkrete Verwirklichung einer menschlichen Möglichkeit repräsentiert zu sehen, woran sich erneut der Zusammenhang des subjektiv-interpretativen sowie des objektiv-faktischen Elementes der Geschichtsschreibung zeigt. Dies kann wieder in Bezug auf Jesus Christus als dem zentralen traditionsbildenden Ereignis des christlichen Geschichtsbewusstseins veranschaulicht werden: Ohne die faktische Seite des christlichen Ereignisses wäre die potentielle Überwindung der existentiellen Entfremdung nicht verwirklicht und ohne deren gläubige Aufnahme als konkrete, einmalige Verwirklichung eben jener Potentialität, die für den Menschen nur als solche ein traditionsbildendes, sinnbezogenes geschichtliches Ereignis darstellt, nicht erkannt worden. An Jesus Christus als dem grundlegenden christlichen Ereignis wird deutlich, dass „geschichtliche Ereignisse […] bedeutsam [sind], weil sie über die Geschichte hinausführen; und […] einmalig [sind], weil sie in der Geschichte stehen“⁴⁸, denn die geschichtlichen Vorgänge innerhalb der geschichtlichen Menschheit haben ein inneres Ziel. Sie bewegen sich in einer bestimmten Richtung, und sie gehen auf Erfüllung zu, ob sie diese erreichen oder nicht. Ein geschichtliches Ereignis ist sinnbezogen, soweit es einen Moment in dieser geschichtlichen Entwicklung auf das Ziel hin darstellt.⁴⁹
In einem christlichen Geschichtsbewusstsein erscheint im Lichte von Jesus Christus als der symbolschaffenden Vision des christlichen Geschichtsverständnisses die universale Überwindung der existentiellen Entfremdung, die den Lebensprozess durch Desintegration, Zerstörung und Profanisierung bedroht, oder in den Worten Tillichs auch die „endgültige[ ] Teilnahme an der transzendenten Einheit unzweideutigen Lebens“⁵⁰, in der die das Leben durch ein potentielles Nicht-Sein bedrohenden Kräfte zugunsten der Aktualisierung einer „bewußte[n] Einheit von Existenz und Essenz“⁵¹, wie sie in Christus bereits einmalig als verwirklicht gilt, überwunden sind. Nach Tillich sind geschichtliche Ereignisse „also aus drei Gründen sinnbezogen: sie repräsentieren wesenhafte menschliche Potentialitäten, sie zeigen die Aktualisierung dieser Potentialitäten auf einmalige Weise, und sie stellen Momente
48 Tillich: ST III, 349 [304]. 49 Ebd. 50 Ebd., 159 [133]. Vgl. zu Tillichs Verständnis der Zweideutigkeiten des Lebens Abschn. 2.3 dieser Arbeit. 51 Ders.: ST II, 41 [34].
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dar in der Entwicklung der Geschichte auf ihr Ziel hin und bringen dabei dieses Ziel selbst symbolisch zum Ausdruck.“⁵² Eben jenes Ziel erweist sich im Unterschied zum konkreten „menschliche[n] Zweck“⁵³, der an eine konkrete Situation gebunden ist, in Form des telos als endgültiges Ziel der Geschichte oder auch als „absolute[r] Sinn“⁵⁴. Dies zeigt sich beispielsweise in den christlichen Symbolen „Himmel“ für endgültige Erfüllung und „Hölle“ für endgültige Nicht-Erfüllung als „Symbole von absolutem Sinn“⁵⁵, die „keinem Leben außer dem menschlichen verheißen oder angedroht werden.“⁵⁶ Die erörterten Merkmale der menschlichen Geschichte finden sich bereits in der von Tillich 1930 verfassten Schrift Christologie und Geschichtsdeutung, in welcher er Jesus Christus als die in die Geschichte einbrechende, die Geschichte transzendierende Antwort auf die Frage nach dem Sinn der Geschichte beschreibt.⁵⁷ Tillich folgend sind daher zusammenfassend die vier Merkmale, die die menschliche Geschichte von der geschichtlichen Dimension unterscheiden, „mit Zweck verbunden zu sein, durch Freiheit beeinflußt zu sein, sinnbezogenes Neues zu schaffen und Bezug zu haben auf universalen, auf partikularen und auf teleologischen Sinn.“⁵⁸ Denn in der geschichtlichen Dimension des universalen Leben[s] ist die Dimension des Geistes nur unvollkommen aktualisiert. Leben in der biologischen Dimension und Leben in der Dimension des Geistes haben analoge Züge, aber das Biologische ist noch nicht Geist. Aus diesem Grunde bleibt das Geschichtliche in allen Bereichen des Lebens außer dem der menschlichen Geschichte eine nur unvollkommen aktualisierte Dimension.⁵⁹
In den nicht-geschichtlichen Lebensbereichen fehlt für Tillich das für die menschliche Geschichte zentrale Geschichtsbewusstsein, das bloße Vorgänge durch menschliche Zwecke, Freiheit, das Schaffen von sinnbezogenem qualitativ Neu-
52 Ders.: ST III, 349 [304f.]. 53 Ebd., 346 [302]. 54 Ebd., 349 [305]. Vgl. zu diesen Merkmalen der Geschichte auch die folgenden erst küzlich veröffentlichten Studien von Tillich: Ders.: Das Problem der Geschichte, in: Ders.: EW X, 85–100 sowie Ders.: Einleitung in die Geschichtsphilosophie, in: Ders.: EW X, 426–431. 55 Ders.: ST III, 350 [306]. 56 Ebd. Vgl. zu Tillichs Verständnis der Symbole „Himmel“ und „Hölle“ Abschn. 5.2 dieser Arbeit. Vgl. zu Tillichs Christusverständnis ausführlich auch Abschn. 4.1 dieser Arbeit. 57 Ders.: Christologie und Geschichtsdeutung. 58 Ders.: ST III, 349 [305]. 59 Ebd., 350 [306]. Vgl. zu Tillichs Unterscheidung der Dimension des Geistes von den übrigen Dimensionen des Lebens im Zusammenhang der ontologischen Polaritäten sowie der Funktionen des Lebens mit seinen Prinzipien auch Abschn. 2.2 dieser Arbeit.
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em und Potentialitäten verwirklichendem Sinnbezug als Ereignisse von geschichtlicher Bedeutung erfasst. Nur im „moralische[n] Akt, durch den eine Person zur Person wird, die Schaffung eines kulturellen Werkes mit seinem unerschöpflichen Sinn oder ein religiöses Erlebnis, in dem der letzte Sinn durch alle vorläufigen Sinnbezüge hindurchbricht“⁶⁰, lässt sich im Zusammenhang der ontologischen Polaritäten Individualisation und Partizipation, Dynamik und Form sowie Freiheit und Schicksal über Zwecke, Freiheit, sinnbezogenes qualitativ Neues und Potentialitäten verwirklichenden Sinnbezug Geist aktualisieren. Vor- und Nachgeschichte Dementsprechend hat gemäß Tillich auch der Mensch nur dann Geschichte, wenn er in seinem Lebensprozess Geist und damit Geschichte aktualisiert, wobei Menschsein als solches nicht erst durch das Geschichtsbewusstsein konstituiert wird: Der Übergang von der unvollkommen aktualisierten zur aktualisierten Geschichte kann als der Zustand des prähistorischen Menschen beschrieben werden. […] In dem Augenblick, in dem dieses Wesen „prähistorischer Mensch“ genannt werden kann, muß es die Freiheit haben, sich Ziele zu setzen; es muß im Besitz von Sprache und Begriffen sein […] und es muß künstlerische und kognitive Anlagen zeigen und eine Ahnung vom Heiligen haben […]; aber Geschichtlichkeit im vollen Sinn wäre noch nicht erreicht, ihm würde das geschichtliche Bewußtsein fehlen. Es befände sich, metaphorisch gesprochen, in dem Zustand der „erwachenden Menschlichkeit“.⁶¹
Dem prähistorischen Menschen, wie Tillich ihn beschreibt, kommt damit wesentlich die Potentialität der Geschichtlichkeit zu, indem der prähistorische Mensch das Lebewesen ist, „das angelegt ist, die Dimension des Geistes und der Geschichte zu aktualisieren, und das sich auf ein Ziel hin entwickelt.“⁶² Deshalb weist Tillich Vorstellungen zurück, die dem prähistorischen Menschen entweder zuviel oder zu wenig zuerkennen. Zu viel schreibt man ihm zu, wenn man ihn mit Vollkommenheiten ausstattet, die entweder spätere Entwicklungsstufen oder gar einen Zustand der Erfüllung antizipieren. […] Andrerseits [sic] wird dem prähistorischen Menschen zu wenig zugestanden, wenn man in ihm ein Tier sieht, das nicht einmal die Möglichkeit hat, Universalien zu verstehen und Sprache zu bilden. Wenn dieses Bild richtig wäre, gäbe es keinen vorgeschichtlichen Menschen, und
60 Tillich: ST III, 349f. [305]. 61 Ebd., 350f. [306]. 62 Ebd., 351 [307].
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der geschichtliche Mensch wäre eine „Schöpfung aus dem Nichts“. Aber alle empirische Evidenz widerspricht dieser Auffassung.⁶³
Unter „empirischer Evidenz“ versteht Tillich hier die Erkenntnisse, die für eine natürliche Evolution sprechen, auch wenn sich die einzelnen Entwicklungsstufen im Sinne eines geschichtlichen Ereignisses nicht genau bestimmen lassen: Wir wissen nicht, wann der erste Funke des geschichtlichen Bewußtseins in der menschlichen Rasse aufstieg; aber wir kennen frühe Ausdrucksformen dieses Bewußtseins. Wir können den geschichtlichen vom vorgeschichtlichen Menschen unterscheiden […], weil in allen Prozessen langsame und sprunghafte Entwicklungen nebeneinander hergehen. […] Tatsächlich vollziehen sich in jeder Evolution beide Prozesse gleichzeitig; darum können wir zwar das Ergebnis sehen, aber nicht den Augenblick seiner Entstehung. […] Der geschichtliche Mensch ist eine neue Erscheinung, aber er ist vorbereitet und antizipiert im vorgeschichtlichen Menschen, und der Übergang von dem einen zum andern ist seinem Wesen nach unbestimmbar.⁶⁴
Dass dieser Übergang nicht bestimmt werden kann, liegt somit „nicht an einem vorläufigen Versagen der Wissenschaft […], sondern der Unbestimmbarkeit der evolutionären Prozesse in Hinsicht auf die Erscheinung des Neuen.“⁶⁵ Tillichs allgemeine Ausführungen zum Übergang vom prähistorischen zum geschichtlichen Menschen entsprechen seiner Auslegung der biblischen Schilderung des prälapsarischen Zustandes in Gen 1–3: Analog zur Formulierung der „erwachenden Menschheit“ bezeichnet er den prälapsarischen Zustand als „träumende Unschuld“ […]. Beide Worte weisen auf etwas hin, das der aktuellen Existenz vorausgeht. „Träumende Unschuld“ hat Potentialität, aber keine Aktualität. […] Träumen ist ein Zustand des Bewußtseins, der zugleich wirklich und unwirklich ist, genau wie Potentialität Wirklichkeit und Nichtwirklichkeit ist. […] Unschuld kennzeichnet den Zustand vor der Aktualität, vor der Existenz und vor der Geschichte. […] Das Wort „Unschuld“ sowie das Wort „träumen“ gebrauchen wir nicht in ihrer eigentlichen, sondern in analoger Bedeutung. In dieser können uns beide Worte […] den Zustand des essentiellen oder des potentiellen Seins verständlich machen.⁶⁶
Jene träumende Unschuld dient Tillich demnach als Beschreibung des prähistorischen Menschen, in dem die Aktualisierung von Geist und Geschichte angelegt, aber noch nicht realisiert ist, was Tillich mit Bezug auf die christliche Tradition auch die Potentialität zur Aktualisierung des „Ebenbild[es] Gottes im Men-
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Ebd., 351 [306f.]. Ebd., 351f. [307]. Ebd., 352 [307]. Ders.: ST II, 40f. [33f.].
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schen“⁶⁷ nennt, der in seiner ihm wesentlichen Beziehung zum Unbedingten dazu bestimmt ist, im Rahmen der ontologischen Grundstruktur und den mit ihr einhergehenden ontologischen Polaritäten „endliche Freiheit […] eingebettet in den Rahmen eines universalen Schicksals“⁶⁸ im Lebensprozess zu aktualisieren. In diesem Zusammenhang führt Tillich als zentrale Wesensmerkmale der menschlichen Freiheit Sprachlichkeit, Intentionalität und die grundlegende Fähigkeit zur Selbst-Transzendierung an.⁶⁹ Wenn Tillich nun das potentielle Sein des Menschen in einer Linie zu seinem essentiellen Sein fasst⁷⁰ und der Mensch gemäß der christlichen Tradition als Geschöpf Gottes verstanden wird, dann erweist sich im christlichen Geschichtsbewusstsein eben jenes potentiell zu verwirklichende essentielle Sein des Menschen als Ebenbild Gottes gleichermaßen als Grund und im Sinne von telos als Ziel der menschlichen Geschöpflichkeit, denn [d]er Zustand der träumenden Unschuld treibt über sich hinaus […], […] ist der Zustand der Unentschiedenheit. Er ist keineswegs Vollkommenheit. Orthodoxe Theologen haben Adam vor dem Fall absolute Vollkommenheit zugesprochen und ihn dem Christus gleichgestellt. Eine solche Lehre […] macht […] den Fall völlig unverständlich. Reine Potentialität (träumende Unschuld) ist nicht Vollkommenheit. Nur die bewußte Einheit von Existenz und Essenz ist Vollkommenheit. Gott ist vollkommen, weil er jenseits von Essenz und Existenz [als Grund aller Essenz und Existenz, C.D.] steht. Das Symbol „Adam vor dem Fall“ muß als unentschiedene Potentialität verstanden werden.⁷¹
Demnach ist der Sinn von Geschöpflichkeit die Aktualisierung ihrer essentiellen Potentialität der endlichen Freiheit als Ebenbild Gottes, die Tillich gemäß der christlichen Tradition wie folgt beschreibt: „Der Mensch in seiner reinen Natur ist nicht nur das Ebenbild Gottes, er hat auch die Kraft zur Gemeinschaft mit Gott und deshalb zum rechten Verhalten gegen andere Geschöpfe und gegen sich selbst (iustitia originalis).“⁷² Im Sinne der Methode der Korrelation kann somit formuliert werden, dass die christliche Antwort auf die im Menschen begründet liegende existentielle Frage nach dem „Sinn von Endlichkeit Geschöpflichkeit ist. Die Lehre von der Schöpfung ist die Antwort auf die Frage, die im Wesen des
67 Tillich: ST II, 39 [33]. 68 Ebd. 69 Vgl. ebd., 38 [331f.]. 70 Vgl. zu dieser Linie von Essenz und Potentialität auch: Ders.: ST III, 348f. [304f.]. 71 Ders.: ST II, 41 [kursiv C.D.] [34]. 72 Ders.: ST I, 298 [258].
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Geschöpfes als Geschöpf liegt. Diese Frage wird ständig gestellt, und ihre Antwort ist in der essentiellen Natur des Menschen gegeben.“⁷³ Wie bereits dargestellt, gehen nach Tillich alle geschichtlichen Vorgänge der Aktualisierung von Potentialität „auf Erfüllung zu, ob sie diese nun erreichen oder nicht. Ein geschichtliches Ereignis ist sinnbezogen, soweit es einen Moment in dieser geschichtlichen Entwicklung auf das Ziel hin darstellt.“⁷⁴ Im Aktualisierungsprozess von Potentialität gibt es daher wesentlich die Möglichkeit der Erfüllung oder auch der Nicht-Erfüllung, wobei Nicht-Erfüllung in dem Sinne zu begreifen ist, dass das essentielle Sein als telos nicht aktualisiert wird. Tillich sieht eben jene Möglichkeit der Nicht-Erfüllung in Bezug auf den Menschen, die in der christlichen Tradition auch die Möglichkeit des Falls genannt wird, in seinem zu aktualisierenden essentiellen Sein begründet: „Die Möglichkeit des Falls beruht auf allen Eigenschaften der menschlichen Freiheit in ihrer Einheit. Symbolisch gesprochen: Es ist das Ebenbild Gottes im Menschen, das die Möglichkeit des Falls schafft.“⁷⁵ Jener Fall ereignet sich nach christlichem Verständnis im „Übergang vom essentiellen zum existentiellen Sein“⁷⁶, in dem sich der Mensch vom prähistorischen Menschen zum geschichtlichen Menschen mit Geschichtsbewusstsein existentiell in einer sich von seiner Essenz entfremdenden Weise entwickelt, so dass es geschichtlich keinen Moment in Raum und Zeit gibt, an dem das Potentielle der ursprünglichen Schöpfung als solches aktuell wird. […] Verwirklichte Schöpfung und entfremdete Existenz sind materialiter identisch. […] Das ist der Punkt, wo Schöpfung und Fall koinzidieren. Es ist jedoch keine formale, sondern eine materiale Koinzidenz […]. Die Schöpfung ist gut, aber sie ist reine Potentialität. Wird sie aktualisiert, so verfällt sie durch Freiheit und Schicksal der universalen Entfremdung.⁷⁷
Das bedeutet jedoch nicht, dass Tillich den Fall oder auch die universale Entfremdung als „essentielle[ ] Notwendigkeit“⁷⁸ begreift. Tillich antwortet hier explizit auf eine in Bezug auf die Veröffentlichung des ersten Bandes seiner Systematischen Theologie geäußerte kritische Anfrage von Niebuhr, die dieser in seinem Beitrag Biblical thought and ontological speculation
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Ebd., 291 [kursiv C.D.] [252]. Ders.: ST III, 349 [304]. Ders.: ST II, 39 [33]. Ebd., 45 [38]. Ebd., 51f. [44]. Ebd., 52 [44]. In der englischen Ausgabe heißt es „rational necessity“.
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in Tillich’s theology formuliert hat.⁷⁹ Dort kritisiert Niebuhr, dass Tillichs Betonung des schicksalhaften Elementes der Sünde, die Frage nach der persönlichen Verantwortung zurückdrängt und dergestalt die Sünde als ontologische Notwendigkeit erscheinen kann.⁸⁰ Interessanterweise formuliert Niebuhr in Jenseits der Tragödie selbst einen Gedanken, der strukturell Tillichs Auffassung der Koinzidenz von Schöpfung und Fall sehr nahe kommt: „Lassen wir es uns aber gesagt sein, daß der Zustand der Vollkommenheit vor dem Sündenfall nur eine ideale Möglichkeit ist, welche vom Menschen begriffen, aber nicht vorgestellt werden kann. Diese Vollkommenheit vor dem Fall ist gewissermaßen die Vollkommenheit vor der Tat.“⁸¹ Die zentrale Gemeinsamkeit beider Auffassungen ist der Ausschluss einer essentiellen Notwendigkeit des Falls, die Niebuhr bei Tillich unterbetont sieht. Analog zur evolutionären Entwicklung des menschlichen Geschichtsbewusstseins hat nach Tillich dieser Übergang von der Essenz zur Existenz „den Charakter des Sprunges und nicht den struktureller Notwendigkeit“⁸², die der dem Menschen wesentlichen endlichen Freiheit entgegenstünde, so dass aus christlicher Sicht die Entfremdung der „Existenz nicht aus der Essenz abgeleitet werden [kann].“⁸³ Ähnlich wie sich evolutionäre Entwicklungen erst von ihrem Ergebnis und nicht von ihrem Ursprung her erfassen lassen, begreift Tillich folgend das christliche Geschichtsbewusstsein durch Jesus Christus das essentielle Sein und damit den Sinn der menschlichen Geschichte ausschließlich unter den als universal erfahrenen Bedingungen der entfremdungsbedingten Zweideutigkeit des Lebens. Deshalb stellt der Fall keine essentielle Notwendigkeit, sondern die Faktizität der geschichtlichen Existenz oder auch das universale Schicksal, in das der Mensch in seiner endlichen Freiheit eingebettet ist, dar. Tillichs Verständnis der menschlichen Freiheit stünde sowohl eine essentielle Notwendigkeit des Falls als auch eine essentielle Notwendigkeit der Erfüllung in Gestalt der bewussten Einheit von Essenz und Existenz entgegen, indem der Mensch wie bereits erläutert das Wirkliche auf das Mögliche hin transzendiert und er sich in seiner SelbstTranszendierung zu den ihm durch sein Schicksal zuteil werdenden Situationen verhalten kann, auch wenn diese „Selbst-Transzendierung […] niemals absolut sein [kann].“⁸⁴
79 Niebuhr, Reinhold: Biblical thought and ontological speculation in Tillich’s theology, in: Kegley, Charles (Hg.): The theology of Paul Tillich, New York 1952, 216–227. 80 Vgl. ebd., 219f. 81 Ders.: Jenseits der Tragödie, 15. 82 Tillich: ST II, 52 [44]. 83 Ebd. 84 Ders.: ST III, 347 [303].
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Den prähistorischen Menschen im Sinne des prälapsarischen Menschen gemäß der biblischen Überlieferung von Gen 1–3 zu begreifen, dessen Geschöpflichkeit die Aktualisierung seines essentiellen Seins zum Ziel hat, die im Übergang vom essentiellen Sein zum existentiellen Sein oder auch im Fall mit der universalen existentiellen Entfremdung einhergeht, welche in Jesus Christus unter den Bedingungen der zweideutigen Existenz als dem grundlegenden christlichen Ereignis überwunden ist, zeigt sich demnach wesentlich als Ausdruck des christlichen Geschichtsbewussteins. Dieses bezieht die Aktualisierung endlicher Freiheit und die Schaffung von qualitativ Neuem im Rahmen geschichtlicher Ereignisse auf das zu aktualisierende telos der Erfüllung des essentiellen oder auch potentiellen Seins des Menschen als der endgültigen Teilnahme an der transzendenten Einheit unzweideutigen Lebens. Hier wird anschaulich, auf welche Weise Tillich Schöpfungslehre und Eschatologie als innere Beziehung von „Woher“ und „Wohin“ miteinander verbunden wissen will.⁸⁵ Die christlichen Symbole „Gegenwart des göttlichen Geistes“, „Reich Gottes“ sowie „Ewiges Leben“ beziehen sich gemäß Tillich also auf die Erfüllung der Potentialität oder auch der Essenz des menschlichen Seins. Jener „Endzustand der Erfüllung“⁸⁶ darf Tillich folgend jedoch nicht mit der „letzte[n] Stufe des geschichtlichen Menschen“⁸⁷ identifiziert werden, weil „das ‚Letzte‘ in der Kategorie der Zeit […] nicht dasselbe [ist] wie das ‚Letztgültige‘ im eschatologischen Sinn.“⁸⁸ Im Zusammenhang der Evolution sind in dieser Hinsicht nach Tillich grundsätzlich drei mögliche Entwicklungen denkbar: a) Die „selbstzerstörerischen Kräfte des Menschen [gewinnen] die Oberhand […] und [vernichten] den geschichtlichen Menschen […].“⁸⁹ b) Die Entwicklung des Menschen kommt zu einem Stillstand, so dass der Mensch zwar „seine potentielle Freiheit, das Vorhandene zu transzendieren, nicht verliert – dann wäre er nicht mehr Mensch –, […] doch das Streben nach dem Neuen [einbüßt]. […] Es wäre ein Zustand animalischer Seligkeit. Die negativen Utopien unseres Jahrhunderts antizipieren […] eine derartige Stufe in der Evolution.“⁹⁰ Lauster sieht in diesen Ausführungen zur Nachgeschichte eine der Stellen, „die Tillichs tiefe Verwurzelung im 20 Jahrhundert dokumentieren. Denn die Überlegungen zum Zustand der Nachgeschichte
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Vgl. ebd., 343 [299] sowie Unterabschn. 2.3.2 dieser Arbeit. Ebd., 352 [307]. Ebd. Ebd. Ebd., 352 [308]. Ebd.
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der Menschen in animalischer Seligkeit weist Tillich ausdrücklich als Reflex auf die Erfahrungen der totalitären Utopien des 20. Jahrhunderts aus.“⁹¹ c) Die Evolution überwindet den geschichtlichen Menschen, indem „der dynamische Trieb der menschlichen Rasse nach neuen, unvorhersehbaren Verwirklichungen der menschlichen Potentialitäten weiterwirkt, bis die biologischen und physikalischen Bedingungen für die Fortdauer des geschichtlichen Menschen allmählich oder plötzlich [aufgrund der langsamen und sprunghaften evolutionären Entwicklung] verschwinden.“⁹² Da Tillich in der englischen Ausgabe in Bezug auf die unter b) genannte Antizipation der negativen Utopien des 20. Jahrhunderts in Klammern Brave New World von Aldous Huxley als Beispiel anführt, soll über Lausters Interpretation hinausgehend in diesem Zusammenhang Tillichs Methode der Korrelation⁹³ exemplarisch zur Anwendung kommen, indem das gegenwärtig existentielle Problembewusstsein im Hinblick auf mögliche Entwicklungen der Evolution durch zeitgenössische Science Fiction Szenarien illustriert und anschließend in Bezug auf Tillichs Verständnis des Endes der Geschichte im Sinne einer universalen Erfüllung der essentiellen Potentialitäten des endlichen Seins theologisch reflektiert wird. Denn das Science Fiction Genre hat im Rahmen von Utopien oder eben negativen Utopien (Dystopien) wesentlich gegenwärtig vorstellbare zukünftige Entwicklungen der Menschheit zum Gegenstand, die im Zusammenhang von wissenschaftlichtechnischen Errungenschaften des Menschen möglich werden.⁹⁴ Dabei werden alle drei unter a)–c) genannten möglichen Entwicklungen einer Nachgeschichte nach Tillich berücksichtigt: ad a) Der 2011 erschienene US-amerikanische Film Planet der Affen: Prevolution erzählt von der Ausbreitung eines menschheitsvernichtenden Virus, das auf der Suche nach einem Heilmittel für Alzheimer entstanden ist und als solches zu spät erkannt wird, da es in der Testphase ausschließlich an Schimpansen getestet wurde, die anders als Menschen keine tödlichen Antikörper gegen das Medikament ausbilden und durch den Einfluss des Medikamentes einen evolutionären Sprung vollziehen, der sie Selbstbewusstsein und Sprache entwickeln lässt. Im Verlauf der Handlung lehnen sich die Schimpansen gegen die Menschen auf, verbreiten das Virus und er-
91 Lauster: Die Geschichte und die Frage nach dem Reich Gottes, 266. 92 Tillich: ST III, 352f. [308]. 93 Vgl. ausführlich zu Tillichs Methode der Korrelation Unterabschn. 2.3.2 dieser Arbeit. 94 Vgl. für eine ausführlichere Bestimmung des Genres Science Fiction: Fritsch, Matthias/ Lindwedel, Martin/Schärtl, Thomas (Hgg.): Wo nie zuvor ein Mensch gewesen ist. ScienceFiction-Filme: Angewandte Philosophie und Theologie, Regensburg 2003.
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obern den Planeten. An Planet der Affen: Prevolution lässt sich gleichermaßen das sich verändernde Geschichtsbewusstsein des Menschen veranschaulichen, denn der Film beruht auf dem 1963 von Pierre Boulle verfassten gleichnamigen Roman, welcher zwischen 1968 und 1973 in fünf Teilen verfilmt wurde, in dem jedoch vor dem Hintergrund des Kalten Krieges die Eroberung des Planeten durch die Schimpansen im Anschluss an einen die Erde weitestgehend zerstörenden Atomkrieg ermöglicht wurde. In beiden Fällen jedoch liegt die Verantwortung für die Zerstörung der Menschheit beim Menschen selbst, indem ihm seine technischen Errungenschaften entgleiten und sich gegen ihn selbst richten. Als weitere Beispiele für die Reflexion einer derartigen möglichen Zerstörung des geschichtlichen Menschen können die US-amerikanische Matrix-Trilogie (USA 1999–2003), in der die Menschheit durch von ihr selbst entwickelte künstliche Intelligenz bedroht wird, oder auch die US-amerikanisch-kanadische TV-Serie Battlestar Galactica (2004–2009), in der von Menschen entwickelte Androiden – Zylonen genannt – einen Krieg gegen die Menschen beginnen und die Erde als deren Heimatplaneten zerstören, angeführt werden. Auch bei dieser Serie handelt es sich um eine dem gegenwärtigen Geschichtsbewusstsein entsprechende Neuinterpretation einer Vorlage mit dem Titel Kampfstern Galactica (USA 1978–1980), in dem die Herkunft der Zylonen unbekannt bleibt und sie ausschließlich als fremde Invasoren erscheinen. In all diesen Szenarien lässt sich das Motiv aus Johann Wolfgang von Goethes Der Zauberlehrling erkennen, der die Geister, die er rief, nicht zu kontrollieren vermag. ad b) Wie ein möglicher Stillstand der menschlichen Evolution aussehen könnte, zeigt der Film Serenity – Flucht in neue Welten (USA 2005), in dem der Versuch auf einem Planeten, die menschliche Bevölkerung durch den chemischen Stoff Pax zu beruhigen und ihre Aggressionen zu beseitigen, gelingt und wie folgt beschrieben wird: „ Die Menschen hier hörten auf zu kämpfen und dann hörten sie auf mit allem, was sie sonst noch tun. Sie hörten auf zu arbeiten, sich fortzupflanzen, zu reden, zu essen. Es gibt hier 30 Millionen Menschen und sie sterben einfach vor sich hin.“⁹⁵ Da im Universum von Serenity – Flucht in neue Welten die Menschheit sich bereits auf verschiedenen Planeten ausgebreitet hat und dieses Experiment ausschließlich auf einem Planeten durchgeführt wurde, kann die Menschheit überleben und erkennt die in ihren technischen Fähigkeiten liegenden Be-
95 Whedon, Joss: Serenity – Flucht in neue Welten, USA, 2005, Zeitangabe: 1:18:40.
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drohungen, so dass Serenity – Flucht in neue Welten auch analog zu den verschiedenen unter ad a) geschilderten Szenarien verstanden werden kann. ad c) In der TV-Serie Fringe – Grenzfälle des FBI (USA 2008–2013) entwickelt sich der Mensch im Zuge neuer technischer Möglichkeiten zu einem Wesen mit gesteigerter Intelligenz, das durch die Zeit reisen und die Zeitlinie wesentlich verändern kann. Weil die neuartigen Menschen sämtliche Zeitverläufe und damit auch Paralleluniversen beobachten sowie nach ihren Bedürfnissen beeinflussen können, werden sie von dem verbleibenden Rest der noch geschichtlichen Menschheit „Beobachter“ genannt. Jene Fähigkeit ermöglicht es den Beobachtern einen totalitären Überwachungsstaat zu etablieren, um die verbleibende geschichtliche Menschheit zu kontrollieren und langfristig zu vernichten, denn sie verstehen den geschichtlichen Menschen als eine ihnen vorgängige, sie bedrohende niedrigere Stufe der Evolution, dessen Schwäche in seiner Bindung an eine Zeitlinie und seiner für die Beobachter aufgrund ihrer Unkontrollierbarkeit unverständlichen Emotionalität besteht. Eine kleine Gruppe von Menschen begibt sich in den Widerstand gegen die Beobachter und ihren totalitären Überwachungsstaat, der am Ende erfolgreich das Regime der Beobachter beendet, indem die Technologie der Beobachter dazu verwendet wird, die Zeitlinie dahingehend zu beeinflussen, dass der Mensch im Zusammenhang seiner fortschreitenden evolutionären Entwicklung seine Emotionalität nicht verliert und dergestalt keine Bedrohung für den geschichtlichen Menschen wird. Alle genannten Beispielen beinhalten die Reflexion der Bedrohung durch die selbstzerstörerischen Kräfte des Menschen, die in den dargestellten Szenarien vor allem durch sich verselbständigende technische Entwicklungen realisiert werden und in denen sich möglicherweise zeitgenössisches Geschichtsbewusstsein ausdrückt. In keiner der genannten negativen Utopien lässt sich die jeweilige evolutionäre Entwicklung, die über den geschichtlichen Menschen hinausführt, als Erfüllung, sondern ausschließlich als existentielle Bedrohung des geschichtlichen Menschen charakterisieren, die in Tillichs Terminologie in Bezug auf die negativen Elemente der Zweideutigkeiten des Lebensprozesses Desintegration, Zerstörung und Profanisierung⁹⁶ mit sich bringt. Deshalb müssen eben jene „und vielleicht noch andere Entwicklungen des ‚nachgeschichtlichen‘ Menschen […] als möglich angenommen und dürfen nicht
96 Vgl. zu den negativen Elementen der Zweideutigkeiten des Lebens auch Abschn. 2.2 dieser Arbeit.
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mit Symbolen für das ‚Ende der Geschichte‘ im eschatologischen Sinn verwechselt werden.“⁹⁷ Da sich nämlich die evolutionäre Entwicklung unter den Bedingungen der existentiellen Entfremdung und damit den Zweideutigkeiten des Lebensprozesses ausschließlich innergeschichtlich vollzieht, kann das Endstadium der evolutionären Entwicklung als solches nicht zur Erfüllung führen.⁹⁸ Aus christlicher Perspektive liegt Tillich folgend die endgültige Erfüllung „nicht innerhalb der Geschichte“⁹⁹, sondern transzendiert sie. Erfüllung aktualisiert sich für den Menschen aus christlicher Perspektive nur in einem Sein, das den Zwiespalt zwischen essentiellem und existentiellem Sein in Form einer bewussten Einheit von Essenz und Existenz bereits in der Geschichte überwindet, wie es sich gemäß des christlichen Geschichtsbewusstseins in Jesus Christus ereignet hat, indem es die endgültige, universale Teilnahme an der transzendenten Einheit unzweideutigen Lebens als das die Geschichte transzendierende Ziel der Geschichte erschließt. So wird aus christlicher Perspektive die menschliche Existenz als solche grundsätzlich bejaht und nicht in einer sie vernichtenden Weise überwunden. Die Träger der Geschichte Bis zum Ende der Geschichte im beschriebenen eschatologischen Sinne bilden nach Tillich „Gruppen, die die Fähigkeit haben, zentriert zu handeln“¹⁰⁰, die „Träger der Geschichte“¹⁰¹, denn der Mensch „vollzieht die Aktualisierung seiner selbst als Person in der Begegnung mit anderen Personen innerhalb einer Gemeinschaft“¹⁰² in Form seiner Selbst-Integration durch moralische Akte in der Dimension des Geistes.¹⁰³ Somit sind für Tillich „Gruppen die direkten und Individuen nur die indirekten Träger der Geschichte […].“¹⁰⁴ Eine derartige „geschichtstragende Gruppe“¹⁰⁵ hat, um als solche zu wirken, gemäß Tillich zwei Bedingungen zu erfüllen: Sie bedarf einer „zentralen Autorität mit legislativer, exekutiver und jurisdiktischer Gewalt […] [und] der Mittel, sich in der Begegnung
97 Tillich: ST III, 353 [308]. 98 Vgl. zur Ablehnung eine progressiven Fortschrittgedankens bei Tillich Abschn. 3.3 dieser Arbeit. 99 Vgl. Tillich: ST III, 356 [311]. Vgl. hierzu ausführlich Abschn. 3.3 dieser Arbeit. 100 Ebd., 353 [308]. 101 Ebd. Vgl. zu menschlichen Gruppen als Trägern der Geschichte auch Tillichs Frankfurter Vorlesung zur Geschichtsphilosophie aus dem Jahre 1929/30: Ders.: EW XV, 129ff. 102 Ders.: ST III, 353 [308]. 103 Vgl. für eine ausführliche Darstellung der Selbst-Integration Abschn. 2.2 dieser Arbeit. 104 Tillich: ST III, 353 [308]. 105 Ebd.
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mit anderen Gruppen an der Macht zu erhalten [sic].“¹⁰⁶ Eine geschichtstragende Gruppe erweist sich demnach als eine „zentrierte Gruppe mit politischer Macht nach innen und außen.“¹⁰⁷ Als Beispiele für diese Art von geschichtstragenden Gruppen nennt Tillich das, „was wir heute einen ‚Staat‘ nennen“¹⁰⁸ sowie sämtliche „staatsähnliche[ ] Gebilde von Großfamilien, Sippen, Stämmen, Städten und Völkern […].“¹⁰⁹ Zwar können im Verständnis Tillichs auch „Bewegungen und Vorgänge, z.B. wirtschaftliche, kulturelle, soziale, religiöse, geschichtsbildend wirken […] (z.B. Weltreligionen oder die internationale Wissenschaft)“¹¹⁰, aber ihre „geschichtliche Wirkung ist […] von dem Vorhandensein staatlich zentrierter Gruppen abhängig“¹¹¹, ohne die „jene überstaatlichen Bewegungen keine Möglichkeit geschichtlicher Existenz [hätten]. […] Das Politische ermöglicht geschichtliche Existenz in allen Bereichen.“¹¹² Dass eine Gruppe dergestalt politische Macht ausüben kann, setzt eine zentrale Machtgruppe voraus, deren Autorität von den Regierten […] anerkannt wird. […] Die Entziehung dieser Anerkennung durch die Regierten beraubt die Machtstruktur ihrer Grundlage. Ein Machtaufbau wird von den Regierten bejaht, weil sie sich zu der Gruppe zugehörig fühlen, weil eine Art Gemeinschafts-Eros sie verbindet und gegen andere Gruppen eint – wobei Machtkämpfe innerhalb der Gruppe nicht ausgeschlossen sind. Das zeigt sich in allen Gruppen, die staatsähnliche Funktionen ausüben, von der Familie bis zur Nation. […] Eine Form unter anderen, in der sich die Eros-Beziehungen in einer Machtstruktur ausdrücken, sind ihre Rechtsprinzipien, die die Gesetzgebung und Rechtsprechung bestimmen.¹¹³
106 Tillich: ST III, 353 [308f.]. 107 Ebd., 354 [kursiv C.D.] [309]. 108 Ebd., 353 [309]. 109 Ebd. 110 Ebd. In der englischen Ausgabe fehlt der Hinweis auf die Weltreligionen und die internationale Wissenschaft. 111 Ebd. 112 Ebd., 353f. [309]. 113 Ebd., 354 [309f.]. Vgl. zu einer ausführlichen soziologischen Analyse der Machtausübung durch Gruppen auch: Popitz, Heinrich: Phänomene der Macht, 2., stark erw. Aufl., Tübingen 1992. Diesen Zusammenhang von Eros, Macht und Rechtsordnung erläutert Tillich in konkretem Bezug zu seiner Vorstellung des religiösen Sozialismus bereits 1923 in seiner Schrift Grundlinien des religiösen Sozialismus. Ein systematischer Entwurf : Tillich, Paul: Grundlinien des religiösen Sozialismus, in: Ders.: GW II, 91–119 Eine nähere Einordnung seiner frühen Vorstellungen des religiösen Sozialismus findet sich unter Abschn. 6.2 dieser Arbeit.
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Zusammenfassend lässt sich somit Tillich folgend sagen, dass es einer geschichtstragenden Gruppe wesentlich ist, „ihre Macht, innere Einheit und äußere Sicherheit zu gewährleisten […].“¹¹⁴ Darüber hinaus schreibt Tillich einer geschichtstragenden Gruppe ein Ziel [zu], nach dem sie strebt […], einen Auftrag, den sie zu erfüllen such[t]. Man könnte dies das Sendungsbewußtsein der geschichtstragenden Gruppe nennen. Es ist von Gruppe zu Gruppe verschieden, nicht nur seinem Inhalt nach, sondern auch nach dem Grade seiner Bewußtheit und nach der Stärke seiner Triebkraft. Aber Sendungsbewußtsein gibt es in der ganzen geschichtlichen Menschheit. Das deutlichste Beispiel dafür ist vielleicht die Berufung Abrahams, in der das Sendungsbewußtsein Israels symbolischen Ausdruck gefunden hat. Analoge Formen finden sich in China, Ägypten und Babylon.¹¹⁵
Im Gewährleisten ihrer Macht, ihrer inneren Einheit und ihrer äußeren Sicherheit wie auch in ihrem Getriebensein durch ihr Sendungsbewusstsein aktualisiert eine geschichtstragende Gruppe konkret Zweckverbundenheit, den Einfluss menschlicher Freiheit, die sinnbezogene Schaffung von Neuem sowie partikularen und teleologischen Sinnbezug als Merkmale der menschlichen Geschichte.¹¹⁶ Eben jenes Sendungsbewusstsein umfasst traditionsbildend sämtliche Dimensionen des Lebens, indem die „lebendige Erinnerung der Gruppe […] keine Dimension des Lebens aus[schließt], aber […] jeweils verschiedene Bereiche [betont].“¹¹⁷ Dabei ist für Tillich der „politische Bereich […] immer der wichtigste, weil er die Bedingung der geschichtlichen Existenz ist“¹¹⁸, denn nur eine politische Gruppierung verfügt gemäß Tillichs Verständnis des Politischen über die legislative, exekutive und jurisdiktische Gewalt, um ihre Macht zu konstituieren und zu erhalten. Politische Macht schließt ein beispielsweise wirtschaftlich, wissenschaftlich oder auch religiös geprägtes Sendungsbewusstsein einer geschichtstragenden Gruppe nicht aus, bildet aber das Fundament und den Rahmen, um entsprechend orientierte Zwecke und sinnbezogenes Neues realisieren zu können. In diesem Sinne haben innerhalb des politischen Rahmens alle anderen Entwicklungen, die gesellschaftliche, die wirtschaftliche, die kulturelle und die religiöse, wechselnden Anspruch auf Beachtung. […] Der Vorrang der politischen Geschichte darf nicht übersehen werden, weder zugunsten einer „reinen Geistesgeschichte“ […], noch zugunsten einer aller Geschichte bedingenden Wirtschaftsgeschichte. […] Es ist
114 Ders.: ST III, 354f. [310]. 115 Ebd., 355 [310]. 116 Vgl. zu den Merkmalen der menschlichen Geschichte den Anfang des vorliegenden Kapitels dieser Arbeit sowie ebd., 349ff. [305ff.]. 117 Ebd., 355 [311]. 118 Ebd.
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bezeichnend, daß die Bibel den Sinn der Geschichte durch das politische Symbol „Reich Gottes“ ausdrückt und nicht durch „Leben des Geistes“ oder durch „materiellen Reichtum“. Das Element der Zentriertheit, das den politischen Bereich auszeichnet, macht ihn zum angemessenen Symbol für das letzte Ziel der Geschichte.¹¹⁹
Da nach Tillich dem christlichen Geschichtsbewusstsein folgend die Erfüllung als Ziel der Geschichte „nicht innerhalb der Geschichte“¹²⁰ liegt, sondern eben jene transzendiert, muss die Frage, „ob man nicht die Menschheit, und nicht im besonderen menschliche Gruppen, als Träger der Geschichte bezeichnen sollte“¹²¹, verneint werden, denn: Innerhalb der Geschichte gibt es keine einige Menschheit […], eine politisch geeinte Menschheit ist zwar vorstellbar, aber sie wäre nicht mehr als der Rahmen, innerhalb dessen sich Gegensätze bilden, wie sie aus der menschlichen Freiheit mit ihrer alles Bestehende transzendierenden Dynamik folgen. Das könnte nur dann anders sein, wenn […] die dynamische Freiheit des Menschen zum Stillstand gekommen wäre. Dies wäre ein Zustand unfreier, gleichsam „animalischer Seligkeit“ […], aber dieser Zustand wäre nicht das Reich Gottes, denn das Reich Gottes ist nicht „animalische Seligkeit“.¹²²
Hier interpretiert Lauster, dass Tillich diese Betonung des Individuellen dazu veranlasst, eine Realisierung des Zieles der Geschichte innerhalb der Geschichte abzulehnen.¹²³ Von dieser Interpretation grenzen sich die vorliegenden Ausführungen aufgrund des oben genannten Zitates ab: Mit der Betonung des Individuellen und der Ablehnung einer einigen Menschheit schließt Tillich aus, dass die Menschheit als solche als Träger der Geschichte anzusehen ist. Dass das Ziel der Geschichte nicht innerhalb der Geschichte realisiert werden kann, liegt für Tillich im christlichen Ereignis als historischem Faktum und Akt gläubiger Aufnahme begründet, der Manifestation des Neuen Seins unter den Bedingungen der Existenz.¹²⁴ Darüber hinaus lassen sich Individuen nur indirekt als Träger der Geschichte identifizieren, weil das Individuum Träger der Geschichte nur als Glied einer geschichtstragenden Gruppe ist. Sein individuelles Leben als solches ist nicht Geschichte, und darum ist Biographie als sol-
119 Tillich: ST III, 355f. [311]. 120 Ebd., 356 [311]. 121 Ebd. 122 Ebd., 356 [311f.]. Vgl. zur Frage nach einer geschichtlichen Einheit der Menschheit auch Tillichs Frankfurter Vorlesung zur Geschichtsphilosophie aus dem Jahre 1929/30: Ders.: EW XV, 276ff. 123 Vgl. Lauster: Die Geschichte und die Frage nach dem Reich Gottes, 266. 124 Vgl. Unterabschn. 3.1.1 dieser Arbeit (siehe oben).
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che noch nicht Geschichtsschreibung. […] Wir schreiben geschichtliche Größe Persönlichkeiten zu, die sich in der Bewegung geschichtstragender Gruppen als Führer erweisen. […] Genau genommen müßte man sagen, daß niemand geschichtliche Größe erreichen kann, der nicht von einer geschichtlichen Gruppe getragen ist. Andererseits gäbe es keine Massenbewegungen ohne die schöpferische Kraft von Individuen, in denen die unbewußten Tendenzen der anderen zum Bewußtsein kommen.¹²⁵
Gruppen sind nämlich gemäß Tillich „Gemeinschaften von Individuen. Sie sind keine Wirklichkeiten neben oder über den Individuen, aus denen sie bestehen, sondern sie sind Schöpfungen der sozialen Funktion dieser Individuen.“¹²⁶ Im Zusammenhang der Geschichtsschreibung muss daher nach Tillich aufgrund ihrer Korrelation „die genaue Beschreibung der gegenseitigen Beeinflussung beider Faktoren“¹²⁷, des Individuums und der jeweiligen Gemeinschaft, im Vordergrund stehen. Wenn sich die menschliche Geschichte als solche nun Tillich folgend innerhalb geschichtstragender Gruppen ereignet, dann bildet nach einem christlichen Geschichtsverständnis der Übergang vom prähistorischen zum geschichtlichen Menschen – der Übergang von der Essenz zur Existenz – ein sich in allen geschichtstragenden Gruppen als Entfremdung aktualisierendes „universales Faktum.“¹²⁸ Eben jener Übergang von der Essenz zur Existenz, den Tillich auch als Übergang von reiner Potentialität zu Aktualität und damit als Lebensprozess fasst¹²⁹, stellt demnach die Voraussetzung allen geschichtlichen Seins, das Tillich als umfassendsten Lebensprozess versteht, dar: Der Übergang von der Essenz zur Existenz ist das ursprüngliche Faktum. Es ist nicht das erste Faktum in einem zeitlichen Sinn oder ein Faktum neben anderen; es ist das, was jedem Faktum Realität verleiht. Es ist wirklich in jeder Wirklichkeit. Das bedeutet, daß der Übergang von der Essenz zur Existenz eine universale Qualität des endlichen Seins ist.¹³⁰
Da die menschliche Geschichte gemäß Tillich alle Dimensionen des Lebens umfasst, indem der Mensch vermittelt durch sein Geschichtsbewusstsein auf alle Dimensionen des Lebens ausgreift, ist nach christlichem Verständnis der Übergang von der Essenz zur Existenz als „kosmisches Ereignis“¹³¹ zu begreifen. Der Mensch existiert durch die Unhintergehbarkeit der ontologischen Grundstruktur
125 Tillich: ST III, 357f. [312f.]. 126 Ebd., 356f. [312]. 127 Ebd., 357 [312]. 128 Ders.: ST II, 65 [56]. 129 Vgl. zum Lebensprozess als Aktualisierung potentiellen Seins auch Kap. 2 dieser Arbeit. 130 Tillich: ST II, 43 [36]. 131 Ebd., 47 [39].
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der Selbst-Welt-Korrelation ausschließlich relational innerhalb des Universums als Strukturganzem. Demnach ist die endliche Freiheit des Menschen eingebettet in den Rahmen eines universalen Schicksals. Es gibt keinen individuellen „Fall“. Das zeigt auch die Genesiserzählung: Adam und Eva und die Natur – vertreten durch die Schlange – sind am Fall beteiligt. […] Der individuelle Akt existentieller Entfremdung ist kein isolierter Akt eines isolierten Individuums. Es ist ein Akt der Freiheit, der in die Breite eines universalen Schicksals eingebettet ist. In jedem individuellen Akt verwirklicht sich der entfremdete Charakter des Seins. Jede moralische Entscheidung ist ein Akt individueller Freiheit und universalen Schicksals zugleich. […] Auf diese Weise partizipiert die Welt als Ganze an jedem Akt menschlicher Freiheit.¹³²
Wie bereits dargestellt, erweist sich für Tillich der Übergang von der Essenz zur Existenz in Form der Entfremdung ebenso wenig als essentielle Notwendigkeit wie die Erfüllung in Form der Vollkommenheit als bewusste Einheit von Essenz und Existenz. Die Elemente der ontologischen Polaritäten sind als solche irreduzibel, so dass im Zusammenhang der universalen Entfremdung, die nach Tillich in der christlichen Tradition auch als „Erbsünde“ bezeichnet wird, Freiheit und Schicksal wesentlich zusammengehören: Erbsünde ist universales Schicksal, dem jeder Mensch untersteht […], [weil] der Mensch in seiner Entfremdung ein soziales Wesen ist und nicht zu einem isolierten Subjekt freier Entscheidungen gemacht werden kann. Die Einheit von Freiheit und Schicksal muß in der Beschreibung der menschlichen Situation erhalten bleiben. […] Als individueller Akt ist Sünde eine Sache der Freiheit, Verantwortlichkeit und persönlichen Schuld. Aber diese Freiheit ist in das universale Schicksal der Entfremdung auf solche Weise eingebettet, daß jeder freie Akt das Schicksal der Entfremdung enthält, und umgekehrt, daß das Schicksal der Entfremdung durch jeden freien Akt verwirklicht wird. Daher ist es unmöglich, Sünde als Faktum von Sünde als Akt zu trennen.¹³³
Ist nun die menschliche Geschichte der umfassendste Lebensprozess, erstreckt sich Entfremdung als universales Faktum und individueller Akt gemäß eines christlichen Geschichtsverständnisses auf die Gesamtheit der menschlichen Geschichte, deren Träger wie oben beschrieben Gruppen mit politischer Macht nach innen und außen sind, wobei eben jene Gruppen aus Individuen bestehen. Jedoch sieht Tillich auch hier die Spannung von universalem Schicksal und individuellem Akt nicht aufgehoben: Im Gegensatz zum zentrierten Individuum, das wir „Person“ nennen, hat die soziale Gruppe kein natürliches, entscheidendes Zentrum. Eine soziale Gruppe ist eine Machtstruktur, und
132 Tillich: ST II, 39/45/50 [32/38/43]. 133 Ebd., 65 [56].
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in jeder Machtstruktur bestimmen gewisse Einzelpersonen die Handlungen aller, die Teil dieser Gruppe sind. […] Es gibt […] das universale Schicksal der Menschheit, das in einer besonderen Gruppe zum besonderen Schicksal wird, ohne jedoch damit seine Universalität zu verlieren. Jeder einzelne partizipiert an diesem Schicksal, ohne sich davon befreien zu können. […] Deshalb hat die persönliche Schuld Einfluß auf das Gesamtschicksal der Menschheit und das besondere Schicksal der sozialen Gruppe, zu der die Person gehört.¹³⁴
Somit stehen der einzelne Mensch und die menschliche Geschichte im Sinne der ontologischen Grundstruktur der Selbst-Welt-Korrelation in einem Verhältnis unhintergehbarer Korrelation, indem der einzelne Mensch im Kontext sozialer Gruppen in seiner endlichen Freiheit Zwecke realisiert, sinnbezogenes Neues schafft und auf partikularen sowie teleologischen Sinn bezogen ist. Eben jene Geschichte ereignet sich im Rahmen der universal gültigen, ontologischen Kategorien Raum, Zeit, Kausalität sowie Substanz und bildet aufgrund ihrer einheitlichen kategorialen Strukturen eine eigene Dimension des Lebens, die ausgehend von der menschlichen Geschichte als umfassendstem Lebensprozess, in welchem sich Geist aktualisiert, alle anderen Dimensionen des Lebens umfasst.¹³⁵ Auf welche Weise das Verhältnis der menschlichen Geschichte als umfassendster Dimension des Lebens zu den ontologischen Kategorien genauer zu explizieren ist, wird im Folgenden zu erörtern sein.
3.1.2 Die ontologischen Kategorien in der geschichtlichen Dimension Gemäß Tillich zeigt jede „Kategorie verschiedene Qualitäten, je nach der Dimension, in der sie erscheint.“¹³⁶ So gibt es beispielsweise „nicht eine Zeit für alle Dimensionen, die anorganische, die organische, die psychologische, die geschichtliche; und doch gibt es Zeitlichkeit in jeder von ihnen. Zeitlichkeit ist identisch in jeder Art von Zeit. […] Das gleiche gilt von den übrigen Kategorien.“¹³⁷ Dennoch kann nach Tillich das beschrieben werden, was jeder der vier Kategorien ihre Identität gibt […]. Man kann das, was in allen Dimensionen Zeit zur Zeit macht, als das „Nacheinander“ bezeichnen: Zeitlichkeit ist das „Nacheinander“ in jeder Form von Zeit. […] Ebenso kann man das, was den Raum in allen Dimensionen zum
134 Ebd., 67f. [58f.]. Vgl. ausführlich zur Schuldfähigkeit des Subjekts in Bezug auf seine Geschichte: Herms, Eilert: Schuld in der Geschichte. Zum „Historikerstreit“, in: Zeitschrift für Theologie und Kirchengeschichte 85 (1988), 349–370. 135 Vgl. zum Verständnis der Dimensionen des Lebens und der ontologischen Kategorien nach Tillich auch Abschn. 2.2 dieser Arbeit. 136 Tillich: ST III, 358 [313]. 137 Ebd.
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Raum macht, als das Element des „Nebeneinander“ bezeichnen. […] Das, was eine Ursache zur Ursache macht, ist die Beziehung, in der eine Situation durch eine vorhergehende bedingt wird, obgleich die Art der Kausalität in den verschiedenen Dimensionen des Lebens verschieden ist. […] Die Kategorie der Substanz ist Ausdruck für die bleibende Einheit im Wechsel dessen, was wir „Akzidentien“ nennen.¹³⁸
Wenn jedoch die Kategorien in ihrer Beziehung zu den verschiedenen Dimensionen des Lebens unterschiedliche Qualitäten aufweisen, stellt sich die Frage, ob es eine Einheit innerhalb der einzelnen Kategorien gibt, eine Einheit nicht nur des Elements, das die Einheit des Begriffs bestimmt, sondern eine Einheit der verschiedenen Formen, in denen die Kategorie erscheint. Konkret gesprochen: Gibt es eine Zeit, die alle Formen der Zeitlichkeit umfaßt; einen Raum, der alle Formen der Räumlichkeit umfaßt; eine Ursache, die alle Formen der Kausalität, eine Substanz, die alle Formen der Substantialität in sich begreift?¹³⁹
Da der Mensch in seiner Endlichkeit im Gesamtzusammenhang des Universums als Strukturganzem existiert, ohne die Selbst-Welt-Korrelation als ontologische Grundstruktur hintergehen zu können, vermag er eine solche Einheit nicht zu erkennen, obgleich die „Tatsache, daß alle Teile des Universums in der gleichen Zeit und im gleichen Raum sind, einander kausal bedingen und sich nach ihrer Substanz voneinander unterscheiden, […] eine positive Antwort auf die Frage nach der kategorialen Einheit des Universums [verlangt].“¹⁴⁰ Die Frage nach der kategorialen Einheit des Universums fragt nach dem, was der Selbst-Welt-Korrelation als Grund allen endlichen Seins, das sich innerhalb der ontologischen Kategorien vollzieht, vorausgeht und setzt den Vollzug des Lebens in der Dimension des Geistes, das in Form von religiösen Akten die Beziehung des Endlichen zum Unendlichen aktualisiert, indem es sich in seiner Endlichkeit selbst transzendiert, voraus.¹⁴¹ Deshalb haben nach Tillich „die Kategorien ihrem Wesen nach die Qualität der Selbst-Transzendierung […]“¹⁴², denn: Zeitlichkeit, die nicht auf einen erkennbaren zeitlichen Prozeß bezogen ist, ist ein Element in dem überzeitlichen Grund der Zeit, aus dem die Zeit hervorgeht. Räumlichkeit, die nicht auf einen erkennbaren Raum bezogen ist, ist ein Element in dem überräumlichen Grund des
138 Tillich: ST III, 358f. [313f.]. 139 Ebd., 359 [314]. 140 Ebd. 141 Vgl. zu den nach Tillich in der menschlichen Existenz beschlossenen existentiellen Fragen Unterabschn. 2.3.2 sowie zur Selbst-Transzendierung des Lebens in religiösen Akten Abschn. 2.2 dieser Arbeit. 142 Tillich: ST III, 360 [315].
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Raums, aus dem der Raum hervorgeht. Kausalität, die nicht auf einen bestimmten kausalen Zusammenhang bezogen ist, ist ein Element in dem überkausalen Grund, aus dem die Kausalität hervorgeht. Substantialität, die nicht auf eine erkennbare Form der Substanz bezogen ist, ist ein Element in dem übersubstantiellen Grund, aus dem die Substanz hervorgeht.¹⁴³
Eben jener überzeitliche, überräumliche, überkausale und übersubstantielle Grund, aus dem alles endliche Sein in seiner Selbst-Welt-Korrelation hervorgeht, ist Tillich folgend nach christlichem Verständnis Gott, den Tillich auch als „SeinSelbst“¹⁴⁴ oder als „Seinsmächtigkeit“¹⁴⁵ im Sinne des Seinsgrundes bezeichnet. Diesem werden als demjenigen, der gemäß seiner Offenbarung die ontologischen Kategorien begründet, symbolisch¹⁴⁶ für seine Überzeitlichkeit, Überräumlichkeit, Überkausalität sowie Übersubstantialität die Eigenschaften Ewigkeit bzw. Allzeitlichkeit, Allgegenwart, Allwissenheit sowie Allmacht zugeschrieben.¹⁴⁷ Ein solches Erfassen der Beziehung des Endlichen zum Unendlichen ereignet sich aus christlicher Perspektive in Form von religiösen Akten da, wo im Zusammenhang der Selbsterschließung Gottes im Zuge der Selbst-Transzendierung des Lebens Geist aktualisiert wird, was gemäß Tillich ausschließlich im Lebensprozess des geschichtlichen Menschen geschieht. Wenn nun die Geschichte des Menschen den umfassendsten Lebensprozess darstellt, dann stellt sich die Frage, auf welche Weise die Geschichte in ihrer Beziehung zu den ontologischen Kategorien als die umfassendste Dimension des Lebens beschrieben werden kann. Als umfassendster Lebensprozess enthält die Geschichte sämtliche Dimensionen des Lebens in ihrer Gesamtheit, was sich in ihrem Verhältnis zu den ontologischen Kategorien der anderen Dimensionen des Lebens veranschaulichen lässt. So bewegt sich Geschichte beispielweise in der Zeit und im Raum des anorganischen Bereichs. […] So schließt Geschichte diejenige Zeit und denjenigen Raum ein, die durch Wachstum und Bewußtsein charakterisiert sind. Geschichte ist bestimmt von dem Leben in der Dimension des Geistes und bestimmt das Leben des Geistes – in wechselseitiger Abhängigkeit. In der Geschichte ist die schöpferische Tätigkeit des Geistes und damit Raum und Zeit des Geistes ständig wirksam. […] Die geschichtliche Zeit enthält die anorganische Zeit als aktuell in sich, die anorganische Zeit die geschichtliche Zeit aber nur potentiell. […] Der geschichtliche Raum schließt den Raum
143 Ebd., 359f. [314f.]. 144 Ders.: ST I, 273 [235]. 145 Ebd. Vgl. zu Tillichs Verständnis Gottes als Seinsmächtigkeit auch seine Dresdener DogmatikVorlesung aus den Jahren 1925–1927: Ders.: EW XIV, 148ff. 146 Vgl. zum Symbol- und Offenbarungsverständnis Tillichs Unterabschn. 2.3.2 dieser Arbeit. 147 Vgl. zu den Eigenschaften Gottes im Sinne Tillichs: Tillich: ST I, 313ff. [272ff.]. Vgl. ausführlicher zur Gotteslehre Tillichs Abschn. 5.1 sowie Abschn. 5.3 dieser Arbeit.
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des Anorganischen und Biologischen ebenso ein wie den Raum des Psychischen und des Schöpferischen.¹⁴⁸
Die schöpferische Tätigkeit des Geistes vereint entsprechend der ontologischen Polaritäten „ein Element abstrakter Unbegrenztheit mit einem Element konkreter Begrenztheit. […] Schöpferisch sein bedeutet einerseits, das Bestehende in horizontaler Richtung ohne vorgegebene Grenzen transzendieren; und andrerseits, einem Neuen bestimmte, konkrete Existenz verleihen.“¹⁴⁹ Entsprechend gilt nach Tillich für die ontologische Kategorie der Kausalität: Die geschichtliche Kausalität ist die umfassendste Form der Kausalität, da an den geschichtlichen Ereignissen alle Dimensionen des Lebens aktiv teilhaben. Die geschichtliche Kausalität ist abhängig von der Freiheit der schöpferischen Kausalität; aber sie ist ebenso abhängig von den anorganischen und organischen Entwicklungen, die den geschichtlichen Menschen möglich gemacht haben und die weiter den Rahmen oder die Grundlage für seine gesamte Geschichte abgeben.¹⁵⁰
Dies erläutert Tillich im Zusammenhang der geschichtlichen Gruppen als Träger der Geschichte, denn: [D]a die Träger der Geschichte geschichtliche Gruppen sind, zeigt sich in diesen Gruppen ihrer Natur nach die entscheidende wechselseitige Durchdringung determinierender und freier Kausalität im geschichtlichen Prozeß. In der geschichtlichen Gruppe findet sich eine doppelte Kausalität: Einerseits führt eine gegebene Gesellschaftsstruktur zur Schaffung kultureller Inhalte, und andrerseits führen diese Inhalte zur Verwandlung der Gesellschaftsstruktur.¹⁵¹
Die ontologische Kategorie der Substanz beschreibt Tillich in Bezug auf die Geschichte wie folgt: Substanz in der geschichtlichen Dimension ist das, was man „geschichtliche Situation“ nennt. […] Wenn eine geschichtsschaffende Situation Substanz genannt wird, so bedeutet das, daß sich in allen ihren Ausdrucksformen etwas findet, was identisch ist. Eine Situation in diesem Sinn reicht in jede Dimension. Sie hat eine geographische Grundlage […]; sie wird von biologischen Gruppen getragen, von dem Bewußtsein einer Gruppe ebenso wie von dem von Individuen und von Gesellschaftsstrukturen. Sie ist ein System von soziologischen, psychologischen und kulturellen Spannungen und Gleichgewichtszuständen. […] Ohne […]
148 Tillich: ST III, 364f. [318f.]. Vgl. zum schöpferischen Element des Lebens in der Dimension des Geistes u.a. im Zusammenhang der Kultur Abschn. 2.2 sowie Abschn. 2.3 dieser Arbeit. 149 Ebd., 362f. [317]. 150 Ebd., 370f. [324]. 151 Ebd., 371 [324f.].
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die Kategorie der Substanz auf die Geschichte anzuwenden, wäre Geschichtsschreibung unmöglich.¹⁵²
Da die Geschichte als umfassendster Lebensprozess die Kategorien in den anderen Dimensionen umfasst, indem sie das, was in den anderen Dimensionen nur potentiell vorhanden ist, aktualisiert, und die Kategorien gemäß Tillich wesentlich die Qualität der Selbst-Transzendierung haben, wird in der Geschichte eben jene Selbst-Transzendierung als Beziehung des Endlichen zum Unendlichen oder auch Unbedingten aktuell: Im Menschen wird das, worauf sich die Zeit zubewegt, zum bewußten Ziel. Geschichtliche Akte […] streben nach einer Erfüllung, die jede einzelne Schöpfung transzendiert und die als das Ziel der geschichtlichen Existenz selbst betrachtet wird. […] Das Ende der Geschichte ist das Ziel der Geschichte. […] Aber wo es ein Ende gibt, muß es auch einen Anfang geben: dies ist der Augenblick, in dem die Unerfülltheit der Existenz erlebt wird und das Streben nach Erfüllung beginnt. Anfang und Ende der Zeit können nicht in quantitativen Begriffen ausgedrückt werden, sondern nur in qualitativen Begriffen. Anfang und Ende sind in jedem Augenblick der geschichtlichen Zeit gegenwärtig.¹⁵³
Zusammenfassend lässt sich daher mit Lauster sagen, dass bei Tillich die „Kategorienlehre […] von ihrem Ansatz her dazu bestimmt [ist], das zu verhandeln, was die klassische Dogmatik unter dem Motto ‚Handeln Gottes in der Geschichte‘ erörtert. […] Tillichs Antwort zielt auf ein Verständnis göttlicher Wirksamkeit in der Geschichte als ‚schöpferische[r] Kausalität‘ (III 370)“Lauster: Die Geschichte und die Frage nach dem Reich Gottes, 267, so dass „der Ort des göttlichen Handelns in der Geschichte der der ‚Freiheit der schöpferischen Kausalität‘ [III 371] [ist]“ebd. Deshalb erläutert Tillich Jesus Christus als das christliche Ereignis, in dem der Zwiespalt von essentiellem und existentiellem Sein in Form der Erfüllung, der Aktualisierung des potentiellen, essentiellen Seins, welche Tillich auch „Neues Sein“ nennt, weil es „die unverzerrte Manifestation des essentiellen Seins unter den Bedingungen der Existenz ist“¹⁵⁴, folgendermaßen:
152 Ebd., 371f. [325]. Vgl. zum Übergang von der Vorgeschichte zur Geschichte Unterabschn. 3.1.1 dieser Arbeit. 153 Ebd., 365f. [320]. In der englischen Ausgabe heißt es im letzten Satz: „The beginning and the end of time are qualities which belong to historical time essentially and in every moment.“ Dieser Akzent in der englischen Fassung unterstützt die Stellungnahme in Abschn. 5.1 zur kontrovers diskutierten Frage einer ausschließlich präsentischen Eschatologie bei Tillich. 154 Ders.: ST II, 130 [119]. Vgl. zum Verständnis von Jesus Christus als Neuem Sein auch Unterabschn. 3.1.1 dieser Arbeit.
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Die Behauptung, daß der Christus das „Ende“ der Geschichte ist, scheint im Lichte der letzten zweitausend Jahre absurd zu sein. Sie ist jedoch nicht absurd, wenn man versteht, daß „Ende“ einen doppelten Sinn hat, nämlich „Aufhören“ und „Ziel“. Im Sinne des „Aufhörens“ ist die Geschichte noch nicht an ihr Ende gekommen. […] Im Sinne von „Ziel“ ist die Geschichte qualitativ an ihr Ende gekommen, nämlich im Erscheinen des Neuen Seins als geschichtlicher Wirklichkeit. Quantitativ betrachtet aber ist die Verwirklichung des Neuen Seins in der Geschichte noch nicht an ihr Ende gekommen, denn sie ist in die Verzerrungen und Zweideutigkeiten der Existenz hineingezogen.¹⁵⁵
Eben jene quantitative Verwirklichung des Neuen Seins erweist sich im christlichen Geschichtsverständnis als das sich in Christus erschließende qualitative Ziel der Geschichte und wird Tillich folgend mit dem Symbol „das Ewige Leben“¹⁵⁶ beschrieben, das jedoch wie beschrieben nicht identisch ist mit dem Ende der Geschichte im Sinne des „Aufhörens“ der Geschichte.¹⁵⁷ Analog dazu tritt in dem Symbol „Reich Gottes“, das auf das Ziel hinweist, auf das die geschichtliche Zeit zugeht, […] das räumliche Element deutlich hervor: ein „Reich“ ist ein Bereich neben anderen, ein Ort neben anderen. […]. Die geschichtliche Zeit, die auf Erfüllung zugeht, ist aktuell in den Beziehungen geschichtlicher Orte zueinander. […] Wie in der geschichtlichen Zeit das Nacheinander ins Bewußtsein gehoben und zu einem menschlichen Problem wird, so wird im geschichtlichen Raum der Sinn des Nebeneinander ins Bewußtsein gehoben und wird ebenfalls zu einem menschlichen Problem. Die Antwort auf beide Probleme ist identisch mit der Antwort auf die Frage nach dem Sinn des geschichtlichen Prozesses.¹⁵⁸
In ähnlicher Weise sind auch die geschichtliche Kausalität und die geschichtliche Substanz wesentlich in ihrer Selbst-Transzendierung auf den Sinn der Geschichte bezogen: Die geschichtliche Kausalität treibt […] auf eine Situation oder geschichtliche Substanz zu, die jenseits jeder besonderen Situation und Substanz ist. […] Diese Situation müßte alle möglichen Spannungen in sich enthalten, aber in universalem Gleichgewicht. Auch hier ist das geschichtliche Bewußtsein des Menschen […] über die einzelnen Situationen hinausgegangen und hat sich auf Symbole einer letzten Situation gerichtet, wie z.B. das Symbol universaler Einheit im „Reich Gottes“.¹⁵⁹
Dieses absolut Neue Sein, diese letzte Situation zeigt sich nach christlichem Verständnis als universale Überwindung der Entfremdung in Gestalt der bewussten
155 Tillich: ST II, 131 [120]. 156 Ders.: ST III, 366 [320]. 157 Vgl. zu Tillichs Überlegungen des nachgeschichtlichen Menschen Unterabschn. 3.1.1 dieser Arbeit. 158 Tillich: ST III, 366f. [kursiv C.D.] [320f.]. 159 Ebd., 372f. [326].
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Einheit von Essenz und Existenz, die in der Geschichte aufgrund des universalen Faktums der Entfremdung durch endliche Freiheit nicht aktualisiert zu werden vermag. Anfang und Ende der Geschichte sind in einem solchen qualitativen Sinne von Grund und Ziel der Geschichte überzeitlich, überräumlich, überkausal und übersubstantiell. Ist gemäß Tillich nun die in der Geschichte des Menschen aktuell werdende Frage nach dem Sinn von Zeit, Raum, Kausalität und Substanz identisch mit der Frage nach dem Sinn des geschichtlichen Prozesses als umfassendstem Lebensprozess, dann stellt sich die Frage, auf welche Weise sich in den Funktionen des Lebens in der Geschichte eben jene Selbst-Transzendierung auf Grund und Ziel der Geschichte ereignet.
3.1.3 Die Dynamik des geschichtlichen Lebensprozesses Die Geschichte als umfassendster Lebensprozess ereignet sich „innerhalb ihres strukturellen Rahmens“¹⁶⁰, dessen Grundelemente „in der Dimension des Geschichtlichen“¹⁶¹ die ontologischen Kategorien bilden. Dabei gibt die „Zeit [als Nacheinander, C.D.] […] der geschichtlichen Bewegung das Element der Unumkehrbarkeit, die Kausalität das Element der Freiheit, durch das sie das unableitbar Neue schafft; Raum [als Nebeneinander, C.D.] und Substanz [als geschichtliche Situation, C.D.] geben ihr das relativ Statische, aus dem die Dynamik der Zeit und der Kausalität hervorbrechen und zu dem sie zurückkehren.“¹⁶² Die Geschichte vollzieht dergestalt ihre für Lebensprozesse fundamentale Struktur von Selbst-Identität, Selbst-Veränderung und Rückkehr-zu-sich-selbst im Gesamtzusammenhang der ontologischen Polaritäten Individualisation und Partizipation, Dynamik und Form sowie Freiheit und Schicksal¹⁶³, indem sie wie bereits erläutert ein Element abstrakter Unbegrenztheit mit einem Element konkreter Begrenztheit vereint.¹⁶⁴ Somit stellt sich Tillich folgend hinsichtlich der Geschichte „die Frage nach der Beziehung von Notwendigkeit und Kontingenz in der Dynamik der Geschichte. Diese Frage ist nicht nur für die Geschichtsschreibung wichtig, sondern auch für alle geschichtlichen Entscheidungen und Handlungen.“¹⁶⁵
160 Ebd., 373 [326]. 161 Ebd. 162 Ebd. 163 Vgl. zur Erläuterung von Tillichs Verständnis des Lebensprozesses Kap. 2 dieser Arbeit. 164 Vgl. zum Element abstrakter Unbegrenztheit sowie dem Element konkreter Begrenztheit Unterabschn. 3.1.2 dieser Arbeit sowie Tillich: ST III, 362 [317]. 165 Ebd., 373 [326].
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Gemäß Tillich ergibt sich das „Element der Notwendigkeit […] aus der geschichtlichen Situation, das Element der Kontingenz aus dem geschichtlichen Schaffen.“¹⁶⁶ In diesem Zusammenhang ist es analog zu Tillichs Verständnis der ontologischen Polaritäten zentral, dass „keines dieser Elemente […] jemals allein [herrscht]“¹⁶⁷, sondern die vorgegebene geschichtliche Situation als Element der Notwendigkeit und das freiheitliche geschichtliche Schaffen als Element der Kontingenz sich als unaufhebbare Spannung erweisen, in der zwar entweder die geschichtliche Situation oder das geschichtliche Schaffen ein stärkeres Gewicht einzunehmen vermag, es jedoch wesentlich nicht zu einer Aufhebung von einem der beiden Elemente kommen kann. Tillich bezeichnet die Einheit beider Elemente „unter der Vorherrschaft des Elements der Notwendigkeit […] als ‚Trend‘, ihre Einheit unter der Vorherrschaft des Elements der Kontingenz als ‚Chance‘.“¹⁶⁸ Damit soll durch das Verständnis von geschichtlichen Trends sowie der Unumkehrbarkeit der geschichtlichen Zeit trotz „gewisse[r] Regelmäßigkeiten in der Abfolge von Ereignissen“¹⁶⁹ jeder Versuch unterbunden werden, von geschichtlichen Gesetzen zu sprechen. Es kann sie nicht geben, weil jeder Moment der Geschichte neu ist im Verhältnis zu allen vorhergehenden Momenten, und weil ein Trend, wie stark er auch sein mag, sich ändern kann. […] Es gibt Situationen, in denen Trends durch Chancen das Gleichgewicht gehalten wird, und es gibt Trends, die unter einem Übermaß an Chancen verborgen sind.¹⁷⁰
Dementsprechend versteht Tillich eine Chance als Gelegenheit, die beherrschende Macht eines Trends zu verändern. […] Von Gelegenheiten, die eine Chance in sich enthalten, muß in einem Akt schöpferischer Kausalität Gebrauch gemacht werden, wenn sie zu wirklichen Chancen werden sollen. […] Viele Chancen treten niemals in Erscheinung, weil sie von niemandem ergriffen werden; aber von keiner geschichtlichen Situation läßt sich mit Sicherheit sagen, daß sie ohne Chance sei. Weder Trends noch Chancen sind absolut.¹⁷¹
Tillich lehnt somit „alle Formen des historischen Determinismus, sei er naturalistisch, dialektisch oder religiös im Sinne der Prädestinationslehre“¹⁷², ab, da für ihn „[j]eder schöpferische Akt […] – bewußt oder unbewußt – das Vorhanden-
166 Tillich: ST III, 373 [327]. 167 Ebd. 168 Ebd. 169 Ebd. 170 Ebd., 373f. [327]. 171 Ebd., 374 [327]. 172 Ebd.
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sein von Chancen voraus[setzt].“¹⁷³ Die Geschichte als umfassendster Lebensprozess ereignet sich demzufolge in der Einheit einer unaufhebbaren Spannung der geschichtlichen Situation als Element der konkreten Begrenztheit und der Notwendigkeit sowie des geschichtlichen Schaffens als Element der abstrakten Unbegrenztheit und der Kontingenz. Lauster sieht hier eine strukturelle Analogie zu dem, was Hegel mit seinem dialektischen Dreischritt bezeichnete. Mit Hegel sieht also Tillich in der Geschichte Kräfte am Werk, die ihre Energie aus der Gegenbewegung zum Bestehenden beziehen und dann am Ende als eine synthetische Einigung des Bestehenden und seiner Gegenbewegung aus sich heraussetzten, die die vorauslaufenden Zustände auf einer höheren Ebene aufhebt.¹⁷⁴
Dem können die vorliegenden Ausführungen grundsätzlich zustimmen, wobei hier ausdrücklich betont sein soll, dass sich diese strukturelle Analogie ausschließlich auf den geschilderten Dreischritt begrenzt und sich nicht auf Hegels umfassendes Geschichtsverständnis ausdehnen lässt, weil Tillich wie bereits geschildert eine innergeschichtliche Verwirklichung des Ziels der Geschichte aus christlicher Perspektive und damit auch – wie noch erläutert werden wird – einen innergeschichtlichen teleologischen Fortschritt in einem qualitativem Sinne ablehnt. Nach Lauster kritisiert Tillich an Hegel, „dass dieser [Hegel] die Dialektik im Range eines Gesetzes der Geschichte behandelt und damit letztlich die Geschichte auf ein ‚mechanisches Schema‘ reduziert habe.“¹⁷⁵ Diese Kritik Tillichs an Hegel führt zu einer grundlegenden Differenz beider Entwürfe und darf nicht aus dem Blick geraten. Aufgrund der unaufhebbaren Spannung der konkreten Begrenztheit und Notwendigkeit der geschichtlichen Situation und der abstrakten Unbegrenztheit und Kontingenz des geschichtlichen Schaffens kann man nach Tillich gerade nicht von einer „universalen Struktur der geschichtlichen Bewegung sprechen“¹⁷⁶, weil „geschichtliche Kausalität ihrem Wesen nach schöpferisch ist und Chancen ausnützt […].“¹⁷⁷ Grundsätzlich räumt Tillich zwar ein, dass Strukturen wie „Fortschritt und Rückschritt, Aktion und Reaktion, Spannung und Entspannung“¹⁷⁸ in Beziehung zu beispielsweise
173 174 175 176 177 178
Ebd., 374 [328]. Lauster: Die Geschichte und die Frage nach dem Reich Gottes, 268. Ebd. Tillich: ST III, 375 [328]. Ebd. Ebd.
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geographische[n], biologische[n], psychologische[n] und soziologische[n] Faktoren wirksam [sind] und […] Situationen [erzeugen], aus denen schöpferische Akte hervorgehen können […]; denn ohne sie ist keine sinnvolle Beschreibung des geschichtlichen Gewebes möglich. Aber in ihnen allen liegt eine gemeinsame Gefahr, die den starken Widerspruch der empirischen Historiker herausgefordert hat: die Gefahr, daß sie als universale Gesetze statt als spezifische Strukturen verstanden werden.¹⁷⁹
Werden spezifische Strukturen als universale Gesetze verstanden, wird Tillich folgend die geschichtliche Dimension mit der sich selbst-transzendierenden Funktion der Geschichte verwechselt. Es ist eine Verwechslung zwischen einer wissenschaftlichen Beschreibung und einer religiösen Interpretation der Geschichte. […] In allen historischen Werken ist von Wachstum und Verfall die Rede; aber selbst diese am deutlichsten hervortretende Struktur der geschichtlichen Bewegung ist kein empirisches Gesetz. […] Wenn diese Struktur aber zu einem universalen Gesetz erhoben wird, nimmt sie religiösen Charakter an. Dann wird die metaphysische Interpretation des Daseins als zirkulare Bewegung auf die geschichtliche Bewegung angewandt, d.h. die Dimensionen werden verwechselt.¹⁸⁰
Eine solche Verwechslung der geschichtlichen Dimension mit der sich selbsttranszendierenden Funktion der Geschichte verkennt das Wesen der Endlichkeit in seiner Beziehung zum Unendlichen, welche sich in der Dimension des Geistes in Form von religiösen Akten unter dem Prinzip des Heiligen aktualisiert, indem das Unbedingte im Bedingten erfahren und die Unbedingtheit des Unbedingten gewahrt wird.¹⁸¹ Erhebt der Mensch eine spezifische Struktur zu einem universalen Gesetz „wird sie zu einem quasi-religiösen Prinzip und büßt jede empirische Beweisbarkeit ein“¹⁸², weil „er eine endliche Sicherheit oder Gewißheit verabsolutiert“¹⁸³, so dass die „relative Wahrheit“¹⁸⁴ der spezifischen Struktur hinsichtlich einer konkreten historischen Situation zu „Irrtum [wird], wenn [eben jene, C.D.] […] für die gesamte Geschichte gelten soll.“¹⁸⁵ Gleiches gilt für im Zusammenhang der Geschichtsschreibung vorgenommene Periodisierungen der Geschichte, die
179 Tillich: ST III, 375 [328]. 180 Ebd., 375 [328f.]. 181 Vgl. zur näheren Beschreibung des Heiligen bei Tillich Abschn. 2.2 dieser Arbeit. 182 Tillich: ST III, 377 [330]. 183 Ders.: ST II, 83 [73]. Vgl. hierzu auch die Ausführungen zur Profanisierung unter Abschn. 2.2 dieser Arbeit. 184 Ders.: ST III, 377 [330]. 185 Ebd. Tillich erörtert diese Problematik anhand der Idee einer dialektischen Struktur der Geschichte bzw. der Theorie der materialistischen Dialektik. Vgl. hierzu ebd., 375ff. [329ff.].
3.1 Die geschichtliche Dimension des Lebens |
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zur Bestimmung einer historischen Situation oder auch Substanz vorgenommen werden:¹⁸⁶ Die Geschichte bewegt sich in periodischen Rhythmen, aber Perioden sind Perioden nur für die, die sie sehen können. In der Abfolge von Ereignissen gibt es ständig Übergänge, Überschneidungen, Fortschritte und Verzögerungen, und eine neue Periode wird durch keinen Grenzstein bezeichnet. Aber denjenigen, die diese Ereignisse nach dem Prinzip der Wichtigkeit bewerten, werden Grenzsteine sichtbar, die die Grenzen zwischen qualitativ verschiedenen Abschnitten der geschichtlichen Zeit bezeichnen.¹⁸⁷
Die Dynamik des geschichtlichen Lebensprozesses lässt sich daher im Verständnis Tillichs ausschließlich innerhalb des „subjektiv-objektiven Charakter[s] der Geschichte“¹⁸⁸ in Form von Geschichtsschreibung erfassen, in welcher geschichtstragende Gruppen aufgrund ihres Geschichtsbewusstseins einen Vorgang traditionsbildend als historisches Ereignis einstufen, wobei jede Form der Geschichtsschreibung selbst den Zweideutigkeiten des Lebens unterworfen bleibt.¹⁸⁹ Deshalb steht Geschichtsschreibung unaufhebbar grundsätzlich vor der Herausforderung, die endlich-geschichtliche Dimension des Lebens, in welcher sich die sich selbst-transzendierende Funktion des Lebens durch religiöse Akte aktualisiert, nicht mit einem religiösen Verständnis der Geschichte, das eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des geschichtlichen Prozesses zu geben sucht, zu verwechseln, denn das Ziel oder auch der Sinn der Geschichte liegt Tillich folgend nicht in der Geschichte selbst, sondern transzendiert sie im Sinne des Unbedingten.¹⁹⁰ Um die Endlichkeit der Geschichte als umfassendstem Lebensprozess in seinen Zweideutigkeiten präziser beschreiben zu können, soll im Folgenden das Verhältnis der Geschichte zu den Lebensfunktionen Selbst-Integration, Sich-Schaffen sowie Selbst-Transzendierung erörtert werden. Als Lebensprozess ist die Geschichte mit ihren geschichtstragenden Gruppen wie alle Lebensprozesse den Zweideutigkeiten des Lebens unterworfen. So strebt Leben […] nach Selbst-Integration, und in jedem Geschichte schaffenden Akt kann es sich auflösen. Leben schafft Leben und kann sich zerstören, wenn die Dynamik der Geschichte
186 Vgl. zu möglichen Namen für historische Perioden wie „Hellenismus“ oder „Renaissance“ auch Unterabschn. 3.1.2 dieser Arbeit sowie ebd., 377 [330]. 187 Ebd., 378 [331]. 188 Ebd., 378 [330]. 189 Vgl. zum subjektiv-objektiven Charakter der Geschichte nach Tillich auch Unterabschn. 3.1.1 dieser Arbeit sowie zu den Zweideutigkeiten des Lebensprozesses auch Abschn. 2.3 dieser Arbeit. 190 Vgl. hierzu auch Tillichs frühe Ausführungen zur Verantwortung geschichtlicher Betrachtungen im Hinblick auf die Wahrung des Unbedingten in Kairos II von 1926: Tillich, Paul: Kairos II. Ideen zur Geisteslage der Gegenwart, in: Ders.: GW VI, 29–41.
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dem Neuen zutreibt. Leben transzendiert sich selbst und kann der Profanisierung verfallen, während es auf das endgültig Neue und Transzendente zugeht.¹⁹¹
Indem die Geschichte in ihrem subjektiv-objektiven Charakter sich in ihrer Bewegung auf ein sie transzendierendes Ziel hin selbst transzendiert und „vorwärts auf das immer wieder Neue und auf das endgültig Neue zu[eilt]“¹⁹², laufen die Lebensfunktionen Selbst-Integration, Sich-Schaffen und Selbst-Transzendierung anders als in den anderen Dimensionen in einen Prozeß zusammen, nämlich in die Bewegung auf ein Ziel zu. Es gibt immer noch Selbst-Integration, aber nicht mehr als selbständiges Ziel; in der geschichtlichen Dimension wird sie Teil des Strebens nach universaler und vollkommener Integration. Es gibt immer noch Sich-Schaffen, aber nicht mehr um der einzelnen Schöpfungen willen; in der geschichtlichen Dimension wird das Sich-Schaffen Teil des Strebens nach dem universal und absolut Neuen. Und es gibt immer noch Selbst-Transzendierung, aber nicht mehr zu einer partikularen Erfüllung; in der geschichtlichen Dimension wird Selbst-Transzendierung zum Teil des Strebens nach dem universal und absolut Transzendenten.¹⁹³
In der politischen Dimension des Lebens richten sich die Lebensfunktionen SelbstIntegration, Sich-Schaffen und Selbst-Transzendierung beispielsweise partikular auf die Machtausübung und den Macherhalt einer konkreten geschichtstragenden Gruppe, die Tillich auch als „Schöpfungen der Kultur“¹⁹⁴ bezeichnet. Dabei vermag eine geschichtstragende Gruppe eben jene in einer ihr spezifischen Verhältnisbestimmung „von Macht und Gerechtigkeit im Bereich des Gemeinschaftslebens“¹⁹⁵ durch eine Rechtsordnung zu aktualisieren.¹⁹⁶ Dieser Prozess der Etablierung einer solchen Rechtsordnung vollzieht sich im Zusammenhang der Zweideutigkeiten des Lebens und kann im Vollzug der ontologischen Polaritäten Individualisation und Partizipation, Dynamik und Form sowie Freiheit und Schicksal scheitern. Dann sieht sich die entsprechende geschichtstragende Gruppe hinsichtlich ihrer Konstitutionsbedingungen der Machtausübung und des Machterhalts der Desintegration, der Zerstörung wie auch im Verlust der Beziehung zum ihr transzendenten Ziel der Geschichte der Profanisierung im Sinne der historischen Bedeutungslosigkeit preisgegeben. Ihr misslingt die Selbst-Integration, das Sich-Schaffen und die Selbst-Transzendierung, die im Rahmen eines geregelten
191 Tillich: ST III, 378 [331]. 192 Ebd., 379 [332]. 193 Ebd. 194 Ebd., 379 [331]. 195 Ebd. 196 Vgl. für eine ausführlichere Beschreibung von Tillichs Verständnis der Wirkung von geschichtstragenden Gruppen auch Unterabschn. 3.1.1 dieser Arbeit sowie ebd., 353ff. [308ff.].
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Verhältnisses von Macht und Gerechtigkeit mit den entsprechenden politischen Konsequenzen jeweils als selbständiges Ziel einer partikularen geschichtstragenden Gruppe erscheinen. Die Dimension der Geschichte als dem sämtliche Dimensionen des Lebens einschließenden Lebensprozess umfasst alles partikulare Streben nach SelbstIntegration, Sich-Schaffen und Selbst-Transzendierung im Hinblick auf den Sinn oder auch das Ziel des geschichtlichen Prozesses, worin sie in eben diesem Umfassen ihre Selbst-Integration, ihr Sich-Schaffen und ihre Selbst-Transzendierung als ihre Beziehung zum Unendlichen auf ein ihr transzendentes Ziel hin aktualisiert. Ohne die Dimension der Geschichte blieben die einzelnen Lebensprozesse partikular, da ihr universaler Gesamtzusammenhang in Form eines absoluten Sinnbezuges nicht aktualisiert werden würde, wobei sich Geschichte als solche wiederum nicht ohne ihren Bezug zu den einzelnen Lebensprozessen und Dimensionen des Lebens ereignen könnte, was Tillich wie folgt beschreibt: „Die Geschichte läuft in allen Prozessen des Lebens auf Erfüllung zu, obwohl sie, während sie auf das Endgültige zuläuft, an das Vorläufige gebunden bleibt […]. Sie kann der Zweideutigkeit des Lebens nicht entgehen, indem sie in allen Lebensprozessen dem Unzweideutigen zustrebt.“¹⁹⁷ In diesem an das Vorläufige gebundenen Streben nach dem Endgültigen aktualisieren sich Selbst-Integration, Sich-Schaffen und Selbst-Transzendierung der Geschichte als umfassendstem Lebensprozess, so dass Tillich das Ziel der Geschichte als Ziel der drei Lebensprozesse und ihrer Einheit folgendermaßen beschreiben kann: In dem Prozeß der Selbst-Integration des Lebens strebt die Geschichte nach Zentriertheit aller geschichtstragenden Gruppen und ihrer einzelnen Glieder als der unzweideutigen Harmonie von Macht und Gerechtigkeit. In dem Prozeß des Sich-Schaffens des Lebens strebt die Geschichte auf einen neuen, unzweideutigen Stand der Dinge zu. In dem Prozeß der Selbst-Transzendierung des Lebens strebt die Geschichte auf die universale, unzweideutige Erfüllung der Potentialitäten des Seins zu. Aber die Geschichte steht, wie das Leben im allgemeinen, unter der Negativität der Existenz und damit unter der Zweideutigkeit des Lebens.¹⁹⁸
Das bedeutet, dass „das Streben nach universaler und vollkommener Zentriertheit, nach dem universal und vollkommen Neuen und nach universaler und vollkommener Erfüllung […] ein Problem [ist] und […] ein Problem bleibt, solange es Geschichte gibt.“¹⁹⁹
197 Ebd., 379 [332]. Vgl. zu den Zweideutigkeiten in der geschichtlichen Dimension Abschn. 3.2 dieser Arbeit. 198 Ebd., 380 [332]. 199 Ebd.
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Daher lässt sich nach Tillich hinsichtlich der Verwirklichung des geschichtlichen Sinns nur bedingt von geschichtlichem Fortschritt sprechen. Tillich unterscheidet in diesem Zusammenhang zwei Bedeutungen von „Fortschritt“: Grundsätzlich bedeutet in einem deskriptiven Sinn „[j]eder schöpferische Akt […] Fortschritt, nämlich einen Schritt über das Gegebene hinaus.“²⁰⁰ Deshalb ist in diesem Sinn die gesamte Bewegung der Geschichte progressiv. Sie erzeugt Neues im einzelnen und versucht, das endgültig Neue zu erreichen. Das gilt für alle kulturellen Funktionen des menschlichen Geistes […], und es gilt für Moralität und Religion, insofern in ihnen kulturelle Inhalte gegeben sind und sie in kulturellen Formen Ausdruck finden. […] In jeder zentrierten Gruppe […] sind alle schöpferischen Akte beständig auf Fortschritt ausgerichtet.²⁰¹
Darüber hinaus kann man „Forschritt“ innerhalb eines religiösen Geschichtsverständnisses normativ „auch als Symbol verstehen, das für den Sinn der Geschichte steht und über die Wirklichkeit hinausweist. So verstanden, bedeutet ‚Fortschritt‘ die Idee, daß die Geschichte sich allmählich ihrem endgültigen Ziel nähert, oder daß unendlicher Fortschritt an sich das Ziel der Geschichte ist.“²⁰² Daher soll im Folgenden erörtert werden, „in welchem Seinsbereich Forschritt [deskriptiv wie normativ, C.D.] möglich, und in welchem er nicht möglich ist, je nach der besonderen Beschaffenheit der Wirklichkeit, um die es sich handelt.“²⁰³ Gemäß Tillich kann es in Bezug auf den moralischen, kulturellen und religiösen Akt als solchen in dem Sinne normativ keinen Fortschritt auf das absolut und universal Neue hin als Ziel der Geschichte geben, weil eben jene in Form einer evolutionären Entwicklung durch Neues nicht überwunden oder aufgehoben werden können, denn „sie sind die absolute Voraussetzung für die Aktualisierung der Dimension des Geistes in allen Individuen mit Bewußtsein.“²⁰⁴ Moralität, Kultur und Religion erweisen sich in Bezug auf den Lebensprozess in der Dimension des Geistes als conditio sine qua non, die aus den Lebensfunktionen der SelbstIntegration, des Sich-Schaffens und der Selbst-Transzendierung folgt. Sie bleiben wie beschrieben in ihrem Streben nach dem absolut Unzweideutigen den Zweideutigkeiten des Lebens und damit ihrer Vorläufigkeit im Angesicht des Endgültigen unterworfen, so dass sie nicht selbst als Endgültiges verstanden werden dür-
200 Tillich: ST III, 380 [333]. 201 Ebd. 202 Ebd., 380f. [333]. Vgl. zum Symbolbegriff bei Tillich auch Unterabschn. 2.3.2 dieser Arbeit. 203 Ebd., 381 [333]. 204 Ebd.
3.1 Die geschichtliche Dimension des Lebens |
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fen.²⁰⁵ Dennoch besteht nach Tillich im Rahmen der moralischen, der kulturellen sowie der religiösen Funktion des Lebens in der Dimension des Geistes die Möglichkeit des Fortschritts, beispielsweise „im sittlichen Bewußtsein, d.h. in bezug auf die Inhalte der Moral, und Fortschritt im Grade der moralischen Erziehung. Beide gehören dem kulturellen Bereich an und sind offen für das Neue. […] Der Fortschritt vollzieht sich innerhalb des kulturellen Elementes im moralischen Akt, nicht in diesem selbst.“²⁰⁶ Analog erläutert Tillich in Bezug auf Kunst, Literatur und Philosophie: Innerhalb des kulturellen Bereichs gibt es keinen Fortschritt über die klassischen Formen hinaus, in denen die Begegnung des Menschen mit der Wirklichkeit zum Ausdruck gelangt ist, weder in der Kunst noch in der Literatur, noch in der Philosophie. Es gibt oft, aber nicht immer, Fortschritt in den Versuchen, den klassischen Ausdruck eines künstlerischen Stils zu finden […], aber es gibt keinen Fortschritt von einem reifen Stil zu einem anderen.²⁰⁷
Tillich differenziert hinsichtlich des Fortschritts im Bereich der Lebensfunktionen somit „zwei Arten von Elementen […], die qualitativen und die quantitativen. Nur in den letzteren ist Fortschritt möglich – in der Form der Erweiterung und Verfeinerung, aber nicht in den ersteren.“²⁰⁸ Lauster illustriert das für den philosophischen Bereich treffend wie folgt: Versteht man im philosophischen Kontext einer Theorie der Sittlichkeit Fortschritt als Voranschreiten einer weisen Lebenshaltung, dann kann es ihn nur der Quantität nach geben, im Sinne eines Zuwachses der Zahl der Individuen, die sich zu einer Verwirklichung des Ideals der Humanität und Gerechtigkeit entschließen, nicht aber der Qualität nach, die eine einzelne persönliche Haltung auszeichnet.Lauster: Die Geschichte und die Frage nach dem Reich Gottes, 269
Dieser Gedanke, dass es Fortschritt ausschließlich in den quantitativen, nicht in den qualitativen Elementen der Lebensfunktionen gibt, lässt sich mit Tillich am Beispiel der Frage nach einem Fortschritt „in der Verwirklichung des Gerechtigkeitsprinzips“²⁰⁹ vertiefen: Was die Gerechtigkeit betrifft, ist die Lage [eines ausschließlich quantitativen Fortschritts, C.D.] nicht anders. Das ist eine kühne Behauptung inmitten einer Kultur, die nicht nur glaubt, daß ihr eigenes sozial-politisches System der eigenen Idee der Gerechtigkeit entspre-
205 Dies wirft religiös die Frage nach einer Fortschrittsgeschichte im Sinne einer Heilsgeschichte auf, welche aus christlicher Perspektive in Kapitel Kap. 4 dieser Arbeit thematisiert wird. 206 Tillich: ST III, 381 [kursiv C.D.] [333]. 207 Ebd., 382 [334f.]. 208 Ebd., 383 [335]. 209 Ebd.
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che, sondern auch, daß sie das Ideal der Gerechtigkeit erreicht habe, demgegenüber alle früheren Formen nur ungenügende Annäherungen darstellen. […] In der Entwicklung von einem Stadium [im Sinne von „Entwicklungsstufe“, C.D.] zum nächsten gibt es Fortschritt, Veralten und Rückschritt. Aber voll entwickelte Systeme, die qualitativ verschiedene Arten von Gerechtigkeit verkörpern, stehen über jeder Art von Fortschritt.²¹⁰
Eben jene Unterscheidung von qualitativen und quantitativen Elementen im Vollzug der Lebensfunktionen beruht auf dem „Unterschied zwischen dem eigentlich religiösen Element und den kulturellen Elementen“²¹¹. Dabei transzendiert das religiöse Element auf Grundlage eines religiösen Geschichtsverständnisses die Geschichte vertikal auf ein endgültiges Ziel hin, welches innerhalb der Geschichte aufgrund ihrer Bindung an Endlichkeit, Vorläufigkeit und Zweideutigkeit nicht aktualisiert zu werden vermag, während die kulturellen Elemente horizontal, d.h. innerhalb der endlich-geschichtlichen Dimension des Lebens, in einer Weise Geist aktualisieren, welche die quantitativen Elemente moralischer wie auch religiöser Akte einschließt, insofern sie sie sich auf kultureller Ebene in der Schaffung von Neuem äußern.²¹² Demnach gibt es quantitativ zwar auch „Fortschritt, Stillstand und Rückschritt in den kulturellen Elementen jeder Religion, in dem Grade ihres Selbstverständnisses und in ihren künstlerischen Ausdrucksformen, in dem Einfluß der Religion auf die Entwicklung der Persönlichkeit und der Gemeinschaft.“²¹³ Für Tillich ist jedoch die entscheidende Frage, ob in den Grundlagen der Religion, in den Offenbarungserfahrungen, auf denen die Religionen beruhen, Möglichkeiten des [qualitativen, C.D.] Fortschritts enthalten sind. Das ist dieselbe Frage wie die, ob man von einer progressiven Heilsgeschichte sprechen kann. Die erste Antwort auf diese Frage ist, daß der göttliche Geist, der sich in Offenbarung und Erlösung manifestiert, immer derselbe ist, und daß es in dieser Hinsicht kein mehr oder weniger, keinen Fortschritt oder Rückschritt geben kann.²¹⁴
Darum ist Tillichs zweite Antwort auf die Frage, ob es eine progressive Heilsgeschichte gibt, dass im „Licht dieser Betrachtungen […] keine einzelne Religion den Anspruch erheben [kann], auf der endgültigen Offenbarung fundiert zu sein. […] Nicht das Christentum als Religion ist absolut, sondern das Ereignis, aus dem das Christentum erwachsen ist und von dem aus es gerichtet wird wie jede andere
210 Tillich: ST III, 383f. [kursiv C.D.] [335f.]. 211 Ebd., 385 [337]. 212 Vgl. zu Tillichs Kulturbegriff auch Abschn. 2.2 dieser Arbeit. 213 Tillich: ST III, 385 [337]. 214 Ebd., 385 [kursiv C.D.] [337]. Vgl. zum Offenbarungsverständnis bei Tillich Unterabschn. 2.3.2 und zur Frage der Heilsgeschichte Kap. 1 sowie Abschn. 4.1 dieser Arbeit.
3.1 Die geschichtliche Dimension des Lebens | 101
Religion – positiv oder negativ.“²¹⁵ Einen ähnlichen Gedanken formuliert Tillich bereits 1937 in Ende der protestantischen Ära I, indem er die kulturellen und historischen Erscheinungsformen im Zusammenhang geschichtlicher Erscheinungen im Allgemeinen wesentlich als endlich beschreibt, so dass zwar „jede spezielle Erscheinung des Christentums erschöpflich sei“²¹⁶, aber die Wahrheit des Christus als Manifestation des Neuen Seins in der Geschichte „nicht endlich, nicht erschöpflich“²¹⁷ ist. Analog dazu fordert Tillich 1948 in Das geistige Vakuum, dass die Kirche sich als „endliche soziale Wirklichkeit […] genau so unterordnen [muss] unter das Prinzip des Grundes, des Letzten, der Tiefe, des Unbewußten wie irgendeine andere Wirklichkeit.“²¹⁸ Die von Lauster in diesem Zusammenhang betonte Sonderstellung des Christentums²¹⁹ bei Tillich beruht ausschließlich darauf, dass das Christentum die kulturelle Religion ist, die aus dem christlichen Ereignis erwachsen ist, jedoch eben wie jede andere Religion in ihrer kulturellen Erscheinung durch dieses gerichtet wird. Eben jenes christliche Ereignis ist Jesus Christus als die Manifestation des Neuen Seins, das den Zwiespalt zwischen essentiellem und existentiellem Sein überwindet: „Nach der christlichen Auffassung ist dieses Ereignis weder das Ergebnis einer progressiven Entwicklung noch die Aktualisierung einer neuen religiösen Potentialität, sondern die vereinigende und richtende Erfüllung aller Potentialitäten, die in der Begegnung mit dem Heiligen enthalten sind.“²²⁰ Somit lehnt Tillich jegliche Art von qualitativem Fortschritt auf das letztgültige, unzweideutige Ziel der Geschichte hin ab, indem er aufgrund der Zweideutigkeiten allen endlichen Lebens in allen Funktionen des Lebens das Bedingte vom Unbedingten, das Endliche vom Unendlichen, das Vorläufige vom Endgültigen in seiner Beziehung zu eben jenem unterschieden wissen will, was sich unter anderem auch in seinem Verständnis vom Heiligen wie auch seinem Symbolbegriff zeigt.²²¹ Zusammengefasst lässt sich gemäß Tillich demnach aufgrund der Zwei-
215 Ebd., 385f. [337f.]. Vgl. zum Verhältnis von Offenbarung, absoluter Wahrheit und interreligiösem Dialog: Grube, Dirk-Martin: Offenbarung, absolute Wahrheit und interreligiöser Dialog, Berlin und Boston 2019. 216 Tillich, Paul: Ende der protestantischen Ära I+II, in: Ders.: Gesammelte Werke. Der Protestantismus als Kritik und Gestaltung, Albrecht, Renate (Hg.), Bd. VII, Stuttgart 1962, 151–170, hier 151. 217 Ebd., 157. 218 Ders.: Das geistige Vakuum, in: Baumotte, Manfred (Hg.): Tillich-Auswahl. Der Sinn der Geschichte, Bd. 3, Gütersloh 1980, 230–236, hier 235. 219 Lauster: Die Geschichte und die Frage nach dem Reich Gottes, 270. 220 Tillich: ST III, 386 [kursiv C.D.] [337f.]. Vgl. zu Jesus Christus als christlichem Ereignis auch Unterabschn. 3.1.1 dieser Arbeit. 221 Vgl. zu Tillichs Verständnis des Heiligen Abschn. 2.2 und zu seinem Symbolverständnis Unterabschn. 2.3.2 dieser Arbeit.
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deutigkeit aller Lebensprozesse ausschließlich im kulturellen Rahmen im Bereich der Technik, der Wissenschaft, der Erziehung und Bildung (mit Kunst, Literatur, Philosophie, etc.) sowie der Überwindung räumlicher Spaltungen und Grenzen in einem quantitativen und deskriptiven Sinne von Fortschritt sprechen, wobei auch hier wie am Beispiel der Aktualisierung von Gerechtigkeit zwischen den qualitativen und den quantitativen Elementen, zwischen den eigentlich religiösen und den kulturellen Elementen zu differenzieren ist.²²² Daher stellt sich im Folgenden die Frage, auf welche Weise sich die Zweideutigkeiten des Lebens in der Geschichte als umfassendstem Lebensprozess zeigen.
222 Vgl. hierzu Tillich: ST III, 386f. [338f.]. Vgl. zur Fortschrittsthematik im Zusammenhang religiöser Bildung auch folgenden Beitrag: Drobe, Christina: „…daß der Mensch auf jeder Stufe der Heiligung der Vergebung bedürftig ist.“ Systematisch-theologische Reflexionen zum Verständnis religiöser Bildung in Bezug auf Paul Tillichs theologische Anthropologie, in: Schweiwiller, Thomas/Weiß, Thomas (Hgg.): „Unser Ich in Korrelation mit dem Sinn des Begegnenden finde[t] sich erst in der Begegnung.“ Paul Tillich und religiöse Bildungsprozesse, Münster und New York 2017, 83–104.
3.2 Die Zweideutigkeiten des Lebens in der geschichtlichen Dimension | 103
3.2 Die Zweideutigkeiten des Lebens in der geschichtlichen Dimension Gemäß Tillich besteht die fundamentale Zweideutigkeit der Geschichte darin, dass sie, während sie „auf ihr endgültiges Ziel zuläuft, […] ständig begrenzte Ziele [verwirklicht]; damit erfüllt und verneint sie zugleich ihr endgültiges Ziel“²²³, weil sich in der Verwirklichung begrenzter Ziele einerseits die SelbstTranszendierung der Geschichte auf ihr endgültiges Ziel hin aktualisiert, jedoch andererseits im Verwirklichungsprozess des begrenzten, endlichen Zieles aufgrund der Zweideutigkeiten des Lebens neben Selbst-Integration, Sich-Schaffen und Selbst-Transzendierung auch Desintegration, Zerstörung und Profanisierung wirksam sind. So erweisen sich „[a]lle Zweideutigkeiten der geschichtlichen Existenz“²²⁴ als „Formen dieser fundamentalen Zweideutigkeit. Wenn wir sie zu den Lebensprozessen in Beziehung setzen, können wir die Zweideutigkeit der geschichtlichen Selbst-Integration, die Zweideutigkeit des geschichtlichen SichSchaffens und die Zweideutigkeit der geschichtlichen Selbst-Transzendierung unterscheiden“²²⁵, was im Folgenden erläutert werden soll: a) Die Selbst-Integration des Lebens in der geschichtlichen Dimension sieht Tillich „durch den Begriff ‚Imperium‘ ausgedrückt.“²²⁶ In einem Imperium verwirklicht eine geschichtstragende Gruppe ihr „Streben nach Universalität und Totalität im Prozeß der Selbst-Integration des Lebens in der geschichtlichen Dimension […].“²²⁷ Notwendige Elemente in einer solchen Selbst-Integration von geschichtstragenden Gruppen sind nach Tillich der „Machtwille […], denn nur durch ihre zentrierte Macht können sie geschichtlich handeln“²²⁸, und „das Sendungsbewußtsein einer geschichtlichen Gruppe“²²⁹, in welchem sich das Ziel, nach dem sie streben, äußert.²³⁰ Der Begriff „Imperium“ veranschaulicht mit Bezug auf die Dominanz der politischen Dimension des Lebens, in welcher die Voraussetzungen für das geschichtliche Handeln geschichtstragender Gruppen liegen, die Zweideutigkeit der geschichtlichen Selbst-Integration, denn
223 Tillich: ST III, 388 [339]. 224 Ebd. 225 Ebd. 226 Ebd. 227 Ebd. 228 Ebd., 388 [340]. 229 Ebd. 230 Vgl. zum Machtwillen und Sendungsbewusstsein als konstituierende Elemente einer geschichtlichen Gruppe auch Unterabschn. 3.1.1 dieser Arbeit sowie ebd., 353ff. [308ff.].
104 | 3 Die Geschichte und die Frage nach ihrem Sinn
Imperien werden gegründet, wachsen, stürzen, bevor sie ihr Ziel erreicht haben, allumfassend zu werden. […] Der […] Charakter der Idee des Imperiums ruft eine Reaktion hervor, die sich in stammesmäßiger, regionaler oder nationaler Isolation […] ausdrückt. […] Aber alle wichtigen Fälle dieser Art beweisen, daß die Tendenz zur Isolation kein ursprünglicher Impuls ist, sondern […] ein Rückzug von der Teilnahme an universalistischen Bewegungen. […] Aus diesem Grunde sind Isolations-Versuche letzten Endes immer ohne Erfolg. […] Kein Einzelner und keine Gruppe können sich der Dynamik der Geschichte entziehen, um den tragischen Verwicklungen zu entgehen.²³¹
Während sich der Begriff „Imperium“ auf die extensive Seite der geschichtlichen Selbst-Integration bezieht, erfordert die Selbst-Integration einer geschichtstragenden Gruppe noch eine intensive Seite, nämlich die der „Zentralisation“²³², da „[j]ede geschichtstragende Gruppe […] eine Machtstruktur hat, ohne die sie nicht geschichtlich handeln könnte.“²³³ Eben jene untersteht gleichermaßen der Zweideutigkeit des Lebens, indem es „zwei einander widersprechende Tendenzen [gibt]: die eine ist auf totale Beherrschung des Einzelnen gerichtet, der der geschichtstragenden Gruppe […] angehört, und die andere auf die persönliche Freiheit des Einzelnen, die Voraussetzung für alles schöpferische Handeln ist.“²³⁴ Dabei nimmt die erste Tendenz zu sobald äußere Gefahr eine Stärkung der zentrierten Macht erfordert oder desintegrierende Kräfte innerhalb der Gruppe die Zentriertheit selbst bedrohen. In beiden Fällen verringert die Notwendigkeit eines starken Zentrums das Element der Freiheit, das Voraussetzung für alle geschichtliche Produktivität ist, und droht es zu vernichten. […] Die umgekehrte Haltung in bezug auf politische Zentralisation und geschichtliche Produktivität führt zur Aufgabe der ersteren zugunsten der letzteren. […] In diesem Fall sind selbst große individuelle Leistungen nur von indirektem Einfluß auf die Geschichte als ganze, weil das zentrierte geschichtliche Handeln fehlt.²³⁵
Ein solches Verständnis von „Imperium“ und „Zentralisation“ zeigt die fundamentale Zweideutigkeit der geschichtlichen Selbst-Integration, in der die Geschichte ihre universalistische Bewegung zwar aktualisiert, eben jene jedoch gleichzeitig durch die in der Aktualisierung liegenden ihr widersprechenden Tendenzen verneint und dergestalt ihr endgültiges Ziel im Verwirklichen begrenzter Ziele sowohl erfüllt als auch dessen Erfüllung verhindert. Demnach stellt sich in diesem Zusammenhang für Tillich die Frage nach der Möglich-
231 232 233 234 235
Tillich: ST III, 353ff. [308ff.]. Ebd., 390 [341]. Ebd., 390 [341f.]. Ebd., 390f. [342]. Ebd., 391 [342].
3.2 Die Zweideutigkeiten des Lebens in der geschichtlichen Dimension | 105
keit unzweideutiger geschichtlicher Selbst-Integration, in der „die Zweideutigkeiten der nach außen gerichteten, imperialistischen Tendenz und die Zweideutigkeiten der inneren Zentralisation […] überwunden werden […].“²³⁶ b) Die Zweideutigkeit des geschichtlichen Sich-Schaffens liegt Tillich folgend darin, dass es sich „sowohl in dem nicht-progressiven wie in dem progressiven Element der geschichtlichen Dynamik [vollzieht]. Es ist der Prozeß, durch den das Neue in allen Bereichen in der geschichtlichen Dimension geschaffen wird.“²³⁷ Allerdings enthält „[a]lles Neue in der Geschichte […] in sich Elemente des Alten, aus dem es geboren ist.“²³⁸ Eben jene „Beziehung von Altem und Neuem“²³⁹ bildet das Problem in der geschichtlichen Dynamik, denn: „Jeder politische Akt ist auf etwas Neues ausgerichtet; aber worauf es ankommt, ist, ob etwas Neues um seiner selbst willen unternommen wird oder zur Wiederherstellung des Alten.“²⁴⁰ Tillich illustriert das wie folgt: Es gibt Situationen, in denen der Durchbruch zum Neuen nur durch Revolution […] gelingen kann. Solche gewaltsamen Durchbrüche sind Beispiele der Zerstörung zum Zweck der Schaffung eines Neuen. Aber die Zerstörung kann so radikal sein, daß die Neuschaffung unmöglich wird […]. Diese Gefahr des absoluten Chaos gibt der bestehenden Macht die ideologische Berechtigung, revolutionäre Kräfte zu unterdrücken und durch Gegenrevolution zu vernichten. […] Der geschichtliche Konflikt zwischen dem Alten und dem Neuen erreicht das Stadium der größten Zerstörung, wenn eine der beiden Seiten Anspruch auf absolute Gültigkeit erhebt.²⁴¹
Somit vollzieht sich die Zweideutigkeit geschichtlichen Sich-Schaffens in Revolution und Reaktion, wobei sich in beiden grundsätzlich die Bewegung der Geschichte auf das unbedingt Neue hin aktualisiert und eben jene gleichermaßen verneint wird, indem die Vertreter des Neuen die Errungenschaften des Alten angreifen, „ohne zu erkennen, daß in ihnen Antworten auf frühere Probleme enthalten sind“²⁴², und die Vertreter des Alten im Angesicht der Leistungen ihrer schöpferischen Kräfte verkennen, dass sie „die schöpferischen
236 Ebd. Vgl. zur Überwindung der geschichtlichen Zweideutigkeiten im Lichte des Symbols „Gegenwart des göttlichen Geistes“ Abschn. 4.3 und in Bezug auf die Symbole „Reich Gottes“ und „Ewiges Leben“ Abschn. 5.1 dieser Arbeit. 237 Ebd., 392 [343]. Vgl. zur Frage des geschichtlichen Fortschritts auch Unterabschn. 3.1.3 dieser Arbeit. 238 Ebd. 239 Ebd. 240 Ebd., 392f. [343f.]. 241 Ebd. 242 Ebd., 392 [343].
106 | 3 Die Geschichte und die Frage nach ihrem Sinn
Kräfte der neuen Generation blockieren.“²⁴³ So stellt sich analog zur Zweideutigkeit der geschichtlichen Selbst-Integration hinsichtlich des geschichtlichen Sich-Schaffens die „Frage nach einem unzweideutigen geschichtlichen Schaffen“²⁴⁴ jenseits der Zerstörung verwirklichter geschichtlicher Errungenschaften und der Unterdrückung schöpferischer Kräfte. c) Die geschichtliche Selbst-Transzendierung erhält ihr zweideutiges Element, wenn ein im Rahmen einer längeren Entwicklung entstandenes, endlichgeschichtliches Stadium – „Stadium“ als Entwicklungsstufe verstanden – beispielsweise in Form eines konkreten Imperiums „Anspruch auf absolute Gültigkeit erhebt.“²⁴⁵ Während die Selbst-Transzendierung unter dem Prinzip des Heiligen die Funktion hat, die Beziehung des Endlichen zum Unendlichen zu aktualisieren, wirkt im Zusammenhang eines solchen Anspruchs auf Absolutheit die profanisierende Kraft der Entfremdung, indem die Endlichkeit des Endlichen im Angesicht des Unendlichen nicht anerkannt und das Endliche mit dem Unendlichen, das Vorläufige mit dem Endgültigen identifiziert wird. Eben jene profanisierende Kraft bezeichnet Tillich auch als dämonisch, denn nach Tillich ist mit dieser Selbstüberhebung zur Absolutheit die Definition des Dämonischen gegeben, und nirgends manifestiert sich das Dämonische so deutlich wie in der geschichtlichen Dimension. Der Anspruch auf Absolutheit tritt auf als Behauptung, das letzte Ziel, auf das sich die Geschichte zubewegt, erreicht zu haben oder es herbeizuführen. Dieser Anspruch ist nicht nur von politischen, sondern [auch] […] von religiösen Mächten erhoben worden. […] Vom Standpunkt der geschichtlichen Dynamik sind es Konflikte zwischen verschiedenen Gruppen, die behaupten, das Ziel der Geschichte zu verkörpern – entweder es tatsächlich verwirklicht zu haben oder seine Erfüllung zu antizipieren.²⁴⁶
Tillich führt in diesem Zusammen den Begriff des „dritten Stadiums“ ein, wie es als traditionelles Symbol gebraucht wird. […] In den profanen wie in den religiösen Formen des Symbols kommt die Überzeugung zum Ausdruck, daß das „dritte Stadium“ begonnen hat, daß die Geschichte einen Punkt erreicht hat, den sie prinzipiell nicht mehr überschreiten kann, daß der „Anfang vom Ende“ bevorsteht, daß wir die letzte Erfüllung vor uns sehen, auf die die Geschichte hinführt und in der sie sich selbst und jede ihrer früheren Stufen transzendiert.²⁴⁷
243 Tillich: ST III, 392 [343]. 244 Ebd., 393 [kursiv C.D.] [344]. 245 Ebd., 393 [344]. 246 Ebd., 393f. [344f.]. Vgl. zur Entwicklung von Tillichs Verständnis des Dämonischen auch Abschn. 6.2 dieser Arbeit. 247 Ebd.
3.2 Die Zweideutigkeiten des Lebens in der geschichtlichen Dimension | 107
Als Beispiele für Vorstellungen des dritten Stadiums nennt Tillich Augustins Auffassung vom letzten Weltalter, das durch die Gründung der christlichen Kirche angebrochen ist, oder auch die Vorstellung des Anbruchs der klassenlosen Gesellschaft durch das Aufkommen des Proletariats Ende des 19. Jahrhunderts.²⁴⁸ Die beschriebene Behauptung, das dritte Stadium als Ziel der Geschichte verwirklicht zu haben oder aber es zu antizipieren, führt zu zwei äußerst zweideutigen Haltungen. In der ersten, sich selbst verabsolutierenden, wird die gegenwärtige Situation selbst als absolut gesetzt und mit dem dritten Stadium identifiziert; in der zweiten, der utopischen Haltung, wird das dritte Stadium als unmittelbar bevorstehend oder als bereits begonnen betrachtet.²⁴⁹
Die erste Haltung nennt Tillich zweideutig, weil sie einerseits die Selbst-Transzendierung des Lebens auf religiöse oder quasi-religiöse Symbole festlegt und andrerseits die Selbst-Transzendierung des Lebens verhüllt, indem sie diese Symbole mit dem Unbedingten selbst identifiziert. […] Im […] Utopismus zeigt sich die Zweideutigkeit in dem Gegensatz zwischen der Begeisterung, mit der neue geschichtliche Wirklichkeiten erwartet und geschaffen werden, und den Opfern, die für ihre Erfüllung gebracht werden, […] und der tiefen existentiellen Enttäuschung […], wenn das Ergebnis den Erwartungen nicht entspricht […]. In diesen Schwankungen kommt die Zweideutigkeit der Selbst-Transzendierung der Geschichte deutlich zum Ausdruck […].²⁵⁰
Somit vollzieht sich die geschichtliche Selbst-Transzendierung im Rahmen der fundamentalen Zweideutigkeit des geschichtlichen Prozesses, in welcher er auf sein endgültiges Ziel zuläuft und dieses gleichzeitig verneint, so dass sich auch hier die Frage nach der Möglichkeit einer unzweideutigen Selbst-Transzendierung jenseits der profanisierenden oder dämonischen Kräfte stellt. Nach Lauster intendiert die erläuterte strukturelle Einbettung der Geschichte in die Prozesse des Lebens „keine vitalistische oder gar biologistische Theorie der Geschichte. Vielmehr dient die Integration in die Philosophie des Lebens dazu, die existentielle Dimension der Geschichte herauszustreichen.“²⁵¹ Dieser Einschätzung schließen sich die vorliegenden Ausführungen an. Die Betonung der existentiellen Dimension der Geschichte wird auch darin deutlich, dass Tillich sie ausdrücklich in Bezug auf das Individuum herausarbeitet:
248 Vgl. ebd., 394 [345]. 249 Ebd., 394f. [345f.]. 250 Ebd. 251 Lauster: Die Geschichte und die Frage nach dem Reich Gottes, 271.
108 | 3 Die Geschichte und die Frage nach ihrem Sinn
Auch der einzelne Mensch als Mitglied „einer geschichtstragenden Gruppe“²⁵² eines politischen Systems²⁵³ vollzieht sein Leben innerhalb der alles Leben umfassenden geschichtlichen Zweideutigkeit, weil die „Geschichte […] für jeden die physischen, gesellschaftlichen und geistigen Bedingungen seiner Existenz [schafft]. Niemand […] steht außerhalb der Geschichte, und niemand kann sich ihr entziehen.“²⁵⁴ Darüber hinaus gibt es „eine Zweideutigkeit in der Rolle des Einzelnen in der Geschichte, die in allen politischen Systemen hervortritt. Sie äußert sich als Abwendung des Einzelnen von der Geschichte, als Verzicht auf Teilnahme an der Geschichte […]“²⁵⁵, welche sich jedoch als solche nicht verwirklichen lässt, da der einzelne Mensch auch in seiner Abwendung von der Geschichte wesentlich Teil der sich auf ihr endgültiges Ziel bewegenden Geschichte bleibt, auch wenn er diese Partizipation verneint. Denn die Selbst-Welt-Korrelation als ontologische Struktur, aufgrund derer sich alles endliche Seiende in den ontologischen Spannungen von Individualisation und Partizipation, Dynamik und Form sowie Freiheit und Schicksal vollzieht, kann von einem endlich Seienden als solche nicht aufgehoben werden.²⁵⁶ Die Wurzel der das Leben entfremdenden Zweideutigkeiten, durch die es sich im Angesicht von Desintegration, Zerstörung und Profanisierung vom Nicht-Sein bedroht sieht, liegt in einer solchen Verneinung der ontologischen Struktur des Endlichen und damit in einer NichtAnerkennung der Endlichkeit, was sich beispielsweise dann ereignet, wenn der einzelne Mensch sich von der Geschichte abzuwenden sucht, ein Imperium oder auch eine religiöse Macht das dritte Stadium für sich beansprucht oder in irgendeiner anderen Form Endliches mit dem Unendlichen, Vorläufiges mit dem Endgültigen, Bedingtes mit dem Unbedingten identifiziert wird. Da jedoch der Einzelne am universalen Schicksal der Entfremdung des endlich Seienden im Zusammenhang der Geschichte, welche die Bedingungen seiner Existenz schafft, partizipiert, erweist sich der Versuch, eben jene Entfremdung im Rahmen der endlich-geschichtlichen Existenz aufzuheben, gleichermaßen als Verneinung der ontologischen Grundstruktur und den Bedingungen des endlich Seienden.²⁵⁷
252 Tillich: ST III, 395 [346]. 253 Vgl. zum Vorrang der politischen Dimension der Geschichte auch Unterabschn. 3.1.1 dieser Arbeit. 254 Tillich: ST III, 395 [346]. 255 Ebd., 397 [347f.]. In der englischen Ausgabe heißt es im letzten Satz des Zitats: „They [the ambiguities of the individual in history] can be summed up in the ambiguity of historical sacrifice.“ Vgl. zur Thematik des geschichtlichen Opfers auch Abschn. 4.3 dieser Arbeit. 256 Vgl. zur Unaufhebbarkeit der ontologischen Grundstruktur auch Abschn. 2.1 dieser Arbeit. 257 Vgl. zum Verständnis der Entfremdung bei Tillich und zur christlichen Auffasung der Sünde auch Unterabschn. 2.3.1, Unterabschn. 3.1.1 sowie Abschn. 5.1 dieser Arbeit.
3.2 Die Zweideutigkeiten des Lebens in der geschichtlichen Dimension | 109
Aufgrund der ontologischen Grundstruktur ist das Schicksal der Entfremdung des Lebens, was christlich mit dem Symbol des Falls²⁵⁸ bezeichnet wird, universal. Alles endlich Seiende ist im Gesamtzusammenhang der Geschichte den entfremdungsbedingten Zweideutigkeiten des Lebens unterworfen. Das gilt mit Blick auf die Gefahr des Anspruches auf absolute Gültigkeit demnach auch für die Religionen. Wie bereits geschildert ist nach Tillich nicht das Christentum als kulturelles Phänomen absolut, sondern ausschließlich Jesus Christus als unverzerrte Manifestation des essentiellen Seins unter den Bedingungen der Existenz. Die christlich antizipierte Erfahrung eben jener Überwindung des Zwiespalts von essentiellem und existentiellem Sein als qualitatives, jedoch nicht quantitatives Ende der Geschichte muss demnach im endlich-geschichtlichen Kontext bis zur universalen Erfüllung der Geschichte in Form der transzendenten Einheit unzweideutigen Lebens fragmentarisch bleiben.²⁵⁹ Diese fragmentarische Erfahrung der transzendenten Einheit unzweideutigen Lebens lässt sich aufgrund der im Glauben an Jesus Christus möglichen „Unterscheidung zwischen dem Zweideutigen und dem Fragmentarischen […] uneingeschränkt […] bejahen […], obgleich wir uns dessen bewußt bleiben, daß in dem Akt der Bejahung […] selbst die Zweideutigkeit des Lebens wieder hervortritt.“²⁶⁰ Nach Tillich bildet deshalb die Bejahung der Unterscheidung des Fragmentarischen und Zweideutigen die Voraussetzung für die (Selbst-)kritik der Religion im Hinblick auf die Zweideutigkeiten des Lebens. Diesen Gedanken formuliert Tillich bereits 1926 in Kairos II: „Nur wo Religion ist, ist das göttliche Nein über die Religion vernehmbar. Verkündigung der Krisis ist Korrektiv und nicht möglich ohne Substanz.“²⁶¹ So erscheint im Lichte dieser alles umfassenden Zweideutigkeit deren Aufhebung und die unzweideutige Erfüllung allen Lebens gemäß Tillich als das die Geschichte transzendierende Ziel, welches in der Geschichte aufgrund der ontologischen Grundstruktur alles endlich Seienden selbst nicht zu verwirklichen ist, weshalb sich im Rahmen jedes Geschichtsverständnisses grundsätzlich die Frage stellt: „Was bedeutet die Geschichte für den Sinn der Existenz überhaupt?“²⁶²
258 Vgl. zu Tillichs Verständnis des Falls als Übergang von der Essenz zur Existenz bzw. der Potentialität zur Aktualität auch Unterabschn. 3.1.1 dieser Arbeit. 259 Vgl. zu Tillichs Auffasung von Jesus Christus als qualitativem, jedoch nicht quantitativem Ende der Geschichte auch Unterabschn. 3.1.2 dieser Arbeit. 260 Tillich: ST III, 167 [140]. Vgl. ausführlicher zu Tillichs Glaubensverständnis Abschn. 4.1 dieser Arbeit. 261 Ders.: Kairos II, 37. 262 Ders.: ST III, 397 [348].
110 | 3 Die Geschichte und die Frage nach ihrem Sinn
3.3 Geschichtsverständnisse und die Frage nach dem Reich Gottes Gemäß Tillich hat aufgrund des subjektiv-objektiven Charakters der Geschichte „[j]ede Legende, jede Chronik, jeder Bericht vergangener Ereignisse, jedes gelehrte historische Werk“²⁶³ ein interpretatives Element, weshalb Tillich in diesem Zusammenhang auch von „Geschichtsdeutung“²⁶⁴ spricht. Da sich jedoch in Tillichs Verständnis der subjektiv-objektive Charakter als ein zentrales Wesensmerkmal der Geschichte erweist und der Begriff „Deutung“ nahelegt, dass ein vorliegendes Faktum subjektiv gedeutet wird, soll im Folgenden nach Möglichkeit der Begriff „Geschichtsverständnis“ anstelle von „Geschichtsdeutung“ vorgezogen werden, um die Gleichzeitigkeit des subjektiven wie auch des objektiven Elementes hinsichtlich der Geschichte oder auch Geschichtsschreibung auszudrücken.²⁶⁵ Eben jenes subjektive oder auch interpretative Element schließt nach Tillich folgendes ein: die Auswahl der Tatsachen nach dem Kriterium ihrer Wichtigkeit, die Bewertung kausaler Zusammenhänge, ein Bild von der Struktur der Person und der Gemeinschaft, eine Theorie über das Handeln von Einzelnen, Gruppen und Massen, eine soziale und politische Philosophie und – dem allen zugrunde liegend, ob eingestanden oder nicht, – eine Deutung [ein Verständnis, C.D.] des Sinnes der Geschichte als Teil einer Sinndeutung [eines Sinnverständnisses, C.D.] der Existenz überhaupt. […] Diese gegenseitige Abhängigkeit von historischem Wissen und historischem Verstehen sollte von jedem erkannt werden, der sich mit Geschichte beschäftigt.²⁶⁶
Daher stellt sich die Frage, auf welche Weise die Fragen nach der Bedeutung der Geschichte für den Sinn der Existenz sowie dem Sinn der Geschichte als solchem beantwortet werden können, denn: „Der subjektiv-objektive Charakter der Geschichte schließt eine objektive, sachliche Antwort im Sinne wissenschaftlicher Deutung aus“²⁶⁷, weil alle „geschichtlichen Gruppen […] partikulare Gruppen [sind], und die Teilnahme an ihrem geschichtlichen Handeln […] eine partikulare Auffassung vom Ziel des geschichtlichen Handelns mit sich [bringt].“²⁶⁸
263 Tillich: ST III, 398 [348]. 264 Ebd. In der englischen Ausgabe heißt es „interpretation of history“. 265 Vgl. zum interpretativen Element der Geschichte nach Tillich auch Unterabschn. 3.1.1 dieser Arbeit. 266 Tillich: ST III, 398 [348]. 267 Ebd., 398 [349]. 268 Ebd., 399 [kursiv C.D.] [349].
3.3 Geschichtsverständnisse und die Frage nach dem Reich Gottes | 111
Gleichzeitig aber erheben die genannten Fragen „Anspruch auf Universalität“²⁶⁹, indem die Geschichte als umfassendster Lebensprozess alle anderen Dimensionen des Lebens einschließt, so dass „die Antwort auf die Frage nach dem Sinn der Geschichte eine Antwort auf die Frage nach dem universalen Sinn des Seins [enthält].“²⁷⁰ Tillich folgend liegt der Schlüssel für „das [universale, C.D] Verständnis der Geschichte“²⁷¹ einer partikularen Gruppe im jeweiligen „Sendungsbewußtsein der Gruppe“²⁷², durch das sie ihre Partikularität auf ein universales Ziel hin transzendiert, weshalb wegen des subjektiv-objektiven Charakters der Geschichte das „Sendungsbewußtsein in einer bestimmten geschichtlichen Gruppe und das Geschichtsbild, das in diesem Bewußtsein mitgegeben ist, […] zusammen [gehören].“²⁷³ Wenn nun die im Rahmen des Geschichtsverständnisses oder auch Geschichtsbildes implizit oder explizit gegebenen Antworten von partikularen Gruppen im Zuge des jeweiligen Sendungsbewusstseins Anspruch auf Universalität erheben, ist zu fragen, wie eine „besondere Auffassung von dem inneren Ziel der Geschichte […] gerechtfertigt werden [kann].“²⁷⁴ Weil im Sinne Tillichs der subjektiv-objektive Charakter einem Geschichtsverständnis wesentlich ist, der einzelne Mensch grundsätzlich zu einer geschichtlichen Gruppe gehört und sich niemand der Geschichte als solcher entziehen kann, ist ein interpretatives Element auch Bestandteil der genannten Problemstellung. Die Problemstellung der Rechtfertigung einer besonderen Auffassung des universalen Zieles der Geschichte folgt in Bezug auf Tillich im Rahmen dessen, was er den „theologischen Zirkel[ ]“²⁷⁵ nennt, dem christlichen Sendungsbewusstsein, da Tillich in seiner systematischen Theologie die existentiellen Fragen des Menschseins unter dem Eindruck der im christlichen Offenbarungsverständnis gegebenen Antworten stellt und die christlichen Antworten im Lichte der existentiellen Fragen ausführt. Nach Tillich ist ein solcher „Zirkel […] unvermeidlich, sobald die Frage nach dem letzten Sinn der Geschichte gestellt wird“²⁷⁶, denn sie kann ausschließlich aus einem partikularen Geschichtsverständnis, das sich selbst auf ein universales Ziel der Geschichte hin transzendiert, aber in seiner
269 Ebd., 399 [349]. [kursiv C.D.]. 270 Ebd. [kursiv C.D.]. 271 Ebd. In der englischen Fassung heißt es hier: „history as a whole“. 272 Ebd. Vgl. zu Tillichs Verständnis des Sendungsbewusstseins einer geschichtlichen Gruppe auch Unterabschn. 3.1.1 dieser Arbeit. 273 Ebd. 274 Ebd., 400 [350]. 275 Ebd., 399 [349]. Vgl. zu Tillichs Verständnis eines solchen Zirkels auch Unterabschn. 2.3.2 dieser Arbeit. 276 Ebd.
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Partikularität nicht aufhebt, formuliert werden. Aus diesem Grunde erörtert Tillich die Frage nach der Rechtfertigung des Anspruches auf Universalität eines besonderen Geschichtsverständnisses in Bezug auf das christliche Geschichtsverständnis, aus dem sich aufgrund der Zweideutigkeit allen Lebens auch die genannten existentiellen Fragen nach dem Sinn der Geschichte ergeben haben²⁷⁷: „Im christlichen Sendungsbewußtsein wird die Geschichte so gesehen, daß die Fragen, die mit der Zweideutigkeit des Lebens in der geschichtlichen Dimension gegeben sind, in dem Symbol ‚Reich Gottes‘ ihre Antwort finden.“²⁷⁸ Ein die Grundlinien der christlichen Antwort „Reich Gottes“ auf die Frage nach dem Sinn der Geschichte anhand einiger der Systematischen Theologie vorausgehender Schriften Tillichs sowie des fünften Teils des dritten Bandes der Systematischen Theologie erarbeitender Beitrag, in dem Tillichs Geschichtsverständnis von diversen philosophischen Verständnissen (u.a. dem deutschen Idealismus und Heidegger) abgegrenzt wird, findet sich bei Rosenau.²⁷⁹ Rosenau bezieht sich hier weitestgehend nicht auf Tillichs Verständnis der Geschichte als umfassendstem Lebensprozess, der sich im Rahmen der ontologischen Grundstruktur alles Geschöpflichen vollzieht und von Tillich im Gesamtzusammenhang seiner Systematischen Theologie entfaltet wird. Möglicherweise konstatiert Rosenau deshalb die Ermangelung einer expliziten anthropologischen Fundierung der Geschichtstheologie Tillichs.²⁸⁰ Dieser Position können sich die vorliegenden Ausführungen nicht anschließen, da Tillich die Geschichte wie dargestellt als umfassendsten Lebensprozess versteht und an die im Menschen explizit gewordene Dimension des Geistes bindet, so dass Geschichtstheologie und Anthropologie bei Tillich irreduzibel aufeinander verwiesen sind. Zu einem ähnlichen Urteil kommt auch Danz: „Die Geschichte ist für Tillich die Dimension, in der sich das Leben vollzieht und die den Horizont des Gottesverhältnisses darstellt.“²⁸¹ Deshalb soll die anthropologische Fundierung mit Bezug auf die ontologische Grundstruktur, die Erfahrung des Neuen Seins als Rechtfertigung des Sünders im Sinne des protestantischen Prinzips im Rahmen dieser Arbeit mit einbezogen werden.²⁸²
277 Vgl. zu den sich aus der Geschichte in Bezug auf die ontologischen Kategorien ergebenden Fragen Unterabschn. 3.1.2 sowie den sich hinsichtlich des Lebensprozesses ergebenden Fragen Abschn. 3.2 dieser Arbeit. 278 Tillich: ST III, 399 [349f.]. 279 Rosenau: Das Reich Gottes als Sinn der Geschichte (1999). 280 Ebd., 81. Eine ähnliche Bearbeitung des Reiches Gottes als Sinn der Geschichte von Rosenau ist: Ders.: Das Reich Gottes als Sinn der Geschichte (2004). 281 Danz: Das Reich Gottes als Ziel der Geschichte, 208. 282 Vgl. hierzu Kap. 2, Abschn. 5.2 sowie Abschn. 6.2 dieser Arbeit.
3.3 Geschichtsverständnisse und die Frage nach dem Reich Gottes |
113
Wird die Geschichte als umfassendster Lebensprozess verstanden, dann bedeutet dies, dass „das ‚Reich‘ das Leben in allen Bereichen umfaßt, oder daß alles Seiende an dem Streben nach dem inneren Ziel der Geschichte teilhat: der Erfüllung der Selbst-Transzendierung.“²⁸³ Eben jene Beschreibung und Rechtfertigung des Universalitätsanspruches der christlichen Antwort auf die Frage nach dem Sinn der Geschichte, die in der Unbedingtheit der Manifestation des Neuen Seins in Jesus Christus unter den Bedingungen der Existenz liegt, ist wie jedes kulturelle Phänomen in seiner Partikularität den Zweideutigkeiten des Lebens und der Entfremdung unterworfen. Daher erfolgt Tillichs Erörterung des christlichen Geschichtsverständnisses in seinem subjektiv-objektiven Charakter in Abgrenzung zu anderen möglichen Typen, wobei diese Abgrenzung im Sinne des theologischen Zirkels auf den zentralen Merkmalen der christlichen Antwort auf den Sinn der Geschichte – Reich Gottes – beruht, die Tillich als Kriterien für den Vergleich heranzieht und die sich im Anschluss an die folgende Darstellung von Tillichs Typologie von Geschichtsverständnissen aus eben jener extrahieren und erörtern lassen. Tillich unterscheidet grundsätzlich zunächst zwischen ungeschichtlichen und geschichtlichen Typen von Geschichtsverständnissen: Der ungeschichtliche Typ, den wir zuerst beschreiben wollen, beruht auf der Annahme, daß der Ablauf der geschichtlichen Zeit weder innerhalb noch jenseits der Geschichte ein Ziel habe, sondern daß die Geschichte der „Ort“ sei, an dem einzelne Wesen ihr Leben leben, ohne Bewußtsein von einem ewigen Ziel ihres persönlichen Lebens. […] Man kann drei verschiedene Formen dieser ungeschichtlichen Auffassung von der Geschichte unterscheiden: die tragische, die mystische und die mechanistische.²⁸⁴
a) In Tillichs Verständnis der tragischen Geschichtsauffassung „bewegt sich die Geschichte nicht auf ein geschichtliches oder übergeschichtliches Ziel zu, sondern sie bewegt sich im Kreis zu ihrem Anfang zurück.“²⁸⁵ In einer solchen kosmischen Kreisbewegung gibt es „Perioden […], die in ihrer Gesamtheit einen Prozeß des Verfalls darstellen, der mit ursprünglicher Vollkommenheit beginnt und gradweise zu einem Zustand äußerster Entstellung dessen führt, was Welt und Mensch ihrem Wesen nach sind.“²⁸⁶ Dementsprechend erweist es sich für Tillich als zentrales Merkmal dieses Typus, dass die „Größe des Lebens in der Natur, im Leben der Völker und einzelner Menschen […] gepriesen
283 Tillich: ST III, 400 [350]. In der englischen Fassung heißt es hier statt „Erfüllung der SelbstTranszendierung“: „fulfilment or ultimate sublimation“. 284 Ebd., 400 [kursiv C.D.] [350]. 285 Ebd., 400 [350f.]. 286 Ebd., 400f. [351].
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[wird]“²⁸⁷ und „seine Kürze, sein Elend und seine Tragik beklagt [werden]“²⁸⁸. Da es „nichts jenseits oder über diesem Zeitablauf [gibt], der selbst durch das Schicksal bestimmt ist“²⁸⁹, gibt es keine Hoffnung, keine Erwartung einer immanenten oder transzendenten Erfüllung der Geschichte. […] Die Zweideutigkeit des Lebens wird nicht überwunden; es gibt keinen Trost für die desintegrierende, zerstörerische, profanisierende Seite des Lebens, und die einzige Kraftquelle ist der Mut, der den Helden und Weisen über die Unbeständigkeit der geschichtlichen Existenz erhebt.²⁹⁰
Deshalb bezeichnet Tillich diesen ungeschichtlichen Typus von Geschichtsauffassungen, für die er das klassische Griechentum als Beispiel nennt, als „tragisch“.²⁹¹ b) Nach dem mystischen Geschichtsverständnis ist Tillich folgend „die geschichtliche Existenz ohne Sinn in sich selbst. Der Mensch muß in ihr leben und muß vernünftig handeln; aber die Geschichte selbst kann weder das Neue schaffen, noch ist sie wahrhaft wirklich.“²⁹² Daher verlangt eine solche Geschichtsauffassung, daß wir uns über die Geschichte erheben, während wir in ihr leben […]. Daraus folgt wiederum, daß die Zweideutigkeiten des Lebens, die in allen Dimensionen herrschen nicht überwunden werden können. Es gibt nur eine Möglichkeit, ihrer Herr zu werden: sie zu transzendieren und mit ihnen zu leben als einer, der bereits zu dem „letzten Einen“ zurückgekehrt ist. Wem das gelingt, der hat die Wirklichkeit nicht verwandelt, sondern hat sich von der Verstrickung in ihr befreit.²⁹³
Als Beispiele für den mystischen Typus der Geschichtsauffassung verweist Tillich auf den Neuplatonismus, den Spinozismus, den Vedanta-Hinduismus und den Buddhismus.²⁹⁴ Da die Geschichte gemäß dieses Typus „kein Ziel, weder in der Zeit noch in der Ewigkeit“ hat, enthalten „diese Religionen [k]einen
287 Tillich: ST III, 401 [351]. 288 Ebd. 289 Ebd., 400 [351]. 290 Ebd., 401 [351]. 291 Ein zeitgenössisches Beispiel für diesen Typus der Geschichtsauffassung findet sich in der bereits erwähnten Science Fiction Serie Battlestar Galactica. Vgl. hierzu im Zusammenhang der Frage nach dem Ende des geschichtlichen Menschen Unterabschn. 3.1.1 dieser Arbeit. 292 Tillich: ST III, 401 [351]. 293 Ebd., 401 [351f.]. 294 Ein solcher Typ findet sich auch bei dem zeitgenössischen Philosophen Dieter Henrich. Vgl. hierzu: Henrich, Dieter: Denken und Selbstsein. Vorlesungen über Subjektivität, Frankfurt / Main 2007. Eine Besprechung dieses philosphischen Entwurfs in Bezug auf die Überwindung der
3.3 Geschichtsverständnisse und die Frage nach dem Reich Gottes |
115
Ansporn, die Geschichte auf das Ziel einer universalen Menschlichkeit und Gerechtigkeit hin zu verwandeln. […] Aber man findet oft ein tiefes Mitleiden für das universale Leid in allen Dimensionen des Lebens […].“²⁹⁵ c) Neben dem tragischen und dem mystischen lässt sich nach Tillich noch von einem mechanistischen Typ der ungeschichtlichen Geschichtsauffassung sprechen, in welchem die physikalische Zeit […] in der Analyse der Zeit so beherrschend [ist], daß die besonderen Qualitäten der biologischen, und erst recht der geschichtlichen Zeit übersehen werden. Die Geschichte ist zu einer Reihe von Geschehnissen im physikalischen Raum geworden, die interessant sind und wert, verzeichnet und erforscht zu werden, aber nicht zum Verständnis der menschlichen Existenz als solcher beitragen. […] Da sie in enger Beziehung zu der wissenschaftlichen und technischen Naturbeherrschung steht, hat sie oft fortschrittsgläubigen Charakter.²⁹⁶
Somit versteht der mechanistische Typus die Geschichte nicht „als einen Prozeß, der sich auf ein innergeschichtliches oder übergeschichtliches Ziel hinbewegt.“²⁹⁷ Im Gegensatz zum ungeschichtlichen Typus von Geschichtsauffassungen gehen geschichtliche Weisen der Geschichtsauffassung im Sinne Tillichs davon aus, dass sich der Ablauf der geschichtlichen Zeit entweder innerhalb oder aber jenseits der Geschichte auf ein Ziel hinbewegt. Hier unterscheidet Tillich ebenfalls drei Formen: den fortschrittsgläubigen, den utopischen und den transzendentalistischen Typ.²⁹⁸ a) Fortschrittsglaube erweist sich für Tillich dann als geschichtliche Form eines Geschichtsverständnisses, wenn „‚Fortschritt‘ mehr als eine empirische Tatsache [bedeutet]“²⁹⁹, anders als im ungeschichtlichen mechanistischen Verständnis der Geschichte. Im Forschrittsgedanken als geschichtlicher Auffassung der Geschichte ist Fortschritt „zu einem quasi-religiösen Symbol geworden […], obwohl sein Ziel innergeschichtlich ist“³⁰⁰, indem sich sein Glaube auf „den Fortschritt als endlosem Prozeß“³⁰¹ bezieht, wonach „WirkExistenz durch die Verwandlung der Welt in synthetisierendem Denken: Drobe: Menschsein als Selbst- und Fremdbestimmung, 11–36, 392–412. 295 Tillich: ST III, 402 [352]. 296 Ebd. 297 Ebd. 298 Vgl. zu ebendiesen Typen ebd., 402ff. [352ff.]. 299 Ebd., 403 [353]. 300 Ebd. 301 Ebd.
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lichkeit [ausschließlich] die niemals beendete Schöpfung des kulturellen Schaffens des Menschen [ist]. Hinter dieser Schöpfung gibt es keine ‚Wirklichkeit‘ an sich. […] Die treibende Kraft ist die Negation, die […] eine unendliche Offenheit der Zukunft voraussetzt und Fortschritt selbst für Gott fordert.“³⁰² Ein solcher Fortschrittsgedanke erhebt Fortschritt „zu einem universalen Gesetz“³⁰³, einem Gesetz, „das für alle Dimensionen des Lebens gilt, aber erst in der menschlichen Geschichte sich seiner bewußt wird.“³⁰⁴ Tillich folgend verdankt dieser „Fortschrittsglaube als Glaube an endlosen Fortschritt als solchen ohne bestimmtes Ziel […] seine Entstehung der idealistischen Richtung in der philosophischen Selbst-Interpretation der modernen IndustrieGesellschaft“³⁰⁵, für den für Tillich der Neukantianismus wie auch die „positivistische Richtung der Philosophie des 19. Jahrhunderts – wie Comte und Spencer […]“³⁰⁶ als zentrales Beispiel fungieren. b) Die utopische Geschichtsauffassung, die gemäß Tillich „aus derselben Wurzel stammt“³⁰⁷, ist „Fortschrittsglaube mit einem bestimmten Ziel, nämlich dem Ziel, das Stadium der Geschichte zu erreichen, in dem die Zweideutigkeiten des Lebens überwunden sind.“³⁰⁸ Dabei liegt die Stoßkraft der Utopie […] in ihrer Intensivierung des Fortschrittsgedankens. Aber sie unterscheidet sich von diesem durch den Glauben, daß durch gegenwärtiges revolutionäres Handeln die endgültige Umgestaltung der Wirklichkeit herbeigeführt und das Stadium der Geschichte erreicht werde, in dem der ou-topos (Nicht-Ort) zum universalen Ort der Geschichte wird. […] Und es ist der Mensch, der Mikrokosmos, in dem alle Dimensionen des Universums verkörpert sind, der die Erde in den Ort der Erfüllung verwandeln soll, die im „Paradies“ bloße Potentialität war.³⁰⁹
302 Tillich: ST III, 403 [353]. 303 Ebd. 304 Ebd., 404 [353]. Vgl. zur Frage des Fortschritts in der geschichtlichen Dynamik auch Unterabschn. 3.1.3 dieser Arbeit. 305 Ebd., 403 [353]. 306 Ebd., 403f. [353]. Ein weiterer im modernen Science Fiction Genre angesiedelter unendlicher Fortschrittsgedanke findet sich in Star Trek – The next Generation, sowohl in der Serie (Roddenberry, Gene (Idee), USA 1987–1997), als auch in den Filmen (ders., USA 1994–2002), der vor allem durch die humanistische Hauptfigur von Kapitän Jean-Luc Picard vertreten wird. Vgl. hierzu auch: Fritsch, Matthias: Die Götter des Gene Roddenberry. Zur religiösen Signatur der Science-FictionMarke „Star Trek“, in: Herder Korrespondenz 57.3 (2003), 146–151 sowie Laube, Martin: Auf der Suche nach dem Endlichen im Unendlichen. Star Trek und die Religion, in: Ders. (Hg.): Himmel – Hölle – Hollywood. Religiöse Valenzen im Film der Gegenwart, Münster 2002, 193–210. 307 Tillich: ST III, 404 [354]. 308 Ebd. Vgl. hierzu auch das Symbol des dritten Stadiums in Unterabschn. 3.1.2 dieser Arbeit. 309 Ebd.
3.3 Geschichtsverständnisse und die Frage nach dem Reich Gottes |
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Tillich sieht solch eine utopische Geschichtsauffassung in den „vielen Formen des säkularen Utopismus der Neuzeit“³¹⁰ verwirklicht, der für ihn auf den „Ideen der Renaissance“³¹¹ gründet, wobei für ihn der Utopismus gerade „in den Entwicklungen des 20. Jahrhunderts“³¹² durch „Zynismus, Gleichgültigkeit der Massen, des gespaltenen Bewußtseins der führenden Gruppen, des Fanatismus und der Tyrannei“³¹³ seine Problematik offenlegt, denn Utopismus, wenn er wörtlich verstanden wird, ist Abgötterei. Er macht etwas Vorläufiges zum Endgültigen. Er macht etwas Bedingtes (die zukünftige geschichtliche Situation) zum Unbedingten und übersieht dabei die unvermeidliche existentielle Entfremdung und die Zweideutigkeiten des Lebens und der Geschichte. Das macht die utopische Geschichtsauffassung unzulänglich und gefährlich.³¹⁴
c) Den dritten geschichtlichen Typ von Geschichtsauffassungen nennt Tillich den transzendentalistischen Typ, der für ihn „in der eschatologischen Stimmung des Neuen Testaments und der frühen Kirche bis zu Augustin hin enthalten und […] in seiner radikalen Form vom orthodoxen Luthertum geprägt worden [ist].“³¹⁵ Nach dieser Geschichtsauffassung ist die Geschichte der Ort, an dem nach der Vorbereitung durch das Alte Testament der Christus erschienen ist, um den einzelnen Menschen innerhalb der Kirche aus der Knechtschaft der Sünde und der Schuld zu befreien und würdig zu machen, nach dem Tode am Himmelreich teilzuhaben. Geschichtliches Handeln […] kann weder innerlich noch äußerlich von der Zweideutigkeit der Macht befreit werden. […] Nachdem die Geschichte zum Schauplatz erlösender Offenbarung geworden ist, kann nichts wesentlich Neues mehr in ihr erwartet werden.³¹⁶
Obwohl im Sinne Tillichs die transzendentalistische Geschichtsauffassung in der christlichen Theologie „ein notwendiges Gegengewicht gegen die Gefahr
310 Ebd., 404f. [354]. 311 Ebd., 404 [354]. 312 Ebd., 405 [354]. 313 Ebd., 405 [355]. 314 Ebd. Vgl. zum Verhältnis des Vorläufigen zum Endgültigen bei Tillich Unterabschn. 3.1.1 sowie Abschn. 3.2 dieser Arbeit. Vgl. zu ähnlichen Beschreibungen des Utopismus auch: Ders.: Kairos II, 34f. Vgl. zur Problematik der Abgötterei oder auch des Götzendienstes auch Abschn. 6.3 dieser Arbeit wie auch Schwöbel, Christoph: Du sollst keine anderen Götter haben neben mir. Zur Aktualität des Problems des Götzendienstes in der postmodernen Gesellschaft, in: Ders.: Gott im Gespräch, 355–378. 315 Tillich: ST III, 405 [355]. 316 Ebd., 405f. [355].
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des weltlichen wie des religiösen Utopismus [ist]“³¹⁷, weil sie davor bewahrt, Vorläufiges mit Endgültigem zu identifizieren, birgt sie Tillich folgend den Nachteil, dass sie die Erlösung des Einzelnen in Gegensatz stellt zu dem Schicksal der geschichtlichen Gruppe und des Universums und auf diese Art das eine vom anderen trennt. […] Ein weiterer Nachteil […] ist die Art, wie sie das Reich der Erlösung dem Reich der Schöpfung entgegenstellt. Macht an sich ist ein geschaffenes Gut und ein Element in der essentiellen Struktur des Lebens. Wenn sie jedoch von der Erlösung ausgeschlossen ist – wie fragmentarisch die Erlösung auch sein mag –, dann ist auch das Leben selbst von der Erlösung ausgeschlossen.³¹⁸
Daher erweist sich der transzendentalistische Typ von Geschichtsauffassungen gemäß Tillich „also als unzulänglich, weil er Kultur wie Natur von den erlösenden Kräften in der Geschichte ausschließt.“³¹⁹ Aus Tillichs Typisierung der drei ungeschichtlichen und der drei geschichtlichen Typen von Geschichtsverständnissen, die er in Bezug auf den Sinn der Geschichte auch als „[n]egative Antworten auf die Frage nach dem Sinn der Geschichte“³²⁰ und „[p]ositive Antworten, aber unzulängliche Antworten auf die Frage nach dem Sinn der Geschichte“³²¹ qualifiziert, gehen seine Kriterien für die Zulänglichkeit eines Geschichtsverständnisses, welche sich aus seinem christlichen Geschichtsverständnis aus dem theologischen Zirkel ergeben, hervor: – Gemäß Tillichs Auffassung hat ein Geschichtsverständnis die Frage nach dem Sinn der Geschichte zunächst einmal zu bejahen, um den Horizont einer Überwindung der Zweideutigkeiten des Lebens zu eröffnen. Eine solche Auffassung beruht auf der grundsätzlichen Anerkennung der Zweideutigkeiten des Lebens wie auch der Differenz von Essenz und Existenz,³²² welche aus Tillichs Perspektive von den ungeschichtlichen Geschichtsverständnissen, dem tragischen, dem mystischen und dem mechanistischen Typus, nicht vollzogen wird.
317 Tillich: ST III, 406 [355]. 318 Ebd., 406 [355f.]. Vgl. zum Verhältnis von Fragmentarischem und Zweideutigem Abschn. 3.2 dieser Arbeit. Vgl. zur erlösenden Kraft der Gnade in Bezug auf das Verhältnis von Einzelnem und Geschichte auch: Herms: Schuld in der Geschichte, 370. 319 Tillich: ST III, 406 [356]. Eine ähnliche Kategorisierung von Geschichtsauffassungen nimmt Tillich bereits 1922 in seiner Schrift Kairos I Ders.: Kairos I, in: Ders.: GW VI, 9–28 vor. Vgl. dazu die Ausführungen zum Geschichtsbewusstsein des Kairos in Abschn. 6.2 dieser Arbeit. 320 Ders.: ST III, 400 [350]. 321 Ebd., 402 [352]. 322 Vgl. hierzu ausführlich Abschn. 2.3 sowie Unterabschn. 2.3.1 dieser Arbeit.
3.3 Geschichtsverständnisse und die Frage nach dem Reich Gottes |
119
– Des weiteren steht ein Geschichtsverständnis nach Tillich vor der Herausforderung, Vorläufiges nicht mit Endgültigem, Bedingtes nicht mit dem Unbedingten zu identifizieren, da eben jene Identifikation die Endlichkeit des Lebens im Angesicht des Unendlichen sowie das Ausmaß der existentiellen Entfremdung von den essentiellen Potentialitäten des Lebens verkennt. Dieser Gefahr unterliegen in Tillichs Verständnis ein quasi-religiöser Fortschrittsglaube wie auch die verschiedenen Formen des Utopismus. – Darüber hinaus darf ein Geschichtsverständnis zugunsten der transzendenten, endgültigen Überwindung der existentiellen Zweideutigkeit das existentielle Leben nicht von den erlösenden Kräften ausschließen, weil dergestalt Tillich folgend „die Gefahr des Manichäismus“³²³ besteht, indem eine unüberwindbare Dualität von Essenz und Existenz zu bestehen scheint und „in dieser Anschauung das Symbol ‚Reich Gottes‘ als eine statische, übernatürliche Ordnung betrachtet [wird], in die einzelne Menschen nach dem Tode eingehen.“³²⁴ Ein solches Geschichtsverständnis formuliert Tillich bereits in Kairos II von 1926 als Folge „der Auseinandersetzung mit der Utopie“³²⁵ in Form der „Idee des Kairos“³²⁶, die „das Hereinbrechen der Ewigkeit in die Zeit […], aber […] zugleich das Bewußtsein, daß es keinen Zustand der Ewigkeit in der Zeit geben kann, daß das Ewige wesensmäßig das in die Zeit Hereinbrechende, aber nie das in der Zeit Fixierbare ist“³²⁷, enthält. Demnach ergibt sich aus den genannten Kriterien für die Zulänglichkeit das Anforderungsprofil für Tillichs Explikation des Symbols „‚Reich Gottes‘ als die Antwort auf die Frage nach dem Sinn der Geschichte“³²⁸: In ihm ist die Frage nach dem Sinn der Geschichte in Gestalt der ausstehenden Überwindung der Zweideutigkeiten des Lebens zu bejahen und die Differenz von Endlichem und Unendlichem in einer Weise zu wahren, die weder das Bedingte mit dem Unbedingten identifiziert noch das Bedingte von der Teilhabe am Unbedingten ausschließt, so dass die Geschichte als solche schon jetzt an ihrem Ziel, der Erfüllung der essentiellen Potentialitäten des Lebens in Form der Teilnahme an der transzendenten Einheit unzweideutigen Lebens als bewusste Einheit von Existenz und Essenz partizipiert.³²⁹
323 324 325 326 327 328 329
Tillich: ST III, 406 [356]. Ebd. Vgl. zur Idee des Kairos in der Systematischen Theologie Abschn. 4.1 dieser Arbeit. Ders.: Kairos II, 35. Ebd. Ebd. Ders.: ST III, 407 [356]. Vgl. zu dieser Formulierung des Ziels der Geschichte auch Unterabschn. 3.1.1 dieser Arbeit.
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Deshalb entfaltet Tillich das Symbol „Reich Gottes“ wie folgt: Der Mensch erhält seine Antwort auf die Frage nach unzweideutigem Leben in der Religion, die Tillich als „Selbst-Transzendierung des Lebens im Bereich des Geistes“³³⁰ versteht, wobei die Antwort „nicht identisch mit der Religion [ist], denn die Religion ist selbst zweideutig“³³¹, weil sie als kulturelles Phänomen im Zusammenhang der Zweideutigkeiten des Lebens vollzogen wird.³³² Deshalb „transzendiert jede Form von Religion und jedes religiöse Symbol, das Ausdruck dieser Erfüllung ist“³³³, die „Erfüllung des Verlangens nach unzweideutigem Leben“³³⁴. Daher kann der Mensch in seiner Selbst-Transzendierung „das niemals erreichen, zu dem hin er sich transzendiert, aber er kann dessen Selbst-Manifestation in der zweideutigen Form der Religion empfangen.“³³⁵ Dies gilt somit auch für die drei Hauptsymbole, welche der christliche Symbolismus gemäß Tillich für das unzweideutige Leben hat: „‚Gegenwart des göttlichen Geistes‘, ‚Reich Gottes‘ und ‚Ewiges Lebens‘.“³³⁶ Dabei drückt „Gegenwart des göttlichen Geistes“ aus, „daß das göttliche Leben in dem kreatürlichen Leben anwesend oder gegenwärtig ist.“³³⁷ „Reich Gottes“ steht nach Tillich „für zweierlei: einmal für den Kampf des unzweideutigen Lebens gegen die Kräfte der Zweideutigkeit, zum anderen für die letzte Erfüllung, auf die die Geschichte zuläuft.“³³⁸ Mit „Ewigem Leben“ wird im Sinne Tillichs die endgültige Überwindung der „Gefangenschaft in den kategorialen Grenzen der Existenz“³³⁹ oder auch der „Sieg über ihre Zweideutigkeiten“³⁴⁰ ausgedrückt, jedoch nicht die „endlose Fortsetzung der Existenz“³⁴¹. Grundsätzlich schließen die genannten drei Symbole für unzweideutiges Leben […] einander ein. […] Die Betonung ist verschieden, aber der Sinn der Sache ist der gleiche: unzweideutiges Leben. […] Wegen der Verschiedenheit des symbolischen Stoffes jedoch ist es berechtigt, „Gegenwart des göttlichen Geistes“ als die Antwort auf die Zweideutigkeiten des menschlichen Geistes und seiner Funktionen
330 Tillich: ST III, 130 [107]. 331 Ebd. 332 Vgl. hierzu auch Unterabschn. 3.1.3 dieser Arbeit. 333 Tillich: ST III, 130 [107]. 334 Ebd. 335 Ebd. In der englischen Fassung heißt es „life“ statt „Mensch“. 336 Ebd., 131 [107]. In der englischen Fassung heißt es zunächst „Spirit of God“ statt „Gegenwart des göttlichen Geistes“, was Tillich jedoch erläuternd durch „Spiritual Presence“ ersetzt wissen will. 337 Ebd., 130 [107]. 338 Ebd., 131 [108]. 339 Ebd. 340 Ebd., 131f. [108]. 341 Ebd., 131 [108].
3.3 Geschichtsverständnisse und die Frage nach dem Reich Gottes |
121
zu verstehen, „Reich Gottes“ als die Antwort auf die Zweideutigkeit der Geschichte und „Ewiges Leben“ als die Antwort auf die Zweideutigkeit des Lebens in seiner Universalität.³⁴²
Dabei ist es gemäß Tillich das Grundcharakteristikum des Symbols „Reich Gottes“, dass seine Bedeutung im Hinblick auf die Geschichte als umfassendstem Lebensprozess umfassender [ist] als die der beiden anderen Symbole. Das ist in dem Doppelcharakter des Symbols „Reich Gottes“ begründet, das einen innergeschichtlichen und einen übergeschichtlichen Aspekt hat. Soweit es innergeschichtlich ist, nimmt es an der Dynamik der Geschichte teil; soweit es übergeschichtlich ist, enthält es Antwort auf die Fragen, die mit der Zweideutigkeit der geschichtlichen Dynamik gegeben sind. In der ersten Eigenschaft manifestiert es sich in der „Gegenwart des göttlichen Geistes“, in der zweiten Eigenschaft ist es identisch mit dem „Ewigen Leben“.³⁴³
Hinsichtlich der Dimensionen des Lebens bezeichnet Tillich hingegen „Ewiges Leben“ als umfassendstes Symbol.³⁴⁴ Dies muss nicht als Widerspruch interpretiert werden, da es in Bezug auf die Einstufung von „Reich Gottes“ als umfassendstem Symbol um die Frage nach dem Sinn der Geschichte und bei der Bezeichnung des „Ewigen Lebens“ als universalstem Symbol um die Frage nach der Überwindung der Zweideutigkeiten des Lebensprozesses als solchem geht, der die Geschichte einschließt. Als umfassendstem christlichen Symbol für den Sinn der Geschichte kommen dem „Reich Gottes“ Tillich folgend vier Charakteristika zu: – Da Tillich „der politischen Sphäre in der geschichtlichen Dynamik“³⁴⁵ Vorrang einräumt, hat „Reich Gottes“ wesentlich eine politische Bedeutung, wobei „Reich Gottes“ in diesem Sinn weniger ein beliebiges Reich meint, „in dem Gott herrscht“³⁴⁶, und „keine Einführung einer spezifischen Verfassungsform in den symbolischen Stoff, im Gegensatz zu anderen Verfassungsformen wie der demokratischen.“³⁴⁷ Das politische Symbol „Reich Gottes“ wird zum „kosmischen Symbol, ohne seine politische Bedeutung zu verlieren“³⁴⁸, indem
342 Ebd., 132f./407 [108/357]. Vgl. zu den Zweideutigkeiten des Lebens in der Dimension des Geistes Kap. 2 dieser Arbeit. 343 Ebd., 407 [kursiv C.D.] [357]. Vgl. dazu auch Eberhardt: Der Reich-Gottes-Begriff im Denken Paul Tillichs, speziell 104. Eine ausführliche Analyse des Reich-Gottes-Begriffs findet sich bei: Rolinck: Geschichte und Reich Gottes, 230–267. 344 Vgl. hierzu Tillich: ST III, 132 [109]. 345 Ebd., 408 [358]. Vgl. hierzu auch Unterabschn. 3.1.1 dieser Arbeit. 346 Ebd. 347 Ebd. 348 Ebd.
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es im neutestamentlichen Sinne „als ein verwandelter Himmel und eine verwandelte Erde, als eine neue Wirklichkeit in einem neuen Zeitalter […], in der Gott alles in allem ist“³⁴⁹, verstanden werden kann und Gott „das höchste und heiligste Zentrum der politischen Macht“³⁵⁰ darstellt. – Darüber hinaus hat „Reich Gottes“ für Tillich eine soziale Bedeutung, weil sich die Geschichte der Menschheit im Rahmen sozialer Gruppen vollzieht, so dass „Reich Gottes“ für die Erfüllung der essentiellen Potentialitäten der Menschheit im Rahmen ihres Gesamtzusammenhanges steht. Dies schließt die Idee des Friedens und der Gerechtigkeit ein, aber sie steht damit nicht im Gegensatz zu der politischen Seite des Symbols und folglich auch nicht im Gegensatz zur Macht. In diesem Sinne erfüllt das Reich Gottes die utopische Erwartung eines Reiches des Friedens und der Gerechtigkeit. Aber indem dem Wort „Reich“ das Wort „Gottes“ hinzugefügt wird, wird dem Symbol der utopische Charakter genommen, denn durch diesen Zusatz wird die Unmöglichkeit einer irdischen Erfüllung implizit anerkannt.³⁵¹
Dennoch fordert das soziale Element von „Reich Gottes“ bereits im Rahmen der entfremdeten Existenz innerhalb der Geschichte „den unbedingten moralischen Imperativ der Gerechtigkeit“³⁵², auch wenn dieser nur fragmentarisch verwirklicht werden kann, und verhindert so, dass der geschichtliche Lebensprozess analog zum transzendentalistischen Typ der Geschichtsauffassung von der Überwindung des Zweideutigen ausgeschlossen wird.³⁵³ – Gleichzeitig ist für das Symbol „Reich Gottes“ sein „Personalismus“³⁵⁴ charakteristisch, denn im Gegensatz zu Symbolen, „in denen die Rückkehr zu dem ‚letzten Einen‘ als Ziel der Existenz aufgefaßt wird, wird in dem Symbol ‚Reich Gottes‘ dem Individuum ein ewiger Wert zuerkannt. Das übergeschichtliche Ziel, auf das die Geschichte hinführt, ist nicht Auslöschung, sondern Erfüllung der Menschheit in jedem Menschen.“³⁵⁵ – Wenn „Reich Gottes“ als Antwort auf die Frage nach dem Sinn der Geschichte verstanden wird, die Tillich als umfassendsten Lebensprozess beschreibt,
349 Tillich: ST III, 408 [358]. 350 Ebd., 409 [358]. 351 Ebd., 408 [358]. 352 Ebd. 353 Vgl. zu diesem sozialen Element von „Reich Gottes“ auch die unter Abschn. 6.2 dieser Arbeit dargestellte Beziehung Tillichs zum religiösen Sozialismus. Vgl. zum Verhältnis von Sünde und Ungerechtigkeit auch Niebuhr: Jenseits der Tragödie, 67f. 354 Tillich: ST III, 409 [kursiv C.D.] [358]. 355 Ebd., 409 [358]. Vgl. hierzu auch die Ausführungen zu Oswald Bayers Kritik an Tillich, die Tillichs Theologie im Zuge einer Auflösung alles Seienden in eine differenzlose Einheit interpretiert, unter Abschn. 5.1 dieser Arbeit.
3.3 Geschichtsverständnisse und die Frage nach dem Reich Gottes |
123
dann bildet mit Blick auf den Gesamtzusammenhang des Universums als Schöpfung „Universalität“³⁵⁶ das vierte Charakteristikum des Symbols „Reich Gottes“: Es ist ein Reich, in dem nicht nur die Menschheit, sondern das Leben in allen Dimensionen Erfüllung findet. Das entspricht der vieldimensionalen Einheit des Lebens: Erfüllung in einer Dimension schließt Erfüllung in allen Dimensionen ein. In dieser Eigenschaft transzendiert das Symbol „Reich Gottes“ das personalistisch-soziale Element, ohne es aufzuheben.³⁵⁷
Dieser Gedanke findet sich in anderer Akzentuierung auch in Niebuhrs Jenseits der Tragödie. Dort heißt es in Abgrenzung zu einer tragischen Geschichtsauffassung: „Die christliche Schau der Geschichte steht jenseits der Tragödie, weil sie das Böse nicht als etwas ansieht, was dem Dasein selbst anhaftet, sondern als etwas, was schließlich auch noch unter der Herrschaft eines guten Gottes steht.“³⁵⁸ Zusammenfassend konstatiert Tillich, dass das Symbol „Reich Gottes“ mit Blick auf die genannten Kriterien dann eine „positive wie eine zulängliche Antwort auf die Frage nach Sinn der Geschichte“³⁵⁹ bildet, wenn „das Symbol ‚Reich Gottes‘ zugleich immanent und transzendent“³⁶⁰ gefasst wird, denn jede „einseitige Interpretation beraubt das Symbol seiner Kraft.“³⁶¹ Dementsprechend ist „der Gebrauch des Symbols ‚Reich Gottes‘ noch keine Gewähr für eine angemessene Antwort auf die Frage nach dem Sinn der Geschichte.“³⁶² Wird dem Symbol nämlich sein transzendentes Element genommen, steht es in der Gefahr des Utopismus, mangelt es an einer Einbindung des immanenten Elementes, verstrickt es sich in die Problematik des transzendentalistischen Typus von Geschichtsauffassungen. Auch wenn „in der Regel eines der beiden Elemente vorherrscht“³⁶³, sind im Gebrauch des Symbols „Reich Gottes“ beide Elemente zu berücksichtigen, weil das Reich Gottes „nicht durch die innergeschichtliche Entwicklung allein geschaffen werden [kann] […], sondern durch göttlichen Eingriff und durch eine neue Schöp-
356 Ebd., 409 [kursiv C.D.] [358]. 357 Ebd., 409 [kursiv C.D.] [359]. 358 Niebuhr: Jenseits der Tragödie, 7. Vgl. hierzu auch ebd., 116. 359 Tillich: ST III, 409 [359]. 360 Ebd. 361 Ebd. 362 Ebd., 409f. [359]. 363 Ebd., 411 [361].
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fung, die einen neuen Himmel und eine neue Erde schafft“³⁶⁴, sich jedoch „das innergeschichtliche Erscheinen Jesu als des Christus […] inmitten der Zweideutigkeiten der Geschichte“³⁶⁵ ereignet. Strukturell findet sich der Gedanke einer zweideutigen innergeschichtlichen Existenz auch bei Niebuhr: „Für den christlichen Glauben ist diese Welt weder völlig vollkommen, noch völlig unvollkommen, denn Gott, der sie schuf, enthüllt sich ja auch innerhalb dieser Welt.“³⁶⁶ Somit schließt im Sinne Tillichs „die Betonung der Transzendenz in dem Symbol ‚Reich Gottes‘ innergeschichtliche Züge von entscheidender Bedeutung nicht aus[ ], ebenso wie die Vorherrschaft des immanenten Elementes einen transzendenten Symbolismus nicht ausschließt.“³⁶⁷ Deshalb formuliert Lauster: „Die eigentliche Pointe im Reich-Gottes-Begriff liegt für Tillich in der wechselseitigen Durchdringung der immanenten und transzendenten Elemente, die eng aufeinander bezogen sind und nicht zugunsten der einen oder der anderen Seite aufgelöst werden können.“³⁶⁸ Auf diese Weise hält Tillich seine Geschichtstheologie nach Lauster sowohl im Hinblick auf die Philosophie der Geschichte als auch für eine theologische und religiöse Deutung der Geschichte offen, ohne sie im Sinne einer progressiven Heilsgeschichte oder einem Supranaturalismus zu vereinnahmen, „sondern sie zur Interpretation der inneren Dynamik der Geschichte heranzuziehen.“³⁶⁹ Diesen Ausführungen schließt sich die vorliegende Arbeit an. Eben jenes Verständnis von „Reich Gottes“ weist prägnante Analogien zu Niebuhrs eschatologischem Geschichtsverständnis in Jenseits der Tragödie auf. Dort heißt es einleitend: Die biblische Lebensanschauung „betont einerseits die Bedeutsamkeit der Geschichte und das natürliche Dasein des Menschen, andererseits aber legt diese biblische Lebensanschauung Gewicht darauf, daß der Mittelpunkt, der Ursprung und die Erfüllung der Geschichte jenseits der Geschichte liegen.“³⁷⁰ Des weiteren führt Niebuhr aus: Innerhalb der Geschichte gibt es keine Hoffnung, die Widersprüche, die das Leben beherrschen, zu überwinden. Diese Widersprüche sind nicht die Folge begrenzter Zeitlichkeit, sondern sie sind Frucht menschlicher Freiheit. Sie lassen sich nicht lösen, indem man das Zeitli-
364 Tillich: ST III, 410f. [360]. 365 Ebd., 411 [361]. 366 Niebuhr: Jenseits der Tragödie, 17. 367 Tillich: ST III, 411 [361]. Vgl. zum Verhältnis von immanenter und transzendenter Seite des Symbols „Reich Gottes“ in Tillichs der Systematischen Theologie vorausgehenden Schriften auch Abschn. 6.2 dieser Arbeit. 368 Lauster: Die Geschichte und die Frage nach dem Reich Gottes, 273. 369 Ebd., 274. Vgl. zur Thematik der Heilsgeschichte und des Supranaturalismus auch Abschn. 4.1, Abschn. 4.2 sowie Abschn. 5.1 dieser Arbeit. 370 Niebuhr: Jenseits der Tragödie, 6.
3.3 Geschichtsverständnisse und die Frage nach dem Reich Gottes |
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che in das Ewige überträgt. Da diese Widersprüche in allem menschlichen Streben enthalten sind, so ist ihre Erfüllung keine menschliche, sondern eine göttliche Möglichkeit. […] Christus ist die Offenbarung sowohl der menschlichen Möglichkeiten, die zu erfüllen sind, als auch der göttlichen Macht, welche sie erfüllen wird. In Christus offenbart sich der Sinn der Menschheitsgeschichte, der über diese Geschichte hinausweist.³⁷¹
Im Folgenden soll daher unter „Das Reich Gottes innerhalb der Geschichte“ Tillichs Verständnis des immanenten Elements und daran anschließend unter „Das Reich Gottes als Ziel der Geschichte“ Tillichs Verständnis des transzendenten Elements des Symbols „Reich Gottes“ erörtert werden.
371 Ebd., 23. Vgl. zu Niebuhrs Betonung des freiheitlichen Elementes der Sündhaftigkeit auch: ebd., 102f., Unterabschn. 3.1.1 dieser Arbeit sowie Tillich: ST II, 51f. [44]. Vgl. zur Sinnerschließung der menschlichen Geschichte durch Jesus Christus bei Tillich auch: ebd., 106 [95f.] sowie Abschn. 5.2 dieser Arbeit.
4 Die geschichtliche Immanenz des Reiches Gottes 4.1 Jesus Christus als zentrale Manifestation des Reiches Gottes in der Geschichte: kairos und kairoi Gemäß Tillich zeigt sich das der Geschichte immanente Element des Symbols „Reich Gottes“ in der „Gegenwart des göttlichen Geistes und seine[n] Manifestationen […], insofern sie an der Dynamik der Geschichte teilhaben.“¹ Eben jene Frage nach der Gegenwart des göttlichen Geistes in der Dynamik der Geschichte sieht Tillich in der Theologie unter „dem Begriff der Heilsgeschichte behandelt“², wobei sich in Bezug auf diesen Begriff für Tillich drei grundsätzliche Fragen ergeben: a) Da nach Tillich Heil in der Überwindung des Zwiespalts von essentiellem und existentiellem Sein besteht und damit als Erlösung von der Entfremdung des existentiellen vom essentiellen Sein zu verstehen ist, die dem Menschen in der letztgültigen Offenbarung oder auch göttlichen Selbstbekundung in Jesus als dem Christus als Manifestation des Neuen Seins durch den göttlichen Geist erschlossen wird, muss geklärt werden, in welchem Verhältnis „Heilsgeschichte und Offenbarungsgeschichte“³zueinander stehen. Denn Offenbarung und Erlösung ereignen sich durch Jesus als dem Christus unter den Bedingungen der zweideutigen, geschichtlichen Existenz. Tillich bestimmt das Verhältnis von Offenbarung und Erlösung bzw. Heil wie folgt: „Wo Erlösung ist, ist auch Offenbarung. Erlösung schließt Offenbarung ein, da sie das Element der Wahrheit in der erlösenden Manifestation des Seinsgrundes betont.“⁴ Ein diese Linie herausarbeitender Beitrag findet sich bei Georg Essen.⁵ Demnach gibt es keine göttliche Offenbarung ohne Erlösung und keine Erlösung ohne göttliche Offenbarung. Diese Verhältnisbestimmung von Offenbarung und Erlösung entspricht Tillichs Verständnis des christlichen Ereignisses, welches sich gleichermaßen als historisches Faktum und als Ge-
1 Tillich: ST III, 412 [362]. 2 Ebd. 3 Ebd. Vgl. zu Tillichs Offenbarungsverständnis Unterabschn. 2.3.2 dieser Arbeit. 4 Ebd. Vgl. zu Tillichs Gottesverständnis als Seinsgrund, als Seinsmächtigkeit oder auch als SeinSelbst Unterabschn. 3.1.2 sowie Abschn. 5.3 dieser Arbeit. 5 Essen, Georg: Nochmals: Geschichte und Offenbarung. Hermeneutische Überlegungen zu ungelösten Fragen der Christologie, in: Danz, Christian (Hg.): Jesus of Nazareth and the New Being in History (International Yearbook for Tillich Research 6), Berlin und Boston 2011, 143–162. https://doi.org/10.1515/9783110733181-004
4.1 Jesus Christus als zentrale Manifestation des Reiches Gottes in der Geschichte |
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genstand gläubiger Aufnahme erweist und ausschließlich auf diese Weise seine Wirkung entfaltet.⁶ b) Wenn sich Offenbarung und Erlösung bzw. Heil im Rahmen der Dynamik der Geschichte ereignen, stellt sich die Frage, „wie sich Weltgeschichte und Heilsgeschichte zueinander verhalten.“⁷ Aufgrund von Tillichs Ablehnung einer progressiven Fortschrittsgeschichte, die im Rahmen ihrer Entwicklung im Sinne eines Fortschrittsglaubens oder auch Utopismus ihr Ziel und damit auch ihre Erlösung von den Zweideutigkeiten des Lebens selbst hervorbringt⁸, lassen sich nach Tillich Weltgeschichte und Heilsgeschichte nicht miteinander identifizieren. Denn die „Zweideutigkeiten des Lebens [sind] in allen Dimensionen (einschließlich der geschichtlichen)“⁹ wirksam. Weil nun „Erlösung […] die Überwindung dieser Zweideutigkeiten ist, […] steht [sie] im Gegensatz zu ihnen und kann nicht mit einem Bereich identifiziert werden, der durch sie bedingt ist. […] Die erlösende Macht bricht in die Geschichte ein und wirkt durch die Geschichte, aber sie wird nicht durch die Geschichte geschaffen.“¹⁰ Aufgrund dieser Ausführungen zur Nicht-Identifizierbarkeit der Heilsgeschichte mit der Weltgeschichte folgt die vorliegende Arbeit nicht der Kritik von Gunther Wenz, der durch Tillichs Unterscheidung der Heilsgeschichte von der allgemeinen Geschichte Gott als einheitsstiftendes Subjekt der Geschichte in Gefahr sieht.¹¹ Im Sinne von Tillichs Ablehnung einer progressiven Heilsgeschichte intendiert Tillich keine Gegenüberstellung von Heils- und Weltgeschichte, sondern bezeichnet mit dieser Unterscheidung das weltgeschichtliche Schicksal der universalen Entfremdung, an der und durch die sich die Heilsgeschichte ereignet.¹² Eine entscheidende Konsequenz daraus formuliert Harald Matern: „Das Heil kann nach Tillich weder in bestimmten Ereignissen noch Institutionen lokalisiert werden.“¹³ c) Deshalb ergibt sich für Tillich im Zusammenhang der beschriebenen Ablehnung einer Identifikation von Heilsgeschichte und Weltgeschichte die Frage:
6 Vgl. dazu Unterabschn. 3.1.1 dieser Arbeit. 7 Tillich: ST III, 412 [362]. 8 Vgl. hierzu Unterabschn. 3.1.3 wie auch Abschn. 3.3 dieser Arbeit. 9 Tillich: ST III, 412 [362]. 10 Ebd., 412 [362f.]. 11 Wenz, Gunther: Subjekt und Sein. Die Entwicklung der Theologie Paul Tillichs, München 1979, 273f. 12 Vgl. für eine Auseinandersetzung mit der Frage der Heilsgeschichte in Tillichs geschichtsphilosophischem Denken mit den entsprechenden denkgeschichtlichen Bezügen: Neugebauer, Georg: Tillichs frühe Christologie: eine Untersuchung zu Offenbarung und Geschichte bei Tillich vor dem Hintergrund seiner Schellingrezeption, Berlin 2007, 379ff. 13 Matern: Das Reich Gottes innerhalb der Geschichte und als Ziel der Geschichte, 294.
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„Wie manifestiert sich die Heilsgeschichte in der Weltgeschichte?“¹⁴ Dabei will Tillich unter „Heilsgeschichte“ eine „Folge von Ereignissen“¹⁵ verstanden wissen, in denen erlösende Macht in die geschichtlichen Vorgänge einbricht – von diesen Vorgängen bereits vorbereitet, so daß die Erlösung angenommen werden kann – und die Vorgänge so verwandelt, daß die Erlösung in der Geschichte wirksam werden kann. So betrachtet ist Heilsgeschichte Teil der Universalgeschichte. […] Gleichzeitig aber manifestiert sich in der Heilsgeschichte, obwohl sie sich innerhalb der Geschichte vollzieht, etwas, was nicht aus der Geschichte stammt. […] Aber sie ist beides: sie ist in derselben Folge von Ereignissen zugleich heilig und profan. In ihr tritt die sich selbst transzendierende Dynamik der Geschichte zutage, ihr Streben nach letzter Erfüllung.¹⁶
Weil Heilsgeschichte innerhalb der Geschichte die sich selbst transzendierende Dynamik der Geschichte offenlegt, darf gemäß Tillich Heilsgeschichte nicht als „übergeschichtlich“¹⁷ beschrieben werden, da ein solches Verständnis der Heilsgeschichte die Aporien einer transzendentalistischen Geschichtsauffassung birgt¹⁸: Die Vorsilbe „über“ weist auf eine höhere Ebene der Wirklichkeit hin, einen Schauplatz göttlichen Handelns, der in keiner Verbindung mit der Weltgeschichte steht. In dieser Vorstellung wird das Paradox, daß das Unbedingte sich innerhalb der Geschichte manifestiert, durch einen Supranaturalismus ersetzt, der Weltgeschichte und Heilsgeschichte als zwei voneinander getrennte Bereiche betrachtet. Aber wenn Weltgeschichte und Heilsgeschichte so voneinander getrennt sind, ist es nicht möglich zu erklären, wie die „übernatürlichen“ Ereignisse erlösende Macht innerhalb der weltgeschichtlichen Vorgänge haben können.¹⁹
Aufgrund der drei geschilderten möglichen Probleme der Verhältnisbestimmung von Heils- und Offenbarungsgeschichte, einer möglichen Identifikation von Heilsund Weltgeschichte sowie eines drohenden Supranaturalismus in Bezug auf den Begriff „Heilsgeschichte“, zieht Tillich die Rede „von den Manifestationen des Reiches Gottes in der Geschichte“²⁰ vor, „denn wo sich das Reich Gottes manifestiert, da ist Offenbarung und Erlösung.“²¹ Daher verweist im Sinne Tillichs die Rede von
14 Tillich: ST III, 413 [363]. 15 Ebd. 16 Ebd. 17 Ebd. 18 Vgl. zu den Gefahren einer transzendentalistischen Geschichtsauffassung nach Tillich Abschn. 3.3 dieser Arbeit. 19 Tillich: ST III, 413f. [363]. 20 Ebd., 414 [363f.]. 21 Ebd., 414 [364].
4.1 Jesus Christus als zentrale Manifestation des Reiches Gottes in der Geschichte | 129
eben jenen Manifestationen des Reiches Gottes in der Geschichte anders als der Begriff „Heilsgeschichte“ gleichermaßen auf die immanente und die transzendente Dimension der Erlösung, ohne Weltgeschichte und Heilsgeschichte miteinander zu identifizieren oder als zwei getrennten Bereiche zu betrachten, indem eben die erlösende Macht in Form der Gegenwart des göttlichen Geistes in die Geschichte einbricht und durch die Geschichte wirkt, jedoch nicht von ihr selbst hervorgebracht wird. Lauster führt hierzu treffend aus: Anhängern einer heilsgeschichtlichen und supranaturalistischen Geschichtsbetrachtung ist dies entschieden zu wenig, Gegnern einer religiösen Interpretation deutlich zu viel. Tillichs Theologie der Geschichte hingegen setzt darauf, die Plausibilität der religiösen Geschichtsinterpretation durch eine geschichtsphilosophische Anbindung argumentativ vertretbar zu machen.²²
Das entspricht Tillichs apologetischem Anliegen seiner Methode der Korrelation.²³ Somit ist nach Tillichs Verständnis des theologischen Zirkels²⁴ nun dem christlichen Geschichtsverständnis folgend, das „auf dem christlichen Symbolismus und auf der Grundlage des Christentums [fußt], daß Jesus von Nazareth der Christus […], die endgültige Manifestation des Neuen Seins in der Geschichte [ist]“²⁵, die Gestalt eben jener Manifestationen des göttlichen Geistes in der Dynamik der Geschichte näher zu erörtern. Gemäß des christlichen Geschichtsverständnisses manifestiert sich in den Worten Tillichs „das Reich Gottes in der Geschichte in einer gewissen Folge von Ereignissen“²⁶, wobei das Christentum selbst als solches auf der „zentralen Manifestation“²⁷ des Reiches Gottes in der Geschichte gegründet ist. Eben jene zentrale Manifestation des Reiches Gottes besteht für das Christentum in dem christlichen Ereignis, im „Erscheinen Jesu als des Christus“²⁸, der „als die Mitte der Geschichte […] unter dem Aspekt ihrer Selbst-Transzendierung“²⁹ begriffen wird. Wie bereits
22 Lauster: Die Geschichte und die Frage nach dem Reich Gottes, 274f. 23 Vgl. hierzu Unterabschn. 2.3.2 dieser Arbeit. 24 Vgl. zu Tillichs Verständnis des theologischen Zirkels in Bezug auf die Bestimmung des Ziels der Geschichte vor allem Abschn. 3.3 und allgemein Unterabschn. 2.3.2 dieser Arbeit. 25 Tillich: ST III, 414 [364]. 26 Ebd. In der englischen Fassung fehlt dieser allgemeine Hinweis auf die Folge von Ereignissen. In ihr heißt es ausschließlich: „Christianity claims to be based on its central manifestation.“ 27 Ebd. 28 Ebd. 29 Ebd. Tillich formuliert den Gedanken von einer Mitte der Geschichte im Rahmen von Geschichtsverständnissen bereits im Zusammenhang seiner Frankfurter Vorlesung zur Geschichtsphilosophie aus dem WS 1929/1930. Da die Vorlesung ausdrücklich einen geschichtsphilosophischen und keinen geschichtstheologischen Schwerpunkt aufweist, steht hier
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geschildert ist Tillich folgend in Jesus als dem Christus die Geschichte qualitativ, jedoch nicht quantitativ, an ihr Ende gekommen.³⁰ Dementsprechend hat für Tillich der Ausdruck „Zentrum“ oder „Mitte“ der Geschichte […] nichts mit einem quantitativen Maßstab zu tun, der als Mitte die Mitte zwischen einer unbestimmten Vergangenheit und einer unbestimmten Zukunft bezeichnen würde […]. Mit der Metapher „Mitte“ ist ein Augenblick in der Geschichte gemeint, für den alles Vorhergehende und alles Folgende sowohl Vorbereitung wie Aufnahme bedeuten. So verstanden ist die „Mitte“ der Geschichte sowohl Kriterium wie Quelle der erlösenden Macht in der Geschichte.³¹
Somit ist mit Matern formuliert diese Mitte „auch das Kriterium für die Identifikation der Realisierung von Heil in der Geschichte.“³² Tillichs Verständnis von Jesus Christus als Mitte der Geschichte bearbeitet auch Danz.³³ Nach Danz ist es ein zentrales Anliegen von Tillich, „dass die Christologie nicht von der Geschichte isoliert wird.“³⁴ Wird Jesus als der Christus dergestalt als Kriterium und Quelle der erlösenden Macht in der Geschichte verstanden, dann bedeutet dies, „daß sich das Reich Gottes nicht in einer Folge von unzusammenhängenden Ereignissen manifestiert, von denen jedes einzelne relative Gültigkeit und Macht besitzt.“³⁵ Somit enthält das Verständnis von Christus als Mitte der Geschichte „eine Kritik am Relativismus“³⁶, indem der christliche Glaube „das Ereignis, von dem er abhän-
Jesus Christus als Mitte der Geschichte nicht im Vordergrund (vgl. Tillich: EW XV, 281ff.). Eine Verbindung von Tillichs Geschichtsverständnis und Tillichs Verständnis von Jesus Christus als Mitte der Geschichte findet sich in seiner Dresdener Dogmatik-Vorlesung aus den Jahren 1925– 1927 (Ders.: EW XIV, 316ff.). Eine ausführliche Textsammlung zur Auseinandersetzung mit Tillichs Auffassung von Jesus Christus als Mitte der Geschichte findet sich in der Aufsatzsammlung: Haigis, Peter/Hummel, Gert/Lax, Doris (Hgg.): Christus Jesus – Mitte der Geschichte!?, Berlin und Münster 2007. 30 Vgl. zum qualitativen Ende der Geschichte in Jesus als dem Christus auch Unterabschn. 3.1.2 dieser Arbeit. 31 Tillich: ST III, 414f. [kursiv C.D.] [364]. Der Gedanke, dass Christus als Mitte der Geschichte der Schlüssel eines christlichen Geschichtsverständnisses ist, findet sich bei Tillich bereits 1952 in seiner Schrift: Ders.: Sieg in der Niederlage, 134ff. 32 Matern: Das Reich Gottes innerhalb der Geschichte und als Ziel der Geschichte, 294. 33 Danz, Christian: Jesus Christus als Mitte der Geschichte. Die geschichtsphilosophischen Grundlagen von Paul Tillichs Christologie, in: Haigis, Peter/Hummel, Gert/Lax, Doris (Hgg.): Christus Jesus – Mitte der Geschichte!?, Berlin und Münster 2007. 34 Ebd., 143. 35 Tillich: ST III, 415 [364]. 36 Ebd.
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gig ist, zum Kriterium aller Offenbarungsereignisse [erhebt].“³⁷ Gleichzeitig darf dieser Anspruch auf Absolutheit nicht für den christlichen Glauben und das Christentum als Religion im Sinne eines kulturellen Phänomens gelten, da so etwas Endliches mit dem Unbedingten identifiziert und die Beziehung von Bedingtem und Unbedingtem im Zusammenhang der Selbst-Transzendierung des Lebens in der geschichtlichen Dynamik nicht aktualisiert würde.³⁸ Darüber hinaus liegt in der Auffassung von Christus als Mitte der Geschichte eine Kritik an allen Auffassungen, die die Manifestationen des Reiches Gottes vom Standpunkt des Fortschritts betrachten. Offensichtlich kann es keinen Fortschritt über die „Mitte der Geschichte“ hinaus geben (mit Ausnahme der Bereiche, zu deren Wesen Fortschritt gehört). […] Auch ist das Erscheinen der Mitte nicht das Ergebnis einer fortschreitenden Entwicklung […].³⁹
Diesen Gedanken formuliert Tillich bereits in ähnlicher Weise in seiner Schrift von 1930 Christologie und Geschichtsdeutung: „In diesen Bestimmungen […] liegt die Verneinung jedes Versuches, Mitte der Geschichte als profane Möglichkeit zu fassen, also eine Ablehnung humanistischer, utopistischer und imperialistischer Geschichtsdeutung.“⁴⁰ Dennoch ereignet sich das Erscheinen der Mitte konkret innerhalb der Geschichte unter den Bedingungen der zweideutigen Existenz, weshalb in einem quantitativen, nicht in einem qualitativen Sinn, die Zeit vor dem christlichen Ereignis als dessen Vorbereitung und die Zeit nach dem christlichem Ereignis als dessen Aufnahme gefasst werden kann: Die Manifestationen des Reiches Gottes, von denen das Alte Testament berichtet, sind Vorbedingungen für die endgültige Manifestation in dem Christus. […] Der Reifeprozeß oder die Vorbereitung für die zentrale Manifestation des Reiches Gottes in der Geschichte ist nicht auf die vorchristliche Zeit beschränkt, sondern geht auch nach dem Erscheinen der Mitte weiter vor sich und vollzieht sich hier und jetzt. […] Umgekehrt gibt es einen Prozeß, in dem die zentrale Manifestation des Reiches Gottes in der Geschichte aufgenommen wird […]; die Geschichte dieser Aufnahme ist die Geschichte der Kirche.⁴¹
Dabei besteht die Funktion der Kirche 37 Ebd. 38 Vgl. zum Verständnis Tillichs der Beziehung des christlichen Ereignisses zum Christentum als kulturellem Phänomen auch Unterabschn. 3.1.3 dieser Arbeit. 39 Tillich: ST III, 415 [364f.]. Vgl. zum Fortschrittsverständnis Tillichs Unterabschn. 3.1.3 dieser Arbeit. 40 Ders.: Christologie und Geschichtsdeutung, 94. 41 Ders.: ST III, 415f. [kursiv C.D.] [365f.]. Vgl. zu Tillichs Auffassung der Kirche im Folgenden Abschn. 4.2 dieser Arbeit.
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nicht nur in der einfachen Aufnahme und Manifestation dessen, was in der Vergangenheit geschehen ist; sie hat auch eine latente Existenz, in der sie antizipiert, was in der Zukunft geschehen wird. […] Das ist der Sinn der Prophetie als Voraussage der Zukunft und der Sinn von Stellen wie der im vierten Evangelium, in der auf die Präexistenz des Christus hingewiesen wird – Stellen, in denen die potentielle Gegenwart der Mitte zu allen Zeiten der Geschichte symbolisch ausgedrückt ist.⁴²
Geschichte bildet demnach vor dem Hintergrund der derart verstandenen Mitte der Geschichte, in welcher sich in Jesus als dem Christus der Zwiespalt von essentiellem und existentiellem Sein als Ziel der Geschichte erschließt, nicht nur einen „dynamische[n], vorwärts laufende[n] Prozeß […], sondern auch ein zusammenhängendes Ganzes mit einem Mittelpunkt.“⁴³ In Bezug auf diese qualitative Mitte der Geschichte stellt sich somit die Frage, „was Anfang und Ende der Bewegung sind, die diesen Punkt zur Mitte hat.“⁴⁴ Wie bei Anfang und Ende der Zeit kann nach Tillich die Antwort auf die Frage nach Anfang und Ende der geschichtlichen Bewegung als zusammenhängendem Ganzem mit einem Mittelpunkt „selbstverständlich nicht in Daten ausgedrückt werden.“⁴⁵ Gemäß Tillich können „Anfang und Ende in bezug auf die Mitte der Geschichte […] nur Anfang und Ende der Manifestationen des Reiches Gottes in der Geschichte bedeuten“⁴⁶, wobei aufgrund des theologischen Zirkels die Antwort auf die Frage nach ihnen […] durch das Wesen der Mitte selbst bestimmt [ist]. Geschichte als Offenbarungs- und Heilsgeschichte beginnt mit dem Augenblick, in dem sich der Mensch seiner entfremdeten Existenz und seiner Bestimmung, diese Entfremdung zu überwinden, bewußt wird. Dieses Bewußtsein […] kann weder einer bestimmten Zeit noch einer bestimmten Person oder Gruppe zugeschrieben werden. Das Ende der Geschichte in dem Sinn, in dem wir von ihrem Anfang gesprochen haben, ist in dem Augenblick da, in dem die Menschen aufhören, die Frage nach dem letzten Sinn ihrer Existenz zu stellen.⁴⁷
42 Tillich: ST III, 416 [kursiv C.D.] [366]. Tillich definiert sein Verständnis der Prophetie als Erfassen des Kommenden, des Gesollten im Zusammenhang des Gegenwärtigen bereits 1923 in seiner Schrift Ders.: Grundlinien des religiösen Sozialismus, 93. Vgl. hierzu auch die Ausführungen unter Abschn. 6.2 dieser Arbeit zum prophetischen Geist. 43 Ders.: ST III, 416 [366]. Vgl. zu Christus als Manifestation des Neuen Seins, das den Zwiespalt von essentiellem und existentiellem Sein überwindet auch Unterabschn. 3.1.1 dieser Arbeit. 44 Ebd. 45 Ebd., 417 [366]. Vgl. zu Tillichs Ausführungen über Anfang und Ende der Zeit Unterabschn. 3.1.2 dieser Arbeit. 46 Ebd. 47 Ebd., 417 [366f.]. Vgl. zu Tillichs Verständnis des geschichtlichen bzw. des vor- und nachgeschichtlichen Menschen auch Unterabschn. 3.1.1 dieser Arbeit.
4.1 Jesus Christus als zentrale Manifestation des Reiches Gottes in der Geschichte | 133
Da die Geschichte die Erfüllung ihrer Potentialitäten Tillich folgend nicht im Sinne eines Fortschrittsglaubens oder Utopismus selbst hervorbringt, kann das beschriebene Ende des geschichtlichen Menschen nicht mit der Verwirklichung des Ziels der Geschichte identifiziert werden. Eben jene Erfüllung der Potentialitäten des endlichen Seins sieht Tillich ausschließlich durch die erlösende Macht, die in Jesus als dem Christus in die Geschichte als deren qualitatives Ende einbricht, verwirklicht, deren universale Verwirklichung am Ende der Geschichte noch aussteht und durch ihn verheißen ist. Dass aufgrund des theologischen Zirkels „die Fragen, die in der Zweideutigkeit der geschichtlichen Existenz enthalten sind“⁴⁸, ausschließlich im christlichen Geschichtsverständnis „eine Antwort finden“⁴⁹, rechtfertigt für Tillich die Behauptung des Christentums, „daß es, obwohl in der Zeit verwurzelt, auf der universalen Mitte der Geschichte gegründet sei. […] Trotz der Gefahr der Dämonisierung und der sakramentalen Entstellung der zentralen Manifestation des Reiches Gottes im kirchlichen Christentum muß die Botschaft aufrecht erhalten werden, daß die Mitte der Geschichte erschienen ist“⁵⁰, denn nur auf diese Weise wird sowohl die Entfremdung des existentiellen Seins vom essentiellen Seins als auch deren Überwindung in Christus als der Manifestation des Neuen Seins erschlossen, ohne Vorläufiges mit Endgültigem zu identifizieren oder aber das Endliche von den erlösenden Kräften des Unbedingten auszuschließen.⁵¹ Aus christlicher Perspektive hat nach Tillich keine andere Religion eine „andere Mitte geben können“⁵², denn: Die prophetischen und apokalyptischen Erwartungen des Judentums bleiben Erwartungen; sie führen zu keiner innergeschichtlichen Erfüllung, wie das Christentum sie voraussetzt. […] Das Erscheinen Mohammeds als des Propheten stellt kein Ereignis dar, das der Geschichte universal gültigen Sinn verleiht. […] Buddha stellt für die Buddhisten keinen Wendepunkt zwischen dem Alten und dem Neuen dar. Er ist das entscheidende Beispiel für eine Verkörperung des Geistes der Erleuchtung, die in jeder Zeit möglich ist; aber er ist kein Ereignis innerhalb einer geschichtlichen Entwicklung, die auf ihn hinführt und sich von ihm herleitet.⁵³
48 Ebd., 418 [367]. In der englischen Fassung heißt es hier: „[…] questions implied in historical time and in the ambiguities of historical dynamics […].“ 49 Ebd. 50 Ebd., 418 [367f.]. 51 Vgl. zum Begriff des Dämonischen bei Tillich Abschn. 3.2 sowie Abschn. 6.2 und zu den Kriterien für ein zulängliches Geschichtsverständnis, das auf dem theologischen Zirkel beruht, Abschn. 3.3 dieser Arbeit. 52 Tillich: ST III, 419 [368]. 53 Ebd., 418f. [368].
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An jener Erläuterung des Geschichtsverständnisses anderer Religionen zeigt sich Tillichs theologischer Zirkel, indem seine Kriterien für die Zulänglichkeit bzw. Unzulänglichkeit eines Geschichtsverständnisses bereits „durch das Wesen der Mitte selbst bestimmt [ist]“⁵⁴. Da für ein christliches Weltverständnis das „Erscheinen Jesu als des Christus […] das geschichtliche Ereignis [ist], in dem die Geschichte sich ihrer selbst und ihre Sinnes bewußt wird“⁵⁵, erscheint das Judentum in seiner Annahme, dass die innergeschichtliche Entwicklung mit ihrer Erfüllung endet, im Lichte von Tillichs Kategorisierung möglicher Geschichtsauffassungen als fortschrittsgläubig, der Islam durch die Zentralstellung Mohammeds als den Weg zur transzendenten Erlösung weisenden Propheten als transzendentalistisch und der Buddhismus in seiner Ablehnung eines Ziels der Geschichte als ungeschichtlich. In eben jenem theologischen Zirkel zeigt sich die Partikularität des Christentums als kulturellem Phänomen, das ausschließlich für das christliche Ereignis und nicht für sich selbst Universalität beanspruchen darf, wenn es nicht der Gefahr der Dämonisierung oder auch der Profanisierung erliegen will.⁵⁶ Deshalb bleibt die Behauptung, dass das christliche Ereignis „nicht nur die Mitte in der Geschichte der Manifestationen des Reiches Gottes [ist]“⁵⁷, sondern „auch das einzige Ereignis [ist], in dem die geschichtliche Dimension vollkommen und universal aktualisiert ist“⁵⁸, in den Worten Tillichs „eine Angelegenheit des wagenden Glaubens.“⁵⁹ Glaube ist nach Tillich als Gegenwart des erlösenden göttlichen Geistes zu verstehen, der analog zur erlösenden Macht, die in die Geschichte einbricht, in den menschlichen Geist offenbarend einbricht und Antworten auf existentielle Fragen⁶⁰ erschließt: Der Mensch in seiner Selbst-Transzendierung kann nach dem göttlichen Geist verlangen, aber er kann ihn nicht auf sich herabzwingen – er muß von ihm ergriffen werden. […] Er wird durch seine Selbst-Transzendierung dazu getrieben, die Frage nach unzweideutigem Leben zu stellen, aber die Antwort muß ihm durch die schöpferische Macht des göttlichen
54 Tillich: ST III, 417 [366]. 55 Ebd., 419 [368f.]. 56 Vgl. zur Sonderstellung des Christentums im Verhältnis zu anderen Religionen auch Unterabschn. 3.1.3 dieser Arbeit. 57 Tillich: ST III, 419 [368]. 58 Ebd. 59 Ebd., 419 [369]. 60 Vgl. zum Verhältnis der existentiellen Fragen des Menschseins und den in der göttlichen Offenbarung erschlossenen Antworten auch Unterabschn. 2.3.2 dieser Arbeit. Vgl. für eine ausführliche Verhältnisbestimmung von Vernunft und Offenbarung bei Tillich: Ders.: ST I, 87–189 [71–159].
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Geistes gegeben werden. […] Glaube ist der Zustand des Ergriffenseins durch das, worauf sich die Selbst-Transzendierung richtet: das Unbedingte in Sein und Sinn.⁶¹
Nach Tillich lassen sich in Bezug auf den Inhalt des Glaubens drei Elemente unterscheiden: erstens das Element des Geöffnetwerdens durch den göttlichen Geist, zweitens das Element des Aufnehmens des göttlichen Geistes trotz der unendlichen Kluft zwischen göttlichem und menschlichem Geist, und drittens das Element der Erwartung der endgültigen Teilnahme an der transzendenten Einheit unzweideutigen Lebens. Diese drei Elemente liegen ineinander, aber sie folgen nicht aufeinander, sie sind gegenwärtig, wo immer Glaube ist.⁶²
Indem der Glaube „nicht vom Menschen [stammt], aber […] im Menschen lebt“⁶³, entzieht sich dem Menschen einerseits die Konstitution der Glaubenseinsicht, wird aber andererseits vom ihm vollzogen und aktualisiert. Deshalb bezeichnet Tillich in Kairos II von 1926 einen „Realismus, der offen ist für das Ewige“⁶⁴ auch als „gläubige[n] Realismus.“⁶⁵ In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn Tillich die Behauptung, Jesus Christus sei die universale Mitte der Geschichte, als Behauptung des wagenden Glaubens bezeichnet. Indem in einem christlichen Geschichtsverständnis Jesus Christus als Mitte der Geschichte erfasst wird, erweist sich die Christologie als Fundament einer Antwort auf die Frage nach dem Sinn der Geschichte, der gemäß Tillich christlich in den Symbolen „Gegenwart des göttlichen Geistes“, „Reich Gottes“ und „Ewiges Leben“ ausgedrückt wird. Dies formuliert er im Sinne der Methode der Korrelation bereits 1930 in Christologie und Geschichtsdeutung: „Geschichte und Christologie gehören zusammen wie Frage und Antwort.“⁶⁶ Jenen Augenblick in der Geschichte, in welchem Jesus Christus als Mitte der Geschichte aufgenommen werden konnte, nennt Tillich mit Bezug auf das Neue Testament – beispielsweise Mt 13,30, Mt 26,18, Mk 1,15, Röm 5,6 oder auch
61 Ders.: ST III, 135/155 [112/130]. Vgl. zu Tillichs Verständnis des Geistes Abschn. 2.2 sowie zu seinem Schöpfungsverständnis Unterabschn. 3.1.1 dieser Arbeit. 62 Ebd., 159 [133]. Vgl. zu Tillichs Verständnis des Glaubens ausführlich auch: Ders.: Dynamik des Glaubens, übers., komm. und mit einer Einl. vers. v. Schüßler, Werner, (= Dynamics of Faith), Berlin 2020. 63 Ders.: ST III, 158 [133]. Vgl. zu Tillichs Verständnis dieser Form des Realismus auch die Ausführungen zum Dämonischen unter Abschn. 6.2 dieser Arbeit. 64 Ders.: Kairos II, 41. 65 Ebd. 66 Ders.: Christologie und Geschichtsdeutung, 84.
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1. Kor 4,5 – die „‚Erfüllung der Zeit‘ […], auf griechisch kairos.“⁶⁷ Gemäß seiner ursprünglichen Bedeutung muss der Begriff kairos dem Begriff chronos gegenübergestellt werden, der zu messenden Zeit oder der Uhrzeit. Der erstere ist ein qualitativer, der letztere ein quantitativer Begriff. Im Neuen Testament gebraucht Jesus das Wort, wenn er von der Zeit spricht, die noch nicht gekommen sei, der Zeit seines Leidens und seines Todes, und wenn er die „Erfüllung der Zeit“ verkündet, das heißt das Reich Gottes […]. Paulus gebraucht das Wort kairos, wenn er in weltgeschichtlicher Sicht von dem Augenblick der Zeit spricht, in dem Gott seinen Sohn schickt […]. Um diesen „großen kairos“ zu verstehen, muß man die „Zeichen der Zeit“ [vgl. z.B. Mt 16,3, C.D.] verstehen, von denen Jesus sagt, daß seine Feinde sie nicht erkannt haben.⁶⁸
Somit meint Tillich folgend kairos die Manifestation des Reiches Gottes im christlichen Ereignis, die faktische und die aufnehmende Seite der Manifestation des Neuen Seins unter den Bedingungen der zweideutigen Existenz in Jesus als dem Christus: Das Erlebnis des kairos findet sich in der Geschichte der Kirchen wiederholt, wenn auch das Wort nicht gebraucht wird. […] Kairos-Erlebnisse sind Teil der Geschichte der Kirchen, und der große kairos, das Erscheinen der Mitte der Geschichte, wird in relativen kairoi, in denen sich das Reich Gottes in einem spezifischen Durchbruch manifestiert, immer wieder neu erlebt. […] Das Verhältnis des einen kairos zu den kairoi ist das Verhältnis des Kriteriums zu dem, was unter dem Kriterium steht […].⁶⁹
Diesen Durchbruch des kairos beschreibt Tillich bereits 1926 in Kairos II als „Hereinbrechen der Ewigkeit in die Zeit“⁷⁰, was sich unter anderem in Form des prophetischen und des priesterlichen Geistes im Rahmen der Religion zeigt, die nicht vom Menschen ergriffen werden, sondern durch die der Mensch ergriffen wird.⁷¹ 1929 in Der Protestantismus als kritisches und gestaltendes Prinzip bezeichnet Tillich in diesem Sinne den kairos auch als geschichtliche „Verwirklichung der Gestalt der Gnade in einem neuen Wesen.“⁷² Demnach bildet Jesus Christus als der große kairos das Kriterium der kritischen Prüfung jedes „Augenblick[s], der den Anspruch erhebt, ein kairos, eine Ma-
67 Tillich: ST III, 419 [369]. 68 Ebd., 420 [369f.]. Vgl. die o.g. Stellen als biblische Belege für Tillichs Ausführungen. 69 Ebd., 421 [370]. 70 Ders.: Kairos II, 35. 71 Ebd., 35ff. 72 Ders.: Der Protestantismus als kritisches und gestaltendes Prinzip, in: Ders.: GW VII, 29–53, hier 51. Vgl. ausführlich zu Tillichs Entwicklung des Kairos-Verständnisses 6.2 dieser Arbeit. Vgl. zum Gedanken des Hereinbrechens der Ewigkeit in die Zeit im Sinne Tillichs auch Abschn. 5.1 dieser Arbeit.
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nifestation des göttlichen Geistes, zu sein“⁷³, denn da die kairoi „unter dem Schicksal der Geschichte“⁷⁴ und damit unter der entfremdungsbedingten geschichtlichen Zweideutigkeit stehen, sind sie „dämonischer Entstellung und falscher Beurteilung ausgesetzt. (Letzteres trifft bis zu einem gewissen Grad sogar immer auf den großen kairos zu.) Der Irrtum liegt jedoch nicht darin, daß der kairosCharakter der Situation nicht erkannt würde, sondern darin, daß er falsch beurteilt wird,“⁷⁵ indem beispielsweise im Geiste eines Fortschrittsglaubens die Heilsgeschichte mit der Weltgeschichte identifiziert, die Differenz von Bedingtem und Unbedingtem verkannt, Heiliges profanisiert, also Vorläufiges mit Endgültigem gleichgesetzt wird. Da Tillich den großen kairos und die ihm unterworfenen kairoi als Manifestationen des göttlichen Geistes versteht, kann analog zu Tillichs Verständnis der Konstitution des Glaubens „das Erlebnis des kairos nicht hervor[ge]rufen [werden]“⁷⁶, weil grundsätzlich niemand „das ergreifen [kann], wodurch er ergriffen wird – den göttlichen Geist“⁷⁷ und im vom Menschen vollzogenen Glauben, der sich als Akt der Bejahung der Manifestationen des göttlichen Geistes ereignet, „die Zweideutigkeit des Lebens wieder hervortritt.“⁷⁸ Deshalb wurzelt gemäß Tillichs Ausführungen von 1959 in Kairos und Utopie die Erfahrung eines Kairos „in der vertikalen Linie und erscheint auf der horizontalen Linie nur als Erwartung und Wagnis“⁷⁹, wobei er die „Erfahrung eines Kairos als unwiderleglich“⁸⁰ einstuft, da sie als Einbruch des göttlichen Geistes in den menschlichen Geist „die Subjekt-Objekt-Struktur der Dinge transzendiert“⁸¹, diese jedoch innerhalb der Geschichte wie erläutert dämonischer Entstellung und falscher Beurteilung ausgesetzt ist. Ist in diesem Sinne das Erlebnis des kairos als Offenbarung des göttlichen Geistes zu verstehen, dann lässt sich mit Tillich sagen, dass
73 Ders.: ST III, 421 [371]. 74 Ebd., 422 [371]. 75 Ebd. 76 Ebd., 421 [371]. 77 Ebd., 281 [245]. 78 Ebd., 167 [140]. Vgl. zur Unterscheidung von Fragmentarischem und Zweideutigem unter den Bedingungen der entfremdungsbedingten geschichtlichen Zweideutigkeit auch Abschn. 3.2 dieser Arbeit. 79 Ders.: Kairos und Utopie, in: Ders.: GW VI, 149–156, hier 154. 80 Ebd. 81 Ebd. Vgl. zu einer ähnlichen Beschreibung des Kairos auch Ders.: Kairos – Theonomie – Das Dämonische. Ein Brief zu Eduard Heimanns siebzigstem Geburtstag, in: Ders.: GW XIII, 310–315.
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Offenbarung, die vom Menschen unter den Bedingungen der Existenz aufgenommen wird, […] immer fragmentarisch [ist] […]. Offenbarung und Erlösung sind letztgültig, vollkommen und unwandelbar in bezug auf das offenbarende und erlösende Ereignis; sie sind vorläufig, fragmentarisch und wandelbar in bezug auf die Personen, die die offenbarende Wahrheit und erlösende Macht empfangen.⁸²
Deshalb ist das Reich Gottes in den Worten Tillichs zwar „immer gegenwärtig, aber die Erfahrung von seiner die Geschichte erschütternden Macht ist es nicht. Kairoi sind selten, und der große kairos ist einmalig, aber zusammen bestimmen sie die Dynamik der Geschichte.“⁸³ Wenn nun kairos und kairoi als Manifestationen des göttlichen Geistes, die der menschliche Geist ausschließlich empfangen und vollziehen kann, zu verstehen sind, eben jene jedoch zusammen die Dynamik der Geschichte bestimmen, ergibt sich die „Frage der geschichtlichen Vorsehung und der Macht des Bösen in der Geschichte.“⁸⁴ Geschichtliche Vorsehung darf nach Tillich entsprechend seiner Ablehnung einer Identifikation von Heilsgeschichte und Weltgeschichte nicht deterministisch als göttlicher Plan verstanden werden […]. Denn das Wort „Plan“ läßt an ein im voraus entworfenes Modell denken mit all den Einzelheiten, die zu einem Plan gehören. Damit wird das Element des Zufalls im geschichtlichen Prozeß so sehr beschränkt, daß das Schicksal die Freiheit auslöscht. Aber die Struktur der Geschichte schließt das Zufällige ein, das Überraschende, das unableitbar Neue. […] Wir müssen das Symbol der göttlichen Vorsehung so weit fassen, daß es das immer vorhandene Element des Zufälligen einbegreift.⁸⁵
Durch die „überwältigende Manifestation des Dämonischen in der Geschichte mit ihren tragischen Folgen“⁸⁶ und „das Negative in der Geschichte (Desintegration, Zerstörung, Profanisierung)“⁸⁷, in welchen sich für Tillich die zerstörerische Kraft
82 Tillich: ST I, 174 [146]. Vgl. zu diesem Offenbarungsverständnis auch Tillichs Unterscheidung von Grund- und Heilsoffenbarung von 1924 in Ders.: Rechtfertigung und Zweifel, in: Ders.: Gesammelte Werke. Offenbarung und Glaube. Schriften zur Theologie II, Albrecht, Renate (Hg.), Bd. VIII, Stuttgart 1970, 85–100, das unter Abschn. 6.2 im Rahmen von Tillichs Verständnis des protestantischen Prinzips erläutert wird. 83 Ders.: ST III, 422f. [372]. Vgl. hierzu auch die Ausführungen zum Kairos-Begriff unter Abschn. 6.2 dieser Arbeit. 84 Ebd., 423 [372]. 85 Ebd. In der englischen Fassung ist der in diesem Zitat letztgenannte Satz nicht vorhanden. Vgl. zur Grundpolarität Freiheit und Schicksal bei Tillich Abschn. 2.2 sowie zur Schaffung von qualitativ Neuem als wesentlichem Merkmal der Geschichte Unterabschn. 3.1.1 dieser Arbeit. 86 Ebd. 87 Ebd., 424 [373].
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des Bösen zeigt, sieht sich der „Glauben an eine geschichtliche Vorsehung“⁸⁸ allerdings wesentlich in Frage gestellt. Gemäß Tillich schließt ein „Begriff der Vorsehung, der dem Bösen Rechnung trägt“⁸⁹, einen „teleologischen Optimismus“⁹⁰ in Form eines Fortschrittglaubens oder Utopismus aus, weil zum einen „keine Gerechtigkeit und kein Glück in der Zukunft die Ungerechtigkeit und das Leiden in der Vergangenheit auslöschen [kann]“⁹¹ und zum anderen die „fortschrittsgläubig-utopische Anschauung dem Element der ‚Freiheit zum Guten und zum Bösen‘, mit dem jeder Mensch geboren wird“⁹², widerspricht. Im Sinne der Manifestation des Neuen Seins in Jesus Christus als Mitte der Geschichte unter den Bedingungen der existentiellen Entfremdung bezieht „die geschichtliche Vorsehung […] dies alles ein und wirkt durch es hindurch auf das Neue innerhalb der Geschichte und jenseits der Geschichte hin.“⁹³ Aus eben jener Auffassung der geschichtlichen Vorsehung und dem großen kairos folgt gleichermaßen Tillichs „Ablehnung eines reaktionären und zynischen Pessimismus“⁹⁴, der davon ausgeht, dass die zerstörerischen Kräfte den schöpferischen Kräften des göttlichen Geistes überlegen sind: Sie [die Auffassung der geschichtlichen Vorsehung, C.D.] gibt die Gewißheit, daß das Negative in der Geschichte […] sich niemals gegen die zeitlichen und ewigen Ziele des geschichtlichen Prozesses behaupten kann. Das ist die Bedeutung von Paulus’ Worten, daß Gottes Liebe, wie sie sich in Christus offenbart, der Sieg über die dämonischen Mächte ist (Röm. 8). Die dämonischen Mächte sind nicht vernichtet, aber sie können nicht verhindern, daß die Geschichte ihr Ziel [die universale, endgültige Teilnahme an der transzendenten Einheit unzweideutigen Lebens, C.D.] erreicht […].⁹⁵
In diesem Sinne bezeichnet Tillich in seiner Schrift von 1930 Christologie und Geschichtsdeutung das christliche Ereignis auch als „Ort der Überwindung des Sinnwidrigen oder – was das gleiche ist – als Ort des Heils.“⁹⁶ Diese göttliche Vorsehung auf das Ziel der Geschichte hin bleibt nach Tillich für endlich Seiendes unter den Bedingungen der existentiellen Entfremdung mit ihren Zweideutigkeiten des Lebens als
88 Ebd., 423 [372]. 89 Ebd., 424 [372]. 90 Ebd., 424 [373]. 91 Ebd. 92 Ebd. 93 Ebd. 94 Ebd. 95 Ebd. Vgl. zur endgültigen Teilnahme an der transzendenten Einheit unzweideutigen Lebens als Ziel der Geschichte auch Unterabschn. 3.1.1 dieser Arbeit. 96 Ders.: Christologie und Geschichtsdeutung, 91.
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Weg, auf dem das geschieht, […] göttliches Mysterium; er kann nicht errechnet und beschrieben werden. […] Die Unmöglichkeit, die Weltgeschichte in ihrer Totalität zu verstehen, schließt aber die Möglichkeit nicht aus, von einem gewissen Standpunkt aus die schöpferische Bedeutung einzelner Entwicklungen für den geschichtlichen Prozeß zu erkennen. Dies versuchten wir, indem wir die Idee des kairos einführ[t]en und die Situation des großen kairos beschrieben.⁹⁷
Matern fasst das wie folgt zusammen: Zwar ist das Reich Gottes das „Ziel der geschichtlichen Vorsehung“ (III 423). Das impliziert aber keinen Determinismus. Die Geschichte bleibt offen. Nur die Überwindung des Negativen und Destruktiven, die sich immer wieder kairotisch manifestiert, sie allein ist gewiss.⁹⁸
Jene kairos-Erfahrungen weisen Tillich folgend „auf die universale Erfahrung hin, daß sich Gottes Handeln als schöpferische Kraft in der Geschichte manifestiert“⁹⁹, aber die „Vorsehung selbst hinter den einzelnen Akten der Vorsehung bleibt in dem Mysterium göttlichen Lebens verborgen“¹⁰⁰, so dass es dem Menschen in seiner endlichen Existenz verwehrt ist, „sich auf den Thron der göttlichen Vorsehung [zu setzen].“¹⁰¹ Daher stellt sich angesichts des beschriebenen Mysteriums der göttlichen Vorsehung in Bezug auf Tillichs Verständnis der Geschichte der Kirchen als Geschichte der durch den göttlichen Geist konstituierten gläubigen Aufnahme und Antizipation des christlichen Ereignisses die Frage, wie im Sinne Tillichs das Verhältnis des Reiches Gottes und der Kirchen genauer expliziert zu werden vermag.
4.2 Die Kirchen als innergeschichtliche Repräsentanten des Reiches Gottes Gemäß Tillich erweisen sich die Kirchen als „Repräsentanten des Reiches Gottes in der Geschichte“¹⁰², indem wie bereits geschildert die Geschichte der Kirchen
97 Tillich: ST III, 424f. [kursiv C.D.] [373f.]. 98 Matern: Das Reich Gottes innerhalb der Geschichte und als Ziel der Geschichte, 295. 99 Tillich: ST III, 425 [374]. In der englischen Fassung ist der Bezug auf Gottes Handeln erweitert formuliert: „[…] divine action in terms of historical creativity, judgment, and grace.“ 100 Ebd. 101 Ebd. 102 Ebd., 426 [374].
4.2 Die Kirchen als innergeschichtliche Repräsentanten des Reiches Gottes | 141
die Geschichte der Aufnahme des christlichen Ereignisses¹⁰³ der Manifestation des Neuen Seins in Jesus als dem Christus darstellt, der universal den entfremdungsbedingten Zwiespalt von essentiellem und existentiellem Sein überwindet, denn: „Wie die geschichtliche Dimension alle anderen Dimensionen umfaßt, so umfaßt das Reich Gottes alle Seinsbereiche unter dem Aspekt ihres letzten Ziels […]. Die Kirchen repräsentieren das Reich Gottes in diesem universalen Sinn.“¹⁰⁴ Im Manuskript von Tillichs Dresdener Dogmatik-Vorlesung aus den Jahren 1925– 1927 ist der Abschnitt zur Aufnahme der vollkommenen Offenbarung leider nur als Gliederung überliefert. Sie lässt im Hinblick auf die Kirche als „Einheit von Überwindung und Bekämpfung des Dämonischen“¹⁰⁵ ähnliche Grundgedanken erwarten, wobei aufgrund der Entstehungszeit vermutlich der gestaltende Aspekt des Kairos-Gedankens stärker als der kritische Aspekt akzentuiert war. Für Tillich ist das Reich Gottes „nicht nur ein soziales Symbol, es umfaßt die gesamte Wirklichkeit. Und wenn die Kirchen Repräsentanten des Reiches Gottes sein wollen, dürfen sie seine Bedeutung nicht auf einen einzelnen Bereich beschränken.“¹⁰⁶ Sie hat „die Gegenwart des Unbedingt-Wirklichen in allen Dingen“¹⁰⁷ zu bezeugen und „auf die Einheit alles [sic] Lebens in seinem schöpferischen Grund und in seiner letzten Erfüllung“¹⁰⁸ hinzuweisen. Allerdings sind die „Kirchen, die das Reich Gottes in seinem Kampf gegen die Mächte der Profanisierung und Dämonisierung repräsentieren, […] selber der Zweideutigkeit […] unterworfen und der Profanisierung und Dämonisierung ausgesetzt.“¹⁰⁹ Somit stellt sich mit Tillich die Frage: „Wie aber kann etwas, was selbst dämonisiert ist, den Kampf gegen das Dämonische, und etwas, das selbst profanisiert ist, den Kampf gegen das Profane vertreten?“¹¹⁰ Um eine Antwort auf diese Frage im Sinne Tillichs finden zu können, soll im Folgenden Tillichs grundsätzliches Verständnis der Kirche erörtert werden:
103 Vgl. zu Tillichs Verständnis der Geschichte der Kirchen auch Abschn. 4.1 dieser Arbeit. Vgl. hierzu ausführlich Abschn. 6.2 dieser Arbeit. Das Manuskript zur Vorbereitung der vollkommenen Aufnahme ist erhalten und findet sich in: Ders.: EW XIV, 271ff. 104 Ders.: ST III, 426 [375]. 105 Vgl. Ders.: EW XIV, 388. 106 Ders.: ST III, 428 [377]. 107 Ebd. In der englischen Fassung heißt es statt „Gegenwart des Unbedingt-Wirklichen“: „the presence of the ultimate sublime“. 108 Ebd. 109 Ebd., 429 [377]. 110 Ebd. Vgl. zu Tillichs Verständnis des Dämonischen im Sinne der Verabsolutierung von etwas Vorläufigem oder auch Bedingtem zu etwas Endgültigem oder auch Unbedingtem Abschn. 3.2 sowie Abschn. 6.2 dieser Arbeit.
142 | 4 Die geschichtliche Immanenz des Reiches Gottes
Nach Tillich unterliegt die Geschichte als umfassendster Lebensprozess der existentiellen Entfremdung des essentiellen Seins, wobei jeder Lebensprozess essentielle und existentielle Elemente vereint, da in jeder existentiellen Verzerrung die entsprechende essentielle Bestimmung – wenn auch als verzerrte – wirksam und gegenwärtig bleibt. Aus eben jener Gegenwart von essentiellen und existentiellen Elementen ergibt sich in Tillichs Verständnis die Zweideutigkeit aller Lebensprozesse.¹¹¹ Weil sich die „Macht des Essentiellen […] in jedem Lebensprozeß [zeigt]“¹¹², ist auch die Kirche in diesem Sinne als zweideutig zu verstehen: Das Paradox der Kirchen besteht darin, daß sie auf der einen Seite an den Zweideutigkeiten des […] Lebens […] teilnehmen, daß sie aber auf der anderen Seite an dem unzweideutigen Leben der Geistgemeinschaft teilhaben. Das hat zur Folge, daß man die Kirchen nur verstehen und beurteilen kann, wenn man sie unter diesem doppelten Aspekt sieht.¹¹³
Die Geistgemeinschaft ist Tillich folgend unzweideutig, sie ist Neues Sein, geschaffen durch den göttlichen Geist. Aber sie ist, obgleich sie die Verwirklichung unzweideutigen Lebens ist, dennoch fragmentarisch wie auch die Manifestation des unzweideutigen Lebens im Christus und in denen, die den Christus erwarteten, fragmentarisch war. Die Geistgemeinschaft ist eine unzweideutige, wenn auch fragmentarische Schöpfung des göttlichen Geistes. „Fragmentarisch“ bedeutet hier, daß sie unter den Bedingungen der Endlichkeit erscheint, aber Entfremdung und Zweideutigkeit siegreich überwindet.¹¹⁴
Als Schöpfung des göttlichen Geistes kann die Geistgemeinschaft nicht durch den menschlichen Geist konstituiert werden. Eben jene Konstitution der Geistgemeinschaft durch den göttlichen Geist schließt die „Periode vor der Begegnung mit dem Christus“¹¹⁵ als Vorbereitung der Aufnahme von Jesus Christus als Mitte der Geschichte ein. Deshalb bezeichnet Tillich die „Geistgemeinschaft in der Periode der Vorbereitung als Geistgemeinschaft in ihrer ‚Latenz‘ und in der Periode der Aufnahme als Geistgemeinschaft in ihrer ‚Manifestation‘.“¹¹⁶ Die Unterscheidung von latenter und manifester Kirche im Zusammenhang einer Verhältnisbestimmung von Kirchengeschichte und 111 Vgl. zum Verhältnis von essentiellem und existentiellem Sein sowie zu Tillichs Verständnis von „Entfremdung“ und „Zweideutigkeit“ Abschn. 2.3 dieser Arbeit. 112 Tillich: ST III, 193 [164]. 113 Ebd. 114 Ebd., 177 [kursiv C.D.] [150]. 115 Ebd., 179 [152]. In der englischen Fassung heißt es nicht „Christus“, sondern „New Being“. Vgl. zum Verhältnis von Vorbereitung und Aufnahme des christlichen Ereignisses auch Abschn. 4.1 dieser Arbeit. 116 Ebd., 180 [152].
4.2 Die Kirchen als innergeschichtliche Repräsentanten des Reiches Gottes | 143
Weltgeschichte findet sich bei Tillich schon 1939 in seiner Schrift Geschichte als das Problem unserer Zeit: Es wird immer Weltgeschichte geben, denn es wird immer eine latente Kirchengeschichte geben, solange das göttliche Wort, der logos, der in dem Christus manifestiert ist, die Welt auf seine Ankunft vorbereitet und diejenigen, die ihn erwarten, an seinem Erscheinen antizipieren läßt. Es ist die Aufgabe der Missionen, die latente Kirchengeschichte in eine manifeste Kirchengeschichte zu verwandeln, indem sie Vorbereitung und Antizipation in Aufnahme und Verwirklichung verwandeln.¹¹⁷
Somit fasst die Unterscheidung von latenter und manifester Kirche nicht die „klassische[ ] Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche“¹¹⁸, welche Tillich durch seine Unterscheidung von Kirche und Geistgemeinschaft ausdrückt: „Die Unterscheidung von ‚Geistgemeinschaft‘ und ‚Kirche‘, […] kann mit dazu beitragen, daß ‚latent‘ nicht mit ‚unsichtbar‘ und ‚manifest‘ nicht mit ‚sichtbar‘ verwechselt wird.“¹¹⁹ In diesem Sinne ist die Geistgemeinschaft „‚Kirche im essentiellen Sinn‘ […], das innere telos der Kirchen und als solches die Quelle für alles, was die Kirchen zur Kirche macht.“¹²⁰ Daher spricht Tillich „von Kirchen […], wenn die geschichtlichen Kirchen gemeint sind, und […] von Geistgemeinschaft, wenn von der Kirche im essentiellen Sinn die Rede ist.“¹²¹ Das Verhältnis der Geistgemeinschaft zu den Kirchen oder auch der unsichtbaren zur sichtbaren Kirche bestimmt Tillich in Bezug auf die Reformatoren wie folgt: Die unsichtbare Kirche darf nicht als „eine Wirklichkeit neben der sichtbaren Kirche, oder genauer, neben den sichtbaren Kirchen verstanden [werden]“¹²², weil die unsichtbare Kirche für sie [die Reformatoren, C.D.] die geistige Essenz der sichtbaren Kirchen [war]. Wie alles Geist-Geschaffene ist sie verborgen, und doch gibt sie den sichtbaren Kirchen ihr Wesen. Das gleiche können wir von der Geistgemeinschaft sagen: sie hat keine Eigenständigkeit neben den Kirchen, sie ist ihre geistige Essenz und wirkt in ihnen als Kraft, als Struktur und als kämpfende Macht gegen ihre Zweideutigkeit.¹²³
117 Ders.: Geschichte als das Problem unserer Zeit, 167. Vgl. ausführlicher zum Verhältnis von Kirchengeschichte und Weltgeschichte Abschn. 4.3 dieser Arbeit. 118 Ders.: ST III, 180 [152f.]. 119 Ebd., 180 [153]. 120 Ebd., 192/194 [163/165]. 121 Ebd., 192 [vgl. 163]. Die englische Fassung weicht wegen der Spezifika der englischen Sprache an dieser Stelle entsprechend ab, formuliert aber sinngemäß dieselbe Aussage. 122 Ebd., 192 [163]. 123 Ebd.
144 | 4 Die geschichtliche Immanenz des Reiches Gottes
In der Geistgemeinschaft bestimmt „die Essentialität die Existenz […], obwohl die Existenz ihr ständig Widerstand leistet.“¹²⁴ Somit erweist sich die Geistgemeinschaft nicht als „‚Idealbild‘ […], das gegen die Realität der Kirchen besteht“¹²⁵, denn Tillichs Ablehnung des Fortschrittsgedankens in Bezug auf die Verwirklichung der transzendenten Einheit des unzweideutigen Lebens innerhalb der Geschichte entsprechend suggeriert ein „solches Idealbild […] die Erwartung, daß die aktuellen Kirchen sich in ständigem Fortschritt diesem Bild annähern werden.“¹²⁶ Darüber hinaus bildet die Geistgemeinschaft nach Tillich in Form einer platonisch gedachten Idee als himmlische ecclesia auch nicht „das supranaturalistische Gegenstück zur irdischen ecclesia“¹²⁷, sondern ist das, „was die irdischen Kirchen zu Kirchen macht, nämlich ihre geistige Essenz […].“¹²⁸ Im Hinblick auf die Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche beziehungsweise von den geschichtlichen Kirchen und der Geistgemeinschaft lässt sich gemäß Tillich „in wissenschaftstheoretischer Sprache von dem soziologischen und dem theologischen Aspekt der Kirche […] reden.“¹²⁹ Als soziologische Wirklichkeit unterliegt Kirche den Gesetzen, die das Leben jeder sozialen Gruppe bestimmen; und sie nimmt wie jede soziale Gruppe an den Zweideutigkeiten der Lebensprozesse teil. […] In dieser Hinsicht ist die Kirchengeschichte Profangeschichte mit allen desintegrierenden, destruktiven und tragischdämonischen Elementen, die das Leben der Geschichte genauso zweideutig machen wie das Leben in allen anderen Lebensprozessen.¹³⁰
Wird Kirche schwerpunktmäßig als soziologische Wirklichkeit verstanden, bestehen zwei Gefahren: Entweder wird die konkrete Kirche mit ihren desintegrierenden, destruktiven und tragisch-dämonischen Elementen „mit ihrem Anspruch, die Geistgemeinschaft zu verkörpern“¹³¹ verglichen, so dass die konkrete Kirche durch „übertriebene[ ] Erwartungen und daraus resultierende[ ] Enttäuschungen […] den Blick auf die Kirche im Sinn der Geistgemeinschaft [verdeckt]“¹³², oder die Kirche wird fortschrittsgläubig „als die weitumfassendste,
124 Tillich: ST III, 193 [163]. 125 Ebd. 126 Ebd., 193 [164]. 127 Ebd. 128 Ebd. 129 Ebd., 193 [165]. 130 Ebd., 194f. [165]. In der englischen Fassung heißt es anstelle von „Profangeschichte“: „secular history“. 131 Ebd., 195 [166]. 132 Ebd.
4.2 Die Kirchen als innergeschichtliche Repräsentanten des Reiches Gottes | 145
wirkungsvollste soziale Macht gepriesen, die […] viel zur Steigerung des menschlichen Lebens beigetragen hat“¹³³, wodurch sie zu einer „wohlwollende[n], sozial nützliche[n] Gruppe“¹³⁴ verkommt. Deshalb ist Tillich folgend der theologische Aspekt zentral für die „Beurteilung der Kirchen […]. Sie [die theologische Beurteilung] verneint nicht den soziologischen Aspekt, aber sie verneint seine Ausschließlichkeit. Sie weist auf die Geistgemeinschaft hin, die in den Zweideutigkeiten der sozialen Wirklichkeit der Kirchen verborgen gegenwärtig ist.“¹³⁵ Wird die Kirche jedoch einseitig von ihrem theologischen Aspekt her erfasst, besteht die Gefahr, dass eine Haltung hinsichtlich der Kirche eingenommen wird, die „zwar die soziologische Seite der Kirchen und ihre Zweideutigkeiten nicht leugnet, aber ihre Bedeutung für den Geist-Charakter der Kirchen verneint“¹³⁶, indem sie die Zweideutigkeit der Kirchen „zu ignorieren und die soziologische Seite hinter der theologischen zu verbergen [versucht]. Aber die Beziehung der beiden Seiten ist paradox. Sie kann nicht verstanden werden, wenn man die eine Seite eliminiert oder der anderen unterordnet.“¹³⁷ Die vorliegenden Ausführungen können sich deshalb der Interpretation von Matern nicht anschließen, der die Geistgemeinschaft bei Tillich als den inner- und außerkirchlichen sozialen Zusammenhang im Sinne einer Reflexionsavantgarde versteht, innerhalb dessen sich die Erinnerung an die vollständige Erschlossenheit des Geistigen im Symbol des Christus vollzieht.¹³⁸ Hier scheint der theologische Aspekt der Kirchen auf den soziologischen Aspekt reduziert, indem die Geistgemeinschaft als inner- und außerkirchlicher sozialer Zusammenhang gefasst wird. Wie jedoch dargestellt hat die Geistgemeinschaft für Tillich keine Eigenständigkeit neben den Kirchen, sondern ist ihre geistige Essenz, die in den Zweideutigkeiten der sozialen Wirklichkeit der Kirchen ausschließlich verborgen gegenwärtig ist. Danz äußert in diesem Zusammenhang ein ähnliches Verständnis der Geistgemeinschaft, die den soziologischen fassbaren geschichtlichen Institutionen der Kirchen als Essenz zugrunde liegt.¹³⁹ Das irreduzible Paradoxon der Kirchen besteht demnach darin, dass sie hinsichtlich ihres theologischen Aspektes als unsichtbare Kirche oder in Tillichs Terminologie als Geistgemeinschaft fragmentarisch an dem unzweideutigen Leben des Neuen Seins partizipieren und hinsichtlich ihres soziologischen Aspektes als
133 Ebd. 134 Ebd. 135 Ebd., 195 [kursiv C.D.] [166]. 136 Ebd., 196 [166]. 137 Ebd., 196 [167]. 138 Matern: Das Reich Gottes innerhalb der Geschichte und als Ziel der Geschichte, 295. 139 Danz, Christian: Die Gegenwart des göttlichen Geistes und die Zweideutigkeiten des Lebens, in: Ders. (Hg.): Paul Tillichs „Systematische Theologie“, 254–256, hier 249.
146 | 4 Die geschichtliche Immanenz des Reiches Gottes
sichtbare Kirche oder auch als geschichtliche Kirchen im Sinne von konkret in der Kultur verankerten, religiösen Glaubensgemeinschaften an den Zweideutigkeiten des Lebens teilnehmen. Dies lässt sich Tillich folgend daran veranschaulichen, „wie die Charakteristika der Geistgemeinschaft auf die Kirchen übertragen werden müssen. Jedes von ihnen kann den Kirchen nur unter Hinzufügung eines ‚trotzdem‘ zugeschrieben werden. Das bezieht sich auf die Prädikate: Heiligkeit, Einheit und Universalität […]“¹⁴⁰: a) Heiligkeit kann den Kirchen „wegen der Heiligkeit ihres Fundamentes, des Neuen Seins“¹⁴¹ zugesprochen werden, denn die Heiligkeit der Kirche ist nicht abhängig von ihren Institutionen, Lehren, ihrem Kultus und ihrem Gottesdienst, noch von ihren ethischen Prinzipien. Aber ebensowenig kann die Heiligkeit der Kirchen von der Heiligkeit ihrer Glieder abgeleitet werden, denn die Glieder sind heilig trotz ihrer aktuellen Unheiligkeit – sofern sie zur Kirche gehören wollen und das empfangen haben, was die Kirche selbst empfangen hat: das Neue Sein. Die Heiligkeit der Kirchen und der Christen ist nicht eine Sache, die aufgrund empirischer Tatsachen angenommen wird, sondern eine Sache des Glaubens, d.h. des Ergriffenseins von dem in der Kirche wirkenden Neuen Sein. […] Sie sind heilig, weil sie unter dem negativen und dem positiven Urteil des Kreuzes stehen.¹⁴²
Da nämlich im Kreuz Christi die Essenz des endlichen Lebens unter den Bedingungen der entfremdeten Existenz offenbar wird, verleiht das Neue Sein in Jesus als dem Christus der Kirche ihre essentielle Seinsmächtigkeit und richtet zugleich ihre desintegrierenden, zerstörerischen und profanisierenden Kräfte als Entfremdung ihrer Existenz, indem es die fragmentarische Teilhabe am Neuen Sein und jene die Existenz von ihrer Essenz entfremdende Seite der Zweideutigkeit voneinander unterscheidet.¹⁴³ Dergestalt sind die Kirchen aufgrund der Wirkung des Neuen Seins trotz ihrer existentiellen Entfremdung „Verkörperungen des Neuen Seins und Schöpfungen des göttlichen Geistes, und ihre geistige Essenz ist die Geistgemeinschaft, die durch die Zweideutigkeiten der Kirche hindurch in Richtung auf unzweideutiges Leben hinwirkt.“¹⁴⁴ Das „Werk des Geistes“¹⁴⁵ äußert sich in „den Kirchen, auch
140 Tillich: ST III, 196 [167]. 141 Ebd. Vgl. zu Tillichs Verständnis des Heiligen auch Abschn. 2.2 dieser Arbeit. 142 Ebd., 196f. [167]. 143 Vgl. zu Tillichs Verständnis von Essenz als Seinsmächtigkeit und Gericht Unterabschn. 2.3.1, einer Beschreibung der Elemente der Zweideutigkeiten des Lebens Abschn. 2.2 sowie zur Unterscheidung des Fragmentarischen vom Zweideutigen durch das Neue Sein Abschn. 3.2 dieser Arbeit. 144 Tillich: ST III, 197 [168]. 145 Ebd., 197f. [168]. In der englischen Fassung fehlt der Hinweis auf das Werk des Geistes.
4.2 Die Kirchen als innergeschichtliche Repräsentanten des Reiches Gottes | 147
wenn sie noch so entstellt sind, […] [als] Kraft der Selbsterneuerung. […] Das ist besonders offenkundig in den Bewegungen der prophetischen Kritik und der Reformationen […]. Unter allen Umständen gilt: Die Kirchen sind heilig, aber sie sind es in der Form des ‚trotzdem‘ oder des Paradoxes.“¹⁴⁶ b) Analog zu Tillichs Argumentation in Bezug auf die Heiligkeit als Paradoxon der Kirchen kann das „Paradox ihrer Einheit“¹⁴⁷ beschrieben werden: Die Kirchen bilden eine Einheit aufgrund der Einheit ihres Fundamentes – des Neuen Seins, das in ihnen wirkt. Die Einheit der Kirchen kann nicht aus ihrer aktuellen Einheit abgeleitet werden, noch kann das Prädikat der Einheit ihnen wegen ihrer aktuellen Gespaltenheit versagt werden. Das Prädikat der Einheit ist von empirischen Wirklichkeiten und praktischen Möglichkeiten unabhängig. Es ist identisch mit der Abhängigkeit jeder aktuellen Kirche von der Geistgemeinschaft als ihrer geistigen Essenz.¹⁴⁸
Daraus ergibt sich eine der Spannung von Heiligkeit und Profanität entsprechende „Zweideutigkeit von Einheit und Spaltung in der geschichtlichen Existenz der Kirchen“¹⁴⁹, weil die Teilung der Kirchen infolge der Zweideutigkeiten […] unvermeidlich [ist], aber nicht […] etwas, das ihrer Einheit in Hinsicht auf ihr Fundament – ihre essentielle Einheit, die paradox in der Mischung von Einheit und Spaltung wirksam ist – widerspricht. […] Die Einheit der Kirchen hat, wie ihre Heiligkeit, paradoxen Charakter: Die geteilte Kirche ist zugleich die eine Kirche.¹⁵⁰
c) Auf gleiche Weise formuliert Tillich im Hinblick auf die Kirchen das Paradoxon ihrer Universalität: Die Kirchen sind universal wegen der Universalität ihres Fundamentes – des Neuen Seins, das in ihnen wirksam ist. […] Aber die Universalität ist in den Kirchen niemals voll verwirklicht. Das Prädikat der Universalität kann nicht aus ihrer aktuellen Situation abgeleitet werden. Im Lichte ihrer geschichtlichen bedingten Partikularität ist die Universalität trotz der Existenz von Weltkirche und Weltkirchenrat paradox.¹⁵¹
Dies gilt nach Tillich sowohl für die intensive als auch für die extensive Universalität der Kirche. Dabei versteht Tillich unter der „intensiven Universalität“ der Kirche, „ihre Fähigkeit und ihren Wunsch, als Kirche an allem Geschaffe-
146 Ebd., 198 [168]. 147 Ebd. 148 Ebd., 198 [168f.]. 149 Ebd., 199 [169]. 150 Ebd., 198f. [169f.]. 151 Ebd., 199ff. [170f.].
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nen in allen Dimensionen des Lebens teilzunehmen. […] Es gibt nichts in der Natur, nichts im Menschen und nichts in der Geschichte, das nicht einen Platz in der Geistgemeinschaft hätte und daher auch in den Kirchen, deren geistige Essenz die Geistgemeinschaft ist.“¹⁵² Im Unterschied zur intensiven Universalität bezieht sich gemäß Tillich die extensive Universalität der Kirchen auf „die Gültigkeit ihres Fundamentes für alle Nationen, sozialen Gruppen, Rassen, Stämme und Kulturen.“¹⁵³ Beide Aspekte der Universalität lassen sich in Bezug auf die Kirchen ausschließlich in der beschriebenen Spannung von unsichtbarer und sichtbarer Kirche oder auch von Geistgemeinschaft und geschichtlichen Kirchen verstehen: „Die quantitative oder extensive Universalität ist wie die qualitative oder intensive Universalität ein paradoxes Prädikat. Wie von den Prädikaten der Heiligkeit und Einheit müssen wir auch von der Universalität der Kirchen sagen, daß sie in deren Partikularität gegenwärtig ist.“¹⁵⁴ Die dargestellten Charakteristika der Geistgemeinschaft im Zusammenhang ihrer existentiellen Verwirklichung verdeutlichen die Irreduzibilität des soziologischen und des theologischen Aspektes für ein Verständnis der geschichtlichen Kirchen. Wenn Tillich nun die geschichtlichen Kirchen im Paradoxon ihrer Heiligkeit, Einheit und Universalität im Zusammenhang der geschichtlichen Dimension des Lebens als Repräsentanten des Reiches Gottes versteht, dann kann Tillich folgend das erläuterte Paradoxon im Hinblick auf die genannte geschichtliche Funktion der Kirchen wie folgt formuliert werden: Die Repräsentation des Reiches Gottes durch die Kirchen ist ebenso zweideutig wie die Verwirklichung der Geistgemeinschaft in den Kirchen. In beiden Funktionen zeigt sich der paradoxe Charakter der Kirchen: sie offenbaren und verhüllen zugleich. […] Die Macht des Repräsentanten wurzelt, wie schlecht er auch das, was er repräsentieren soll, repräsentiert, in seiner Funktion als Repräsentant. Die Kirchen bleiben Kirchen, selbst wenn sie das Unbedingte verhüllen, anstatt es zu offenbaren. So wie der Mensch nicht aufhört, Träger des Geistes zu sein, so können die Kirchen, die das Reich Gottes repräsentieren, die Funktion nicht verlieren […]. Verzerrter Geist bleibt Geist, und verzerrte Heiligkeit bleibt Heiligkeit.¹⁵⁵
Darin liegt Tillichs Antwort auf die eingangs gestellte Frage, wie etwas, das selbst den Zweideutigkeiten des Lebens unterworfen ist, gegen eben jene Zweideutigkeiten wirksam zu sein vermag:
152 153 154 155
Tillich: ST III, 199f. [170]. Ebd., 201 [171]. Ebd., 201 [172]. Ebd., 426 [375].
4.2 Die Kirchen als innergeschichtliche Repräsentanten des Reiches Gottes | 149
Als Repräsentanten des Reiches Gottes nehmen die Kirchen aktiv teil sowohl an der Bewegung der Zeit auf das Ziel der Geschichte hin wie an dem innergeschichtlichen Kampf des Reiches Gottes gegen die Kräfte der Dämonisierung und der Profanisierung, die sich diesem Ziel widersetzen. […] In diesem Kampf, den die Kirchen zu allen Zeiten führen, sind sie Werkzeuge des Reiches Gottes. Das können sie sein, weil sie auf das Neue Sein gegründet sind, in dem die Mächte der Entfremdung überwunden sind.¹⁵⁶
Daraus folgt für Tillich: Da [die Geschichte der Kirchen] sich zu allen Zeiten und in allen ihren Formen auf die zentrale Manifestation des Reiches Gottes in der Geschichte bezieht, trägt sie in sich selbst das letzte Kriterium gegen sich selbst – das Neue Sein in Jesus als dem Christus. […] Das letzte Kriterium ist das Verhältnis der Kirchen und ihrer Geschichte, selbst noch in verzerrten Formen ihrer Entwicklung, zu ihrem Fundament in der Mitte der Geschichte.¹⁵⁷
Im Rahmen einer Verhältnisbestimmung von Kirche und Kommunismus, die Tillich 1937 in Die Kirche und der Kommunismus verfasst, formuliert Tillich diesen Gedanken wie folgt: Das allgemeine Verhalten der Kirche als ganzer ist als der ständige Versuch zu verstehen, das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit zu repräsentieren und zu antizipieren. […] Die Verpflichtung der christlichen Kirchen, sich von der Geschichte zu distanzieren […], wurzelt darin, daß sie einen anderen Lebenssinn repräsentieren als den, der sich im geschichtlichen Leben ausdrückt. Aber da sie diesen Sinn mitten in der Geschichte und für die Geschichte repräsentieren, haben sie ihren letzten Vorbehalt mit dem Bewußtsein akuter Verpflichtung vor der Geschichte zu verbinden […]. Das Gleichgewicht dieser beiden wesenhaften Elemente des Handelns der christlichen Kirche muß […] wieder und wieder erstrebt werden.¹⁵⁸
Demnach repräsentieren die Kirchen die Geistgemeinschaft in der Geschichte als umfassendstem Lebensprozess aufgrund der Macht des Essentiellen, das in jedem Lebensprozess richtend gegenwärtig ist. Durch die Macht der Geistgemeinschaft als Werk des göttlichen Geistes wirken die geschichtlichen Kirchen trotz ihrer existentiellen Verzerrung gegen die das Leben entfremdenden Mächte der Desintegration, Zerstörung und Profanisierung. Trotz ihrer Teilnahme an den existentiellen Zweideutigkeiten partizipieren sie auf fragmentarische Weise an der transzendenten Einheit des unzweideutigen Lebens und repräsentieren es unter den Bedingungen der zweideutigen Existenz in der Weltgeschichte. Somit ergibt sich die Frage, wie sich das Wirken des Reiches Gottes in der Weltgeschichte – und damit das Verhältnis von Kirchengeschichte und Weltgeschichte – nach Tillich fassen
156 Ebd., 426f. [375f.]. 157 Ebd., 433 [kursiv C.D.] [381]. 158 Ders.: Die Kirche und der Kommunismus, in: Ders.: GW X, 146–158, 157f.
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und hinsichtlich der Geschichte als umfassendstem Lebensprozess konkreter erörtern lässt.¹⁵⁹
4.3 Die Gegenwart des Reiches Gottes in der Weltgeschichte In Bezug auf die Frage nach dem Wirken des Reiches Gottes in der Weltgeschichte ist zunächst festzuhalten, dass gemäß Tillich der Begriff „Weltgeschichte“ nicht voraussetzt, „daß es eine zusammenhängende, kontinuierliche Geschichte einer alles umfassenden geschichtlichen Gruppe, der Menschheit, gebe“¹⁶⁰, da die die Menschheit zwar „der Ort [ist], an dem sich geschichtliche Entwicklungen vollziehen“¹⁶¹, aber eben jenen Entwicklungen „in keinem Fall […] ein gemeinsames Handlungszentrum“¹⁶² zukommt. Demnach erweist sich für Tillich „die Geschichte einzelner Gruppen […] [als] Hauptinhalt der Weltgeschichte“¹⁶³, weshalb „die Geschichte dieser einzelnen Gruppen“¹⁶⁴ im Zusammenhang einer Erörterung der „Beziehung des Reiches Gottes zur Weltgeschichte“¹⁶⁵ herangezogen werden muss. Wenn Tillich also von „Weltgeschichte“ spricht, dann ist mit „Welt“ nicht eine einheitlich zu erfassende Menschheitsgeschichte gemeint, sondern die Dynamik des Beziehungsgefüges verschiedener geschichtstragender Gruppen. Das unterscheidet Tillich folgend die Weltgeschichte wesentlich von der Kirchengeschichte, innerhalb derer die verschiedenen sozialen Gruppen, die sich als Kirchen verstehen, im Rahmen der soziologischen Dimension der sichtbaren Kirchen aus theologischer Perspektive hinsichtlich ihres unsichtbaren Elementes der Geistgemeinschaft, der Kirche im essentiellen Sinne, in ihrer Partizipation am Neuen Sein und ihrer Repräsentanz des Reiches Gottes ein gemeinsames Fundament aufweisen.¹⁶⁶ Dementsprechend bestehen im Hinblick auf eine Verhältnisbestimmung von Kirchen- und Weltgeschichte nach Tillich zwei Probleme: Einmal ist aufgrund der Beziehung der Geistgemeinschaft zu den geschichtlichen Kirchen „die Geschichte der Kirchen als […] Repräsentanten des Reiches Gottes sowohl Teil der Weltge-
159 Tillich: ST III, 433 [381f.]. 160 Ebd., 434 [382]. 161 Ebd. 162 Ebd. 163 Ebd. In der englischen Fassung heißt es statt „Geschichte einzelner Gruppen“: „particular histories“. 164 Ebd. 165 Ebd. Vgl. ausführlich zu Tillichs Ablehnung einer Menschheitsgeschichte seine Ausführungen zu geschichtstragenden Gruppen Unterabschn. 3.1.1 dieser Arbeit. 166 Vgl. ebd.
4.3 Die Gegenwart des Reiches Gottes in der Weltgeschichte | 151
schichte […] [als auch] Teil dessen, was die Weltgeschichte transzendiert.“¹⁶⁷ Sie partizipiert einerseits fragmentarisch an der transzendenten Einheit unzweideutigen Lebens und nimmt andererseits an den Zweideutigkeiten des geschichtlichen Lebens teil. Außerdem steht die Weltgeschichte in Bezug auf die die Geschichte transzendierende Geistgemeinschaft auf der einen Seite „im Gegensatz zur Geschichte der Kirchen“¹⁶⁸ und ist auf der anderen Seite gleichzeitig „von ihr abhängig […] (das Wirken der latenten Kirche, die die Geschichte der Kirchen im eigentlichen Sinne vorbereitet, eingeschlossen).“¹⁶⁹ In einer Verhältnisbestimmung von Kirchen- und Weltgeschichte ist somit die Beziehung der Geistgemeinschaft zu den geschichtlichen Kirchen zu berücksichtigen. Diesen Zusammenhang erörtert Tillich wie folgt: Die Geschichte der Kirchen weist dieselben Züge auf wie die Weltgeschichte, nämlich die Zweideutigkeiten in der Selbst-Integration, in dem Sich-Schaffen und in der SelbstTranszendierung. In dieser Hinsicht sind die Kirchen Welt. […] Aber das ist nur ihre eine Seite. In den Kirchen ist zugleich der ungebrochene Widerstand gegen die Zweideutigkeiten der Weltgeschichte und der fragmentarische Sieg über sie wirksam. Die Weltgeschichte steht unter dem Urteil der Kirchen als Verkörperungen der Geistgemeinschaft. Die Kirchen als Repräsentanten des Reiches Gottes urteilen über das, ohne das sie selbst nicht bestehen könnten.¹⁷⁰
Als Repräsentanten des Reiches Gottes im Sinne der sich aktualisierenden Geistgemeinschaft, die gleichzeitig an den geschichtlichen Zweideutigkeiten teilnehmen, urteilt die Kirchengeschichte damit gleichermaßen über sich selbst, indem sie aufgrund der soziologischen Dimension der geschichtlichen Kirchen selbst Teil der Weltgeschichte ist, mit Tillich formuliert: Die Kirchengeschichte richtet die Weltgeschichte, indem sie sich selbst richtet; denn sie ist Teil der Weltgeschichte. […] Die christliche Kultur ist nicht das Reich Gottes, aber sie ist eine ständige Mahnung an das Reich Gottes. Deshalb darf man Veränderungen in den weltlichen Zuständen niemals als Argument gebrauchen, um die Gültigkeit der christlichen Botschaft zu beweisen. Solche Argumente überzeugen nicht, weil sie das Paradox der Kirchen und die Zweideutigkeit […] der Weltgeschichte übersehen. Oft wirkt die geschichtliche Vorsehung durch Dämonisierung und Profanisierung der Kirchen für die Verwirklichung des Reiches
167 Ebd. Vgl. ausführlich zum Verhältnis der Geistgemeinschaft zu den geschichtlichen Kirchen nach Tillich Abschn. 4.2 dieser Arbeit. 168 Ebd. 169 Ebd. Vgl. hierzu die Anmerkung zu Gott als einheitsstiftendem Subjekt in Bezug auf die von Wenz formulierte Kritik an Tillichs Verhältnisbestimmung von Heils- und Weltgeschichte unter Abschn. 4.1 dieser Arbeit. 170 Ebd., 434f. [kursiv C.D.] [382f.].
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Gottes in der Weltgeschichte. Solche providentiellen Entwicklungen […] beweisen, daß das Reich Gottes von seinen Stellvertretern in der Geschichte unabhängig ist.¹⁷¹
Die geschichtliche Vorsehung Gottes wirkt demnach durch die geschichtlichen Zweideutigkeiten, kann jedoch aufgrund des Paradoxons der Kirchen, zum einen als Geistgemeinschaft fragmentarisch an der transzendenten Einheit unzweideutigen Lebens teilzuhaben und zum anderen an den geschichtlichen Zweideutigkeiten selbst teilzunehmen, nicht mit der Geschichte der Kirchen identifiziert werden. Eine solche Identifikation von geschichtlicher Vorsehung und Kirchengeschichte käme einem Fortschrittsglauben gleich, den Tillich grundsätzlich ablehnt, weil Vorläufiges mit Endgültigem, Bedingtes mit Unbedingtem auf dämonische, profanisierende Weise gleichgesetzt würde.¹⁷² Deshalb soll ein Kirchenhistoriker gemäß Tillich erstens keine Geschichte göttlicher Eingriffe in die Weltgeschichte schreiben, wenn er die Geschichte der christlichen Kirchen darstellt. Zweitens muß der Kirchenhistoriker als Theologe der Tatsache eingedenk sein, daß er von einer geschichtlichen Wirklichkeit spricht, in der die Geistgemeinschaft wirksam ist und die das Reich Gottes repräsentiert. Der Teil der Weltgeschichte, den er behandelt, hat providentielle Bedeutung für die gesamte Weltgeschichte.¹⁷³
Daher bestimmt Tillich das Verhältnis von Kirchen- und Weltgeschichte mit Blick auf die Arbeit des Kirchenhistorikers folgendermaßen: Der Kirchenhistoriker darf die Weltgeschichte nicht nur als den allgemeinen Boden betrachten, auf dem sich die Kirchengeschichte entwickelt, sondern er muß sie von einem anderen, und zwar einem dreifachen Standpunkt sehen, nämlich erstens als die Wirklichkeit, in der die Geschichte der Kirchen als der Repräsentanten des Reiches Gottes sich ständig vorbereitet; zweitens als die Wirklichkeit, auf die sich die verwandelnde Tätigkeit der Geistgemeinschaft richtet; und drittens als die Wirklichkeit, durch die die Kirchengeschichte gerichtet wird, indem diese die Weltgeschichte richtet.¹⁷⁴
Kirchengeschichte ist demnach Tillich folgend „ein Teil der Geschichte des Reiches Gottes, das sich innerhalb der geschichtlichen Zeit aktualisiert. Aber es gibt noch einen anderen Teil der Geschichte des Reiches Gottes, und das ist die Weltgeschichte selbst.“¹⁷⁵ 171 Tillich: ST III, 435f. [383f.]. Vgl. zum Neuen Sein als Kriterium für die Selbstkritik der Kirchen auch Abschn. 4.2 dieser Arbeit. 172 Vgl. zu Tillichs Verständnis der geschichtlichen Vorsehung in diesem Zusammenhang Abschn. 4.1 sowie zum Paradoxon der Kirchen nach Tillich Abschn. 4.2 dieser Arbeit. 173 Tillich: ST III, 436 [384]. 174 Ebd., 436f. [kursiv C.D.] [384]. 175 Ebd., 436f. [384].
4.3 Die Gegenwart des Reiches Gottes in der Weltgeschichte | 153
Dass die Geschichte des Reiches Gottes nicht in der Geschichte der Kirchen aufgeht, ergibt sich aus christlicher Perspektive aus dem Charakteristikum der intensiven und extensiven Universalität der Geistgemeinschaft, die sich durch die Weltgeschichte hindurch gegen die geschichtlichen Zweideutigkeiten durchsetzt. Das im Sinne der transzendenten Einheit unzweideutigen Lebens durch die Kirchen repräsentierte Reich Gottes, in welchem die Zweideutigkeiten des Lebens überwunden sind und das die Erfüllung der essentiellen Möglichkeiten existentiellen Seins erwarten lässt, erweist sich gemäß des christlichen Glaubens als sämtliche geschichtlichen Dimensionen einschließendes Ziel der Geschichte, die Tillich als umfassendsten Lebensprozess versteht. Nach Matern kann zusammenfassend somit die Möglichkeit der fragmentarischen Realisierung des Reiches Gottes „nicht auf den Bereich der Kirchen im engeren Sinne beschränkt werden.“¹⁷⁶ Deshalb ist im Folgenden zu erörtern, auf welche Weise das Reich Gottes durch die Zweideutigkeiten der geschichtlichen Selbst-Integration, des geschichtlichen Sich-Schaffens und der geschichtlichen Selbst-Transzendierung wirkt¹⁷⁷: a) Die Zweideutigkeit des Lebens in der geschichtlichen Selbst-Integration ergibt sich nach Tillich aus den „Zweideutigkeiten des ‚Imperiums‘ und der ‚Zentralisation‘“¹⁷⁸, indem einerseits im Zusammenhang der Verwirklichung eines Imperiums durch das Machtstreben einer geschichtstragenden Gruppe die Gefahr besteht, die individuelle Freiheit des Einzelnen und damit die geschichtliche Produktivität zu unterdrücken, und andererseits das Streben nach geschichtlicher Produktivität das Bemühen um politische Zentralisation zugunsten der individuellen Freiheit mit sich bringen kann. Auf diese Weise vermag die ontologische Spannung von Individualisation und Partizipation im Sinne der Entfremdung in einen Selbst-Widerspruch mit desintegrierender Wirkung zu geraten, weil die Partizipation des Individuums an der geschichtlichen Gruppe im Dienste der Unterdrückung der für die geschichtliche Produktivität konstitutiven individuellen Freiheit mit der Individualisation des Individuums gegenüber der geschichtlichen Gruppe im Zuge der Vernachlässigung des für die Etablierung eines Imperiums notwendigen Machtwillens konkurriert. Das kann jeweils zur Desintegration und damit zum Scheitern der Selbst-Integration einer geschichtstragenden Gruppe führen. Demnach stellt sich Tillich folgend für die Theologie mit Blick auf die Kirchen als Reprä-
176 Matern: Das Reich Gottes innerhalb der Geschichte und als Ziel der Geschichte, 296. 177 Vgl. grundsätzlich zu den Zweideutigkeiten des Lebens und der Geschichte als umfassendstem Lebensprozess nach Tillich Kap. 2 sowie zu seinem konkreten Verständnis der Zweideutigkeiten der Geschichte Abschn. 3.2 dieser Arbeit. 178 Tillich: ST III, 437 [385].
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sentanten des Reiches Gottes und das Wirken des Reiches Gottes in der Geschichte die Frage nach unzweideutiger geschichtlicher Selbst-Integration¹⁷⁹: Die grundlegende Antwort der Theologie auf diese Frage muß sein, daß, da Gott als Macht des Seins die Quelle jeder einzelnen Seinsmacht ist, Macht ihrem Wesen nach göttlich ist. […] Und der göttliche Geist selbst ist die dynamische Einheit von Macht und Sinn. […] Macht ist die ewige Möglichkeit, dem Nicht-Sein zu widerstehen. Gott und das Reich Gottes üben diese Macht immerwährend aus. Aber im göttlichen Leben – dessen schöpferische SelbstManifestation das Reich Gottes ist – ist die Zweideutigkeit der Macht, des Imperiums und der Zentralisation durch das unzweideutige Leben überwunden.¹⁸⁰
Das bedeutet in Bezug auf die Wirkung des Reiches Gottes in der Geschichte, daß jeder Sieg des Reiches Gottes in der Geschichte ein Sieg über die desintegrierenden Folgen der Zweideutigkeit der Macht ist. […] Das heißt für die innere Machtstruktur einer geschichtstragenden Gruppe, daß der Kampf des Reiches Gottes in der Geschichte in Institutionen und Haltungen […] das Element des Zwangs überwindet. […] Insoweit in einer politischen Machtstruktur die zentrierenden und die befreienden Elemente einander im Gleichgewicht halten, hat das Reich Gottes in der Geschichte fragmentarisch die Zweideutigkeit der Zentralisation überwunden. Dies ist zugleich das Kriterium, nach dem die Kirchen politische Handlungen und Theorien beurteilen müssen.¹⁸¹
Nach diesem Kriterium zeigt sich ein fragmentarischer Sieg des Reiches Gottes innerhalb der Geschichte durch ein relatives Gleichgewicht von zentrierenden und befreienden Elementen einer politischen Machtstruktur, die fragmentarisch in unzweideutiger Weise die Selbst-Integration einer geschichtlichen Gruppe ermöglicht. Jenes kritische Kriterium der fragmentarischen Überwindung der Zweideutigkeit in der Selbst-Integration durch das Reich Gottes schließt die Selbstkritik der geschichtlichen Kirchen in ihrer soziologischen Dimension ein, denn die geschichtlichen Kirchen sind aufgrund ihrer Teilnahme an den Zweideutigkeiten des Lebens nicht identisch mit dem Wirken des Reiches Gottes in der Geschichte, weshalb nach Tillich den Kirchen auch nicht das Recht zukommen darf, die politischen Kräfte zu beherrschen oder ihre Position einzunehmen.¹⁸² Die Wahrung des Paradoxons der Kirchen, die Geistgemeinschaft zu repräsentieren und gleichzeitig an den Zweideutigkeiten des Lebens teilzunehmen, verhindert, dass sich die Kirchen einseitig mit ihrer so-
179 Vgl. ausführlicher zu den Zweideutigkeiten der geschichtlichen Selbst-Integration nach Tillich Abschn. 3.2 und zu deren Überwindung Abschn. 5.1 dieser Arbeit. 180 Tillich: ST III, 437 [385]. Vgl. zu Gott im Sinne der Seinsmächtigkeit gemäß Tillich auch Unterabschn. 3.1.2 und zu Tillichs Verständnis des göttlichen Lebens Abschn. 5.3 dieser Arbeit. 181 Ebd., 437f. [385f.]. 182 Vgl. ebd., 438 [386].
4.3 Die Gegenwart des Reiches Gottes in der Weltgeschichte | 155
ziologischen Dimension als geschichtstragende Gruppe in einem politischen Sinn oder aber einseitig mit ihrer theologischen Dimension als Repräsentanten der Geistgemeinschaft identifizieren. Deshalb kommt den Kirchen im Hinblick auf das Wirken des Reiches Gottes die Funktion einer (selbst-) kritischen Instanz zu, sie kann sich weder vollständig aus der politischen Dimension der Geschichte zurückziehen noch vollständig in ihr aufgehen: Für die christlichen Kirchen bedeutet das, daß sie einen Weg finden müssen zwischen einem Pazifismus, der die Notwendigkeit der Macht (und des Zwangs) in der Beziehung zwischen geschichtstragenden Gruppen übersieht oder leugnet, und einem Militarismus, der die Einheit der Menschheit durch Unterwerfung der Welt unter eine besondere geschichtliche Gruppe zu erreichen glaubt. Die Zweideutigkeit des Imperialismus wird fragmentarisch durch die Schaffung höherer politischer Einheiten überwunden, die, wenn auch nicht ohne das Machtelement des Zwangs, so organisiert sind, daß sich Gemeinschaft zwischen den vereinten Gruppen entwickeln kann.¹⁸³
Daraus ergibt sich für Tillich eine differenzierte Haltung zu einem kirchlichen Pazifismus: Aus alledem geht hervor, daß der pazifistische Weg nicht der Weg des Reiches Gottes in der Geschichte ist. Aber es ist der Weg der Kirchen als Repräsentanten der Geistgemeinschaft. […] Die Kirchen müssen den politischen Pazifismus verwerfen, aber sie müssen Gruppen und Personen unterstützen, die, indem sie sich weigern, sich mit dem Element des Zwangs in den Machtkämpfen zu identifizieren, symbolisch den „Frieden des Reiches Gottes“ vertreten […]. Sie vertreten innerhalb der politischen Gruppe den Verzicht auf Macht, der für die Kirchen wesentlich ist, aber von ihnen nicht zum Gesetz erhoben werden darf, das dem Staat aufgezwungen wird.¹⁸⁴
b) Führen die „Zweideutigkeiten in der geschichtlichen Selbst-Integration zu den Problemen politischer Macht“¹⁸⁵, ergeben sich aus den Zweideutigkeiten des geschichtlichen Sich-Schaffens „Probleme[ ] des politischen Wachstums.“¹⁸⁶ Die Zweideutigkeiten des geschichtlichen Sich-Schaffens liegen gemäß Tillich in dem „Konflikt zwischen dem Neuen und dem Alten in der
183 Ebd., 439 [387]. 184 Ebd., 440 [kursiv C.D.] [388]. Vgl. hierzu die ausführliche Erläuterung der Beziehung von Eros, Macht und Rechtsordnung unter Unterabschn. 3.1.1 dieser Arbeit, auf der gemäß Tillich die Ablehnung eines radikalen Pazifismus beruht, den er bereits 1923 in seiner Schrift Grundlinien des religiösen Sozialismus. Ein systematischer Entwurf ablehnt: Ders.: Grundlinien des religiösen Sozialismus. Vgl. hierzu auch Tillichs erst kürzlich veröffentlichten Text Religiöser Sozialismus und Pazifismus (1923/1924): Ders.: Religiöser Sozialismus und Pazifismus, in: Ders.: EW X, 371–374. 185 Ders.: ST III, 440 [388]. 186 Ebd. In der englischen Fassung heißt es statt des politischen Wachstums „social growth“.
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Geschichte“¹⁸⁷ begründet, wodurch die ontologische Spannung von Dynamik und Form durch den „Gegensatz zwischen Revolution und Tradition“¹⁸⁸ in einen Selbst-Widerspruch gerät. Im Zusammenhang der schöpferischen revolutionären Kräfte droht ein zerstörerischer, chaotischer, grundsätzlicher Formverlust und das Festhalten an traditionellen Formen kann eine zerstörerische Unterdrückung der lebenserhaltenden, schöpferischen Kräfte bewirken.¹⁸⁹ Demnach stellt analog zur fragmentarisch unzweideutigen Selbst-Integration ein „Sieg des Reiches Gottes […] eine Einheit von Tradition und Revolution“¹⁹⁰ und damit ein fragmentarisches Gleichgewicht von Dynamik und Form her: Wir können von einer Überwindung der Zweideutigkeiten des politischen Wachstums durch das Reich Gottes nur da sprechen, wo die Revolution so in die Tradition eingebettet ist, daß trotz der Spannungen, die in jeder konkreten Situation und in jedem spezifischen Problem vorhanden sind, eine schöpferische Lösung gefunden wird, die auf das letzte Ziel der Geschichte ausgerichtet ist.¹⁹¹
Darum wendet sich Tillich sowohl gegen eine „Ablehnung der Revolution oder der Tradition im Namen der transzendenten Seite des Reiches Gottes […]“¹⁹², denn das Chaos, das auf jede Art von Revolution folgt, kann ein schöpferisches sein. […] Aber eine starke Ansammlung traditioneller Elemente ist nötig, ehe ein […] Angriff auf die Tradition sinnvoll wird. Das erklärt das Übergewicht der religiösen Tradition über die religiöse Revolution. Jede Revolution im Namen des göttlichen Geistes schafft eine neue Grundlage, auf der von neuem priesterlicher Konservativismus und bleibende Traditionen wachsen. Dieser Rhythmus der Geschichte […] ist der Weg, auf dem das Reich Gottes in der Geschichte wirkt.¹⁹³
Aufgrund dieses Zitats folgt die vorliegende Arbeit nicht der Einschätzung Rolincks, der in Tillichs Geschichtstheorie das Problem der Tradition und ihrer Kontinuität in den Hintergrund gedrängt sieht.¹⁹⁴
187 Tillich: ST III, 440 [388]. 188 Ebd., 440f. [388]. 189 Vgl. ausführlicher zu den Zweideutigkeiten des geschichtlichen Sich-Schaffens nach Tillich Abschn. 3.2 und zu deren Überwindung Abschn. 5.1 dieser Arbeit. 190 Tillich: ST III, 441 [388]. 191 Ebd., 441 [389]. 192 Ebd., 441 [388]. 193 Ebd., 441f. [388ff.]. 194 Rolinck: Geschichte und Reich Gottes, 292.
4.3 Die Gegenwart des Reiches Gottes in der Weltgeschichte | 157
c) Im Rahmen der geschichtlichen Selbst-Transzendierung ergeben sich Zweideutigkeiten „durch die Spannung zwischen dem sich in der Geschichte fragmentarisch aktualisierenden und dem noch zu erwartenden Reich Gottes […]“¹⁹⁵, indem die Gefahr besteht, entweder die gegenwärtige Situation mit der Verwirklichung des Reiches Gottes als Ziel der Geschichte zu identifizieren oder aber in Form eines fortschrittsgläubigen Utopismus das Reich Gottes als unmittelbar bevorstehend zu erwarten und im Dienste seiner Verwirklichung zu stehen.¹⁹⁶ Eine Identifikation des Reiches Gottes mit der gegenwärtigen Situation verkennt das universale Schicksal der Entfremdung, so dass im Zuge der Identifizierung von Vorläufigem mit Endgültigem, von Bedingtem mit Unbedingtem die Geschichte als umfassendster Lebensprozess durch den Anspruch von Endlichem auf Absolutheit profanisiert oder auch dämonisiert wird, da „die Erwartung der Erfüllung fehlt. […] Für solche Entartungen sind weitgehend, wenn auch nicht ausschließlich, Gesellschaftsgruppen verantwortlich, die Interesse an der Erhaltung des status quo haben.“¹⁹⁷ Wenn jedoch „die Verwirklichung des Reiches Gottes innerhalb der Geschichte überhaupt nicht mehr gesehen wird“¹⁹⁸ und „das Bewußtsein von tatsächlicher Erfüllung fehlt“¹⁹⁹, kann es durch einen Utopismus gleichermaßen zu einer Verkennung des universalen Schicksals der Entfremdung kommen, indem dem Menschen in seiner endlichen Freiheit die Verwirklichung des Reiches Gottes innerhalb der Geschichte zugetraut und zugemutet wird, was gleichermaßen eine Profanisierung oder auch Dämonisierung der Geschichte mit sich bringen kann. Wegen der durch endliche Freiheit nicht aufzuhebenden, universalen Entfremdung folgt gemäß Tillich auf utopistische „Bewegungen der Erwartung“²⁰⁰ unausweichlich eine tiefe existentielle Enttäuschung, wenn das Ergebnis der jeweiligen utopistischen Bewegung nicht den Erwartungen entspricht.²⁰¹ In beiden Fällen – der Identifikation einer gegenwärtigen Situation mit dem Reich Gottes oder aber einem Utopismus, der das Reich Gottes innerhalb der Geschichte durch endliche Freiheit zu verwirklichen sucht – ergibt sich ein Ungleichgewicht hinsichtlich der ontologischen Spannung von Freiheit und Schicksal, weil entweder im Zuge der Identifikation einer
195 Tillich: ST III, 443 [390]. 196 Vgl. ausführlicher zur Zweideutigkeit der geschichtlichen Selbst-Transzendierung Abschn. 3.2 und zu deren Überwindung Abschn. 5.1 dieser Arbeit. 197 Tillich: ST III, 443 [390f.]. 198 Ebd., 443 [390]. 199 Ebd. 200 Ebd., 443 [391]. 201 Vgl. dazu auch ebd., 394f./443 [344ff./390f.].
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gegenwärtigen Situation mit dem Reich Gottes das freiheitliche Element der Geschichte im Hinblick auf die erst zu erwartende Vollendung des Reiches Gottes oder aber im Dienste von utopistischen Bewegungen das schicksalhafte Element der innergeschichtlichen, fragmentarischen Gegenwart des Reiches Gottes unterbetont wird. Deshalb ist nach Tillich das Symbol „Reich Gottes“ so zu gebrauchen, dass sich in ihm das Bewußtsein von der Gegenwart mit dem Bewußtsein von der Noch-nichtGegenwart des Reiches Gottes in der Geschichte vereint. […] Während verhältnismäßig einfach zu verstehen ist, warum es theoretisch notwendig ist, die Gegenwart mit der Noch-nichtGegenwart des Reiches Gottes zu vereinen, ist es schwierig, die Einheit im Zustand der lebendigen Spannung zu erhalten […]. Für die Kirchen als Repräsentanten des Reiches Gottes ergibt sich daraus die Aufgabe, die Spannung zwischen dem Bewußtsein von der Gegenwart des Reiches Gottes und seiner Erwartung lebendig zu halten.²⁰²
In dieser Aufgabe sieht Matern einen Hinweis darauf, dass Tillich der Geistgemeinschaft eine „große reflexive Kraft“²⁰³ abverlange. Einer solchen Interpretation schließen sich die vorliegenden Ausführungen nicht an, da Tillich die Aufgabe, die Spannung zwischen dem Bewusstsein von der Gegenwart des Reiches Gottes und seiner Erwartung lebendig zu halten, den konkreten Kirchen zuschreibt. Wie bereits dargestellt bezieht sich Tillich immer dann, wenn er von Kirchen im Plural spricht, auf die konkreten Kirchen als soziologische und kulturelle Phänomene, die als solche den Zweideutigkeiten der Existenz unterliegen. Die Kraft der Geistgemeinschaft als ihre tragende Essenz ist jedoch durch den Einbruch des göttlichen Geistes extern konstituiert.²⁰⁴ Dieser ist auch in der Überwindung der Zweideutigkeiten der geschichtlichen Selbst-Transzendierung der Kirchen wirksam. Auf welche Weise die Zweideutigkeiten der geschichtlichen Selbst-Transzendierung durch das Reich Gottes überwunden werden können, veranschaulicht Tillich an folgendem Beispiel: Die Gefahr der rezeptiven (sakramentalen) Kirchen ist, daß sie die Gegenwart auf Kosten der Erwartung betonen, und die Gefahr der aktivistischen (prophetischen) Kirchen, daß sie die Erwartung auf Kosten des Bewußtseins von der Gegenwart betonen. Diese Verschiedenheit findet ihren wichtigsten Ausdruck in dem Gegensatz zwischen der Betonung der individuellen Erlösung einerseits und der Betonung der sozialen Umgestaltung andrerseits. Deshalb bedeutet es einen Sieg des Reiches Gottes in der Geschichte, wenn eine sakramentale Kirche sich das Prinzip der sozialen Verwandlung als Ziel zu eigen macht, oder wenn eine aktivisti-
202 Tillich: ST III, 443f. [390f.]. 203 Matern: Das Reich Gottes innerhalb der Geschichte und als Ziel der Geschichte, 298. 204 Vgl. zum Einbruch des göttlichen Geistes als wagendem Glauben auch Abschn. 4.1 dieser Arbeit.
4.3 Die Gegenwart des Reiches Gottes in der Weltgeschichte | 159
sche Kirche „die Gegenwart des göttlichen Geistes“ unter allen gesellschaftlichen Bedingungen vertritt.²⁰⁵
Demnach ist das Reich Gottes in der Weltgeschichte dort gegenwärtig und wirksam, wo die Zweideutigkeiten der geschichtlichen Selbst-Integration, des geschichtlichen Sich-Schaffens und der geschichtlichen Selbst-Transzendierung fragmentarisch in politischen Machtstrukturen, die die individuelle, kreative Freiheit des Einzelnen integrieren, eine Einheit von Altem und Neuem bilden sowie die Gegenwart und die Erwartung des Reiches Gottes lebendig halten können, fragmentarisch überwunden sind. Da sich das Leben des einzelnen Menschen wesentlich im Rahmen der Geschichte mit ihren Zweideutigkeiten ereignet, indem er sich der geschichtlichen Dynamik nicht zu entziehen vermag²⁰⁶, stellt sich abschließend in Bezug auf das Verhältnis des Reiches Gottes zur Weltgeschichte die Frage, auf welche Weise der Einzelne an eben jenem die geschichtlichen Zweideutigkeiten fragmentarisch überwindenden, erlösenden Wirken des Reiches Gottes partizipiert. Gemäß Tillich ist das „Schicksal jedes Menschen […] abhängig von geschichtlichen Bedingungen“²⁰⁷, so dass individuelle Erfüllung als fragmentarische Überwindung des Zwiespalts von essentiellem und existentiellem Sein ausschließlich innerhalb der geschichtlichen Dynamik möglich ist, weil das „transzendente Reich Gottes […] nicht erreichbar [ist] ohne Partizipation an dem Kampf des innergeschichtlichen Reiches Gottes. Denn das Transzendente aktualisiert sich in der Geschichte.“²⁰⁸ Selbst-Integration, Sich-Schaffen und Selbst-Transzendierung ereignen sich dementsprechend für den Einzelnen dann, wenn er in seiner Individualisation an den seine individuelle, kreative Freiheit integrierenden politischen Machtstrukturen partizipiert, indem er innerhalb eben jenes Zusammenhangs seiner individuellen Existenz und seiner Partizipation an der geschichtlichen Situation Altes und Neues seiner einzelnen Existenz sinnvoll aufeinander zu beziehen vermag und sein Leben sowohl in der Gegenwart als auch in der Erwartung des Reiches Gottes vollzieht. Eine solche aktive Partizipation des Einzelnen an der geschichtlichen Dynamik, in welcher der Einzelne fragmentarisch die ontologischen Spannungen von Individualisation und Partizipation, Dynamik und Form wie auch Freiheit und Schicksal im geschichtlichen Gesamtzusammenhang
205 Tillich: ST III, 444 [391]. 206 Vgl. zu den Zweideutigkeiten des Einzelnen in der Geschichte auch Unterabschn. 3.1.2 dieser Arbeit. 207 Tillich: ST III, 444f. [392]. 208 Ebd., 444 [392].
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als Selbst-Integration, Sich-Schaffen und Selbst-Transzendierung in fragmentarischer Überwindung von Desintegration, Zerstörung und Profanisierung aktualisiert, verlangt Tillich folgend vom einzelnen Menschen mit Blick auf das letzte Ziel der Geschichte „geschichtliches Opfer […].“²⁰⁹ Nach Tillich ist ein Opfer, dessen Zweck keine Beziehung zu dem hat, von dem das Opfer verlangt wird, […] kein Opfer, sondern erzwungene Selbstvernichtung. Ein echtes Opfer erfüllt denjenigen, der es bringt, mehr, als daß es ihn vernichtet. Deshalb muß das geschichtliche Opfer Hingabe für ein Ziel sein, in dem mehr erreicht wird […] als Fortschritt einer geschichtlichen Bewegung […]. Vielmehr muß es um ein Ziel gehen, für das sich zu opfern die Erfüllung dessen bedeutet, der sich opfert. […] Wo geschichtliches Opfer und die Gewißheit persönlicher Erfüllung auf diese Art vereint sind, hat das Reich Gottes einen Sieg errungen. Die Partizipation des Einzelnen an der geschichtlichen Existenz hat einen letzten Sinn erhalten.²¹⁰
Im Sinne des Reiches Gottes ereignet sich somit für den einzelnen Menschen eine persönliche Erfüllung seiner essentiellen Möglichkeiten ausschließlich im universalen Gesamtzusammenhang der zunächst fragmentarischen Erfüllung des essentiellen Seins der Geschichte, deren vollkommene Verwirklichung am Ende der Geschichte hoffend erwartet wird. Demnach vereint das Symbol „Reich Gottes“ im Verständnis Tillichs sowohl in seinem geschichtsimmanenten als auch in seinem die Geschichte transzendierenden Aspekt „das kosmische, das gesellschaftliche und das persönliche Element […].“ Im Folgenden soll daher nun im Anschluss an die erfolgte Erörterung des immanenten Aspektes des Symbols „Reich Gottes“ die Betrachtung seines transzendenten Aspektes vorgenommen werden.
209 Tillich: ST III, 445 [392]. 210 Ebd., 445 [kursiv C.D.] [392f.]. Vgl. zu Tillichs Verständnis der Merkmale menschlicher Geschichte Unterabschn. 3.1.1 dieser Arbeit.
5 Das Reich Gottes als das die Geschichte transzendierende Ziel der Geschichte 5.1 Die ewige Seligkeit des ewigen Lebens als die ewige Überwindung des Negativen Indem das Reich Gottes innerhalb der Geschichte fragmentarisch gegenwärtig ist, weist es gemäß Tillich über die Geschichte hinaus „auf die nicht-fragmentarische Seite des Reiches Gottes hin, die ‚über‘ der Geschichte liegt. Aber selbst als ‚über‘ der Geschichte stehend ist das Reich Gottes auf die Geschichte bezogen; es ist das Ende und Ziel der Geschichte.“¹ In der innergeschichtlichen Fragmentarität des Reiches Gottes ist die Geschichte wesentlich auf das sie transzendierende Ziel des Reiches Gottes bezogen. Auf diese Weise sucht Tillich der Problematik einer transzendentalistischen Geschichtsauffassung, welche die Geschichte von den erlösenden Momenten des erwarteten Reiches Gottes ausschließt, und der Problematik eines fortschrittsgläubigen Utopismus, der das Ziel der Geschichte innerhalb der Geschichte zu verwirklichen und somit das Ziel der Geschichte mit dem quantitativen Ende der Geschichte zu identifizieren sucht, entgegen zu wirken²: Das Ziel der Geschichte geht weit über das Ende hinaus; es ist nicht eins mit dem Ende der Geschichte im physikalischen und biologischen Sinn. Es transzendiert jeden Moment des zeitlichen Prozesses; es ist das Ende der Zeit im Sinne des Ziels der Geschichte. Ende und Ziel der Geschichte in diesem Sinne ist „Ewiges Leben“.³
Für die christliche Theologie ist die „klassische Bezeichnung für die Lehre vom ‚Ende der Geschichte‘ […] ‚Eschatologie‘. Wie das Wort end im Englischen verbindet das griechische Wort eschatos einen Raum-Zeit-Begriff mit einem qualitativen Wertbegriff.“⁴
1 Ebd., 446 [394]. 2 Vgl. zu den verschiedenen Typen von Geschichtsauffassungen nach Tillich Abschn. 3.3 dieser Arbeit. 3 Tillich: ST III, 446 [394]. In der englischen Fassung heißt es: „The end of history in this sense is not a moment within the larger development of the universe (analogously called history) but transcends all moments of the temporal process; it is the end of time itself – it is eternity. The end of history in the sense of the inner aim or telos of history is ‚eternal life‘.“ Vgl. zu möglichen Szenarien zum rein quantitativen Ende der Geschichte Unterabschn. 3.1.1 dieser Arbeit. 4 Ebd. https://doi.org/10.1515/9783110733181-005
162 | 5 Das Reich Gottes als das die Geschichte transzendierende Ziel der Geschichte
Tillich unterscheidet in Bezug auf die Bedeutung von eschatos bzw. eschaton zwei verschiedene Bedeutungsdimensionen: In einer ersten, gemäß Tillich, quantitativen Bedeutung meint eschaton den letzte[n] Tag in der Reihe aller Tage. Dieser Tag gehört der Gesamtheit aller Tage an, die den zeitlichen Prozeß ausmachen; er ist einer von diesen Tagen, aber auf ihn folgt kein weiterer Tag. Alle Dinge, die sich an diesem Tag ereignen, werden als die „letzten Dinge“ (ta eschata) bezeichnet. Eschatologie in diesem Sinn ist die Beschreibung der Dinge, die sich an dem letzten aller Tage ereignen.⁵
Da das Ende der Geschichte nach Tillich jedoch nicht identisch mit dem quantitativen Ende der Geschichte ist, weil es qualitativ auch die universale Verwirklichung des Reiches Gottes als Ziel der Geschichte umfasst, liegt das „Problem der Eschatologie […] nicht in den vielen Dingen, die sich am letzten Tag ereignen werden, sondern in dem einen ‚Ding‘, was jedoch kein Ding ist, sondern der symbolische Ausdruck für die Beziehung des Zeitlichen zum Ewigen – genauer, für den ‚Übergang‘ vom Zeitlichen zum Ewigen.“⁶ Demnach bildet der beschriebene qualitative Aspekt der Erhebung des Zeitlichen in das Ewige Tillich folgend die zweite, theologisch grundlegendere Bedeutungsdimension von eschaton im Gegensatz zu den eschata. Eben jene Beziehung des Zeitlichen zum Ewigen oder auch des Bedingten zum Unbedingten ist ein zentrales Element im gesamten theologischen System Tillichs: So formuliert Tillich in seiner Schöpfungslehre den „Übergang vom Ewigen zum Zeitlichen“⁷, in seinem Verständnis des Sündenfalls den „Übergang von der Essenz zur Existenz“⁸, in der Lehre von der Erlösung durch das Neue Sein den „Übergang der Existenz zur Essenz“⁹ als Überwindung der existentiellen Entfremdung und eben in der Eschatologie den Übergang vom Zeitlichen in das Ewige. Mit dieser „Reduktion der eschata auf das eschaton“¹⁰ fasst Tillich die „unmittelbar existentielle Bedeutung“¹¹ des eschatologischen Problems im Gesamtzusammenhang seines theologischen Systems: Das eschaton ist nicht mehr ein Gegenstand der Phantasie über eine unendlich ferne (oder nahe) Katastrophe in Raum und Zeit, sondern Ausdruck, wenn auch in einem bestimmten
5 Tillich: ST III, 447 [395]. 6 Ebd. 7 Ebd. Vgl. zu Tillichs Schöpfungsverständnis Unterabschn. 3.1.1 dieser Arbeit. 8 Ebd. Vgl. zu Tillichs Verständnis des Sündenfalls Unterabschn. 3.1.1 dieser Arbeit. 9 Ebd. Vgl. zu Tillichs Verständnis der Erlösung durch das Neue Sein ebenfalls Unterabschn. 3.1.1 dieser Arbeit. 10 Ebd. 11 Ebd.
5.1 Die ewige Seligkeit des ewigen Lebens als die ewige Überwindung des Negativen | 163
Zeitmodus, für die Tatsache, daß wir in jedem Augenblick vor dem Angesicht des Ewigen stehen. Die Zukunft ist der Modus in aller eschatologischen Symbolik, wie die Vergangenheit der Modus in allen Symbolen von der Schöpfung ist. […] Wenn die Beziehung des Zeitlichen zum Ewigen im Modus der Vergangenheit dargestellt wird, wird die Abhängigkeit der geschöpflichen Existenz zum Ausdruck gebracht; wenn der Modus der Zukunft gebraucht wird, wird auf die Erfüllung der geschöpflichen Existenz im Ewigen hingewiesen.¹²
Hier zeigt sich Tillichs Auffassung der grundsätzlichen gegenseitigen Verwiesenheit von Schöpfungslehre und Eschatologie, indem in der Schöpfung das Ziel der Geschichte als Sinn, Bestimmung oder auch Grund der Schöpfung essentiell enthalten ist, wodurch eine Erfüllung der essentiellen Möglichkeiten des geschöpflichen Seins am Ende der Geschichte erst möglich wird.¹³ Diese gegenseitige Verwiesenheit von Vergangenheit und Zukunft erschließt sich in Jesus Christus als Manifestation des Neuen Seins inmitten der geschichtlichen Zweideutigkeiten, in welchem die Geschichte durch die Überwindung des Zwiespalts von essentiellem und existentiellem Sein qualitativ zu ihrem Ende kommt und universale Erfüllung in Bezug auf den geschichtlichen Gesamtzusammenhang verheißt.¹⁴ Die fragmentarische Verwirklichung des Neuen Seins in der Geschichte transzendiert die Geschichte auf ihr über sie hinausweisendes Ziel hin, zu dem sie wesentlich in Beziehung steht, so dass die Gegenwart des Reiches Gottes bereits in der Weltgeschichte erfahren, aber nicht vollendet werden kann. Deshalb spricht Tillich auch von der „dauernde[n] Gegenwart des Endes.“¹⁵ Somit treffen Vergangenheit und Zukunft […] in der Gegenwart zusammen, und beide sind in dem „Ewigen Jetzt“ gegenwärtig. Aber sie sind nicht aufgehoben von der Gegenwart […]. Auf diese Art wird das eschaton zu einem Anliegen der gegenwärtigen Erfahrung, ohne die Dimension der Zukunft zu verlieren: wir stehen jetzt im Angesicht des Ewigen, aber nur indem wir vorausblicken auf das Ende der Geschichte, auf das Ende alles dessen, was zeitlich ist innerhalb des Ewigen.¹⁶
12 Ebd. Vgl. zu Tillichs Verständnis des Symbols Unterabschn. 2.3.2 dieser Arbeit. Vgl. hierzu auch die im Folgenden dargestellte Diskussion bezüglich der Frage, ob Tillich eine rein präsentische Eschatologie formuliert. 13 Vgl. zu dieser Verbindung auch ebd., 343 [299]. sowie Unterabschn. 2.3.2 dieser Arbeit. 14 Vgl. zu Jesus Christus als qualitativem Ende der Geschichte Ders.: ST II, 131 [120] sowie Unterabschn. 3.1.2 dieser Arbeit. 15 Ders.: ST III, 446 [394]. 16 Ebd., 447f. [395f.].
164 | 5 Das Reich Gottes als das die Geschichte transzendierende Ziel der Geschichte
Eine kritische Betrachtung von Tillichs Eschatologie findet sich bei Peters.¹⁷ Peters kritisiert die Überbetonung der Gegenwart bei Tillich und stuft seine Eschatologie ausschließlich als präsentisch ein. Wenz kritisiert in diesem Zusammenhang in Bezug auf Tillichs Betonung des telos der Geschichte die Ungeschichtlichkeit von Tillichs Geschichtstheorie.¹⁸ Dieser Kritik schließt sich die vorliegende Arbeit nicht an, weil mit Tillichs Unterscheidung der immanenten und der transzendenten Seite des Reiches Gottes, Gegenwart in diesem Zusammenhang nicht ausschließlich innergeschichtlich zu verstehen ist, sondern die Vollendung des die Geschichte transzendierenden Reiches Gottes die Teilnahme am Ewigen Leben als „dauernde Gegenwart“ mit sich bringt, auf die der Mensch innergeschichtlich jetzt hoffen darf. Auch Rosenau bezeichnet Tillichs Eschatologie explizit als präsentisch im Gegensatz zu futurisch.¹⁹ Wolfhart Pannenberg kommt zu einem ähnlichen Urteil, indem er Tillichs Theologie eine mangelnde „Beziehung auf die Zukunft der Geschichte“²⁰ zuschreibt. Eine ähnliche Einschätzung formuliert auch Rolinck.²¹ Im Gesamtzusammenhang der vorliegenden Arbeit kann dieses Urteil einer ausschließlich präsentischen Eschatologie Tillichs wegen der konsequenten Unterscheidung von immanenter und transzendenter Seite des Reiches Gottes nicht geteilt werden, weil Tillich explizit eine innergeschichtliche, futurische Verwirklichung des Reiches Gottes im Sinne einer innergeschichtlichen Progression ausschließt, und die vollendete Verwirklichung des die Geschichte transzendierenden Reiches Gottes im gerade angeführten Zitat als das, worauf wir vorausblicken, also als noch ausstehend bezeichnet. Zu einer ähnlichen Einschätzung der Eschatologie Tillichs kommt Hannelore Jahr, die Tillichs Eschatologie in Bezug auf die Entwicklung seines Kairos-Begriffes als „[f]uturische Eschatologie mit präsentischem Korrektiv“²² bezeichnet. Damit steht alles, was zeitlich ist innerhalb des Ewigen, in seiner Geschöpflichkeit Tillichs Verständnis von der Geschichte als umfassendstem Lebensprozess entsprechend im universalen Gesamtzusammenhang der Schöpfung, deren Ziel in der universalen Verwirklichung des Reiches Gottes besteht.²³ Daher kann 17 Peters: Eschatology, 349–356. 18 Wenz: Subjekt und Sein, 273f. 19 Vgl. Rosenau: Das Reich Gottes als Sinn der Geschichte (1999), 69/75. 20 Pannenberg, Wolfhart: Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie in Deutschland, Göttingen 1997, 349. 21 Rolinck: Geschichte und Reich Gottes, 294. 22 Jahr: Vom Kairos zur heiligen Leere, 18. Vgl. zu Tillichs Verständnis von Zeitlichkeit auch Unterabschn. 3.1.2 dieser Arbeit. Vgl. zur Entwicklung von Tillichs Kairos-Begriff auch Abschn. 6.2 dieser Arbeit. 23 Vgl. zu den vier Charakteristika des Symboles „Reich Gottes“ – die politische, die soziale, die personale und die universale Dimension – nach Tillich Abschn. 3.3 dieser Arbeit. Vgl. zum
5.1 Die ewige Seligkeit des ewigen Lebens als die ewige Überwindung des Negativen |
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nach Tillich „ohne die Auseinandersetzung mit dem Problem des Endes und Ziels der Geschichte und des Universums […] auch das Problem der ewigen Bestimmung des Individuums keine Antwort finden.“²⁴ B evor Tillich jedoch die Frage nach dem Verhältnis von universaler und individueller Erfüllung erörtert, entfaltet er zunächst sein Verständnis des Reiches Gottes als das die Geschichte transzendierende Ziel und Ende der Geschichte.²⁵ Wie erläutert liegt gemäß Tillich die „Erfüllung der Geschichte […] in dem immer gegenwärtigen Ende und Ziel der Geschichte, das heißt in der transzendenten Seite des Reiches Gottes: dem Ewigen Leben“²⁶, denn die Geschichte schafft zwar „das qualitativ Neue und bewegt sich auf das unbedingt Neue zu“²⁷, kann eben jenes aber „niemals innerhalb der Geschichte erreichen […], weil das Unbedingte jeden zeitlichen Moment transzendiert.“²⁸ Wenn jedoch das Ewige Leben jeden zeitlichen Moment transzendiert, dann stellt sich die grundsätzliche Frage nach dem, was über den Inhalt oder auch die Gestalt des Ewigen Lebens ausgesagt werden kann. Tillich unterscheidet in diesem Zusammenhang drei mögliche Typen von Antworten auf die Frage nach dem „Inhalt des Lebens, das wir ‚das Ewige Leben‘ nennen“²⁹ oder auch der Frage nach dem „Inhalt des Reiches, das als transzendente Erfüllung unter der Herrschaft Gottes steht“³⁰: a) Als eine erste mögliche Antwort auf die genannten Fragen erweist sich nach Tillich „die Verweigerung einer Antwort mit der Begründung, daß es um ein unerreichbares Mysterium gehe, das Mysterium der göttlichen Herrlichkeit.“³¹ Eine solche Verweigerung einer Antwort lehnt Tillich im Rahmen seines theologischen Systems jedoch als unzulänglich ab, da im Sinne seines Verständnisses „‚Leben‘ und ‚Reich‘ […] konkrete und spezifische Symbole [sind] […].
grundsätzlichen Verständnis der endlichen Existenz des Menschen im Gesamtzusammenhang des Universums und der Geschichte Kap. 2 sowie Kap. 3 dieser Arbeit. 24 Tillich: ST III, 448 [396]. 25 Vgl. zu Tillichs Verständnis der individuellen Erfüllung im Gesamtzusammenhang universaler Erfüllung Abschn. 5.2 dieser Arbeit. 26 Tillich: ST III, 448 [kursiv C.D.] [396]. 27 Ebd. Vgl. zur Tillichs Verständnis des qualitativ Neuen in der Geschichte auch Unterabschn. 3.1.1 dieser Arbeit. 28 Tillich: ST III, 448 [396]. 29 Ebd. 30 Ebd. 31 Ebd.
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Wenn schon konkrete Symbole gebraucht werden, darf ihre Bedeutung nicht ungeklärt bleiben.“³² b) Demgegenüber nennt Tillich einen weiteren möglichen Antworttypus, der das transzendente Reich Gottes als „das idealisierte Abbild des Lebens [sieht], wie es innerhalb der Geschichte und unter den allgemeinen Bedingungen der Existenz erfahren wird. Bezeichnenderweise fehlen diesem Abbild des Lebens die negativen Züge, die wir zum Beispiel als Endlichkeit, […], als Entfremdung usw. erleben.“³³ Deshalb sieht Tillich in einem derartigen idealisierten Abbild des Lebens Projektionen aller zweideutigen Inhalte des zeitlichen Lebens und der Wünsche, die diese erwecken, auf das Reich des Transzendenten. Dieses übernatürliche Reich hat keine unmittelbare Beziehung zur Geschichte und zur Entwicklung des Universums. […] Die Geschichte […] ist ein endlicher Prozeß, innerhalb dessen der Einzelne Entscheidungen treffen muß, die wichtig für seine eigene Erlösung sind, nicht aber für das Reich Gottes, das jenseits der Geschichte liegt. […] Alles geschichtliche Handeln […] trägt nichts bei für das himmlische Reich. Die Kirchen sind Heilsanstalten, aber nur für die Erlösung Einzelner, nicht für die soziale und universale Verwirklichung des Neuen Seins.³⁴
Tillich bestimmt Antworten, die unter dem transzendenten Reich Gottes ein idealisiertes Abbild des individuellen Lebens verstehen, das in ein transzendentes göttliches Reich überführt wird, als „theologischen Supranaturalismus“³⁵, der die wesentliche Beziehung von individueller und universaler Erfüllung aufhebt und so „die Geschichte ihres letzten Sinnes beraubt“³⁶, nämlich der universalen Erfüllung der essentiellen Möglichkeiten allen geschöpflichen Lebens, in welcher auch der Einzelne die Erfüllung seiner essentiellen Möglichkeiten findet. c) Eine dritte mögliche Antwort auf die Frage nach dem Inhalt des Reiches Gottes oder des Ewigen Lebens, die Tillich auch als Frage „nach der Beziehung der Geschichte zum Ewigen Leben“³⁷ bezeichnet, ist eine „dynamischschöpferische Interpretation des Symbols ‚Reich Gottes‘“³⁸, die in einer Linie
32 Tillich: ST III, 449 [396]. Vgl. zu Tillichs konkretem Verständnis des Lebensprozesses Kap. 3 sowie zu seinem konkreten Verständnis des Symbols „Reich Gottes“ Abschn. 3.3 und Abschn. 4.3 dieser Arbeit. 33 Ebd., 449 [397]. 34 Ebd. In der englischen Fassung fehlen die Hinweise „sozial“ und „universal“ am Ende. Es heißt: „[…] not actualizations of the New Being“. 35 Ebd. 36 Ebd. 37 Ebd. 38 Ebd.
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zu Tillichs theologischem System liegt und somit den von ihm bevorzugten Antworttypus darstellt: [Seine] Grundthese ist, daß das immer gegenwärtige Ende und Ziel der Geschichte den positiven Inhalt der Geschichte in die Ewigkeit erhebt, während es zugleich das Negative von der Teilnahme an ihr ausschließt. Darum ist nichts, was in der Geschichte geschaffen wird, verloren; aber es wird von den negativen Elementen befreit, mit denen es innerhalb der Existenz vermischt war. […] Das ewige Leben umfaßt also den positiven Gehalt der Geschichte, von seinen negativen Verzerrungen befreit und in seinen Potentialitäten erfüllt. […] Das universale Leben bewegt sich auf ein Ende und Ziel zu und wird in das Ewige Leben erhoben, sein letztes und immer gegenwärtiges Ende und Ziel.³⁹
Dieser Gedanke findet sich in ähnlicher Form auch bei Niebuhr: [Die christliche] Hoffnung schließt nicht ein, daß alles, was in der Geschichte geleistet wurde, im Augenblick, da sich diese Geschichte vollendet, wertlos sei. Jeder Augenblick der Geschichte schließt die Möglichkeit einer letzten Erfüllung in sich. Diese Erfüllung aber leugnet nicht das, was in der Geschichte wirklich und wesentlich ist, und sie lehnt keinesfalls eine weitere Entwicklung aller der Möglichkeiten ab, die dieser Geschichte innewohnen. In dieser Geschichte vollendet sich vielmehr das Wesen der Geschichte dadurch, daß sich die Widersprüche lösen.⁴⁰
Die negativen Elemente bestehen nach Tillich in Bezug auf den Lebensprozess in den Kräften der Desintegration, Zerstörung und Profanisierung, die eine Erfüllung der essentiellen Möglichkeiten des Lebens verhindern. Positive Elemente sind dementsprechend Selbst-Integration, Sich-Schaffen und SelbstTranszendierung unter den Prinzipen der Zentriertheit, des Wachstums und des Heiligen im Rahmen der ontologischen Grundstruktur der Selbst-Welt-Korrelation mit ihren ontologischen Polaritäten.⁴¹ Die positiven Elemente sind durch die Gegenwart des göttlichen Geistes bereits in der Geschichte wirksam, indem sie sie transzendieren und fragmentarisch die negativen Elemente überwinden, deren universale und endgültige Überwindung als Ende und Ziel der Geschichte noch aussteht.⁴² In diesem Sinne zeigt sich das Ende und das Ziel der Geschichte „als die Erhebung des Zeitlichen in die Ewigkeit“⁴³, in der sich durch den Ausschluss der negativen Elemente eine universale Erfüllung der essentiellen Möglichkeiten ereignet. Dergestalt lässt sich mit Tillich symbolisch gesprochen sagen, „daß
39 Ebd., 449f. [397f.]. 40 Niebuhr: Jenseits der Tragödie, 23. Vgl. darüber hinaus auch: Tillich: ST III, 116 [163f.]. Vgl. hierzu auch Tillichs im Folgenden erläuterte Ausführungen zur Essentifikation. 41 Vgl. zum Lebensprozess nach Tillich Kap. 2 dieser Arbeit. 42 Vgl. hierzu Kap. 3 und Kap. 4 dieser Arbeit. 43 Tillich: ST III, 448 [396].
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das Leben in der gesamten Schöpfung und, auf besondere Art, in der menschlichen Geschichte in jedem Augenblick der Zeit zum Reich Gottes und zum Ewigen Leben beiträgt.“⁴⁴ Damit wirkt Tillich einer Aufhebung der Beziehung des Zeitlichen zum Ewigen, wie sie seiner Auffassung nach durch eine Interpretation des Ewigen Lebens als unerreichbares Mysterium oder aber einen theologischen Supranaturalismus impliziert werden, entgegen. Einen ähnlichen Gedanken formuliert Tillich bereits 1926 in Kairos II, indem er sagt, dass die „Zeit nicht dadurch erlöst [wird], daß die Ewigkeit in sie eingeht […]; sondern die Zeit wird dadurch erlöst, daß sie aufgenommen wird in die Ewigkeit.“⁴⁵ Dementsprechend ist das qualitativ Neue des Ewigen Lebens die Überwindung der das Leben entfremdenden negativen Kräfte, die gerade keinen essentiellen Bestandteil des geschöpflich-endlichen Lebens bilden. Das Neue ist somit die „Verwandlung des Alten“⁴⁶, da nach Tillichs Verständnis „Schöpfung […] Schöpfung um des ‚Endes‘ willen [ist]: in dem ‚Grund‘ ist das ‚Ziel‘ gegenwärtig […], da es als Potentialität in dem Grund enthalten ist.“⁴⁷ Im Sinne der angeführten Zitate schließt sich die vorliegende Arbeit nicht der von Rosenau in Bezug auf Joachim Ringleben vorgetragenen Kritik an, dass es eine widersprüchliche Diskrepanz zwischen Tillichs „Betonung des schlechthin Neuen als das allein Sinngebende“⁴⁸ und der Essentifikation, die „nicht schlechthin Neues, sondern Durchklärung oder Läuterung des Alten [ist]“⁴⁹, bei Tillich gebe. Die Verwandlung des Alten erweist sich insofern als schlechthin neu, als sie im Zusammenhang der Essentifikation die schlechthinnige und endgültige Überwindung des innergeschichtlich unaufhebbaren „alten“ Schicksals der universalen Entfremdung bedeutet. Daher stellt sich nun die Frage danach, was unter dem beschriebenen Ausschluss des Negativen im Hinblick auf das Ewige Leben verstanden werden kann. Den Ausschluss des Negativen begreift Tillich als „Erhebung des Positiven in der Existenz in das Ewige Leben“⁵⁰, indem sich eine „Befreiung des Positiven von seiner zweideutigen Verbindung mit dem Negativen, die das Leben unter den
44 Tillich: ST III, 450 [398]. 45 Ders.: Kairos II, 35. 46 Ders.: ST III, 450 [398]. 47 Ebd. 48 Rosenau: Das Reich Gottes als Sinn der Geschichte (1999), 82. 49 Ebd. Die Rosenau entsprechende Kritik bei Ringleben findet sich in: Ringleben, Joachim: Der Geist und die Geschichte (Systematische Theologie Bd. III), in: Fischer, Hermann (Hg.): Paul Tillich. Studien zu einer Theologie der Moderne, Frankfurt / Main 1989, 230–256, hier 249. 50 Tillich: ST III, 450 [398].
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Bedingungen der Existenz kennzeichnet“⁵¹, vollzieht. Diese endgültige Befreiung des Positiven vom Negativen findet gemäß Tillich in einem christlichen Geschichtsverständnis Ausdruck in dem Symbol „eines letzten Gerichts“⁵², welches sich Tillichs zentralem Grundgedanken der universalen Erfüllung der Geschichte folgend „nicht auf Einzelwesen beschränkt, sondern […] sich auf das Universum [bezieht].“⁵³ Wird nun im Sinne Tillichs das Ende und Ziel der Geschichte als dauernde Gegenwart des Endes und als Erhebung des Zeitlichen in die Ewigkeit beschrieben, dann ergibt sich nach Tillich für das Symbol vom Jüngsten Gericht folgende Bedeutung: hier und jetzt, in dem dauernden Übergang vom Zeitlichen zum Ewigen wird das Negative vernichtet mit seinem Anspruch, ein Positives zu sein, einem Anspruch, den es geltend macht, indem es sich des Positiven bedient und sich auf zweideutige Weise mit ihm mischt. So gewinnt es den Anschein, selbst positiv zu sein […]. In diesem Sinn wird Gott in seinem ewigen Leben als „brennendes Feuer“ bezeichnet, das verbrennt, was vorgibt, positiv zu sein, es aber nicht ist.⁵⁴
Da jedoch alles von Gott Geschaffene durch die Gegenwart des göttlichen Geistes als „Ausdruck des Seins-Selbst“⁵⁵ essentiell positiv ist und es nichts rein Negatives gibt (das Negative nährt sich von dem Positiven, das es entstellt), kann nichts, was Sein hat, endgültig vernichtet werden. Nichts, was ist, kann, insofern es ist, von der Ewigkeit ausgeschlossen sein; aber es kann ausgeschlossen sein, insofern es mit Nicht-Sein gemischt und noch nicht von ihm befreit ist.⁵⁶
In Tillichs Verständnis ist Seiendes aufgrund der universalen Entfremdung insofern mit Nicht-Seiendem gemischt, als in ihm die es von seinem essentiellen Sein entfremdenden Kräfte der Desintegration, Zerstörung und Profanisierung wirksam sind, so dass die ontologische Grundstruktur der Selbst-Welt-Korrelation und damit die ontologischen Spannungen zugunsten des Nicht-Seins selbst-widersprüchlich wie auch selbstzerstörerisch wirken.⁵⁷ Eben jene eindeutige Identifikation des Negativen erweist sich für den Menschen unter den Bedingungen der universalen geschichtlichen Zweideutigkeit als unmöglich, da es dem Menschen
51 Ebd. 52 Ebd., 451 [398]. 53 Ebd. 54 Ebd., 451 [398f.]. 55 Ebd., 451 [399]. 56 Ebd. Vgl. zu Tillichs Verständnis der Bedrohung des Seins durch Nicht-Sein auch Kap. 2 dieser Arbeit. 57 Vgl. zu Tillichs Verständnis der Bedrohung des Seins durch Nicht-Sein auch Kap. 2 dieser Arbeit.
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im durch den göttlichen Geist gewirkten Glauben an Jesus Christus als Manifestation des Neuen Seins unter den Bedingungen der geschichtlichen Existenz ausschließlich fragmentarisch möglich ist, Vorläufiges von Endgültigem oder auch Bedingtes von Unbedingtem zu unterscheiden, weil sich eben jene Unterscheidung im endlich-geschichtlichen Lebensprozess grundsätzlich unter den Bedingungen der Zweideutigkeiten des Lebens ereignet, in welchen der Mensch durch die Wirkungen der desintegrierenden, zerstörerischen und profanisierenden Kräfte Vorläufiges mit Endgültigem oder auch Bedingtes mit Unbedingtem identifizieren kann. Der Ausschluss des Negativen vom Positiven ereignet sich im Zusammenhang des Jüngsten Gerichts mit Tillich gesprochen „als Enthüllung des Negativen als negativ“⁵⁸, durch die eine universale Überwindung der Entfremdung und dementsprechend die universale Erfüllung der essentiellen Möglichkeiten der Geschichte eröffnet wird. Dabei ist zu berücksichtigen, dass qualitativ das Ende der Geschichte als Ziel der Geschichte nicht mit ihrem quantitativen Ende identisch ist, weshalb die Erhebung des Zeitlichen in die Ewigkeit im Angesicht der dauernden Gegenwart des Endes selbst kein zeitliches Ereignis ist, ebensowenig wie die Schöpfung ein zeitliches Ereignis ist. Zeit ist die Form des geschaffenen Endlichen (und wird so mit diesem geschaffen), und Ewigkeit ist das innere Ziel, das telos des geschaffenen Endlichen, das das Endliche dauernd zu sich emporzieht. In einer kühnen Metapher könnte man sagen, daß das Zeitliche in einem fortwährenden Prozeß zu „ewiger Erinnerung“ wird. Aber ewige Erinnerung ist lebendige Bewahrung der erinnerten Sache. Sie ist zugleich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, eine transzendente Einheit der drei Zeitmodi. […] Das Ewige ist […] immer gegenwärtig, nicht nur im Menschen […], sondern in allem, was innerhalb der Gesamtheit des Daseins Sein hat.⁵⁹
Ist nun mit Tillich die Erhebung des Zeitlichen in die Ewigkeit im Angesicht der dauernden Gegenwart des Endes als universale Erfüllung der essentiellen Potentialitäten der Geschichte zu verstehen, ergibt sich die Frage, auf welche Weise das Negative mit Blick auf Tillichs Metapher der „ewigen Erinnerung“ von der Ewigkeit ausgeschlossen wird. In den Worten Tillichs formuliert lässt sich sagen, daß das Negative kein Gegenstand der ewigen Erinnerung als lebendiger Bewahrung des Erinnerten ist. […] Das Negative wird überhaupt nicht erinnert; es wird als das „durchschaut“, was es ist, als Nicht-Sein. Trotzdem bleibt es nicht ohne Wirkung auf das, was auf ewig erinnert wird. Es ist in der ewigen Erinnerung als das gegenwärtig, was überwunden und in
58 Tillich: ST III, 450 [398]. 59 Ebd., 452 [399f.]. Vgl. zu Tillichs Schöpfungsverständnis Unterabschn. 3.1.1 dieser Arbeit.
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sein nacktes Nicht-Sein geworfen ist […]. Das ist die Seite der Verdammnis in dem, was symbolisch als Jüngstes Gericht bezeichnet wird.⁶⁰
Gegenstand der ewigen Erinnerung ist somit das Positive vor dem Hintergrund seiner Überwindung des Negativen, wobei für Tillich „positiv“ in diesem Zusammenhang „etwas, das wahre Realität […] als die geschaffene Essenz eines Dinges [hat]“⁶¹, und „negativ“ etwas, dem keine geschaffene Essenz zukommt und sich ausschließlich als Entfremdung am Positiven vollzieht, meint. Aus diesem Grund sehen die vorliegenden Ausführungen den Begriff des Positiven bei Matern unterbestimmt, der Positivität bei Tillich als „eine bestimmte Gerichtetheit des geistigen Prozesses, die eine Selbstabschottung ausschließt“⁶², fasst. Das zentrale Element für das Verständnis des Positiven bei Tillich ist auf Grundlage des angeführten Zitats von Tillich die jeweilige Geschöpflichkeit in ihrer Essenz. Das führt zu der weiteren Frage, „wie sich das Positive zum essentiellen Sein, und im Gegensatz dazu zum existentiellen Sein verhält.“⁶³ Mit Bezug auf Schelling führt Tillich zur Verhältnisbestimmung des Positiven zum essentiellen und existentiellen Sein den Begriff „Essentifikation“ ein.⁶⁴ Anders als bei Tillich, bei dem wie im Folgenden dargestellt „Essentifikation“ die vollkommene Erfüllung und Verwirklichung der essentiellen Potentialitäten bedeutet, meint „Essentifikation“ bei Schelling, dass „nur das Zufällige untergeht, [aber] das Wesen bewahrt wird“⁶⁵, wobei auch Schelling damit keine Trennung von Seele und Leib bezeichnet wissen will, jedoch den Prozess der Essentifikation als eine Transformation versteht, in dem das Wesentliche erhalten bleibt und eine neue Form annimmt. Dies wird in folgendem Beispiel Schellings für die Essentifikation deutlich, das davon spricht, dass in der Essentifikation „der Geist (oder die Essenz) einer Pflanze ausgezogen wird, wo die Kraft in das Öl übergeht, obgleich die Form zerstört wird.“⁶⁶ Tillich dagegen versteht das Sein im Zuge der Essentifikation im Anschluss an Paulus im Sinne der Auferstehung des Leibes als Geistleib und somit im Zeichen der das Alte verwandelnden Kontinuität.⁶⁷
60 Ebd., 452 [400]. 61 Ebd., 453 [kursiv C.D.] [400]. 62 Matern: Das Reich Gottes innerhalb der Geschichte und als Ziel der Geschichte, 299. 63 Tillich: ST III, 453 [400]. 64 Schelling, Friedrich W. J.: Philosophie der Offenbarung, Frankfurt / Main 1977, 304. 65 Ebd. 66 Ebd. 67 Vgl. dazu ausführlich Abschn. 5.2 dieser Arbeit. Eine Studie, die sich schwerpunktmäßig auf eine Analyse der philosophischen Bezüge von Tillichs Anthropologie widmet, findet sich bei: Horstmann-Schneider, Anjuta: Sein und menschliche Existenz. Zu Tillichs philosophischer Anthropologie im Horizont von Theologie und Humanwissenschaften, Würzburg 1995.
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„Essentifikation“ bezeichnet nach Tillich somit keine „Rückkehr zu dem Zustand reiner Wesentlichkeit oder Potentialität […] und die Ausscheidung alles dessen, was unter den Bedingungen der Existenz wirklich ist“⁶⁸, sie bedeutet vielmehr, daß das Neue, das sich in Raum und Zeit verwirklicht hat, zu dem essentiellen Sein etwas hinzufügt, indem es dieses mit dem Positiven verbindet, das in der Existenz geschaffen wird, und so das unbedingt Neue, das „Neue Sein“, schafft, nicht fragmentarisch wie in allen zeitlichen Leben, sondern als vollkommener Beitrag zu dem Reich Gottes in seiner Erfüllung.⁶⁹
In Bezug auf dieses Zitat grenzen sich die vorliegenden Ausführungen gegenüber der von Rosenau vorgenommenen Identifikation von Reich Gottes und Essentifikation ab, indem die Essentifikation alles Geschöpflichen im Sinne des Jüngsten Gerichts vielmehr als Bedingung der Möglichkeit der vollendeten Verwirklichung des Reiches Gottes als unzweideutiges Leben bei Tillich verstanden wird.⁷⁰ Tillich folgend erweist sich „Essentifikation“ also als Verwirklichung der essentiellen Möglichkeiten, als Aktualisierung der essentiellen Potentialitäten des endlichen Seins in Form einer „bewußte[n] Einheit von Existenz und Essenz“⁷¹ im Sinne der Vollkommenheit, in welcher die diese verhindernden, entfremdenden Kräfte durch das Jüngste Gericht enthüllt, negiert und überwunden sind. Somit stellt sich im Hinblick auf das Symbol „Ewiges Leben“ die Frage, auf welche Weise durch die Essentifikation die Zweideutigkeiten des Lebens im Gesamtzusammenhang der ontologischen Struktur des Lebens im Reich Gottes überwunden werden. Die Überwindung der Zweideutigkeiten des Lebens ist gemäß Tillich mit der Enthüllung und der Ausschließung des Negativen im Jüngsten Gericht […] nicht nur fragmentarisch, sondern total. […] Im Hinblick auf die drei Polaritäten des Seins und die entsprechenden drei Funktionen des Lebens müssen wir fragen: Was ist die Bedeutung der Selbst-Integration, des Sich-Schaffens und der Selbst-Transzendierung im Ewigen Leben?⁷²,
denn da „das Ewige Leben identisch ist mit dem Reich Gottes in seiner Erfüllung, ist es die nicht-fragmentarische und totale Überwindung der Zweideutigkeiten des Lebens in allen Dimensionen des Lebens […].“⁷³ Das Ewige Leben ist unzweideutiges Leben und erweist sich dergestalt als Antwort auf die existentiellen Fra-
68 Tillich: ST III, 453 [400]. 69 Ebd., 453 [400f.]. 70 Vgl. hierzu Rosenau: Das Reich Gottes als Sinn der Geschichte (1999), 78/81. 71 Tillich: ST II, 41 [34]. Vgl. zu diesem Verständnis von Vollkommenheit nach Tillich auch Unterabschn. 3.1.1 dieser Arbeit. 72 Ders.: ST III, 454 [401]. 73 Ebd., 454 [kursiv C.D.] [401].
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gen nach unzweideutiger Selbst-Integration, unzweideutigem Sich-Schaffen und unzweideutiger Selbst-Transzendierung.⁷⁴ Diese erläutert Tillich wie folgt: a) Unzweideutige Selbst-Integration im Ewigen Leben ereignet sich nach Tillich im Rahmen der erste[n] Polarität in der Seinsstruktur, […] Individualisation und Partizipation. Im Ewigen Leben sind die beiden Pole in vollkommenem Gleichgewicht. Sie sind in dem vereint, was ihren polaren Gegensatz transzendiert: in der Zentriertheit des Göttlichen, die das Universum der Seinsmächte umfaßt, ohne sie in eine tote Identität aufzulösen. Man kann noch von ihrer Selbst-Integration sprechen, da sie sogar in der zentrierten Einheit des göttlichen Lebens ihre Selbst-Bezogenheit nicht verloren haben.⁷⁵
Demnach bildet das Ewige Leben keine differenzlose Einheit mit dem göttlichen Leben, sondern ist Leben, das in seiner zentrierten Selbstbezüglichkeit durch das göttliche Leben umfasst und dergestalt nicht mehr durch die Möglichkeit der Desintegration bedroht wird: „Ewiges Leben ist noch Leben: in der universalen Zentriertheit werden die einzelnen Zentren nicht aufgelöst.“⁷⁶ Eine ähnliche Formulierung wählt Tillich bereits 1913 in seinem ersten Entwurf einer Systematischen Theologie: „Das ewige Leben ist die ewige Gemeinschaft des Einzelnen untereinander und mit Christus in der Einheit mit Gott. Es ist der absolute Zustand, verwirklicht als Reich Gottes: die ewige Einheit der Mannigfaltigkeit, verwirklicht in Freiheit und Liebe.“⁷⁷ Daraus ergibt sich Tillich folgend „die Beschreibung des erfüllten Reiches Gottes als des unzweideutigen und nicht-fragmentarischen Lebens der Liebe.“⁷⁸ „Liebe“ meint in den Worten Tillichs allgemein den „Drang nach Wiedervereinigung des Getrennten“⁷⁹, wofür er auch die Bezeichnung agape verwendet, die er in Abgrenzung zu philia, eros, epithymia oder libido als „eine ekstatische Manifestation des göttlichen Geistes“⁸⁰, als „eine Schöpfung des göttlichen Geistes“⁸¹ versteht. Einer solchen agape schreibt Tillich folgende Qualitäten zu:
74 Vgl. hierzu Abschn. 4.3 dieser Arbeit. 75 Tillich: ST III, 454 [kursiv C.D.] [401]. 76 Ebd., 454 [401]. 77 Ders.: Systematische Theologie (1913), in: Ders.: Gesammelte Werke. Ergänzungs- und Nachlaßbände. Frühe Werke, (Hg.) Hummel, Gert/Lax, Doris, Bd. IX, Berlin 1998, 273–434, hier 375. Vgl. zur komplexen Textgeschichte von Tillichs erstem Entwurf einer Systematischen Theologie: ebd., 273ff. 78 Ders.: ST III, 454 [kursiv C.D.] [402]. 79 Ebd., 160 [134]. 80 Ebd., 163 [137]. 81 Ebd.
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Die erste Qualität der agape ist die uneingeschränkte Aufnahme des Gegenstandes der Liebe, die zweite Qualität der agape ist das Festhalten am Gegenstand der Liebe trotz seiner entfremdeten, profanisierten oder dämonischen Existenz, und die dritte Qualität der agape ist die Antizipation eines Zustandes, in dem Heiligkeit, Größe und Würde des Gegenstandes der Liebe wiederhergestellt sind. […] Das letzte Ziel der agape – göttlicher wie menschlicher – ist es, den Gegenstand der Liebe in die transzendente Einheit unzweideutigen Lebens zu erheben.⁸²
Heiligkeit bedeutet in diesem Zusammenhang die Beziehung des Bedingten zum Unbedingten.⁸³ Größe und Würde des Lebens sind hier qualitativ und nicht quantitativ zu verstehen: „Größe im qualitativen Sinn drückt Seins- und Sinnmächtigkeit aus, sie weist auf ein letztes Sein und einen letzten Sinn hin und gibt dem Hinweisenden die Würde, die ihm dadurch zukommt.“⁸⁴ Tillichs formuliert sein Verständnis der göttlichen Liebe auch 1959 in seiner Schrift Der Widerstreit von Zeit und Raum, in welcher er Gott als „den in der Zeit und durch die Zeit hindurchwirkenden Gott, der alles im Raum Getrennte in einem Universum der Liebe vereinigt“⁸⁵, bezeichnet. Deshalb ist gemäß Tillich Liebe auch „der Zustand des Hineingenommenseins in die transzendente Einheit unzweideutigen Lebens durch den göttlichen Geist.“⁸⁶ Wenn Tillich nun das erfüllte Reich Gottes als unzweideutiges und nicht-fragmentarisches Leben der Liebe beschreibt, dann ist „Reich Gottes“ oder „Ewiges Leben“ nicht als Auflösung, sondern als Erhebung der Geschichte als Gegenstand der göttlichen agape in die transzendente Einheit unzweideutigen Lebens zu begreifen, in der die Zweideutigkeiten des Lebens überwunden sind, indem durch die Essentifikation Heiligkeit, Größe und Würde der Geschichte in unzweideutiger Selbst-Integration aktualisiert werden und die Geschichte in ihrer vollkommenen Individualisation vollkommen am göttlichen Leben partizipiert. Für Tillich offenbart sich die göttliche agape in Jesus Christus, die dem Menschen die Liebesethik Jesu essentiell handlungsorien-
82 Tillich: ST III, 164 [138]. 83 Vgl. auch Abschn. 2.2 dieser Arbeit. 84 Tillich: ST III, 108 [88]. 85 Ders.: Der Widerstreit von Raum und Zeit, in: Ders.: GW VI, 140–148, hier 147. Vgl. zu Tillichs Verständnis des Ewigen Lebens als unzweideutiges Leben auch Ders.: Der Einfluss der Psychotherapie auf die Theologie, in: Ders.: GW VIII, 325–335, hier 335. Eine Analyse der Bedeutung von Tillichs Verständnis der Liebe in Bezug auf die Geschichte findet sich bei Rothchild, Jonathan: Transforming the Circle. Tillich’s Dialectic Conception of Love and the Meaning of History, in: Danz (Hg.): Interpretation of History, Bd. 8, 15–32. 86 Tillich: ST III, 160 [134].
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tierend erschließt.⁸⁷ In dieser Linie steht auch eine Formulierung aus Tillichs Schrift Prophetische und marxistische Geschichtsdeutung, die mutmaßlich zwischen 1934 und 1936 verfasst wurde: Erlösung „ist nicht Verschmelzung mit dem Ewig-Einen, sondern Verwirklichung des Reiches Gottes, das heißt des Mannigfaltigen, das geeint ist durch Gerechtigkeit und Liebe.“⁸⁸ b) Analog zur unzweideutigen Selbst-Integration gilt für das unzweideutige SichSchaffen im Ewigen Leben, dass „die Polarität von Dynamik und Form […] in vollkommenem Gleichgewicht [ist].“⁸⁹ Die beiden Pole „sind in dem vereint, was ihren polaren Gegensatz transzendiert: in der göttlichen Schöpferkraft, die die endliche schöpferische Kraft einschließt, ohne sie zum Werkzeug seiner selbst zu machen. Die Selbstheit in dem Sich-Schaffen bleibt in dem erfüllten Reich Gottes erhalten“⁹⁰, ohne durch die das Leben entfremdende Kraft der Zerstörung bedroht zu sein. c) Dementsprechend sind in der unzweideutigen Selbst-Transzendierung des Ewigen Lebens die beiden Pole Freiheit und Schicksal ebenfalls in vollkommenem Gleichgewicht. Sie sind in dem vereint, was ihren polaren Gegensatz transzendiert: in der göttlichen Freiheit, die mit dem göttlichen Schicksal identisch ist. Mit der Macht der Freiheit strebt jedes endliche Wesen über sich hinaus zur Erfüllung seines Schicksals in der endgültigen Einheit von Freiheit und Schicksal.⁹¹
Im Ewigen Leben sind demnach Desintegration, Zerstörung und Profanisierung als Zweideutigkeiten des Lebens dergestalt überwunden, dass das im Zuge der Entfremdung drohende Zerbrechen der ontologischen Spannungen keine Möglichkeit mehr darstellt und somit die Sinnhaftigkeit der ontologischen Struktur des geschöpflichen Lebens als solche uneingeschränkt erlebt und bejaht werden darf.⁹² Die Überwindung der Entfremdung und der Zweideutigkeiten des Lebens hat nach Tillich in Bezug auf das Ewige Leben folgende Konsequenzen für Moralität, Kultur und Religion, in denen sich geschichtlich die Selbst-Integration,
87 Vgl. hierzu die Erläuterungen zu Tillichs Text von 1919 Der Sozialismus als Kirchenfrage: Ders.: Der Sozialismus als Kirchenfrage, in: Ders.: GW II, 13–20 unter Abschn. 6.2 dieser Arbeit im Zusammenhang von Tillichs Auffassung der religiös-sozialistischen Bewegung. 88 Ders.: Prophetische und marxistische Geschichtsdeutung, in: Ders.: GW VI, 97–108. Vgl. hierzu auch Ders.: Das fremde Werk der Liebe, in: Ders.: GW VIII, 199–204, hier 199; Ders.: Die Hoffnung der Christen, in: Ders.: GW VIII, 252–256, hier 255 sowie Ders.: Die christliche Hoffnung und ihre Wirkung in der Welt, in: Ders.: GW VIII, 257–264, hier 263. 89 Ders.: ST III, 454 [402]. 90 Ebd., 454f. [402]. 91 Ebd., 455 [402]. 92 Vgl. zum drohenden Zerbrechen der ontologischen Polaritäten Abschn. 2.3 sowie zur Geschöpflichkeit als Sinn von Endlichkeit Unterabschn. 3.1.1 dieser Arbeit.
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das Sich-Schaffen und die Selbst-Transzendierung des Lebens vollzieht: Moralität, Kultur und Religion verlieren ihre Funktion „in dem Ende und Ziel der Geschichte“⁹³, denn: Das Ewige Leben ist das Ende der Moralität, denn in ihm ist kein Sein-Sollen, das nicht zugleich Sein ist. Wo Essentifikation ist, gibt es kein Gesetz, weil das, was das Gesetz fordert, nichts anderes ist als das Wesen, die Essenz, die durch die Existenz schöpferisch bereichert ist. Das gleiche ist gemeint, wenn wir das Ewige Leben das Leben der universalen und vollkommenen Liebe nennen. […] Anders ausgedrückt können wir sagen, daß im Ewigen Leben das Zentrum der Person in dem alles umfassenden göttlichen Zentrum ruht und durch diese Gemeinschaft hat mit allen anderen persönlichen Zentren […]. Das Ewige Leben ist das Ende der Moralität, weil in ihm erfüllt ist, was die Moralität verlangt.⁹⁴
Entsprechend ist das Ewige Leben das Ende der Kultur. […] Das Schaffen des menschlichen Geistes wird im Ewigen Leben zur Offenbarung des göttlichen Geistes – wie es das fragmentarisch schon in der Geistgemeinschaft ist. Menschliches Schaffen und göttliche Selbst-Manifestation sind im erfüllten Reich Gottes ein und dasselbe. Kultur als selbständige menschliche Tätigkeit erreicht ihr Ende mit dem Ende der Geschichte. Sie wird zur ewigen göttlichen Selbst-Manifestation durch die endlichen Träger des göttlichen Geistes.⁹⁵
Analog erweist sich das Ende der Geschichte auch als „Ende der Religion. Die Religion ist eine Folge der Entfremdung des Menschen von dem Grund seines Seins und der Versuch, wieder zu ihm zurückzufinden. Im Ewigen Leben ist diese Rückkehr vollzogen […]. Im Ewigen Leben gibt es keine Religion.“⁹⁶ Somit bedeutet die endgültige Überwindung der Zweideutigkeiten des Lebens gleichermaßen die Überwindung von Moralität, Kultur und Religion, die Tillich auch deshalb als „Funktionen des Geistes“⁹⁷ bezeichnet, weil in ihnen der göttliche Geist gegenwärtig ist und durch den Menschen als endlichen Träger des göttlichen Geistes Selbst-Integration, Sich-Schaffen und Selbst-Transzendierung unter den geschichtlichen Bedingungen des zweideutigen Lebens als Moralität, Kultur und Religion verwirklicht.⁹⁸ Wenn nun im Ewigen Leben die entfremdungsbeding-
93 Tillich: ST III, 455 [402]. 94 Ebd. Vgl. zu Tillichs Verständnis von Moralität, Kultur und Religion Abschn. 2.2 und Abschn. 2.3 dieser Arbeit. 95 Ebd., 455 [402f.]. 96 Ebd., 456 [402f.]. Vgl. zu Tillichs Verständnis der latenten und manifesten Geistgemeinschaft Abschn. 4.1 dieser Arbeit. 97 Ebd., 130 [107]. Vgl. zu Tillichs Verständnis von Geist Abschn. 2.2 sowie der Aktualisierung von Geist in der Geschichte Unterabschn. 3.1.1 dieser Arbeit. 98 Vgl. hierzu auch Abschn. 4.3 dieser Arbeit.
5.1 Die ewige Seligkeit des ewigen Lebens als die ewige Überwindung des Negativen | 177
ten Zweideutigkeiten des Lebens durch die Essentifikation des Jüngsten Gerichts endgültig überwunden sind, stellt sich hinsichtlich des erfüllten Reiches Gottes als Ziel der Geschichte die Frage, wie sich die Überwindung dessen, was Tillich als „Negatives“ bezeichnet hat und dem im Sinne der essentiellen Geschöpflichkeit kein Sein zukommt, im Ewigen Leben beschreiben lässt. Gemäß Tillich erweist sich das Negative als dasjenige, dem in Abgrenzung zum geschaffenen Positiven kein Sein zukommt und das somit als Nicht-Sein zu verstehen ist. In diesem Sinne existiert nach Tillich etwas rein Negatives nicht.⁹⁹ Dennoch konstatiert Tillich „den ontologischen Charakter des Nichtseins“¹⁰⁰, indem er das Nicht-Sein analog zur platonischen Philosophie nicht als ouk on, sondern als me on beschreibt: „Ouk on ist das ‚Nichts‘, das überhaupt keine Beziehung zum Sein hat; me on ist das Nichts, das eine dialektische Beziehung zum Sein hat.“¹⁰¹ Anders als die platonische Philosophie, die „me on mit dem [identifizierte], was noch kein Sein hat, aber was Sein werden kann, wenn es geeint wird mit den Wesenheiten oder Ideen“¹⁰², begreift Tillich das Nicht-Sein theologisch analog zu seinem Verständnis der Sünde als Entfremdung als etwas, das zwar „keinen positiven ontologischen Rang“¹⁰³ als Geschaffenes hat, aber „als Widerstand gegen das Sein und Perversion des Seins“¹⁰⁴ interpretiert werden muss. Tillich formuliert sein Sündenverständnis ausgehend von der hybris des Menschen bereits in seiner Dresdener Dogmatik-Vorlesung aus den Jahren 1925–1927, wobei er Sünde nicht zentral als Entfremdung, sondern als Wesenswidriges begreift.¹⁰⁵ Darüber hinaus behandelt Tillich in der genannten Vorlesung die Zweideutigkeit des Lebens im Sinne der Gegenwart des essentiellen Seins in der existentiellen Verzerrung im Zusammenhang von Getrenntheit und Verbundenheit von Gott und Welt.¹⁰⁶ Dieser Widerstand gegen das Sein äußert sich Tillich folgend im einzelnen Menschen als Unglaube, hybris und Konkupiszenz, die Tillich auch als „Merkmale der menschlichen Entfremdung“¹⁰⁷ bezeichnet.
99 Tillich: ST III, 452f. [400f.]. 100 Ders.: ST I, 220 [187]. 101 Ebd., 220 [188]. 102 Ebd. 103 Ebd., 221 [188]. 104 Ebd. Vgl. hierzu auch die Entwicklung von Tillichs Verständnis des Dämonischen als positiv Formwidriges unter Abschn. 6.2 dieser Arbeit. 105 Vgl. hierzu: Ders.: EW XIV, 177ff. 106 Vgl. hierzu: ebd., 223ff. Vgl. zum Wesenswidrigen in Bezug auf das Dämonische auch Abschn. 6.2 dieser Arbeit. 107 Ders.: ST II, 52 [44]. Vgl. zu Tillichs Verständnis der Entfremdung auch Unterabschn. 2.3.1 dieser Arbeit.
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a) Dabei bezeichnet Unglaube den Akt, in dem der Mensch sich in seiner Ganzheit von Gott abwendet. […] Unglaube ist ferner die Trennung des menschlichen Willens von Gottes Willen. […] Unglaube ist letztlich identisch mit Nicht-Liebe […]. Selbstliebe und Weltliebe sind berechtigt, wenn sie alles Endliche als Manifestation des Unendlichen bejahen und sich um des Unendlichen willen mit dem Endlichen einigen möchten. […] Wenn sie sich vom unendlichen Grund abkehren und bei den endlichen Manifestationen verharren, sind sie Unglaube. Die Zerreißung der essentiellen Einheit mit Gott ist der grundlegende Charakter der Sünde. […] Der Mensch ist versucht, sich selbst existentiell zum Zentrum seiner selbst und seiner Welt zu machen.¹⁰⁸
Oswald Bayer interpretiert in diesem Zusammenhang „essentielle Einheit“ bei Tillich in verschiedenen Beiträgen im Sinne einer differenzlosen Einheit zwischen Gott und Mensch.¹⁰⁹ Das führt Bayer zu der Annahme, dass bei Tillich aufgrund eben jener ursprünglichen differenzlosen Einheit Gotteserkenntnis im Rahmen einer seinsmystischen Unmittelbarkeit möglich und Sünde in Gestalt der Entfremdung grundsätzlich innerhalb der nach sich selbst fragenden Existenz verstehbar sei sowie Rechtfertigung und Offenbarung in einer Weise abstrahiert würden, die ihnen ihren spezifischen Charakter nehme und damit zu einer Entgegenständlichung der Theologie führe.¹¹⁰ Dieser Interpretation von „essentielle Einheit“ kann auf Grundlage der Ergebnisse der vorliegenden Auseinandersetzung mit Tillichs Eschatologie in dieser Arbeit nicht gefolgt werden, denn Tillich verwendet den Begriff der „Einheit“ oder auch „essentiellen Einheit“ nicht im Sinne von Differenzlosigkeit, sondern bezeichnet damit ein mannigfaltiges, komplexes und dynamisches Gefüge, dessen Elemente essentiell und unaufhebbar aufeinander verwiesen sind. So beschreibt Tillich beispielsweise Welt als „eine Einheit von Mannigfaltigkeit.“¹¹¹ Das Leben zeigt sich Tillich folgend in Gestalt einer „komplexen und dynamischen Einheit.“¹¹² Gemäß Erdmann Sturm ist dieser Gebrauch des Einheitsbegriffs bei Tillich auf seine Interpretation von Schellings Identitätsprinzip zurückzufüh-
108 Tillich: ST II, 55ff. [kursiv C.D.] [47ff.]. 109 Vgl. hierzu beispielsweise: Bayer, Oswald: Grundzüge der Theologie Paul Tillichs, kritisch dargestellt, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie 49.3 (2007), 325–348, hier 332. 110 Vgl. ebd., 331ff. Ähnliche Tillich-Interpretationen formuliert Bayer in: Ders.: Wort und Sein, in: Hummel, Gert/Lax, Doris (Hgg.): Being Versus Word in Paul Tillich’s Theology?, Berlin / New York 1999, 13–23; Ders.: Theologie, in: Handbuch Systematischer Theologie, Ratschow, Carl Heinz (Hg.), Bd. 1, Gütersloh 1994, 185–280/297. 111 Tillich: ST I, 201 [170]. Siehe auch Abschn. 2.1 dieser Arbeit. 112 Ders.: ST II, 81 [67].
5.1 Die ewige Seligkeit des ewigen Lebens als die ewige Überwindung des Negativen | 179
ren, das Differenz und Widerspruch einschließe.¹¹³ Nach Wenz sucht Tillich mit seinem Verständnis von Einheit in Bezug auf Gott und Mensch auszudrücken, „daß Gottes Gottheit für den Menschen offenbar sein will, […] daß der Mensch auch unter postlapsarischen Bedingungen nicht aufhört, Gottes Geschöpf zu sein“¹¹⁴, wobei Wenz in Frage stellt, ob Tillich diesen Sachverhalt „begrifflich angemessen, nämlich so zur Darstellung gebracht hat, daß das Prinzip der Identität nicht länger als ein abstrakt vorausgesetztes, sondern als ein von ‚Differenz‘ an sich selbst betroffenes erkennbar wird.“¹¹⁵ Deutlich wird dieses Differenz einschließende Verständnis von Einheit bei Tillich im Hinblick auf den Unglauben als Merkmal der Entfremdung auch darin, dass nach Tillich im Akt des Unglaubens die „Erkenntnis-Einheit mit Gott zerrissen [wird].“¹¹⁶ Darüber hinaus erweist sich die im Vorangegangenen erörterte transzendente Einheit des Ewigen Lebens im Reich Gottes im Sinne Tillichs als differenzierter Lebensprozess, der in der vollkommenen Aktualisierung der ontologischen Polaritäten zur Erfüllung kommt, indem die Zweideutigkeiten der Geschichte überwunden sind. So formuliert Tillich wie bereits im entsprechenden Zusammenhang zitiert: „Ewiges Leben ist noch Leben: in der universalen Zentriertheit werden die einzelnen Zentren nicht aufgelöst.“¹¹⁷ Grundsätzlich zeigt sich in Tillichs Theologie „Beziehung“ als „grundlegende ontologische Kategorie.“¹¹⁸ Dementsprechend ist weder Gottes- noch Sündenerkenntnis in Form einer seinsmystischen Unmittelbarkeit möglich, sondern erfordert wie im Vorangegangenen dargestellt den Durchbruch des göttlichen Geistes in den menschlichen Geist, die Selbsterschließung Gottes in Jesus als dem Christus innerhalb der Geschichte, die göttliche Offenbarung der Antworten auf die in der menschlichen Existenz in ihrer Geschöpflichkeit unter den postlapsarischen Bedingungen der universalen Entfremdung liegenden Fragen sowie das das Reich Gottes durch Essentifikation vollendende Wirken des Geistes, das die Geschichte transzendiert und gerade eine innergeschichtliche Progression auf das Reich Gottes hin ausschließt. Eben jene Gotteserkennt-
113 Sturm, Erdmann: Sein oder Wort? Zu Oswald Bayers Tillich-Interpretation, in: Hummel/Lax (Hgg.): Being Versus Word in Paul Tillich’s Theology?, 24–48, hier 39. 114 Wenz, Gunther: Tillichs letztes Blatt. Über Kant und Oswald Bayers Kritik der Tillichschen Ontotheologie, in: Hummel/Lax (Hgg.): Being Versus Word in Paul Tillich’s Theology?, 49–72, hier 70. 115 Ebd. 116 Tillich: ST II, 55 [47]. In der englischen Fassung heißt es: „disruption of man’s cognitive participation in God“. 117 Ders.: ST III, 454 [401]. 118 Ders.: ST I, 311 [271]. Vgl. auch Abschn. 2.2 sowie Abschn. 6.2 dieser Arbeit.
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nis vermag der Mensch innerhalb der Geschichte ausschließlich durch die in der göttlichen Offenbarung gegründeten Symbole zu erfahren, die als solche nicht die Absolutheit Gottes in Frage stellen, aber der universalen Zweideutigkeit geschichtlichen Seins unterliegen. Offenbarung ist demnach wesentlich konkret und nicht abstrakt. Die Differenz von Unbedingtem und Bedingtem, Endgültigem und Vorläufigem, Gott und Mensch kommt gerade in Tillichs Methode der Korrelation wie auch seinem Symbolbegriff zum Ausdruck, da die göttliche Offenbarung vom Menschen im Rahmen der geschichtlichen Bedingungen aufgenommen wird, jedoch Bedingtes gerade nicht mit Unbedingtem identifiziert werden soll. Tillichs theologisches System verfolgt darin das Anliegen, gerade die Differenz von Bedingtem und Unbedingtem zu betonen, obgleich sie in Gestalt der Beziehung von Schöpfer und Geschöpf wesentlich miteinander in einer essentiellen Einheit verbunden sind. Tillichs Theologie gewinnt demnach ihren Gegenstand und ihre Gewissheit durch die Offenbarung des göttlichen Geistes unter geschichtlichen Bedingungen, wobei der Fehlbarkeit der Aufnahme des göttlichen Geistes vom Menschen durch die göttliche Gnade Rechtfertigung zugesagt wird. Wie unter Unterabschn. 2.3.2 dieser Arbeit dargestellt ist es somit nach Tillich nicht Aufgabe der Theologie, religiöse Symbole zu bejahen oder zu verneinen, sondern sie in Bezug auf die existentielle Situation auszulegen. Hans-Christoph Askani erläutert Tillichs Methode der Korrelation in diesem Zusammenhang durch die „Beziehung von Übersetzung und Original“, wobei „Original und Übersetzung […] nicht gleichrangig [sind], das Original ist der Übersetzung vorgeordnet, überlegen, aufgegeben.“¹¹⁹ In diesem Sinne kommt gemäß Tillich ganz im Sinne seines Programms einer apologetischen Theologie der Theologie die Aufgabe zu, die göttlichen Antworten in Beziehung zur gegenwärtigen geschichtlichen Lage zu übersetzen bzw. zur Geltung zu bringen. b) Hybris ist für Tillich die Selbsterhebung des Menschen in die Sphäre des Göttlichen. […] Sie ist das Ganze der Sünde, die andere Seite des Unglaubens oder der Abwendung vom göttlichen Zentrum, zu dem der Mensch gehört. Diese Abwendung ist gleichzeitig Zuwendung zu sich selbst als dem Zentrum des eigenen Selbst. […] Eine dämonische Macht treibt den Menschen dazu, natürliche Selbstbejahung mit zerstörerischer Selbstüberhebung zu verwechseln.¹²⁰
c) Daraus ergibt sich gemäß Tillich die Frage
119 Askani, Hans-Christoph: Tillichs Offenbarungsverständnis als Stein des Anstoßes und Prüfstein seiner Theologie. Eine Auseinandersetzung mit Oswald Bayers Tillich-Kritik, in: Hummel/ Lax (Hgg.): Being Versus Word in Paul Tillich’s Theology?, 73–101, 97f. 120 Tillich: ST II, 58ff. [50ff.].
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warum der Mensch versucht ist, in sich selbst das Zentrum zu suchen. Die Antwort darauf lautet: weil es ihm die Möglichkeit gibt, die ganze Welt in sich hineinzuziehen. Es hebt ihn über sein Teil-sein hinaus und macht ihn auf der Basis seines Teil-seins universal. Das ist die Versuchung des Menschen in seiner Stellung zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit. […] Der klassische Name für diesen Wunsch ist „Konkupiszenz“ – die unbegrenzte Sehnsucht, das Ganze der Wirklichkeit dem eigenen Selbst einzuverleiben.¹²¹
Der Widerstand gegen das Sein oder auch die Perversion des Seins durch das Nicht-Sein in Unglaube, hybris und Konkupiszenz hat nach Tillich also ontologischen Charakter, weil in der ontologischen Grundstruktur alles endlich Seienden in den ontologischen Spannungen und den ontologischen Kategorien essentiell die Bedrohung durch das Nicht-Sein als Möglichkeit enthalten ist und somit „Endlichkeit […] Sein mit dialektischem Nichtsein [eint]. Die Endlichkeit des Menschen oder seine Geschöpflichkeit ist ohne den Begriff des dialektischen Nichtseins unverständlich.“¹²² Für Tillich liegt hier auch der Grund für die christliche Ablehnung einer „Lehre von der natürlichen Unsterblichkeit“¹²³ durch die christliche „Lehre vom ewigen Leben […], das von Gott als Macht des Seins-Selbst geschenkt wird“¹²⁴, da mit Blick auf die christliche Schöpfungslehre endlich-geschöpfliches Leben grundsätzlich voraussetzungslos von Gott geschaffenes Leben darstellt, das den Grund seines Seins nicht in sich selbst trägt. Im Sinne einer solchen Voraussetzungslosigkeit des göttlichen Schaffens erweist sich der Mensch als „[a]us Nichts geschaffen“¹²⁵, weshalb er gleichermaßen wieder „zum Nichts zurückkehren [müsste]“¹²⁶, wenn Gott als das Sein-Selbst ihm das Ewige Leben nicht zuteil werden ließe. Wenn nun Endlichkeit auf dialektische Weise mit Nicht-Sein geeint ist, stellt sich die Frage, wie die Ewigkeit des geschöpflichen Lebens in seiner essentiellen dialektischen Beziehung zum Nicht-Sein gedacht, wie „die Erfüllung des Ewigen mit dem Element des Negativen vereint“¹²⁷ werden kann. Tillich wählt in Bezug auf die Erörterung der dialektischen Beziehung des endlich Seienden zum Nicht-Sein und die Erfüllung des Ewigen im Angesicht des Negativen
121 Ebd., 60 [kursiv C.D.] [52]. 122 Ders.: ST I, 222 [189]. Vgl. zur in der ontologischen Grundstruktur enthaltenen Bedrohung durch das Nicht-Sein als Möglichkeit auch ebd., 235 [201f.] sowie Abschn. 2.2 und Abschn. 2.3 dieser Arbeit. 123 Ebd., 221 [188]. 124 Ebd. 125 Ebd. 126 Ebd. 127 Ders.: ST III, 456 [403].
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den Begriff der Seligkeit […]. Der Begriff „selig“ (makarios, beatus) kann fragmentarisch auf Menschen angewandt werden, die vom göttlichen Geist ergriffen sind. Das Wort bezeichnet einen seelischen Zustand, in dem die Gegenwart des göttlichen Geistes ein Gefühl der Erfüllung erzeugt, das durch Negativitäten in anderen Dimensionen nicht gestört werden kann. […] In endlichen Wesen ist diese positive Erfahrung immer mit dem Wissen um ihr Gegenteil verbunden, um Unglücklichsein, Verzweiflung und Verdammung. Diese „Negierung des Negativen“ gibt der Seligkeit ihren paradoxen Charakter. Ohne ein Element der Negativität ist weder Leben noch Seligkeit denkbar. Aber es ist die Frage, ob dies auch für die „ewige Seligkeit“ gilt.¹²⁸
Tillich folgend wird der „Ausdruck ‚ewige Seligkeit‘ […] sowohl auf das göttliche Leben angewandt wie auf das Leben derer, die an ihm teilhaben. In bezug sowohl auf Gott wie auf den Menschen müssen wir fragen, worin die Negativität besteht, die ein Leben der ewigen Seligkeit möglich macht.“¹²⁹ Ein Verständnis der ewigen Seligkeit Gottes steht vor der Herausforderung, das negative Element der Seligkeit in einer Weise zu fassen, die Gott nicht ausschließlich fragmentarische Erfüllung zuspricht und dergestalt eine „Beschränkung der Göttlichkeit des Göttlichen“¹³⁰ vornimmt, so dass sie im Hinblick auf Gott an der „Idee der vollkommenen Erfüllung“¹³¹ festhalten kann. Dementsprechend ist nach Tillich das „göttliche Leben […] die ewige Überwindung des Negativen; hierin liegt seine Seligkeit. Ewige Seligkeit ist kein Zustand unveränderlicher Vollkommenheit […]. Das göttliche Leben ist Seligkeit durch Kampf und Sieg.“¹³² Diesen Gedanken fasst Matern wie folgt zusammen: „‚Ewige Seligkeit‘ kann demnach ‚negative‘ Elemente in Gott selbst beinhalten“¹³³, eben im Modus seiner ewigen Überwindung. Dies wird gemäß Tillich in Jesus Christus als der Manifestation des Neuen Seins unter den Bedingungen der Existenz durch den göttlichen Geist erschlossen: „Die ewige Identität Gottes mit sich selbst steht nicht im Widerspruch dazu, daß er aus sich selbst herausgeht in die Negativität der Existenz und die Zweideutigkeit des Lebens. Er verliert seine Identität nicht in seiner Selbst-Veränderung; dies ist die Grundlage für die dynamische Idee der ewigen Seligkeit.“¹³⁴ In Jesus als dem Christus als dem zentralen christlichen Ereignis ist die existentielle Entfremdung unter den Bedingungen der Zweideutigkeiten des entfremdeten Lebens überwunden, weshalb diese Überwin-
128 Tillich: ST III, 456 [403f.]. 129 Ebd., 457 [404]. 130 Ebd. 131 Ebd., 457 [kursiv C.D.] [404]. 132 Ebd., 458 [kursiv C.D.] [405]. Vgl. hierzu auch die erhaltene Gliederung der Dresdener Dogmatik-Vorlesung von Tillich aus den Jahren 1925–1927: Ders.: EW XIV, 391. 133 Matern: Das Reich Gottes innerhalb der Geschichte und als Ziel der Geschichte, 301. 134 Tillich: ST III, 458 [405]. Vgl. zu Jesus Christus als Manifestation des Neuen Seins auch Kap. 3 dieser Arbeit.
5.1 Die ewige Seligkeit des ewigen Lebens als die ewige Überwindung des Negativen | 183
dung der Entfremdung durch Jesus als dem Christus nach Tillich theologisch als kairos, als die zentrale Manifestation des Reiches Gottes innerhalb der Geschichte und demnach als qualitatives Ende der Geschichte zu verstehen ist, dessen quantitative, universale Verwirklichung am Ende der Geschichte noch aussteht.¹³⁵ Jene universale Verwirklichung des Reiches Gottes als universale Überwindung der existentiellen Entfremdung erweist sich gemäß Tillich als das Ewige Leben im Sinne der „ewige[n] Seligkeit als […] [der] ewige[n] Überwindung des Negativen“¹³⁶. Dass Gott seine Identität in seiner Selbst-Veränderung nicht verliert, sondern seine Identität in Selbst-Veränderung als Rückkehr-zu-sich-selbst vollzieht, entspricht Tillichs Verständnis des Lebensbegriffes, weshalb Tillich wie bereits formuliert in diesem Zusammenhang auch vom dynamischen „göttlichen Leben“¹³⁷ spricht und nicht von Gott als einem Zustand unveränderlicher Vollkommenheit. Das göttliche Leben unterscheidet sich vom geschöpflichen Leben als einem „Prozeß, in dem potentielles zu aktuellem Sein wird“¹³⁸, darin, dass es in Gott keinen Unterschied zwischen Potentialität und Aktualität [gibt]. Darum ist es unmöglich, von Gott als dem Lebendigen im eigentlichen, nicht-symbolischen Sinne des Wortes „Leben“ zu sprechen. […] Jedes wahre Symbol partizipiert jedoch an der Wirklichkeit, die es symbolisiert. Gott lebt, sofern er der Grund des Lebens ist.¹³⁹
Das göttliche Leben bildet Tillich folgend somit in seinem schöpferischen Akt den Grund der Gesamtheit des geschöpflichen Lebens, das als solches in seiner ontologischen Struktur durch das göttliche Leben geschaffen wird. Daher liefert in den Worten Tillichs die „ontologische Struktur des Seins […] das Material für die Symbole, die auf das göttliche Leben hinweisen. Jedoch bedeutet das nicht, daß eine Lehre von Gott aus einem ontologischen System abgeleitet werden kann. Das göttliche Leben enthüllt sich uns im Offenbarungserlebnis“¹⁴⁰, durch das die ontologische Struktur der Endlichkeit für den Menschen im logos, als „Prinzip […] des Sinnes und der Struktur“¹⁴¹ verstehbar wird: „Der logos enthüllt den göttli-
135 Vgl. zu Tillichs Verständnis des kairos und des qualitativen Endes der Geschichte im Verhältnis zum quantitativen Ende der Geschichte auch Abschn. 4.1 dieser Arbeit. 136 Tillich: ST III, 456 [403]. 137 Ebd., 457 [kursiv C.D.] [404]. 138 Ders.: ST I, 280 [241]. 139 Ebd., 280 [242]. Vgl. zu Tillichs Symbolbegriff auch Unterabschn. 2.3.1 dieser Arbeit. 140 Ebd., 281 [243]. Vgl. zur Unableitbarkeit des göttlichen Wesens aus ontologischen Systemen auch Tillichs Verständnis der Methode der Korrelation mit Bezug auf die göttliche Offenbarung Unterabschn. 2.3.2 dieser Arbeit. 141 Ebd., 289 [251].
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chen Grund […]. Der logos ist der Spiegel der göttlichen Tiefe genannt worden, das Prinzip von Gottes Selbstobjektivierung.“¹⁴² Den Zusammenhang zwischen dem göttlichen Leben und der ontologischen Struktur des Endlichen erläutert Tillich wie folgt: Der polare Charakter der ontologischen Elemente ist gegründet im göttlichen Leben, aber das göttliche Leben ist dieser Polarität nicht unterworfen. Innerhalb des göttlichen Lebens schließt jedes ontologische Element das ihm polare Element ohne Spannung und Drohung der Auflösung ein, denn Gott ist das Sein-Selbst.¹⁴³
Das bedeutet für Tillich konkret: Gott wird Person genannt, aber er ist nicht endliche Person gegenüber endlichen Personen, sondern partizipiert unendlich an allem, was ist. Gott wird dynamisch genannt, aber er ist dynamisch, nicht in Spannung zur Form, sondern in unbedingter Einheit mit der Form, so daß seine Selbsttranszendenz niemals in Spannung gerät mit seiner Selbstbewahrung. Gott wird frei genannt, aber er ist frei nicht in Willkür, sondern so, daß er selbst sein Schicksal ist und die essentiellen Strukturen des Seins die Verwirklichung seiner Freiheit sind.¹⁴⁴
Somit bedeutet die Teilnahme des geschöpflichen Lebens am göttlichen Leben im Ewigen Leben im Sinne der erläuterten Essentifikation eine ewige Überwindung des drohenden Nicht-Seins durch das Zerbrechen der ontologischen Spannungen, die sich unter den Bedingungen der existentiellen Entfremdung als Bedrohung durch Isolation, Kollektivierung, endgültiger Form, chaotischer Formlosigkeit, Willkür oder auch Determiniertheit zeigt.¹⁴⁵ Diese Bestimmung des göttlichen Lebens schließt gemäß Tillich die Personalität Gottes nicht aus, sondern setzt sie ab gegenüber dem Verständnis menschlichendlicher Personalität. Gott begegnet dem Menschen durch seine Selbsterschließung innerhalb der Geschichte konkret und nicht abstrakt. Diese Einsicht formuliert Tillich bereits 1913 noch unter dem Eindruck der Philosophie Schellings in einem ersten Entwurf einer Systematischen Theologie: Gott ist das Absolute vom Standpunkt des Geistes, der als religiöser sein dialektisches Verhältnis zur Wahrheit durchschaut hat. Daraus ergibt sich für die Religion, daß sie zugleich Bewußtsein der Freiheit dem Absoluten gegenüber und Gebundenheit an das Absolute ist; und für den Gottesbegriff, daß Gott persönlich ist, wie der Geist, der in persönliche Beziehung zu ihm tritt, daß Gott das persönlich gewordene Absolute ist.¹⁴⁶
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Tillich: ST I, 289 [251]. Ebd., 281 [243]. Ebd., 282 [244]. Vgl. hierzu ausführlich auch Abschn. 2.2 dieser Arbeit. Tillich: ST (1913), 290.
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Dementsprechend folgen die vorliegenden Ausführungen nicht den Kritiken, die Tillichs Gottesbegriff als zu abstrakt und zu entfernt vom biblischen Gottesbild ansehen, wie sie beispielsweise Pannenberg formuliert: „Obwohl Tillichs Rede von der Macht des Seins in allem, was ist, die Hintergründigkeit des biblischen Gottesverständnisses anklingen ließ, galt ihm der von der Welt verschiedene persönliche Gott der Bibel nur als ein religiöses Symbol, das nicht wörtlich genommen werden darf.“¹⁴⁷ Da jedoch Gott gemäß Tillich wesentlich nicht außerhalb seiner konkreten Selbsterschließung innerhalb der Geschichte in den durch den göttlichen Geist erschlossenen Symbolen erfahrbar ist, darf das Symbol, das nach Tillich die Wirklichkeitskraft nicht schmälert, sondern steigert, nicht im Sinne des „nur ein Symbol“ abgewertet werden. Gott kann jenseits seiner konkreten Selbsterschließung in der Geschichte nicht erfahren werden, positiv formuliert: Er wird innergeschichtlich ausschließlich personal im Durchbruch des göttlichen Geistes erfahren. Tillich widmet den gesamten Teil B des ersten Bandes seiner Systematischen Theologie der Entfaltung einer personalen Gotteslehre. Die Rede vom Symbol hat hier die Funktion, die eigene personale Gotteserfahrung nicht absolut zu setzen, um ausschließlich den liebenden, gnädigen Gott als den Unbedingten anzuerkennen. Der Mensch sieht seine Endlichkeit und seine Begrenztheit im Lichte der Selbsterschließung des Unbedingten, des gnädigen liebenden Gottes, und hat gerade in seiner Endlichkeit sein unbedingtes Angewiesensein auf das göttliche Wirken anzuerkennen.¹⁴⁸ Dementsprechend kann die Geschichte bei Tillich nicht als bedeutungslos eingestuft werden, weil das Unbedingte sich für den Menschen ausschließlich im Geschichtlichen erschließt. Zu einem ähnlichen Urteil kommt auch Danz: „Es kann […] keine Rede davon sein, dass Tillich die Geschichte entwertet. Sie ist vielmehr der Ort, an dem sich das Gottesverhältnis realisiert.“¹⁴⁹ Die Teilnahme des geschöpflichen Lebens am göttlichen Leben hebt die Differenz zwischen dem göttlichen Leben und dem geschöpflichen Leben somit nicht auf. Das göttliche Leben erweist sich auch im Ewigen Leben als Grund des geschöpflichen Lebens, indem es der ontologischen Grundstruktur des endlichen Lebens in ihrer Dualität von Selbst und Welt vorausgeht, diese in ihren ontologischen Spannungen begründet, den Zwiespalt in Jesus Christus bereits innergeschichtlich überwindet und im Ewigen Leben durch die Teilnahme des geschöpf-
147 Pannenberg: Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie in Deutschland, 347. Vgl. hierzu auch Bayer: Grundzüge der Theologie Paul Tillichs, kritisch dargestellt, 345ff. 148 Vgl. ausführlich zum Symbolbegriff Tillichs Unterabschn. 2.3.2 dieser Arbeit. 149 Danz: Das Reich Gottes als Ziel der Geschichte, 208. Eine weiterführende Textsammlung hinsichtlich des Verhältnisses von Wahrheit und Geschichte findet sich bei Hummel, Gert (Hg.): Truth and History. A dialogue with Paul Tillich, Berlin und New York 1998.
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lichen Lebens am göttlichen Leben dessen Negativität im Zusammenhang der Essentifikation überwindet:¹⁵⁰ a) „Gott ist sowohl das Prinzip der Partizipation als auch der Individualisation. Das göttliche Leben partizipiert an jedem Leben als sein Grund und sein Ziel. Gott partizipiert an allem, was ist. […] Gottes Partizipation [schafft] das, woran sie partizipiert.“¹⁵¹ b) Die göttliche Kreativität, sein über sich selbst hinausgehen, wurzelt im dynamischen Element. Dieses schließt ein „Noch nicht“ ein, das jedoch innerhalb des göttlichen Lebens immer durch ein „Bereits“ im Gleichgewicht gehalten wird. Das „Noch nicht“ ist kein absolutes „Noch nicht“. Es kann auch als das negative Element im Grund des Seins bezeichnet werden, das in seiner Negativität im göttlichen Lebensprozeß überwunden wird. Diese Negativität ist die Basis des negativen Elements in der Kreatur. Während es in Gott überwunden ist, ist es im Geschöpf nicht überwunden, sondern als mögliche Zerspaltung wirksam.¹⁵²
Verwendet man das Element der Form in der Dynamik-Form-Polarität symbolisch für das göttliche Leben […], so drückt es die Aktualisierung seiner Potentialitäten aus. Das göttliche Leben verbindet unabdingbar Möglichkeit mit Erfüllung. Keine der beiden Seiten bedroht die andere, noch besteht die Drohung der Spaltung. Man könnte sagen, daß Gott nicht aufhören kann, Gott zu sein. Sein über sich selbst hinausgehen vermindert oder zerstört seine Göttlichkeit nicht.¹⁵³
c) In Bezug auf die Spannung von Freiheit und Schicksal bedeutet das: In Freiheit schafft Gott, in Freiheit verkehrt Gott mit Welt und Mensch, in Freiheit rettet Gott und bringt Gott zur Erfüllung. […] Die klassische Theologie hat in abstrakteren Begriffen von der Aseität Gottes gesprochen […]. Es gibt keinen Grund, der vor ihm war und Bedingung seiner Freiheit sein könnte. […] Aber kann man sagen, daß der, welcher unbedingt und absolut ist, Schicksal in derselben Weise hat, in der er Freiheit hat? […] Es ist möglich, wenn man voraussetzt, daß der Nebensinn einer schicksalsbestimmenden Macht über Gott vermieden wird, und hinzufügt, daß Gott sein eigenes Schicksal ist und in ihm Freiheit und Schicksal eins sind. […] Wenn wir sagen: „Gott ist sein eigenes Schicksal“, deuten wir […] auf die Partizipation Gottes am Werden und an der Geschichte [hin].¹⁵⁴
150 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen zur Trinität unter Abschn. 5.3 sowie Abschn. 6.1 dieser Arbeit. 151 Tillich: ST I, 283f. [245f.]. 152 Ebd., 285 [247]. 153 Ebd., 285f. [247f.]. 154 Ebd., 286f. [248f.].
5.2 Individuelle Erfüllung als Partizipation an der Universalität des Reiches Gottes | 187
Demnach kommt das geschöpfliche Leben im Ewigen Leben durch die Essentifikation als ewige Überwindung des Negativen zur Erfüllung seines essentiellen Seins als bewusste Einheit von Existenz und Essenz. Eben jene Essentifikation, in der im Reich Gottes die ontologische Grundstruktur in ihren ontologischen Spannungen in vollkommenem Gleichgewicht aktualisiert wird, hat ihren Grund nicht in sich selbst, sondern im göttlichen Leben, in dem die Negativität wesentlich in Ewigkeit überwunden ist und an welchem die Geschichte des geschöpflichen Lebens durch die Erhebung des Zeitlichen in die Ewigkeit am Ende der Geschichte in der vollkommenen Gegenwart des göttlichen Geistes ohne Auflösung der einzelnen Zentren des geschichtlichen Lebensprozesses teilnehmen darf. Wenn die ewige Seligkeit in dieser ewigen Überwindung der Bedrohung durch das Nicht-Sein in Form der universalen Erfüllung des geschichtlichen Lebensprozesses besteht, dann stellt sich im Hinblick auf den einzelnen Menschen in seiner Verwiesenheit auf den universalen Gesamtzusammenhang der Geschichte die Frage nach individueller Erfüllung.
5.2 Individuelle Erfüllung als Partizipation an der Universalität des Reiches Gottes Gemäß Tillich kann es für den einzelnen Menschen aufgrund seiner unbedingten Verwiesenheit auf den universalen Gesamtzusammenhang der Geschichte, indem er sein geschöpfliches Leben im Rahmen geschichtstragender Gruppen vollzieht, unabhängig von der universalen Erfüllung des geschichtlichen Lebensprozesses im Reich Gottes keine individuelle Erfüllung geben.¹⁵⁵ Dem Menschen, der sein Leben als vollindividualisiertes Selbst, das eine Welt hat, zu der es gehört,¹⁵⁶ in der Dimension des Geistes aktualisiert, kommt in seiner Selbst-Transzendierung, in welcher er die Beziehung des Bedingten zum Unbedingten erfasst, ein besonderes Verhältnis zum Ewigen zu: Der Mensch als endliche Freiheit hat eine andere Beziehung zum Ewigen Leben als Wesen, die vorherrschend durch Notwendigkeit bestimmt sind. […] Alles Zeitliche hat eine „teleologische“ Beziehung auf das Ewige, aber nur der Mensch ist sich ihrer bewußt, und dieses Bewußtsein gibt ihm die Freiheit, sich gegen sie zu wenden.¹⁵⁷
155 Vgl. hierzu auch Abschn. 4.3 dieser Arbeit. 156 Vgl. zu Tillichs Verständnis des vollindividualisierten Selbst auch Abschn. 2.2 dieser Arbeit. 157 Tillich: ST III, 495f. [406].
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Daraus folgt für Tillich, dass der Begriff „Essentifikation“ dialektisch zu verstehen ist: Das telos des Menschen als eines Individuums wird von den Entscheidungen bestimmt, die er in der Existenz auf Grund der Möglichkeiten trifft, die ihm vom Schicksal gegeben sind. Er kann seine Potentialitäten verkommen lassen, aber nicht gänzlich, und er kann sie erfüllen, aber nicht vollkommen. Das gibt dem Symbol des Jüngsten Gerichts seine besondere Ernsthaftigkeit. Die Enthüllung des Negativen als negativ in einem Menschen mag nicht viel Positives bestehen lassen. […] Sie kann äußerste Armut in bezug auf seine erfüllten Potentialitäten bedeuten, aber auch höchsten Reichtum.¹⁵⁸
In diesem Sinne lehnt Tillich ein absolutes Urteil über endliche Dinge im Allgemeinen und den einzelnen Menschen im Besonderen, „das sich in religiösen Symbolen ausspricht wie denen von […] ‚verdammt oder gerettet sein‘, ‚Hölle und Himmel‘, ‚ewiger Tod und ewiges Leben‘“¹⁵⁹, ab, denn „arm und reich sind relative Werte. […] Die Vorstellung von Graden der Essentifikation nimmt diesen Symbolen und Begriffen ihre Absolutheit“¹⁶⁰, indem die Teilhabe am Ewigen Leben […] von einer schöpferischen Synthese der essentiellen Natur eines Wesens mit dem [abhängt], was es in seiner zeitlichen Existenz daraus gemacht hat. Insoweit es vom Negativen beherrscht ist, wird es in seiner Negativität enthüllt und von der ewigen Erinnerung ausgeschlossen. In dem Maße aber, in dem das Essentielle in ihm die existentielle Verzerrung überwunden hat, hat es einen höheren Rang im Ewigen Leben.¹⁶¹
Einen auf dieser Linie der graduellen Essentifikation liegenden Gedanken formuliert Tillich bereits 1913 in seinem Entwurf zu einer Systematischen Theologie: Durch die Menschwerdung und Erhöhung des Sohnes Gottes hat die Einzelpersönlichkeit eine ewige Bejahung in Gott erlangt; dementsprechend bedeutet das Sterben für sie nicht Aufhebung, sondern Vollendung. Doch ist das Werk der Vollendung abhängig von dem Maß, in dem der Einzelmensch sich über den Zustand der Sündhaftigkeit erhoben hat, nicht aber von einem bestimmten Weg dieser Erhebung.¹⁶²
Vor dem Hintergrund dieses graduellen Verständnisses der Essentifikation lässt sich im Hinblick auf Tillichs Schriften im Zusammenhang seiner Zugehörigkeit zur religiös-sozialistischen Bewegung die handlungsorientierende Aufforderung im Sinne der Liebesethik Jesu sowie seine christliche Affinität zum religiösen So-
158 Tillich: ST III, 495f. [406]. 159 Ebd., 460 [406]. 160 Ebd., 460 [kursiv C.D.] [406f.]. 161 Ebd., 453 [401]. 162 Ders.: ST (1913), 373.
5.2 Individuelle Erfüllung als Partizipation an der Universalität des Reiches Gottes | 189
zialismus hinsichtlich der gesellschaftspolitischen Gestaltung einordnen, indem das geschichtliche Leben mit Bezug auf die Verwirklichung seiner essentiellen Möglichkeiten essentifiziert wird und die Liebesethik Jesu den Charakter des Reiches Gottes bereits geschichtlich erschließt. So formuliert er beispielsweise in Kairos II von 1926: „Bereitung der Zeit für die Aufnahme in die Ewigkeit, Gestaltung der endlichen Formen als Hinweise auf das Unbedingte, das ist Handeln aus dem Kairos.“¹⁶³ Eben jene Annahme einer graduellen Essentifikation entspricht Tillichs Auffassung, dass „[a]bsolute Urteile über endliche Dinge und Geschehnisse […] unmöglich [sind], weil sie das Endliche zum Unendlichen machen“¹⁶⁴, worin Tillich folgend die dämonische Kraft der Entfremdung und damit die Quelle aller existentiellen Zweideutigkeit besteht.¹⁶⁵ Deshalb verwirft Tillich die Lehre eines kategorischen doppelten Ausgangs, „die Lehre von dem sich absolut widersprechenden ewigen Schicksal der Individuen […] in Hinsicht sowohl auf die SelbstManifestation Gottes wie auf die Natur des Menschen.“¹⁶⁶ Gemäß Matern widerspricht eine solche Lehre „nach Tillich der protestantischen Interpretation von der Rechtfertigungslehre.“¹⁶⁷ So führt gemäß Tillich die Lehre eines doppelten Ausgangs im Rahmen seines theologischen Systems zu folgenden Widersprüchen: a) Die Lehre des zweifachen Schicksals der Individuen widerspricht vom Standpunkt der göttlichen Selbst-Manifestation […] der Idee von Gottes immerwährendem Erschaffen des Endlichen als eines „sehr guten“ (Gen. 1). Da Sein als Sein gut ist […], kann nichts, was ist, vollständig böse werden. Das, was ist, was Sein hat, ist in die schöpferische Liebe eingeschlossen. Die Lehre von der Einheit alles Seienden in der göttlichen Liebe und im Reich Gottes nimmt dem Symbol der Hölle den Charakter der „ewigen Verdammnis“.¹⁶⁸
Eben jene Einheit alles Seienden in der göttlichen Liebe ist Tillich folgend jedoch nicht als Aufhebung der Differenz zwischen dem göttlichen und dem
163 Ders.: Kairos II, 35. Vgl. zum Zusammenhang von Tillichs Verständnis der Liebesethik Jesu die Ausführungen zu seiner Schrift Ders.: Der Sozialismus als Kirchenfrage unter Abschn. 6.2 dieser Arbeit. Eine Textsammlung, die sich dem Zusammenhang von Eschatologie und Ethik bei Paul Tillich widmet, findet sich bei Danz (Hg.): Ethics and Eschatology. Weitere Studien die sich mit dem Zusammenhang von Eschatologie und Ethik bei Paul Tillich befassen, bieten Samse: Der Zusammenhang von Eschatologie und Ethik bei Paul Tillich sowie Eberhardt: Der Reich-GottesBegriff im Denken Paul Tillichs. 164 Tillich: ST III, 460 [407]. 165 Vgl. zu Tillichs Verständnis des Dämonischen auch Abschn. 3.2 sowie Abschn. 6.2 dieser Arbeit. 166 Tillich: ST III, 460 [407]. 167 Matern: Das Reich Gottes innerhalb der Geschichte und als Ziel der Geschichte, 302. 168 Tillich: ST III, 461 [407f.].
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geschöpflichen Leben zu verstehen¹⁶⁹, weshalb die beschriebene Lehre von der Einheit alles Seienden in der göttlichen Liebe „der Seite der Verdammnis im göttlichen Gericht nicht ihre Ernsthaftigkeit [nimmt], nämlich die Verzweiflung, in der die Enthüllung des Negativen erlebt wird.“¹⁷⁰ Denn nach Tillich muss der „absolute[ ] Ernst der Drohung, ‚das Ewige Leben zu verlieren‘, mit der Relativität der menschlichen Existenz“¹⁷¹ verbunden werden. Im Gegensatz zur „Lehre des Origenes von der apokatastasis panton, der Restitution aller Dinge“¹⁷², die gemäß Tillich Gefahr läuft, der Drohung des Nicht-Seins seine Ernsthaftigkeit zu rauben¹⁷³, kann im Sinne Tillichs das „begriffliche Symbol der ‚Essentifikation‘“¹⁷⁴ eine solche Verbindung der absoluten Drohung des Nicht-Seins und der Relativität der menschlichen Existenz leisten, weil es „die Verzweiflung des Menschen darüber [betont], daß er seine Potentialitäten nicht verwirklicht hat, und […] ihn zugleich der Erhebung des Positiven innerhalb der Existenz (selbst eines äußerst unerfüllten Lebens) in die Ewigkeit [versichert].“¹⁷⁵ Damit lässt sich die für Tillich zentrale Beziehung der Geschichte bzw. der geschichtlichen Existenz des einzelnen Menschen zum Ewigen Leben wahren, indem die Essentifikation das zeitliche Leben des Einzelnen durch die Enthüllung und ewige Überwindung des Negativen in das Ewige erhebt. b) Darüber hinaus widerspricht die Lehre von dem zweifachen ewigen Schicksal vom Standpunkt der menschlichen Natur […] der Tatsache, daß kein menschliches Wesen nach dem göttlichen Urteil unzweideutig auf der einen oder anderen Seite steht. Selbst der Heilige bleibt ein Sünder und bedarf der Vergebung, und selbst der Sünder ist ein Heiliger, insofern er unter der göttlichen Vergebung steht. Wenn der Heilige die Vergebung annimmt, bleibt seine Annahme der Vergebung zweideutig. Und wenn der Sünder die Vergebung ablehnt,
169 Vgl. zum Verhältnis von göttlichem und geschöpflichem Leben nach Tillich auch Abschn. 5.1 dieser Arbeit. 170 Tillich: ST III, 461 [408]. Vgl. zu Tillichs Verständnis von „Verzweiflung“ Unterabschn. 2.3.1 dieser Arbeit. 171 Ebd., 460 [407]. In der englischen Fassung heißt es statt „das Ewige Leben verlieren“: „lose one’s life“. 172 Ebd. Vgl. zu einer früheren Auseinandersetzung Tillichs mit der apokatastasis panton und dem Ewigen Leben Erlösung in Kosmos und Geschichte von 1946: Ders.: Erlösung in Kosmos und Geschichte, in: Ders.: GW VII, 240–251, hier 247. 173 Ders.: ST III, 460 [407]. 174 Ebd. 175 Ebd.
5.2 Individuelle Erfüllung als Partizipation an der Universalität des Reiches Gottes | 191
bleibt seine Ablehnung der Vergebung zweideutig. Denn auch wenn wir in Verzweiflung gestoßen werden, ist es der göttliche Geist, der in uns wirkt.¹⁷⁶
Analog dazu führt Tillich bereits 1959 in Kairos – Theonomie – das Dämonische. Ein Brief zu Eduard Heimanns siebzigstem Geburtstag im Hinblick auf das Dämonische als „Verzerrung des Positiven“¹⁷⁷ aus, dass nichts endlich Seiendes als „rein negativ beurteilt“¹⁷⁸ werden kann. Die geschichtliche Existenz des einzelnen Menschen bleibt unter den Bedingungen der universalen Entfremdung der geschichtlichen Dimension im Sinne des simul iustus et peccator grundsätzlich zweideutig.¹⁷⁹ Deshalb formuliert Tillich die „Lehre von der Zweideutigkeit des menschlichen Gutseins und von der Erlösung, die einzig von der göttlichen Gnade abhängt“¹⁸⁰, da der einzelne Mensch in allen moralischen, kulturellen oder auch religiösen Vollzügen seiner geschichtlichen Existenz der Zweideutigkeit unterworfen und eine Überwindung der Entfremdung allein als Werk des göttlichen Geistes zu verstehen ist. Auch Niebuhrs eschatologische Ausführungen liegen auf dieser Linie: „Die beiden Grundgedanken in dieser Hoffnung auf die Parusie sind 1. daß die Erlösung der Welt nicht die Zerstörung der Schöpfung notwendig mache, weil die Schöpfung an sich nicht böse sei, und 2. daß die Erlösung von Gott kommen müsse, weil jede menschliche Handlung in den Widersprüchen der Sünde gefangen ist.“¹⁸¹ Niebuhr bietet auch eine Auseinandersetzung mit der Problematik des zweifachen Schicksals, die im Gegensatz zu Tillich nicht zu einer expliziten Ausformulierung einer graduellen Essentifikation kommt, sondern die Spannung des biblischen Zeugnisses im Hinblick auf ein Verständnis Gottes als liebender Richter und Hausvater herausarbeitet: Liebe ist beides: Erfüllung und Überwindung des Gesetzes. Vergebung ist höchste Gerechtigkeit und das Ende der Gerechtigkeit. Der Richter im Gleichnis vom jüngsten Gericht ist unerbittlich [Mt 25,31–46]. Er überliefert die Menschen für das Böse, das sie getan haben, der Hölle. Der Hausvater im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberge verwirft ganz besonders das Pochen auf Gerechtigkeit [Mt 20,1–16]. Dieser Richter und dieser Hausvater sind beide Sinnbilder Gottes, des Gottes, der zu gleicher Zeit richtet und erlöst.¹⁸²
176 Ebd., 461 [408]. 177 Ders.: Kairos – Theonomie – Das Dämonische, 315. 178 Ebd. 179 Vgl. zur Zweideutigkeit der geschichtlichen Dimension auch Abschn. 3.2 dieser Arbeit. 180 Tillich: ST III, 462 [408]. 181 Niebuhr: Jenseits der Tragödie, 113. 182 Ebd. Vgl. zu diesem Gottesverständnis auch Tillichs Beschreibung Gottes als Herr und Vater: Tillich: ST I, 329 [286] sowie Abschn. 5.3 dieser Arbeit.
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c) Schließlich widerspricht die „Vorstellung von einem zweifachen Schicksal der Individuen“¹⁸³ Tillichs Verständnis der ontologischen Grundstruktur alles endlich Seienden, da sie auf einer „radikalen Trennung von Person und Person“¹⁸⁴ beruht, so dass „in der Dimension des Geistes die Individualisation die Partizipation verdrängt“¹⁸⁵ und „stark zentrierte Selbstheiten geschaffen [werden], die sich […] durch das Auf-sich-Nehmen der vollen Verantwortung für ihr ewiges Schicksal von der Einheit aller Geschöpfe trennen.“¹⁸⁶ Das steht nach Tillich im Widerspruch zur ontologischen Grundstruktur der Selbst-WeltKorrelation wie auch den ontologischen Spannungen Individualisation und Partizipation, Dynamik und Form sowie Freiheit und Schicksal, in denen jeweils das erste Element die Selbstbezogenheit eines Seienden und das zweite Element die Abhängigkeit eines Seienden von der Welt, dem universalen Gesamtzusammenhang, innerhalb dessen es existiert, ausdrückt.¹⁸⁷ Diese beiden Elemente erweisen sich aufgrund der ontologischen Grundstruktur als irreduzibel: Das totale menschliche Sein […] ist weitestgehend von seiner Umgebung bestimmt, in die der Mensch geboren ist. […] Freiheit und Schicksal sind in jedem Individuum so eng miteinander verbunden, daß es unmöglich ist, sie voneinander zu trennen; ebenso unmöglich ist es infolgedessen, das ewige Schicksal eines einzelnen Menschen von dem der Menschheit und von dem Sein in allen seinen Manifestationen zu trennen.¹⁸⁸
So enthält in den Worten Tillichs „das Christentum […] neben der Betonung des Personalen auch die Idee der universalen Teilnahme an der Erfüllung im Reich Gottes“¹⁸⁹, weshalb Tillich die Essentifikation oder die Erhebung des Positiven in die Ewigkeit als universale Partizipation […] [versteht]: in dem Wesen auch des am wenigsten erfüllten Individuums ist das Wesen anderer Individuen und indirekt das alles Seienden gegenwärtig. Wer irgendeinen Menschen zu ewigem Tod verdammt, verdammt sich selbst, denn sein Wesen und das des anderen können nicht absolut voneinander getrennt werden. Und der Mensch, der seinem eigenen Wesen entfremdet ist […], muß darauf hingewiesen werden, daß sein Leben an dem Wesen
183 Tillich: ST III, 460 [407]. 184 Ebd., 460f. [407]. 185 Ebd., 461 [407]. Vgl. zur ontologischen Grundstruktur auch Abschn. 2.1 und Abschn. 2.2 dieser Arbeit. 186 Ebd. 187 Vgl. Ders.: ST I, 195 [165] sowie Abschn. 2.2 dieser Arbeit. 188 Ders.: ST III, 462 [408f.]. Vgl. zum Zusammenhang von Einzelnem und Geschichte aus der Perspektive der Schuldfrage auch Herms: Schuld in der Geschichte, 370. 189 Tillich: ST III, 461 [407].
5.2 Individuelle Erfüllung als Partizipation an der Universalität des Reiches Gottes | 193
all derer teilhat, die einen hohen Grad der Erfüllung erreicht haben, und daß er durch diese Partizipation ewig bejaht ist.¹⁹⁰
Gemäß Tillich macht diese Idee der Essentifikation des Einzelnen in Einheit mit allem Seienden […] den Begriff der stellvertretenden Erfüllung verständlich und gibt dem Begriff der Geistgemeinschaft einen neuen Inhalt. Schließlich bildet sie die Grundlage für den Gedanken, daß Gruppen wie Nationen und Kirchen in ihrem essentiellen Sein an der Einheit des Reiches Gottes in seiner Erfüllung teilhaben.¹⁹¹
In eben jener universalen Partizipation liegt gleichermaßen das universale Schicksal der Entfremdung wie auch die Bedingung der Möglichkeit für die Überwindung des Zwiespalts von essentiellem und existentiellem Sein im Glauben an Jesus Christus als Manifestation des Neuen Seins für den Einzelnen begründet: Wenn der einzelne Mensch aufgrund der ontologischen Spannung von Individualisation und Partizipation am universalen Schicksal der Entfremdung teilnimmt, dann partizipiert er gleichermaßen an der in Jesus Christus erschlossenen Überwindung der Entfremdung. Demnach erweist sich Jesus Christus für den Menschen als Mittler und Erlöser: „Mittler sein“ bedeutet im Christentum, eine Brücke bilden über die unendliche Kluft zwischen dem Unendlichen und dem Endlichen, zwischen dem Unbedingten und dem Bedingten. […] Vermittlung ist Wiedervereinigung. Der Mittler hat eine erlösende Funktion, er ist der Erlöser. […] Alles Vermitteln und Erlösen kommt von Gott selbst. Gott ist immer das Subjekt, nicht das Objekt von Vermittlung und Erlösung.¹⁹²
Daraus ergibt sich für Tillich, dass Christus als Mittler und Erlöser […] keine dritte Wirklichkeit zwischen Gott und dem Menschen [ist]. […] Solch ein drittes Wesen könnte weder Gott den Menschen gegenüber repräsentieren, noch könnte es das wesenhafte Menschsein ausdrücken. Aber der Mittler repräsentiert das wesenhafte Menschsein; und damit repräsentiert er Gott. Anders ausgedrückt: Er repräsentiert das Bild Gottes, das ursprünglich im Menschen verkörpert ist, aber er tut es unter den Bedingungen der Entfremdung zwischen Gott und Mensch.¹⁹³
190 Ebd., 462 [409]. 191 Ebd., 462f. [409]. Vgl. zu Tillichs Verständnis der Geistgemeinschaft als Schöpfung des göttlichen Geistes auch Abschn. 4.2 dieser Arbeit. 192 Ders.: ST II, 103 [93f.]. 193 Ebd., 103 [93]. Vgl. zur universalen Partizipation an Entfremdung und Erlösung auch Röm 5,12–18 sowie 1. Kor 15,21. Vgl. zu Tillichs Verständnis der menschlichen Bestimmung zum Ebenbild Gottes Unterabschn. 3.1.1 dieser Arbeit und zu Tillichs Christologie ebd., 107ff. [97ff.] sowie Abschn. 4.1 dieser Arbeit.
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Niebuhr formuliert hier im Hinblick auf sein eigenes Christusverständnis und die Sünde im Sinne der Entfremdung von Gott in struktureller Analogie zu Tillich: Die Wahrheit ist vielmehr Offenbarung des Urbildes vom Leben, welches die Sünde verdunkelt hat und von Christus wieder hergestellt wird. […] Die Welt steht im Dunkeln und begreift das Licht nicht. […] Die Welt ist, in anderen Worten, ihrem eigentlichen Charakter entfremdet. Die Menschen wissen nicht um ihre wahre Beziehung zu Gott. Darum machen sie sich selbst zum Gott, und ihr Geist wird von der Verwirrung verdunkelt, deren Ursache Selbstverherrlichung ist. Infolgedessen ist das Reich der Wahrheit nicht das Reich irgendeiner anderen Welt. Es ist das Bild dessen, was diese Welt sein sollte.¹⁹⁴
Indem Gott in Jesus Christus unter den Bedingungen der Entfremdung das Neue Sein in einem personhaften Leben als bewusste Einheit von Essenz und Existenz manifestiert, hat „Gott am dem teil[ ], was von ihm entfremdet ist und ihn zurückgewiesen hat.“¹⁹⁵ Aufgrund der universalen Partizipation alles endlich Seienden partizipiert der einzelne Mensch an „Gottes erlösender Teilnahme an der menschlichen Situation in einem personhaften Leben […]. Der Mensch, in dem das wesenhafte Menschsein in der Existenz erschienen ist, […] schafft den Sinn der menschlichen Geschichte. Im Christus ist die ewige Beziehung Gottes zum Menschen offenbar.“¹⁹⁶ Da sich nach Tillich im christlichen Ereignis Ewiges Leben im Reich Gottes in Gestalt der Erfüllung aller geschichtlichen Potentialitäten als Sinn der Geschichte offenbart, schließt Gottes Manifestation des Neuen Seins seine erlösende Teilnahme am universalen Schicksal der Entfremdung ein, denn: Die gegenseitige Abhängigkeit von allem einzelnen in der Totalität des Seins enthält die Aussage, daß die Natur an der Geschichte partizipiert und daher auch das Universum an der Erlösung partizipieren muß. […] Wenn erlösende Kräfte überhaupt an irgend einem Ort erschienen sind, müssen sie in allen Orten wirksam sein.¹⁹⁷
Der Glaube an Jesus Christus als „Träger des Neuen Seins setzt voraus, daß ‚Gott das Universum liebt‘, auch wenn er seine Liebe in der Erscheinung des Christus für den geschichtlichen Menschen allein aktualisiert hat.“¹⁹⁸ Im personhaften
194 Niebuhr: Jenseits der Tragödie, 159. 195 Tillich: ST II, 105 [95]. 196 Ebd., 105f. [95f.]. 197 Ebd., 106 [96]. Vgl. zu Tillichs Beschreibung des universalen Gesamtzusammenhang der Dimensionen des Lebens Abschn. 2.3 dieser Arbeit. 198 Ebd.
5.2 Individuelle Erfüllung als Partizipation an der Universalität des Reiches Gottes | 195
Leben Jesu Christi manifestiert Gott sein Bild, die unaufhebbare Beziehung von Schöpfer und Geschöpf, indem Christus in vollkommener Weise die Potentialitäten des menschlichen Seins als bewusste Einheit von essentiellem und existentiellem Sein unter den Bedingungen der Entfremdung im Rahmen der ontologischen Grundstruktur der Geschöpflichkeit erfüllt und damit die Herrschaft der Endlichkeit durch Kreuz und Auferstehung überwindet: Jesus beansprucht für eine Überzeugung, die in die Sphäre des Endlichen gehört, keine absolute Gewißheit. […] In der Vollmacht einer Gewißheit, die Gewißheit und Ungewißheit im religiösen wie im profanen Leben transzendiert, nimmt er die Ungewißheit an als ein Element der Endlichkeit. Das gilt auch für sein eigenes Werk – dem Zweifel, der am intensivsten am Kreuz durchbricht, der aber seine Einheit mit Gott nicht zerstört. […] In diese Einheit nimmt Jesus die Negativitäten der Existenz hinein, ohne sie aufzuheben. Das geschieht, indem er sie in der Macht dieser Einheit transzendiert.¹⁹⁹
In diesem Sinne ist nach Danz „Jesus als der Christus […] für Tillich gerade darin die vollkommene Offenbarung, da hier das Bewusstsein von einem Konkreten bestimmt ist, welches sich als Konkretes negiert und dadurch die Unbedingtheitsdimension des Geistes zur Darstellung bringt.“²⁰⁰ Eben jenes Transzendieren der existentiellen Negativitäten durch Jesus als dem Christus findet für den christlichen Glauben Ausdruck in den voneinander abhängigen Symbolen „‚Kreuz des Christus‘ und die ‚Auferstehung des Christus‘“²⁰¹, wobei Tillichs Verständnis des christlichen Ereignisses folgend beide gleichermaßen das entsprechende historische Faktum als auch den Gegenstand gläubiger Aufnahme bezeichnen: Ohne das faktische Element würde der Christus nicht an der Existenz teilgenommen haben und hätte darum nicht der Christus sein können. Aber das Faktische – isoliert vom Symbolischen – hat […] kein Interesse für den Glauben. […] Dieses Faktum ist die Selbsthingabe dessen, der der Christus genannt wird und der die letzte Konsequenz existentieller Selbstzerstörung, Leiden und Tod, auf sich genommen hat. […] Der Glaube verbürgt die Gewißtheit, daß der Christus über die existentielle Entfremdung und ihre letzte Konsequenz, den
199 Ebd., 146 [134f.]. Vgl. zu Tillichs Verständnis von Vollkommenheit ebd., 41 [34] wie auch Unterabschn. 3.1.1 dieser Arbeit. Eine ausführliche Darstellung der werkgeschichtlichen Entwicklung von Tillichs Christologie findet sich bei Neugebauer, Georg: Die werkgeschichtliche Entwicklung der Christologie Tillichs, in: Danz, Christian (Hg.): Jesus of Nazareth and the New Being in History, Bd. 6 (International Yearbook for Tillich Research), Berlin und Boston 2011, 1–22. 200 Danz: Jesus Christus als Mitte der Geschichte, 154. 201 Tillich: ST II, 165 [153]. Vgl. zu Tillichs Symbolbegriff Unterabschn. 2.3.2 dieser Arbeit.
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Tod, triumphiert. […] Das Negative, das in der Auferstehung überwunden wird, ist der Tod dessen, der der Träger des Neuen Seins ist.²⁰²
An eben jener Wirklichkeit von Christi Auferstehung nimmt der einzelne Mensch in seiner Verwiesenheit auf den universalen Gesamtzusammenhang der Geschichte im durch den Einbruch des göttlichen Geistes in den menschlichen Geist gewirkten Glauben teil. Darin erfährt er bereits innerhalb seiner geschichtlichen Existenz fragmentarisch Erlösung von der selbstzerstörerischen Entfremdung, weil das „Leiden Gottes, sowohl universal als auch im Christus, die Macht [ist], die den Prozeß der kreatürlichen Selbstzerstörung durch Teilnahme und Wandlung überwindet.“²⁰³ Dieses Wirken der die Entfremdung überwindenden göttlichen Macht vollzieht sich innerhalb der geschichtlichen Existenz für den einzelnen Menschen gemäß Tillich im „[i]m Lichte des Prinzips der Partizipation“²⁰⁴ auf dreierlei Weise: „Teilnahme, Annahme, Umwandlung, in klassischen Begriffen: Wiedergeburt, Rechtfertigung, Heiligung“²⁰⁵, welche Tillich wie folgt charakterisiert: a) „Die erlösende Macht des Neuen Seins in Jesus als dem Christus ist davon abhängig, daß der Mensch an ihm teilhat. Die Macht des Neuen Seins muß von ihm, der noch in der Knechtschaft des Alten Seins ist, Besitz ergreifen.“²⁰⁶ Demnach ist Tillich folgend in Bezug auf die Frage der Teilnahme am Neuen Sein nicht die menschliche Reaktion […] Gegenstand der Betrachtung […], sondern die objektive Seite, d.h. die Beziehung des Neuen Seins zu denen, die davon ergriffen sind. […] Die Merkmale des Neuen Seins sind das Gegenteil von denen der Entfremdung: Glaube statt Unglaube, Hingabe statt hybris, Liebe statt Konkupiszenz. […] Der einzelne „tritt ein“ und nimmt dadurch an ihm teil und ist durch diese Teilnahme wiedergeboren. Die objektive Wirklichkeit des Neuen Seins geht der subjektiven Teilnahme an ihm voraus. […] Wiedergeburt ist der Zustand, in dem man in die neue Wirklichkeit hineingenommen ist – es ist die Wirklichkeit, die in Jesus dem Christus manifest wurde.²⁰⁷
202 Tillich: ST II, 167ff. [154ff.]. Vgl. zu Tillichs Verständnis des christlichen Ereignisses als Faktum und Akt Unterabschn. 3.1.1 dieser Arbeit sowie ebd., 108f. [98f.]. Vgl. zu Tillichs Glaubensverständnis Abschn. 4.1 dieser Arbeit. 203 Ebd., 189 [176]. Vgl. zur Erläuterung von Tillichs Unterscheidung von Fragmentarität und Zweideutigkeit Abschn. 3.2 dieser Arbeit. Vgl. zu Tillichs Verständnis von Entfremdung als Selbstzerstörung Unterabschn. 2.3.1 dieser Arbeit. 204 Ebd. 205 Ebd. 206 Ebd., 189f. [176]. 207 Ebd., 190 [177]. Vgl. zu Unglaube, hybris und Konkupiszenz als Merkmalen der Entfremdung Abschn. 5.1 dieser Arbeit.
5.2 Individuelle Erfüllung als Partizipation an der Universalität des Reiches Gottes | 197
b) Nach Tillich bildet der „Glaube, der Jesus als den Träger des Neuen Seins annimmt“²⁰⁸, die Grundlage „für die Teilnahme am Neuen Sein in Christus. […] Dies führt zu der zweiten Beziehung, die das Neue Sein zu denen hat, die von ihm ergriffen sind.“²⁰⁹ Dabei ist Glaube kein menschlicher Akt, obwohl er sich im Menschen ereignet. Glaube ist das Werk des göttlichen Geistes, der Macht, die das Neue Sein stiftet […]. Wie die Wiedergeburt ist die Rechtfertigung zuerst ein objektives Ereignis und dann ein subjektives Aufnehmen. […] Rechtfertigung ist ein Akt Gottes, der in keiner Weise vom Menschen abhängt, ein Akt, in dem Gott den annimmt, der unannehmbar ist. […] [D]as ist es, was der Mensch annehmen muß. Er muß bejahen, daß er von Gott bejaht ist; er muß die Bejahung bejahen. […] Der Grund für die Rechtfertigung ist Gott allein („aus Gnade“), aber der Glaube, daß man bejaht ist, ist bildlich gesprochen der Kanal, durch den die Gnade dem Menschen vermittelt wird („durch Glaube“).²¹⁰
Dementsprechend bezeichnet Tillich das erlösende Wirken Gottes durch die Rechtfertigung im Glauben auch als „Annahme des Neuen Seins“²¹¹ durch den einzelnen Menschen. c) Während nach Tillich Wiedergeburt und Rechtfertigung beide die „Wiedervereinigung dessen [beschreiben], was entfremdet ist“²¹², bezeichnet Heiligung den Prozeß, in dem die Macht des Neuen Seins den einzelnen und die Gemeinschaft umformt – innerhalb und außerhalb der Kirche. Sowohl der individuelle Christ als auch die Kirche, sowohl das religiöse als auch das profane Leben sind Gegenstände der heiligenden Funktion des göttlichen Geistes, der das Neue Sein in der Geschichte verwirklicht. […] Der Christus ist kein isoliertes Ereignis […], sondern er ist die Macht des Neuen Seins, das in aller vorhergehenden Geschichte seine letztgültige Manifestation in Jesus als dem Christus vorbereitet und in aller folgenden Geschichte aufgenommen und verwirklicht wird.²¹³
Diese Vorbereitung, Aufnahme und Verwirklichung des Neuen Seins ereignet sich gemäß Tillich im Rahmen von latenter und manifester Kirche, die er in-
208 Ebd. 209 Ebd. 210 Ebd., 191f. [178f.]. Vgl. zu Tillichs Verständnis der Gnade (in ihrem Verhältnis zur Prophetie) Abschn. 4.1 sowie zu seinem Verständnis der Rechtfertigung Abschn. 6.2 dieser Arbeit. Die Aufnahme von Tillichs Verständnis der Gnade in Thomas Manns Roman Doktor Faustus wird in folgendem Beitrag geschildert: Schwöbel, Christoph: Thomas Mann, Paul Tillich und Halle, in: Danz, Christian (Hg.): Religion – Kultur – Gesellschaft. Der frühe Tillich im Spiegel neuer Texte (1919–1920), Münster 2008, 19–36. 211 Tillich: ST II, 190 [177]. 212 Ebd., 193 [179]. 213 Ebd., 193 [179f.].
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nerhalb der Geschichte im Sinne der Geistgemeinschaft als Repräsentanten des Reiches Gottes versteht. Die Geistgemeinschaft als unzweideutige Schöpfung des göttlichen Geistes überwindet – sowohl im profanen als auch im religiösen Leben in Gestalt der den Zweideutigkeiten des Lebens unterworfenen institutionellen Kirchen als soziologischen und kulturellen Größen – im Prozess der Heiligung unter den Bedingungen der Entfremdung eben jene bereits fragmentarisch mit Blick auf die noch ausstehende Vollendung im Reich Gottes.²¹⁴ Tillich nennt deshalb den Prozess der Heiligung auch „Erfahrung des Neuen Seins […]“²¹⁵ und unterscheidet in diesem Zusammenhang „[v]ier Prinzipien, die das Neue Sein als Prozeß bestimmen […]: erstens wachsendes Bewußt-werden, zweitens wachsendes Frei-werden, drittens wachsendes Verbunden-sein, viertens wachsende Selbst-Transzendierung.“²¹⁶ Aufgrund der universalen Zweideutigkeiten des geschichtlichen Lebens bleibt der Mensch im Sinne der Rechtfertigung jedoch „auf jeder Stufe der Heiligung der Vergebung bedürftig.“²¹⁷ In Kurzform formuliert Tillich diesen Gedanken bereits 1913 in seinem ersten Entwurf einer Systematischen Theologie: Die Heiligung wird „als fortschreitende Loslösung von der Sündhaftigkeit und immer innigere Vereinigung mit Gott [betrachtet]. […] [D]ie Heiligung [bleibt] immer relativ, entsprechend der Voraussetzung des Paradox.“²¹⁸ Die Geistgemeinschaft antizipiert innerhalb der Geschichte ausschließlich fragmentarisch das, was am Ende der Geschichte durch die Erhebung des Zeitlichen in die Ewigkeit, die Enthüllung des Negativen im Jüngsten Gericht und schließlich der ewigen Seligkeit des Einzelnen in der universalen Erfüllung des geschöpflichen Gesamtzusammenhanges in unzweideutiger Selbst-Integration, unzweideutigem Sich-Schaffen und unzweideutiger Selbst-Transzendierung zur Vollendung kommt. Somit vollzieht sich die Essentifikation des Einzelnen im Zusammenhang der Essentifikation der Geschichte als umfassendstem Lebensprozess, indem das 214 Vgl. ausführlich zu Tillichs Kirchenverständnis Abschn. 4.1 sowie zu seinem Verständnis des Wirkens des göttlichen Geistes in der Geschichte Abschn. 4.3 dieser Arbeit. 215 Tillich: ST III, 263 [228]. 216 Ebd., 266 [231]. 217 Ebd., 381 [334]. Vgl. hierzu auch folgenden Beitrag: Drobe: „…daß der Mensch auf jeder Stufe der Heiligung der Vergebung bedürftig ist.“ 218 Tillich: ST (1913), 385. Vgl. zu Tillichs Verständnis des Paradoxons in Bezug auf die Rechtfertigung Abschn. 6.2 dieser Arbeit. Eine kompakte Darstellung der Soteriologie Tillichs in Band III der Systematischen Theologie mit Bezug auf Heiligung und Geschichte bietet: Galles, Paul: Situation und Botschaft. Die soteriologische Vermittlung von Anthropologie und Christologie in den offenen Denkformen von Paul Tillich und Walter Kasper, Berlin und Boston 2012, 241–249.
5.2 Individuelle Erfüllung als Partizipation an der Universalität des Reiches Gottes |
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durch den göttlichen Geist geschaffene Positive der einzelnen Existenz, das sich bereits in der geschichtlichen Teilnahme am Neuen Sein, der geschichtlichen Annahme des Neuen Seins wie auch der geschichtlichen Umwandlung durch das Neue Sein zeigt, in die Ewigkeit erhoben, von den negativen Verzerrungen durch Desintegration, Zerstörung und Profanisierung befreit und in der essentiellen Potentialität, ein Bild Gottes sein zu dürfen, erfüllt wird und als solches am Ewigen Leben teilnimmt²¹⁹: „Für die Partizipation des Individuums am Ewigen Leben gebraucht das Christentum die beiden Begriffe ‚Unsterblichkeit‘ und ‚Auferstehung‘“²²⁰, wobei „Unsterblichkeit“ im Hinblick auf „die platonische Lehre von der Unsterblichkeit der Seele“²²¹ das Missverständnis nahelegt, dass „das zeitliche Leben des Individuums nach dem Tode körperlos fortdauert.“²²² Ein solches Verständnis der Teilnahme des Einzelnen am Ewigen Leben lehnt Tillich mit Bezug auf die sich als Essentifikation vollziehende Erhebung des Zeitlichen in die Ewigkeit ab: Wo das Symbol der Unsterblichkeit diesen populären Aberglauben vertritt, muß es vom Christentum radikal verworfen werden; denn Partizipation an der Ewigkeit ist weder Fortleben nach dem Tode, noch eine natürliche Eigenschaft der menschlichen Seele. Vielmehr ist sie der schöpferische Akt Gottes, der bewirkt, daß sich das Zeitliche vom Ewigen trennt und zu ihm zurückkehrt.²²³
Darüber hinaus erweist es sich nach Tillich als problematisch, dass „Unsterblichkeit“ üblicherweise für die „Unsterblichkeit der Seele“ gebraucht [wird]. […] In dieser Bedeutung impliziert der Begriff der Unsterblichkeit einen Dualismus zwischen Seele und Leib, der im Widerspruch zu dem christlichen Begriff des göttlichen Geistes steht, der alle Dimensionen des Lebens umfaßt; und er ist unvereinbar mit dem Symbol von der „Auferstehung des Leibes“.²²⁴
Die genannten möglichen Missverständnisse liegen gemäß Tillich in einer „Verwandlung des Symbols der ‚Unsterblichkeit‘ in einen Begriff“²²⁵ begründet. Als
219 Vgl. zur Essentifikation der Geschichte als umfassendstem LebensprozessAbschn. 5.1 dieser Arbeit. 220 Tillich: ST III, 463 [409]. 221 Ebd. 222 Ebd. 223 Ebd., 463 [409f.]. 224 Ebd., 463f. [410]. 225 Ebd., 464 [410]. Vgl. zu Tillichs Symbolbegriff auch Unterabschn. 2.3.2 dieser Arbeit.
200 | 5 Das Reich Gottes als das die Geschichte transzendierende Ziel der Geschichte
Symbol wurde „Unsterblichkeit“ Tillich folgend „in bezug auf Götter oder Gott gebraucht“²²⁶ und bezeichnet so die Erfahrung der Unbedingtheit in Sinn und Sein […]. So verstanden enthält sie die Gewißheit, die in dem unmittelbaren Bewußtsein des Menschen liegt, daß er ein endliches Wesen und daß er seine Endlichkeit in eben diesem Bewußtsein transzendiert. […] Unsere Endlichkeit hört nicht auf Endlichkeit zu sein, aber sie ist in die Unendlichkeit, das Ewige, aufgenommen.²²⁷
Wird „Unsterblichkeit“ jedoch als Begriff gebraucht, dann wird sie „zum Merkmal für einen Teil des Menschen, nämlich seine sogenannte Seele […], einer von Natur unsterblichen Seelensubstanz.“²²⁸ Will christliche Theologie an der Unsterblichkeit als Beschreibung für die Partizipation des Individuums am Ewigen Leben festhalten, dann muss im Sinne Tillichs „Unsterblichkeit“ als Symbol verstanden werden, in dem „die Gewißheit des Ewigen Lebens von seiner gefährlichen Verbindung mit dem Begriff einer unsterblichen Seele befreit [wird].“²²⁹ Aufgrund der möglichen Missverständnisse sieht Tillich die „Partizipation des Menschen am Ewigen Leben jenseits des Todes […] angemessener in dem hochsymbolischen Ausdruck ‚Auferstehung des Leibes‘“²³⁰ ausgedrückt, der in Anlehnung an 1. Kor 15,35–45 auch als „geistlicher Leib“ aufzufassen ist.²³¹ „Auferstehung des Leibes“ sollte daher nach Tillich als doppelte Negation verstanden werden […]: Als erstes negiert dieser Ausdruck die „Nacktheit“ einer reinen geistigen Existenz […]. Aber Paulus erkennt die Problematik dieses Symbols, nämlich die Gefahr, daß es als Partizipation von „Fleisch und Blut“ am Reich Gottes aufgefaßt werden kann [vgl. 1. Kor 15,50, C.D.]. […] Und gegen diese Gefahr der „materialistischen“ Auslegung wendet er sich, wenn er den auferstandenen Leib „geistlichen Leib“ nennt. Geist […] bedeutet die Gegenwart des göttlichen Geistes im menschlichen Geist, in den er einbricht, den er verwandelt und über sich hinaushebt. „Geistlicher Leib“ ist also ein Leib, der das vom göttlichen Geist verwandelte gesamte Sein des Menschen ausdrückt.²³²
Niebuhr formuliert den Inhalt des leiblichen Auferstehungsglaubens mit explizitem Bezug zum christlichen Geschichtsverständnis:
226 Tillich: ST III, 464 [410]. 227 Ebd., 464 [410f.]. 228 Ebd., 464f. [411]. 229 Ebd., 465 [412]. 230 Ebd. 231 Vgl. ebd. 232 Ebd., 465f. [412].
5.2 Individuelle Erfüllung als Partizipation an der Universalität des Reiches Gottes |
201
Wenn man glaubt, daß der Körper aufersteht, so bedeutet das, daß die Ewigkeit kein Auslöschen von Zeit und Geschichte ist, sondern daß die Geschichte in der Ewigkeit erfüllt wird. […] Denn Zeit und Ewigkeit könnten ohne Ewigkeit nicht bestehen. Die Geschichte wäre eine sinnlose Aufeinanderfolge ohne den ewigen Zweck, der sie trägt.²³³
Analog zu diesem Verständnis von „geistlichem Leib“ bedeutet „Auferstehung“ gemäß Tillich folgendes: a) „Auferstehung“ drückt aus, „daß das Reich Gottes alle Dimensionen des Seins umfaßt. Der ganze Mensch partizipiert am Ewigen Leben.“²³⁴ In Bezug auf die Idee der „Essentifikation“ „können wir sagen, daß das psychologische, das geistige und das soziale Sein des Menschen in seinem leiblichen Sein impliziert sind – und zwar in Einheit mit den Essenzen alles anderen, das Sein hat.“²³⁵ b) Darüber hinaus betont „Auferstehung“ den „ewigen Wert[ ], den die individuelle Person in ihrer Einmaligkeit darstellt“²³⁶ in einer Weise, die ausdrückt, dass der einzelne Mensch in der Gesamtheit seiner Personalität, also seiner Leiblichkeit und der Zentriertheit seines Selbstseins, als Selbst, das eine Welt hat, zu er es gehört, am Ewigen Leben teilnimmt. Matern formuliert das wie folgt: „[E]s ist nicht der Mensch als Exemplar einer Gattung, sondern dieser selbst einschließlich seiner Determinanten seiner Individualität, der an der Erfüllung des Reiches Gottes partizipiert.“²³⁷ Dementsprechend ist auch „das seiner selbst bewußte Selbst im Ewigen Leben gegenwärtig“²³⁸, denn wenn „geistlicher Leib“ die Erhebung der Gesamtheit des zeitlichen Lebens in das Ewige Leben durch den göttlichen Geist meint, dann kann das seiner selbst bewußte Selbst nicht vom Ewigen Leben ausgeschlossen sein […]. Da das Ewige Leben Leben ist und nicht undifferenzierte Identität, und da das Reich Gottes die universale Aktualisierung der Liebe ist, kann das Element der Individualisation nicht ausgeschlossen sein, ohne daß das Element der Partizipation ebenfalls verschwindet. Es gibt keine Partizipation, wo es kein individuelles Zentrum gibt, das partizipiert […].²³⁹
233 Niebuhr: Jenseits der Tragödie, 174. 234 Tillich: ST III, 466 [kursiv D.G.] [412f.]. 235 Ebd., 466 [412f.]. 236 Ebd., 466 [413]. 237 Matern: Das Reich Gottes innerhalb der Geschichte und als Ziel der Geschichte, 302. 238 Tillich: ST III, 467 [413]. 239 Ebd., 467 [413f.]. Vgl. zur Unaufhebbarkeit der ontologischen, geschöpflichen SubjektObjekt-Struktur im Zusammenhang mit den ontologischen Polaritäten Kap. 2 sowie zu Tillichs Liebesverständnis Abschn. 5.1 dieser Arbeit. Vgl. hierzu auch die in Abschn. 5.1 erfolgte Diskussion um Oswald Bayers Tillich-Interpretation in Bezug auf die differenzlose Einheit.
202 | 5 Das Reich Gottes als das die Geschichte transzendierende Ziel der Geschichte
Allerdings darf die Partizipation des zentrierten Selbst am Ewigen Leben analog zur Partizipation des leiblichen Seins nicht als „endlose Fortdauer eines besonderen Bewußtseinsstromes in Form der Erinnerung und der Antizipation“²⁴⁰ gefasst werden, da das Selbst-Bewußtsein […] von Veränderungen in der Zeit ab[hängt], sowohl von Veränderungen des wahrnehmenden Subjekts wie von denen des wahrgenommenen Objekts im Prozeß des sich seiner selbst Bewußtwerdens. Aber Ewigkeit transzendiert Zeitlichkeit und damit den Erfahrungscharakter des Bewußtseinsprozesses.²⁴¹
Somit ist das „seiner selbst bewußte Selbst nicht das gleiche […] wie im zeitlichen Leben (welches die Zweideutigkeit der Objektivation einschließen würde).“²⁴² Strukturell entspricht diese Beschreibung der Partizipation des sich seiner selbst bewussten Selbst am Ewigen Leben der doppelten Negation, die nach Tillich „Auferstehung des Leibes“ meint: So wie „Auferstehung des Leibes“ eine rein geistige Existenz negiert, jedoch gleichzeitig auch die Teilnahme von „Fleisch und Blut“ am Ewigen Leben, kann unter „Auferstehung“ im Sinne der Partizipation des sich seiner selbst bewußten Selbst in Beziehung zu seinem leiblichen Sein keine differenzlose Identität mit dem göttlichen Geist, aber auch keine endlose Fortsetzung des endlichen Selbst-Bewusstsein verstanden werden, wobei Tillich folgend „Behauptungen, die über diese beiden negativen Behauptungen hinausgehen, […] keine theologischen begrifflichen Aussagen, sondern poetische Bilder [sind]“²⁴³, weil sie als begriffliche Aussagen in die Sphäre des Endlichen gehören und keine absolute Gewissheit²⁴⁴ darstellen. Allgemein formuliert erweist sich nach Tillich „Auferstehung“ als Symbol für die Gewißheit […], daß sich aus dem Tod des zeitlichen Lebens das Ewige Leben erhebt. So verstanden, ist „Auferstehung“ der symbolische Ausdruck für den theologischen Zentralbegriff des Neuen Seins. Wie das Neue Sein nicht ein zweites Sein ist, sondern die Verwandlung des alten, so ist die Auferstehung nicht die Schöpfung einer zweiten Wirklichkeit, die im Ge-
240 Tillich: ST III, 467f. [414]. 241 Ebd., 468 [414]. 242 Ebd. 243 Ebd. 244 Vgl. zu dieser Formulierung Ders.: ST II, 146 [134] und zu Tillichs Verständnis des Dämonischen als Selbsterhebung des Endlichen zum Absoluten Abschn. 3.2 sowie Abschn. 6.2 dieser Arbeit.
5.2 Individuelle Erfüllung als Partizipation an der Universalität des Reiches Gottes | 203
gensatz zu der alten Wirklichkeit steht, sondern die Verwandlung der alten, aus deren Tod sie sich erhebt.²⁴⁵
Da Tillich die Essentifikation alles endlich Seienden am Ende der Geschichte im dargestellten Sinne als vollendende Verwandlung begreift, lehnt er wie bereits beschrieben die Lehre eines zweifachen Schicksals der Individuen ab, weil diese dem Glauben an eine gute Schöpfung, der Vorstellung eines universalen Schicksals der Entfremdung wie auch der Idee einer universalen Partizipation, durch die kein endlich Seiendes ausschließlich positiv oder negativ sein kann, widerspricht. Die Essentifikation vollzieht sich nach Tillich graduell, d.h. als Enthüllung und endgültige Überwindung des Negativen im Jüngsten Gericht, die das endlich Seiende in seiner Teilnahme am Ewigen Leben seine essentiellen Potentialitäten erfüllen lässt. Den vorliegenden Ausführungen geht daher die Kategorisierung von Tillichs gradueller Essentifikation durch Matern als „abgewandelte Form der Allerlösungslehre“²⁴⁶ nicht weit genug. Vielmehr weist Tillichs Verständnis einer graduellen Essentifikation die Alternative der Lehren eines doppelten Ausgangs oder einer apokatastasis panton als fragwürdig aus, denn in der graduellen Essentifikation vollzieht sich gemäß Tillich beides: die ewige Überwindung des Negativen und die Vollendung von jedem individuellen Geschöpf. Deshalb spricht sich Tillich gegen absolute Urteile in Bezug auf endlich Seiendes aus, die in religiösen Symbolen wie „Himmel und Hölle“ oder auch „ewiges Leben und ewiger Tod“ nahegelegt werden. Dabei fasst Tillich unter „ewiges Leben“ eine „Entmythologisierung der ‚immerwährenden Seligkeit‘“²⁴⁷ und unter „ewiger Tod“ eine Entmythologisierung von „immerwährender Strafe“ […]. Die theologische Bedeutung des Begriffs „ewiger Tod“ liegt in der Tatsache, daß er auf den überzeitlichen Charakter des ewigen Schicksals des Menschen hinweist. […] Diese Wortverbindung bedeutet Tod, der von der Ewigkeit ausschließt, das Nicht-Erreichen der Ewigkeit, das Anheimfallen an die Vergänglichkeit der Zeitlichkeit. […] Auf das Symbol der Auferstehung bezogen, könnte man sagen, daß er stirbt, aber nicht an der Auferstehung teilhat. Diese Drohung widerspricht jedoch der Wahrheit, daß alles Geschaffene im ewigen Grunde des Seins verwurzelt ist. Insofern kann sich Nicht-Sein nicht gegen das Sein behaupten.²⁴⁸
Gleichermaßen wendet Tillich sich jedoch auch wie erläutert gegen eine Lehre von der Restitution aller Dinge, „der apokatastasis panton des Origines“²⁴⁹, wenn dar245 246 247 248 249
Ders.: ST III, 468 [414]. Matern: Das Reich Gottes innerhalb der Geschichte und als Ziel der Geschichte, 302. Tillich: ST III, 468 [415]. Ebd., 468f. [415]. Ebd., 469 [415].
204 | 5 Das Reich Gottes als das die Geschichte transzendierende Ziel der Geschichte
in die als absolut erfahrene Drohung des Nicht-Seins ihre Ernsthaftigkeit verliert, denn das käme einer Verkennung des universalen Schicksals der Entfremdung und damit einem absoluten Urteil gleich, das im Rahmen der endlichen Vorläufigkeit nicht ausgesprochen zu werden vermag. Daher stellt sich mit Tillich die Frage: „Wie läßt sich die Ernsthaftigkeit der Drohung des Todes, der von der Ewigkeit ausschließt, mit der Wahrheit vereinen, daß alles aus der Ewigkeit kommt und zu ihr zurückkehren muß?“²⁵⁰ Eine Antwort auf diese Frage darf nach Tillich die Spannung von der „Drohung des Todes, der von der Ewigkeit ausschließt“²⁵¹ und der „Gewißheit im Ewigen Leben verwurzelt zu sein“²⁵² nicht auflösen, weil die „Ungewißheit über unser ewiges Schicksal […] nicht aufgehoben werden [kann]; aber [es] – diese Ungewißheit transzendierend – Augenblicke [gibt], in denen wir paradoxerweise der Rückkehr zum Ewigen, aus dem wir kommen, gewiß sind.“²⁵³ Solche Versuche, „die starke Spannung dieser Polarität“ – der Drohung des ewigen Todes und der Gewissheit einer Rückkehr zum Ewigen – aufzuheben, werden gemäß Tillich „innerhalb wie außerhalb des Christentums“²⁵⁴ unternommen durch „die Idee der ‚Reinkarnation‘, die Idee eines ‚Zwischenzustandes‘ und die Idee des ‚Fegefeuers‘.“²⁵⁵ Die drei genannten Ideen erweisen sich für Tillich jedoch im Hinblick auf die erlebte Spannung als fragwürdig: Die Idee der Reinkarnation – beispielsweise im „Hinduismus und Buddhismus“²⁵⁶ – bietet mit ihrer Vorstellung der „Gewißheit von einem ‚Leben nach dem Tode‘ keine tröstende Vorstellung“²⁵⁷, indem „das Subjekt in den verschiedenen Stufen der Inkarnation kein Bewußsein von seiner Identität hat“²⁵⁸ und es „der negative Charakter alles Lebens [ist], der zur Reinkarnation führt, dem qualvollen Weg der Rückkehr zum Ewigen.“²⁵⁹ Die „römisch-katholische Lehre vom Fegefeuer“²⁶⁰ wiederum basiert auf der Vorstellung, „die Verwandlung allein vom Leiden abzuleiten anstatt von der Gnade, die Seligkeit im Leiden schenkt.“²⁶¹ Der protestantische Versuch, die Spannung des
250 Tillich: ST III, 469 [415]. 251 Ebd. 252 Ebd. 253 Ebd., 470 [416]. Vgl. hierzu auch die unter Abschn. 5.1 im Zusammenhang der graduellen Essentifikation zitierte Formulierung von Niebuhr: Jenseits der Tragödie, 156. 254 Tillich: ST III, 469 [416]. 255 Ebd. 256 Ebd., 471 [417]. 257 Ebd., 470f. [417]. 258 Ebd., 471 [417]. 259 Ebd. 260 Ebd. 261 Ebd.
5.2 Individuelle Erfüllung als Partizipation an der Universalität des Reiches Gottes | 205
drohenden ewigen Todes und der Gewissheit der Rückkehr in das Ewige durch einen „Zwischenzustand zwischen Tod und Auferstehung (im Jüngsten Gericht)“²⁶² aufzuheben, weist Tillich folgend die Schwäche auf, dass „die Idee von einem körperlosen Zwischenzustand […] der Wahrheit von der vieldimensionalen Einheit des Lebens widerspricht und eine nicht-symbolische Anwendung der meßbaren Zeit auf das Leben nach dem Tode ist.“²⁶³ Tillich fasst die Unzulänglichkeit der drei genannten Ideen, die Spannung des drohenden ewigen Todes und der Gewissheit einer Rückkehr zum Ewigen aufzuheben, wie folgt zusammen: Keines der drei Symbole für die Entwicklung des Individuums nach dem Tode kann die Funktion erfüllen, um deretwillen es geschaffen wurde: nämlich die Vision vom einem ewigen positiven Schicksal eines jeden Menschen zu vereinen mit dem Fehlen der zum Erreichen dieses Schicksals notwendigen physischen, sozialen und psychologischen Voraussetzungen bei den meisten und vielleicht bei allen Menschen. Nur eine reine Prädestinationslehre konnte eine einfach Antwort geben; und diese war, daß Gott nur wenige für die ewige Seligkeit auserwählt […], [was] dem Gott widerspricht, der die Welt zur Erfüllung aller geschaffenen Möglichkeiten schafft.²⁶⁴
Eine für Tillich angemessenere Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis der Ernsthaftigkeit des drohenden ewigen Todes und der Gewissheit einer dem Grund alles endlich Seienden entsprechenden Rückkehr in das Ewige muss „auf die Beziehung von Ewigkeit und Zeit eingehen oder auf die Beziehung der überzeitlichen Erfüllung zur zeitlichen Erfüllung“²⁶⁵, denn das Ewige ist weder die unendliche Fortdauer des Zeitlichen noch eine mit dem Zeitlichen unverbundene Wirklichkeit: Wenn die überzeitliche Erfüllung die Qualität des Lebens hat, ist die Zeitlichkeit in ihr eingeschlossen. Wie in den vorangegangenen Fällen müssen wir zwei negative Aussagen machen, in deren Transzendierung die Wahrheit liegt, die sich jedoch nicht positiv und direkt ausdrücken läßt: Ewigkeit ist weder zeitlose Identität, noch endlose Veränderung. […] Wenn wir diese Lösung mit der Idee verbinden, daß kein einzelnes Schicksal vom Schicksal des Universums getrennt ist, haben wir die Grundlage, auf der die wichtige Frage nach der Entwicklung des Einzelnen im Ewigen Leben zumindest eine begrenzte theologische Antwort erhalten kann.²⁶⁶
262 263 264 265 266
Ebd. Ebd., 471f. [418]. Vgl. zu Tillichs Symbolverständnis Unterabschn. 2.3.2 dieser Arbeit. Ebd., 472 [418]. Ebd. Ebd.
206 | 5 Das Reich Gottes als das die Geschichte transzendierende Ziel der Geschichte
Somit erweist sich nach Tillich das Paradoxon der Spannung des drohenden ewigen Todes und der Gewissheit einer Rückkehr zum Ewigen für ein an die Zweideutigkeit des geschichtlichen Lebens gebundenes theologisches System als unaufhebbar, weshalb Tillich folgend „die Symbole ‚Himmel‘ und ‚Hölle‘ ernst genommen werden [müssen] […]. Sie sind lebendiger Ausdruck für die Drohung des ‚Todes, der vom Ewigen Leben ausschließt‘, und für ihr Gegenteil, ‚die Verheißung des Ewigen Lebens‘.“²⁶⁷ Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass „Himmel und Hölle“ nicht Beschreibungen bestimmter Orte sind […], daß es Symbole für den Zustand der Seligkeit und der Verzweiflung sind […] und […], daß sie auf die objektive Grundlage der Seligkeit hinweisen, das heißt auf den Grad der Erfüllung oder Nicht-Erfüllung, der zur Essentifikation des Individuums beiträgt.²⁶⁸
Die geschichtliche Existenz des Einzelnen bewegt sich daher irreduzibel zwischen der „Angst des Nicht-Seins“²⁶⁹ und der „eschatologischen Hoffnung“²⁷⁰, die sich im Glauben an Jesus Christus als Manifestation des Neuen Seins unter den Bedingungen der Entfremdung auf jene sich als Essentifikation ereignende individuelle Erfüllung im Zusammenhang der universalen Erfüllung im Reich Gottes richtet, die im Sinne Tillichs im Symbol der „Auferstehung“ ausgedrückt ist. Da nach Tillich für ein angemessenes Verständnis des Reiches Gottes als dem Sinn der Geschichte die Beziehung von Zeit und Ewigkeit von zentraler Bedeutung ist, soll, nachdem eben jene Beziehung im Vorhergehenden zunächst in Bezug auf die Frage des Verhältnisses von individueller und universaler Erfüllung erörtert worden ist, nun abschließend „die Frage von Zeit und Ewigkeit prinzipiell behandelt“²⁷¹ werden.
5.3 Das Reich Gottes: Zeit, Ewigkeit und Trinität Zur Verhältnisbestimmung von Zeit und Ewigkeit soll im Folgenden zunächst die Beziehung von Ewigkeit und bewegter Zeit erläutert werden, um daran an- und
267 Tillich: ST III, 473 [418f.]. 268 Ebd., 472f. [418]. 269 Ders.: ST I, 232 [198]. Vgl. Zu Tillichs Verständnis der Angst des Nicht-Seins ausführlicher auch Unterabschn. 2.3.1 sowie Unterabschn. 2.3.2 dieser Arbeit. 270 Ders.: ST III, 468 [414]. 271 Ebd., 473 [419].
5.3 Das Reich Gottes: Zeit, Ewigkeit und Trinität | 207
abschließend das Verhältnis von Ewigem Leben und göttlichem Leben zu erörtern:²⁷² Gemäß Tillich erweist sich Ewigkeit weder als Zeitlosigkeit noch als endlose Zeit: „Das Ewige ist weder die Negierung der Zeit noch ihre Fortdauer“²⁷³, sondern „die Kraft, alle Zeitmomente zu umgreifen.“²⁷⁴ Tillichs Ausführungen im Hinblick auf das Reich Gottes als transzendentes Ziel der Geschichte in Geschichte als das Problem unserer Zeit von 1939 liegen auf derselben Linie: Wenn wir das Reich Gottes als transzendente Einheit des fragmentarischen Sinns der Geschichte beschreiben, betonen wir damit seinen dynamischen Charakter, der weder in dem Begriff zeitloser Ewigkeit noch dem der Endlosigkeit ausgedrückt ist. Gleichzeitig betonen wir seinen dialektischen Charakter, der dem geschichtlichen Handeln absolute Wichtigkeit zuschreibt, ohne den Anspruch irgendeiner partikularen geschichtlichen Wirklichkeit, Macht, Größe oder Vollkommenheit auf Absolutheit gelten zu lassen.²⁷⁵
Indem „die Zeit im Grunde des göttlichen Lebens geschaffen wurde“²⁷⁶ und Gott wie beschrieben „die Spaltung zwischen Potentialität und Aktualität transzendiert, muß dies auch von der Zeit als einem Moment göttlichen Lebens gesagt werden.“²⁷⁷ Das bedeutet, dass Tillich folgend „die Momente der Zeit nicht voneinander getrennt [sind]. Die Gegenwart wird nicht von Vergangenheit und Zukunft verschlungen“²⁷⁸, weil „das Ewige das Zeitliche in sich ein[schließt]“²⁷⁹ und Ewigkeit „die transzendente Einheit der getrennten Momente existentieller Zeit [ist].“²⁸⁰ Demnach darf Ewigkeit jedoch nicht „verstanden werden als Gleichzeitigkeit alles Wirklichen“²⁸¹, da Gleichzeitigkeit „die verschiedenen Modi der Zeit aufheben [würde]. Aber Zeit ohne Modi ist Zeitlosigkeit.“²⁸² Wäre Ewigkeit Zeitlosigkeit, dann widerspräche das Tillichs Annahme, dass die überzeitliche Erfüllung die Qualität des Lebens in Gestalt des Ewigen Lebens hat und das Ewige Leben nicht als eine mit der Geschichte unverbundene Wirklichkeit verstanden werden soll.
272 Vgl. ebd., 473ff. [419ff.]. 273 Ebd., 473 [419]. 274 Ders.: ST I, 315 [274]. 275 Ders.: Geschichte als das Problem unserer Zeit, 168. 276 Ders.: ST I, 315 [274]. 277 Ebd. Vgl. zu Gottes Transzendieren der Spaltung von Potentialitäten und Aktualität auch ebd., 280ff. [241ff.] sowie Abschn. 5.1 dieser Arbeit. 278 Ebd., 315 [274]. 279 Ebd. 280 Ebd., 315 [kursiv C.D.] [274]. 281 Ebd., 315 [274]. 282 Ebd.
208 | 5 Das Reich Gottes als das die Geschichte transzendierende Ziel der Geschichte
Wenn wir Gott jedoch „einen lebendigen Gott nennen, behaupten wir, daß er Zeitlichkeit und damit eine Beziehung zu den Modi der Zeit in sich begreift.“²⁸³ Gleichermaßen kann Ewigkeit nicht „Endlosigkeit der Zeit […], die endlose, ständige Wiederholung der Zeitlichkeit“²⁸⁴ sein, denn für Gott würde das die Unterwerfung unter eine Macht über ihn bedeuten, nämlich unter die Struktur der zerteilten Zeitlichkeit. Es würde ihn seiner Göttlichkeit berauben und ihn zu einem immer lebenden Wesen machen. […] Ein Gott der nicht in der Lage ist, jede mögliche Zukunft vorwegzunehmen, ist vom absoluten Zufall abhängig […]. Dieser Gott wäre selbst der Angst des Unbekannten unterworfen. Er wäre nicht das Sein-Selbst. Daher ist nur ein relatives, nicht absolutes Offensein für die Zukunft ein Charakteristikum der Ewigkeit. Das Neue liegt jenseits von Potentialität und Aktualität im göttlichen Leben.²⁸⁵
Das bedeutet: Gottes Ewigkeit ist auch nicht abhängig von der Vollendung der Vergangenheit. Für Gott ist die Vergangenheit nicht abgeschlossen, weil er durch sie die Zukunft schafft, und im Erschaffen der Zukunft schafft er die Vergangenheit neu. […] Die Potentialitäten, die in der Zukunft Aktualitäten werden sollen, entscheiden nicht nur die Zukunft, sondern auch die Vergangenheit. […] Von der Ewigkeit her gesehen sind sowohl Vergangenheit wie Zukunft offen. Die schaffende Kraft, die in die Zukunft führt, formt auch die Vergangenheit um. Wenn Ewigkeit in Einheit mit Gottes Kreativität verstanden wird, so schließt das Ewige Vergangenheit und Zukunft ein, ohne ihnen ihren besonderen Charakter als Modi der Zeit zu nehmen.²⁸⁶
Eben jenes relative Offensein von Vergangenheit und Zukunft eröffnet für das Zeitliche die Möglichkeit, dass Neues in Zeit und Geschichte aktualisiert [wird]. Ohne das Element der Offenheit wäre die Geschichte nicht schöpferisch. Sie würde aufhören, Geschichte zu sein. Andererseits wäre ohne das, was das Offensein begrenzt, die Geschichte ohne Richtung und Ziel. Auch dadurch würde sie aufhören, Geschichte zu sein.²⁸⁷
Somit verlieren in der Hoffnung auf das Ewige Leben im Sinne der Essentifikation alles endlich Seienden
283 Tillich: ST I, 315 [kursiv C.D.] [274]. 284 Ebd., 316 [275]. 285 Ebd., 316f. [275f.]. 286 Ebd., 317 [276]. 287 Ebd. Vgl. zu Zweckorientierung, der Verwirklichung endlicher Freiheit sowie qualitativ Neuem und Sinnbezogenheit als Merkmale der (menschlichen) Geschichte nach Tillich Unterabschn. 3.1.1 dieser Arbeit.
5.3 Das Reich Gottes: Zeit, Ewigkeit und Trinität | 209
die Angst vor der Vergangenheit als auch die Angst vor der Zukunft […] ihre Macht. Die Angst vor der Vergangenheit wird besiegt durch die Freiheit, die Gott gegenüber der Vergangenheit und ihren Möglichkeiten besitzt. Die Angst vor der Zukunft wird besiegt dadurch, daß das Neue von der Einheit des göttlichen Lebens abhängig ist. […] Hierin und nicht in der Lehre von der Unsterblichkeit der Seele ist die Gewißheit vom Teilhaben des Menschen am Ewigen Leben verankert. Die Hoffnung auf ein ewiges Leben ist nicht auf eine Substanz-Qualität der Seele des Menschen begründet, sondern auf sein Teilhaben an der Ewigkeit des göttlichen Lebens.²⁸⁸
Aufgrund der beschriebenen relativen Offenheit der Geschichte lässt sich gemäß Tillich „die Bewegung der Zeit in bezug auf die Ewigkeit“²⁸⁹ weder ausschließlich als „Kreisbewegung“²⁹⁰ noch als „gerade Linie“²⁹¹ beschreiben, denn in der Vorstellung einer Kreisbewegung der Zeit fehlt es an einem Ziel, „auf das sich die Zeit bewegen sollte“²⁹², was der Hoffnung auf das Reich Gottes als Ende der Geschichte entgegensteht, und mit einer geraden Linie „ist die Zeit nicht als etwas beschrieben, was aus dem Ewigen kommt und zur Ewigkeit zurückkehrt.“²⁹³ Deshalb stellt sich mit Tillich die Frage, „ob eine Linie denkbar ist, die zugleich das ‚Aus-etwasKommen‘, das ‚Fortschreiten‘ und das ‚Sich-zu-etwas-Erheben‘ darstellt.“²⁹⁴ Tillich schlägt als mögliche Antwort eine graphische Beschreibung der Bewegung der Zeit in Bezug auf die Ewigkeit eine Kurve vor, die von oben kommt, sich abwärts und vorwärts bewegt bis zu einem tiefsten Punkt, […], dem „existentiellen Jetzt“, und auf analogem Weg zu dem zurückkehrt, von dem sie herkommt, sich zugleich vorwärts und aufwärts bewegend. Diese Kurve beschreibt sowohl jeden Moment der erlebten Zeit wie der Zeitlichkeit als ganze. Sie schließt die Schöpfung des Zeitlichen, den Beginn der Zeit, und die Rückkehr des Zeitlichen zum Ewigen, das Ende der Zeit, ein.²⁹⁵
Da aber Ewigkeit als transzendente Einheit der Zeitmodi, ohne eben jene in eine differenzlose Einheit aufzuheben, verstanden wird, sind
288 Ebd., 317f. [276]. Vgl. zur Ablehnung der Idee von der Unsterblichkeit der Seele durch Tillich und der Idee einer Teilnahme am Ewigen Leben, die alle Dimensionen des menschlichen Lebens einschließt, Abschn. 5.2 dieser Arbeit. 289 Ders.: ST III, 473 [419]. 290 Ebd. 291 Ebd., 474 [419]. 292 Ebd. 293 Ebd., 474 [420]. 294 Ebd. 295 Ebd.
210 | 5 Das Reich Gottes als das die Geschichte transzendierende Ziel der Geschichte
Anfang und Ende der Zeit […] nicht als bestimmte Momente in der Vergangenheit oder in der Zukunft gedacht. Das Ende der Zeit im Ewigen ist kein bestimmbarer Augenblick innerhalb der physikalischen Zeit, sondern ein Prozeß, der sich in jedem Augenblick vollzieht, ebenso wie der Prozeß der Schöpfung. Schöpfung und Vollendung, Anfang und Ende ereignen sich immerwährend.²⁹⁶
Diese Erläuterung des Verhältnisses der Ewigkeit zur bewegten Zeit entspricht Tillichs Beschreibung der Beziehung des zeitlichen Lebens zum Reich Gottes als dauernder Gegenwart des Endes.²⁹⁷ In eben jenem Prozess des Ewigen Lebens, in welchem das Ende des Zeitlichen dauernd gegenwärtig, das Zeitliche in die Ewigkeit erhoben, das Negative im Jüngsten Gericht als negativ enthüllt und in der Essentifikation endgültig überwunden ist, erfüllen sich im Ewigen Leben des Reiches Gottes als Ende und Ziel der Geschichte in ewiger Überwindung der Zweideutigkeiten des geschichtlichen Lebens immerwährend alle in Gottes Schaffen begründet liegenden Potentialitäten des endlich geschöpflichen Seienden in bewusster Einheit von Essenz und Existenz, in welcher die Liebe Gottes die Identität eines jeden Geschöpfs in Beziehung zur Gesamtheit der Schöpfung bewahrt.²⁹⁸ In diesem Sinne soll nun abschließend die Frage nach dem Verhältnis von Ewigem Leben und göttlichem Leben erörtert werden. Gemäß Tillich ist die Ewigkeit Gottes die „entscheidende Qualität von allen Qualitäten, die ihn zu Gott machen“²⁹⁹, so dass er als Grund des Zeitlichen „dem zeitlichen Prozeß nicht unterworfen [ist] und folglich auch nicht der Struktur der Endlichkeit.“³⁰⁰ Nach Tillichs Verständnis von „Ewigkeit“ ist demnach das ewige Sein Gottes als Sein-Selbst „weder die Zeitlosigkeit absoluter Identität noch die Endlichkeit eines reinen Prozesses“³⁰¹, sondern Gott ist „‚lebendig‘, das heißt er besitzt in sich die Einheit von Identität und Veränderung, die Kennzeichen des Lebens ist und im Ewigen Leben zur Erfüllung gelangt.“³⁰² Dementsprechend ergibt sich im Hinblick auf das Ende der Geschichte die Frage, in welchem Verhältnis die
296 Tillich: ST III, 474 [420]. Eine weiterführende Studie zum Zeitverständnis Tillichs bietet Wee: Space and Time. 297 Vgl. analog hierzu auch Tillichs Beschreibung der Hoffnung auf das Ewige Leben als dauernde Gegenwart des Endes aus der Perspektive des geschichtlichen Lebens Abschn. 5.1 dieser Arbeit. 298 Vgl. zur ausführlichen Darstellung von Tillichs Verständnis des Reiches Gottes als Ende und Ziel der Geschichte Abschn. 5.1 dieser Arbeit. 299 Tillich: ST III, 474 [420]. 300 Ebd. 301 Ebd., 475 [420]. 302 Ebd. Vgl. zu Tillichs Gottesverständnis als Grund der Struktur der Endlichkeit auch Abschn. 5.1 dieser Arbeit.
5.3 Das Reich Gottes: Zeit, Ewigkeit und Trinität | 211
Ewigkeit des göttlichen Lebens und das Ewige Leben alles endlich Seienden stehen, mit Tillich formuliert: „Was ist die Beziehung des ewigen Gottes, der zugleich der lebendige Gott ist, zum Ewigen Leben, das das innere Ziel aller Geschöpfe ist?“³⁰³ Da Tillich folgend das Neue Testament „Gott allein als den ‚Ewigen‘ bezeichnet“, kann es nicht zwei ewige Lebensprozesse geben, die nebeneinander herlaufen. […] Die einzig mögliche Antwort ist also, daß Ewiges Leben Leben im Ewigen, Leben in Gott, ist. Das entspricht der Behauptung, daß alles Zeitliche aus dem Ewigen kommt und zu ihm zurückkehrt, und es stimmt mit der Paulinischen Auffassung überein, daß in der endgültigen Erfüllung Gott alles in allem (oder für alles) ist.³⁰⁴
In Bezug auf Tillichs Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis der Ewigkeit des göttlichen Lebens und dem Ewigen Leben alles endlich Seienden, gemäß derer Ewiges Leben Leben in Gott ist, muss in diesem Zusammenhang nach der „Bedeutung des Wortes ‚in‘ […]“³⁰⁵ gefragt werden. Diesem „in“ kommt gemäß Tillich folgende dreifache Bedeutung zu: – Das Wort „in“ hat hier zunächst „die Bedeutung des schöpferischen Ursprungs. Es verweist auf die Gegenwart alles dessen, was Sein hat, im göttlichen Grund des Seins, eine Gegenwart, die die Form der Potentialität besitzt […].“³⁰⁶ – Darüber hinaus bezeichnet „in“ in diesem Zusammenhang die „ontologische[ ] Abhängigkeit. Hier weist das ‚in‘ auf die Unfähigkeit alles Endlichen hin, ohne die erhaltende Macht der immerwährenden Schöpferkraft zu bestehen, die selbst im Zustand der Entfremdung und der Verzweiflung wirkt.“³⁰⁷ – Als dritte Bedeutung von „in“ nennt Tillich „das ‚in‘ der endgültigen Erfüllung, des Zustandes der Essentifikation aller Geschöpfe.“³⁰⁸ Eben jenes Wirken Gottes in der Schöpfung, der Überwindung der Entfremdung unter den Bedingungen der Zweideutigkeit und der Essentifikation kann im Sinne Tillichs in Beziehung zu den „trinitarische[ ] Prinzipien“³⁰⁹ erläutert werden, deren Betrachtung jedoch selbst „nicht schon christliche Trinitätslehre [ist]. Es ist die Vorbereitung dafür, mehr nicht. […] Aber die Prinzipien der Trinität werden
303 Ebd. 304 Ebd., 475 [420f.]. Vgl. zur paulinischen Auffassung von Gott als alles in allem auch 1. Kor 15,28. 305 Ebd., 475 [421]. 306 Ebd. 307 Ebd. 308 Ebd. 309 Ders.: ST I, 289 [250].
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sichtbar, wo immer man sinnvoll von Gott als dem Lebendigen spricht.“³¹⁰ Die trinitarischen Prinzipien beschreibt Tillich wie folgt: Das erste Prinzip ist […] die Basis seiner Majestät […], der unerschöpfliche Grund des Seins, aus dem alles entspringt. Es ist die Seinsmächtigkeit, die dem Nichtsein unbegrenzten Widerstand leistet, und allem, was ist, Macht verleiht zu sein. […] Der klassische Begriff des logos ist für das zweite Prinzip, das des Sinnes und der Struktur am angemessensten. Es verbindet die sinnvolle Struktur mit Kreativität. […] Im logos spricht Gott sein „Wort“, sowohl in sich selbst als auch über sich selbst hinaus. […] Als Aktualisierung der beiden anderen Prinzipien ist der göttliche Geist das dritte Prinzip. […] Er macht beide schöpferisch.³¹¹
Eine christliche Trinitätslehre hat Tillich folgend mit der „christologischen Aussage, daß Jesus der Christus ist, [zu] beginnen“³¹², weil sich der logos in Jesus als dem Christus unter den Bedingungen der Existenz als das die Entfremdung überwindende Neue Sein selbst manifestiert: „Das trinitarische Symbol des logos als des Prinzips der göttlichen Selbst-Manifestation in Schöpfung und Erlösung führt das Element der Anderheit [sic] in das göttliche Leben ein, ohne das es nicht Leben wäre.“³¹³ Jesus von Nazareth ist damit gemäß Tillich nicht identisch mit der zweiten Person der Trinität, die jedoch für den Menschen nicht unabhängig von der Selbsterschließung Gottes im historischen Jesus erfahrbar ist. Diese Einsicht formuliert Tillich bereits 1913 in seinem Entwurf einer Systematischen Theologie: In Jesus von Nazareth ist das theologische Paradox, d.h. die Einheit des Absoluten und des Relativen auf dem Boden des Relativen, in einem Einzelwesen verwirklicht. Die Einheit Gottes und des historischen Jesus ist bedingt von Gott aus durch das vollkommene Eingehen des konkreten Momentes Gottes in den Zustand der Sündhaftigkeit, von Jesus aus durch die vollkommene Aufhebung seiner Selbstheit in die Einheit des göttlichen Lebens. […] Dennoch ist nicht die unmittelbare Einheit des ewigen göttlichen Lebens gesetzt, sondern in die Einheit ist das Moment der Einzelheit [sic] als selbständiges mit aufgenommen: Christus bleibt Mensch auch als Erhöhter und führt durch den Geist die Menschheit zurück zu Gott.³¹⁴
310 Tillich: ST I, 290 [251]. 311 Ebd., 289f. [250f.]. 312 Ebd., 289 [250]. Vgl. zu Jesus Christus als zentraler Manifestation des Reiches Gottes Abschn. 4.1 dieser Arbeit. 313 Ders.: ST III, 476 [421]. 314 Ders.: ST (1913), 348/364f. Vgl. zum komplexen und dynamischen Verständnis von „Einheit“ die in Abschn. 5.1 vorangegangenen Ausführungen zur an Bayers Kritik anschließenden Frage nach Tillichs Verständnis der essentiellen Einheit sowie zu Tillichs Verständnis des Paradoxons der Rechtfertigung als theologisches Prinzip Abschn. 6.2 dieser Arbeit.
5.3 Das Reich Gottes: Zeit, Ewigkeit und Trinität | 213
Die vorliegenden Ausführungen schließen sich dementsprechend nicht Interpretationen an, die den historischen Jesus bei Tillich als bedeutungslos einstufen, denn das Unbedingte erschließt sich für den Menschen ausschließlich im Geschichtlichen.³¹⁵ Die Selbst-Manifestation Gottes in Jesus Christus erschließt „Gott als Leben“³¹⁶ und dergestalt „die Bejahung des Anders-Seins in ihm […]. Das göttliche Leben muß dann verstanden werden als die Wiedervereinigung des Anders-Seins mit der Identität Gottes in einem ‚ewigen Prozeß‘“³¹⁷, denn „Leben“ erweist sich gemäß Tillich als „Prozeß des Herausgehens aus der Identität mit sich selbst und der Rückkehr zu sich selbst.“³¹⁸ Eben jenes Verständnis des Seins Gottes als Leben bildet gemäß Tillich das Fundament der christlichen Trinitätslehre, indem sie „die symbolische Übertragung der Dialektik der Lebensprozesse auf das göttliche Leben“³¹⁹ darstellt. Dementsprechend ist die Lehre von der Trinität nach Tillich weder irrational noch paradox, sondern dialektisch. Das Göttliche ist nie irrational – wenn „irrational“ bedeutet: der Vernunft widersprechend –, denn die menschliche Vernunft ist die endliche Manifestation des göttlichen logos. Nur der Übergang von der Essenz zur Existenz, der Akt der Selbst-Entfremdung, ist irrational. Die Lehre von der Trinität ist aber auch nicht paradox. Es gibt nur ein Paradox in der Beziehung zwischen Gott und Mensch, und
315 Vgl. hierzu auch die Argumentation in Bezug auf die Frage nach der Bedeutungslosigkeit der Geschichte unter Abschn. 5.1 dieser Arbeit. Das Verhältnis von Jesus Christus und der zweiten Person der Trinität wird in folgender Studie zur Christologie näher erarbeitet: Rößler, Andreas: Der Christus und die zweite Person der Trinität. Zur universalen Perspektive in Paul Tillichs Christologie, in: Danz (Hg.): Jesus of Nazareth and the New Being in History, Bd. 6, 15–32, 83ff. Weitere Bearbeitungen der Christologie mit Blick auf die Frage nach dem Stellenwert des historischen Jesus finden sich bei: Danz, Christian: Christologie als Selbstbeschreibung des Glaubens. Zur Neubestimmung der Christologie bei Karl Barth und Paul Tillich, in: Kerygma und Dogma 58.2 (2012), 132–146; Galles, Paul: Die theologisch-philosophische Vermittlung von Christus und Mensch in der „Systematischen Theologie“, in: Ders. (Hg.): Situation und Botschaft. Die soteriologische Vermittlung von Anthropologie und Christologie in den offenen Denkformen von Paul Tillich und Walter Kasper, Berlin und Boston 2012, 168–235; Danz, Christian: Glaube und Geschichte. Die Christologie Paul Tillichs und die neuere Jesus-Forschung, in: Ders. (Hg.): Jesus of Nazareth and the New Being in History, 121–142; Pannenberg: Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie in Deutschland; Wenz, Gunther: Theologie ohne Jesus? Anmerkungen zu Paul Tillich, in: Kerygma und Dogma 26.2 (1980), 128–139. 316 Tillich: ST III, 325 [284]. 317 Ebd. Vgl. zum Verhältnis des göttlichen Lebens zum Nicht-Sein auch Abschn. 5.1 dieser Arbeit. 318 Ebd., 335 [293]. Vgl. ausführlich zu Tillichs Verständnis des Lebensprozesses Kap. 2 dieser Arbeit. 319 Ebd., 326 [285].
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das ist die Erscheinung ihrer ewigen oder essentiellen Einheit unter den Bedingungen ihrer existentiellen Getrenntheit.³²⁰
Die trinitarischen Symbole spiegeln für Tillich vielmehr die Dialektik des Lebens wider, nämlich die Bewegung von Trennung und Wiedervereinigung. Die Behauptung, daß das Paradox der Trinität darin bestehe, daß in ihr „drei gleich eins“ und „eins gleich drei“ sei, ist eine Verzerrung des Geheimnisses der Trinität. Wird sie in solcher Weise numerisch aufgefaßt, führt sie zu einer sinnlosen Phrase. Wird die trinitarische Aussage aber als Beschreibung eines realen Prozesses verstanden, so ist sie weder paradox, noch irrational.³²¹
Tillich stellt damit den erklärenden Wert der klassischen Formel für die Trinität „ein Wesen – drei Personen“ in Frage, gemäß derer „die göttliche ‚Natur‘ (ousia) die gleiche in Gott und in seinem logos“, aber „die hypostatis […] verschieden [ist]. […] Der göttliche Geist ist ‚Gott als Geist gegenwärtig‘.“³²² Dabei meint nach Tillich [o]usia (substantia) […] in diesem Zusammenhang das, was eine Sache zu dem macht, was sie ist, und hypostatis (persona) […] die Macht, auf sich selbst zu stehen, und das bedeutet: Unabhängigkeit des Seins, durch die gegenseitige Liebe erst möglich wird. […] Aber wie kann das Unbedingte sich in mehr als einer göttlichen hypostasis ausdrücken, die, obwohl identisch in der Substanz, sich voneinander unterscheiden, insofern sie aufeinander bezogen sind?³²³
Demnach dürfte Tillich im Hinblick auf die klassische Terminologie Gott in seinem unabhängigen Sein als eine Person, als eine hypostasis, verstehen, die die Ewigkeit ihres göttlichen Lebens als Prozess vollzieht, in welchem sie sich als Seinsgrund, als Mittler zwischen Gott und Mensch sowie als vollendender Geist – traditionell formuliert als „Vater, Sohn, Geist“³²⁴ – manifestiert. Diese Personalität Gottes transzendiert die menschliche Personalität in analoger Weise zu den ontologischen Polaritäten³²⁵ insofern, als sie Grund allen personhaften Lebens ist und diesem dergestalt im logos Sein verleiht, aber als dessen Grund nicht in diesem aufgeht. Dafür spricht, dass Tillich Gott auch symbolisch als „Herr und
320 Tillich: ST III, 325f. [284f.]. 321 Ebd., 326 [kursiv C.D.] [285]. Vgl. zur Rechtfertigung allein aus Gnade Abschn. 3.3, Abschn. 5.2 sowie Abschn. 6.2 und zur Lehre von der Partizipation Gottes am Leiden der Kreatur Abschn. 5.2 dieser Arbeit. 322 Ebd., 331 [289]. 323 Ebd. 324 Vgl. ebd., 324 [283]. 325 Vgl. Abschn. 5.2 dieser Arbeit.
5.3 Das Reich Gottes: Zeit, Ewigkeit und Trinität | 215
Vater“³²⁶ bezeichnet. „Person“ müsste hier dann Tillich folgend in Bezug auf Gott dementsprechend gleichermaßen als Symbol verstanden werden, das in der Wahrung der Beziehung des Unbedingten zum Bedingten die Einheit des göttlichen Lebensprozesses in der Vielfalt seiner Selbst-Manifestationen ausdrücken soll. Tillichs Methode der Korrelation und seinem Verständnis des theologischen Zirkels folgend muss daher [w]ie jedes theologische Symbol, […] auch der trinitarische Symbolismus als Antwort verstanden werden – Antwort auf Fragen, die in der menschlichen Situation enthalten sind. Er ist die umfassendste Antwort […]. Die menschliche Situation, aus der die existentiellen Fragen aufsteigen, ist durch drei Begriffe charakterisiert: Endlichkeit – im Hinblick auf das essentielle Sein des Menschen als Geschöpf; Entfremdung – im Hinblick auf das existentielle Sein des Menschen in Zeit und Raum; Zweideutigkeit – im Hinblick auf die Partizipation des Menschen am universalen Leben.³²⁷
Dementsprechend beantwortet der trinitarische Symbolismus die Fragen der menschlichen Situation der Endlichkeit, der Entfremdung und der Zweideutigkeit: Die Fragen, die aus der Endlichkeit des Menschen entspringen, werden durch die Lehre von Gott und die in ihr gebrauchten Symbole beantwortet. Die Fragen, die aus der Entfremdung des Menschen entspringen, werden durch die Lehre vom Christus und die in ihr gebrauchten Symbole beantwortet. Die Fragen, die aus der Zweideutigkeit des Lebens entspringen, werden durch die Lehre vom Geist und ihre Symbole beantwortet. Jede dieser Antworten ist Ausdruck für unsere Beziehung zum Unbedingten, und jede dieser Antworten folgt aus einer besonderen Offenbarungs-Erfahrung. Ihre Wahrheit liegt in ihrer Macht, die Unbedingtheit des Unbedingten in jedem dieser Bereiche zum Ausdruck zu bringen.³²⁸
Gemäß Danz bindet Tillich damit die „überlieferte Trinitätslehre an die ‚Offenbarungssituation‘ (III 327) zurück“³²⁹, indem „die traditionelle immanente Trinitätslehre durch deren offenbarungstheologische Reformulierung ersetzt [wird].“³³⁰ Diese Offenbarungserfahrungen, in denen sich Gott selbst als lebendiger Gott und „nicht als eine[ ] tote Identität“³³¹ manifestiert, sind gemäß Tillich „ein Werk des göttlichen Geistes. Und ebenso ist die Erfahrung des göttlichen Seinsgrundes
326 Tillich: ST I, 329 [286]. 327 Ders.: ST III, 327 [285f.]. Vgl. ausführlich zu Tillichs Methode der Korrelation, seinem Verständnis des theologischen Zirkels, seinem Offenbarungsverständnis sowie dem Aufbau seiner Systematischen Theologie Unterabschn. 2.3.2 dieser Arbeit. 328 Ebd. 329 Danz: Die Gegenwart des göttlichen Geistes und die Zweideutigkeiten des Lebens, 255. 330 Ebd. 331 Tillich: ST III, 328 [286].
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in jedem Seiendem, die Erfahrung Jesu als des Christus und die […] Erhebung des menschlichen Geistes zu unzweideutigem Leben ein Werk des göttlichen Geistes.“³³² Deshalb ist nach Tillich das göttliche Leben auch als „Geist“ zu beschreiben, weil der Satz, „daß Gott Geist ist, bedeutet, daß das Leben als Geist das alles umfassende Symbol für das göttliche Leben ist“³³³, denn: Geist ist Einheit der ontologischen Elemente und als solche das telos des Lebens […]. Sein verwirklicht sich als Leben und erfüllt sich als Geist. […] Das Wort telos bezeichnet ein inneres, essentielles, notwendiges Ziel, das wodurch ein Wesen seine eigene Natur vollendet. Gott als der Lebendige ist Gott in sich selbst vollendet und darum Geist. Gott ist Geist. Das ist das umfassendste, direkteste und uneingeschränkte Symbol für das göttliche Leben.³³⁴
Somit steht „Geist“ als Symbol für das göttliche Leben in einer Hinsicht [für] das Ganze (Gott ist Geist) und in anderer Hinsicht [für] ein besonderes Prinzip (Gott hat den Geist, wie er den logos hat). Es ist der Geist, in dem Gott „aus sich selbst heraus“ geht. Der Geist kommt aus dem göttlichen Grund. Er verleiht Aktualität dem, was im göttlichen Leben potentiell ist und im göttlichen logos aussprechbar wird. Durch den Geist wird die göttliche Fülle aus dem göttlichen Grund herausgesetzt und wieder mit dem göttlichen Grund vereinigt. Das Endliche erscheint als Endliches im Prozeß des göttlichen Lebens, aber es wird mit dem Unendlichen im gleichen Prozeß wieder vereinigt.³³⁵
Der trinitarische Symbolismus fasst Gott somit nach Tillich als einen Lebensprozess, der sich durch den Geist dreifach „als schöpferische Macht, als erlösende Liebe und als Kraft […] [der vollendenden, C.D.] Verwandlung“³³⁶ erschließt. Daher erweist er sich als Ausdruck für die „Einheit in der Vielfalt göttlicher SelbstManifestationen“³³⁷ und begründet christlich „das Prinzip eines exklusiven Monotheismus“³³⁸, so dass das trinitarische Denken zum einen „die Spannung zwischen dem absoluten und dem konkreten Element in dem, was uns unbedingt angeht“³³⁹, wahrt, und zum anderen „die symbolische Anwendung des Begriffs
332 Tillich: ST III, 328 [286]. In der englischen Fassung heißt es statt „Werk des göttlichen Geistes“: „under the impact of the Spiritual Presence“. 333 Ders.: ST I, 288 [250]. 334 Ebd., 288 [249]. Vgl. zu Tillichs Verständnis von telos als Antwort auf die eschatologische Frage nach dem Sinn auch Unterabschn. 2.3.2, Unterabschn. 3.1.1 sowie Abschn. 5.1 dieser Arbeit. 335 Ebd., 290 [251]. 336 Ders.: ST III, 324 [283]. Vgl. zum Verhältnis von Tillichs Verständnis der göttlichen Liebe zum trinitarischen Symbolismus auch: Ders.: ST I, 323 [281f.]. 337 Ders.: ST III, 335 [293]. 338 Ebd., 329 [287]. 339 Ebd., 324 [283]. Vgl. zur Formulierung „was uns unbedingt angeht“ auch die Ausführungen zum Heiligen unter Abschn. 2.2 dieser Arbeit.
5.3 Das Reich Gottes: Zeit, Ewigkeit und Trinität | 217
‚Leben‘ auf den göttlichen Grund des Seins“³⁴⁰ ermöglicht. Die von Tillich in allen theologischen Teilen erörterte Spannung eines absoluten und eines konkreten Elementes bezieht eben jene irreduzibel aufeinander. Beispiele hierfür lassen sich in seiner Ekklesiologie in der Beziehung der Geistgemeinschaft zu den sichtbaren Kirchen³⁴¹ und auch seinem Gottesverständnis³⁴² finden, das Gott gleichermaßen als Sein-Selbst und als das, was uns unbedingt angeht, fasst.³⁴³ Die der universalen Entfremdung unterliegende geschichtlich-endliche Wirklichkeit darf nicht mit dem Unbedingten, dem Heiligen, Gott identifiziert werden, steht aber in ihrer geschöpflichen Konkretheit wesentlich zu ihm in Beziehung. Ein weiteres Beispiel ist Tillichs im Rahmen dieser Arbeit nicht näher ausgeführtes Verständnis der Sakramente, wobei in der Taufe die allem vorangehende Gegenwart des Neuen Seins³⁴⁴ und im Abendmahl die „Partizipation am Ewigen“³⁴⁵ erfahren wird. Die vorliegenden Ausführungen können deshalb dem Urteil Carl Heinz Ratschows, dass das absolute und das konkrete Element bei Tillich unausgeglichen und unvermittelt nebeneinander stehen, nicht folgen.³⁴⁶ Trotz der Infragestellung bleibt die Trinitätslehre nach Tillich „ein Werk des theologischen Denkens […]. Die Substanz alles trinitarischen Denkens ist in der Offenbarungs-Erfahrung gegeben, aber Methode und Form der Darstellung sind rational – wie alle Theologie als Werk des logos rational sein muß“³⁴⁷, da Offenbarungserfahrungen durch Selbstmanifestationen Gottes begründet werden, der als Grund alles Seienden die rationale Struktur der Wirklichkeit als Ganzer begründet.³⁴⁸ Gott erschließt somit dem Menschen in seiner endlichen Freiheit durch seinen Geist sich selbst in Jesus Christus als Grund alles geschöpflich Seienden und da-
340 Ebd. 341 Vgl. Abschn. 4.2 dieser Arbeit. 342 Vgl. Abschn. 5.1 dieser Arbeit. 343 Vgl. hierzu Tillich: ST I, 247ff. [211ff.]. 344 Vgl. Ders.: ST III, 251 [217]. 345 Ders.: ST II, 76f. [67]. Vgl. grundsätzlich zu Tillichs Sakramentenlehre: Ders.: ST III, 144ff. [120ff.]. 346 Vgl. Ratschow: Paul Tillich (1986), 126. 347 Tillich: ST III, 328 [286]. Eine ausführliche Bearbeitung der Frage nach Tillichs Verständnis der Trinitätslehre findet sich in folgender Aufsatzsammlung: Hummel, Gert/Lax, Doris (Hgg.): Trinität und, oder Quaternität. Tillichs Neuerschließung der trinitarischen Problematik, Münster 2004. Eine Studie, die Tillichs trinitarischen Ansatz in Bezug auf Chancen für den interreligiösen Dialog erschließt, findet sich in: Lai, Pan-Chiu: Towards a trinitarian theology of religions. A study of Paul Tillich’s Thought, Kampen 1994. 348 Vgl. zum Verhältnis der rationalen Struktur der Wirklichkeit und Offenbarung Unterabschn. 2.3.2 sowie zur Trinitätslehre bei Tillich auch Abschn. 6.1 dieser Arbeit.
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mit das durch ihn aktualisierte Ewige Leben als Leben in Gott als telos der gesamten Geschöpfwelt. Diese Offenbarungserfahrung des trinitarischen Gottes erweist sich als Antwort auf die sich aus der Situation des Menschen ergebende eschatologische Frage nach dem inneren Ziel, dem telos, von allem, das ist, indem die Frage nach einem unzweideutigen Leben angesichts der Zweideutigkeit des geschichtlichen Lebens in die Hoffnung auf ein Ewiges Leben in Gott überführt wird, in welchem alles endliche Seiende gemäß der von ihm aktualisierten Erfüllung seines essentiellen Seins eine graduelle Essentifikation erfährt, so dass „der Weltprozeß für Gott Bedeutung [erhält].“³⁴⁹ Das in die Ewigkeit des göttlichen Lebens erhobene geschöpfliche Leben verliert im Angesicht der universalen Zentriertheit Gottes aufgrund der göttlichen Liebe nicht seine einzelnen Zentren und bildet in Abgrenzung zu Bayer keine differenzlose Einheit mit dem göttlichen Leben³⁵⁰, sondern vollzieht in seiner Geschöpflichkeit im Gesamtzusammenhang alles Geschöpflichen den Weg von der Essenz über die existentielle Entfremdung zur Essentifikation […]. Es ist der Weg vom bloß Potentiellen über die aktuelle Trennung zur Wiedervereinigung und Erfüllung, die die Trennung von Aktualität und Potentialität transzendiert. […] Mit der Erschaffung in die Zeit ist die Möglichkeit zur Selbst-Verwirklichung, zur Entfremdung und zur Wiederversöhnung für die Kreatur gegeben, was – in eschatologischer Terminologie – dasselbe ist wie der Weg von der Essenz über die Existenz zur Essentifikation.³⁵¹
Hans Schwarz sieht in diesem Zusammenhang bei Tillich die Gefahr der Idee einer ewigen Wiederkehr gegeben bzw. das Missverständnis einer eschatologischen Rückkehr ins Paradies anstelle der Vollendung.³⁵² Da sich gemäß dieser Arbeit in Tillichs Systematischer Theologie die Erfüllung der Schöpfung in der transzendenten Dimension des Reiches Gottes als Sinn der Geschichte erweist, Tillich die Idee einer ewigen Wiederkehr als ungeschichtlich eingestuft³⁵³ und im Ewigen Leben die endgültige Überwindung der Zweideutigkeiten sieht, können sich die vorliegenden Ausführungen der Einschätzung von Schwarz nicht anschließen. Die Erfüllung des göttlichen Lebens in Form der ewigen Aktualisierung der durch es selbst begründeten essentiellen Potentialitäten als ewige Seligkeit, in 349 Tillich: ST III, 476 [422]. 350 Vgl. zu Bayers Kritik Abschn. 5.1 dieser Arbeit. 351 Tillich: ST III, 475f. [421f.]. Vgl. zum Erhalt der einzelnen Zentren durch die Liebe Gottes auch Abschn. 5.1 dieser Arbeit. 352 Vgl. Schwarz: Der Stellenwert der Eschatologie in der Theologie Paul Tillichs, 226. Eine ähnliche Interpretation in Bezug auf die Idee der ewigen Wiederkehr bietet: Nuovo, Victor: Is Eternity the Proper End of History?, in: Hummel (Hg.): New Creation or Eternal Now – Neue Schöpfung oder Ewiges Jetzt, 234–244. 353 Vgl. Abschn. 3.3 dieser Arbeit.
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welcher das Negative in Ewigkeit überwunden ist, erweist sich im Sinne einer ewigen Schöpfung als ein Akt der Liebe, die ihre Erfüllung erst in einem Anderen findet, der die Freiheit hat, die Liebe abzulehnen oder anzunehmen. Gott treibt sozusagen auf Aktualisierung und Essentifikation alles dessen zu, was Sein hat. Denn die ewige Dimension dessen, was im Universum geschieht, ist das göttliche Leben selbst. Es ist der Inhalt der göttlichen Seligkeit.³⁵⁴
Gott erhebt das Geschöpfliche als den in ihm begründeten Gegenstand seiner Liebe in seiner geschöpflichen Differenz durch seine Schöpfung, die Überwindung der Entfremdung unter den Bedingungen der Zweideutigkeit sowie die Essentifikation in die Ewigkeit seines göttlichen Lebens – in sein Reich.³⁵⁵ Das entspricht Tillichs Auffassung, dass der Sinn von Endlichkeit Geschöpflichkeit ist, die in der Ewigkeit des göttlichen Lebens ihre Erfüllung finden darf.³⁵⁶ Deshalb bezeichnet Tillich seine Position auch einen „eschatologischen Pan-en-theismus“³⁵⁷, in dem gemäß Matern das Symbol des lebendigen Gottes und dasjenige des ewigen Lebens als inneres Ziel des geschöpflichen Seins im Sinne eines unendlich differenzierten Absoluten zusammenfallen.³⁵⁸ Diese Aussagen „über das göttliche Leben und seine Beziehung zum Leben des Universums“³⁵⁹ übersteigen nach Tillich nicht „die Möglichkeit menschlicher Aussagen […], selbst innerhalb des ‚theologischen Zirkels‘ [nicht]“³⁶⁰, denn: Indem „die Theologie […] sich symbolischer Ausdrücke bedient“³⁶¹, vermeidet sie „die Gefahr, das letzte Mysterium [Gott] der Subjekt-Objekt-Struktur zu unterwerfen, die Gott zu einem Gegenstand machen würde, der analysiert und beschrieben werden kann.“³⁶² Darüber hinaus zeigt sich in den Aussagen über das zu erhoffende Ewige Leben im göttlichen Leben „die Bejahung der absoluten Ernsthaf-
354 Tillich: ST III, 476 [422]. 355 Vgl. ausführlich zu Tillichs Verständnis des Symbols „Reich Gottes“, in welchem inner- und überschichtliche Wirklichkeit verbunden sind und das im Hinblick auf den schöpferischen Gesamtzusammenhang von universaler Bedeutung ist, die auch politisch und sozial beschrieben werden kann, indem dem Einzelnen ein unbedingter Wert im Gesamtgefüge des Geschöpflichen zukommt, Abschn. 3.3 dieser Arbeit. 356 Vgl. zu diesem Verständnis von Geschöpflichkeit Tillich: ST I, 291 [252] sowie Unterabschn. 3.1.1 dieser Arbeit. 357 Ders.: ST III, 475 [421]. 358 Vgl. Matern: Das Reich Gottes innerhalb der Geschichte und als Ziel der Geschichte, 303. 359 Tillich: ST III, 476 [422]. 360 Ebd. 361 Ebd. 362 Ebd.
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tigkeit des Lebens im Lichte des Ewigen“³⁶³, weil „eine Welt, die nur außerhalb Gottes wäre und nicht auch in ihm, […] letzten Endes ein göttliches Spiel ohne wesentliche Bedeutung für Gott [wäre].“³⁶⁴ Des weiteren lässt sich für Tillich ausschließlich durch ein „theozentrisches Bild vom Sinn der Existenz“³⁶⁵ das Missverständnis vermeiden, dass „die religiösen Symbole [nur] Schöpfungen menschlicher Wünsche und Einbildungen seien“³⁶⁶, da Symbole wie „Ewiges Leben“ und „Reich Gottes“ als Sinn der Geschichte ihren Grund in der Offenbarungserfahrung von Gottes Selbst-Manifestation haben und sich nur so „als Antworten auf Fragen […], die in der menschlichen Existenz liegen“³⁶⁷, verstehen lassen. Aus diesem Grund bleiben die vorliegenden Ausführungen skeptisch gegenüber Interpretationen, die Tillichs Symboltheologie schwerpunktmäßig wie Danz als „Geschehen reflexiver Selbsterschlossenheit“³⁶⁸ begreifen, durch das sich der „Glaubensakt […] in diesen Symbolen selbst dar[stellt].“³⁶⁹ In solchen Formulierungen scheint das subjektive Moment überbetont zu sein und es entsteht der Eindruck, dass die theologischen Symbole eben mit Tillich gesprochen zu Schöpfungen menschlicher Wünsche und Einbildungen werden könnten. Für Tillich ist es wichtig, „daß wir eschatologische Symbole gebrauchen, die uns vom Menschen ab- und zu Gott hinwenden und auf diese Weise den Menschen in seiner Bedeutung für das göttliche Leben und seine ewige Herrlichkeit und Seligkeit zeigen.“³⁷⁰ Auf diese Weise vermag das Ewige Leben in Gott oder auch das Ewige Leben in seinem Reich, im Reich Gottes, als Erfüllung des Sinns der Geschichte Gegenstand der christlichen Hoffnung zu sein. Im Folgenden sollen nun die Ergebnisse der vorangegangenen Analyse von Tillichs in seiner Systematischen Theologie formulierten Eschatologie zunächst zusammenfassend mit Blick auf die Frage nach dem Sinn der Geschichte ausgewertet und daran anschließend auf die eschatologischen Grundlinien in seinen der Systematischen Theologie vorausgegangenen Schriften bezogen werden.
363 Tillich: ST III, 476 [422]. 364 Ebd. 365 Ebd., 477 [422]. 366 Ebd., 477 [423]. Mit der Begründung der religiösen Symbole in der Offenbarungserfahrung formuliert Tillich ein Argument gegen einen religiösen Konstruktivismus. Vgl. hierzu auch Abschn. 6.3 dieser Arbeit. 367 Ebd., 477 [422f.]. 368 Danz: Die Gegenwart des göttlichen Geistes und die Zweideutigkeiten des Lebens, 256. 369 Ebd. 370 Tillich: ST III, 477 [423].
6 Auswertung: Erfüllung als Sinn der Geschichte 6.1 Die Eschatologie in Paul Tillichs Systematischer Theologie Der Mensch ist nach Tillich das einzige Wesen, von dem wir sagen können, dass sich in ihm Geist aktualisiert. Jener Geist bewirkt, dass der Mensch als vollzentriertes Selbst, das eine Welt hat, zu der es gehört, seiner Endlichkeit im Angesicht eines Unbedingten gewahr wird, indem der Geist ihn über sein endliches Leben hinaustreibt und auf ein Unbedingtes bezieht. Dergestalt erfährt sich der Mensch im Hinblick auf dieses Unbedingte im Rahmen der für ihn unhintergehbaren ontologischen Grundstruktur der Selbst-Welt-Korrelation als vom Nicht-Sein bedroht: In den ontologischen Spannungen Individualisation und Partizipation, Dynamik und Form sowie Freiheit und Schicksal sieht er sich mit der Möglichkeit einer vollständigen Isolation, einer vollkommenen Kollektivierung, einer endgültigen Form, chaotischer Formlosigkeit, vollkommener Willkür oder aber vollkommener Determiniertheit konfrontiert, was für ihn jeweils die Zerstörung seiner Selbst-Welt-Korrelation, die Aufhebung seiner ontologischen Grundstruktur und damit Nicht-Sein zur Folge hätte. Eben jene Möglichkeit des Nicht-Seins zeigt sich dem Menschen in Bezug auf die ontologischen Kategorien Zeit, Raum, Substanz und Kausalität in Gestalt der existentiellen Angst vor der Vergänglichkeit, Ortlosigkeit, Sinnlosigkeit sowie des ihm drohenden Identitätsverlustes. Dementsprechend unterliegt der sein potentielles Sein fortwährend in der Dimension des Geistes als Moralität, Kultur und Religion aktualisierende Lebensprozess in seiner fundamentalen Struktur von Selbst-Identität, Selbst-Veränderung und Rückkehr-zusich-selbst mit seinen grundlegenden Lebensfunktionen der Selbst-Integration unter dem Prinzip der Zentriertheit, des Sich-Schaffens unter dem Prinzip des Wachstums und der Selbst-Transzendierung unter dem Prinzip des Heiligen, die ihn seine Beziehung zum Unbedingten aktualisieren lässt, der Zweideutigkeit durch Desintegration, Zerstörung und Profanisierung. Da sich im Menschen Geist aktualisiert, der ihn über sein endliches Leben hinaustreibt, erfasst er seine endliche Existenz im Angesicht eines Unbedingten im universalen Gesamtzusammenhang alles endlich Seienden im Rahmen seiner Entwicklung, in die er als vollzentriertes Selbst, das eine Welt hat, zu der es gehört, wesentlich einbezogen ist. Eben jene Entwicklung bildet im Sinne Tillichs die geschichtliche Dimension alles endlich Seienden, wobei ausschließlich der Mensch in der Dimension des Geistes die Entwicklung des universalen Gesamtzusammenhanges, in die er selbst einbezogen ist, als solche erfasst, indem ihm als vollzentriertes Selbst Geschichtsbewusstsein zukommt, durch das er im Rahmen von Geschichtsschreibung geschichtliche Ereignisse in Bezug auf die entsprechende gehttps://doi.org/10.1515/9783110733181-006
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schichtliche Gruppe von Menschen wahrnehmen und interpretieren kann. Demnach erlangt die geschichtliche Dimension erst in der menschlichen Geschichte Eigenständigkeit, weshalb Tillich die in allen Lebensprozessen gegenwärtige geschichtliche Dimension von der menschlichen Geschichte unterscheidet, in der sich allein durch das Erfassen der Entwicklung des universalen Gesamtzusammenhangs innerhalb der ontologischen Grundstruktur Geist aktualisiert und die dergestalt alle anderen Dimensionen des Lebens – von der anorganischen oder auch materiellen Dimension bis hin zur Dimension des Geistes – umfasst. Durch die Geschichtsschreibung ordnet der Mensch einzelne geschichtliche Vorgänge, die sich durch die Aktualisierung der sich Zwecke setzenden endlichen Freiheit des Menschen vor dem Hintergrund des universalen Gesamtzusammenhangs ereignen, zu einem die einzelnen Vorgänge und menschlichen Zwecke in Beziehung zu einem Unbedingten auf ein letztgültiges telos hin transzendierenden, sinnhaften Strukturganzen. Dergestalt aktualisiert die Geschichte Geist, der die Geschichte über ihre Endlichkeit hinaustreibt. In diesem Sinne bildet die Geschichte nach Tillich den umfassendsten Lebensprozess, der sich analog zum Lebensprozess des einzelnen Menschen in der grundlegenden Struktur von Selbst-Identität, Selbst-Veränderung und Rückkehr-zu-sich-selbst in den grundlegenden Lebensfunktionen von Selbst-Integration, Sich-Schaffen und SelbstTranszendenz mit den jeweiligen Prinzipien der Zentriertheit, des Wachstums und des Heiligen vollzieht. Somit unterliegt auch die Geschichte als umfassendster Lebensprozess durch die Möglichkeit von Desintegration, Zerstörung und Profanisierung im Angesicht des drohenden Nicht-Seins der Zweideutigkeit.¹ Indem der Mensch Geist aktualisiert, sich selbst transzendiert und sich seiner Endlichkeit im Angesicht eines Unbedingten gewahr wird, vermag er existentiell nach dem zu fragen, was der in der ontologischen Grundstruktur begründet liegenden Dualität von Selbst und Welt als Grund alles endlich Seienden vorausgeht, was die Quelle des Mutes ist, durch den er die Angst vor dem Nicht-Sein auf sich nehmen kann, und was unzweideutiges Leben jenseits der Bedrohung durch Desintegration, Zerstörung und Profanisierung möglich macht. Diese Frage nach der Möglichkeit von unzweideutigem Leben erscheint im Lichte der als Geschichte erfassten Entwicklung des universalen Gesamtzusammenhanges alles endlich Seienden als Frage nach dem Grund oder auch Sinn der endlichen Existenz, als Frage nach einem alles Endliche transzendierenden, letztgültigen Sinn der Geschichte, in dem jede Bedrohung des Lebens durch mögliches Nicht-Sein und damit alle
1 Vgl. zu dieser Zusammenfassung von Tillichs Verständnis der Geschichte als umfassendstem Lebensprozess die ausführliche Analyse unter Kap. 2, Abschn. 2.1, Abschn. 2.2 sowie 2.3 dieser Arbeit.
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Zweideutigkeit überwunden ist. Während eben jene Fragen als Fragen wesentlich zum Menschen als vollzentriertes, sich selbst transzendierendes Selbst gehören, kann er die Antworten auf die genannten existentiellen Sinnfragen aufgrund seiner unaufhebbaren Bindung an die ontologische Grundstruktur der Selbst-WeltKorrelation nicht selbst formulieren. Denn auch wenn der Geist den Menschen in seiner endlichen Freiheit über sein endliches Leben in Bezug auf ein Unbedingtes hinaustreibt, bleibt der Mensch gebunden an seine endliche Existenz, so dass seine Selbst-Transzendierung unter dem Prinzip des Heiligen, in welcher er seine Beziehung zum Unbedingten erfasst, die Endlichkeit seiner Existenz nicht aufhebt, weil eine Beziehung des Endlichen zum Unbedingten als Grund alles endlich Seienden eine Differenz von Endlichem und Unbedingtem voraussetzt.² Dementsprechend enthält jede Geschichtsschreibung aufgrund des menschlichen Geschichtsbewusstseins ein subjektives Element, durch das die sich objektiv oder auch faktisch ereignenden geschichtlichen Vorgänge auf ein letztgültiges, die geschichtliche Endlichkeit transzendierendes telos hin als geschichtlich relevante Ereignisse interpretiert werden. Deshalb erweist sich gemäß Tillich jedes Geschichtsverständnis und damit jede Antwort auf die Frage nach dem die Endlichkeit der Geschichte transzendierenden telos aufgrund ihrer Bindung an die Endlichkeit des Menschen wesentlich als vorläufig und perspektivisch, niemals als endgültig und absolut. Die Herausforderung eines Geschichtsverständnisses besteht demnach Tillich folgend darin, die Beziehung des Bedingten zum Unbedingten, des Vorläufigen zum Endgültigen einerseits mit Blick auf die Letztgültigkeit ihres telos zu erfassen und andererseits gleichzeitig die Differenz von Bedingtem und Unbedingtem zu wahren, indem endliche Einsichten und Gewissheiten nicht verabsolutiert werden. Damit ein Geschichtsverständnis eben jener Spannung der Beziehung von Bedingtem und Unbedingtem gerecht wird, ohne deren Differenz aufzuheben, hat ein Geschichtsverständnis nach Tillich die alle anderen existentiellen Fragen beinhaltende Frage nach einem letzten telos, einem letzten die Geschichte in ihrer Endlichkeit transzendierenden Sinn im Angesicht des drohenden Nicht-Seins im Sinne einer zu erhoffenden endgültigen Überwindung der Zweideutigkeiten des Lebens grundsätzlich in einer Weise zu bejahen³, in der der Geschichte in ihrer Endlichkeit und Vorläufigkeit im Hinblick auf die Verwirklichung des die Endlichkeit der Geschichte transzendierenden telos Bedeutung zukommt.
2 Vgl. zu Tillichs Verständnis der existentiellen Fragen des Menschseins auch Unterabschn. 2.3.2 dieser Arbeit. 3 Vgl. hierzu auch Abschn. 3.3 dieser Arbeit wie auch Rolinck: Geschichte und Reich Gottes, 230–267.
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Daher lehnt Tillich die Vorstellung der Negation eines die Geschichte transzendierenden Sinnes beispielsweise in Form der Idee einer ewigen Wiederkehr, eines innerhalb des universalen Gesamtzusammenhanges der Geschichte zu verwirklichenden telos zum Beispiel in Gestalt eines evolutionären Fortschritts sowie eines die geschichtliche Wirklichkeit von der transzendenten Verwirklichung ausschließenden telos ab, da dergestalt die Beziehung des Endlichen zum Unbedingten nicht angemessen berücksichtigt und damit profanisiert wird. Dementsprechend expliziert Tillich in seiner Systematischen Theologie das christliche Geschichtsverständnis mit dem Anspruch, die christliche Antwort auf die existentielle Frage nach dem Sinn der Geschichte so herauszuarbeiten, dass sie grundlegend die Beziehung des Bedingten zum Unbedingten wahren und ein die Zweideutigkeiten des Lebens endgültig überwindendes telos der Geschichte bejahen kann, das die geschichtliche Wirklichkeit transzendiert und diese gleichermaßen in sich aufnimmt.⁴ Eine solche Explikation des christlichen Geschichtsverständnisses lässt sich nach Tillich im Hinblick auf die Frage nach dem Sinn der Geschichte wie folgt vornehmen: 1) Da der Mensch in seiner Endlichkeit die Antworten auf die existentiellen Fragen nach dem Unbedingten nicht selbst herleiten kann, ist er darauf angewiesen, dass sich ihm das Unbedingte selbst offenbarend in Korrelation zu den existentiellen Fragen des Menschseins erschließt. Dementsprechend ist es Tillich folgend Aufgabe der christlichen Theologie, durch die von ihm so bezeichnete Methode der Korrelation eben jenen Inhalt der Offenbarung des Unbedingten in Korrelation zu den existentiellen Fragen und auch die existentiellen Fragen im Lichte der Offenbarung des Unbedingten zu explizieren. Dadurch bewegt sich die Theologie in einem theologischen Zirkel, der die Beziehung des Endlichen zum Unbedingten zu wahren sucht, indem die Offenbarung des Unbedingten den Grund der Theologie, welche selbst endlich und vorläufig bleibt, bildet. Im Bewusstsein dieser Vorläufigkeit der Theologie in ihrer Beziehung zum Unbedingten bezeichnet Tillich die traditionellen Inhalte des christlichen Glaubens als religiöse Symbole, weil nach Tillichs Verständnis religiöse Symbole im Zusammenhang der Selbst-Transzendierung des endlichen Lebens in der Dimension des Geistes gleichermaßen auf das Unbedingte, das sie symbolisieren, und das Endliche, durch das sie es symbolisieren, ausgerichtet sind. Dergestalt partizipiert das Symbol an der Wirklichkeit dessen, das es symbolisiert, so dass das Symbol die Differenz von Bedingtem und
4 Vgl. zu Tillichs Erörterung der in der Geschichte liegenden Frage nach dem Sinn der Geschichte die ausführliche Analyse unter Kap. 3 dieser Arbeit.
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Unbedingtem nicht aufhebt und die Beziehung von Bedingtem und Unbedingtem auszudrücken vermag. Demnach darf sich die Theologie im Lichte der Offenbarung des Unbedingten nicht selbst verabsolutieren und hat die traditionellen christlichen Symbole, deren Konstitution im Offenbarungsgeschehen – nicht in der Theologie – begründet liegt, im Sinne der Methode der Korrelation auszulegen. Somit bewegen sich die von Tillich formulierten existentiellen Fragen wie auch der von Tillich formulierte Anspruch, dass ein Geschichtsverständnis der Beziehung von Bedingtem und Unbedingtem durch die Bejahung eines die Zweideutigkeiten des Lebens überwindenden telos, dessen Verwirklichung die Geschichte in ihrer Endlichkeit sowohl transzendiert als auch sie in sich aufnimmt, gerecht werden sollte, bereits innerhalb dieses im Offenbarungsgeschehen gründenden theologischen Zirkels.⁵ 2) Jenes Offenbarungsgeschehen ist für die christliche Theologie das, was Tillich als christliches Ereignis bezeichnet: die geschichtliche Selbstmanifestation des Unbedingten in Jesus als dem Christus. Tillichs Geschichtsverständnis entsprechend zeigt sich eben jene Selbstmanifestation des Unbedingten in Jesus Christus als ein sich geschichtlich objektiv ereignender Vorgang – als ein Faktum – und aufgrund des subjektiv-interpretativen Geschichtsbewusstseins als Gegenstand der gläubigen Aufnahme durch den Menschen. Diese gläubige Aufnahme des geschichtlichen Faktums der Selbstmanifestation des Unbedingten erschließt dem Menschen in Jesus Christus Antworten auf seine existentiellen Fragen, weshalb sie wegen der Angewiesenheit des Menschen auf die Selbsterschließung des Unbedingten zusammen mit der faktischen Selbstmanifestation in Jesus Christus selbst als wesentliches Element der Selbsterschließung des Unbedingten zu verstehen ist und somit nicht vom endlichen Menschen konstituiert wird. In der gläubigen Aufnahme erschließt sich die Selbstmanifestation des Unbedingten in Jesus Christus als einmaliger kairos, als Augenblick in der Geschichte, der den Anspruch erhebt, eine letztgültige Manifestation des Unbedingten zu sein. Auch hier ist Tillich folgend die Differenz von Bedingtem und Unbedingtem zu wahren: Während die gläubige Aufnahme im Zusammenhang der Zweideutigkeit des geschichtlichen Lebens geschieht und somit in der geschichtlichen Religion als Funktion des Geistes wesentlich „vorläufig, fragmentarisch und wandelbar“⁶ bleibt, erweist sich das das Fundament des christlichen Glaubens bildende Ereignis
5 Vgl. zu dieser Zusammenfassung der Methode der Korrelation und des Symbolbegriffes die ausführliche Analyse unter Unterabschn. 2.3.2 dieser Arbeit. 6 Tillich: ST I, 174 [146].
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der Selbstmanifestation des Unbedingten in Jesus Christus als „letztgültig, vollkommen und unwandelbar“⁷. 3) In diesem Sinne erschließt das christliche Ereignis der Selbstmanifestation des Unbedingten in Jesus Christus dem Menschen die wesentlichen Antworten auf seine existentiellen Fragen: In Jesus Christus offenbart sich Gott als unbedingter Grund alles endlich Seienden, als Sein-Selbst, als das, was der ontologischen Grundstruktur und damit der Dualität von Selbst und Welt begründend vorausgeht. Dementsprechend erweist sich alles endlich Seiende als Geschöpf Gottes. In eben jener Geschöpflichkeit liegt demnach der Sinn alles Endlichen als etwas das in seiner Differenz als endlich Seiendes wesentlich in Beziehung zu Gott als dem Grund alles Endlichen steht. Somit bilden Gott und Geschöpf, Unbedingtes und Bedingtes, gemäß der Selbstmanifestation Gottes in Jesus Christus keine differenzlose Einheit, sondern vollziehen eine lebendige Beziehung, indem Gott als Schöpfer des universalen Gesamtzusammenhangs als Strukturganzem an der ontologischen Grundstruktur des Endlichen als deren Grund partizipiert, diese jedoch konstitutiv als deren Grund transzendiert. In Jesus Christus als personhaftem Leben erschließt sich Gott in seinem Sein wesentlich als Leben, das sich in seiner begründenden Unbedingtheit vom geschöpflichen, endlichen Leben unterscheidet, aber an eben diesem teilnimmt und dergestalt in ihm fortwährend gegenwärtig ist. Die Beziehung von göttlichem und geschöpflichem Leben zeigt sich in Jesus Christus in Bezug auf den Menschen in Form der Potentialität, Gottes Ebenbild aktualisieren zu können, indem der Mensch in seiner geschaffenen Natur als vollzentriertes und vollindividualisiertes Selbst innerhalb der ontologischen Grundstruktur endliche Freiheit im Rahmen eines universalen Schicksals in der Dimension des Geistes durch die Kraft zur Gemeinschaft mit Gott, dem rechten Verhalten gegenüber anderen Geschöpfen sowie gegenüber sich selbst in Moralität, Kultur und Religion als Funktionen des Geistes zu aktualisieren vermag.⁸ Eben jene Kraft zur Gemeinschaft von Lebensprozessen, die keine undifferenzierte Identität bilden, sondern vor dem Hintergrund der ontologischen Polaritäten Individualisation und Partizipation, Dynamik und Form sowie Freiheit und Schicksal ein eigenes individualisiertes Zentrum bilden, das am universalen Gesamtzusammenhang alles Seienden partizipiert, ist nach Tillich als Liebe im Sinne von agape zu verstehen, wobei die menschliche Fähigkeit zur Liebe 7 Ebd. Vgl. zu dieser Zusammenfassung von Jesus Christus als kairos die ausführliche Analyse unter Abschn. 4.1 dieser Arbeit. 8 Vgl. zu dieser Zusammenfassung von Tillichs Verständnis der Bestimmung des Menschen zum Ebenbild Gottes die ausführliche Analyse unter Unterabschn. 3.1.1 dieser Arbeit.
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ihren Grund in der Potentialität zum Ebenbild Gottes hat, da alles Geschöpfliche mit seinen Potentialitäten der schöpferischen Liebe Gottes entspringt, welche die einzelnen Zentren des endlichen Lebens in einer Weise schafft und erhält, die gleichzeitig göttliches und geschöpfliches Leben miteinander eint. Diese in Jesus Christus offenbar werdende schöpferische Liebe Gottes erweist sich Tillich folgend gleichermaßen als Drang zur Wiedervereinigung des Getrennten, denn an Jesus Christus zeigt sich mit der Essenz des geschöpflichen Seins gleichermaßen die von ihrer geschöpflichen Essenz entfremdete Existenz des Menschen und damit alles endlich Seienden.⁹ Das zentrale Merkmal der existentiellen Entfremdung des Menschen besteht nach Tillich in der Entzweiung oder auch Zerrissenheit seiner essentiellen geschöpflichen Beziehungen zu Gott, anderen Geschöpfen und sich selbst, die er als sich von Gott als dem Grund alles Seienden abwendenden Unglauben, als seine Endlichkeit im Angesicht einer potentiellen Unendlichkeit nicht anerkennenden hybris und als Konkupiszenz, sich selbst zum Zentrum alles Seienden erheben zu wollen, vollzieht.¹⁰ Im Versuch einer solchen Selbstüberhebung geraten für den Menschen die Elemente der ontologischen Polaritäten in Konflikt, da Partizipation, Form und Schicksal als Elemente erscheinen, die die Selbstzentriertheit des menschlichen Seins in Individualisation, Dynamik und Freiheit in Frage stellen. Auf diese Weise erfährt der Mensch seine Existenz als Selbst, das eine Welt hat, zu der es gehört, aufgrund seiner von seinem essentiellen Sein entfremdeten Existenz im Angesicht einer möglichen Auflösung seiner Selbstzentriertheit durch eine vollkommene Kollektivierung oder auch Isolation, durch eine endgültige Form oder auch eine chaotische Formlosigkeit sowie durch vollkommene Willkür oder auch Determiniertheit als durch das die ontologische Struktur seines Seins zerstörende Nicht-Sein bedroht. Eben jene scheinbare Selbstwidersprüchlichkeit der ontologischen Grundstruktur, die die menschliche Existenz durch Vergänglichkeit, Ortlosigkeit, Sinnlosigkeit und Identitätsverlust bedroht, erweist sich im Hinblick auf Gottes Selbstmanifestation in Jesus Christus als Folge der Entfremdung des Menschen von seinem essentiellen Sein, in welchem ihm die Potentialität, das Ebenbild Gottes im Rahmen der ontologischen Struktur der Endlichkeit aktualisieren zu können, zukommt. Der geschöpfliche Lebensprozess mit seinen essentiellen Lebensfunktionen der Selbst-Integration, des Sich-Schaffens und der
9 Vgl. zu dieser Zusammenfassung von Tillich Verständnis der agape die ausführliche Analyse unter Abschn. 5.1 dieser Arbeit. 10 Vgl. zu Tillichs Verständnis von „Entfremdung“ Unterabschn. 2.3.1 sowie zu Unglaube, hybris und Konkupiszenz als Merkmalen der Entfremdung als Merkmalen der Entfremdung Abschn. 5.1 dieser Arbeit.
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Selbst-Transzendierung in Moralität, Kultur und Religion wird im Zuge der existentiellen Entfremdung durch Desintegration, Zerstörung und Profanisierung zweideutig, indem Leben sich einerseits essentiell als Aktualisierung potentiellen Seins und andererseits existentiell als mögliche Negation eben dieser essentiellen Bestimmtheit zur Aktualisierung potentiellen Seins zeigt. In seiner existentiellen Entfremdung verwechselt der Mensch in Unglaube, hybris und Konkupiszenz Endliches mit Unbedingtem, Vorläufiges mit Endgültigem, und stellt sich dergestalt nicht der Differenz zwischen Gott als dem unbedingten Grund alles Seienden und der Endlichkeit alles Geschöpflichen, was den Vollzug seiner endlichen Existenz durch seine vermeintliche Trennung von Gott als dem unbedingten Grund alles Seienden profanisiert. Da sich die endliche Existenz des Menschen in Beziehung zum schöpferischen Gesamtzusammenhang und somit in Beziehung zur Gesamtheit alles geschöpflich Seienden ereignet, erstreckt sich gemäß des christlichen Geschichtsverständnisses die Entfremdung der endlichen Existenz nicht ausschließlich auf den einzelnen Menschen, sondern auch auf den geschichtlichen Gesamtzusammenhang alles endlich Seienden in seiner Geschöpflichkeit. Die existentielle Zweideutigkeit, gemäß derer die essentiellen Potentialitäten alles Geschöpflichen erfüllt oder auch nicht erfüllt werden können, erweist sich für den Menschen innergeschichtlich als nicht aufzuhebendes universales Schicksal der Geschichte, innerhalb dessen sich seine endliche Freiheit aktualisiert. Weil sich der Mensch in seiner Bindung an die ontologische Grundstruktur jenem Schicksal der Geschichte nicht entziehen kann, fragt er angesichts des drohenden Nicht-Seins aufgrund seiner SelbstTranszendierung nach einem Sein, das den Zwiespalt von essentiellem und existentiellem Sein überwindet sowie die Sinnhaftigkeit der ontologischen Grundstruktur erschließt. Nach christlichem Verständnis findet der Mensch die Antwort auf diese Frage im christlichen Ereignis der Selbstmanifestation Gottes in Jesus Christus, der jenen Zwiespalt in einem Neuen Sein überwindet, Geschöpflichkeit als Sinn der Endlichkeit und damit die Wiedervereinigung des im Zuge der Profanisierung Getrennten offenbart, indem in ihm die Beziehung von Unbedingtem und Bedingtem, von Schöpfer und Geschöpf, für den Menschen durch die gläubige Aufnahme als Faktum erschlossen wird. Dementsprechend zeigt der in Christus überwundene Zwiespalt von Essenz und Existenz des geschöpflichen Seins die universale Entfremdung, den die Existenz von ihrer Essenz entfremdenden Übergang oder auch den Sündenfall des schöpferischen Gesamtzusammenhanges nicht als in der Essenz der ontologischen Grundstruktur liegende strukturelle Notwendigkeit des Selbstwiderspruches, sondern als universales Schicksal, im Rahmen dessen sich
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die Überwindung des gerade nicht notwendigen Zwiespalts von Essenz und Existenz ereignen kann. Im Zuge dieser Überwindung des Zwiespalts von Essenz und Existenz in Jesus Christus eröffnet sich im Hinblick auf die existentielle Frage des Menschen nach einem universalen unzweideutigen Leben durch den Einbruch des göttlichen Geistes in den menschlichen Geist die eschatologische Hoffnung auf eine universale Erfüllung der essentiellen Potentialitäten der Geschichte, die in Jesus Christus als Sinn der Geschichte offenbar wird. Eine solche universale Erfüllung der essentiellen Potentialitäten transzendiert die Geschichte in ihrer Endlichkeit im Hinblick auf ihre Beziehung zu Gott als dem unbedingten Grund alles Geschöpflichen, weil die Verwirklichung jenes Ziels nicht als essentielle Notwendigkeit der sich progressiv auf dieses Ziel hin bewegenden Geschichte verstanden wird, sondern sich ausschließlich im Lichte der Beziehung von Unbedingtem und Bedingtem durch die göttliche Liebe als universale Einheit von Essenz und Existenz ereignen kann. Somit erschließt sich im christlichen Ereignis geschichtsimmanent das die Geschichte als umfassendsten Lebensprozess transzendierende Ziel der Geschichte, indem es die Geschichte in Jesus Christus an ihrem sie transzendierenden qualitativen Ziel der Erfüllung ihrer essentiellen Potentialitäten jenseits der existentiellen Zweideutigkeit unter den Bedingungen der entfremdeten Existenz fragmentarisch teilhaben lässt. Dergestalt besteht im christlichen Geschichtsverständnis die Möglichkeit, die Differenz von Vorläufigem und Endgültigem angemessen zu wahren, da im Rahmen der zweideutigen Geschichte die Verwirklichung des universalen Ziels der Geschichte als fragmentarisch erfahren und in ihrer noch ausstehenden universalen Verwirklichung in Form der Erhebung der Geschichte in die transzendente Einheit unzweideutigen Lebens als Akt der göttlichen Liebe eschatologisch erhofft wird.¹¹ 4) Gemäß Tillich erweisen sich „Gegenwart des göttlichen Geistes“, „Reich Gottes“ und „Ewiges Leben“ als die christlichen Hauptsymbole für das unzweideutige Leben im Sinne der Erfüllung der essentiellen Potentialitäten des Geschöpflichen. Tillich versteht in diesem Sinne „Reich Gottes“ als umfassendstes Symbol für die geschichtliche Erfüllung, weil es mit Blick auf die Geschichte ein immanentes und ein sie transzendierendes Element enthält, so dass es die innergeschichtliche Wirklichkeit mit dem sie transzendierenden Ziel in einer Weise verbindet, die das Ziel der Geschichte weder als progressive Entwicklung innerhalb des geschichtlichen Lebensprozesses noch
11 Vgl. zu Tillichs christlichem Geschichtsverständnis die ausführliche Analyse unter Abschn. 3.3 dieser Arbeit.
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die Geschichte in ihrer Endlichkeit als irrelevant für das sie transzendierende Ziel, sondern die endliche Geschichte in ihrer Beziehung zum sie transzendierenden Unbedingten erfasst. Dergestalt erschließt sich im Lichte des christlichen Ereignisses unter den Bedingungen der Zweideutigkeit die fragmentarische Teilnahme der Geschichte an der sie transzendierenden vollkommenen, universalen Erfüllung ihrer essentiellen Potentialitäten. Indem das Symbol „Reich Gottes“ somit gleichermaßen an der Dynamik der endlichen Geschichte teilnimmt und mit dem sie transzendierenden Ziel die Antwort auf die existentielle Frage nach unzweideutigem Leben eröffnet, umfasst es die Symbole „Gegenwart des göttlichen Geistes“ sowie „Ewiges Leben“, denn nach Tillich steht „Gegenwart des göttlichen Geistes“ für die Gegenwart des göttlichen Lebens im geschichtlich, kreatürlichen Leben unter den Bedingungen der Zweideutigkeit und „Ewiges Leben“ für die universale, die endliche Existenz transzendierende Überwindung des Zwiespalts von Essenz und Existenz. Während also „Gegenwart des göttlichen Geistes“ immanent auf die im zweideutigen geschichtlichen Leben liegende Frage nach unzweideutigem Leben und „Ewiges Leben“ transzendent auf die sich daraus ergebende Frage nach dem Sinn der Geschichte antwortet, symbolisiert „Reich Gottes“ sowohl die sich gegen die Kräfte der Zweideutigkeit richtende innergeschichtliche Dynamik als auch die letzte die Geschichte transzendierende Erfüllung als Ziel der Geschichte. Das Symbol „Reich Gottes“ verfügt gemäß Tillich daher immanent und transzendent über eine den universalen Gesamtzusammenhang alles Geschöpflichen umfassende universale Dimension, die das Strukturganze alles endlich Seienden immanent wie transzendent unter den Herrschaftsbereich Gottes stellt, in das die individuellen Lebensprozesse in ihren geschichtlichen Kontexten im Hinblick auf die universale Erfüllung als Ziel der Geschichte einbezogen sind und deren individuelle Erfüllung im Gesamtzusammenhang der universalen Erfüllung der Geschichte erhofft werden darf. Das Symbol „Reich Gottes“ erschließt demnach in seinem immanenten und auch seinem transzendenten Element wie folgt die Beziehung von Bedingtem und Unbedingtem, von Vorläufigem und Endgültigem:¹² a) In Jesus Christus offenbart sich in der Geschichte das Reich Gottes immanent als Gegenwart des göttlichen Geistes im geschichtlichen Lebensprozess. Als kairos erweist sich Tillich folgend die Selbstmanifestation Gottes in Jesus Christus in einem qualitativen Sinn als Mitte der Geschichte, da Christus die essentiellen Potentialitäten des geschöpflichen Lebens
12 Vgl. zu Tillichs Verständnis des Symbols „Reich Gottes“ die ausführliche Analyse unter Abschn. 3.3 dieser Arbeit.
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erfüllt, somit den Zwiespalt von Essenz und Existenz überwindet sowie die universale Erfüllung der Geschichte antizipiert. Der göttliche Geist ist demnach entsprechend von Tillichs Verständnis der göttlichen Liebe auf dreifache Weise in der Geschichte gegenwärtig: in den essentiellen Potentialitäten des Geschöpflichen, der Überwindung des Zwiespalts von Essenz und Existenz als Wiedervereinigung des Getrennten wie auch der Hoffnung auf eine endgültige und universale Teilnahme an der transzendenten Einheit des unzweideutigen Lebens. Die Geschichte kommt daher in Jesus Christus nicht quantitativ, sondern als Erfüllung der essentiellen Potentialitäten unter den Bedingungen der zweideutigen geschichtlichen Existenz qualitativ an ihr Ende, wobei die Verwirklichung der in Christus antizipierten universalen Erfüllung alles Geschöpflichen als quantitatives Ende der Geschichte noch aussteht. Dieses quantitative Ende der Geschichte enthält hinsichtlich des schöpferischen Gesamtzusammenhanges universal die Qualität der Erfüllung der essentiellen Potentialitäten alles Geschöpflichen, die sich ausschließlich durch die das endliche Leben begründende und transzendierende göttliche Liebe ereignen darf, so dass das quantitative Ende der Geschichte allein nicht mit dem Reich Gottes identifiziert werden kann, weil eben jene universale Erfüllung keine essentielle Notwendigkeit der Geschichte in Form eines sich notwendig auf das Ziel der Geschichte hin bewegenden progressiven, innergeschichtlichen Prozesses darstellt. Das christliche Ereignis bildet so die Mitte, das Zentrum des christlichen Geschichtsverständnisses, weil es letztgültig und umfassend das Reich Gottes immanent wie transzendent als Sinn der Geschichte erschließt, so dass in Bezug auf jene Mitte alles Vorhergehende als Vorbereitung und alles Folgende als Aufnahme des christlichen Ereignisses in der Geschichte verstanden wird. Vorbereitung und Aufnahme sind hier jedoch aufgrund von Tillichs Ablehnung eines progressiven Verständnisses der Geschichte ausschließlich quantitativ und nicht qualitativ zu verstehen. Im Hinblick auf Christus als Mitte der Geschichte zeigt sich alles der gläubigen Aufnahme des christlichen Ereignisses Vorausgehende als Vorbereitung eben jener Aufnahme, weshalb unter Vorbereitung und Aufnahme des christlichen Ereignisses nicht ausschließlich die vor- und die nachchristliche Zeit zu begreifen ist. Vorbereitung und Aufnahme des christlichen Ereignisses werden überall dort als solche transparent, wo durch den Einbruch des göttlichen Geistes in den menschlichen Geist Jesus Christus im Glauben als Mitte der Geschichte und das Reich Gottes immanent wie transzendent als Sinn der Geschichte erfasst werden.
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Gemäß Tillich ist die Geschichte dieser gläubigen Aufnahme des Christus im Zusammenhang mit ihrer Vorbereitung die Geschichte der Kirchen, die im Hinblick auf die Vorbereitung der gläubigen Aufnahme des christlichen Ereignisses als latente und im Zuge der vollzogenen gläubigen Aufnahme als manifeste Kirchen zu verstehen sind. Die Kirchen erweisen sich deshalb als Repräsentanten des den universalen Gesamtzusammenhang immanent und transzendent umfassenden Reiches Gottes in der Geschichte und damit als Repräsentanten der universalen Erfüllung der essentiellen Potentialitäten, des unzweideutigen Lebens. Dabei dürfen die Kirchen nicht mit dem Reich Gottes in seiner universalen Endgültigkeit identifiziert werden, weil die Kirchen als kulturelle Institutionen selbst der universalen Zweideutigkeit allen geschichtlichen Lebens, der Entfremdung von Essenz und Existenz, unterworfen sind. Demnach ist die Kirche irreduzibel in der Gemeinschaft des Glaubens an Jesus Christus essentiell unzweideutig als Geistgemeinschaft oder traditionell formuliert als unsichtbare bzw. verborgene Kirche eine Schöpfung des göttlichen Geistes, die existentiell als soziale Wirklichkeit in zweideutigen kulturellen Institutionen, als sichtbare Kirche, geschichtlich Gestalt annimmt. Kirche in diesem doppelten Sinne bewegt sich nach Tillich daher geschichtlich unaufhebbar in dem Paradoxon, einerseits als Geistgemeinschaft fragmentarisch am unzweideutigen Leben des in Christus erschlossenen Neuen Seins zu partizipieren und andererseits gleichermaßen in Form von in der Kultur verankerten religiösen Glaubensgemeinschaften an den Zweideutigkeiten des Lebens teilzunehmen, wodurch Tillich durch das beschriebene Verständnis der Kirchen als Repräsentanten des Reiches Gottes analog zum Verständnis des christlichen Ereignisses als Faktum und Aufnahme eine Identifikation von Bedingtem oder auch Vorläufigem mit Unbedingtem oder auch Endgültigem zu vermeiden sucht. Die Kirchen repräsentieren als solche geschichtsimmanent fragmentarisch die universale Erfüllung des Reiches Gottes unter den Bedingungen der Zweideutigkeit in der Geschichte und weisen dergestalt auf das sie transzendierende Ziel der vollkommenen Verwirklichung des Reiches Gottes am Ende der Geschichte hin, ohne selbst mit eben jenem Ziel identisch zu sein.¹³ Da das Reich Gottes als universales Ziel der Geschichte den schöpferischen Gesamtzusammenhang umfasst, erschöpft sich seine geschichts-
13 Vgl. zur immanenten Gegenwart des Reiches Gottes nach Tillich die ausführliche Analyse unter Kap. 4 dieser Arbeit.
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immanente Gegenwart nicht in den Kirchen, sondern vollzieht sich darüber hinaus gleichermaßen in der Weltgeschichte, innerhalb derer die Geschichte der Kirchen einen besonderen Teil darstellt: Die Kirchen sind als sichtbare Kirchen zum einen wesentlich in die Gesamtheit der Geschichte wie auch ihre Zweideutigkeiten eingebunden und stehen zum anderen in ihrer Essenz als Geistgemeinschaft in Jesus Christus für die Überwindung der geschichtlichen Zweideutigkeit. So laufen sie als in der Kultur verankerte Glaubensgemeinschaften analog zu anderen geschichtlichen Gruppen Gefahr, hinsichtlich ihres Lebensvollzuges durch SelbstIntegration, Sich-Schaffen und Selbst-Transzendierung an Desintegration, Zerstörung und Profanisierung zu scheitern. Gleichzeitig können die Kirchen als Repräsentanten des Reiches Gottes durch Christus als Quelle und Kriterium der erlösenden Macht gegen die zerstörerischen Kräfte der Entfremdung in der Geschichte, auch in Bezug auf ihre eigene Geschichte, wirken oder aber auf die Gegenwart des Reiches Gottes in der Geschichte überall dort hinweisen, wo die Zweideutigkeiten der geschichtlichen Selbst-Integration, des geschichtlichen Sich-Schaffens und der geschichtlichen Selbst-Transzendierung fragmentarisch überwunden sind, indem die ontologischen Polaritäten beispielsweise in Form von Strukturen, die die individuelle, kreative Freiheit des Einzelnen integrieren, eine Einheit von Altem und Neuem bilden sowie die Gegenwart und die Erwartung des Reiches Gottes lebendig halten können, aktualisiert werden. In diese geschichtsimmanente Gegenwart des Reiches Gottes in den Kirchen und im geschichtlichen Gesamtzusammenhang sind die individuellen Lebensprozesse in einer Weise eingebunden, die die fragmentarische Überwindung des Zwiespalts von Essenz und Existenz sowie die fragmentarische Erfüllung der essentiellen Potentialitäten im Hinblick auf die die Geschichte transzendierende, universale Erfüllung des Reiches Gottes bereits in der Geschichte als Antwort auf die existentielle Frage nach dem Sinn der Geschichte erschließt. Dementsprechend ereignet sich Tillich folgend die Heilsgeschichte als fragmentarische Erfüllung der essentiellen, geschichtlichen Potentialitäten an und durch die Weltgeschichte, ohne in Gestalt einer progressiven Universalgeschichte mit ihr identisch zu sein. b) Das Symbol „Reich Gottes“ weist in seiner fragmentarischen Gegenwart in der Geschichte über sich hinaus auf die universale, nicht-fragmentarische Erfüllung der Geschichte, die Gegenstand der christlichen Hoffnung ist. Eben jene universale, nicht-fragmentarische Erfüllung der essentiellen Potentialitäten des schöpferischen Gesamtzusammenhanges bildet gemäß Tillich das Ende der Geschichte, wobei „Ende“ im Sinne der Verwirklichung des Ziels der Geschichte, das die Geschichte als solche tran-
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szendiert, und nicht als Ende in einer rein physikalischen Bedeutung zu verstehen ist. Die Geschichte als umfassendster Lebensprozess wird an ihrem Ende in das ewige, göttliche Leben erhoben, das schöpferischer Grund aller zeitlichen Geschöpflichkeit in ihrer ontologischen Struktur ist, weshalb Tillich die transzendente Bedeutung von „Reich Gottes“ auch durch „Ewiges Leben“ symbolisiert sieht. Dieses Ewige Leben des schöpferischen Gesamtzusammenhanges ist nicht identisch mit dem ewigen göttlichen Leben, es ist Leben im göttlichen Leben, geschöpfliches Leben in Beziehung zum göttlichen Leben, das aufgrund der göttlichen Liebe zu endgültiger Erfüllung seiner essentiellen Potentialitäten kommt, indem das, was der Erfüllung der essentiellen Potentialitäten desintegrierend, zerstörerisch und profanisierend entgegenwirkt, endgültig als negativ enthüllt und überwunden wird, was Tillich folgend in der traditionellen christlichen Symbolik auch als „Jüngstes Gericht“ bezeichnet wird. Im Lichte des Jüngsten Gerichtes ereignet sich eine endgültige Überwindung der Zweideutigkeiten des Lebens, so dass das Ewige Leben im Angesicht des göttlichen Lebens als unzweideutiges Leben in unzweideutiger Selbst-Integration, unzweideutigem Sich-Schaffen und unzweideutiger Selbst-Transzendierung im Gleichgewicht der Polaritäten Individualisation und Partizipation, Dynamik und Form sowie Freiheit und Schicksal vollzogen werden darf. Im Rahmen der Geschichte findet diese Erwartung des unzweideutigen Lebens durch die Gegenwart des göttlichen Geistes Ausdruck in Moralität, Kultur und Religion als Funktionen des Geistes, die bereits geschichtsimmanent die Entfremdung zu überwinden suchen. Wenn nun im Ewigen Leben die Zweideutigkeiten des geschichtlichen Lebens endgültig überwunden sind, dann folgt damit im die Geschichte transzendierenden Reich Gottes das Ende von Moralität, Kultur und Religion, weil Bedingtes und Unbedingtes, geschöpfliches Leben und göttliches Leben, endgültig vereint sind. Dementsprechend erweist sich das die Negativität ewig überwindende Ewige Leben aufgrund der dauernden Gegenwart der Erfüllung seiner essentiellen Potentialitäten in Form des Endes im Sinne des Zieles der Geschichte als Leben in ewiger Seligkeit in Beziehung zum göttlichen Leben. Somit ist unter der Ewigkeit des göttlichen Lebens Tillich folgend weder Zeitlosigkeit noch Endlosigkeit der Zeit zu verstehen, da Gott den schöpferischen Grund alles Zeitlichen in seiner ontologischen Struktur bildet und so zu allem Zeitlichen konstitutiv in Beziehung steht, ohne mit ihm identisch zu sein, weshalb Tillich die Ewigkeit des göttlichen Lebens als transzendente Einheit der Zeitmodi begreift. Diese Beziehung des ewigen, gött-
6.1 Die Eschatologie in Paul Tillichs Systematischer Theologie |
235
lichen Lebens wird nach Tillich auch im Rahmen der Erhebung des zeitlichen Lebens in das göttliche Leben gewahrt, da das zeitliche Leben der Geschichte auch als Ewiges Leben im göttlichen Leben geschöpfliches Leben bleibt, das in seinem Sein in Ewigkeit abhängt von der göttlichen Liebe als seinem schöpferischen Grund, der die Zweideutigkeiten in der Entfremdung des zeitlichen Lebens überwindet und in der Ewigkeit des Ewigen Lebens im die Geschichte transzendierenden Reich Gottes die Erfüllung der essentiellen Potentialitäten des schöpferischen Gesamtzusammenhanges schenkt. Jene universale Erfüllung der essentiellen Potentialitäten vollzieht sich durch das Jüngste Gericht als endgültige Enthüllung und Überwindung des Negativen als ewige Seligkeit des unzweideutigen Lebens und lässt sich daher im Hinblick auf die aktualisierte Einheit von Essenz und Existenz mit Tillich auch als „Essentifikation“ des universalen Gesamtzusammenhanges geschöpflichen Lebens bezeichnen. Dergestalt formuliert „Essentifikation“ die Relevanz des geschichtlichen Lebens für das Ewige Leben, indem das geschichtliche Leben im Ewigen Leben als erfülltes Leben, in welchem die Negativitäten seiner Existenz überwunden sind, gegenwärtig ist. Gemäß Tillich findet eben jene Kontinuität des geschichtlichgeschöpflichen Seins im essentifizierten Ewigen Leben im christlichen Symbol der „Auferstehung“ ihren Ausdruck. Da alles geschöpflich Seiende durch die ontologische Grundstruktur der Selbst-Welt-Korrelation an den universalen Zweideutigkeiten der Geschichte teilnimmt, ist jeder geschichtliche Vollzug individueller Geschöpflichkeit im Gesamtzusammenhang der Geschichte essentifizierungsbedürftig, so dass gemäß Tillich im Rahmen der Essentifikation in der traditionellen christlichen Symbolik von „ewigem Leben“ und „ewigem Tod“ oder auch „Rettung“ und „Verdammnis“ in Bezug auf jedes einzelne Geschöpf keine absoluten, sondern ausschließlich relative Urteile zu erwarten sind. Ein zweifaches Schicksal der Individuen oder auch ein in diesem Sinne doppelter Ausgang widerspräche Tillich folgend der göttlichen Selbstmanifestation im christlichen Ereignis, in welchem sich die Schöpfung in ihren essentiellen Potentialitäten unbedingt als gute Schöpfung erweist, dem in Jesus Christus erschlossenen universalen Schicksal der geschichtlichen Entfremdung sowie der unhintergehbaren ontologischen Selbst-Welt-Korrelation, durch die jedes einzelne Geschöpf wesentlich auf den schöpferischen Gesamtzusammenhang verwiesen ist. Demnach kann sich die Erfüllung der essentiellen Potentialitäten des individuellen Geschöpfes nur im Rahmen einer universalen Erfüllung der Geschichte, die sich in ihrer Gesamtheit als zweideutig und
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erlösungsbedürftig erweist, vollziehen, indem der gefallenen Schöpfung in der Gesamtheit ihres Beziehungsgefüges aufgrund der göttlichen Liebe schicksalhaft eben jene universale Erfüllung zuteil wird, durch die das geschöpfliche Leben seine endliche Freiheit als unzweideutiges Ewiges Leben im göttlichen Leben zu aktualisieren vermag. Eine solche Vorstellung einer apokatastasis panton stellt im Sinne Tillichs keine Restitution, sondern eben eine Essentifikation alles geschöpflich Seienden dar, so dass das Negative im Lichte des Jüngsten Gerichts als solches in jedem einzelnen Geschöpf und der Geschichte enthüllt und überwunden wird. Darum weist Tillichs Verständnis einer graduellen Essentifikation die Alternative der Lehren eines doppelten Ausgangs oder einer apokatastasis panton als fragwürdig aus, denn in der graduellen Essentifikation vollzieht sich gemäß Tillich beides: die ewige Überwindung des Negativen und die Vollendung von jedem individuellen Geschöpf. So findet nach Tillich gemäß des christlichen Geschichtsverständnisses unter den Bedingungen der geschichtlichen Zweideutigkeit die zu wahrende Differenz von Vorläufigem und Endgültigem, Bedingtem und Unbedingtem, im Hinblick auf das Ewige Leben im Reich Gottes ihren Ausdruck in der geschichtsimmanent unaufhebbaren Spannung einer Angst vor dem Nichtsein und der in Christus begründeten Hoffnung auf Erfüllung des geschöpflichen Lebens.¹⁴ Die existentielle Frage des Menschen nach dem Sinn der Geschichte lässt sich demnach gemäß eines christlichen Geschichtsverständnisses im Sinne Tillichs zusammenfassend wie folgt beantworten: Der Sinn der Geschichte ist die universale Erfüllung der essentiellen Potentialitäten des geschöpflichen Seins in seiner Beziehung zu Gott als dem Grund alles Seienden. Eben jene universale Erfüllung der essentiellen Potentialitäten kann innergeschichtlich ausschließlich fragmentarisch durch die Gegenwart des göttlichen Geistes aktualisiert werden. Diese Einsicht erschließt sich durch den Einbruch des göttlichen Geistes in den menschlichen Geist als gläubige Aufnahme von Gottes Selbstmanifestation in Jesus Christus. In Jesus als dem Christus offenbart sich gleichermaßen Gott als Grund alles Seienden in dessen ontologischer Grundstruktur, die Überwindung des Zwiespalts von essentiellem und existentiellem Sein unter den geschichtlichen Bedingungen der Zweideutigkeit sowie die begründete Hoffnung auf die endgültige, universale Teilnahme alles Geschöpflichen an der Vollkommenheit des unzweideuti-
14 Vgl. zur die Geschichte transzendierenden Dimension des Symbols „Reich Gottes“ nach Tillich die ausführliche Analyse unter Kap. 5 dieser Arbeit.
6.1 Die Eschatologie in Paul Tillichs Systematischer Theologie |
237
gen Lebens, die im Ende der Geschichte als das die Geschichte selbst transzendierende Ziel besteht. Eben jene Vollkommenheit des unzweideutigen Lebens ereignet sich im Ewigen Leben in Ewigkeit als essentifizierte Geschöpflichkeit im Angesicht des göttlichen Lebens im Sinne eines eschatologischen Pan-en-theismus als eines unendlich differenzierten Absoluten. In jener göttlichen Selbstmanifestation in Jesus Christus, in der Gott sich als Schöpfer, Grund der Wiedervereinigung des Getrennten sowie als Grund der begründeten Erwartung einer Erhebung der Geschichte in die transzendente Einheit unzweideutigen Lebens zeigt, erweist sich die Geschichte als Gegenstand der göttlichen Liebe, die Gott in Jesus Christus in der genannten dreifachen Weise manifestiert und die Tillich im Sinne von Selbst-Identität, Selbst-Veränderung und Rückkehr-zu-sich-selbst als Spiegel des Lebensprozesses versteht. Somit offenbart sich Tillich folgend Gott in Jesus Christus wesentlich als Leben, was im Hinblick auf die Gestalt des Lebensprozesses für Tillich das Fundament der christlichen Trinitätslehre bildet, denn der trinitarische Symbolismus expliziert die Einheit des göttlichen Lebensprozesses in der Vielfalt seiner göttlichen SelbstManifestationen. In diesem trinitarischen Verständnis Gottes sind für eine Tillich folgende christliche Geschichtsauffassung gemäß seiner Methode der Korrelation die Antworten auf die in der Endlichkeit, Entfremdung und Zweideutigkeit liegenden existentiellen Fragen des Menschen formuliert, wobei die Lehre von Gott auf die Fragen der Endlichkeit, die Lehre von Christus auf die Fragen der Entfremdung und die Lehre vom Geist auf die Fragen der Zweideutigkeit antwortet, was sich im Aufbau von Tillichs Gliederung des Hauptteils seiner Systematischen Theologie abbildet.¹⁵ Allerdings ist Tillichs Gliederung des Hauptteils seiner Systematischen Theologie ausschließlich implizit trinitarisch, da Tillich selbst explizit hinsichtlich des Aufbaus seines theologischen Systems keinen trinitarischen Bezug herstellt und darüber hinaus die Trinitätslehre als solche in Tillichs Systematischer Theologie explizit keinen zentralen Stellenwert einnimmt. Der Grund hierfür ist möglicherweise in Tillichs Skepsis in Bezug auf die Entwicklung des trinitarischen Dogmas zu sehen: Während seine ursprüngliche Funktion darin bestand, in drei zentralen Symbolen die SelbstManifestation Gottes für den Menschen auszudrücken […] und Antwort zu geben auf die Frage nach dem Sinn der Existenz, wurde es später zum undurchdringlichen Geheimnis, […] zum Rätsel eines ungelösten theologischen Problems […], zur Glorifizierung eines absurden Zahlenspiels.¹⁶
15 Vgl. Tillich: ST I, 81f. [66f.] sowie Unterabschn. 2.3.2 dieser Arbeit. 16 Ders.: ST III, 333 [291].
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Wird das trinitarische Dogma zum undurchdringlichen Geheimnis, dann ist es nicht in der Lage, theologisch die Antworten des Offenbarungsgeschehens auf die existentiellen Fragen des Menschen zu erläutern, wird als Ergebnis theologischen Denkens in seiner Vorläufigkeit oder auch Unabschließbarkeit verkannt und mit etwas Endgültigem, etwas Absolutem, dem göttlichen Wesen, identifiziert, wodurch das trinitarische Dogma seine Heiligkeit, in der es auf das Unbedingte hinweist, verliert und der Profanisierung verfällt. Deshalb ist nach Tillich in Bezug auf die Lehre von der Trinität Vorsicht geboten: „In ihrer traditionellen Form kann sie weder verworfen, noch bejaht werden. Sie muß offen gehalten werden, so daß sie ihre ursprüngliche Funktion erfüllen kann: in umfassenden Symbolen die Selbst-Manifestation des göttlichen Lebens für den Menschen zum Ausdruck bringen.“¹⁷ Diesem Anliegen geht Tillich im Rahmen seiner Systematischen Theologie nach, indem er die Selbstmanifestation Gottes als liebenden Grund alles endlichen Seins, der das Getrennte wiedervereint und in die Ewigkeit seines göttlichen Lebens erhebt, als Antworten auf die in der Endlichkeit, Entfremdung und Zweideutigkeit der Geschichte liegenden Fragen mit Bezug auf den Lebensprozess implizit trinitarisch expliziert. Eben jene von Tillich geforderte Offenheit der Trinitätslehre ist nicht im Sinne einer Beliebigkeit des trinitarischen Symbolismus zu verstehen, da gemäß Tillichs Symbolbegriff die christlichen Symbole ihren Grund in der göttlichen Selbst-Manifestation, der Offenbarung Gottes innerhalb der Geschichte, und nicht in einer theologischen Konstruktion haben: „Sie alle beruhen auf Offenbarungs-Erfahrungen, d.h. auf dem Wirken des göttlichen Geistes.“¹⁸ In diesem Sinne ist Tillichs Ablehnung einer Verabsolutierung der endlichen Zahl „Drei“ zu verstehen, die er in Band I seiner Systematischen Theologie illustriert, indem er im Zusammenhang der Entwicklung der christlichen Trinitätslehre auf Strömungen hinweist, die im Versuch, die „Einheit zwischen Unbedingtheit und Konkretheit im lebendigen Gott“¹⁹ zu fassen, zu einer Binität oder auch Quaternität neigen.²⁰ Damit betont Tillich, dass das Trinitätsdogma ausschließlich in der göttlichen Selbst-Manifestation gegründet ist, so dass dies im theologischen System Tillichs gerade keine Möglichkeit der Austauschbarkeit des trinitarischen Symbolismus zur Folge hat²¹, wobei gleich-
17 Tillich: ST III, 337 [294]. 18 Ebd., 327 [286]. 19 Ders.: ST I, 265 [236ff.]. 20 Vgl. ebd. 21 Vgl. zu dieser kontrovers geführten Diskussion auch folgenden Sammelband: Hummel/Lax (Hgg.): Trinität und, oder Quaternität, insbesondere: Danz, Christian: Geschichtliche Offenbarung. Die Trinitätslehre als Inbegriff des Theologieverständnisses Paul Tillichs, in: Hummel/Lax (Hgg.): Trinität und, oder Quaternität, 173–187.
6.2 Eschatologische Grundlinien | 239
zeitig mit Danz formuliert nach Tillich „auch die Lehrgestalt der Trinität nicht abgeschlossen […] [werden] kann.“²² Demnach nimmt die Trinitätslehre im Hinblick auf das Verständnis von Tillichs theologischem System sowie seines christlichen Geschichtsverständnisses einen größeren Stellenwert ein, als Tillich ihr in seinem theologischen System explizit zuschreibt, indem Gott sich gleichermaßen als Vater, als schöpferische Macht, als Sohn, als erlösende Liebe, sowie als Geist, als Kraft der das Geschöpfliche vollendenden Verwandlung, manifestiert.²³ Zu einem ähnlichen Ergebnis in Bezug auf Tillichs Trinitätsverständnis kommt Martin Leiner.²⁴ In dieser Linie urteilt auch Eberhardt, wenn er in Bezug auf Tillichs theologisches Systems von einer „ontologisch fundierten trinitarischen Theologie“ spricht.²⁵ Im Anschluss an das erörterte Gesamtkonzept der Eschatologie in Paul Tillichs Systematischer Theologie sollen nun die eschatologischen Grundlinien in Tillichs der Systematischen Theologie vorausgehenden Schriften analysiert werden, um diese im Hinblick auf den Entwicklungsprozess von Tillichs Theologie in Bezug auf seine Eschatologie in der Systematischen Theologie fruchtbar machen zu können.
6.2 Eschatologische Grundlinien in den der Systematischen Theologie vorausgehenden Schriften Tillichs Auf Grundlage des Vorangegangenen lassen sich in Tillichs Systematischer Theologie folgende Grundaussagen als zentral für sein theologisches System und damit auch für seine Eschatologie bestimmen: Die Differenz von Unbedingtem und Bedingtem, Endgültigem und Vorläufigem, Unendlichem und Endlichem, Schöpfer und Geschöpf erweist sich im Zusammenhang ihrer essentiellen Beziehung als unaufhebbar. Alles Geschöpfliche ist in seiner Beziehung zu Gott als dem Grund alles Seienden essentiell endlich und in seinem Sein wesentlich abhängig von der Beziehung des Unendlichen zu ihm. Das zeigt sich entsprechend in Tillichs Verständnis von der Unhintergehbarkeit der ontologischen Grundstruktur, der Unaufhebbarkeit des universalen
22 Ders.: Die Gegenwart des göttlichen Geistes und die Zweideutigkeiten des Lebens, 256. 23 Tillich: ST III, 324 [283]. 24 Leiner, Martin: Trinität als vollkommene Harmonie?, in: Hummel, Gert/Lax, Doris (Hgg.): Trinität und, oder Quaternität. Tillichs Neuerschließung der trinitarischen Problematik, Münster 2004, 299–309. 25 Eberhardt: Der Reich-Gottes-Begriff im Denken Paul Tillichs, 35. Vgl. zu Tillichs Verständnis des trinitarischen Dogmas auch Abschn. 5.3 dieser Arbeit.
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Schicksals der Entfremdung, der sich unter den Bedingungen der Zweideutigkeit ereignenden gläubigen Aufnahme der göttlichen Selbstmanifestation in Jesus Christus, der unter den innergeschichtlichen Bedingungen ausschließlich fragmentarischen Teilnahme an der transzendenten Einheit unzweideutigen Lebens, der ekklesiologischen Unterscheidung von Geistgemeinschaft und den geschichtlichen Kirchen sowie der Betonung des immanenten und des transzendenten Aspekts des Reiches Gottes als Sinn der Geschichte. Im Zuge dieser Differenzierung des immanenten und des transzendenten Aspekts des Reiches Gottes, durch die Tillich sowohl die Differenz als auch die Beziehung von Bedingtem und Unbedingtem zu wahren sucht, kann Tillich im Hinblick auf die glaubend erhoffte transzendente universale Erfüllung des Reiches Gottes am Ende der Geschichte gleichermaßen den Gedanken einer rein innergeschichtlichen Progression und ein transzendentalistisches Konzept, in dem der innergeschichtlichen Wirklichkeit keine Bedeutung in Bezug auf die transzendente Erfüllung des Reiches Gottes zukommt, ausschließen. Darüber hinaus darf mit Blick auf die göttliche Selbstmanifestation in Jesus Christus, in der sich das göttliche Wesen als agape erschließt, erhofft werden, dass die Erfüllung der essentiellen Potentialitäten des Geschöpflichen im Ewigen Leben die Differenz von göttlichem und geschöpflichem Leben nicht aufhebt, sondern sich als Ewiges Leben im göttlichen Leben ereignet. In Bezug auf den Menschen, der qua seiner Bestimmung potentiell als Ebenbild Gottes geschaffen ist, bedeutet dies, dass er im Ewigen Leben im Rahmen seiner gottebenbildlichen vernünftigen Struktur seine essentiellen geschöpflichen Beziehungen ungebrochen in der Kraft zur Gemeinschaft mit Gott und damit zum rechten Verhalten gegen andere Geschöpfe wie auch sich selbst aktualisiert. Im vollendeten Vollzug eben jener Beziehungen bildet er „die inneren Beziehungen des göttlichen Lebens“²⁶, in denen „alle Beziehungen begründet [sind]“²⁷, ab. Demnach erweist sich in Bezug auf Tillichs Systematische Theologie „Beziehung“ als „grundlegende ontologische Kategorie“²⁸, die als Beziehung des Bedingten zum Unbedingten, der ontologischen Grundstruktur und auch als „Wechselbeziehung alles Endlichen“²⁹ in sämtlichen theologischen topoi gegenwärtig ist. Dies zeigt sich im Hinblick auf Tillichs Eschatologie darin, dass der einzelne Mensch seine individuelle Erfüllung ausschließlich im Zusammenhang der universalen
26 Tillich: ST I, 311 [271]. 27 Ebd. Vgl. auch die Ausführungen zu Tillichs Verständnis des trinitarischen Dogmas unter Abschn. 5.3 sowie Abschn. 6.1 dieser Arbeit. 28 Ebd. Vgl. zur Beziehung als grundlegender ontologischer Kategorie bei Tillich auch: Drobe: „…daß der Mensch auf jeder Stufe der Heiligung der Vergebung bedürftig ist.“ 83ff. 29 Tillich: ST I, 311 [271].
6.2 Eschatologische Grundlinien |
241
Erfüllung des geschöpflichen Strukturganzen im Reich Gottes als Ewiges Leben im göttlichen Leben zu finden vermag. Die beschriebenen Grundaussagen in Tillichs Systematischer Theologie zeigen sich bereits in den der Systematischen Theologie vorausgehenden Schriften Tillichs, die sich dergestalt als Vorbereitung seines theologischen Systems in der Systematischen Theologie verstehen lassen. Allerdings entfaltet Tillich seine theologischen Grundaussagen schwerpunktmäßig im Zusammenhang von Themen und Begriffen, denen im Rahmen der Systematischen Theologie jedenfalls explizit nicht mehr die zentrale Bedeutung beigemessen werden kann, die sie im Rahmen seiner früheren Schriften einnimmt. Dazu gehören wesentlich: die Frage nach einem Religiösen Sozialismus, die Schlüsselfunktion des Kairos-Begriffs, die Funktion des prophetischen Geistes, der aktive Widerstreit gegen das Dämonische, das Konzept der Theonomie sowie die aktive Funktion des protestantischen Prinzips. Eine ähnliche Darstellung der genannten Themen und Begriffe in Tillichs Theologie im Hinblick auf sein Verständnis der Geschichte findet sich bei Rolinck.³⁰ Die vorliegende Analyse bezieht im Unterschied zu Rolinck die Entwicklung der genannten Termini bis hin zur Systematischen Theologie von Tillich mit ein. Anhand exemplarisch ausgewählter der Systematischen Theologie vorgängigen Schriften Tillichs sollen daher in Bezug auf die genannten Themen im Folgenden zunächst die der Systematischen Theologie zugrunde liegenden Kerngedanken dargestellt und daran anschließend eine mögliche Begründung für die thematischen und terminologischen Verschiebungen im Hinblick auf Tillichs Eschatologie formuliert werden. Religiöser Sozialismus Motiviert durch seine Erfahrungen als Militärpfarrer aus dem 1. Weltkrieg findet Tillich im Hinblick auf die Frage nach einer dem christlichen Selbst- und Weltverständnis entsprechenden gesellschaftlichen Gestaltung Orientierung in der Bewegung des Religiösen Sozialismus.³¹ So bestimmt er bereits 1919 in seiner Ab-
30 Rolinck: Geschichte und Reich Gottes, 68–109. 31 Vgl. hierzu auch Ratschow, Carl Heinz: Paul Tillich. Ein biografisches Bild seiner Gedanken, in: Baumotte, Manfred (Hg.): Tillich-Auswahl. Das Neue Sein, Bd. 1, Gütersloh 1980, 11–104, 38ff. wie auch Galles: Situation und Botschaft, 71–73. Darüber hinaus lassen sich in diesem Zusammenhang noch folgende Überblicksdarstellungen von Paul Tillichs Leben und Werk nennen: Schüßler, Werner: Paul Tillich, in: Bedorf, Thomas/Gelhard, Andreas (Hgg.): Die deutsche Philosophie im 20. Jahrhundert. Ein Autorenhandbuch, Darmstadt 2013, 286–288. Wenz, Gunther: Paul Tillich. Fraglichkeit und Sinnerfüllung, in: Neuner, Peter/Wenz, Gunther (Hgg.): Theologen des 20. Jahrhunderts, Darmstadt 2002, 109–123. Fischer (Hg.): Paul Tillich. Kelsey, David H.: The fabric of Paul Tillich’s theology, New Haven 1967. Eine sehr kurze historische Einordnung der Theolo-
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handlung Der Sozialismus als Kirchenfrage christlich die „Liebesethik Jesu [als] […] grundlegende Norm für das Gemeinschaftsleben“³² und sieht in eben jener die „größere Affinität“³³ des Christentums „für gewisse Formen der Gesellschaftsordnung […] als für andere“³⁴ begründet. Diese Affinität besteht den frühen Ausführungen Tillichs folgend im Zusammenhang der fragmentarischen Verwirklichung des Reiches Gottes innerhalb der Geschichte konkret zum Sozialismus, da dieser sich in seiner Grundidee wesentlich gegen „wirtschaftlichen und politischen Egoismus“³⁵ wende und darin grundsätzlich mit dem Anliegen der christlichen Liebesethik übereinstimme.³⁶ Tillichs Ablehnung einer irdischen Erfüllung des Reiches Gottes zeigt sich hier bereits in seiner klaren Abgrenzung des Religiösen Sozialismus von der für ihn gegenwärtigen rein sozialistischen Bewegung, denn aus „der Unbedingtheit des religiösen Prinzips folgt, daß es unabhängig ist von jeder bestimmten Kulturform und ihrer geistigen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ausprägung. Abzulehnen sind deshalb alle Versuche, das Christentum an sich einer bestimmten Gesellschaftsordnung gleichzusetzen und es seines überkulturellen Charakters zu entkleiden“³⁷, der sich aus dem Verständnis der Beziehung des Bedingten zum Unbedingten ergibt. Dieser Gedanke findet sich hinsichtlich der religiössozialistischen Bewegung in einer allgemeinen Form auch schon bereits in dem erst kürzlich veröffentlichten Vortrag Die prinzipiellen und die nächsten Aufgaben unserer Bewegung, vermutlich aus dem Jahre 1919: „Das Absolute ist nur erreichbar unter Voraussetzung der Paradoxie, d.h. als Gegenstand des Glaubens, der nichts ist als Bejahung des Unbedingten überhaupt als des Ja und Nein über alles Relative.“³⁸ Analog zu Tillichs Verständnis von „Symbol“³⁹ darf gemäß Tillichs Ausführungen in Die sozialistische Entscheidung von 1933 „Prinzip […] nicht mit Idee, allgemeinstem Begriff oder dergleichen verwechselt werden. Prinzip ist die reale
gie Tillichs findet sich auch bei: Bayer: Grundzüge der Theologie Paul Tillichs, kritisch dargestellt, 325f. Die Schreibweise von „Religiösem Sozialismus“ variiert bei Tillich zwischen Großund Kleinschreibung, was in den verschiedenen Zitaten sichtbar wird. Im Rahmen der vorliegenden Ausführungen wurde sich außerhalb der Zitationen für die Großschreibung entschieden. 32 Tillich: Der Sozialismus als Kirchenfrage, 14. 33 Ebd. 34 Ebd. 35 Ebd. 36 Vgl. hierzu auch Tillichs Ausführungen von 1930 in Sozialismus, in: Ders.: Sozialismus. 37 Ders.: Der Sozialismus als Kirchenfrage, 13 [kursiv C.D.]. 38 Ders.: Die prinzipiellen und die nächsten Aufgaben unserer Bewegung, in: Ders.: EW X, 237–263, hier 241. 39 Vgl. zum Symbolbegriff bei Tillich ausführlich Unterabschn. 2.3.2 dieser Arbeit.
6.2 Eschatologische Grundlinien |
243
Macht, die eine geschichtliche Erscheinung trägt und ihr die Möglichkeit gibt, sich neu und doch in Kontinuität mit der Vergangenheit zu verwirklichen. […] Prinzip ist also kein ideologischer, sondern ein die Realität beschreibender Begriff.“⁴⁰ Eben jenes Verständnis von „Prinzip“ lässt sich exemplarisch an Tillichs Konzeption des Lebensbegriffes veranschaulichen, in welchem er der Selbst-Integration, dem Sich-Schaffen und der Selbst-Transzendierung als den drei Funktionen des Lebens die Prinzipien der Zentriertheit, des Wachstums und des Heiligen zuordnet, die in diesem Zusammenhang die Realität des Lebens als Aktualisierung potentiellen Seins beschreiben.⁴¹ Wenn Tillich nun unter „Religion“ die SelbstTranszendierung des Lebens in der Dimension des Geistes fasst⁴², in der das Leben die Beziehung des Bedingten zum Unbedingten als Erfahrung des Heiligen aktualisiert, dann kann unter der in Bezug auf die Abgrenzung des Religiösen Sozialismus von der für Tillich gegenwärtigen sozialistischen Bewegung zitierten „Unbedingtheit des religiösen Prinzips“ die reale Macht des Unbedingten verstanden werden, das sich im Rahmen geschichtlicher Erscheinungen realisiert, jedoch nicht mit ihnen identisch ist. Nach Tillich läuft die für ihn gegenwärtige rein sozialistische Bewegung in diesem Sinne Gefahr, in Form eines „materialistische[n] Atheismus“⁴³ die Beziehung des Bedingten zum Unbedingten nicht angemessen zu berücksichtigen, sich dergestalt seinem Text Kairos I von 1922 folgend selbst in seiner „Form der Diesseitigkeit“⁴⁴ absolut zu setzen und das „Unbedingte […] nicht als Unbedingtes“⁴⁵ zu erfassen. Der Religiöse Sozialismus hat deshalb nach Tillich in diesem Sinne „ebenso energisch die Kulturkritik des Sozialismus auf[zunehmen] und […] sie zur letzten Tiefe hinzuführen, wie er vom Unbedingten her die Kritik gegen den Sozialismus selber wendet.“⁴⁶ Theodor W. Adorno hat auf Tillichs Verständnis des
40 Tillich, Paul: Die sozialistische Entscheidung, in: Ders.: GW II, 219–365, 233f. Vgl. als Hintergrundinformation zu Paul Tillichs Die sozialistische Entscheidung auch: Graf, Friedrich Wilhelm: „Politische Romantik“ und „Sozialistische Entscheidung“, in: Zeitschrift für neuere Theologiegeschichte 19.2 (2012), 247–268. 41 Vgl. zu Tillichs Lebensbegriff Kap. 2 dieser Arbeit. 42 Vgl. zu Tillichs Religionsbegriff Abschn. 2.2 dieser Arbeit. 43 Tillich: Der Sozialismus als Kirchenfrage, 17. 44 Ders.: Kairos I, 26. 45 Ebd. 46 Ebd. Vgl. für eine Vertiefung des Verständnisses von Tillichs Religiösem Sozialismus auch seine Schrift von 1937 Die Kirche und der Kommunismus (Ders.: Die Kirche und der Kommunismus), in welcher er das Verhältnis der Kirchen zum Kommunismus analog bestimmt, wie auch seine Schrift von 1942 Marxismus und religiöser Sozialismus (Ders.: Marxismus und religiöser Sozialismus, in: Ders.: GW XIII, 303–312), wo er ausführlich deren Strukturanalogien, aber auch ihre entscheidenden Differenzen im Transzendenzverständnis darlegt.
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Religiösen Sozialismus in Abgrenzung zum Sozialismus mit energischer Kritik reagiert, die sich vor allem auf Tillichs von Adorno als bürgerlich eingestufte Bestimmung der tragischen universalen Entfremdung des Menschen und des geschichtlichen Seins im Allgemeinen richtet.⁴⁷ Für Tillich hat die Bewegung des Religiösen Sozialismus jedoch gerade nicht die innergeschichtliche Verwirklichung des Reiches Gottes zum Ziel, sondern ist ausschließlich im Rahmen der fragmentarischen Verwirklichung des Reiches Gottes unter den konkreten kulturellen Bedingungen der Geschichte des zugrunde liegenden Zeitgeistes zu verorten. Das Bemühen, die Differenz wie auch die Beziehung von Bedingtem und Unbedingtem angemessen zu berücksichtigen, zeigt sich bereits in diesen frühen Ausführungen Tillichs zum Religiösen Sozialismus als zentrale Einsicht, die er grundsätzlich im Sinne des religiösen Prinzips als Instrument der (Selbst-)kritik des geschichtlich Endlichen am Maßstab der Liebesethik Jesu oder aber eben des göttlichen Wesens als agape versteht. Demnach ist schon in seiner Abgrenzung des Religiösen Sozialismus von der rein sozialistischen Bewegung seine Ablehnung einer innergeschichtlichen Progression auf das Ziel der Geschichte hin – ob nun in Gestalt eines fortschrittsgläubigen oder utopistischen Geschichtsverständnisses⁴⁸ – enthalten, obgleich dem Religiösen Sozialismus als solchem innerhalb seiner Systematischen Theologie explizit keine zentrale Bedeutung mehr zukommt. So bezieht sich Tillich in seiner Systematischen Theologie einmal in Band I und einige Male in Band III nicht programmatisch, sondern ausschließlich in einer die jeweiligen Ausführungen illustrierenden Weise auf die Bewegung des Religiösen Sozialismus, die er „den frühen zwanziger Jahren dieses [des 20., C.D.] Jahrhunderts“⁴⁹ zuordnet: Im Rahmen des ersten Teils seiner Systematischen Theologie „Vernunft und Offenbarung“ erläutert er anhand des Religiösen Sozialismus „die innige Beziehung zwischen Handeln und Erkennen“⁵⁰, die jedoch bei den Religiösen Sozialisten nach seiner Einschätzung „vornehmlich in der Ebene der technischen Vernunft bleibt.“⁵¹ Darüber
47 Diese Kritik lässt sich sehr gut anhand Adornos Text zu Tillichs Aufsatz Man and Society in Religious Socialism nachvollziehen, die beide in folgendem Beitrag zu finden sind: Sturm, Erdmann: Theodor W. Adorno contra Paul Tillich, in: Zeitschrift für neuere Theologiegeschichte 3.2 (1996), 251–299. Der Kritik von Adorno vergleichbare, politisch motivierte Kritiklinien formulieren: HeinJanke, Ewald: Zur Problematik der politischen Komponente im Leben und Werk Paul Tillichs, in: Junge Kirche 41.10 (1980), 435–439; Mahlmann: Eschatologie und Utopie im geschichtsphilosophischen Denken Paul Tillichs 48 Vgl. zu Tillichs Typisierungen von Geschichtsauffassungen in seiner Systematischen Theologie Abschn. 3.3 dieser Arbeit. 49 Tillich: ST III, 407 [356]. 50 Ders.: ST I, 112 [93]. 51 Ebd.
6.2 Eschatologische Grundlinien | 245
hinaus veranschaulicht er in Band III mit einem Hinweis auf „Thomas Münzer [sic]“⁵² und die „Religiösen Sozialisten“⁵³ die Problematik eines transzendentalistischen Geschichtsverständnisses, in dem die Beziehung der Erlösung des Einzelnen zur universalen Erlösung aufgehoben scheint⁵⁴, wobei er gleichzeitig betont, dass die transzendentalistische Haltung „ein notwendiges Gegengewicht gegen die Gefahr des weltlichen wie des religiösen Utopismus [ist].“⁵⁵ Des weiteren weist Tillich in Band III dann auf seine „Erfahrungen im Religiösen Sozialismus“⁵⁶ hin, wenn er im Rahmen seiner Argumentation Begriffe verwendet, die während seiner aktiven Zeit in der religiös-sozialistischen Bewegung von zentraler Bedeutung waren: kairos, prophetischer Geist und Theonomie⁵⁷, die wie angekündigt im Hinblick auf die Analogien zu den der Systematischen Theologie zugrunde liegenden theologischen Kerngedanken im Folgenden näher erörtert werden sollen.⁵⁸
52 Ders.: ST III, 406 [355]. 53 Ebd., 406 [356]. 54 Vgl. hierzu ausführlich Abschn. 3.3 dieser Arbeit. 55 Tillich: ST III, 406 [355]. 56 Ebd., 286 [249]. 57 Vgl. ebd. (Theonomie), Ders.: ST I, 407 [356] (prophetischer Geist), Ders.: ST III, 419/422 [369/371] (kairos). 58 Eine Erörterung von Tillichs Verhältnis zum Religiösen Sozialismus, die diesem in Bezug auf sein Verständnis des Reiches Gottes explizit Eigenständigkeit und Originalität gegenüber anderen religiösen Sozialisten wie Christoph Blumhardt, Hermann Kutter und Leonhard Ragaz zuschreibt, findet sich bei: Eberhardt: Der Reich-Gottes-Begriff im Denken Paul Tillichs, 114–136. Weitere Darstellungen des Verhältnisses von Tillich zur religiös-sozialistischen Bewegung bzw. von Tillichs politischer Orientierung sind: Fukai, Tomoaki (Hg.): Paul Tillich – Journey to Japan in 1960, Berlin 2013, 61–69; Marsden, John: Paul Tillich and the Theology of German Religious Socialism, in: Political Theory 10.1 (2009), 31–48; Danz, Christian (Hg.): Religion und Politik (International Yearbook for Tillich Research 4), Berlin und Boston 2009; Brändle, Werner: Religiöser Sozialismus. Zum Verhältnis von Kultur und Religion bei Paul Tillich, in: Glaube – Freiheit – Diktatur in Europa und den USA. Festschrift für Gerhard Besier zum 60. Geburtstag, (Hg.) Stokłosa, Katarzyna, (Hg.) Besier, Gerhard, 2007, 187–200; Bavaj, Riccardo: Von den „Gesellschaftsproblemen der Gegenwart“ zur „sozialistischen Entscheidung“. Paul Tillichs politisches Denken in der Weimarer Republik, in: Kirchliche Zeitgeschichte 20.1 (2007), 97–127; Dienst, Karl: Zwischen Abgrenzungen und Überblendungen. Theologie im Spannungsfeld der Kirchenpolitik, in: Homiletisch-liturgisches Korrespondenzblatt 87.23 (2006), 636–642; Kreppel, Klaus: „Erwartung ist das Symbol des Sozialismus“. Reflexionen über Paul Tillichs Die sozialistische Entscheidung, in: Abendländische Eschatologie. Ad Jacob Taubes, Würzburg 2001, 355–363; Enzmann, Marion: Paul Tillichs sozialistische Entscheidung gegen die Demokratie. Die politischen Ideen Paul Tillichs in der Weimarer Republik (1918–1933), in: Tillich-Journal 2 (1998), 81–89; Baum, Gregory: Paul Tillich on Socialism and Nationalism, in: Studies in World Christianity 2.1 (1996), 97–112; Scott, Peter: Prophetic Expectation, in: Theology 99.787 (1996), 34–45; Kroeger, Matthias: Paul Tillich als Religiöser Sozialist, in: Fischer (Hg.): Paul Tillich, 37–61; Arbeitsgemeinschaft Chris-
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Kairos Tillich verwendet den Begriff des „Kairos“ bereits in seinen ganz frühen Schriften in einer dem Gebrauch in seiner Systematischen Theologie analogen Weise, indem er ihn in seiner Schrift Kairos I von 1922 schon von „Chronos, die formale Zeit“⁵⁹ als „Kairos, die ‚rechte Zeit‘, den inhalts- und bedeutungsvollen Zeitmoment“⁶⁰ abgrenzt. Ein solcher Zeitmoment ist gemäß Tillich charakterisiert „als ein Moment, in dem das Ewige in das Zeitliche einbricht, dieses erschüttert und umwendet und eine Krisis schafft im tiefsten Grunde der menschlichen Existenz.“⁶¹ Dergestalt vollzieht sich im Bewusstsein eines kairos „die Hinwendung auf das Unbedingte“⁶², aktualisiert sich die Beziehung des Bedingten zum Unbedingten, die „in religiösen oder profanen Symbolen Ausdruck finden [kann].“⁶³ Im Sinne der zu wahrenden Differenz von Bedingtem und Unbedingtem, die hier in Bezug auf den Begriff des kairos als Differenz von Zeit und Ewigkeit⁶⁴ erfasst wird, soll im Zusammenhang seines Symbolverständnisses im Bewusstsein eines kairos „das, was im Kairos geschieht, […] absolut und doch nicht absolut sein – aber es muß
tentum und Sozialismus (Hg.): Religiöser Sozialismus im Protestantismus. Paul Tillich zum 100. Geburtstag, Wien 1987; Wehowsky, Stephan: Protestantismus und Proletariat. Paul Tillichs Ansatz zu einem religiösen Sozialismus, in: Zeitschrift für evangelische Ethik 27.2 (1983), 182–201; Ulrich, Thomas: Ontologie, Theologie, gesellschaftliche Praxis. Studien zum religiösen Sozialismus Paul Tillichs und Carl Mennickes, Zürich 1971; Breipohl, Renate: Religiöser Sozialismus und bürgerliches Geschichtsbewußtsein zur Zeit der Weimarer Republik, Zürich 1971; Wendland, Heinz-Dietrich: Der religiöse Sozialismus bei Paul Tillich, in: Ders. (Hg.): Die Kirche in der revolutionären Gesellschaft. Sozialethische Aufsätze und Reden, Gütersloh 1967, 208–235. Darüber hinaus sind hier noch nicht ausführlich berücksichtigte Schriften bzw. erst kürzlich veröffentlichte Texte von Paul Tillich im Zusammenhang des Religiösen Sozialismus, die in ihren Aussagen den dargestellten Gedanken Tillichs zum Religiösen Sozialismus vergleichbar sind, zu nennen: Tillich, Paul: Sozialismus und Christentum, in: Ders.: EW X, 231–232; Ders.: Religiöser Sozialismus, in: Ders.: EW X, 303–304; Ders.: Der religiöse Sozialismus als universale Bewegung, in: Ders.: EW X, 351–355; Ders.: Die Geschichtsphilosophie des Religiösen Sozialismus, in: Ders.: EW XI, 291–298; Ders.: Die geistige Lage des Sozialismus, in: Ders.: EW XI, 353–371; Ders.: Der Geist des Sozialismus und der Kampf gegen ihn, in: Ders.: EW XI, 399–448; Ders.: Christentum und Marxismus, in: Ders.: EW XI, 469–471; Ders.: Für und wider den Sozialismus, München 1969. 59 Ders.: Kairos I, 10. Vgl. zum Begriff des kairos in Tillichs Systematischer Theologie Abschn. 4.1 dieser Arbeit. 60 Ebd. 61 Ebd., 22. 62 Ebd., 20. 63 Ebd. 64 Vgl. zum Verhältnis von Zeit und Ewigkeit in Tillichs Systematischer Theologie auch Abschn. 5.1 dieser Arbeit.
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247
unter dem Gericht des Absoluten stehen.“⁶⁵ Eben jenes grundsätzliche Verständnis des kairos formuliert Tillich auch in weiteren Schriften: So nennt er in Kairos II von 1926 den kairos gleichermaßen „das Hereinbrechen der Ewigkeit in die Zeit […], aber […] zugleich das Bewußtsein, daß es keinen Zustand der Ewigkeit in der Zeit geben kann, daß das Ewige wesensmäßig das in die Zeit Hereinbrechende, aber nie das in der Zeit Fixierbare ist.“⁶⁶ In Kairos III von 1958 heißt es: „Das Ewige kann in das Zeitliche einbrechen, und wo sich das ereignet, ist ein Kairos. Aber das Ewige hebt das Zeitliche nicht auf.“⁶⁷ An dieser Stelle soll zunächst die Kontinuität von Tillichs grundsätzlicher Begriffsbestimmung von kairos betont werden. Die terminologischen und inhaltlichen Schwerpunktverlagerungen, die sich in den Jahren zwischen Kairos I bis III vollziehen, werden im Zusammenhang mit der Entwicklung von Tillichs Theologie thematisiert.⁶⁸ Für Tillich ist das Bewusstsein des kairos zunächst eng mit der Bewegung des Religiösen Sozialismus verbunden: Wir sind der Überzeugung, daß gegenwärtig ein Kairos, ein epochaler Geschichtsmoment, sichtbar ist. […] Die stärkste kairosbewußte Bewegung scheint uns zur Zeit der Sozialismus zu sein. „Religiöser Sozialismus“ ist der Deutungs- und Gestaltungsversuch des Sozialismus […] vom Kairos her. Er geht von der Voraussetzung aus, daß in dem tatsächlichen Sozialismus eine Reihe von Elementen enthalten sind, die der Idee des Kairos zuwider sind.⁶⁹
So kritisiert Tillich später in Kairos III die Überzeugung der sozialistischen Bewegung, „daß der große Kairos immanent […] sei. Kairos wurde als der Anfang der letzten Erfüllung der Geschichte in der Geschichte verstanden. […] Aber Geschichte kann nicht innerhalb der Geschichte zur Erfüllung kommen.“⁷⁰ Aufgrund seiner dargestellten frühen Affinität zum Religiösen Sozialismus ergibt sich für Tillich daraus gemäß Kairos I zunächst, dass das Bewusstsein des kairos „in seinem einzigartigen und universalen Sinn […] für den christlichen Glauben das Erscheinen Jesu als des Christus“⁷¹ beinhaltet, eine der Liebesethik Jesu folgende Handlungs-
65 Tillich: Kairos I, 19. Tillich variiert die Groß- und Kleinschreibung von „Kairos“: In der Systematischen Theologie werden kairos und kairoi konsequent kleingeschrieben, in seinen vorausgehenden Schriften gibt es häufig eine Großschreibung. Der Fließtext der vorliegenden Arbeit orientiert sich um der Einheitlichkeit willen an der Schreibweise in der Systematischen Theologie. Darüber hinaus lässt sich vermuten, dass Tillich in der späteren Kleinschreibung auch das Bewusstsein ausdrückt, nicht mehr unmittelbar in einem konkreten kairos zu leben. 66 Ebd., 35. 67 Ders.: Kairos III, in: Ders.: GW VI, 137–139, hier 139. 68 Vgl. hierzu Fazit unter Unterabschn. 6.2 dieser Arbeit. 69 Tillich: Kairos I, 25f. 70 Ders.: Kairos III, 139. 71 Ders.: Kairos I, 24.
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orientierung: „Bereitung der Zeit für die Aufnahme in die Ewigkeit, Gestaltung der endlichen Formen als Hinweise auf das Unbedingte, das ist Handeln aus dem Kairos.“⁷² Dementsprechend bedeutet Tillich folgend eine „Zeit als Kairos betrachten […], sie im Sinne einer unentrinnbaren Entscheidung, einer unausweichlichen Verantwortung betrachten […].“⁷³ In diesem Sinne geht das Bewusstsein des kairos gemäß Tillich einher mit „geschichtsbewußtem Denken, […] einem Geschichtsbewußtsein, dessen Wurzeln hinabreichen in die Tiefen des Unbedingten […] und dessen Ethos unbedingte Verantwortlichkeit für den gegenwärtigen Zeitmoment ist.“⁷⁴ Auf einer ähnlichen Linie liegt auch Tillichs Frankfurter Vorlesung zur Geschichtsphilosophie aus dem Jahre 1929/1930: „Das ist der Sinn des Kairosgedankens, daß in dieser gegenwärtigen Situation in dieser erfüllten Zeit eine Aufgabe gestellt ist, die ganz konkret ist und die zugleich den ganz unbedingten Ernst des Überzeitlichen, Endzeitlichen in sich trägt.“⁷⁵ Da nach Tillich „Kairos in seinem allgemeinen und speziellen Sinn […] für den Geschichtsphilosophen jeder Wendepunkt in der Geschichte [ist], in dem das Ewige das Zeitliche umwandelt“⁷⁶, kommt Tillich bereits in seinen der Systematischen Theologie vorausgehenden Schriften verschiedentlich zu Typisierungen von Geschichtsverständnissen, die den von ihm in der Systematischen Theologie formulierten Typisierungen analog sind⁷⁷: So nennt er 1922 in Kairos I als ungeschichtliche Geschichtsverständnisse die „mystische Geschichtslosigkeit“⁷⁸ sowie die „naturalistische Geschichtslosigkeit“⁷⁹, aus der zeitgenössisch für Tillich die „technisch-mathematische Welterklärung“⁸⁰ entspringt. Hier fehlt noch die in der Systematischen Theologie benannte tragische Geschichtsauffassung, die Tillich in Kairos I allgemein unter die naturalistische Geschichtslosigkeit zählen dürfte, weil diese gebunden bleibt „an das Diesseits aller inhaltsvollen Zeit, an die Natur und ihren ewiggleichen Lauf und Wechsel, an die Wiederkehr der Zeiten und Dinge.“⁸¹ Hinsichtlich der geschichtlichen Typen von Geschichtsver-
72 Tillich: Kairos II, 35. 73 Ebd. 74 Ders.: Kairos I, 9. 75 Ders.: EW XV, 228. Vgl. hierzu auch das Manuskript von Tillichs Dresdener DogmatikVorlesung aus den Jahren 1925–1927: Ders.: EW XIV, 318ff. 76 Ders.: Kairos I, 10. 77 Vgl. zu den Typisierungen von Geschichtsverständnissen in der Systematischen Theologie Abschn. 3.3 dieser Arbeit. 78 Tillich: Kairos I, 10. 79 Ebd. 80 Ebd., 11. 81 Ebd., 10.
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ständnissen unterscheidet er „religiös-absolute Geschichtsphilosophie“⁸² sowie eine „relative[ ] Form der Geschichtsphilosophie“⁸³. Unter religiös-absoluter Geschichtsphilosophie fasst er die „revolutionär-absolute Auffassung“⁸⁴, die das Ereignis, das „alles umwandeln wird“⁸⁵, unmittelbar erwartet, sowie eine „konservative Umwandlung der revolutionären Form“⁸⁶, die sich von der revolutionären Form dergestalt unterscheidet, dass für sie „das entscheidende Ereignis bereits stattgefunden [hat].“⁸⁷ Beiden gemeinsam ist nach Tillich sowohl die Vorstellung vom „Kampf zwischen Licht und Finsternis, zwischen Gut und Böse […]“⁸⁸ als auch ein absolutes Nein bzw. Ja zu ausschließlich einem Teil der Geschichte, in der revolutionär-absoluten Auffassung das „absolute Nein über alles Vergangene und ein absolutes Ja über alles Zukünftige“⁸⁹ und in der konservativ-absoluten Auffassung das Ja zur Vergangenheit und das Nein zur Zukunft, in welcher „nichts wirklich Neues erwartet werden [kann].“⁹⁰ Als relative Formen von Geschichtsphilosophien nennt Tillich drei Typen: „den klassischen, den fortschrittlichen und den dialektischen.“⁹¹ Gemäß des klassischen Typus ist innerhalb der Geschichte in jedem Zeitalter „die Entfaltung des menschlichen Wesens in der Fülle seiner Möglichkeiten“⁹² gegeben. Der fortschrittliche Typus versteht die Geschichte als kontinuierlichen Forschritt⁹³ und der dialektische Typus „unterwirft jeden Moment der Zeit dem ‚Ja‘ und ‚Nein‘.“⁹⁴ Die von Tillich in der Systematischen Theologie benannten Typen von geschichtlichen Geschichtsverständnissen – Fortschrittsglaube, Utopismus und Transzendentalismus – können alle unter die religiös absoluten Formen oder die relativen Formen von Geschichtsphilosophien gemäß Kairos I fallen, da in Kairos I das Kriterium zur Typisierung der geschichtlichen Geschichtsverständnisse dar-
82 Ebd., 12. 83 Ebd., 16. 84 Ebd., 12. 85 Ebd. 86 Ebd., 13. 87 Ebd. 88 Ebd., 12. 89 Ebd. 90 Ebd., 13. Analog dazu unterscheidet Tillich 1926 in Kairos II Geschichtsverständnisse des Rückschritts und des Fortschritts, indem im Zusammenhang eines Rückschritts in konservativer Weise das geschichtlich entscheidende Ereignis in der Vergangenheit bestimmend ist und in Form des Fortschritts in der Zukunft erwartet wird (vgl. Ders.: Kairos II, 33f.). 91 Ders.: Kairos I, 16. 92 Ebd. 93 Ebd., 17. 94 Ebd., 18.
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in besteht, ob sie einen Teil der endlichen Geschichte absolut setzen oder ob sie jedem Teil der Geschichte eine relative Bedeutung zukommen lassen. Dies führt Tillich in Kairos I im Zusammenhang der Frage nach dem Verhältnis der Geschichte zu möglichen kairoi aus, wobei Tillich mit Blick auf ein christliches Verständnis des kairos die Alternative von absoluten und relativen Geschichtsverständnissen aufheben möchte, weil innerhalb der Geschichte alles „zum Gefäß des Unbedingten, aber nichts […] selber unbedingt werden [kann].“⁹⁵ In der Systematischen Theologie hingegen liegt das Kriterium zur Unterscheidung der Geschichtsauffassungen in der Bestimmung des Verhältnisses der Geschichte zur Verwirklichung des telos der Geschichte, indem die Verwirklichung des geschichtlichen telos entweder innerhalb der Geschichte in fortwährendem Fortschritt bzw. in einem gemäß des Utopismus zu verwirklichenden Endstadium der Geschichte liegt oder aber im Sinne transzendentalistischer Geschichtsauffassungen jenseits der geschichtlichen Wirklichkeit, so dass die Geschichte als solche mit Blick auf die Verwirklichung ihres telos irrelevant wird. Tillichs Anliegen in der Systematischen Theologie ist es, diese Alternative von Diesseits und Jenseits, von Immanenz und Transzendenz aufzuheben, um gleichermaßen an einem die Geschichte transzendierenden telos festhalten und der endlichen Geschichte Bedeutung im Hinblick auf dieses telos beimessen zu können, ohne eben jene zu verabsolutieren. Dementsprechend stehen beide Typisierungen nicht in einem Widerspruch zueinander, sondern setzen dem jeweiligen zentralen Thema folgend unterschiedliche Akzente.⁹⁶ Was jedoch in Tillichs weiteren Schriften bis hin zur Systematischen Theologie fortwährend abnimmt, ist die enge Beziehung der Kairos-Erfahrung und des Religiösen Sozialismus, womit auch die starke Betonung der konkreten gesellschaftsgestaltenden Handlungsorientierung abnimmt. Das entspricht Tillichs in Kairos II formulierter Auffassung, dass sich Theologie „in die konkrete geschichtliche Lage begeben, den Mut zur Entscheidung aufbringen und sich damit konkret […] unter das Gericht stellen [sollte].“⁹⁷ Da die politische, gesellschaftliche und damit auch Tillichs persönliche Situation ab den 1920er Jahren aufgrund der historischen Er-
95 Tillich: Kairos I, 24. Vgl. ausführlich zu Tillichs christlichem Verständnis des Verhältnisses von Jesus Christus als kairos sowie den ihm untergeordneten kairoi Abschn. 4.1 dieser Arbeit. 96 Gleiches gilt für Tillichs Typisierung des Kampfes gegen das Dämonische in der Religionsgeschichte, die er 1926 in: Ders.: Das Dämonische. Ein Beitrag zur Sinndeutung der Geschichte, in: Ders.: GW VI, 42–71 vornimmt, wo er den mystischen, den exklusiven und den kultischen, dialektischen Weg unterscheidet. Vgl. ausführlich zur Entwicklung von Tillichs Verständnis des Dämonischen „Das Dämonische“ unter Abschn. 6.2 dieser Arbeit. 97 Ders.: Kairos II, 33. Vgl. hierzu auch Tillichs Berliner Vorlesung aus dem SoSe 1919 Das Christentum und die Gesellschaftsprobleme der Gegenwart, in: Ders.: Das Christentum und die Gesell-
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eignisse – der Aufbruchstimmung der Weimarer Republik, der Machtergreifung durch den Nationalsozialismus, der damit verbundenen Emigration Tillichs in die USA, Beginn und Ende des 2. Weltkrieges sowie der Umgestaltung der Weltordnung ab 1945⁹⁸ – entscheidende Wendungen erfährt, kommt Tillich im Rahmen seiner theologischen Schriften zu neuen, sich auf die jeweilige geschichtliche Lage beziehenden Beurteilungen der historischen Situation. Schon in Die geistige Welt im Jahre 1926 formuliert Tillich in Bezug auf das geistige Selbst- und Weltverständnis im Jahre 1926: Es ist sehr still geworden von allem Positiven, was Mensch und Kultur vorzuweisen hätten. […] Dennoch regen sich in dieser Stille, die uns vor dem Unbedingten geziemt, schöpferische Kräfte, die die neue Sprache für das ewige Wort suchen in Rede und Handlung. Sie sind verborgen, […] aber sie sind da. Sie sind die geistige Welt des Jahres 1926, gerade weil sie nicht erkennbar sind. Denn das Jahr 1926, es ist im Geistigen ein Jahr der Beruhigung, der Müdigkeit, der Resignation und – des Atemholens, der verborgenen Schöpfung.⁹⁹
In neu akzentuierter Weise bezeichnet Tillich 1948 in Das geistige Vakuum die Geschichte des 19. Jahrhunderts als „Geschichte des Zerbrechens eines geistigen Zentrums“¹⁰⁰, das nach Tillich „jede Gesellschaft, jede Kultur“¹⁰¹ als Mittelpunkt benötigt, um nicht zu zerbrechen. Daraus ergibt sich für Tillich die Beurteilung der Geschichte des 20. Jahrhunderts als Geschichte der Versuche, Zentren durchzusetzen, die nicht heilende, sondern desintegrierende Zentren sind. […] Was geschieht denn in den sogenannten totalitären Systemen? Gewisse Seiten der menschlichen Natur werden hingestellt als das geistige Zentrum, von dem
schaftsprobleme der Gegenwart, in: Ders.: Gesammelte Werke. Ergänzungs- und Nachlaßbände. Berliner Vorlesungen I (1919–1920), Sturm, Erdmann (Hg.), Bd. XII, Berlin 2001, 27–258. 98 Vgl. auch Ratschow: Paul Tillich (1980), 96ff. 99 Tillich: Die geistige Welt im Jahre 1926, 99. Vgl. für eine vertiefende Einschätzung von Tillichs Verständnis der historischen Situation von 1926 auch seine Schrift: Ders.: Die religiöse Lage der Gegenwart, in: Ders.: GW X, 9–93. Eine ausführliche Studie zu dieser Schrift mit Bezug auf den historischen Kontext und Tillichs Eschatologie zu dieser Zeit findet sich bei: Wenz: Eschatologie als Zeitdiagnostik. Weitere zeitdiagnostische Schriften Tillichs aus diesem Zeitraum sind: Tillich, Paul: Die gegenwärtige Lage des Protestantismus, in: Ders.: EW XI, 1–5; Ders.: Klassenschichtung und Geisteslage, in: Ders.: EW XI, 18–27; Ders.: Geisteslage und philosophische Haltung, in: Ders.: EW XI, 66–75. 100 Ders.: Das geistige Vakuum, 230. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Tillichs in Band III seiner Systematischen Theologie ausführlich entwickeltes Verständnis des Lebens und der Lebensfunktionen Selbst-Integration, Sich-Schaffen und Selbst-Transzendierung unter den Prinzipen der Zentriertheit, des Wachstums und des Heiligen. Vgl. hierzu auch Kap. 2 dieser Arbeit. 101 Ebd.
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alles determiniert sei. Aber diese relativen, bedingten Zentren sind gerade nicht allumfassend, und darum müssen sie sich gewaltsam durchsetzen.¹⁰²
Damit geht Tillich folgend der gesellschaftliche Machtverlust einher, „Personen und Gemeinschaften zu integrieren, Kultur zu schaffen und Symbole des menschlichen Seins über sich hinauszusetzen.“¹⁰³ Gerade in diesem Machtverlust sieht Tillich das neue Zentrum eines „heiligenden Leer-geworden-seins. Heilig in dem Sinne […], daß wir glauben, daß in dieses Leergewordensein sich neue Möglichkeiten entfalten können.“¹⁰⁴ Möglicherweise verdankt sich diese Formulierung einer Tillichs Japanreise im Jahre 1960 vorangegangenen Auseinandersetzung mit dem Buddhismus. Gemäß seines theologischen Grundgedankens, dass aufgrund der Beziehung wie auch der Differenz von Bedingtem und Unbedingtem endliche Phänomene, wie es auch die Religionen sind, weder absolut bejaht noch absolut verneint werden können, formuliert er in Bezug auf seine Erfahrungen in Japan folgende Einsicht: [T]hey have confirmed my theological conviction that one cannot divide the religions of mankind [sic] into one true and many false religions. Rather, one must subjekt all religions, including Christianity, to the ultimate criteria of religion: the criterion of a faith which transcends every finite symbol of faith and the criterion of a love which unconditionally affirms, judges and receives the other person.¹⁰⁵
Das Leer-geworden-sein bietet somit nach Tillich im Hinblick auf die Beziehung des Bedingten zum Unbedingten, des Vorläufigen zum Endgültigen, die Chance, die eigene Absolutheit in Zweifel zu ziehen. […] Wenn wir dahin gekommen sind, dann glaube ich, werden in diesen Vakuum hinein die Kräfte des Grundes zu strömen beginnen und aus diesen Kräften werden Symbole entstehen, die genau den Charakter haben, das Geheimnis des Grundes zum Ausdruck zu bringen und damit ein neues geistiges Zentrum zu geben.¹⁰⁶
Eine ähnliche Reflexion des Leer-geworden-seins findet sich in Tillichs Vortrag Religion und Kultur von 1926: „Wenig ist in unserer heutigen Kultur übriggeblieben, das nicht einem sensiblen Geist der Gegenwart ein Vakuum fühlbar machte – das
102 Tillich: Das geistige Vakuum, 234. 103 Ebd., 233. 104 Ebd., 235f. 105 Ders.: On the Boundary Line, in: Christian Century 49.77 (7. Dez. 1960), 1435–1437, hier 1435, hier zitiert nach Fukai (Hg.): Paul Tillich – Journey to Japan in 1960, 1.) Vgl. ausführlich zur Japanreise Tillichs: ebd. 106 Tillich: Das geistige Vakuum, 236.
6.2 Eschatologische Grundlinien | 253
Fehlen von Letztgültigkeit und substantieller Macht in Sprache und Erziehung, in Politik und Philosophie, in der Entwicklung der Persönlichkeit und im Leben der Gemeinschaft.“ Hier zeigt sich wesentlich die Kontinuität von Tillichs theologischem Grundgedanken, das Bedingte nicht mit dem Unbedingten identifizieren und die Differenz im Rahmen der Beziehung des Bedingten zum Unbedingten wahren zu wollen, der dann in der jeweiligen Gegenwartslage konkret zur Anwendung kommt. Analog zu Tillichs Symbolbegriff, zu seiner Auffassung dessen, was er als „Prinzip“ bezeichnet, oder auch zu seinem Verständnis des Heiligen¹⁰⁷ zeigt sich auch in diesem Zusammenhang das Unbedingte, das Ewige innerhalb der Geschichte ausschließlich im Bedingten, im Zeitlichen, in der konkreten historischen Erscheinung. Dementsprechend begibt sich Tillich gemäß seiner eigenen Forderung mit seiner Theologie selbst in die konkrete historische Lage und unterzieht seine theologischen Begrifflichkeiten in Bezug auf deren Aussagekraft einer kritischen Betrachtung.¹⁰⁸ So schreibt er 1959 in einem Brief zu Eduard Heimanns 70. Geburtstag über die Begriffe des kairos, der Theonomie und des Dämonischen: „Haben diese Begriffe auch heute noch eine, wenn auch gewandelte Bedeutung?“¹⁰⁹ Hinsichtlich des Kairos-Begriffes kommt Tillich im genannten Brief auch mit Blick auf seine Beziehung zur religiös-sozialistischen Bewegung zu folgendem Urteil: Es ist eine Tatsache, daß sich Kairos-Erlebnisse überall finden und daß sie geschichtsgestaltende Kraft hatten, auch wenn ihre unmittelbaren Erwartungen sich nicht erfüllten. […] Nicht die Realisierung der utopischen Symbole, Herrschaft des Heiligen Geistes, Reich der Gerechtigkeit, […] klassenlose Gesellschaft […] ist entscheidend für die Idee des Kairos, sondern der Einbruch des Neuen aus der vertikalen Dimension, der das Alte erschüttert und umgestaltet. Wenn Kairos und Kairosbewußtsein zusammengehören und wenn die Erfüllung der unmittelbaren und konkreten Erwartungen kein Kriterium für die Realität eines Kairos ist, dann kann man den Kairos nicht als objektives Faktum feststellen. Nur ein Teilhaben an dem Neuen, das der Kairos bringt, kann die Überzeugung vermitteln, daß ein Kairos stattfindet oder stattgefunden hat.¹¹⁰
Aufgrund dieses Zitates von Tillich teilen die vorliegenden Ausführungen die Einschätzung von Wenz nicht, dass Tillich konstant „der festen Überzeugung [war], in einer vom Ewigen bewegten Zeit des Kairos zu leben und zu denken“¹¹¹, da die-
107 Vgl. zum Tillichs Verständnis des Heiligen auch Abschn. 2.2 dieser Arbeit. 108 Vgl. hierzu Tillichs später formuliertes Verständnis der Methode der Korrelation und des theologischen Zirkels in Band I der Systematischen Theologie. Vgl. dazu auch Unterabschn. 2.3.2 dieser Arbeit. 109 Tillich: Kairos – Theonomie – Das Dämonische, 310. 110 Ebd., 310f. 111 Wenz: Paul Tillich, 121.
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ses Erleben aufgrund der historischen Entwicklungen spätestens im Zusammenhang des von Tillich konstatierten geistigen Vakuums in den Hintergrund tritt. In diese Linie fügt sich Tillichs Aufnahme des Kairos-Gedankens sowie seine Verhältnisbestimmung von kairos und kairoi in dem 1963 erschienenen Band III seiner Systematischen Theologie ein: Dort betont Tillich, dass das Erscheinen der Mitte der Geschichte in Jesus Christus als großem kairos in relativen kairoi in Gestalt spezifischer Manifestationen des Reiches Gottes in der Geschichte zwar immer wieder neu erlebt wird, aber eben jenes Erleben von relativen kairoi wesentlich einer sich am großen kairos als Kriterium orientierenden kritischen Prüfung unterzogen werden muss. Denn das ausschließlich durch den Einbruch des göttlichen Geistes in den menschlichen Geist hervorgerufene Kairos-Erlebnis ereignet sich unter den zweideutigen Bedingungen der Geschichte, weshalb sich eben jenes dämonischer Entstellung und falscher Beurteilung nicht entziehen kann.¹¹² Das beschriebene Insistieren auf der Zweideutigkeit des Kairos-Erlebnisses lässt sich exemplarisch vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung Tillichs mit dem evangelischen Theologen Emanuel Hirsch (1888–1972) veranschaulichen, die in einem ausführlichen, offenen Briefwechsel der beiden aus den Jahren 1933–1935 dokumentiert ist¹¹³: Hirsch kommt in seiner Schrift Die gegenwärtige geistige Lage im Spiegel philosophischer und theologischer Besinnung – Akademische Vorlesungen zum Verständnis des deutschen Jahres 1933¹¹⁴ im Rahmen seiner KairosTheologie zu einer realpolitischen Öffnung seines theologischen Denkens gegenüber dem Nationalsozialismus, indem er protestantische Theologie allein ermöglicht sieht
112 Vgl. zu Tillichs Verständnis von kairos und kairoi in Band III seiner Systematischen Theologie ausführlich Abschn. 4.1 dieser Arbeit. 113 Paul Tillich und Emanuel Hirsch verband eine langjährige Freundschaft, die 1907 bei einem Treffen des Wingolf begann und einen weiteren, früheren, Briefwechsel gegen Ende des 1. Weltkrieges in den Jahren 1917/1918 hervorgebracht hat. Beide Briefwechsel (1917–18/1933–35) finden sich in: Tillich, Paul: Paul Tillich – Emanuel Hirsch. Ein offener Brief an Emanuel Hirsch, in: Ders.: Gesammelte Werke. Ergänzungs- und Nachlaßbände. Briefwechsel und Streitschriften. Theologische, philosophische und politische Stellungnahmen, Albrecht, Renate/Trautmann, René (Hgg.), Bd. VI, Frankfurt / Main 1983, 95–218. Eine Auseinandersetzung mit dem Briefwechsel von 1917– 18 bietet: Schütte, Hans-Walter: Subjektivität und System. Zum Briefwechsel Emanuel Hirsch (1888–1972) und Paul Tillich (1886–1965), in: Danz (Hg.): Theologie als Religionsphilosophie, 3–22. Vgl. zu einer ausführlichen Auseinandersetzung mit dem offenen Briefwechsel zwischen Hirsch und Tillich: Christophersen, Alf: Kairos. Protestantische Zeitdeutungskämpfe in der Weimarer Republik, Tübingen 2008. 114 Hirsch, Emanuel: Die gegenwärtige geistige Lage im Spiegel philosophischer und theologischer Besinnung. Akademische Vorlesungen zum Verständnis des deutschen Jahres 1933, Göttingen 1934.
6.2 Eschatologische Grundlinien | 255
im ganzen inneren Sich-Aufschließen für das Große und Neue, das mit der nationalsozialistischen Bewegung durchgebrochen ist. Ihre Weltanschauung soll der tragende, natürlich geschichtliche Lebensgrund für deutsche Menschen evangelischen Glaubens sein. […] [D]ie Befreiung unseres Volkes, der Aufbruch des neuen Geschichtsalters [ist] auch Befreiung und Aufbruch des evangelischen Christentums.¹¹⁵
Demgegenüber betont Tillich in seinem offenen Brief an Hirsch 1934 im Zuge des prophetisch-eschatologischen Aspekts seiner Kairos-Lehre deren dargestelltes kritisches Element, das jegliche Erfahrung von kairoi der Kritik des großen kairos, Jesus Christus, unterzieht, um einer Verabsolutierung von endlichen Gewissheiten wie auch einer Identifikation von realgeschichtlichen Stadien mit dem Reich Gottes und somit der Ideologieanfälligkeit der Kairos-Theologie entgegenzuwirken.¹¹⁶ Er schreibt: Vielleicht erinnerst Du Dich an unsere Unterscheidung von sakramentaler und prophetischer Haltung. Es ist die Unterscheidung zwischen der Heiligsprechung eines in Raum und Zeit Gegebenen und dem Heiligen, das im Sinne der Reichgottesverkündigung Jesu „nahe herbeigekommen ist“, also zugleich verheißen und gefordert ist. Dieses eschatologische Moment gehört unabtrennbar zur Kairos-Lehre […]. Die Theologie des Kairos […] vertritt […] die prophetisch-urchristliche Paradoxie, daß das Reich Gottes in der Geschichte kommt und doch über der Geschichte bleibt. […] Nach diesen Bemerkungen kann ich meine Kritik an Deinem Buche in den Satz zusammenfassen: Du verkehrst die prophetisch-eschatologisch gedachte Kairos-Lehre in priesertlich-sakramentale Weihe eines gegenwärtigen Geschehens. […] Damit hast Du das Jahr „1933“ dem Jahre „33“ so angenähert, daß es für Dich heilgeschichtliche Bedeutung gewonnen hat.¹¹⁷
Hierzu ist auch Niebuhr interessant, der in diesem Zusammenhang von nationalem Götzendienst im Sinne der Selbstverherrlichung spricht.¹¹⁸ Zusammenfassend lässt sich somit sagen, dass Tillich im Zusammenhang seines theologischen Systems am Begriff des kairos als Durchbruch des Ewigen in das Zeitliche festhält, ihn anhand der jeweils gegenwärtigen Geisteslage kritisch prüft und seine konkrete Verwendung entsprechend anpasst. So ergibt sich durch Tillichs zunehmende Distanz zur religiös-sozialistischen Bewegung sowie seine anhand der Auseinandersetzung mit Hirsch offengelegte Haltung zur Ideologie der Deutschen Christen die geschilderte Neuakzentuierung in der Beschreibung des Kairos-Erlebnisses, die in Abgrenzung von der Forderung eines konkret gesell115 Zitiert nach: Tillich, Paul: Die Theologie des Kairos und die gegenwärtige geistige Lage. Ein offener Brief an Emanuel Hirsch, in: Ders.: EW VI, 142–167, 153f. [Hervorhebung im Original]. 116 Vgl. hierzu auch Schüßler, Werner: Kairos, in: Trierer theologische Zeitschrift 113.2 (2014), 110–122, hier 119. 117 Tillich: Die Theologie des Kairos und die gegenwärtige geistige Lage, 151f./154. 118 Niebuhr: Jenseits der Tragödie, 58.
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schaftlich umgestaltenden Handelns im Sinne der religiös-sozialistischen Bewegung in der Betonung eines vom Unbedingten her (selbst-) kritischen Kriteriums, im Angesicht dessen sich die eigene Absolutheit in Zweifel ziehen lässt und sich die Dynamik der zweideutigen Geschichte entfaltet, besteht. Während in Tillichs früher Verwendung des Kairos-Begriffes die konkrete Wirkung des Unbedingten auf das Bedingte im Vordergrund steht, liegt der Akzent in der späteren Verwendung auf der Unverfügbarkeit des Unbedingten, das in das Bedingte einbricht, wobei jeweils jedoch grundsätzlich beide Aspekte im Kairos-Verständnis gegenwärtig sind.¹¹⁹ Daran anschließend lässt sich nun in einer ähnlichen Weise Tillichs theologische Entwicklung in Bezug auf den prophetischen Geist, die Theonomie, das Dämonische sowie das protestantische Prinzip erläutern. Prophetischer Geist Tillichs Verständnis des prophetischen Geistes ist im Zusammenhang seiner Affinität zur religiös-sozialistischen Bewegung zunächst mit dem dargelegten auf die Aufnahme des Zeitlichen in das Ewige hin handlungsorientierten KairosBewusstsein verbunden. Die gestaltende Kraft von Kairos-Erlebnissen zeigt sich gemäß einer Formulierung Tillichs aus seiner Schrift Grundlinien des religiösen Sozialismus. Ein systematischer Entwurf von 1923 in Form des in den menschlichen Geist einbrechenden prophetischen Geistes: „Auf dem Boden eines gegebenen Heiligen erhebt sich die Forderung des gesollten Heiligen […]. Prophetie erfaßt das Kommende, Gesollte aus dem Lebenszusammenhang mit dem Gegenwärtigen, Gegebenen. […] Für den religiösen Sozialismus kann es nur die prophetische Haltung geben. […] Wir haben für den Inhalt der prophetischen Geschichtsschau das Wort ‚Kairos‘ gebraucht. Es bedeutet den mit unbedingtem Gehalt und unbedingter Forderung erfüllten Zeitmoment. […] Prophetie ist Bewußtsein des Kairos […].“¹²⁰
Dabei ist es für Tillich von zentraler Bedeutung, dass der prophetische Geist analog zu seinem Verständnis des Kairos-Erlebens als Hereinbrechen des Ewigen in das Zeitliche in den menschlichen Geist einbricht, als solcher daher nicht vom Menschen ergriffen werden kann und sich als Quelle der das Zeitliche vom Ewigen her umgestaltenden Kraft erweist, denn: „Das Entscheidende aber, der neue Durchbruch des Gehaltes, ist nicht Sache des Arbeitens, sondern ist Schicksal und Gnade. Der Glaube an den Kairos ist der Ausdruck für das Bewußtsein […], von einem
119 Vgl. für eine Übersicht von verschiedenen Bedeutungsdimensionen des Kairos-Begriffes von Tillich auch: Schüßler: Kairos, 110–122. Eine historisch orientierte Auseinandersetzung mit Tillichs frühem Kairos-Begriff bietet: Christophersen: Kairos (insbesondere 68–126). 120 Tillich: Grundlinien des religiösen Sozialismus, 93f.
6.2 Eschatologische Grundlinien | 257
neuen Durchbruch des Unbedingten berührt zu sein.“¹²¹ So heißt es auch in Kairos II von 1926: „Der prophetische Geist […] schafft Neues in der Zeit, weil seine Deutung der Zeit die Zeit von der Ewigkeit her erschüttert und umwendet. Es ist klar, daß dieses nicht ein irgendwie fixierbarer Geist ist. Prophetische Zeitdeutung kann man nicht lernen […].“¹²² Gleichermaßen liegt „die Verwirklichung dessen, was die Prophetie schaut, […] jenseits der Zeit.“¹²³ Diesen Gedanken formuliert Tillich 1929 in Der Protestantismus als kritisches und gestaltendes Prinzip mit Akzent auf die in die Geschichte hineinwirkende Transzendenz des Gesollten, indem er das Prophetische als die „aus ‚dem Jenseits des Lebens‘ kommende Verkündigung der Krisis des Lebens“¹²⁴ beschreibt, wodurch klar betont wird, dass das Gesollte etwas ist, das die Geschichte transzendiert, aber durch das Einbrechen in die Geschichte das geschichtliche Leben um seiner Erfüllung willen in Frage stellt, orientiert und in ihr gegenwärtig ist. Dementsprechend zeigt sich Tillich folgend an dem die Geschichte transzendierenden gesollten Ziel die Endlichkeit und Begrenztheit aller Prophetie: „Das, wodurch das Sein in Frage gestellt wird, ist nicht angewiesen auf Erfüllung im Sein. Es enthält eine Erfüllung, die jenseits der kritischen Situation steht. Der Ausdruck dafür ist: ‚Gnade‘. […] Aber jede Form, in der die Gnade erscheint, muß selbst unter der Kritik stehen, d.h. die Gnade darf nicht gegenständlich gemacht werden“¹²⁵, denn die „Gnade als anschauliche Wirklichkeit ist nicht denkbar in der aktuellen Entscheidungssphäre des Persönlichkeitszentrums. Sie kann wirklich sein nur in dem schon Entschiedenen, in dem Sein, […] das die Persönlichkeit trägt und bestimmte Entscheidungen ermöglicht. Das schon Entschiedene und Erfüllte, die Vorwegnahme des ‚Eschaton‘ im Sein ist der Ort, an dem die Gestalt der Gnade erscheint“¹²⁶, im christlichen Geschichtsverständnis in Jesus als dem Christus. Ein vergleichbares, jedoch etwas anders akzentuiertes Verständnis von Prophetie findet sich schließlich auch in Tillichs Systematischer Theologie. So heißt es in Band I: „Der Prophetismus versucht, die Wirklichkeit kraft seines prophetischen Auftrags umzuformen. Er transzendiert die Wirklichkeit nicht, um zum göttlichen Abgrund zu gelangen. Er verspricht Erfüllung in der Zukunft (wie transzendent diese Zukunft auch immer verstanden werden mag).“¹²⁷ Darüber hinaus
121 122 123 124 125 126 127
Ebd., 117. Ders.: Kairos II, 31. Ebd., 35. Ders.: Der Protestantismus als kritisches und gestaltendes Prinzip, 29. Ebd., 31f./44. Ebd., 51. Ders.: ST I, 169 [142].
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findet sich in Band III eine dem geschilderten Verständnis analoge Beziehung von kairos und prophetischem Geist: „Obwohl der prophetische Geist während langer Zeitspannen latent oder verdrängt sein kann, fehlt er niemals völlig und kann […] in einem kairos durchbrechen. Das Gewahrwerden eines kairos geschieht in einer Vision. […] Er wird nicht durch objektive Beobachtung erfaßt, sondern in existentieller Beteiligung. […] Der prophetische Geist ist schöpferisch und nicht von Gründen und gutem Willen abhängig.“¹²⁸ Aufgrund der grundlegenden Beziehung von kairos und prophetischem Geist ist gemäß Tillich dementsprechend das dem prophetischen Geist entspringende Handeln, in welchem die Gnade innergeschichtlich Gestalt annimmt, gleichermaßen dem Gericht und der Kritik von Jesus Christus als dem großen kairos unterworfen wie das Erleben von relativen kairoi.¹²⁹ Somit zeigt sich im Hinblick auf die konkreten Bezüge von Tillichs Ausführungen zum prophetischen Geist eine der Entfaltung des Kairos-Verständnisses ähnliche Entwicklungslinie, die mit einer engen Verknüpfung des prophetischen Geistes mit der Handlungsorientierung der religiös-sozialistischen Bewegung beginnt und orientiert an Tillichs Auffassung des heiligenden Leer-geworden-seins in einen eher formalen Gebrauch im Sinne eines das Bedingte erschütternden (selbst-)kritischen Prinzips mündet, wobei auch hier beide Aspekte wesentlich durchgängig gegenwärtig sind. Demnach stellt sich die Frage, auf welche Weise sich diese Entwicklungslinie im Rahmen von Tillichs Verständnis der Theonomie, des Dämonischen und des protestantischen Prinzips zeigt. Theonomie Tillich entwickelt sein Verständnis von Theonomie seiner Auffassung von kairos und Prophetie entsprechend im Rahmen seiner Affinität zur religiös-sozialistischen Bewegung.¹³⁰ Dies lässt sich konkret veranschaulichen anhand der Prinzipien des Sozialismus, die Tillich in seiner Schrift Christentum und Sozialismus von 1919/1920 darstellt, und die er mit Blick auf den Religiösen Sozialismus christlich vom Unbedingten her gefüllt wissen will: Demnach beruht der Sozialismus auf einer Anerkennung der Autonomie des Subjekts, die mit traditionellen Autoritäten bricht, auf dem Prinzip der weltgestaltenden Vernunft in Abgrenzung zu Willkür und Zufall, auf einer Bejahung der Immanenz sowie einem ausgeprägten 128 Tillich: ST III, 421 [370f.]. 129 Vgl. für den Zusammenhang von Jesus Christus als Mitte der Geschichte und Tillichs Verständnis des Sinns der Prophetie auch Abschn. 4.1 dieser Arbeit. 130 Eine umfassende theologische Auseinandersetzung mit dem topos der Theonomie bietet: Graf, Friedrich Wilhelm: Theonomie. Fallstudien zum Integrationsanspruch neuzeitlicher Theologie, Gütersloh 1987. Vgl. speziell zu einer Verarbeitung von Tillichs Theonomiebegriff: ebd., 11/19ff.
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universalen Menschheitsgefühl.¹³¹ Eben jene Autonomie muss nach Tillich zur Theonomie, das heißt zum „freien unbedingten Erfassen des Unbedingten durch alle Dinge hindurch“¹³², vertieft und die weltgestaltende Vernunft durch die Offenbarung des Unbedingten orientiert werden. Die Bejahung der Immanenz hat aufgrund des Erlebens „des Unbedingten in allem Bedingten, Immanenten“¹³³ als „Heiligung des gesamten Kulturlebens“¹³⁴ zu erfolgen, und das universale Menschheitsgefühl ist „aus den Tiefen des Menschlichen“¹³⁵ von der Selbsterschließung des Unbedingten im Menschlichen her und nicht „aus dem Druck von außen“¹³⁶ zu begründen. Diese Beziehung von Autonomie und Theonomie erläutert Tillich 1922 ausführlicher in Kairos I, indem er die Autonomie als „das dynamische Prinzip der Geschichte“¹³⁷ und die Theonomie als „Substanz und Sinn der Geschichte“¹³⁸ versteht, wobei „in einer autonomen Kultur die kulturellen Formen nur in ihren endlichen Beziehungen, in einer theonomen Kultur dagegen in ihrer Beziehung zum Unbedingten erscheinen.“¹³⁹ Im Lichte der Beziehung des Bedingten zum Unbedingten erweist sich Autonomie demnach ausschließlich als „mittelbar religiös durch die kulturellen Inhalte hindurch, sie ist nicht unmittelbar religiös.“¹⁴⁰ Dementsprechend plädiert Tillich mit Bezug auf sein Verständnis des Religiösen Sozialismus auf eine Theonomie, die Autonomie im Sinne der „Logos-Struktur des Geistes und der Welt“¹⁴¹ anzuerkennen vermag. Darin grenzt er sich ab von heteronomen Kulturen, die „den menschlichen Geist einem fremden Gesetz unter[werfen], sei es religiös oder profan.“¹⁴² Eine derart verstandene Theonomie „vereinigt das absolute und das relative Element in der Deutung der Geschichte: die Forderung, daß alles Relative zum Träger des Absoluten wird, und die Einsicht, daß nichts Relatives jemals zum Absoluten selbst werden kann.“¹⁴³ Vor dem Hintergrund seines Zeitgeistes erachtet Tillich in den frühen 1920er Jahren eine solche Theonomie als
131 Tillich, Paul: Christentum und Sozialismus I+II, in: Ders.: GW II, 21–34, hier 21–24. 132 Ebd., 25. 133 Ebd., 27. 134 Ebd. 135 Ebd., 28. 136 Ebd. 137 Ders.: Kairos I, 22. Vgl. zu Tillichs Verständnis von „Prinzip“ auch Religiöser Sozialismus unter Abschn. 6.2 dieser Arbeit. 138 Ebd. 139 Ebd. 140 Ebd., 23. 141 Ebd. 142 Ebd. 143 Ebd., 22.
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Ziel des religiösen Sozialismus, was er in seiner Schrift Grundlinien des religiösen Sozialismus. Ein systematischer Entwurf von 1923 wie folgt formuliert: „Je näher eine Religion diesem Ideal der Theonomie steht, desto leichter kann der autonom geborene Sozialismus sich mit ihr einen. Denn Theonomie ist das Ziel des religiösen Sozialismus.“¹⁴⁴ Analog zur Entwicklungslinie von Tillichs Verständnis des kairos wie auch des prophetischen Geistes setzt Tillich in späteren Schriften den Akzent weniger auf die unmittelbare, das innergeschichtliche Handeln orientierende Gegenwart des Unbedingten als auf den die innergeschichtliche Wirklichkeit kritisch richtenden, transzendenten Aspekt der Theonomie in ihrer Beziehung zur geschichtlichen Gegenwart. Dementsprechend versteht Tillich 1959 in Kairos und Utopie Theonomie nicht als Erfüllung, sondern als innergeschichtliche[s] Abbild der Erfüllung […]; sie ist nicht das Reich Gottes, sondern das fragmentarische, vorwegnehmende, immer gefährdete Bild des Reiches Gottes in einer spezifischen Periode der menschlichen Geschichte. Und in diesem Sinne können wir sagen, daß, wo immer ein Kairos erlebt wurde, theonome Schöpfungen aus ihm erwachsen sind, meist ganz anderer Gestalt, als das war, was im Moment des Kairos gesehen wurde, und doch Bestätigungen der Gegenwart des prophetischen Geistes […].¹⁴⁵
So kann Tillich dem Theonomie-Begriff nach seiner kritischen Betrachtung 1959 in einem Brief zu Eduard Heimanns 70. Geburtstag folgenden, Autonomie und Heteronomie verbindenden, Sinn zusprechen: Wir sprachen in unserer religiös-sozialistischen Bewegung von einer kommenden Theonomie. Auch dieser Begriff schien durch die tatsächliche Entwicklung als irreal erwiesen zu sein. […] Wieder frage ich: Hat der Begriff damit seinen Sinn verloren? […] Theonom ist eine Kultur, in der die autonomen Schöpfungen des menschlichen Geistes Träger dessen sind, was uns unbedingt angeht, des Heiligen. Sofern die menschliche Existenz von dem entfremdet ist, was sie wesenhaft ist, erscheint das unbedingt Angehende, das Heilige, als Einbruch in die entfremdete Existenz und in diesem Sinne als heteronom. Aber es ist heteronom nicht gegenüber dem menschlichen Wesen, sondern nur gegenüber der menschlichen Existenz und ihren selbstzerstörerischen Kräften. Damit haben wir einen Begriff der Theonomie, der das Notwendige der Autonomie und das Berechtigte der Heteronomie in sich vereinigt. […] Ohne die verborgene theonome Einheit würde die autonome Seite der Kultur in völlige Sinnlosigkeit und die heteronome in Willkür versinken. Beide Gefahren drohen immer und bedrohen sicherlich unsere gegenwärtige westliche Kultur. Dieser doppelten Bedrohung gegenüber bleibt das Ziel der Theonomie gültig, das wir uns in der religiös-sozialistischen Bewegung gestellt haben.¹⁴⁶
144 Tillich: Grundlinien des religiösen Sozialismus, 98. 145 Ders.: Kairos und Utopie, 156. 146 Ders.: Kairos – Theonomie – Das Dämonische, 312ff. [kursiv C.D.].
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261
Eben jenem Verständnis der Theonomie in den beiden genannten Schriften von 1959 vergleichbare Thematisierungen von Theonomie finden sich in anderer Akzentuierung in Band I (1951) und Band III (1963) der Systematischen Theologie: So erörtert Tillich in Band I „die Frage nach der Theonomie“¹⁴⁷ im Zusammenhang des ersten Teils seines theologischen Systems „Vernunft und Offenbarung“ in Bezug auf den entfremdungsbedingten „Konflikt zwischen der autonomen und der heteronomen Vernunft.“¹⁴⁸ Tillich versteht hier unter Autonomie […] nicht die Freiheit des Individuums, sein eigenes Gesetz zu sein […]. Autonomie bedeutet den Gehorsam des Individuums gegenüber dem Vernunftgesetz, das es in sich selbst als einem vernünftigen Wesen findet. […] Ihre Unabhängigkeit ist das Gegenteil von Willkür, sie ist Gehorsam gegenüber ihrer eigenen essentiellen Struktur, dem Vernunftgesetz, das das Naturgesetz des Geistes und der Wirklichkeit ist, und das aus dem göttlichen Gesetz stammt, aus dem Grunde des Seins-Selbst.¹⁴⁹
Demgegenüber ist die „Grundlage echter Heteronomie […] der Anspruch, im Namen des Seinsgrundes und daher unbedingt und endgültig zu sprechen. […] Die Heteronomie in diesem Sinne ist gewöhnlich eine Reaktion gegen eine Autonomie, die ihre Tiefe verloren hat“¹⁵⁰ und damit ihre essentielle Beziehung zum Grund alles Seienden, wobei nach Tillich die Heteronomie „als solche […] zerstörerisch [ist], da sie der Vernunft das Recht der Autonomie abspricht und ihre Strukturgesetze von außen her zerstört.“¹⁵¹ Daher definiert Tillich „Theonomie“ im genannten Kontext wie folgt: Theonomie ist nicht das Annehmen eines göttlichen Gesetzes, das der Vernunft von einer höchsten Autorität auferlegt ist; sie ist autonome Vernunft, die mit ihrer eigenen Tiefe verbunden ist. In einer theonomen Situation aktualisiert sich die Vernunft im Gehorsam gegen ihre Strukturgesetze und in der Macht ihres eigenen, unerschöpflichen Grundes. […] Aber es gibt unter den Bedingungen der Existenz keine vollständige Theonomie. Beide Elemente, die essentiell in der Theonomie verbunden sind, kämpfen unter den Bedingungen der Existenz gegeneinander und suchen sich gegenseitig zu zerstören.¹⁵²
Daraus ergibt sich Tillich folgend in Bezug auf die Vernunft die existentielle Frage nach „einer Wiedervereinigung dessen, was immer in Raum und Zeit gespal-
147 Ders.: ST I, 101 [83]. 148 Ebd. 149 Ebd., 103 [84f.]. Vgl. zur in Gott begründeten Logos-Struktur alles Endlichen auch Abschn. 5.1 sowie Abschn. 5.3 dieser Arbeit. 150 Ebd. 151 Ebd., 103 [85]. 152 Ebd. Vgl. zur universalen Entfremdung als Bedingung der Existenz auch Unterabschn. 2.3.1 sowie Unterabschn. 3.1.1 dieser Arbeit.
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ten ist, aus der Vernunft selbst“¹⁵³, auf die „Offenbarung […] die Antwort [ist]“¹⁵⁴, denn die „Offenbarung überwindet den Konflikt zwischen Autonomie und Heteronomie, indem sie deren essentielle Einheit wieder herstellt. […] Wo Theonomie eine religiöse und kulturelle Situation bestimmt – wenn auch fragmentarisch und zweideutig […] – ist die Vernunft weder der Offenbarung unterworfen, noch ist sie von ihr unabhängig.“¹⁵⁵ Dementsprechend thematisiert Tillich Theonomie noch einmal ausführlich in Band III im Hinblick auf die Gegenwart des göttlichen Geistes in Moralität, Kultur und Religion: Auf Grund meiner Erfahrungen im Religiösen Sozialismus […] möchte ich den damals geprägten Begriff „Theonomie“ beibehalten […]. Hier an dieser Stelle des Systems gebrauche ich das Wort „Theonomie“, um den Zustand einer Kultur unter der Einwirkung des göttlichen Geistes zu charakterisieren. Der nomos (Gesetz), der in einer theonomen Kultur wirksam ist, ist das Gerichtetsein des kulturellen Lebens auf das Unbedingte in Sein und Sinn. […] Theonome Kultur ist eine Kultur, die vom göttlichen Geist bestimmt und auf ihn gerichtet ist […]. Der ständige Kampf zwischen autonomer Eigenständigkeit und heteronomer Reaktion führt zur Frage nach einer neuen Theonomie […]. Eine neue Theonomie kann nur entstehen durch die Einwirkung des göttlichen Geistes.¹⁵⁶
Indem Tillich Offenbarung wie auch das Wirken des göttlichen Geistes als Bedingung der Möglichkeit von unter den innergeschichtlichen Bedingungen der Entfremdung theonomen Situationen bestimmt, ist „neue Theonomie keine Sache der Absicht und des guten Willens, sondern des historischen Schicksals und der Gnade […]. Sie ist eine Wirkung der letztgültigen Offenbarung, die von keiner Autonomie und von keiner Heteronomie verhindert werden kann“¹⁵⁷, denn „Gnade bedeutet, daß die Gegenwart des göttlichen Geistes nicht herbeigeführt werden kann, sondern gegeben wird.“¹⁵⁸ Das entspricht gleichermaßen Tillichs Betonung der externen Konstitution von Kairos-Erlebnissen und prophetischem Geist wie auch seiner Ablehnung einer innergeschichtlichen Progression. Somit kann innergeschichtlich das theonome Wirken des göttlichen Geistes latent oder auch
153 Tillich: ST I, 103 [85]. 154 Ebd., 175 [147]. 155 Ebd., 175ff. [147ff.]. 156 Ders.: ST III, 286ff. [249ff.]. Vgl. zum Gebrauch von „neuer Theonomie“ auch Tillichs Verständnis von „Neues Sein“ im Sinne der Überwindung des Zwiespalts von Essenz und Existenz unter Unterabschn. 3.1.2 dieser Arbeit. Vgl. zu Moralität, Kultur und Religion als Funktionen des Geistes auch Abschn. 2.2, Abschn. 2.3 sowie Abschn. 5.1 dieser Arbeit. 157 Ders.: ST I, 178 [150]. 158 Ders.: ST III, 244f. [211].
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manifest sein, ganz analog zu Tillichs Verständnis von latenter und manifester Kirche.¹⁵⁹ Vollkommene Theonomie vollzieht sich somit aufgrund der zu erhoffenden Aufhebung der Zweideutigkeiten des Lebens am Ende der Geschichte ausschließlich als Ewiges Leben „in der Fülle des Reiches Gottes.“¹⁶⁰ Daher stellt sich im Folgenden die Frage, auf welche Weise Tillich sein in der Systematischen Theologie formuliertes Verständnis der entfremdungsbedingten universalen Zweideutigkeit in seinen eben jener vorausgehenden Schriften entwickelt. Das Dämonische Tillich arbeitet in Bezug auf das, was im Zusammenhang der Beziehung des Bedingten zum Unbedingten zerstörerisch wirkt, zunächst mit dem Begriff des Dämonischen. So formuliert er bereits 1923 in Grundlinien des religiösen Sozialismus. Ein systematischer Entwurf : „Das Dämonische ist die Erhebung des irrationalen Grundes aller individuellen schöpferischen Formverwirklichung im Widerspruch mit der unbedingten Form“¹⁶¹, wobei das Dämonische durch eben jene Erhebung der bedingten Form einer Verwirklichung der unbedingten Form widerspricht, weil sie eine endliche Form mit der unendlichen Form identifiziert und so „die Form [zerstört]“¹⁶², die durch das Göttliche geschaffen wird. Das Dämonische bildet in diesem Zusammenhang dasjenige, gegen das sich der Religiöse Sozialismus in seinem Streben nach einer Theonomie richten muss. Tillich bestimmt dieses Dämonische 1926 in Kairos II zeitgeistorientiert in Bezug auf den bürgerlichen Geist als zerstörerische „in sich ruhende Endlichkeit“¹⁶³, die sich im Hinblick auf die Beziehung zum Unbedingten als „Formentleerung von Natur und Gesellschaft“¹⁶⁴ vollzieht. Eben jenes Phänomen bezeichnet Tillich 1926 in seiner Schrift Die geistige Welt im Jahre 1926 als Haltung des „beruhigten Fortschritt[s]“¹⁶⁵, indem diese keinen grundsätzlichen Wendepunkt in der Geschichte als gegeben ansieht oder erwartet, sondern im gemäßigten Fortschritt den Erhalt des status quo verteidigt.¹⁶⁶ Im Hinblick auf die erörterten Typisierun-
159 Vgl. zum Verständnis von latenter und manifester Kirche bei Tillich auch Abschn. 4.2 dieser Arbeit. 160 Tillich: ST I, 67 [54]. 161 Ders.: Grundlinien des religiösen Sozialismus, 98. 162 Ebd. Eine ausführliche Erörterung des Verhältnisses von Göttlichem und Dämonischem bei Tillich findet sich auch in folgendem Beitrag: Danz: Das Göttliche und das Dämonische. 163 Tillich: Kairos II, 37. 164 Ebd., 39. 165 Ders.: Die geistige Welt im Jahre 1926, 97. 166 Vgl. hierzu auch Tillichs Schrift von 1926: Ders.: Kairos I.
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gen von Geschichtsverständnissen gemäß Tillich bedeutet dies, dass der religiöse Sozialismus sowohl „die Utopie wie den beruhigten Fortschritt“¹⁶⁷ als Dämonien zu überwinden sucht. In diesem Sinne ist nach Tillich gemäß Kairos II eine Macht dann dämonisch, wenn sie „tragend und doch zerstörend ist“¹⁶⁸, weil sie einerseits das geschichtliche Selbstverständnis einer Zeit trägt und andererseits im Hinblick auf die Beziehung des Endlichen zum Unbedingten zerstörerisch wirkt.¹⁶⁹ Diese zerstörerische Macht lässt sich nach Tillich nur durch einen „neuen Realismus“¹⁷⁰ überwinden, der nicht „der Realismus der in sich ruhenden Endlichkeit [ist], sondern […] ein Realismus, der offen ist für das Ewige.“¹⁷¹ Dieser Begriff des neuen Realismus im Sinne der Offenheit für das Ewige unterscheidet sich wesentlich von der unter anderem von Markus Gabriel aktuell diskutieren Form eines neuen Realismus, der eine alternative Position zu einem traditionellen Realismus und einem Konstruktivismus formulieren möchte.¹⁷² Einen ähnlichen Gedanken formuliert Tillich ebenfalls 1926 in Das Dämonische. Ein Beitrag zur Sinndeutung der Geschichte, indem er die Dialektik des Dämonischen als „positiv Formwidrige[s]“¹⁷³ beschreibt, welches das Positive in seiner geschaffenen Form pervertiert. Demnach gibt es „auch eine Form der FormWidrigkeit […].“¹⁷⁴ Als Beispiel hierfür nennt er u.a. „die Religion, die sich absolut setzt und darum den Heiligen, auf dessen Namen sie ruht, vernichten muß“¹⁷⁵, und bezeichnet dies als „dämonische[n] Machtwille[n] des sakralen Seins.“¹⁷⁶ Dergestalt steht das Dämonische in einer Spannung von „Formschöpfung und Formzerstörung“¹⁷⁷ und wird von Tillich abgegrenzt gegen das Satanische, in dem die Zerstörung ohne Schöpfung gedacht ist. Gedacht ist – denn das Satanische hat keine Existenz wie das Dämonische. […] Das Satanische ist das im
167 Tillich: Die geistige Welt im Jahre 1926, 97. Vgl. zu Tillichs Typisierungen von Geschichtsverständnissen Abschn. 3.3 sowie im Zusammenhang der Ausführungen zum Kairos-Begriff Abschn. 6.2 dieser Arbeit. 168 Ders.: Kairos II, 39. 169 Vgl. hierzu auch Tillichs Begriff aus der Systematischen Theologie „Herrschaft der Endlichkeit“ (Ders.: ST II, 76 [66]), der die Geschichte unterworfen wird. Vgl. für nähere Ausführungen auch Unterabschn. 2.3.1 dieser Arbeit. 170 Ders.: Kairos II, 41. 171 Ebd. Eine ausführlichere Betrachtung speziell von Tillichs Auffassung des Realismus findet sich bei: Rolinck: Geschichte und Reich Gottes, 105–109. 172 Vgl. hierzu Gabriel: Warum es die Welt nicht gibt. 173 Tillich: Das Dämonische, 44. 174 Ebd. 175 Ebd. 176 Ebd. 177 Ebd., 45.
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Dämonischen wirksame negative, zerstörerische, sinnfeindliche Prinzip […]. Mythologisch gesprochen ist der Satan der oberste der Dämonen, ontologisch gesprochen ist er das im Dämonischen enthaltene negative Prinzip.¹⁷⁸
Eben jene „Gestaltzerstörung“¹⁷⁹ des Dämonischen beruht Tillich folgend „nicht auf Mangel oder Unmächtigkeit […], sondern [stammt] aus dem Grunde der Gestalt selbst“¹⁸⁰, kommt also „nicht von außen“¹⁸¹, denn im Hinblick auf die Beziehung alles endlich Seienden zu Gott als schöpferischem Grund alles endlich Seienden gilt: Zum Sein kommen heißt zur Gestalt kommen. Die Gestalt verlieren heißt das Sein verlieren. Zugleich aber wohnt in jedem Ding die innere Unerschöpflichkeit des Seins, der Wille, die aktive Unendlichkeit des Seins in sich als einzelnem zu verwirklichen, der Trieb zur Durchbrechung der eigenen, begrenzten Gestalt […]. Aus dem Zusammenwirken beider Tendenzen ergibt sich die lebendige Gestalt mit der Fülle und den Grenzen ihres Seins. Aus […] dem gestaltlosen Hervorbrechen des Unendlichkeitswillens ergibt sich die dämonische Verzerrung. Dämonie ist gestaltwidriges Hervorbrechen des schöpferischen Grundes in den Dingen.¹⁸²
Jene Dämonie des gestaltwidrigen Hervorbrechens des schöpferischen Grundes erweist sich nach Tillich als Schlüssel für ein Verständnis dessen, „was in der Lehre von der Erbsünde gemeint war“¹⁸³, die er hier auch als „Gesamtsünde“¹⁸⁴ bezeichnet. Diese Gesamtsünde weist über die Freiheit des Einzelnen hinaus in die vorbewußten Schichten der Natur und in die überpersönlichen Zusammenhänge der Gemeinschaft. Das Moment der Notwendigkeit, das der Sünde anhaftet, die Paradoxie, daß im wesenswidrigen Akt Verantwortlichkeit und Unentrinnbarkeit sich verbinden, entspricht durchaus der Dialektik des Dämonischen. Denn dieses ist ja gerade dadurch charakterisiert, daß es zugleich in die Tiefe des vorpersönlich Natürlichen hinab und des überpersönlich Sozialen hinausreicht und doch im Zentrum des persönlichen Seins seine Verwirklichung findet¹⁸⁵,
wobei das positiv Formwidrige in der theologischen Tradition mit Blick auf die Wurzel der Sünde als „Mißtrauen gegen Gott“¹⁸⁶ bestimmt wird. Zwar ist das Dä-
178 Ebd. 179 Ebd., 46. 180 Ebd. 181 Ebd. 182 Ebd., 47. 183 Ebd., 53. 184 Ebd. 185 Ebd., 53f. 186 Ebd., 54.
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monische gemäß Tillich als „Wesenswidrige[s]“¹⁸⁷ nicht identisch mit der Sünde, die „nicht immer in dämonischer Form [erscheint]“¹⁸⁸, sondern ihre Wesenswidrigkeit meistens „in den Grenzen unschöpferischer Schwäche“¹⁸⁹ vollzieht, den Grund ihrer Wesenswidrigkeit aber im Dämonischen als „übergreifende, den Lebensprozeß zusammenfassende […] Erscheinungsform der Wesenswidrigkeit“¹⁹⁰ findet. Jener der Sünde anhaftende „Moment der Notwendigkeit“ meint bei Tillich nicht eine essentielle Notwendigkeit des Dämonischen oder Sündhaften, das als solches nicht unter das Geschaffene fällt, sondern die überindividuelle Dimension der existentiellen Verzerrung, die dem Einzelnen im Rahmen der Gesamtsünde als Schicksal zuteil wird, aber durch die endliche Freiheit des Einzelnen im schöpferischen Gesamtzusammenhang vollzogen wird, „die eigentümliche Verflechtung von Schicksal und Verantwortlichkeit, von der die christliche Erbsündenlehre zeugt […].“¹⁹¹ Eine Überwindung der Wesenswidrigkeit ist nach Tillich aufgrund ihrer Universalität „keinem menschlichen Werk vergönnt“¹⁹², da sich nichts „der dämonischen Beherrschtheit des Wirklichen“¹⁹³ entziehen kann. Eine solche Überwindung des Dämonischen ereignet sich Tillich folgend dann, wenn Gott freiwillig die dämonische Zerstörung gegen sich selbst wendet und dadurch überwindet. […] Das Dämonische zerbricht in sich, denn die Gottheit selbst trägt die Zerstörung. […] Nur im Hinblick auf das Ewige darf von der Überwindung des Dämonischen gesprochen werden, nicht im Hinblick auf irgendeine Zeit, eine Vergangenheit oder Zukunft.¹⁹⁴
Eben jene Hoffnung auf das Zerbrechen des Dämonischen in der Ewigkeit gründet für Tillich auf dem Verständnis des christlichen kairos als „Erlösung in der Zeit, die wieder und wieder Wirklichkeit wird, […] das grundsätzliche Zerbrechen der Herrschaft des Dämonischen über die Welt“¹⁹⁵ und somit die Wiedervereinigung von Endlichem und Unbedingtem.¹⁹⁶ So lassen sich in diesem Zusammen-
187 Tillich: Das Dämonische, 53. 188 Ebd. 189 Ebd. 190 Ebd. 191 Ebd., 66. Vgl. hierzu auch Tillichs Verständnis des Falls unter Unterabschn. 3.1.1 dieser Arbeit. 192 Ebd., 61. 193 Ebd. 194 Ebd., 60/71. 195 Ebd., 71. 196 Vgl. ausführlich zu Tillichs Verständnis der Wiedervereinigung des Endlichen und des Unbedingten in Jesus als dem Christus im Rahmen der Systematischen Theologie Abschn. 5.2 dieser Arbeit.
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hang bereits die Grundzüge von Tillichs Verständnis des Sinns der Geschichte als Überwindung des Dämonischen erkennen, dessen Verwirklichung die Geschichte transzendiert, deren Relevanz mit Blick auf ihre Erlösung vom Wesenswidrigen jedoch erhalten bleibt, was dann im Rahmen seiner Systematischen Theologie im Gedanken der Essentifikation seinen Ausdruck findet.¹⁹⁷ Demnach erweist sich das Dämonische in den genannten Schriften mit Bezug auf die Erb- oder auch Gesamtsünde schicksalhaft als Selbstüberhebung des Endlichen zur Absolutheit, dessen Überwindung innergeschichtlich ausschließlich fragmentarisch im Rahmen eines Durchbruchs des göttlichen Geistes in den menschlichen Geist vollzogen werden kann, der sich im Hinblick auf Jesus als den Christus als Offenbarung in Form von Kairos-Bewusstsein, prophetischem Geist und theonomen Situationen ereignen kann. Analog zu den Wandlungen der konkreten Bezüge von kairos, prophetischem Geist und Theonomie nimmt Tillich im Verlauf der geschichtlichen Entwicklungen auch im Hinblick auf die zeitgeistbezogen identifizierten Dämonien Abstand. Er formuliert 1959 vor dem Hintergrund des Kampfes der religiös-sozialistischen Bewegung gegen die gesellschaftlich dämonischen Kräfte in seinem Brief zu Eduard Heimanns 70. Geburtstag: Der Kampf […] war gegen die Dämonie der industriellen Gesellschaft gerichtet, ihre ökonomischen, politischen und kulturellen „Strukturen der Destruktion“. Wir gaben ihnen konkrete Namen wie Kapitalistmus, Nationalismus, Intellektualismus, und wir identifizierten Träger und Gegner dieser Dämonien mit bestimmten soziologischen Gruppen wie Großbürgertum, Proletariat, Militär, Kleinbürgertum, Aristokratie, Intellektuelle usw. […] Seit jener Zeit hat sich die konkrete Situation so gewandelt, daß unsere Namensgebung nicht mehr zutrifft. Das Proletariat hat aufgehört, eine „Struktur der Konstruktion“ zu sein. Mit seinem Sieg kamen seine dämonischen Möglichkeiten zum Vorschein […], von denen wir theoretisch immer wußten, die aber praktisch nur wenig in unseren Gesichtskreis traten. […] Hat es unter diesen Umständen einen Sinn, den Begriff des Dämonischen auf geschichtliche Realitäten anzuwenden? […] Das Negative hat Realität nur als die Verzerrung des Positiven. Wir haben niemals eine Klasse oder ein politisches System oder eine soziale Funktion als rein negativ beurteilt. Wir wußten, daß es dann kein Sein haben könnte. […] Es ist diese Zweideutigkeit des Symbols des Dämonischen, die es ermöglicht, daß wir es beibehalten können. Und wenn Du mich fragst, was ich heute als die zentrale Dämonie betrachte, so würde ich antworten: Es ist die Verdinglichung der Person, die Verwandlung des Menschen in eine Sache.¹⁹⁸
Eben jene Auffassung der Zweideutigkeit des Dämonischen wird anschaulich beispielsweise an Tillichs Äußerungen zum bereits dargestellten geistigen Vakuum als heiligendem Leer-geworden-sein, das Tillich folgend erst durch die vorausge-
197 Vgl. Abschn. 5.1 dieser Arbeit. 198 Tillich: Kairos – Theonomie – Das Dämonische, 314f.
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gangenen Dämonien des 20. Jahrhunderts ermöglicht worden ist und aus dem neue schöpferische Kräfte erwachsen können.¹⁹⁹ Darüber hinaus wird an diesen Ausführungen Tillichs besonders deutlich, dass Tillich die Grundbedeutung dessen, was er unter dem Dämonischen versteht, als Verzerrung des Positiven grundsätzlich beibehält, aber analog zu seinem Verständnis von kairos aufgrund der Anlage seines theologischen Systems die konkreten Bezüge (selbst-)kritisch und zeitgeistorientiert neu bestimmt. Dementsprechend verhandelt Tillich das Dämonische in seiner Systematischen Theologie im Zusammenhang der Zweideutigkeiten des Lebens in Band III, wobei er das Dämonische speziell in die Zweideutigkeiten der Religion als der Selbst-Transzendierung in der Dimension des Geistes einordnet: Das Dämonische widerstrebt nicht der Selbst-Transzendierung […], sondern verfälscht die Selbst-Transzendierung, in dem es einen bestimmten Träger der Heiligkeit mit dem Heiligen selbst identifiziert. […] In allen Religionen ereignet sich Tag für Tag Dämonisierung, sogar in der Religion, die „im Kreuz“ die Negation jedes absoluten Anspruchs des Endlichen symbolisiert. […] Wo der Anspruch auf Göttlichkeit erhoben wird, sprechen wir vom Dämonischen. […] Wo immer das Dämonische erscheint, trägt es religiöse Züge […].²⁰⁰
Zwar fordert nach Tillich die Religion als Selbst-Transzendierung des Lebens in allen Bereichen […], daß sich die anderen Bereiche ihr unterwerfen […], insofern die Religion auf das hinweist, was alle Bereiche transzendiert, aber die Forderung wird dämonisch, wenn die Religion als endliche Größe diesen Anspruch für sich als Religion und ihre endlichen Formen erhebt. Ihre Funktion ist es, auf das Heilige hinzuweisen, aber nicht, sich selbst Heiligkeit zu verleihen.²⁰¹
So ist für Tillich mit „dieser Selbstüberhebung zur Absolutheit […] die Definition des Dämonischen gegeben […]“²⁰², die sich in ähnlicher Weise an verschiedenen Stellen in der Systematischen Theologie findet.²⁰³ Dabei unterscheidet sich das Dämonische in Bezug auf die Zweideutigkeiten der Religion vom Profanen, das der Selbst-Transzendierung im Absolutsetzen
199 Vgl. dazu Tillich: Das geistige Vakuum sowie die Ausführungen zum kairos unter Abschn. 6.2 dieser Arbeit. 200 Ders.: ST III, 125f. [102f.]. Vgl. zur Verneinung jedes Absolutheitsanspruches im Bereich des Endlichen auch die Ausführungen zur Frage nach einer progressiven Heilsgeschichte unter Unterabschn. 3.1.3, Abschn. 4.1 sowie Abschn. 6.1 dieser Arbeit. 201 Ebd., 127f. [105]. Vgl. hierzu auch die unter Kairos von Abschn. 6.2 dieser Arbeit angeführte Auseinandersetzung mit Emanuel Hirsch. 202 Ebd., 393 [344]. Vgl. zu dieser Definition des Dämonischen im Zusammenhang der geschichtlichen Dimension auch Unterabschn. 3.1.2 dieser Arbeit. 203 Vgl. dazu u.a. Ders.: ST I, 46/167 [36/140].
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einer endlichen Teilwahrheit Widerstand leistet, dadurch, dass es der SelbstTranszendierung nicht widerstrebt, sondern eben jene verfälscht, indem es „an der Macht und Heiligkeit des Göttlichen [partizipiert], aber in verzerrter Weise.“²⁰⁴ Tillichs Verständnis des Dämonischen lässt sich demnach nicht im Sinne eines metaphysischen Dualismus verstehen, weil das Dämonische als solches ausschließlich eine Struktur der Destruktion darstellt, die sich am Geschöpflichen vollzieht, jedoch selbst nicht geschöpflich ist.²⁰⁵ Dergestalt erweist sich das Dämonische auch in der Systematischen Theologie nicht als rein Negatives, sondern als Struktur der Destruktion oder auch als Wesenswidriges, das in seiner Existenz an ein positiv Seiendes gebunden ist und aufgrund der universalen Entfremdung ausschließlich in der Ewigkeit des Ewigen Lebens endgültig vernichtet werden kann. Diesen Gedanken formuliert Tillich im Rahmen seiner Eschatologie im Hinblick auf die erhoffte Vernichtung des Nicht-Seins am Ende der Geschichte insofern, als er eben jenes zu überwindende Nicht-Sein im Sinne eines me on, das als Widerstand gegen das Sein und als Perversion des Seins wirkt, vom ouk on als rein Negatives, das keine Beziehung zum Sein aufweist, unterscheidet. So richtet sich die eschatologische Hoffnung darauf, dass das Negative in seinem Anspruch, ein Positives zu sein, als Struktur der Destruktion transparent gemacht und als solche vernichtet wird. Die Ablehnung der Existenz eines rein Negativen ist im Hinblick auf Tillichs eschatologischen Entwurf des Jüngsten Gerichts von zentraler Bedeutung, da im Jüngsten Gericht kein positiv und das heißt bei Tillich geschöpflich Seiendes der endgültigen Vernichtung anheimfallen kann und als „Ausdruck des Seins-Selbst“²⁰⁶ im Zuge der Essentifikation Erlösung von allem Negativen als Wesenswidrigem, mit dem aufgrund des universalen Schicksals der Entfremdung alles Seiende innerhalb der Geschichte gemischt ist, erfährt, so dass es in der Aktualisierung seiner essentiellen Potentialitäten Erfüllung findet.²⁰⁷ Auffällig ist jedoch, dass Tillich den Begriff des Dämonischen in seiner Systematischen Theologie ausschließlich als einen Aspekt der universalen Zweideutigkeit des Lebens und nicht wie in seinen der Systematischen Theologie vorausge204 Ders.: ST III, 125 [102]. Vgl. zur Erläuterung des Profanen in Tillichs Verständnis auch Abschn. 2.2 sowie Abschn. 2.3 dieser Arbeit. 205 Vgl. zur Frage von Tillichs Verständnis des Dämonischen auch: Schüßler, Werner: Der Begriff des Dämonischen. Anmerkungen zu einer zentralen Kategorie von Paul Tillichs religionsphilosophischem und theologischem Denken, in: Nord, Ilona/Volz, Rüdiger (Hgg.): An den Rändern. Theologische Lernprozesse mit Yorick Spiegel, Münster 2005, 179–191. Vgl. zu Tillichs Verständnis des Dämonischen als Deutungskategorie: Danz, Christian/Schüßler, Werner (Hgg.): Das Dämonische. Kontextuelle Studien zu einer Schlüsselkategorie, Berlin und Boston 2018. 206 Tillich: ST III, 451 [399]. 207 Vgl. ausführlich zu Tillichs eschatologischem Entwurf des Jüngsten Gerichts als Essentifikation auch Abschn. 5.1 sowie zur Frage des gerichtlichen Ausgangs Abschn. 5.2 dieser Arbeit.
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henden Schriften als eigenständige Kategorie zur Beschreibung der existentiellen Entfremdung verwendet. Ein möglicher Grund hierfür dürfte darin liegen, dass in Tillichs Systematischer Theologie folgender Gedanke eine Schlüsselfunktion hat: Alle endlichen Urteile sind aufgrund der universalen Zweideutigkeit im Angesicht von Jesus Christus als großem kairos grundsätzlich in ihrem Anspruch auf Absolutheit kritisch in Zweifel zu ziehen, weshalb die Identifikation von dämonischen Kräften in besonderer Weise Gefahr läuft, sich als absolutes Urteil im Sinne der Identifikation von rein Negativem zu verstehen, weil der Begriff des Dämonischen für Tillich das von Jesus Christus als großem kairos ausgehende (selbst-)kritische Prinzip, in dem das Endliche gleichzeitig in seinem Anspruch auf Absolutheit vom Unbedingten her in Frage gestellt und zu diesem in Beziehung gesetzt wird, nicht in der Weise enthält wie die Begriffe „Kairos“ und „Theonomie“. So formuliert Tillich in Band III seiner Systematischen Theologie: Das Dämonische ist „ein viel gebrauchter und viel mißbrauchter Begriff geworden, um antigöttliche Kräfte im Leben des Einzelnen und der Gemeinschaft zu bezeichnen. Durch den häufigen Gebrauch hat es oft den zweideutigen Charakter verloren, der ihm eigen ist.“²⁰⁸ Das zeigt sich beispielsweise in Tillichs Verständnis der Kirchen, die als „Repräsentanten des Reiches Gottes […] aktiv […] an dem innergeschichtlichen Kampf des Reiches Gottes gegen die Kräfte der Dämonisierung und Profanisierung […] [teilnehmen]. […] Der Kampf der Kirchen gegen das Dämonische und Profane richtet sich [dabei] in erster Linie gegen das Dämonische und Profane innerhalb der Kirchen selbst.“²⁰⁹ Analog zu den Akzentverschiebungen der konkreten Bezüge des Kairos-, Prophetie- und Theonomieverständisses zeigt sich somit auch in Bezug auf das Dämonische eine den geschichtlichen Erfahrungen Tillichs folgende Neuakzentuierung vom unmittelbaren, das innergeschichtliche Handeln orientierenden Kampf gegen die entsprechend identifizierten Dämonien der Zeit hin zu der im Lichte des fragmentarisch wirklich gewordenen Neuen Seins in Jesus Christus erschlossenen universalen Zweideutigkeit alles endlich Seienden. Ausgehend von Tillichs sich im Anschluss an sein Verständnis von Jesus Christus als großem kairos ergebender, kontinuierlicher Auffassung der Negation jedes absoluten Anspruchs des Endlichen soll im Folgenden noch Tillichs theologische Entwicklung im Hinblick auf seine Charakterisierung des Protestantismus erörtert werden.
208 Tillich: ST III, 124 [102]. 209 Ebd., 427ff. [375ff.]. Vgl. zu Tillichs Verständnis der Kirchen als Repräsentanten des Reiches Gottes auch Abschn. 4.1 dieser Arbeit.
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Das protestantische Prinzip In Tillichs Verständnis des Protestantismus zeigt sich, auf welche Weise er seine Auffassung von kairos, prophetischem Geist, Theonomie und dem Dämonischen konkret in Beziehung zur christlichen Religion protestantischer Prägung setzt. So bestimmt Tillich in Der Protestantismus als kritisches und gestaltendes Prinzip von 1929 „Rechtfertigung“ als Zentralbegriff des Protestantismus, wobei er in diesem Zusammenhang „Rechtfertigung“ wie folgt begreift: Die Rechtfertigung geht aus von dem Jenseits von Sein und Geist. Sie stellt die Existenz als solche in Frage und berücksichtigt nicht die teilweise Annäherung des widerstrebenden Seins an das wahre Sein. Der Kampf Luthers gegen den Anspruch der Vernunft, von sich aus die Wahrheit erfassen und verwirklichen zu können, ist der Ausdruck für den Seinsund Geisttranszendenten Charakter der von ihm gemeinten Wahrheit. […] Die „Gerechtsprechung des Sünders“, die „Gerechtigkeit allein durch den Glauben“ ist Ausdruck für das, was die kritische Situation in ihrer unbedingten Tiefe überwindet.²¹⁰
In diesem Sinne erweist sich Rechtfertigung gemäß Tillich protestantisch als grundlegendes, die Existenz in Frage stellendes kritisches Prinzip. Eben jene von der Rechtfertigung ausgehende Kritik bestimmt Tillich wesentlich als „prophetische Kritik“²¹¹, die „in dem Erschüttertsein des Lebens und des Geistes durch das, was jenseits beider liegt“²¹², wurzelt. Dementsprechend wird mit der endlichen Existenz auch die kritische Situation als solche der Kritik unterzogen, indem in der Gestalt der „Gnade […] die prophetisch vertiefte Kritik selbst wieder kritisiert [wird]. Ihr letztes Recht, das Sein aufzuheben, wird ihr bestritten.“²¹³ In dieser Linie formuliert Tillich bereits 1924 mit dem Akzent auf das Verhältnis von Rechtfertigung und Zweifel in Rechtfertigung und Zweifel: „Die Rechtfertigung des Zweiflers ist nur möglich als Durchbruch der unbedingten Gewißheit durch die Sphäre der Ungewißheiten und Irrungen; es ist der Durchbruch der Gewißheit, daß die Wahrheit, die der Zweifler sucht, der Lebenssinn, um den der Verzweifelte ringt, nicht das Ziel, sondern die Voraussetzung alles Zweifels bis zur Verzweiflung ist.“²¹⁴ Zu der hier zitierten publizierten Fassung gibt es zwei in der ersten Hälfte des Jahres 1924 entstandene Vorarbeiten. Die zweite Version der Vorarbeit bezieht sich ausschließlich auf die Einleitung und den ersten Teil des Vortrages, der hier nicht
210 Ders.: Der Protestantismus als kritisches und gestaltendes Prinzip, 33ff. 211 Ebd., 33. 212 Ebd., 30. 213 Ebd., 33. 214 Ders.: Rechtfertigung und Zweifel, 91.
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verhandelt wird. In der ersten Version der Vorarbeit ist der Durchbruch der unbedingten Gewissheit an dieser Stelle noch nicht so stark akzentuiert. Es heißt hier: Es gibt nur eine Lösung: die Botschaft, daß die Wahrheit, die der Zweifler sucht, der Lebenssinn, um den der Verzweifelte ringt, nicht das Ziel, sondern die Voraussetzung des Zweifelns und Suchens ist, daß das Gericht, das die Wahrheit der Verzweiflung ausübt, das Wesen der Wahrheit ist – das Aufbrechen des Sinngrundes als unbedingter Gegebenheit und unbedingter Forderung, um ihn zu ringen. Die Gegenwart der Wahrheit als unsagbare und ins Unendliche auszusagende Tiefe.²¹⁵
Darüber hinaus gibt es noch eine erste unveröffentlichte Fassung von 1919, die ebenfalls in 2 Versionen vorliegt.²¹⁶ Allerdings sind in der frühen Fassung von 1919 die hier relevanten Themenkreise „Durchbruch“ sowie „Grund- und Heilsoffenbarung“ noch nicht explizit verhandelt. Deshalb wird im Folgenden bei Bedarf ausschließlich auf die beiden genannten Vorarbeiten aus dem Jahre 1924 verwiesen.²¹⁷ Analog zu den schöpferischen Möglichkeiten der Leere bzw. des geistigen Vakuums versteht Tillich 1948 in Die protestantische Ära den Zweifel als etwas, in dem das Unbedingte gegenwärtig sein kann: Die Situation des Zweifelns, selbst des Zweifelns an Gott, braucht uns nicht von Gott zu trennen. In jedem tiefen Zweifel liegt ein Glaube, nämlich der Glaube an die Wahrheit als solche, sogar dann, wenn die einzige Wahrheit, die wir ausdrücken können, unser Mangel an Wahrheit ist²¹⁸, in welchem wir unsere Endlichkeit im Angesicht eines Unbedingten (an-)erkennen.
Ein Durchbruch der unbedingten Gewissheit ereignet sich als Durchbruch des göttlichen Geistes in den menschlichen Geist, als Offenbarung. Er unterscheidet in diesem Zusammenhang zwei zwar wesentlich aufeinander verwiesene, aber
215 Tillich, Paul: Rechtfertigung und Zweifel, in: Ders.: EW X, 127–230/432–453, hier 440. Vgl. für eine werkgeschichtliche Einordnung dieser Vorarbeiten durch Erdmann Sturm: ebd., 432. 216 Diese wurden publiziert in: ebd. 217 Vgl. für eine werkgeschichtliche Einordnung dieser früheren Fassungen durch Erdmann Sturm: Ders.: Rechtfertigung und Zweifel, 127f. Vgl. für einen ausführlichen Kommentar von Tillichs Schrift Rechtfertigung und Zweifel: Ders.: Rechtfertigung und Neues Sein, Danz, Christian (Hg. und Komm.), Leipzig 2018. 218 Ders.: Die protestantische Ära, in: Ders.: GW VII, 11–28, hier 14. Vgl. zu Tillichs Verständnis der Verzweiflung im Rahmen der Systematischen Theologie auch Unterabschn. 2.3.1 dieser Arbeit. Eine Auseinandersetzung mit Tillichs Verständnis des Zweifels findet sich bei: Dierken, Jörg: Über Gewissheit und Zweifel im Gespräch mit Paul Tillich, in: Kodalle, Klaus M. (Hg.): Subjektiver Geist. Festschrift zum 65. Geburtstag von Traugott Koch, Würzburg 2002, 167–185. Vgl. zum Zusammenhang von Glaube und Zweifel auch: Schüßler, Werner: Glaube und Zweifel – Pole des Menschseins, in: Stimmen der Zeit 142 (2017), 336–344.
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dennoch zu unterscheidende Momente von Offenbarung: Grund- und Heilsoffenbarung. Dabei nennt er den Durchbruch des göttlichen Geistes als solchen „Grundoffenbarung“²¹⁹, welche „in bezug auf Inhalte völlig indifferent [ist]. Der Mensch hat kein Werk des Erkennens vorzuweisen. Das Göttliche ist der Sinnabgrund und -grund, das Ende und der Anfang jeden möglichen Inhaltes.“²²⁰ Hier heißt es in den Vorarbeiten von 1924: „Dieser Moment des Durchbruchs ist in Bezug auf Inhalte völlig indifferent. Der Mensch hat kein Werk der Erkenntnis vorzuweisen. Das Göttliche ist der Sinnabgrund und -grund.“²²¹ Den Terminus „Grundoffenbarung“ führt Tillich in dieser Fassung erst später ein.²²² So ist die Grundoffenbarung gemäß Tillich „notwendig als zweideutig zu bestimmen.“²²³ Sie findet ihre Vollendung zur eindeutigen göttlichen Heilsoffenbarung […] da […], wo Gott sich als Geist und Liebe zeigte, unbeschadet seiner Majestät und Verborgenheit. Eben damit aber ist auch die Grundoffenbarung vollendet. Denn zuletzt ist es nicht Wahrheit, daß Gott zweideutig, daß er auch dämonisch ist, vielmehr ist das Sinnwidrigkeit und Lüge, und die Menschen zeigen es in ihrem Handeln, daß es so ist: der Kult der Dämonen ist nie eine völlige Anerkennung der Unbedingtheit des Unbedingten, der Göttlichkeit Gottes, er ist immer auch ein Wirken auf den Dämon, ein Gottbestimmen im Kult. Dem Gott gegenüber, der Geist ist und unbedingter Sinngrund […], ihm gegenüber ist das unmöglich; ihm gegenüber wird offenbar, daß das Dämonische nicht in Gott, sondern im Menschen liegt und daß darum der Mensch nur nehmen und nicht geben kann.²²⁴
Ohne die Grundoffenbarung der unbedingten Unverfügbarkeit des Sinngrundes hätte auch eine Heilsoffenbarung dämonischen Charakter, indem sie sich ausschließlich auf einen deus revelatus bezöge und damit dessen grundsätzliche Unverfügbarkeit für die endliche Freiheit des Menschen als deus absconditus außer Acht ließe. Aus diesem Grunde ist nach Tillich der „deus revelatus auf dem Hinter-
219 Tillich: Rechtfertigung und Zweifel, 91. 220 Ebd., 92. 221 Ders.: Rechtfertigung und Zweifel, 440. 222 Ebd., 441. 223 Ders.: Rechtfertigung und Zweifel, 98. 224 Ebd. Vgl. zum Verhältnis von Grund- und Heilsoffenbarung in den Vorarbeiten des publizierten Vortrages: Ders.: Rechtfertigung und Zweifel, 446f. Vgl. zu einer ausführlicheren Erläuterung von Tillichs Verständnis des Dämonischen Das Dämonische unter Abschn. 6.2 dieser Arbeit. Eine Erörterung von Grund- und Heilsoffenbarung in Tillichs Rechtfertigung und Zweifel in Bezug auf seine Christologie in Abgrenzung zu Karl Barth findet sich bei: Wittekind, Folkart: Grund- und Heilsoffenbarung. Zur Ausformung der Christologie Tillichs in der Auseinandersetzung mit Karl Barth, in: Danz (Hg.): Jesus of Nazareth and the New Being in History, 89–120.
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grund des deus absconditus zu sehen.“²²⁵ Deshalb sind Grund- und Heilsoffenbarung „in jeder wirklichen Offenbarung […] zusammengeschlossen in einem Akt; denn jede wirkliche Offenbarung hat eine Form und einen Namen, und dieser Name gilt als heilvoller Name.“²²⁶ Somit lässt sich mit Tillichs Unterscheidung von Grund- und Heilsoffenbarung im Hinblick auf die gleichzeitige Letztgültigkeit und Vorläufigkeit des christlichen Kairos-Erlebnisses folgendes näher erläutern: In Jesus als dem Christus erschließt sich gleichzeitig die erlösende Macht der göttlichen Liebe in ihrer Letztgültigkeit im Sinne der Heilsoffenbarung sowie deren Unverfügbarkeit für den endlichen menschlichen Geist unter den Bedingungen der Geschichte, für das „Denken als Werk“²²⁷. Im Erleben von Jesus Christus als großem kairos wird dem Menschen durch den Einbruch des göttlichen Geistes in den menschlichen Geist demnach gleichzeitig die Letztgültigkeit des Unbedingten wie auch die Vorläufigkeit des Bedingten erschlossen, die sich dergestalt als Fundament der prophetischen Kritik des Protestantismus erweisen.²²⁸ Ein ähnlicher Gedanke hinsichtlich der Irreduzibilität von Letztgültigkeit und Vorläufigkeit der Offenbarung unter den Bedingungen der Geschichte findet sich in der gleichzeitigen Verwiesenheit und Unterscheidbarkeit des Fragmentarischen und Zweideutigen.²²⁹ Tillichs Der Protestantismus als kritisches und gestaltendes Prinzip von 1929 folgend liegt das „Gewicht des Protestantismus […] von Anfang an in dieser Kritik“²³⁰, die sich jedoch im Sinne von Tillichs Begriff des Prinzips als historische Erscheinungen tragende, reale Macht gleichermaßen als „gestaltende[s] Prinzip“²³¹ zeigt, das dem Protestantismus „sowenig fehlen [kann] wie irgendeiner anderen Wirklichkeit. Denn die Gestalt ist das Prius der Krisis […], die Gestalt der Gnade die Voraussetzung der prophetischen Kritik.“²³² Tillichs Verständnis von Rechtfertigung folgend ist somit die prophetische Kritik des Protestantismus und die sich
225 Tillich: Rechtfertigung und Zweifel, 98. Vgl. zum Verhältnis von deus revelatus zum deus absconditus in den Vorarbeiten zu diesem Vortrag auch: Ders.: Rechtfertigung und Zweifel, 447f. 226 Ders.: Rechtfertigung und Zweifel, 97f. Diese Formulierung ist so in den Vorarbeiten des Vortrages noch nicht vorhanden. 227 Ebd., 92. 228 Vgl. zu einer ausführlicheren Erläuterung der Unterscheidung von Grund- und Heilsoffenbarung bei Tillich: Drobe: Menschsein als Selbst- und Fremdbestimmung, 308f. 229 Vgl. Abschn. 3.2 dieser Arbeit. 230 Tillich: Der Protestantismus als kritisches und gestaltendes Prinzip, 36. 231 Ebd. Vgl. zu Tillichs Verständnis von „Prinzip“ Religiöser Sozialismus unter Abschn. 6.2 dieser Arbeit. 232 Ebd. Eine ausführliche Erörterung des protestantischen Prinzips mit Bezug auf die prophetische Kritik wie auch die Gestalt der Gnade findet sich bei: Ratschow: Protestantisches Prinzip und religiöser Atheismus bei Paul Tillich.
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daraus ergebende protestantische Gestaltung im Rahmen der innergeschichtlichen Wirklichkeit ausschließlich durch das Unbedingte, das innergeschichtlich in der Gestalt der Gnade erscheint, begründet. Demnach besteht das protestantische Prinzip nach Tillich in eben jener Infragestellung der endlichen Existenz, die im Sinne der Rechtfertigung aus Gnade selbst wieder in Frage gestellt wird, durch das Unbedingte Überwindung erfährt und in der Geschichte durch die prophetische Kritik Gestalt annimmt: Die Verwirklichung der Gnade ist gebunden an die Art ihrer Einigung mit der prophetischen Kritik. In dem Maße und in der Art, mit der die prophetische Kritik den Charakter einer Seinsgestalt bestimmt, kann sich die Gnade in ihr verwirklichen. Das ist natürlich kein zeitliches Nacheinander. Auch hier gilt, daß das Prius der Kritik die Gestalt ist. Aber das Verständnis einer Gestalt der Gnade ist gegeben durch das Verhältnis von Gnade und Kritik in ihr. Zuletzt handelt es sich immer darum, inwieweit die Gnade benutzt wird, um sich der radikalen prophetischen Kritik zu entziehen. Oder mit einem anderen Begriff, inwieweit die Gestalt der Gnade dämonisiert wird.²³³
Deshalb muss jede Form, in der die Gnade Gestalt annimmt, selbst der Kritik unterzogen werden und darf nicht zum Gegenstand gemacht werden,²³⁴ denn: Eine Gestalt der Gnade, die gegenständlich fixiert ist, enthebt die Formen, in denen sie erscheint […], dem Wechsel. […] Die Möglichkeit des Wesenhaft-Neuen schlummert nicht in ihr. […] Für die protestantische Entgegenständlichung der Gnade ist die Wesens-Sphäre dynamisch; in ihr wird das Neue gesetzt. […] Die Gestalt der Gnade ringt ständig um neue Verwirklichung in den wechselnden historischen Gestalten. […] Und doch ist in jedem Augenblick das anschaubar, was jenseits des Ringens steht. […] Die Gestalt der Gnade als lebendige Gestalt und damit die Geschichte als Ort der Wesensverwirklichung: das liegt im protestantischen Prinzip beschlossen und muß aus ihm herausgeholt werden. Die Idee des „Kairos“ als erfüllte Zeit oder Verwirklichung der Gestalt der Gnade in einem neuen Wesen ist der Versuch, diese Seite des protestantischen Prinzips deutlich zu machen.²³⁵
Die prophetische Kritik des Protestantismus steht demnach bei Tillich zunächst im Dienste der religiös-sozialistischen Bewegung, weil der religiöse Sozialismus […] sich […] um die Vorbereitung einer protestantischen Gestalt der Gnade [in Form einer Theonomie, C.D.] [bemüht]. […] Wegbereitung, d.h. vor allem Nicht-
233 Tillich: Der Protestantismus als kritisches und gestaltendes Prinzip, 44f. 234 Ebd., 45. Vgl. dazu auch die Ausführungen zum prophetischen Geist unter Abschn. 6.2 dieser Arbeit. 235 Ebd., 51f. Vgl. zur Verwirklichung von qualitativ Neuem als Merkmal der Geschichte nach Tillich auch Unterabschn. 3.1.1 dieser Arbeit.
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hinderung einer Gestalt der Gnade […], Wegbereitung aus dem Geist des „Kairos“ und damit aus dem Prinzip des Protestantismus: das ist die Aufgabe, die vor uns steht […].²³⁶
Auf welche Weise Tillich die Grundbedeutung dessen, was er unter dem protestantischen Prinzip versteht, beibehält, dieses aber jeweils in Beziehung zu den konkreten kulturellen Gegebenheiten setzt, zeigt sich besonders deutlich in seiner 1937 verfassten Schrift Ende der protestantischen Ära II, in welcher Tillich die Rechtfertigung allein aus Gnade als das „zentrale Prinzip des Protestantismus“²³⁷ bezeichnet, das „Gott allein Unbedingtheit und Heiligkeit zuerkennt und jeden Anspruch menschlicher Überheblichkeit verwirft. […] Es schließt in sich, daß es keine geheiligte Sphäre geben kann, weder kirchlich noch politisch, daß es keine geheiligte Wahrheit geben kann, die göttliche Wahrheit an sich ist […]. Der wichtigste Beitrag des Protestantismus für die Welt in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist das Prinzip des prophetischen Protestes gegen jede Macht, die göttlichen Charakter für sich beansprucht, sei es nun Kirche oder Staat, Partei oder Führer.“²³⁸
Die vorliegenden Ausführungen grenzen sich somit gegenüber der Kritik Rosenaus an Tillich, dass dieser der Rechtfertigung im Rahmen seiner eschatologischen Überlegungen explizit möglicherweise zu wenig Raum einräume, ab.²³⁹ In Band III der Systematischen Theologie schreibt Tillich schließlich dem protestantischen Prinzip der Rechtfertigung eine Schlüsselfunktion innerhalb seines theologischen Systems zu: Demnach ist die Lehre von der Rechtfertigung durch Gnade im Glauben […] nicht nur eine Lehre oder ein Artikel neben anderen im System, sie ist zugleich auch Prinzip – der erste und grundlegende Ausdruck des protestantischen Prinzips selbst. […] Es war meine Absicht und es ist meine Hoffnung, daß das vorliegende theologische System in all seinen Teilen deutlich macht, daß der Rechtfertigungs-Gedanke das protestantische Prinzip schlechthin ausdrückt […].²⁴⁰
236 Tillich: Der Protestantismus als kritisches und gestaltendes Prinzip, 52f. 237 Ders.: Ende der protestantischen Ära I+II, 163. 238 Ebd., 163/167. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit einer an Tillich anschließenden Kritik an Fundamentalismus oder auch Totalitarismus in den verschiedenen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, die Tillichs Verhältnisbestimmung von Unbedingtem und Bedingtem mit Blick auf sein Symbolverständnis untersucht, bietet: Raatz, Georg: Unbedingtsetzung von Bedingtem, in: Danz, Christian (Hg.): Ethics and Eschatology, Bd. 10 (International Yearbook for Tillich Research), Berlin und Boston 2015, 241–272. 239 Vgl. Rosenau: Das Reich Gottes als Sinn der Geschichte (1999), 82f. 240 Tillich: ST III, 257 [223f.].
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An dieser Stelle fasst Tillich das protestantische Prinzip wie folgt: „Das protestantische Prinzip besagt, daß in der Beziehung zu Gott Gott allein handelt und daß kein menschlicher Anspruch, besonders kein religiöser Anspruch, aber auch kein intellektuelles, moralisches oder religiöses ‚Werk‘ uns wieder mit ihm vereinigen kann. In diesem Sinne ist die Rechtfertigungslehre Ausdruck des protestantischen Prinzips.“²⁴¹ Somit ereignet sich die Wiedervereinigung des Menschen mit Gott in Gestalt der Rechtfertigung allein durch die Gnade Gottes, welche sich im durch den göttlichen Geist gewirkten Glauben an Jesus als den Christus vollzieht.²⁴² Eben jene Gnade zeigt sich auch im Rahmen der Systematischen Theologie in besonderer Weise in der Rechtfertigung des Zweiflers, denn da „in der Situation des Zweifels und des Gefühls der Sinnlosigkeit der Gedanke von Gott als dem Träger der Rechtfertigung untergegangen ist, kann man nur darauf hinweisen, daß, in der letzten Wahrhaftigkeit des Zweifels und der unbedingten Ernsthaftigkeit der Verzweiflung, Gott […] wieder erscheint, nämlich als Erlebnis des Letzten und Unbedingten. […] Im Ernst der existentiellen Verzweiflung ist Gott […] gegenwärtig. Der Mut, dieses anzunehmen, ist […] Glaube.“²⁴³
Bereits in seinem frühen Entwurf einer Systematischen Theologie von 1913 benennt Tillich die Rechtfertigung im Sinne des Paradoxons, in dem das Geschöpfliche von Gott zugleich bejaht und verneint wird, als grundlegendes theologisches Prinzip: Der absolute und der relative Standpunkt stehen einander so gegenüber, daß der relative vom dem absoluten zugleich getragen und zerstört wird. Dieser Widerspruch verlangt um der Absolutheit des absoluten Standpunktes willen eine Überwindung; denn nur darin kann er sich als absolut erweisen, daß er seinen Widerspruch nicht ins Unendliche zugleich schafft und vernichtet, sondern dadurch, daß er ihn positiv in sich aufnimmt, ohne ihn doch seiner dialektischen Selbständigkeit [zu] berauben. […] Das Urteil Gottes, durch das ein bestimmter Einzelstandpunkt zugleich absolut verneint und absolut bejaht wird, ist die Rechtfertigung […]. Dem Sünder gegenüber wird die allmächtige Liebe Gottes zur heiligen Liebe, die den Sünder zugleich verneint und bejaht.²⁴⁴
Der in der Systematischen Theologie im Vordergrund stehende Gedanke der Infragestellung jedes geschöpflichen Absolutheitsanspruches im Angesicht der letzt-
241 Ebd., 257 [224]. 242 Vgl. zu Tillichs Verständnis des Glaubens Abschn. 4.1 sowie der Rechtfertigung im Zusammenhang der Erlösung durch das Neue Sein in Form von Wiedergeburt, Rechtfertigung und Heiligung Abschn. 5.2 dieser Arbeit. 243 Tillich: ST III, 262f. [228f.]. Die Formulierung „in dem Erlebnis des Letzten und Unbedingten“ ist eine in der deutschen Fassung vorgenommene Ergänzung. 244 Ders.: ST (1913), 314f./318/337.
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gültigen Offenbarung des Unbedingten in Jesus als dem Christus beruht also wesentlich auf Tillichs Verständnis der Rechtfertigungslehre als protestantischem Prinzip, das als solches analog zu Tillichs Ausführungen in Bezug auf das protestantische Prinzip in den 1920er und 1930er Jahren grundsätzlich eine kritische und gestaltende Funktion hat. Da Tillich zur Zeit der Abfassung seiner Systematischen Theologie nicht mehr im Bewusstsein eines gegenwärtigen oder auch – in seiner ekklesiologischen Terminologie formuliert – manifesten kairos lebt, sondern vielmehr das latente, verborgene Wirken des göttlichen Geistes im heiligenden Leer-geworden-sein betont, besteht die kritische und gestaltende Funktion des protestantischen Prinzips in der Forderung, jeden Anspruch auf Absolutheit (selbst-)kritisch in Frage zu stellen, wobei Tillich die genannte Forderung vor allem auf das Selbstverständnis der Kirchen richtet. So heißt es in Band I: „Das protestantische Prinzip ist die Wiederaufnahme des prophetischen Prinzips als Angriff gegen eine sich selbst verabsolutierende und infolgedessen dämonisch entartete Kirche.“²⁴⁵ In Band III sieht Tillich das protestantische Prinzip dann als „Ausdruck für die Überwindung der Religion durch den göttlichen Geist und damit […] für den Sieg über die Zweideutigkeiten der Religion – ihre Profanisierung und Dämonisierung“²⁴⁶ und kommt in Bezug auf eine bereits im Rahmen der Erörterung von Jesus Christus als zentraler Manifestation des Reiches Gottes zitierte Formulierung zusammenfassend zu folgenden Ausführungen: Niemand kann das ergreifen, wodurch er ergriffen wird – den göttlichen Geist. In anderem Zusammenhang habe ich diese Wahrheit als das „protestantische Prinzip“ bezeichnet. […] Das Prinzip ist protestantisch, da es gegen die tragisch-dämonische Selbst-Erhebung der Religion protestiert […] und für die anderen Funktionen des menschlichen Geistes frei macht; damit werden diese Funktionen von ihrer Abschließung gegen die Manifestationen des Göttlichen befreit. Das protestantische Prinzip (das eine Manifestation des göttlichen Geistes ist) ist weder auf die Kirchen der Reformation beschränkt noch auf irgendeine andere Kirche. Als Ausdruck der Geistgemeinschaft transzendiert es jede einzelne Kirche. Es ist von jeder Kirche verleugnet worden […]; aber es ist in jeder Kirche wirksam […] als die Macht, die die völlige Profanisierung und Dämonisierung der christlichen Kirchen verhindert. Das protestantische Prinzip allein genügt jedoch nicht; die katholische Substanz, die konkrete Verkörperung der Gegenwart des göttlichen Geistes ist ebenso notwendig, aber sie ist dem Kriterium des protestantischen Prinzips unterworfen. Im protestantischen Prinzip siegt der göttliche Geist über die Religion.²⁴⁷
245 Tillich: ST I, 264 [227]. Vgl. hierzu auch Tillichs Ausführungen zum Kampf gegen das Dämonische in Bezug auf die Kirchen selbst im Zusammenhang der Darstellung von Tillichs Verständnis des Dämonischen unter Abschn. 6.2 dieser Arbeit. 246 Ders.: ST III, 281 [245]. 247 Ebd. In der englischen Fassung lautet der letzte Satz: „It [the Protestant principle] is the expression of the victory of the Spirit over religion.“ Tillich verwendet „tragisch“ in Bezug auf
6.2 Eschatologische Grundlinien | 279
Hier zeigt sich, dass Tillich die letztgültige Wahrheit, die sich im protestantischen Prinzip ausdrückt, überkonfessionell versteht, indem alles endlich-geschöpflich Seiende innerhalb der Geschichte, wozu Moralität, Kultur und Religion als Funktionen des Geistes im Rahmen der universalen Zweideutigkeit des geschichtlichen Lebens gehören, der Kritik vom Unbedingten her unterzogen werden muss. Das protestantische Prinzip ist demnach nicht identisch mit dem Protestantismus, sondern erweist sich als kritisches und gestaltendes Prinzip des Endlichen vom Unbedingten her, dem auch die Religion unterworfen ist. Damit geht jedoch m. E. nicht die Aufhebung der konkreten Konfessionen und Religionen einher, da im Hinblick auf den Protestantismus das protestantische Prinzip konkret in der Lehre von der Rechtfertigung des Sünders seinen historischen Ausdruck findet. Gemäß Tillichs Bestimmung des Verhältnisses von Bedingtem und Unbedingtem, wie es sich u.a. in seinem Verständnis des Symbols, des Prinzips oder auch des Heiligen ausdrückt, ist das Unbedingte innerhalb der Geschichte wesentlich nicht abstrakt, sondern ausschließlich im Konkreten zu erfahren. Zu einem anderen Urteil, das den Protestantismus bei Tillich aufgehoben sieht, kommt Wendland.²⁴⁸ Der Sieg des göttlichen Geistes über die Religion lässt sich unter den Bedingungen der universalen Entfremdung Tillich folgend jedoch ausschließlich fragmentarisch in den konkreten bedingten historischen Erscheinungen, die als solche in ihrer Beziehung zum Unbedingten auf das Heilige hinweisen können, erfahren. Deshalb betont Tillich neben dem kritischen Aspekt des protestantischen Prinzips auch die Notwendigkeit der konkreten Verkörperung der Gegenwart des göttlichen Geistes, die jedoch nicht mit dem Unbedingten identifiziert werden darf und daher selbst dem Kriterium des protestantischen Prinzips unterworfen ist. In dieser Erfahrung des Unbedingten im Endlichen ist die Geschichte gleichzeitig im Hinblick auf einen möglichen Absolutheitsanspruch verneint und in ihrer endlichen Existenz aufgrund ihrer essentiellen Geschöpflichkeit bejaht. Sie ist nicht
den schicksalhaften Aspekt der universalen Zweideutigkeit des Lebens. Vgl. hierzu auch Unterabschn. 2.3.2 dieser Arbeit. Der Zusammenhang, in dem die dargestellte Fassung des protestantischen Prinzips bereits zitiert wurde, findet sich unter Abschn. 4.1 dieser Arbeit. Vgl. zu Tillichs Verständnis der Geistgemeinschaft im Sinne der reformatorischen Lehre von der verborgenen Kirche Abschn. 4.2 dieser Arbeit. Vgl. für eine kompakte Darstellung von Tillichs Rechtfertigungsverständnis: Galles, Paul: Der theologische Ausgangspunkt: die Rechtfertigung, in: Ders. (Hg.): Situation und Botschaft. Die soteriologische Vermittlung von Anthropologie und Christologie in den offenen Denkformen von Paul Tillich und Walter Kasper, Berlin und Boston 2012, 129–147. 248 Wendland, Heinz-Dietrich: Paul Tillichs Thesen über den Protestantismus, in: Ders. (Hg.): Die Kirche in der revolutionären Gesellschaft. Sozialethische Aufsätze und Reden, Gütersloh 1967, 236–257. Vgl. zu Tillichs Deutung der Reformation und des Protestantismus: El Asmar, Raymond u. a. (Hgg.): Reformation und Revolution in der Wahrnehmung Paul Tillichs, Berlin und Boston 2019.
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in dem Sinne Heilsgeschichte, dass sie durch eine innergeschichtliche Progression zur Erfüllung gelangt, sondern sie ist im Lichte der Manifestation des Neuen Seins in Jesus Christus zum Heil bestimmte Geschichte, indem innergeschichtlich in der Rechtfertigung durch Gnade im Glauben fragmentarisch die Erfüllung erlebt werden darf, deren universale Verwirklichung im Reich Gottes am Ende der Geschichte in Form des Ewigen Lebens durch das sich als Essentifikation ereignende Jüngste Gericht erhofft wird und die die Notwendigkeit von Moralität, Kultur und Religion in der universalen Verwirklichung der transzendenten Einheit unzweideutigen Lebens aufhebt.²⁴⁹ Im Folgenden soll dementsprechend nun der eschatologische Ertrag der vorangegangenen Erörterungen zu den der Systematischen Theologie vorausgehenden Schriften Tillichs ermittelt werden. Fazit Auf Grundlage der vorangegangenen Erörterung von Religiösem Sozialismus, kairos, prophetischem Geist, Theonomie, dem Dämonischem sowie dem protestantischem Prinzip als zentralen Begrifflichkeiten von Tillichs der Systematischen Theologie vorausgehenden Schriften lässt sich demnach zusammenfassend folgendes festhalten: a) Die eingangs genannten Grundaussagen von Tillichs theologischem System in der Systematischen Theologie finden sich bereits in zentraler Funktion in Tillichs Schriften seit den frühen 1920er Jahren und lassen sich demnach in einer Tillichs Ausführungen in der Systematischen Theologie vorbereitenden Entwicklungslinie verstehen: die in ihrer Beziehung zu wahrende Differenz von Bedingtem und Unbedingtem, die in seiner Geschöpflichkeit wesentliche Abhängigkeit alles endlich Seienden von Gott als dem gnädigen und liebenden Grund alles Seienden, Beziehung als grundlegende ontologische Kategorie, die Unaufhebbarkeit der essentiellen Endlichkeit und damit der universalen Entfremdung des Geschöpflichen im Angesicht der Selbstmanifestation Gottes in Jesus als dem Christus wie auch die Hoffnung auf eine die Geschichte als solche transzendierende Verwirklichung des Reiches Gottes. Dies zeigt sich exemplarisch in Bezug auf den Religiösen Sozialismus in Tillichs Ablehnung einer innergeschichtlichen Verwirklichung des Reiches Gottes im Rahmen einer innergeschichtlichen Progression, in seinem Verständnis von kairos als einem das Unbedingte in der Geschichte manifestierenden Einbruch des Ewigen in das Zeitliche, in seiner Bestimmung des prophetischen Geistes als eine die innergeschichtliche Gegenwart vom Geist des Unbedingten her
249 Vgl. zu Tillichs Verständnis der Heilsgeschichte Unterabschn. 3.1.3 sowie vor allem Abschn. 4.1 dieser Arbeit.
6.2 Eschatologische Grundlinien | 281
kritisierende und gestaltende Kraft, in seiner Auffassung von Theonomie als einem dem Unbedingten geöffneten Abbild der die Geschichte transzendierenden Erfüllung, in seinem Zugang zum Dämonischen als der das Endliche mit dem Unbedingten identifizierenden Kraft sowie in seiner Interpretation des protestantischen Prinzips als einem das Endliche von der Botschaft der Rechtfertigung durch Gnade im Glauben her kritisierenden und gestaltenden Prinzip.²⁵⁰ b) Darüber hinaus hat sich im Zusammenhang der genannten zentralen Begrifflichkeiten in Tillichs der Systematischen Theologie vorgängigen Schriften eine Entwicklungslinie hinsichtlich der von Tillich gewählten konkreten Bezüge gezeigt: So setzt Tillich zu Beginn der 1920er Jahre im Rahmen seiner Zugehörigkeit zur religiös-sozialistischen Bewegung den Akzent auf die konkret geschichtsimmanente und handlungsorientierende Gegenwart des Unbedingten in kairos, prophetischem Geist, Theonomie, dem Kampf gegen das Dämonische und dem protestantischen Prinzip der Rechtfertigung durch Gnade im Glauben. Vor dem Hintergrund der historischen Entwicklungen verlagert Tillich den Akzent seiner konkreten Bezüge hin zu dem die innergeschichtliche Wirklichkeit kritisch richtenden, transzendenten Aspekt des Unbedingten in seiner Beziehung zur geschichtlichen Gegenwart, dem sich alles endlich Seiende (selbst-)kritisch zu unterziehen hat, was besonders in den Stichworten „geistiges Vakuum“ und „heiligendes Leer-geworden-sein“ zum Ausdruck kommt. Dies lässt sich an einer Formulierung aus Kairos II von 1926 veranschaulichen, gemäß derer zwar „immer Kairos, Zeitenfülle, Hereinbrechen des Ewigen sein [kann], aber nicht immer […] Bewußtsein um den Kairos.“²⁵¹ Mit einer begrifflichen Unterscheidung aus Tillichs Ekklesiologie in Teil IV seiner Systematischen Theologie formuliert versteht Tillich die historische Situation in den frühen 1920er Jahren als eine Zeit, in welchem das Unbedingte konkret manifest geworden ist, während das Unbedingte in den späteren historischen Entwicklungen seinem Verständnis nach nur noch latent wirksam ist.²⁵² Damit geht eine explizite, grundsätzliche Ablehnung von Totalitäts- und Absolutheitsansprüchen des Geschöpflichen einher. Analog zur dargestellten Akzentverschiebung lässt sich auch die terminologische Schwerpunktverlagerung in der Systematischen Theologie im Verhältnis
250 Eine ausführliche Auseinandersetzung mit verschiedenen Aspekten der Theologie des frühen Tillich findet sich bei: Danz, Christian/Schüßler, Werner: Religion – Kultur – Gesellschaft. Der frühe Tillich im Spiegel neuer Texte (1919–1920), Berlin und Münster 2008. 251 Tillich: Kairos II, 35. 252 Vgl. hierzu Abschn. 4.2 oder auch die vorangegangenen Ausführungen zum prophetischen Geist und der Theonomie unter Abschn. 6.2 dieser Arbeit.
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zu den ihr vorausgehenden Schriften erläutern: Während in Tillichs früheren Schriften „Religiöser Sozialismus“, „Kairos“, „prophetischer Geist“, „Theonomie“, „das Dämonische“ sowie „das protestantische Prinzip“ im Vordergrund stehen, entwickelt Tillich in der Systematischen Theologie sein theologisches System im Rahmen von Begrifflichkeiten, die wesentlich durch beziehungsreiche Spannungen gekennzeichnet sind, wie „die ontologische Grundstruktur“, „die ontologischen Polaritäten“, „Essenz und Existenz“, „(universale) Entfremdung“, „Zweideutigkeiten des Lebens“, „Fragmentarität“, „Geistgemeinschaft und sichtbare Kirchen“, „(immanentes und transzendentes) Reich Gottes“. Zwar bezieht Tillich terminologisch wie geschildert den kairos, den prophetischen Geist, Theonomie, das Dämonische wie auch das protestantische Prinzip noch in die Systematische Theologie ein, ordnet diese jedoch thematisch den jeweiligen dogmatischen loci unter. So behandelt er die Frage nach dem Verhältnis kairos und kairoi explizit erst innerhalb seiner eschatologischen Ausführungen in Teil V zum geschichtsimmanenten Aspekt des Reiches Gottes, den prophetischen Geist ausschließlich implizit beispielweise innerhalb seines ersten Teils in Bezug auf die Frage nach aktueller Offenbarung oder eben in Bezug auf den Kairos-Begriff in Teil V, Theonomie in Teil IV im Rahmen der Gegenwart des göttlichen Geistes und den Zweideutigkeiten der Kultur, das Dämonische ebenfalls nur implizit in Teil IV im Zusammenhang mit den Zweideutigkeiten der Religion und das protestantische Prinzip explizit in Teil IV in Bezug auf die Gegenwart des göttlichen Geistes und die Zweideutigkeiten der Religion. Diese inhaltlichen und terminologischen Verschiebungen sind im Hinblick auf Tillichs ebenfalls schon früh – beispielsweise 1926 in Kairos II – formuliertes Theologieverständnis, gemäß dessen sich die Theologie in die konkrete geschichtliche Lage zu begeben hat,²⁵³ nicht als Bruch innerhalb seiner Theologie, sondern als eine seinem Theologieverständnis folgende organische Entwicklung zu verstehen.²⁵⁴ Die vorliegende Arbeit kommt im Hinblick auf die Frage nach Tillichs Eschatologie aufgrund des erörterten Materials Raatz’ „relative[r] Kontinuitätsperspektive“²⁵⁵ folgend mit Heinz-Dietrich Wendland formuliert zu dem Ergebnis einer „durchgreifenden Kontinuität in den Grundgedanken und den entschei-
253 Tillich: Kairos II, 33. 254 Vgl. zur kontrovers diskutierten Frage der Kontinuität bzw. Diskontinuität in Tillichs theologischem Werk, die je nach Lesart unterschiedlich interpretiert wird: Raatz: Unbedingtsetzung von Bedingtem, 270f. 255 Ebd., 271.
6.2 Eschatologische Grundlinien | 283
denden Fragestellungen Tillichs.“²⁵⁶ Auch Danz schreibt Tillichs Werk in Bezug auf seine Eschatologie ein hohes Maß an Kontinuität zu, speziell hinsichtlich eines Vergleiches von Tillichs Aufsatz Eschatologie und Geschichte und der Systematischen Theologie.²⁵⁷ Die grundlegenden eschatologischen Linien im werkgeschichtlichen Kontext stellt Matern dar.²⁵⁸ Im Hinblick auf die Christologie Tillichs konstatiert Georg Neugebauer eine nicht nur relative, sondern klar kontinuierliche Entwicklung.²⁵⁹ Werner Schüßler kommt in Bezug auf die „Großbegriffe“ Tillichs kairos, das Dämonische und Theonomie zu einer ähnlichen Beurteilung: „Tillich erweitert die Bedeutung dieser Begriffe ständig und gestaltet sie zuweilen auch um, entsprechend den Bedürfnissen einer jeweiligen Neuinterpretation der gegenwärtigen Lage.“²⁶⁰ Lauster führt im Hinblick auf Tillichs Verhältnis zum religiösen Sozialismus aus, dass Tillich sich „stets auf Abstand zur Geschichtsphilosophie des dialektischen Materialismus gehalten habe. Die Ausführungen in der Systematischen Theologie sind darum keine Wende und kein Novum, sondern ein summarisches und deutliches Fazit seiner Absage an die marxistische Geschichtsdeutung.“²⁶¹ Eine differenzierte Auseinandersetzung mit den verschiedenen Stadien des theologischen Systems von Tillich, die einerseits jeweils eigene Akzente setzen, aber andererseits doch auseinander hervorgehen und im Sinne einer organischen Entwicklung sinnvoll aufeinander bezogen werden können, bietet Stefan Dienstbeck.²⁶² Die vorliegenden Ausführungen schließen sich dem Urteil Dienstbecks an, dass Tillich sein theologisches System selbst unter dem kritischen Prinzip des Unbedingten sieht, so dass es in seinen konkreten Formen innergeschichtlich seiner Aufgabe des Dienstes, auf das Unbedingte hinzuweisen, sich jedoch nicht mit ihm zu identifizieren, nachkommt.²⁶³ Tillichs Theologieverständnis findet sich in ausformulierter Form innerhalb der Systematischen Theologie dann in der Methode der Korrelation.²⁶⁴ Dem liegt Tillichs grundsätzliche Einsicht zugrunde, dass sich Gott als der Grund
256 Wendland: Paul Tillichs Thesen über den Protestantismus, 236. 257 Danz: Das Reich Gottes als Ziel der Geschichte, 208. 258 Matern: Das Reich Gottes innerhalb der Geschichte und als Ziel der Geschichte, 277–292. 259 Neugebauer: Tillichs frühe Christologie: eine Untersuchung zu Offenbarung und Geschichte bei Tillich vor dem Hintergrund seiner Schellingrezeption, 303f. 260 Schüßler: Kairos, 112. 261 Lauster: Die Geschichte und die Frage nach dem Reich Gottes, 268. 262 Dienstbeck, Stefan: Transzendentale Strukturtheorie. Stadien der Systembildung Paul Tillichs, Göttingen 2011. 263 Ebd., 465f. 264 Vgl. hierzu auch Unterabschn. 2.3.2 dieser Arbeit.
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alles endlich Seienden für das Geschöpfliche innerhalb der Geschichte ausschließlich in konkreten historischen Erscheinungen manifestiert, was sich in Tillichs Verständnis von Prinzipien als realen Mächten, die geschichtliche Erscheinungen tragen, (religiösen) Symbolen, die an der Wirklichkeit des Symbolisierten partizipieren, wie auch des Heiligen, das im Profanen sichtbar wird, zeigt.²⁶⁵ Eine solche Manifestation des Unbedingten unterliegt jedoch aufgrund der universalen Entfremdung innergeschichtlich der Zweideutigkeit des Lebens in der Dimension des Geistes – der Zweideutigkeit von Moralität, Kultur und Religion –, welcher damit auch die christlichen Kirchen und deshalb auch die Theologie als „eine Funktion der christliche[n] Kirche“²⁶⁶ unterworfen sind. Jene Zweideutigkeit kann im Lichte der Selbstmanifestation Gottes in Jesus als dem Christus ausschließlich durch den göttlichen Geist im Sinne des protestantischen Prinzips überwunden werden. c) Die Auseinandersetzung mit Tillichs der Systematischen Theologie vorausgehenden Schriften hat außerdem eine analoge Akzentverschiebung speziell bezüglich seiner Eschatologie deutlich werden lassen: Im Rahmen seiner Affinität zur religiös-sozialistischen Bewegung betont Tillich wesentlich den immanenten Aspekt der im Eschaton erhofften universalen Erfüllung, die immanente Gegenwart des Reiches Gottes im Kairos-Bewusstsein, dem prophetischen Geist und der Theonomie. Dabei fällt auf, dass der Begriff „Reich Gottes“ in diesem Zusammenhang explizit noch selten zentrale Bedeutung zukommt.²⁶⁷ Es finden sich vielmehr Formulierungen, die auf die Gegenwart des Ewigen im Zeitlichen hinweisen. So heißt es beispielsweise in Bezug auf den prophetischen Geist 1926 in Kairos II: Die Zeit wird nicht dadurch erlöst, daß die Ewigkeit in sie eingeht […]; sondern die Zeit wird dadurch erlöst, daß sie aufgenommen wird in die Ewigkeit. Die Erlösung […] liegt jenseits der
265 Vgl. hierzu auch Abschn. 2.2, Unterabschn. 2.3.2 wie auch Abschn. 6.2 dieser Arbeit. 266 Tillich: ST I, 9 [3]. 267 Tillich verwendet den Begriff „Reich Gottes“ oft im Zusammenhang seiner Schriften mit Bezug zur religiös-sozialistischen Bewegung bzw. zum Nationalsozialismus. Vgl. hierzu: Ders.: Christentum und Sozialismus I+II, 26/30 von 1919/20; Ders.: Masse und Geist, in: Ders.: GW II, 35–90, 77f. von 1922; Ders.: Religiöser Sozialismus II, in: Ders.: GW II, 159–174, hier 168 von 1930; Ders.: Klassenkampf und religiöser Sozialismus, in: Ders.: GW II, 175–192, hier 191 von 1930; Ders.: Protestantisches Prinzip und proletarische Situation, in: Ders.: GW VII, 84–104, hier 94 von 1931; Ders.: Ende der protestantischen Ära I+II, 167 von 1937; Ders.: Was ist falsch an der „dialektischen“ Theologie?, in: Ders.: GW VII, 247–262, 248/252f./260 von 1935; Ders.: Überwindung des Provinzialismus in der Theologie, in: Ders.: GW VIII, 13–30, hier 20 von 1953; Ders.: Die Kirche und das Dritte Reich, 177f. von 1932; Ders.: Die religiöse Lage im heutigen Deutschland, in: Ders.: GW XIII, 227–237, 234f. von 1934; Ders.: Die Grundgedanken des Religiösen Sozialismus, in: Ders.: GW XIII, 408–418, 409f. von 1960.
6.2 Eschatologische Grundlinien |
285
Zeit. […] Aber es ist nicht die Aufhebung des Handelns. Denn alles Handeln, das im Bewußtsein des Kairos geschieht […], ist Handeln mit der Richtung nach oben, mit der Richtung auf […] das wesenhaft Wirkliche […], von dem auch die Zeit in ihrer Ewigkeitsferne lebt.²⁶⁸
Aus eben jenem Ansatz folgt für Tillich die entsprechende Handlungsorientierung aus dem Geist des kairos im Sinne der Vorbereitung des Zeitlichen auf die Aufnahme in die Ewigkeit, indem das Endliche explizit auf das Unendliche hinweisen soll.²⁶⁹ Hier zeigt sich Tillichs konkretes Kairos-Bewusstsein: Dies Bewußtsein tritt dann auf […], wenn […] der prophetische Geist sich zu regen beginnt und die festen Formen der in sich ruhenden Endlichkeit erschüttert werden, weil das Ewige hereinbricht, weil es Kairos im besonderen, die Geschichte umwälzenden Sinne geworden ist. – Daß jetzt Kairos ist […] im Sinne eines auf uns andringenden, unbedingt verantwortlichen Hereinbrechens der Ewigkeit in die Zeit, das anzusprechen ist der Sinn alles Gesagten.²⁷⁰
In ähnlicher Weise heißt es 1927 mit Blick auf die Bedeutung des geschichtlichen Lebens für das Eschaton in Eschatologie und Geschichte: Das Eschaton ist das Erfüllte, das Entschiedene. […] Reich Gottes ist der transzendente Ort für die Erfüllung, für die Verwirklichung des Seins als sinnhaften Seins. Reich Gottes umspannt also alles, was im Geschehen steht, als dessen transzendenter Sinn. […] Alle eschatologischen Begriffe werden sinnlos, wenn die strenge Korrelation zur Geschichte aufhört […].²⁷¹
Danz weist in Bezug auf diesen Vortrag zurecht darauf hin, dass Tillich bereits hier die in Band III der Systematischen Theologie explizit formulierte Verbindung von Schöpfung und Eschatologie vornimmt, indem er „eine innergeschichtliche, dem Geschehen zugewandte Seite der Eschatologie von einer übergeschichtlichen [unterscheidet].“²⁷² Analog dazu findet sich in einem in Bezug auf den prophetischen Geist bereits angeführten Zitat aus Der Protestantismus als kritisches und gestaltendes Prinzip von 1929: „Das schon Ent-
268 Ders.: Kairos II, 35. 269 Vgl. hierzu auch die Ausführungen zum Kairos unter Abschn. 6.2 dieser Arbeit. 270 Tillich: Kairos II, 35. 271 Ders.: Eschatologie und Geschichte. Ein Beitrag zur Sinndeutung der Geschichte, in: Ders.: GW VI, 72–82, hier 80/82. In Eschatologie und Geschichte erörtert Tillich auch eine der Systematischen Theologie ähnliche Auffassung des Jüngsten Gerichts im Sinne der Essentifikation. Vgl. ebd., 79 sowie zur Systematischen Theologie Kap. 5 dieser Arbeit. 272 Danz: Das Reich Gottes als Ziel der Geschichte, 202. Vgl. zu Tillichs Verbindung von Schöpfung und Eschatologie auch Unterabschn. 2.3.2 dieser Arbeit.
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schiedene und Erfüllte, die Vorwegnahme des ‚Eschaton‘ im Sein ist der Ort, an dem die Gnade Gestalt annimmt.“²⁷³ Erst später im Gefolge der Erschütterungen von Tillichs Kairos-Bewusstsein durch die historischen Entwicklungen rückt auch der transzendente Aspekt des Eschaton und damit auch der Begriff „Reich Gottes“ expliziter in den Vordergrund. Hier bereitet sich das in der Systematischen Theologie formulierte Verständnis des Verhältnisses von immanentem und transzendentem Aspekt des Reiches Gottes vor, was sich exemplarisch anhand ausgewählter Schriften wie folgt veranschaulichen lässt: Eine Kurzform eben jenes Verständnisses von „Reich Gottes“ findet sich bereits 1939 in Tillichs Schrift Geschichte als das Problem unserer Zeit: Die endgültige Antwort auf die Frage, die mit der Geschichte gegeben ist, ist […] das Reich Gottes […]. Das Reich Gottes ist […] der transzendente Sinn aller Existenz, die Natur eingeschlossen. Aber es hat eine besondere Beziehung zur Geschichte. Reich ist ein geschichtliches Symbol, womit darauf hingewiesen ist, daß der transzendente Sinn der Existenz eine besondere Beziehung zu unserer geschichtlichen Existenz hat. Das Reich Gottes kann als die transzendente Einheit und Erfüllung des Sinns unserer Existenz beschrieben werden – unserer Existenz, die in Zeit und Raum fragmentarisch, gespalten und zweideutig bleibt.²⁷⁴
Die Irreduzibilität der immanenten und der transzendenten Seite des Reiches Gottes als Ziel der Geschichte formuliert Tillich ausdrücklich dann 1952 in Sieg in der Niederlage. Der Sinn der Geschichte im Lichte christlicher Prophetie und kommt zu Bestimmungen von „Reich Gottes“, die den Ausführungen in der Systematischen Theologie sehr ähnlich sind: Das Reich Gottes kämpft in der Geschichte und ist siegreich jenseits der Geschichte. Es ist zugleich immanent und transzendent. Als geschichtliche Erscheinung ist es immer zweideutig und schwebt zwischen Sieg und Niederlage. Sein Endsieg verbirgt sich unter seiner Zweideutigkeit. Der Endsieg ist Gegenstand des Mutes und der Hoffnung, nicht aber der Gewißheit. Das erfüllte Reich Gottes ist nicht identisch mit einer zukünftigen Geschichtsperiode, sondern ist ein übergeschichtliches Geschehen, in dem sich Geschichte erfüllt […]. Als Ende der Geschichte ist nicht der unbestimmte Augenblick innerhalb der Zeit zu verstehen, in dem das geschichtliche Leben der Erde erlischt, sondern das Einbrechen der Ewigkeit in die Zeit. Dann werden die Ergebnisse des geschichtlichen Prozesses […] in die transzendente Einheit und Reinheit des Reiches Gottes erhoben.²⁷⁵
Hermann Eberhardt bezeichnet deshalb in einer Linie zum protestantischen Prinzip Tillichs Verständnis von „Reich Gottes“ als „kritisch und gestal-
273 Tillich: Der Protestantismus als kritisches und gestaltendes Prinzip, 51. 274 Ders.: Geschichte als das Problem unserer Zeit, 167. 275 Ders.: Sieg in der Niederlage, 134/136.
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tend.“²⁷⁶ Darüber hinaus sieht Eberhardt analog zur Interpretationslinie der vorliegenden Arbeit Tillichs Verständnis des Reiches Gottes bereits in den frühen Bestimmungen von Theonomie, Kairos und dem Dämonischen angelegt.²⁷⁷ Diese Ausführungen von Tillich zeigen beispielhaft unter anderem durch Formulierungen wie „Endsieg“ den konkreten historischen Bezug von Tillichs theologischen Schriften. Möglicherweise wird durch den historischen Hintergrund für Tillich auch das Symbol „Reich Gottes“ neu hinsichtlich des zurückgenommenen aktiven Gebrauchs erschlossen.²⁷⁸ Im Sinne der Relevanz von sowohl immanenter als auch transzendenter Seite des Symbols „Reich Gottes“ erörtert Tillich schließlich 1959 in Kairos und Utopie: Das Reich Gottes „hat zwei Dimensionen, eine innergeschichtliche und eine übergeschichtliche. Das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen, und seine Nähe schafft jedes echte Kairosbewußtsein. Aber das Reich Gottes liegt auch immer jenseits der Geschichte als die ewige Erfüllung alles dessen, was in der Geschichte unerfüllt bleibt“²⁷⁹, so dass, „wenn die übergeschichtliche Dimension des Reiches Gottes von der innergeschichtlichen verschlungen wird“²⁸⁰ die Problematik eines dämonischen Utopismus bzw. umgekehrt durch „die völlige Beseitigung der innergeschichtlichen Dimension“²⁸¹ der entgegen gesetzte Irrtum eines Transzendentalismus entsteht. Dass die immanente Gegenwart des Reiches Gottes nicht mit dessen transzendenter Erfüllung identifiziert werden darf, zeigt sich schließlich auch in der bereits im Rahmen der
276 Eberhardt: Der Reich-Gottes-Begriff im Denken Paul Tillichs, 103. Vgl. zu Eberhardts Analyse von „Theonomie“, „Kairos“ und „das Dämonische“ bei Tillich mit Bezug auf die Frage nach dem Symbol des Reiches Gottes und den Symbolen der Gegenwart des göttlichen Geistes wie auch des Ewigen Lebens: ebd., 49–76/93. 277 Ebd., 49f. 278 Vgl. zu Tillichs Überlegungen bezüglich des Endes der geschichtlichen Menschheit auch Unterabschn. 3.1.1 dieser Arbeit. 279 Tillich: Kairos und Utopie, 155. Vgl. hierzu auch Ders.: Das Neue Sein als Zentralbegriff einer christlichen Theologie, in: Ders.: GW VIII, 220–239, hier 239. Siehe auch Ders.: Das Neue Sein als Zentralbegriff einer christlichen Theologie, in: Danz, Christian (Hg.): Rechtfertigung und Neues Sein, Leipzig 2018, 35–64 sowie Ders.: Die Hoffnung der Christen von 1961; Ders.: Theologische Grundlagen der Mission, in: Ders.: GW VIII, 276–284 von 1954; Ders.: Jüdische Einflüsse auf die christliche Theologie unserer Zeit, in: Ders.: GW VIII, 292–303 von 1952; Ders.: Auf der Grenze, in: Ders.: GW XIII, 13–57 von 1962; Ders.: Mensch und Staat, in: Ders.: GW XIII, 167–177 von 1931; Ders.: Probleme des Friedens, in: Ders.: GW XIII, 436–443 von 1965. 280 Ders.: Kairos und Utopie, 155. 281 Ebd. Vgl. zur Abgrenzung Tillichs von einem utopistischen wie auch transzendentalistischen Geschichtsverständnis Abschn. 3.3 dieser Arbeit. Ähnliche Ausführungen finden sich auch in einer auf Grundlage von Stenogrammen veröffentlichten Vortragsreihe von 1951: Ders.: Die politische Bedeutung der Utopie im Leben der Völker, in: Ders.: GW VI, 157–210, 166/209f.
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Analyse von Tillichs Theonomieverständnis zitierten Formulierung: „Theonomie ist […] nicht das Reich Gottes, sondern das fragmentarische, vorwegnehmende, immer gefährdete Bild des Reiches Gottes in einer spezifischen Periode der menschlichen Geschichte.“²⁸² Auf eben jene Ausführungen zum Reich Gottes folgt dann Tillichs umfassende Eschatologie in Band III der Systematischen Theologie von 1963, die in den vorangegangenen Kapiteln dieser Arbeit dargelegt wurde.²⁸³ Eine ähnliche These im Hinblick auf die Formulierung einer expliziten Eschatologie in der Systematischen Theologie findet sich bei Martin Leiner.²⁸⁴ Die Begründung für die geschilderte eschatologische Entwicklungslinie von der handlungsorientierenden, geschichtsimmanenten Gegenwart des Ewigen hin zur jeglichen Totalitäts- und Absolutheitsanspruch des Endlichen kritisierenden Infragestellung und Rechtfertigung des geschichtlichen Prozesses im Angesicht der sich in Jesus Christus erschließenden gnädigen Liebe Gottes ist im Sinne des von Tillich geforderten historischen Gegenwartsbezuges der Theologie analog zur zuvor dargestellten inhaltlichen und terminologischen Akzentverschiebung im Verlauf von Tillichs theologischen Schriften zu verstehen. Zusammenfassend kann somit festgehalten werden, dass die Neuakzentuierungen in Tillichs theologischen Schriften als organische Entwicklung zu verstehen ist, die als Konsequenz aus seinem Verständnis der Theologie, die sich in die konkrete geschichtliche Lage zu begeben hat, folgt. Daher lässt sich eben jene organische Entwicklung von Tillichs theologischem Werk anhand der zentralen historischen Ereignisse seiner Zeit nachvollziehen, zu denen wesentlich der erste Weltkrieg, die nach seinem Ende entstehenden Wirrungen, die nationalsozialistische Machtergreifung, Tillichs Emigration in die USA, der zweite Weltkrieg sowie die auf ihn folgenden weltpolitischen Neuorientierungen gehören. Dies lässt sich abschließend im Besonderen anhand von Aussagen, die Tillich in Die protestantische Ära von 1948 selbst „in der verwirrenden Periode nach dem Ende des zweiten Weltkrieges“²⁸⁵ über sein Verhältnis zur religiös-sozialistischen Bewegung wie auch die Positionierung seiner Theologie vor dem Hintergrund der historischen Ereignisse trifft, veranschaulichen:
282 Tillich: Kairos und Utopie, 156. 283 Vgl. zum Symbol „Reich Gottes“ speziell die Kapitel Abschn. 3.3 bis Abschn. 5.3. 284 Leiner, Martin: Jesus Christus und das Reich Gottes, in: Haigis/Hummel/Lax (Hgg.): Christus Jesus – Mitte der Geschichte!?, 155–165. 285 Tillich: Die protestantische Ära, 27.
6.2 Eschatologische Grundlinien | 289
Die Geschichte wurde zum Zentralproblem meiner Theologie und Philosophie durch die geschichtliche Wirklichkeit, wie ich sie aus meiner Rückkehr aus dem ersten Weltkrieg vorfand: ein chaotisches Deutschland und Europa, das Ende der Epoche des siegreichen Bürgertums und des Lebensstiles des 19. Jahrhunderts, der Riß zwischen den lutherischen Kirchen und dem Proletariat, die Kluft zwischen der transzendenten Botschaft des traditionellen Christentums und den immanenten Hoffnungen der revolutionären Bewegungen. Die Situation forderte sowohl Deutung als auch Gestaltung. Beides wurde von der Bewegung der Religiösen Sozialisten versucht, die unmittelbar nach dem Kriege durch eine Gruppe, darunter ich selbst, gegründet wurde.²⁸⁶
Eine ausführliche Erörterung von Tillichs Theologie in Bezug auf die genannten historischen Ereignisse findet sich bei Ratschow.²⁸⁷ Ratschow bezieht in sein biographisches Bild von Tillichs Gedanken Tillichs Jugend und Bildung an Schelling mit ein. Wie in den vorliegenden Ausführungen dieses Kapitels erwähnt, grenzt sich Tillich mit seinem Eintritt in die religiös-sozialistische Bewegung explizit vom Gedankengut des deutschen Idealismus ab, wobei unter anderem hinsichtlich seiner Terminologie der Einfluss des deutschen Idealismus sichtbar bleibt, was sich beispielsweise in seinem Verständnis der „Essentifikation“ zeigt. Da die vorliegende Arbeit sich auf Tillichs Eschatologie konzentriert, Tillich sich mit seinem Eintritt in die an der marxistischen Gesellschaftsanalyse orientierten religiös-sozialistische Bewegung wie im folgenden gezeigt explizit gegenüber dem deutschen Idealismus abgrenzt und daraus für seine Eschatologie zentrale Begrifflichkeiten wie prophetischer Geist, kairos, Theonomie, das Dämonische wie auch schließlich das protestantische Prinzip hervorgehen, wird das Verhältnis von Tillichs Theologie zum deutschen Idealismus in dieser Arbeit nicht eigens eingehend erörtert.²⁸⁸
286 Ebd., 16f. 287 Vgl. Ratschow: Paul Tillich (1980), 11–104. Eine gekürzte Form dieser Erörterung bietet Ratschow in seinem Beitrag: Ders.: Paul Tillich (1986). Eine kompakte Besprechung dieser beiden Tillich Darstellungen von Ratschow, Ratschows kritische Stellungnahme zum hohen Grad der Abstraktion in Tillichs Theologie eingeschlossen, liegt in folgendem Beitrag vor: Janssen, Claudia: Auf der Grenze zwischen Philosophie und Theologie. Carl Heinz Ratschows biographische Annäherungen an Paul Tillich, in: Tillich Journal 4 (2000), 11–21. Vgl. zur Besprechung von Ratschows Kritik an der Theologie Tillichs auch Unterabschn. 2.3.2 sowie Abschn. 5.3 dieser Arbeit. 288 Eine den Bezug zu Schelling kritisch in Frage stellende Darstellung der Interpretation von Schellings Denken durch Tillich findet sich bei: Mokrosch, Reinhold: Warum sich Tillich nicht auf Schelling berufen kann, aber dennoch ohne Schelling nicht denkbar ist, in: Danz, Christian (Hg.): Religion und Politik, Bd. 4 (International Yearbook for Tillich Research), Berlin und Boston 2009, 139–147. Weitere Auseinandersetzungen mit dem Verhältnis von Tillichs Theologie und dem Gedankengut des deutschen Idealismus sind: Yang, Junjie: Paul Tillich und die Schelling-Renaissance(n), in: Danz, Christian (Hg.): Interpretation of history (International Ye-
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Im Sinne des für Tillich aus der geschichtlichen Lage folgenden Handlungsbedarfes bezeichnet er folgenden Satz als zentrales Fundament seines gesellschaftsbezogenen theologischen Arbeitens: „Religion ist die Substanz der Kultur, Kultur ist die Form der Religion“²⁸⁹, wobei eben Religion und Kultur aufgrund der Differenz in der Beziehung von Bedingtem und Unbedingtem nicht miteinander identifiziert werden dürfen, da keine Sphäre des Lebens ohne Bezug auf etwas Unbedingtes bestehen [kann], auf etwas, das unbedingt angeht. Die Religion ist wie Gott allgegenwärtig, ihre Gegenwart kann wie die Gottes vergessen, vernachlässigt, geleugnet werden. Aber sie ist immer wirksam, verleiht dem Leben unausschöpfliche Tiefe und jedem kulturellen Schaffen unausschöpflichen Sinn.²⁹⁰
Insbesondere im Hinblick auf den US-amerikanischen sozialismus- und kommunismuskritischen Zeitgeist, dem sich Tillich im Verlauf der historischen Entwicklungen seit seiner Emigration in die USA 1933 ausgesetzt sieht, kommt er zu einer detaillierten Erläuterung seines Verständnisses der religiös-sozialistischen Bewegung, um einige Mißverständnisse bezüglich der Natur und des Zieles dieser Bewegung [zu] beseitigen. […] Der religiöse Sozialismus war immer am menschlichen Leben als Ganzem inter-
arbook for Tillich Research 8), Berlin und Boston 2013, 175–186; Galles: Der theologische Ausgangspunkt: die Rechtfertigung; Loncar, Samuel: German Idealism’s Long Shadow. The Fall and Divine-Human Agency in Tillich’s Systematic Theology, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie 54.1 (2012), 95–118; Neugebauer, Georg: Die geistphilosophischen Grundlagen der Kulturtheologie Tillichs vor dem Hintergrund seiner Schelling- und Husserlrezeption, in: Danz, Christian (Hg.): Paul Tillichs Theologie der Kultur. Aspekte – Probleme – Perspektiven, Berlin 2011, 38–63; Wenz, Gunther: Metaphysischer Empirismus. Der späte Schelling und die Anfänge der Tillich’schen Christologie, in: Haigis/Hummel/Lax (Hgg.): Christus Jesus – Mitte der Geschichte!?, 11–32; Neugebauer: Tillichs frühe Christologie: eine Untersuchung zu Offenbarung und Geschichte bei Tillich vor dem Hintergrund seiner Schellingrezeption; Graf, Friedrich Wilhelm/Christophersen, Alf: Neukantianismus, Fichte- und Schellingrenaissance. Paul Tillich und sein philosophischer Lehrer Fritz Medicus, in: Zeitschrift für neuere Theologiegeschichte 11.1 (2004), 52–78; Goo, Soon-Ja: Die Gotteslehre in der Freiheitsschrift Friedrich W. J. Schellings und ihre Rezeption in der Gotteslehre Paul Tillichs, Heidelberg 1996; Horstmann-Schneider: Sein und menschliche Existenz; Steinacker, Peter: Die Bedeutung der Philosophie Schellings für die Theologie Paul Tillichs, in: Fischer (Hg.): Paul Tillich, 37–61; Bernet-Strahm, Anton: Die Vermittlung des Christlichen. Eine theologiegeschichtliche Untersuchung zu Paul Tillichs Anfängen des Theologisierens und seiner christologischen Auseinandersetzung mit philosophischen Einsichten des deutschen Idealismus, Bern 1982; Mokrosch, Reinhold: Theologische Freiheitsphilosophie. Metaphysik, Freiheit und Ethik in der philosophischen Entwicklung Schellings und in den Anfängen Tillichs, Frankfurt / Main 1976. 289 Tillich: Die protestantische Ära, 17. 290 Ebd., 15.
6.2 Eschatologische Grundlinien | 291
essiert und niemals ausschließlich an seiner ökonomischen Basis. […] Wir verstanden den Sozialismus nicht als Lohnproblem, sondern als Problem einer neuen Theonomie, in der die Fragen des Lohnes, der gesellschaftlichen Sicherheit behandelt werden. […] Mein Eintritt in die religiös-sozialistische Bewegung bedeutete für mich den endgültigen Bruch mit dem philosophischen Idealismus und dem theologischen Transzendentalismus. […] Der religiöse Sozialismus ist keine politische Partei, sondern eine geistige Kraft […]. Der religiöse Sozialismus ist nicht „Marxismus“ […]. Die wichtigste vom religiösen Sozialismus geleistete theoretische Arbeit war die Schaffung einer religiösen Geschichtsdeutung, […] von ausgesprochen protestantischem Charakter. […] Die Antwort, soweit sie bis jetzt gegeben wurde, gruppiert sich um drei Hauptbegriffe: Theonomie, Kairos und das Dämonische.²⁹¹
Hier bestätigt sich, dass Tillich den im Rahmen dieser Ausführungen erörterten Begrifflichkeiten in ihrer Kombination selbst zentrale Bedeutung beimisst und seine Einschätzung bezüglich derselben im Verlauf seines theologischen Arbeitens immer wieder der Kritik vor dem Hintergrund des jeweiligen Zeitgeistes unterzieht, was sich unter anderem in dem bereits zitierten Brief zu Eduard Heimanns 70. Geburtstag²⁹² zeigt. Darüber hinaus formuliert Tillich hier explizit seine Abgrenzung zum Gedankengut des deutschen Idealismus, die als solche in seiner Theologie prägend bleibt.²⁹³ Für Tillich stehen die genannten Begriffe im Dienste des protestantischen Prinzips, indem das „protestantische Prinzip, wie es aus der Lehre der Rechtfertigung durch den Glauben abgeleitet ist, […] eine […] Theonomie“²⁹⁴ in Form einer Kultur fordert, „in welcher der letzte Sinn der Existenz durch alle Formen des Denkens und Handelns durchscheint.“²⁹⁵ Darüber hinaus fordert das protestantische Prinzip eine Methode der Geschichtsdeutung, in welcher die kritische Transzendenz des Göttlichen […] starken Ausdruck findet und in dem zugleich die schöpferische Allgegenwart des Göttlichen im Laufe der Geschichte konkret aufgezeigt wird. Für beides ist der Kairosbegriff überaus adäquat. Er setzt die protestantische Kritik des […] geschichtlichen Absolutismus fort, er verhindert die Annahme jedes utopischen Glaubens, sei es des fortschrittlichen oder des revolutionären, an eine vollkommene Zukunft. Er überwindet den lutherischen individualistischen Transzendentalismus. Er vermittelt ein dynamisches Geschichtsbewußtsein […].²⁹⁶
291 Ebd., 17ff. [kursiv C.D.]. 292 Ders.: Kairos – Theonomie – Das Dämonische, 310–355. 293 Vgl. hierzu auch die zuvor erfolgten bibliographischen Hinweise zum Verhältnis von Tillich und deutschem Idealismus. 294 Tillich: Die protestantische Ära, 16. 295 Ebd. 296 Ebd., 19f. [kursiv C.D.].
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Sein Verständnis des Dämonischen als „eine Struktur des Bösen jenseits der moralischen Kraft des guten Willens, die gesellschaftliche und individuelle Tragik schafft gerade durch die untrennbare Mischung von Gut und Böse in jedem menschlichen Akt“²⁹⁷, eröffnet die Einsicht, dass „seine Überwindung nur durch den Gegensatz, die göttliche Struktur, kommen [kann], das heißt durch das, was wir eine Struktur oder Gestalt der Gnade genannt haben. […] Wir werden allein durch die Gnade gerechtfertigt, weil wir in unserer Beziehung zu Gott von Gott abhängig sind, von Gott allein und in keiner Weise von uns selber. Wir werden von der Gnade ergriffen, und das heißt nichts anderes, als daß wir Glauben haben. Die Gnade schafft den Glauben, durch den sie empfangen wird.“²⁹⁸
Tillichs Verständnis des protestantischen Prinzips entsprechend kann damit „keine Identifikation der Gnade mit einer sichtbaren Wirklichkeit […], sogar nicht mit der Kirche in ihrer sichtbaren Seite“²⁹⁹ vorgenommen werden, obgleich die Kirche eine „Gestalt der Gnade“³⁰⁰ darstellt, weil Gnade in der ganzen Geschichte [ist] und […] ein beständiger Kampf vor sich [geht] zwischen den göttlichen und dämonischen Strukturen. Das Gefühl, in der Mitte eines solchen Kampfes zu leben, war der Grundimpuls des religiösen Sozialismus, der sich in einer religiösen und, wie mir scheint, wesentlich protestantischen Geschichtsdeutung ausdrückt.³⁰¹
Dabei beruht Tillich folgend das protestantische Prinzip, das nicht „bloße Negation sein soll“³⁰², in seiner kritischen und gestaltenden Kraft auf „der Kraft des neuen [sic] Seins, die offenbar ist in Jesus als dem Christus“³⁰³, in welchem erschlossen wird, dass Liebe eine ontologische Macht ist, daß sie das Wesen des Lebens selbst ist, nämlich die dynamische Wiedervereinigung dessen, was getrennt ist. Wird Liebe in diesem Sinn verstanden, dann ist sie das Prinzip, auf dem jede protestantische Sozialethik fußt, indem sie ein ewiges und ein dynamisches Element vereint, Macht mit Gerechtigkeit, Schöpfertum mit Form.³⁰⁴
Dieser Vereinigung eines ewigen und eines dynamischen, eines unbedingten und eines bedingten Elementes in ihrer differenzierten Beziehung sieht Tillich auch
297 Tillich: Die protestantische Ära, 20f. 298 Ebd., 21. 299 Ebd. 300 Ebd. 301 Ebd. 302 Ebd., 23. 303 Ebd. 304 Ebd., 25.
6.2 Eschatologische Grundlinien | 293
sein theologisches Arbeiten verpflichtet, dem er bereits hier durch die Methode der Korrelation Raum geben will: „Die Methode der Korrelation zeigt an jeder Stelle des christlichen Denkens die gegenseitige Abhängigkeit zwischen den letzten Fragen, zu denen die Philosophie (ebenso wie das vorphilosophische Denken) getrieben wird, und den Antworten, die in der christlichen Botschaft gegeben werden.“³⁰⁵ Im Lichte der Kritik des protestantischen Prinzips will Tillich analog zu den oben beschriebenen Typen von Geschichtsauffassungen keiner theologischen Denkströmung ein absolutes Ja oder ein absolutes Nein zusprechen, da in der Theologie als Funktion der christlichen Kirche innerhalb der universalen Zweideutigkeit des geschichtlichen Lebens die Kraft des Neuen Seins ausschließlich fragmentarisch wirksam ist. Daher kann es nach Tillich in der Theologie analog zu seinen Ausführungen in der Systematischen Theologie bezüglich der Frage nach einer Möglichkeit geschichtlichen Fortschritts ausschließlich quantitativen und keinen qualitativen Fortschritt geben.³⁰⁶ Tillich positioniert sich theologisch dementsprechend in Die protestantische Ära „zu den zwei Hauptströmungen in der heutigen Theologie […], der einen, die in Europa ‚dialektisch‘, in Amerika ‚neu-orthodox‘ genannt wird, der anderen, die in Europa (und Amerika) ‚liberal‘ genannt wird und manchmal in Amerika ‚humanistisch‘“³⁰⁷ wie folgt: Meine Theologie kann verstanden werden als ein Versuch, den Konflikt zwischen diesen beiden Typen der Theologie zu überwinden. […] Es war das protestantische Prinzip, das der liberalen Theologie das Recht und das gute Gewissen verlieh, sich den Heiligen Schriften mit den kritischen Methoden zu nähern […]. In dieser Beziehung muß die protestantische Theologie immer liberale Theologie sein. Es war das protestantische Prinzip, das die liberale Theologie befähigte, herauszustellen, […] daß das Christentum wie jeder Christ verwickelt ist in die allgemeinen Strukturen und Wandlungen des menschlichen Lebens, und daß es andererseits Vorwegnahmen des Christentums in der Gesamtgeschichte gibt. […] Auch in dieser Beziehung muß die protestantische Theologie liberale Theologie sein. […] Und es war das protestantische Prinzip, das der liberalen Theologie einen Weg zeigte, wie die antidualistische Haltung der Reformation mit dem ontologischen Universalismus und Humanismus der Renaissance zu vereinen sei […]. In dieser Beziehung vor allem muß jede protestantische Theologie liberale Theologie sein und muß es auch bleiben […]. Aber es war auch das protestantische Prinzip, das den orthodoxen Theologen […] dazu führte, die Schrift als Heilige Schrift zu betrachten, nämlich als ein ursprüngliches Dokument des Ereignisses, das „Jesus der Christus“ genannt wird und das das Kriterium jeder Schrift und die Manifestation des
305 Ebd., 25f. Vgl. zur Methode der Korrelation in der Systematischen Theologie auch Unterabschn. 2.3.2 dieser Arbeit. 306 Vgl. zu dieser Frage auch Unterabschn. 3.1.1 dieser Arbeit sowie Drobe: „…daß der Mensch auf jeder Stufe der Heiligung der Vergebung bedürftig ist.“ 101ff. 307 Tillich: Die protestantische Ära, 26.
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protestantischen Prinzips ist. In dieser Beziehung muß die protestantische Theologie stets „ortho-dox“ sein […]. Es war das protestantische Prinzip, das den orthodoxen Theologen […] dazu zwang, anzuerkennen, daß der Mensch gerade in seiner Existenz von Gott entfremdet ist, daß eine verzerrte Menschlichkeit unser Erbteil ist und daß kein menschliches Bemühen und kein Gesetz des Fortschritts diese Situation überwinden kann, sondern nur der paradoxe und versöhnende Akt der göttlichen Selbsthingabe. In dieser Beziehung vor allem muß die protestantische Theologie zu allen Zeiten orthodox sein. Ist die Annahme dieser Sätze liberale oder orthodoxe Theologie? Ich meine, sie ist weder das eine noch das andere. Ich meine, sie ist […], wenn ein terminus technicus gewünscht wird, […] „neu-dialektisch“.³⁰⁸
Diese Positionierung erfolgt vor dem Hintergrund von Tillichs Erleben des Zeitgeistes nach dem Ausgang des zweiten Weltkrieges, den er folgendermaßen beschreibt: „Nach dem zweiten Weltkrieg gibt es […] ein allgemeines Empfinden dafür, daß mehr Dunkelheit als Licht vor uns liegt. Heute herrscht ein Element des zynischen Realismus vor, wie zu jener früheren Zeit ein Element utopischer Hoffnung vorherrschte.“³⁰⁹ Gemäß seines Urteils stellt das protestantische Prinzip beide Haltungen „unter das Gericht. Es rechtfertigt die Hoffnung, obgleich es die utopische Form zerstört, es rechtfertigt den Realismus, obgleich es seine zynische Form zerstört.“³¹⁰ Somit erweist sich die in der Manifestation des Neuen Seins in Jesus als dem Christus erschlossene gnädig liebende Beziehung Gottes zum Geschöpflichen in ihrer zu wahrenden Differenz als Schlüssel für Tillichs Verständnis der Theologie als Funktion der christlichen Kirche. Sie steht in ihrer jeweiligen bedingten, kulturellen Form unbedingt und unaufhebbar unter der Kritik des Unbedingten, durch das sie gleichzeitig die Rechtfertigung ihrer Bedingtheit im Zusammenhang der universalen Zweideutigkeit des geschichtlichen Lebens durch Gnade im Glauben erfahren darf. Daraus geht im Hinblick auf das geschichtliche Leben ein konstruktives (selbst-)kritisches und gestaltendes Potential des christlichen Glaubens hervor, das im Folgenden mit Bezug auf die einleitend dargestellten gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen der Gegenwart abschließend erörtert werden soll.
308 Tillich: Die protestantische Ära, 26f. 309 Ebd., 28. 310 Ebd. Eine Gesamtanalyse von Tillichs theologischem System speziell im Hinblick auf Tillichs Verständnis der Geschichte und des Reiches Gottes, die zu ähnlichen Ergebnissen wie die vorliegende Arbeit kommt, findet sich bei: Rolinck: Geschichte und Reich Gottes. Während Rolinck seine Analyse auf Tillichs Philosophie und Theologie der Geschichte im Allgemeinen konzentriert, liegt der Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit auf der Fragestellung nach der Eschatologie Tillichs. Vgl. hierzu auch den Forschungsüberblick unter Kap. 2 dieser Arbeit.
6.3 Das (selbst-)kritische und gestaltende Potential | 295
6.3 Das (selbst-)kritische und gestaltende Potential eines Tillich folgenden christlichen Geschichtsverständnisses Das christliche Geschichtsverständnis findet im Sinne von Tillichs Systematischer Theologie umfassend Ausdruck im Symbol „Reich Gottes“, das gleichermaßen die geschichtsimmanente Gegenwart des göttlichen Geistes wie auch das die Geschichte transzendierende Ziel des Ewigen Lebens für den universalen Gesamtzusammenhang der Schöpfung, in den das individuelle Geschöpf wesentlich eingebettet ist, beschreibt. Aus diesem Grund kann die existentielle Frage des Menschen nach dem Sinn der Geschichte gemäß eines christlichen Geschichtsverständnisses nach Tillich auch mit dem Symbol „Reich Gottes“ beantwortet werden. Somit trägt ein Tillich folgendes christliches Geschichtsverständnis theologisch zusammenfassend zunächst einmal grundsätzlich folgendes aus: a) Mit Tillich lässt sich der Geschichte im Zuge seiner Unterscheidung von essentiellem und existentiellem Sein im Zusammenhang der geschichtlichen Entfremdung und ihren Zweideutigkeiten anders als in tragischen, mystischen oder auch mechanistischen Geschichtsverständnissen³¹¹ wesentlich ein universaler Sinn zusprechen, indem aufgrund der fragmentarischen innergeschichtlichen Erfüllung eine die Geschichte transzendierende universale Erfüllung erwartet werden darf. Der Sinn der Geschichte als umfassendstem Lebensprozess liegt im vollendeten Vollzug der essentiellen Potentialitäten des geschöpflichen Seins in Beziehung zum göttlichen Leben. b) Durch Tillichs Bestimmung der göttlichen Liebe als agape, die gleichermaßen alles geschöpfliche Sein begründet, die Überwindung des Zwiespalts von essentiellem und existentiellem Sein unter den Bedingungen der geschichtlichen Zweideutigkeit erschließt sowie die Erhebung der Geschichte in die Ewigkeit des göttlichen Lebens verspricht, kann gemäß eines Tillich folgenden christlichen Geschichtsverständnisses mit Blick auf das Reich Gottes dem Individuum ein ewiger Wert zuerkannt werden, denn: Zum einen vollzieht das individuelle Geschöpf seine endliche Freiheit im Rahmen geschichtstragender Gruppen innerhalb des geschöpflichen Gesamtzusammenhangs der Geschichte, deren Lauf es auf diese Weise wesentlich mitbestimmt und gestaltet. Zum anderen vermeidet Tillich durch sein Verständnis des Ewigen Lebens im Reich Gottes als eines in der Liebe Gottes begründeten Lebensprozesses die Aufhebung der individuellen Geschöpflichkeit zu einer differenzlosen Einheit im göttlichen Sein, indem die einzelnen geschöpflichen Zentren im Rahmen
311 Vgl. zur Typisierung von Geschichtsauffassungen nach Tillich Abschn. 3.3 sowie Abschn. 6.2 dieser Arbeit.
296 | 6 Auswertung: Erfüllung als Sinn der Geschichte
der Essentifikation sowie die ontologische Subjekt-Objekt-Struktur alles geschöpflich Seienden mit den entsprechenden ontologischen Polaritäten erhalten bleiben. Anders als im transzendentalistischen Typus von Geschichtsauffassungen ist insofern eine Kontinuität zwischen dem geschichtlichen Leben und seiner endgültigen Teilnahme am unzweideutigen Leben des Reiches Gottes zu erwarten, als durch die Auferstehung eine zukünftige Verwandlung des geschichtlichen Lebens im Sinne der Essentifikation und die Erfüllung seiner essentiellen Potentialitäten erhofft werden darf.³¹² c) Darüber hinaus birgt ein christliches Geschichtsverständnis im Sinne Tillichs aufgrund der Beziehung von Bedingtem und Unbedingtem oder auch Vorläufigem und Endgültigem vor dem Hintergrund des universalen Schicksals der Entfremdung, durch das die Geschichte als solche den Zweideutigkeiten des Lebens unterliegt, ein (selbst-)kritisches Potential gegenüber der Gefahr absoluter Urteile. Dieses Potential findet seinen Ausdruck in Tillichs Verständnis des religiösen Symbolbegriffs, des kairos der göttlichen Selbstmanifestation in Jesus Christus – welcher sich als historisches Faktum wie auch als gläubige Aufnahme unter den Bedingungen der geschichtlichen Entfremdung ereignet – sowie der damit einhergehenden Spannung von fragmentarischer Erfüllung der essentiellen Potentialitäten des geschöpflichen Seins und existentieller Zweideutigkeit, die für den geschichtlichen Menschen in seiner Teilnahme am universalen Schicksal der Entfremdung ausschließlich im wagenden Glauben an Jesus Christus überwunden ist. Jenes Grundparadoxon des christlichen Ereignisses formuliert Tillich beispielsweise in Bezug auf sein Verständnis der christlichen Kirchen als Repräsentanten des Reiches Gottes unter den Bedingungen der Geschichte. Eben jenes geht aus der Spannung der essentiell am Reich Gottes teilnehmenden Geistgemeinschaft der verborgenen Kirche und den an der universalen geschichtlichen Zweideutigkeit teilnehmenden sichtbaren Kirchen hervor und erweist sich als geschichtlich irreduzibles Paradoxon der Heiligkeit, Einheit und Universalität der Kirchen. Indem die Kirchen geschichtsimmanent als Re-präsentanten des die Geschichte transzendierenden Reiches Gottes verstanden werden, stehen die immanente Gegenwart des Reiches Gottes und die Erwartung des Reiches Gottes als das die Geschichte transzendierende Ziel wesentlich in einer Weise zueinander in Beziehung, die das Potential mit
312 Vgl. hierzu die Diskussion in Bezug auf Bayers Interpretation der essentiellen Einheit als differenzlose Einheit sowie die Interpretationslinie von Tillichs Eschatologie als rein präsentischer Eschatologie unter Abschn. 5.1 dieser Arbeit.
6.3 Das (selbst-)kritische und gestaltende Potential | 297
sich bringt, die endliche und vorläufige Gestalt der sichtbaren Kirchen nicht mit dem endgültigen Reich Gottes zu identifizieren. In Anerkennung dieses Paradoxons erweist sich unter den Bedingungen der geschichtlichen Zweideutigkeit gleichermaßen auch die Spannung der in der Entfremdung liegenden Angst vor der Drohung des Nicht-Seins, der ewigen Verdammnis, und der eschatologischen Hoffnung auf Erfüllung der essentiellen Potentialitäten der geschichtlichen Geschöpflichkeit, der ewigen Seligkeit, als irreduzibel, so dass der Mensch im Hinblick auf die Alternative eines zweifachen Schicksals der Individuen oder einer apokatastasis panton unter den geschichtlichen Bedingungen kein absolutes Urteil zu fällen vermag. Die in Tillichs Verständnis der essentiell guten Schöpfung, dem universalen Schicksal der existentiellen Entfremdung sowie der Unaufhebbarkeit der wesentlichen Verwiesenheit des individuellen Geschöpfs auf den Gesamtzusammenhang der Schöpfung im Rahmen der ontologischen SelbstWelt-Korrelation nahegelegte Erwartung einer universalen Essentifikation der Geschichte zeigt sich so unter den Bedingungen der geschichtlichen Zweideutigkeit als Gegenstand der christlichen Hoffnung auf endgültige universale Erfüllung, als Mut, der die Angst des drohenden Nichtseins auf sich nimmt. Jenes (selbst-)kritische Potential eines Tillich folgenden christlichen Geschichtsverständnisses beruht auf der Selbstmanifestation des Unbedingten unter den Bedingungen der Zweideutigkeit des Geschichtlichen als zentralem Paradoxon des christlichen Glaubens, der ausschließlich durch den Einbruch des göttlichen Geistes in den menschlichen Geist als eine sich unter den geschichtlichen Bedingungen der Zweideutigkeit ereignende gläubige Aufnahme der endgültigen Selbstmanifestation Gottes als unbedingter, liebender Grund alles endlich Seienden in der Hoffnung auf eine universale Erfüllung der essentiellen Potentialitäten alles Geschöpflichen im Reich Gottes gewirkt wird. Auf diese Weise vermag ein Tillich folgendes christliches Geschichtsverständnis (selbst-)kritisch gegenüber Geschichtsauffassungen zu wirken, in denen eine Identifikation von Vorläufigem und Endgültigem, Bedingtem und Unbedingtem oder im Hinblick auf Tillichs Symbolbegriff auch von Zeichen und Bezeichnetem droht, wie sie möglicherweise in unterschiedlichen (auch christlich) konstruktivistisch-fundamentalisierenden oder aber auch utopistisch-fortschrittsgläubigen, geschichtsprogressiven Selbst- und Weltverständnissen vorgenommen wird, indem sein (selbst-)kritisches Potential gleichermaßen ein gestal-
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tendes Potential im Hinblick auf die gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen der Gegenwart enthält³¹³, denn: a) Ein Tillich folgendes grundsätzliches Ja zu einem universalen Sinn der Geschichte eröffnet dergestalt zunächst einmal die Möglichkeit, das Individuum im Hinblick auf seine mit Pluralisierung, Enttraditionalisierung und Subjektivierung einhergehende Aufgabe einer ausschließlich selbständig zu leistenden Identitäts- bzw. Geschichtsarbeit zu entlasten und somit der einführend geschilderten dialektischen Dynamik, im Zuge eines postmodernen relativistischen Konstruktivismus Zeichen und Bezeichnetes reduktiv miteinander zu identifizieren, Einhalt zu gebieten. Im Lichte von Tillichs Geschichtsverständnis erweist sich eine Alternative von Universalismus und Relativismus deshalb als irreführend, weil sich das Geschichtliche erst vor dem Horizont der Selbsterschließung des Unbedingten im Bedingten, von Jesus Christus als großem kairos, als relativ qualifizieren, in seiner Endlichkeit und in seiner Zweideutigkeit annehmen lässt.³¹⁴ b) Dementsprechend liegt gerade in dem subjektiv erschlossenen faktischen oder auch objektiven Element von Jesus Christus als Mitte der Geschichte ein möglicher Schutz gegen konstruktivistisch-fundamentalisierende Tendenzen der erfundenen Traditionen, da analog zu der in Anlehnung an Kosselleck formulierten Kritik an Whites radikal narrativer Geschichtstheorie der Quelle ein unbedingtes Vetorecht zukommt. Eben jene irreduzible Spannung eines subjektiv-aufnehmenden und eines objektiv-kritischen Elementes birgt im Rahmen eines Geschichtsverständnisses die Möglichkeit, der geschilderten dialektischen Dynamik von exkludierenden Verabsolutierungen und einer damit einhergehenden asymmetrischen Klassifikations- und Bezeichnungspraxis (selbst-)kritisch Einhalt zu gebieten und gleichzeitig an einer für das Individuum extern konstituierten tragfähigen Sicherheit festzuhalten. In diesem Zusammenhang ist Tillichs Verständnis des (religiösen) Symbols, das konsequent zwischen dem Symbol und der Wirklichkeit, an der das Symbol partizipiert,³¹⁵ im Sinne einer klaren Differenzierung von Bedingtem und Unbedingtem unterscheidet, von zentraler Bedeutung, um das zu verhindern, was Schwöbel als „Problem[ ] des Götzendienstes in der postmodernen Gesellschaft“³¹⁶ bezeichnet.
313 Vgl. hierzu auch Kap. 2 dieser Arbeit. 314 Vgl. zu Christus im Sinne der Mitte der Geschichte, durch den eine Kritik des Relativismus und auch der Absolutsetzung des Christentums als Religion ermöglicht wird, Abschn. 4.1 dieser Arbeit. 315 Vgl. zu Tillichs Symbolbegriff Unterabschn. 2.3.2 dieser Arbeit. 316 Schwöbel: Du sollst keine anderen Götter haben neben mir, 355–378.
6.3 Das (selbst-)kritische und gestaltende Potential | 299
c) Indem gemäß Tillich nicht das Christentum als Religion absolut ist, sondern ausschließlich das Ereignis, aus dem das Christentum erwachsen ist³¹⁷, lassen sich aus der Perspektive eines christlichen Geschichtsverständnisses die im Zuge von Geschichtsschreibungen entstehenden Geschichten aufeinander beziehen und vermitteln, ohne eine Nivellierung der verschiedenen Perspektiven im Dienste eines die eigene Perspektive absolut setzenden Geschichtsverständnisses vorzunehmen, die im Lichte des universalen schöpferischen Gesamtzusammenhanges, in welchem sich „Beziehung“ als grundlegende ontologische Kategorie erweist, in ihrer geschöpflichen Endlichkeit wesentlich aufeinander bezogen sind. So lehnt Tillich die Auffassung von einer identifizierbaren Universalgeschichte oder auch Weltgeschichte der Menschheit als solcher ab und bezeichnet nicht die einige Menschheit, sondern menschliche Gruppen als Träger der Geschichte.³¹⁸ Damit wendet sich Tillich vor dem Hintergrund der geschichtlichen Entwicklungen seiner Zeit gegen die Auffassung einer progressiven Universalgeschichte, die ihr Ziel innergeschichtlich selbst hervorbringt und möglicherweise mit einem quasi-religiösen utopistischen Fortschrittsglauben einhergeht.³¹⁹ Eine Ablehnung eines solchen Fortschrittsgedankens in Bezug auf die Geschichte bietet auch Jürgen Moltmann.³²⁰ Diese Ablehnung schließt auch eine in diesem Sinne vorgenommene Engführung des christlichen topos der Heilsgeschichte ein, welche entweder Heils- und Weltgeschichte miteinander identifiziert oder aber die Heilsgeschichte in supranaturalistischer Weise von der Weltgeschichte in Gestalt eines zweifachen Schicksals der Individuen trennt.³²¹ Nach Tillich besteht die Heilsgeschichte in den Manifestationen des Reiches Gottes, die sich innerhalb der Geschichte ereignen, ihre Erlösung von den Zweideutigkeiten des Lebens offenbaren und gleichzeitig über die Geschichte hinausweisen. Die erlösende Kraft manifestiert sich in der Geschichte und wirkt durch sie hindurch, ohne von ihr hervorgebracht zu sein.³²² Demnach ist die Heilsgeschichte wesentlich auf den weltgeschichtlichen Prozess bezogen, lässt sich jedoch weder mit der Weltgeschichte als solcher noch mit einem speziellen Bereich innerhalb der Weltgeschichte identifizieren, da der gesamtgeschichtliche Prozess grundsätzlich den Zweideutigkeiten des Lebens unterworfen ist, von denen
317 Vgl. Tillich: ST III, 386 [338] sowie Unterabschn. 3.1.3 dieser Arbeit. 318 Vgl. hierzu Unterabschn. 3.1.1 sowie Abschn. 4.3 dieser Arbeit. 319 Vgl. hierzu Abschn. 3.3 dieser Arbeit. 320 Moltmann, Jürgen: Verschränkte Zeiten der Geschichte. Notwendige Differenzierungen und Begrenzungen des Geschichtsbegriffs, in: Evangelische Theologie 44.3 (1984), 213–227. 321 Vgl. ausführlich zu Tillichs Verständnis der Heilsgeschichte Abschn. 4.3 dieser Arbeit. 322 Tillich: ST III, 413 [362f.].
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ausschließlich die Gegenwart des göttlichen Geistes zu erlösen vermag.³²³ Deshalb lässt sich gemäß Tillich aufgrund der Bezogenheit des immanenten und des transzendenten Elementes des Reiches Gottes ausschließlich in einem quantitativen und nicht in einem qualitativen Sinne von geschichtlichem Fortschritt sprechen, wobei sich seiner Auffassung nach eben jener quantitative Fortschritt auch nicht in Form einer absoluten Progression, sondern ausschließlich in verwirklichten oder auch nicht verwirklichten Trends und Chancen ereignet.³²⁴ Tillichs Verständnis des christlichen Paradoxons der Selbstmanifestation des Unbedingten unter den geschichtlichen Bedingungen der Zweideutigkeit eröffnet so die Möglichkeit eines Verständnisses von Heilsgeschichte, das gleichermaßen einen universalen Sinn der Geschichte vermitteln, in den gegenwärtigen gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen vermeintlich relativistischer Unsicherheit Orientierung bieten, aber auch möglicherweise die exkludierende Problematik von konstruktivistischfundamentalisierenden Verständnissen der Heilsgeschichte umgehen kann. Diese Ausarbeitung eines Tillich folgenden Geschichtsverständnisses versteht sich dergestalt im Sinne Tillichs als theologischer Versuch, sich in die gegenwärtige, konkret geschichtliche Lage zu begeben³²⁵ und einer Forderung Casanovas zu entsprechen, nach der „[a]lle Weltreligionen […] gezwungen [sind], auf die globale Expansion der Moderne zu reagieren, indem sie ihre Traditionen reformulieren im Versuch, ihre eigenen, speziellen Versionen von Moderne zu gestalten.“³²⁶ Ein solches im Anschluss an Tillich (re-)formuliertes christliches Geschichtsverständnis hat das gleichermaßen (selbst-)kritische und gestaltende Potential³²⁷, innergeschichtlich im Rahmen von Moralität, Kultur und Religion einen christlichen Beitrag zur konstruktiven Bewältigung der sich aus Individualisierung, Pluralisierung der sozialen Wirklichkeit, Globalisierung wie auch der Fundamentalisierung auf nationaler, kultureller, politischer oder auch religiöser Ebene ergebenden gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen zu leisten. Es vermag aus christlicher Perspektive auf die aus der Erfahrung von Endlichkeit, Entfremdung und Zweideutigkeit entspringenden existentiellen Fragen des Menschen zu antworten und der Geschichte mit Blick auf das sie transzendierende Ziel der universalen Erfüllung der essentiellen Potentialitäten der endlichen Existenz ei-
323 Vgl. Tillich: ST III, 413 [363]. 324 Vgl. ausführlich zu Tillichs Verständnis von Chancen und Trends in Bezug auf den geschichtlichen Fortschritt Unterabschn. 3.1.3 dieser Arbeit. 325 Vgl. hierzu Tillich: Kairos II, 33 sowie Abschn. 6.2 dieser Arbeit. 326 Casanova: Kosmopolitismus, der Kampf der Kulturen und multiple Modernen, 185. 327 Vgl. hierzu auch Eberhardt: Der Reich-Gottes-Begriff im Denken Paul Tillichs, 103.
6.3 Das (selbst-)kritische und gestaltende Potential | 301
nen Sinn zuzusprechen, in welchem dem Individuum im Gesamtzusammenhang alles Geschöpflichen ein ewiger Wert zukommt und das im Hinblick auf eine Identifikation von Vorläufigem mit Endgültigem – auch hinsichtlich einer möglichen Absolutsetzung seiner selbst – ein (selbst-)kritisches Kriterium in sich trägt, ohne den Glauben an einen universalen Sinn der Geschichte preisgeben zu müssen. So kann es im Vertrauen auf die dem Menschen ausschließlich durch die göttliche Gnade zuteil werdende Erlösung von den Zweideutigkeiten des Lebens, die bereits in der Geschichte fragmentarisch erlebt werden darf, für christliche Glaubensgemeinschaften potentiell die Freiheit schenken, Endliches aus der Kraft zur Gemeinschaft mit Gott, anderen Geschöpfen und sich selbst³²⁸ in der Hoffnung auf eine universale Vollendung am Ende der Geschichte zu gestalten.
328 Vgl. hierzu Unterabschn. 3.1.1 dieser Arbeit.
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Paul Tillich: Einzelschriften | 305
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Weitere Literatur |
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Personenverzeichnis Acapovi, Crépion Magloire C. 29 Adorno, Theodor W. 11 Albrecht, Renate 21 Anderson, Victor 27 Arbeitsgemeinschaft Christentum und Sozialismus 245 Armstrong, Karen 15 Askani, Hans-Christoph 180 Assmann, Jan 14 Aveline, Jean-Marc 21 Barberowski, Jörg 1–5 Baum, Gregory 245 Baumann, Zygmunt 6, 7 Baumotte, Manfred 101, 241 Bavaj, Riccardo 245 Bayer, Oswald 178, 185, 242 Beck, Ulrich 6, 7, 14 Becker, Patrick 23 Berger, Brigitte 6, 8–10 Berger, Peter L. 6, 8–10 Bernet-Strahm, Anton 290 Bertinetti, Ilse 21 Breipohl, Renate 246 Brändle, Werner 245 Buchholz, René 14–16 Casanova, José 9, 11, 12, 17, 300 Chan, Keit Ka-fu 39 Christophersen, Alf 254, 256, 290 Clayton, John P. 52 Cruz, Eduardo R. 27 Dallmann, Hans-Ulrich 11, 12, 15, 18 Daniel, Ute 1 Danz, Christian 17, 21, 25, 26, 34, 40, 54, 58, 112, 130, 145, 185, 189, 195, 213, 215, 220, 238, 239, 245, 263, 269, 281, 283, 285 Dawkins, Richard 14 Deuser, Hermann 55 Dienst, Karl 245 Dienstbeck, Stefan 283 https://doi.org/10.1515/9783110733181-008
Dierken, Jörg 272 Dreyer, Yolande 27 Drobe, Christina 7, 14, 102, 115, 198, 240, 274, 293 Dunn, James 15 Eberhardt, Hermann 25, 121, 189, 239, 245, 287, 300 Eickelpasch, Rolf 6–8, 11, 13, 15, 16 Eisenstadt, Shmuel N. 18 El Asmar, Raymond 279 Engels, Friedrich 64 Enzmann, Marion 245 Erwin, Scott R. 27 Essen, Georg 126 Evans, Richard 4 Finstuen, Andrew S. 27 Fischer, Hermann 241 Fritsch, Matthias 76, 116 Fukai, Tomoaki 245, 252 Gabriel, Kurt 9, 11, 15 Gabriel, Markus 8, 264 Galles, Paul 198, 213, 241, 279, 290 Geldbach, Erich 12, 15, 19 Gerber, Uwe 14–16, 19 Giddens, Anthony 6 Glöckner, Konrad 65 Goo, Soon-Ja 290 Gossman, Lionel 1 Graefe, Steffen 17 Graf, Friedrich Wilhelm 243, 258, 290 Grube, Dirk-Martin 40, 52, 101 Haigis, Peter 65, 130 Hanisch, Ernst 1 Hein-Janke, Ewald 244 Heitmeyer, Wilhelm 13 Henrich, Dieter 114 Herms, Eilert 85, 118, 192 Hirsch, Emanuel 254 Hitzler, Ronald 7
320 | Personenverzeichnis
Honer, Anne 7 Horkheimer, Max 11 Horstmann-Schneider, Anjuta 171, 290 Hummel, Gert 26, 130, 185, 217, 238 Huntington, Samuel 17 Iggers, Georg 4 Ihben-Bahl, Sabine Joy 48 Jahr, Hannelore 26, 164 Janssen, Claudia 289 Juergensmeyer, Mark 14 Kellner, Hansfried 6, 8–10 Kelsey, David H. 241 Keupp, Heiner 6, 7, 10 Khosrokhavar, Farhad 15 Kippenberg, Hans G. 14 Klein, Constantin 14, 15 Knoblauch, Hubert 8, 9 Kolmer, Lothar 1, 2, 5 Koselleck, Reinhard 5 Kraus, Wolfgang 7 Kreppel, Klaus 245 Kroeger, Matthias 245 Kubik, Andreas 34 Lai, Pan-Chiu 217 Laube, Martin 116 Lauster, Jörg 58, 61, 76, 82, 89, 93, 99, 101, 107, 124, 129, 283 Lax, Doris 130, 217, 238 Leiner, Martin 14, 239, 288 Lindwedel, Martin 76 Loncar, Samuel 290 Luhmann, Niklas 10, 16 Lyotard, Françios 8, 18 Mahlmann, Theodor 26, 244 Marsden, John 245 Marx, Karl 64 Masaeli, Mahmoud 15 Matern, Harald 58, 127, 130, 140, 145, 153, 158, 171, 182, 189, 201, 203, 219, 283 Meyer, Thomas 15 Mildenberger, Friedrich 20
Moisi, Dominique 18 Mokrosch, Reinhold 289, 290 Moltmann, Jürgen 299 Neugebauer, Georg 127, 195, 283, 290 Niebuhr, Reinhold 27, 49, 67, 74, 122–125, 167, 191, 194, 201, 204, 255 Nuovo, Victor 218 Oexle, Otto Gerhard 4 Pannenberg, Wolfhart 20, 164, 185, 213 Pauck, Marion 21, 27 Pauck, Wilhelm 21 Peters, Ted 26, 164 Popitz, Heinrich 80 Raatz, Georg 276, 282 Rademacher, Claudia 6–8, 11, 13, 15, 16 Raphael, Lutz 6 Ratschow, Carl Heinz 21, 57, 217, 241, 251, 274, 289 Rice, Daniel 27 Richter, Nicolas 18 Riesebrodt, Martin 16, 18 Ringleben, Joachim 168 Rolinck, Eberhard 25, 121, 156, 164, 223, 241, 264, 294 Rosenau, Hartmut 26, 112, 164, 168, 172, 276 Rothchild, Jonathan 174 Rusch, Gebhard 1 Rößler, Andreas 213 Samse, Ulrich 26, 189 Schelling, Friedrich W. J. 171 Schelwis, Benjamin 18 Schwarz, Hans 26, 218 Schwöbel, Christoph 14, 16, 17, 20, 54, 117, 197, 298 Schärtl, Thomas 76 Schütte, Hans-Walter 254 Schüßler, Werner 21, 34, 41, 241, 255, 256, 269, 272, 281, 283 Scott, Peter 245 Sen, Amartya 16
Personenverzeichnis |
Sennett, Richard 7 Sneller, Rico 15 Steinacker, Peter 290 Stobbe, Heinz-Günther 12 Stone, Ronald 27 Sturm, Erdmann 56, 179, 244 Tafner, Georg 18 Taylor, Charles 6 Tillich, Paul 21–23, 28–76, 79–163, 165–184, 186–220, 225, 237–240, 242–278, 281, 282, 284–294, 299, 300 Todorov, Tzvetan 18 Türcke, Christoph 14, 15
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Ulrich, Thomas 246 Wee, Paul A. 26, 210 Wehowsky, Stephan 246 Wehr, Gerhard 21 Welsch, Wolfgang 8 Wendland, Heinz-Dietrich 246, 279, 283 Wenz, Gunther 26, 127, 164, 179, 213, 241, 251, 253, 290 Whedon, Joss 77 White, Hayden 1–4 Wittekind, Folkart 56, 273 Wolf, Hubert 18 Yang, Junjie 289