Wanderungen: Migration in Vorarlberg, Liechtenstein und in der Ostschweiz zwischen 1700 und 2000 9783205204763, 9783205204121


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Wanderungen: Migration in Vorarlberg, Liechtenstein und in der Ostschweiz zwischen 1700 und 2000
 9783205204763, 9783205204121

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vorarlberg museum Schriften 21 Schriftenreihe des Arbeitskreises für interregionale Geschichte des mittleren Alpenraumes Band 3

Die Schriftenreihe erscheint in wechselnden Verlagen

Peter Melichar · Andreas Rudigier · Gerhard Wanner (Hg.)

WANDERUNGEN Migration in Vor­arl­berg, Liechtenstein und in der Ostschweiz zwischen 1700 und 2000

2016 BÖHLAU VER LAG W IEN KÖLN WEIM AR

Veröffentlicht mit freundlicher Unterstützung der Hypo Landesbank Vorarlberg, des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein, des Historischen Vereins des Kantons St. Gallens, des Instituts für Kulturforschung Graubünden und des Amtes der Vorarlberger Landesregierung. Wir danken dem Fotografen Nikolaus Walter, Feldkirch, für die freundliche Genehmigung, einige seiner Bilder in diesem Band verwenden zu dürfen.

© 2016 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Umschlagabbildung  : Die Straße nach Göfis (Foto: Nikolaus Walter, vorarlberg museum) Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Lektorat  : Nikola Langreiter, Wortstellerei, Lustenau Umschlaggestaltung  : Michael Haderer, Wien Satz  : Michael Rauscher, Wien Druck und Bindung  : Prime Rate, Budapest Gedruckt auf chlor- und säurefrei gebleichtem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-205-20412-1

Inhalt



Peter Melichar · Andreas Rudigier · Gerhard Wanner

7

Wanderungen im Mittleren Alpenraum. Einleitung



Andreas Weigl

23

Migration, Industrialisierung, Weltkrieg. Die Faktoren der demographischen Transition in Vor­arl­berg



Dieter Petras

55

Die Auswanderung im Walgau von 1700 bis 1814



Klaus Biedermann

77

»Bestättigend, dass sowohl meine Braut als auch ich kein Vermögen besitzen …«. Lebenswege von Angehörigen liechtensteinischer Unterschicht-Familien im 19. Jahrhundert



Nikolaus Hagen

95

Das Ehepaar Gottfried und Anna Riccabona in Feldkirch



Hans Jakob Reich

115 »Heissblütiges, welsches Volk« auf den Großbaustellen des 19. und

frühen 20. Jahrhunderts. Von den ersten italienischen Saisonniers im Werdenberg



Gerhard Wanner

127 Migration in Vor­arl­berg um 1900. Ethnische Gruppen, soziale

Spannungen  ?



Hanna Zweig (†)

151 Jüdische Migration, jüdische Flucht nach St. Gallen

Nicole Schwalbach

163 Finanzeinbürgerungen in Liechtenstein 1920 bis 1955

Martina Sochin D’Elia

175 Liechtenstein. Migration früher und heute

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Inhalt

Werner Bundschuh

191 Turksprechende Krim-Tataren. Spuren in Vor­arl­berg

Elmar Hasović

205 »Bosnische« Vereine in Vor­arl­berg und deren Entstehung

Petar Dragišić

217 Ausländer, Österreicher, Vor­arl­berger Zuwanderer aus dem ehemaligen

Jugoslawien in Vor­arl­berg



Hüseyin I. Çiçek

227 Türkische Migration nach Vor­arl­berg im Kontext individueller

Gesellschaftserfahrungen



Oliver Heinzle

241 »Inzwischen ist Österreich zweite Heimat geworden …«.

Eine kleine Alltagsgeschichte der frühen Zuwanderung aus der Türkei nach Vor­arl­berg



August Gächter

261 Nach den »Gastarbeitern«. Einwanderung in Vor­arl­berg seit 1985 285 Personenregister 288 Ortsregister 293 Autorinnen und Autoren

Peter Melichar · Andreas Rudigier · Gerhard Wanner

Wanderungen im Mittleren Alpenraum Einleitung

Wanderungen und Migrationsbewegungen spielten in der Geschichte stets eine wichtige Rolle und tun es in der Gegenwart in unerhörtem Ausmaß. Infolge unterschiedlichster Krisen verließen/verlassen Menschen immer wieder in größerer Zahl ihre angestammten Wohngebiete. Aber nicht nur diese Wanderungen als solche prägen gegenwärtige und historische Realitäten, auch die Frage, wie man Migration bewertet, interpretiert, deutet und politisch instrumentalisiert – kurz  : wie man damit umgeht – trägt zur Konstruktion unserer Wirklichkeit bei. Wissenschaften haben immer wieder versucht, die diversen Erscheinungen und Traditionen dieser Wanderungen zu erklären, zahlreiche Modelle wurden entwickelt. Schließlich sind mit der Migrationsgeschichte beziehungsweise der Migrationsforschung spezialisierte eigenständige Disziplinen entstanden, die wiederum aufgrund der Komplexität des Forschungsgegenstandes zur Interdisziplinarität verpflichtet sind. Gerade das gegenwärtige Geschehen  – das Anschwellen der Europa erreichenden Flüchtlingsströme, die steigende Zahl der Asylanträge und die damit verbundenen politischen Debatten  – zeigt, dass das Nachdenken über sämtliche Facetten der Migration und in der Folge auch über jene der Integration unabdingbar ist. Das 2002 erschienene »Lexikon Geschichtswissenschaft«1 kam noch ohne das Stichwort »Migrationsgeschichte« aus, selbst das 2004 erschienene »Glossar der Gegenwart«2 konnte noch auf Begriffe wie Flüchtling, Migration oder Integration verzichten. Dagegen sind in den letzten Jahren bereits Handbücher zu verschiedenen Aspekten der Migration erschienen, zu Wanderungsbewegungen im Mittelalter,3 zu Vertreibungen im 20. Jahrhundert,4 1 2 3 4

Stefan Jordan (Hg.), Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart 2002. Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hg.), Glossar der Gegenwart, Frankfurt a. M. 2004. Michael Borgolte (Hg.), Migrationen im Mittelalter. Ein Handbuch, Berlin 2014. Detlef Brandes/Holm Sundhaussen/Stefan Troebst (Hg.), Lexikon der Vertreibungen. Deportation, Zwangsaussiedlung und ethnische Säuberung im Europa des 20. Jahrhunderts, Wien-­ Köln-Weimar 2010.

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Peter Melichar · Andreas Rudigier · Gerhard Wanner

zum Verhältnis »Staat und Migration«5 und schließlich sogar eine »Enzyklopädie« der Migration in Europa.6 Dem am Nationalstaat und seinen Kontrollmechanismen orientierten politischen und sozialen Denken sind seit je Wanderungen und Wandernde suspekt oder mehr noch  : eine Bedrohung. Sie stören und gefährden die vermeintlich normale Ordnung der Sesshaftigkeit. Außerdem stellten und stellen sie im Fall der Abwanderung ins Ausland oder gar nach Übersee einen Verlust in wirtschaftlicher Hinsicht dar. Falls der Militärdienst noch geleistet werden sollte, bedeutete die Auswanderung gar die Schwächung der Wehrkraft.7 Beides wog im 18. und 19. Jahrhundert besonders schwer. Und wenn sie aus ihrer neuen Heimat gute Nachrichten in ihre alte Heimat sandten, motivierten sie oftmals Verwandte und Freunde, nachzukommen. Nahm die Abwanderung aus bestimmten Gebieten zu, drohte mitunter Entvölkerung.8 Einwanderer wiederum brachten und bringen eine neue Sprache mit, fremde Verhaltensweisen und Gebräuche und schließlich – vor allem in den letzten Jahrzehnten – sogar eine andere Religion und ganz andere Werte in politischer, ästhetischer und sozialer Hinsicht. Der Wertewandel und damit einhergehende neue soziale Praktiken wurden und werden immer wieder als Gefahr für die jeweils ›bodenständige‹ kulturelle Identität empfunden. War beziehungsweise ist bei kurzfristigeren Aufenthalten nur das Zusammenarbeiten und Zusammenleben eine Quelle möglicher Konflikte, so wurde und wird bei dauernden Aufenthalten die Frage der sozialen und kulturellen Vermischung zur Herausforderung sowohl für Individuen als auch Institutionen. Wer darf wen heiraten  ? Wer nimmt wessen Religion an  ? Wie werden die Kinder erzogen  ? In welcher Hinsicht passt man sich woran an  ? Was behält man bei  ? Migration im Mittleren Alpenraum Ostalpen und Westalpen sind einigermaßen gebräuchliche Begriffe. Was aber ist unter dem Mittleren Alpenraum zu verstehen  ? Dieser Terminus ist weder 5

Jochen Oltmer (Hg.), Handbuch Staat und Migration in Deutschland seit dem 17. Jahrhundert, Berlin-Boston 2016. 6 Klaus J. Bade u. a. (Hg.), Enzyklopädie  – Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn 2007. 7 Eine gute Zusammenfassung für die Positionen um 1900 bietet für den Habsburgerstaat Leopold Caro, Auswanderung und Auswanderungspolitik in Österreich (Schriften des Vereins für Sozialpolitik 131), Leipzig 1909. 8 Andrä Bauer, Entvölkerung und Existenzverhältnisse in Vor­arl­berger Berglagen. Beiträge zur Wirtschaftskunde der Alpenländer in der Gegenwart, Bregenz 1930.



Wanderungen im Mittleren Alpenraum 

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Belgrad-Express: Jugoslawische Saisonarbeiter kommen in Buchs an, 1988 (Foto: Fotograf unbekannt, Sammlung Hansruedi Rohrer, Buchs)

kulturell definiert noch geographisch kanonisiert. Der 1989 gegründete Arbeitskreis für interregionale Geschichte des mittleren Alpenraumes (AIGMA) – eine Plattform für Kooperationen von Geschichtsvereinen, Archiven und Museen in Graubünden, Liechtenstein, St. Gallen und Vor­arl­berg – verwendet den Begriff, um Forschungsfragen zu einer Region mit unscharfen Grenzen entwickeln zu können. Der vorliegende Band entstand aus einer Tagung mit dem Titel »Einwanderung und Integration im mittleren Alpenraum im 19. und 20. Jahrhundert«, die am 15. November 2013 im vorarlberg museum (Bregenz) stattfand. Die Bandbreite der vorgestellten Themen und die rege Diskussion zwischen den Vortragenden und dem Publikum zeigten schon 2013 die große Aktualität des Themas. Es erwies sich – in Anbetracht der Komplexität und Breite der Thematik – als sinnvoll, über den Kreis der Referentinnen und Referenten hinaus, einige Autorinnen und Autoren um Beiträge zu bitten. Etwa schien es den Herausgebern notwendig, die Wechselwirkung zwischen den demographischen Bedingungen und den Migrationsbewegungen darzustellen oder auch die Migrationsproblematik der Gegenwart mit einzubeziehen. Mittlerweile hat die Debatte über Migration und Integration angesichts der – aufgrund der überaus krisenhaften Situation im Nahen Osten und insbesondere des Krieges in Syrien – stark angestiegenen Flüchtlingszahlen wiederum eine neue Qualität. Aus der Geschichte lässt sich nicht direkt und unmittelbar lernen, wie die Probleme der Gegenwart zu lösen wären. Doch die Vergegenwär-

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Peter Melichar · Andreas Rudigier · Gerhard Wanner

tigung, dass die Migration in den vergangenen Jahrhunderten und Jahrzehnten in all ihren Facetten auch in der Region des mittleren Alpenraumes (also in Graubünden, Liechtenstein, Vor­arl­berg und dem Kanton St. Gallen eine höchst bedeutende Rolle spielte, kann die wirkungsmächtige Vorstellung von einer homogenen und sesshaften  – in ihren Ursprüngen als alemannisch oder rätisch vorgestellten – Bevölkerung aufbrechen und problematisieren. 1849 schrieb der Autor einer Studie über die Zustände in Graubünden  : »Auswanderung ist gegenwärtig das Losungswort, welches in mehreren Staaten Deutschlands und in einigen Kantonen der Schweiz die Bevölkerung in Aufregung versezt. Ganze Gemeinden, von ihren Magistraten geführt, verlassen dort die Heimath ihrer Väter, um mit all ihrer Habe nach dem fernen Westen Nordamerikas zu wandern. Tausende ergreifen einzeln oder in kleineren Gruppen den Wanderstab, um in der neuen Welt eine Existenz zu suchen, die ihnen in der alten versagt ist. Die Auswanderungslust ist hin und wieder fast zur Epidemie geworden, deren Antrieb ebenso wenig Widerstand geleistet werden kann als dem Zuge des Heimwehs.«9 Insbesondere aus abgelegenen Bergtälern, aber auch aus vielen Rheintalgemeinden wanderten zahlreiche Einzelpersonen und Familien ab und zogen andere nach, viele mussten saisonale Arbeitswanderungen auf sich nehmen. Gleichzeitig waren die Dörfer und Kleinstädte westlich und östlich des Alpenrheins vor allem im Zuge der Industrialisierung und bedingt durch den Bahnbau mit zeitweise sehr vielen Fremden konfrontiert. Historische Forschungen zeigen, welch hohes Maß an Mobilität und Migrationsbereitschaft die alpinen Gesellschaften und ihre Kulturen aufwiesen. Denn nur ein Teil der Bevölkerung konnte – zumal in Phasen des Bevölkerungswachstums – in den kargen Bergregionen dauernd überleben, andere Teile mussten saisonal wandern, um sich zu ernähren, wieder andere auf Dauer auswandern. Und die Eliten  – seien es die Adeligen, die Kleriker, die Verwaltungsbeamte, die Akademiker, die hochspezialisierten Handwerker oder Techniker  – mussten ohnedies, wie ihre Lebensläufe eindrucksvoll belegen, immer wandern, zunächst zu Ausbildungszwecken und dann im Rahmen ihrer Berufstätigkeit. Dennoch entwickelte sich in den westlich geprägten Nationalstaaten die Vorstellung von Sesshaftigkeit als Normalität und bestimmende Norm. Alles andere galt schnell als verdächtig, potenziell kriminell, als Vagabundage, als Zigeunerunwesen etc.10   9 [Balth. Caflisch], Ein Beitrag zur Kenntniß Bündnerischer Zustände mit besonderer Rücksicht auf Auswanderung, Chur 1849, unpag. Einleitung. 10 Vgl. Wolfgang Scheffknecht, Illegale Migration als Lebensform  : ›Zigeuner‹ zwischen Arlberg und Bodensee im 18. Jahrhundert, in  : Reinhard Baumann/Rolf Kießlich (Hg.), Mobilität und Migration in der Region (Forum Suevicum – Beiträge zur Geschichte Ostschwabens und der benachbarten Regionen 10), Konstanz-München 2014, S. 187–228.



Wanderungen im Mittleren Alpenraum 

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Dennoch wurde, wie angedeutet, aus den verschiedensten Motiven und auf unterschiedliche Weise gewandert, wurde der Aufenthaltsort gewechselt. Meist sahen die Betroffenen anderswo bessere Chancen für den Lebensunterhalt  ; in Zeiten religiöser Wirren und/oder politischer Spannungen oder gar Eskalationen wurden aber auch immer wieder Einzelpersonen oder Gruppen Opfer von Vertreibungen.11 Sowohl in der Ostschweiz als auch in Liechtenstein und Vor­ arl­berg gab es neben den zahlreichen saisonal oder beruflich bedingten Wanderungsbewegungen auch Formen dauerhafter Binnenmigration. Dazu gehörten die Abwanderung all jener, die auswärts studierten und oft nicht wiederkehrten und der Zuzug all jener Akademiker und Spezialisten, die man als Ärzte, Juristen oder Techniker benötigte und anderswo abwerben musste. Bekannt sind die Schweizer Söldner, junge Männer meist aus Gebirgsregionen Graubündens, die sich vor allem ab dem 15. Jahrhundert zum Dienst in fremden Heeren verpflichteten. Dass sich aus dem Gebiet des späteren Landes Vor­arl­berg ebenfalls sehr viele als Söldner verdingten, ist weniger bekannt  ; die Herren von Hohenems waren immerhin Kriegsunternehmer im großen Maßstab.12 Sowohl aus Graubünden als auch aus Vor­arl­berg, insbesondere dem Bregenzer Wald, stammten zahlreiche Baumeister, die regelmäßig im 17. und­ 18.  Jahrhundert junge Männer aus ihrer Heimat als Bauhandwerker anlernten und ins Ausland mitnahmen.13 Legendär sind die weiten Wanderungen der Bündner Zuckerbäcker und die Reisen der Montafoner Krauthobler.14 11 Jörg Krummenacher-Schöll, Flüchtiges Glück. Die Flüchtlinge im Grenzkanton St. Gallen zur Zeit des Nationalsozialismus, Zürich 2005  ; Martin Jäger, Forschungsprojekt zur Aufarbeitung der Aktenbestände des Staatsarchivs St. Gallen zur Flüchtlings- und Migrationsgeschichte der Jahre 1920 bis 1950, St. Gallen 2000. 12 Martin Bundi, Bündner Kriegsdienste in Holland um 1700. Eine Studie zu den Beziehungen zwischen Holland und Graubünden von 1693 bis 1730 (Historia Raetica 3), Chur 1972  ; ders., Frühe Beziehungen zwischen Graubünden und Venedig (Quellen und Forschungen zur Bündner Geschichte 2), Chur 1988  ; Heribert Küng, Glanz und Elend der Söldner. Appenzeller, Graubündner, Liechtensteiner, St. Galler und Vor­arl­berger in fremden Diensten vom 15. bis zum 19. Jahrhundert, Disentis 1993  ; zu den Hohenemsern  : Reinhard Baumann, Landsknechte. Ihre Geschichte und Kultur vom späten Mittelalter bis zum Dreißigjährigen Krieg, München 1994. 13 Max Pfister, Baumeister aus Graubünden – Wegbereiter des Barock. Die auswärtige Tätigkeit der Bündner Baumeister und Stukkateure in Süddeutschland, Österreich und Polen vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, Chur 1993  ; Norbert Lieb, Die Vor­arl­berger Barockbaumeister, München 2 1967  ; Werner Oechslin (Hg.), Die Vor­arl­berger Barockbaumeister. Ausstellung in Einsiedeln und Bregenz zum 250. Todestag von Br. Caspar Moosbrugger, Einsiedeln 1973  ; Helmut Barta, Die Wanderungen der Vor­arl­berger Bauhandwerker, Hausarbeit der Universität Innsbruck, 1982  ; Markus Bauer (Hg.), Von den Alpen in die Westpfalz  : Tiroler, Vor­arl­berger und Allgäuer als Bauhandwerker in der Westpfalz im 17. und 18. Jahrhundert, Schönenberg-Kübelberg 2013. 14 Dolf Kaiser, Fast ein Volk von Zuckerbäckern  ? Bündner Konditoren, Cafetiers und Hoteliers in europäischen Landen bis zum Ersten Weltkrieg. Ein wirtschaftsgeschichtlicher Beitrag, Zürich

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Peter Melichar · Andreas Rudigier · Gerhard Wanner

Die »Schwabengängerei«, die organisierte Kinderarbeit in der süddeutschen Landwirtschaft, betraf Kinder aus den Bergregionen westlich wie östlich des Rheins gleichermaßen.15 Und es kam aus Liechtenstein, der Schweiz wie aus Vor­arl­berg – ungeachtet einschlägiger Verbote und Beschränkungen – zur Abwanderung in Nachbarländer, in benachbarte Kantone oder ins Ausland, nach Süddeutschland,16 auch nach Frankreich.17 In vielen Fällen wagten die Leute sogar das Auswandern nach Amerika, wie für Werdenberg und Graubünden durch Norbert Allenspach und Ursula Lehmann-Gugolz,18 für Liechtenstein im zweibändigen Werk von Pio Schurti und Norbert Jansen19 dargestellt und wie für Vor­arl­berg durch die Arbeiten von Meinrad Pichler,20 Markus Hämmerle,21 Werner Dreier22 und andere aufgearbeitet wurde.23 Die für Vor­arl­berg, aber auch Graubünden und St. Gallen so wichtige italienische Zuwanderung im 19. 1985  ; ders., Neues von den Zuckerbäckern aus Graubünden. Nachtrag zu einer Bestandsaufnahme, in  : Archiv für Familiengeschichtsforschung, Jg. 5 (2001), Heft 1, S.  2-68  ; Walter Breitschedl, Die Krauthobler vom Montafon, in  : Alpenbote. Familienkalender für Stadt und Land 5 (1950), S. 105–107  ; Christian Feuerstein, Die Wirtschaft des Montafons im 19. und 20. Jahrhundert, in  : Norbert Schnetzer/Wolfgang Weber (Hg.), Montafon, Bd. 4  : Bevölkerung – Wirtschaft, Schruns 2012, S. 47–85, hier S. 49–51. 15 Vgl. dazu aus der NS-Zeit  : Ferdinand Ulmer, Die Schwabenkinder. Ein Beitrag zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des Westtiroler Bergbauerngebietes, Prag u.  a. 1943  ; Otto Uhlig, Die Schwabenkinder aus Tirol und Vor­arl­berg (Tiroler Wirtschaftsstudien 34), Innsbruck-Stuttgart 21983  ; Loretta Seglias, Die Schwabengänger aus Graubünden. Saisonale Kinderemigration nach Oberschwaben (= Quellen und Forschungen zur Bündner Geschichte 13), Chur 2007  ; Stefan Zimmermann (Hg.), Die Schwabenkinder  : Arbeit in der Fremde vom 17. bis 20. Jahrhundert, Stuttgart 2012  ; vgl. auch Regina Lampert, Die Schwabengängerin. Erinnerungen einer jungen Magd aus Vor­arl­berg 1864–1874, Hg. von Bernhard Tschofen, Zürich 1996. 16 Paul Beck, Vor­arl­berger »Gesindel« in Oberschwaben, in  : Bludenzer Geschichtsblätter 1989, Heft 5 (1989), S. 42–47. 17 Hannelore Berchtold, Die Arbeitsmigration von Vor­arl­berg nach Frankreich im 19. Jahrhundert (Schriftenreihe der Rheticus-Gesellschaft 42), Feldkirch 2003. 18 Norbert Allenspach, Eine Randregion auf der Suche nach neuem Lebensraum. Die Emigration aus dem Bezirk Werdenberg (Kanton St. Gallen) nach Nordamerika in den Jahren 1845–1880, Freiburg 1985  ; Ursula Lehmann-Gugolz, Vorfahren  – Nachkommen. Auswanderer aus Klosters und Davos nach Amerika im 19. Jahrhundert, Chur – Bottmingen – Basel 1998. 19 Norbert Jansen/Pio Schurti (Hg.), Nach Amerika  ! Geschichte der liechtensteinischen Auswanderung nach Amerika in zwei Bänden, Zürich 1998. 20 Meinrad Pichler, Auswanderer – Von Vor­arl­berg in die USA 1800–1938, Bregenz 1993. 21 Markus Hämmerle, Glück in der Fremde  ? Vor­arl­berger Auswanderer im 19. Jahrhundert (Schriftenreihe der Rheticus-Gesellschaft 25), Feldkirch 1990. 22 Werner Dreier, Colonia Áustria Baírro da Seda. Vor­arl­berger Auswanderer nach Brasilien (Studien zur Geschichte und Gesellschaft Vor­arl­bergs, Sonderband), Bregenz 1996. 23 Helmut Lanzl, Dornbirner in aller Welt. Ein Beitrag zur Auswanderung von Dornbirnern in der Zeit von 1850–1940, in  : Jahrbuch des Vor­arl­berger Landesmuseumsvereins (1961), S. 106–146.



Wanderungen im Mittleren Alpenraum 

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Jahrhundert wurde durch zahlreiche Studien,24 auch durch Untersuchungen zu einzelnen Biographien erforscht.25 Sowohl in der Ostschweiz als auch in Liechtenstein und Vor­arl­berg gibt es also  – von älteren Studien aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert abgesehen26 – seit Jahrzehnten Forschungen und Publikationen zu den verschiedensten Formen von Migration. Das Werdenberger Jahrbuch widmete 1988 seinen ersten Band dem Thema »Auswanderung«  ; der Jahresband 2012 trug den Titel »Zuwanderungsland Alpenrheintal« und thematisierte in zahlreichen Arbeiten diverse Aspekte von der Römerzeit bis in die Gegenwart.27 Die internationale Historikertagung in Davos 1991 thematisierte die »gewerbliche Migration im Alpenraum«, der 1994 erschienene Tagungsband enthält zahlreiche Beiträge zu verschiedenen Wanderungsformen in der Region.28 Einen eigenen großen Forschungskomplex stellen die Gastarbeiter der 1960er und 1970er Jahre dar, die in den hoch industrialisierten Regionen links und rechts des Alpenrheins zum Einsatz kamen.29 Die Wanderungsbewegungen stellten und stellen bis heute die staatliche Verwaltung vor ein ganzes Bündel von Problemen. Das Recht zur Niederlassung 24 Hans-Martin Habicht, Probleme der italienischen Fremdarbeiter im Kanton St. Gallen vor dem Ersten Weltkrieg, Herisau 1977  ; Ein umfassender Band liegt zur italienischen Einwanderung nach Vor­arl­berg vor  : Karl Heinz Burmeister/Robert Rollinger (Hg.), Auswanderung aus dem Trentino  – Einwanderung nach Vor­arl­berg. Die Geschichte einer Migrationsbewegung mit besonderer Berücksichtigung der Zeit von 1870/1880 bis 1919 (Bodensee-Bibliothek 38), Sigmaringen 1995. Daneben existieren zahlreiche Einzelstudien, die sich unterschiedlichsten Aspekten widmen, insbesondere Reinhard Johler, Mir parlen Italiano und spreggen Dütsch piano. Italienische Arbeiter in Vor­arl­berg 1870–1914 (Schriftenreihe der Rheticus-Gesellschaft 21), Feldkirch 1987. 25 Georg Sutterlüty, »Das arme Volk hört nie eine Christenlehre oder Predigt, woher soll es besser sein«  ? Erfahrungsberichte des Missionars Peter Fink aus Chile, in  : Montfort 55 (2003), S. 236– 246  ; ders., Die chilenische Politdynastie Frei und ihre vorarlbergischen Wurzeln, in  : Rheticus. Vierteljahreschrift der Rheticus Gesellschaft 28 (2006), S. 71–94  ; ders., Der chilenische Reformpolitiker Eduardo Frei Montalva und seine schweiz-, österreichischen Wurzeln im Hintergrund der Auswanderung von Vor­arl­berg nach Chile im 19. Jahrhundert, phil. Diss. Wien 2010. 26 [Balth. Caflisch], Ein Beitrag zur Kenntniß Bündnerischer Zustände mit besonderer Rücksicht auf Auswanderung, Chur 1849. 27 Vgl. Werdenberger Jahrbuch, Buchs 1988 und 2012. 28 Ursus Brunold (Hg.), Gewerbliche Migration im Alpenraum, Historikertagung in Davos 25.27.IX.1991 (Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft Alpenländer Berichte der Historikertagungen Neue Folge 5), Bozen 1994. 29 Nur zwei Arbeiten seien hier exemplarisch angeführt  : Erika Thurner, Der »Goldene Westen«  ? Arbeitszuwanderung nach Vor­arl­berg seit 1945, Bregenz 1997  ; Jelena Milošević, Die Einwanderung aus Serbien in die Schweiz in den 1960er und 70er Jahren mit einem speziellen Fokus auf den Kanton St. Gallen, Masterarbeit der Universität Zürich, 2012.

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Peter Melichar · Andreas Rudigier · Gerhard Wanner

und zum beliebigen Aufenthalt beziehungsweise die Niederlassungsfreiheit war weder im Habsburgerstaat noch in der Schweiz eine Selbstverständlichkeit. In der Schweiz wurde dieses Recht 1798 eingeführt, allerdings schon 1803 wieder aufgehoben. Erst 1848 wurde Niederlassungsfreiheit – wenngleich nach wie vor sehr umstritten  – endgültig durchgesetzt, für Juden jedoch galten bestimmte Einschränkungen bis 1866. In Österreich wurden die Beschränkungen und Verbote ebenfalls seit dem Ende des 18. Jahrhunderts beseitigt, die sogenannte »Freizügigkeit« grundsätzlich jedoch erst mit dem Staatsgrundgesetz von 1867 durchgesetzt. Allein die Entwicklung einer brauchbaren Terminologie war mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Einige dieser Schwierigkeiten werden im folgenden Abschnitt zur Begriffsbestimmung des »Auswanderers« im »Österreichischen Staatswörterbuch« (1905 ff.) deutlich  : »Als Auswanderer wird in der älteren österr. Gesetzgebung derjenige Staatsuntertan angesehen, welcher den Heimatstaat verläßt und sich in einen auswärtigen Staat mit dem Vorsatze begibt, nicht wieder zurückzukehren (§ 1 des A.-Patentes vom J. 1832). Jede A. zieht den Verlust des österreichischen Staatsbürgerrechtes nach sich. Diese enge Fassung des Begriffes ist gegenwärtig nicht mehr zutreffend, vielmehr muß derzeit nicht mehr bloß auf die dauernde A., sondern auch auf die vorübergehende (zeit­ weilige), welche einen großen Umfang angenommen hat und von bedeutender volkswirtschaftlicher Wichtigkeit ist, Rücksicht genommen werden, wie denn auch in der älteren österr. Gesetzgebung der verwandte Begriff der Abwesenheit eine Rolle spielte. Desgleichen werden wohl Angehörige fremder Staaten, welche bisher dauernd im Inlande geweilt haben und dasselbe bleibend verlassen, in manchen Beziehungen ebenfalls zu den Auswanderern gezählt werden müssen.«30

Das komplexe Phänomen der Migration bildet sich in der staatlichen Gesetzgebung und Verwaltung vor allem in jenen Materien und Praktiken ab, die sich auf Auswanderung (insbesondere jene der wehrpflichtigen jungen Männer), auf die Niederlassungs- und den Aufenthaltsrecht insbesondere von Ausländern, aber auch von Personen, die anderswo innerhalb der Staatsgrenzen heimatzuständig waren. Auch bestimmte Berufe waren aufgrund der mit ihnen verbundenen Mobilität reglementiert, allen voran der Hausier- und Wanderhandel.31 30 Ferdinand Schmid, Auswanderung, in  : Ernst Mischler/Josef Ulbrich (Hg.), Österreichisches Staatswörterbuch. Handbuch des gesamten österreichischen öffentlichen Rechtes, Bd. 1  : A–G, Wien 1905, S. 375–380, hier S. 375. 31 Die einschlägigen Artikel im »Österreichischen Staatswörterbuch« behandeln  : Ausländer, Auswanderung, das Heimatrecht, Niederlassung und Aufenthalt, Schubwesen und schließlich den Wanderhandel.



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Die Verwaltung des Habsburgerstaates und später jene der Republik Öster­ reich wies zwar durchaus Gemeinsamkeiten mit jener der Schweiz auf, aber die Differenzen sind unübersehbar. Die Gemeinsamkeiten hatten nicht zuletzt damit zu tun, dass es sowohl die Verwaltung der Schweiz als auch jene des Habsburgerstaates mit einer Mehrzahl an Ethnien und Sprachen zu tun hatte. Allerdings behandelte die Schweiz – gegenüber dem Habsburgerstaat – die Auswanderungsfrage liberaler.32 Ein umfassender Vergleich ist an dieser Stelle nicht möglich, ein Beispiel mag jedoch demonstrieren, wie diffizil die Differenzen sein konnten. Im Beitrag von Hanna Zweig-Strauss zu diesem Band stößt man auf die Formulierung, Juden sei bis 1863 die Wohnsitznahme nur »auf Zusehen hin« gestattet worden. Da uns diese Formulierung aus den österreichischen Dokumenten und Verwaltungsakten nicht geläufig war, fragte Peter Melichar einen Schweizer Kollegen, was es damit auf sich habe, ob es etwa »bis auf Widerruf« bedeute und erhielt folgende Antwort  : »Deine Frage hat uns zu einem sprachphilosophischen Kurzworkshop verholfen, denn keinem von uns dreien, darunter auch eine seit langem in der Schweiz lebende Deutsche, wäre diese Wendung aufgefallen, da sie uns allen bekannt und geläufig ist. Ob es sich um einen rechtlich definierten Terminus handelt, ist uns indes unklar und müsste genauer untersucht werden. Wir würden aber auf Grund unseres Sprachgefühls und der allgemeinen Praxis meinen, dass der Widerruf es nicht ganz, sondern nur teilweise trifft. Das Recht bis auf Widerruf ist u. E. eine rechtlich verbindliche Erklärung, die einen Anspruch signalisiert, der zwar widerrufen werden kann, wobei der Widerruf aber begründet werden muss. Auf Zusehen hin meint darüber hinaus aber auch, dass der betroffenen Person eben zugesehen wird, d. h. es geht um so etwas wie eine unbefristete (!) Probezeit oder Bewährung  ; man könnte auch sagen, eine Erlaubnis auf Zusehen hin ist ein noch vor-demokratischer Gnadenakt, eine Erlaubnis ohne jegliche Festlegung oder Rechtsansprüche und im Grunde ein Synonym für Willkür insofern, als eine Aufhebung der Erlaubnis auf Zusehen hin nicht begründet werden muss und aus allen möglichen Gründen erfolgen kann – weil sich die Umstände ändern, die bewilligende Behörde es sich nun anders überlegt hat oder die betroffene Person irgendetwas getan oder nicht getan hat. Während die Erlaubnis auf bis Widerruf also die rechtliche Seite betont, rückt die Erlaubnis auf Zusehen hin die Verbindung zwischen behördlichem Entgegenkommen der Erlaubnisgeber und sozialem Wohlverhalten der Erlaubnisempfänger in den Vordergrund.«33 32 Vgl. Rudolf Arnold Natsch, Die Haltung eidgenössischer und kantonaler Behörden in der Auswanderungsfrage 1803–1874, Zürich 1966. 33 Gregor Spuhler (Archiv für Zeitgeschichte, ETH Zürich), Schreiben an Peter Melichar, 12.1.2016. Mit bestem Dank für die Erläuterung und die Erlaubnis zur Wiedergabe.

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Peter Melichar · Andreas Rudigier · Gerhard Wanner

Was der Ostschweiz, Liechtenstein und Vor­arl­berg jedenfalls gemein ist  : Eine ungeheure wirtschaftliche Dynamik, die auch dazu beitrug, dass die Einwanderung ab 1880 beziehungsweise 1890 die Auswanderung zahlenmäßig überwog. Vor­arl­berg war um 1910 schon das am Land mit der intensivsten Industrialisierung in der gesamten Monarchie.34 Während in Vor­arl­berg und auch der Ostschweiz die Zuwanderung insgesamt relativ wenig zum Bevölkerungswachstum beitrug, war das in einzelnen Städten und Gemeinden anders  : Das kleine Dorf Hard bei Bregenz wuchs zwischen der Ansiedlung der Schweizer Textilindustriellen Jenny im Jahre 1825 und der Volkszählung 1869 von 1.000 auf 2.300 Einwohnerinnen und Einwohner an, also um 130 Prozent.35 Die Zahl der Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt St. Gallen wuchs zwischen 1860 und 1910 um das Dreifache,36 und die Bevölkerung des Gerichtsbezirks Dornbirn nahm zwischen 1869 und 1910 um immerhin 85,3 Prozent zu (stieg von 19.777 auf 34.655).37 Für diese starke Zunahme der Bevölkerungszahlen war die Zuwanderung verantwortlich. Otto Ender, damals ein 35-jähriger Rechtsanwalt, später von 1918 bis 1934 Landeshauptmann von Vor­arl­berg, verglich 1910 seine Gegenwart mit der Zeit der Völkerwanderung  : »Auch wir leben mitten in einer Völkerwanderung, die auch aus wirtschaftlichen Triebkräften entspringt und in modernen Formen sich abspielt, nicht bloß ein Strömen von Europamüden in die neue Welt, nein auch ein reges Wandern auf dem Kontinent.«38 Ender galten diese Wanderungen als sehr bedrohlich, eindringlich warnte er vor der 34 In Vor­arl­berg waren 1910 laut Volkszählung 45,9 Prozent der Berufstätigen im industriellen Sektor beschäftigt (dagegen 35,9 Prozent in der Landwirtschaft), kein anderes Land hatte einen so hohen Industrialisierungsgrad. Der Durchschnitt betrug in ganz Cisleithanien 24,3 Prozent  ; Gerhard Meißl, Die gewerblich-industrielle Arbeitswelt in Cisleithanien mit besonderer Berücksichtigung der Berufszählungen 1890 und 1910, in  : Helmut Rumpler/Peter Urbanitsch (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. IX  : Soziale Strukturen, 1. Teilbd,  : Von der feudalagrarischen zur bürgerlich-industriellen Gesellschaft, Wien 2010, S. 323–377, hier S. 349, Tab. 48. 35 Meinrad Pichler, Das Land Vor­arl­berg 1861 bis 2015 (Geschichte Vor­arl­bergs 3), Innsbruck 2015, S. 64. 36 Marcel Mayer, Immigration nach St. Gallen zur Zeit der Stickereiblüte 1870–1914, in  : Reinhard Baumann/Rolf Kießlich (Hg.), Mobilität und Migration in der Region (Forum Suevicum  – Beiträge zur Geschichte Ostschwabens und der benachbarten Regionen 10), Konstanz-München 2014, S. 229–247, hier S. 229. 37 Zum Vergleich  : Die Gesamtbevölkerung der Schweiz wuchs von 2,65 Millionen im Jahr 1870 auf 3,75 Millionen 1910, das bedeutet ein Zuwachs von 41,5 Prozent. Die Bevölkerung Vor­arl­ bergs wuchs im gleichen Zeitraum von 102.702 auf 145.408, verzeichnet also ein Plus von 41,6 Prozent. Zu den Volkszählungen von 1869 und 1910 siehe den Beitrag von Andreas Weigl in diesem Band. 38 Otto Ender, Unser Volkstum und sein Schutz  !, in  : Vor­arl­berger Volksblatt, 8.2.1910, S. 3.



Wanderungen im Mittleren Alpenraum 

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Landeshauptmann Otto Ender, 1920 (Foto: Fotograf unbekannt, Vor­arl­berger Landeslichtbildstelle)

Vermischung etwa der Romanen und Germanen, deren Nachkommen er für »physisch und moralisch gefährdet«39 hielt. Alte Geschichten, neue Forschungen Das Unterfangen, Beiträge zur Migration in der Region östlich und westlich des Alpenrheins zu versammeln, muss heute nicht mehr von Null beginnen. So interessant es also gewesen wäre, bestimmte Forschungen fortzusetzen oder zusammenzufassen und zu reflektieren, wichtiger war und ist es dem Arbeitskreis für interregionale Geschichte des mittleren Alpenraumes, neue Aspekte zu thematisieren und Ergebnisse aus den letzten Jahren zu präsentieren. So analysiert Andreas Weigl im ersten Beitrag »Migration, Industrialisierung, Weltkrieg« die demographischen Rahmenbedingungen und insbesondere den »demographischen Übergang« von hohen Geburtenraten und hoher Mortalität hin zu stark dezimierten Geburtenzahlen und niedriger Sterblichkeit. Besonderheiten Vor­arl­bergs treten dabei klar zutage, insbesondere die äußerst 39 Ebd.

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Peter Melichar · Andreas Rudigier · Gerhard Wanner

hohe eheliche Fertilität bei einer gleichzeitig äußerst geringen Zahl an illegitimen Geburten. Die Studie macht insbesondere deutlich, dass die quantitative Analyse von Migration ohne Berücksichtigung anderer Faktoren  – insbesondere wirtschaftlicher, medizinischer, politischer – nur sehr eingeschränkt Sinn macht. Während Dieter Petras die Abwanderung aus dem Walgau zwischen Feldkirch und Bludenz im 18. Jahrhundert einerseits in ihrer quantitativen Dimension, andererseits anhand von Einzelschicksalen, wie sie aus den an die Behörden gerichteten Anträgen hervorgehen, analysiert, untersucht Klaus Biedermann die Bewegungen von mittellosen Familien im Gebiet von Liechtenstein, Vor­arl­berg und dem Schweizer Rheintal im frühen 19. Jahrhundert. Seine Studie erhellt die vielfach schwierigen Lebenszusammenhänge, im Detail unter welchen Umständen die Wohnsitze gewechselt wurden, welche Heiratsmuster zu erkennen sind und auf welche Weise die Menschen mit dem Gesetz in Konflikt kommen konnten, mit welchen Konsequenzen. Einen ganz anderes gesellschaftliches Segment untersucht Nikolaus Hagen  : Ausgehend von der Verehelichung des Rechtsanwaltes Gottfried Riccabona mit der Kaufmannstochter Anna Perlhefter werden die Wanderbewegungen der beiden Familien beschrieben  : Die jüdischen Perlhefters stammten aus Böhmen, die katholischen Riccabonas aus Südtirol. Gottfried Riccabonas Vater kam als Beamter der Baubehörde nach Vor­arl­berg, die – bereits zum Katholizismus konvertierten – Eltern von Anna Perlhefter gründeten um 1885 in Feldkirch eine Firma. Gottfried Riccabona und Anna Perlhefter lernten einander in Feldkirch kennen, heirateten 1906, bekamen zwei Kinder und waren 1938 plötzlich mit der Gefahr konfrontiert, die sich aus der Tatsache ergab, dass Anna Riccabona nach NS-Gesetzen als Jüdin galt. Der jüdischen Zuwanderung nach St. Gallen ist der Artikel von Hanna Zweig-­Strauss (1931–2014) gewidmet.40 Sie unterscheidet zwischen Migration und Flucht und kritisiert implizit die heute übliche Differenzierung (Wirtschaftsflüchtlingen versus politische Flüchtlinge). Ihr Beitrag weist allerdings auch auf die Schwierigkeiten des Ankommens und der Akzeptanz durch die lokale Bevölkerung hin. Der Beitrag Hans Jakob Reichs wiederum setzt sich mit den italienischen Arbeitern auf den Großbaustellen der Ostschweiz auseinander, erinnert aber auch daran, dass auch viele Deutsche als Wanderarbeiter 40 Hanna Zweig-Strauss (1931–2014), Ärztin und Kommunalpolitikerin, widmete sich nach ihrer Pensionierung intensiv historischer Forschung. Sie verfasste insbesondere zwei wichtige Biographien  : David Farbstein (1868–1953). Jüdischer Sozialist – sozialistischer Jude, Zürich 2002  ; Saly Mayer (1882–1950). Ein Retter jüdischen Lebens während des Holocaust, Köln-WeimarWien 2007.



Wanderungen im Mittleren Alpenraum 

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unterwegs waren. Die Arbeitskonflikte, zu denen es beim Bahn- und Kanalbau kam, gab es in ähnlicher Form auch in Vor­arl­berg. Gerhard Wanner untersucht die sozialen Spannungen, die das Zusammenleben verschiedener Ethnien unter oft prekären Bedingungen um 1900 in Vor­arl­berg mit sich brachte. Er konzentriert sich dabei insbesondere auf die bisher vernachlässigte Gruppe der Arbeitsmigranten aus den slawischen Kronländern der Monarchie und geht unter anderem der Frage nach, ob ethnischen Differenze für die Konflikte verantwortlich waren oder ob sie nur die Form ihrer Austragung geprägt hatten. Das Fürstentum Liechtenstein war und ist bis dato durch seine Sonderstellung stets für Firmen und Unternehmen besonders interessant. Die von Nicole Schwalbach untersuchten Finanzeinbürgerungen in Liechtenstein zwischen 1920 und 1955 machen Praktiken sichtbar, die durch ein – von der prekären Finanzsituation des Fürstentums geprägtes – Kalkül motiviert waren. Der Beitrag von Martina Sochin D’Elia indes gibt einen breit angelegten Überblick über Migration in Liechtenstein seit 1800, insbesondere über die Situation in den letzten Jahrzehnten. Eine ganz besondere, wenngleich sehr kleine Gruppe von Migranten untersucht Werner Bundschuh, nämlich die muslimischen, turksprechenden Krim-Tataren, die es 1945/46 nach Vor­arl­berg verschlagen hatte und die in Alberschwende untergebracht wurden. Bundschuh widmet sich den Hintergründen der Vertreibung dieser Gruppe, die der großen Gruppe der Displaced Persons zuzurechnen sind, sowie der späteren Aufarbeitung der historischen Ereignisse und bringt Beispiele konkreter Erinnerungsarbeit. Die Beiträge von Petar Dragišić und Elmar Hasović sind mit der Zuwanderung aus dem ehemaligen Jugoslawien befasst. Dragišić bietet einerseits einen Überblick über die Rahmenbedingungen der ehedem jugoslawischen Zuwanderung, geht aber auch anhand aktuellen Zahlenmaterials, das durch die »TIES-Studie«41 erbracht wurde, auf Fragen und Probleme der nachfolgenden Generationen und deren Integration ein. Hasović untersucht auf Basis von Interviews die Vereine der in Vor­arl­berg lebenden Bosnier und berührt damit auch brisante Fragen nationaler Identitätsfindung und deren Tradierung und Bearbeitung durch Migranten. Hüseyin I. Çiçek und Oliver Heinzle untersuchen – ebenfalls ausgehend von Interviews  – die Erfahrungen von türkischen Zuwanderern. Programmatisch hält Çiçek fest, es habe nicht »eine türkische Migration nach Vor­arl­berg« ge41 Es handelt sich um eine internationale Studie in acht europäischen Ländern, die sich mit der zweiten Generation von Migrantinnen und Migranten unter anderem aus der Türkei und Jugoslawien befasst. Vgl. TIES. The Integration of the European Second Generation, [http://www. tiesproject.eu/index-2.html], Zugriff  : 21.1.2016.

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Peter Melichar · Andreas Rudigier · Gerhard Wanner

geben. Seine Beispiele zeigen die Chancen, thematisieren aber auch veränderliche »Ausgrenzungsmechanismen« und »Verhaltenscodes« sowohl einerseits der Migrantinnen und Migranten als auch der Vor­arl­berger Bevölkerung andererseits. Die Arbeit von Oliver Heinzle wertet Interviews aus, die im Rahmen einer bemerkenswerten Ausstellung 2011 zum Thema »Migrationen in der Geschichte Lustenaus« geführt wurden. Dabei wird auch sichtbar, wie von den Zuwanderern die Wirtschaftsentwicklung erfahren wird. Auch in Heinzles Beitrag geht es um viele kleine Reibungspunkte, Verständigungsschwierigkeiten, Ausgrenzungsversuche, ebenso wie um Unterstützung beim schwierigen Ankommen und um positive Kontakte. August Gächters Studie schließlich untersucht die Einwanderung nach Vor­ arl­berg ab 1985, also die Zeit »nach den Gastarbeitern«. Durch die Wiedervereinigung Deutschlands, den Fall des Eisernen Vorhangs und die Jugoslawienkrise veränderten sich die Rahmenbedingungen der Zuwanderung, zugleich wandelten sich die Wirtschaft und Gesellschaft Vor­arl­bergs. Gächter zeigt, wie sehr die Beurteilung von Migration von Wertmaßstäben und deren Veränderung abhängig ist. Der Blick auf das Geschehene ändert sich  : »Die Freundlichkeit setzt sich durch, aber spät und langsam.« Und das hat Folgen für jenes komplexe rezente Geschehen, das mit dem Schlagwort »Integration« bezeichnet wird. Damit ist etwa die Akzeptanz der »zweiten Generation« auf dem Arbeitsmarkt gemeint, aber auch das Miteinander der Religionen, die Bildungschancen und viele sogenannte Selbstverständlichkeiten des Alltags mehr. Es stellt sich heute nicht mehr die Frage ob, sondern nur die Frage, wie der Blick auf die Migrationen in der Geschichte unseren Zugang auf Geschichte überhaupt verändern und beeinflussen wird. Was verändert sich, wenn man erkennt, dass Geschichte nicht nur die »Geschichte von Klassenkämpfen«,42 sondern immer auch die Geschichte von Wanderungen aller Art ist  ? Und zwar von Menschen, die ein Geschlecht43 haben und eine Herkunft mit ihren Traditionen. Migrationsforschung, so ein Wunsch der Herausgeber zum Abschluss, sollte sich nicht nur den Wandernden, den Wegziehenden und Ankommenden widmen, sondern auch den Einheimischen. Sie sind es, die den Prozess der Aufnahme und Integration erschweren und – wie Hans Magnus Enzensberger konstatierte  – den Konflikt provozieren.44 Der Blick auf das Spannungsfeld 42 Karl Marx/Friedrich Engels, Das kommunistische Manifest, in  : Marx-Engels-Werke, Bd. 4, Berlin (Ost) 1959, S. 462. 43 Sylvia Hahn, Migration – Arbeit – Geschlecht. Arbeitsmigration in Mitteleuropa vom 17. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts (Transkulturelle Perspektiven 5), Göttingen 2008. 44 Hans Magnus Enzensberger, Die Große Wanderung. 33 Markierungen, Frankfurt a. M. 1994, S. 63.



Wanderungen im Mittleren Alpenraum 

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Zementwerk Lorüns, 1983 (Foto: Nikolaus Walter, vorarlberg museum)

zwischen Sesshaftigkeit und kleineren und größeren Wanderungsbewegungen ermöglicht der Sozial- und Geschichtswissenschaft ausreichend neue Perspektiven und Ansätze, er bietet eine Reihe neuer Versuchsanordnungen.

Andreas Weigl

Migration, Industrialisierung, Weltkrieg Die Faktoren der demographischen Transition in Vor­arl­berg

Einleitung Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts setzte in den Industrieländern ein fundamentaler demographischer Veränderungsprozess ein, der mit dem nicht ganz unumstrittenen Begriff »Demographischer Übergang« bezeichnet wird. In einem Zeitraum von etwa fünf bis sechs Jahrzehnten veränderten sich wesentliche demographische Parameter in den entwickelten Industrieländern entscheidend.1 Hatte zuvor ein hohes Niveau der Fertilität und Mortalität bestanden, sanken in der Folge zuerst Sterberaten2 und mit einer charakteristischen Verzögerung auch die Geburtenraten3 auf ein niedriges, »posttransitorisches« Niveau, wie es auch für die Gegenwart kennzeichnend ist. Und nicht nur Fertilität und Mortalität, sondern auch der Charakter der Wanderungsbewegungen begann sich in diesem Zeitraum zu wandeln. Während bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges Teilpopulationen in den Industrieländern häufig ihren Lebensmittelpunkt veränderten, war das ab der Zwischenkriegszeit, abgesehen von Ausnahmesituationen, in viel geringerem Maß der Fall. Was das geographische Muster der demographischen Transition anlangt, so setzte sie zuerst in West-, Nord- und Mitteleuropa ein, während in Süd- und Osteuropa posttransitorische Niveaus der Sterblichkeit und der Fertilität erst im dritten Viertel des 20. Jahrhunderts erreicht wurden.4 Ähnliches gilt auch für die Migrationstransition. Ganz nach dem Muster des Modells steht der Zeitraum von den 1870er bis in die 1930er Jahre in der Vor­arl­ berger Bevölkerungsgeschichte für diesen transitorischen Wandel. Wesentliche Einflussfaktoren für den Rückgang der Mortalität bildeten vor allem die sogenannte »sanitary revolution«, der Wandel der Ernährungsgewohn­ 1 Massimo Livi Bacci, Europa und seine Menschen. Eine Bevölkerungsgeschichte, München 1999, S. 176–181  ; Andreas Weigl, Bevölkerungsgeschichte Europas. Von den Anfängen bis in die Gegenwart, Wien-Köln-Weimar 2012, S. 91–111. 2 Sterbefälle eines Jahres bezogen auf 1.000 der Bevölkerung. 3 Lebendgeborene eines Jahres bezogen auf 1.000 der Bevölkerung. 4 Jean Claude Chesnais, The Demographic Transition. Stages, Patterns, and Economic Implications. A Longitudinal Study of Sixty-Seven Countries Covering the Period 1720–1984, Oxford 1992, S. 54 f, S. 101–106.

24  |

Andreas Weigl

heiten und der medizinische Fortschritt, während die Veränderung des generativen Verhaltens durch das Heiratsmuster, das Wissen und den Zugang zu kontrazeptiven Methoden und eine »mentale Modernisierung« im Sinne einer bewussten Familien- und Lebensplanung bestimmt wurde. All diese Faktoren lassen sich nicht sinnvoll in eine Generaltheorie demographischen Wandels zusammenfassen, zu komplex sind manche der sozioökonomischen, mentalen und biologischen Wirkungszusammenhänge. Nichts desto trotz liefert das deskriptive Modell des Demographischen Übergangs einen brauchbaren interpretativen Rahmen für den demographischen Wandel im 19. und 20. Jahrhundert.5 Eine verbindende Klammer für die angeführten Einflussfaktoren bildet bis zu einem gewissen Grad der »Wohlstand« einer Bevölkerung, auch wenn einfache Korrelationen zwischen generativen Verhalten und Lebenserwartung auf der einen, ökonomischem Wachstum, Verteilung und ökologischen Lebensbedingungen auf der anderen Seite nicht herzustellen sind.6 Im Folgenden wird daher auf Wohlstandsindikatoren zur Erklärung des demographischen Wandels immer wieder Bezug genommen. Die Stufen dieses Wandels, ihr ökonomischer, sozialer und mentaler Hintergrund soll jeweils kurz skizziert werden, um dann den Einfluss des Ersten Weltkrieges und des durch diesen ausgelösten gesellschaftlichen Umbruchs auf den Demographischen Übergang in Vor­arl­berg näher zu beleuchten. 1. Vor der Transition Die Bevölkerungsentwicklung Vor­arl­bergs war vom Spätmittelalter bis in die 1830er Jahre durch ein im Vergleich mit den habsburgisch-österreichischen Erbländern überdurchschnittlich hohes Wachstum gekennzeichnet.7 Einigermaßen präzise ist dieses Wachstum ab dem frühen 16. Jahrhundert aus den Quellen zu fassen. Für das Jahr 1511 lässt sich die Vor­arl­berger Bevölkerung auf rund 29.000 Einwohner schätzen, bis Mitte des 18. Jahrhunderts verdoppelte sie sich, um etwa neun Jahrzehnte später nach der Volkszählung von 1840 die 100.000er Grenze zu überschreiten.8 Ungefähr in diesem Zeitraum hatte sich 5

Andreas Weigl, Ist das Konzept des »Demographischen Übergangs« für die Geschichtswissenschaften noch adäquat  ?, in  : Karl Hardach (Hg.), Internationale Studien zur Geschichte von Wirtschaft und Gesellschaft, Tl. 2, Frankfurt a. M. u. a. 2012, S. 1189–1199. 6 Michael Pammer, Entwicklung und Ungleichheit. Österreich im 19. Jahrhundert (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Beiheft 161), Stuttgart 2002, S. 278 f. 7 Kurt Klein, Daten zur Siedlungsgeschichte der österreichischen Länder bis zum 16. Jahrhundert (Materialien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 4), Wien 1980, S. 98 f. 8 Kurt Klein, Historisches Ortslexikon. Statistische Dokumentation zur Bevölkerungs- und



Migration, Industrialisierung, Weltkrieg 

| 25

die Bevölkerung des heutigen Österreich insgesamt lediglich von 1,5 auf 3,65 Millionen erhöht. Bevölkerungsentwicklung im Vergleich: Westösterreich – Österreich 1527–19349 Jahr1

Salzburg

Tirol JVR

Vor­arl­berg JVR

110.000

Österreich JVR

32.000

JVR

Um 1527

75.000

Um 1600

100.000

0,39

140.000

0,33

40.000

0,31

1.500.000 1.800.000

0,25

Um 1700

125.000

0,22

175.000

0,22

50.000

0,22

2.100.000

0,15

1754

140.000

0,21

218.000

0,41

58.500

0,29

2.728.000

0,49

1780

151.000

0,29

221.000

0,05

66.000

0,47

2.970.000

0,33

1790

147.000

– 0,27

225.000

0,18

75.000

1,29

3.046.000

0,25

1800

141.000

– 0,42

225.000

0,00

76.500

0,20

3.064.000

0,06

1810

135.000

– 0,43

224.000

– 0,04

77.500

0,13

3.054.000

– 0,03 0,43

1821

136.371

0,09

227.500

0,14

82.800

0,60

3.202.000

1830

142.049

0,45

234.000

0,31

92.928

1,29

3.476.500

0,92

1840

145.592

0,25

239.100

0,22

100.252

0,76

3.649.700

0,49

1850

146.007

0,03

240.400

0,05

104.428

0,41

3.879.700

0,61 0,49

1857

146.769

0,05

230.500

– 0,42

100.932

– 0,34

4.075.500

1869

153.159

0,43

236.426

0,25

102.702

0,17

4.497.880

0,99

1880

163.570

0,66

244.736

0,35

107.373

0,45

4.963.528

0,99

1890

173.510

0,59

249.984

0,21

116.073

0,78

5.417.360

0,88 1,03

1900

192.763

1,06

266.374

0,64

129.237

1,08

6.003.845

1910

214.737

1,09

304.713

1,35

145.408

1,19

6.648.310

1,02

1923

222.831

0,29

313.888

0,23

139.979

– 0,29

6.534.742

– 0,13

19342

245.801

0,90

349.098

0,97

155.402

0,95

6.760.044

0,31

JVR = durchschnittliche jährliche Veränderungsrate. 1 Heutiger Gebietsstand. Vor 1869  : großteils gerundete Zahlen  ; 1754–1857  : anwesende Zivil­ bevölkerung  ; 1869–1923  : anwesende Bevölkerung  ; 1934  : Wohnbevölkerung. 2) Einschließlich 4.726 Personen ohne festen Wohnort.

Nachdem die Bevölkerung Vor­arl­bergs von Beginn des 16. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts im langjährigen Durchschnitt jährlich um 0,2–0,3 Prozent gewachsen war, setzte um 1775 eine bis etwa 1792 anhaltende Boomphase ein, in der das jährliche Wachstum die Ein-Prozent-Marke überschritt, ein Wachs-

9

Sied­­­lungsgeschichte. Vor­arl­berg [http://www.oeaw.ac.at/vid/research/histortslexikon.shtml], Zu­griff  : 1.12.2014. Statistik Austria, Statistisches Jahrbuch Österreichs 2014, Wien 2013, S. 40.

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Andreas Weigl

tumsniveau, welches im heutigen Österreich insgesamt erst im ausgehenden 19.  Jahrhundert erreicht wurde. Der demographische Aufschwung wurde im Zeitalter der napoleonischen Kriege für etwa zweieinhalb Jahrzehnte unterbrochen. Die folgende von 1815–1846 reichende Periode war durch noch höheres Bevölkerungswachstum gekennzeichnet. In den 1820er Jahren kletterte das jährliche Wachstum auf durchschnittlich 1,3 Prozent und damit auf den historischen Höchstwert. Allein im Zeitraum 1823–1837 nahm die Bevölkerung um 16 Prozent zu.10 Schon vor der Mitte des 18. Jahrhunderts, einem Zeitraum ab dem Daten über die natürliche Bevölkerungsbewegung erstmals in größerer Dichte und Repräsentativität vorliegen, dürften sich die Geburtenraten in Vor­arl­berg mit gewissen Schwankungen zwischen 38 und 40, die Sterberaten mit wesentlich größeren Schwankungen zwischen 32 und 38 bewegt haben.11 Traditionell trugen also Geburtenüberschüsse das frühneuzeitliche Bevölkerungswachstum. Ab Mitte der 1770er Jahre wurden die Sterbegipfel kleiner, und die Geburtenrate blieb hoch. Mitten in der Boomphase, um 1785, lag die Geburtenrate in Vor­arl­berg bei 41,6, die Sterberate jedoch lediglich bei 31,0.12 Das heißt  : Das hohe Bevölkerungswachstum von einem Prozent wurde ausschließlich durch die positive Geburtenbilanz bestimmt. Wie ein Vergleich mit den Raten für das gesamte Kronland »Oesterreichisch-Tirol«, also Tirol und Vor­arl­berg ohne Brixen und Trient, im ungefähren Vergleichszeitraum erkennen lässt, war das Geburtenplus in Vor­arl­berg in dieser Phase hohen Wachstums etwa doppelt so hoch als jene des gesamten Kronlandes.13 Wie aus bayerischen Zählungen für die Jahre 1809–1812 hervorgeht, änderte sich auch während der napoleonischen Kriege grundsätzlich am demographischen Muster wenig, doch ging temporär die Geburtenrate infolge der Involvierung in das Kriegsgeschehen wohl zurück. Nach 1815 gewann die Zuwanderung an Bedeutung. Bis etwa 1840 war das Wachstum zu etwa zwei Drittel auf die Geburtenüberschüsse, zu einem Drittel auf den positiven Wanderungssaldo zurückzuführen. Die Geburtenraten schwankten zunächst zwischen 32 und 33 und stiegen dann auf 35, die Sterberaten bewegten sich mit stärkeren Schwankungen zwischen 25 und 30 mit 10 Kurt Klein, Die Bevölkerung Vor­arl­bergs 1754 bis 1869, in  : Montfort 20 (1968), S. 154–173, hier S. 161 f. 11 Kurt Klein, Geburtlichkeit und Sterblichkeit in Vor­arl­berg 1750–1850, in  : Montfort 41 (1989), S. 182–200, hier S. 184 f. 12 Elisabeth Mantl, Heirat als Privileg. Obrigkeitliche Heiratsbeschränkungen in Tirol und Vor­ arl­berg 1820 bis 1920 (Sozial- und wirtschaftshistorische Studien 23), Wien-München 1997, S. 50. 13 Vincenz Goehlert, Die Entwicklung der Bevölkerung von Tirol und Vor­arl­berg, in  : Statistische Monatsschrift 6 (1880), S. 52–64, hier S. 53, S. 58 f., S. 63  ; eigene Berechnungen.



Migration, Industrialisierung, Weltkrieg 

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ebenfalls steigender Tendenz. In den Städten waren in der Regel sowohl Geburten- als auch Sterberaten höher, die Gesamtbilanz ähnlich.14 In den späten 1820er Jahren resultierte daraus temporär nur aus der Geburtenbilanz erneut ein Wachstum von bis zu einem Prozent jährlich. Dazu kam der positive Wanderungssaldo. Der Wanderungsüberschuss erklärt sich vor allem aus der Zuwanderung in die jungen Industriesiedlungen im Rheintal und im Walgau, die nicht nur im Land Geborene anzogen.15 Was die Höhe der Geburtenrate anlangt, glich die Situation in Vor­arl­berg eher der in Südtirol, denn jener im Ober- oder Unterinntal. Dementsprechend bewegte sich das natürliche Bevölkerungswachstum im späten 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts etwa auf einem doppelt so hohen Niveau wie in Nordtirol. Vor allem der Bezirk Feldkirch, aber auch die anderen Bezirke Vor­ arl­bergs wiesen verglichen mit Nordtirol ein niedrigeres Heiratsalter und eine höhere Heiratshäufigkeit auf.16 Im innerösterreichischen Vergleich (bezogen auf alle Alpenländer) waren die Geburtenüberschüsse in den 1820er und 1830er Jahren in Tirol und Vor­arl­berg sehr ausgeprägt, während in den übrigen österreichischen Ländern die natürliche Bevölkerungsbewegung insgesamt mehr Brüche aufwies.17 Die insgesamt eher günstige Entwicklung der Sterblichkeit in Vor­arl­berg war vor allem auf die Cholerasterblichkeit zurückzuführen. Während der ersten Epidemien von 1831–1836 blieb Vor­arl­berg, im Gegensatz zu Tirol, völlig verschont.18 Das vergleichsweise hohe frühneuzeitliche Bevölkerungswachstum, die landwirtschaftliche Besitzstruktur und das Fehlen relevanter Exportgewerbe nötigten einen nicht unerheblichen Teil der Vor­arl­berger Bevölkerung zu einem Leben auf dem Subsistenzniveau. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts änderten sich die ökonomischen Rahmenbedingungen jedoch mit dem Aufstieg des proto- und frühindustriellen Textilgewerbes sowie der Einführung und Verbreitung der Kartoffel in einer Weise, die höheres Bevölkerungswachstum zuließ. Vor­arl­berg nahm bei der Einführung des Kartoffelanbaus in der Habsburgermonarchie eine Vorreiterrolle ein. Schon in den 1770er Jahren waren Erdäpfel im 14 Peter Helfer, Rankweils Bevölkerung im 19. Jahrhundert. Geburt – Heirat – Tod (Reihe Rankweil 19), Rankweil 2002, S. 46. 15 Klein, Geburtlichkeit, S. 189–192. 16 Mantl, Heirat als Privileg, S. 38–42. 17 Roman Sandgruber, Die Anfänge der Konsumgesellschaft. Konsumgüterverbrauch, Lebensstandard und Alltagskultur in Österreich im 18. und 19. Jahrhundert (Sozial- und wirtschaftshistorische Studien 15), Wien 1982, S. 30. 18 Gertraud Krebs, Die geographische Verbreitung der Cholera im ehemaligen Oesterreich-Ungarn in den Jahren 1831–1916 (Veröffentlichungen aus dem Gebiete des Volksgesundheitsdienstes 55, Heft 6), Berlin 1941, S. 6, S. 13.

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Andreas Weigl

ganzen Land bekannt. Nach und nach expandierte ihr Anbau vornehmlich auf Kosten des Getreide-, aber auch des Hanf- und Flachsanbaus. Schon um 1800 zählten Kartoffeln zu den unentbehrlichen Grundnahrungsmitteln. Der Anbau der Kartoffel bot zwei demographisch relevante Vorteile. Er erlaubte wesentlich höhere Erträge als jene des Getreides und war zudem mit geringerem Aufwand verbunden sowie auch auf kleineren Flächen, wie sie in Realteilungsgebieten vorherrschten, rentabel.19 Die zweite große ökonomische Veränderung betraf die gewerbliche, später industrielle Produktion. Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelte sich Vor­arl­berg zum österreichischen Textilland par excellence. Im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts erreichte die Zahl der Spinnerinnen und Weber, allerdings mit starken Schwankungen, in ganz Vor­arl­berg bis zu 20.000.20 Auf die Kriegsperiode und die bayerische Episode war es zurückzuführen, dass die Industrielle Revolution erst mit Verspätung, um 1820, einsetzte.21 Die Verbreitung der mechanischen Spinnerei nahm von Dornbirn mit der Gründung der Firma Rhomberg & Lenz ihren Ausgang. Die ersten Spinnmaschinen wurden 1812 bzw. 1815 in Betrieb genommen.22 Zahlreiche weitere Gründungen mechanischer Spinnereien folgten, vor allem Mitte der 1820er und Mitte der 1830er Jahre. Mit der Etablierung der mechanischen Spinnereien erhöhte sich die Effizienz des Zusammenspiels des Spinnens und Webens, welches vorerst trotz des Aufkommens mechanischer Webstühle ab Mitte der 1830er Jahre noch zum überwiegenden Teil händisch betrieben wurde. Noch 1841 betrug das Verhältnis der Maschinen- und Handwebstühle etwa eins zu zehn.23 Insgesamt war die Zahl der tatsächlichen Fabrikarbeiter selbst in der Baumwollspinnerei noch nicht allzu groß. Sie betrug im Jahr 1843 rund 2.500.24 Die Beschäftigungswirkung des bis dahin eingeschlagenen Industrialisierungspfads war daher erheblich. Viele kleinbäuerliche Familien konnten durch Spinnen und Weben 19 Sandgruber, Anfänge, S. 51 f. 20 Arno J. Fitz, Familie und Frühindustrialisierung in Vor­arl­berg (Vor­arl­berg in Geschichte und Gegenwart 2), Dornbirn 1985, S. 56. 21 Günther Chaloupek/Dionys Lehner/Herbert Matis/Roman Sandgruber, Österreichische Industriegeschichte 1700 bis 1848. Die vorhandene Chance, Wien 2003, S. 206 f. 22 Hubert Weitensfelder, Interessen und Konflikte in der Frühindustrialisierung. Dornbirn als Beispiel (Studien zur Historischen Sozialwissenschaft 18), Frankfurt a. M.-New York 1991, S. 82. 23 Hubert Weitensfelder, Industrie-Provinz. Vor­arl­berg in der Frühindustrialisierung 1740–1870 (Studien zur Historischen Sozialwissenschaft 29), Frankfurt a. M.-New York 2001, S.  102 f., S. 110. 24 Johann Slokar, Geschichte der österreichischen Industrie und ihrer Förderung unter Kaiser Franz I. Mit besonderer Berücksichtigung der Großindustrie und unter Benützung archivalischer Quellen, Wien 1914, S. 311.



Migration, Industrialisierung, Weltkrieg 

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Feldkirch 1885 (Foto: Würthle & Spinnhirn, Salzburg, vorarlberg museum)

überleben, und zudem boten sich in den Städten in den Fabriken zusätzliche Beschäftigungsmöglichkeiten. Nach Berechnungen für das Jahr 1835 verdienten männliche Arbeiter im Schnitt deutlich mehr, als für Ernährung, Kleidung und Wohnen erforderlich war. Für weibliche Arbeitskräfte traf das allerdings nicht zu.25 Sehr lange Arbeitszeiten für Männer und Frauen, aber auch Kinderarbeit26 zählten zu den gravierenden Schattenseiten des Textilbooms. In Feldkirch und Rankweil war in den 1850er und 1860er Jahren ein Viertel bis ein Drittel der Beschäftigten in den Fabriken Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren.27 Auf den Boom folgte eine von etwa 1845 bis 1880 reichende demographische Stagnationsphase. Die Einwohnerzahl nahm in diesen dreieinhalb Jahrzehnten insgesamt kaum zu und blieb damit weit hinter den Zuwächsen der übrigen Donau- und Alpenländer zurück. Das geringe Wachstum lag nicht pri25 Barnabas Fink, Die Wirtschaftsverhältnisse in Vor­arl­berg, in  : Barnabas Fink/Ferdinand Redler, Wirtschaft und öffentliches Leben (Heimatkunde von Vor­arl­berg 6), Leipzig-Wien-Prag 1931, S. 7–182, hier S. 169, S. 174. 26 Gerhard Wanner, Kinderarbeit in Vor­arl­berger Fabriken im 19. Jahrhundert, Feldkirch 21986, S. 15, S. 33 f. 27 Helfer, Rankweils Bevölkerung, S. 68–71.

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Andreas Weigl

mär an den sinkenden Geburtenüberschüssen, die sich in den 1870er Jahren nur knapp unter dem österreichischen Durchschnitt bewegten. Wesentlich war der insgesamt negative Wanderungssaldo. Durch die Einführung mechanischer Webstühle verloren erhebliche Teile der ärmeren Bevölkerungsschichten ihren vielfach lebensnotwendigen Nebenerwerb.28 Vor allem die Bergbauerngebiete des Montafon, Klostertals, Großen Walsertals und des Bregenzerwaldes hatten Bevölkerungsrückgänge zu verzeichnen und waren durch Abwanderung, auch in Regionen außerhalb Vor­arl­bergs, geprägt.29 Hingegen wuchs die Bevölkerung vor allem dort, wo Industriebetriebe und vor allem industrielle Großbetriebe gegründet wurden.30 Eine eigentliche Fabrikarbeiterschaft entstand jedoch erst allmählich, da die Herkunft und Bindung an ländlichen Kleinbesitz für das Selbstverständnis und die Identität Vieler weiterhin große Bedeutung hatte. Am Beispiel Dornbirns wurde gezeigt, dass noch um 1870 die häusliche Lebenswelt von Textilarbeiterinnen und -arbeitern vom bäuerlichen Milieu geprägt war, aus dem ein Großteil der Haushaltsvorstände stammte.31 Zudem betrug Mitte der 1860er Jahre die Zahl der Fabrikarbeiter in Vor­arl­berg erst etwa 6.000.32 Die schwierige ökonomische Situation größerer Teile der Bevölkerung lässt sich anhand der Realeinkommensentwicklung illustrieren. Diese sanken im Zeitraum 1835–1860 im Durchschnitt um acht Prozent. Vor allem für Arbeiter hielten sie mit dem Anstieg der Lebenshaltungskosten nicht mit, während sich die Situation für Arbeiterinnen günstiger gestaltete. Dennoch reichte ein Arbeiterinnenlohn in der Textilindustrie auch 1860 gerade einmal für den Kauf des Notwendigsten.33 Wie anhand der Auswertung von Verlassenschafts­ akten gezeigt wurde, kam es durch den strukturellen Wandel der Vor­arl­berger 28 Meinrad Pichler, Die Vor­arl­berger Amerikawanderung bis 1938, in  : Traude Horvath/Gerda Neyer (Hg.), Auswanderungen aus Österreich. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Wien-Köln-Weimar 1996, S. 57–80, hier S. 61 f. 29 Klein, Bevölkerung Vor­arl­bergs, S. 164  ; Kurt Klein, Bevölkerung der österreichischen Alpenländer vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, in  : Pascal Ladner/Gabriel Imboden (Hg.), »Seelen zählen«. Zur Bevölkerungsgeschichte der Alpenländer (Veröffentlichungen des Forschungsinstitutes für die Geschichte des Alpenraums 7), Brig 2003, S. 29–53, hier S. 33 f. 30 Franz Leitzinger, Die Bevölkerungsbewegung in Vor­arl­berg seit 1837 und der Stand der Bevölkerung im Jahre 1890. Eine topographisch-statistische Studie mit Vergleichungen, Tl. 2, Bozen 1898, S. 8–12. 31 Ingrid Böhler, Vom Feld in die Fabrik. Die Beziehungen zwischen Landwirtschaft und Industrie in Dornbirn anhand der Volkszählung 1869, in  : Ingrid Böhler/Werner Matt/Hanno Platzgummer (Hg.), Unterschichten und Randgruppen (Forschungsberichte – Fachgespräche. Dokumentation zur internationalen Tagung, 4. Dornbirner Geschichtstage, 15. –18. Oktober 1997), Dornbirn 2001, S. 75–85, hier S. 81. 32 Weitensfelder, Industrie-Provinz, S. 479 f. 33 Fink, Wirtschaftsverhältnisse, S. 169, S. 174.



Migration, Industrialisierung, Weltkrieg 

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Wirtschaft zu einer ausgeprägten Zunahme ökonomischer Ungleichheit. Der Gini-Koeffizient34 stieg von 0,58 im Jahr 1830 auf 0,87 1860 auf einen sehr hohen Wert. Für diesen Anstieg war ausschließlich die Ungleichheit zwischen den Standes- und Berufsgruppen maßgeblich, während Unterschiede innerhalb dieser Gruppen keine Rolle spielten.35 2. Die demographische Transition Geburten- Sterbe- und natürliche Wachstumsraten in Vor­arl­berg und Österreich (heutiges Gebiet) 1871–193536 Periode

Vor­arl­berg GR

2

SR

3

Österreich NWT

GR

2

SR3

NWT 3,5

1871/75

30,6

27,1

3,5

34,5

31,0

1876/80

30,7

25,8

4,9

34,0

28,8

5,2

1881/85

29,5

25,9

3,6

32,9

28,1

4,8

1886/90

28,6

23,6

5,0

32,0

26,8

5,2

1891/95

27,0

21,7

5,3

31,7

25,5

6,2

1896/1900

28,2

20,5

7,7

31,5

23,3

8,2

1901/05

28,8

19,7

9,1

30,3

21,9

8,4

1906/10

28,2

18,4

9,8

27,8

20,3

7,5

1911/13

27,0

17,1

9,9

24,9

18,8

6,1

1919/20

22,0

16,0

6,0

20,6

19,7

0,9

1921/25

24,9

14,4

10,5

22,2

15,8

6,4

1926/301

21,4

13,1

8,3

17,7

14,5

3,2

1931/351

17,7

11,9

5,8

14,4

13,5

0,9

GR = Geburtenrate, SR = Sterberate, NWR = natürliche Wachstumsrate (auf 1.000 der Bevölkerung) 1 Österreichwerte  : einschließlich der Fälle mit im Ausland gelegenem Wohnort der Mutter. 2 Bis einschließlich 1925 nach dem Geburtsort des Kindes, ab 1926 nach dem Wohnort der Mutter. 3 Bis einschließlich 1933 nach dem Sterbeort, ab 1934 nach dem Wohnort des Verstorbenen.

Gemäß dem in den Industrieländern zu beobachtenden Muster setzte ein säkularer Rückgang der Sterberaten in Vor­arl­berg in der zweiten Hälfte der 1870er 34 Relatives Streuungsmaß (Maß der Ungleichheit) zwischen 0 und 1. Karl Mosler/Friedrich Schmid, Beschreibende Statistik und Wirtschaftsstatistik, Berlin u. a. 2003, S. 91–94. 35 Pammer, Entwicklung und Ungleichheit, S. 218. 36 Statistik Austria, Demographisches Jahrbuch 2012, Wien 2013, S. 85, S. 166, S. 216.

32  |

Andreas Weigl

Jahre ein. Zu einer markanten – allerdings zuvor schon bestehenden – Öffnung der Schere zwischen Geburten- und Sterberaten kam es ab der zweiten Hälfte der 1880er Jahre. Den Höhepunkt erreichten die Geburtenüberschüsse im Zeitraum 1900–1913. Sie lagen nun wieder bei neun bis zehn auf 1.000 Einwohner, was einer jährlichen Wachstumsrate von einem Prozent entspricht. Seit den 1880er Jahren schloss Vor­arl­berg wieder an das demographische Wachstumsniveau des heutigen Österreich an. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts lag die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate mit 1,2 Prozent sogar recht deutlich über dem österreichischen Durchschnitt, der sich um ein Prozent bewegte. Ihre Begründung hatte diese Entwicklung im geringeren Rückgang der Geburten- gegenüber der Sterberate. Bis in die Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs ging die Geburtenrate auf Werte nur knapp unter 30 zurück, während die Sterberate bereits um die Jahrhundertwende unter 20 gefallen war. Zwar wandelte sich Vor­arl­berg im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts vom Netto-Auswanderungs- zum Netto-Einwanderungsland,37 doch blieb der Einfluss des Wanderungssaldos auf das demographische Wachstum begrenzt. Lediglich in den 1880er Jahren kam der Wanderungsgewinn annähernd an den Geburtenüberschuss heran. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts entfiel jedoch nur ein Fünftel des Gesamtzuwachses auf die Wanderungsbilanz. Bevölkerungsbilanzen Vor­arl­bergs nach Komponenten 1869–193438 Periode

Geburtenbilanz

Wanderungsbilanz1

1869–1880

4.800

–100

1880–1890

4.800

3.900

1890–1900

8.000

5.100

1900–1910

13.000

3.200

1910–1923

4.400

–9.800

1923–1934

13.300

2.100

1

Gerundete Werte.

37 Franz Mathis, Vor­arl­berg als Zuwanderungsland für italienische Migranten  : Ursachen und Voraussetzungen, in  : Karl Heinz Burmeister/Robert Rollinger (Hg.), Auswanderung aus dem Trentino – Einwanderung nach Vor­arl­berg. Die Geschichte einer Migrationsbewegung mit besonderer Berücksichtigung der Zeit von 1870/80 bis 1919 (Bodensee-Bibliothek 38), Sigmaringen 1995, S. 101–125, hier S. 109. 38 Statistik Austria, Statistisches Jahrbuch 2014, S. 40.



Migration, Industrialisierung, Weltkrieg 

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Das Auseinandergehen der Schere zwischen Geburten und Sterbefällen wurde durch die Periode des Ersten Weltkriegs und die unmittelbaren Nachkriegsjahre nur unterbrochen. Auch im Zeitraum 1921–1925 sorgte der Geburtenüberschuss für ein natürliches Bevölkerungswachstum von einem Prozent. Ebenso erreichte zwischen 1923 und 1934 die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate fast ein Prozent, und erneut war das auf den erheblichen Geburtenüberschuss zurückzuführen, während die Wanderungsgewinne der Zwischenkriegszeit bescheiden blieben. Über die gesamte Periode der Transition lagen die Sterberaten Vor­arl­bergs unter dem österreichischen Durchschnitt, wie das auch schon zuvor der Fall gewesen war. Eine wichtige Komponente der günstigen Sterblichkeitsverhältnisse während des demographischen Übergangs bildete die Säuglingssterblichkeit. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte diese im Durchschnitt der Jahre 1809– 1812 mit 32 Prozent einen noch typisch vortransitorischen Wert, doch bereits um 1870 war dieser auf 24 gesunken.39 Zu diesem Zeitpunkt wies Vor­arl­berg nach Tirol bereits den zweitniedrigsten Wert unter allen heutigen österreichischen Bundesländern auf. Etwa zwei Jahrzehnte später wurde auch der Tiroler Wert unterschritten. Mit 17 Prozent hatte Vor­arl­berg einen für Mitteleuropa bereits sehr günstigen Wert, obwohl im Allgemeinen Süddeutschland und die Habsburgermonarchie Zentren besonders hoher Säuglingssterblichkeit waren.40 Diese vergleichsweise günstige Entwicklung setzte sich in den folgenden Jahrzehnten fort. Im Durchschnitt der Jahre 1931/35 lag die Säuglingssterberate in Vor­arl­berg um ein Drittel unter dem österreichischen Durchschnitt. Kleinräumig betrachtet hatten in Österreich die alpinen gegenüber den außeralpinen Regionen eine deutlich niedrigere Säuglingssterblichkeit aufzuweisen, wie bereits aus zeitgenössischen Analysen für die Zeit um 1900 hervorgeht. Geringe Bevölkerungsdichte, hohe Wasserqualität und die häusliche Produktion von Milch bieten dafür eine schlüssige Erklärung. Da dieses regionale Muster der Säuglingssterblichkeit auch in der Zwischenkriegszeit bestehen blieb und sich erst in den 1960er Jahren auflöste, ist davon auszugehen, dass die genannten Faktoren auch in der Folge von Einfluss waren.41 Für den Rückgang der Sterblichkeit war insgesamt vor allem die Sterblichkeit des zweiten bis zwölften Lebensmonats verantwortlich, was auf die Verbesserung der Säuglingspflege mit 39 Klein, Geburtlichkeit, S. 194. 40 Chesnais, Demographic Transition, S. 59–63, S. 580–582. 41 Christian Köck/Josef Kytir/Rainer Münz, Risiko »Säuglingstod«. Plädoyer für eine gesundheitspolitische Reform (Schriften des Instituts für Demographie der österreichischen Akademie der Wissenschaften 8), Wien 1988, S. 21 f.; Josef Kytir, Regionale Unterschiede der Säuglingssterblichkeit in Österreich, in  : Mitteilungen der Österreichischen Geographischen Gesellschaft 131 (1989), S. 47–76, hier S. 62 f.

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Andreas Weigl

Bezug auf Stillpraxis, übrige Säuglingsnahrung und die hygienischen Verhältnisse hindeutet. Säuglingssterberaten nach ausgewählten (Bundes-)Ländern 1871–193542 Periode2

Säuglingssterberate1 Österreich

Tirol

Vor­arl­berg

3

1871/75

287,2

228,2

237,1

1876/803

258,9

208,5

229,8

1881/853

264,1

218,6

223,5

3

1886/90

256,8

209,8

195,2

1891/953

245,5

203,4

193,4

1896/00

224,3

197,0

193,0

1901/05

211,5

188,7

173,8

1906/10

197,4

166,5

154,8

1911/13

183,8

149,1

150,7

1914/18

191,2

159,5

135,8

1919/20

156,6

138,3

102,9

1921/25

140,0

118,9

100,2

1926/304

117,2

100,7

77,2

1931/35

99,0

77,6

66,4

4

1 2 3 4

Säuglingssterbefälle bezogen auf 1.000 Lebendgeborene. Bis einschließlich 1933 nach dem Sterbeort des Kindes, ab 1934 nach dem Wohnort der Mutter. Ohne Burgenland. Österreichwerte  : einschließlich der Fälle mit im Ausland gelegenem Wohnort der Mutter.

Im Gegensatz zur Säuglingssterblichkeit fiel der Rückgang der an sich noch zu Beginn der 1920er Jahre unter dem österreichischen Durchschnitt liegenden Tuberkulosesterblichkeit in der Zwischenkriegszeit nicht so günstig aus. Während Vor­arl­berg noch 1919 den niedrigsten Wert unter allen damaligen Bundesländern aufwies, lag dieser bereits 1923 über dem österreichischen Durchschnitt und blieb dies auch bis Ende des Jahrzehnts. In dieser Hinsicht hatten vor allem west- und südösterreichische Länder, aber auch Niederösterreich Vor­arl­berg »überholt«.43 Eine Ursache für diesen Rückfall mag in der wenig ambitionierten 42 Statistik Austria, Demographisches Jahrbuch 2012, S. 236. 43 Elisabeth Dietrich-Daum, Die »Wiener Krankheit«. Eine Sozialgeschichte der Tuberkulose in Österreich (Sozial- und wirtschaftshistorische Studien 32), Wien-München 2007, S.  266, S. 270.



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Tuberkuloseprävention gelegen haben. Noch 1935 verfügte Vor­arl­berg als einziges Bundesland über keine einzige Tuberkulosefürsorgestelle. Auch die Hungerperiode gegen Ende und nach dem Ersten Weltkrieg könnte eine Rolle gespielt haben. Eine rapide Verschlechterung der Versorgung mit Nahrungsmitteln trat zwar erst spät ein, doch blieb die Versorgungslage in den Nachkriegsjahren ziemlich prekär. Zu diesem Schluss kam 1926 auch der Direktor eines Sanatoriums für Lungenerkrankungen, der die Langzeiteffekte der Unterernährung für die weibliche Bevölkerung pessimistisch beurteilte.44 Das Niveau der Fertilität in Vor­arl­berg wurde traditionell durch eine Sonderform des alpinen Heiratsmusters geprägt. Zwar ähnelte dieses mit Bezug auf das hohe Heiratsalter und die hohen Ledigenquoten jenem des inneralpinen Raumes, die bestimmenden Faktoren des Heiratsmusters unterschieden sich jedoch in wesentlichen Punkten. Durch die im Land vorherrschende bäuerliche Realteilung45 dominierten ländlicher Klein- und Kleinstbesitz. Daher spielte das Gesindewesen praktisch keine Rolle, lebenslanger Zölibat war jedoch seltener anzutreffen als im inneralpinen Raum. Dieses Muster übertrug sich auch auf die Industriearbeiterschaft, die teilweise noch über bäuerlichen Kleinstbesitz verfügte. Im Jahr 1880 war daher von den 45- bis unter 50-Jährigen rund ein Viertel ledig, in Nordtiroler Bezirken waren es vielfach 35 bis 40 Prozent.46 Die eheliche Fertilität war in Vor­arl­berg außergewöhnlich hoch. In den letzten Jahrzehnten des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts lag ihr Niveau deutlich über dem Durchschnitt der Alpenländer, der gesamten österreichischen Reichshälfte und auch der Ostschweiz. Selbst im europäischen Vergleich wurde es kaum übertroffen. Um 1880 wurde ein Wert von fast 90 Prozent der maximalen Fertilität, gemessen an der Fertilität der Hutterer, erreicht. Bis in die Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs und selbst in der Nachkriegszeit war der Rückgang der ehelichen Fertilität auf rund 70 Prozent des Maximums zwar schon recht deutlich, das Gesamtniveau jedoch immer noch vergleichsweise sehr hoch.47 44 Ingrid Böhler/Norbert Schnetzer, Hunger im Ländle  : Das lange Ende des Ersten Weltkriegs in Vor­arl­berg 1918–1920/21, in   : Zeitgeschichte 26 (1999), S. 71–89, hier S. 83. 45 Zur Persistenz dieses bäuerlichen Erbrechts bis in das 20. Jahrhundert  : Ingrid Kretschmer/Josef Piegler, Bäuerliches Erbrecht, in  : Kommission für den Volkskundeatlas in Österreich (Hg.), Österreichischer Volkskundeatlas, 2. Lfg., Wien-Graz-Köln 1965. 46 Josef Ehmer, Heiratsverhalten, Sozialstruktur, ökonomischer Wandel. England und Mitteleuropa in der Formationsperiode des Kapitalismus (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 92), Göttingen 1991, S. 133, S. 311–314  ; Mantl, Heirat, S. 43–46, S. 64 f. 47 Ansley J. Coale/Roy Treadway, A Summary of the Changing Distribution of Overall Fertility, Marital Fertility, and the Proportion Married in the Provinces of Europe, in  : Ansley J. Coale/

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Andreas Weigl

Auch wenn Vor­arl­berg kein Land war, in dem der politische Ehekonsens sich voll entfalten konnte, versuchten die lokalen Obrigkeiten auch hier, Heiraten unter Armen zu unterbinden.48 Diese Vorgangsweise erhielt im Vormärz durch den »politischen Ehekonsens« eine legistische Grundlage und Verschärfung. Im Zeitraum 1820–1850 blieb seine Wirkung allerdings begrenzt, ehe er 1850–1870 seine stärkste Ausprägung erfuhr, um danach bis zu seiner formalen Aufhebung 1921 rasch an Bedeutung zu verlieren.49 Das U-förmige Verlaufsmuster des Anstiegs und Falls der Illegitimität wurde von der Implementierung des politischen Ehekonsenses bis zu einem gewissen Grad beeinflusst, wiewohl die tieferen Ursachen im Aufkommen von Lohnarbeitsverhältnissen in der Textilindustrie lagen.50 Von sehr niedrigem Ausgangsniveau war der politische Ehekonsens beispielsweise in Rankweil für einen Anstieg der Illegitimitätsraten von fünf Prozent um 1820 auf acht Prozent um 1870 verantwortlich, die dann in den folgenden Jahrzehnten wieder zurückgingen. Ledigen Müttern bot zunehmend Fabrikarbeit ein Lohneinkommen, welches durch Kinderarbeit ergänzt wurde.51 Die Frühindustrialisierung förderte also temporär die Entstehung einer »subgroup of bastard bearers«.52 Mit dem Bedeutungsverlust der Kinderarbeit und der Besserung der Lebensverhältnisse im späten 19. Jahrhundert nahm die Illegitimitätsrate deutlich ab, was auch durch die liberalere Handhabung des Ehekonsenses gefördert wurde.53 Insgesamt hatte die vormoderne Fertilitätsbremse »Illegitimität« – das Niveau ehelicher Fertilität lag weit über jenem der unehelichen – für den Rückgang der Fertilität in Vor­arl­berg während des demographischen Übergangs keine größere Bedeutung, wenngleich in der Zwischenkriegszeit ein erneuter Anstieg der Unehelichenquote54 zu verzeichnen war.

48 49 50

51 52 53 54

Susan Cotts Watkins (Hg.), The Decline of Fertility in Europe, Princeton 1986, S. 31–181, hier S. 36 f., S. 80, S. 154 f. Weitensfelder, Interessen und Konflikte, S. 105–107. Hubert Weitensfelder, Zu arm zum Heiraten  ? Ehekonsense in Vor­arl­berg als Mittel konservativer Sozialpolitik (1850–1914), in  : Montfort 57 (2005), S. 18–40. Gerhard Wanner, Zur Sozialgeschichte von Kindheit, Jugend und Familie im Spiegel der Vor­arl­ berger Presse (1861–1914), in  : Gerhard Wanner/Johannes Spies, Kindheit, Jugend und Familie in Vor­arl­berg 1861 bis 1938 (Schriftenreihe der Rheticus-Gesellschaft 57), Feldkirch-Bregenz 2012, S. 9–244, hier S. 205–207. Peter Helfer, »… ein Beweis der Unsittlichkeit«. Ursachen von Illegitimität in Rankweil im 19. Jahrhundert, in  : Böhler/Matt/Platzgummer, Unterschichten, S. 62–74. Peter Laslett/Karla Oosterveen, Long-term Trends in Bastardy in England  : A Study of the Illegitimacy Figures in the Parish Registers and in the Reports of the Registrar General, 1461– 1960, in  : Population Studies 27 (1973), S. 255–286, hier S. 284. Sieglinde Amann, Armenfürsorge und Armenpolitik in Feldkirch von 1814–1914 (Schriftenreihe der Rheticus-Gesellschaft 34), Feldkirch 1996, S. 123. Anteil der unehelichen an allen Lebendgeborenen.



Migration, Industrialisierung, Weltkrieg 

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Hochzeit in Vandans 1921, Abholung der Braut vom Elternhaus (Foto: vorarlberg museum)

Vor­arl­berg blieb aber auch dann das Bundesland mit der geringsten Verbreitung von Illegitimität.55 Das Zusammenspiel von sehr niedriger Illegitimität und hohen Ledigenquoten um 80 Prozent bei den unter 30-Jährigen deutet auf eine gewisse Tradition lang andauernder sexueller Abstinenz56 oder vergleichsweise effizienter Anwendung kontrazeptiver Methoden wie dem »coitus interruptus« in der jüngeren Bevölkerung. Diese Praxis, möglicherweise im Zusammenspiel mit einer steigenden Zahl von (illegalen) Schwangerschaftsabbrüchen, begünstigte den raschen Fertilitätsrückgang der Zwischenkriegszeit. Um die Mitte der 1930er Jahre war die Bruttoreproduktionsrate57 in Vor­arl­berg auf einen Wert von 1,00, die Nettoreproduktionsrate58 auf 0,83 gefallen. Unter Berücksichtigung der Sterblichkeit von Frauen bis zum Ende der reproduktiven Pe55 Alois Haslinger, Uneheliche Geburten in Österreich. Historische und regionale Muster, in  : Demographische Informationen (1982), S. 2–34, hier S. 21, S. 23. 56 Ehmer, Heiratsverhalten, S. 134 f. 57 Zahl der lebendgeborenen Mädchen die eine Frau im Lauf ihres Lebens unter der Annahme konstanter altersspezifischer Fertilitätsraten zur Welt bringt. 58 Bruttoreproduktion unter Berücksichtigung der Sterblichkeit von Frauen vor und während der reproduktiven Altersperiode.

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riode reproduzierte sich die Vor­arl­berger Bevölkerung also nicht mehr aus sich selbst. Die Fertilität lag damit in Vor­arl­berg unter jener des Burgenlandes, Oberösterreichs und Tirols, etwa gleichauf mit Ländern wie Salzburg oder der Steiermark.59 Das Auseinandergehen der Schere zwischen Geburten und Sterbefällen im Zeitraum von etwa 1880–1913 geschah vor dem Hintergrund des Durchbruchs moderner gewerblich-industrieller Produktionsformen, die im Gegensatz zur vorangegangenen krisenhaften Umbruchphase nunmehr auch und nicht zuletzt vielen wenig qualifizierten Arbeitskräften Beschäftigungsmöglichkeiten boten, weil die Mechanisierung in der Textilindustrie große Fortschritte machte und der sektorale Wandel eine immer größere Zahl von Industriearbeitsplätzen entstehen ließ. War 1869 rund ein Drittel der Erwerbstätigen im Produktionssektor tätig, stieg dieser Anteil bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs auf 46 Prozent.60 Ein erster Aufschwung in der Textilindustrie setzte bereits in den Jahren des gründerzeitlichen Booms von 1867–1871 ein. Dieser wurde im Gegensatz zur gesamten Wirtschaft Cisleithaniens nur kurz unterbrochen und setzte sich ab 1875 bis an den Vorabend des Ersten Weltkriegs fort. Absatzkrisen vor allem in der zweiten Hälfte der 1880er und zu Beginn der 1890er Jahre sowie Überproduktion und verschärfte Konkurrenz aus den USA in den Jahren vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs sorgten allerdings für temporäre Konjunkturdellen.61 Insgesamt erwies sich die Vor­arl­berger Industrie als krisenresistenter als jene der österreichischen Reichshälfte im Allgemeinen, nicht zuletzt weil Aktiengesellschaften gegenüber Familienbetrieben (Personengesellschaften) eine geringere Bedeutung hatten und zudem den Unternehmen in Deutschland und der Schweiz alternative Finanzierungsmöglichkeiten offen standen. Auch in der Zwischenkriegszeit zeigte sich eine gewisse Robustheit der Vor­arl­berger Wirtschaft, wiewohl die Wirtschaftskrise der 1930er Jahre auch hier zu einem spürbaren Anstieg der Arbeitslosigkeit führte.62 Mit dem Übergang zur Hochindustrialisierung kam es zu einem kräftigen Anstieg der Reallöhne von 1885 bis 1913 um etwa 25 Prozent. Vor allem nach der Jahrhundertwende verzeichneten die Löhne für männliche Arbeiter in der Textilindustrie einen erheblichen Sprung nach oben.63 Gleichzeitig nahm auch die Vermögensungleichheit – gemessen an den Verlassenschaften – erheblich 59 Dudley Kirk, Europe’s Population in the Interwar Years, Princeton 1946, S. 263. 60 Ingrid Böhler, Die Industrialisierung in Vor­arl­berg von 1850 bis 1900, in  : Vor­arl­berger Wirtschaftschronik, Dornbirn 1993, S. I/73–I/84, hier S. I/74 f. 61 Manfred Scheuch, Geschichte der Arbeiterschaft Vor­arl­bergs bis 1918. Wien 1961, S. 63–67. 62 Christian Feurstein, Wirtschaftsgeschichte Vor­arl­bergs von 1870 bis zur Jahrtausendwende, Konstanz 2009, S. 18–25, hier S. 35 f. 63 Fink, Wirtschaftsverhältnisse, S. 169, S. 174.



Migration, Industrialisierung, Weltkrieg 

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ab und bewegte sich auf dem Niveau zur Mitte des 19. Jahrhunderts.64 Die für Mortalität und Fertilität nicht unerheblichen Ernährungsverhältnisse besserten sich jedoch nur langsam. Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebten Fabrikarbeiterinnen und -arbeiter, aber auch viele bäuerlichen Familien, was in Vor­arl­berg keinen großen Unterschied ausmachte, hauptsächlich von (Surrogat-)Kaffee, Kartoffeln und Maissterz (»Riebel«), dazu besserte an Sonntagen Fleisch den Mittagstisch etwas auf.65 Der Kost mangelte es an Proteinen und hochwertigen Fetten. Zwar vermitteln Haushaltserhebungen der späten 1920er Jahre eine insgesamt abwechslungsreichere und vitaminhaltigere Ernährung, doch lag der Kostenanteil der Nahrungsmittel am gesamten Haushaltsbudget noch immer bei 55 Prozent,66 was nicht unbedingt für weit verbreiteten Wohlstand spricht, nachdem dieser Anteil sich verkehrt proportional zur Einkommenshöhe verhält.67 Zum Vergleich  : Im Durchschnitt der Jahre 1912/14 betrug in Wiener Arbeiterhaushalten der entsprechende Anteil 52,5 und 50 Prozent im Jahr 1928.68 Auch Experten stuften die Ernährung der ärmeren Schichten in den Vor­arl­berger Städten in den Jahren vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs als ausgesprochen schlecht ein.69 Folglich dürfte die nach wie vor ärmliche Kost in vielen Vor­arl­berger Haushalten auch in der Zwischenkriegszeit nicht unbedingt einen wesentlichen Beitrag zum Sterblichkeitsrückgang geliefert haben. Durch die Abwanderung von in der Landwirtschaft tätigen Personen in die Industriezentren verfestigten sich demographische Wachstumsunterschiede zwischen den Regionen. In den 1870er Jahren waren es die politischen Bezirke Dornbirn und Feldkirch, die die höchsten Wachstumsraten aufwiesen, danach mit Abstand Dornbirn und mit größeren Rückstand Feldkirch. In der Zwischenkriegszeit bildete der Bezirk Bludenz den Wachstumspol, während die übrigen Bezirke ein sehr ähnliches Wachstumsniveau aufwiesen.

64 65 66 67

Pammer, Entwicklung und Ungleichheit, S. 218. Scheuch, Geschichte der Arbeiterschaft, S. 94 f. Fink, Wirtschaftsverhältnisse, S. 126 f. George J. Stigler, The Early History of Empirical Studies of Consumer Behavior, in  : George J. Stigler, Essays in the History of Economics, Chicago-London 1965, S. 198–233, hier S. 203. 68 Sandgruber, Anfänge, S. 385. 69 Ingrid Böhler, Dornbirn 1914–1945, in  : Hubert Weitensfelder/Ingrid Böhler/Werner Matt, Geschichte der Stadt Dornbirn. Von der Frühindustrialisierung bis zur Jahrtausendwende (Geschichte der Stadt Dornbirn 2), Dornbirn 2002, S. 131–245, hier S. 145.

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Bevölkerungsentwicklung in Vor­arl­berg nach politischen Bezirken 1869–193470 Land, Pol. Bez.1

1869

1880

JVR

1890

JVR

1900

Bludenz

21.436

22.448

0,42

23.290

0,37

24.307

Bregenz

41.186

41.628

0,10

44.864

0,75

49.479

Dornbirn

16.801

18.056

0,66

20.836

1,44

25.066

Feldkirch

23.279

25.241

0,74

27.083

0,71

30.385

VORARLBERG

102.702

107.373

0,41

116.073

0,78

129.237

ÖSTERREICH

4.497.880

4.963.528

0,90

5.417.360

0,88

6.003.845

JVR

1923

Land, Pol. Bez.

1910

JVR

1934

JVR

Bludenz

25.461

0,46

26.346

 0,26

30.621

1,38

Bregenz

53.785

0,84

51.644

–0,31

56.304

0,79

Dornbirn

31.159

2,20

27.899

–0,85

30.897

0,93

35.003

1,42

34.090

–0,20

37.580

0,89

VORARLBERG

Feldkirch

145.408

1,19

139.979

–0,29

155.402

0,95

ÖSTERREICH

6.648.310

1,02

6.534.742

–0,13

6.755.318

0,30

JVR = durchschnittliche jährliche Veränderungsrate. 1 Heutiger Gebiettstand.

Trotz der hohen Geburtenüberschüsse der Zwischenkriegszeit wäre es allerdings nicht zutreffend, von einer verzögerten demographischen Transition in Vor­arl­berg zu sprechen. Wohl verlief der Rückgang der Geburten- und Sterberaten bis Mitte der 1920er Jahre parallel, doch begann sich danach die Schere zu schließen. Insgesamt sank die Geburtenrate von 27 vor dem Krieg auf 18 in der ersten Hälfte der 1930er Jahre, die Sterberate von 17 auf 12. Mit der Industrialisierung verbunden waren teilweise instabile Arbeitsverhältnisse, die einen Teil der Arbeiterschaft zu hoher Mobilität zwangen. Zeitgenossen sprachen in diesem Zusammenhang von »modernen Nomaden«. Von der am 31.12.1910 im Rahmen der Volkszählung erfassten anwesenden Bevölkerung des Landes waren zwölf Prozent erst innerhalb des letzten Jahres an den jeweiligen Vor­arl­berger Aufenthaltsort zugewandert, fast ein Drittel war während der letzten fünf Jahre vor der Zählung zugezogen. Im cisleithanischen Vergleich und in Relation zu den österreichischen Alpenländern zählte Vor­arl­ berg damit zu jenen Kronländern, die eine überdurchschnittlich mobile Bevöl70 Statistik Austria (Hg.), Volkszählung 2001. Wohnbevölkerung nach Gemeinden (mit der Bevölkerungsentwicklung seit 1869), Wien 2002, S. 94–99.



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kerung aufwiesen. Die Mobilität war jedoch geringer als in Oberösterreich, der Steiermark, Kärnten und Salzburg.71 Das aufstrebende Industrieland zog im nicht unerheblichen Maß auch landesfremde Zuwanderer an, die vornehmlich in den Textilfabriken von Bludenz, Bürs und Hard, später auch in Feldkirch, Kennelbach und Thüringen Arbeit fanden.72 Sie stammten mehrheitlich aus dem Trentino und aus »Reichsitalien«. Nimmt man die Ergebnisse der Sprachenzählung der Volkszählung 1910 als Maßstab, war ihre Zahl in den Jahren vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs auf etwa 6.000 Personen mit österreichischer Staatsbürgerschaft und etwa 1.500 italienische Staatsbürger angewachsen.73 Aller Wahrscheinlichkeit nach war die Zahl dieser Migranten jedoch höher, denn von den Nichtheimatberechtigten unter der Vor­arl­berger Bevölkerung stammten rund 8.000 aus dem Trentino und 1.500 aus »Reichsitalien«.74 Sieht man vom Sonderfall Triest einmal ab, war Vor­arl­berg das Kronland mit dem höchsten Ausländeranteil. Der überwiegende Teil der nicht in Vor­arl­berg geborenen Bevölkerung stammte aus dem Ausland oder aus dem Kronland Tirol.75 Die hohe Mobilität betraf nicht nur die Zu-, sondern auch die Abwanderung, für die es eine historisch weit zurückreichende Tradition gab. Eine vergleichsweise geringe Rolle spielte dabei das restliche Cisleithanien in dem im Jahr 1910 rund 7.500 geborene Vor­arl­berger gezählt wurden.76 Auch noch im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert wanderten saisonal fast 6.000 Vor­arl­bergerinnen und Vor­arl­berger in die Schweiz.77 Daneben spielten auch Frankreich, Luxemburg und die Niederlande, was die europäische Auswanderung anlangt, eine nicht zu unterschätzende Rolle.78 All das sollte sich nach dem Auseinander71 Eigene Berechnungen nach K. k. Statistische Zentralkommission (Bearb.), Die Ergebnisse der Volkszählung vom 31. Dezember 1910 in den im Reichsrate vertretenen Königreichen und Ländern. Die Alters- und Familienstandsgliederung und Aufenthaltsdauer (Österreichische Statistik NF 1, Heft 3), Wien 1914, S. 100–119. 72 Mathis, Vor­arl­berg als Zuwanderungsland, S. 114–116. 73 K. k. Statistische Zentralkommission (Bearb.), Volkszählung 1910, Bd. 1, Heft 2, S. 44  ; Bd. 2, Heft 2, S. 7. 74 Mathis, Vor­arl­berg als Zuwanderungsland, S. 111. 75 Eigene Berechnungen nach K. k. Statistische Zentralkommission (Bearb.), Die Ergebnisse der Volkszählung vom 31. Dezember 1910 in den im Reichsrate vertretenen Königreichen und Ländern. Die Bevölkerung nach der Gebürtigkeit, Religion und Umgangssprache in Verbindung mit dem Geschlechte, nach dem Bildungsgrade und Familienstande  ; die körperlichen Gebrechen  ; die soziale Gliederung der Haushalte (Österreichische Statistik NF 1, Heft 2), Wien 1914, S. 20 f. 76 Mathis, Vor­arl­berg als Zuwanderungsland, S. 103. 77 Markus W. Hämmerle, Glück in der Fremde  ? Vor­arl­berger Auswanderer im 19. Jahrhundert (Schriftenreihe der Rheticus-Gesellschaft 25), Feldkirch 1990, S. 53. 78 Annemarie Steidl, On Many Roads. Internal, European, and Transatlantic Migration in the Habsburg Monarchy, 1850–1914, ungedr. Habil., Wien 2014, S. 103 f.

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Andreas Weigl

brechen des gemeinsamen Wirtschaftsraumes und nicht zuletzt durch die nach 1918 von allen europäischen Ländern implementierten strikten Pass- und Arbeitsbewilligungsregimes drastisch ändern.79 Dennoch kam es in Österreich während der Zeit der Hyperinflation und der ökonomischen Erholung in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre zu einer namhaften »Gastarbeiter«-Wanderung nach Deutschland und Frankreich, die sich allerdings nicht exakt regional verorten lässt. Es ist jedoch davon auszugehen, dass am Anstieg der Zahl der beschäftigten Österreicher in Deutschland, die sich von 1924 bis 1928 von 4.800 auf 8.700 nahezu verdoppelte, Vor­arl­berger Arbeitsmigranten nicht unmaßgeblich beteiligt waren.80 Dem stand allerdings, wie der positive Wanderungssaldo der Jahre 1923–1934 belegt, eine Zuwanderung aus anderen Teilen Österreichs und dem Ausland gegenüber, die die Abwanderung leicht übertraf. 3. Der Erste Weltkrieg und seine demographischen Folgen Wie Studien zu Wien und Niederösterreich gezeigt haben,81 kam dem Ersten Weltkrieg hinsichtlich seines Einflusses auf die demographische Transition eine durchaus ambivalente Rolle zu. Einerseits sorgte er für einen erheblichen Rückschlag, was den zuvor beobachteten Rückgang der Sterblichkeit und den damit in Verbindung stehenden epidemiologischen Wandel anlangt. Andererseits erwies er sich mittel- und langfristig auch als Beschleuniger sozial- und gesundheitspolitischer Maßnahmen und damit des Übergangs eines von Infektionskrankheiten zu degenerativen Erkrankungen bestimmten Todesursachenspektrums. Auch der Fortgang der Fertilitätstransition erfuhr eine Beschleunigung, deren tiefere Ursachen in den durch den Krieg ausgelösten gesellschaftlichen Umbrüchen zu suchen sind.

79 Andreas Weigl, Demographic Transitions Accelerated  : Abortion, Body Politics, and the End of Supra-Regional Labor Immigration in Post-War Austria, in  : Günter Bischof/Fritz Plasser/ Peter Berger (Hg.), From Empire to Republic  : Post-World War I Austria (Contemporary Austrian Studies 19), New Orleans-Innsbruck 2010, S. 142–170, hier S. 146 f. 80 Felix Butschek, Der österreichische Arbeitsmarkt – von der Industrialisierung bis zur Gegenwart, Stuttgart 1992, S. 101. 81 Andreas Weigl, Eine Stadt stirbt nicht so schnell. Demographische Fieberkurven am Rande des Abgrunds, in  : Alfred Pfoser/Andreas Weigl (Hg.), Im Epizentrum des Zusammenbruchs. Wien im Ersten Weltkrieg, Wien 2013, S. 62–71  ; Andreas Weigl, Kriegsverluste und Stagnation  : Die demographischen Wirkungen des Weltkriegs, in  : Fern der Front – mitten im Krieg. Alltagsleben im Hinterland 1914–1918 (Studien und Forschungen aus dem Niederösterreichischen Institut für Landeskunde), St. Pölten 2016 (in Vorbereitung).



Migration, Industrialisierung, Weltkrieg 

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Bevölkerungsbilanz Vor­arl­bergs im Ersten Weltkrieg82 Bevölkerung1 Ende Dezember 1913

150.835

Geburtenbilanz2 1914–1918

622

Geburtenbilanz2 1919

564

Gefallene (außerhalb Vor­arl­bergs verstorben)

5.000

3

errechnete Wanderungsbilanz August 1914–1920

–13.809

Bevölkerung 1) Ende Jänner 1920

133.212

1 Anwesende Bevölkerung. 2 Bezogen auf den Geburts- und Sterbeort. 3 Schätzung.

Am Vorabend des Ersten Weltkriegs lebten rund 151.000 Menschen in Vor­arl­ berg. Nach dem Krieg waren es rund 18.000 weniger. Der Bevölkerungsrückgang Vor­arl­bergs zwischen den Volkszählungen von 31.12.1910 und 25.1.1920 war allerdings durch die hohen Geburtenüberschüsse in den Vorkriegsjahren geringer. Er betrug rund 12.000. Das entsprach einem jährlichen Rückgang in dieser Zeitspanne von -0,9 Prozent während dieser in Österreich insgesamt nur –0,34 betrug. Der kriegsbedingte Bevölkerungsverlust war im Gegensatz zu anderen Bundesländern auch bis 1923 noch nicht völlig aufgeholt. Bevölkerungsentwicklung in Vor­arl­berg und Österreich 1910–192383 Jahr

Vor­arl­berg Bevölkerung1

Österreich JVR2

Bevölkerung1

JVR2

1910

145.408

1920

133.212

–0,87

6.426.294

–0,34

1923

139.999

1,67

6.535.759

0,56

1 2

6.646.537

Anwesende Bevölkerung. JVR = Jährliche Veränderungsrate.

82 K. k. statistische Zentralkommission (Bearb.), Bewegung der Bevölkerung Österreichs im Jahre 1913 (Österreichische Statistik NF 14, Heft 1), Wien 1918, S.  16  ; Bundesamt für Statistik (Hg.), Statistisches Handbuch für die Republik Österreich 3, Wien 1923, S. 2  ; Bundesamt für Statistik, Die Bewegung der Bevölkerung in den Jahren 1914 bis 1921, Wien 1923, S. 16, 45  ; Wilhelm Winkler, Die Totenverluste der österreichisch-ungarischen Monarchie nach Nationalitäten, Wien 1919, S. 23  ; eigene Berechnungen. 83 Bundesamt für Statistik (Hg.), Statistisches Handbuch für die Republik Österreich 3, Wien 1923, S. 2, S. 5  ; 5 (1924), S. 4  ; eigene Berechnungen.

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Bürser Schlucht mit Blick in Richtung Bludenz, im Hintergrund die 1836–38 erbaute, 1856–57 erweiterte sechstöckige Lünerseefabrik der Firma Getzner, um 1890 (Foto: Thaddäus Immler; vorarlberg museum)

Überraschenderweise trat ein größerer Teil des Bevölkerungsrückgangs in Vor­ arl­berg nicht während des Krieges, sondern unmittelbar vor und mit Kriegsbeginn ein. Wie sich auch aus der errechneten Wanderungsbilanz – abzüglich der außerhalb Vor­arl­bergs Gefallenen  – von rund – 14.000 zwischen Ende 1913 und Jänner 1920 wahrscheinlich machen lässt, kehrte mit Ausbruch des Krieges vor allem der italienischsprachige Teil der Bevölkerung in seine Heimatgebiete zurück.84 Diese These wird durch die Tatsache gestützt, dass nach Ende des Ersten Weltkriegs beispielsweise in Bludenz im Jahr 1919 nur etwa 300 nichtheimatberechtigte Trentiner eine Erklärung für die (deutsch-)österreichische Staatsbürgerschaft abgaben beziehungsweise im Jahr 1920 dafür optierten.85 Vor Ausbruch des Weltkrieges hatten etwa 3.100 Personen im Bezirk Bludenz

84 Fink/Redler, Wirtschaft und öffentliches Leben, S. 105. 85 Robert Rollinger, Die trentinische Einwanderung nach Vor­arl­berg. Ein Überblick, in  : Burmeister/Rollinger, Auswanderung, S. 27–100, hier S. 31 f.



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gelebt, die aus anderen Regionen der österreichischen Reichshälfte stammten.86 Der überwiegende Teil davon stammte wohl aus dem Trentino. Ein kleiner Teil des Bevölkerungsrückgangs war auch auf die Überseemigration nach Kriegsende zurückzuführen, die aufgrund bestehender Migrationsnetze auf die USA konzentriert war. Die Amerikawanderung Vor­ arl­ berger Migranten hatte eine weiter zurückreichende Tradition. Als einzigem (Bundes-) Land des heutigen Österreich kam es zu einer ersten größeren Auswanderungswelle schon in den 1850er Jahren. Die Emigranten der Nachkriegsabwanderung stammten – wie schon vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs – vor allem aus dem Raum Lustenau, Höchst und Wolfurt.87 Das Ausmaß dieser Überseemigration ist nicht genau zu bestimmen, doch ist statistisch dokumentiert, dass in den Jahren 1919–1937 offiziell 1.584 Vor­arl­bergerinnen und Vor­arl­berger nach Übersee ausgewandert waren.88 Ein größerer Teil dürfte unmittelbar nach dem Krieg in die USA emigriert sein. Die Vor­arl­berger US-Auswanderer waren Großteils gut ausgebildete Chancenwanderer, die nicht aus drängender Armut, sondern infolge der Nachfrage auf dem amerikanischen Arbeitsmarkt ihr Glück in Übersee versuchten.89 Zu einem Viertel ging der Bevölkerungsverlust Vor­arl­bergs während und unmittelbar nach dem Weltkrieg auf das Konto der erheblichen Zahl an Gefallenen. Vor­arl­berg zählte in dieser Hinsicht zu den überdurchschnittlich betroffenen Ländern. Nach den Berechnungen Ingo Binders betrug die Zahl der »Kriegstoten« (einschließlich Vermisster und in der Gefangenschaft Verstorbener) 4.791.90 Bezogen auf 1.000 der Heimatbevölkerung wies Vor­arl­berg nach Kärnten den zweithöchsten Wert unter den Alpenländern auf. Die entsprechende Quote lag weit über dem Gesamtdurchschnitt der Monarchie. Berücksichtigt sind bei diesem Vergleich allerdings nur die bis Ende 1917 registrierten Toten.91 Im Gegensatz zu den Gefallenen fiel das Geburtendefizit während des Krieges, bezogen auf die in Vor­arl­berg Geborenen und Gestorbenen, gering aus. Es beschränkte sich auf die Jahre 1916–1918. Nach der ereignisortbezogenen offiziellen Statistik der natürlichen Bevölkerungsbewegung wurde es allein durch die »Nachziehgeburten« des Jahres 1919 ausgeglichen. Da die Gefallenen jedoch am Sterbeort an der Front oder in Kriegsspitälern und Lazaretten gezählt wurden, ist diese Bilanz verzerrt. Nach der Geburtenbilanz der weiblichen Bevöl86 K.k. statistische Zentralkommission, Ergebnisse der Volkszählung 1910, Bd. 1, Heft 2, S. 5. 87 Pichler, Vor­arl­berger Amerikawanderung, S. 71. 88 Michael John, Arbeitslosigkeit und Auswanderung in Österreich, in  : Horvath/Neyer, Auswanderungen aus Österreich, S. 83–110, hier S. 88. 89 Steidl, On Many Roads, S. 200 f. 90 Ingo Binder, Vor­arl­berg im Ersten Weltkrieg 1914–1918, phil. Diss. Innsbruck 1959, S. 48. 91 Winkler, Totenverluste, S. 19–36.

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kerung, die von dieser kriegsbedingten Verzerrung weitgehend unberührt blieb, betrug das Defizit der Jahre 1916–1918 rund 1.000 und wurde nur zur Hälfte durch die positiven Bilanzen der Jahre 1915 und 1919 kompensiert. Insgesamt ist dennoch von einem geringen Beitrag der Übersterblichkeit der Zivilbevölkerung an der »Heimatfront« zum Bevölkerungsverlust auszugehen. Lebendgeborene und Sterbefälle in Vor­arl­berg nach dem Geschlecht 1913–192092 Jahr

Lebendgeborene

Sterbefälle

Geburtenbilanz

Gesamt

männlich

weiblich

Gesamt

männlich

weiblich

Gesamt

1913

3.968

2.087

1.881

2.415

1.233

1.182

1.553

männlich 854

weiblich 699

1914

3.853

1.970

1.883

2.399

1.234

1.165

1.454

736

718

1915

2.702

1.336

1.366

2.354

1.167

1.187

348

169

179

1916

1.761

897

864

2.222

1.113

1.109

–461

–216

–245

1917

1.645

845

800

1.956

958

998

–311

–113

–198

1918

1.748

895

853

2.345

1.063

1.282

–597

–168

–429

1919

2.561

1.327

1.234

0.992

1.040

0.992

1.569

287

242

1920

3.287

1.710

1.577

2.229

1.043

1.186

1.058

667

391

Nimmt man die Zahl der weiblichen Sterbefälle des Jahres 1913 als Basis, dann kennzeichneten die Kriegsjahre in Vor­arl­berg ein Anstieg der Infektionskrankheiten um etwa zehn Prozent und eine Vermehrung der Herz-, Kreislauftoten um fast ein Viertel. Der Anstieg der Infektionstoten beruhte im Gegensatz zu den übrigen heutigen Bundesländern bemerkenswerterweise nicht auf Zunahme der Tuberkulosesterblichkeit. Diese ging im Gegensatz zu allen anderen späteren Bundesländern und auch anderen cisleithanischen Kronländern sogar zurück, und zwar von 31 auf 10.000 Einwohner im Jahr 1913 auf 26 im Jahr 1917, um dann 1918 lediglich auf 28,6 anzusteigen. Zum Vergleich  : Der entsprechende Wert für die Republik Österreich (ohne Burgenland) für das Jahr 1918 betrug 40.93 Da die Tuberkulosesterblichkeit mit dem Ernährungszustand der Bevölkerung und den Wohnverhältnissen, vor allem den hygienischen Bedingungen und der Wohndichte, hoch korreliert ist, sprechen die Zahlen dafür, dass die Vor­arl­berger Zivilbevölkerung von dem im Ersten Weltkrieg in der 92 K. k. statistische Zentralkommission, Bewegung der Bevölkerung 1913, S. 44, S. 88  ; Bundesamt für Statistik, Bewegung der Bevölkerung 1914–1921, S. 16, S. 45, S. 115, S. 124  ; Statistisches Handbuch 5 (1924), S. 11, S. 15. 93 Dietrich-Daum, Sozialgeschichte der Tuberkulose, S. 238, S. 266.



Migration, Industrialisierung, Weltkrieg 

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Habsburgermonarchie allgegenwärtige Hunger94 nur eingeschränkt betroffen und die allgemeine Versorgungssituation relativ gut war.95 Auch »Kriegsseuchen« wie Cholera, Ruhr und Typhus forderten in Vor­arl­berg nur wenige Opfer. Bei einer Betrachtung nach Einzeljahren ist klar erkennbar, dass der Anstieg der Infektionssterblichkeit ausschließlich ein Ergebnis der ab Herbst 1918 auftretenden Grippepandemie war. Diese erreichte ihren Höhepunkt in Vor­arl­berg im vierten Quartal 1918. Offiziell verstarben in den Monaten Oktober bis Dezember 386 Menschen an der »Spanischen Grippe«, weitere 42 im ersten Quartal 1919. Tatsächlich war die durch die Pandemie ausgelöste Übersterblichkeit jedoch deutlich höher, da vielfach Grippeopfer – unter der großen Anzahl der ungefähr 80.000 erkrankten Vor­arl­berger und Vor­arl­bergerinnen – offiziell an Lungenentzündung verstarben. Weit überdurchschnittlich betroffen war die Altersgruppe der 15- bis unter 30-Jährigen. Hier kam es im Vergleich mit dem vierten Quartal 1917 beinahe zu einer Verfünffachung der Sterbefälle. Im österreichischen Vergleich zählte Vor­arl­berg allerdings nicht zu jenen Regionen, die überdurchschnittlich viele Grippeopfer zu verzeichnen hatten.96 Unter den sonstigen Todesursachen sticht vor allem der Rückgang der »äußeren Todesursachen«, also primär Unfälle, ins Auge. Er betraf ebenso beide Geschlechter wie der Anstieg der Herz-/Kreislauftodesfälle der bei der männlichen Bevölkerung mit 40 Prozent sogar noch stärker ausfiel. Obwohl bereits gegen Jahresende 1914 größere Versorgungsprobleme bei Brot und Mehl auftraten,97 nahm die Versorgungsnot in Vor­arl­berg spiegelbildlich zur Statistik der Sterbefälle erst in den letzten Kriegsmonaten katastrophale Ausmaße an. Doch erst im Juni 1919 lief die Kinderausspeisung der Amerikanischen Kinderhilfsaktion für Österreich an, und im Oktober 1919, wie am Beispiel Dornbirns gezeigt wurde, erreichte die Getreideversorgung ihren Tiefpunkt, ehe sich die Situation in der Folge langsam verbesserte.98 Dass die Hungerjahre Vor­arl­berg besonders bei den Heranwachsenden ihre tiefen Spuren hinterlassen hatten, wird unter anderem an dem vom Wiener Kinderarzt Clemens Pirquet entwickelten Body-Mass-Index »Pelidisi« erkennbar, der auf 94 Alexander Watson, Ring of Steel. Germany and Austria-Hungary in World War I., New York 2014. 95 Wolfgang Weber, Vor­arl­berg, in  : Hermann J. W. Kuprian/Oswald Überegger (Hg.), Katastrophenjahre. Der Erste Weltkrieg und Tirol, Innsbruck 2014, S. 509–527, hier S. 525. 96 Siegfried Rosenfeld, Die Grippeepidemie des Jahres 1918 in Österreich, Wien 1921, S. 13 f., S. 39, S. 43 f., S. 46 f., S. 54. 97 Gerhard Wanner, Für Gott, Kaiser und Vaterland in die Barbarei. Das erste Kriegsjahr in Vor­ arl­berg 1914, in  : Kurt Tschegg (Hg.), Für Gott, Kaiser und Vaterland (Schriftenreihe der Rheticus-Gesellschaft 62), Feldkirch 2014, S. 11–185, hier S. 69. 98 Böhler, Hunger im Ländle, S. 82  ; Böhler, Dornbirn 1914–1945, S. 141 f., S. 146 f.

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Andreas Weigl

der Sitzhöhe und dem Körpergewicht beruht.99 Die wissenschaftliche Begründung dieses Index’ ist zwar nach modernen Kenntnissen nicht haltbar, dennoch liefert er einen passablen Indikator für das Ausmaß der Unterernährung. Nach den im Rahmen der Amerikanischen Kinderhilfsaktion durchgeführten Reihenuntersuchungen waren noch 1920/21 24 Prozent der untersuchten 10.719 Vor­arl­berger Kinder stark unterernährt, in Bregenz sogar 26 (Pelidisi bis 90). Zum Vergleich  : Im österreichischen Durchschnitt lagen die entsprechenden Anteile bei 21,5 Prozent, in Niederösterreich gar nur bei 15,5.100 Kein Wunder also, dass die Kinderhilfsaktion insgesamt 20 Ausspeisestellen in Vor­arl­berg betrieb, die größten davon im Waisenhaus in Bregenz, in Feldkirch und Bludenz. Täglich wurden 5.000 Essensportionen an Vor­arl­berger Kinder ausgegeben.101 Index der Sterbefälle in Vor­arl­berg nach Geschlecht und Todesursachen 1913–1919102 Todesursachengruppe, Geschlecht männlich Infektionskrankheiten + Lungenentzündung dar. Tuberkulose + Lungenentzündung »Kriegsseuchen« bösartige Neubildungen Herz-, Kreislauferkrankungen

1913 = 100 1915/18 103,5 87,0 308,3 84,9 139,2

Krankheiten des frühen Kindesalters

39,0

sonstige Krankheiten

83,2

äußere Todesursachen

66,7

Gesamt

89,2

weiblich Infektionskrankheiten dar. Tuberkulose, Lungenentzündung

108,1 89,0

 99 Gabriele Dorffner/Gerald Weippl, Clemens Freiherr von Pirquet. Ein begnadeter Arzt und genialer Geist, Wien 2004, S. 167–185. 100 Clemens Pirquet, Ernährungszustand der Kinder in Österreich während des Krieges und der Nachkriegszeit, in  : Clemens Pirquet (Hg.), Volksgesundheit im Krieg, Tl. 1, Wien-New Haven 1926, S. 151–179, hier S. 161–166. 101 American Relief Administration European Children’s Fund, List of Feeding Stations in Austria (Mitteilungen des Generalkommissariates der Amerikanischen Kinderhilfsaktion Nr. 18–26, Dezember 1920), Wien 1921, S. 99, S. 106 f. 102 K. k. statistische Zentralkommission, Bewegung der Bevölkerung 1913, S. 152 f.; Bundesamt für Statistik, Bewegung der Bevölkerung 1914–1921, S. 101  ; eigene Berechnungen.



Migration, Industrialisierung, Weltkrieg 

Todesursachengruppe, Geschlecht

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1913 = 100

»Kriegsseuchen« Kindbettfieber bösartige Neubildungen Herz-, Kreislauferkrankungen

116,7 91,4 123,4

Krankheiten des frühen Kindesalters

40,1

sonstige Krankheiten

91,8

äußere Todesursachen

60,5

Gesamt

96,8

Was für Kinder, Jugendliche und Erwachsene zutraf, galt nicht für Säuglinge. Die ohnehin vergleichsweise niedrige Säuglingssterblichkeit nahm auch in den Kriegsjahren einen relativ günstigen Verlauf. In keinem Kriegsjahr kam es zu einem Anstieg, und ab 1917 fiel die Säuglingssterberate sogar recht deutlich. Der Abwärtstrend setzte sich auch nach dem Krieg fort und betraf bemerkenswerterweise sowohl eheliche als auch uneheliche Geburten, was auf insgesamt relativ günstige Lebensbedingungen für Mütter und Neugeborene hindeutet. Die auch für andere europäische Städte und Regionen gemachte, mit gewissen Einschränkungen zutreffende Aussage »war is good for babies«103 bestätigte sich auch am Beispiel Vor­arl­bergs. Der massive Rückgang der Geburtenzahlen im Krieg war durch die Einrückung vieler Ehemänner und der traditionell wenig verbreiteten Illegitimität gleichsam vorprogrammiert. Die längerfristigen Einflüsse des Krieges und der gesellschaftlichen Umbrüche nach dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie auf das generative Verhalten lassen sich daher durch einen Vergleich der Zahl der Lebendgeborenen, bezogen auf 1.000 Frauen im Alter von 15 bis 44 Jahren, der sogenannten Allgemeinen Fertilitätsziffer, der Vor- und der unmittelbaren Nachkriegsjahre eher fassen. Diese Ziffer für den Durchschnitt der Jahre 1919–1921 ging im Vergleich zu den Jahren 1908–1913 um rund 25 Prozent zurück. Der Rückgang der Fertilität wird aber bis zu einem gewissen Grad unterschätzt, da vor allem das Jahr 1919 durch »Nachziehgeburten« geprägt war. Tatsächlich kam es in der Folge in der Zwischenkriegszeit zu einem wesentlich ausgeprägteren Fertilitätsrückgang auf fast ein Viertel des Vorkriegsniveaus, doch war dieser Rückgang nicht den vor dem Ersten Weltkrieg geschlossenen 103 Jörg Vögele, Sozialpädiatrie, Säuglingssterblichkeit und der Erste Weltkrieg, in  : Ute Caumanns/ Fritz Dross/Anita Magowska (Hg.), Medizin und Krieg in historischer Perspektive. Medycyna i wojna w perspekywie historycznej, Frankfurt a. M. 2012, S. 335–345.

50  |

Andreas Weigl

Ehekohorten zuzurechnen. Vergleicht man die Mitte der 1930er Jahre noch bestehenden, vor 1904 geschlossenen Ehen mit jenen, die 1904 bis 1913 geschlossen worden waren, dann lässt sich nur ein geringfügiger Rückgang der Kinderzahl feststellen. Mit 6,5 Prozent war er in Gemeinden mit 2.000 bis 10.000 Einwohnern noch am stärksten ausgeprägt. In den Kleingemeinden reduzierten die Ehepaare, die vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs geheiratet hatten, ihre Kinderzahl überhaupt nicht. Es kam im Gegenteil sogar zu einem Anstieg um fünf Prozent. Erst in den Kriegsehen kam es zu einem entscheidenden Wandel des generativen Verhaltens. Nun ging die Zahl der Kinder im Vergleich zu den 1904–1913 geschlossenen Ehen um zehn Prozent zurück, wobei allerdings die Kleingemeinden mit einem relativen geringen Rückgang wieder eine Ausnahme bildeten. Säuglingssterblichkeit in Vor­arl­berg 1914–1920104 Säuglingssterberate1 ehelich Jahr

m

unehelich w

m

Gesamt w

m

w

z

1914

159,1

118,1

241,7

153,2

164,0

120,4

142,7

1915

151,5

116,4

230,8

141,5

157,6

118,3

137,8

1916

154,9

114,3

202,5

126,8

159,0

115,3

137,6

1917

138,1

104,5

109,8

135,1

135,4

107,3

121,7

1918

133,8

103,8

162,2

70,7

136,1

100,0

118,5

1914/18

147,5

111,4

189,4

125,5

150,4

112,3

131,6

1919

110,3

83,8

114,6

85,4

110,6

83,9

97,8

1920

112,5

98,6

117,2

94,0

112,9

98,3

105,9

1919/20

111,4

91,2

115,9

89,7

111,7

91,1

101,9

m = männlich, w = weiblich, z = zusammen. 1 Säuglingssterbefälle bezogen auf 1.000 Lebendgeborene.

104 Bundesamt für Statistik, Bewegung der Bevölkerung 1914–1921, S. 16, S. 70, S. 115, S. 127  ; eigene Berechnungen.



Migration, Industrialisierung, Weltkrieg 

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Fertilitätsindizes für Vor­arl­berg zirka 1910–1935105 Periode

AFZ1

Coale-Index ges.2

Coale-Index ehelich

1908–1913

122,1

0,288

0,700

1919/213

94,7

0,283

0,635

1933/36

36,8

0,169

0,393

1

Allgemeine Fertilitätsziffer  : Lebendgeborene auf 1.000 Frauen im Alter von 15 bis unter 45 Jahren. 2 Index der (ehelichen) Fertilität. Maximale Fertilität der »Hutterer« = 1,0. 3 Schätzung des Coale-Index der ehelichen Fertilität teilweise beruhend auf Gleichverteilungsannahmen innerhalb einiger Altersgruppen.

Kinderzahl der 1934 noch bestehenden Erst-Ehen in Vor­arl­berg nach der Eheschließungsperiode106 Gemeinden mit … Einwohnern Insgesamt Eheschließung 1890–1903 1904–1913 Veränderung in % 1914–1918 Veränderung in %

10.001–100.000

Kinder/Ehe

Kinder/Ehe (1+)

Kinder/Ehe

Kinder/Ehe (1+)

3,65

4,17

3,16

3,66

3,60

4,04

3,07

3,48

–1,36

–3,31

–2,75

–4,93

3,23

3,70

2,70

3,11

–10,22

–8,29

–12,07

–10,82

1+ = Ehen mit zumindest einem Kind.

105 K. k. Statistische Zentralkommission, Bewegung der Bevölkerung 1913, S. 44  ; Bundesamt für Statistik, Bewegung der Bevölkerung 1914–1921, S. 16  ; Statistische Zentralkommission (Hg.), Ergebnisse der außerordentlichen Volkszählung vom 31. Jänner 1920. Alter und Familienstand, Wohnparteien (Beiträge zur Statistik der Republik Österreich 6), Wien 1921, S. 41  ; Bundesamt für Statistik, Die Ergebnisse der Volkszählung 1934, Textband, Wien 1935, S. 35  ; Bundesamt für Statistik (Bearb.), Die natürliche Bevölkerungsbewegung in Österreich in den Jahren 1933 bis 1936. Österreichische Heiratsordnung 1933/34 (Statistik des Bundesstaates Österreich 12), Wien 1937  ; Coale/Treadway, Summary, S. 80 f. 106 Bundesamt für Statistik (Bearb.), Die Ergebnisse der Volkszählung vom 22. März 1934. Vor­arl­ berg (Statistik des Bundesstaates Österreich 10), Wien 1935, S. 78 f.; eigene Berechnungen.

52  |

Andreas Weigl

Gemeinden mit … Einwohnern 2.001–10.000

bis 2.000

Kinder/Ehe

Kinder/Ehe (1+)

Kinder/Ehe

1890–1903

3,92

4,39

3,84

4,44

1904–1913

3,67

4,06

4,05

4,55

–6,45

–7,54

5,31

2,57

3,21

3,70

3,89

4,41

–12,59

–8,96

–3,91

–3,08

Veränderung in % 1914–1918 Veränderung in %

Kinder/Ehe (1+)

Conclusio Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die unmittelbaren demographischen Wirkungen des Ersten Weltkriegs in Vor­arl­berg vor allem aus einer vergleichsweise hohen Zahl an Gefallenen und in ihre Herkunftsgebiete rückwandernden Arbeitsmigranten bestanden. Auf die natürliche Bevölkerungsbewegung der Zivilbevölkerung hatte der Erste Weltkrieg nur relativ geringen Einfluss. Mittelfristig kam es allerdings zu bedeutsamen Änderungen der Mortalität und Fertilität, die mit dem Krieg indirekt in Verbindung zu bringen sind. In der Nachkriegsgeneration beschleunigte sich jene Beschränkung der Kinderzahl, wie sie bereits in den Jahren vor Ausbruch des Krieges in den größeren Gemeinden zu erkennen war, deutlich, und wurde von Kohorten bestimmt, welche während des Krieges und in der Zwischenkriegszeit heirateten. Auch der Rückgang der Sterblichkeit beruhte bis zu einem gewissen Grad auf sozialpolitischen Reformen, deren Notwendigkeit die Not der Zivilbevölkerung im und nach dem Krieg so drastisch vor Augen geführt hatte. Durch Sozialpolitisierung und jenen technologischen Wandel, den man als »zweite Industrielle Revolution« bezeichnet, stabilisierten sich insgesamt die Arbeits- und Familienbeziehungen, was sich auch in geringerer Mobilität ausdrückte. Deren Rückgang hatte allerdings auch mit dem Verlust des gemeinsamen Wirtschaftsraums in der Donaumonarchie zu tun. Insgesamt verfestigte sich die »landestabile« Bevölkerung. Vor dem Ersten Weltkrieg waren 79 Prozent der Vor­arl­berger Bevölkerung in Vor­arl­berg geboren, 83 Prozent 1934. Die großen Veränderungen von Mortalität, Fertilität und Migration hätten ohne Zweifel auch ohne Ausbruch des Ersten Weltkrieges über kurz oder lang stattgefunden, aber der Krieg und seine Folgen erwiesen sich als Beschleuniger eines transitorischen Prozesses, der in den 1930er Jahren seinen vorläufigen Abschluss fand.



Migration, Industrialisierung, Weltkrieg 

| 53

Bevölkerung Vor­arl­bergs nach dem Geburtsland 1910 und 1934107

Geburtsland

1910

1934

absolut

in %

absolut

in %

Österreich1

130.443

89,7

140.463

90,4

dar. Vor­arl­berg

115.351

79,3

128.462

82,7

Tirol

11.517

7,9

5.505

3,5

Ausland (einschl. unbek.)

14.965

10,3

14.939

9,6

145.408

100,0

155.402

100,0

Zusammen

1

heutiger Gebietsstand, 1910  : einschließlich Südtirol, Untersteiermark, ausschließlich Burgenland.

107 K. k. statistische Zentralkommission, Volkszählung 1910, Bd. 1, Heft 2, S. 20 f.; Bundesamt für Statistik, Volkszählung 1934, Vor­arl­berg, S. 12 f.; eigene Berechnungen.

Dieter Petras

Die Auswanderung im Walgau von 1700 bis 1814 Dieser Beitrag umfasst auszugsweise die im Rahmen eines Dissertationsprojekts erhobenen und noch unveröffentlichten Forschungsergebnisse zu den »Migrationen im Walgau von 1700 bis 1914«. Während der Vortrag im Rahmen der AIGMA-Tagung im November 2013 in groben Zügen den Forschungsstand vor einem Jahr hinsichtlich der Walgauer Ein-, Aus- und Binnenwanderungen im Zeitraum 1700 bis 1914 skizzierte, so beschränkt sich der vorliegende Beitrag auf die Auswanderungen von 1700 bis 1814. Denn einerseits sind zwar die Forschungen abgeschlossen, nicht jedoch die Auswertung sämtlicher Daten, und andererseits würde die Darstellung aller Migrationen den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Mit diesen Forschungen wurde in zweifacher Hinsicht Pionierarbeit geleistet, zum einen, da die Vor­arl­berger Migrationen des 18. Jahrhunderts bis dato gänzlich unerforscht blieben und zum anderen, weil es sich bisher niemand zur Aufgabe machte, die Migrantinnen und Migranten einer bestimmten Vor­arl­berger Region möglichst lückenlos zu erfassen. Die Region Der Walgau erstreckt sich entlang des Flusses Ill über eine Länge von etwa 20 Kilometern zwischen den beiden Städten Feldkirch und Bludenz. So wie das Gebiet des heutigen Vor­arl­berg insgesamt, war die Talschaft im 18. Jahrhundert herrschaftlich zersplittert. Zur Herrschaft Bludenz und Sonnenberg gehörten neben Bludenz und Nüziders auf der nördlichen Talseite die auf der anderen Illseite gelegenen Gemeinden Bürs, Nenzing und Frastanz. Zur Reichsherrschaft Blumenegg zählten bis zu deren Auflösung 1804 die Gemeinden Ludesch, Bludesch und Thüringen. Zum Gericht Jagdberg gehörten bis zu dessen Auflösung 1808 die Gemeinden Satteins, Schlins, Röns, Schnifis sowie Düns und Dünserberg.1 Dagegen war die auf einem Sattel zwischen dem Walgau und dem ins Rheintal führenden Valdunatal gelegene Gemeinde Göfis Teil des Gerichts Rankweil-Sulz. Diese Gerichtsverfassung wurde mit der Besetzung des Landes durch die Bayern und Franzosen und der Abtretung des Landes Vor­arl­berg an 1

Dazu umfassend Alois Niederstätter/Manfred Tschaikner, Das Gericht Jagdberg. Von der Einrichtung 1319 bis zur Aufhebung 1808, Nenzing 2007.

56  |

Dieter Petras

das Königreich Bayern im Jahr 1806 aufgehoben. Die verwaltungstechnische Neuordnung nach dem Ende der Bayernherrschaft 1814 teilte den nordwestlichen Teil der Talschaft mit Frastanz, Göfis, Satteins, Schlins, Röns, Düns und Dünserberg dem Landgericht Feldkirch zu, den südöstlichen Teil mit Bludesch, Thüringen, Ludesch, Nüziders, Bludenz, Bürs und Nenzing dagegen dem Landgericht Bludenz und Sonnenberg.2 Diese politischen Zugehörigkeiten spiegeln sich in den Aktenbeständen, die für die Erforschung der Migrationen des sich über zwei bzw. drei Jahrhunderte erstreckenden Zeitraums herangezogen wurden. Der Zeitraum Die Festsetzung des Beginns des Untersuchungszeitraums auf das Jahr 1700 erfolgte mehr oder weniger willkürlich, wenngleich nicht grundlos. Zwar bietet sich keine politische Zäsur an, die eine Änderung im Wanderungsverhalten der Menschen an der Wende zum 18. Jahrhundert annehmen ließe, doch immerhin ist die Quellenlage für die Zeit davor so lückenhaft und dürftig, dass für das 17. Jahrhundert und davor keine Aussagen auf der Basis von Zahlen getroffen werden könnten, weshalb die Zeit vor 1700 nicht vergleichbar wäre mit der Zeit danach. Dies liegt einerseits an der im 18. Jahrhundert sukzessive verbesserten Quellenlage infolge von Fortschritten im Kanzlei- und Behördenwesen und andererseits an den erst ab dem späten 17. Jahrhundert konsequent und gewissenhaft geführten Heirats- und Sterbebücher der einzelnen Pfarreien, die eine sehr aufschlussreiche Quellengattung zu den Migrationen der jeweiligen Orte darstellen. Deshalb ist es erst gegen Ende des Jahrhunderts möglich, die Migrationen dieser Ortschaften gestützt auf vergleichbares Quellenmaterial darzustellen. Auch deshalb bot sich der Beginn des neuen Jahrhunderts an, um den unteren Rahmen dieser Forschungsarbeit abzustecken. Die obere Eingrenzung markiert das Jahr 1814 in dem die bayerische Herrschaft in Tirol und Vor­arl­berg endete. Die Quellen Bis fast zur Mitte des 18. Jahrhunderts finden sich Hinweise zu Walgauer Auswanderungen ausschließlich in den Pfarrmatriken. Aus den im Vor­arl­berger Landesarchiv verwahrten Akten des Vogteiamts Bludenz kommt man Emigran2

Benedikt Bilgeri, Geschichte Vor­arl­bergs, Bd. 4  : Zwischen Absolutismus und halber Autonomie, Graz 1982, S. 207 f.



Die Auswanderung im Walgau von 1700 bis 1814 

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Herrschaftsgrenzen im Walgau; Bludesch ist hier fälschlicherweise dem Gericht Jagdberg zugeordnet. Ausschnitt aus der Blasius-Hueber-Karte Provincia Arlbergica, um 1783 (Vor­arl­berger Landesarchiv/Blasius Hueber, Karte Provincia Arlbergica, 1783)

ten ab 1743 auf Spur, aus den ebenfalls im Vor­arl­berger Landesarchiv befindlichen Akten des Nenzinger Gemeindearchivs sporadisch ab 1748. Am selben Ort beinhaltet der Bestand des Vogteiamts Feldkirch Auswanderungsakten ab 1766, jener des Vogtei-, Ober- und Kreisamts Bregenz ab 1770. Die Bayerischen Akten setzen im Jahr 1807 ein, hier finden sich Hinweise zu Walgauer Auswanderern jedoch lediglich bis zum Jahr 1811. Das Landgericht Sonnenberg wurde zwar erst nach dem Ende der Bayernherrschaft eingerichtet, vereinzelt finden sich jedoch Hinweise auf weiter zurückliegende Auswanderungen. Im Tiroler Landesarchiv liefern die Akten des Jüngeren Guberniums um die Wende zum 19. Jahrhundert erste Hinweise zu Walgauer Migrantinnen und Migranten. Die wichtigsten Quellen sind jedoch die Heirats- und Sterbebücher der einzelnen Pfarren sowie die Akten der Vogteiämter in Feldkirch und Bludenz. Die Migrationen in den Walgaugemeinden Die Darstellung der einzelnen Walgaugemeinden erfolgt nicht alphabetisch, sondern der Topographie sowie den ehemaligen Herrschaftsgrenzen folgend entlang des nördlichen Illufers von Göfis im Nordosten nach Bludenz im Süd-

58  |

Dieter Petras

westen und in die entgegengesetzte Richtung entlang des südlichen Illufers von Bürs über Nenzing nach Frastanz. Göfis Die Göfner Bevölkerung wächst im Zeitraum 1754 bis 1810 von 700 auf 878 Personen. Im Untersuchungszeitraum 1700 bis 1814 verlassen 13 Personen ihren Heimatort und wandern aus. Als Destination erscheint einzig Liechtenstein mit sechs Migrationen einigermaßen signifikant. Im selben Zeitraum gehen vier Personen in die Schweiz, davon eine in den Kanton Wallis und drei nach St. Gallen, zwei Personen wandern ins Schwabenland und eine ins französische Elsass. Bei einem Auswanderer in die Schweiz handelt es sich um einen Wagner, bei jenem nach Frankreich um einen Maurer. Unter den 13 Personen sind sechs Frauen, vier in die Schweiz und zwei nach Liechtenstein, die sich jeweils dorthin verheiraten. Bei zweien ist in den Quellen vermerkt, dass die Heirat für sie »ein großes Glück« bedeute, gemeint ist in jedem Fall, dass sich die Heirat für eine vermögenslose Person finanziell günstig auswirkte. Bei den übrigen Personen ist davon auszugehen, dass es sich um Angehörige bäuerlicher Berufe auf Erwerbssuche handelte. Insgesamt war die Auswanderung aus Göfis im Vergleich zu anderen Walgaugemeinden vergleichbarer Größe in diesem Zeitraum eher schwach. Ziel Frankreich

Personen 1

Deutschland

2

Schweiz

4

Liechtenstein

6

Gesamt

13

Satteins Die Satteinser Bevölkerung wächst im Zeitraum 1754 bis 1810 von 650 auf 699 Personen. Im Untersuchungszeitraum wandern 41 Bewohner aus ihrem Heimatort aus und somit etwa dreimal so viele Personen wie im Nachbarort Göfis. Die Destination, die den meisten Zulauf findet, ist Frankreich mit 17 Immigranten aus Satteins, davon allein nach Lothringen 15, darunter sieben Maurer und ein Zimmermann. Es scheint wahrscheinlich, dass sich auch die übrigen sieben auf dem Bau verdingten, möglicherweise aber als Taglöhner, da



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Die Auswanderung im Walgau von 1700 bis 1814 

Fachkräfte in den Quellen zumeist mit Angabe des Berufs vermerkt sind. 13 Satteinser zieht es nach Deutschland, mit sechs Personen die meisten nach Baden gefolgt von drei Personen nach Schwaben. Je ein Satteinser geht nach Oberbeziehungsweise Unterfranken sowie in das Gebiet des heutigen Saarland, das für die Emigranten dieser Zeit wohl zum selben Migrationsraum gehört wie das benachbarte Lothringen. Unter diesen 41 Personen sind acht Frauen, drei gehen in die Schweiz, drei nach Deutschland und eine ins französische Elsass. Eine Satteinserin stirbt 1711 im badischen Bodman, eine weitere 1724 im elsässischen Haguenau und eine 1741 im badischen Hagnau. Bei vier der Frauen handelt es sich um Heiratsverbindungen  : Eine Frau heiratet 1785 nach Balgach und eine weitere 1811 nach Widnau in der Schweiz  ; eine Satteinserin, die sich schon zwanzig Jahre im Fürstenberg-Heiligenbergischen Deggenhausertal als Magd verdingte, macht 1801 am selben Ort eine mehr oder minder gute Partie, an dem ihre Schwester bereits verheiratet ist. Zwei Satteinser sterben in Italien, der eine in Sizilien, der andere als Lastenträger (»clitellarius«) in Neapel. Ziel

Personen

Spanien

1

Luxemburg

2

Italien

2

Schweiz

6

Deutschland

13

Frankreich

17

Gesamt

41

Schlins Die Schlinser Bevölkerung wächst im Zeitraum 1754 bis 1810 von 320 auf 419 Personen. Im Untersuchungszeitraum 1700 bis 1814 verlassen 14 Personen ihren Heimatort und wandern aus. Damit ist die Auswanderung aus Schlins niedriger als in der Jagdberger Nachbargemeinde Satteins, aber höher als in Göfis, das zum Gericht Rankweil-Sulz gehört. Mit fünf Personen zieht es die meisten Schlinser Auswanderer in die Schweiz, vier von ihnen nach St. Gallen, davon drei Maurer  ; ein Stuckateur geht in den Kanton Aargau. Vier Personen wandern nach Liechtenstein aus, darunter die einzigen zwei Frauen, von denen eine in Liechtenstein heiratet und die andere dort stirbt. Drei Personen gehen nach Deutschland davon zwei nach Bayern und eine ins Saarland.

60  |

Dieter Petras

Ziel

Personen

Frankreich

1

Deutschland

3

Liechtenstein

4

Schweiz

5

Unbekannt Gesamt

1 14

Röns Die Rönser Bevölkerung wächst im Zeitraum 1754 bis 1810 von 110 auf 136 Personen, von denen im Untersuchungszeitraum lediglich zwei emigrieren. Bei beiden handelt es sich um Männer, einer stirbt als verheirateter Mann 1714 im oberbayerischen Murnau, der andere heiratet 1808 ohne Bewilligung an einem nicht genannten Ort. Ziel Deutschland

Personen 1

Unbekannt

1

Gesamt

2

Schnifis Die Schnifner Bevölkerung wächst im Zeitraum 1754 bis 1810 lediglich von 300 auf 304 Personen. Im Untersuchungszeitraum verlassen fünf Personen ihren Heimatort und wandern aus. Bei allen handelt es sich um Männer, von denen zwei in die Schweiz gehen und zwei nach Deutschland, je einer nach Baden und Bayerisch Schwaben. Ein Schnifner ist 1802 als Hutmachergeselle in Ungarn feststellbar. Ziel

Personen

Ungarn

1

Deutschland

2

Schweiz

2

Gesamt

5



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Die Auswanderung im Walgau von 1700 bis 1814 

Düns Die Dünser Bevölkerung wächst im Zeitraum 1754 bis 1810 überproportional von 160 auf 198 Personen, von denen zwischen 1700 und 1814 lediglich zwei auswandern. Bei beiden handelt es sich um Frauen, von denen eine in den Kanton Thurgau heiratet. Ziel

Personen

Schweiz

2

Gesamt

2

Dünserberg Die Bevölkerung von Dünserberg wächst im Zeitraum 1754 bis 1810 von 110 auf 126 Personen. Im Untersuchungszeitraum 1700 bis 1814 wandert niemand aus. Bludesch Die Bevölkerung von Bludesch wächst im Zeitraum 1754 bis 1810 von 300 auf 343 Personen, von denen zwischen 1700 und 1814 lediglich drei auswandern. Bei allen handelt es sich um Männer und alle gehen an den Rhein  : Einer in den schweizerischen Kanton Basel, ein anderer ins Elsass und der dritte in die Westpfalz. Ziel

Personen

Frankreich

1

Deutschland

1

Schweiz

1

Gesamt

3

Thüringen Die Bevölkerung von Thüringen wächst im Zeitraum 1754 bis 1810 von 250 auf 292 Personen, was einen relativ hohen Anstieg bedeutet. Insgesamt zwölf Personen wandern im Untersuchungszeitraum aus, darunter keine Frau. Je eine Person geht nach Deutschland beziehungsweise in ein heute zu Polen gehörendes

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Dieter Petras

Gebiet in Preußen, zwei emigrieren in die Schweiz und sieben Personen nach Frankreich, mit fünf Personen die meisten in die Region Elsass-Lothringen. Beruflich verteilen sie sich auf zwei Maurer (Frankreich und Polen), einen Schmied (Württemberg), einen Tischler (Graubünden) und einen Schuster (Elsass). Ziel

Personen

Polen1

1

Schweiz

2

Deutschland

2

Frankreich

7

Gesamt

1

12

Konkret Spiegel an der Warthe, damals bei Preußen, heute polnisch.

Ludesch Die Bevölkerung von Ludesch wächst im Zeitraum 1754 bis 1810 um mehr als hundert Personen von 430 bis 534. Dagegen verlassen im Untersuchungszeitraum lediglich zwölf Personen den Heimatort ins Ausland, von denen allein neun nach Frankreich gehen (Elsass  : 3, Lothringen  : 6). Die anderen drei emigrieren ins Saarland, nach Bayerisch Schwaben sowie in den Schweizer Kanton Wallis. Bei zweien handelt es sich um Frauen  : Eine Frau stirbt 1709 in Lindau, das zu diesem Zeitpunkt freie Reichsstadt ist, eine andere ist 1716 im Elsass verheiratet. Bei vier Männern, die nach Frankreich auswanderten, lässt sich anhand der Quellen ihr Beruf feststellen, einer ist Maurer, ein anderer Zimmermann und bei zweien handelt es sich um Schuster. Ziel Schweiz

Personen 1

Deutschland

2

Frankreich

9

Gesamt

12

Nüziders Die Bevölkerung von Nüziders wächst im Zeitraum 1754 bis 1810 um beachtliche 143 Personen von 549 auf 692, von denen nur sechs zwischen 1700 und 1814 ins Ausland emigrieren. Drei Personen gehen in die Schweiz, sowie je eine nach Deutschland, Frankreich und Ungarn. Von den drei Emigranten in



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Die Auswanderung im Walgau von 1700 bis 1814 

die Schweiz gehen zwei nach St. Gallen und einer ins Appenzell, der Auswanderer nach Frankreich geht nach Lothringen und jener nach Deutschland in die Westpfalz. Diese beiden gehen somit in denselben Migrationsraum wenngleich in verschiedene Herrschaftsgebiete. Unter den Ausgewanderten sind zwei Frauen, die beide in die Schweiz heiraten. Über die Berufe geben die Quellen keine Auskunft. Ziel

Personen

Ungarn

1

Frankreich

1

Deutschland

1

Schweiz

3

Gesamt

6

Bludenz Die Bevölkerung von Bludenz wächst im Zeitraum 1754 bis 1810 um etwas mehr als ein Viertel von 1.205 auf 1.557 Personen. Zwischen 1700 und 1814 wandern 52 von ihnen aus. Hauptziel der Bludenzer Auswanderung ist Frankreich, wohin 20 Personen emigrieren, gefolgt von Deutschland mit 18 Bludenzerinnen und Bludenzern, die dorthin auswandern. Acht Personen entscheiden sich für die Schweiz, drei gehen nach Luxemburg, zwei nach Liechtenstein und je eine Person nach Böhmen und Holland. Betrachtet man die Region um Lothringen, die württembergische Pfalz, die im heutigen Rheinland-Pfalz gelegene Westpfalz, Luxemburg sowie das Saarland als einen Migrationsraum, stellt man fest, dass mit 35 Migranten in diesen Großraum zwei Drittel aller Bludenzer diesen Weg wählten. Von den acht emigrierenden Frauen gehen drei nach Lothringen, drei nach Schwaben und je eine ins schweizerische St. Gallen und nach Liechtenstein. Eine Berufsangabe findet sich bei 14 Auswanderern, von denen in Deutschland ein Schuster nach Baden und je ein Steinmetz und Müller ins Saarland gehen. In Frankreich lassen sich je zwei Maurer und Steinmetze sowie ein Müller nieder, alle in der Region Elsass-Lothringen. Auch zwei Auswanderer nach Luxemburg kommen aus dem Bauhandwerk, in die Schweiz zieht es hingegen je einen Gerber und Schlosser sowie eine Magd und eine Pfarrhaushälterin.

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Dieter Petras

Ziel Böhmen und Mähren

Personen 1

Holland

1

Liechtenstein

2

Luxemburg

3

Schweiz

8

Deutschland

17

Frankreich

20

Gesamt

52

Bürs Die Bevölkerung von Bürs wächst im Zeitraum 1754 bis 1810 von 489 auf 524 Personen, 34 von ihnen wandern zwischen 1700 und 1814 aus, mit 22 Personen die meisten davon nach Frankreich und dort wiederum 19 in die Regionen Elsass (9) und Lothringen (10). Drei Personen zieht es ins schweizerische St. Gallen, darunter zwei Frauen zur Heirat. In die Regionen Bayerisch Schwaben, Saarland, Franche-Comté und nach Paris wandert jeweils nur eine einzige Person. Neben den zwei Frauen, die nach St. Gallen heiraten, migrieren drei weitere  : Je eine ins Elsass, nach Lothringen und nach Paris. Sechs Personen üben einen handwerklichen Beruf aus, darunter vier Maurer und ein Steinmetz in Frankreich und ein Steinhauer in Deutschland. Zwei Männer gehen als Vertreter des bürgerlichen Lehrerberufs nach Frankreich. Ziel

Personen

Böhmen

1

Italien

1

Liechtenstein

1

Luxemburg

1

Spanien

1

Deutschland

2

Ungarn

2

Schweiz

3

Frankreich

22

Gesamt

34



| 65

Die Auswanderung im Walgau von 1700 bis 1814 

Nenzing Die Bevölkerung von Nenzing wächst im Zeitraum 1754 bis 1810 von 1.325 auf 1.745 Personen, von denen im Untersuchungszeitraum 93 auswandern. Am stärksten ist die Auswanderung nach Frankreich, wohin 36 Nenzingerinnen und Nenzinger emigrieren. So gut wie alle Frankreichwanderer gehen ins Elsass (10) oder nach Lothringen (25), lediglich von einer Person ist die genauere Destination nicht bekannt. Mit je zwanzig Emigrationen sind die Schweiz und Deutschland in diesem Zeitraum gleich beliebt. Innerhalb Deutschlands wiederum migriert mit zehn Personen die Hälfte nach Schwaben, fünf Personen gehen nach Baden, vier ins Saarland und eine Person in die Rheinpfalz, womit sich der Migrationsraum auf beiden Seiten entlang des Rheins nach Norden – vom schwäbischen Bodenseeraum über die Region Elsass-Lothringen bis in die Rheinpfalz  – als zugkräftigste Region herausstellt. Rechnet man die acht Nenzinger Migranten nach Luxemburg hinzu, kommt man auf 63 Auswanderinnen und Auswanderer in diesen grenzüberschreitenden Migrationsraum und somit auf etwas mehr als zwei Drittel aller Nenzinger Auswanderungen im Untersuchungszeitraum. Lediglich 17 von ihnen migrieren als Vertreter eines Berufsstands, darunter 16 Maurer und eine Dienstmagd. In der Schweiz erweist sich der Kanton St. Gallen als der beliebteste, hierhin verschlägt es sechs Nenzinger Gemeindsleute. In die Kantone Graubünden und Schwyz gehen je drei Personen, was zumindest hinsichtlich Graubündens erstaunt, da mit dem daran angrenzenden Liechtenstein eine zumindest im Sommer begangene direkte Gebirgsgrenze mit Nenzing besteht. In diesem Sinne erstaunt ebenfalls die geringe Zahl von lediglich zwei Migrationen nach Liechtenstein, offenbar hatte das Fürstentum im 18. Jahrhundert nur wenig Anziehungskraft. Ziel Belgien

Personen 1

Böhmen

1

Italien

2

Liechtenstein

2

Ungarn

3

Luxemburg

7

Deutschland

20

Schweiz

20

Frankreich

36

Unbekannt Gesamt

1 93

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Dieter Petras

Frastanz Die Bevölkerung von Frastanz wächst im Zeitraum 1754 bis 1810 von 848 auf 1.118 Personen. Mit insgesamt 49 Emigrationen ist die Auswanderung aus Frastanz zahlenmäßig wesentlich geringer als jene im Nachbarort Nenzing. Noch deutlicher fallen die Unterschiede hinsichtlich der Destinationen aus  : Von Frastanz zieht es lediglich zwölf Personen in den schwäbisch-rheinischen Großraum, der sich für mehr als fünfmal so viele Nenzinger als attraktiv erweist. Für die Frastanzer sind der nördliche Bodenseeraum und daran anschließend die rechte Rheinseite besonders attraktiv, hierher zieht es neun Personen. Dagegen emigrieren auf die französische Rheinseite sieben Frastanzerinnen und Frastanzer  : Fünf nach Lothringen und zwei ins Elsass. Dafür ist die Schweiz für deutlich mehr Frastanzer ein begehrtes Einwanderungsland, in das in Summe 22 Personen emigrieren, mit sieben Personen die meisten von ihnen nach Graubünden, gefolgt von St. Gallen mit sechs Personen. Dagegen wandern in diesem Zeitraum lediglich drei Personen in das unmittelbar angrenzende Fürstentum Liechtenstein aus. Unter all diesen Emigranten des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts sind lediglich sieben Frauen, davon allein fünf in die benachbarten Schweizer Kantone Graubünden und St. Gallen, vier zur Heirat und eine zum Eintritt in einen Dienst. Von allen Auswanderern hinterlassen lediglich fünf als Vertreter eines Berufsstandes Spuren in den Quellen, bei allen handelt es sich um Maurer. Ziel

Personen

Böhmen

1

Italien

1

Schlesien1

1

Slowakei2

1

Spanien

1

Liechtenstein

3

Frankreich

8

Deutschland

10

Schweiz

22

Unbekannt Gesamt

1 2

Ab 1742 bei Preußen. Bis 1918 Teil des Königreichs Ungarn.

1 49



Die Auswanderung im Walgau von 1700 bis 1814 

| 67

Zusammenfassung Für die Zeit vor dem Jahr 1754 liegen keine Bevölkerungszahlen für den Walgau vor. Doch um die Mitte des 18. Jahrhunderts kann von einer gesicherten Zahl von insgesamt 7.746 Menschen ausgegangen werden, die in den 14 Walgaugemeinden und der Stadt Bludenz zuhause sind. Insgesamt emigrieren in den 114 Jahren von 1700 bis zum Ende der bayerischen Herrschaft 1814 aus dem Walgau 338 Personen. Die im Verhältnis zur Einwohnerzahl stärkste Auswanderergemeinden ist Bürs  ; ähnlich hohe Auswandererzahlen weisen Nenzing, Satteins, Frastanz, Thüringen, Schlins und Bludenz auf. Die schwächste Auswanderergemeinde ist Dünserberg, von wo im Untersuchungszeitraum niemand auswandert. Vergleichbar niedrige Zahlen – im Verhältnis zur Einwohnerzahl – weisen Nüziders, Bludesch, Düns, Röns, Schnifis, Göfis und Ludesch auf. Das Ausmaß der jeweiligen Auswanderung steht in keinem offensichtlichen Zusammenhang mit den jeweiligen Herrschafts- beziehungsweise Verwaltungsgebieten. So wandern beispielsweise aus Satteins überproportional viele Personen aus, hingegen aus den ebenfalls jagdbergischen Orten Düns und Röns vergleichsweise wenige. Ebenso verhält es sich mit den Blumenegg-Gemeinden, wo verhältnismäßig viele Thüringer der Heimat den Rücken kehren, jedoch fast niemand aus der Nachbargemeinde Bludesch. Auch dürfte das Bevölkerungswachstum in keinem Zusammenhang mit dem Ausmaß der jeweiligen Emigration stehen, denn aus dem relativ stark wachsenden Göfis wandern nur sehr wenige Menschen aus, viele hingegen aus dem Nachbarort Satteins, der im selben Zeitraum nur unwesentlich wächst. Als mögliche Ursache für verstärkte Emigration ließe sich hingegen ein topographischer Faktor ausmachen  : Aus allen drei an der südlichen Talseite und deshalb nach Norden ausgerichteten Gemeinden – Frastanz, Nenzing und Bürs – ist die Auswanderung überproportional stark. Möglicherweise waren hier die Möglichkeiten für die Landwirtschaft so eingeschränkt, dass es den Menschen leichter fiel, eine sich bietende Möglichkeit zur Abwanderung wahrzunehmen. Als letzter Faktor ist noch die Kettenwanderung zu erwähnen, die zumindest von einigen Orten in bestimmte Regionen eine Rolle gespielt haben dürfte, was daran deutlich wird, dass allein aus Satteins 15 Personen nach Lothringen auswanderten, aus den Nachbarorten Göfis und Schlins dagegen niemand und aus dem viel größeren Frastanz lediglich fünf. Walgauer Auswanderung nach Nordamerika  ? Zu den Wanderungen von Bauarbeitern aus Tirol und Vor­arl­berg und damit auch aus dem Walgau in die linksrheinischen Gebiete Westpfalz und Saargegend exis-

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Dieter Petras

tieren bereits einige Forschungsarbeiten. Neu ist hingegen die Erkenntnis, dass mit einiger Wahrscheinlichkeit, wenngleich nicht sicher belegbar, zahlreiche Personen auch aus dem Walgau im 18. Jahrhundert von dort den Weg über den Atlantik nach Nordamerika fanden. Diese Annahme stützt sich auf die Auswertung der Passagierlisten jener englischen Schiffe, die zwischen 1727 und 1774 neben englischen insbesondere Pfälzer Passagiere nach Pennsylvania transportierten. Diesen Pfälzern (»palatines«) wurde noch vor der Überfahrt der Treueeid auf die englische Krone (»oath of allegiance«) abverlangt, weshalb sie in eigenen Listen geführt wurden, deren Auswertung durchaus erstaunliche Ergebnisse brachte. Unter den mehr als 30.000 Namen von Auswanderern finden sich etliche, die nachgewiesenermaßen nicht aus der Pfalz, sondern aus anderen Regionen stammten, beispielsweise aus Franken (»Franconia«) und Hessen (»Hesse«), aber auch aus Lothringen und dem Elsass (»Lorraine and Alsace«) oder aus »Bavaria« und »Wirtembergh«. Gelegentlich sind auch »a few from Switzerland« genannt, darunter auch ein »Georg Wachter from Memmingen«. Zahlreiche Namen aus den Passagierlisten ließen sich mühelos noch heute in den regionalen Telefonbüchern Vor­arl­bergs finden, und vergliche man deren zeitgenössische Schreibweisen mit jenen in den Taufbüchern des 18. Jahrhunderts, fände man eine große Zahl an Übereinstimmungen. Zwar lässt sich diese Frage ohne weitergehende Forschungen nicht restlos klären, doch immerhin ist das Aufscheinen etlicher auch oder gerade im Walgau geläufiger Namen ein starkes Indiz dafür, dass auch von dort bereits um die Mitte des 18. Jahrhunderts Menschen die Neue Welt erreichten. Folgende Namen lassen diesen Schluss zu  : Ammon/Amman/Amand (Ammann  ?), Bernhart/Bernhard/Bernat, Bickel, Engler, Frick, Fritsch, Geiger, Hartmann, Humer/Hummer, Lampert, Moll, Ott, Rauch, Schaller, Schedler, Scherer/Scherrer, Siglar/Siglär und Welte.3 Der Name Ott ist an dieser Stelle angeführt, da Träger dieser Namen nicht erst im 19. Jahrhundert aus dem Tiroler Ort Ladis in den Walgau einwanderten, sondern weil ein gewisser Johann ( Jean) Ott bereits 1718 von Bludenz nach Lothringen auswanderte.4 3

Ralph Beaver Strassburger/William John Hinke, Pennsylvania German pioneers. A Publication of the Original Lists of Arrivals in the Port of Philadelphia from 1727 to 1808, Norristown 1934, S. 34, 151, 417, 644, 665 (Ammon/Amman/Amand), 185, 186, 432, 451, 480, 487, 491, 594, 595, 686, 725 (Bernhart/Bernat), 95, 96, 364 (Bickel), 419 (Engler), 307, 440, 717 (Erhart), 69, 70, 476, 691, 742, 759 (Frick), 698 (Fritsch), 97, 98 (Geiger), 33, 60, 74, 77, 170, 205, 472, 702 (Hartmann), 469, 755 (Humer/Hummer), 236, 693, 702 (Lampert), 44, 46, 51, 171, 357, 366, 740 (Moll), 329, 404 (Ott), 91, 206, 289, 377, 379, 481, 692, 701, 749 (Rauch), 174, 228 (Schaller), 14, 64, 156, 159, 161, 236, 378, 402, 476, 487, 579, 626, 645, 694, 727 (Scherer/ Scherrer), 349 (Siglar), 14, 606, 607, 690 (Welte)  ; entgegen der Angabe im Titel umfassen die Passagierlisten lediglich den Zeitraum 1727–1774. 4 Roland Walck, Les bâtisseurs tyroliens en Alsace et en Lorraine sous l’Ancien Régime. Etude de l’immigration tyrolienne, Mérignac 2010, Nr. 1591.



Die Auswanderung im Walgau von 1700 bis 1814 

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Beim Namen Bernhart/Bernat ist besonders augenfällig, dass er sich in den Schiffslisten in derselben Schreibweise (Bernat) findet, wie er auch in den Schlinser Pfarrmatriken jener Zeit aufscheint. Zahlreiche Auswanderer trugen überdies den Namen Seeberger, der in Frastanz damals wie heute geläufig ist, was dem Verfasser allerdings erst im Nachhinein bewusst wurde, weshalb an dieser Stelle kein exakter Quellennachweis angeführt wird. Diese Indizienkette stellt zweifellos den spektakulärsten Teil der Forschungsergebnisse dar. Nicht ganz so spannend doch dafür zahlenbasiert und hinsichtlich jedes Einzelfalls namentlich bekannt sind die Migrationen in jene Regionen, in die sich der Großteil der Walgauer Auswanderer bewegten. Historische Migrationsräume Die Hauptauswanderungsziele liegen in jener Zeit nicht in den an Vor­arl­berg angrenzenden Nachbarländern, sondern in verschiedenen Regionen Frankreichs,5 wohin in diesem Zeitraum insgesamt 124 Menschen migrieren. Hingegen zieht es in die Schweiz und nach Deutschland mit 79 beziehungsweise 76 Walgauerinnen und Walgauern jeweils weitaus weniger Menschen. Nach Italien verschlägt es sechs Auswanderer und nach Liechtenstein 18, eine geringe Zahl, wenn man die heutige Attraktivität des Fürstentums betrachtet. Doch im 18. Jahrhundert ist die bäuerliche Bevölkerung Liechtensteins denkbar arm, sodass mit Ausnahme vereinzelter Heiratsverbindungen kaum ein Anreiz bestand, dort ein besseres Fortkommen zu suchen. Der mit 82 Personen größte Teil der Auswanderer nach Frankreich geht nach Lothringen, gefolgt von 32 Migrationen ins Elsass. Soweit sich dies feststellen lässt, handelte es sich bei den meisten um Vertreter des Baugewerbes. Außerdem wandern zwölf Personen nach Luxemburg aus, neun Personen gehen in die Pfalz und 16 Personen ins Saarland. Der für den Walgau mit Abstand bedeutendste Migrationsraum im 18. Jahrhundert ist somit die Rheingegend mit einzelnen angrenzenden Regionen westlich davon. Denn rechnet man die Migrationen in die Pfalz, ins Saarland, die französischen Regionen Elsass und Lothringen sowie Luxemburg zusammen, ergeben diese in Summe 152 Personen und somit etwas weniger als die Hälfte aller Auswanderer, die den Walgau in dieser Zeit für immer verlassen, um sich in den verschiedenen Regionen links und rechts des Rheins niederzulassen. Weit geringer ist die Zahl jener Menschen, die in die benachbarte Schweiz auswandern, nämlich 79 Personen. Mit 30 Personen zieht es die meisten in den Kanton St. Gallen, ge5

Dazu allgemeiner Hannelore Berchtold, Die Arbeitsmigration von Vor­arl­berg nach Frankreich im 19. Jahrhundert, Feldkirch 2003.

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Dieter Petras

Das Herzogtum Schwaben im 10. Jahrhundert (Marco Zanoli, Zürich, bereitgestellt via Wiki-Commons)

folgt von zehn Auswanderern nach Graubünden. Von den übrigen 39 Personen ist bei neun keine Destination überliefert, die anderen 30 verteilen sich auf 14 Kantone, davon je vier auf die Kantone Schwyz und Thurgau. Rechnet man zu den 14 Migranten in den nördlichen Teil des Kantons St. Gallen jene drei nach Zürich sowie jene vier in den nördlichen Teil von Solothurn beziehungsweise Bern hinzu, ergibt dies 21 Migranten nach dem alemannischen schweizerischen Mittelland und 48 in die alpin geprägte Zentralschweiz. Von den 76 Emigranten nach Deutschland wandert der mit 29 Personen größte Teil nach Schwaben aus, darunter sieben Personen in den nördlich von Vor­arl­berg gelegenen schwäbischen Landesteil Bayerns und 22 nach Württemberg. Rechnet man jene 18 Emigranten nach Baden sowie in angrenzende Grafschaft Fürstenberg-Heiligenberg hinzu, kommt man auf 47 Migranten in den Südwesten des heutigen Baden-Württemberg. Diese Region stellt somit das dritthäufigste Auswande-



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Die Auswanderung im Walgau von 1700 bis 1814 

Walgauer Emigrationen 1700 bis 1814 Hauptdestinationen (302) Ziel

Personen

Italien

6

Liechtenstein

18

Deutschland

76

Schweiz

78

Frankreich

124

Gesamt

302

Andere Ziele (32) Flandern

1

Niederlande

1

Polen1

1

Schlesien

2

Spanien

1 3

Böhmen

4

Ungarn3

8

Luxemburg Gesamt Summe (338) Hauptdestinationen Restliche Destinationen Gesamt

13 32 302 36 338

1 Konkret nach Falkenberg, bis 1945 preußisch, seither bei Polen. 2 Ab 1742 bei Preußen. 3 Gemeint ist Großungarn in den Grenzen vor 1918 mit Gebieten in der heutigen Slowakei, Rumäniens, Kroatiens und Serbiens  ; nicht bei allen Auswanderungen ließ sich das Ziel genau bestimmen.

rungsziel für die Walgauerinnen und Walgauer dar. Insgesamt verließen im Zeitraum 1700 bis 1814 folglich 229 von 338 Personen den alpinen Raum, um nördlich davon eine neue Bleibe zu finden. 159 Personen und somit 47 Prozent migrieren innerhalb jener historischen Region, die im 10. Jahrhundert als Herzogtum Schwaben bekannt war und Gebiete von der südlichen Schweiz über Westbayern bis ins Elsass umfasste. Betrachtet man jene, die sich entlang des Rheins als natürlicher Verkehrsweg mit seinen erleichterten Orientierungs- und Transportmöglichkeiten bewegten, so kommt man auf 219 Personen oder 64,8 Prozent. Nimmt man das Gebiet des historischen Herzogtums Schwaben und die Hauptauswanderungsziele entlang des Rheins  – Lothringen, Rheinpfalz,

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Dieter Petras

Saargegend und Luxemburg  – zusammen, findet man einen Migrationsraum, innerhalb dessen sich zu dieser Zeit 283 der insgesamt 338 Walgauer Auswanderungen bewegten, was rund 84 Prozent aller Migrationen ausmacht. Regionen Land/Staat

Bundesland/Kanton/Provinz

Deutschland (76)

Rheinland-Pfalz

Region

Baden

Schweiz (78)

18

Saarland

20

Schwaben2

29

Bayern3

Frankreich (124)

Personen 5

1

Oberfranken

1

Unterfranken

1

Niederbayern

1

Oberbayern

1

Paris

1

Franche-Comté

4

Elsass

33

Lothringen

82

o. A.

4

Baselland

1

Basel-Stadt

1

Jura4

1

Neuchâtel

1

Solothurn

1

Zürich

1

Aargau

2

Bern

2

Glarus

2

Wallis

2

Zug

2

Appenzell

3

Schwyz

4

Thurgau

4

Graubünden

12

St. Gallen

30

o. A.

9



Die Auswanderung im Walgau von 1700 bis 1814 

Land/Staat

Bundesland/Kanton/Provinz

Italien (6)

Neapel

1

Piemont-Sardinien

1

1 2 3 4 5

Personen

Sizilien

1

Südtirol

2

o. A. Gesamt (284)

Region

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1 284

Darunter vier Personen unbekannten Aufenthalts. Konkret die Westpfalz. Württemberg  : 22, Bayerisch Schwaben  : 7. Ohne Bayerisch Schwaben  ; keine Auswanderungen nach Mittelfranken sowie in die Oberpfalz. Bis 1979 bei Bern.

Aus den Quellen Dass nicht alle Auswanderer ihr Glück fanden, erweist sich anhand des Schicksals der 30-jährigen Frastanzerin Katharina Matt. Sie erhielt die Abzugsbewilligung 1796 aufgrund ihrer Vermögenslosigkeit, der Akt vermerkt jedoch, dass sie »das Unglück [hatte] von Kristian Kaufmann zu Schann der Reichsherrschaft Liechtenstein, wo sie bereits durch vier Jahre in Dienste ist, geschwängert zu werden, und nun [1800] ist sie gesinnet, sich an gedachten Christian Kaufmann zu verehelichen«.6 Mehr Glück hatte hingegen die Göfnerin Katharina Dieffentallerin [Tiefenthaler]. Anlässlich ihres Auswanderungsgesuchs hält die Behörde 1797 fest  : »Ihr Vormund Ferdinand Mähr sowohl als ihr Bruder halten diese Heurath für ein sehr großes Glück, da ihr künftiger Eheherr ein Vorsteher daselbst und ein Mann von dem ansehnlichsten Vermögen ist, und sie entgegen einzige 200 fl besitzt.«7 Der Maurer Sebastian Tiefenthaler, ebenfalls von Göfis, wiederum fand sein Glück in Obersept im Elsass. Als er nach mehrjähriger Abwesenheit 1803 sein offizielles Auswanderungsgesuch stellte, gelangte auch die Stellungnahme des Maîre von Seppois-le-Haut in seinen Akt, darin heißt es  : Tiefenthaler, der sich seit dreieinhalb Jahren häuslich niedergelassen habe, sei verheiratet, »Vater eines Mägdleins und als Nr. 65 in der Bürgerliste eingeschrieben […]. In all dieser Zeit habe er sich als ein rechtschaffener, redlicher und ar-

6 Vor­arl­berger Landesarchiv (VLA), Vogtei-, Ober- und Kreisamt Bregenz (VA, OA u. KA), Schachtel (im Folgenden  : Sch) 223. 7 VLA, VA, OA u. KA, Sch 227.

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Dieter Petras

beitsamer Mann aufgeführt.«8 Zahlreiche Migrationen wurden allerdings allein deshalb aktenkundig, da die ausgewanderten Personen fern der Heimat verstarben, und die Nachricht von ihrem Ableben von Begleitern oder von pflichtgetreuen Pfarrherrn per Boten in die Walgauer Heimat gesandt wurde. So lautet etwa der Eintrag zum Tod von Christa Martin im Nenzinger Sterbebuch 1701  : »obijt in Flandria«,9 wohingegen 1712 der Satteinser Adam Sönser »Minoraugia in Suevia«,10 dem oberschwäbischen Kloster Weißenau bei Ravensburg, verstarb, die sogenannte »Minderau«, deren Name vom Gegensatz zum Bregenzer Kloster Mehrerau herrührt (augia maior). Adam Sönser dürfte sich allerdings nicht im geistlichen Stand befunden haben, da dies im Sterbebuch vermerkt worden wäre. Unumgänglich war im Falle des Todes eines Ausgewanderten, dass der Verstorbene in der geweihten Erde der richtigen Konfession seine letzte Ruhe fand, weshalb ein an falschem, weil protestantischem Ort Verstorbener mitunter über weite Strecken transportiert wurde, ehe er in katholischer Erde bestattet wurde. So erging es nämlich dem im protestantischen Bündner Ort Schiers verheirateten und dort verstorbenen Frastanzer Christoph Gamon. Neben dem Umstand seines Ablebens vermerkte der Frastanzer Pfarrherr 1737, dieser sei unversehen durch die heiligen Sakramente unter Prättigauer Häretikern gestorben, weshalb man ihn nach Zizers getragen habe, wo er auf katholischem Friedhof bestattet wurde (»… maritus improvisus obijt in Pretigavia Rhotiovalle inter horeticos […] in pago Schiers demum vectus ad pagum Züzers ibi sepultus in cometerio catholicorus«).11 Über den Bürser Karl Fidel Kraft vermerkt hingegen das Sterbebuch, dieser habe sein Leben 1784 auf der »neuen Burg Alessandrina im Königreich Sardinien« beschlossen, worauf er auf den Soldatenfriedhof der Stadt überführt und dort begraben worden sei (»… in arce novo Alexandrina regno Sardinia vitam clausit vir fortius et magnanimus Caroly Fidelis Kraft vigilius nam profectus, eius […] cadaver caemeterio canonici militaris ibidem illatus est«).12 Dabei handelte es sich wohl um die piemontesische Stadt Alessandria, die zum damaligen Zeitpunkt Teil des Königreichs Sardinien war. Auswanderungswillige Bürger erhielten die behördliche Genehmigung umso eher, je größer die Gefahr war, dass sie der kommunalen Armenfürsorge zur Last fallen könnten. Einmal ausgewandert unterstützten die Behörden in Not geratene Gemeindebürger lieber mit einmaligen oder wiederholten Zahlungen an die   8 VLA, VA, OA u. KA, Sch 240.   9 Sterbebuch Nenzing, 1701. Dieses und die im Folgenden zitierten Sterbebücher sind einsehbar in den jeweiligen Pfarrämtern oder online über das Vor­arl­berger Landesarchiv unter [http:// www.vla.findbuch.net/php/main.php?ar_id=3711]. 10 Sterbebuch Satteins 1712. 11 Sterbebuch Frastanz 1737. 12 Sterbebuch Bürs 1784.



Die Auswanderung im Walgau von 1700 bis 1814 

| 75

ausländische Adresse, wohingegen die Bereitschaft gering war, soziale Härtefälle in den eigenen Fürsorgeverband zurückzunehmen. Auf diesen Umstand dürfte auch der Bludenzer Franz Josef Künzle spekuliert haben, als er gemeinsam mit seiner »Ehe-Consortin« Maria Anna Zugin (Zugg) 1799 den Antrag stellte, »von hier nach der Schweitz, und zwar dem Ort Emmishofen abziehen zu können, weil sie da ihre bessere Unterkunft und ein genügliches Fortkommen anzuhoffen hätten«. In ihrem Antrag führten sie weiter aus, »als Inbürger von Bludenz aufgenommen und in dieser Eigenschaft das Einkaufsgeld […] noch rückständig zu sein«, weshalb sie ersuchten, »diesen Rückstand ihnen gegen dem nachzulassen, dass sie sich verbindlich machen wollen, in keinem Fall auf ein Bürgerrecht nach Bludenz weder für sich noch für ihre Nachkömmlinge einen Anspruch zu machen«.13 Dem Antrag wurde stattgegeben. Als hingegen 1831 der 22 Jahre zuvor und somit während der bayerischen Herrschaft ausgewanderte Maurermeister Johann Anton ( Jean Antoine) Purtscher von ­Ludesch das offizielle Auswanderungsgesuch an die zuständigen Behörden richtete, wurde ihm die Entlassung aus dem österreichischen Staatsverband »bei seiner Vermögenslosigkeit und bei seinen Familienverhältnissen« zwar gewährt, nicht ohne jedoch festzuhalten, dass seine im Auslande geschlossene Ehe ungültig sei, weshalb seine Gattin und die Kinder kein Staatsbürgerrecht erlangen würden.14 Auch hier war es den Behörden offenbar lieber, den illegalen Status im Ausland zu legalisieren, anstatt die Heimkehr des mittellosen Familienvaters mitsamt seiner Familie in den Heimatverband und damit eine mögliche Versorgung auf Kosten der Allgemeinheit zu riskieren.

13 VLA, Stadtarchiv Bludenz 398/123. 14 VLA, Kreisamt 1, Sch 365  ; Landgericht Sonnenberg (LGSo), Sch 136  ; Sch 221/1181  ; Sch 238/2614  ; Tiroler Landesarchiv : Jüngeres Gubernium 1831/2170  ;Hannelore Berchtold, Die Arbeitsmigration von Vor­arl­berg nach Frankreich im 19. Jahrhundert. Feldkirch 2003, S. 206.

Klaus Biedermann

»Bestättigend, dass sowohl meine Braut als auch ich kein Vermögen besitzen …« Lebenswege von Angehörigen liechtensteinischer Unterschicht-Familien im 19. Jahrhundert

»Bestättigend, dass sowohl meine Braut als auch ich kein Vermögen besitzen«  : Mit diesen Worten erklärte sich Matthäus Kirschbaumer vor dem Oberamt in Vaduz. Kirschbaumer war ein Hintersasse, der in Mauren (Liechtenstein) heimatberechtigt war.1 Man bezeichnete Personen ohne Nutzungsrechte in ihrer Heimatgemeinde als Hintersassen. Matthäus Kirschbaumer, ein Korbflechter, lebte im Jahr 1845 im Konkubinat in der Gemeinde Eschen (Liechtenstein), und zwar im Ortsteil Nendeln. Zusammen mit Maria Anna Oberhuber bewohnte er ein gemietetes Haus. Das Paar lebte unverheiratet zusammen, was nicht gerne gesehen wurde. Da ihm die Abschiebung nach Mauren drohte, bat er das Oberamt in Vaduz um eine Heiratsbewilligung. Das war keine leichte Sache, da sich Land und Gemeinden zumeist weigerten, mittellosen Paaren eine solche Bewilligung zu erteilen. Man wollte vermeiden, dass die Zahl armer Leute unkontrolliert zunahm. Solange die Gemeinde für verarmte Bürger aufkommen musste, tat sie sich auch schwer mit der Einbürgerung dieser Menschen. Die Armenfürsorge in Liechtenstein war bis 1967 Aufgabe der Bürgergemeinden.2 Die folgenden Ausführungen3 stützen sich vor allem auf Quellen aus dem Liechtensteinischen Landesarchiv (Amt für Kultur) in Vaduz. Ergänzend dazu wurden Werke der Fachliteratur sowie einzelne Familienbücher konsultiert.

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Einvernahme v. Matthäus Kirschbaumer vor dem Oberamt in Vaduz, 10.1.1845, Amt für Kultur, Liechtensteinisches Landesarchiv, Vaduz (im Folgenden LI LA), RC 83/43. 2 Gemäß dem 1965 beschlossenen neuen Sozialhilfegesetz für Liechtenstein, das 1967 in Kraft trat, war nun nicht mehr die Bürgergemeinde, sondern die Einwohnergemeinde verpflichtet, ihre Armen und Bedürftigen zu unterstützen  ; Landesgesetzblatt 1966/Nr. 3  : Sozialhilfegesetz vom 10.12.1965. 3 Grundlegend zum Thema  : Biedermann Klaus, »Aus Überzeugung, dass er der Gemeinde von grossem Nutzen seyn werde«. Einbürgerungen in Liechtenstein im Spannungsfeld von Staat und Gemeinden 1809–1918. Vaduz, Zürich 2012.  – Der hier publizierte Aufsatz basiert auf einem Vortrag des Autors, gehalten am 15.6.2014 in Eschen.

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Zu den Familien Kirschbaumer und Oberhuber Maria Bauer und Matthias Kirschbaumer wurden 1766 in Eschen kirchlich getraut. Das Ehepaar führte mit seinen Kindern eine nicht-sesshafte Lebensweise. Ihr Sohn Johann Georg Kirschbaumer wurde 1784 in Schwarzenberg im Bregenzerwald geboren. Dieser heiratete 1803 in Mauren die Innerschweizerin Anna Ruodi. Johann Georg Kirschbaumer und Anna Ruodi zogen nach Untervaz (Graubünden), wo Kirschbaumer als Sägenfeiler und Kesselflicker arbeitete. Seine Frau brachte in Untervaz die ersten drei Kinder zur Welt. Um 1810 kehrte die Familie nach Mauren zurück. Johann Georg Kirschbaumer ist 1811 in den Rechnungsbüchern des Fürstlichen Rentamts erwähnt. Er bezahlte damals sein Hintersassen-Geld. Das sicherte ihm und seiner Familie das Heimatrecht in der Gemeinde Mauren.4 Anna Ruodi und Johann Georg Kirschbaumer hatten sechs Töchter und einen Sohn. Der Sohn Matthäus Kirschbaumer (1815–1871) wurde eingangs bereits erwähnt. Von ihm wird in diesem Beitrag noch öfters die Rede sein. Zuerst soll jedoch der Fokus auf das Leben der Tochter Agatha Kirschbaumer (1813–1857) gerichtet sein.5 Die Ausführungen zu Agatha Kirschbaumer gewähren Einblicke in die ärmlichen Lebensumstände dieser Unterschicht-Familie. Zum Lebensweg von Agatha Kirschbaumer Agatha Kirschbaumer wurde, 24-jährig, am 12. Februar 1838 vom Landgericht in Vaduz zu acht Monaten Kerker verurteilt. Diesem Urteil vorausgegangen war eine Untersuchung zu Diebstählen, die Agatha Kirschbaumer und ihr Konkubinatspartner Franz Josef Künzle aus Frastanz in den Jahren 1834 und 1835 verübt hatten. Alle involvierten Personen mussten vor Gericht aussagen. Ein Ergebnis dieser Untersuchung war, dass das Paar einen Teil dieser Diebstähle gemeinsam mit Franziska Haas und deren Begleiter Benedikt Oberhuber verübt hatte. Das Landgericht in Vaduz verurteilte auch Franziska Haas und Benedikt Oberhuber  : Haas zu einer sechsmonatigen Kerkerstrafe, Oberhuber zu einem Jahr schweren Kerkers. Franz Josef Künzle wurde vom Landgericht Sonnenberg in Bludenz verhört und abgeurteilt.6 4 5 6

Biedermann, Überzeugung, S. 171 f. Genealogie der Familie Kirschbaumer in  : Rita Meier-Falk (Red.), Familienstammbuch Mauren, 4 Bde., Mauren 2004, Bd. 1, S. 122–125. Einvernahmen v. Agatha Kirschbaumer, Franz Josef Künzle, Franziska Haas u. Benedikt Oberhuber vor dem Landgericht in Vaduz, 1834–1838, LI LA RC 44/30  : Diebstähle in Vor­arl­berg.



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Johann Ludwig (Louis) Bleuler, Ansicht von Vaduz, Gouache, um 1830 (Liechtensteinisches Landesmuseum, Foto: Sven Beham)

Agatha Kirschbaumer war Fabrikarbeiterin in Nenzing, als sie 1833 den Besenbinder und späteren Korbflechter Franz Josef Künzle kennenlernte. Ihr Vater kannte Künzle »schon von früher her«, dieser hielt sich – so Agatha Kirschbaumer  – »einige Zeit, ohne angeben zu können wie lange, bey uns [in Mauren] auf, und lernte von meinem Bruder [Matthäus] die Korbflechterey«.7 Agatha Kirschbaumer begleitete im Frühjahr 1834 Franz Josef Künzle nach Vor­arl­berg, wo sie Bandmaterial zum Körbe Flechten sammelten  : »Kienzel flocht sofort daraus Körbe, und ich verkaufte sie.«8 Das Verhör mit Agatha Kirschbaumer dauerte mit Unterbrechungen von August 1835 bis Dezember 1837, sie musste über 300 Fragen beantworten. Agatha Kirschbaumer schilderte dabei auch das im Mai 1834 erfolgte Zusammentreffen mit Franziska Haas und Benedikt Oberhuber in der Gegend bei Nenzing. Während die Männer daraufhin in das Gamperdonatal zogen, um in mehrere Hütten einzubrechen, konzentrierten sich die Frauen auf näher liegende Geschäfte  : »Ich aber und die Hasenfranzi [Franziska Haas] begaben uns mit Besen und Körben nach Ludesch, um derley Waaren anzubringen.«9 7

Einvernahme v. Agatha Kirschbaumer vor dem Landgericht in Vaduz, 20.8.1835, LI LA RC 44/30. 8 Ebd. 9 Einvernahme v. Agatha Kirschbaumer vor dem Landgericht in Vaduz, 1.4.1836, LI LA RC 44/30.

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Ein Grund für die Einbrüche im Gamperdonatal war das Fehlen von brauchbarem Kochgeschirr. Franziska Haas berichtete dazu vor Gericht  : »Kienzel und die Agatha hatten einen irdenen Topf, und wir hatten gar nichts, um zu kochen. Es sprang nun einmal der Topf, und da jammerte Kienzel, und meinte immer, er müsse woher ein Kochgeschier holen.«10 Die Zerstörung des Kochgeschirrs erläuterte Franz Josef Künzle hingegen vor dem Gericht in Bludenz wie folgt  : »Im Frühjahr 1834 kochte ich einmal in der Bludescher Au eine Ribelsuppe mit etwas Erdäpfel vermengt, eine solche Suppe ass früher die Agatha Kirschbaumer gerne, und wollte nur dortmals aus Starrsinn nicht essen. Hierüber wurde ich zornig, und schlug im Zorn die ganze Pfanne zusammen.«11 Franz Josef Künzle und Benedikt Oberhuber entwendeten sodann aus mehreren Hütten im Gamperdonatal Pfannen, Alteisen und Kleider. Benedikt Oberhuber berichtete dem Gericht, nach Einbruch in vier Hütten sei Schluss gewesen mit dem Stehlen  : »Wir giengen in eine fünfte Hütte, wo wir unseren Hunger stillen wollten, und wir auch eine Kratzeti gekocht, und Küchle gebaken hatten, auch eine Mehlsuppe.«12 Auf die Frage, welche ihre Motivation für die gemachten Diebstähle gewesen wäre, antwortete Agatha Kirschbaumer  : »Die Trinksucht des Kienzel, und unsere Armuth, dann das Bedürfnis an Nahrung und Kleidung.«13 Im Spätherbst 1834 – Agatha Kirschbaumer war schwanger – stahl ihr Begleiter Franz Josef Künzle nahe bei Schlins einen Sack Kartoffeln, den das Paar mit anderen Waren auf einem »zweyrädrigen mit Eisen beschlagenen« Handwagen nach Mauren brachte.14 In Mauren wohnte Agatha Kirschbaumer bei der Familie des Zimmermanns Heinrich Kühne in der Flur Binza, am nördlichen Dorfrand. Hier gebar sie ihren Sohn Heinrich. Nach dem Verzehr der mitgebrachten Kartoffeln hatte eine ihrer Schwestern, Katharina Kirschbaumer, Stroh in den Kartoffelsack gesteckt und ihn als Kopfkissen verwendet. Agatha Kirschbaumer wurde es später zum Verhängnis, dass auf dem Kartoffelsack das Hauszeichen der Besitzerfamilie aus Schlins rot eingefärbt war. Der Sack war damit als entwendetes Gut erkennbar.15

10 Einvernahme v. Franziska Haas vor dem Landgericht in Vaduz, 22.4.1836, LI LA RC 44/30. 11 Einvernahme v. Franz Josef Künzle vor dem Landgericht Sonnenberg in Bludenz, 14. u. 21.7.1836, Abschrift, LI LA RC 44/30. 12 Einvernahme v. Benedikt Oberhuber vor dem Landgericht in Vaduz, 23.12.1836, LI LA RC 44/30. 13 Einvernahme v. Agatha Kirschbaumer vor dem Landgericht in Vaduz, 1.4.1836, LI LA RC 44/30. 14 Einvernahme v. Katharina Kirschbaumer vor dem Oberamt in Vaduz, 3.6.1836, LI LA RC 44/30. 15 Einvernahme v. Agatha Kirschbaumer vor dem Landgericht in Vaduz, 11.12.1836, LI LA RC 44/30.



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Agatha Kirschbaumer und Franz Josef Künzle zogen im Frühjahr 1835 wieder nach Vor­arl­berg. Sie stahlen einer Bäuerin in Düns eine Geiss und ein Geisskitz aus dem Stall.16 Schließlich griff der Ortsrichter von Satteins am 9. August 1835 die beiden Herumvagierenden auf, »in einer zur Wohnung gewählten Felsenhöhle im Satteinser Walde«.17 Das Paar wurde verhaftet und zuerst nach Feldkirch gebracht. Die liechtensteinische Staatsangehörige Agatha Kirschbaumer wurde nach Vaduz abgeschoben.18 Die auf Schloss Vaduz in Untersuchungshaft gesetzte Agatha Kirschbaumer entwich am 10. Januar 1837 aus ihrem Verließ. Sie nutzte einen unbeaufsichtigten Moment und sprang aus einer Schießscharte beim Nordrondell ins Freie.19 Landvogt Johann Michael Menzinger, zugleich Landrichter in Vaduz, meldete die Flucht den Landgerichten Feldkirch und Bludenz, dem Verhörrichteramt in Chur sowie den Gemeinden Eschen und Mauren. Agatha Kirschbaumer wurde gesucht, Landvogt Johann Michael Menzinger verfasste dazu eine Personenbeschreibung, in welcher er nicht auf diffamierende Worte verzichtete  : »Dieselbe ist 23 Jahre alt, mittlerer Statur, hat ein blasses, längliches, blatternarbiges Gesicht, lichtbraune dünne Haare, blaue tiefliegende Augen […]. In den Haaren hat sie einen weisslichen Kamm von Horn, und als Kopfbedeckung ein gefärbtes Tüchel umgebunden. […] Ihr Aussehen ist verschlagen, sie spricht langsam und hat eine etwas grobe Stimme.«20

Agatha Kirschbaumer wurde noch am Abend ihrer Flucht in Nendeln verhaftet und erneut auf Schloss Vaduz inhaftiert. Sie versuchte, in der Nacht vom 19. auf den 20. Februar 1837 erneut zu fliehen, was ihr misslang. Benedikt Oberhuber wurde verdächtigt, ihr vor dem zweiten Fluchtversuch eine Feile zugesteckt zu haben. Das Landgericht in Vaduz verhörte ihn dazu am 14. März 1837.21 Vor dem Landgericht in Vaduz äußerten sich die Ortsrichter von Eschen und Mauren zum familiären Hintergrund von Benedikt Oberhuber, Franziska Haas und Agatha Kirschbaumer. Der Eschner Ortsrichter Franz Josef Näscher gab zu Protokoll  : 16 Einvernahme der geschädigten Person, Maria Katharina Moll aus Düns, vor dem Landgericht Sonnenberg in Bludenz, 13.9.1835, Abschrift, LI LA RC 44/30. 17 Landgericht Feldkirch an Oberamt in Vaduz, 18.8.1835, LI LA RC 44/30. 18 Ebd. 19 Flucht v. Agatha Kirschbaumer, Protokoll v. 10.1.1837, LI LA RC 44/30. 20 Oberamt Vaduz an Amtsstellen in Feldkirch, Bludenz, Chur, Eschen und Mauren, 10.1.1837, LI LA RC 44/30. 21 Flucht v. Agatha Kirschbaumer, Nachträge zum Protokoll v. 10.1.1837, 20.2. u. 14.3.1837, LI LA RC 44/30.

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»Benedikt Oberhuber, Hintersass unserer Gemeinde und Schleifer von Profession, ist gleich nach seinem Austritt aus der Schule mit seinen Eltern, später mit anderm liederlichen Gesindel meistens in Vor­arl­berg herumgezogen, wo ich sonach rücksichtlich seiner Aufführung nichts Bestimmtes anzugeben vermag, als dass er, Oberhuber, bey seiner herumziehenden Lebensart Hang zu Ausschweifungen hat. Ob er früher schon in Untersuchung gestanden oder bestraft worden, ist mir gänzlich unbekannt. Vermögen besitzt Oberhuber keines, nur soviel ich weiss, hat er bey unserer Gemeinde sieben bis acht Gulden zu fordern. Sonst weiss ich nichts anzugeben.«22

Landvogt Johann Michael Menzinger bemerkte 1838, dass Benedikt Oberhuber »nicht ohne Gemütlichkeit« sei.23 Schon bei seiner (wiederholten) Einvernahme vor dem Landgericht in Vaduz am 28. Mai 1836 habe Oberhuber »viel Reumüthigkeit« gezeigt, »fast fortwährend« geweint und gesagt, hätte ihn Künzle nicht zum Diebstahl verleitet, so hätte er ihn nicht begangen.24 Ortsrichter Michael Marxer und Gemeindekassier Johann Georg Öhry aus Mauren berichteten über ihre zwei Gemeindeangehörigen  : »Was den Leumund derselben anbelangt, müssen wir bezeugen, dass sowohl die Agatha Kirschbaumer als auch die Franziska Haas, von herumziehenden Vagabunden herstammend, […] mit ihren Aeltern von Kindheit an verschiedene angränzende Nachbarstaa­ ten bettelnd durchstreiften, als Heimathlose sich auch in verschiedenen Gemeinden des Fürstenthumes aufhielten, wo sonach beyde Familien, davon Genannte, zugehören wegen längeren Aufenthalt in unserer Gemeinde, da man ihre Heimath nicht ermitteln konnte, uns zur Last fielen. Böses können wir von beyden weiters nicht sagen und müssen nur bemerken, dass die Agatha Kirschbaumer wegen Betteln und geschäftslosen Herumvagieren schon zweymal in Vor­arl­berg aufgegriffen und anher verschoben wurde, überhaupt dürften die Verirrungen beyder dieser fraglichen Weibsbilder in dem gänzlichen Mangel aller Erziehung hauptsächlich ihren Grund haben.«25

Der weitere Lebensweg von Agatha Kirschbaumer ist nur teilweise bekannt. Sie gebar 1840 und 1841 die Söhne Johann und Nikolaus, die als Säuglinge verstarben. Zum Vater der Kinder liegen keine Angaben vor. Nach ihrer gerichtlichen Verurteilung von 1838 hatte Agatha Kirschbaumer wohl ihr Konkubinatsverhältnis mit Franz Josef Künzle beendet  ; denn im Dezember 1837 hatte sie vor 22 Aussage Ortsrichter v. Eschen vor dem Landgericht in Vaduz, 27.8.1837, LI LA RC 44/30. 23 Oberamt Vaduz an Hofkanzlei Wien, 19.12.1838  ; Hofkanzlei Wien an Oberamt Vaduz, 15.1.1839 (Hofkanzlei lehnt Gesuch v. Oberhuber um frühere Entlassung ab), LI LA RC 44/30. 24 Oberamt Vaduz an Hofkanzlei in Wien, 19.12.1838, LI LA RC 44/30. 25 Aussage Ortsrichter v. Mauren vor dem Landgericht Vaduz, 27.8.1837, LI LA RC 44/30.



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Gericht ausgesagt  : »Ich kann zu meiner Entschuldigung nur anbringen, dass mich mein Verhältnis von dem Kienzel ganz abhängig gemacht hatte. Unerfahren noch, habe ich mich diesem Menschen hingegeben, der mich zu den begangenen Fehlern verleitet hat.«26 Jahre später stellte das Regierungsamt in Vaduz Reisepässe für Agatha Kirsch­baumer aus, und zwar 1849 und 1851. Als »Tagelöhnerin« reiste Agatha Kirschbaumer am 5. Mai 1849 nach Vor­arl­berg. Dort wurde sie in Thüringen am 31. Mai 1849 »wegen Bettel« aufgegriffen und nach Liechtenstein zurückgeschoben. Mit einem neuen Reisepass zog Agatha Kirschbaumer am 28. Mai 1851 nach Tettnang, wo sie vermutlich auch als Tagelöhnerin oder Dienstmagd tätig war. Bereits am 14. Juli 1851 wurde sie erneut nach Liechtenstein zurückgeschafft, »wegen Bettel und unsittlichem Lebenswandel«.27 1857 verstarb Agatha Kirschbaumer, 43-jährig. Die Gemeinde Mauren bezahlte die Beerdigungskosten.28 Matthäus Kirschbaumer und Maria Anna Oberhuber Wie eingangs erwähnt, lebte Agathas Bruder Matthäus Kirschbaumer im Jahr 1845 mit Maria Anna Oberhuber im Konkubinat in Nendeln. Maria Anna Oberhuber war eine jüngere Schwester von Benedikt Oberhuber, der ebenfalls schon genannt wurde. Deren Vater Benedikt Oberhuber senior war ein nicht-sesshafter Korbflechter und Sägenfeiler, der um 1784 in Schaan geboren wurde.29 Der Eschner Ortsrichter Johann Risch gestattete Maria Anna Oberhuber und Matthäus Kirschbaumer, in Nendeln vorübergehend im Konkubinat zu leben, mit der Auflage, sich bald eine Heiratserlaubnis einzuholen. Landvogt Johann Michael Menzinger rügte die Gemeinde Eschen dafür scharf  : »Wider Gesetz, Ehrbarkeit und Gewissen hatte also der Ortsrichter zu einer öffentlichen und beharrlichen Unsittlichkeit geschwiegen, und [deren] Fortsetzung gestattet.«30 Matthäus Kirschbaumer wurde mit viertägigem Arrest bestraft, aus 26 Einvernahme v. Agatha Kirschbaumer vor dem Landgericht Vaduz, 12.12.1837, LI LA RC 44/30. 27 Rückschiebungen v. Agatha Kirschbaumer nach Liechtenstein, 1849 u. 1851, LI LA RC 85/64. 28 Hinweis in Beilage zur Jahresrechnung 1857 der Gemeinde Mauren  : »1857 den 28.t Dezember der Agatha Kirschbaumer ein Leichensarg gemacht, 2 fl.«, Gemeindearchiv Mauren (GAM), VI.1  : Gemeinderechnungen von Mauren ab 1809. 29 Stammbaum bei Biedermann, Überzeugung, S. 193. 30 Oberamt Vaduz an Ortsgerichte Eschen u. Mauren, 10.10.1845, betr. Einvernahme v. Matthäus Kirschbaumer, LI LA RC 85/64.

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Schaanwald um 1915 (Privtarchiv Louis Jäger, Schaanwald; Fotograf unbekannt)

Eschen ausgewiesen und in seine Heimatgemeinde Mauren abgeschoben. Maria Anna Oberhuber ihrerseits sei, so Landvogt Menzinger, »auf keine Weise im Maurer Gemeinde-Bezirke zu dulden«, zudem müsse der Quartiergeber in Nendeln eine Strafe von zwei Gulden zugunsten des lokalen Armenfonds entrichten.31 Das Oberamt in Vaduz hatte sich indes hinter den Kulissen um eine gütliche Lösung für das mittellose Paar bemüht. Matthäus Kirschbaumer und Maria Anna Oberhuber erhielten schließlich doch eine Heiratserlaubnis, die Frau wurde zur Angehörigen der Heimatgemeinde ihrer zukünftigen Ehegatten erklärt. Damit wurden 1845 die drei bereits geborenen gemeinsamen Kinder ebenfalls legitimiert. Das Paar bekam sieben weitere Kinder, die Familie baute 1857 ein eigenes Haus in Schaanwald.32 Matthäus Kirschbaumer arbeitete als Fabrikarbeiter im benachbarten Feldkirch. Maria Anna Oberhuber und ihr Mann Matthäus Kirschbaumer verstarben beide im Jahr 1871. Sie hinterließen immerhin ein eigenes Haus, hatten aber sonst kein weiteres Vermögen. Der ebenfalls in Schaanwald lebende Emil Kirschbaumer, ein Enkel dieser Eheleute, konnte sich schließlich 1916 in das volle Gemeindebürgerrecht von Mauren einkaufen.33 31 Ebd. 32 Matthäus Kirschbaumer, Hausbau in Schaanwald 1857, LI LA RC 106/208. 33 Maria Anna Kirschbaumer, geb. Oberhuber, Tod am 29.4.1871, LI LA J 4/A 102/37  ; Bieder-



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Franziska Haas und Benedikt Oberhuber Benedikt Oberhuber bemühte sich 1844 beim Oberamt in Vaduz um den Erhalt einer Heiratsbewilligung für sich und seine Braut Franziska Haas. Er habe drei Kinder mit Franziska Haas gezeugt, und »um diese von der Schmach unehelicher Geburt zu entheben, bin ich willens sie [Franziska Haas] zu ehelichen«.34 Er verdiene als Schleifer seinen täglichen Unterhalt für sich und seine Familie.35 Das Heiraten wurde ihm und seiner Braut ebenfalls gestattet, Franziska Haas und ihre legitimierten Kinder wurden der Gemeinde Eschen als heimatberechtigte Hintersassen zugeteilt. Damit wurde auch das Heimatrecht von Benedikt Oberhuber in dieser Gemeinde bestätigt. Franziska Haas und Benedikt Oberhuber hatten bereits 1839 in Nendeln in einem Haus gewohnt, das damals dem Eschner Gemeindebürger Xaver Ender gehörte. Ebenfalls in diesem Haushalt lebte Benedikt Oberhubers Vater, er verstarb 1852.36 1862 wurde Benedikt Oberhuber junior als »Tagelöhner und Hausbesitzer« in Nendeln bezeichnet.37 Dennoch blieb seine Lebenssituation prekär  : Im selben Jahr wurde er wegen eines Holzdiebstahls vorgeladen. Benedikt Oberhuber gestand die Tat, »entschuldigt den Diebstahl durch seine Armuth«  ; er habe das Holz zur Ausbesserung seines Schweinestalls verwendet. Oberhuber wurde zu zwei Tagen Arrest verurteilt, verschärft durch einen Fasttag.38 Benedikt Oberhuber starb bereits 1866,39 seine Frau Franziska 1893.40 Die Tochter Katharina Oberhuber hatte 1870 Jakob Haas geheiratet. Dieses Paar zog mit seinen neun Kindern später ins Vaduzer Mühleholz, wo ihre Nachkommen Arbeit in der Textilindustrie fanden.41

mann, Überzeugung, S.  209  : Emil Kirschbaumer bezahlte 1.000 österreichische Kronen als Einkaufstaxe. 34 Gesuch Benedikt Oberhuber um Ehebewilligung  ; Vorsprache beim Oberamt Vaduz, 31.10.1844, LI LA RC 86/44. 35 Ebd. 36 Liste von Konkubinatspaaren in Eschen und Mauren, 1839, LI LA RC 86/41. 37 Benedikt Oberhuber, Holzdiebstahl, Protokoll Forstamt, 12.6.1862, LI LA J 3/S 1862/55. 38 Ebd. 39 Benedikt Oberhuber, Tod  : 20.12.1866, Nachlass  : 5.12.1867, 212 fl. u. 12 kr. ö. W., LI LA J 4/A 98/114. 40 Franziska Oberhuber, geb. Haas, Tod am 7.1.1893, Haus Nr. 154 in Nendeln, »Vermögen ist keines gewesen, [sie] wurde von der Gemeinde unterstützt«  ; LI LA J 4/A 129/31. 41 Biedermann, Überzeugung, S. 181–185.

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Zur Bedeutung des Ehekonsenses In mehreren Schweizer Kantonen wurde das Heiratswesen schon im 18. Jahrhundert unter stärkere staatliche Aufsicht gestellt. Nach staatlicher Auffassung war die Ehe nicht primär die rechtliche Bestätigung einer gefühlsmäßigen Bindung zwischen zwei Menschen, sondern eine zu kontrollierende »Grundlage der Fortpflanzung und Vermehrung des Volkes«.42 Von der Obrigkeit reglementiert, sollte verhindert werden, dass sich vermögenslose Personen unkontrolliert vermehrten und so zu einer Belastung für die Armenfürsorge wurden. Eine fürstliche Verordnung führte 1804 den staatlichen Ehekonsens in Liechtenstein ein. Eine Ehe wurde in der Folge nur dann rechtsgültig im Fürstentum, wenn ihr die Landesobrigkeit zugestimmt hatte. Auf dieser gesetzlichen Basis konnte der Staat Ehen »solcher Menschen, die weder Vermögen haben, noch eine Profession betreiben«, verbieten. So sollte verhindert werden, dass »der Armutsstand vermehret und mit diesem noch mehr anderes Unheil veranlasset werde«.43 Diesem Ehekonsens folgte 1841 eine ergänzende Verordnung. Aufgrund dieser neuen Verordnung waren alle im Ausland geschlossenen Ehen ungültig, wenn nicht auch die liechtensteinische Obrigkeit einer solchen Heirat zustimmte. Diese zweite fürstliche Verordnung zielte primär  – wenig erfolgreich – auf die von der katholischen Kirche in Rom abgesegneten Eheschließungen von mittellosen Personen.44 Rom-Ehe: Die katholische Kirche umgeht staatliche Verbote Der liechtensteinische Landvogt Peter Pokorny hatte bereits 1828 dieses Verhalten der katholischen Kirche scharf gerügt  : »Liederliches und hergelaufenes Gesindel, welches nach den Gesetzen dieses Landes nicht die geringste Hoffnung zu einer Heiratsbewilligung haben konnte, fand zu allen Zeiten sichere Zuflucht in Rom, wo man sich eben so wenig um die Verhältnisse der Copulationswerber wie um die Gesetze des betreffenden Landes kümmerte und nach 42 Thomas Dominik Meier/Rolf Wolfensberger, »Eine Heimat und doch keine«. Heimatlose und Nicht-Sesshafte in der Schweiz (16.–19. Jahrhundert), Zürich 1998, S. 41. 43 Fürstl. Verordnung v. 14.10.1804 betr. Einführung politischer Ehekonsens, [https://login.gmg. biz/earchivmanagement/projektdaten/earchiv/Media/1804_10_14_einfuehrung_politischer_ ehekonsens.pdf ], Zugriff  : 14.9.2014. 44 Fürstl. Verordnung betr. Ungültigkeit v. Ehen ohne staatl. Ehekonsens, 15.7.1841, [https:// login.gmg.biz/earchivmanagement/projektdaten/earchiv/Media/1841_07_15%20ungueltigkeit_von_ehen_ohne_ehekonsens.pdf ], Zugriff  : 14.9.2014.



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Ein Anklagegrund: Hochzeitsurkunde aus Rom 1852 (Liechtensteinisches Landesarchiv)

dem alten canonischen Gebrauche die Verbandung jedes Brautpaars vollzog. Ein leichtes war es also, den Gesetzen dieses Landes in dieser Hinsicht Trotz zu biethen, und die schönste Gelegenheit für ungesittete Persohnen, Bettler, und liederliche Dirnen, ihrem sonst sittenlosen Lebenswandel den Deckmantel eines erlaubten Umganges zu geben.«45

Paare, die nach Rom wanderten, um dort zu heiraten, sind konkret auch aus Liechtenstein belegt. Die Schicksale dieser Menschen sind indes oft nur bruchstückhaft bekannt geworden. Drei Beispiele von solchen Rom-Ehen seien nachfolgend erwähnt. Die 1819 geborene Maria Christina Kirschbaumer aus Mauren, eine weitere Schwester von Matthäus und Agatha Kirschbaumer, heiratete 1845 in Rom den aus Schruns im Montafon stammenden Franz Josef Wagner. Dieser war als Dachrinnen-Macher tätig.46

45 Landvogt Peter Pokorny an Fürst Johann I. in Wien, 12.2.1828, LI LA RC 5/31. 46 Maria Christina Kirschbaumer, unerlaubte Rom-Ehe, 1845, LI LA RC 85/107.

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Anna Maria Allenbach, Tochter des Triesenberger Geschirrhändlers Johann Allenbach und der Maria Egger, heiratete 1852 in Rom Xaver Mähr aus Heiligkreuz bei Feldkirch.47 Anna Maria Allenbach und ihre Mutter waren schon früher ins Visier der Feldkircher Behörden geraten. So hieß es 1839  : »[Sie] besuchten die hiesigen Fabriken, standen jedoch aus der Arbeit aus, und es hat sich Anna Maria Allenbach mit einem Witwer, Xaver Mähr, in das Saminental begeben, wo sie in [einer] Alphütte mehrere Wochen zusammen lebten.«48 Einer solchen »unsittlichen Fagabundenfamilie« dürfe kein Aufenthaltsrecht gegeben werden.49 Und das Vaduzer Oberamt bemerkte 1840, dass Anna Maria Allenbach »wegen geschäftslosem Herumvagieren, Concubinat mit Xaver Mähr aus Heiligkreuz im Jahr 1840 aus dem Canton Graubünden anher eingeliefert und mit 5 Ruthen Streichen, dann Polizeyarrest, bestraft [wurde]«.50 Kreszentia Knobel und Josef Bauer aus Triesenberg zogen ebenfalls 1852 nach Rom, um sich dort kirchlich trauen zu lassen. Josef Bauer arbeitete als Schleifer, Kreszentia Knobel war als Besenbinderin tätig.51 Der Triesenberger Ortsrichter Johann Bühler verbot dem Paar bereits 1850 das Heiraten  ; denn Josef Bauer hatte mit Anna Maria Kirschbaumer (1812– 1882) mehrere uneheliche Kinder gezeugt, für die die Gemeinde Triesenberg nicht aufkommen könne.52 Aus diesem Grund hatte die Gemeinde Triesenberg zuvor auch eine Ehe zwischen Josef Bauer und Anna Maria Kirschbaumer abgelehnt. Diese Frau ist eine weitere Schwester von Agatha, Matthäus und Maria Christina Kirschbaumer. Die Beziehung zwischen Anna Maria Kirschbaumer und Josef Bauer zerbrach, nicht zuletzt deshalb, weil das Paar in keiner der beiden Heimatgemeinden willkommen war. Josef Bauer äußerte sich dazu (nachträglich) 1854 vor dem Regierungsamt in Vaduz  : »Allein in meiner Gemeinde Triesenberg protestirte man gegen die Kirschbaumerin, die nach Mauren gehört, und die Maurer wollten wieder mich nicht.«53 47 Heirat v. Anna Maria Allenbach aus Schaan in Rom  ; Land- und Kriminalgericht Feldkirch an Regierungsamt Vaduz, 25.5.1852, LI LA RC 63/17. 48 Heirat v. Anna Maria Allenbach aus Schaan in Rom  ; Land- und Kriminalgericht Feldkirch an Oberamt Vaduz, 26.6.1839, LI LA RC 63/17. 49 Ebd. 50 Heirat v. Anna Maria Allenbach aus Schaan in Rom  ; Notiz Oberamt Vaduz, o. D. [1840], LI LA RC 63/17. 51 Untersuchung v. Josef Bauer u. Kreszentia Knobel betr. Übertretung gegen die öffentliche Sittlichkeit u. wegen unbefugter Verehelichung im Ausland, 1854, LI LA J 3/S 1854/26. 52 Biedermann, Überzeugung, S. 177–179. 53 Einvernahme v. Josef Bauer vor dem Regierungsamt Vaduz, 26.10.1854, LI LA J 3/S 1854/26  : Untersuchung des Josef Bauer und der Kreszentia Knobel wegen Übertretung gegen die öffentliche Sittlichkeit und unbefugter Verehelichung im Ausland.



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Josef Bauer und seine neue Frau Kreszentia Knobel hatten also nun 1852 in Rom geheiratet. Als sie 1853 nach Liechtenstein zurückkehrten, hatten sie im Gepäck eine Heiratsurkunde aus Rom. Sie legten das lateinisch geschriebene Dokument sogleich nichts ahnend dem Triesenberger Pfarrer vor. Dies führte 1854 zur Anklage »wegen schwerer Polizeiübertretung gegen die öffentliche Sittlichkeit durch Eheschliessung im Auslande ohne Bewilligung der zuständigen Behörde«.54 Da das Paar sonst einen guten Leumund hatte, fielen die Urteile eher mild aus  : dreieinhalb Monate Arrest für Josef Bauer, drei Monate Arrest für Kreszentia Knobel. Letztere war nach eigener Aussage zudem bereit, den Kindern zu helfen, die Josef Bauer zuvor mit Anna Maria Kirschbaumer gezeugt hatte.55 Es bleibt die Frage, weshalb ein Paar eine so lange Reise bis Rom auf sich nahm, um nach der Rückkehr doch gerichtlich verfolgt zu werden. Wolfgang Scheffknecht schreibt dazu  : »Das Bemühen um den kirchlichen Segen muss nicht in erster Linie religiös motiviert gewesen sein. Wurde ein vagierendes Paar von einer Landstreife aufgegriffen, so war es in jedem Fall von grossem Vorteil, wenn dieses einen Trauschein vorweisen konnte. So blieb diesen Menschen zumindest der Verdacht der Hurerei erspart.«56

Zahlreiche Quellen belegen es  : Besonders ledige und nicht-sesshafte Frauen wurden diffamiert und mit Prostituierten gleichgesetzt. Wenn eine Frau Behörden gegenüber eine stabile Beziehung vorweisen konnte, so war dies sicher positiv.57 Eine gesetzlich anerkannte Eheschließung hatte weitere Vorteile, nicht zuletzt für die Kinder des betreffenden Paares. Bereits der Vaduzer Landsbrauch von 1667 hatte festgelegt, dass nur aus ehelichen Verbindungen stammende Kinder erbberechtigt waren.58 Und noch im Jahr 1864 diskutierte der Landtag 54 Untersuchung v. Josef Bauer u. Kreszentia Knobel betr. Übertretung gegen die öffentliche Sittlichkeit und unbefugter Verehelichung im Ausland, 1854. Protokoll Regierungsamt Vaduz, 27.10.2854, LI LA J 3/S 1854/26. 55 Befragung v. Kreszentia Knobel vor dem Regierungsamt Vaduz, 26.10.1854, LI LA J 3/S 1854/26. 56 Wolfgang Scheffknecht, »Arme Weiber«, in  : Alois Niederstätter/Wolfgang Scheffknecht (Hg.), Hexe oder Hausfrau. Das Bild der Frau in der Geschichte Vor­arl­bergs, Sigmaringendorf 1991, S. 77–109, S. 101. 57 Sieglinde Amann, Armenfürsorge und Armenpolitik in Feldkirch von 1814 bis 1914 (Rheticus-Gesellschaft 34), Feldkirch 1996, S. 118. 58 Karin Schamberger-Rogl, »Landtsbrauch, oder Erbrecht«, in der »Vaduzischen Grafschaft üblichen«. Ein Dokument aus dem Jahr 1667 als Grundlage für landschaftliche Rechtsprechung, in  : Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein 101 (2002), S. 1–128, S. 26.

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Klaus Biedermann

Fidel Kirschbaumer in seinem Todesjahr, 1962 (Foto: Erich Allgäuer, Eschen; Fotograf unbekannt)

in Vaduz kontrovers, ob ein uneheliches Kind von den Bürgerrechten auszuschließen war. Schließlich entschied der Landtag am 29. Februar 1864, dass uneheliche Kinder auf jeden Fall das Bürgerrecht der Mutter erhalten sollten.59 Heiratete eine Frau, so musste sie das Bürgerrecht ihres Mannes gegen eine Gebühr erwerben. Diese Einkaufsgebühr wurde als Brauteinkaufstaxe bezeichnet. Minderjährige uneheliche Kinder konnten durch eine Heirat legitimiert werden. Sie wurden so ebenfalls erbberechtigt. Bei den erwähnten Zuweisungen von Maria Anna Oberhuber und Franziska Haas zu den Heimatgemeinden ihrer Ehemänner wurde auf diese Einkaufstaxe allerdings verzichtet. Dies waren aber wohl seltene Ausnahmen zur geltenden Regelung.60 Die erwähnte Anna Maria Kirschbaumer, die nie heiraten konnte, hatte dennoch zahlreiche Nachkommen. Ein Urenkel von ihr ist zum Beispiel der »Zoona-Macher« Fidel Kirschbaumer (1914–1962). Er war dem traditionellen Familienhandwerk der Korbflechterei treu geblieben.61

59 Biedermann, Überzeugung, S. 127–128. 60 Ebd., S. 35–37, S. 220–224. 61 Meier-Falk, Familienstammbuch Mauren, Bd. 1, S. 125.



Lebenswege von Angehörigen liechtensteinischer Unterschicht-Familien 

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Im Geiste des Gemeindegesetzes von 1842 Bei Einbürgerungen war der liechtensteinische Staat im 19. Jahrhundert tendenziell offener als die Gemeinden. Der Staat versuchte auch, die Einbürgerungsfragen auf nationaler Ebene neu zu regeln. Ein erstes Freizügigkeitsgesetz von 1810, das allen Staatsangehörigen das freie Niederlassungsrecht in einer anderen Gemeinde gewährte, scheiterte in der Praxis am Widerstand der Gemeinden. Das Gemeindegesetz von 1842 akzeptierte dann zwar das Recht der Gemeinden, selbst über die Neuaufnahme von Bürgern zu entscheiden, aber es gab andererseits dem Staat eine gewisse Handhabe, die Gemeinden zur Aufnahme von Bürgern zu zwingen. Zumindest sollten diese Personen ein Heimatrecht in einer Gemeinde erhalten.62 Damit war grundsätzlich beabsichtigt, Fahrende und Heimatlose sesshaft zu machen. So sollte auch das zumeist prekäre Schicksal dieser Personen gelindert werden.63 Im liechtensteinischen Gemeindegesetz von 1842 heißt es in Paragraf 60 dazu  : »Die dem Lande zugewachsenen fremden Leute, welche nicht mehr entfernt werden können, und die in früheren Zeiten aufgenommenen sogenannten Staatsbürger, welche nicht ausdrücklich einer bestimmten Gemeinde zugewiesen worden sind, werden als Hintersassen jener Gemeinde erklärt, in welcher jene bei Erscheinung dieses Gesetzes ihren ordentlichen Wohnsitz genommen haben«.

Heimatrecht für Ottilia Scherer und Franz Josef Haas in Eschen Eine Angehörige der vormals nicht-sesshaften Familie Haas wurde bereits erwähnt  – Franziska Haas. Ihr Vater Franz Anton Haas war im späten 18. Jahrhundert aus dem Elsass gekommen. Er war ein französischer Soldat, der nach dem Kriegsausbruch von 1792 ins Rheintal kam. Ein älterer Bruder von Franziska Haas war Franz Josef Haas. Von ihm und seiner Familie ist nun die Rede.64 Franz Josef Haas wurde im Jahr 1798 in Eschen geboren und getauft. Er erlernte später das Handwerk des Korbflechtens. Franz Josef Haas heiratete im Mai 1827 in Rom Ottilia Scherer (1800–1853), die väterlicherseits aus Scher62 Ebd., S. 62–67, S. 90–101. 63 Gemeindegesetz 1.8.1842, [https://login.gmg.biz/earchivmanagement/projektdaten/earchiv/ Media/1842_08_01_gemeindegesetz.pdf ], Zugriff  : 14.9.2014. 64 Biedermann, Überzeugung, S. 181 f.

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willer im Elsass und mütterlicherseits aus Blumegg bei Stühlingen (Baden) stammte. Ottilia Scherer wurde – »geschäftslos in Wäldern herumziehend« – im Januar 1828 in Liechtenstein aufgegriffen, zusammen mit dem »heimathlosen, zugleich eingebrachten Vagabunden Franz Joseph Haas«.65 Das Vaduzer Oberamt versuchte, Ottilia Scherer in das Großherzogtum Baden abzuschieben  : Sie habe ohne Bewilligung Franz Josef Haas in Rom geheiratet und laut Heimatschein von 1822 sei sie eine badische Landesangehörige. Das ist ein Hinweis darauf, dass die Ehe ihrer Eltern nicht anerkannt war und Ottilia Scherer im Heimatrecht der Mutter folgte. In Meersburg am Bodensee stoppten die Zollbehörden die Rückschiebung von Ottilia Scherer bereits nach drei Tagen mit der Begründung, der besagte Heimatschein sei ungültig. Ottilia Scherer gelangte nun wieder zurück nach Liechtenstein. Franz Josef Haas und Ottilia Scherer, die bereits zwei Kinder hatten, wurden 1829 erneut in Appenzell aufgegriffen und nach Liechtenstein abgeschoben. Laut amtlichen Angaben war das Paar »ohne Schriften herum gezogen«.66 Nach eigenen Angaben wohnten Ottilia und Franz Josef Haas mit Familie – das Paar hatte nun sieben Kinder  – seit 1837 in Eschen.67 Die Familie lebte im Haus des Eschner Gemeindebürgers Johann Batliner, etwas oberhalb des Dorfes in der Flur Aspen. Im Jahr 1842 aber wollte die Gemeinde Eschen die Familie Haas loswerden.68 Die Gemeinde drohte dem Quartiergeber Johann Batliner sogar mit Entzug des Gemeindenutzens, sofern er diese Familie weiter beherberge.69 Franz Josef Haas bat das Oberamt in Vaduz um Hilfe. Hier in Vaduz schilderte er am 30. März 1842 seine missliche Lage. Der Eschner Pfarrer Benedikt Styger bestätigte am 15. April 1842 dem Oberamt auf Anfrage, dass Franz Josef Haas in Eschen geboren und ein untadeliger Mensch sei. Das Oberamt verfügte am 23. April 1842, dass der in Eschen geborene liechtensteinische Staatsangehörige Franz Josef Haas dort heimatberechtigt sei  : Es bestehe daher »weder Grund noch Recht, ihn aus der Gemeinde abzuschaffen oder den Quartierträger zu bestrafen, weil er einen Unterthanen in sein Haus aufgenommen hat«.70 Die Familie Haas behielt also das Bleiberecht bei Johann Batliner auf Aspen. Im Einklang mit dem ebenfalls 1842 erlassenen Gemeindegesetz erhielt die Familie Haas in Eschen ein Heimatrecht. 65 Ebenda  ; Versuchte Abschiebung von Ottilia Scherer, 1828, LI LA RC 5/18. 66 Polizeikommission Appenzell an Oberamt Vaduz, 9.12.1829, LI LA RC 7/64. 67 Zur Familie Haas in Eschen siehe auch  : Adolf Meier/Jürgen Schindler (Red.), Eschner Familienbuch, 2 Bde., Eschen 1997, Bd. I, S. 118–123. 68 Einvernahme v. Franz Haas betr. Niederlassungsrecht in Eschen, 30.3.1842, LI LA RC 71/32. 69 Ebenda. 70 Oberamt Vaduz an Ortsvorstehung Eschen, 23.4.1842, LI LA RC 71/32.



Lebenswege von Angehörigen liechtensteinischer Unterschicht-Familien 

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Das spätere Gemeindegesetz von 1864 verfügte schließlich, dass alle liechten­ steinischen Staatsbürger auch Bürger einer Gemeinde sein mussten. Damit wurde der Rechtsstatus der Hintersassen offiziell abgeschafft. Spätestens zu diesem Zeitpunkt erhielt die Familie von Ottilia und Franz Josef Haas das Eschner Gemeindebürgerrecht. Dies bedeutete aber nicht das automatische Recht auf Zuteilung und Nutzung von Gemeindeboden. Die Familie Haas hätte sich in die vollen Bürgerrechte erst noch einkaufen müssen, dazu fehlte das Geld. Die Eschner Familie Haas blieb in der Folge eine Bürgerfamilie zweiter Klasse. Den Angehörigen dieser Familie verblieben als Perspektiven die Arbeit in der Textilindustrie, eine Tätigkeit als Knechte und Mägde oder die Auswanderung. Viele arbeiteten auch temporär im Ausland, so in benachbarten Regionen wie in Vor­ arl­berg und in Oberschwaben.71 Die Familie von Ottilia und Franz Josef Haas blieb mittellos. Deren Enkel­ kinder wurden anderen Familien in Eschen zur Verköstigung zugeteilt. Alle Nachkommen der Eschner Familie Haas wanderten aus, zumeist nach Österreich oder in die Schweiz.72 Dort fanden sie oftmals auch Ehepartner. Die Gemeinde Eschen zahlte in einzelnen Fällen sogar die Brauteinkaufstaxen, wenn Frauen aus der Familie Haas ins Ausland heirateten. Der Eschner Gemeinderat befürwortete zum Beispiel 1894 die Auszahlung von 80 Gulden österreichische Währung zugunsten des Sägers Georg Gorbach in Vor­arl­berg, zweckgebunden für den Brauteinkauf von Viktoria Haas in seine Bürgergemeinde Langen am Arlberg. So konnte die Gemeinde Eschen Personen loswerden, die ihnen wahrscheinlich sonst im Laufe der Jahre als Fürsorgefälle zur Last gefallen wären.73

71 Dazu grundlegend  : Biedermann, Überzeugung, S. 120–131 sowie S. 149–216. 72 Es gibt zwei weitere Stämme der Familie Haas, mit Bürgerrecht in Mauren und Nachkommen in Liechtenstein. 73 Biedermann, Überzeugung, S. 181 f.

Nikolaus Hagen

Das Ehepaar Gottfried und Anna Riccabona in Feldkirch

März 1938: Herkunft als Bedrohung Am 27. April 1938 verfasste die Feldkircher Unternehmerin Anna Riccabona eine Eingabe an die Staatspolizeidirektion in Innsbruck, die mit folgenden Worten beginnt  : »Vor einiger Zeit ist mir mein Reisepass abgenommen worden, vermutlich in der Annahme, dass ich wegen meiner nichtarischen Abkunft die Absicht hegen könnte, Öster­reich zu verlassen und aus diesem Grunde und bei diesem Anlasse mein Vermögen ausser Landes zu bringen […]. Ich bin in Feldkirch (Vor­arl­berg) als Tochter röm. kath. Eltern geboren und römisch-katholisch getauft und habe mich in der Folge mit einem röm. kathol. Arier, dem Rechtsanwalt Dr. Gottfried Riccabona in Feldkirch, verheiratet.«1

Das Schreiben endet mit dem Ersuchen um die Rückstellung des Reisepasses. In den wenigen Wochen zwischen dem »Anschluss« Österreichs an das nationalsozialistische Deutsche Reich, am 12. März 1938, und der Eingabe von Ende April, brach für das Ehepaar Gottfried und Anna Riccabona eine Welt zusammen. Eine Welt, in der Gottfried Riccabona angesehener Präsident der Vor­arl­berger Rechtsanwaltskammer, Inhaber zahlreicher Ehrenämter und seine Ehefrau Anna Erbin und Mitbesitzerin des erfolgreichen Textilhandelsunternehmens E. Perlhefter gewesen waren. Sie lebten mit ihren beiden Kindern im Zentrum von Feldkirch, einer Kleinstadt mit etwa 13.000 Einwohnern. Die ersten politisch und antisemitisch motivierten Verfolgungsmaßnahmen durch die neuen Machthaber setzten unmittelbar mit dem »Anschluss« ein2 – noch ehe dieser durch die im April vollzogene Abstimmungsfarce legitimiert worden war und lange bevor die legislative Basis der Verfolgung in Österreich formal in Kraft gesetzt wurde. Schon am 15. März 1938 verkündete das Vor­arl­berger Tag­ blatt, das offizielle Organ der Vor­arl­berger Nationalsozialisten, eine erste Dis1 vorarlberg museum (im Folgenden VLM), Sammlung Perlhefter Riccabona (SPR) H/1. 2 Meinrad Pichler, Nationalsozialismus in Vor­arl­berg. Opfer, Täter, Gegner, Innsbruck 2012, S. 52 ff.

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kriminierungsmaßnahme  : »Keine Juden mehr im Rechtswesen […]. Der Justizminister hat verfügt  : […] Die Sperre der Aufnahme der Juden oder Halbjuden in der Rechtsanwaltschaft oder im Notariat.«3 Drei Tage später kommentierte das Blatt die Ausreiseversuche von als Juden verfolgten Bürgerinnen und Bürgern an der Feldkircher Grenze  : »Juden nicht mehr erwünscht  ! Bei der Denkart der Juden darf es nicht wundern, daß diese volksfremden Elemente außer Land gehen, da ihnen nun endlich auch in Österreich der Boden für Nichtstun und Gaunerei entzogen ist […]. Weniger erfreulich ist, daß diese Menschen noch zu retten suchen was zu retten ist.«4

Die Programmatik des später massiv einsetzenden, organisierten Vermögensent­ zuges ist bereits erkennbar  : Die Juden sollen weg, ihre Vermögenswerte aber, in euphemistischer NS-Diktion, »dem deutschen Volke erhalten […] bleiben«  – sprich ihren rechtmäßigen Eigentümern vor der Flucht entzogen werden.5 Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch die Einziehung von Anna Riccabonas Reisepass. Dabei waren die sogenannten Nürnberger Rassegesetze, die im Altreich seit 1935 regelten, wer als Jude zu gelten habe und dadurch automatisch seine Reichsbürgerschaft verlor, in Österreich noch gar nicht in Kraft gesetzt worden. Die Nationalsozialisten vor Ort behalfen sich daher mit ihren eigenen, oft sehr viel umfassenderen Definitionen und setzten – ohne Rechtsgrundlage – erste Akte der Verfolgung gegen jene, die sie als Juden zu identifizieren glaubten. Darunter fällt auch die Abnahme von Anna Riccabonas Reisepass. Aber auch Annas Ehemann Gottfried war von schikanösen Maßnahmen betroffen. Am 15. April fand sich im Vor­arl­berger Tagblatt sein Name in einer Liste von Personen, die sich bereiterklärt hätten, »der Gauleitung der NSDAP in Vor­arl­berg zur Wiedergutmachung und zur Unterstützung geschädigter Parteikameraden nachstehend verzeichnete Summen zu überweisen«.6 Für Gottfried Riccabona waren 5.000 Schilling ausgewiesen. Tatsächlich hatte ihn die Sicherheitsdirektion zu dieser äußerst hohen Zahlung zwangsverpflichtet.7 Dabei war Gottfried Riccabona 3 4 5

Vor­arl­berger Tagblatt, 15.3.1938, S. 2. Vor­arl­berger Tagblatt, 18.3.1938, S. 5. Raul Hilberg charakterisiert die Enteignungen, nach der Definition der Opfergruppe, als den zweiten Schritt im Vernichtungsprozess der europäischen Juden. Die verschiedenen Enteignungsmaßnahmen trafen die Opfer in ihrer physischen Substanz und trieben sie direkt in die Armut. Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1900, S. 85 f. 6 Vor­arl­berger Tagblatt, 15.4.1938, S. 5. 7 Wertbereinigt entspräche der Betrag im Jahr 2003 etwa Euro 13.866.



Das Ehepaar Gottfried und Anna Riccabona in Feldkirch 

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Anna Riccabona, ca. 1914 (Foto im Privatbesitz)

ein verdienter Exponent der großdeutschen Bewegung in Vor­arl­berg und Mitglied oder gar Mitbegründer von zahlreichen deutschnationalen Vereinen und Verbänden. So verdient, dass ihm unter anderem der deutsche Volksverein Feldkirch die Ehrenmitgliedschaft verliehen hatte. Selbst an der Vor­arl­berger Buchdruckereigesellschaft, Herausgeberin des Vor­arl­berger Tagblattes, war Riccabona beteiligt und hatte das Unternehmen einst mitbegründet. Dass er nun inmitten einer Reihe von Personen genannt wurde, die von den Nationalsozialisten als »die typischen tragenden Elemente in der ehemaligen V. F. [Vaterländischen Front] und die aktiv tätigen Vertreter jenes [des austrofaschistischen] Systems« betrachtet wurden, musste ihn als persönliche Kränkung treffen.8 Freilich war Riccabona klar, dass der wahre Stein des Anstoßes nicht seine politische Gesinnung, sondern die jüdische Herkunft seiner Ehefrau war. Aus dieser hatte das Paar niemals einen Hehl gemacht. Ganz offen zur Sprache kam die Tatsache der jüdischen Abstammung in einem Briefwechsel mit dem Dornbirner Rechtsanwalt Anton Zumtobel Anfang Mai. Zumtobel, Gesellschafter der Buchdruckerei Gesellschaft und langjähriger Parteiobmann der Großdeutschen Volkspartei in Vor­arl­berg, regte in einem Brief an seinen »lieben Freund« dessen Austritt aus dem gemeinsamen Unternehmen an, da »nach den bestehenden Bestimmungen 8

VLM, SPR H/3, 12.5.1938.

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Deine Mitgliedschaft bei der Reichspressekammer ausgeschlossen« sei, diese aber nach den deutschen Regelungen für einen Zeitungsverlag notwendig wäre und er, Zumtobel, überdies davon ausgehe, dass Riccabona »kein besonderes Interesse mehr an der Beteiligung« habe.9 Auf ein konsterniertes Antwortschreiben von Riccabona nahm Zumtobel seine Forderung zurück, legte aber seine Gedankengänge vollkommen offen  : »Ich kann aber auch noch damit rechnen, daß ich in Beurteilung bzw. Auslegung der Arierbestimmung im Irrtum gewesen bin, denn es wurde mir inzwischen gesagt, daß ein Vollarier, der mit einer Volljüdin verheiratet sei, nicht als Jude gelte, sondern nur der Nichtvollarierer, der mit einer Volljüdin verheiratet ist.«10 Zumtobel war offenbar davon ausgegangen, dass sein von ihm als Freund bezeichneter Kollege nunmehr als Jude zu betrachten sei und hatte in vorauseilendem Gehorsam gleich dessen Entfernung aus der Gesellschaft in die Wege leiten wollen. Die eingangs erwähnte Passentziehung, die erpresste »Wiedergutmachung« und die Aufforderung zum Austritt aus der Vor­arl­berger Buchdruckerei-Gesellschaft waren nur ein Teil der Maßnahmen, denen die Familie Riccabona 1938 ausgesetzt war. Dazu kamen kränkende Akte im privaten Umfeld. Sie zeigen exemplarisch, wie dünn und brüchig jene Fassade der Bürgerlichkeit war, hinter der das Ehepaar jahrzehntelang im Glauben gelebt hatte, sich durch persönlichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Einsatz das allgemeinen Ansehen und die Anerkennung durch die Mitbürger erarbeiten und sichern zu können. Das durch Beruf, Titel und Ehrenämter repräsentierte symbolische Kapital erwies sich als Schall und Rauch  : Nun zählte nur noch die »Abstammung«. Als Jurist wusste Gottfried Riccabona, dass die sogenannten Nürnberger Gesetze in Österreich erst in Kraft treten würden. Ihm war aber auch klar, dass er und seine Familie längst in die Defensive geraten waren. Die nächsten Wochen und Monate war Riccabona damit beschäftigt, für sich selbst den »Ariernachweis« zu erbringen und die familiären Wurzeln seiner Frau zu erkunden. Er hoffte, doch noch einen »arischen« Vorfahren zu finden, um wenigstens ihren rechtlichen Status – und damit den der eigenen Kinder – zu verbessern. Inzwischen traf die Familie »die ganze Schwere der Verhältnisse«, wie er einem Bekannten im September 1938 brieflich gestand.11 Denn Ende Mai erreichte die »Rassengesetzgebung« endgültig Österreich. Die Beschaffung der notwendigen Dokumente war keineswegs einfach  : Sowohl Gottfrieds als auch Annas Familie waren aus verschiedenen Teilen der ehemaligen Habsburgermonarchie – und darüber hinaus auch aus Bayern – nach Vor­arl­berg eingewandert. »Das Tragische dabei ist«,   9 VLM, SPR H/2, 4.5.1938. 10 VLM, SPR H/2, 27.5.1938. 11 VLM, SPR C, 12.9.1938.



Das Ehepaar Gottfried und Anna Riccabona in Feldkirch 

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schrieb Gottfried seinem Bekannten, »dass hinsichtlich der Mutter meiner Frau […] bisher Belege nicht aufgefunden werden konnten, bei deren Vorhandensein sich die Sachlage wesentlich zu unseren Gunsten ändern würde«.12 Die Hoffnung auf diesen Strohhalm, nämlich den Beleg oder zumindest plausiblen Hinweis, dass die Schwiegermutter Dorothea Jerusalem aus einer außerehelichen Affäre ihrer Mutter mit einem »Arier« entstammte, sollte sich auch nicht mehr erfüllen. Im Februar 1939 erklärte die Zweigstelle Wien der Reichsstelle für Sippenforschung in einem Abstammungsbescheid definitiv  : »Anna Franziska Riccabona geborene Perlhefter ist […] Jüdin.«13 In ähnlichen Situationen ließen sich 1938 viele Paare scheiden, aus den unterschiedlichsten Motiven. Gottfried und Anna Riccabona blieben zusammen. Sie und die gemeinsamen Kinder überstanden die nationalsozialistische Herrschaft trotz schwerer Verfolgung  : Ihr Sohn Max, später als Schriftsteller und Künstler bekannt, überlebte ein halbes Jahr Gestapo-Haft in Salzburg und dreieinhalb Jahre KZ-Haft in Dachau.14 Anna Riccabonas Anteil am väterlichen Unternehmen wurde »arisiert«.15 Anhand der zahlreichen Dokumente zur Familiengeschichte, die Gottfried 1938 in seiner Zwangslage zusammentragen musste, lassen sich die Stationen einer Migrationsgeschichte rekonstruieren. Der vorliegende Beitrag ist der Versuch, den Weg der beiden Familien nach Feldkirch bis kurz nach der Jahrhundertwende nachzuzeichnen. Ein Weg, der aber nicht ausschließlich als Vorgeschichte der späteren Verfolgung verstanden werden sollte. Dezember 1906: Der Kaufmann Eduard Perlhefter Als Eduard Perlhefter 1906 in Feldkirch verstarb, nannte ihn eine Lokalzeitung den »Vater der Armen der Stadt« und einen Mann, der sich »allgemeiner

12 VLM, SPR C, 12.9.1938. 13 VLM, SPR I/1/I, 16.2.1939. 14 Siehe dazu Werner Dreier, Max Riccabona im KZ Dachau – Worüber er nicht schreiben konnte, in  : Johann Holzner/Barbara Hoiß (Hg.), Max Riccabona. Bohemien  – Schriftsteller  – Zeitzeuge (Edition Brenner-Forum 4), Innsbruck-Wien-Bozen 2006, S. 41–50  ; Nikolaus Hagen, Max Riccabona im Konzentrationslager Dachau, in  : Peter Melichar/Nikolaus Hagen (Hg.), Der Fall Riccabona, Bregenz 2016 (im Druck). 15 Vgl. Peter Melichar, Verdrängung und Expansion. Enteignungen und Rückstellungen in Vor­ arl­ berg (Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission. Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich 19), Wien-München 2004, S. 47.

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Wertschätzung und Beliebtheit« erfreut hätte.16 An seinem Begräbnis nahmen Abordnungen vieler Vereine und Einrichtungen der Stadt teil, vom katholischen Lehrlingsverein bis zur Feldkircher Liedertafel. Perlhefter hatte sie alle zu Lebzeiten unterstützt und ihnen testamentarisch großzügige Spenden hinterlassen. Seinen beiden Kindern, dem minderjährigen Sohn Max und der bereits, seit Juni 1906, mit Gottfried Riccabona verheirateten Tochter Anna, vererbte er sein Handelsunternehmen und das sich gerade in Bau befindliche stattliche Firmenund Wohngebäude am Feldkircher Marktplatz. Wer war Eduard Perlhefter, der, ungeachtet seiner Verdienste um die Stadt, erst im Jahre seines Todes auch Bürger der Stadt Feldkirch geworden war  ? Jeremias Perlhefter – der Name Eduard kam wohl erst später dazu – wurde am 12. April 1847 in Daudleb an der Adler, tschechisch Doudleby nad Orlicí, im ostböhmischen Kreis Königgrätz/Hradec Králové, in eine kinderreiche jüdische Familie geboren.17 Seine Eltern waren der Lederwarenhändler Jakob Perlhefter und dessen Ehegattin Rosalie, geborene Breitenfeld, die aus dem nahegelegenen Richenburg/Rychmburk stammte.18 Die Anfänge der jüdischen Landgemeinde in Daudleb, der die Familie Perlhefter angehörte, sind um die Mitte des 17. Jahrhunderts zu vermuten, als sich einige wenige jüdische Familien im Dorf niedergelassen hatten.19 Bis Ende des 18. Jahrhunderts war diese kleine Gemeinde auf etwa 40 unterscheidbare Familien angewachsen. In einer Aufstellung von 1783 sind noch beinahe alle männlichen wirtschaftlich aktiven Gemeindemitglieder als Hausierer verzeichnet. Ein Jahrzehnt später, 1793, erscheint die wirtschaftliche Tätigkeit der jüdischen Bewohner stärker ausdifferenziert  : Fünf Gewerbetreibende hatten sich damals auf den Handel mit Leder spezialisiert, vier waren vor Ort als Gerber tätig, ein weiterer war als reisender Gerber tätig und eine Reihe von anderen Händlern verkaufte Konfektionswaren. Auch einen Bäcker und einen Metzger gab es vor Ort. Nur mehr einige wenige waren als 16 Undatierte Zeitungsausschnitte im Nachlass, VLM, SPR A/1/a. 17 Angaben laut beglaubigter Übersetzung eines Auszugs aus den Geburtsmatrikeln der Kultusgemeinden des polit. Bezirkes Rchnov, 21.11.1938. VLM, SPR D/2. 18 Die Quellen sind in Bezug auf die Ortsangaben nicht immer ganz eindeutig. Es werden verschiedene Wohn- und Arbeitsorte im Umkreis der beiden Städte Königgrätz und Reichenau an der Knieschna/Rychnov nad Kněžnou genannt, die allerdings recht nahe bei einander liegen. Nicht zu umgehen war im Rahmen dieser Arbeit die Problematik, dass viele Dokumente, auf die sich dieser Beitrag stützt, lediglich als Abschriften und Übersetzungen von Auszügen aus diversen Registern überliefert sind, die in den Jahren 1938 bis 1945 zur Erbringung eines »Arier­nachweises« für die NS-Behörden gefertigt wurden. 19 Statistische Angaben beziehen sich auf Doudleby nad Orlicí, in  : Jüdisches Museum Prag (Hg.), Encyclopaedia of Jewish Communities (digitale englische Fassung), Prag o. J., [http://www.jewishmuseum.cz/doc/Doudleby_web_anglicky.pdf ].



Das Ehepaar Gottfried und Anna Riccabona in Feldkirch 

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klassische Hausierer tätig. Unter ihnen findet sich auch ein Daniel Berlhefter, der nun erstmals in den Bevölkerungslisten aufscheint und der Stammvater der späteren Perlhefter sein dürfte. Die böhmischen Familiantengesetze – aus Bayern sind vergleichbare Matrikelgesetze bekannt – sollten die Zahl der Juden im Kronland Böhmen begrenzen und teilten jeder jüdischen Familie eine nur an einen Sohn vererbbare Matrikelnummer zu.20 Nur Inhaber einer Matrikel durften heiraten, daher waren gerade jüngere Söhne oft zur Auswanderung gezwungen oder konnten erst in späteren Jahren heiraten. Damit stagnierte die jüdische Bevölkerung an vielen Orten – ganz im Sinne der Erfinderin, der Landesherrin Maria Theresia (1717–1780). In einer Liste von 1811 scheint in Daudleb ein Familiant mit dem Namen Perlhefter auf.21 Die Höchstzahl an jüdischen Familien in der Gemeinde dürfte bereits um 1833 mit 46 Familien erreicht worden sein. Damals stellten die etwa 305 jüdischen Einwohner ziemlich genau ein Drittel der Gemeindebevölkerung. Bis 1849 steigerte sich die Zahl der jüdischen Einwohner zwar noch auf etwa 400 Einwohner, allerdings weiterhin verteilt auf nur 46 Familien. Das dürfte sich wiederum durch die restriktive Familiantenpolitik erklären. Im Jahr 1850 findet sich Jakob Perlhefter, der Vater von Eduard Perlhefter, in einer Liste von Gewerbetreibenden, die eine Handelslizenz besaßen. Er hielt seit 1845 eine unbeschränkte Lizenz zum allgemeinen Warenhandel, scheint sich aber, wie viele andere Daudleber, auf den Lederhandel spezialisiert zu haben. Die Phase zwischen der Märzrevolution von 1848, die de facto die Abschaffung der Familiantengesetze in Böhmen mit sich brachte, und der endgültigen bürgerlichen Gleichstellung der österreichischen Juden von 1867, leitete den Niedergang der Daudleber wie vieler anderer Landjudengemeinden ein.22 Eduard Jeremias Perlhefter, der mehrere ältere Geschwister hatte, erlebte seine Kindheit in dieser – von der beinahe schon greifbaren Gleichstellung geprägten – letzten Phase der Daudleber Landjudengemeinde. Die Besserung der Lebensumstände in der Provinz und der aufkommende Wohlstand der Familie zeigen sich auch anhand seines Bildungsweges. Nach familiärer Überlieferung besuchte Eduard vier Klassen des staatlichen Obergymnasiums in Leitomischl/ 20 Vgl. Jewish Encyclopedia, Familianten Gesetz, Unveränderte Digitalausgabe der Jewish Encyclopedia von 1906, [http://www.jewishencyclopedia.com/articles/6005-familianten-gesetz], Zuriff  : 18.8.2014  ; sowie Rudolf Wlaschek, Juden in Böhmen. Beiträge zur Geschichte des europäischen Judentums im 19. und 20. Jahrhundert, München 1990, S. 11 f. 21 Ein zweiter, nach Daudleb zuständiger Familiant gleichen Namens, lebte in der Stadt Senftenberg/Žamberk. 22 Die Bevölkerungsentwicklung weist erstaunliche Parallelen zu jener in Hohenems auf. Zwischen 1850 und 1910 schrumpften die Mitgliederzahlen von etwa 400 auf 13, in Hohenems von 458 auf 66.

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Von links nach rechts  : Die Brüder Eduard, Salomon und Emanuel Perlhefter, Brünn 1905 (Foto im Privatbesitz)

Litomyšl. Wie man dessen Jahresbericht von 1852 – also kurz vor Eduard Perlhefters wahrscheinlichem Schuleintritt – entnehmen kann, wurde das Gymnasium etwa zu gleichen Anteilen von Tschechen und Deutschen besucht und sowohl die »böhmische« als auch die deutsche Sprache unterrichtet.23 Zu diesem Zeitpunkt waren von 208 Schülern – davon 100 Deutsche – nur sechs Israeliten, die übrigen waren katholisch. Wie die meisten ostböhmischen Juden war die Familie Perlhefter der deutschen Bevölkerung Böhmens zuzuordnen.24 Tatsächlich stellten die Juden in vielen kleineren Orten der Region – und für Daudleb scheint das vollkommen zuzutreffen – den einzigen deutschsprachigen Teil der Bevölkerung dar. Sie waren damit gleich in zwei Kämpfe verwickelt, in den Kampf um die vollkommene Emanzipation und bürgerliche Gleichstellung der Juden und in den grassierenden Sprachen- und Nationalitätenstreit in Böhmen und Mähren. Neben der ab 1867 gegebenen Möglichkeit, sich nun innerhalb 23 Zweites Programm des K. K. Obergymnasiums zu Leitomischl. Veröffentlicht am Ende des Schuljahres, Leitomischl 1852, S. 16 f. 24 Vgl. Wlaschek, Juden, S. 45.



Das Ehepaar Gottfried und Anna Riccabona in Feldkirch 

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Cisleithaniens vollkommen frei niederzulassen, mag auch das ein Grund dafür gewesen sein, dass die Migrationsbewegung sehr stark in Richtung deutschsprachiger Städte tendierte und im Vergleich zu den Landjudengemeinden in Deutschösterreich noch schneller vor sich ging. Im März 1881 verlobte sich Eduard Perlhefter, der wie seine Brüder Daudleb damals schon verlassen hatte und in Prag als Kaufmann arbeitete, mit Dorothea Jerusalem. Dorothea war am 16. August 1859 in Wolschau bei Prag zur Welt gekommen, aber in der im Adlergebirge gelegenen Stadt Chotzen/Choceň, also unweit von Daudleb, aufgewachsen. Am 3. April 1881 heiratete das Paar in der Nähe von Chotzen.25 Weil Dorotheas Vater früh verstorben war, wuchsen sie und ihre Geschwister bei verschiedenen Pflegefamilien auf. Eine ihrer Schwestern, Friederike »Fritzi« Jerusalem, heiratete den böhmischen Kaufmann Sigmund Freudenfels. Gemeinsam übersiedelte das Paar noch vor 1873 nach Innsbruck, wo Sigmund einen Textilhandel eröffnete. Ihnen folgten im Jahrzehnt darauf Dorothea und ihr Ehemann Eduard. Über Innsbruck nach Feldkirch Die Entscheidung der verschwägerten Ehepaare, ausgerechnet nach Tirol zu ziehen, mag sich einem nicht mehr rekonstruierbaren Zufall verdankt haben, aber sie lag im Trend. Denn die Wanderungsbewegung innerhalb der Habsburgermonarchie führte viele aus ländlichen Regionen der Peripherie in die neu entstandenen Industriegebiete oder wachsenden Städte, wie die Historikerin Sylvia Hahn erläutert  : »Die österreichischen Alpenländer waren im 19. Jahrhundert eindeutig ein Zuwanderungsgebiet. […] Der Großteil der Zuwanderer waren Angehörige der Monarchie, die ihre Herkunftsorte verließen, um in einem der industriellen Ballungsräume in Nieder- oder Oberösterreich, der Steiermark, in Vor­arl­berg oder in der Residenzstadt Wien einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. […] In manchen Regionen und Städten stellten die Zuwanderer in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zwischen zwei Drittel und drei Viertel der lokalen Bevölkerung. Insgesamt lassen sich zwei wichtige Zuwanderungswellen, eine erste im ersten Drittel und eine zweite im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, ausmachen.«26 25 Faksimile des Heiratsmatrikelauszuges via geni.com  ; Verlobungsanzeige, VLM SPR D/2. 26 Sylvia Hahn, Österreich, in  : Klaus J. Bade/Pieter C. Emmer/Leo Lucassen/Jochen Oltmer (Hg.), Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn 2010, S. 171–188, hier S. 176 f.

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Auch wenn Innsbruck und das Inntal weniger stark industriell geprägt waren, als etwa Vor­arl­berg, so profitierte die Stadt als wichtigstes Verwaltungszentrum im Westen der Monarchie und Verkehrsknotenpunkt überproportional vom allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwung. Zwischen 1869 und 1900 verdoppelte sich die Einwohnerzahl auf beinahe 50.000.27 Sigmund Freudenfels gelang es binnen weniger Jahre, sich in Innsbruck mit seinem Geschäft in der Museumsstraße zu etablieren.28 Vielleicht war Freudenfels Mitte der 1880er Jahre zur Überzeugung gelangt, dass sein Unternehmen bereit für eine Expansion sei und suchte dafür einen geeigneten Partner. Vielleicht ging die Initiative aber auch von seinem angeheirateten Verwandten Eduard Perlhefter aus, der dem erfolgreichen Beispiel seines Schwagers folgen wollte und ihn um Unterstützung bat. Sicher ist, dass Eduard Perlhefter ab Frühjahr 1885 Geschäftsführer der neuen Filiale der Firma Freudenfels in Feldkirch wurde. Um die Expansion vorzubereiten, mietete Freudenfels 1884 das im Eigentum der Innsbrucker Firma Gebrüder Grassmayr stehende Haus 109 in der Feldkircher Marktgasse.29 Als Vertragsbeginn wurde der 4. Februar 1885 festgelegt. Der Mietvertrag umfasste das eigentliche Ladengewölbe mit zwei vorgelagerten Arkaden, ein weiteres Ladenzimmer, ein Magazin im hofseitig gelegenen Teil des Gebäudes und eine Wohnung im ersten Stockwerk. Vielleicht schon Ende 1884, spätestens aber im Mai 1885, war Eduard mitsamt seiner Ehefrau in Feldkirch.30 Noch vor der Übersiedelung war Eduard Perlhefter am 4. Oktober 1884 nahe Prag zum katholischen Glauben konvertiert. Die Konversion seiner Ehefrau Dorothea Jerusalem erfolgte wenige Tage später, am 11. Oktober, allerdings in der Pfarrkirche St. Bonifaz in München. Die Beweggründe für den Religionswechsel sind nicht bekannt. War es vielleicht in Vorbereitung auf die Übersiedelung aus dem liberaleren Prag ins überwiegend katholische Vor­arl­berg  ? Dies bleibt Spekulation, es fällt aber auf, dass Sigmund Freudenfels, der zu diesem Zeitpunkt schon mehr als ein Jahrzehnt in Innsbruck verbracht hatte, damals noch der israelitischen Kultusgemeinde angehörte und erst im April 1886 in die katholische Kirche übertrat.31 27 Die Feldkircher Bevölkerung steigerte sich im Vergleichszeitraum um 37 Prozent, jene von Dornbirn um 34 Prozent. 28 Martin Achrainer, Jüdisches Leben in Tirol und Vor­arl­berg 1867 bis 1918, in  : Thomas Albrich (Hg.), Jüdisches Leben im historischen Tirol, Bd. 2  : Von der bayerischen Zeit 1806 bis zum Ende der Monarchie 1918, Innsbruck-Wien 2013, S. 193–380, hier S. 216 f. 29 Abschrift des Bestandsvertrages vom 22. Oktober 1886 durch das Kreisgericht Feldkirch, VLM SPR D/2. 30 Bestätigung durch den Magistrat der Stadt Feldkirch, 13. Mai 1885, VLM SPR D/2. 31 Sigmund Freudenfels, in  : Hohenems Genealogie, Datenbank zu jüdischer Familiengeschichte in



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Die weitere Firmengeschichte ist dank zahlreicher im Privat- und Firmennachlass erhaltener Dokumente sehr gut nachvollziehbar.32 An dieser Stelle soll nur die Anfangsphase kurz skizziert werden  : Das Feldkircher Geschäft wurde zu Beginn als Filiale der Innsbrucker Firma S. Freudenfels & Cie. mit Eduard Perlhefter als Geschäftsführer eingerichtet. In der Praxis brachte Freudenfels allerdings primär seine Waren, Finanzmittel und geschäftliche Kontakte ein, ansonsten führte Eduard Perlhefter das Unternehmen eigenständig. Die Geschäfte müssen für ihn jedenfalls gut gelaufen sein, denn schon 1888 wurde die Filiale in das selbständige Einzelunternehmen E. Perlhefter umfirmiert. Bis zu seinem Tod am 23. Dezember 1906 war Eduard Perlhefter in seinem Unternehmen tätig. Kurz zuvor hatte er allerdings noch verfügt, dass sein Prokurist Johann Rhomberg in das Unternehmen aufzunehmen sei. Mit 2. April 1908 wurde das Unternehmen schließlich, entsprechend seinem Wunsch, in die offene Handelsgesellschaft E. Perlhefter & Co, mit Eduards Erben und Johann Rhomberg als jeweilige Hälfteeigentümer, umgewandelt. Weil Dorothea Perlhefter schon vor ihrem Ehemann verstorben war, erbten die beiden Kinder Anna und Max jeweils einen Viertelanteil am Unternehmen. Das sich gerade im Umbau befindliche Haus am Marktplatz 13 war nicht Bestandteil des Unternehmens und verblieb damit gänzlich in Familienbesitz.33 Da Max damals noch ein minderjähriger Gymnasiast war, wurde sein Schwager Gottfried Riccabona zu seinem Vormund bestimmt. Riccabona hatte sich erst im Frühsommer des Jahres 1906 mit der damals zwanzigjährigen Anna Perlhefter verheiratet. Jänner 1894: Die Riccabonas in Feldkirch Gottfried Riccabona (1870–1964), der in Feldkirch als Rechtsanwalt tätig war, entstammte einem bürgerlichen Zweig des welschtiroler Dienstadelsgeschlechts Riccabona. Die weit verzweigte Familie Riccabona stammt ursprünglich aus den italienischsprachigen Gebieten der Habsburgermonarchie und ihre Angehörigen verbreiteten sich – sowohl durch ihre wirtschaftliche Tätigkeit als auch ihre zahlreichen Funktionen und Ämter im Dienste der Landesherren – in der geVor­arl­berg und Tirol [http://www.hohenemsgenealogie.at/gen/getperson.php?personID=I2388], Zugriff  : 28.8.2014. 32 Wichtige Quelle zur Firmengeschichte ist eine Denkschrift zum Nachfolgeunternehmen OHG Perlhefter & Rhomberg vom November 1958. VLM, SPR D, 5.11.1958. 33 Diese Tatsache sollte sich dann als positiv bei der »Arisierung« des Unternehmens erweisen. Die genauen Umstände können hier nicht geschildert werden. Nach 1945 kam es zur Rückstellung des Unternehmens.

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samten Grafschaft Tirol und kamen schließlich auch nach Vor­arl­berg.34 Ein Blick in das Namensverzeichnis des österreichischen Staatshandbuchs von 1907 gibt einen guten Eindruck über die geographische Verteilung einzelner Familienmitglieder und deren staatstragende Tätigkeiten.35 So fungierte etwa Oberingenieur Alfred von Riccabona als Bauleiter der Falzaregostraße in Ampezzo, Alfons von Riccabona war Professor im fürstbischöflichen Gymnasium Brixen, Othmar von Riccabona war unter anderem Mitglied der k. k. Grundlasten-Ablösungs- und Regulierungs-Landes-Kommission für Tirol und Vor­arl­berg in Innsbruck, sein Verwandter Julius von Riccabona saß im Tiroler Landeskulturrat und der Landes-Höfekommission und Rudolf von Riccabona bekleidete das Amt eines Gerichtsadjutanten am Bezirksgericht Hall in Tirol. Im vorarlbergischen Feldkirch scheinen gleich zwei Vertreter der Familie auf  : zum einen Pius von Riccabona, Bezirkskommissar an der k. k. Bezirkshauptmannschaft Feldkirch, zum anderen Gottfried Riccabona, gleichnamiger Vater des eingangs erwähnten Rechtsanwalts, der als Oberingenieur den k. k. Baubezirk Feldkirch leitete. Pocking – Kaltern – Feldkirch  : Stationen einer Beamtenkarriere Der ältere Gottfried Riccabona wurde am 7. Februar 1852 in Kaltern in Südtirol, einem der familiären Zentren und Stammsitz des Südtiroler Familienzweiges, geboren.36 Auch sein Vater hatte schon denselben Namen getragen und war in Kaltern außerehelich zur Welt gekommen. Die Mutter, Maria Pircher, stammte aus Bozen.37 Nach dem Abschluss des Gymnasiums in Bozen, im Jahr 1872, entschied sich Gottfried für ein Ingenieursstudium an der Polytechnischen Schule in München, der späteren Technischen Hochschule und heutigen TU München. Dort trat er 1874 dem Akademischen Gesangsverein München, einer deutschliberalen Studentenverbindung, bei.38 In Bayern lernte er wohl auch seine zukünftige Ehefrau Kunigunde Wildauer kennen, die kleinbürgerlichen Verhältnissen entstammte.39 Ihr Vater war Beamter im königlich bayrischen Staatsdienst, die 34 Jos Riccabona, Die Familie Riccabona, Innsbruck-Wien 1996. 35 Hof- und Staats-Handbuch der Österreichisch-Ungarischen Monarchie für das Jahr 1907, Wien 1907, S. 1351 (Alphabetisches Namens-Verzeichnis). 36 Geburtsdatum und -ort laut beglaubigter Abschrift des Geburts- und Taufschein (Zeugnis) von 31.1.1920, VLM, SPR A/1a. 37 Ein detaillierter Stammbaum – allerdings mit einigen Ungenauigkeiten – findet sich bei Riccabona, Die Familie Riccabona, S. 233 ff. 38 Akademischer Gesangsverein München (Hg.), Vereinsmitteilungen, München 1927, S. 83. 39 Geb. am 16.5.1857 in München, als Tochter des Kanzleiassistenten Josef Franz Wildauer und



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Mutter kam aus einer ärmlichen Familie von Viehhütern. Die Hochzeit fand am 30. Juli 1878 in der katholischen Pfarrkirche St. Bonifaz in München statt.40 Ebenfalls in Bayern, in Pocking, kam am 16. Juni 1879 auch der nach dem Vater benannte erste Sohn Gottfried Kuno zur Welt. Ins niederbayrische Pocking hatte es den jungen Ingenieur, nur wenige Wochen nach dem Studienabschluss im August 1876, durch eine Tätigkeit für die Königlich Bayrischen Staatseisenbahnen verschlagen, wo er beim Bau der Nebenbahnlinie Neumarkt-Pocking bis September 1879 erste berufliche Erfahrungen ­sammelte.41 Der Lebensmittelpunkt der jungen Familie verlagerte sich aber bald darauf wieder nach Südtirol, wo Ingenieur Riccabona ab 1880 – trotz eher durchschnittlicher schulischer und akademischer Leistungen – eine schöne Karriere im staatlichen Baudienst startete. Einige wichtige Stationen seien hier genannt  : Zwischen 1880 und 1894 verschiedenste Tätigkeiten bei der Etschbauleitung, darunter die Bauführung beim Auerer Durchstich und die Erweiterung des Kurtiniger-Durchstichs, 1881/82 Funktionen im Verkehrswegebau, unter anderem bei Teilabschnitten der Mendelpassstraße und der Rekonstruktion der Villnöser Talstraße sowie Planungsarbeiten im Rahmen der Wildbachverbauung. In Südtirol kamen auch die weiteren beiden Kinder des Paares zur Welt. Am 1. März 1882 wurde Elsa (Elisabeth) in Eppan bei Kaltern geboren und am 21. Jänner 1884 in Bozen der jüngste Sohn Ludwig. Auch wenn die Familie einige Jahre später aus beruflichen Gründen nach Vor­arl­berg zog, so sollten Südtirol und Kaltern doch weiterhin wichtige familiäre Bezugspunkte, auch für spätere Generationen, bleiben. Feldkirch  : Zwischenstation oder neue Heimat  ? Im Jänner 1894 wurde Gottfried Riccabona an die Bezirkshauptmannschaft Feldkirch versetzt und mit ihm übersiedelte im Frühjahr auch seine Familie nach Vor­arl­berg. Das jüngste Kind war zu diesem Zeitpunkt gerade zehn Jahre alt, der älteste Sohn stand kurz vor dem fünfzehnten Geburtstag. Im Dezember 1898 erfolgte die Beförderung des Vaters zum Bezirksingenieur und Ende Juli 1899 zum Oberingenieur. Damit war die Funktion des Baubezirksleiters für Feldkirch verbunden. Im selben Jahr wurde Riccabona auch in die beiden seiner Ehefrau Kunigunde Wildauer, geborene Löw. Beglaubigte Abschrift des Geburts- und Taufzeugnis vom 26.8.1938, VLM, SPR A/1a. 40 Beglaubigte Abschrift des Trauungsscheins, VLM, SPR A/1a. 41 Die Nachzeichnung der beruflichen Laufbahn folgt im Wesentlichen einem eigenhändig verfassten Lebenslauf von 1910, Gottfried Riccabona, Denkschrift, Innsbruck, Dezember 1910, VLM, SPR A/1a.

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Prüfungskommissionen für Dampfkessel und Baugewerbe bestellt – in letzterer fungierte er als Obmann. Im Baubezirk scheint sich Riccabona vor allem im Straßenbau hervorgetan zu haben. In seinem Lebenslauf zitierte er jedenfalls sichtlich stolz das Lob seiner Vorgesetzten  : »Besonders werde hervorgehoben, dass es ihm gelang, unter strenger Bedachtnahme auf die hierfür zur Verfügung stehenden, manchmal recht beschränkten Mittel die Reichsstrassen Vor­arl­bergs auf jene Höhe zu bringen, welche für das, der Kritik des Auslandes in besonderem Masse ausgesetzte Land so überaus wünschenswert erscheint.«42

Beruflich gesehen sollte Feldkirch allerdings nur eine Zwischenstation bleiben, wenn auch eine entscheidende. Im März 1908 wurde Gottfried Riccabona zum Baurat ernannt und mit 1. April des Jahres zur Dienstleistung bei der k. k. Statt­ halterei in Innsbruck bestellt. In Innsbruck folgte 1913 auch die Ernennung zum wirklichen Oberbaurat und damit die Krönung der Karriere, kurz vor dem Ruhestand im Jahr 1915. In den Biographien der Kinder, die hier nur skizziert werden können, nehmen Feldkirch und Vor­arl­berg eine sehr unterschiedliche Rolle ein. Tochter Elsa lernte in Feldkirch ihren Ehemann Arthur Hecke kennen. Das Paar verlobte sich am 28. Juli 190043 und verehelichte sich im Jahr darauf. Arthur Hecke, 1872 in Böhmen geborener Sohn eines Baurates, hatte das Prager Polytechnikum absolviert und 1899 eine Stelle als provisorischer Bauadjunkt im k. k. Baubezirk in Feldkirch erlangt.44 Er war also ein Dienstuntergebener von Elsas Vater Gottfried. Diese neue familiäre Bindung dürfte vielleicht ihren Teil dazu beigetragen haben, dass Hecke noch im Jahr seiner Heirat – und damit schon im dritten Dienstjahr – mit der Leitung des neugeschaffenen Baubezirks Reutte im Tiroler Außerfern bedacht wurde. 1908 wurde Hecke wie sein Schwiegervater nach Innsbruck zur Statthalterei versetzt und im Frühjahr 1909 zum Oberingenieur ernannt. Allerdings musste er schon kurz darauf wegen schwerer Erkrankung in den Krankenstand treten und verstarb am 1. Februar 1910 mit 38 Jahren an den Folgen dieser Krankheit. Elsa hinterblieb mit den beiden jungen Kindern in Innsbruck, wo mittlerweile ja auch wieder ihre Eltern wohnten. Höchstwahrscheinlich hat Elsa Hecke, anlässlich der Versetzung ihres Gatten nach Reutte und später nach Innsbruck, an den jeweiligen Dienstorten das Heimatrecht erlangt. Nach Kriegsende 1918 wurde ihr und den beiden Söhnen jedenfalls mehr42 VLM, SPR A/1a. 43 Anzeige der Verlobung, VLM, SPR A/2. 44 Lebenslauf nach VLM, SPR A/2, Sonderdruck aus Österreichische Wochenschrift für den öffentli­ chen Baudienst (1910), Heft 14, Wien o. J.



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Die glückliche Familie Riccabona, ca. 1912. Von links nach rechts  : Ludwig Riccabona, Anna Riccabona (stehend), Gottfried Riccabona, Arthur Hecke, Kurt Hecke, Kunigunde Riccabona (stehend), Baurat Gottfried Riccabona (Foto im Privatbesitz)

mals unter Verweis auf ihre Landesfremdheit und die Ernährungssituation im Land die Einreise nach Vor­arl­berg zur Sommerfrische verweigert.45 Der jüngste Sohn Ludwig Riccabona maturierte 1903 am Staatsgymnasium Feldkirch.46 Damals beabsichtigte er wohl ein technisches Studium zu ergreifen. Ob er das auch in die Tat umsetzte ist ungewiss, jedenfalls trat er später in den Militärdienst ein, wurde den Kaiserjägern zugeteilt und strebte die Offizierslaufbahn an. Als Leutnant im 1. Regiment leistete er vor 1912 in Innsbruck seinen Dienst, später dann in Trient. Wie aus der Korrespondenz mit seinem älteren Bruder eindrücklich hervorgeht, neigte Ludwig zur Verschwendung und war stets auf finanzielle Unterstützungsleistungen durch Eltern und Geschwister angewiesen  – was diese Teils erheblich belastete.47 Die finanzielle Sanierung brachte die Heirat mit der Südtirolerin Luis Settari im September 1914, die 45 VLM, SPR B. 46 Neunundvierzigster Jahresbericht des k. k. Staatsgymnasium in Feldkirch 1903–1904, Feldkirch 1904, S. 45. 47 Vgl. Brief Gottfried Riccabona, Rechtsanwalt in Feldkirch, an seinen Bruder Ludwig Riccabona, Leutnant in Trient, 30.11.1912, VLM, SPR A/3.

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aus einer begüterten Bozner Kaufmannsfamilie stammte. Nach seinem Dienst im Ersten Weltkrieg, den Ludwig Riccabona im Rang eines Majors beendete, führte er gemeinsam mit seiner Gattin Luis die aus deren Familienbesitz stammende Pension Briol in Dreikirchen.48 Er war der einzige, der nach Südtirol zurückkehrte, obwohl es mit Kriegsende an Italien gefallen war. Der älteste Sohn Gottfried Kuno Riccabona absolvierte in Feldkirch seine letzten Schuljahre am staatlichen Gymnasium und maturierte 1897 mit vorzüglichen Leistungen. Die vier Jahre Unterstufe hatte er in Bozen am Franziskanergymnasium absolviert. Nach der Matura entschied sich Gottfried Riccabona für das Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Innsbruck. Eine durchaus familientypische Wahl.49 In Innsbruck wurde er, angeregt durch seinen Vater, Mitglied des Akademischen Gesangsvereines, der späteren Sängerschaft Skalden. Am 14. November 1902 promovierte er an der Universität Wien50 und legte im Juni 1906 die Rechtsanwaltsprüfung in Innsbruck mit »sehr gutem« Erfolg ab. Zuvor schon war er als einziges der Kinder des Ehepaares Riccabona nach Feldkirch zurückgekehrt und hatte als Konzipient in der Rechtsanwaltskanzlei Josef Peer begonnen. Dass ausgerechnet Gottfried nach Feldkirch zurückkehrte, lässt sich – neben der familiären Bindung – sicherlich auf die prestigeträchtige Stelle als Konzipient bei Josef Peer zurückführen. Rechtsanwalt Peer amtierte seit 1901 als Feldkircher Bürgermeister, ab 1902 war er Landtags­ abgeordneter und Landeshauptmannstellvertreter.51 Sein Lebenslauf sei hier etwas ausführlicher dargestellt, da er einige Parallelen zu Riccabona aufweist und diesen auch maßgeblich beeinflusst haben dürfte. Josef Peer kam 1864 in Erl in Tirol zur Welt. Weil sein Vater mit der Leitung des Zollamts im liechtensteinischen Schaan beauftragt wurde, besuchte Peer die dortige Volksschule und später das Gymnasium in Feldkirch. Das Studium der Rechtswissenschaften in Innsbruck beendete er 1887 mit einer Promotion sub auspiciis imperatoris. Nach Zwischenstationen in Bozen, Meran und Innsbruck kehrte er 1889 nach Feldkirch zurück, um als Konzipient zu beginnen und sich auf die Advokatenprüfung vorzubereiten, die er 1891 erfolgreich abschloss. Seine eigene Kanzlei eröffnete er 1894  ; im selben Jahr wurde er Mitglied des Feldkircher Gemeinderats. Die meisten politischen Funktionen, einschließlich des Bürgermeisteramtes, übte Peer bis 1909 aus. Danach verlegte er sich zeitweise auf die berufsständische Vertretung in der Rechtsanwaltskammer, der er zwischen 1911 und 1917 48 49 50 51

Riccabona, Familie Riccabona, S. 237. Von den eingangs aufgezählten Angehörigen der Familie waren mindestens drei Juristen. Beglaubigte Abschrift der Promotionsurkunde, 7.5.1906, VLM, SPR A/3. Lebenslauf nach Vor­arl­berger Landtag (Hg.), Schema zur Erfassung der Vor­arl­berger Landtags­ abgeordneten, Bregenz 2012.



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als Präsident vorstand. Im Jahr 1917 schloss Peer seine Kanzlei und übersiedelte nach Wien, wohin er als Mitglied des Verwaltungsgerichtshofes berufen worden war. Von September 1920 bis April 1921 erfolgte noch ein kurzes Intermezzo als letzter liechtensteinischer Landesverweser – ein Amt das darauf durch einen gewählten Regierungschef ersetzt wurde. Im Jahr 1903 konnte eine Stelle beim amtierenden Bürgermeister der Stadt Feldkirch und stellvertretenden Landeshauptmann durchaus günstige Zukunfts­ aussichten erhoffen lassen. Dazu kam, dass Peer selbst Alter Herr des Akademischen Gesangsvereins Innsbruck war und sich sicherlich für den jungen Feldkircher Verbindungsbruder Riccabona eingesetzt hatte. Tatsächlich sollte Gottfried Riccabonas Karriere zumindest teilweise jener von Peer folgen  : Auch er wurde politisch tätig, war Stadtvertreter, wurde in der Standesvertretung der Rechtsanwälte tätig und schließlich sogar Präsident der Kammer. Die Ähnlichkeiten zwischen Peer und Riccabona beschränken sich nicht nur auf überschneidende Berufs- und Karrierestationen. Beide repräsentieren eine zweite Generation von Binnenmigranten, deren Väter aus Karrieregründen in ein anderes Land übersiedelt waren und die ihre Familie an die jeweiligen Dienst­orte mitnahmen. Die beiden Väter waren beide Beamte im Staatsdienst, bei denen mit dem Umzug stets auch ein Karriereschritt verbunden war. Bei den Söhnen lassen sich ähnliche Beobachtungen machen. Der erste frei gewählte Wohnortswechsel ging mit dem Studienbeginn einher, anschließend folgten die typischen, mit der Berufsausbildung verbundenen Ortswechsel. Auch anhand der Lebensstationen von Gottfrieds Schwester Elsa zeigen sich die mit der Berufsausübung ihres Mannes Arthurs verbunden Wohnortswechsel, die in diesem Fall ursächlich mit dem Staatsdienst verbunden waren. Eine »bürgerliche« Migrationsgeschichte? Die Migration des Bürgertums ist ein bislang ungeschriebenes Kapitel der Vor­ arl­berger Geschichte. Dies mag mehrere Gründe haben. Zum einen scheinen die Wanderungsbewegungen von »Bürgerlichen« kaum in das in der Vor­arl­berger Geschichtsschreibung etablierte Schema der aufeinanderfolgenden Migrationswellen – gedacht als mehr oder minder homogenen Gruppen – zu passen.52 Zum anderen – und das gilt nicht nur für Vor­arl­berg – ergeben sich zwangsläufig gewisse definitorische Probleme. Während die Fabrikarbeiterschaft des 19. Jahr52 Ein Beispiel dafür findet sich etwa bei Reinhard Johler, Mir parlen Italiano und spreggen Dütsch piano. Italienische Arbeiter in Vor­arl­berg 1870–1914 (Schriftenreihe der Rheticus-Gesellschaft 21), Feldkirch 1987, S. 12.

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hunderts relativ gut erfassbar und abgrenzbar ist, lässt sich das Attribut »bürgerlich« auf eine sehr viel heterogenere und in sich differenziertere Gruppe von Personen anwenden. Hubert Weitensfelder hat in seiner Studie zur Früh-Industrialisierung Vor­arl­bergs bereits auf die Schwierigkeit hingewiesen, die mit der Fragestellung verbunden sind, wer hier überhaupt dem Bürgertum zuzuordnen sei.53 Dies eben darum, weil der Begriff »Bürgertum« die Kategorien klassischer soziologischer Modelle sprengt, die sich häufig an ökonomischen Gesichtspunkten wie Reichtum und Armut oder am Grad des Besitzes und Vermögens orientieren. Bürgerlichkeit umfasst eben auch Teilhabe an Bildung, Kultur und nicht zuletzt Selbstverortung und Anerkennung. Um dieses Dilemma zu umgehen, haben Definitionen des Bürgertums häufig einen listenhaften Charakter – etwa auf Basis von Berufsgruppen, die gemeinhin als bürgerlich gelten, wie die Angehörigen der freien Berufe, selbständige Unternehmer oder Beamte. Die Migrationsbewegungen dieser in sich überaus differenzierten Gruppe, lassen sich nur schwer auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Sie sind zwar durchaus auch ökonomisch bedingt, aber vielfach stärker vermittelt, als dies etwa bei der Gruppe der Fabrikarbeiter der Fall war. »Bürgerliche« Migration lässt sich deshalb nur schwer in ein Schema von strukturierten Abfolgen pressen, sie läuft vielmehr quer dazu, auch wenn sie Konjunkturen aufweist. So lässt sich am Beispiel Emanuel Perlhefters durchaus feststellen, dass die Übersiedelung von Böhmen nach Vor­arl­berg nicht einer zufälligen Laune entsprang, sondern in die Zeit passt und Symptom größerer soziopolitischer Veränderungen in Böhmen und gleichzeitig eines Wirtschaftsaufschwungs in den alpinen Regionen der Monarchie war. Seine Wanderung unternahm er aber nicht im Rahmen einer unidirektionalen Massenwanderung, wie sie etwa der Verkehrswegebau in den Alpen zur selben Zeit aus Richtung Italien auslöste.54 Emanuel Perlhefters Lebensgeschichte fällt in jene letzte Blütephase des Liberalismus, in der auch Juden noch frei am allgemeinen Wirtschafts- und Gesellschaftsleben teilnehmen und individuelle Erfolgsgeschichten schreiben konnten. Es war aber zugleich auch jene Zeit, in der die geistigen Grundlagen für die spätere antisemitische Verfolgung im NS-Regime gelegt wurden.55 Auch wenn wir den Lebensweg von Baurat Gottfried Riccabona betrachten, sehen wir Muster von Migration, die sich ebenso als typisch »bürgerlich« klas53 Hubert Weitensfelder, Industrie-Provinz. Vor­arl­berg in der Frühindustrialisierung 1740–1870, Frankfurt a. M. u. a. 2001, S. 315 f. 54 Vgl. dazu die Typologie der Migration nach William Petersen, dargestellt in  : Petrus Han, Soziologie der Migration. Erklärungsmodelle, Fakten, Politische Konsequenzen, Perspektiven, Stuttgart 2010, S. 22–25. 55 Vgl. Peter Pulzer, Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich 1867–1914, Göttingen 2004, S. 178.



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sifizieren lassen. Sein Umzug nach Vor­arl­berg und an andere Orte entsprach zwar durchaus einem sozialen Muster  – nämlich der mit örtlichen Veränderungen verbundenen Beamtenlaufbahn – war aber letztlich ein Ausdruck seines Strebens nach beruflicher Selbstverwirklichung und nicht etwa durch Arbeitsmangel und soziale Not erzwungen. Zweifelsohne kommt dazu ein für Vor­ arl­berg charakteristisches Problem  : Mangels tertiärer Bildungsstätten konnte der Bedarf an akademisch ausgebildeten Fachkräften nicht im Land selbst gedeckt werden  – ein Zustand der teilweise bis heute andauert. Junge Vor­arl­ berger, die eine Berufslaufbahn anstrebten, welche eine universitäre Ausbildung voraussetzte, waren zwangsläufig gezwungen, in entfernte Universitätsstädte zu ziehen.56 Viele kehrten nicht zurück und der Mangel an Akademikern wurde durch Zuzug aus anderen Teilen der Monarchie gedeckt. Betrachten wir die Familiengeschichte der Perlhefters und Riccabonas als eine Migrationsgeschichte, so lässt sich an ihrem Beispiel zeigen, dass Migration für das Bürgertum um die Jahrhundertwende den Regelfall darstellte, und dass sozialer Aufstieg und beruflicher Erfolg oft ursächlich mit einem Ortswechsel verbunden waren. Auch wenn die Phase der Zwischenkriegszeit hier nicht behandelt werden konnte, lassen sich diese Muster auch in den Folgegenerationen erkennen. Es wird aber ebenso deutlich, welchen Bruch der »Anschluss« Österreichs an das nationalsozialistische Deutsche Reich in der kollektiven Familienbiographie bedeutete. Während Anna Riccabona durch den Einzug ihres Passes und ihren prekären rechtlichen Status, als »jüdischer« Part in einer »geschützten Mischehe«, zum Ausharren in Feldkirch gezwungen wurde, deportierte das NS-Regime den einzigen Sohn der Familie in das KZ-Dachau. »Der neue Anti­ semitismus«, schrieb Max Horkheimer 1939, »ist der Sendbote der totalitären Ordnung, zu der die liberalistische sich entwickelt hat«.57 Das »hundertjährige Zwischenspiel des Liberalismus«,58 welches dem jüdischen Kaufmann Eduard Perlhefter die berufliche Selbstverwirklichung in Feldkirch erst ermöglicht hatte, ging spätestens 1938 abrupt zu Ende und setzte seine Nachfahren der totalitären Willkür aus.

56 Vgl. dazu diverse Beiträge in der Zeitschrift Alemannia Studens, u. a. Karl Heinz Burmeister, Vor­arl­berger Studenten in Straßburg im 17. und 18. Jahrhundert, AS 1 (1991), S. 11–19  ; ders., Vor­arl­berger Studenten in Padua vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, AS 2 (1992), S. 5–11  ; Peter Goller, Die Vor­arl­berger Studenten an der Universität Innsbruck (1848–1880), AS 3 (1993), S. 21–87. 57 Max Horkheimer, Die Juden und Europa, in  : Gesammelte Schriften, Bd. 4  : Schriften 1936– 1941, Frankfurt a. M. 1988, S. 308. 58 Ebd., S. 315.

Hans Jakob Reich

»Heissblütiges, welsches Volk« auf den Großbaustellen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts Von den ersten italienischen Saisonniers im Werdenberg1

Am 9. Mai 1857 haben sich im Aufenthaltsregister der politischen Gemeinde Sennwald zehn »Fremde«, das heißt Leute mit befristeter Aufenthaltsbewilligung, eintragen lassen. Einer stammte aus dem benachbarten Rüthi, einer aus Württemberg, zwei aus dem Tessin und sechs waren Italiener, sämtlich aus der Lombardei  : Rossi Vincenzo aus Bisuschio, Aquistapace Antonio aus Gerola, Moro Giuseppe aus Calamona, Zanini Camillo und Barbitta Giuseppe aus Biegno und Gaetano Annoni aus Caccivio. Im Juni 1857 kamen 16 weitere hinzu, elf Lombarden, vier Piemontesen und ein Sarde. Zusätzlich sind wiederum auch vier Tessiner verzeichnet, nebst Einzelpersonen aus dem Kanton St. Gallen, der übrigen Schweiz, aus Österreich und – wie immer wieder in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – nicht zuletzt auch aus Süddeutschland. Insgesamt weist das Aufenthaltsregister im Mai 1857 in der Gemeinde Sennwald elf und im Juni 29 neu angemeldete Nichteinheimische auf. Sowohl für die Italiener als auch für die Tessiner ist jeweils eine Aufenthaltsbewilligung von rund drei Monaten vermerkt. Die Tessiner hatten hierfür eine Taxe von 30 Rappen zu bezahlen, für die Ausländer betrug sie 60 Rappen.2 Im Register eingetragen ist auch, wo die Aufenthalter wohnten. Für eine kleine Gruppe von sechs Personen ist ein »Angelo« beziehungsweise »Angelo Annessi« angegeben, offenbar ein Italiener, der seinen Landsleuten innerhalb der Gemeinde ein vermutlich angemietetes Logis anbot. Unterkunft in einem Gasthaus, etwa im Löwen in Salez, stellte die Ausnahme dar. Die meisten der Italiener und Tessiner waren einzeln oder zu zweit privat untergebracht. Teils mehrmals genannt sind 1857 zum Beispiel »Ulrich Reich Küfer in Salez«, »Johannes Beglinger alt Präsident Salez«, »Johannes Berger Bühel Salez«, »Florian Berger«, »Georg Berger alt Präsident«, »David Berger« und »Andreas Göldi Schulmeisters«. Bei den Beherbergern handelte es sich in der Regel um Salezer, 1

Dieser Beitrag ist unter gleichem Titel und weitgehend identisch erstmals erschienen in  : Wer­ denberger Jahrbuch 25 (2012), S. 192–197. 2 Aufenthalts-Register der Gemeinde Sennwald, 9.5.1857–26.12.1882, Archiv der Politischen Gemeinde Sennwald (im Folgenden Aufenthaltsregister 1857 ff.).

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Hans Jakob Reich

Die ersten Einträge vom 9. Mai 1857 im Aufenthaltsregister der Gemeinde Sennwald  : drei Lombarden und ein Tessiner – vermutlich Wanderarbeiter beim Bau der Rheintalbahn (Archiv der Gemeinde Sennwald, Aufenthaltsregister 1857)

deren Liegenschaften zudem größtenteils in unmittelbarer Nähe zur heutigen Eisenbahnlinie lagen. Und tatsächlich stehen diese Aufenthalter aus Italien und dem Tessin in direktem Zusammenhang mit dem Bau der Rheintalbahn, der zur Hauptsache in den Jahren 1856/57 erfolgte.3 Eisenbahnbau und Arbeitswanderung Begonnen hatte die italienische Arbeitswanderung in Europa in den 1840er Jahren. Sie hing eng zusammen mit dem Bau des europäischen Eisenbahnnetzes. Die Wanderarbeiter aus Italien zogen von Großbaustelle zu Großbaustelle, kehrten aber immer wieder auch in ihre Heimat zurück. Ihr bedeutendstes Arbeitsgebiet war zunächst Deutschland. In der Schweiz wurden sie erst nach der Jahrhundertmitte in größerer Zahl eingesetzt  : in den 1850er Jahren an der Bahnlinie von Basel nach Luzern, in den 1860er und 1870er Jahren an der Böz3

Werdenberger Jahrbuch 14 (2001), zum Schwerpunktthema »Die Eisenbahn im Rheintal«  ; zu Salez  : Hans Jakob Reich, Zwischen Hoffnung und Ernüchterung  : die Zeit des Eisenbahnbaus bei Salez, in  : ebda., S. 79–87.



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Arbeiter beim Bau der Bodensee-Toggenburg-Bahn, 1908/1910 (Staatsarchiv St. Gallen; Foto  : Eugen Wolf  ; Hofphotograph)

berglinie von Basel nach Zürich und von 1872 bis 1882 am Gotthardtunnel4 – aber, wie im Aufenthaltsregister der Gemeinde Sennwald belegt, schon in den Jahren 1856/57 ebenfalls an der Rheintallinie. Während der Zeit des Eisenbahnbaus waren in der Schweiz gleichzeitig Tausende Italiener im Einsatz, aber auch viele Tessiner, deren Spuren sich im Sennwalder Aufenthaltsregister ebenfalls finden. Die Kontakte dieser Wanderarbeiter zur einheimischen Bevölkerung waren gering. Sie waren meist abgesondert in unmittelbarer Nähe der Baustellen untergebracht. Wegen der harten Bedingungen wechselten zudem viele den Arbeitsort schon nach kurzer Zeit wieder.5 Gemäß mündlicher Überlieferung in Salez sollen die italienischsprachigen Arbeiter in den Scheunen und auf den Heustöcken ihrer Logisgeber gehaust und genächtigt haben.6 4

Ernest Menolfi, Die italienische Einwanderung im 19. und 20. Jahrhundert, in  : Sankt-Galler Geschichte, Bd. 7, St. Gallen 2003, S. 119–140, hier S. 120. 5 Ebda  ; entsprechende Hinweise finden sich auch im Aufenthaltsregister 1857 ff. 6 So hat es der Verfasser noch von seinem Großvater Jakob Reich (1873–1964) gehört, dessen Großvater Ulrich Reich (1817–1891), Küfer, unter den im Aufenthaltsregister 1857 ff. genannten Logisgebern erscheint.

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Idealisierende Darstellung der Rheintalbahn bei Schloss Forstegg. Xylographie aus »L’Univers Illustré«, Paris 1859 (Sammlung Albert Bicker, Grabs)

Wie viele Arbeiter an der Rheintalbahn gebaut haben und woher genau sie kamen, lässt sich – wie für andere Abschnitte des schweizerischen Eisenbahnnetzes – nur schwer ermitteln. Die Aufenthaltsregister der Gemeinden geben einerseits keinen Aufschluss über die Arbeitgeber der »Fremden«, anderseits scheint die Anmeldung mit der Hinterlegung der Schriften nicht immer und überall lückenlos funktioniert zu haben.7 Zudem wurde ein Teil der Arbeitskräfte aus den Dörfern der Baustellenumgebung rekrutiert. Diese einheimischen Arbeiter blieben jedoch zumindest während der Erntezeit mitsamt Zugtieren und Wagen der Arbeit sicher fern. »Aber auch von den nicht ortsansässigen Arbeitern hielt sich ein Drittel in der Regel höchstens einen Monat in der betreffenden Gemeinde auf, etwas mehr als die Hälfte blieb ungefähr drei Monate.«8 – Die Mannschaften waren also mit Bestimmtheit großen Fluktuationen unterworfen. Da die Arbeiten noch weitestgehend von Hand erfolgten, war ein enormer Aufwand an menschlicher Arbeitskraft erforderlich. Beim Bau der Hauenstein7 Heinz Frey/Ernst Glättli, Schaufeln, sprengen, karren. Arbeits- und Lebensbedingungen der Eisenbahnbauarbeiter in der Schweiz um die Mitte des 19. Jahrhunderts, Zürich 1987, S. 98 ff. 8 Otto Ackermann, Der Streik von Salez beim Bau der Rheintallinie, in  : Werdenberger Jahrbuch 14 (2001), S. 88–95, S. 89.



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linie um 1856 zum Beispiel sollen rund 6.000 Arbeitskräfte beschäftigt worden sein. Von diesen seien nahezu drei Viertel Ausländer gewesen, zwei Drittel davon  – also der Großteil  – Deutsche. »Entgegen den Annahmen und Vorstellungen späterer Jahre war die Zahl der Italiener mit ungefähr zwei (!) Prozent verschwindend klein  ; ihre Bedeutung aber hatten sie offenbar als spezialisierte Facharbeiter, die oft Vorarbeiterfunktionen innehatten.«9 Diese Einschätzung des Italiener-Anteils dürfte für die Rheintalbahn und vor allem für den Abschnitt bei Salez allerdings nicht zutreffen  : Die durch das Schlosswaldgebiet führende Strecke galt wegen der unregelmäßigen Terrainverhältnisse im Sennwalder Bergsturz- und Sumpfgebiet als besonders schwierig und aufwendig. Wahrscheinlich aus Kostengründen war das Baulos für diese Strecke an einen italienischen Bauunternehmer namens Chiesa vergeben worden. Mit seiner zweifellos großteils italienischen Mannschaft hatte er den Kostenvoranschlag der Bauleitung um 20 Prozent unterbieten können.10 Streikende »Italianissimi« in Salez Im Sommer 1857 kam es in Salez aber zu einem Arbeitskonflikt, weil Chiesa mit der Auszahlung der Löhne im Rückstand war.11 Dieser sogenannte »Streik von Salez« hat schweizweit Beachtung und in der Presse ein Echo gefunden, das – zumindest in der Tonalität – auch ein bisschen Licht auf das Verhältnis zu den italienischen Wanderarbeitern wirft. So steht in der St. Galler Zeitung vom 18. Juli 1857 zu lesen  : »Die heisse Juni- und Julisonne dieses Jahres bringt revolutionäres Wetter. Nicht bloss in Neapel, Florenz, Livorno und Genua, auch in Salez flackerte die Flamme des Auf­ ruhrs empor. Seit einigen Tagen herrscht unter den dortigen Eisenbahnarbeitern eine Empörung in bester Form. Dortige Unterakkordanten hatten geraume Zeit unterlassen, die Arbeiter auszuzahlen. Der Unmuth begann unter diesen zu kochen und gelangte letzten Dienstag zum Ausbruch. Die ganze Masse der Arbeiter, worunter viel heissblütiges, welsches Volk, rottete sich zusammen und nahm die zwei im Dorfe anwesenden Ingenieure Eugster und Lutz gefangen, sperrte dieselben in ein Haus und umstellte dasselbe mit Schildwachen, fluchend und schwörend, die Gefangenen nicht eher loszugeben, bis man sie ausbezahle. Endlich konnte Herr Eugster seine Befreiung   9 Ebd., S. 90. 10 Ebda., S. 93. 11 Ebda. Otto Ackermann schildert im Werdenberger Jahrbuch 2001 die Hintergründe und den Ablauf dieses Konfliktes ausführlich.

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durch das Versprechen erlangen, Geld zu holen, sein Kollega aber musste als Pfand zurückbleiben. Als Mittwochs Herr Eugster von Oberriet zurückkehrte und zugleich Herr Bezirksammann [Christian] Rohrer im Dorfe erschien, fanden sie das Haus, worin Lutz sich befand, von zirka 170 Eisenbahnarbeitern und einigen hundert Leuten aus dem Dorfe selbst, die an den Arbeitern zu fordern hatten, umlagert, während ein Landjäger-Wachtmeister mit gezogenem Seitengewehr und sechs Jäger mit gespannten Hahnen dieselben zu schützen und wo möglich zu befreien suchten. – An lärmenden Drohungen der Italianissimi fehlte es nicht. Es gelang dem Herrn Bezirksammann, der sich unerschrocken unter die Menge begab, die Befreiung des Eingeschlossenen zu erwirken und denselben schnell mit der Post weiter zu spedieren. Die Ruhe aber konnte bis Donnerstags noch nicht vollständig hergestellt werden. Die Arbeiter weigerten sich fortwährend, weiter zu arbeiten. […] Hoffentlich wird der Grund ihrer Klage schnell beseitigt und ein näherer Untersuch eingeleitet werden.«12

Dem Brief eines Ortsansässigen zufolge, waren die Arbeiten am 27. Juli 1857 eingestellt und »die Arbeiter gehen meisttheils fort, wie sie etwas schuldig sind, lassen sie ihre Gutscheine zurück u. gehen nach Buchs od. Altstätten, u[m] ihr Brod zu verdienen«.13 – Dieser Wegzug, vermutlich mit dem Ziel einer Beschäftigung bei anderen Baulosen, lässt sich im Aufenthaltsregister der Gemeinde Sennwald bestätigen  : Einige der im Mai und im Juni 1857 angemeldeten Italiener und Tessiner ließen sich Ende Juli die bei der Gemeindeverwaltung hinterlegten Papiere wieder aushändigen.14 1882/83  : Fast 550 Italiener und Tiroler in der Gemeinde Sennwald Eine noch weit massivere Zuwanderungswelle als in den 1850er Jahren ist in den Sennwalder Aufenthaltsregistern ab November 1882 festzustellen. Allein von Mitte November bis Ende Dezember 1882 meldeten sich 123 Italiener und Südtiroler (mit italienischen Namen) bei der Gemeindeverwaltung an. Dass bei vielen unter der Rubrik »Name des Wirthes, Meisters, Hausherrn bei dem der Fremde wohnt«  ein »Bianchi« oder ein »Akkordant Eller Sennwald« angegeben ist, deutet auf eine in größerem Stil für Bauarbeiten organisierte Arbeitskräfterekrutierung hin. Die Aufenthaltsbewilligungen sind nicht mehr nur auf drei, sondern auf sechs Monate ausgestellt. Im ersten Halbjahr 1883 hielt der Zu12 St. Galler Zeitung, Nr. 186, 18.7.1857, zit. nach Ackermann, Der Streik, S. 92 f. 13 Brief von Heinrich Dinner, Sohn des Löwenwirts, vom 27.7.1857, Familienarchiv Dinner, bei Margrit Dinner-Gadient, Salez. 14 Aufenthaltsregister 1857 ff.



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Aufenthaltsbewilligung für einen italienischen Arbeiter, Ende 1882 (Archiv der Politischen Gemeinde Sennwald)

strom unvermindert an, wobei nun keine Aufenthaltsfristen mehr eingetragen sind  : Im Januar 1883 sind 45 Italiener und Südtiroler vermerkt, im Februar 96, im März 116, im April 33, im Mai 59 und im Juni 73, total von November 1882 bis Juni 1883 also 545. Anderseits sind im selben Zeitraum nur ganz wenige Abmeldungen verzeichnet.15 Auch wenn sich in den Aufenthaltsregistern keine direkten Hinweise auf die Tätigkeit der gemeldeten Personen finden, besteht kein Zweifel, dass der massive Zustrom von 1882/83 im Zusammenhang mit dem Bau des Werdenberger Binnenkanals zu sehen ist. Der Haager Johannes Egli vermerkt dazu in präziser Übereinstimmung mit den Einträgen im Aufenthaltsregister  : »Ende November 1882 wurden die Erdarbeiten begonnen und schritten unter der energischen Leitung von Herrn Wey stetig vor, so dass der ganze Rohbau trotz großen Schwierigkeiten, Mitte 1884 fertig war.«16 15 Aufenthaltsregister 1857  ff.; Aufenthalts-Register der Gemeinde Sennwald, 26.12.1882– 28.7.1897, Archiv der Politischen Gemeinde Sennwald. – Zum Vergleich  : Laut Volkszählung belief sich die Einwohnerzahl der Politischen Gemeinde Sennwald im Jahr 1900 auf 2.814. 16 Hans Jakob Reich, Die Korrektion der Werdenberger Binnengewässer, in  : Werdenberger Jahr­ buch 3 (1990), S. 107–121, hier S. 118.

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Jost Weys Fehleinschätzung und der Arbeitskräftemangel vor 1914 Angesichts der allein schon für die Gemeinde Sennwald verbürgten Zahlen lässt sich mit Fug und Recht sagen  : Wanderarbeiter aus Italien und dem Südtirol (das damals noch zu Österreich gehörte) haben den Werdenbergern ihren vor allem im nördlichen Bezirksteil lang ersehnten Binnenkanal gebaut. Dabei hatte es sich der Planer und Erbauer des Kanals, der Ingenieur Jost Wey, eigentlich ganz anders vorgestellt. 1878 rechnete er in seinem Bericht über das Projekt mit einem Aushub von 550.000 Kubikmetern und für die Ausführung aller Arbeiten mit 81.000 Mann-Arbeitstagen. Rekrutierungsprobleme sah er keine  : »Sicher ist, dass wir Arbeiter genug bekommen, allein es liegt im doppelten Interesse der Bevölkerung und des Werkes, dass es mit Hilfe von einheimischen Kräften zu Stande komme. Denn erstens arbeiten sie erfahrungsgemäss billiger als fremde, die hier auf Zehrung sind und bei schlechtem wie bei gutem Wetter sich verköstigen müssen. Zweitens herrscht im Bezirk Werdenberg gegenwärtig Mangel an Arbeit und Verdienst und da ein namhafter Theil der Bevölkerung durch das Werk in Mitleidenschaft [Perimeterlast] gezogen wird, so findet sich eine um so grössere Compensation für die Auslagen, wenn die Arbeit ohne Zuzug von fremden Kräften erstellt wird.«17

Die Verhältnisse scheinen sich innert weniger Jahre grundlegend geändert zu haben. Ab 1897 hält das Aufenthaltsregister auch den Beruf und den jeweiligen Arbeitgeber der Angemeldeten fest. Um 1900 und in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts sind seitenweise Erdarbeiter aus Italien eingetragen, die zum Teil für einen Akkordanten Poza in Gams, andere für einen Akkordanten Vogel in Sennwald und in etlichen Fällen auch für die Rheinkorrektion arbeiteten.18 Daraus lässt sich schließen, dass italienische Gastarbeiter außer am Rhein auch wesentlich an der Melioration des Gamser Riets mit der Simmi-Korrektion (1900 bis 1905) und am Bau des Rheintaler Binnenkanals (auf Sennwalder Gebiet 1905 bis 1907) beteiligt waren. Ähnliches dürfte für die fast gleichzeitig erfolgte Korrektion des Grabser Baches zutreffen. Mit Bezug auf das 19. Jahrhundert gilt der Kanton St. Gallen eher als Randgebiet der italienischen Zuwanderung  – vielleicht nicht ganz zu Recht, wenn man die Hunderte, insgesamt vermutlich aber weit über tausend Italiener und Südtiroler berücksichtigt, die den Werdenberger Binnenkanal bauten, in der Li17 Ebd., S. 115. 18 Aufenthalts-Register für die Gemeinde Sennwald, 1.1.1899–22.12.1928, Archiv der Politischen Gemeinde Sennwald.



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Erdarbeiter, großteils aus Italien und Südtirol, beim Bau des Werdenberger Binnenkanals im Bergsturzgebiet bei Salez, 1882/83 (Foto  : Staatsarchiv St. Gallen)

teratur bisher aber kaum eine ihrer Zahl und Leistung entsprechende Beachtung gefunden haben. Etwas besser in Erinnerung ist die starke Zuwanderung um und nach 1900, ausgelöst durch Großvorhaben im Hoch- und Tiefbau (zu denen auf regionaler Ebene auch die oben erwähnten Gewässerkorrektionen in Gams, Sennwald und Grabs zu zählen sind) und den Aufschwung der fabrikmäßigen Textilindustrie. Es kam zu einem erheblichen Arbeitskräftemangel, der sich aus Sicht vieler Unternehmer nur mit italienischen Arbeitskräften beheben ließ. Bereits seit 1868 gab es zwischen der Schweiz und Italien ein Abkommen, das die Einreise in die Schweiz erleichterte. Auch das kantonale Gesetz über Fremdenpolizei und Niederlassung von 1899 schuf kaum Hindernisse  ; es verlangte vor allem, dass die Schriften in Ordnung waren und sich keine Personen »ohne ständige Arbeit und ohne genügende Geldmittel für ihren Unterhalt« umhertrieben.19 Das in der Region Werdenberg wohl erste Industrieunternehmen, das ausländische Arbeitskräfte, vermutlich vor allem Italiener, anwarb, war die Weberei Azmoos. Zeugnis davon geben die in den 1880er Jahren errichteten betriebseigenen Wohnungen für die Arbeiter, die sogenannten Kosthäuser, die von den Einheimischen bald einmal die Bezeichnung »Tschinggehüser« bekamen.20 19 Menolfi, Die italienische Einwanderung, S. 121. 20 Sabina Bellofatto, Migrationsspuren auf dem Speisezettel, in  : Werdenberger Jahrbuch 21 (2008), S. 27–35, hier S. 27 f.; Oskar Peter, Wartau. Eine Gemeinde im st. gallischen Rheintal, St. Gallen 1960, S. 481 f.

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Einträge italienischer Erdarbeiter im Aufenthaltsregister der Gemeinde Sennwald, Einträgen vom 13. und 14. September 1905 (Archiv der Gemeinde Sennwald, Aufenthaltsregister 1899 ff.)

Leicht abrufbare Arbeitskräfte Der Historiker Ernest Menolfi beschreibt und analysiert die Entwicklung im Kanton St. Gallen ab Beginn des 20. Jahrhunderts folgendermaßen  : »Um die damaligen Chancen zu nutzen, war die sankt-gallische Wirtschaft dringend auf die leicht abrufbaren italienischen Arbeitskräfte angewiesen. Diesen stand damit eine grössere Vielfalt an Beschäftigungen offen, was schliesslich zur längerfristigen Niederlassung führte. Waren im Kanton 1902 noch knapp 79 Prozent der italienischen Arbeiter im Hoch- und Tiefbau mit seinen saisonalen Schwankungen tätig gewesen, so nahm der Anteil der Fabrikarbeit sowie handwerklicher und gewerblicher Berufe wie Schneider, Schuhmacher oder Schreiner bald merklich zu. Es ergaben sich vermehrt Kontakte zu den Einheimischen, und unter den Landsleuten bildete sich eine neue Lebenskultur heraus. Schon längere Zeit Anwesende übernahmen eine Vermittlungs-, Betreuungs- und Versorgungsfunktion für die Neuankömmlinge und errichteten hier ›Aussenposten‹ für Verwandte und Bekannte. Erstere nahmen sie als ›Schlafgänger‹ oder ›Kostgänger‹ bei sich auf oder brachten sie in von Italienern oder Italienerinnen geführten Pensionen unter. Sie beschäftigten sie in ihren Kleinfirmen, eröffneten zu ih-



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rer Versorgung Ladengeschäfte und […] eigene Konsumvereine mit den in der Heimat üblichen Nahrungsmitteln. Es entstanden ›Italiener-Restaurants‹, welche einen wichtigen Bestandteil des sozialen Lebens darstellten.«21

Der Wirtschaftsaufschwung zu Beginn des 20. Jahrhunderts ließ die Zahl der italienischen Staatsangehörigen im Kanton St. Gallen von 696 im Jahr 1880 über 5.062 im Jahr 1900 auf 17.936 im Jahr 1910 ansteigen – auf einen Wert, der nach den durch den Ersten Weltkrieg, die Weltwirtschaftskrise und den Zweiten Weltkrieg bedingten Einbrüchen auf bis 4.873 im Jahr 1941 sank und erst 1960 wieder erreicht wurde. Die höchste Zahl an Italienern im Kanton St. Gallen wurde 1970 mit 29.796 verzeichnet.22

21 Menolfi, Die italienische Einwanderung, S. 124. Zur italienischen Küche in der Schweiz auch Bellofatto, Migrationsspuren. 22 Nach Menolfi, Die italienische Einwanderung, S. 134. – Zur jüngsten Entwicklung siehe Ralph Hug, Über die Zuwanderung im Werdenberg, in  : Werdenberger Jahrbuch 25 (2012), S. 187–191.

Gerhard Wanner

Migration in Vor­arl­berg um 1900 Ethnische Gruppen, soziale Spannungen  ?

Bauboom und Ausbau der Infrastruktur Seit den späten 1870er Jahren erlebte in Vor­arl­berg nicht nur die Textilindus­ trie  – die maschinelle Spinnerei, Weberei und Stickerei –, sondern auch die Bauwirtschaft eine Hochkonjunktur. Zwischen 1880 und 1900 können wir von einer zweiten »Gründerphase« von Unternehmen sprechen.1 Ferner galt es, die Lebensräume im Gebirge und in den Tälern vor den drohenden Naturgewalten zu schützen und diese auch durch ein »modernes« Verkehrsnetz zu erschließen. Den Beginn machte der Bau zweier Eisenbahnlinien  : Im Juli 1872 war die Vor­arl­berg-Bahn, die Strecke von der Staatsgrenze bei Bregenz bis Bludenz, fertiggestellt. Im September 1884 wurde die Arlbergstrecke eröffnet,2 die der Vor­arl­berger Industrie auf schnellem Wege den riesigen Markt Österreich-Ungarns eröffnete, und gleichzeitig auch die Immigration der dringend benötigten Arbeitskräfte ermöglichte. Am Bau der beiden Eisenbahnprojekte beteiligten sich die ersten »Fremdarbeiter«, die überwiegend aus dem italienischsprachigen Südteil des Kronlandes Tirol meist als Saisonarbeiter ins Land kamen – genannt »Welschtiroler«. Auf der gesamten Strecke der Vor­arl­bergbahn wurden sie 1871 etwa auf 4.000 geschätzt. Der Höchststand der Welschtiroler beim Arlbergtunnelbau betrug im Jahr 1883 zirka 2.700 Bauarbeiter, die Hälfte der Bewohner des Klostertales.3 Ende des 19. Jahrhunderts ging es auch um die Sicherung der Siedlungsgebiete vor Naturkatastrophen, die der Vor­arl­berger Landtag und die Landesregierung unter dem christlichsozialen Fabrikanten und Landeshauptmann Adolf 1 Christian Feurstein, Wirtschaftsgeschichte Vor­arl­bergs bis zur Jahrtausendwende, Konstanz 2009, S. 22 ff. 2 Christoph Thöny/Günter Denoth (Hg.), 125 Jahre Arlbergbahn, Erfurt 2009, S. 9–26  ; Herbert Sohm, Zur Geschichte des Fremdenverkehrs in Vor­arl­berg, Bregenz 1984, S. 100–103. 3 Franz Mathis, Vor­arl­berg als Zuwanderungsland  : Ursachen und Voraussetzungen, in  : Karl Heinz Burmeister/Robert Rollinger (Hg.), Auswanderung aus dem Trentino – Einwanderung nach Vor­arl­berg. Die Geschichte einer Migrationsbewegung mit besonderer Berücksichtigung der Zeit von 1870/80 bis 1919, Sigmaringen 1995, S. 101–126, hier S. 125  ; Friedrich Schön, Der Vor­arl­berger Eisenbahnbau und die Trentiner Zuwanderung, in  : ebd., S. 355–378.

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Rhomberg vorantrieb. Es gab keine Arbeitslosigkeit, im Gegenteil, der Mangel an Arbeitskräften war groß und die Arbeitsimmigration, von wo auch immer, war willkommen. Zu Tausenden strömten Bau- und Erdarbeiter aus allen Teilen der Monarchie ins westlichste Kronland  : neben den »traditionellen«, aus dem Trentino stammenden Welschtirolern und Italienern aus dem Königreich, vor allem aus Oberitalien, waren es Slowaken, Polen, Kroaten, »Innerösterreicher« und gar Reichsdeutsche aus Bayern. Die Hochkonjunktur zog auch hausierende Wandergruppen an, wie Zigeuner und vor allem die aus dem armen und nicht industrialisierten Westen Tirols stammenden Karrner oder Karrenzieher. Was den Ausbau der Infrastruktur betraf, ging es in den Talbereichen, den Hauptsiedlungs- und Gewerbegebieten, um die Rhein- und Illverbauung beziehungsweise Flussregulierungen und um die Entwässerung der Talböden.4 Dies hing wesentlich mit der Wildbachverbauung der Seitentäler zusammen, an deren Ausgängen zahlreiche Industriestandorte lagen.5 In den Höhenlagen begann man mit Lawinenverbauungen und Aufforstungen. Sie gingen Hand in Hand mit dem Ausbau des lokalen Straßennetzes. 1898 wurde vom Landtag ein großzügiges Straßenbauprogramm beschlossen, das vor allem die Seitentäler bis in die hintersten Gebiete umfasste. Finanziert wurde es mit Mitteln des Staates, Landes und privater Interessenten und Gemeinden.6 1897 erfolgte die Einweihung der Flexenstraße bis zur Passhöhe. Zur selben Zeit begann der schwierige Bau der Damülser Straße, überwiegend mit italienischen Arbeitskräften.7 Diese Straßenbauten dienten nicht nur dem aufkommenden Fremdenverkehr, sondern waren auch eine Maßnahme gegen die Entsiedelung der Berg- und Talrandorte.8 Viele, meist verschuldete, Bergbauern zogen in die Fabriksorte der Talbereiche, ihre Höfe und Alpen verödeten, die Lawinengefahr nahm zu. Diese Binnenmigration, die »Bergflucht«, galt es zu stoppen. Es entstanden um die Jahrhundertwende auch drei Lokalbahnen  : Im Jahr 1902 wurden die Bregenzerwaldbahn und die elektrische Straßenbahn Dornbirn–Lustenau eröffnet und 1905 nahm die Montafonerbahn ihren Betrieb auf.9 4 5 6

Vor­arl­berger Volksblatt (im Folgenden VV), 6.6.1901. VV, 19.3.1901. VV, 2.5.1899  ; Stenographische Sitzungs-Protokolle des Vor­arl­berger Landtages, 1895 bis 1905 (im Folgenden SSVL), 1899, XLVII, Beilage, S. 386 f. Julius Fritsch, Entwicklung des Straßenwesens in Vor­arl­berg, Bregenz 1937 (vervielfältigtes Manuskript), S. 19–21. 7 Rita Bertolini, Stein auf Stein. Johann Bertolini, Hohenems 2008, S. 106, S. 138. 8 Benedikt Bilgeri, Geschichte Vor­arl­bergs, Bd. IV, Wien 1982, S. 523, S. 529, S. 532 f., S. 536, S. 545. 9 Peter Strasser, Entlang der Montafonerbahn (Montafoner Schriftenreihe Sonderband 13), Erfurt 2010, S. 9–14  ; VV, 31.8.1901 und 22.12.1905.



Migration in Vor­arl­berg 

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Scherenschleifer aus dem Trentino, 1910 (Fotograf unbekannt, Sammlung Elmar Fröweis)

Was die genaue Anzahl der bei diesen Arbeiten beschäftigten Fremdarbeiter betraf, waren selbst die Zeitgenossen auf spärliche Angaben angewiesen, die sie meist nur aus der Presse erfuhren. Diese war bisweilen »groß« und für die ortsansässige Bevölkerung eine merkliche soziale Belastung  : Aus dem Jahr 1897 erfahren wir aus Hohenems, wo die großen Kalk-Steinbrüche für die Rhein­ uferverbauung lagen, Folgendes  : »Gegenwärtig kommt fast jeden Tag ein Trupp Italiener hierher, um am Steinbruch Unterklien Arbeit zu suchen, wo meist Welsche tätig sind und ein reges Leben herrscht. Wenn die Zuströmung der Welschen längere Zeit so fort geht, so gibt’s mit der Zeit ein italienisches Dorf zwischen Hohenems und Dornbirn. […] [D]iese Auswanderer sind lebendige Zeugen der Mißwirtschaft und der Corruption der italienischen Regierung. Die liberal freimaurerische italienische Regierung presst das Volk mit Steuern aus und wirft es auf die Straße.«10

In Fußach, wo die Rheinregulierung im Gang war, lebten 1890 575 Einwohner. Sieben Jahre später waren 1.000 (!) Fremdarbeiter dazugekommen – »und täglich kommen noch mehr. Fußach wimmelt vor lauter Fremden. Man glaubt 10 VV, 17.3.1897.

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in einem italienischen Dorf zu sein. In vielen Häusern sind 10 bis 20 Arbeiter untergebracht.«11 Strenge körperliche Arbeit überwog, obwohl bereits Bagger und Dampfmaschinen eingesetzt waren. In St. Anton im Montafon verbaute man 1899 das Vensertobel mit Hilfe von Italienern. Das Dorf hatte zirka 130 Einwohner, die Zahl der Fremdarbeiter betrug 170.12 Beim Bau der Bregenzerwaldbahn und ihren Zubringerstraßen im Raum Andelsbuch, Lingenau und Egg waren noch im Frühjahr 1902 etwa 1.000 Italiener, ferner Kroaten und Bayern beschäftigt, was etwa einem Drittel der Ortsbevölkerung entsprach.13 Im Bregenzerwald waren keine einheimischen Maurer aufzutreiben, obwohl aus dieser Region noch Mitte des 19. Jahrhunderts jedes Frühjahr Hunderte als Bauarbeiter ins Elsass und nach Frankreich ausgewandert waren.14 Die Arbeitskräfte aus Italien wurden meist angeworben. Auf der Baustelle im Bereich von Fußach finden wir italienische Unternehmer wie Uperti aus Padua, Zamboni aus Verona und im Bregenzerwald die Brüder Marino aus Udine.15 Besondere Verdienste erwarb sich um die Jahrhundertwende die Baufirma Johann Bertolini mit Straßen- und Wohnhausbauten, ebenfalls im Bregenzerwald. Ihre Vorfahren stammten aus dem Südtiroler Nonstal. Johann Bertolini hatte als Partieführer beim Bau des Arlbergtunnels mit seiner Karriere begonnen.16 Ohne den meist temporären Zuzug von Fremdarbeitern vor allem aus dem Raum der Habsburger Monarchie wäre der wirtschaftliche Auf- und Ausbau Vor­arl­bergs zu einer wichtigen Wirtschaftsregion nicht möglich gewesen. Die Gründe für den Arbeitskräftemangel waren die textile Hochkonjunktur in der Baumwollindustrie und Stickerei, der Ausbau der Infrastruktur, das Verbot der Kinderarbeit und die extrem niedrigen Löhne in der unbeliebten Textilindustrie – einheimische Männer wanderten nämlich in das aufkommende Gewerbe ab oder als Saisonarbeiter in die Schweiz, nach Süddeutschland und Frankreich, wo wesentlich höhere Löhne erzielt wurden und bessere Arbeitsbedingungen herrschten.

11 VV, 6.4.1897. 12 Ernst Assmann/Stefan Kirisits, Die italienischen Migranten und das Baugewerbe mit besonderer Berücksichtigung der Wildbachverbauung, in  : Karl Heinz Burmeister/Robert Rollinger (Hg.), Auswanderung aus dem Trentino  – Einwanderung nach Vor­arl­berg. Die Geschichte einer Migrationsbewegung mit besonderer Berücksichtigung der Zeit von 1870/80 bis 1919. Sigmaringen 1995, S. 423–440, hier  : S. 438. 13 VV, 10.7.1902. 14 VV, 5.7.1901. 15 VV, 24.4.1897 und 5.7.1901. 16 Bertolini, Stein auf Stein, S.  43 f  ; S.  160 ff  ; Assmann/Kirisits, Die italienischen Migranten, S. 427–429.



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Giovanni (Johann) Bertolini, erfolgreicher Baumeister, beteiligt an mehreren Großprojekten, 1922 (Fotograf unbekannt, Sammlung Rita Bertolini)

Trentinisch-italienische Saisonarbeiter und Einwanderer Die Geschichte der italienischen Arbeiter in Vor­arl­berg ist bereits gut erforscht. Auf diesen Hauptanteil der Einwanderer im Detail einzugehen, kann daher hier nicht die Aufgabe sein. Einige Aspekte sollen dennoch hervorgehoben werden, da sie mit den noch zu behandelnden Themen in Verbindung stehen  : Vor­arl­berg war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein ausgesprochenes Einwanderungsland. Das Bevölkerungswachstum zwischen 1870 und 1910 um zirka 43.000 Personen ging zu 50 Prozent auf Zuwanderer aus der Monarchie und dem Ausland zurück. 1897 setzte sich ein Drittel und zehn Jahre später fast die Hälfte der LohnarbeiterInnen aus zugezogenen Personen zusammen. Um 1900 waren fast 19 Prozent der Einwohner Vor­arl­bergs nicht in Vor­arl­berg geboren.17 Ein Großteil dieser Zuwanderer stammte aus dem zu Tirol und daher zu Österreich gehörenden Trentino. Sie machten etwa 30 Prozent der Immigranten aus. Sie deckten den Bedarf an Arbeitskräften in der Textilindustrie und im Baugewerbe, weil Einheimische oft nicht bereit waren, zu den niedrigen Löhnen in den Fabriken zu arbeiten. Die Arbeitskräfte auf dem Bahn- und Straßenbau waren zum größten Teil Wander- beziehungsweise Saisonarbeiter. Den Vor­arl­ 17 Mathis, Vor­arl­berg als Zuwanderungsland, S. 108 f.

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bergern war das nichts Neues, weil viele von ihnen selbst diese Berufspraxis pflegten. Die Zuwanderer planten nur in den seltensten Fällen eine endgültige Niederlassung, wodurch die Bildung enger sozialer Kontakte in den jeweiligen Aufenthaltsorten erschwert war oder überhaupt nicht zustande kam. Zudem besaßen die »Italiener« ein sehr geringes Sozialprestige, Aufstiegschancen für sie waren selten vorhanden. Es kam infolge auch kaum zu »Mischehen«. Besonders mobil waren die TextilarbeiterInnen. Meist blieben sie an einem Arbeitsplatz nicht länger als zwei Jahre. In der Berufsstatistik nahmen Taglöhner, Handlanger und Hilfsarbeiter die führende Rolle ein, gefolgt von den Maurern und Erdarbeitern. Nach der Jahrhundertwende ist festzustellen, dass Zuwanderer vermehrt in von Einheimischen dominierten Berufsfeldern zu finden waren, ein Zeichen ihres Identitätswandels und auch einer gewissen Integration. Es ist nicht zu bestreiten, dass mit Hilfe der Trentiner das allgemeine Lohnniveau in Vor­arl­berg niedrig gehalten wurde. Damit sank die Attraktivität für einheimische Arbeitskräfte und erhöhten sich auch die Spannungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Dies begünstigte den Aufstieg der Sozial­ demokraten.18 Andererseits zeigte ein Großteil der Niedergelassenen ein ausgeprägtes katholisches Gruppenverhalten, das in Zukunft ihre Integration erleichtern sollte.19 Dazu nur ein Beispiel aus der Gemeinde Silbertal, wo 50 trentinische Arbeiter zwischen 16 und 30 Jahren an der Verbauung eines Tobels beschäftigt waren. Nach seiner Fertigstellung organisierten sie drei Prozessionen, und sie alle »empfingen am Pfingstfeste die hl. Sakramente«.20 Die massive Zuwanderung der »Italiener« und ihre spätere Einbürgerung, so fern sie aus dem Südtiroler Trentino stammten, führten auch zu ideologischen Auseinandersetzungen. Vor allem die Christlichsozialen fürchteten eine »Überwucherung« durch die welsche Bevölkerung, die »Verwelschung« Vor­arl­bergs, die »Schädigung des Volkstums« und eine »Gefahr für die Einfachheit echter deutscher Sitten«, wofür sie ihre politischen Gegner, die deutschfreisinnigen Unternehmer verantwortlich machten. Entgegen ihrer zur Schau getragenen Deutschtümelei seien sie die Verantwortlichen für die welsche Masseneinwanderung vor allem in den Textilfabriken. Dahinter stehe allein ihre Profitsucht.21 Man beschwor ferner das »Gespenst der Zweisprachigkeit«. Immerhin waren um 1900 unter der Vor­arl­berger Gesamtbevölkerung von 119.000 Personen mindestens 18 VV, 25.7. und 12.9.1899. 19 Robert Rollinger, Die trentinisch-italienische Einwanderung in Vor­arl­berg. Ein Überblick, in  : Burmeister/Rollinger, Auswanderung, S.  27–100, hier v. a. S.  28–72  ; Mathis, Vor­arl­berg als Zuwanderungsland, S. 107 ff., S. 125. 20 VV, 1.6.1901. 21 VV, 28.10.1904.



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zehn Prozent italienische Einwanderer, in manchen Industrie-Gemeinden wie Frastanz, Lorüns, Thüringen, Bludenz, Hard, Bürs und Kennelbach überschritten sie die zehn-Prozent-Marke. Den höchsten Anteil hatte Kennelbach mit 33 Prozent. In Bludenz (20 Prozent) waren »ganze Gassen welsch geworden«.22 Und so las man im christlichsozialen Vor­arl­berger Volksblatt über Bregenz  : »Leiden wieder unter der Italiener-Misere.« Blumenegg  : »Die Welschen wachsen wie Pilze aus dem Boden.« Dornbirn  : »Unsere Straßen sind schon derart mit Welschen besetzt, dass man sich in einen italienischen Marktflecken versetzt glaubt.« Dabei war Vor­arl­berg keineswegs ein ausschließliches Zielland italienischer Arbeiter und Auswanderer. Die meisten von ihnen zog es von Oberitalien in die nahe Schweiz und nach Deutschland, im Jahr 1902 waren es 531.500. Ein Teil von ihnen nahm die Transitstrecken über den Arlberg nach St. Margarethen und über Bregenz nach Lindau und Friedrichshafen. Im Jahr 1901 kamen von Innsbruck, meist in »Separatzügen«, durch den Arlberg 37.000 Arbeiter, ein Teil von ihnen sogar von ihren Frauen begleitet. Der Vor­arl­berger Klerus registrierte diese Massenbewegung mit großer Sorge  : »Welchen Gefahren die Italiener in Bezug auf Glauben und Sitte in fremden Landen entgegengehen, ist nur zu bekannt. Infolge ihrer großen Gleichgültigkeit im religiösen Leben und ihrer mangelhaften Kenntnis der religiösen Wahrheit fallen sie nur all zu leicht den sozialistischen Verlockungen anheim.«23

Ähnliche Befürchtungen hatte der Landtagsabgeordnete und Pfarrer Barnabas Fink auch über die Gefahren, denen seine eigenen Bregenzerwälder Saisonauswanderer ausgesetzt waren  : »In moralischer Beziehung bringt das viel Schaden – nämlich gemischte Ehen, Gefahren für den Glauben. Es soll besonders in einigen Orten und Städtlein der Schweiz bei Arbeitern viel agitiert werden zum Abfall vom wahren Glauben und zum Sectenwesen.«24

Slawische Arbeitskräfte In Vor­arl­bergs Wirtschafts- und Sozialgeschichte über das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts scheinen bislang fast ausschließlich italienischsprachige Immigran22 VV, 4.12.1907 und 3.3.1914. 23 Vor­arl­berger Landeszeitung (im Folgenden VLZ), 25.4.1901  ; VV, 6.2.1904. 24 SSVL, 4. Si., 1899, S. 64.

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ten auf. Dabei gab es zahlreiche Saisonarbeiter aus den slawischen Gebieten Öster­reich-Ungarns. Der Grund dafür war die Hochkonjunktur um 1900 in der Textilindustrie, der Stickerei und im Hochbauwesen. In Vor­arl­berg herrschte offenkundiger Mangel an vor allem männlichen Arbeitskräften, speziell Bauarbeitern. Denn selbst die zugezogenen »Welschtiroler« und »Reichsitaliener« waren kaum mehr zur Fabriks- und Bauarbeit zu bewegen. Auch die Versuche, Arbeitskräfte aus Niederösterreich und der Steiermark ins Land zu »locken«, schlugen fehl, »weil diese fremden Arbeiter (in der Textilindustrie) sich in die hierländischen Verhältnisse schwer einfinden konnten und besonders auf die teuren Verpflegungskosten nicht gerechnet hatten«.25 Die »Lösung« schienen »Slawen« zu sein – meist auf der niedrigsten sozialen Stufe stehend.26 So treten sie auch in den Quellen schon wegen ihres marginalisierten Status nur sporadisch in Erscheinung. Außerdem hielten sich die wenigsten von ihnen längere Zeit in Vor­ arl­berg auf oder wurden gar sesshaft wie die Italiener aus dem Südtirol. Das auch die entfernten Gebiete der Monarchie umfassende Eisenbahnnetz hatte auch ihnen Arbeitsmobilität möglich gemacht. Der Arbeitsmarkt unterlag keinen Beschränkungen welcher Art auch immer  : Hier herrschte »unheilvollste Freiheit«. Unternehmer rekrutierten ihre Arbeitskräfte, wo sie wollten und bezahlten sie nach Gutdünken. Seriöse Arbeitsvermittlungen gab es kaum, mit Ausnahme der auch in Vor­arl­berg entstandenen Naturalverpflegsstationen.27 In der Baumwollindustrie, in Bürs bei der Firma Getzner, befanden sich beispielsweise Tschechen (Böhmen), in Hard mit seiner regen Bautätigkeit Polen – wohl aus Galizien – und im Straßenbau im Montafon arbeiteten »selbstbewusste« Slowaken  : Dreißig von ihnen zogen im April 1902 von der Innerfratte zu ihrem Bauunternehmer nach Schruns, protestierten und legten die Arbeit wegen schlechter Bezahlung nieder. Aus dem Bregenzerwald wird 1901 von einem anderen Missstand berichtet, vom Zuzug slowakischer Arbeitssuchender, »die dann als Betrogene und Arbeitslose dastehen, (was) theils durch die Theilunternehmer gefördert, indem sie möglichst billiges Arbeitsmaterial für sich anwerben wollen und beim Überfluss von Arbeitssuchenden die Preise drücken können. So sind ganze Trupps von Slowaken bis 30 Mann auf einmal bis Egg, um wieder brotlos abziehen zu können«.28 25 Vor­arl­berger Volksfreund (im Folgenden VF), 28.9.1907. 26 Sigrid Wadauer, Ins Un/Recht setzen. Diffamierung und Rehabilitierung des Hausierens, in  : Nicole Colin/Franziska Schößler (Hg.), Das nennen Sie Arbeit  ? Der Produktivitätsdiskurs und seine Ausschlüsse (Amsterdam German Studies), Heidelberg 2013, S. 103–125, hier S. 109. 27 Wadauer, Ins Un/Recht, S. 108 ff. 28 VV, 28.3.1901.



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Die größte ethnische Gruppe der Slawen kam aus der ungarischen Reichshälfte, aus Kroatien und der Slowakei, wo starke wirtschaftliche Not geherrscht haben muss. In den spärlichen Quellen traten sie erst im Jahr 1900 vor allem im Zusammenhang mit dem Bau der Bahn in den Bregenzerwald auf. Es waren Tausende, nachdem der gesamte Bahnbau ohne den heute üblichen Maschineneinsatz durchgeführt wurde. Lediglich durch Kompressoren angetriebene Bohrer und Dynamit standen zur Verfügung.29 Ihr saisonaler Zustrom zum lokalen Bahnbau war umso notwendiger, weil im Bregenzerwald trotz der Hochkonjunktur der Maschinenstickerei in einzelnen Gemeinden ein Drittel bis ein Viertel der einheimischen Männer als Saisonarbeiter abwesend waren.30 Das katholische und sozialengagierte Vor­arl­berger Volksblatt machte auf ihre schlimme soziale Lage aufmerksam. Es seien »äußerst mangelhaft und dürftig gekleidete Leute, ›grüselige Höttlar‹ (schlampige Person), wie der Wälder sagt. Wohnungen schaffen sie sich selbst aus Rasenböschen, mit Tuch überdacht und hoffen darin für die hiesige Winterkälte Schutz zu finden.« Die meisten von ihnen konnten weder lesen noch schreiben. Manche zogen wieder ab, weil sie nicht geneigt waren, für einen Tageslohn von 1,40 bis 2,40 Kronen (bis 1892  : 70 Kreuzer bis 1,20 Gulden) zu arbeiten. Dieser Lohn entsprach etwa einem Durchschnittslohn einer jugendlichen und schlechtbezahlten Textilarbeiterin oder einem männlichen Vor­arl­berger Hilfsarbeiter im Kleingewerbe. Ein Vor­ arl­berger Vorarbeiter verdiente 3,34 Kronen und ein Aufseher vier Kronen (zwei Gulden) täglich.31 Dabei arbeiteten die Kroaten nicht nur auf der ­Basis von Stundenlöhnen, sondern auch im Akkord  : Für den Aushub von einem Kubikmeter Erdreich erhielt man 15 Kreuzer. Um auf einen Tageslohn von einem Gulden zu kommen, waren innerhalb eines Arbeitstages von etwa zehn bis zwölf Stunden somit sieben Kubikmeter auszuheben.32 Aber auch im übrigen Vor­arl­berg waren die Löhne für »Erdarbeiter« auf ähnlich niedrigem Niveau. In Feldkirch-Tisis wagten diese daher beim Bau des Gerichtsgebäudes gar einen Streik. Ihr bisheriger Lohn wurde zwar sogleich ausbezahlt, doch die hundert Arbeiter wurden auf der Stelle entlassen  !33 Die erste Station der Kroaten war der Bahnhof in Bregenz, »ihre Habseligkeiten in einem Sacke mit sich tragend«. Hier ging es zuerst auf die Bezirkshauptmannschaft, wo man sich registrieren lassen musste oder  – sollte.34 Das Jahr 29 30 31 32 33 34

Heimat Lingenau, Bd. II, Lingenau 2009, S. 101. SSVL, 4. Si., 1899, S. 61. VV, 9.10.1900. VV, 6.10.1900. VV, 15.4. 1903. VV, 25.4.1901.

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1901 zeigte sich mit einem regenreichen, kühlen Sommer und frühen Winter. In der karg bemessenen Freizeit besuchten die Kroaten aber keine Gasthäuser – denn der Großteil »dieser armen Teufel ist sehr sparsam«. Wer sich nicht mit den »Rasenunterkünften« abzufinden vermochte, mietete sich bei den Bauern ein Kellerzimmer, freilich dunkel und feucht  : »In ihren ebenerdigen Quartieren fängt es an frostig zu werden und wer soll wohl die durchnässten Kleider und das feuchte Schuhzeug trocknen, wenn sich Mutter Sonne beständig hinter bleiernes Schneegewölke versteckt  ?«35 Es war unter solchen Verhältnissen nicht verwunderlich, dass sich das Armenhaus in Egg in ein »förmliches Spital« verwandelte und schon bald mit Bahnarbeitern überfüllt war. Dazu kamen jene, die sich bei ihrer Bautätigkeit sogar schwere Verletzungen zugezogen hatten, und es gab sogar Todesfälle. Über die Bahntrasse bei Langen hieß es  : »[G]efährlich ist hier geradezu die ganze Linie, mehrere Stellen aber ganz gefährlich.«36 Die wenigen Arztpraxen waren »manchmal förmlich von Arbeitern belagert«, nachdem sich diese auf ihren Gesundheitszustand untersuchen lassen mussten.37 Eine weitere Erscheinung waren die tätlichen Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen Ethnien der Bauarbeitertrupps mit unterschiedlichem sozialem Status – zwischen Schweizer Bauleitern, italienischen Vorarbeitern und den »einfachen« kroatischen Erdarbeitern. Vor allem an den Zahltagen gab es Tumulte, es kam zu tödlichen Übergriffen mit Revolvern und Einlieferungen in die Fronfesten (Gefangenenhäuser) nach Bezau und Bregenz. »Andere dagegen, wenn sie Geld haben und der Unheilstifter Alkohol zu regieren anfängt, sind oft schwer zu bändigen. Neu ist der Gebrauch der Schusswaffe in diesem Falle, da sonst bei derartigen Streitigkeiten gewöhnlich das Messer gehandhabt wird.«38 Von den Einheimischen wohl diskriminiert, kam es auch mit diesen zu Konflikten und gar schweren Schlägereien. Anlass war etwa ein »Witz«, den ein Wol­ furter über einen Kroaten gemacht hatte. Der Schmiedemeister Wilhelm Böhler, der zu schlichten versuchte, wurde dabei lebensgefährlich verletzt.39 In Müselbach im Bregenzerwald hielten sich im Jahr 1900 mindestens 300 Arbeiter auf, »kein Wunder wenn sich hier der Nationalitätenstreit, Österreich im Kleinen, abspielt«. Raufereien waren an Zahltagen keine Seltenheit, im Gasthaus Sonne eskalierte im November 1900 die Stimmung  : »Da wurde gelärmt, gestochen, geschossen und natürlich dementsprechend auch demoliert, daß man meinen konnte, die Schweden sind wieder da.« Nur mit Mühe gelang 35 36 37 38 39

VF, 28.7.1901 und 11.10.1901. VV, 7.2.1901  ; VF, 11.10.1901 und 1.11.1901. VF, 19.4.1901. VF, 1.11.1901. VF, 6.12.1901.



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Egger Viadukt, errichtet unter Beteiligung kroatischer Bauarbeiter, 1901 (Fotograf unbekannt, vorarlberg museum)

es den Gendarmen, sich gegen die Angriffe von 15 bis 20 Arbeitern zu »verteidigen«.40 Es stellte sich heraus, dass es sich nicht um Kroaten, sondern um Italiener handelte. Das Kreisgericht in Feldkirch verurteilte sie zu acht bis 15 Monaten schweren Kerkers.41 Die Lage wurde noch heikler, als im Februar 1902 die Bauunternehmer der Wälderbahn in Konkurs gingen und die ohnedies spärlichen Löhne nicht mehr ausbezahlten. Es wurde gestreikt und die Baracken der Akkordauftraggeber wurden gestürmt. Arbeitslose bettelten um ein Stück Brot. Die Behörden fürchteten größere Unruhen, sodass das Militär in Bregenz und die Gendarmerie in Bereitschaft gesetzt wurden. Ein aus Wien angereister Ministerial-Sektionschef und ein Statthaltereirat aus Innsbruck beruhigten vorerst, indem sie verfügten, dass die Löhne ausbezahlt und auf die Konkursmasse aufgerechnet wurden.42 Ein Teil der Kroaten versuchte daraufhin, in die Heimat zurückzukehren, da sie nicht sicher waren, ob und wann die Arbeiten wieder aufgenommen würden. Über hundert Kroaten »lagerten« so im Jänner 1902 vorerst am Bahnhof in 40 VV, 22.11.1900. 41 VF, 3.5.1901. 42 VV, 21.1.1902.

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Bregenz, ohne Geldmittel und in der Hoffnung, dass das Ministerium für die Fahrtkosten von etwa zwanzig Kronen (etwa drei Wochenlöhnen), aufkommen würde. Als diese nicht erstattet wurden, führte man die Arbeiter in die Bregenzer Oberstadt zur Naturalverpflegsstation, wo für sie »Brennsuppe« gekocht wurde. Das Vor­arl­berger Volksblatt war empört  : »Wer das Elend dieser Leute sieht, frägt sich  : Hat es denn im Staate Österreich, wo so viele Beamte aller Kategorien sind, keine, denen die Regierung den Auftrag geben könnte, sich der armen, sprachunkundigen, vielfach beschwindelten, durch falsche Vorgaben bethörten Arbeiter anzunehmen und in die Heimat zu begleiten  ? Jedem Patrioten thut es im Herzen wehe, hören zu müssen  : So etwas kann nur in Österreich vorkommen.«43

Im März 1902 wurden schließlich die Arbeiten am Bahnbau wieder aufgenommen, und »zahlreiche Croaten schlüpften durch ihre ebenerdigen Wohnlöcher«.44 Und wieder reisten in den folgenden Monaten in fast jedem Personenzug von Innsbruck nach Bregenz Kroaten zum Bahnbau an, »die nach ihrem Benehmen noch ärmer zu sein scheinen, als selbst die italienischen Arbeiter. Während diese der Mehrzahl nach ihre Habseligkeiten in Koffer gepackt haben, tragen die croatischen Arbeiter ihr Hab und Gut fast ausnahmslos in einem schmutzigen Fetzen«.45

Die Löhne waren je nach Ethnie recht unterschiedlich und danach richtete sich auch der Speiseplan. Bei den Straßenbauarbeiten in St. Gallenkirch im Montafon erhielten die kroatischen Erdarbeiter einen Tageslohn bis zu maximal 1,40 Gulden, die italienischen Maurer 1,30 bis zu zwei Gulden. Die Kroaten wohnten in Kuhställen, schliefen auf Stroh und lebten meistens von Bohnen und Reisnudeln. Die Italiener wohnten in Wohnhäusern und schliefen auf einem Laubsack mit einer Wolldecke. Zum Frühstück gab es für sie einen halben Liter Milch mit Brot, zu Mittag Polenta mit einer »Zugabe mikroskopisch wahrnehmbarem Fleisch«. Da ging es einem Montafoner Saisonarbeiter schon besser. Verständlich, dass er nicht bereit war, in der Heimat zu arbeiten  : Zum Frühstück erhielt er in Frankreich eine Flasche Wein, Käse und Brot, zu Mittag Suppe, Fleisch und Gemüse, bisweilen auch einen Nachtisch.46 43 44 45 46

VV, 14.2.1902. VF, 29.3.1902. VV, 17.5.1902. VV, 2.4.1902.



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Mit der Bahneröffnung im September 1902 war der »Spuk« vorbei  : »Die Bahnarbeiter sind wieder größtenteils vor den Zugvögeln ausgewandert. Es ist daher auf den Straßen (Egg) wie in den Wirtschaften wieder etwas Ruhe eingekehrt. Die Herren Wirte als auch ihre heimischen Gäste werden wohl froh sein, wenn sie sich von dem ohrenbeteubenden welschen und kroatischen Lärm, wie er hauptsächlich an Zahltagen herrschte, wieder ausruhen können.«47

Vorerst kam es zu keiner neuen Zuwanderung, weil sich die Wirtschaft Vor­ arl­bergs seit dem Jahr 1902 in einer Rezession mit Tausenden von Beschäftigungslosen befand. Im Jahr 1910 herrschte jedoch wieder Hochkonjunktur, und im Zusammenhang mit dem fortgesetzten Ausbau der Infrastruktur blühte das Baugewerbe wieder auf. Ausländische Arbeiter strömten neuerlich nach Vor­ arl­berg, darunter wieder Kroaten und Italiener. Im Montafon führten sie zur Beunruhigung und »Unsicherheit« der Einheimischen. Es müsse endlich »energisch eingegriffen werden«, die Sicherheitsorgane sollten vermehrt werden. »Die Bewohner des Tales sind weder zu Hause noch auf der Straße vor Belästigung der Kroaten und Italiener sicher. Es gehört schon fast zu einer Seltenheit, wenn ein Passant ungeschoren durchkommt.«48 Karrner aus dem Westen Tirols Unter der Bezeichnung Karrner, Lahniger oder Dörcher trat in Vor­arl­berg in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Gruppe von Menschen auf, die meist aus dem benachbarten Tirol, vor allem aus dem Tiroler Westen, dem Oberinntal kam. In Vor­arl­berg nannte man sie verächtlich »Karrenzieher«. Dies war ein grobes Schimpfwort, und des Öfteren wurden sie den Zigeunern gleichgesetzt. Diese nachbarschaftliche Wanderbewegung lässt sich seit dem 17. Jahrhundert nachweisen. Sie war eine Strategie der Krisenbewältigung und hatte eine Hauptursache in der Realteilung des Besitzes unter die Kinder einer Familie und die dadurch versursachte unproduktive Besitzzersplitterung.49 Während der Sommermonate zogen die Karrner, über den Arlberg kommend, auch durch Vor­arl­berg und schlugen an frequentierten Orten feste Lager auf. Sie waren Wanderhändler wie auch viele Montafoner, jedoch keine »klassischen« Hausierer. Sie beförderten auf ihren Karren alle erdenklichen Waren, 47 VF, 20. 9.1902. 48 VV, 21.9.1910. 49 Toni Pescosta, Die Tiroler Karrner (Tiroler Wirtschaftsstudien 55). Innsbruck 2003, S. 25 ff.

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hauptsächlich jedoch Körbe, Besen und Bürsten, ferner Obst, Käse, Essig, Salz, Streichhölzer, Seifen und Gummibänder. Sie sammelten Abfälle, wie Lumpen und Knochen, und verrichteten als Schirme- und Pfannenflicker und Messerschleifer Dienstleistungen. Im Winter wanderten sie wieder in ihre Heimatgemeinden zurück. Sie erschienen im Familienverband mit zweirädrigen Karren, die sie selbst zogen, in und unter denen sie schliefen, ähnlich wie die Zigeuner. Sie waren eine von der Bevölkerung ausgegrenzte Minderheit und machten sich vor allem durch die Bettelei der Frauen und Kinder unbeliebt. Im Vor­arl­ berger Volksblatt lesen wir  : »Dieselben schicken schon in aller Früh ihre Kinder auf den Bettel und singen den ganzen Tag  : ›Während der Bauer an der Sonne thut schwitzen, thun wir hier im Schatten sitzen.‹ Diese Karner sind mit ihrem beständigen Bettel eine wahre Plage.«50 Und weiter  : »Frech wie die Wanzen begeben sich diese faulen und schmutzigen Gestalten bettelnd in die Häuser.«51 Doch ein Großteil der Einheimischen scheint mit diesen »halbbekleideten Wegelagerern« und »lumpigen Bettlern« aus dem Nachbarland Erbarmen gehabt zu haben. Was die Vor­arl­bergerInnen jedoch nicht akzeptierten, war das in ihren Augen sittenlose und unmoralische Verhalten  : Die aus sieben bis acht Personen bestehenden Familien lebten nämlich häufig im »Concubinat« zusammen, da sie wegen Armut keine Heiratserlaubnis erhalten hatten. Ihre zahlreichen und unehelich geborenen Kinder waren häufig nicht getauft, gingen auch selten zur Schule und ihr Sexualverhalten entsprach nicht den Regeln der streng katholischen Vor­arl­berger.52 Bis ins erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts scheinen die Behörden diesen Binnenwanderern nicht Herr geworden zu sein. Ein wesentlicher Grund dafür war, dass die Karrner meist über sogenannte »Hausierbücher« verfügten, die ihnen formal Verkaufsgeschäfte und Dienstleistungen gestatteten  : »Freilich kann der Karrenzieher seinen Handel vorschützen und sich so gewissermaßen für das Vagabundentum legitimieren.«53 Außerdem waren sie Staatsbürger der Kronländer Vor­arl­berg und Tirol, also »Einheimische«. Immer wieder hören wir die Klage, dass die Behörden beziehungsweise die Gendarmerie zu wenig gegen dieses »Unwesen« unternahmen. So fühlten sich manche Gemeinden zu lokalen Maßnahmen und zur Eigeninitiativen gezwungen – beispielsweise Frastanz im Jahr 1897, wo es in einer Kundmachung hieß  : 50 VV, 14.7.1896. 51 VV, 21.5.1902. 52 Gerhard Wanner/Johannes Spies  : Kindheit, Jugend und Familie in Vor­arl­berg 1861 bis 1938 (Schriftenreihe der Rheticus-Gesellschaft 57), Feldkirch-Bregenz 2012, S.  142–148   ; VV, 11.12.1888. 53 SSVL, XI. Sitzung 1902, S. 114.



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»Um dem Bettelunwesen, der Unsittlichkeit und Trunksucht der sog. Karrenzieher wirksam zu steuern, werden alle Gemeindemitglieder von Frastanz aufgefordert, denselben weder eine Gabe zu verabfolgen, noch etwas abzukaufen, noch zu verkaufen, denn es ist dies so wie so ein falsch angebrachtes Wohlthun«.54

Lauterach wiederum verbot den Karrnern »bei Strafe« das Lagern auf seinem Gemeindegebiet. Der Erfolg dieser Androhung stellte sich jedoch nicht ein  : Ausgerechnet um die Verbotstafel an der Bregenzerach-Brücke lagerten zwei Monate lang vier Wagen »ohne Furcht und Zittern«.55 In Bregenz ereignete sich Ähnliches  : Die Gemeinde wandte sich an die Bezirkshauptmannschaft um Abhilfe. Diese antwortete, man möge um »Gendarmerie-Assistenz ansuchen«.56 Diese Einzelmaßnahmen scheinen geringen Erfolg gehabt zu haben, sodass schließlich im Jahr 1902 der Vor­arl­berger Landtag einschritt und sich an die k. k. Statthalterei von Tirol und Vor­arl­berg um Hilfe und Abhilfe wandte. Initiativ wurde Pfarrer Barnabas Fink. Er forderte eine Verschärfung des Reichs-Vagabundengesetzes aus dem Jahr 1885, das alle Landstreicher mit Arrest von einem Monat bis drei Monaten bestrafte, Bettelei mit acht Tagen bis zu drei Monaten und insbesondere  : »Wer Unmündige zum Bettel ausschickt oder verleitet.« Das traf speziell die Karrner. Im Landtag überlegte man sich weitere Gegenmaßnahmen. Da die Bevölkerung von der Gendarmerie zu wenig geschützt werde, sollten die »Gemeindediener« mit polizeilichen Befugnissen ausgestattet werden. Finanzwache und Gendarmerie müssten »derartigen Individuen« den Grenz­ übertritt verbieten, falls sie keine ordentlichen Papiere besäßen, und »etwas Geld« müssten sie aufzuweisen haben. Schließlich argumentierte der Landtag sogar mit sanitätspolizeilichen Maßnahmen  : Im Jahr 1880 hätten die Karrner die Blattern eingeschleppt und zu einer Epidemie beigetragen. Der »unsaubere Kindertransport« könnte daher verboten werden. Und könnten sie ihre Familien nicht mehr mitnehmen, höre das Vagabundenunwesen von selber auf.57 Über die Anzahl der Karrner besitzen wir keine Informationen. In einzelnen Orten scheinen sie jedoch eine starke Belastung der Bevölkerung gewesen zu sein. Selbst im abgelegenen Bregenzerwald, in Schoppernau und Lingenau, waren es im Jahr 1902 bis zu vierzig Personen, also drei Familien, die dort mit ihren Kindern und Frauen ihr Lager aufschlugen und schließlich der Gemeindekassa zur Last fielen.58 Gesicherte Berichte über einen längeren Aufenthalt von Karrnern 54 55 56 57 58

VV, 4.7.1897. VV, 17.8.1904 und 20.8.1904. VV, 27.8.1904. SSVL, XI. Sitzung 1902, S. 112–115. VV, 15.5.1902.

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haben wir aus sieben Orten, vom Walgau über das Rheintal bis zum Bregenzerwald. Da sie in Familienverbänden mit bis zu dreißig, vierzig Personen erschienen, kommen wir in Vor­arl­berg jährlich mindestens auf mehrere hundert Personen.59 Im Unterschied zu den Zigeunern handelte es sich bei den Karrnern nicht um eine »außereuropäische« ethnische Volksgruppe mit einer eigenen Sprache und Kultur, sondern um eine sozial diskriminierte Minderheit innerhalb der Tiroler Bevölkerung. In manchen der Herkunftsorte lag ihr Anteil zwischen sieben und 13 Prozent. Ihre Herkunft aus Tirol war ein Grund dafür, dass man gegen sie – die »eigenen Landsleute« – nicht mit aller Härte des Gesetzes vorging, und dass die Bevölkerung ihnen vielerorts Verständnis und Empathie entgegenbrachte und bettelnde Kinder und Frauen nicht zurückwies. Die Hochphase dieses »Landfahrertums« um 1900 wurde durch den Ersten Weltkrieg jäh unterbrochen.60 Zigeuner aus Ungarn Von dieser ebenfalls wandernden Volksgruppe und ihrer Präsenz in ­Vor­arl­berg erfahren wir aus den Quellen um 1900 recht wenig. Von ihren ­Stammgebieten in Mittelosteuropa ins gebirgige und weit abgelegene Vor­arl­berg zu kommen, war den meisten wohl zu schwierig. Die Behörden hatten ausländischen Zigeunern außerdem den Eintritt in die Monarchie, daher auch nach Vor­arl­berg verwehrt. Sie wurden abgeschoben, falls ihnen der Grenzübertritt gelang.61 Dennoch überschritt ein Trupp von 600 Zigeunern im Jahr 1902 legal, wahrscheinlich aus Ungarn kommend, die österreichische Grenze. »Die Schar warf sich dann zum größten Teile bettelnd und stehlend auf Cisleithanien.« Als Folge kam sogar eine »kleine Abteilung« bis nach Lingenau, wo sie in der Gemeinde herumbettelte und stahl. Was aber besonders empörte, war der Umstand, dass ein »Weibsbild« von 16 Jahren, das bereits zwei Kinder geboren hatte, im Armenhaus verpflegt werden musste.62 Was ihren Aufenthalt beziehungsweise Durchzug erschwerte, war das aus dem Jahr 1855 stammende »Vagabundengesetz«. Grundsätzlich wurde jeder Zigeuner als verdächtige Person angesehen und auch so behandelt, auf seine Straffälligkeit überprüft. Auch der Erlass der k. k. Statthalterei von Tirol und Vor­arl­berg aus dem Jahr 1888 machte ihnen einen Aufenthalt kaum möglich  : 59 60 61 62

Wanner/Spies, Kindheit, S. 145 ff. Pescosta, Die Tiroler, S. 47. VV, 4.8.1904. SSVL, XI. Si., 1902, S. 113.



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Ihre mitgeführten Tiere sollten unter Quarantäne gestellt werden, verdächtige Personen waren zu arretieren und deren mitgeführten Tiere einstweilig zu beschlagnahmen. Den mit Ungeziefer Behafteten waren die Haare zu schneiden. Jährlich hatten Gendarmerie und Bezirkshauptmannschaften über ihre »Erfolge« bei der Zigeunerbekämpfung dem Innenministerium zu berichten.63 Naturalverpflegsstationen, Handwerksburschen und Vagabunden Das westlichste Kronland der Monarchie war ein Industriegebiet und auch Transitzone nach Deutschland und in die Schweiz. Die sozialen Folgen zeigten sich im »Einströmen« von »Karrnern«, Bettlern, Landstreichern, »Vagabunden«, Arbeitssuchenden und Hausierern. Sie stellten eine nicht geringe Belastung der Bevölkerung dar, da die meist Mittellosen Unterkunft und Verpflegung suchten und Teile der Vor­arl­berger selbst unter Armut litten. Die Landesbehörden halfen sich vorerst in »dringenden Fällen« mit der Errichtung von »Schubstationen«. Aber alle diese Binnenmigranten nebst Ausländern konnten nicht einfach wieder über die Landes- und Staatsgrenzen abgeschoben werden. Als die sozialen Probleme zu eskalieren drohten, entschloss sich das Land nach dem Vorbild anderer Kronländer im Jahr 1891 zur Errichtung sogenannter »Natural-Verpflegsstationen«. Das entsprechende Gesetz vom 17. Jänner 1891 sorgte für die Rahmenbedingungen. Die Stationen, unter Kontrolle des Landtags, sollten zur Verminderung des Haus- und Straßenbettels und des Landstreichens beitragen. Die Stationen dienten der Unterkunft und Verpflegung von mittellosen, aber arbeitsfähigen Reisenden jeglicher Konfession. Meist handelte es sich um Handwerker, Frauen und Kinder waren eine Seltenheit. Aufnahme fand man nur bei Vorweis einer »Reiseurkunde«, jeder zehnte und daher Abgewiesene besaß eine solche nicht und war wiederum auf den Bettel angewiesen.64 Die Bezahlung der Auslagen erfolgte aus den Steuern des jeweiligen Bezirkes, in welchem sich eine solche Station befand, später fallweise aber auch durch Subventionen des Landes. In § 10 hieß es  : »In jeder Gemeinde ist das Verbot des Bettelns in auffälliger Weise durch bleibenden Anschlag kundzumachen und zugleich die Bekanntgabe beizufügen, daß mittellose Reisende in der nächsten Verpflegsstation Aufnahme finden.«65 63 Pescosta, Die Tiroler, S. 61 f. 64 Sigrid Wadauer, Vazierende Gesellen und wandernde Arbeitslose (Österreich ca. 1880–1938), in  : Annemarie Steidl u. a. (Hg.), Übergang und Schnittmengen, Arbeit, Migration, Bevölkerung und Wissenschaftsgeschichte in Diskussion. Wien 2008, S. 101–131, hier S. 110–115. 65 VV, 18.9.1891.

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Die Maßnahmen erwiesen sich aber nur in jenen Gegenden als effektiv, in denen sich solche Stationen befanden oder in deren unmittelbarer Nähe. Im Hinteren Bregenzerwald, an den Passübergängen in Warth und in Damüls gab es jedoch keine Gendarmerie, keine Schubstation, und die »Fechtbrüder« (Bettler, Landstreicher), meist junge Burschen, zogen während der schneefreien Sommermonate in Scharen durch die Gegend. Aus Damüls wurde 1902 berichtet  : »Für uns sind die Verpflegsstationen in Au und Sonntag wahrlich kein Nutzen, im Gegenteil, seit dem Bestehen derselben wird wohl in ganz Vor­arl­berg keine Gegend vom Gesindel von Beruf so heimgesucht und gebrandschatzt, wie gerade Damüls.«66 Und in Warth traf man »Fechtbrüder« »gar vielmal im Tage […] meist zerlumpt mit zerrissenen Schuhen, selten ein ehrliches Gesicht«.67 Vor­arl­bergweit gab es insgesamt 20 bis 21 Stationen. Sie befanden sich in den Städten, im Rheintal, Bregenzerwald, Montafon und in der Arlbergregion, im Walgau bestand keine. Wo keine Eisenbahnstation vorhanden war, lagen sie etwa in einer Distanz von zehn bis 15 Kilometern auseinander, eine Strecke, die man einem Fußgänger zumutete. Die höchste Zahl der Durchreisenden mit jährlich über 3.000 Personen wiesen die Stationen in Bregenz, Feldkirch, Bludenz, Götzis und Dornbirn auf. Zwischen 3.000 und 1.500 Übernachtungen gab es in Dalaas, Stuben-Langen und Höchst. Hernach folgten im Bregenzerwald die Gemeinden Alberschwende, Sulzberg, Hittisau, Egg, Bezau und Au. Das Schlusslicht mit jährlich unter 500 Personen bildeten die Täler Montafon sowie Großes- und Kleines Walsertal.68 Die meisten Durchreisenden scheinen in der Tat völlig mittellos gewesen zu sein. Von Tirol kommend, machten sie zum ersten Mal Halt in Stuben und Dalaas. Zum Problem wurde jedoch der Winter, weil der Arlbergpass meist ein halbes Jahr unzugänglich und nur unter Lebensgefahr zu überqueren war. Dann sammelten sich die mit der Bahn nach Tirol ausreisenden Leute in der Verpflegsstation in Bludenz, auf den Straßen und in schlechten Unterkünften. Um eine finanzielle Belastung der Station abzuwenden, erhielten sie von dieser kostenlos die billigen Bahnbillets aber nur bis nach St. Anton in Tirol. Damit waren jedoch die Tiroler Behörden nicht einverstanden und empfahlen jenen in Vor­ arl­berg, sie sollten die ausländischen »Vagabunden« über die deutsche Grenze abschieben. Effektiver sei es, so argumentierte dagegen das Vor­arl­berger Volks­ blatt, die Staatsgrenze durch die Finanzwache und Gendarmerie besser überwachen zu lassen, was nicht geschah. Auch wurden die »Vagabundengesetze« von 66 VV, 14.1.1902. 67 VV, 29.6.1897. 68 SSVL, Berichte des Landes-Ausschusses über Naturalverpflegsstationen in Vor­arl­berg, 1897– 1904. Beilagen zu den Protokollen des Vor­arl­berger Landtages.



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Landeshauptmann Adolf Rhomberg bei der Eröffnung der Straße über den Flexenpass, 1909 (Fotograf unbekannt, vorarlberg museum)

der Bevölkerung wenig akzeptiert und von den Behörden mangelhaft exekutiert. Noch aus 1904 lesen wir  : »Die Vagabundage nimmt mit Eintritt des Winters immer mehr zu, trotz der modern eingerichteten Naturalverpflegsstationen. Es ist peinlich anzusehen, wie so mancher junge starke Mann sich ganz ungeniert sich auf das Betteln verlegt, als ob dies gar nicht verboten wäre, und mit ganz gutem Humor von einer Wohnung zur anderen geht. Oft kommt es vor, daß einer dem anderen folgt.«69

Mit der Arbeitswilligkeit der Reisenden gab es Probleme, obwohl die Verpflegsstationen auch Arbeit vermittelten. Im Jahr 1901 etwa wurden 39.911 Reisende in den 21 Stationen aufgenommen, doch lediglich für 461 Personen wurde eine Arbeit vermittelt. In Feldkirch, Bregenz und Dornbirn waren es 259. Somit riss die Zahl der bettelnden Handwerksburschen und »Fechtbrüder«, die das Land durchzogen, nicht ab. Der Landesausschuss appellierte daher im Jahr 1903 wiederum an die Ortsvorstehungen, 69 VV, 3.12.1904.

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»die Bevölkerung dahin zu belehren, sich aller Gaben, namentlich aber der Geldgaben an fremde, herumziehende Bettler zu enthalten, solchen Individuen keinen Unterstand zu gewähren, sondern dieselben an die nächste Verpflegsstation zu verweisen […]. Wenn die Bevölkerung nicht in dieser Weise mitwirke, bestehe die Gefahr, dass die herumziehenden Elemente unser Land in der Folge noch mehr belästigen werden, indem dieselben dann nicht nur auf die Verpflegung und Unterkunft in den Stationen, sondern auch auf anderweitige Unterstützung seitens der Bewohner des Landes mit Aussicht auf Erfolg rechnen würden«.70

Im Jahr 1900 hatte Vor­arl­berg eine Bevölkerung von 129.237 Personen. Der finanzielle Aufwand für die Unterstützung der durchreisenden Mittellosen lag jährlich im Durchschnitt bei 30.000 Kronen  – das entsprach zirka zehn Prozent der Einkommenssteuersumme, die Vor­arl­berg an den Staat ablieferte. Die hohen Auslagen und das anhaltende »Bettelunwesen« veranlassten das Land 1904 zu einer neuen, umfassenden und vor allem strengen Organisation der Verpflegsstationen. Die Ordnung wurde mit 17 §§ genauestens geregelt. Unter ihnen finden sich folgende Bestimmungen  : • Nur bei einer im Voraus zu leistenden Arbeit wie Steineklopfen, Holzhacken, Straßenreinigen und so weiter wurden die Verpflegung und das Nachtlager gestattet. • Der Landtag konnte verfügen, dass Stationen nur als Nachtstationen benutzt werden durften, wodurch das Mittagsmahl entfiel. Ihre Tätigkeit konnte auf die Winterszeit eingeschränkt werden. • Als Nachtlager dienten ein Strohsack, ein Strohpolster und eine Wolldecke, gegebenenfalls auch ein Heulager. • »§ 4. Den Reisenden ist als Mittags- und Abendmahl je ½ Liter Suppe, dann ½ Liter nahrhaftes Gemüse, insbesondere Bohnen, Linsen u. dgl. oder eine Mehlspeise (Nudeln, Knödel u. s. w.) oder eine andere gleichnahrhafte, ortsübliche Verköstigung und 25 Dekagramm Roggenbrot, als Frühstück je ½ Liter Milchkaffee oder ein Liter Milchsuppe oder eine andere nahrhafte Speise und ebenfalls 25 Dekagramm Roggenbrot zu verabfolgen.« • Mehr als 14 Stunden durfte der Aufenthalt nicht überschreiten, in entlegenen Gebirgsgegenden konnte er auf 18 Stunden ausgedehnt werden. • Der Konsum geistiger Getränke und das Rauchen in der Unterkunft waren »unbedingt verboten«. • Dem Stationsleiter war es erlaubt, einen Reisenden zu durchsuchen, wenn dieser im Verdacht stand, Geldmittel zu besitzen. 70 SSVL, I. Session 1903, Beil. XVII, S. 59.



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• Bei Erkrankung sollte er dem Gemeindeamt übergeben werden. • Den Stationsvorstehern wurde aufgetragen, sich in der Gemeinde um Arbeiten für die Reisenden zu bemühen. »§ 15. Es ist insbesondere seitens der Gemeinden auch tunlich von den Stationsleitungen mit allem Nachdrucke dahin zu wirken, daß die übliche Verabreichung von Geschenken an Geld oder Lebensmitteln durch die Einwohner gänzlich unterlassen werde.« Und gerade dieser § 15 scheint wenig Beachtung gefunden zu haben.71 Tiroler Gemeinden wiederum stellten sogenannte »Bettelbriefe« aus, die den »Fechtbrüdern« ihr Tun erlaubten. Dabei gab es bereits ein Gesetz aus dem Jahr 1873, das die Ausstellung solcher Zeugnisse bei Strafen verbot. Auch die Tiroler Behörden stellten solche Briefe aus und sandten sie an die »entgegenkommenden« Pfarrhöfe. Die Reaktion aus Vor­arl­berg  : »Etwas mehr Selbsthilfe würde im Tirol nicht schaden.«72 Von diesen Gruppen zu trennen sind die »Hausierer«. Sie treten in den Vor­ arl­berger Zeitungsberichten immer wieder auf, wobei stets auf ihren negativen Einfluss hingewiesen wird. Sie waren keine homogene Gruppe und standen vor allem im Kreuzfeuer der Christlichsozialen, weil sich unter ihnen häufig Juden befanden und weil man ihnen unlautere und sittenschädigende Geschäfte vorwarf. Diese »Landfremden«, ausschließlich Männer über dreißig Jahren, die auch zu keinem anderen Beruf fähig waren, kamen meist aus dem Osten Österreichs und aus Ungarn. Dort war nämlich das Hausieren verboten. Von der Landbevölkerung wurden die Hausierer meist positiv aufgenommen, da sie Abwechslung in ein Dorf brachten und auch solche Waren anboten, die auf dem legalen Weg in Vor­arl­berg nicht zu erwerben waren.73 Zusammenfassung Vor­arl­berg erlebte um 1900 unter dem christlichsozialen Landeshauptmann Adolf Rhomberg eine wirtschaftliche Hochkonjunktur. Für die blühende Textilindustrie und für den Ausbau der Infrastruktur gab es zu wenig einheimische Arbeitskräfte. Diese, vor allem Männer, waren auch nicht bereit, wegen der niedrigen Löhne in der Industrie und im Hochbau zu arbeiten. Folglich kam es zur Einwanderung von italienischsprachigen Arbeitskräften aus dem österreichischen Trentino und um 1900 zum temporären Zuzug von slawischen Bauar71 VV, 21.7.1904. 72 VV, 14.4.1901  ; VV, 3.9.1902. 73 Wadauer, Ins Un/Recht, S. 119 ff., S. 123.

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beitern, vor allem von Kroaten und Slowaken, aus der ungarischen Reichshälfte. Vor­arl­berg war aber auch Transitland in die Schweiz und nach Deutschland, was zur Durchreise Tausender von Bettlern, Handwerksburschen, Hausierer und Wanderhändlern führte. Von diesen sozialen und ethnischen Gruppen ließen sich auf Dauer nur Teile der Trentiner in Vor­arl­berg nieder. Die Slawen kehrten nach der Beendigung des Baues der Lokalbahnen in den Bregenzerwald und das Montafon wieder in ihre Heimat zurück. Während der Sommermonate erschienen aus den westlichen Bergregionen des benachbarten Tirol die Gruppe der Karrenzieher, auch Karrner genannt. Sie beschäftigten sich als Hausierer und GelegenheitsarbeiterInnen, gingen aber auch dem Bettel nach. Die Herkunft, Tätigkeit und Anzahl der durchreisenden Handwerksburschen beziehungsweise Arbeitslosen ist schwer einzuschätzen. Ihr Verbleib in Vor­arl­berg war sicherlich kurzfristig und diente nur dem Transit, da das kapitalarme Vor­arl­berger Kleingewerbe kaum Arbeitsplätze bot und die Naturalverpflegsstationen nur für eine Nacht für Unterkunft sorgten. Zigeuner, vor allem aus Ungarn kommend, erhielten zwar große mediale Beachtung, waren in Vor­arl­berg jedoch selten anzutreffen. Alle diese Personen und unterschiedlichen sozialen und ethnischen Gruppen hatten eines gemeinsam, sie gehörten den untersten sozialen Schichten an, solchen, die es unter der Vor­arl­berger einheimischen Bevölkerung kaum gab. Gemeinsam war ihnen auch ein dem »Alemannischen« meist fremdartiges Normensystem, was in kulturellen Spannungen resultieren konnte. Daher beschäftigte sich auch die Landespolitik intensiv mit diesen Erscheinungen, wobei es zwischen den Liberalen und Christlichsozialen unterschiedliche Auffassungen gab, vor allem was die Bewertung dieser Kleingruppen und ihre Kontrolle durch die Vor­arl­berger und Tiroler Behörden betraf. Viele Vor­arl­bergerInnen wiederum verhielten sich empathisch gegenüber den Bettlern, Arbeitslosen und Hausieren und die behördlich-exekutive Maßnahmen blieben daher häufig ineffektiv. Um die Wanderbewegung Tausender, vor allem durchziehender Personen einigermaßen zu regulieren und sie nicht zu einem realen sozialen Problem werden zu lassen, wurde auch in Vor­arl­berg ab 1891 ein landesweites Netz von Naturalverpflegsstationen an den Hauptverkehrswegen aufgebaut. Sie dienten einer kurzfristigen Verpflegung und Unterkunft männlicher Arbeitssuchender/ Arbeitsloser, waren jedoch kaum in der Lage und auch nicht Willens, Arbeit zu vermitteln. Migrationsbewegungen waren kein Vor­arl­berger Sonderfall, sondern in der gesamten Habsburger Monarchie anzutreffen. Sie sind seit Längerem Thema historischer Forschung. In Vor­arl­berg wurden vor allem die Trentiner oder »Welschtiroler« Einwanderer und die Naturalverpflegsstationen untersucht. Bislang völlig außer Acht gelassen wurde die Bedeutung slawischer ArbeiterIn­



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nen – vor allem jener aus Kroatien und der Slowakei. Was das Kronland TirolVor­arl­berg zu einem Sonderfall in der Monarchie machte, waren die aus dem deutsch- und italienischsprachen Teil Tirols stammenden TrentinerInnen, tätig im sekundären Wirtschaftssektor, und die Karrner als Dienstleister und Kleinhändler. Von ihnen zu unterscheiden sind die »Hausierer«, die einen Gewerbeschein besaßen und unter denen sich häufig Juden aus dem österreichischen Osten befanden.

Hanna Zweig (†)1

Jüdische Migration, jüdische Flucht nach St. Gallen Generell unterscheide ich  – im Gegensatz zur heute üblichen Differenzierung zwischen Wirtschaftsflüchtlingen und »echten«, das heißt politischen Flüchtlingen – zwischen Migration und Flucht. In einer ersten Phase der Einwanderung von Juden, etwa vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zirka 1880 handelte es sich in St. Gallen um Migration vorwiegend aus der näheren, deutschsprachigen Umgebung.2 Das Anliegen dieser Zuwanderer war, wie das der Juden in ganz Westeuropa, als Juden und als Staatsbürger anerkannt zu werden. Nach der nach-napoleonischen Krise, ausgelöst durch die Aufhebung der Kontinentalsperre und der damit verbundenen sprunghaften Zunahme billiger Importe aus England, erstarkte in St. Gallen die Textilindustrie etwa ab Mitte des 19. Jahrhunderts wieder. Die Stadt wurde sowohl für Unternehmer attraktiv als auch für Arbeitssuchende. In der zweiten Phase vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1930er Jahre variierten die Ursachen und Motive hinter der Migration aus Osteuropa  : Teils handelte es sich um eine verzweifelte Suche nach besseren Lebensumständen, teils aber auch um die Notwendigkeit, vor Verfolgung zu flüchten.3 Ab den 1930er Jahren handelte es sich fast ausschließlich um Flucht, letztlich – ohne dass jemand dies voraussehen konnte – um Flucht vor der Vernichtung.4 Bis 1863 galten in St. Gallen dieselben restriktiven Berufs- und Niederlassungsbeschränkungen für Juden wie in der gesamten Schweiz (mit Ausnahme der beiden Judendörfer im Surbtal).5 Wohnsitznahme wurde nur »auf Zuse1 Hanna Zweig-Strauss, als Historikerin hervorgetreten durch die Publikation zweier Biographien (über Saly Mayer, 1882–1950 und David Farbstein, 1868-1953), ist im Dezember 2014 verstorben. Korrekturen am vorliegenden Beitrag konnte die Autorin nicht mehr selbst vornehmen, für sämtliche Fehler übernehmen die Herausgeber die Verantwortung. 2 Sabine Schreiber, Hirschfeld, Strauss, Malinsky. Jüdisches Leben in St. Gallen 1803 bis 1933 (Beiträge zur Geschichte und Kultur der Juden in der Schweiz 11), Zürich 2006  ; dies., Juden in St. Gallen, in  : Schweizer Israelitischer Gemeindebund (SIG), Fact sheet [http://www.swissjews. ch/pdf/de/factsheet/SIG_Factsheet_Juden_in_St_Gallen_de.pdf ], Zugriff  : 1.1.2013. 3 Heiko Haumann, Geschichte der Ostjuden, München 1990 (51999), S. 162–167. 4 Jacques Picard, Die Schweiz und die Juden 1933–1945. Schweizerischer Antisemitismus, jüdische Abwehr und internationale Migrations- und Flüchtlingspolitik, Zürich 1997  ; Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg (Hg.), Die Schweiz, der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg – Schlussbericht, Zürich 2002. 5 Z. B. Alexandra Binnenkade, KontaktZonen. Jüdisch-christlicher Alltag in Lengnau, Köln 2009.

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hen hin«6 gestattet, die Handelstätigkeit wurde teilweise eingeschränkt. Mit der Annahme der Kantonsverfassung 1863 fielen die behördlichen Restriktionen weg – ein bemerkenswertes Zeichen von Liberalität der Stadt beziehungsweise des Kantons St. Gallen zehn Jahre vor der entsprechenden Revision der Bundesverfassung 1874 mit der völligen Emanzipation der Juden. Jene Juden, die sich zunächst teils vorübergehend und mehr oder weniger lange, später aber auf Dauer in St. Gallen aufhielten, bekannten sich unzweifelhaft zu ihrer jüdischen Identität. Die einzelnen Personen und Familien unterschieden sich in dieser Hinsicht allenfalls im Ausmaß ihrer religiösen Observanz. Die Haltung der einheimischen Bevölkerung beziehungsweise der Behörden Juden gegenüber wandelte sich nur langsam. Doch gerade in St. Gallen gab es große Differenzen zwischen den Normen von Politik und Verwaltung in Bezug auf Akzeptanz von Juden einerseits und der Haltung der Bevölkerung andererseits, für die konfessionelle Zugehörigkeiten teilweise eine große Rolle spielten. Besonders im Katholizismus blieb der religiöse Antijudaismus mit den vorherrschenden Ansichten über den Verrat der Juden an Jesus von Nazareth und die Furcht vor der als bedrohlich empfundenen Modernisierung lange wirkungsmächtig. Paradoxerweise bestanden jedoch nach dem Sonderbundkrieg von 1847 und der darauffolgenden Machtstellung des überwiegend protestantischen fortschrittlichen Freisinns auch Gemeinsamkeiten zwischen Katholiken und Juden. Unbesehen der sehr unterschiedlichen Größe der Gruppen fühlten sich beide auf höchst verschiedene Weise als benachteiligte Minderheiten mit teilweise gemeinsamen Interessen.7 Für Juden kann das Jahr 1863 mit der Annahme der Kantonsverfassung in St. Gallen als eine Zäsur bezeichnet werden.8 Waren sie vorher ausschließlich auf den guten Willen in ihrer Umgebung angewiesen und behördlichen Restriktionen unterworfen, bestand nun ein Rechtsanspruch auf Duldung und Be6 Anmerkung der Herausgeber  : Es handelt sich dabei um eine in der Schweizer Verwaltungsund Rechtssprache gebräuchliche Formulierung, die eine rechtlich verbindliche Erklärung enthält. Dadurch wird ein Anspruch signalisiert, der zwar widerrufen werden kann, wobei der Widerruf aber begründet werden muss. Auf Zusehen hin meint darüber hinaus aber auch, dass der betroffenen Person eben zugesehen wird, d. h. es geht um so etwas wie eine unbefristete Probezeit oder Bewährung. 7 Z. B. zu den Aktivitäten des konservativen, katholischen Nationalrates Heinrich Walther (Luzern) zugunsten der Aufhebung des Schächtverbotes bei Christina Späti, Heilige Stätten, Freiheitsgeist und Antisemitismus  : Das vielschichtige Verhältnis der Katholiken zum Zionismus, in  : Urs Altermatt (Hg.), Katholische Denk- und Lebenswelten. Beiträge zur Kultur- und Sozialgeschichte des Schweizer Katholizismus im 20. Jahrhundert, Freiburg 2003, S. 187–208, hier S. 193. 8 Hanna Zweig-Strauss, Saly Mayer (1882–1950). Ein Retter jüdischen Lebens während des Holocaust, Köln 2007, S. 28 f.



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Anton Burgauer, der erste in St. Gallen eingebürgerte Jude, stammte aus Hohenems (Foto  : Jüdisches Museum Hohenems)

rufsausübung. Allerdings darf dies nicht mit sozialer Gleichstellung oder gar zwischenmenschlicher Akzeptanz verwechselt werden. Einbürgerungen in der Stadt St. Gallen lagen in der Kompetenz der Ortsbürgergemeinde. Sie scheiterten häufig. Die erste Einbürgerung eines Juden in der Stadt fand 1876 statt.9 Diese Zurückhaltung galt für »Ostjuden« bis Mitte des 20. Jahrhunderts, für »Westjuden« aus dem benachbarten Vor­arl­berg oder Süddeutschland etwas weniger lange. Doch auch sie waren nicht selten gezwungen, in kleinere, umliegende Gemeinden auszuweichen.10 Diese profitierten von den Einbürgerungsgebühren und waren daher eher geneigt, Juden aufzunehmen. Bis in die 1920er Jahre hielten sich indes behördliche Ausgrenzungstendenzen auch gegenüber wenig begüterten Zuwanderern in Grenzen, allerdings sind hier Schwankungen zu verzeichnen.   9 Zur Einbürgerung des aus Hohenems in Vor­arl­berg stammenden Adolf Burgauer im Jahre 1876  : Heimat Diaspora. Das Jüdische Museum Hohenems. Herausgegeben für das Jüdische Museum Hohenems von Hanno Loewy, Hohenems 2008, S. 114  ; siehe auch die Artikel von Marcel Mayer, Burgauer (2003) und Adolf Burgauer (2003), in  : Historisches Lexikon der Schweiz [http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D24982.php] und [http://www.hls-dhs-dss.ch/ textes/d/D31043.php?topdf=1]  ; und zur Geschichte der familieneigenen Firma  : Burgauer & Co AG, St. Gallen, 1860–1960, St. Gallen 1960. 10 Zur Einbürgerung der Familie Mayer Rothschild 1885 in Stein SG  : Zweig-Strauss, Saly Mayer, S. 32.

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Gelegentlich wurde auf dem Rücken der jüdischen Kaufleute der Konflikt zwischen althergebrachten konservativen Haltungen und der anbrechenden Moderne ausgetragen. Besonders zu erwähnen sind die schweren antisemitischen Ausschreitungen im Jahr 1883, die sich insbesondere auch gegen das Geschäft von Louis Bamberger richteten.11 Sein nach fortschrittlichen Kriterien geführtes Kaufhaus wurde zum Sinnbild für die Verdrängung althergebrachter Geschäfte. Zur Gewalt aufgerufen hatte ein katholisch-konservativer Lokalpolitiker, der schon Monate vorher mit frei erfundenen Beschuldigungen in der katholischen Presse Stimmung gemacht hatte.12 Die mehr oder weniger brisante Situation wurde in der katholischen und als deren Gegenpol in der protestantisch-liberalen Presse zu einer eigentlichen Kampagne hochgeschaukelt. Es ging dabei wie so oft nur vordergründig um »den Juden«, in Wirklichkeit um eine weltanschauliche Problematik. Die Kampagne war zwar antijüdisch ausgerichtet, beinhaltete aber das viel tiefer liegende Problem des als bedrohlich empfundenen wirtschaftlichen und sozialen Wandels. Juden galten dabei, wie an andern Orten auch, als Verursacher der ungeliebten und bedrohlich erlebten Veränderung der Lebenswelten. Die sehr verhaltene Reaktion der zu dieser Zeit in St. Gallen lebenden Juden kann wohl so verstanden werden, dass ihnen die Akzeptanz ihrer nichtjüdische Umgebung – und dies wohl nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen – von zunehmender Wichtigkeit erschien.13 Vielleicht könnte man dies als erstes Symptom eines entstehenden Identitätskonfliktes interpretieren. Die Zunahme des rassistischen Judenhasses gipfelte in der sogenannten Hakenkreuzwelle 1923/24. Auch hier spielte die katholische Presse wiederum eine vergleichbare Rolle.14 Die steigende Zahl an mittellosen und unterstützungsbedürftigen Flüchtlingen aus dem nationalsozialistischen Deutschland ab 1933 Fluchtbewegungen, darunter meist Personen, die als Juden verfolgt wurden, verstärkte weiterhin die Ablehnung und Ausgrenzung. Juden blieben indes in der nichtjüdischen Umgebung immer, allerdings phasenweise manchmal mehr und manchmal weniger, die Prototypen des »Anderen«. Daran änderte weder eine betont jüdische Lebensführung noch deren Ablehnung und eine damit verbundene Beteuerung der eigenen »Gleichheit« etwas. 11 Thomas Metzger, Antisemitismus in der Stadt St. Gallen 1918–1939 (Religion – Politik – Gesellschaft in der Schweiz 42), Freiburg 2006, S. 71 (Anm. 195)  ; Schreiber, Hirschfeld, S. 208–211. 12 Max Lemmenmeier, Politik zwischen Kulturkampf, Nationalgefühl und Klassenkampf, in  : St. Galler Geschichte 2003, Bd. 6, St. Gallen 2003, S. 62 f. 13 Schreiber, Hirschfeld, S. 208–211. 14 Josef Böni, Gehört die Anti Juda Bewegung auf die Anklagebank   ? In   : Die Ostschweiz, 24.12.1923. Zu Böni siehe Christine Spälti, Ein radikaler Exponent des katholischen Antisemitismus in den zwanziger Jahren  : Josef Böni 1895–1974, in  : Schweizerische Kirchengeschichte 92 (1999), S. 73–90.



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Synagoge St. Gallen, fertiggestellt 1881 (Foto  : Andreas Praefcke)

Während der Helvetik – gemeint ist jene Phase zwischen 1798 und 1803, in der auf dem Territorium der Eidgenossenschaft die von Frankreich kontrollierte Helvetische Republik bestand  – wurden jüdische Händler streng polizeilich kontrolliert, doch erst während der Restauration kam es 1818 zu Verordnungen mit dem Ziel, mittels Sondersteuern und einem Verbot des Immobilienerwerbs ihre Tätigkeit einzuschränken. Besonders jüdische Kaufleute aus Hohenems und Frankreich wehrten sich vergeblich gegen diese Sondergesetzgebung. Auch die Konkordatsverhandlungen der Eidgenossenschaft mit Frankreich in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts änderte die unterschiedliche Behandlung christlicher und jüdischer Zuwanderer nicht. Es wurde mit den üblichen antijüdischen Stereotypen argumentiert, mit »betrügerischer Geschäftsführung« oder den »fremdartigen Gewohnheiten und Moralvorstellungen«. Vereinzelten jüdischen Familien gelang es trotz allem, in St. Gallen Fuß zu fassen. Diese, wie auch die in St. Gallen nur sporadisch Handel treibenden Geschäftsleute, bauten langsam geschäftliche Verbindungen mit nichtjüdischen Firmen auf. Doch trotz des wirtschaftlichen Wiederaufschwungs blieb der Anteil der jüdischen Bevölkerung bis 1860 minimal um dann bis 1863 sprunghaft anzusteigen (im Kanton von 0,04 bis 0,05 auf 0,44 Prozent, in der Stadt von 0,44 auf 0,83 Prozent).15 15 Schreiber, Hirschfeld, S. 25–51.

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Wenige Monate nach Annahme der neuen Verfassung wurde der Jüdische Kultusverein gegründet. Allerdings dauerte es noch Jahre, bis sich die unterschiedlichen jüdischen Traditionen verpflichteten Männer (von neoorthodox bis reformerisch) zur Gründung einer jüdischen Gemeinde mit anerkannten und verbindlichen Statuten durchrangen. Erst 1869 konstituierte sich die Israelitische Religionsgesellschaft, später Israelitische Kultusgemeinde (IKG) genannt, in St. Gallen als sogenannte Einheitsgemeinde. Sie stand sowohl streng observanten als auch liberalen Mitgliedern offen. Im Dezember 1879 wurde der Grundstein zu einer eigenen Synagoge gelegt.16 Die Gemeinde stand in den ersten Jahren, sogar Jahrzehnten, finanziell auf unsicherem Boden. Zu dieser Zeit waren viele Zuwanderer mittellos oder verfügten über ein sehr kleines Vermögen und mussten ihre Existenz aufbauen. Nur etwa die Hälfte der Migranten bis 1865 konnten sich eine bürgerliche Existenz leisten, nur drei der Gründungsmitglieder der IKG waren als »reich« einzustufen (mit einem Vermögen von zirka 100.000 Franken).17 Oft gründeten die Migranten große Familien, ihre Kinder besuchten die städtischen Schulen, sprachen bald neben dem familiären Jiddisch das lokale Idiom und integrierten sich in die bestehenden gesellschaftlichen Normen. Viele der zweiten oder nachfolgenden Generationen hielten die Verbindung zur IKG aufrecht. Beispielhaft für die unterschiedlichen Voraussetzungen und Entwicklungen können die wohlhabenden Gebrüder Reichenbach aus Hohenems und die mittellos einwandernde Familie Iklé aus Hamburg aufgeführt werden. So unterschiedlich also die finanziellen und persönlichen Ausgangssituationen der Familien auch waren, gelang es doch beiden, weitverzweigte und bedeutende Firmen zu gründen. Die Gebrüder Reichenbach bauten ein vielfältiges internationales Firmenimperium auf. Moses Iklé handelte zu Beginn mit Weißwaren und überschrieb nach einem Konkurs das Geschäft seiner Frau. Seine Söhne etablierten später ein international florierendes Stickereihandelshaus mit Filialen in Paris, London, Deutschland und den USA. Aus der Familie Reichenbach stammten zwar einige führende Mitglieder der IKG, allerdings legten sie größten Wert darauf, nicht als als Juden aufzufallen. Die Nachfahren von Moses Iklé hielten nur kurze Zeit ihre Verbindung zur IKG aufrecht und tendierten dazu, sich mit der lokalen nichtjüdischen Oberschicht zu verbinden, was ihnen auch gelang.18 Indes führten beide Verhaltensmuster zu einer praktisch vollständigen Integration und Identifikation mit der Lebenswelt 16 Wandel und Beständigkeit. Jüdische Gemeinde St. Gallen 1863–2013, St. Gallen-Herisau 2013  ; Karl Heinz Burmeister, Geschichte der Juden im Kanton St. Gallen bis zum Jahre 1918, St. Gallen 2001, S. 51 ff. 17 Schreiber, Hirschfeld, S. 244. 18 Interview mit Simon Rothschild, St. Gallen, 25.5.2005.



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Leopold Iklé schenkte 1904 seine Sammlung dem Gewerbemuseum St. Gallen (Foto  : Industrie- u. Gewerbemuseum St. Gallen, 1908)

in St. Gallen. Diese Juden fühlten sich als vollwertige St. Galler mit allen Rechten und Pflichten. Inwieweit sie als solche von der Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert und anerkannt wurden, muss freilich offen bleiben. Die Lebensumstände der Juden in Osteuropa waren im 19. Jahrhundert oftmals durch extreme Armut gekennzeichnet. In den letzten beiden Jahrzehnten kamen zunehmende Verfolgungen hinzu, sodass insgesamt etwa drei Millionen Menschen Richtung Westen auswanderten. Diese jüdischen Auswanderer waren teils Wirtschaftsflüchtlinge, teils Flüchtlinge und sind nicht einfach einer Kategorie zuzuordnen. Ein kleiner Teil von ihnen landete in der Schweiz, davon wiederum viele in Zürich.19 Aber auch St. Gallen war Ziel dieser »Ostjuden«. 19 Hanna Zweig-Strauss, David Farbstein (1868–1953). Jüdischer Sozialist – sozialistischer Jude, Zürich 2002.

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Die in Kleidung, Verhalten und Sprache fremdartigen Menschen wurden nicht nur von der nichtjüdischen, sondern auch der sich überwiegend als assimiliert fühlenden jüdischen Bevölkerung nicht mit offenen Armen empfangen. Sie wurden vielmehr als Bedrohung des eben erst errungenen eigenen sozialen Status wahrgenommen. Die soziale Trennung kam beispielsweise in den Wohnsituationen zum Ausdruck. Die kurz nach dem Emanzipationsdekret Eingewanderten lebten in »besseren« Vierteln, etwa am sonnigen Rosenberg, die »Ostjuden« in der schattigen unteren Stadt.20 Ihre Armut erlaubte praktisch keiner Familie der ersten Generation ein sogenannt bürgerliches Leben, wie es nun die meisten der vorherigen Einwanderer führten – Frauen wie Männer mussten einer Erwerbsarbeit nachgehen. Meist führten die Frauen neben Haushalt und Erziehung der zahlreichen Kinder kleine Ramschläden oder Lebensmittelgeschäfte, die Männer gingen »auf die Reis«, das heißt, sie arbeiteten als Hausierer. Indes bemühten sich die schwer um ihre Existenz kämpfenden Familien, ihren Kindern eine möglichst gute Ausbildung und damit die Voraussetzungen zum sozialen Aufstieg zuteil werden zu lassen.21 Auch in Bezug auf den religiösen und sozialen Zusammenhalt bestanden Unterschiede zwischen »Ostjuden« und »Westjuden«. Die um Assimilation bemühten »Westjuden« sahen auf die entweder orthodoxen oder sozialistischen, jedenfalls als rückständig bewerteten »Ostjuden« herab.22 Bei den religiös observant lebenden Mitgliedern der IKG dürfte eine gewisse Ambivalenz in Bezug auf die eigene Identität allerdings nicht ausgeblieben sein. Die noch den alten Traditionen verpflichteten »Ostjuden« verachteten den Lebensstil der »Westjuden« als Verrat am Althergebrachten und lehnten Assimilation ab. Sie bemühten sich dennoch, ihren Kindern eine säkulare Bildung angedeihen zu lassen und entgingen so einem Identitätskonflikt nicht völlig. Die Zuwanderer aus Osteuropa formierten sich zu Beginn zu verschiedenen Betgemeinschaften (Minjanim), denn in der Synagoge der IKG waren sie nicht willkommen. Die meisten von ihnen hätten sich eine Mitgliedschaft auch gar nicht leisten können. Die überwiegend aufgrund von Verwandtschaften und Herkunftsorten zusammengesetzten Minjanim schlossen sich 1917 zur Adass Jisroel, der »polnischen Gemeinde« zusammen und baute 1919 ihre eigene Synagoge.23 Sie hielt nach strenger orthodoxer Art ihre Gottesdienste und forderte von ihren Mitgliedern, 20 Schreiber, Hirschfeld, S. 96. 21 Beispielsweise wurde Samuel Teitler (1900–1989), der Sohn des mittellos aus dem polnischen Galizien eingewanderten Abraham Teitler (1874–1964), Anwalt und Kassationsrichter  ; Schreiber, Hirschfeld, S.  252–254  ; siehe auch den Nachlass Samuel Teitlers im Archiv für Zeitgeschichte an der ETH Zürich (im Folgenden AfZ). 22 Zweig-Strauss, David Farbstein, S. 133. 23 Schreiber, Hirschfeld, S. 99 f.



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im Gegensatz zur IKG, sich auch im Privatleben an die rituellen Gesetze zu halten. Es gehörten ihr nur ganz vereinzelte »Westjuden« an. Finanzielle Probleme begleitete die Gemeinde während ihrer gesamten Existenz. Der spätere Jurist, Richter und Präsident der IKG, Samuel Teitler, Sohn des aus Galizien eingewanderten Abraham Teitler, beschrieb in seinen Lebenserinnerungen die Stellung der »Ostjuden« im Kontext des jüdischen St. Gallen etwas überspitzt wie folgt  : »Die Differenzierung zwischen eingewanderten und ansässigen Juden bei uns in St. Gallen beruhte auf der sozialen Schichtung. Jegges (deutsche Juden) auf der einen Seite, Polaken (Osteuropäer) auf der andern, das war nicht nur die Unterscheidung in Ost und West, sondern auch in arm und reich. Es gab keinen Ort der Begegnung«.24

Damit trifft Teitler zwar einen Nerv, dürfte aber auch etwas übertrieben haben. Bald besuchten die Kinder der Adass Jisroel den Religionsunterricht der IKG, an hohen Feiertagen hielte der Rabbiner der IKG auch in der »polnischen Gemeinde« eine »Drosche« (Lehrvortrag, Bibelinterpretation). Wohl bestanden kaum soziale Beziehungen, indes fühlte sich die IKG verpflichtet, jeden bedürftigen Juden zu unterstützen. Dennoch dürfte die Aussage eines späteren Präsidenten der IKG zutreffen  : »Die Gemeinde war dominiert von den Textilbaronen, sie hatten ihren eigenen Club, in den kamen die Polaken nicht hinein«.25 Als Reaktion auf die 1893 angenommene Initiative zum Schächtverbot wurde 1904 der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) gegründet. Ihm traten explizit orthodoxe Gemeinden wie etwa die Agudas Achim in Zürich oder später die Adass Jisroel in St. Gallen nicht bei. Hier scheinen wiederum die schon erwähnten Identitätskonflikte eine Rolle gespielt zu haben. Die Haltungen der im SIG zusammengeschlossenen Gemeinden entsprachen mehr und mehr derjenigen von »Schweizer Juden« mit einem zunehmenden schweizerisch-nationalistischen Selbstbewusstsein. Sie fühlten sich endgültig in der Moderne angekommen, ungeachtet ihrer persönlichen religiösen Observanz. Der gelegentlich überbetonte Patriotismus wurde allerdings von der nichtjüdischen Gesellschaft nur allzu oft hinterfragt. Im Gegensatz dazu muss man die Mehrzahl der weitgehend aus »Ostjuden« zusammengesetzten Gemeinden als »Juden in der Schweiz« bezeichnen, die sich aktiv von der Mehrheitsgesellschaft abgrenzten, auch wenn sie selbstverständlich in beruflichem Kontakt mit ihr standen. Deutlich wird, dass die Einwanderung aus Osteuropa nun nicht mehr wie in der vorhergehenden Periode allein erfolgte, weil die Migranten von dort, 24 Samuel Teitler, Aus meinem Leben, Typoskript, AfZ. 25 Interview mit Simon Rothschild, St. Gallen, 25.5.2005.

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wo sie herkamen unbedingt wegwollten, sondern auch weil die Schweiz als Ziel große Anziehungskraft besaß. Die Pull- und Push-Faktoren hatten sich vermischten. Die Juden und die Nichtjuden von St. Gallen hatten immer wieder Schwierigkeiten, die Zugewanderten aus dem Osten, die im Stadtbild als auffällige Fremdlinge in Erscheinung traten, die lange auf ihrer nicht-konformen Lebensführung bestanden, zu akzeptieren und als Mitbürger anzuerkennen. Als Hausierer gerieten die »Ostjuden« 1905 in existentielle Schwierigkeiten. Ein Bundesratsbeschluss von 1904 hob die Gleichberechtigung »russischer Juden israelitischen Bekenntnisses« als Retaliationsmaßnahme gegen Russland auf.26 Der Regierungsrat von St. Gallen erließ prompt ein praktisches Hausierverbot für sie. In St. Gallen verfügten die »Ostjuden« weder über eine Vertretung in den Parlamenten noch in der IKG und resignierten. Im Gegensatz dazu verfügte Zürich mit dem aus Warschau eingewanderten, sozialdemokratischen Anwalt und Politiker David Farbstein über einen wortgewaltigen Fürsprecher sowohl in den Parlamenten als auch in der dortigen Einheitsgemeinde (ICZ). Farbstein, als »Ostjude« eine Ausnahmegestalt, scheute sich nicht, sich mit deutlicher Stellungnahme für die »Ostjuden« sowohl bei den um Assimilation bemühten Juden der ICZ als auch unter den Nichtjuden im Zürcher Grossen und Kleinen Gemeinderat mit heftigen Interventionen unbeliebt zu machen.27 Schon 1900 hatte der Zürcher Armensekretär Carl Alfred Schmid den Begriff der Überfremdung erdacht. Der Begriff richtete sich vor allem gegen die italienischen Einwanderer und gegen die »Ostjuden«. In Kombination mit dem in Frankreich und Deutschland im 20. Jahrhundert zunehmend virulent werdenden biologistischen Antisemitismus, der in der Schweiz auch Anhänger fand, entwickelte sich eine fremdenfeindliche und antisemitische politische Kultur. Nach 1918 wurde sie auch noch durch die neue Angst vor dem Kommunismus und einer allfälligen »Bolschewisierung« – in der Schweiz lebten und wirkten ja fortwährend prominente und weniger prominente Kommunisten – angereichert. Zuzugs- und Niederlassungsbewilligungen lagen lange in der alleinigen Kompetenz der Kantone. 1917 schuf der Bund die eidgenössische Fremdenpolizei. Ihr Leiter, Heinrich Rothmund aus St. Gallen, machte den Kampf gegen die Überfremdung zu seiner Lebensaufgabe machte. Er übernahm 1929 die Leitung der Polizeiabteilung des Eidgenössischen Justiz- und Polizei Departementes (EJPD). Sein Adjunkt, Max Ruth, stammte ebenfalls aus St. Gallen. 26 Schreiber, Hirschfeld, S. 64 ff. 27 David Farbstein, Zur Hausiererdebatte, Protokoll des Grossen Stadtrates von Zürich, 21.8. und 17.10.1906, Stadtarchiv Zürich  ; Martin Littmann, Die Polenfrage in Zürich, in  : Israelitisches Wochenblatt, 15.1.1904.



Jüdische Migration, jüdische Flucht nach St. Gallen 

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Beiden Männern muss eine Abneigung gegen Juden attestiert werden, wobei Rothmund zwischen den »eingesessenen« schweizerischen und den »fremden« Juden unterschied.28 Ruth hingegen attestierte 1934 in einer Publikation zum Fremdenrecht den Juden ganz allgemeine »Unassimilierbarkeit«.29 Vorerst richtete sich die Tätigkeit dieser, aber auch anderer Behörden wie etwa des Zürcher Stadtrates gegen die »Ostjuden«.30 Nach der sogenannten Machtergreifung der Nationalsozialisten im Jahr 1933 setzte eine Fluchtwelle deutscher Juden ein, die während der Vorkriegs- und Kriegszeit nicht mehr enden sollte. Die schweizerische Regierung und Verwaltung bestand darauf, dass das Land nur als Durchwanderungsstation zu betrachten sei, das heißt, die Flüchtlinge es so rasch als möglich wieder zu verlassen hätten.31 St. Gallen spielte für jüdische Flüchtlinge vor den Nazis in verschiedener Hinsicht eine besondere Rolle. Verglichen mit andern Kantonen, etwa dem Thurgau oder dem Aargau, war St. Gallen relativ tolerant in der Vergabe von Aufenthaltsbewilligungen. Nach dem sogenannten Anschluss Österreichs und den Novemberpogromen 1938 spielte die grenznahe Lage des Kantons sowie sicher auch die allseits bekannte Tätigkeit des Polizeihauptmanns Paul Grüninger eine Rolle.32 Nicht zu unterschätzen waren die Aktivitäten des St. Galler Geschäftsmannes Saly Mayer. Er gab seine Geschäftstätigkeit auf und organisierte von seinem Einmannbüro in St. Gallen aus zuerst als Aktuar und später als Präsident des SIG die Finanzierung der jüdischen Flüchtlingshilfe. Die Forderung der Bundesbürokratie hatte ja gelautet, dass diese Unterstützung allein durch Juden geleistet werden solle. Als die Finanzkraft der Schweizer Juden nicht mehr ausreichte, leitete er 1938 die Hilfe des American Jewish Joint Committee ( Joint) in die Wege. Ferner verhandelte Mayer von 1933 bis 1943 als Vertreter der Schweizer Juden mit den Bundesbehörden, insbesondere mit Rothmund und Ruth. In dieser Funktion war Mayer zuständig für Erlangung von Zuzugsbewilligungen für fliehende Juden, deren Unterbringung und die Finanzierung der Schweizerischen Jüdischen Flüchtlingshilfe. Von 1941 bis 1949 war Mayer der alleinige Vertreter des Joint in der Schweiz. Zu diesem Zweck nutzte er seine vielfältigen Beziehungen zu jüdischen und nichtjüdischen Hilfswerken. Mit dem Eintritt der USA in den Krieg organisierte er als Joint-Vertreter in oft verdeckter Zusammenarbeit mit dem Joint-Büro in Lissabon auch jede 28 Zweig-Strauss, Saly Mayer, S. 96. 29 Max Ruth, Kommentar zum Gesetz über die Niederlassung und den Aufenthalt von Ausländern, Zürich 1934. 30 Zweig-Strauss, David Farbstein. S. 144–147. 31 Picard, Die Schweiz und die Juden 1933–1945, S. 279. 32 Zu Grüninger  : Stefan Keller, Grüningers Fall. Geschichten von Flucht und Hilfe, Zürich 1993.

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noch mögliche materielle Hilfe für Juden im besetzten Europa. Sein Büro in St. Gallen war in der Kriegszeit und noch nach Kriegsende mit der von dort aus organisierten Hilfe für Displaced Persons zu einer der Schaltstellen im jüdischen Flüchtlingsdrama des Zweiten Weltkrieges geworden.33

33 Dazu umfassend  : Zweig-Strauss, Saly Mayer.

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Finanzeinbürgerungen in Liechtenstein 1920 bis 1955 Im Zeitraum von 1920 bis 1955 praktizierte das Fürstentum Liechtenstein zur Sanierung seines Staatshaushaltes und für den Unterhalt seiner Gemeinden das Instrument der sogenannten klassischen Finanzeinbürgerungen.1 Solvente Ausländer konnten sich mittels Zahlung sehr hoher Taxen in das liechtensteinische Bürgerrecht einkaufen, ohne selbst je in Liechtenstein Wohnsitz genommen zu haben oder durch andere – etwa verwandtschaftliche – Beziehungen mit dem Land verbunden zu sein.2 594 Personen erhielten so zwischen 1920 und 1955 in 266 Anträgen das liechtensteinische Staatsbürgerrecht. Die Finanzeinbürgerung bildete dabei über weite Strecken, genauer bis in die späten 1940er Jahre, die ausschließliche Einbürgerungsform im Fürstentum Liechtenstein.3 Die klassische Finanzeinbürgerung, so wie sie im Fürstentum im Jahr 1920 institutionalisiert und bis ins Jahr 1955 praktiziert wurde, zeichnet sich durch grundlegende Charakteristika aus, die allen Bewerbern, die auf diesem Weg das Liechtensteinische Landesbürgerrecht erwarben, gemeinsam sind und die sich während der 35 Jahre währenden Praxis nicht grundlegend änderten. So hatten die Bewerber weder vor noch zum Zeitpunkt des Einbürgerungsantrags einen Wohnsitz im Land, was sich in der Regel auch nach erfolgter Einbürgerung nicht änderte. Des Weiteren erfolgte der Einkauf ins Liechtensteiner Staatsbürgerrecht aufgrund sehr hoher Taxen, die sowohl an die einbürgernde Gemeinde wie auch an den Staat zu entrichten waren. Dies setzte eine außergewöhnlich hohe Solvenz der Antragsteller voraus, was bereits im Vorfeld einer Finanzeinbürgerung zu einer Selektion der Klientel führte. Nach erfolgter Einbürgerung hatten die Naturalisierten außerdem keine Teilhabe am Gemeindenutzen sowie kein Anrecht auf soziale Unterstützungsleistungen im Verarmungsfall. Und 1

Beim Begriff der »klassischen Finanzeinbürgerung« handelt es sich nicht um einen Quellenbegriff, sondern um eine analytische Bezeichnung als Abgrenzung zu anderen Formen des Bürgerrechtskaufs. Dazu Nicole Schwalbach, Bürgerrecht als Wirtschaftsfaktor. Normen und Praxis der Finanzeinbürgerung in Liechtenstein 1919–1955, Vaduz-Zürich 2012, S. 18. 2 Ebd. Die Monografie wurde im Rahmen des Forschungsprojekts »Einbürgerungsnormen und Einbürgerungspraxis in Liechtenstein vom 19. bis ins 21. Jahrhundert« verfasst, das im Auftrag der Regierung des Fürstentums Liechtenstein unter der Trägerschaft des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein von 2008–2012 realisiert wurde. 3 Einbürgerungsakten des liechtensteinischen Landesarchivs (im Folgenden LI LA), Signatur LI LA V4/1919–1959. Zahlen nach Schwalbach, Bürgerrecht, Tabelle S. 206.

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schließlich durften Neubürger – sollten sie doch im Land ansässig werden – bestimmte Berufe nicht im Land selbst ausüben. Dabei handelte es sich vor allem um akademische Berufe, insbesondere den Anwalts- und Arztberuf. Neben diesen gleichbleibenden Voraussetzungen und Merkmalen, die den Begriff der klassischen Finanzeinbürgerung definieren und die wie erwähnt während der 35-jährigen Praxis konstant blieben, änderten sich andere Besonderheiten der Finanzeinbürgerung wie die persönlichen Beweggründe der Gesuchsteller zur Einbürgerung im zeitlichen Verlauf und je nach politischem Kontext. Beginn – 1920 bis 1929 Die Einführung der Finanzeinbürgerung im Jahr 1920 fällt in eine Zeit, in der sich das Fürstentum Liechtenstein in einer wirtschaftlich prekären Situation befand. Traditionell landwirtschaftlich geprägt, verfügte es am Ende des Ersten Weltkriegs weder über eine tragende Industrie noch hatte es Zugriff auf andere Ressourcen. Nach dem Zusammenbruch der Donaumonarchie, an die sich Liechtenstein bis zum Krieg wirtschaftlich, politisch und kulturell angelehnt hatte, und der daraus folgenden wirtschaftlichen Krise, musste sich das Fürstentum als monarchischer Kleinstaat neu orientieren.4 Die Anbindung Liechtensteins an den schweizerischen Wirtschaftsraum und in dessen Folge die Übernahme fremdenpolizeilicher Bestimmungen der Schweiz waren wesentliche Schritte in diese Richtung.5 Damit rückte auch die liechtensteinische Einbürgerungspraxis in den Fokus der Schweizer Behörden, die über die Jahre einen immer größeren Einfluss auf die Finanzeinbürgerung gewinnen sollten.6 Die wirtschaftlich und finanziell desolate Lage des Landes verlangte zudem, dass nach neuen Wegen zur finanziellen Sanierung von Land und Gemeinden gesucht wurde. Daraus resultierten die Gründung von Treuhandunternehmen und Finanzinstituten, das heißt der Ausbau des sogenannten Finanzdienstleistungssektors für ausländische Investoren, sowie der Verkauf von Briefmarken, Adelstiteln und der liechtensteinischen Staatsbürgerschaft. Zusammenfassend betrieb Liechtenstein damit, so der Historiker Christoph Maria Merki, eine »Kommerzialisierung seiner Souveränität«.7 4

Peter Geiger, Krisenzeit. Liechtenstein in den Dreissigerjahren 1929–1939, Bd. 1, Vaduz-Zürich 2000, S. 75. 5 Postvertrag 1920, Zollanschlussvertrag 1923, Währungsunion mit Schweizer Franken 1924. 6 Schwalbach, Bürgerrecht, S. 52, S. 71, S. 76. 7 Christoph Maria Merki, Wirtschaftswunder Liechtenstein. Die rasche Modernisierung einer kleinen Volkswirtschaft im 20. Jahrhundert, Vaduz-Zürich 2007, S. 18.



Finanzeinbürgerungen in Liechtenstein 

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Durch Finanzeinbürgerungen finanzierte Lehrerwohnungen in Vaduz (Foto  : Markus Gsell Marxer, Privatarchiv Veronika Marxer, Schaan 2012)

Den Beginn der klassischen Finanzeinbürgerung markiert eine Gesetzesnovelle des Bürgerrechtsgesetzes im Jahr 1920, die dieses Instrument institutionalisierte. Bis dahin war es den Gemeinden vorbehalten gewesen, für die Aufnahme in die Kommune eine Einkaufssumme zu veranschlagen. Neu verlangte nun auch der Staat eine Einkaufstaxe für eine Einbürgerung, die rund ein Fünftel der Gemeindetaxe betragen sollte.8 Im Verlauf der 1920er Jahre folgten weitere Bestimmungen und Gesetze, die das Institut der Finanzeinbürgerung in eine rechtlich verbindliche Form brachten, darunter das Personen- und Gesellschaftsrecht aus dem Jahr 1926, das in Paragraph 72 den Ausschluss der Eingebürgerten am Gemeindegut und eine Gebühr für den Erhalt eines Adelstitels 8

Gesetz vom 27. Juli 1920, Liechtensteinisches Landesgesetzblatt (LGBl.) 1920 Nr. 9, § 2, Abs. 1 und 2. Die Novelle ersetzte § 7 des Gesetzes über die Erwerbung und über den Verlust des liechtensteinischen Staatsbürgerrechtes vom 28. Mai 1864, LGBl. 1864 Nr. 3. Zur Rolle der Gemeinden bei Einbürgerungen vor 1920  : Klaus Biedermann, »Aus Überzeugung, dass er der Gemeinde von grossem Nutzen seyn werde«  – Einbürgerungen in Liechtenstein im Spannungsfeld von Staat und Gemeinden 1809–1918, Vaduz-Zürich 2012.

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festlegte. Außerdem beschied Paragraph 72, dass Einbürgerungsgesuche nicht wie bisher direkt an die Gemeinden, sondern zuerst an die Regierung zu richten waren, die eine Erstbeurteilung vornehmen konnte.9 Im ersten Jahrzehnt, in dem systematisch finanzeingebürgert wurde, waren es in erster Linie Adlige aus dem Osten Europas und der ehemaligen Donaumonarchie sowie vermögende Industrielle aus dem Deutschen Reich und der ehemaligen Donaumonarchie, die in Liechtenstein einen Antrag auf Einbürgerung stellten. Außerdem zeichneten sich die Antragsteller dieses Jahrzehnts besonders durch ihre persönliche Nähe zum liechtensteinischen Fürstenhaus aus. Motivation zur Erlangung des liechtensteinischen Bürgerrechts war einerseits die Sicherung beziehungsweise Rettung des eigenen Vermögens und/oder Grundbesitzes, die nach den politischen Umwälzungen in den ehemaligen Heimatstaaten der Bewerber größtenteils von der Verstaatlichung bedroht waren. Andererseits beantragten viele deutsche Großindustrielle aus steuerpolitischen Gründen das liechtensteinische Staatsbürgerrecht. Ein weiterer Grund für eine Einbürgerung waren Erhalt oder Verleihung eines Adelstitels, waren diese Titel doch nach dem Ende der Habsburgermonarchie in der Republik Österreich und in der Weimarer Republik offiziell abgeschafft worden. Von 1920 bis 1929 erhielten insgesamt 156 Personen in 65 Einbürgerungsgesuchen das liechtensteinische Staatsbürgerrecht im Finanzeinbürgerungsverfahren.10 1930 bis 1939 Die Einbürgerungspolitik Liechtensteins der 1930er Jahre war geprägt von der Weltwirtschaftskrise, der Machtergreifung der Nationalsozialisten und dem zunehmenden Druck von Seiten der Schweiz bezüglich der Finanzeinbürgerungen. Diese hatte seit 1919 die diplomatische Vertretung Liechtensteins im Ausland inne, praktizierte selbst eine überaus restriktive Einbürgerungspolitik und fürchtete deshalb um den eigenen guten Ruf im Ausland.11   9 Landtagsbeschluss zur Finanzeinbürgerung vom 23. November 1923 (Steuerpauschale an Gemeinden und Land, Verpflichtung zum Pfandbriefkauf der liechtensteinischen Sparkasse bei Einbürgerung), Fremdenpolizeiabkommen zwischen Liechtenstein und der Schweiz vom 28. Dezember 1923, LGBl 1923 Nr. 24 (Freizügigkeitsabkommen für Liechtensteiner Arbeitnehmer in der Schweiz), Personen- und Gesellschaftsrecht (PGR) vom 20. Januar 1926, LGBl 1926 Nr. 4, § 72 der Einführungs- und Übergangsbestimmungen der Schlussabteilung des PGR. 10 Schwalbach, Bürgerrecht, S. 35–49. 11 Tobias Ritter, Die Einbürgerungspolitik des Fürstentums Liechtenstein unter innen- und aussenpolitischen Aspekten von 1930 bis 1945, Bern 2001 (unveröff. Manuskript), S. 10.



Finanzeinbürgerungen in Liechtenstein 

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Liechtensteinischer Reisepass, ca. 1923 (Foto  : Nicole Schwalbach, Liechtensteinsches Landesarchiv, 2012)

Damals stiegen die Finanzeinbürgerungen als einer der wichtigsten Wirtschaftszweige Liechtensteins – neben dem Handel mit Briefmarken, der Zollpauschale und dem sogenannten Gesellschaftswesen  – im Vergleich zur vorangehenden Dekade um über das Doppelte an und erreichten in diesem Zeitraum ihren Höhepunkt.12 Von 1930 bis Kriegsbeginn 1939 wurden 149 Gesuche für insgesamt 340 Personen gutgeheißen.13 Im Gegensatz zur Anfangszeit der Finanzeinbürgerungspraxis in den 1920er Jahren, die sich durch eine gewisse Kontinuität in der Handhabung derselben auszeichnete, bestimmten zwangsweise Sistierungen, eine überaus große Nachfrage, heftige innen- und außenpolitische Kontroversen und wachsender Druck aus dem Ausland, genauer aus der Schweiz und aus Deutschland, sowie steigende finanzielle Anforderungen an die Bewerber die Jahre 1930 bis 1939. Deutschland hatte im Zuge der Wirtschaftskrise fiskalische Maßnahmen verfügt, die die Verschiebung von Kapital ins Ausland verhindern sollten.14 Entsprechend ungehalten reagierten die deutschen Autoritäten auf die Abwande12 Zu den tragenden Wirtschaftssäulen Liechtensteins  : Geiger, Krisenzeit, Bd. 1, S. 199–211. 13 Schwalbach, Bürgerrecht, S. 83. 14 So etwa 1931 die Devisenzwangswirtschaft oder im selben Jahr die Einführung der Reichsfluchtsteuer.

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rung finanzstarker deutscher Staatsangehöriger, die mit der Finanzeinbürgerung nach Liechtenstein auch ihr Kapital aus Deutschland abzogen.15 Ebenso änderte sich die Zusammensetzung der Gesuchsteller im Vergleich zum vorangehenden Jahrzehnt. Zu Beginn der 1930er Jahre bildeten weiterhin Personen aus dem osteuropäischen Adel sowie Großindustrielle und Adlige aus Deutschland und den Nachfolgestaaten der Donaumonarchie das Gros der um eine Einbürgerung Ansuchenden. Dabei standen nach wie vor Vermögenssicherung und Kapitalflucht als Motive zum Erwerb des liechtensteinischen Staatsbürgerrechts im Vordergrund, dies als Folge der durch die Weltwirtschaftskrise ansteigenden Steuerforderungen vieler west- und mitteleuropäischer Staaten. Antragsteller mit dieser Motivation richteten ihre Gesuche über den gesamten Zeitraum der Jahre 1930 bis 1939 an die Liechtensteiner Landesregierung.16 Gleichzeitig reichten aber vermehrt jüdische Gesuchsteller – in erster Linie aus Deutschland und aus Österreich – ihre Anfragen zur Einbürgerung ein. Auch ihnen ging es zu Beginn der Dekade zunächst um die Sicherung ihres Vermögens. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland hingegen traten andere Beweggründe zum Wechsel der Staatsangehörigkeit in den Vordergrund  : Die zunehmenden Einschränkungen und Schikanen, denen jüdische Personen in Deutschland und den angeschlossenen Gebieten ausgesetzt waren, und schließlich die Bedrohung an Leib und Leben veranlassten viele zur Flucht. Ein liechtensteinischer Pass bedeutete die Zugehörigkeit zu einem neutralen Staat und somit oft die einzige Möglichkeit, in ein anderes Land zu gelangen, sich dort niederzulassen beziehungsweise ein Transitvisum nach Übersee zu erhalten.17 Für die liechtensteinischen Behörden war die Einbürgerung von Vertriebenen und Verfolgten allerdings zu keinem Zeitpunkt ein Akt humanitären Handelns, sondern konsequent betriebene Finanzpolitik. Um sich die finanziellen Dimensionen zu veranschaulichen, in denen sich eine Finanzeinbürgerung nach Liechtenstein bewegte, sei hier als Beispiel die Einbürgerung eines deutschen Industriellen angeführt, der im Jahr 1923 das liechtensteinische Landesbürgerrecht für sich, seine Ehefrau und seine beiden Söhne erhielt. Der Gesuchsteller bezahlte für seine Einbürgerung und die seiner Familie auf heutige Verhältnisse umgerechnet 265.000 Franken anteilig an den 15 Hanspeter Lussy/Rodrigo López, Liechtensteins Finanzbeziehungen zur Zeit des Nationalsozialismus. Veröffentlichung der Unabhängigen Historikerkommission Liechtenstein Zweiter Weltkrieg, Bd. 1, Vaduz-Zürich 2005, S. 109. 16 Schwalbach, Bürgerrecht, S. 84. 17 Ebd., S. 91–99  ; Ursina Jud, Liechtenstein und die Flüchtlinge zur Zeit des Nationalsozialismus. Veröffentlichungen der Unabhängigen Historikerkommission Liechtenstein Zweiter Weltkrieg, Vaduz-Zürich 2007, S. 206–222.



Finanzeinbürgerungen in Liechtenstein 

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Staat und die aufnehmende Gemeinde.18 Ein weiteres Beispiel aus den 1930er Jahren ist dasjenige eines jüdischen Bankiers aus Deutschland, der sich die Einbürgerung in Liechtenstein im Jahr 1939 zusammen mit seiner Ehefrau die Summe von heute 520.000 Franken kosten ließ.19 Die Einkaufssummen wurden im Verlauf der Jahre stillschweigend nach oben angepasst und konnten für ganze Familien in die Millionen gehen.20 Ihren Höhepunkt erreichten die Finanzeinbürgerungen bereits 1931 mit 36 Einbürgerungen und 83 Individuen. Allein 26 dieser Naturalisationen waren von deutschen – jüdischen und nichtjüdischen – Reichsangehörigen eingereicht worden.21 Unter dem wachsenden Druck der Schweiz und Deutschlands erließ Liechtenstein im Verlauf der 1930er Jahre mehrere neue Bestimmungen zur Einbürgerungspraxis. Grund dafür war einerseits die Beschwichtigung des Auslands, andererseits sollte die Weiterführung der überaus lukrativen Finanzeinbürgerungen auch unter den erschwerten Umständen gewährleistet sein. Dabei ist vor allem die sogenannte »Ausnahmeklausel« zu nennen, die mit dem neuen Bürgerrechtsgesetz im Jahr 1934 eingeführt wurde. Das neu gestaltete G ­ esetz schrieb als Novum in der liechtensteinischen Bürgerrechtsgesetzgebung zwingend ein der Einbürgerung vorausgehendes Wohnsitzerfordernis von drei Jahren vor. Bis dato hatte keine gesetzlich festgeschriebene Wohnsitzfrist in Liechtenstein existiert. Die im selben Gesetz enthaltene »Ausnahmeklausel« sah dagegen in »besonders berücksichtigungswürdigen Fällen« von dieser Mindestwohnsitzdauer ab und hebelte damit die neu geschaffene Erschwernis für Finanzeinbürgerungen gleich wieder aus. Die Klausel wurde in der Folge konsequent angewandt und ermöglichte so die Weiterführung der klassischen Finanzeinbürgerung  – unter anderem charakterisiert durch Einbürgerung ohne Wohnsitz im Land  – trotz des festgeschriebenen Wohnsitzerfordernisses von drei Jahren.22

18 LI LA V4/1923/12  ; Schwalbach, Bürgerrecht, S. 46. 19 LI LA V4/1939/4  ; Schwalbach, Bürgerrecht, S. 96. 20 Tobias Ritter, Die Einbürgerungspolitik des Fürstentums Liechtenstein unter innen- und aussenpolitischen Aspekten von 1930 bis 1945, in  : Schweizerische Zeitschrift für Geschichte (SZG) 53 (2003), Heft 1, S. 58–79, hier S. 69  ; Schwalbach, Bürgerrecht, S. 87–89 und Tabelle S. 207. 21 Ebd., Tabellen S. 83 und S. 119. 22 Gesetz über den Erwerb und Verlust des liechtensteinischen Landesbürgerrechtes vom 4. Januar 1934, insbesondere § 6 und § 6 d), LGBl. 1934 Nr. 1. Daneben mehrere Landtagsbeschlüsse zur Finanzeinbürgerung  ; Schwalbach, Bürgerrecht, Tabelle S. 208 f.

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Die Zeit während des Zweiten Weltkriegs – 1939 bis 1945 Während des Zweiten Weltkriegs ging die Zahl der Einbürgerungsanträge zurück und es wurden noch 43 Personen alleine oder mit ihren Ehepartnern und gegebenenfalls ihren Kindern durch Finanzeinbürgerung liechtensteinische Landesbürger.23 Weiterhin kamen die Bewerber vorwiegend aus Deutschland, Österreich und dem Osten Europas. Auch die Motivation war größtenteils weiterhin Vermögenssicherung, aber vermehrt auch Flucht vor den Kriegsereignissen. Allerdings stellten nach 1940 kaum mehr jüdische Personen einen Antrag auf Finanzeinbürgerung.24 Das Fremdenpolizeiabkommen des Fürstentums mit der Schweiz im Jahr 1941 markierte einen bedeutenden Einschnitt in der Finanzeinbürgerungspraxis Liechtensteins.25 Dieses Abkommen, das von der Schweiz diktiert wurde, gewährte den Liechtensteinern volle Freizügigkeit in der Schweiz. Allerdings nahm diese Regelung die Neubürger von dieser Freizügigkeit aus, das heißt alle Personen, die nach Abschluss des schweizerisch-liechtensteinischen Zollvertrags von 1923 eingebürgert worden waren. Außerdem hatte sich der Schweizer Bundesrat im Zuge des Abkommens ein Mitsprache- und Vetorecht bei jenen Einbürgerungen ausbedungen, denen kein zweijähriger Wohnsitz in Liechtenstein oder der Schweiz vorausging.26 Diese Bedingungen bedeuteten eine Beschneidung der liechtensteinischen Souveränitätsrechte und führten zum Einbruch der Finanzeinbürgerungen in den folgenden Jahren. Außerdem hatte sich Liechtenstein 1941 noch dazu verpflichtet, nicht mehr als drei bis vier Finanzeinbürgerungen pro Jahr durchzuführen. Nachkriegsphase 1945 bis 1949 Nach Kriegsende und in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre erteilten die Liechten­steiner Behörden wieder vermehrt Finanzeinbürgerungen ihre Zustimmung. Erstmals seit der Institutionalisierung der Finanzeinbürgerung im Jahr 1920 wurden aber auch Einbürgerungen gutgeheißen, die nicht primär finanziell motiviert waren, sondern vielmehr erste Züge einer integrativen Einbürgerung 23 Ebd., Tabelle S. 119. 24 Lussy/López, Liechtensteins Finanzbeziehungen, Bd. 2, S. 576. 25 Vereinbarung zwischen Liechtenstein und der Schweiz über die Regelung der fremdenpolizeilichen Beziehungen vom 23. Januar 1941, LGBl. 1941 Nr. 4. 26 Schreiben der liechtensteinischen Regierung an das Eidgenössische Politische Departement (EPD) vom 23. Januar 1941, LI LA RF 199/416, zit. nach Ritter, Die Einbürgerungspolitik, S. 54.



Finanzeinbürgerungen in Liechtenstein 

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trugen. Neben den bisherigen fiskalisch motivierten Anfragen stellten nun auch Staatenlose Einbürgerungsanträge. 1948 erweiterte die Schweiz in einer weiteren Vereinbarung über die Regelung der fremdenpolizeilichen Beziehungen mit dem Fürstentum Liechtenstein ihr Vetorecht auf die gesamte Einbürgerungspraxis Liechtensteins, unabhängig davon, ob ein Gesuchsteller das Wohnsitzerfordernis erfüllte oder nicht. Dies bedeutete eine weitere und noch umfassendere Beschneidung der liechtensteinischen Souveränitätsrechte.27 Die letzte Phase 1950 bis 1955 In den 1950er Jahren wurden die Finanzeinbürgerungen weitergeführt. Die Auflagen der Schweizer Behörden schränkten dabei allerdings die freie Entscheidung zur Aufnahme in den liechtensteinischen Staatsverband zunehmend ein. Die Abhängigkeit Liechtensteins vom Nachbarland Schweiz sollte in zunehmendem Maß auch das fiskalische Instrument der Finanzeinbürgerung bis zum Ende der 1950er Jahre soweit zurückbinden, dass die klassische Finanzeinbürgerung als solche nicht mehr offen praktiziert, sondern vielmehr als Mischform betrieben und schließlich ganz von der sogenannt integrativen Einbürgerung abgelöst werden sollte.28 Von 1950 bis 1955 bürgerte Liechtenstein noch 17 Personen in 14 Finanz­ einbürgerungsverfahren ein.29 Darunter waren Einbürgerungen erwachsener Kinder liechtensteinischer Neubürger, Staatenloser und vermehrt auch naturalisierte US-Staatsbürger, die durch Landesabwesenheit ihre US-Staatsbürgerschaft verloren hatten beziehungsweise zu verlieren drohten.30 Das Ende der Finanzeinbürgerungen wurde mit dem sogenannten Fall Notte­ bohm nicht »von innen heraus« beschlossen, sondern von außen an Liechten­stein herangetragen.31 Gerade das, was diese Einbürgerungsform für die Bewerber besonders attraktiv gemacht hatte, allerdings auch immer heftig von anderen Staaten, allen voran der Schweiz und Deutschland kritisiert worden war, provozierte nun das Ende  : Nämlich der Verzicht auf einen der Ein27 Schwalbach, Bürgerrecht, Tabelle S. 141. 28 Zu den integrativen Einbürgerungen Veronika Marxer, Vom Bürgerrechtskauf zur Integration. Einbürgerungsnormen und Einbürgerungspraxis in Liechtenstein 1945–2008, Vaduz-Zürich 2012. 29 Schwalbach, Bürgerrecht, Tabelle S. 173. 30 Ebd., S. 179 f. 31 Lussy/López, Liechtensteins Finanzbeziehungen, Bd. 2, S. 582–587  ; Schwalbach, Bürgerrecht, S. 183 f.

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bürgerung vorausgehenden Wohnsitz im Land und damit verbunden der fehlende Bezug zum neuen Heimatstaat. Der ehemals deutsche Kaffeeproduzent Friedrich Notte­bohm hatte sich im Jahr 1939 mittels Finanzeinbürgerung das liechtensteinische Bürgerrecht erkauft, um sein in Guatemala angelegtes Vermögen vor der Beschlagnahmung durch die Alliierten zu schützen. Trotzdem wurde sein Vermögen nach dem Krieg von den alliierten Mächten konfisziert, da sie Nottebohms durch Finanzeinbürgerung erlangte Staatsangehörigkeit nicht anerkannten und ihn weiterhin als Deutschen behandelten. Der Fall wurde schließlich im Jahr 1951 vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag gebracht, der 1955 dem durch Finanzeinbürgerung erworbenen liechtensteinischen Bürgerrecht die völkerrechtliche Anerkennung absprach.32 Nach diesem Urteil ließ die Schweiz keine weiteren Finanzeinbürgerungen ohne vorangehenden Wohnsitz in Liechtenstein mehr zu und auch der Fürst verweigerte in der Folge die Zulassung solcher Gesuche. Fazit Die klassische Finanzeinbürgerung erweist sich – über den gesamten Zeitraum ihrer Anwendung – als eine unvollständige Staatsbürgerschaft, denn sie enthält dem Bürger per definitionem zustehende Rechte wie etwa die Freiheit der Ausübung eines bestimmten Berufs im Heimatstaat vor. Gerade das fehlende Wohnsitzerfordernis sowie der Ausschluss von gewissen Berufen bei Finanzeinbürgerung verweisen auf die Koexistenz eines anderen Staatsbürgerrechts, das sich durch Ansässigkeit, Integration und Identifikation mit dem Heimatstaat auszeichnet, bei den sogenannten Neubürgern jedoch nicht erwünscht war. Sie sollten für ihre vermeintliche Zugehörigkeit zwar bezahlen, aber nicht ansässig werden und keinen Bezug zu Liechtenstein herstellen. Die Unvollständigkeit der durch Finanzeinbürgerung erlangten Staatsbürgerschaft zeigt sich nicht zuletzt auch in ihrer mangelnden internationalen Anerkennung. Dies verdeutlichen der Fall Nottebohm wie auch die Weigerung der Schweiz, die liechtensteinischen Neubürger den übrigen Liechtensteinern gleichzustellen. Die Zugehörigkeit der finanzeingebürgerten Liechtensteinerinnen und Liechtensteiner zu ihrem im Pass stehenden Heimatstaat zeichnete sich dadurch aus, dass sie zwar ihren Teil zur Existenzsicherung und zur finanziellen Gesundung des Landes und der Gemeinden beitrugen, als Bürgerinnen und 32 Urteil des Internationalen Gerichtshofs von Den Haag im Wortlaut  : UNHCR The UN Refugee Agency refworld [www.unhcr.org/refworld/docid/3ae6b7248.html], Zugriff  : 2.9.2015  ; Theodor Schweisfurth, Völkerrecht, Tübingen 2006, S. 127–129.



Finanzeinbürgerungen in Liechtenstein 

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Sitz der Liechtensteinischen Regierung und des Landtages, erbaut 1903–1905 nach Plänen von Gustav Ritter von Neumann. Bis 1991 befand sich im Kellergewölbe ein Gefängnis (Foto  : Friedrich Böhringer, 2009)

Bürger aber nicht wirklich partizipierten. So waren die Finanzeingebürgerten von der Teilhabe am Bürgernutzen ausgeschlossen und hatten im Verarmungsfall keinen Anspruch auf Sozialleistungen. Dabei sollte nicht versäumt werden darauf hinzuweisen, dass die Integration in die Kommunen für die überwiegende Mehrheit der Bürgerrechtsbewerber auch nicht Intention war. Im Vordergrund standen für die Einbürgerungswilligen gemeinhin Wahrung und Sicherstellung von Vermögen, persönlicher und wirtschaftlicher Freiraum in politisch schwierigen Zeiten und nicht zuletzt die Möglichkeit, sich vor dem Zugriff auf Leib und Leben retten zu können. Der Partizipationsgedanke war also auch für die Finanzeingebürgerten  – zumindest zum Zeitpunkt des Bürgerrechtserwerbs  – nicht ausschlaggebend.33 Das Fürstentum Liechtenstein kannte bis zum Inkrafttreten des neuen Bürgerrechtsgesetzes aus dem Jahr 1934 kein gesetzlich verbindliches Wohnsitzerfordernis. Verglichen mit dem sonst in Europa in diesem Zeitraum vorherrschenden Prinzip der Ansässigkeit und »Assimilation« beziehungsweise Integration als Voraussetzung für die Eingliederung in den Staatsverband fuhren die liechtensteinischen Behörden eine andere, gegenströmige Strategie. Diese Praxis war über einen vergleichsweise langen Zeitraum von 35 Jahren auch deshalb möglich, weil das Land zum einen über weite Strecken finanziell vor dem Ruin stand und keine alternativen Ressourcen zur Verfügung hatte, auf 33 Schwalbach, Bürgerrecht, S. 202.

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Nicole Schwalbach

die es hätte zurückgreifen können. Zum anderen spielte auch die gewichtige Stellung der Gemeinden innerhalb des Staatsgefüges eine tragende Rolle  : Die Kommunen hatten bei der Aufnahme von neuen Mitbürgern ein entscheidendes Mitspracherecht und profitierten bewusst von der wirtschaftlichen Potenz der Finanzeinbürgerung. Im Gegensatz zu Parlament und Regierung, die zu den Finanzeinbürgerungen ein ambivalentes Verhältnis hatten, befürwortete ein Großteil der Gemeinden diese Einbürgerungspraxis. Erst mit dem einsetzenden wirtschaftlichen Aufschwung zu Beginn der 1950er Jahre lässt sich eine kritischere Wahrnehmung der Gesuchsteller und des Finanzeinbürgerungsinstituts auch seitens der Gemeinden erkennen. Mit zunehmendem Wohlstand sank wohl die Notwendigkeit, Personen nur um ihrer finanziellen Vorteile wegen ins Gemeindebürgerrecht aufzunehmen. Vielmehr trat sukzessive das integrative Moment der Aufnahme in den Vordergrund.

Martina Sochin D’Elia

Liechtenstein Migration früher und heute

Einleitung1 Seit Beginn der Nachkriegszeit 1945 und dem damit einhergehenden großen Wirtschaftswachstum wurde Liechtenstein verstärkt zum Zielland von Zuwanderern aus unterschiedlichen Ländern. Schon um 1900 hatte das Fürstentum – beispielsweise im Vergleich zur Schweiz – einen nicht zu vernachlässigenden Ausländeranteil von knapp 15 Prozent.2 Der Ausländeranteil Liechtensteins hat sich seit den 1970er Jahren bei über einem Drittel der Wohnbevölkerung eingependelt. Damit übertraf und übertrifft Liechtenstein seine Nachbarstaaten bei Weitem.3 In Europa hat nur Luxemburg einen noch höheren Ausländeranteil.4 1

Dieser Beitrag basiert teilweise auf der Publikation Martina Sochin D’Elia, »Man hat es doch hier mit Menschen zu tun  !« Liechtensteins Umgang mit Fremden seit 1945, Zürich 2012. Er wurde mit aktuellen Daten und Fakten zur Migration in Liechtenstein erweitert und ergänzt. 2 Siehe Veronika Marxer, Ausländer, in  : Historisches Lexikon des Fürstentums Liechtenstein, Bd. 1, Vaduz-Zürich 2013, S. 35–38. In der Schweiz betrug der Ausländeranteil im Jahr 1900 11,6 Prozent. Siehe Bundesamt für Statistik (Hg.), Ausländerinnen und Ausländer in der Schweiz – Bericht 2008. Historische Darstellung, Neuchâtel 2008, S. 3. 3 Liechtenstein hat aktuell einen Ausländeranteil von 33,7 Prozent (Stand Dezember 2014), die Schweiz 23,8 Prozent (Stand Dezember 2013), Deutschland neun Prozent (Stand Dezember 2012) und Österreich 11,9 Prozent (Stand Dezember 2013). In der Schweiz haben in der Bevölkerung vorhandene Ängste vor Ausländern im Februar 2014 zur Annahme der Masseneinwanderungsinitiative geführt. Zu den statistischen Angaben siehe unter [http://www.llv.li/files/ as/bevolkerungsstatistik-31-dezember-2014.pdf ] und [http://www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/ index/themen/01/01/new/nip_detail.html  ?gnpID=2014-015], Zugriff jeweils  : 28.9.2015  ; Bun­ desinstitut für Bevölkerungsforschung (Hg.), Bevölkerungsentwicklung 2013, Daten, Fakten, Trends zum demografischen Wandel [http://www.bib-demografie.de/SharedDocs/ Publikationen/DE/Broschueren/bevoelkerung_2013.pdf  ;jsessionid=610DF210DEE99584 D8D18548EF8BD1C5.2_cid284  ?__blob=publicationFile&v=12], [http://www.statistik.at/ web_de/statistiken/bevoelkerung/bevoelkerungsstruktur/bevoelkerung_nach_staatsangehoe rigkeit_geburtsland/], Zugriff jeweils  : 30.4.2014. 4 Luxemburg hatte im Jahr 2012 einen Ausländeranteil von 43,79 Prozent. Tendenziell scheint der Ausländeranteil an der Wohnbevölkerung in Luxemburg zu steigen, für das Jahr 2013

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Martina Sochin D’Elia

Der oder das »Fremde« ist Teil der liechtensteinischen Gesellschaft geworden. Der italienische Arbeiter auf der Baustelle ist dem »verwurzelten« Liechtensteiner – also demjenigen, der sich selbst als ursprünglich wahrnimmt – ebenso bekannt wie der türkische Verkäufer im Kebab-Imbiss im Dorf, die afrikanische Ehefrau des Nachbarn oder der ehemalige ungarische Flüchtling. Erfahrungen mit Ausländern sind heute Teil des normalen persönlichen, beruflichen und schulischen Alltags geworden. Die Begegnung mit Menschen anderer kultureller Herkunft ist Normalität geworden. Wer gilt als fremd  ? Das in den deutschsprachigen Ländern Europas in den vergangenen Jahrzehnten gewachsene Bewusstsein dafür, in Einwanderungsländern zu leben, führte unter anderem zu einem verstärkten und heute fast inflationären Gebrauch des Begriffs »fremd«. Im »Exkurs über den Fremden« – von Georg Simmel im Jahr 1908 ursprünglich eingeführt5 – ist der Begriff »fremd« heute zum im Zusammenhang mit Ausländern vielbemühten Ausdruck von Verunsicherungen, Befürchtungen oder Abwehrreaktionen geworden.6 Das verweist auf die Konstruktion des Begriffs  : »Das Fremde« existiert demzufolge nur »im Verhältnis zum Eigenen«.7 »Fremd sein« ist damit keine einem Menschen zugrunde liegende Eigenschaft, sondern eine Zuschreibung, die eine zwischenmenschliche Distanz oder Differenz definiert.8 Oder um in den Worten von Michael Wimmer zu sprechen  : Fremdheit »benennt, was es nicht konkret benennen kann, denn wäre

5

6 7 8

wird aktuell (Stand vom 1. 4. 2014) mit einem Ausländeranteil von 44,69 Prozent gerechnet. Siehe dazu [http://www.statistiques.public.lu/stat/TableViewer/tableView.aspx], Zugriff  : 1. 4. 2014. Zum Originalabdruck siehe Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin 1908. Ein Wiederabdruck von Simmels Exkurs über den Fremden ist zu finden bei  : Almut Loycke (Hg.), Der Gast, der bleibt. Dimensionen von Georg Simmels Analyse des Fremdseins, Frankfurt a. M. 1992, S. 9–16. Corinna Albrecht, Der Begriff der, die, das Fremde, in  : Yves Bizeul/Ulrich Bliesener/Marek Prawda (Hg.), Vom Umgang mit dem Fremden. Hintergrund  – Definitionen  – Vorschläge, Weinheim-Basel 1997, S. 80–93. Siehe Josef Berghold/Elisabeth Menasse/Klaus Ottomeyer, Einleitung, in  : Josef Berghold/Elisabeth Menasse/Klaus Ottomeyer (Hg.), Trennlinien. Imagination des Fremden und Konstruktion des Eigenen, Klagenfurt 2000, S. 7–15, hier S. 7. Siehe dazu Volker Scior, der dafür plädiert, aus diesem Grund präziser nicht von »Fremdheit«, sondern von »Fremdheitszuschreibungen« zu sprechen  ; Volker Scior, Das Eigene und das Fremde. Identität und Fremdheit in den Chroniken Adams von Bremen, Helmolds von Bosau und Arnolds von Lübeck, Berlin 2002, S. 19.



Liechtenstein. Migration früher und heute 

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Italienische Saisonniers bei der Arbeit am Saminawerk, 1948 (Foto  : Gebrüder Frick, Schaan)

das Fremde problemlos zugänglich, ließe es sich kategorial erfassen und begreifen, wäre es nicht, was es ist  : ein Fremdes«.9 Liechtenstein und seine ausländischen Arbeitskräfte Liechtenstein bot als wirtschaftlich unattraktive Region bis um 1850 kaum Verdienstmöglichkeiten und zog damit auch fast keine Zuwanderer an. Im Gegenteil führten die verbreitete Armut und die Ressourcenknappheit dazu, dass die Liechtensteiner selbst als Saisonarbeiter in die Fremde zogen oder auswanderten.10 Der mit Österreich im Jahr 1852 abgeschlossene Zollvertrag11 leitete   9 Michael Wimmer, Fremde, in  : Christoph Wulf (Hg.), Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie, Weinheim-Basel 1997, S. 1066–1078, hier S. 1068. 10 Norbert Jansen/Pio Schurti, Nach Amerika  ! Auswanderung im 19. und 20. Jahrhundert, Vaduz-Zürich 1998  ; Norbert Jansen, Nach Amerika  ! Geschichte der liechtensteinischen Auswanderung nach den Vereinigten Staaten von Amerika, Vaduz 1976. 11 Zum Zollvertrag siehe [https://login.gmg.biz/earchivmanagement/projektdaten/earchiv/Me dia/1852_06_05_Zollvertrag_mit_Oesterreich.pdf ], Zugriff  : 2.4.2014  ; sowie Roland Steina­ cher, Österreich, in  : Historisches Lexikon des Fürstentums Liechtenstein, Bd. 2, Vaduz-Zürich 2013, S. 684–689, bes. S. 688  ; Alois Ospelt, Wirtschaftsgeschichte des Fürstentums Liechtenstein im 19. Jahrhundert, in  : Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein 72 (1972), S.  5–423, hier insbes. S.  358–388  ; Peter Geiger, Geschichte des Fürstentums Liech-

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Martina Sochin D’Elia

in Liechtenstein eine erste Industrialisierung ein. Diese ging mehrheitlich von Schweizer Textilunternehmern aus, die sich Exportmöglichkeiten nach Österreich versprachen.12 Diese bescheidene Industrialisierungswelle brachte einen begrenzten Zustrom an Arbeitskräften aus der benachbarten Schweiz, die den Ausländeranteil langsam von knapp drei Prozent (1852) auf knapp 15 Prozent (1901) ansteigen ließen. Im Gegensatz zur katholischen Bevölkerung Liechtensteins waren die Zuwanderer größtenteils protestantischer Konfession.13 Mit der Industrialisierung kamen nicht nur einfache Arbeiter und Arbeiterinnen nach Liechtenstein, sondern auch Fach- und Führungskräfte. Von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges stabilisierte sich der Ausländeranteil zwischen 15 und 17 Prozent.14 Das Ende des Zweiten Weltkrieges stellte dann eine Zäsur im Hinblick auf die in Liechtenstein wohnhafte ausländische Bevölkerung dar. In einem bis 1945 nicht gekannten Ausmaß stieg der Ausländeranteil von 16,1 Prozent im Jahr 1941 bis zum vorläufig letzten Höhepunkt im Jahr 1995 mit 39,1 Prozent kontinuierlich an. Verantwortlich für den nach 1945 rasch ansteigenden Ausländeranteil war das starke Wirtschaftswachstum, das in der Nachkriegszeit in Liechtenstein einsetzte. Ohne die ausländischen Arbeitskräfte, die nach Kriegsende nun vermehrt als Aufenthalter und Grenzgänger nach Liechtenstein kamen, wäre dieses »Wirtschaftswunder«15 im völlig ausgetrockneten Arbeitsmarkt der Nachkriegszeit nicht möglich gewesen. Liechtenstein profitierte vom Rückgriff auf ausländische Arbeitskräfte, deren Herkunft sich mit der Zeit von den umliegenden Ländern Österreich, Schweiz und Deutschland auf Südeuropa und Osttenstein 1848 bis 1866, in  : Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein 70 (1970), S. 5–418, hier S. 186–215. 12 Siehe Hansjörg Frommelt (Hg.), Fabriklerleben. Industriearchäologie und Anthropologie, Zürich 1994. 13 Siehe Hans Jaquemar/André Ritter (Hg.), Frohe Botschaft und kritische Zeitgenossenschaft. 125 Jahre Evangelische Kirche im Fürstentum Liechtenstein 1880–2005, Triesen 2005  ; Wilfried Marxer/Martina Sochin, Protestantische und muslimische Zuwanderung in Liechtenstein seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Integration vor dem Hintergrund religiöser Pluralisierung, in  : Schwei­ zerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte 102 (2008), S. 211–231. Siehe auch Peter Geiger, Die Ausländer in der Geschichte des Fürstentums Liechtenstein, in  : Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein 74 (1974), S. 7–49  ; Marxer, Ausländer, S. 35–38. 14 Der Ausländeranteil reduzierte sich während des Ersten Weltkrieges kurzzeitig aufgrund von Einberufungen zum Kriegsdienst und der Einstellung der Industrieproduktion in Liechtenstein, stieg dann aber ab 1920 rasch wieder an  ; Marxer, Ausländer, S. 35–38  ; zu Aus- und Einwanderungen im 19. Jahrhundert auch Ospelt, Wirtschaftsgeschichte, S. 56–67. 15 Zur Wirtschaftsgeschichte Liechtensteins im 20. Jahrhundert und dem charakterisierten »Wirtschaftswunder« Christoph Maria Merki, Wirtschaftswunder Liechtenstein. Die rasche Modernisierung einer kleinen Volkswirtschaft, Vaduz-Zürich 2007.



Liechtenstein. Migration früher und heute 

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mitteleuropa ausweitete. Warb man in den ersten Jahren nach Kriegsende noch in erster Linie italienische Gastarbeiter an,16 so folgten ab den späten 1960er Jahren und den 1970er Jahren auch Spanier,17 Portugiesen18 und Griechen.19 Gleichzeitig waren auch vermehrt Arbeitskräfte mit befristeter Aufenthaltsgenehmigung aus dem damaligen Jugoslawien zu verzeichnen.20 Schon Ende der 1960er Jahre kamen zudem erste türkische Arbeitsmigranten nach Liechtenstein.21 Schon bald gab es mehr türkische Arbeitsmigranten in Liechtenstein als beispielsweise aus Spanien oder dem damaligen Jugoslawien. Heute steht die Türkei hinter der Schweiz, Österreich, Deutschland und Italien an fünfter Stelle in der Ausländerstatistik.22 Parallel zum wachsenden Ausländeranteil an der Wohnbevölkerung stieg mit dem Arbeitskräftebedarf auch die Beschäftigung von Grenzgängern. Dadurch stieg der Ausländeranteil an den Erwerbstätigen von 16,2 Prozent im Jahr 1941 bis auf 53,9 Prozent im Jahr 1970. Seit den 1990er Jahren beträgt er über 60 Prozent. Zu einem wesentlichen Teil waren und sind die Grenzgänger an diesem hohen Ausländeranteil auf dem liechtensteinischen Arbeitsmarkt beteiligt. Deren Anteil an der Gesamtbeschäftigung stieg von elf Prozent im Jahr 1950 auf gut 50 Prozent im Jahr 2012.23 Durch den möglichen Rückgriff auf Grenz16 Zur italienischen Arbeitsmigration nach Mitteleuropa Yvonne Rieker, Italienische Arbeitswanderer in West-, Mittel- und Nordeuropa seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, in  : Klaus J. Bade/Pieter C. Emmer/Leo Lucassen/Jochen Oltmer (Hg.), Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn 2007, S. 668–675. 17 Zur spanischen Arbeitsmigration Dietrich Thränhardt, Spanische Arbeitswanderer in West-, Mittel- und Nordeuropa seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, in  : Bade u. a., Enzyklopädie Migration, S. 992–997. 18 Zur portugiesischen Arbeitsmigration Marcelo J. Borges, Portugiesische Arbeitswanderer in West-, Mittel- und Nordeuropa seit den 1950er Jahren (Beispiele Frankreich und Deutschland), in  : Bade u. a., Enzyklopädie Migration, S. 891–896. 19 Zur griechischen Arbeitsmigration Hans Vermeulen, Griechische Arbeitswanderer in West-, Mittel- und Nordeuropa seit den 1950er Jahren (Beispiele Deutschland und die Niederlande), in  : Bade u. a., Enzyklopädie Migration, S. 604–608. 20 Zur jugoslawischen Arbeitsmigration Pascal Goeke, Jugoslawische Arbeitswanderer in West-, Mittel- und Nordeuropa seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, in  : Bade u. a., Enzyklopädie Migration, S. 731–735. 21 Zur türkischen Arbeitsmigration Yasemin Karakašoğlu, Türkische Arbeitswanderer in West-, Mittel- und Nordeuropa seit der Mitte der 1950er Jahre, in  : Bade u. a., Enzyklopädie Migration, S. 1054–1061. 22 Siehe Amt für Statistik (Hg.), Bevölkerungsstatistik 2012, Vaduz 2013, S. 12. 23 Siehe Amt für Statistik (Hg.), Beschäftigungsstatistik 2012, Vaduz 2013, S.  15. Mit der Begrenzung der Zuwanderung 1963 beschränkte die liechtensteinische Regierung gleichzeitig auch die Beschäftigung von Grenzgängern. Alle Grenzgänger unterstanden von 1963 bis zum EWR-Beitritt 1995 den für Drittausländer geltenden Begrenzungsvorschriften. Grenzgänger

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Martina Sochin D’Elia

gänger zur Besetzung verschiedener Posten in den Betrieben und auch in der Verwaltung konnte sich Liechtenstein seit der Nachkriegszeit trotz des ausgetrockneten Arbeitsmarktes eine restriktive Zuwanderungspolitik leisten. Wohnbevölkerung und Ausländeranteil 1784–201424 Jahr

Wohnbevölkerung

davon Ausländer1

Ausländeranteil in %

1784

4.400

83

1,9

1815

6.117

137

2,2

1852

8.162

223

2,7

1861

7.394

334

4,5

1874

7.556

575

7,6

1880

8.095

706

8,7

1891

7.864

861

10,9

1901

7.531

1.112

14,8

1911

8.693

1.350

15,5

1921

8.841

996

11,3

1930

9.948

1.691

17,0

1941

11.094

1.785

16,1

1950

13.757

2.751

20,0

1960

16.628

4.143

24,9

1970

21.350

7.046

33,0

1980

25.215

9.032

36,9

1990

29.032

10.909

37,6

1995

30.923

12.083

39,1

2000

33.307

12.192

36,6

2005

34.905

11.917

34,1

2010

36.149

12.004

33,2

2014

37.370

12.584

33,7

1

Ausländer, die in Liechtenstein vor 1864 als Beamte, Geistliche oder Lehrer angestellt waren, galten als Staatsangehörige und erschienen deshalb in den Statistiken nicht als Ausländer. Siehe dazu: Geiger, Ausländer, S. 19.

aus dem EWR-Raum sind seit 1998 nicht mehr bewilligungspflichtig und können sich auf dem Arbeitsmarkt frei bewegen  ; Veronika Marxer, Grenzgänger, in  : Historisches Lexikon des Fürstentums Liechtenstein, Bd. 1, Vaduz-Zürich 2013, S. 310 f. 24 Marxer, Ausländer, S.  35–38  ; für das Jahr 2010 siehe Amt für Statistik (Hg.), Volkszählung 2010. Erste Ergebnisse, Vaduz 2011  ; für das Jahr 2014 siehe Amt für Statistik (Hg.), Bevölkerungsstatistik 2014, Vaduz 2015, S. 8.



Liechtenstein. Migration früher und heute 

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Arbeiterinnen der Hilcona AG beim Sortieren von Bohnen (Foto  : Liechtensteinisches Landesarchiv)

Ständige ausländische Wohnbevölkerung nach Staatsangehörigkeit 1970–201325 Jahr

Total

Schweiz

Österr.

Deutschl.

Italien

Türkei2

Portugal3

Jugosl.4

Spanien

Griech.

Andere

1970

6.719

2.429

1.858

1.165

707





101

149

69

241

1980

9.246

4.141

2.029

1.095

880

307



293

122

88

291

1990

10.218

4.426

2.122

1.021

858

554

161

385

193

95

403

1995

12.083

4.863

2.224

1.114

901

771

302



234

91

1.583

2000

11.320

3.805

2.006

1.131

1.028

887

446



367

82

1.568

2005

11.917

3.617

2.045

1.178

1.208

894

561



461

76

1.877

2010

11.886

3.586

2.057

1.319

1.148

778

620



326

62

2.108

2013

12.337

3.602

2.125

1.397

1.146

775

662



339

59

2.232

1

Ausländer, die in Liechtenstein vor 1864 als Beamte, Geistliche oder Lehrer angestellt waren, galten als Staatsangehörige und erschienen deshalb in den Statistiken nicht als Ausländer. Siehe dazu  : Geiger, Ausländer, S. 19. 2 Bis 1979 unter »Andere« aufgeführt. 3 Bis 1989 unter »Andere« aufgeführt. 4 Aufgrund der ab den 1990er Jahren in den liechtensteinischen Bevölkerungsstatistiken sich ständig verändernden Definition von »Jugoslawien« werden die Zahlen an dieser Stelle wegen 25 Siehe Marxer, Ausländer, S. 35–38. Für das Jahr 2010  : Amt für Statistik (Hg.), Bevölkerungsstatistik 2011, Vaduz 2012, S. 28–29, für das Jahr 2012  : Amt für Statistik (Hg.), Bevölkerungsstatistik 2012, Vaduz 2013, S. 12, S. 30.

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der fehlenden Vergleichbarkeit nicht genannt. Die aus dem ehemaligen Staatsgebiet Jugoslawiens austretenden Staaten sowie der Reststaat Jugoslawien sind deshalb in der aufgeführten Tabelle ab 1995 unter »Andere« aufgeführt.

Von Plafonierungen, Regulierungen und anderen Restriktionsmöglichkeiten Eng angelehnt an die Schweiz, orientierte sich die liechtensteinische Zulassungspolitik bis in die 1960er Jahre am Rotationsprinzip, das nur ein kurzzeitiges Verbleiben der ausländischen Arbeitskräfte im Land vorsah, bevor sie wieder durch neue ausländische Arbeitskräfte ersetzt wurden.26 Oder wie es ein Kreisschreiben des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements, das auch an die liechtensteinische Fremdenpolizei gerichtet war, ausdrückt  : »Das Statut der Saisonbewilligung […] verfolgt einen doppelten Zweck. Der Ausländer muss in der Zwischensaison die Schweiz zur Entlastung des Arbeitsmarktes verlassen, um die reduzierten Arbeitsmöglichkeiten den einheimischen Arbeitskräften zu erhalten. Um dem regelmässig wiederkehrenden Arbeitsrückgang auch in Zukunft begegnen zu können, muss verhindert werden, dass sich der Ausländer in der Schweiz festsetzt und dann die Niederlassungsbewilligung erlangt und damit als ein dem Schweizerbürger gleichgestellter Konkurrent auf dem Arbeitsmarkt auftritt.«27

Anfang der 1960er Jahre mussten sich die liechtensteinischen Behörden wie auch die relevanten Akteure in Gewerbe und Industrie nach und nach eingestehen, dass Liechtenstein auf ausländische Arbeitskräfte angewiesen war. Dieses Umdenken gipfelte im Übergang vom Rotationsmodell zum Niederlassungsprinzip.28 Ab 1963 erließ die liechtensteinische Regierung sogenannte Begrenzungsverordnungen.29 Deren Ziel war eine nach wie vor restriktive Zulassungspolitik, die die Stabilisierung des Bestandes an ausländischen Arbeitskräften vorsah und einen Zuzug nur im Rahmen eines Wegzuges von anderen bewilligte.30 26 Zur Schweiz beispielsweise Thomas Buomberger, Kampf gegen unerwünschte Fremde. Von James Schwarzenbach bis Christoph Blocher, Zürich 2004, S. 18–20. 27 Liechtensteinisches Landesarchiv (im Folgenden LLA) RF 288/073, Kreisschreiben des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements betreffend Saisonarbeiter und die Zulassung von Familienangehörigen, 25. November 1959. 28 Marxer, Ausländer, S. 35–38. 29 Dazu beispielsweise Liechtensteinisches Landesgesetzblatt (im Folgenden LGBl.) 1963, Nr. 24, Verordnung vom 7. Oktober 1963 über die Beschränkung der Zulassung ausländischer Arbeitskräfte. 30 Claudia Heeb-Fleck/Veronika Marxer, Die liechtensteinische Migrationspolitik im Spannungs­



Liechtenstein. Migration früher und heute 

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Automatisierte Konfitürenanlage, überwacht durch Arbeiter der Hilcona AG (Foto  : Liechtensteinisches Landesarchiv)

Der kontinuierliche Anstieg des Ausländeranteils sowohl an der Wohnbevölkerung als auch an der Gesamtbeschäftigung zeigte Ende der 1960er Jahre die Limitationen der Begrenzungsverordnung aus dem Jahr 1963 auf. Diese ursprünglich als provisorische Konstruktion angelegte Verordnung hatte nur eine kurzfristige Wirkung. Deren fehlende Wirkungskraft sowie die gleichzeitige Umstellung der Schweiz auf die sogenannte Globalplafonierung31 führten in Liechtenstein zu neu aufflammenden Diskussionen rund um die ausländerpolitische Zulassungspraxis.32 Das weitere Wirtschaftswachstum konnte aufgrund des ausgetrockneten Arbeitsmarktes nur über den Zuzug von ausländischen Arbeitskräften gewährleistet werden. Liechtenstein stand damit vor dem nahezu feld nationalstaatlicher Interessen und internationaler Einbindungen 1945–1981. Texte und Materialien, Schaan 2001 (unveröff. Manuskript), S. 202–213. 31 Mit »Globalplafonierung« war die auf die gesamte Volkswirtschaft bezogene Plafonierung gemeint. Die Höchstzahlen für Neubewilligungen wurden mit der Globalplafonierung nicht mehr für jeden Betrieb einzeln, sondern in Summe für die Gesamtwirtschaft festgelegt. 32 Den schweizerischen Beschluss betreffend Globalplafonierung wollte Liechtenstein nicht eins zu eins übernehmen, sondern ihn auf die liechtensteinischen Verhältnisse anpassen  ; LLA RF 304/072/039, Stellungnahme der Fremdenpolizei betreffend der Schweizerischen Plafonierung für Liechtenstein, 30. Mai 1968  ; auch Heeb-Fleck/Marxer, Migrationspolitik, S. 250 f.

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unlösbaren Dilemma, eine Reduktion des Ausländeranteils bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung des Wirtschaftswachstums anzustreben. Liechtenstein stellte im Dezember 1970 von der Betriebs- auf die Globalplafonierung um.33 Im Unterschied zur Schweiz legte die liechtensteinische Regierung jedoch auch für die ausländische Wohnbevölkerung einen Richtwert fest. Der Ausländeranteil sollte fortan nicht mehr als ein Drittel der Gesamtbevölkerung betragen. Der Vorschlag, ein Verhältnis von Ausländern zu Liechtensteinern in der Wohnbevölkerung festzusetzen, kam ursprünglich von der Liechtensteinischen Industrie- und Handelskammer. Im Jahr 1970 – bei einem statistisch ausgewiesenen Ausländeranteil von 30,8 Prozent (1969)  – beinhaltete dieser Vorschlag noch eine Reserve von gut zwei Prozent.34 Rasch zeigte sich jedoch, dass diese Reserve nicht ausreichen würde. Der für das Jahr 1970 statistisch ausgewiesene Ausländeranteil lag schon bei 33 Prozent, 1980 war er bei 36,9 Prozent. Die liechtensteinischen Behörden konzentrierten sich in der Folge auf eine verstärkte Inanspruchnahme von Grenzgängern und Saisonniers. Mit dieser Maßnahme sollte der Ausländeranteil an der Wohnbevölkerung stabil gehalten werden.35 Diese »Drittelsgrenze« als Maxime der liechtensteinischen Zulassungspolitik hat sich lange Zeit gehalten. In den erlassenen Begrenzungsverordnungen wurde der »ausgewogene Ausländeranteil« stets im Rahmen dieses Drittels wieder neu definiert. Mit dem Beitritt Liechtensteins zum EWR 1995 fand die seit den 1960er Jahren über Begrenzungsverordnungen und »Drittelsgrenzen« praktizierte Zulassungspolitik ein Ende.36 Die »Drittelsgrenze« ist dennoch zumindest ein inoffizielles Votum der Politik geblieben, auch wenn die rechtlichen Grundlagen durch den EWR-Beitritt auf eine komplett neue Basis gestellt wurden.37

33 LGBl. 1970, Nr. 39, Verordnung vom 22. Dezember 1970 über die Begrenzung der Zahl der erwerbstätigen Ausländer. 34 Martina Sochin D’Elia, Liechtensteinische Ausländerpolitik. Zwischen Wunschdenken und Wirklichkeit, in  : Wilfried Marxer (Hg.), Migration. Fakten und Analysen zu Liechtenstein, Bendern 2012, S. 184–205, hier S. 194. 35 Heeb-Fleck/Marxer, Migrationspolitik, S. 281 f. 36 Sochin D’Elia, Liechtensteinische Ausländerpolitik, S. 194. 37 Zur beim EWR-Beitritt verhandelten liechtensteinischen Sonderlösung bezüglich Personenfreizügigkeit Christian Frommelt, Europarechtliche und europapolitische Rahmenbedingungen der Migration, in  : Marxer, Migration, S. 58–83  ; Pascal Schafhauser, Personenverkehr in Liechtenstein. Unde venit – Status quo – Quo vadit  ? Ein Abriss der Entwicklung des Personenverkehrs, in  : Georges Baur (Hg.), Europäer – Botschafter – Mensch. Liber Amicorum für Prinz Nikolaus von Liechtenstein, Schaan 2007, S. 195–225.



Liechtenstein. Migration früher und heute 

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Migration heute – aktuelle Zahlen Eine im Auftrag der liechtensteinischen Regierung erarbeitete Studie machte 2012 auf fehlende statistische Angaben im Bereich Migration aufmerksam, was die Erforschung von Migrationsströmen und Migrationsmotiven erschwert. Statistisch wurden bis dato wohl der Wanderungssaldo erfasst, jedoch keine konkreten Angaben zur Zu- und Abwanderung gemacht. Die Studie wies vor allem auf in diesem Zusammenhang fehlende soziodemographische Daten hin  : Angaben zu Staatsbürgerschaft, Herkunftsland, beruflicher Qualifikation, Grund der Migration, Alter zum Zeitpunkt der Zu-/Abwanderung sind für die Migrationsforschung unverzichtbar.38 2013 konnte das Amt für Statistik die erste liechtensteinische Migrationsstatistik präsentieren, die seither im Jahresturnus erscheint. Sie gibt Auskunft über die Struktur der Einwanderung und der Auswanderung sowie der Binnenwanderung in Liechtenstein und möchte damit »ein Gesamtbild zum Thema Migration« 39 bieten. Die neue Migrationsstatistik greift einige der in der Migrationsstudie 2012 geäußerten Desiderate auf und macht nicht nur Angaben zum Geschlecht und zur Staatsbürgerschaft, sondern beispielsweise auch zum Geburtsland, zum Herkunftsland, zur Art der ausländerrechtlichen Bewilligung und zur ausgeführten Erwerbstätigkeit.40 Aufgrund der neuen statistischen Angaben lässt sich nicht nur festhalten, dass die liechtensteinische Bevölkerung stetig wächst, sondern auch, dass dieses Bevölkerungswachstum primär auf Zuwanderung – sprich den positiven Wanderungssaldo – und nur sekundär auf den Geburtenüberschuss zurückzuführen ist.41 Tendenziell sind in den Jahren von 2008 bis 2013 etwas mehr Männer als Frauen nach Liechtenstein eingewandert.42 Aus der Migrationsstatistik geht hervor, dass knapp ein Viertel aller einwandernden Personen die liechtensteinische Staatsbürgerschaft haben, 62,2 Prozent einen Schweizer oder einen EWR-Pass besitzen und nur 14 Prozent aller Zuwandernden Staatsbürger aus anderen europäischen Ländern, aus Afrika, Amerika, Asien oder Ozeanien sind. Gut 60 Prozent aller Einwandernden sind Angehörige eines (mehrheitlich) deutschsprachigen Landes,43 was die Schluss38 Wilfried Marxer, Herausforderung Migration in und für Liechtenstein. Synthesebericht, in  : Wilfried Marxer (Hg.), Migration. Zahlen und Fakten zu Liechtenstein, Bendern 2012, S. 8–57, hier S. 49 f. 39 Ramona Banzer, Bessere Grundlage, bessere Diskussion, in  : Liechtensteiner Vaterland, 13.6.2013, S. 3. 40 Amt für Statistik (Hg.), Migrationsstatistik 2012, Vaduz 2013, S. 7. 41 Amt für Statistik (Hg.), Migrationsstatistik 2013, Vaduz 2014, S. 9. 42 Der Männeranteil bewegte sich zwischen 50,3 (2009) und 50,4 Prozent (2013)  ; Amt für Statistik (Hg.), Migrationsstatistik 2013, Vaduz 2014, S. 22. 43 Hier wird beispielsweise auch die offiziell viersprachige Schweiz dazu gezählt.

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Martina Sochin D’Elia

folgerung zulässt, dass zu einem großen Teil Liechtensteiner,44 Schweizer, Öster­reicher und Deutsche nach Liechtenstein zuwandern. Hinzu kommt, dass fast 80 Prozent aller nach Liechtenstein Zuziehenden vor ihrer Einwanderung in der Schweiz oder in einem EWR-Staat wohnhaft waren.45 Diese Daten unterstützen die bisherigen Forschungsergebnisse, die den Liechtensteinern trotz des im internationalen Vergleich relativ hohen Ausländeranteils bezüglich Offenheit Ausländern gegenüber ein positives Zeugnis ausstellen.46 In einer Umfrage zur nationalen Identität Liechtensteins waren gut drei Viertel aller Befragten der Ansicht, dass Deutschkenntnisse immanenter Bestandteil der raschen Integration seien.47 Die für Liechtenstein konstatierte Offenheit Ausländern gegenüber rührt wohl nicht zuletzt vom nun mittlerweile statistisch erwiesenen hohen Anteil an Deutschsprachigen, vom hohen Anteil an Ausländern, die aus den Nachbarstaaten stammen, und vom allgemein hohen Anteil an EWR-Bürgern unter den Ausländern her. Demgegenüber steht allerdings die Tatsache, dass die Einbürgerungspraxis in Liechtenstein eher restriktiv gehandhabt wird und dem stetig ansteigenden Ausländeranteil in der Vergangenheit primär mit Zulassungsbeschränkungen als mit einer Liberalisierung der Einbürgerungsbestimmungen begegnet wurde.48 Im Jahr 2014 beispielsweise wurden 178 in Liechtenstein wohnhafte Personen eingebürgert.49 44 2013 hatten 23,7 Prozent aller Einwandernden die liechtensteinische Staatsbürgerschaft. 45 Amt für Statistik (Hg.), Migrationsstatistik 2013, Vaduz 2014, S. 11 f. 46 Wilfried Marxer/Manuel Frick (Mitarbeit), Migration und Integration. Geschichte  – Probleme – Perspektiven. Studie zuhanden der NGO-Arbeitsgruppe »Integration«, Bendern 2007, S. 81–84  ; Wilfried Marxer, Ausländerinnen und Ausländer in Liechtenstein. Soziale und politische Dimensionen, Bendern 2008, S. 21–27. 47 Wilfried Marxer, Nationale Identität. Eine Umfrage aus Anlass 200 Jahre Souveränität des Fürstentums Liechtenstein, in  : Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein 105 (2006), S. 197–235, hier u. a. S. 216. 48 Regula Argast, Einbürgerungen in Liechtenstein vom 19. bis ins 21. Jahrhundert. Schlussbericht, Vaduz-Zürich 2012, u. a. S. 12 f  ; Martina Sochin D’Elia, Das liechtensteinische Bürgerrecht in Geschichte und Gegenwart (Arbeitspapiere Liechtenstein-Institut 45), Bendern 2014  ; Klaus Biedermann, »Aus Überzeugung, dass er der Gemeinde von grossem Nutzen seyn werde«. Einbürgerungen in Liechtenstein im Spannungsfeld von Staat und Gemeinden 1809–1918, Vaduz-Zürich 2012  ; Nicole Schwalbach, Bürgerrecht als Wirtschaftsfaktor. Normen und Praxis der Finanzeinbürgerung in Liechtenstein 1919–1955, Vaduz-Zürich 2012  ; Veronika Marxer, Vom Bürgerrechtskauf zur Integration. Einbürgerungsnormen und Einbürgerungspraxis in Liechtenstein 1945–2008, Vaduz-Zürich 2012  ; Martina Sochin D’Elia, Doppelte Staatsbürgerschaft bei Naturalisierung. Eine europäische Situationsanalyse unter spezieller Berücksichtigung Liechtensteins (Arbeitspapiere Liechtenstein-Institut 37), Bendern 2012. 49 Regula Argast hat für Liechtenstein eine im internationalen Vergleich tiefe Einbürgerungsquote festgestellt  ; Argast, Einbürgerungen, S. 13.



Liechtenstein. Migration früher und heute 

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Italienische Saisonniers auf einer Baustelle, 1980er Jahre (Foto  : Bruno de Boni, Gemeindearchiv Balzers)

Jährlich hat Liechtenstein 56 Aufenthaltsbewilligungen an EWR-Staatsbürger zur Erwerbstätigkeit in Liechtenstein zu vergeben. Hinzu kommen noch 16 Bewilligungen zur erwerbslosen Wohnsitznahme sowie eine jährliche Mindestverpflichtung zur Erteilung von Aufenthaltsbewilligungen an Schweizer.50 Der Hauptanteil des Neuzuzuges erfolgt jedoch nicht über einen Stellenantritt, sondern im Rahmen des Familiennachzuges.51 Erstmals weist die neue Migrationsstatistik dazu nun Zahlen aus, die die Verteilung zwischen Zuzug durch Familiennachzug und Zuzug durch Stellenantritt quantifizieren  : Knapp 60 Prozent der Einwandernden ziehen im Rahmen des Familiennachzuges nach Liechtenstein.52 Nur rund ein Viertel aller Zuwandernden kommt aufgrund eines Stellenantritts und immerhin knapp 16 Prozent haben einen anderen Zulassungsgrund.53 Bezüglich des Einwanderungsgrundes lassen sich deutliche 50 Im Jahr 2011 hat die Regierung die Anzahl Bewilligungen um 15 Prozent erhöht und ist damit den Forderungen der Wirtschaftsverbände nachgekommen. 51 Sochin D’Elia, Liechtensteinische Ausländerpolitik, S. 195. 52 In der Schweiz sind dies beispielsweise nur 32,2 Prozent aller Einwandernden. Siehe Bundesamt für Migration (Hg.), Ausländerstatistik Ende Dezember 2013 [https://www.bfm.admin.ch/ content/dam/data/migration/statistik/auslaenderstatistik/2013/auslaenderstatistik-2013-12-d. pdf ], Zugriff  : 30.4.2014. 53 Zu den anderen Gründen zählen laut Migrationsstatistik  : Anerkannter Flüchtling, Asylgesuch, Erteilung einer Daueraufenthaltsbewilligung, Erteilung einer Bewilligung aus humanitären

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Martina Sochin D’Elia

Geschlechterunterschiede erkennen. Knapp zwei Drittel der im Rahmen des Familiennachzuges nach Liechtenstein kommenden Personen sind weiblich. In gut drei Viertel aller Fälle sind es Männer, die zum Zweck des Stellenantritts nach Liechtenstein einwandern.54 Aber auch wenn Frauen mehrheitlich im Rahmen des Familiennachzuges nach Liechtenstein zuziehen, gehen viele von ihnen in der Folge einer Erwerbstätigkeit nach. Knapp 40 Prozent aller im Jahr 2013 nach Liechtenstein zugewanderten Personen waren per Ende 2013 erwerbstätig.55 Einwanderung nach Zulassungsgrund 2008–201356 Jahr 2008

Zulassungsgrund Familiennachzug

282

67,6

112

26,9

22

5,3

anderer Grund

1

0,2

Familiennachzug

284

68,3

Stellenantritt

102

24,5

28

6,7

2

0,5

erwerbslose Wohnsitznahme anderer Grund 2010

Familiennachzug

285

66,1

Stellenantritt

123

28,5

23

5,3

erwerbslose Wohnsitznahme anderer Grund 2011

0

0,0

Familiennachzug

337

69,1

Stellenantritt

120

24,6

28

5,7

3

0,6

erwerbslose Wohnsitznahme anderer Grund 2012

in %

Stellenantritt erwerbslose Wohnsitznahme

2009

absolut

Familiennachzug

321

64,2

Stellenantritt

126

25,2

erwerbslose Wohnsitznahme

25

5,0

anderer Grund

28

5,6

Total

417

416

431

488

500

Gründen, Wohnsitznahme von Nicht-EWR-Bürgern, Wohnsitznahme von EWR-Bürgern (Vergabe), Wohnsitznahme Lebenspartner, Wohnsitznahme von EWR-Bürgern (Verlosung). Siehe Amt für Statistik (Hg.), Migrationsstatistik 2013, Vaduz 2014, S. 12. 54 Ebd., S. 36. 55 Ebd., S. 14. 56 Ebd., S. 72.



Liechtenstein. Migration früher und heute 

Jahr

Zulassungsgrund

absolut

in %

2013

Familiennachzug

346

65,2

Stellenantritt

150

28,2

32

6,0

3

0,6

erwerbslose Wohnsitznahme anderer Grund

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Total

531

Einwanderung nach Zulassungsgrund 2008–2013 Die Migrationsstatistik ist aktuell noch als Momentaufnahme rund um die Wanderungsbewegungen nach und aus Liechtenstein zu sehen. Mit der im Laufe der Jahre erfolgenden Aggregation von Daten wird man auf Basis der Erhebung in Zukunft noch weitreichendere Schlüsse ziehen können. Für das Jahr 2012 konnte beispielsweise nachgewiesen werden, dass die Einwanderungsquote in Liechtenstein (18,3 Personen pro 1.000 Einwohner) leicht niedriger lag als diejenige der Schweiz (18,6), gleichzeitig aber wesentlich höher als die österreichische (10,9) oder die deutsche (7,4) Einwanderungsquote. Vor allem die im Vergleich zu Liechtenstein höhere Einwanderungsquote der Schweiz überrascht vor dem Hintergrund, dass Liechtenstein (2014  : 33,7 Prozent) grundsätzlich einen wesentlich höheren Ausländeranteil ausweist als die Schweiz (2013  : 24,3 Prozent).57 Es bleibt abzuwarten, wie sich dieses Verhältnis in Zukunft weiterentwickeln wird.

57 Zu Liechtenstein ebd., S. 94, sowie [http://www.llv.li/files/as/bevolkerungsstatistik-vorlaufige-­ ergebnisse-31-dezember-2014.pdf ]  ; zur Schweiz [http://www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/01/07/blank/key/01/01.html], Zugriff jeweils  : 15.9.2015.

Werner Bundschuh

Turksprechende Krim-Tataren Spuren in Vor­arl­berg

Im Zuge von Recherchen zur Geschichte der ukrainischen Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen stieß der Autor auf ein wenig bekanntes Kapitel der Vor­ arl­berger Geschichte  : auf die tragische Geschichte einer Minderheit in der Ukraine, auf jene der moslemischen, turksprechenden Krim-Tataren, die zwischen die Mühlsteine der NS-Eroberungs- und Ausrottungspolitik in Osteuropa und der stalinistischen Gewaltherrschaft gerieten und dabei fast völlig ausgelöscht wurden. Eine Spur dieser Minderheit führt nach Vor­arl­berg  :1945/46 ist eine Flüchtlingsgruppe von überlebenden Krim-Tataren hier gestrandet und wurde in Alberschwende untergebracht. Am 16. März 2014 gab es auf der zur Ukraine gehörenden Krim eine äußerst umstrittene Volksabstimmung  : »96 Prozent der Wähler und Wählerinnen« votierten für den Beitritt zur Russischen Föderation. Hierauf erfolgte die Loslösung der Halbinsel von der Ukraine und der Anschluss an Russland. Für die zwölf Prozent krimtatarische Bevölkerung ergibt sich dadurch eine neue Lage, denn das Verhältnis zur Russischen Föderation ist historisch stark belastet. So wurden Mustafa Dschemiljew, der geistige Führer der Krim-Tataren, und Refat Tschubarow, der Vorsitzende des Medschlis, der Versammlung der Krimtartaren, umgehend mit Einreisesperren für die Krim und die Russische Föderation belegt.1 Zum Schicksal der Krim-Tataren während des Zweiten Weltkriegs Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion (1991) herrscht in der multiethnischen Republik Ukraine ein heftiges Ringen um die Deutungshoheit in der Geschichtsschreibung. Vor allem die Zeit der deutschen Eroberung während des Zweiten Weltkrieges erfährt verschiedene Deutungsmuster und ist äußerst umstritten. Dies gilt besonders auch für die Geschichte der Krim-Tataren, die

1

Daniel Wechlin, Vorwurf des Extremismus. Die Krimtataren im Griff der Repression, in  : Neue Züricher Zeitung, 7.7.2014.

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Werner Bundschuh

hier nicht im Detail nachgezeichnet werden kann.2 Einige wenige Anmerkungen müssen genügen.3 Die Truppen der deutschen Wehrmacht eroberten von September bis Novem­ ber 1941 die Krim. Beim Vormarsch der 11. Armee unter General Erich von Manstein (Generalfeldmarschall ab 1. Juli 1942) fielen Tataren, die auf Seite der sowjetischen Armee gekämpft hatten, in die Hände der vorrückenden Wehrmacht, Hunderte Tataren wurden hingerichtet, weil sie der Partisanentätigkeit verdächtigt wurden. Die nationalsozialistische Großraum- und Rasseplanung im Osten sah vor, die Krim, die in »Neugotland« umbenannt wurde, über eine Autobahn an Deutschland anzubinden und mit Deutschen zu besiedeln.4 Bis zum März 1942 gelang es den deutschen Besatzern, die die Krim in ein »Gibral­ tar des Schwarzen Meeres« verwandeln wollten, rund 10.000 Krimtataren zur Bewachung von Kriegsgefangeneneinrichtungen, die der 11. Armee unterstanden, zu gewinnen.5 Zu diesem Zeitpunkt standen bereits rund 4.000 Mann in den örtlichen Milizen oder als Dorfälteste, denen eine wichtige Rolle bei der Selektierung der ins Deutsche Reich zu verschleppenden Arbeitskräfte zukam, zur Verfügung. Unter dem Druck der deutschen Besatzungsmacht entstanden zunächst mehrere Krimtataren-Arbeitsbataillone – für die ukrainisch-russische Bevölkerung ein Beleg dafür, dass »die Tataren« mit dem Feind kollaborierten. Und Tausende Krim-Tataren wurden »ins Reich« zur Zwangsarbeit verschickt. Dort galten sie generell als »Ostarbeiter«. Ab November 1943 wurde Freiwillige für das Ostmuselmanische SS-Regiment 1, eine SS-Einheit aus Angehörigen sogenannter »Orient-Völker«, angeworben. Darunter verstanden die NS-Machthaber die nicht-russischen und nicht-slawischen Völker aus dem Gebiet von der Krim über den Kaukasus bis hin nach Mittelasien. War ein Großteil dieses Volksgruppen (1939 rund 22 Millionen) auch vom Islam geprägt, fanden sich in diesem Raum auch weitere Nationalitäten, wie die Georgier und Armenier, die nicht den »Turkvöl2

Siehe dazu Andreas Kappeler (Hg.), Die Ukraine. Prozesse der Nationsbildung, Köln-WeimarWien 2011. 3 Eine Tagung in Wien hat sich am 29./30.1.2015 ausführlich mit dieser Thematik beschäftigt. Tagungsbericht [http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-6018], Zugriff  : 25.8.2015. Ebendort wurde beschlossen, eine öffentliche akademische Plattform für Krimtataren-Forschung zu installieren [www.krimtataren.eu]. 4 Stichwort »Krimtataren«, [http://eeo.uni-klu.ac.at/index.php], Zugriff  : 25.8.2015. Wichtige Einblicke in die Besatzungspolitik in der Unkraine gibt Tanja Penter, Der Donbass unter deutscher Besatzung, in  : Einsicht 06. Bulletin des Fritz Bauer Instituts 3 (2011), S. 40–47. 5 Joachim Hoffmann, Die Ostlegionen 1941–1943. Turkotataren, Kaukasier und Wolgafinnen im deutschen Heer (Einzelschriften zur militärischen Geschichte des Zweiten Weltkrieges 19), Freiburg i. B. 1986, S. 44–46.



Turksprechende Krim-Tataren in Vorarlberg 

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kern« angehörten. Sie wurden aber, wohl aus Gründen der Vereinfachung, als Einheit angesehen und als »Turkvölker« bezeichnet und behandelt. Im Einsatz gegen »den Bolschewismus« kämpften auf deutscher Seite circa 53.000 Kosaken, 310.000 Russen, 250.000 Ukrainer, 5.000 Kalmyken, 180.000 Turkestaner, 110.000 Kaukasier, 40.000 Wolgatataren sowie 20.000 Krimtataren.6 Nach der Aufgabe Sewastopols durch die Rote Armee im Juli 1942 war die Krim vollständig von deutschen und rumänischen Truppen besetzt. Wie in der gesamten südlichen Sowjetunion begann auch auf der Krim die systematische Ermordung der Juden, Kommunisten und Roma sowie der Krimtschaken7 durch die »Einsatzgruppe D«, die in Zusammenarbeit mit der Deutschen Wehrmacht mindestens 40.000 Krimbewohner tötete. Diese Sondereinheit sollte auch dafür sorgen, dass möglichst viele Krimtataren mit den Besatzern zusammenarbeiteten. Allerdings zeigten sich auch bei den Krimtataren unterschiedliche Verhaltensmuster gegenüber den deutschen Besatzern  : In der Ost-Krim war die Bereitschaft, mit den Deutschen gemeinsam gegen die Rote Armee zu kämpfen, größer als in der West-Krim (um Simferopol und rund um die inoffizielle »Hauptstadt« der Krimtataren Bachcisaraj). Das Ausmaß der Deportationen der Krimtataren zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich war folglich unterschiedlich.8 Weil sich ein Teil der Krimtataren – wie auch Teile anderer kaukasische Völker – während der NS-Besetzung ihrer Heimatgebiete »für die deutsche Sache eingesetzt« hatten, sollten sie im »Reichseinsatz« ab 1944 gegenüber den übrigen »Ostarbeitern« besser gestellt, nicht mehr gemeinsam mit ihnen untergebracht oder mit der gleichen schweren Arbeit belastet werden. Darüber hinaus sollten die Krimtataren in für sie klimatisch günstigen Gegenden innerhalb des Deutschen Reiches konzentriert werden. Ab August 1944 wollte man sie deshalb im »Reichsgau Steiermark« gemeinsam mit »Wilna-Tataren«, unterbringen. Ob dies in der Endphase des Krieges noch geschah, lässt sich nicht mehr schlüssig nachweisen. Nach Österreich waren 1942 und 1944 Gruppen von Krimtataren gekommen und beim Straßen- und Bergbau, in Fabriken und auch in der Landwirtschaft (häufig in Pferdelazaretten) eingesetzt worden.9 Der Angriff der Roten Armee auf die Krim erfolgte bei Kerc bereits am 8. Mai 1942, im Dezember 1943 schließlich auch von Norden aus. Ungefähr sechs- bis achttausend Krim-Tataren und ihre Familien schlossen sich den ab6 [http://www.lexikon-der-wehrmacht.de/Zusatz/SS/SSOsttuerkei-R.htm], Zugriff  : 25.8.2015. 7 Krimtschaken sind eine auf der Krim ansässige kleine Gruppe turksprachiger Juden. 8 Bericht der österreichischen Historikerkommission (Hg.), Stefan Karner/Peter Ruggenthaler, Zwangsarbeit in der Land- und Forstwirtschaft auf dem Gebiet Österreichs 1939–1945, Wien-München 2004, S. 112–115 (Kapitel 3.1.2  : Die Verschleppung der Krimtataren in die »Südmark«). 9 Ebenda.

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Werner Bundschuh

ziehenden deutschen Truppen an und erreichten 1944/45 Deutschland. Mit den deportierten Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen lebten bei Kriegsende zirka 15.000 Krimtataren in Deutschland und Österreich. Jene, die dort der siegreichen sowjetischen Armee in die Hände fielen, wurden »repatriiert« und von den Sowjets nach Zentralasien oder Sibirien geschickt. Am 8. April 1944 erfolgte der Angriff der sowjetischen Armee auf Sewastopol, das vom 9. bis 12. Mai 1944 eingenommen wurde. Die Folgen für die Krimtataren sind bis heute spürbar  : Nach der Einnahme der Krim durch die Rote Armee »bestrafte« Stalin die Krimtataren kollektiv als »Vaterlandsverräter«  : In der Zeit vom 18. bis 21. Mai 1944 ließ Stalin unter dem Vorwurf der Kollaboration mit den Deutschen die Krimtataren nach Zentralasien deportieren. Die Behandlung der »Zwangsarbeiterfrage« in Vor­arl­berg Die Auseinandersetzung mit der Zwangsarbeit während des »Dritten Reiches« zählte in Vor­arl­berg noch in den Neunzigerjahren des vorigen Jahrhunderts zu den umstrittensten zeitgeschichtlichen Themen. Besonders die Arbeit von Margarethe Ruff »Um ihre Jugend betrogen« lenkte die Aufmerksamkeit auf die ukrainischen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, die ab 1942 auf den Baustellen der Illwerke, in den heimischen Fabriken, im Gewerbe oder in der Landwirtschaft als Angeworbene, Zwangsverschickte oder Kriegsgefangene im Rahmen der menschenverachtenden rassistischen NS-Politik eingesetzt wurden.10 Oral-History-Forschungsreisen in die West- und Ostukraine erweiterten den Wissensstand. Im Jahre 1998 wurden auf Initiative von Margarethe Ruff, der Partei der Vor­arl­berger Grünen, des Theaters Kosmos und der Johann-August-­ Malin-Gesellschaft Spendengelder für die ehemalige ukrainischen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter gesammelt und in Krementschuk, Luhansk und Rowenki (Ostukraine) verteilt.11. Diese Aktionen wurden zwei Jahre bevor sich der österreichische Staat zur historischen Aufarbeitung dieses düsteren Kapitels der Vergangenheit verpflichtet fühlte durchgeführt. Im Jahre 2000 änderte 10 Grundlegend Margarethe Ruff, »Um ihre Jugend betrogen«. Ukrainische Zwangsarbeiter/innen in Vor­arl­berg 1942–1945 (Studien zur Geschichte und Gesellschaft Vor­arl­bergs 13), Bregenz 1996. 11 Rede des Obmannes der Johann-August-Malin-Gesellschaft, Werner Bundschuh, gehalten im Rathaus von Luhansk am 7.9.1998 anlässlich einer Spendenübergabe an ehemalige Zwangsarbeiter/innen [http://www.malingesellschaft.at/aktuell/weiteres/zwangsarbeit/rede-des-obmannes-der-malin-gesellschaft-gehalten-im-rathaus-von-luhansk-am-7.-september-1998-anlaesslich-einer-spendenubergabe-an-ehemalige-zwangsarbeiter-innen], Zugriff  : 25.8.2015.



Turksprechende Krim-Tataren in Vorarlberg 

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Wer ist einheimisch, wer fremd  ? Fußballmannschaft in Alberschwende 1948. Fikret Yurter ist in der Reihe der Stehenden der Zweite von links (Fotograf unbekannt)

sich die Perspektive  : Am 8. August wurde das österreichische »Bundesgesetz über den Fonds für freiwillige Leistungen der Republik Österreich an ehemalige Sklaven- und Zwangsarbeiter des nationalsozialistischen Regimes (Versöhnungsfonds-Gesetz)« veröffentlicht, das am 27. November 2000 in Kraft trat.12 Auch das Land Vor­arl­berg musste sich nun der Tatsache stellen, dass hier von 1939 bis 1945 an die 15.000 Menschen Zwangsarbeit verrichtet hatten. Die Zahl beruht aufgrund der schwierigen Quellenlage lediglich auf einer plausiblen Schätzung.13 12 Das österreichische Bundesgesetz über den Fonds für freiwillige Leistungen der Republik Österreich an ehemaligen Sklaven- und Zwangsarbeiter des nationalsozialistischen Regimes (Versöhnungsfonds-Gesetz) wurde am 8.8.2000 im Bundesgesetzblatt Nr. 74/2000 veröffentlicht und ist am 27.11.2000 in Kraft getreten. Dazu Hubert Feichtlbauer, Zwangsarbeit in Österreich 1938–1945  : Fonds für Versöhnung, Frieden und Zusammenarbeit  : Späte Anerkennung, Geschichte, Schicksale, Wien 2005. 13 Der Zeithistoriker und ehemalige Landesarchivmitarbeiter Wolfgang Weber kommt bei seiner Sichtung der Quellenlage zu folgendem Schluss  : »Grundsätzlich erscheint es auf Grundlage des vorhandenen Quellenmaterials nicht möglich, eine faktische Rekonstruktion der NS-Zwangsarbeit in Vor­arl­berg zu leisten. Die schriftliche Überlieferung ist in Hinblick auf ihre Provenienz und ihre Entstehungsbedingungen zu unterschiedlich, als dass damit eine umfassende Geschichte der NS-Zwangsarbeit in Vor­arl­berg geschrieben werden könnte. Möglich sind jedoch exemplarische Schwerpunktstudien für einzelne Betriebe, Ortschaften oder Personen, weniger für ganze Wirtschaftszweige.« Wolfgang Weber, Quod non est in fontes [sic  !], non est in mundo  ? Umfang und Bedeutung der schriftlichen Überlieferung zur Geschichte der

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Der im Jahre 2004 vorgelegte Band 26/1 der Österreichischen Historikerkommission, »Zwangsarbeiter/innen auf dem Gebiet der Republik Österreich 1939–1945«, gibt Auskunft über die komplexe Entwicklung des »Arbeitseinsatzes« und die einzelnen Eskalierungsphasen – vor allem nach dem Überfall auf die Sowjetunion im Sommer 1941. Dieser Forschungsbericht enthält auch die für Österreich ermittelten Zahlen.14 Nur um die Dimension zu verdeutlichen  : Im gesamten Deutschen Reich wurden während des Zweiten Weltkrieges schätzungsweise an die zwanzig Millionen Menschen zwangsweise zur Arbeit eingesetzt.15 Auf dem Boden der Republik Österreich waren mit Stichtag 30. September 1944 nicht weniger als 580.640 zivile ausländische Arbeitskräfte im Einsatz. Beim Amt der Vor­arl­berger Landesregierung wurde ab dem Jahre 2000 eine Stelle für Fragen der Zwangsarbeit eingerichtet. Deren Leiter Wilfried Längle wurde mit der Aufgabe betraut, die Entschädigungsansprüche zu prüfen. Im Vor­arl­berger Landesarchiv befinden sich die Akten von zirka 600 Personen, die sich ihren Aufenthalt in Vor­arl­berg bestätigen lassen mussten. Resümierend hielt der Landeskoordinator zur Abwicklung des österreichischen Entschädigungsfonds fest  : »Bis zur Einstellung seiner Tätigkeit mit Ende des Jahres 2005 wurden vom Versöhnungsfonds an rund 135.000 ehemalige Zwangsarbeiter Entschädigungen ausgezahlt. An die 4.000 davon dürften seinerzeit in Vor­arl­berg eingesetzt gewesen sein. Sie leben heute zum überwiegenden Teil in den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion und hier vor allem in der Ukraine, ferner in Polen, in Frankreich, in Ex-Jugoslawien, in den Niederlanden und in Belgien, weiters in den USA, Kanada, Großbritannien, Australien und Neuseeland  ; einige aber noch heute hier in Vor­arl­berg«.16 Zwangsarbeit in Vor­arl­berg, in   : Scrinium. Zeitschrift des Verbandes Österreichischer Archivarinnen und Archivare 55 (2001), S. 579–590, hier S. 587. 14 Zur Zahlenentwicklung der Zwangsarbeit auf dem Boden des heutigen Österreich und den methodischen Schwierigkeiten bei der statistischen Auswertung siehe Mark Spoerer, Zwangs­ arbeit auf dem Gebiet der Republik Österreich, Teil 1  : Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen auf dem Gebiet der Republik Österreich 1939–1945 (Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission. Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich 26/1), Wien-München 2004. 15 Grundlegende Arbeit zur Erforschung der Zwangsarbeit  : Ulrich Herbert, Fremdarbeiter. Politik und Praxis des »Ausländer-Einsatzes« in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, Berlin-Bonn 1985. Vgl. die Erhöhung der Zahl auf 20 Millionen durch neue Forschungen [www. zwangsarbeit-archiv.de]. 16 Wilfried Längle, Entschädigungen an ehemalige Zwangsarbeiter in Vor­arl­berg – Bericht des Landeskoordinators für Vor­arl­berg, in  : Ulrich Nachbaur/Alois Niederstätter (Hg.), Aufbruch in eine neue Zeit. Vor­arl­berger Almanach zum Jubiläumsjahr 2005, Dornbirn 2006, S. 197–199, hier S. 199.



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Fikret Yurter, 1946 (Fotograf unbekannt)

Um die Erforschung der Zwangsarbeitergeschichte in Vor­arl­berg voran zu treiben, initiierten Margarethe Ruff und der Autor das Projekt »Brücken schlagen  – ehemalige Zwangsarbeiter(innen) aus der Ukraine zwischen Rückkehr und neuer Heimat (Region Vor­arl­berg)«, das in den Jahren 2006 bis 2008 durchgeführt wurde.17 Im Rahmen dieses Projektes wurden die Erfahrungen der ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in Vor­arl­berg, ihre Rückkehr-Perspektive, die Auswirkungen der Zwangsarbeit auf die Lebenssituation in der alten Heimat, die innerfamiliäre Kommunikation über diesen Lebensabschnitt, das Brechen des Schweigens in der neuen Ukraine und das Leben nach der »Entschädigung« beleuchtet. Um Kontaktpersonen zu finden, wurden auch die Akten des Versöhnungsfonds im Vor­arl­berger Landesarchiv durchgesehen. 2014 erschien als Abschluss dieser Arbeit der Band »Minderjährige Gefangene 17 Werner Bundschuh/Margarethe Ruff, Projekt »Brücken schlagen – ehemalige Z ­ wangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen aus der Ukraine zwischen Rückkehr und neuer Heimat«. Projektbericht für den Zukunftsfonds der Republik Österreich (2008). Der Forschungsbericht ist nicht veröffentlicht. Teile daraus sind auf der Webseite von www.erinnern.at einsehbar [http:// www.erinnern.at/bundeslaender/oesterreich/bundeslaender/vorarlberg/bibliothek/dokumente/ das-projekt-brucken-schlagen-ehemalige-zwangsarbeiter-und-zwangsarbeiterinnen-­aus-derukraine-zwischen-ruckkehr-und-neuer-heimat-margarethe-ruff-und-werner-­bundschuh].

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des Faschismus. Lebensgeschichten polnischer und ukrainischer Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in Vor­arl­berg«.18 Krimtataren in Alberschwende Unter den polnischen, russischen, ukrainischen oder französischen Namen fiel bei den Zwangsarbeiter-Recherchen der Name Yurter auf  : Unter Nr. 609 bei den Entschädigungsansuchen im Landesarchiv ist dort der Name von Yurter Ismet (Abibullah), geboren am 13. März 1939 auf der Krim, verzeichnet. Er kam – heißt es dort – gemeinsam mit der »Familie (Schwester Suade Akcollu GZ. 126.849) nach Landeck, Bregenz, Innsbruck, Graz und Wien. 1947–1948  ; Bregenzer Sanatorium  ; keine Unterlagen«. Als Wohnort war eine Adresse in Ankara angegeben. Die Kontaktaufnahme mit Ismet Yurter in Ankara scheiterte, aber es meldete sich umgehend sein Bruder Fikret Yurter aus New York, der Vorsitzende der Krim-Tataren in den USA.19 Am 9. März 2005 hatte dieser von New York aus an das Büro des Österreichischen Versöhnungsfonds geschrieben  : »Nach der Regelung des ÖSTERREICHISCHER VERSÖHNUNGSFONDS, bin ich ebenfalls berechtigt um eine Zahlung zu erhalten. Da ich nach dem Krieg in Alberschwende/ Bregenzerwald die Volksschule besuchte habe – die ein Grundstein für meine Zukunft war –, möchte ich gern die mir zustehenden Betrag, Ihr Einverständnis voraussetzend, als Zeichen meiner Dankbarkeit an die Schule Alberschwende zukommen zu lassen. Fikret Yurter«20

Nach der ersten Kontaktaufnahme folgten längere Telefongespräche und schließlich ein Besuch  : Fikret Yurter war im September 2005 in Vor­arl­berg und besuchte Alberschwende, jenen Ort, in dem er nach dem Krieg eingeschult worden war und dem er bis heute dankbar ist. Vor allem Lehrer Franz Berkmann, der ihm auch außerhalb der Unterrichtszeit die deutsche Sprache beibrachte. 18 Margarethe Ruff/Werner Bundschuh (Mitarbeit), Minderjährige Gefangene des Faschismus. Lebensgeschichten polnischer und ukrainischer Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in Vor­arl­berg, Innsbruck 2014. 19 E-Mail 31.8.2007  : »Sehr geehrter Herr Dr. Werner Bundschuh, Ich heiße Fikret Yurter, ich bin Ismet Yurters Bruder. Ich bin Dipl.-Ing und lebe in den USA, New York. Ihre E-Mail hat man mir weitergeleitet. Wenn Sie mir Ihre Adresse schicken koennen, so werde ich Ihnen die notwendige Informationen ueber die Krimtataren und Zwangsarbeiter in Oesterreich senden. Viele Grüße und mit vorzueglicher Hochachtung, Fikret K. Yurter, der Vorsitzender der The National Center of Crimean Tatars in Amerika.« 20 Ebenda, S. 18.



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Seine Zwangsarbeiterentschädigung spendete er – wie angekündigt – der Volksschule Hof in Alberschwende. Er ließ den Betrag von Euro 7.630,65 an die Schulleiterin Lieselotte Rohn überweisen. Sein Besuch fand mehrfach medialen Niederschlag  : Am 4. Oktober 2005 wurde in der ORF-Sendung »Thema« ein Beitrag über Fikret Yurter und die Krim-Tartaren ausgestrahlt. Der Beitrag unter dem Titel »Deportierter Krim-Tatar« wurde von Petra Kanduth gestaltet. Eine Kurzversion wurde im regionalen Fernsehen in der Sendung »Vor­arl­berg heute« unter dem Titel »Alberschwende  : Rückkehr ehemaliger Zwangsarbeiter« ausgestrahlt. Auf der Webseite des Fonds für Versöhnung, Frieden und Zusammenarbeit findet sich im Artikel »Handkuss für eine Orange, Rose für Mozart« das folgende Zitat  : »Der Krimtatar Fikret Yurter, ein Bruder des Schriftstellers Feyzi Rahman Yurter, hat in der NS-Zeit neben anderen Schwerarbeiten unter besonders erniedrigenden Umständen in Wien Leichen bergen müssen. Nun spendete er den gesamten Betrag von 7.630 Euro, den er als einstiger Sklavenarbeiter zuerkannt bekam, der Volksschule Alberschwende in Vor­arl­berg. Dort hatte er nach dem Krieg Lesen und Schreiben gelernt, ehe er in Deutschland Technik studierte und dann in die USA auswanderte. ›Das war die Basis für meinen späteren Erfolg im Leben‹, versicherte er stolz und dankbar der ÖVF-Referentin Pinar Düzel, die seinen auf Türkisch gestellten Antrag sprach- und sachkundig bearbeitet hat.«21

Über seinen Bruder heißt es im Bericht des Versöhnungsfonds  : »Der Krimtatar Feyzi Rahman Yurter wurde im Herbst 1944 in ein Arbeitslager nach Graz transportiert und im Jänner 1945 nach Innsbruck verlegt, und das sehr wohl als ›Ostarbeiter‹. In seinen Identitätspapieren gab Yurter, der heute als bei seinen überlebenden Landsleuten geachteter Krimtataren-Schriftsteller in Deutschland lebt, zuerst die UdSSR als Geburtsland an, dann aber die Türkei – weil er ahnte, welches Schicksal ihm bei einer Rückkehr als Krimtatar blühen würde. Kameraden hielten es ähnlich wie er. ›Bitte um Kenntnisnahme‹, schrieb er in sein Ansuchen um Zwangsarbeiterentschädigung.«22

Der Schriftsteller ist nach seiner Rückkehr in die Türkei im Dezember 2009 in Ankara verstorben. 21 [http://www.versoehnungsfonds.at/db/admin/de/index_main.php?cbereich=2&cthema=354&carticle=714&fromlist=1], Zugriff  : 13.10.2012. 22 Hubert Feichtlbauer, Fonds für Versöhnung, Frieden und Zusammenarbeit. Zwangsarbeit in Österreich 1938–1935. Späte Anerkennung-Geschichte-Schicksale, Wien 2005, S. 98.

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Fikret Yurter hat seinen Aufenthalt in Vor­arl­berg gut dokumentiert und den Schriftverkehr mit den Lehrerinnen Liselotte Rohn und Margit Bereuter veröffentlicht.23 Er weilte vom 12. bis 14. September 2005 in Alberschwende. In der Volksschule, die er einst als Schüler besuchte, wurde ihm zu Ehren eine kleine Feier abgehalten  : »Nach einem Begrüßungslied in deutscher und englischer Sprache überreichten Kinder aus den einzelnen Klassen zum Dank selbstgestaltete Kalenderbilder. Bürgermeister Reinhard Dür bedankte sich im Namen der Gemeinde mit einem Heimatbuch und einem Ölgemälde vom Alberschwender Dorfzentrum. Mit Flötenspiel und einem gemeinsamen Schlusslied verabschiedeten sich alle von Herrn Yurter und seiner Gattin und wünschten ihnen noch viele Jahre Gesundheit und Freude.«24

In einem handgeschriebenen Brief von Lisbeth Berkmann, der Tochter jenes Lehrers, der dem kleinen Fikret Deutschunterricht gab für den dieser heute noch so dankbar ist, ist zu lesen  : »Lieber Herr Yurter, gestern war der Geburtstag unseres Vaters. Wie hätte er sich gefreut über ihren Besuch in Alberschwende, Ihre Spende und vor allen Dingen, dass Sie ihn und seinen Einsatz für Sie nicht vergessen haben.« Unter der Überschrift »Alberschwendern sehr dankbar« berichteten auch die Vor­arl­berger Nachrichten am 16. September 2005 über den Besuch des ehemaligen jugendlichen Zwangsarbeiters. Unter »Der Grundstein für die Karriere. Ehemaliger Zwangsarbeiter spendet der Volksschule Alberschwende 7.630 Euro« berichtete die Heimat  : Bregenzerwald und Kleinwalsertal am 22. September über den Besuch  : »Erst konnte Volksschuldirektorin Lieselotte Rohn kaum glauben, was ihr die fremde Stimme am Telefon erzählte. Aber im Laufe des Gesprächs gelang es Fikret Yurter, die Schulleiterin zu überzeugen. Die Alberschwender Schule hatte vor rund 60 Jahren sein Leben entscheidend beeinflusst. Aus Dankbarkeit stellte Fikret Yurter der Volksschule 7.630 Euro zur Verfügung. Geld, das der Ex-Zwangsarbeiter als Entschädigungszahlung aus dem österreichischen Versöhnungsfond erhalten hatte.

Die Lebensgeschichte von Fikret Yurter klingt abenteuerlich. Als Kind wurde seine Familie von den Nationalsozialisten von der Krim nach Österreich deportiert. Über verschiedene Stationen gelangte die Krimtartaren-Familie [sic  !] ins Flüchtlingslager in Alberschwende. Einen tiefen Eindruck hinterließ bei 23 Fikret Yurter, in  : »Birlik-Einigkeit«, New York 2005, S. 17–31. 24 s’Leandoblatt, Informationen aus Alberschwende 8 (2005), S. 13.



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Fikret Yurter das Engagement seines damaligen Lehrers. Sogar in der Freizeit kümmerte sich der Pädagoge um das Flüchtlingskind und brachte ihm die deutsche Sprache bei. ›Lehrer Berkmann hat den Grundstein für meine Karriere gelegt‹, erzählt Fikret Yurter voller Dankbarkeit. Das Technikstudium in Deutschland finanzierte er sich durch nächtliche Arbeit im Kohlenbergwerk. Später wanderte Yurter nach Amerika aus, wo er als Ingenieur in der Reaktorenproduktion beschäftigt war. Der 72-Jährige lebt heute in der Nähe von New York. Bei seinem Besuch in Alberschwende bereiteten Kinder und Lehrer(innen) ihrem großzügigen Gönner einen herzlichen Empfang. Viele Erinnerungen konnte Fikret Yurter beim Treffen mit seinen ehemaligen Schulkollegen austauschen.« Warum er die höchste Zwangserbeiterentschädigung zuerkannt erhielt und welch fürchterliche Jugendgeschichte dahinter steckt, wurde in diesen Artikeln allerdings nicht thematisiert. Nur zu erahnen ist auch der Leidensweg von Kirimcan Naciye (Bubay), geboren am 4. November 1937, die mit ihren Eltern von Jalta nach Österreich deportiert wurde  : Ihre Stationen  : »1943–44 Strasshof, Wien  ; 1944 Feldkirch, Tisis und 1945 Liechtenstein«. Zum Zeitpunkt der Recherchen (2008) lebte sie in den USA. Ein ganz prominentes krimtatarisches Flüchtlingskind ist der bekannte türkische Historiker İlber Ortaylı  : Auch seine Familie flüchtete nach Vor­arl­berg. Er kam am 21. Mai 1947 in Bregenz auf die Welt.25 Ein Foto vor dem Lager in Alberschwende gibt einen Eindruck von der Anzahl der krimtatarischen Flüchtlinge  : Auf dem Foto sind zirka 50 Männer, Frauen und einige Kinder zu sehen. Ein Foto vom Lager in Landeck (Ende 1945) zeigt zirka 110 Personen, davon über die Hälfte Kinder.26 Erinnerungsarbeit in den USA Die Erinnerungsarbeit an das Schicksal der Krim-Tataren wird in den USA von Fikret Yurter maßgeblich geprägt. Er ist dort Vorsitzender des Nationale Center of Crimean Tatars. Unter seiner Leitung gründete die Amerikanische Vereinigung der Krim-Tataren im New Yorker Stadtteil Brooklyn im Jahre 1971 ein nationales Kulturzentrum. Am 18. Mai 1986  – 42 Jahre nach der stalinschen Deportation  – wurde auf seine Initiative im Washingtoner Memorial Park in Long Island, New York, ein Denkmal für die Deportierten errichtet. In der Ver25 Biographie [https://de.wikipedia.org/wiki/İlber_Ortaylı#cite_note-ib.C3.BC-1]. 26 Birlik-Einigkeit, New York 2005, S. 16 (Landeck), S. 30 (Alberschwende).

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einsschrift »Birlik-Einigkeit« (2005) wird folgende Version des damaligen Geschehens gegeben  : »Die Tatarengemeinde auf der Krim hatte jedoch am meisten zu leiden. Als die sowjetische Armee 1944 die Krim wieder einnahm, belief sich die Gesamtzahl der dort lebenden Tataren auf ungefähr 456.000 Menschen. Kurz nachdem die Sowjetarmee die Herrschaft übernommen hatte, wurden alle Tataren, also die Überreste, einschließlich Frauen und Kinder, zusammengetrieben und in Güterzüge geladen. Mehrere hundert Personen wurden in einem einzigen Güterwagen, der normalerweise höchstens für 50 Personen Platz hatte, zusammengequetscht. Zweiundzwanzig Tage lang rollten die Züge in Richtung Sibirien oder Mittelasien, kaum, dass einmal die Türen geöffnet wurden, und ohne Lebensmittel oder Wasser für die Deportierten. Es war ein von den Sowjets zynisch kalkulierter Plan, die Tataren zu vernichten. In der Tat haben die Hälfte der älteren Leute, die Kranken und die Kinder die Fahrt nicht überlebt. Allein während dieses einen Transportes starben etwa 25.000 Menschen. Die Überlebenden wurden in verschiedenen Regionen Sibiriens ohne Lebensmittel oder irgendwelche Hilfe angesiedelt. Das Gleiche erlebten die Transporte, die in Richtung Taschkent, Samarkand oder nach Fergana, Andijan, rollten. Im Winter 1944–45 und im Frühjahr 1945 starben 195.000 (mehr als 46 %) Tataren aus Hungersnot, Malaria oder an anderen Krankheiten. Auf diese Weise hat die Sowjet-Regierung die Tatarengemeinde der Krim de facto ausgerottet. Die Republik Krim wurde abgeschafft und in die Ukraine inkorporiert. Die historischen und kulturellen Denkmäler der Tataren wurden zerstörtet, die Moscheen zu Warenlagern oder Militärbaracken gemacht, die Schulgebäude den Russen übergeben. Häuser, welche Eigentum von Tataren in Städten und Dörfern waren, wurden Russen und Ukrainern übergeben. Die Tataren erhielten selbstverständlich nicht die geringste Entschädigung. Und so war innerhalb von wenigen Wochen die Tatarengemeinde insgesamt all ihrer historischen und kulturellen Zeugnisse durch Gewaltakte völlig zerstört. Es war, in der Tat  : ein Völkermord.«27

Erst 1967 sprach die Moskauer Staatsführung die Krimtataren vom Pauschalvorwurf der Kollaboration mit Hitler-Deutschland frei, aber eine organisierte Heimkehr war erst möglich, als in der Ära von Michail Gorbatschow Ende 1989 der Oberste Sowjet auch die gewaltsame Deportation verurteilte. Tatsächlich kehrten Hunderttausende zurück und vermehrten in der 1954 von KP- und Regierungschef Nikita Chruschtschow der Ukraine geschenkten bisherigen russischen Sowjetrepublik Arbeitslosigkeit, Hunger und Ratlosigkeit  – und jetzt leben sie wieder in Russland. 27 Fikret Yurter, in  : Birlik-Einigkeit, New York 2005, S. 15.



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Fikret Yurter, Alberschwende, 1948 (Heimatmuseum Alberschwende)

Dem NS-Völkermord ist Fikret Yurter wie sein Bruder, der spätere Schriftsteller Feyzi Rahman Yurter, entkommen. Jahrzehnte lang kämpften die beiden nun für die Anerkennung und Wiedergutmachung des Unrechts, das den Tataren von den Sowjets angetan wurde – und zu Beginn des dritten Jahrtausend für die Entschädigung der Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen im Rahmen des österreichischen Versöhnungsfonds. Am 23. Oktober 2002 übermittelte Fikret Yurter von New York aus die Anträge von 92 Krimtataren, welche während des Zweiten Weltkrieges auf dem Gebiet der heutigen Republik Österreich eingesetzt waren, an den Versöhnungsfonds. Daraus entwickelte sich schließlich jener intensive Kontakt, der auch zu seinem Besuch in Vor­arl­berg führte.

Elmar Hasović

»Bosnische« Vereine in Vor­arl­berg und deren Entstehung Auch wenn die nationalistisch aufgeladenen Konflikte, die durch den Zerfall Jugoslawiens entstanden sind, durch das Verlagern des Fokus’ auf die existenziellen Fragen in der neuen Heimat abgeschwächt wurden – die meisten Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien sind mehr oder weniger gleichgültig gegenüber den politischen Entwicklungen in ihren Herkunftsländern geworden (das war insbesondere während des Krieges im ehem. Jugoslawien nicht der Fall)1 – ist die Vereinslandschaft der hiesigen »Ex-Jugoslawen« auch in Vor­arl­berg durch eine nationale Zersplitterung geprägt, die in den Kriegen der neunziger Jahre des 20. Jahrhundert wurzelt. Diese Trennungslinie ist streng und immanent, sodass es heute keiner Realität entspricht von einer »jugoslawischen Vereinslandschaft« zu sprechen, denn es kommt kaum vor, dass die Angehörigen der einzelnen Nationalitäten Vereinsveranstaltungen besuchen, die nicht eindeutig die eigenen nationalen Vorzeichen tragen. Es existieren also nebeneinander serbische, kroatische und slowenische Vereine. Jugoslawien gibt es nicht mehr, Bosnien hingegen schon. Doch wie realistisch ist es von einer »bosnischen Vereinslandschaft« in Vor­arl­berg zu sprechen  ? Im Unterschied zu jugoslawischen existieren bosnische Vereine zumindest nominell (es gab und es gibt Vereine, die den bosnischen Namen tragen). Dennoch lässt sich das soeben skizzierte und für das gesamte ehemalige Jugoslawien gültige Prinzip der nationalen Zersplitterung wie eine Schablone auch auf jene Migranten übertragen, die aus Bosnien-Herzegowina stammen. Der Unterschied ist, dass hier die ehemals jugoslawische Identität nicht in sechs (Slowenen, Kroaten, Bosniaken, Serben, Montenegriner, Mazedonier),2 sondern in drei Gruppen unterteilt ist (Bosniaken, Kroaten, Serben). 1

Während des Krieges sammelten auch die ex-jugoslawischen Vereine in Vor­arl­berg humanitäre Hilfe und Geldmittel, die auf verschiedensten Wegen in die umkämpften Gebiete geschickt wurden. Insbesondere die von damaligen bosnischen Regierungstruppen (bosniakisch dominiert) kontrollierten Gebiete waren auf solche Hilfe aufgrund der Kräfteverhältnisse angewiesen. Mehr dazu  : Interview mit Džemil Neslanović, 10.2.2014, NesD. 2014-Transkr. Deutsch, vorarlberg museum, Interviewer  : Elmar Hasović. Und  : Isidor Jablanov, Naših 40 godina – 40 godina zajednice srpskih klubova u Forarlbergu [Unsere 40 Jahre – 40 Jahre Dachverband für serbische Vereine in Vor­arl­berg], Feldkirch 2014, S. 243. 2 Die Kosovoalbaner wurden nicht mitberücksichtigt, weil diese nicht dem slawischen Kulturkreis zugerechnet werden und kaum bis gar nicht an den Kultur- und Sportveranstaltungen der jugoslawischen Vereine im Ausland teilgenommen haben.

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Elmar Hasović

Ohne auf die ethnonationalistischen Denk- und Argumentationsmuster näher einzugehen, welche die Dominanz der Ethnopolitik als einer äußerst effi­zienten Herrschafts- und Machttechnik überhaupt erst ermöglichen, kann vereinfacht gesagt werden, dass sich in der »bosnischen Vereinslandschaft« in Vor­arl­berg, auch die kulturologische, ideologische, moralische und jegliche andere Destruktion der komplexen und geteilten bosnisch-herzegowinischen Gesellschaft wiederspiegelt. Hier werden sowohl die ethnonationalistischen Denkmuster, als auch das Nichtvorhandensein einer überethnischen, gesamtbosnisch-herzegowinischen staatlichen Identität sichtbar.3 Religion als Identitätsstifter Die osmanische Herrschaft und das sogenannte »Millet-System«, eine religiös definierte Rechtsordnung,4 prägten durch Jahrhunderte hindurch das ethnisch kollektive Bewusstsein der südslawischen Völker der westlichen Balkanhalbinsel. Die heutige Trennungslinie zwischen Bosniaken, Serben und Kroaten (sowohl in Bosnien-Herzegowina selbst, als auch außerhalb) verläuft daher entlang der religiösen Trennungslinie zwischen Menschen, die dem muslimischen, dem christlich-orthodoxen und dem katholischen Kulturkreis zugeordnet werden. Ein Bosniake ist in der Regel muslimisch, ein Kroate katholisch und ein Serbe christlich-orthodox5 (das sagt natürlich nichts über den tatsächlichen Grad der Religiosität der Einzelpersonen aus). 3

Damit sind nicht nur die staatlichen Strukturen Bosnien und Herzegowinas gemeint, sondern explizit die kollektiven ethnischen und religiösen Identitäten. Zu den staatlichen Strukturen  : Auswärtiges Amt, Bosnien und Herzegowina, [http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/01-Nodes_Uebersichtsseiten/BosnienUndHerzegowina_node. html], Zugriff  : 26.8.2014. 4 Das Millet-System war eine auf dem islamischen Recht beruhende Rechtsordnung, die den Status nichtmuslimischer Religionsgruppen innerhalb des multikonfessionellen osmanischen Gemeinwesens regelte. Bis zum 19. Jahrhundert gab es nur drei anerkannte Glaubensnationen, jedoch stieg deren Anzahl bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs auf 17 an. Die Millets genossen Autonomierechte und unterstanden der jeweiligen kirchlichen Autorität. In ihrem Zuständigkeitsbereich konnten sie eigene Gesetze und Steuern festlegen. Allerdings behielt die herrschende islamische Mehrheit stets die Oberhand. Mehr dazu  : Elmar Hasović, Islamisierung Bosniens – die Ausbreitung des Islam im frühneuzeitlichen Bosnien, Saarbrücken 2011. 5 Den Beweis dafür liefert unter anderem auch die Tatsache, dass sich die Nachfahren der ungarischen, tschechischen, slowakischen oder deutschsprachigen Einwanderer (größtenteils katholisch), die in der Zeit der K. u. K-Verwaltung (1878–1918) nach Bosnien kamen, heute als Kroaten betrachten, die Nachfahren der orthodoxen Roma als Serben. Mehr dazu  : Noel, Malcolm, Povijest Bosne, Zagreb-Sarajevo 1995, S. 107 (dt. Geschichte Bosniens, Frankfurt a. M. 1996).

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Lässt man die nationalmythologischen Konstrukte, die bis ins frühe Mittelalter – oder gar noch weiter, bis in die Zeit der slawischen Besiedlung der Balkanhalbinsel zurückreichen – einmal außer Acht, wurden die wesentlichen Merkmale jener kollektiven Identitäten, die für die in Bosnien-Herzegowina lebenden Ethnien relevant sind, während der Osmanenherrschaft (1463–1878) entwickelt. Die Religion als das wichtigste kollektive Identifizierungsmerkmal hat auch die Versuche des österreichisch-ungarischen Reichsfinanzministers und Gouverneurs von Bosnien-Herzegowina Benjámin von Kállays überdauert, den Expansionsbestrebungen des jungen Königreichs Serbien, aber auch den südslawischen Einigungsbestrebungen,6 eine gemeinsame bosnischen Identität7 jenseits der religiösen Grenzen entgegen zu setzen.

Interessant dazu ist auch das Interview mit Zvonko Valenta, der wegen dem Bosnienkrieg 1993 nach Österreich geflüchtet ist. Seine Großeltern sind aus Tschechien in der Zeit der Habsburger Monarchie nach Bosnien eingewandert. Auf die Frage nach der nationalen Zugehörigkeit bezeichnete er sich als »Pseudokroate«. Mehr dazu  : Interview mit Zvonko Valenta, 22.10.2014, ValZ. 2014 – Transkr. Deutsch, vorarlberg museum, Interviewer  : Elmar Hasović. 6 Malcolm, Povijest Bosne, S. 115–125. 7 Die k. u. k. Verwaltung (Bosnien war zwischen 1878 und 1919 seitens der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie besetzt  – 1908 annektiert) versuchte, die Bezeichnung »Bosniaken« für die gesamte Bevölkerung Bosnien-Herzegowinas als Grundlage einer Nationsbildung einzuführen, scheiterte jedoch am Widerstand der Mehrheit der christlich Orthodoxen und der Katholiken, deren Nationswerdung als Serben beziehungsweise Kroaten bereits begonnen hatte. Auch die muslimischen Eliten zeigten daran wenig Interesse. Der Begriff »Bosniake« (»Bošnjak«) taucht nach der Eroberung Bosniens seitens des Osmanischen Reichs im 15. Jahrhundert auf und entstammt der türkisierten Form »Boşnak«. Für osmanische Autoren waren jedoch nur die muslimischen Bewohner Bosniens als »Bosniaken« zu bezeichnen, während die Nichtmuslime »Reaya« (»die Herde«) oder »Walachen« genannt wurden. Die Muslime Jugoslawiens wurden durch die jugoslawische Verfassung von 1974 als eine eigenständige, den Serben, Kroaten, Slowenen, Mazedoniern und Montenegrinern ebenbürtige Nation anerkannt, allerdings unter dem Namen »Muslime« im nationalen Sinne des Wortes. Inmitten des Bosnienkrieges kam es zu einer Rückbesinnung auf den alten Begriff »Bosniaken«. Seit 1993 wird er in Bosnien-Herzegowina offiziell verwendet und beschreibt damit die Bewohner Bosnien-Herzegowinas muslimischer Herkunft (eine bosniakische Minderheit lebt auch in Montenegro und Serbien)  ; Malcolm, Povijest Bosne, S. 50 f. Für die Ergebnisse der Volkszählung, die Ende 2013 durchgeführt wurde, erwartete man bereits im Vorfeld, dass sich ein nennenswerter Teil der Bevölkerung Bosnien-Herzegowinas als »Bosnier-Herzegowiner« deklariert (der Fragebogen enthielt die Bezeichnungen »Bosniake«, »Kroate« oder »Serbe«. Wer sich dadurch nicht repräsentiert fühlte, hatte die Möglichkeit eine beliebige Zugehörigkeit zu wählen (insbesondere wurde erwartet, dass von diesem Recht hauptsächlich Menschen aus Mischehen Gebrauch sowie und Bosniaken/Muslime, welche die Zugehörigkeit zum Staat vor die Zugehörigkeit zur Ethnie stellen. Je nach Größe dieser Gruppe könnte das im Daytoner Friedensabkommen von 1996 etablierte Proporzsystem zwischen den drei »offiziellen« Ethnien des Landes in Frage stellen. Die Volkszählung ist immer noch nicht vollständig ausgewertet worden  ; Andreas Ernst, »Bosnjak, Serbe, Kroate oder gar Bosnier«, in  :

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Anstelle einer alle drei Religionsgruppen umfassenden bosnischen, nationalen Identität traten im Laufe des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts nichtbosnische Identitäten auf, die außerhalb Bosnien und Herzegowinas entstanden sind (Serbien, Kroatien). Diese umfassten allerdings lediglich die Katholiken (diese identifizierten sich als Kroaten im nationalen Sinne) und die der serbisch-orthodoxen Kirche zugehörigen Menschen (diese identifizierten sich als Serben im nationalen Sinne). Der Großteil der Muslime lehnte es ab, sich einem dieser zwei nationalen Konzepte anzuschließen, zeigte aber auch kein großes Interesse an der Schaffung einer eigenen nationalen Ideologie nach den europäischen Vorbildern des 19. Jahrhunderts, denn sie fühlten sich geistig und ideologisch, auch Jahrzehnte nach dem Abzug der Osmanen, als Teil der »Umma«, der »muslimischen Weltglaubensgemeinschaft«, die bis ins 19. Jahrhundert keine ethnischen, regionalen oder sozialen Unterschiede kennen sollte. Der Begriff »Bosnier« – damals und heute Im Vorkriegsjugoslawien war »Bosnier« ein Begriff, der gegenüber »Slowene«, »Mazedonier«, »Kroate« (aus Kroatien), »Serbe« (aus Serbien) und »Montenegriner« verwendet wurde.8 So wurde beispielsweise ein Kroate aus Bosnien, wenn er sich außerhalb Bosnien und Herzegowinas aufhielt, in der Regel als »Bosnier« bezeichnet. Gleiches galt auch für einen Serben aus Bosnien oder einen Muslim. In Bosnien selbst differenzierten sich die Menschen untereinander meist entlang den über Jahrhunderte etablierten ethnoreligiösen Identitäten. Eine bosnische Identitätsdimension im nationalen Sinne, die alle drei amtlich anerkannten Nationen umfasst hätte (Kroaten, Muslime und Serben) wurde während der kommunistischen Herrschaft in Jugoslawien nicht institutionalisiert. Die Volkszählungen, die zwischen 1945 und 1991 durchgeführt wurden, kannten den Begriff »Bosnier« als eine lediglich regionale Identität9 und keine nationale. Obwohl »Bosnier« ein unifizierender Begriff war, der alle drei Neue Zürcher Zeitung [http://www.nzz.ch/aktuell/startseite/bosnjak-serbe-kroate-­ oder-garbosnier-1.18167448], 4.8.2015. 8 Der vollständige Name Jugoslawiens lautete Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien. Diese setzte sich aus sechs Sozialistischen Republiken (Slowenien, Kroatien, Bosnien und Herzegowina, Serbien, Montenegro und Mazedonien) und zwei autonomen Provinzen innerhalb der Sozialistischen Republik Serbien (Vojvodina und Kosovo) zusammen. 9 Die Sozialistische Republik Bosnien und Herzegowina (der offizielle Name Bosnien-Herzegowinas innerhalb Jugoslawiens) war rechtlich betrachtet den anderen fünf Teilrepubliken Jugoslawiens dennoch gleichgestellt, wurde allerdings als Republik dreier gleichberechtigter Nationen betrachtet, der Serben, der Muslime und der Kroaten.

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ethnoreligiösen Gemeinschaften in Bosnien-Herzegowina umfasste, konnte er niemals die Unterschiede zwischen ihnen überbrücken, wozu er auch nicht gedacht war. Im Kern dieses Phänomens begegnen sich zwei Bedürfnisse der dortigen Menschen  : Erstens der Wunsch die Zugehörigkeit zu voneinander getrennten, wenn auch parallelen ethnoreligiösen Gemeinschaften10 auszudrücken, zweitens der Wunsch, sich durch ein gemeinsames Territorium (Bosnien-Herzegowina) als zusammengehörig zu verstehen, auch eine soziale Umgebung, die durch eine Reihe von Verhaltensregeln definiert war.11 Einige Wissenschaftler haben die These aufgestellt, dass der Prozess der Bildung kollektiver Identität ein Verdrängen heterogener Quellen der Identität seitens einzelner Individuen erfordert. Die heterogenen Identitätsquellen dürfen demnach nicht betont werden.12 In Bosnien und Herzegowina aber haben die Menschen die heterogenen Quellen ihrer Identität (größtenteils Religion) betont, sodass sich eine allumfassende, homogene bosnische Identität weder ideologisch, noch institutionell ausbilden konnte. Die jugoslawische Identität – nur eine Minderheit der Bevölkerung Jugoslawiens deklarierte sich bei der Volkszählung von 1991 als Jugoslawen im nationalen Sinne13 – wiederum war unzertrennlich an den jugoslawischen Staat gebunden. 10 Ein Erbe des osmanischen Millet-Systems und der im 19. Jahrhundert folgenden Nationalisierung der Katholiken und Orthodoxen in Bosnien und Herzegowina als Kroaten beziehungsweise Serben. 11 Tone Bringa, Biti Musliman na bosanski način  : Identitet i zajednica u jednom srednjobosanskom selu, Sarajevo 2009, S. 33–41 (Orig. Being Muslim the Bosnian Way  : Identity and Community in a Central Bosnian Village, Princeton 1995). 12 Marilyn Strathern, Qualified Value  : The Perspective of Gift Exchange, in  : Caroline Humphery/ Stephen Hugh-Jones, Exchange and Value  : An Anthropological Approach, Cambridge 1992, S. 169–191, hier S. 182. 13 In Jugoslawien wurde zwischen einer anerkannten Nation und einer sogenannten Nationalität unterschieden. Jede Volksgruppe, die durch einen Nationalstaat außerhalb Jugoslawiens vertreten war, wurde als Nationalität bezeichnet (z. B. Albaner, Ungarn, Bulgaren). Diese waren den anerkannten Nationen rechtlich gleichgestellt, hatten jedoch kein Anrecht auf eine eigene Teilrepublik innerhalb Jugoslawiens. Daneben gab es noch die sogenannten »ethnischen Gruppen«. Bei regelmäßig durchgeführten Volkszählungen konnten sich die Bürger auch als »Jugoslawen im nationalen Sinne« bezeichnen. Davon machten jedoch nur die wenigsten Gebrauch, sodass der Anteil der Jugoslawen an der Gesamtbevölkerung Jugoslawiens bei der Volkszählung von 1981 gerade mal 5,4 Prozent ausmachte. Das waren in etwa 1,2 Millionen Menschen. Vgl. Jan-Philipp Neetz, Die jugoslawische Nationalitätenpolitik zwischen 1945–1980, in  : Ulf Brunnbauer (Hg.), Multiethnizität leben und gestalten. Eine Studienreise in die Vojvodina, Regensburg 2009, [http://www.uni-regensburg.de/Fakultaeten/PKGG/Geschichte/geschichte-suedost-osteuropa/studium/exkursionen/vojvodina/essays-jugoslawische-nationalitaetenpolitik.html], Zugriff  : 4.8.2015.

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Das durch eine Reihe von gemeinsamen Verhaltensregeln definierte Bewusstsein und die Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen Territorium, zu gemeinsamen sozialen Umgebung aller Menschen aus Bosnien-Herzegowina, wurde schon vor dem Krieg (1992–1995) insbesondere seitens serbischer, aber auch kroatischer politischer Eliten immer wieder geleugnet (teils offen und politisch, teils durch eine Überbetonung der eigenen ethnischen Besonderheit). Die partielle Anerkennung der durch Krieg und ethnische Säuberungen geschaffenen ethnischen Territorialgrenzen, hatte auch eine Institutionalisierung des ethnonationalen Prinzips zur Folge und sogar seine Festschreibung als des wichtigsten Staatsprinzips im Friedensabkommen von Dayton (1996).14 Das geht bis zur offenen Leugnung des bosnisch-herzegowinischen Staates seitens einiger serbischer Politiker in Bosnien-Herzegowina.15 Als der serbisch-kroatische Krieg ums Territorium,16 der 1991 stattfand, 1992 auf Bosnien-Herzegowina übertragen wurde,17 war die Mehrzahl derer, die für ein multikulturelles (und multinationales) Bosnien und Herzegowina eintraten, entweder muslimisch oder es waren Menschen aus Mischehen. Der Begriff »Bosnier« ist eine Synthese historischer und kultureller Erfahrungen aller drei Ethnoreligionen beziehungsweise Nationen, die ein gemeinsames Territorium teilen, auf welchem allerdings die drei unterschiedlichen ethnoreligiösen Identitätsquellen anerkannt und betont wurden. Somit stellt dieser Begriff ganz klar eine Kontradiktion zur nationalistischen Logik, die nach der Niederlage der jugoslawischen Idee von »Brüderlichkeit und Einigkeit« der einzige Spiritus Movens einer politischen Mobilisierung und der Staatsbildung sein konnte. In einem Klima, in welchem die »Logik des Nationalstaates« die politische Szene beherrschte und auch die Dynamik der Geschehnisse, schaffte es eine allumfassende bosnische Identität nicht, zur Grundlage für die Gründung eines neuen Staates zu werden.18 Der Krieg und die ethnischen Säuberungen vertieften zu14 Vedran Džihić, Ethnopolitik in Bosnien-Herzegowina  : Staat und Gesellschaft in der Krise, Baden-Baden 2009, S. 197–203. 15 Zahlreiche Städte, die vor 1992 das Präfix »bosnisch« in ihren Namen trugen, »verloren« diesen während des Krieges auf dem von Serben kontrollierten Gebiet in Bosnien-Herzegowina. So heißt z. B. die Stadt »Bosanski Brod« heute lediglich »Brod«. 16 In Kroatien spricht man von einer Aggression Serbiens gegen die 1991 seitens der UN anerkannte Republik Kroatien, die mit Hilfe der in Kroatien lebenden Serben ausagiert wurde (1991 waren in etwa zwölf Prozent der Gesamtbevölkerung Kroatiens Serben). In Serbien ist man größtenteils nicht dieser Meinung. 17 Einen sehr guten Einblick in diese Problematik bietet die preisgekrönte sechsteilige Dokumentation des BBC und ORF »Der Bruderkrieg – Kampf um Titos Erbe« (Orig. The Death of Yugoslawia). 18 Bringa, Biti Musliman, S. 37.

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sätzlich die Gräben zwischen den drei bosnisch-herzegowinischen Ethnien, den Bosniaken, den Kroaten und den Serben. Bosnische Vereine in Vor­arl­berg Diese Situation spiegelte sich dann eins zu eins auch in Vor­arl­berg wider. Der Beginn des Krieges in Slowenien im Juni 1991, soweit man dieses zehntägige Scharmützel überhaupt als Krieg bezeichnen möchte, brachte auch den stufenweisen Zerfall der damals jugoslawischen Vereinslandschaft in Vor­arl­berg mit sich, deren Vereine innerhalb des Dachverbands Jugoslawischer Vereine in Vor­ arl­berg organisiert waren. Das waren hauptsächlich Sportvereine (größtenteils Fußballvereine), deren Aktivitäten bereits in den 1970ern durch die sogenannte »Jugo-Liga« reglementiert wurden. Daneben existierten auch einige Kultur-und Folklorevereine. Die verschiedenen Dachverbände in den Bundesländern wurden wiederum durch den Koordinationsausschuss der Jugoslawischen Vereine in Österreich zusammengefasst. Dieser Ausschuss arbeitete eng mit der jugoslawischen Botschaft und den Konsulaten zusammen. In Vor­arl­berg wurde nach der Gründung der ersten auch die zweite Jugo-Liga ins Leben gerufen. So hatten der Tabelle aus Juni 1982 nach beide Ligen zusammen 22 Vereine (zehn Vereine in der ersten und zwölf in der zweiten Liga). Die Ligen wiederum waren integriert in den Kultur- und Sportverein der jugoslawischen Arbeiter in Vor­arl­berg, welcher als Dachverband fungierte.19 Ganz im Geiste der jugoslawischen Idee von »Brüderlichkeit und Einigkeit« wurden die Vereine entweder nach bekannten Flüssen und Bergen Jugoslawiens oder nach Städten benannt, aus denen viele der Gastarbeiter in Vor­arl­berg kamen. Damit sollten sie für alle damals existierenden jugoslawischen Nationalitäten und nationalen Minderheiten repräsentativ sein. Ausnahmen bildeten Vereine wie die Vojvodina20 oder Bosna (Bosnien), nachdem Bosnien, wie erwähnt, zwar eine der sechs sozialistischen Republiken Jugoslawiens war, aber keine ethnische oder nationale Identitätsdimension hatte. Der Begriff »Bosnier« wurde meist lediglich als eine regionale Identität betrachtet. Somit galt diese Bezeichnung eines der Vereine für alle aus Jugoslawien stammenden Menschen als tragbar. 19 Jablanov, Naših 40 godina, S. 121. 20 Die Vojvodina, zu Deutsch auch Wojwodina oder Woiwodina, liegt an der Grenze Serbiens zu Ungarn und war eine der zwei autonomen Provinzen innerhalb der Sozialistischen Republik Serbien (die zweite autonome Provinz innerhalb Serbiens war Kosovo). Vojvodina ist heute, wie auch damals, Heimat vieler verschiedener Nationalitäten und nationaler Minderheiten, unter anderen auch von Ungarn, Bulgaren, Deutschen, Russen, Roma, Rumänen und Slowaken und trägt keinen nationalen Namen.

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Elmar Hasović

Als im Juni 1991 Slowenien aus dem jugoslawischen Staatsverband ausschied, verließen auch die slowenischen Vereine den Jugoslawischen Dachverband und die Jugo-Liga. Als kurz darauf auch die kroatischen Vereine gingen, war das noch kein größeres Problem für das Funktionieren der Jugo-Liga und des Dachverbandes an sich, da die meisten Vereine, so wie auch die meisten jugoslawischen Gastarbeiter in Vor­arl­berg, einen serbischen oder bosnisch-herzegowinischen Hintergrund hatten.21 Erst der Krieg in Bosnien-Herzegowina (1992) bedeutete das Ende – sowohl der Liga, als auch des Dachverbands, zumindest in seiner ursprünglich jugoslawischen Form.22 Während der jugoslawische Dachverband von 27 Vereinen Ende der 1990er Jahre auf 17 Vereine schrumpfte (Vereine aus Serbien und Montenegro blieben, ebenso ein Verein aus Mazedonien, der allerdings bereits 1993 aufhörte, zu existieren) und somit zu einer Dachorganisation wurde, die überwiegend Menschen serbischer, zu einem kleinen Teil auch montenegrinischer Herkunft umfasste,23 organisierten sich die Bosnier, besser gesagt die Bosniaken, wie zuvor bereits die Kroaten, neu. Trotz der Tatsache, dass bereits seit April 1992 an vielen Orten in Bosnien und Herzegowina Kämpfe stattfanden, wurde Ende Mai 1992 noch der letzte Pokalwettbewerb der Jugo-Liga in Vor­arl­berg abgehalten. Dieser fand zu Ehren des jugoslawischen Feiertags »Tag der Jugend« statt.24 So kann ironischerweise der Tag, an welchem der Geburtstag25 des ersten jugoslawischen Staats- und Parteichefs Josip Broz Tito gefeiert wurde, sozusagen als der Todestag der Jugo-Liga und des jugoslawischen Dachverbands in Vor­arl­berg bezeichnet werden. 21 Der Volkszählung aus 2001 nach stammte der Großteil der »Jugo-Österreicher« aus Serbien und Montenegro (132.925), Bosnien-Herzegowina (108.047) und Kroatien (60.650). Auf Slowenien entfielen lediglich 6.893 Personen. In Vor­arl­berg waren zu dieser Zeit rund 31 Prozent aller Ex-Jugoslawen aus Serbien (mit der Vojvodina), 25 Prozent aus Bosnien-Herzegowina, 18 Prozent aus Kroatien, zwölf Prozent aus Slowenien, sechs Prozent aus dem Kosovo, zwei Prozent aus Montenegro und lediglich ein Prozent aus Mazedonien. Vgl. dazu den Beitrag von Petar Dragišić, Ausländer, Österreicher, Vor­arl­berger. Zuwanderer aus dem ehemaligen Jugoslawien in Vor­arl­berg, im vorliegenden Band. 22 Details im Interview mit Isidor Jablanov, 26.6.2013, JabI. 2013-Transkr. Deutsch, vorarlberg museum, Interviewer  : Elmar Hasović. 23 Dieser Verband existiert heute unter der Bezeichnung Dachverband Serbischer Vereine. 24 Jablanov, Naših 40 godina, S. 243. 25 Der Geburtstag Titos wurde mit Staffelläufen, an denen Hundertausende Jugendliche beteiligt waren, gefeiert. Ab 1957 erhielt der 25. Mai die Bezeichnung »Tag der Jugend« (»Dan Mladosti«). Es fanden jugoslawienweit Kultur- und Sportveranstaltungen statt und in Anlehnung an diese Tradition organisierte der Kultur- und Sportverein der jugoslawischen Arbeiter auch in Vor­arl­berg verschiedene Manifestationen, die nicht nur inhaltlich und dekorativ, sondern auch durch den politischen Beiklang an die Programme in Jugoslawien selbst erinnerten.

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Der starke Zustrom von Flüchtlingen aus Bosnien und Herzegowina (zwischen 1992 und 1995 kamen zirka 90.000 Flüchtlinge aus Bosnien und Herzegowina nach Österreich) begünstigte und beschleunigte das Entstehen bosniakischer und  – zumindest nominell  – bosnischer Vereinigungen, bildete allerdings nicht den Startschuss dafür. So wie die Auflösung Jugoslawiens nicht von einem auf den anderen Tag vollzogen wurde, sondern durch längerfristige Desintegrationsprozesse begleitet wurde, haben auch die Bosniaken (zu dieser Zeit »Muslime« im nationalen Sinne) in Vor­arl­berg nicht bis zum definitiven Ausscheiden Bosnien und Herzegowinas aus dem jugoslawischen Staatsverband im April 1992 gewartet, um mit der Selbstorganisation zu beginnen. Bereits im November 1990 wurde hier der erste bosniakische Verein gegründet. Die Vorläuferorganisation der heutigen Bosniakisch-muslimischen Gemeinschaft Vor­arl­berg spiegelte in ihrem Namen den Istzustand der politischen Situation in Jugoslawien dieser Zeit wieder  : Demokratische Gemeinschaft der jugoslawischen Muslime in Vor­arl­berg.26 Bosnien und Herzegowina war zu dieser Zeit noch ein Teil Jugoslawiens und die Bosniaken wurden noch als Muslime im nationalen Sinne bezeichnet, denn der Rückbesinnungsprozess auf den alten Begriff »Bošnjak«, welcher 1989 eingeleitet wurde, erfolgte offiziell erst inmitten des Krieges Anfang 1993. Der bereits erwähnte Zustrom der Flüchtlinge, die zum größten Teil Bosniaken waren, und der Zerfall der Jugo-Liga Ende Mai 1992, führte sogar zur Gründung einer bosnischen Fußballliga in Vor­arl­berg. Diese Liga umfasste zeitweilig zwölf Vereine. Die Namen der Vereine erinnerten an Ortschaften, Regionen, Flüsse oder Berge in Bosnien-Herzegowina. Allerdings existierte in Bludenz ein Verein mit dem Namen FC Sarajevo 92. Wobei die Zahl den Beginn des Krieges in Bosnien-Herzegowina 1992 symbolisierte. Es gab auch den FC Bihać, benannt nach der größten Stadt der nordwestbosnischen Region Cazinska Krajina, aus welcher die meisten Bosniaken Vor­arl­bergs stammen, oder den FC Unski Biseri (zu Deutsch  : Die Perlen der Una), benannt nach dem schönsten Fluss der obgenannten Region, oder gar den FC Krajišnik (zu Deutsch  : ein Mann aus der Krajina Region). Die hohe Konzentration an bosniakischen Flüchtlingen in Vor­arl­berg – darunter auch bosnische Kroaten – ermöglichte ein gutes Funktionieren dieser bosnisch-herzegowinischen Liga. Für viele Menschen war Fußball, oder allgemein die Aktivität in diesen Vereinen, sicherlich auch eine Art Ventil, um Frustrationen und Traumata vielleicht nicht zu bewältigen, aber zumindest für eine Weile zu verdrängen und zu vergessen. Diverse Veranstaltungen, wie Fußballturniere, wurden aber auch genutzt, um humanitäre Hilfe für das vom 26 Interview mit Husejin Begić, 12.9.2014, BegH. 2014-Transkr. Deutsch, vorarlberg museum, Interviewer  : Elmar Hasović.

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Elmar Hasović

Krieg immer stärker betroffene Land zu sammeln. Das Ende dieser Liga kam nicht unmittelbar nach dem Kriegsende Ende 1995. Aber als sich nach drei, vier Jahren die Lage stabilisiert hatte, kehrten viele junge Menschen zurück. Einige der ehemals bosnischen Flüchtlinge (größtenteils Bosniaken) zogen weiter  – nach Amerika, sogar bis nach Australien. Andere wiederum wurden langsam zu alt für Wettbewerbe, sodass die Liga Anfang der 2000er Jahre nur noch aus vier Mannschaften bestand, die sich zu kleineren Turnieren zusammenfanden. Heute besteht auch diese Liga nicht mehr.27 Neben der Bosniakisch-Muslimischen Gemeinschaft Vor­arl­berg in Feldkirch existieren noch zwei andere bosniakische Vereinigungen mit weitenteils religiösem Charakter (auch wenn sie andere Aufgaben ebenso wahrnehmen, z. B. die Organisation sportlicher Veranstaltungen), nämlich der Kultur-und Sportverein Glaubensgemeinschaft Izet Nanić28 mit Gebetsräumen in Dornbirn und ein bosniakisch-muslimischer Verein, der sich derzeit in Bludenz etabliert und aus der Bosniakisch-Muslimischen Gemeinschaft Vor­arl­berg hervorgegangen ist. Die Bosniakisch-Muslimische Gemeinschaft Vor­arl­berg in Feldkirch baut seit November 2012 in Kooperation mit der Gemeinde an einem Bosnischen Kulturzentrum in Rankweil. Dieses Gebäude  – entworfen von einer österreichischen Architektin – wird sowohl einen muslimischen Gebetsraum, als auch Seminarräume, eine Bibliothek sowie Räumlichkeiten für Jugend- und Tanzgruppen beinhalten. Neben diesen drei Vereinen gibt es noch die Bosnische Trachtengruppe  – Most,29 deren Augenmerk überwiegend bosniakischer Folklore gilt. Die Räumlichkeiten dieser Trachtengruppe befinden sich in Dornbirn. Während ein Teil der Kroaten aus Bosnien-Herzegowina zumindest während des Krieges noch keine Berührungsschwierigkeiten hatte mit Vereinen, die sich in Vor­arl­berg als bosnisch bezeichnen (abgesehen von bereits erwähnten Vereinen, deren religiöses Engagement lediglich die muslimische Glaubenstradition umfasst), engagierten und engagieren sich die Serben aus Bosnien-Herzegowina ausschließlich in Vereinen unter serbischem Vorzeichen. In diesen Vereinen versammeln sich größtenteils Menschen aus Serbien sowie Serben aus Bosnien-Herzegowina. 27 Ausführlich dazu  : Interview mit Džemil Neslanović, 10.2.2014, NesD. 2014-Transkr. Deutsch, vorarlberg museum, Interviewer  : Elmar Hasović. 28 Izet Nanić war ein ehemaliger Offizier der Jugoslawischen Volksarmee, der sich zu Beginn des Krieges der bosnischen Armee in der bereits erwähnten nordwestbosnischen Region Cazinska Krajina anschloss. Er fiel in den letzten Kriegstagen an der Front und ist sehr populär bei den Bosniaken dieser Region. 29 »Most« ist das bosnische/kroatische/serbische Wort für »Brücke«.

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Bosnische Trachtengruppe – Most auf dem Fest der Kulturen in Rankweil (Foto  : Marktgemeinde Rankweil)

Was ist mit Menschen, die sich in einer ethnisch homogenen und somit auch ausschließenden Umgebung nicht wohl fühlen  ? Was mit Menschen aus gemischten Ehen, die sich nicht eindeutig für eine Seite entschieden haben  ? Diese haben eben keinen Raum, um jenes bosnisch-herzegowinische Kulturwesen zu pflegen, dessen Zersplitterung entlang der ethnisch-religiösen Grenzen auch in Vor­arl­berg zur politischen Realität gehört.

Petar Dragišić

Ausländer, Österreicher, Vor­arl­berger Zuwanderer aus dem ehemaligen Jugoslawien in Vor­arl­berg

Die politischen und wirtschaftlichen Turbulenzen in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts markierten einen Wendepunkt in der Geschichte des sozialistischen Jugoslawien. Die ethnischen Spannungen, die sogar die kommunistische Parteispitze erschütterten, gipfelten in der Forderung nach Umgestaltung der föderativen Struktur des zweiten Jugoslawien. Außerdem konnte die Mitte der 1960er Jahre durchführte Reform das unflexible Wirtschaftssystem des Tito-Staates nicht in Schwung bringen. Eine der weitreichendsten Konsequenzen der gescheiterten Wirtschaftsreform war verstärkter Druck auf dem jugoslawischen Arbeitsmarkt, der die größte Auswanderungswelle in der Geschichte Jugoslawiens auslöste.1 Bereits 1964 belief sich die Zahl der im Ausland beschäftigten Jugoslawen auf circa 100.000. In den folgenden Jahren stieg die Zahl der jugoslawischen Gastarbeiter kontinuierlich, um im Jahr 1973 ihren Höhepunkt zu erreichen (1,1 Million). Die Stagnation 1

Zur Problematik der Gastarbeiter-Emigration aus dem ehemaligen Jugoslawien siehe u. a. Othmar Nikola Haberl, Die Abwanderung von Arbeitskräften aus Jugoslawien, München 1978  ; Ivo Baučić, Social Aspects of External Migration of Workers and the Yugoslav Experience in the Social Protection of Migrants, Zagreb 1975  ; Ulf Brunnbauer, Jugoslawische Geschichte als Migrationsgeschichte (19. und 20. Jahrhundert), in  : Ulf Brunnbauer/Andreas Helmedach/ Stefan Troebst (Hg.), Schnittstellen. Gesellschaft, Nation, Konflikt und Erinnerung in Südosteuropa. Festschrift für Holm Sundhaussen zum 65. Geburtstag, München 2007, S. 111–132  ; Ulf Brunnbauer, Emigration aus Südosteuropa, 19.–21. Jahrhundert. Kontinuitäten, Brüche, Perspektiven, in  : Emil Brix/Arnold Suppan/Elisabeth Vyslonzil (Hg.), Südosteuropa. Traditionen als Macht, Wien-München 2007, S. 119–142  ; Vladimir Ivanović, Geburtstag pišeš normalno  : jugoslovenski gastarbajteri u SR Nemačkoj i Austriji  : 1965–1973, Beograd 2012  ; Ivana Dobrivojević, U potrazi za blagostanjem. Odlazak jugoslovenskih radnika na rad u zemlje Zapadne Evrope 1960–1976, in  : Istorija 20. veka 2 (2007), S. 89–101  ; Waltraut Urban, Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Österreich und Jugoslawien 1955–1985, in  : Otmar Höll (Hg.), Österreich – Jugoslawien  : Determinanten und Perspektiven ihrer Beziehungen, Wien 1988, S. 255–321  ; Ulrich Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge, München 2001  ; Sara Bernard, Il ritorno dei gastarbejteri  nella politica migratoria della Jugoslavia socialista (1969–1991), in  : Percorsi Storici 1 (2013), [http://www.percorsistorici.it/numeri/numero-1/titolo-e-indice/saggi/sara-bernard-il-­ ritorno-­dei-gastarbajteri-nella-politica-migratoria-della-jugoslavia-socialista-1969-1991], Zugriff  : 5.8.2014.

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Petar Dragišić

des Auswanderungsprozesses aus Jugoslawien überschnitt sich mit der restriktiven Einwanderungspolitik in den wichtigsten westeuropäischen Aufnahmeländern nach der Ölkrise 1973. Im Jahr 1977 schätzte das jugoslawische Komitee für Arbeit und Beschäftigung (Savezni komitet za rad i zaposljavanje) die Zahl der im Ausland beschäftigten Jugoslawen auf rund 800.000.2 Die nächste massive Auswanderungswelle aus dem jugoslawischen Raum begann Anfang der 1990er Jahre, als infolge des dramatischen Zusammenbruchs Jugoslawiens und der darauf folgenden Kriege im ehemaligen Jugoslawien viele Staatsbürger der Nachfolgestaaten Jugoslawiens im Ausland Unterschlupf fanden. Typisch für die Auswanderung der 1960er und frühen 70er Jahre war die überproportional große Zahl von jugoslawischen Gastarbeitern in den deutschsprachigen Ländern und zwar vor allem in der Bundesrepublik Deutschland. Im Jahr 1973 schätzte das jugoslawische Komitee für Arbeit und Beschäftigung den Anteil der in der Bundesrepublik Deutschland, Österreich und der Schweiz beschäftigten Jugoslawen an der Gesamtzahl der jugoslawischen Gastarbeiter auf rund 70 Prozent.3 Jugoslawische Gastarbeiter in der Bundesrepublik Deutschland, Österreich und der Schweiz 1973/1977 (in 1.000)4 1200 1000 800

1000 825

600

535

195

200 0

1973 1977

360

400

Jugoslawische Gastarbeiter (insgesamt)

BRD

120

Österreich

35

25

Schweiz

 

2 Arhiv Jugoslavije (im Folgenden AJ), Socijalistički savez radnog naroda Jugoslavije (142), f-740(a), Savezni komitet za rad i zapošljavanje, Izveštaj o ostvarivanju politike zapošljavanja, zapošljavanja u inostranstvu i postepenog vraćanja jugoslovenskih građana sa privremenog rada u inostranstvu u 1977, godini, mart 1978. godine. 3 Ebd. 4 Ebd.

Ausländer, Österreicher, Vor­arl­berger 

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Jugoslawische Arbeiterin in einem Vor­arl­berger Textilunternehmen, 1982 (Foto  : Nikolaus Walter)

Die Auswanderung aus dem sozialistischen Jugoslawien war zum Teil ein kontrollierter Prozess. Bereits in der Anfangsphase der Arbeitsmigration zielte das kommunistische Regime in Jugoslawien darauf ab, diesen Vorgang zu steuern, um im Zuge dessen die eigenen wirtschaftlichen Interessen durchzusetzen.5 Die Regierung in Belgrad versuchte, den Auswanderungsprozess sowohl durch interne Maßnahmen, als auch durch bilaterale Verträge mit den wichtigsten Aufnahmeländern zu regeln. Das Abkommen über die Regelung der Beschäftigung jugoslawischer Dienstnehmer in Österreich zwischen der Föderativen Volksrepublik Jugoslawien und der Republik Österreich wurde 1965 geschlossen. Das Abkommen teilte die Vermittlung jugoslawischer Arbeitskräfte nach Österreich dem jugoslawischen Arbeitsamt zu. Dennoch wurde nur eine Minderheit der in Österreich beschäftigten Arbeitssuchenden aus Jugoslawien vom jugoslawischen Arbeitsamt vermittelt.6 In der Gastarbeiter-Phase der Auswanderung aus Jugoslawien (von den 60er Jahren bis zum Zerfall Jugoslawiens) gehörte Österreich zu den beliebtesten europäischen Zielländern für Arbeitssuchende aus Jugoslawien. Zum rasanten 5 6

AJ, 142, f-475, Savezni savet za rad, Neki elementi politike zapošljavanja u inostranstvu, novembar 1970. Ivanović, Geburtstag pišeš, S. 131–136.

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Petar Dragišić

Anstieg der Zahl der jugoslawischen Zuwanderer in Österreich kam es in den 1960er Jahren. Während Anfang dieses Jahrzehnts die Jugo-Community in Österreich noch kaum bemerkbar war, lebten 1971 nahezu 100.000 jugoslawische Staatsbürger im Land. Zwanzig Jahre später, im Jahr des Zerfalls Jugoslawiens, betrug die Zahl der Zuwanderer aus Jugoslawien in Österreich fast 200.000.7 Jugoslawische Staatsbürger in Österreich 1961–19918

197886

125890 93337

4565 1961

1971

1981

1991

 

In den 1990er Jahren wurde Österreich infolge der prekären Lage im ehemaligen Jugoslawien von einer neuen Einwanderungswelle aus dem jugoslawischen Raum betroffen. Die von der Statistik Austria im Jahr 2001 durchgeführte Volkszählung ergab sogar rund 320.000 Staatsbürger der Nachfolgestaaten Jugoslawiens in Österreich.9 Zehn Jahre später (Volkszählung 2011) war die Zahl der Staatsbürger der Nachfolgestaaten (ohne Slowenien) in Österreich wieder niedriger – zirka 294.000.10 Der überwiegende Teil der Jugo-Österreicher stammt aus Serbien und Montenegro, Bosnien und Herzegowina sowie aus Kroatien.

  7 Statistik Austria, Volkszählung 2001. Textband. Die demografische, soziale und wirtschaftliche Struktur der österreichischen Bevölkerung, Wien 2007, S. 215 f.  8 Ebd.  9 Ebd. 10 Statistik Austria, Volkszählung 2011. Bevölkerung 2011 nach detaillierter Staatsangehörigkeit, Geschlecht und Bundesland.

Ausländer, Österreicher, Vor­arl­berger 

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Migranten aus dem ehemaligen Jugoslawien in Österreich 2001 (nach Herkunftsländern)11 Serbien und Montenegro

132.925

Bosnien und Herzegowina

108.047

Kroatien

60.650

Mazedonien

13.696

Slowenien

6.893

Insgesamt

322.261

Die Mehrheit der Zuwanderer aus dem ehemaligen Jugoslawien ließ sich in Wien nieder. Laut der österreichischen Volkszählung von 2011 leben in der österreichischen Hauptstadt rund 120.000 Staatsbürger der Nachfolgestaaten Jugoslawiens. Im Vergleich zu Wien ist die Zahl der Jugo-Migranten in Vor­arl­ berg wesentlich kleiner. Die Volkszählung 2011 ergab zirka 10.000 Staatsbürger der Nachfolgestaaten Jugoslawiens im westlichsten Bundesland Österreichs. Das Gros der Jugo-Zuwanderer in Vor­arl­berg stammt aus Serbien (rund 4.000) und Bosnien und Herzegowina (zirka 3.700).12 Staatsbürger der Nachfolgestaaten Jugoslawiens (ohne Slowenien) in Österreich nach Bundesländern (2011)13 Serbien Burgenland

Bosnien und Herzegowina

Kroatien

Mazedonien

Montenegro

Kosovo

827

952

868

153

8

1.753

7.442

4.630

233

28

370



10.015

11.338

4.885

4.068

56

1.824



10.456

19.142

9.309

3.381

113

3.208

6.903

11.327

5.150

986

19

835

Kärnten

Salzburg

179

Steiermark

3.471

9.352

9.549

895

39

1.695

Tirol

5.331

6.405

4.345

161

47

248

Vor­arl­berg

4.042

3.714

1.825

257

62

172

Wien Insgesamt

68.289

18.432

16.797

8.492

299

2.847

111.087

88.104

57.358

18.626

671

11.378

11 Statistik Austria, Volkszählung 2001. Textband, S. 215 f. 12 Statistik Austria, Volkszählung 2011. Bevölkerung. 13 Ebd.

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Petar Dragišić

Jugoslawischen Quellen zufolge ließen sich in der Gastarbeiter-Phase der jugoslawischen Emigration weniger als zehn Prozent der nach Österreich zugewanderten Ex-Jugoslawen in Vor­arl­berg nieder. Im Jahr 1977 arbeiteten in Vor­arl­berg rund 10.000 Zuwanderer aus Jugoslawien. Ein Spezifikum dieser Gastarbeiter-Community in Vor­arl­berg war ihr großer Anteil in der Textilindus­trie (sogar 60 Prozent). Wesentlich weniger Jugoslawen arbeiteten damals im Gast- und Baugewerbe sowie in der Metallindustrie. Die überwiegende Mehrheit der jugoslawischen Gastarbeiter stammte 1977 aus den größten Bundesländern Jugoslawiens – 30 Prozent aus Bosnien und Herzegowina, 25 aus Zentralserbien (ohne die Vojvodina und den Kosovo) und 18 Prozent aus Kroatien.14 Jugoslawische Gastarbeiter in Vor­arl­berg nach Herkunftsländern 1977 (in Prozent)15 35 30

30 25

25 20

18

15

%

12

10

6

6

5

2

0 BIH

Serbien

Kroatien

Slowenien

Vojvodina

Kosovo

1

Mazedonien Montenegro

 

Die jugoslawischen Gastarbeiter die in den 1960er und 70er Jahren nach Österreich kamen, bildeten den Kern der jugoslawischen Community in Vor­arl­berg. Die Pioniere der Jugo-Emigration kehrten – von wenigen Ausnahmen abgesehen – nicht dauerhaft in ihr Herkunftsland zurück. Stattdessen holten sie ihre Familien nach. Bereits Anfang der 70er Jahre wurde der muttersprachliche Ergänzungsunterricht für Nachkommen der jugoslawischen Zuwanderer in Vor­ arl­berg organisiert. 655 Kinder jugoslawischer Herkunft nahmen im Schuljahr 1977/1978 an diesem Sonderunterricht teil.16 14 AJ, 142, 277, Austrija – Kretanja na tržistu rada, zaposlenost i zapošljavanje. 15 Ebd. 16 AJ, 142, f-276, Ambasada SFRJ Beč, Godišnji izveštaj o dopunskoj nastavi na maternjem jeziku za decu naših građana u Austriji za 1977. Godinu. Einem Bericht von Eva Grabherr zufolge,

Ausländer, Österreicher, Vor­arl­berger 

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Die Volkszählung 2001 zählte in Vor­arl­berg 14.995 Staatsbürger der Nachfolgestaaten Jugoslawiens (ohne Slowenien). Die zehn Jahre später durchgeführte Volkszählung ergab eine wesentlich kleinere Zahl von Staatsbürgern aus jugoslawischen Nachfolgestaaten (ohne Slowenien) in Vor­arl­berg – nämlich 10.255 Personen.17 In einer Analyse der Volkszählung 2011 führte die Statistik Austria vier Ursachen für den Rückgang der Zahl der Zuwanderer mit Staatsangehörigkeit der Türkei und der Nachfolgestaaten Jugoslawiens in Vor­arl­berg an  : »Gründe dafür sind hohe Einbürgerungszahlen in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrzehnts und eine durch die restriktive Gesetzgebung gebremste Neuzuwanderung aus den traditionellen Gastarbeiter-Staaten. Außerdem spielen bei dieser Entwicklung auch die Rückkehr in das Herkunftsland und der Tod älterer Migrantinnen und Migranten eine Rolle.«18

Zwischen 1995 und 2010 ließen sich, österreichischen Statistiken zufolge, nahezu 7.000 Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien in Vor­arl­berg einbürgern. Damit übersteigt die Zahl der Vor­arl­berger mit Migrationshintergrund der Nachfolgestaaten Jugoslawiens jene der in Vorarlberg eingebürgerten Menschen mit ebensolchem Hintergrund. Laut der Volkszählung 2001 gaben 16.544 Vor­arl­berger Bosnisch, Kroatisch oder Serbisch als Umgangssprache an (9.156 Serbisch, 5.752 Kroatisch, 1.636 Bosnisch). Von diesen BKS-sprachigen Zuwanderern besaßen 2.881 Personen die österreichische Staatsbürgerschaft (201 Bosnischsprachige, 1.196 Kroatischsprachige, 1.484 Serbischsprachige).19 Heute sind die Staatsbürger der Nachfolgestaaten Jugoslawiens hinter den Deutschen und Türken die drittgrößte Migrantengruppe in Vor­arl­berg. Die Migranten aus dem ehemaligen Jugoslawien leben in allen vier Bezirken Vor­ arl­bergs. Ein Drittel der Jugo-Migranten lebt heute im Bezirk Bregenz, je ein Viertel in den Bezirken Feldkirch und Dornbirn. Nur 16 Prozent der Einwanderer aus Jugoslawien leben in Bludenz.20 wurde später (2006) dieser Unterricht ausschließlich in kroatischer Sprache angeboten  ; Eva Grabherr, Integrationsarbeit in Vor­arl­berg. Strukturen, Angebote und die Landschaft der Akteure, Dornbirn 2006, S. 21. 17 Statistik Austria, Volkszählung 2001. Textband, S. 215  ; Statistik Austria, Volkszählung 2011. Bevölkerung. 18 Statistik Austria, Census 2011 Vor­arl­berg. Ergebnisse zur Bevölkerung aus der Registerzahlung, Wien 2013, S. 50. 19 Aktuelle Beschreibung Vor­arl­bergs als Gesellschaft mit Zuwanderung [http://www.okay-line. at/file/656/Aktuelle%20Beschreibung%20Vor­arl­bergs%20als%20Gesellschaft%20mit%20Zu wanderung-2013.pdf ], Zugriff  : 5.8.2014. 20 Ebd.

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Petar Dragišić

Ex-jugoslawische, türkische und deutsche Staatsbürger in Vor­arl­berg nach Bezirken per 31. Dezember 2010 (in Prozent)21 50

47

45 40

35

35

15 10

25 25

24

25 20

33

31

30

16

23

16

15

Nachfolgestaaten Jugoslawiens Türkei Deutschland

11

5 0

Bludenz

Bregenz

Dornbirn

Feldkirch

 

Bei Migrationsdebatten steht fast immer das Thema Integration im Mittelpunkt. In der Regel stellt die Integration der Zuwanderer in eine Aufnahmegesellschaft einen langen Prozess dar, der sich über mehrere Generationen erstreckt. Naturgemäß sind jüngere Generationen im Vergleich zu ihren Vorfahren integrationsfähiger. Die Ergebnisse des Projekts »The Integration of the European Second Generation« (TIES) deuten auf Fortschritte bei der Integration der zweiten Generation der Zuwanderer aus dem ehemaligen Jugoslawien in Vor­arl­berg hin. Auf die Frage nach dem Zugehörigkeitsgefühl antworteten 57 Prozent dieser in Vor­arl­berg befragten Migranten der zweiten Generation, dass sie sich stark beziehungsweise sehr stark als Österreicher fühlten. Auf der anderen Seite war der Zahl der Befragten, die auf die gleiche Frage mit »gar nicht« antworteten auffallend klein – sie betrug nur drei Prozent.22 Zugleich weist die TIES-Studie darauf hin, dass die überwiegende Mehrheit der in Vor­arl­berg lebenden ex-jugoslawischen Zuwanderer der zweiten Generation nicht an eine Rückkehr in die Heimat ihrer Eltern denkt. Sogar 70 Prozent der befragten Personen jugoslawischer Herkunft sprachen sich gegen die Möglichkeit aus, in Zukunft länger als ein Jahr in der Heimat ihrer Eltern zu leben. Nur drei Prozent der Befragten erklärten sich mit Sicherheit bereit, in das Herkunftsland ihrer Vorfahren zurückzukehren.23 21 Ebd. 22 Eva Grabherr/Simon Burtscher-Mathis, Zweiheimisch als Normalität – zu indentitären und kulturellen Dimensionen der Integration der 2. Generation in Vor­arl­berg, Ties-Vor­arl­berg/Papier 3, Dornbirn 2012, S. 3. 23 Ebd, S. 25.

Ausländer, Österreicher, Vor­arl­berger 

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Absicht im Herkunftsland der Eltern länger als ein Jahr zu leben24 80 70

70

60 50 40

%

30 20

15

10

5

0 ausgeschlossen

vielleicht

3

4

4

mit Sicherheit keine Angabe wahrscheinlich weiß nicht

 

Die Befunde des TIES-Projektes zur Sprachkompetenz der zweiten Generation der Ex-Jugoslawen in Vor­arl­berg und zu deren Sprachverwendung weisen ebenfalls auf einen relativ hohen Integrationsstand der Nachkommen der Zuwanderer aus dem ehemaligen Jugoslawien hin. Die Studie ergab, dass sogar 85 Prozent der zweiten Generation der Ex-Jugoslawen in Vor­arl­berg ihre Deutschkenntnisse (Sprechkompetenz) als ausgezeichnet (61 Prozent) beziehungsweise sehr gut (24 Prozent) bezeichneten. Nur 15 Prozent der Befragten schätzten ihre Sprechkompetenz in deutscher Sprache als gut oder mittelmäßig ein.25 Auffallend ist auch die dominante Rolle der deutschen Sprache im Alltagsleben der zweiten Generation dieser Migranten in Vor­arl­berg. Laut Ergebnissen des TIES-Projektes verwendet die überwiegende Mehrheit der befragten Ex-­ Jugoslawen in Kommunikation mit ihren Partnern, Freunden und Geschwistern die deutsche Sprache. Nur mit ihren Eltern kommunizieren junge Vor­arl­berger ex-jugoslawischer Herkunft überwiegend in ihrer Muttersprache. Darüber ­hinaus lassen die Befunde des Projektes darauf schließen, dass Angehörige der zweiten Generation der Ex-Jugoslawen Deutsch häufiger verwenden als Befragte mit türkischem Migrationshintergrund.26 Die Umfrage zum Thema Medienkonsum im Rahmen des TIES-Projektes bestätigt ähnlich die Integration der zweiten Generation jugoslawischer Einwanderer in ihre österreichische Umgebung. Sogar 81 Prozent der Befragten 24 Ebd. 25 Ebd, S. 17. 26 Ebd., S. 19.

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Petar Dragišić

gaben an, nur deutschsprachige oder mehrheitlich deutschsprachige Sender zu sehen. Im Vergleich zu den Ex-Jugoslawen ist der Prozentsatz der türkischen Migranten zweiter Generation in Vor­arl­berg, die nur deutschsprachige oder mehrheitlich deutschsprachige Sender sehen, deutlich geringer – 29 Prozent. Nur ein Prozent dieser Vor­arl­berger ex-jugoslawischer Herkunft sieht mehrheitlich herkunftssprachliche Sender.27 Trotz der deutlichen Fortschritte bei der Integration der zweiten Generation der Migranten aus dem ehemaligen Jugoslawien in Vor­arl­berg gelingt es ihnen noch nicht, das Bildungsniveau der autochthonen Bevölkerung zu erreichen, was ihre soziale Mobilität in der neuen Heimat erschwert. Obwohl die Mehrheit der im Rahmen der TIES-Projektes befragten Ex-Jugoslawen angaben, dass das österreichische Bildungssystem allen die gleichen Chancen bietet, steht fest, dass das Gros der Nachkommen der ersten Generation der Vor­arl­berger aus dem ehemaligen Jugoslawien diese Chance nicht nutzte.28 Das TIES-Projekt ergab, dass nur acht Prozent der Ex-Jugoslawen zweiter Generation nach der Volksschule die Allgemeinbildende Höhere Schule (Unterstufe) absolvierten. Der Prozentsatz der Vor­arl­berger ohne Migrationshintergrund, die diese Schulform wählten, ist wesentlich höher – er liegt bei 25 Prozent. Im Bereich der tertiären Bildung ist dieser Unterschied noch größer. Während elf Prozent der Personen ohne Migrationshintergrund in Vor­arl­berg eine tertiäre Bildung erhielten, erreichten nur zwei Prozent der zweiten Generation ex-jugoslawischer Herkunft einen solchen Abschluss.29 Die Ergebnisse der rezenten Meinungsumfragen indizieren eine relativ gelungene Integration der zweiten Generation der Zuwanderer aus dem ehemaligen Jugoslawien in Vor­arl­berg. Diese Nachkommen von Zuwanderern aus Ex-Jugoslawien in Vor­arl­berg weisen eine beachtliche Integrationsfähigkeit und ein starkes Zugehörigkeitsgefühl zu ihrer österreichischen Umgebung auf und wurden zum integralen Bestandteil der Aufnahmegesellschaft. Ungeachtet der fortgeschrittenen Integration der aus dem ehemaligen Jugoslawien stammenden Migranten bleiben die engen Verbindungen zu ihren Herkunftsländern ein wichtiger Teil ihrer Identität. Damit qualifizieren sich die Vor­arl­berger jugoslawischer Abstammung sowie die Zuwanderer aus dem ehemaligen Jugoslawien in den anderen Bundesländern Österreichs zu einer einzigartigen Brücke zwischen ihrem Gastland Österreich und den Nachfolgestaaten Jugoslawiens.

27 Ebd., S. 23. 28 Simon Burtscher-Mathis, TIES Vor­arl­berg/Papier 2  : Bildungsverläufe und Bildungsabschlüsse im Gruppenvergleich und ihre Bedeutung im internationalen Kontext, Dornbirn 2012, S. 40. 29 Ebd, S. 14, S. 24.

Hüseyin I. Çiçek

Türkische Migration nach Vor­arl­berg im Kontext individueller Gesellschaftserfahrungen I. Über die Komplexität der Einwanderung aus der Türkei Etwas vereinfacht gesprochen steht in der Politikwissenschaft weniger der Begriff Migration im Mittelpunkt als vielmehr migrationspolitische Entwicklungen, zum Beispiel die Frage, welche MigrantInnengruppen sich unter welchen Voraussetzungen politisch engagieren. In verschiedenen der Politikwissenschaft nahe stehenden Fachrichtungen, wie etwa der Soziologie, stehen inzwischen die durch Migration ausgelösten gesellschaftlichen Umwandlungsprozesse im Fokus. Die Rechtswissenschaften wiederum interessieren sich unter anderem für Staatsbürgerschafts- und Asylrecht. Wirtschaftswissenschaften und Geographie haben ähnliche, aber nicht gänzlich übereinstimmende Interessen im Zusammenhang mit der Thematik. Erstere richten ihr Hauptaugenmerk auf ökonomische Prozesse im Dunstkreis der Migration, während Letztere sich auf demographische Veränderung konzentrieren. Es gilt festzuhalten, dass sich die Disziplinen gegenseitig befruchten und voneinander profitieren.1 Darüber hinaus ist der kultur- und sozialanthropologische Zugang zum Forschungsfeld Migration zu erwähnen. Hier geht es vorrangig um die Auseinandersetzungen einer beliebigen Gesellschaft mit »Fremden«. Dazu gehören Analysen, die die soziokulturellen und sozialpolitischen Handlungsnormen der Aufnahmegesellschaft ermitteln. Parallel dazu werden auch Erhebungen in der Mehrheitsgesellschaft durchgeführt, um die partikularen sozialen, kulturellen, politischen, wirtschaftlichen sowie gesellschaftlichen Umgangsformen der Aufnahmegruppe zu recherchieren. Schließlich werden die spezifischen Eigenschaften der Einwanderungsgesellschaft aufgezeigt und untersucht. In der Empirie kommen oft qualitative Untersuchungsinstrumente zur Anwendung, um die Ergebnisse quantitativer Analysen zu verifizieren, zu ergänzen oder infrage zu stellen.2 1 Vgl. Elisabeth Strasser, Was ist Migration  ?, in  : Maria Six-Hohenbalken/Jelena Tosic (Hg.), Anthropologie der Migration. Theoretische Grundlagen und interdisziplinäre Aspekte, Wien 2009, S. 15–29. 2 Susanne Pickel/Detlef Jahn/Hans-Joachim Lauth, Methoden der vergleichenden Politik- und Sozialwissenschaft. Neue Entwicklungen und Anwendungen, Wiesbaden 2009.

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Hüseyin I. Çiçek

Ausgehend von der Prämisse, dass Menschen in bestehende Strukturen hineingeboren und von diesen beeinflusst werden, können sie durch das Entstehen neuer Strukturen »alte« Verhaltenscodes ablegen, modifizieren oder auf ihnen beharren und sie verabsolutieren. In diesem Zusammenhang erfahren althergebrachte Kriterien der Integration eine Modifikation. Das betrifft etwa die in Vor­arl­berg vorherrschende Überzeugung, dass »Zugereiste« die Mundart beherrschen müssen, um nicht nur integriert zu werden, sondern auch ihre Integrationswilligkeit öffentlich zu demonstrieren. Die Kinder der GastarbeiterInnen sprechen meist von klein auf die lokalen Dialekte und können somit nicht mehr auf Distanz gehalten werden. Die sich verändernden Strukturen »verlangen« nach neuen Abgrenzungscodes  – oder, um es integrationsfreundlicher auszudrücken, nach neuen Anpassungscodes. Nicht nur die Sprache, sondern unter anderem auch die Ethnizität dient als Mittel der Exklusion. Die soeben angesprochenen Methoden der Distanzierungsprozesse finden auch innerhalb der Einwanderungsgesellschaft aus der Türkei statt und haben dementsprechend nicht nur Einfluss auf die Beziehungen zwischen unterschiedlichen Einwanderungsgruppen und Vor­arl­bergerInnen, sondern auch auf die zwischen Menschen, die aus den verschiedenen Regionen der Türkei nach Österreich migriert sind. Auch wenn es vorerst paradox klingen mag  : Eine türkische Migration nach Vor­ arl­ berg hat es nie gegeben. Es waren Individuen beziehungsweise kleinere oder größere Gruppen aus verschiedenen Regionen der Türkei, die von der österreichischen Gesellschaft im Laufe der Zeit unter dem Titel »türkische MigrantInnen« subsumiert wurden. Keineswegs soll damit die juridische beziehungsweise staatsrechtliche Zuordnung infrage gestellt, sondern vielmehr darauf hingewiesen werden, dass die Beschäftigung mit Migration mehr ist als eine rechtliche Verortung von ZuwanderInnen. So gehört es zu den selbstverständlichen Eigenheiten eines Gesprächs zweier Menschen aus der Türkei, sich gegenseitig zu fragen  : Memleket nere  ? (»Wo ist deine Heimat  ?«). Je nach Aussage können beide GesprächspartnerInnen ihr Gegenüber bestimmten Kategorien zuordnen. Gleichzeitig vermögen sie durch diesen Informationsaustausch ihr Gegenüber in die eigene Vergangenheit und Gegenwart einzubetten beziehungsweise sie aus dieser auszuschließen. Ebenso gilt es zu beachten, dass diese Frage nach der Herkunft explizit und implizit das Territorium, aus dem beide (oder auch mehrere) GesprächspartnerInnen stammen, nicht als Kriterium der Gemeinsamkeit akzeptiert wird, sondern sie dazu anhält, sich spezifischer über ihre Heimat zu äußern. Der vorliegende Aufsatz versucht, durch den Blick von innen, über den positiven Facettenreichtum der Einwanderungsgesellschaft aus der Türkei aufzuklären. Dazu müssen die individuellen Geschichten dieser Menschen in den Blick genommen werden. Deswegen stehen zwei Individuen  – Ihsan Akpinar

Türkische Migration nach Vor­arl­berg 

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Arbeiterwohnheim in Göfis, 1990 (Foto  : Nikolaus Walter, vorarlberg museum)

und Aydin Bali – im Folgenden im Fokus  : Lebenswege, berufliche Qualifikationen sowie ihre individuellen Gesellschaftserfahrungen und wie sie sich in bestehende Vor­arl­berger Strukturen einfügen und von diesen profitieren konnten. Es versteht sich von selbst, dass der vorliegende Text nur ansatzweise auf die verschiedenen Realitäten eingehen und vieles hier nur angedeutet werden kann. Zu Beginn ist eine kurze Diskussion des Begriffs Migration sinnvoll. II. Definitions- und Kategorisierungsversuche  : Migration, MigrantInnen, Integration Das lateinische Wort migrare, von dem unser heutiger Begriff »Migration« abstammt, bedeutet »wandern«. Dem Begriff liegt eine Vielzahl an Definitionen zugrunde. Je nach Kontext beziehungsweise wissenschaftlichem Zugang werden diese enger oder weiter gefasst. Zwei Beispiele sollen das veranschaulichen  : (1) Der Österreichische Migrations- und Integrationsbericht aus dem Jahre 2003 bietet eine sehr allgemeine Auslegung des Terminus und hält fest, dass Migration eine »räumliche Bewegung zur Veränderung des Lebensmittelpunktes von Individuen oder Gruppen über eine bedeutsame Entfernung« bedeutet.3 3

Heinz Fassmann/Irene Stacher/Elisabeth Strasser (Hg.), Österreichischer Migrations- und In-

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Hüseyin I. Çiçek

Eine nuanciertere sowie breitere Verwendung des Begriffes finden wir (2) bei der Soziologin Annette Treibel. Sie schlägt vor, Migration als eine »auf Dauer angelegte bzw. dauerhaft werdende Wechsel in eine andere Gesellschaft bzw. in eine andere Region von einzelnen oder mehreren Menschen« zu verstehen.4 Um im Dschungel der Begriffsbestimmungen, wie Migration verstanden beziehungsweise ausgelegt werden kann, einen besseren Überblick zu behalten, wurden schließlich Typologisierungen entworfen. Aber auch diese bieten keine allgemeingültigen Unterscheidungskriterien, sondern müssen eher als unfertige Orientierungshilfen verstanden werden.5 Menschen entscheiden sich aus unterschiedlichen Gründen für eine Migration. Meistens spielen räumliche, zeitliche und ökonomische Kriterien eine Rolle. Raumbezogene Migrationsforschung widmet sich sowohl den Wanderungsbewegungen transnationaler Natur als auch jenen innerhalb eines bestimmten Territoriums. Auch regionale Migration wird untersucht, etwa die innerhalb Vor­arl­bergs oder jene darüber hinaus in der EU.6 Der Blick auf zeitliche Dimensionen richtet sich meist darauf, ob Wanderung kontinuierlich oder begrenzt beziehungsweise dauerhaft oder temporär stattfindet. Zu beachten gilt auch die »zirkuläre Migration« und die »Pendelmigration«. Hier gilt die Aufmerksamkeit MigrantInnen, die »zunehmend wiederholt oder regelmäßig« zwischen »Herkunftsland« sowie einem oder mehreren Zielländern hin und her wandern.7 Auf der Suche nach kausalen Kriterien für Migration wird gefragt, welche Ursachen Menschen dazu bringen, ihr gewohntes Umfeld zu verlassen. In diesem Zusammenhang kommen die Begriffe »freiwillige« sowie »unfreiwillige Migration« ins Spiel. So kam es etwa aufgrund des Anwerbeabkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland (1961) beziehungsweise Österreich (1964) und der Türkei zu einer türkischen Migration in diese beiden Länder. Die aktuelle Situation im Nahen Osten zwingt viele Menschen dazu, ihre Länder zu verlassen. In beiden genannten Fällen geht es natürlich auch um individuelle Entscheidungen, trotzdem sind sie wesentlich voneinander unterschieden. Ähnlich ist es wichtig zu verstehen, dass erzwungene Migrationen auch unter zeitlichen und kausalen Kriterien verbucht werden können, zumal Menschen aufgrund von Krieg, Verfolgung und anderen Krisen gezwungen sind, ihre Herkunftsländer zu fliehen. tegrationsbericht. Demografische Entwicklungen ‒ sozioökonomische Strukturen ‒ rechtliche Rahmenbedingungen, Klagenfurt/Celovec 2003. 4 Annette Treibel, Migration in moderne Gesellschaften. Soziale Fragen von Einwanderung, Gastarbeit und Flucht, Weinheim-München 2008, S. 21. 5 Strasser, Was ist Migration. 6 Treibel, Migration. 7 Strasser, Was ist Migration.

Türkische Migration nach Vor­arl­berg 

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Dem Begriff Migration liegt  – und damit steht er innerhalb der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften nicht alleine – keine für alle Disziplinen verbindliche und endgültige Definition zugrunde. Die Verwendung des Begriffes hängt maßgeblich vom Kontext ab. Auch bieten die verschiedenen Typologien beziehungsweise Kriterien keine Option, letztgültige Aussagen über Entscheidungen und Faktoren zu treffen, die zu Migration führten. Vielmehr deuten die verschiedenen Einteilungen darauf hin, dass die Geistes-, Kultur- beziehungsweise Sozialwissenschaften nur die Komplexität des Phänomens veranschaulichen können. III. Wer ist einE MigrantIn  ? Über die Diskussion des Begriffs Migration – mitsamt seinen Zuschreibungen, Typologien und Kriterien – hinaus, müssen wir uns auch mit jenem des Migranten beziehungsweise der Migrantin auseinandersetzen. Wer darf oder soll so bezeichnet werden  ? Auch hier gibt es keine eindeutigen Antworten beziehungsweise Definitionen, welche Personen unter diesem Begriff subsumiert werden können. Für den österreichischen Kontext gilt es festzuhalten, dass Menschen, die zu Beginn der 1960er Jahre aus der Türkei nach Österreich kamen, als »Gastarbeiter« bezeichnet wurden. Der Begriff setzte somit a priori voraus, dass die türkischen EinwanderInnen beabsichtigten, das Aufnahmeland nach einer bestimmten Zeit wieder zu verlassen. Doch schon spätestens Ende der 1970er Jahre zweifelten wahrscheinlich nur noch wenige ÖsterreicherInnen daran, dass ein Großteil der türkischen EinwanderInnen Österreich dauerhaft zum Lebensmittelpunkt machen wollte. Der Begriff MigrantInnen setzt somit im Vergleich zu dem der GastarbeiterInnen neue Realitäten voraus. Jedoch gilt es auch hier, den Ausdruck mit Bedacht zu verwenden. Einer Definition der UNO zufolge ist eine Person als Migrantin beziehungsweise Migrant zu bezeichnen, wenn sie mehr als zwölf Monate durchgehend nicht in ihrem Heimatland verbringt.8 Laut Tomas Hammar und anderen sollen Menschen als MigrantInnen bezeichnet werden, auf die folgende Beschreibung passt  : »a person who has moved from one country to another with the intention of taking up residence there for a relevant period of time«.9 Auch durch diese 8

United Nations, Department of Economic and Social Affairs, Statistics Division  : Recommendations on Statistics of International Migration, (Statistical Papers Series M, No. 58, Rev. 1), New York 1998, p. 18 9 Hammer, Tomas und Tamas, Kristof, Why Do People Go or Stay  ?, in  : Tomas Hammar u. a.

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Hüseyin I. Çiçek

Vor­arl­berger  ? Türke  ? Schauspieler  ? Mike Galeli, Mister Vor­arl­berg 1989 (Foto  : Nikolaus Walter)

beiden Definitionsversuche wird deutlich, wie unterschiedlich der Terminus inhaltlich gedeutet werden kann. Im Folgenden wird sich die Begriffsverwendung an diesen vorgestellten Definitionen orientieren. IV. Feldzugang Lange Zeit wurden Forschungen zum Thema Migration oder Integration in Österreich überwiegend von einheimischen WissenschaftlerInnen ohne Migrationshintergrund durchgeführt. Seit einiger Zeit ändert sich das allmählich und Kinder von ehemaligen GastarbeiterInnen beziehungsweise MigrantInnen widmen sich der jüngeren Migrationsgeschichte und damit vielfach ihrer eigenen Geschichte. Der eigene Migrationshintergrund ist auch für mich persönlich eines der wichtigsten Motive, mich der Erforschung der türkischen Einwanderungsgesellschaft und der Migrationsforschung allgemeiner verpflichtet zu fühlen. Feldforschung ist immer eine sehr komplexe Angelegenheit. Mit relevanten AkteurInnen in Kontakt zu treten und sie zu motivieren, sich beforschen zu (Hg.), International Migration, Immobility, and Development. Multidisciplinary Perspectives, Oxford-New York 1997, S. 1–19, hier S. 16.

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lassen, um die beabsichtigten Untersuchungen realisieren zu können, ist dabei noch die geringste Herausforderung. Dieses umfassende Thema kann in diesem Rahmen nicht weiter vorgestellt werden.10 An dieser Stelle sei nur erwähnt, dass das Herstellen einer  – in der Literatur vielzitierten (gleichwohl fehlen ­Rezepte) – guten, egalitären Gesprächsatmosphäre mir ein zentrales Anliegen bei den Interviews war. V. Türkische Migration  : Ein Blick von Innen Die Migration türkischer BürgerInnen nach Deutschland und Österreich (ab 1961 sowie 1964) stellt eine Besonderheit in der Geschichte der Türkei dar. Seit dem 19. Jahrhundert fand keine derart massive Auswanderung türkischer (osmanischer) Bürger in nicht-muslimische Länder statt.11 Das Staats- beziehungsweise Bürgerkonzept der Türkei erhebt ab 1923 den Anspruch, alle Türken der Welt in seinem Staatsgebiet zu beherbergen.12 Die Migration türkischer BürgerInnen ist, im Vergleich zu Auswanderungsbewegungen von BritInnen, ItalienerInnen, GriechInnen oder Deutschen im 19. und 20. Jahrhundert, ein relativ junges Phänomen. Letzteres ist besonders wichtig, zumal in den gegenwärtigen deutschen und österreichischen Diskussionen über die türkische Einwanderungsgesellschaft seit den 1960er Jahren Österreich und die Bundesrepublik Deutschland wegen ihrer konservativen GastarbeiterInnenpolitik kritisiert werden. Aber eben diese kritisierte Politik gegenüber der türkischen Einwanderungsgesellschaft entsprach dem Interesse der Türkei.13 So ist es notwendig, hier knapp aufzuzeigen, warum und zu welchen Konditionen sich die türkische Regierung ab 1961 dazu entschloss, einen Teil ihrer BürgerInnen in die Fremde zu entlassen. 10 Stellvertretend für viele Abhandlungen dazu Pierre Bourdieu, Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft (Édition discours 9), Konstanz 21998, S. 527–535. 11 Ahmet Içduygu, 50 Years After the Labour Recruitment with Germany  : The Consequences of Emigration for Turkey, in  : Perceptions XVII (2012), Heft 2, S. 11–36. 12 Hier sollen nur die wichtigsten Publikationen erwähnt werden, die das Thema in den letzten zehn Jahren kritisch analysiert haben  : Soner Çağaptay, Islam, Secularism, and Nationalism in Modern Turkey. Who is a Turk  ?, London-New York 2006  ; Abdullah Gündoğdu, Ümetten millete (Ahmet Ağaoğlu‘nun Sırat-ı Müstakim ve Sebilürreşad dergilerindeki yazıları üzerine bir inceleme 216), Istanbul 2007  ; Kader Konuk, East-West Mimesis Auerbach in Turkey, Stanford, Cal. 2010  ; A. Deniz Balgamış/Kemal H. Karpat (Hg.), Turkish Migration to the United States. From Ottoman Times to the Present, Madison, Wis. 2008. 13 Içduygu, 50 Years, S. 11–16.

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Hüseyin I. Çiçek

Am 30. Oktober 1961 unterzeichneten die Bundesrepublik Deutschland und die Türkei ein sogenanntes Anwerbeabkommen. Zum Zeitpunkt waren Arbeitsaufenthalte von TürkInnen in Deutschland für die Dauer von jeweils zwei Jahren geplant. Danach, so die Annahme beider Vertragspartner, sollten die GastarbeiterInnen in die Türkei zurückkehren. Wichtig ist es zu verstehen, dass die Türkei keinesfalls bereit war, ihre BürgerInnen zu einer permanenten Migration zu ermutigen.14 Wie bereits angedeutet, ging das türkische »Nation-Building«-Konzept der 1920er Jahre von der Annahme aus, dass alle ethnischen TürkInnen nach Möglichkeit in der Türkei leben sollen.15 Zur Staatsbildung wurden ethnische TürkInnen benötigt, zumal die nicht-ethnisch-türkischen Minderheiten als Gefahr für das kemalistisch-republikanische Gewaltmonopol wahrgenommen wurden.16 Abgesehen von den bewaffneten Konflikten vor 1923 kam es auch seither immer wieder zu kriegerischen Auseinandersetzungen mit Kurdinnen und Kurden. Bis heute war die Türkei nicht in der Lage, eine Minderheitenpolitik zu etablieren, die die Kurdinnen und Kurden in den türkischen Nationalstaat integriert.17 Auf dieser Basis kam eine vom Staat explizit geplante und unterstützte permanente Migration ethnischer TürkInnen für die Türkei nicht in Frage. Nicht zuletzt deshalb wurden zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei nur zeitlich begrenzte Arbeitsvisa vereinbart.18 In den 1960er Jahren wurden Anwerbeabkommen nicht nur mit der Bundesrepublik Deutschland und Österreich geschlossen, sondern auch mit Australien. Im Gegensatz zur bundesdeutschen, österreichischen und türkischen Regierung, ging die australische Regierung schon damals nicht davon aus, dass die türkischen ArbeiterInnen wieder nachhause zurückkehren würden  : Sie signalisierte von Anfang an, dass sie nicht bereit war, türkische Arbeiter nur temporär aufzunehmen beziehungsweise nach einer gewissen Zeit wieder in ihre Heimat zu entlassen.19 A priori ging Australien davon aus, dass die TürkInnen ihre neue australische Heimat nicht mehr verlassen wollen. »GastarbeiterInnen« wurden von Anfang an in bestehende australische »Communities« aufgenommen, Mitgliedschaften in verschiedenen Vereinen wurden gefördert und staatlich gefördert

14 Ebd. 15 Çağaptay, Islam, Kapitel 2, 3 und 4. 16 Serif Mardin, Religion, Society, and Modernity in Turkey (Modern Intellectual and Political History of the Middle East), Syracuse, NY 2006. 17 Hüseyin I. Çiçek, Interessen der Türkei  : Ankaras Albtraum einer kurdischen Zone, in  : Neue Zürcher Zeitung, [http://www.nzz.ch/meinung/kommentare/ankaras-albtraum-einer-kurdischen-zone-1.18603332], Zugriff  : 31.8.2015. 18 Içduygu, 50 Years, S. 11-16. 19 Ebd., S. 11-16.

Türkische Migration nach Vor­arl­berg 

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Sprachkurse unterstützten den Inklusionsprozess der MigrantInnen.20 Aufgrund politischer und wirtschaftlicher Spannungen auf internationaler und regionaler Ebene zwischen 1968 und 1974 akzeptierte die türkische Regierung die australischen Forderungen. Bis 1975 migrierten mehr als 12.000 türkische BürgerInnen nach Australien. Die im Vergleich mit der Bundesrepublik Deutschland und Österreich schwache Auswanderung türkischer BürgerInnen nach Australien ist dadurch zu erklären, dass die türkischen Behörden die Ausreise aufgrund der australischen »Gastarbeiter«-Politik erschwerten.21 Eine große Zahl türkischer BürgerInnen migrierte auch in den Nahen Osten, vor allem in die Golfstaaten. Als der türkischen Regierung Mitte der 1970er Jahre bewusst wurde, dass viele ihrer BürgerInnen ihren Lebensmittelpunkt nicht mehr in die Türkei verlegen würden, versuchte sie – mithilfe der Printmedien und des Fernsehens –, Einfluss auf die türkische Einwanderungsgemeinschaft in der Bundesrepublik Deutschland und Österreich zu nehmen.22 Die »Diş Türkler« (Auslandstürken) wurden nicht nur aufgrund ihrer wirtschaftlichen und finanziellen Stärke immer wichtiger für die Türkei, ihre Stimmen bei Wahlen gewannen auch zusehends an Bedeutung. Gegenwärtig ist der politische Einfluss der Türkei auf die türkische Gemeinschaft in Deutschland beziehungsweise Österreich massiv, nicht nur Printmedien und Fernsehen, sondern auch die virtuellen sogenannten sozialen Netzwerke werden hierfür in Anspruch genommen. Kurz gesagt  : Wenn auch viele türkische BürgerInnen sich für einen permanenten Aufenthalt in Österreich oder Deutschland entschieden haben, so ist ihre Vernetzung mit der Türkei seit Mitte der 1970er Jahre nicht schwächer, sondern immer stärker geworden. Somit kann die Türkei ihr Staatskonzept (wenngleich indirekt) aufrecht halten. VI. Ihsan Akpinar und Aydin Bali In diesem Teil der Arbeit erhalten wir einen kleinen Einblick in die individuellen Gesellschaftserfahrungen zweier türkischer Gastarbeiter und erfahren, wie die beiden Interviewpartner die verschiedenen Herausforderungen in Österreich wahrgenommen und bewältigt haben. Im Vordergrund stehen die Alltagserfahrungen der beiden Männer. Die Darstellung ihrer Beziehung zum türkischen Staat oder die Thematik des politischen Einflusses der Türkei auf die 20 Ebd., S. 11–16. 21 Ebd., S. 11–16. 22 Kemal Bozay, »… ich bin stolz, Türke zu sein  !« Ethnisierung gesellschaftlicher Konflikte im Zeichen der Globalisierung, Schwalbach/Ts. 22009 (Orig. Köln 2004), Kapitel 6 und 7.

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türkische Einwanderungsgesellschaft wurde ausgeklammert, da sie den Rahmen dieses Aufsatzes gesprengt hätte. Ihsan Akpinar23 gehört zu den ersten türkischen Selbstständigen in Dornbirn. Aufgrund der guten wirtschaftlichen Situation seiner Familie, so Akpinar, konnte er als Tourist zuerst in die Bundesrepublik Deutschland und dann nach Österreich einreisen. Im Zuge seines Aufenthalts und nach Gesprächen mit einigen Bekannten, die bereits in Österreich lebten, entschied er sich, in Vor­arl­berg eine Arbeit zu suchen. Akpinar hält explizit fest, dass er nicht genau wusste, was ihn in Österreich erwarten würde. Vielmehr waren es Gespräche mit Landsleuten, die bereits in Österreich beschäftigt waren oder wegen eines Arbeitsplatzes nach Österreich wollten, die seine Neugier geweckt hatten. Ihsan Akpinar wuchs in einer Familie mit 16 Geschwistern auf. Im Gegensatz zu vielen anderen türkischen MigrantInnen hatte er in der Türkei ein Gymnasium besucht und war schon vor seiner Einwanderung in der Lage, sich auf Deutsch zu verständigen. Wichtig in diesem Zusammenhang ist es festzuhalten, dass nicht alle MigrantInnen aus der Türkei aufgrund von wirtschaftlichen Notwendigkeiten die Reise nach Österreich antraten. Die gute Ausbildung, die er in der Türkei genossen hatte, half ihm, sich auch in Österreich in verschiedenen Lebenslagen zurechtzufinden. Sein erstes Beschäftigungsverhältnis trat Akpinar 1971 in der Beschlägefabrik Grass in Höchst an. Nach weniger als zwei Tagen verließ er jedoch diesen Betrieb und begann, in der Firma Aral Marte in Lustenau zu arbeiten. Nach zwei Monaten wechselte Akpinar zur Firma Zumtobel KG, wo er, laut eigener Erinnerung, schon bald dem damaligen Personalleiter Günter Pichler auffiel. Dieser habe ihn als »Betriebsdolmetscher« rekrutiert. Parallel zu seiner Tätigkeit bei der Zumtobel KG und als Dolmetscher besuchte Akpinar Seminare, in denen er seine Deutschkenntnisse weiter verbessern konnte. Gestärkt durch die Unterstützung und Zustimmung Pichlers und anderer ÖsterreicherInnen in seinem Umfeld entschloss er sich 1973, als selbstständiger Dolmetscher zu arbeiten. Er bezog ein Büro in der Eisengasse 10, Dornbirn, das damals von der Firma Fulterer an ihn vermietet wurde. 1973 bewarb er sich auch beim Landesgericht Feldkirch und beim Bezirksgericht Dornbirn als Dolmetscher und wurde dort als Sprachdienstleiter angestellt. Außerdem arbeitete er für die Arbeiterkammer zwei bis drei Mal die Woche und ebenso in der Fahrschule Burtscher in Bregenz als Dolmetscher. 23 Das Interview mit Ihsan Akpinar wurde 2010 im Rahmen eines Praktikums im Stadtarchiv Dornbirn durchgeführt. Der Autor möchte sich ganz herzlich beim Leiter des Archivs Werner Matt und bei Christian Tumler bedanken. Das Interview wurde in türkischer und deutscher Sprache geführt. Das Interviewmaterial liegt im O-Ton dem Autor vor.

Türkische Migration nach Vor­arl­berg 

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Parallel zu den oben genannten beruflichen Entwicklungen und Tätigkeiten stellte Akpinar 1971 bei der Bezirkshauptmannschaft Dornbirn einen Antrag auf ein Gast- und Schankgewerbe. Im Zuge seines Aufenthalts eröffnete er mehrere Lokale in Dornbirn, Lustenau und Bludenz. Insgesamt war Akpinar mehr als zehn Jahre als Dolmetscher bei Gerichten und Fahrschulen sowie als Gastwirt tätig. Aydin Bali kam 1975 mit seinen Eltern nach Österreich, genauer nach Oberösterreich. 1978 zog die Familie nach Vor­arl­berg, die Eltern waren in der Textilbranche tätig. Balis große Leidenschaft ist die Musik  : Schon mit sieben Jahren begann er, sich für verschiedene Instrumente zu interessieren. Heute arbeitet er unter anderem als Musiklehrer in Dornbirn. Fast alle seine Familienmitglieder, so Bali, würden auf die eine oder andere Weise mit Musik zu tun haben. Schon sein Großvater habe gerne Saz24 gespielt und dieses sowie auch andere Musikinstrumente hergestellt. Aufgrund seines musikalischen Engagements hätte ihn, so Bali, Guntram Simma, Direktor an seiner Schule, weiterempfohlen. Nun unterrichtet Aydin Bali seit 2008 auch in Lustenau Musik. Zu Beginn seiner Karriere, so erzählt er, habe er auch bei vielen Hochzeiten, Geschäftseröffnungen und ähnlichen Gelegenheiten gespielt. Keineswegs hätten nur TürkInnen Interesse an seiner Musik gehabt, auch ÖsterreicherInnen seien sehr interessiert gewesen. Bali erwähnt immer wieder, dass sich die Situation der TürkInnen positiv entwickelt hätte  : Die Nachkommen der ersten Generation könnten sich heute weitaus besser ausbilden lassen und auch die Sprache besser lernen.25 In diesem Zusammenhang erwähnt er seine sprachlichen Schwierigkeiten, zu denen er auch die Nichtbeherrschung des regionalen Dialekts zählt. Als Hauptmotivationsquelle seiner Berufswahl nennt Bali seinen Ehrgeiz, wobei das familiäre Interesse an Musik sicherlich auch ein wichtiger Faktor für seine Entscheidung gewesen ist. Eine »einfache« Tätigkeit wäre ihm zu wenig gewesen, meint er, nicht zuletzt aufgrund seines besonderen Interesses für an24 »Saz bezeichnet eine Gruppe von Langhalslauten, die vom Balkan bis Afghanistan verbreitet sind und unter anderem in der Musik der Türkei, der kurdischen, iranischen, armenischen, aserbaidschanischen und afghanischen Musik gespielt werden. Der Hauptvertreter dieser Zupfinstrumente in der Türkei ist die mittelgroße bağlama. Die bağlama ist das am meisten gespielte traditionelle Begleitinstrument der türkischen Barden, die man in Anatolien und im Kaukasus Aşık (‚der Liebende‘) nennt.« Wikipedia, Stichwort Saz, [https://de.wikipedia.org/wiki/Saz], Zugriff  : 31.8.2015. 25 Es gilt hier festzuhalten, dass das die subjektive Meinung von Herrn Bali ist. Auch gegenteilige Entwicklungen können in der türkischen Einwanderungsgesellschaft festgestellt werden. Anders gesagt  : Der uneingeschränkte Konsum türkischen Fernsehens fördert auch das Desinteresse am Erlernen der deutschen Sprache.

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dere Kulturen  – vor allem für die österreichische. Es dauerte nicht lange und Bali lernte den Briten John Gillard kennen. Bis heute spielen sie gemeinsam englische und andere Lieder mit traditionell türkischen und nichttürkischen Musikinstrumenten. Auch gemeinsame Musikprojekte wurden realisiert und eine Band gegründet. Beide Musiker können zahlreiche Erfolge für sich beziehungsweise ihre Band verbuchen. Dazu gehören Auftritte in verschiedenen europäischen Ländern sowie Fernsehauftritte, unter anderem in der Türkei. Derzeit widmet sich Bali dem Projekt »Heimatshuttle«. Gemeinsam mit Ulrich Gabriel und der »Heimatshuttleband« spielen Bali und KollegInnen Musik aus verschiedenen Ländern, auch aus Österreich. Musik, betont Aydin Bali, sei ein gutes Mittel, um Gemeinsamkeit herzustellen, zumal mit ihrer Hilfe sprachliche oder kulturelle Differenzen leichter überwunden werden können. Vor allem sei es eine gute Möglichkeit, das Zusammenleben angenehmer zu gestalten. VII. Fazit Wie bereits in der Einleitung hervorgehoben, gibt es verschiedene Methoden, Migration beziehungsweise Integration untersuchbar und sichtbar zu machen. Die für diesen Beitrag gewählte Strategie hat durch ihre qualitativ ausgerichtete empirische Vorgangswiese den Vorteil, dass sie die Bedeutungsstruktur gewisser Aussagen der InterviewpartnerInnen zusätzlich untermauern oder auch infrage stellen können. Vor allem können sie zuerst unabhängig vom Kontext untersucht und in einem zweiten Schritt kontextgebunden analysiert werden. Beide Fallbeispiele zeigen explizit, dass es auch unter den ersten EinwanderInnen ein großes Interesse gab, nicht nur einen gut bezahlten Arbeitsplatz zu ergattern, sondern auch konstruktiv und gestalterisch tätig zu werden. Selbstverständlich trifft diese Aussage nicht auf alle MigrantInnen aus der Türkei zu. Ein wichtiger Hintergrund, um aktuelle Realitäten zu verstehen, ist, dass der türkische Nationalstaat von Anfang an ein signifikantes Interesse daran hatte, die »Diş Türkler« nicht aus seinem Einflussbereich zu entlassen. Zu diesem Zweck wurden verschiedene Medien eingesetzt, um die Beziehungen mit dem Heimatland zu stärken. Akpinar und Bali haben sehr schnell sprachliche Barrieren überwunden und konnten sich sehr gut in die in Vor­arl­berg vorherrschenden Gegebenheiten einfügen. Das Engagement beider Interviewpartner wurde von anderen, in diesem Aufsatz nicht erwähnten MigrantInnen als inspirierend wahrgenommen – auch sie schlugen ähnliche Wege ein. Zu beachten gilt, dass Balis musikalisches beziehungsweise interkulturelles Interesse ihm große Sympathien seitens seiner Vor­arl­berger MitbürgerInnen ohne Migrationshintergrund einbrachte. Ebenso

Türkische Migration nach Vor­arl­berg 

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wurden auch die Ambitionen Akpinars gefördert und unterstützt. Somit können und müssen Ausgrenzungsmechanismen nicht als unausweichlich wirksam aufgefasst werden. Wie zu Beginn erwähnt, können sich Verhaltenscodes ändern und sich neuen Strukturen oder Herausforderungen anpassen. Auch wenn beide Interviewpartner »Zugereiste« waren und keinen der regionalen Vor­arl­berger Dialekte beherrschten, genossen sie die Unterstützung ihrer MitbürgerInnen. Gleichzeitig haben beide versucht, durch ihre Arbeit und ihr Engagement Distanzen zwischen EinwanderInnen und Vor­arl­bergerInnen abzubauen.

Oliver Heinzle

»Inzwischen ist Österreich zweite Heimat geworden …« Eine kleine Alltagsgeschichte der frühen Zuwanderung aus der Türkei nach Vor­ arl­berg

Von den 1950er Jahren an entwickelte sich die wirtschaftliche Lage in Österreich sehr gut. Vor allem in Vor­arl­berg herrschte bis Mitte der 1970er Jahre fast beständig Hochkonjunktur.1 Die hier bis dahin dominante und stetig wachsende Textilwirtschaft und die fortwährende Abwanderung von Arbeitskräften in die benachbarte Schweiz führten zu einem Arbeitskräftemangel, es galt, sehr viele offene Stellen zu besetzen. Die Vor­arl­berger Industrie förderte – unterstützt durch die österreichische Regierungspolitik – den Zuzug neuer Arbeitskräfte, unter anderem auch, um die Löhne, vor allem in der Textilbranche, niedrig zu halten.2 Als quantitativ stärkste Einwanderungsbewegungen können nach 1945 die Binnenmigration von zumeist jungen Frauen und Männern aus Ostösterreich, vor allem aus Kärnten und der Steiermark, und etwa ein Jahrzehnt später dann die Zuwanderung der Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen aus Jugoslawien und aus der Türkei, festgestellt werden. Einwohnerinnen und Einwohner der Marktgemeinde Lustenau aufgeschlüsselt nach der Staatszugehörigkeit 1954–19943 Jahr

Türkei

Jugoslawien

Sonstige Staaten

Österreich

Gesamt

1954

0

6

428

10.501

10.935

1959

0

14

447

11.783

12.244

1964

17

36

385

13.003

13.441

1969

507

407

369

13.723

15.006

1974

1.156

986

379

14.769

17.290

1979

1.592

693

389

14.992

17.666

1984

1.800

505

366

15.093

17.764

1989

2.431

692

352

15.359

18.834

1994

2.469

826

404

15.696

19.395

1 2 3

Christian Feurstein, Wirtschaftsgeschichte Vor­arl­bergs, Konstanz 2009, S. 56. Erika Thurner, »Der goldene Westen«. Arbeitszuwanderung nach Vor­arl­berg seit 1945 (Studien zur Geschichte und Gesellschaft Vor­arl­bergs 14), Bregenz 1997, S. 9 ff. Auskunft Meldeamt der Marktgemeinde Lustenau.

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Oliver Heinzle

Prägend in der Wahrnehmung von Migration in Vor­arl­berg in der jüngeren Geschichte ist jedoch sicher die »Gastarbeiterzuwanderung« aus der Türkei. Die in der ersten Tabelle beispielhaft für Lustenau dargestellte Einwanderung aus der Türkei und aus Jugoslawien veranschaulicht diesen starken Zuzug aus der Türkei. Die Menschen aus der Türkei gehören unterschiedlichen Ethnien an. Deshalb wäre es ist falsch, pauschal vereinfachend von hierhergekommenen Türken und Türkinnen zu sprechen. Für diesen Artikel werden diese beiden Begriffe möglichst vermieden. Für die im Jahr 2011 vom Historischen Archiv der Marktgemeinde Lustenau erarbeitete Ausstellung »Migrationen in der Geschichte Lustenaus«,4 die auch diese beiden erwähnten Migrationsbewegungen thematisierte, wurden ausführliche Zeitzeugeninterviews mit aus der Türkei nach Vor­arl­berg und dabei hauptsächlich nach Lustenau zugewanderten Frauen und Männern geführt. Eine umfangreiche biographische Aufarbeitung dieses Materials steht noch aus. Allerdings wurde die Biographie von Ismail Özayli schon im Rahmen der »Lustenauer Archivgespräche« genauer behandelt.5 Ergänzt wird dieses Zeitzeugenmaterial zum Thema durch Interviews mit Einheimischen. In diesem Artikel zitierte Dialektausdrücke wurden jeweils sinngemäß ins Hochdeutsche übersetzt. Die hier im folgenden Abschnitt nur kurz zusammengefassten Lebensgeschichten der Zeitzeugen und Zeitzeuginnen sollen einen ersten Einblick in einige der im Lustenauer Zeitzeugenarchiv dokumentierten Gastarbeiter- und Gastarbeiterinnenbiographien geben  : • Unter den Interviewten findet sich zum Beispiel Saliye Sentürk, die – wie sie sagt – hauptsächlich nach Österreich kam, weil ihre Eltern in Istanbul mit ihrer Partnerwahl nicht einverstanden waren.6 Gemeinsam mit ihrem Mann Kazim Sentürk baute sie Vor­arl­berg, zeitweilig aber auch in der Türkei, einen eigenen Stickereibetrieb auf.7 • Nazmi Karakaya wollte, wie er im Interview erzählt, eigentlich nur kurz seine hier lebenden Schwiegereltern besuchen. Ihm hatten aber hier die Natur, das viele Grün und die Ehrlichkeit der Menschen so gut gefallen, dass er mit sei4

Oliver Heinzle/Wolfgang Scheffknecht, Migrationen in der Geschichte Lustenaus, Lustenau 2011, S. 61–99. 5 Oliver Heinzle, Die ersten türkischen »Gastarbeiter« in Lustenau (Neujahrsblätter des Historischen Archiv der Marktgemeinde Lustenau 3), Lustenau 2012, S. 107–124. 6 Historisches Archiv der Marktgemeinde Lustenau, Zeitzeugenarchiv (im folgenden HistA Lustenau, ZZA)  : Interview mit Saliye Sentürk in deutscher Sprache durchgeführt von Oliver Heinzle am 5.5.2010. 7 HistA Lustenau, ZZA  : Interview mit Kazim Sentürk in deutscher Sprache durchgeführt von Oliver Heinzle und Günay Özayli am 20.7.2010.

Alltagsgeschichte der frühen Zuwanderung aus der Türkei 









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ner Frau in Vor­arl­berg blieb und heute hier einen eigenen Stickereibetrieb führt.8 Yildiz Delibas ist seit 1973 hier und hat seitdem, wie sie nicht ohne Stolz im Interview berichtet, mit Ausnahme von zweimal einem Jahr Karenz, immer gearbeitet und ist – wie sie betont – dem österreichischen Staat nie zur Last gefallen. Sie berichtet davon, wie es ist, wenn man hier lebt, kaum Deutsch kann, sich aber so gerne mit der Nachbarin auf Deutsch unterhalten würde.9 Haydar Yilmaz erinnert sich im Zeitzeugeninterview an seine Kindheit in einem Dorf, in dem das Rad nicht bekannt beziehungsweise nicht in Verwendung war. Er verdiente, wie er erzählt, später als Kind in den Elendsvierteln von Istanbul als Straßenverkäufer sein Geld und erarbeitete sich selbst das Maschinenbaustudium. Zu seiner eigenen Überraschung habe er in Lustenau dann bei der Firma Otto Hämmerle gleich als Techniker im Büro anfangen dürfen. Er ging jedoch bald nach Arbon in der Schweiz, um als Ingenieur im Stickmaschinenbau zu arbeiteten. Schon im gesetzten Alter machte sich Haydar Yilmaz schließlich an den Aufbau einer Niederlassung eines türkischen Garnherstellers in Lustenau.10 Ismail Türkyilmaz, der heute in Frastanz lebt, berichtet im Interview davon, wie er bereits 1967 nach Vor­arl­berg kam und von seiner langjährigen Tätigkeit als Dolmetscher und Betreiber verschiedener Gastronomiebetriebe in Vor­arl­ berg.11 Ali Riza Özayli, der eine Österreicherin heiratete, erzählt im Zeitzeugeninterview, wie er gleich nach seiner Ankunft in Vor­arl­berg in der erste Mannschaft des FC Dornbirn aufgenommen wurde und denkt dabei unter anderem laut über Sport und Integration nach.12

Die Originalaufnahmen dieser Interviews, teils auf Türkisch, teils auf Deutsch geführt, werden im Historischen Archiv der Marktgemeinde Lustenau aufbewahrt. Sie sind bereits grob erschlossen, können dort eingesehen werden und stehen damit für eine weitere wissenschaftliche Aufarbeitung zur Verfügung.   8 HistA Lustenau, ZZA  : Interview mit Nazmi Karakaya in türkischer und deutscher Sprache durchgeführt von Oliver Heinzle und Günay Özayli am 20.7.2010. Übersetzung  : Günay Özayli.   9 HistA Lustenau, ZZA  : Interview mit Yildiz Delibas in türkischer Sprache durchgeführt von Günay Özayli am 17.8.2010. Übersetzung  : Günay Özayli. 10 HistA Lustenau, ZZA  : Interview mit Haydar Yilmaz in deutscher Sprache durchgeführt von Oliver Heinzle und Günay Özayli (sie ist eine Nichte von Haydar Yilmaz) am 11.2.2011. 11 HistA Lustenau, ZZA  : Interview mit Ismail Türkyilmaz in türkischer und deutscher Sprache durchgeführt von Oliver Heinzle und Günay Özayli am 16.2.2011. Übersetzung  : Günay Özayli. 12 HistA Lustenau, ZZA  : Interview mit Ali Riza Özayli in deutscher Sprache durchgeführt von Oliver Heinzle und Günay Özayli (sie ist eine Nichte von Ali Riza Özayli) am 15.2.2011.

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Oliver Heinzle

Die in türkischer Sprache gehaltenen Interviews wurden von Günay Özayli, die an der erwähnten Ausstellung mitarbeitete, durchgeführt und protokolliert. Für den Ausstellungskatalog wurden die, für die verschiedenen Zeitzeugenstationen ausgesuchten und auf Türkisch geführten Interviewausschnitte von Günay Özayli sinngemäß ins Deutsche übersetzt. Diese Übersetzungen sind keine wortwörtlichen Transkriptionen, orientieren sich jedoch so nahe wie möglich am Gesprochenen. Grammatikalische und sprachliche Unkorrektheiten wurden dafür billigend in Kauf genommen. Man erhält bei der Arbeit mit Zeitzeugeninterviews gewiss nicht immer vollständig richtige Fakten. So können etwa beispielsweise historische Abfolgen durcheinandergeraten. Interviews gestatten jedoch Einblicke in das subjektive Erleben und die Verarbeitung bestimmter Ereignisse und Erfahrungen und stellen deshalb eine wichtige Ergänzung zu anderen Quellengattungen dar. Dieser Artikel versucht einerseits, mit Hilfe der Aussagen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen einen Einblick in die persönlichen Erfahrungen und die Lebenswelt der Frauen und Männer zu geben, die ab Mitte der 1960er Jahre aus der Türkei nach Vor­arl­berg gekommen sind. Andererseits werden Ergebnisse aus den Forschungen für die Erstellung der Ausstellung »Migrationen in der Geschichte Lustenaus« präsentiert. Lustenau mag hierbei teilweise als Beispiel für andere Vor­arl­berger Gemeinden und Städte dienen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf den Anfangsjahren dieser Migrationsbewegung. Anwerbung und Kettenmigration 1964 wurde in Istanbul von der österreichischen Wirtschaftskammer aufgrund des Arbeitskräftemangels in Österreich eine eigene Anwerbekommission für Gastarbeiter eingerichtet. In Belgrad geschah das dann im Jahr 1966. Die rechtliche Basis dazu bildeten mit der Türkei und Jugoslawien abgeschlossene Anwerbeabkommen.13 Im Archiv der Wirtschaftskammer Österreich lagern die Anwerbeakten auf Mikrofilm. Eine erste Sichtung zeigte, dass darunter auch etliche Ansuchen von Firmen aus Lustenau um die Vermittlung von türkischen oder jugoslawischen Gastarbeitern und Gastarbeiterinnen zu finden sind. Neben den Lustenauer Betrieben wie etwa Werner Blatter und Co. (Miederfabrik), Oskar Alge K. G. (Stickerei) und H + R Bösch (Baufirma) finden sich in dem Bestand aber auch Ansuchen vieler anderer Vor­arl­berger Betriebe, darunter auch 13 August Gächter u. a., Von Inlandarbeiterschutzgesetz bis EURDAC-Abkommen, in  : Hakan Gürses/Cornelia Kogoj/Silvia Mattl (Hg.), Gastarbajteri. 40 Jahre Arbeitsmigration, Wien 2004, S. 31–45, hier S. 35.

Alltagsgeschichte der frühen Zuwanderung aus der Türkei 

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die prominenten Firmen F. M. Zumtobel (Dornbirn), Johann Collini (Hohen­ ems) und Kunert Strümpfe (Rankweil). In einer Beilage zum Arbeitsvertrag musste der jeweilige Betrieb seinen zukünftigen Arbeitskräften eine Aufstellung der Verdienstmöglichkeiten und der zu erwartenden Ausgaben beifügen. Die Lustenauer Firma Armin Bösch & Sohn gab im Jahr 1963 den zu erwartenden Bruttostundenlohn für eine türkische Näherin und einen türkischen Zuschneider mit jeweils ÖS 10,- an. Von dem, bei einer Wochenarbeitszeit von 45 Stunden, daraus resultierenden Bruttomonatslohn von ÖS 1.900,- waren dann laut Berechnungen der Firma ÖS 275,- für Steuern und Sozialversicherung abzuziehen. Die Mindesthöhe der Löhne für die Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter wurde ebenso wie für die Österreicherinnen und Österreicher durch die jeweiligen Tarifverträge festgesetzt. Die Lebenshaltungskosten für die künftigen Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen wurden mit ÖS 200,– für Unterkunft, ÖS 650,– für Verpflegung und ÖS 250,- für die »Instandhaltung von Kleidern, Wäsche, Rauchwaren, Getränke, Unterhaltung« kalkuliert. Die möglichen »Ersparnisse pro Monat (bei einfacher Lebensführung)« werden aufgrund obiger Rechnung mit ÖS 525,– ausgewiesen.14 Bei der Abwicklung des oben zitierten Anwerbeauftrags, für ein ganz bestimmtes namentlich genanntes Ehepaar aus Istanbul, kam es jedoch, wie einem Schreiben der Anwerbekommission an die Firma zu entnehmen ist, zu bürokratischen Schwierigkeiten  : »Wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen, daß ihr Auftrag, zwei namentlich genannte türkische Arbeitskräfte anzuwerben, nicht durchgeführt werden konnte. Da es sich bei beiden Personen um Arbeiter handelt, die das illegale türkische Vermittlungsbüro […], namhaft gemacht hat, hat die türkische Arbeitsmarktbehörde deren Vermittlung striktest [sic  !] abgelehnt. Die staatlichen türkischen Stellen bemühen sich seit Jahren, die illegale Arbeitsvermittlung in der Türkei zu bekämpfen, da durch diese Büros den Arbeitern hohe Geldbeträge abgenommen werden und schon zahlreiche Betrügereien verübt wurden.«15

Nach dem in den Anwerbeakten vorhanden Schriftverkehr zu schließen, dürfte der Firma Armin Bösch & Sohn die bereits bezahlte Anwerbepauschale von jeweils ÖS 1.000,– von der Wirtschaftskammer rückerstattet worden sein. Die Namen der Eheleute scheinen jedenfalls im Lustenauer Adressbuch von 1971 nicht auf. 14 Archiv der Wirtschaftskammer Österreich, Anwerbeakten, Mikrofilm Nr. 886, T 74. 15 Ebd.

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Die Versuche der türkischen Behörden, die Migration nach Deutschland und nach Österreich zu kontrollieren und zu reglementieren, müssen jedoch im Gesamten betrachtet als gescheitert angesehen werden. Oftmals wurden die als Touristen eingereisten Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen von bereits hier lebenden Bekannten und Verwandten an die Betriebe, in denen sie selbst schon tätig waren, vermittelt.16 Die Zeitzeugeninterviews, beispielhaft sei hier die Aussage von Adnan Senel angeführt, bestätigen dies und unter den Interviewten findet sich keiner, der offiziell über die Anwerbestelle der Wirtschaftskammer nach Vor­arl­berg kam   : »Zu dieser Zeit [.. war] wenig Arbeit [in Sinop, meiner Stadt]. 1968 [kam mein] Bruder. Bruder hier arbeiten, Firma zusammenreden, dann Arbeitsamt Papiere machen, dann [kam] ich […] gleich [nach] Lustenau. [… 19]78 [ist meine] Frau [dann hiergeblieben].17

Push- und Pull-Faktoren Die Schilderung von Adnan Senel spricht aber auch den wohl stärksten Push-­ Faktor für das Verlassen der Türkei, nämlich die schlechten wirtschaftlichen Chancen in weiten Teilen des Landes, an und verdeutlicht die Tatsache, dass in den ersten Jahren vorwiegend Männer aus der Türkei nach Vor­arl­berg zuwanderten und – wie etwa auch Haydar Yilmaz bestätigt – erst später die Frauen und Kinder folgten  : »Natürlich, mit den Jahren sind die Familien nachgezogen.«18 Auch die Lustenauer Adressbücher belegen, dass erst nach einigen Jahren die türkischen Frauen ihren Ehemännern nachfolgten. Dabei konnten sie hier aufgrund der patriarchalisch geprägten türkischen Familienstrukturen und Verhaltensnormen kaum Lokale besuchen und waren vom Kinobesuch und sportlichen Aktivitäten weitgehend ausgeschlossen. Eine gewisse jugendliche Abenteuerlust und ein »Auswanderungsboom« in Istanbul, finden sich in den Aussagen der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen als weitere, sicher nicht ganz unwesentliche Push-Faktoren  :

16 Andreas Weigl, Migration und Integration. Eine widersprüchliche Geschichte (Österreich  – Zweite Republik. Befund, Kritik, Perspektive 20), Innsbruck 2009, S. 38 f. 17 HistA Lustenau, ZZA  : Interview mit Adnan Senel in deutscher Sprache durchgeführt von Oliver Heinzle am 5.5.2010. 18 HistA Lustenau, ZZA, Haydar Yilmaz.

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»Unsere Situation [in Istanbul] war gut. Alle haben gearbeitet, […] und ich habe in einer guten Firma angefangen zu arbeiten. Die Firma in der ich gearbeitet habe, war sehr gut. Aber alle wollten natürlich nach Europa kommen – und ich habe dann dort gekündigt. Im Jahr 1970 war das. Dann sind wir nach Österreich gekommen, zuerst nach Wien, von dort aus sind wir im Zug umgestiegen und hier her [Lustenau] gekommen.«19

Ismail Özayli, der 1945 in einem Dorf in der nordöstlich gelegenen Provinz Tunceli geboren wurde, folgte mit zwanzig Jahren seinen Brüdern nach Istanbul und kam dann letztlich durch die Vermittlung seines Schwagers, der bereits hier war, nach Vor­arl­berg. Seine Schilderungen verdeutlichen einerseits die bei den Gastarbeitern und Gastarbeiterinnen aus der Türkei oftmals bereits vor der Auswanderung nach Westeuropa erfolgte Binnenmigration von den ländlichen Provinzen in die Wirtschaftsmetropole Istanbul und bestätigen, dass es sich vielfach um eine Kettenmigration gehandelt hat. Auch die meisten anderen Zeitzeugen berichten, dass ihnen ihre Brüder oder andere Familienmitglieder einen Arbeitsplatz in Vor­arl­berg verschafften und hier für eine erste Unterkunft sorgten. Daneben veranschaulicht beispielsweise auch der Kizilca + Lustenau, Kultur- und Sportverein das Ausmaß der Kettenmigration. Etwa 600 in Lustenau lebende Menschen haben laut Angaben der Vereinsleitung Wurzeln in der heute zirka 2000 Einwohner zählenden Kleinstadt Kizilca in der türkischen Provinz Denizli.20 Die wenigsten Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen kamen mit dem Ziel, sich hier für immer niederzulassen. Der ursprüngliche Plan, in kurzer Zeit genug für die Gründung einer guten Existenz in der Türkei zu verdienen, war jedoch kaum zu verwirklichen  : »Wir sind meistens zum Geldverdienen gekommen. Haben wir gedacht  : Ja, kaufe ich ein Auto und mache ich 100.000 Schilling und dann gehe ich wieder heim.«21 Die Schilderung eines weiteren Zeitzeugen, der heute eine Stickerei betreibt, beschreibt einerseits die ersten Eindrücke in Vor­arl­berg und zeigt andererseits die subjektiv empfundenen Vorzüge auf, die sich aus einem Wechsel von einer landwirtschaftlichen Tätigkeit zu einem Arbeitsplatz in die Industrie ergaben  : »Eigentlich waren wir hier auf Besuch [bei den Schwiegereltern], wir wollten reisen und dann wieder zurückkehren. Aber mir hat es hier in Österreich gefallen, die Na19 HistA Lustenau, ZZA  : Interview mit Ismail Özayli in türkischer Sprache durchgeführt von Günay Özayli am 13.2.2011. Übersetzung  : Günay Özayli (sie ist Ismail Özaylis Tochter). 20 Gespräch mit Halil Ilgec (einem damals leitenden Funktionär des Vereins) am 15.12.2011. 21 HistA Lustenau, ZZA, Kazim Sentürk.

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tur (das Grüne). Wie sie wissen, ist es bei uns in den Sommerjahreszeiten sehr heiß, so zirka 35 bis 40 Grad. Wir als Dorfkinder haben den ganzen Tag in der Hitze im Freien gearbeitet. Aber hier arbeitet man in der Fabrik, es ist angenehm, sauber. Du hast strukturierte Arbeitsstunden und auch bestimmte Zeiten frei.«22

Die vielen geleisteten Arbeitsstunden, die Probleme beim Spracherwerb und die bei den meisten Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen nicht verwirklichte Absicht, nach einigen Jahren wieder in die Heimat zurückzukehren, spiegelt sich auch im folgenden Interviewausschnitt  : »In den Stickereien haben wir lange gearbeitet, wir konnten so viele Überstunden machen wie wir wollten. 12, 13 Stunden, Samstag haben wir zum Teil auch 14 Stunden gearbeitet, weil ja am nächsten Tag keine Schicht war. [… Meine Frau] hat mit österreichischen Frauen gearbeitet. Somit konnte sie es [Deutsch] lernen. Ich habe beim Schreiber [Stickerei] gearbeitet, und da waren nur türkische Leute. In dem Haus in dem ich gewohnt habe, waren alle Türken. Da wo ich gearbeitet habe, waren alle Türken. Die Cafés in denen wir waren – alles Türken. Mit [meiner Frau] habe ich türkisch gesprochen, mit den Kindern türkisch. Darum haben wir das nicht gelernt. Es gab auch kein Interesse, es zu lernen. Alle dachten wir würden höchsten 10 bis 15 Jahre hier arbeiten und dann wieder zurückfahren. Das hat dann aber nicht funktioniert, weil die Kinder da waren.«23

Damit beide Elternteile arbeiten konnten, wurden die Kinder oftmals zeitweise in die Türkei geschickt oder hier die Woche über bei Pflegeeltern untergebracht. Wie belastend diese Lebensumstände, vor allem auch für die Frauen, gewesen sein müssen, spiegelt sich im Interview mit Yildiz Delibas wider  : »Meine Kinder sind auf die Welt gekommen. […] Ich habe sie aufgezogen, habe sie zur Betreuung gegeben [Wochenmutter]. Wir haben 2.000, 1.500 Schilling bezahlt und sie am Wochenende immer geholt. Das Wochenende soll endlich kommen, damit wir unsere Kinder sehen, sagten wir uns. Wir vermissten sie, aber wir waren gezwungen, das so zu machen. Wir mussten arbeiten. […] Eine österreichische Frau hat auf meine Kinder geschaut. […] Ich ging in der Früh arbeiten, kam von 12 bis 13.30 Uhr nach Hause und konnte erst um 20, 21 Uhr Abend essen. Schlafen, Aufstehen und wieder das Selbe. […] Dazumal haben wir bis in die Abendstunden im Stehen gearbeitet. Wir wurden müde, unser Rücken tat weh.«24 22 HistA Lustenau, ZZA, Nazmi Karakaya. 23 HistA Lustenau, ZZA, Ismail Özayli. 24 HistA Lustenau, ZZA, Yildiz Delibas.

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Wohnsituation Für einige der Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen organisierten die Vor­arl­ berger Arbeitgeber, wie sich Gerhard Bayer von der Firma Bayer Kartonagen erinnert, Mietzimmer  : »Den ersten Schub [Gastarbeiter], wo man privat hereinkommen hat lassen, haben wir auch selbst untergebracht bei den Leuten [in Untermiete]. Aber das hat sich dann nicht so bewährt und hat sich auch erübrigt. Weil die Türken sind wahnsinnig sparsam gewesen, haben dann [..] Häuser gemietet und dann sind zwanzig, dreißig in einem Haus [..] gewesen. Wie, weiß ich nicht, aber es ist gegangen.«25

Anhand einer Analyse der Wohnverteilung der türkischen Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen im Jahr 1971 und im Jahr 1980 lässt sich feststellen, dass diese damals in Lustenau tendenziell nicht in den nach dem Ersten Weltkrieg erschlossenen Siedlungsgebieten wohnten, sondern dass ein Großteil in den alten Siedlungskernen, in den bereits vor 1913 erbauten Häusern lebten. Dies dürfte auch in anderen Vor­arl­berger Gemeinden der Fall gewesen sein. Die Schilderung von Ali Riza Özayli verdeutlicht die damalige Situation  : »Die Wohnverhältnisse waren [eine] Katastrophe. […] In einem Raum, zehn Leute. Das war brutal. Da war [das] Klo nur ein Loch, kein normales Klo. So war das damals. Das kommt natürlich auch [davon, dass man] nicht viel zahlen wollte.«26 Personen mit türkischen Namen an jeweils einer Adresse in Lustenau

im Jahr 1971

im Jahr 1980

1–3

65 Personen an 33 Adressen

120 Personen an 57 Adressen

4–8

179 Personen an 32 Adressen

346 Personen an 63 Adressen

9–15

152 Personen an 13 Adressen

538 Personen an 46 Adressen

16–39

94 Personen an 4 Adressen

554 Personen an 26 Adressen

Gesamt

490 Personen an 82 Adressen

1.558 Personen an 192 Adressen

Wohnverteilung der Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen aus der Türkei in Lustenau in den Jahren 1971 und 1980 (erstellt von Günay Özayli und Oliver Heinzle)27 25 HistA Lustenau, ZZA  : Interview mit Gerhard Bayer in deutscher Sprache durchgeführt von Oliver Heinzle am 16.8.2011. 26 HistA Lustenau, ZZA, Ali Riza Özayli. 27 Robert Hagen (Hg.), Adressbuch Lustenau 1971, Lustenau 1971  ; Siegfried Hämmerle (Hg.), Adressbuch Lustenau 1980, Lustenau 1980.

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Die Wohnsituation muss damit für viele der aus der Türkei nach Vor­arl­berg gekommenen Menschen unbefriedigend gewesen sein. Vor allem in den von den Einheimischen bald als »Türkenhäuser« bezeichneten alten Häusern wohnten, wie obige Tabelle belegt, sehr viele Menschen auf engstem Raum. Neben der öfters erwähnten Sparsamkeit der Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen aus der Türkei, dürfte jedoch vor allem auch die Tatsache, dass viele Einheimische ihre »schönen Wohnungen« nicht an »die Türken« vermieten wollten, mit ein Grund für die damaligen Wohnverhältnisse gewesen sein. Die Interviewaussagen der ehemaligen Volksschuldirektorin Gertraud Sucher, die im Zuge von Elterngesprächen öfters bei Gastarbeiterfamilien zu Besuch war, verdeutlichen die sehr schlechten Wohnverhältnisse  : »Ich bin dann in die Häuser, und dann habe ich halt gesehen, wie man dort lebt, in den Waschküchen und am Boden. Man hat ja gar keine Tische gehabt. Die Sachen [Hausaufgaben der Schüler] haben am Boden stattgefunden. […] Wie sie [die Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen] gelebt haben, ist damals wirklich eine Katastrophe gewesen. [… Einige haben] keine eigenen Betten gehabt. Es ist immer schön aufgeräumt gewesen in diesen türkischen Häusern. [.. Halt] wie bei uns auch, bei den einen ist es schön, bei den anderen weniger. Aber in der Regel, auch wenn man so gekommen ist, also überraschend, ist es immer sauber gewesen und Spielzeug [für die Kinder] hat man keines gehabt.«28

Auch Saliye Sentürk, die 1972 mit ihrem 18-monatigen Sohn nach Vor­arl­berg kam, berichtet im Zeitzeugeninterview über die schwierige Wohnsituation und die Alltagsprobleme der Menschen, die beispielsweise beim Wäschetrocknen im Winter auftraten  : »Das war schon schwer, das war eine kleine Wohnung. Ganz klein. […] Eine Wäsche habe ich fünf mal, sechs mal draußen aufhängen müssen. Wenn ich [die Wäsche] drinnen aufhänge, dann stinkt das, weil [..] Küche und Stube [ein gemeinsamer Raum war. …] Das war wahnsinnig viel Arbeit, [weil wir hatten] keinen Platz gehabt zum Wäsche aufhängen. Damals [im Jahr 1975] habe ich angefangen [..], etwas genäht, [..] ein bisschen Geld gemacht. Dann habe ich eine Trockenmaschine gekauft. Das war eine wunderbare Sache.«29

In welch einfachen und armen Verhältnissen die Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen aus der Türkei in den ersten Jahren hier in Vor­arl­berg lebten, schildert 28 HistA Lustenau, ZZA  : Interview mit Gertraud Sucher in deutscher Sprache durchgeführt von Oliver Heinzle am 4.1.2009. 29 HistA Lustenau, ZZA, Saliye Sentürk.

Alltagsgeschichte der frühen Zuwanderung aus der Türkei 

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Eines der »Türkenhäuser« in Lustenau (Foto  : Nikolaus Walter)

auch die 1973 aus Samsun gekommenen Yildiz Delibas  : »Die erste Wohnung hatte nur ein Zimmer. Wir hatten ein Ausziehbett […]. Ich hatte zwei Paar Kleidung, eine war immer in der Wäsche.«30 Auch ein Interview mit Ferdinand Ortner, einem ehemaligen Hauptschuldirektor, thematisiert die schlechten Wohnverhältnisse der Familien aus der Türkei. Er sieht darin einen Grund, weshalb gegenseitige Lernhilfe in der Freizeit oftmals nicht zustande kam  : »Die türkischen Eltern […] haben sich lang geweigert, […] Lustenauer Schüler in ihre Wohnungen bzw. Häuser hineinzulassen […]. Ich vermute, sie haben sich, weil man sie in die grausigsten Buden hineingelassen hat, geschämt und umgekehrt haben sie nicht wollen, dass ihre Kinder sehen, wie schön es wir haben.«31

Im Jahr 1980 waren in Lustenau an elf Adressen gar jeweils mehr als 23 Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen gemeldet. Einige dieser, überbelegten und baufälligen Häuser wurden von den Gastarbeitern nur mit der jeweiligen Hausnummer bezeichnet. So handelte es sich bei der »Nr. 5« in Lustenau um das Haus Flurstraße 5.32 30 HistA Lustenau, ZZA, Yildiz Delibas. 31 HistA Lustenau, ZZA  : Interview mit Ferdinand Ortner in deutscher Sprache durchgeführt von Oliver Heinzle am 10.8.2009. 32 HistA Lustenau, ZZA, Ali Riza Özayli.

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Ismail Özayli schildert die Verhältnisse in der legendären »Nr. 30« (Kaiser-­ Franz-Josef-Straße 30, Lustenau  ; hier waren im Jahr 1971 über 40 Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen gemeldet33) und seine beruflichen Erfahrungen wie folgt  : »Da hat es kein Bett gegeben, nur einen Liegestuhl, in dem ich dann zwei bis drei Tage geschlafen habe. Da waren welche, die sind nach Deutschland weiter gefahren. Die waren schon früher da, ein Jahr schon. Die sind nach Deutschland weiter. Ich habe dann den Platz bekommen. […] Dann ist mein Schwiegervater gekommen […]. Dann hat er in meinem Bett geschlafen und ich wieder in der Liege. […] Ich habe gearbeitet, mein Chef mochte mich. Da die Türken, die ein Jahr geabeitet haben, nach Deutschland gewechselt haben, wurde eine Maschine frei. Sie haben dann einen gefragt, ob er die Maschine übernimmt. Das hat er aber nicht angenommen, weil er dachte, er kann das nicht. Dann haben sie es mir gesagt und ich habe gesagt, dass ich das mache, wenn man mir dabei hilft. Ich habe mir Notizen gemacht und Zeichnungen. So habe ich dann gelernt, wie man die Maschine bedient – die Stickmaschinen. So ist die Zeit vergangen und ich wollte [meine Frau] hier her holen. Aber um das zu machen, brauchte man eine Wohnung, die ich nicht hatte.«34

Als die Frau des Zeitzeugen dann überraschend im Jahr 1973 nach Lustenau kam, um hier mit ihrem Ehemann zu leben, kam es bei ihrer Anreise, wie sich Ismail Özayli erinnert, zu Komplikationen  : »Die haben aus der Türkei einen Brief geschickt, dass [meine Frau] kommt. Aber der Brief ist nicht angekommen, weil sie statt Austria (Avusturya), Australia geschrieben haben. […] Dadurch hatte ich keine Ahnung, dass sie unterwegs ist. Eines Tages, ich war gerade im Kino, ist ein Freund gekommen und hat gesagt  : ›Deine Frau ist gekommen.‹«35

Seine Frau hatte sich, als sie bemerkte, dass sie nicht am Flughafen abgeholt wird, kurzerhand ein Taxi von Zürich nach Vor­arl­berg genommen. Heute ist aus diesen damals wohl eher dramatischen Ereignissen – die Taxifahrt war sehr teuer – für die Familie Özayli eine Anekdote geworden. Bei der durch diese überraschende Ankunft notwendig gewordenen Unterkunftssuche erfuhr die junge Familie Hilfe von einem Arbeitskollegen  : »Am gleichen Abend bin ich zu meinem Chef gegangen und habe ihm erzählt, dass 33 Hagen, Adressbuch Lustenau 1971. 34 HistA Lustenau, ZZA, Ismail Özayli. 35 Ebd.

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Süleyman Celik an seinem Arbeitsplatz im Stickerei­ betrieb von Arthur Bösch (Foto  : Arthur Bösch)

meine Frau gekommen ist und ich keine Wohnung habe. Ein österreichischer Mitarbeiter hat in seinem Haus ein freies Zimmer gehabt und hat uns das dann zur Verfügung gestellt.«36 Seine Frau fand als gelernte Schneiderin schnell Arbeit in einer Näherei und im Zuge eines Wechsels der Arbeitsstelle wurde der Familie eine Wohnung in einem Haus zur Verfügung gestellt  : »Sie hatte zwei Zimmer und eine Küche, sie hatte zwar kein Badezimmer aber wir haben eine Wanne aufgestellt und gebadet.«37 Eine andere schnelle und unkonventionelle Lösung wurde auch im Fall der Wohnungsprobleme von Süleyman Celik gefunden. Er war von 1972 bis zu seinem frühen Tod durch einen Verkehrsunfall 1974 bei Arthur Bösch als Hilfsarbeiter in einer Stickerei angestellt. Die Beschreibung von Arthur und Wilhelmine Bösch gibt einerseits Aufschluss über die damaligen Wohnverhältnisse der Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen, schildert aber auch das gemeinsame Zusammenleben  : »Ja, er hat halt gefragt ob man ihn nicht anstellt. […] Er hat schon recht gut Deutsch gekonnt. […] Eines Tages hat er dann gesagt, ich soll ihm helfen eine Wohnung suchen. Da seien 15 in einem Zimmer da oben, und dann ›Stinken‹ hat er gesagt. […] Dann machen wir ihm halt da unten eine Einrichtung […] in einem Nebenraum der Stickerei. Dort ist er eingezogen. […] Das Klo war daneben, eine Heizkocherei hat er 36 Ebd. 37 Ebd.

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gehabt, in der Stickerei, mit einer Platte. Aber zu Mittag habe ihm immer ich gekocht. Und ein Bett, und […] einen Tisch. Er hat dann immer Besuch gehabt, er hat es recht gehabt.«38

Alltagsleben Neben dem gegenseitigen Besuchen in den jeweiligen Unterkünften, das von mehreren Zeitzeugen geschildert wird, war das gemeinsame Fußballspiel eine wichtige Freizeitaktivität für viele Gastarbeiter in Vor­ arl­ berg. Die meisten Gastarbeitermannschaften spielten in einer eigenen, von der Arbeiterkammer organisierten Liga. Als Vereine organisierten sich diese Mannschaften jedoch nicht vor Beginn der 1980er Jahre. Der Verein Türkgücü Lustenau sei hier nur als ein Beispiel von vielen herausgegriffen. Er taucht erst im Jahr 1987 in den Vereinsakten der Sicherheitsdirektion Vor­arl­berg auf.39 Die Mannschaft dürfte jedoch bereits früher auf einer informellen Basis gegründet worden sein. Ismail Özayli war eine Zeit lang für die Finanzen der Mannschaft zuständig und erinnert sich  : »Das war am Damm, dort haben wir gespielt. […] Wir haben einen Fußballclub gegründet. Der Name war ›Türkgücü‹ [Türkische Kraft]. Wir sind dann in die türkischen Caféhäuser und haben Geld gesammelt. Ab und zu sind wir dann nach Deutschland oder in die Schweiz spielen gegangen, gegen andere türkische Mannschaften.«40

Auch die gemeinschaftliche Religionsausübung wurde größtenteils erst ab Ende der 1970er Jahre durch Moscheevereine in den von ihnen eingerichteten Gebetsräumen organisiert. Aber bereits davor hatten viele Gastarbeiter an hohen Feiertagen und im Fastenmonat Ramadan versucht, ihre Gebete gemeinsam mit anderen Gläubigen zu verrichten. Für die Zeit des Ramadan wurden daher, über Vor­arl­berg verteilt, zwei bis drei Lokalitäten gemietet, um den Gläubigen das tägliche gemeinsame Gebet zu ermöglichen. Es scheint dabei in den ersten Jahren des Zuzugs keine gröberen Spannungen mit der katholischen Mehrheitsbevölkerung gegeben zu haben. Ein schönes Beispiel für das Nebeneinander der Religionen finden wir in einem Artikel im Lustenauer Pfarrblatt vom November 38 HistA Lustenau, ZZA  : Interview mit Arthur und Wilhelmine Bösch in deutscher Sprache durchgeführt von Oliver Heinzle am 3.3.2011. 39 Vereinsakt Türkgücü Lustenau, VLA, Rep. 14-324 Vereinsakten der Sicherheitsdirektion 1946– 2002. 40 HistA Lustenau, ZZA, Ismail Özayli.

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Fußballmannschaft Türkgücü Lustenau (Quelle  : Halil Ilgec, Fotograf unbekannt)

1973, der zeigt, dass solche Zusammenkünfte auch in der Unterkirche der Kirche St. Peter und Paul stattfanden.41 Der damalige Pfarrer Eugen Giselbrecht erinnert sich  : »Dann sind sie halt gekommen und haben gefragt ob wir nicht etwas hätten in der Pfarre, wo sie ihr Gebet verrichten können. […] Und die haben dann ihre Teppiche [..] hineingetan, haben ihre Gebete dort drinnen gehalten. Der Raum ist damit eigentlich ganz gut genützt gewesen. Es hat ein gutes Einvernehmen gegeben. […] Ich kann mich nicht erinnern, dass sich da jemand aufgeregt hat.«42

Der Einfluss der islamischen Religion auf das Leben der Gastarbeiter dürfte, wie auch Ismail Özayli bestätigt, jedoch gerade in den ersten Jahren des Zuzugs nicht sehr stark gewesen sein  : »Für die Menschen hat früher die Religion nicht so eine große Rolle gespielt.«43 41 Josef Marte, Türkische Gastarbeiter hielten »Ramadan« in der Unterkirche, in  : Begegnung  : Lus­ tenauer Pfarrblatt (1973), Heft 11, S. 5. 42 HistA Lustenau, ZZA  : Interview mit Eugen Giselbrecht in deutscher Sprache durchgeführt von Oliver Heinzle am 29.7.2009. 43 ZZA Lau, Ismail Özayli.

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Neben dieser Selbstorganisation im religiösen und sportlichen Bereich, war die erste Zeit in Vor­arl­berg für die Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen aus der Türkei auch von einem Mangel an kulturellen Angeboten geprägt. Eine der wenigen Möglichkeiten, in Vor­arl­berg türkische Kultur zu erleben, bot sich in den Kinos. Sowohl in Dornbirn, als auch in Lustenau wurden bereits ab Mitte der 1970er Jahre türkische Filme gespielt. Die ehemalige Kinobesitzerin Rosa Scheffknecht und ihre Tochter Helga erinnern sich  : »Es wird wohl bald gewesen sein, dass es schon um [19]75, 76 [war]. Man hat nämlich ziemlich lange türkische Filme gespielt. Am Samstagnachmittag sind türkische Filme gewesen. Es ist dann dort auch schon nicht mehr so gut [mit dem Kino] gelaufen und Türkenfilme sind sehr gut gegangen. […] Sie [die türkischen Gastarbeiter] haben sich sehr »gehörig« aufgeführt und man hat nie Probleme gehabt mit ihnen. Sie haben auch nicht einen Saustall hinterlassen. […] Bei den anderen hat es auch nicht besser ausgeschaut, bei den Lustenauern.«44

Die Filmvorführungen sind den meisten Zeitzeugen gut im Gedächtnis geblieben und wurden damals von türkischen Gastarbeitern organisiert, die die Filmrollen aus Deutschland besorgten  : »Das war ein Türke, der das organisiert hat. […] Jede Woche ist einmal immer [ein] neue[r] Film gekommen.«45 Für Lustenau kann festgestellt werden, dass um das Jahr 1982 bereits keine türkischen Filme mehr gespielt wurden. Dies dürfte auch eine Folge des damaligen Aufkommens der relativ günstigen VHS-Videorecorder sein. 1994 nahm der erste türkische Fernsehsatellit seinen Betrieb auf und ermöglichte den Konsum von türkischen Fernsehprogrammen in Vor­arl­berg. In ihrer Freizeit waren die Gastarbeiter aus der Türkei jedoch auch Diskriminierungen ausgesetzt. Lokalverbote waren damals wie etliche Zeitzeugen berichten in etlichen einheimischen Gasthäusern und Tanzlokalen an der Tagesordnung  : »Da haben [sie, die Einheimischen] uns […] Türken, wenn wir zum Beispiel irgendwo einen Lokalbesuch [… machen wollten], dann haben sie uns nicht gelassen.«46 Auch Ismail Özayli erinnert sich an diese gängige Praxis  : »Wir haben nicht so viel mit Österreichern gesprochen. Ab und zu sind wir in ein österreichisches Lokal. In einige Lokale durften wir nicht rein. Sie haben uns nicht rein gelassen weil, [.. wir] alleinstehend waren. Es gab schon ab und zu welche, die nach 44 HistA Lustenau, ZZA  : Interview mit Helga und Rosa Scheffknecht in deutscher Sprache durchgeführt von Oliver Heinzle am 27.7.2011. 45 HistA Lustenau, ZZA, Ali Riza Özayli. 46 Ebd.

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Pfarrer Eugen Giselbrecht (ganz links) im Gespräch mit türkischen Gastarbeitern in der Unterkirche von St. Peter und Paul (Foto  : Lustenauer Pfarrblatt Begegnung, Fotograf unbekannt)

einem oder zwei Gläsern betrunken waren, [… weil sie] davor in der Heimat keinen Alkohol getrunken hatten.«47

Die Tatsache, dass etliche der Zeitzeugen heute für diese Situation Verständnis zeigen und mit Begründungen für diesen Ausschluss aus einem Teil des öffentlichen Lebens aufwarten, ist vermutlich der stetigen Neuinterpretation der eigenen Biographie geschuldet, sollte uns jedoch nicht über die damals erlittenen emotionalen Verletzungen hinwegtäuschen. Ismail Türkyilmaz, der  – wie er im Zeitzeugeninterview erzählt  – bereits ein wenig Deutsch konnte, als er nach Vor­arl­berg kam, sieht darin mit einen Grund für die Entstehung und den Erfolg von türkischen Gaststätten in Vor­arl­berg und schildert sein ersten Jahre als Gastronom  : »Türkische Menschen waren in den meisten österreichischen Lokalen nicht willkommen. Die österreichischen Leute hat es gestört, wenn türkische Leute am Tisch saßen, weil die Türken wenn sie zusammen saßen eine recht große Gruppe waren und sie viel 47 HistA Lustenau, ZZA, Ismail Özayli.

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geredet haben. […] Zuerst habe ich in Frastanz ein Lokal eröffnet. Es gibt das Cafe immer noch, es trägt den Namen ,Karadeniz‘ [Schwarzmeer]. 1970 habe ich das Gewerbe für Hotel/Restaurant bekommen. In diesem Jahr habe ich das Lokal in Frastanz eröffnet. Es war so voll, stellen Sie sich vor, es gibt in ganz Vor­arl­berg nur dieses Lokal wo sich die türkischen Menschen versammeln können. Dann habe ich gesehen, dass es noch mehr Lokale benötig. Ich habe dann in Dornbirn die Bierhalle vis-a-vis des Bahnhofs gefunden – heute gibt es sie nicht mehr, sie wurde abgerissen. Wir haben das mit einem Freund aus Dornbirn, Isan Akpinar, zusammen übernommen. Ein Freund aus Sivas. Dann haben wir geschaut, wo es noch viele türkische Menschen gibt und haben [… den Kronenkeller] in Lustenau, hinter dem Hotel Krone übernommen.«48

Auch in der Wahrnehmung der meisten anderen befragten Zeitzeugen aus der Türkei waren in Vor­arl­berg vor allem Dornbirn und Lustenau Zentren der Zuwanderung aus der Türkei. Wobei hier wiederum Lustenau, wie es scheint, als ein besonderer Ort wahrgenommen wurde  : »Damals [.. hatten die] Lustenauer mit [den] Gastarbeitern besseren Kontakt. Jeder [hat] uns gerne geholfen. [… Es] war sehr schön.«49 Einen schlüssigen Anhaltspunkt für die oftmals angesprochene Sonderstellung Lustenaus bei den Gastarbeitern und Gastarbeiterinnen aus der Türkei finden wir in der Schilderung von Ismail Türkyilmaz  : »Lustenau war in Vor­arl­berg der Ort für die Türken, wo sie am besten behandelt wurden. Es wurde versucht, mit den Leuten Kontakt zu halten, man hat sich genähert, das war Lustenau. Da gab es die Stickereibranche.«50 Die im Vergleich zu Dornbirn und etlichen anderen Vor­arl­berger Gemeinden anders geartete Wirtschaftsstruktur – in Lustenau gab es sehr viele kleine Stickereibetriebe – ließ viele private Kontakte durchaus zu, ja ermöglichte sie erst. Diese These veranschaulicht unter anderem das in der Ausstellung »Migrationen in der Geschichte Lustenaus« gezeigte Fotoalbum des bereits zitierten Stickers Arthur Bösch. In seinem Familienalbum finden sich Fotos der Familie mit den in der Stickerei beschäftigten Arbeitern aus der Türkei. Den auf der Seite mit der Überschrift »Unsere Türken« festgehaltenen Süleyman Celik finden wir weiter hinten im Album nochmals auf Familienfotos, die anlässlich des Besuches einer Tante aus Australien, aufgenommen wurden. Es fällt auf, dass Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen ihre Aufnahme in Vor­ arl­berg und die sicher sehr oft schwierigen Lebensumstände in den ersten Jahren in Vor­arl­berg allgemein recht positiv bewerten. Auch allfällige Kontakte zu österreichischen Arbeitskollegen und Vorgesetzten werden vielfach als freund48 HistA Lustenau, ZZA, Ismail Türkyilmaz. 49 HistA Lustenau, ZZA, Kazim Sentürk. 50 HistA Lustenau, ZZA, Ismail Türkyilmaz.

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Gastarbeiter im Gastgarten vor dem Kronenkeller in Lustenau (Foto  : Ismail Özayli, Fotograf unbekannt)

lich und herzlich beschrieben  : »Wenn man sich […] etwas interessiert hätte [sic], waren die einheimischen Leute echt freundlich. Die haben mitgeholfen, das muss man zugeben. […] Ja, die haben sich Mühe gegeben.«51 Im Gegensatz zu den meisten anderen Zeitzeugen und Zeitzeuginnen spricht Yildiz Delibas ihre Sprachschwierigkeiten offen an  : »Ich kann kein Deutsch. Wenn ich Deutsch könnte, würde ich sehr gerne mit ihnen reden. Auch mit meiner Nachbarin. […] Ich habe keinen Kontakt zu Österreicherinnen. Das hätte ich aber gerne, da ich auch gerne rede. Aber es ist mein Fehler, weil ich es nicht kann. Wir grüßen uns nur  : ›Wie geht’s … Es geht mir gut. [Deutsch]‹ So ist das.«52

Nicht nur die hier geschilderte persönliche Isolation, sondern auch ein gewisser Ausschluss aus dem öffentlichen Leben der nichttürkischen Gesellschaft sind Folgen des Nichtbeherrschens der deutschen Sprache. Dass die mangelnde Sprachkompetenz auch gewisse Verdrängungsmechanismen fördert, zeigt folgende Bemerkung  : 51 HistA Lustenau, ZZA, Haydar Yilmaz. 52 HistA Lustenau, ZZA, Yildiz Delibas.

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Oliver Heinzle

»Wir hatten nicht so Probleme mit der Sprache, weil es welche gab, die für uns übersetzt haben. Fürs Einkaufen haben wir das Wichtigste gelernt. Wir hatten keine Probleme, die Geschäfte haben sich um uns gekümmert, haben Interesse gezeigt. Mit Zeichen konnte man sich unterhalten.«53

Die moderne Lebenslaufforschung geht mittlerweile davon aus, dass sich die Interpretation der eigenen Vergangenheit mit fortlaufendem Alter verändert.54 Erinnerungen werden gefiltert und geschönt und entsprechen dadurch sehr oft nicht mehr dem tatsächlich Geschehenen. Bei der Beurteilung all dieser Interviewaussagen darf dies und die Tatsache, dass die offizielle Interviewsituation, allfällige Erwartungshaltungen des Interviewers aber auch Probleme, sich in der Interviewsprache auszudrücken, die Aussagen beeinflussen können, nicht vergessen werden. Die Aussagen der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen belegen, dass die meisten der in Vor­arl­berg lebenden älteren Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen mittlerweile hier »angekommen« sind. Davon zeugt nicht zuletzt die Fertigstellung des islamischen Friedhofs in Altach im Jahr 2012. Saliye Sentürk steht mit dem Satz  : »Inzwischen ist Österreich zweite Heimat geworden«,55 gewiss nicht allein. Die meisten der aus der Türkei gekommenen Menschen, haben sich ungeachtet aller Widrigkeiten in Vor­arl­berg ein neues Zuhause schaffen können.

53 HistA Lustenau, ZZA, Ismail Özayli. 54 Johanna Romberg, Wie das Leben glückt, in  : Geo. Die Welt mit anderen Augen sehen 36 (2011), Heft 6, S. 125. 55 HistA Lustenau, ZZA, Saliye Sentürk.

August Gächter

Nach den »Gastarbeitern« Einwanderung in Vor­arl­berg seit 1985

Einleitung Einwanderung ist in Vor­arl­berg nichts Neues.1 Gewöhnlich braucht es aber einigen zeitlichen Abstand, um sich ihr überhaupt und einen noch größeren, um sich ihr akzeptierend zuzuwenden. So wurde die Einwanderung aus dem Trentino, die nicht ganz, aber im Wesentlichen 1914 ihren Abschluss fand, erst ab den 1970er Jahren zunehmend freundlich beschrieben, während unmittelbar nach Ende der Nazizeit der Landesstatistiker das »Eindringen der Italiener«2 noch höchst gehässig kommentiert hatte. Man merkt hier – neben anderem – vor allem auch die Generationenabstände. Die 1970er Jahre waren zwei Generationen nach 1914, 1945 nur eine Generation. Heute beginnt die Bewertung der Einwanderung der 1960er und 1970er Jahre allmählich zu kippen. Die Kommentare sind zurückhaltender geworden. Es wird offenkundig, dass aus den seinerzeitigen männlichen Jugendlichen ehrbare ältere Herren geworden sind, die im Eigentum wohnen und mit ihren Enkelkindern spazieren gehen. Damit ändert sich auch der Blick auf die Generation dazwischen, jene »zweite Generation«, die es in aller Regel am schwersten hat. Das alles geschieht, aber mit großer Bedächtigkeit. Die Freundlichkeit setzt sich durch, aber spät und langsam. Dieser Beitrag beleuchtet die neuere Einwanderung, jene, die sich in den letzten 30 Jahren ereignet hat und zu der noch kein historischer Abstand besteht. Für alle jene, die heute in Vor­arl­berg an entscheidenden Stellen sitzen, ist es die Einwanderung, mit der sie in ihrem Erwachsenenleben zurechtkommen mussten. Die Bemühung in diesem Beitrag ist, vor allem die Fakten sprechen zu lassen. Diese sind zu wenig bekannt, obwohl es seit 1985 bereits drei Volkszählungen gegeben hat und 120 quartalsmäßige Mikrozensen. Es ist möglich, mehr zu wissen, es rascher zu wissen, und Aussagen und Entscheidungen näher an den Fakten zu treffen, als das bisher stets geschehen ist. 1 2

Peter Melichar, Fremd – werden, sein, bleiben  ; in  : Andreas Rudigier/Gerhard Grabher (Hg.), buchstäblich vorarlberg (Katalog vorarlberg museum), Bregenz 2013, S. 69–73. Ferdinand Ulmer, Das Eindringen der Italiener in Vor­arl­berg. Eine historische Reminiszenz, in  : Vor­arl­berger Wirtschafts- und Sozialstatistik 2/1 (1946), S. 541.

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August Gächter

Die eingewanderte Bevölkerung – Geburtsort Im Jahr 2011, dem Jahr der ersten Registerzählung, waren rund 17,4 Prozent der Wohnbevölkerung von Vor­arl­berg im Ausland geboren worden. Freilich besagt der Geburtsort wenig. Manche wurden vielleicht nur im Ausland geboren, ohne dort je länger gelebt zu haben, und bei anderen ist von der früheren Lebensphase im Ausland heute vielleicht nur mehr wenige oder gar nichts zu bemerken, sodass man nicht auf die Idee käme, eine Herkunft aus dem Ausland zu vermuten. Es ist auch unklar, was man mit der Information, dass jemand im Ausland geboren worden sei, anfangen soll. Soll man die Person deswegen schlechter behandeln, soll man sie besser behandeln, soll man ihr besondere Eigenschaften unterstellen  ? Das heißt, sobald man anfängt darüber nachzudenken, was man aus dem Wissen um den Geburtsort schließen solle, wird man schnell ratlos. In den Volkszählungen wurde nur in größeren Abständen nach dem Geburtsort gefragt. 2001 waren 15,3 Prozent der Wohnbevölkerung im Ausland geboren worden, 1971 waren es 13 1951 13,1 und 1934 9,5 Prozent. Die Steigerungen waren offensichtlich nicht kontinuierlich. 1951 war der Anteil der im Ausland Geborenen um die Hälfte größer als 1934, aber 1971 war er gleich hoch wie 1951, und während in den 30 Jahren von 1971 bis 2001 eine Steigerung um 2,3 Prozentpunkte zustande kam, waren nach 2001 für eine Steigerung um 2,1 Prozentpunkte nur zehn Jahre nötig. Mit anderen Worten, der Zuzug der 1950er und 1960er Jahre trug zum Wachstum der Wohnbevölkerung ziemlich genau gleich viel bei wie der Geburtenüberschuss. In den 1970er, 1980er und 1990er Jahren trug er ein wenig mehr bei und erst in den 2000er Jahren merklich mehr. In der Volkszählung 1971 wurde zum letzten Mal nach dem Geburtsbundesland gefragt. Damals waren 11,5 Prozent der Bevölkerung Vor­arl­bergs in einem anderen Bundesland geboren. Zusammen mit den 13,1 Prozent im Ausland Geborenen und den zwei Prozent mit unbekanntem Geburtsort summierte sich das auf 26,5 Prozent mit Geburtsort außerhalb Vor­arl­bergs, also mehr als ein Viertel der Bevölkerung. Das stand in deutlichem Gegensatz zur politischen Absicht der Landesregierung, die stets jeden Zuzug negativ beurteilt hatte. Seit 2007 ist es auf Grundlage des Zentralen Melderegisters (ZMR) beziehungsweise des Bevölkerungsregisters (POPREG) der Bundesanstalt Statistik Österreich möglich, nicht nur zu den Volkszählungen, sondern jährlich über die im Ausland geborene Bevölkerung Bescheid zu wissen, wenngleich die Zahlen bisher noch Schätzelemente enthalten, die jedoch jedes Jahr kleiner werden. Demnach ist der Anteil der im Ausland geborenen Bevölkerung vom Jahresbeginn 2007 bis zum Jahresbeginn 2013 von 16,9 auf 17,8 Prozent gewachsen. Dieser Zuwachs wurde zu drei Vierteln von in Deutschland Geborenen bestrit-

Nach den »Gastarbeitern« 

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Türkischunterricht, Hauptschule Hohenems, 1993 (Foto  : Nikolaus Walter, vorarlberg museum)

ten. Deutschland (17.266) hat mit Jahresbeginn 2013 auch die Türkei (16.852) als wichtigstes Geburtsland überholt. An dritter Stelle folgt mit großem Abstand Bosnien-Herzegowina (5.562). Zahlen für Deutschland sind mit Vorsicht zur Kenntnis zu nehmen, da seit 1987 keine Volkszählung mehr stattgefunden hatte und die Ergebnisse der Registerzählung 2011 noch nicht verfügbar waren. Aus der Schweiz und aus Liechtenstein sind keine Daten über den Geburtsort der Bevölkerung verfügbar. Zuzug in erwerbsfähigem Alter Die Frage, wann die Bevölkerung zugezogen ist, lässt sich für all jene, die vor 2007 zugezogen sind, nicht mit Registerdaten, sondern nur mit Hilfe von Befragungsdaten beantworten (Mikrozensus). Diese beziehen aber nicht die gesamte Bevölkerung ein, sondern nur jene in Privathaushalten. Im Durchschnitt der Jahre 2012 und 2013 lebten in Vor­arl­berg rund 16.000 Menschen, die seit 2006 aus dem Ausland zugezogen waren, etwa 11.800, deren Aufenthalt zwischen 1998 und 2005 begonnen hatte, etwa 15.600 mit Aufenthaltsbeginn zwischen 1985 und 1997 und etwa 18.900, bei denen er schon weiter zurücklag. In Summe sind das etwa 62.300 Personen, also rund ein Sechstel der in Privathaushalten

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lebenden Landesbevölkerung. Das heißt aber auch, dass die in den letzten 30 Jahren zugezogene Bevölkerung mehr als doppelt so groß ist wie jene, die zwischen Mitte der 1950er und Mitte der 1980er Jahre zugezogen ist. Daher ist es heute schon recht anachronistisch, wenn außerhalb der Museen noch immer das Gastarbeiterbild strapaziert wird. Von den 62.300 aus dem Ausland zugezogenen Menschen waren drei Viertel (46.500) zum Zeitpunkt ihres Zuzugs bereits mindestens 15 Jahre alt und damit in erwerbsfähigem Alter. Davon waren 13.500 erst seit 2006 zugezogen und 9.700 zwischen 1998 und 2005. 11.600 waren zwischen 1985 und 1997 zugezogen und 11.700 vor 1985. Hier summiert sich der Zuzug der letzten 15 Jahre somit auf 23.200, also ziemlich genau die Hälfte der gesamten 46.500. In allen Perioden machten die Frauen etwa 55 Prozent aus, die Männer etwa 45. Bevölkerung in Privathaushalten, die bei Aufenthaltsbeginn mindestens 15 Jahre alt war, nach der Zuzugsperiode und dem Geburtsstaat, Durchschnitt 2012–2013 (HR+BA = Kroatien und BosnienHerzegowina   ; OSO = übriges Ost- und Südosteuropa   ; T = Türkei) 3 Bevölkerung in Privathaushalten, die bei Aufenthaltsbeginn mindestens 15 Jahre alt war, nach der Zuzgsperiode und dem Geburtsstaat, Durchschnitt 2012-2013

15.000 14.000 13.000 12.000 11.000 10.000 Sonst

9.000

TR

8.000

OSO HR+BA

7.000

EU2004/2007

6.000

EU15/EFTA

5.000 4.000 3.000 2.000 1.000 0

1956-1984

1985-1991

1992-1997

1998-2005

seit 2006

 

Neu am Zuzug seit 2006 ist, dass diejenigen in erwerbsfähigem Alter zu mehr als der Hälfte, nämlich zu 54 Prozent, in den EU15/EFTA Staaten geboren wurden, vorwiegend in Deutschland. An der von 1998 bis 2005 im Alter von mindestens 15 Jahren zugezogenen Bevölkerung machen sie nur 35 Prozent aus, 1992 bis 1997 30 und 1985 bis 1991 nur zwölf Prozent. Hier haben die Männer in der seit 1992 zugezogenen Bevölkerung ein leichtes Übergewicht. Die 3 Eigene Berechnungen anhand der Mikrodaten der Mikrozensus-Arbeitskräfteerhebung der Bundesanstalt Statistik Österreich der acht Quartale von 2012 und 2013.

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Zunahme der in Deutschland geborenen Bevölkerung kam nicht von ungefähr. Trotz des phasenweise starken Flüchtlingszustroms, der von 1988 bis 1995 und von 1998 bis 2005 jeweils etwa 200.000 Personen nach Österreich brachte, war parallel auch fast immer Anwerbung von Arbeitskräften aus dem Ausland nötig, um den Bedarf zu decken. Die Existenz Österreichs ist auf der Welt relativ wenig bekannt, die Vor­arl­bergs noch weit weniger, sodass Leute nicht ausreichend oft von selbst den Weg hierher finden. Das trifft auch auf Deutschland zu. Daher begann das Arbeitsmarktservice (AMS) 1997 in mehreren Bundesländern, auch in Vor­arl­berg, aktiv Arbeitskräfte im Südwesten der ehemaligen DDR anzuwerben. Das hat, wie die Daten nun zeigen, vielfach zur Niederlassung in Vor­arl­berg geführt, auch wenn man einen Teil, vor allem der Männer, nach wie vor in Arbeiterquartieren vorfindet. Auch die Bedeutung der 2004 und 2007 hinzugekommenen EU-Mitgliedsstaaten für die Versorgung Vor­arl­bergs mit Arbeitskräften hat zugenommen. Vom Zuzug in erwerbsfähigem Alter seit 2006 bestritten sie 13 Prozent, nachdem sie 1998 bis 2005 nur neun und 1992 bis 1997 nur ein Prozent ausgemacht hatten. Auch in diesem Fall ist das direkt mit der Anwerbung von Arbeitskräften durch das AMS und teils auch durch private Arbeitsvermittler, etwa in Pflegeberufen, verbunden. Ebenso zugenommen hat die Bedeutung von Herkunftsländern außerhalb Europas. Am Zuzug in erwerbsfähigem Alter seit 2006 machten sie 13 Prozent aus gegenüber elf Prozent in der Periode 1998 bis 2005, acht Prozent 1992 bis 1997 und sieben Prozent 1985 bis 1991. Im Gegenzug haben andere Herkunftsländer an Bedeutung eingebüßt. An der 1985 bis 1991 in erwerbsfähigem Alter zugezogenen Bevölkerung hat die Türkei einen Anteil von 46 Prozent, an jener von 1992 bis 1997 18, 1998 bis 2005 25 und seit 2006 nur elf Prozent. Die Reform des Fremdenrechts im Jahr 2005 war explizit gegen den Familiennachzug aus den vormaligen Gastarbeiterländern gerichtet, aber, wie man sieht, hatte sich der türkische Anteil schon lange vorher verringert. Ganz ähnlich verlief es mit Serbien. Zusammen mit den anderen Staaten Ost- und Südosteuropas bestreitet es elf Prozent der 1985 bis 1991 in erwerbsfähigem Alter zugezogenen Bevölkerung, acht Prozent jener von 1992 bis 1997, zwölf Prozent jener von 1998 bis 2005, wobei hier die Flüchtlinge aus Tschetschenien mit enthalten sind, und fünf Prozent jener seit 2006. Kroatien und Bosnien-Herzegowina bestreiten 36 Prozent der zwischen 1992 und 1997 in erwerbsfähigem Alter zugezogenen Bevölkerung, was dem Krieg geschuldet ist, der im April 1992 begonnen wurde, und auch 19 Prozent jener, die 1985 bis 1991 zugezogen ist, aber nur sechs Prozent jener aus 1998 bis 2005 und nur vier Prozent jener seit 2006. Die Geschlechter sind meist recht ausgewogen vertreten. Die aus der Türkei zugezogene Bevölkerung hat in manchen Perioden einen Männerüberhang,

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während alle anderen außer den EU15/EFTA Staaten zu leichten Frauenüberhängen tendieren. Staatsangehörigkeit Anders als der Geburtsort wurde die Staatsangehörigkeit bei jeder Volkszählung seit 1918 erfasst. Die Staatsangehörigkeit gibt Auskunft über den Besitz beziehungsweise den Mangel fundamentaler Rechte. Dazu gehört zunächst das Recht, den weiteren Aufenthalt in Österreich selbst zu bestimmen, das in letzter Konsequenz nur Staatsbürgerinnen und Staatsbürger besitzen. Nur sie genießen Aufenthaltssicherheit und damit auch Planungssicherheit in vollem Umfang. Die Staatsbürgerschaft nicht zu besitzen bedeutet stets einen Risikofaktor  : Der umso größer ist, je unsicherer die fremdenrechtliche Stellung. Im Vergleich zu neun anderen europäischen Staaten (Schweiz, Deutschland, Frankreich, Belgien, Niederlande, Großbritannien, Dänemark, Schweden, Norwegen) hat Österreich seit 2006 die restriktivsten Einbürgerungsregelungen. Während sie in der Schweiz und in Deutschland, die 1980 und 1990 restriktivere Regeln hatten als Österreich, in den 1990er Jahren gelockert wurden, wurden sie in Österreich in den 1990er Jahren ein wenig und in den 2000er Jahren erheblich strenger.4 Bei der Volkszählung 1961 besaßen in Vor­arl­berg nur 3,4 Prozent der Bevölkerung nicht die österreichische Staatsangehörigkeit. Dem waren seit 1945 eineinhalb Jahrzehnte einer dezidierten Bundespolitik vorausgegangen, die darauf zielte, Österreich quasi ausländerfrei zu machen. Zum einen war das durch zahlreiche, zum Teil durch die Alliierten geforderte Einbürgerungen bis 1955 und zum anderen durch die Förderung der Auswanderung oder Abwerbung von Fremden in andere Länder bewirkt worden. 1951 hatten noch fünf Prozent der Bevölkerung Vor­arl­bergs nicht die österreichische Staatsbürgerschaft gehabt, wovon viele staatenlos waren. Bis 1971 stieg der Anteil auf 9,2, dann bis 1981 auf 11,1 und 1991 auf 13,3 Prozent, wo er auch 2001 verharrte. 2011 betrug er zu Jahresbeginn 13,1 und zu Jahresende 13,4 Prozent. Von Jahresbeginn 2002 bis 2007 war er von 13,5 auf 12,5 gesunken, aber zu Jahresbeginn 2013 betrug er wieder 13,7 Prozent. Auch die Anzahl nahm von 47.553 auf 45.704 ab und stieg dann auf 51.170, nicht zuletzt weil im Jahr 2006 Verschärfungen in Kraft getreten waren, die den Erwerb der Staatsbürgerschaft neuerlich erschwerten. 4 Ruud Koopmans/Ines Michalowski/Stine Waibel, Citizenship Rights for Immigrants  : National Political Processes and Cross-National Convergence in Western Europe, 1980–2008, in  : American Journal of Sociology 117 (2012), Heft 4, S.  1202–1245, [www.wzb.eu/files/mit/indicators.xls], Zugriff  : 30.11.2014.

Nach den »Gastarbeitern« 

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Es gab aber auch andere Gründe, warum die Bevölkerung ohne österreichische Staatsangehörigkeit wieder zunahm. Die Anwerbung von Arbeitskräften in Deutschland ab 1997 hat die Zahl der EU-Bürgerinnen und -Bürger markant gesteigert. Zum einen war ihre Aufenthaltsdauer zu kurz, um sich einbürgern lassen zu können, zum anderen ist für sie ein Wechsel der Staatsbürgerschaft nicht so ergiebig, dass er die Kosten und den Zeitaufwand rechtfertigte. Während in Vor­arl­berg die Anzahl der Personen ohne österreichische Staatsbürgerschaft zwischen Jahresbeginn 2002 und Jahresbeginn 2013 um 7,6 Prozent zunahm, stieg beispielsweise jene der Personen ohne deutsche Staatsbürgerschaft in Baden-Württemberg im selben Zeitraum um nur ein halbes Prozent oder wahrscheinlich sogar noch weniger. Allerdings verringerten sich in Baden-Württemberg die türkischen Staatsangehörigen um ein Sechstel, in Vor­arl­berg aber sogar um mehr als ein Viertel. In beiden Ländern geht das teils auf neue Restriktionen beim Familiennachzug, teils auf Einbürgerungen und teils auf Wegzüge zurück. Auch die Zahl der Staatsangehörigen von Nachfolgestaaten des früheren Jugoslawien ging in Baden-Württemberg um nur 13, in Vor­arl­berg aber um 24 Prozent zurück. Starke Zuwächse gab es in Vor­arl­berg vor allem bei den deutschen Staatsangehörigen, deren Zahl sich auf fast 14.000 mehr als verdoppelte. In der Schweiz nahm die Zahl der ausländischen Staatsangehörigen in der ständigen Wohnbevölkerung im selben Zeitraum um 29 Prozent zu, in Liechtenstein um geschätzte acht.5 Österreicher stellen in Liechtenstein mit seit 1990 gleichbleibend knapp über 2.000 Personen die größte Gruppe an ausländischen Staatsangehörigen. Im Kanton St. Gallen war die Zunahme der ständig wohnhaften ausländischen Staatsangehörigen mit 22 Prozent unter dem Schweizer Durchschnitt, in Graubünden mit 38 und im Thurgau mit 34 Prozent lag sie darüber. In Appenzell Innerrhoden nahm sie um nur vier Prozent zu, in Außerrhoden um acht. Innerhalb des Kantons St. Gallen war die Zunahme der ständig wohnhaften ausländischen Staatsangehörigen im Bezirk Rheintal besonders groß. Das legt nahe, dass Österreicher und eventuell Deutsche eine wichtige Rolle spielten. Im Vergleich zwischen Jahresbeginn 1991 und 2013 stieg die Wohnbevölkerung ohne inländische Staatsbürgerschaft in Vor­arl­berg um 16 Prozent, in Liechtenstein um 13, in den Kantonen St. Gallen und Thurgau um jeweils 66, 5 Bundesamt für Statistik, Neuchatel, [http://www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/­ 01/07/blank/key/01/01.html], Zugriff   : 30.11.2014   ; Wilfried Marxer, Menschenrechte in Liechtenstein – Zahlen und Fakten 2013, Bendern 2013, [http://www.liechtenstein-institut.li/ Portals/0/contortionistUniverses/408/rsc/Publikation_downloadLink/2013_Menschenrechte_ Bericht_final_2.pdf ], Zugriff  : 30.11.2014  ; eigene Berechnungen.

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in Graubünden um 83, in Innerrhoden um 39, in Außerrhoden um 21 Prozent. Das relativ geringe Wachstum in Liechtenstein verdankt sich einer gesteigerten Zahl an Einbürgerungen, vor allem aus der Schweiz. Mitbestimmung Mit der Staatsbürgerschaft sind Mitbestimmungsrechte verbunden. Im Durchschnitt der Jahre 2012 und 2013 waren in Vor­arl­berg 13,7 Prozent der Bevölkerung ab 16 Jahren wegen ihrer Staatsbürgerschaft nicht zu Landes- oder Bundeswahlen wahlberechtigt. 2011 waren im Jahresdurchschnitt 41.140 Personen betroffen. Davon waren 18.290 (6,1 Prozent) zum Gemeinderat und zu Europawahlen wahlberechtigt, 22.850 (7,6 Prozent) zu keinerlei Wahlen. In Dornbirn sind rund zwölf Prozent der Bevölkerung in wahlfähigem Alter zu keiner Wahl berechtigt, in den anderen Gemeinden ab 10.000 Einwohnerinnen und Einwohner sind es rund neun Prozent, in den Gemeinden mit weniger als 10.000 Einwohnerinnen und Einwohner sind es im Durchschnitt rund fünf Prozent. Hier bestehen offenkundige Demokratiedefizite, die allerdings weder die Gemeinden noch das Land direkt beheben können. Sie können nur an die Koalitionsparteien appellieren, entweder den Zugang zur Staatsbürgerschaft auf europäisches Niveau zu bringen oder den Gemeinden die Möglichkeit zu eröffnen, Einwohnerinnen und Einwohner für die vorzeitige Einbürgerung zu nominieren, ohne dass andere Kriterien erfüllt sein müssen. Wer nicht individuell durch Teilnahme an Wahlen mitbestimmen kann, hat eigentlich nur die Möglichkeit, als Gruppe aufzutreten, sei es als Verein oder als Demonstrationszug, und sich als Gemeinschaft statt als Individuum Gehör zu verschaffen. Zugleich entsteht dadurch aber der Eindruck, die betreffenden Personen seien von innen her nicht in der Lage, individuell zu handeln, sondern stets nur als Gemeinschaft, dass sie also keine Psyche hätten, sondern stattdessen Kultur.6 Dass die äußeren Umstände sie dazu zwingen, entgeht den Beobachterinnen und Beobachtern. Die letzteren fallen auf den »Fundamentalen Zuschreibungsfehler« (fundamental attribution error) herein. Er besteht darin, alles Verhalten anderer Menschen inneren Antrieben zuzuschreiben statt äußeren Umständen, selbst dann, wenn die äußeren Umstände bekannt sind.7 6 7

Ayşe Ş. Çağlar, Das Kulturkonzept als Zwangsjacke in Studien zur Arbeitsmigration, in  : Zeit­ schrift für Türkeistudien 1 (1990), S. 93–105. Lee Ross, The Intuitive Psychologist and his Shortcomings  : Distortions in the Attribution Process, in  : Advances in Experimental Social Psychology 10 (1977), S. 173–220.

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Die grundlegendste Form der Mitbestimmung ist freilich, ganz alltäglich sichtbar und hörbar sein zu dürfen, sei es durch die eigene Sprache, die eigene Kleidung oder durch eigene Bauwerke. Diese Art der Mitbestimmung wird vielfach an einem einzelnen Folkloretag im Jahr sozusagen eingefordert, aber ein täglich sichtbares religiöses Bauwerk, das mit dem Kirchenturm in Konkurrenz treten könnte, ist noch immer Tabu. Aufenthaltsstatus Zu Jahresbeginn 2012 besaßen 49.750 Einwohnerinnen und Einwohner Vor­ arl­ bergs nicht die österreichische Staatsbürgerschaft. Davon hatten 20.938 eine EU- oder EFTA-Staatsbürgerschaft und 28.812 nicht. Die EU- und EFTA-Staatsangehörigen mit weniger als vier Jahren Aufenthaltsdauer sind aufenthaltsrechtlich in Gefahr, sobald sie den Lebensunterhalt nicht mehr aus eigenen Kräften bestreiten können. Ab vier Jahren Aufenthalt genießen sie aber ein hohes Maß an Aufenthaltssicherheit. Unter den 28.812 sogenannten Drittstaatsangehörigen waren 13.661 türkische Staatsangehörige, also fast die Hälfte. Sie sind durch das Assoziationsabkommen aufenthaltsrechtlich de facto in einer ähnlichen Situation wie die EU-Staatsangehörigen. Insbesondere darf ihre Rechtsstellung nicht verschlechtert werden. • Von den 28.812 sogenannten Drittstaatsangehörigen hatten 19.216 einen Daueraufenthaltstitel und waren damit im Fall von Mittellosigkeit oder kleineren Vergehen nicht mehr unmittelbar von der Abschiebung bedroht. • 4.439 Drittstaatsangehörige besaßen eine Niederlassungsbewilligung und waren damit auf dem Weg zu einem Daueraufenthalt. • 919 Drittstaatsangehörige besaßen eine Rot-Weiß-Rot-Karte, fast alle eine RWR+-Karte (also bereits mindestens einmal verlängert), und waren damit im Besitz von etwas mehr Bewegungsfreiheit am Arbeitsmarkt. Die RWR-Karte wurde mit 1. Juli 2011 eingeführt und gab den Sozialpartnern einen kleinen Teil ihres früheren Einflusses auf die Erteilung von Aufenthaltstiteln zurück. • 265 Drittstaatsangehörige besaßen eine Aufenthaltsbewilligung. Das ist eine relativ rechtlose Situation mit zweckgebundenem, befristetem Aufenthalt, die nicht in einen dauerhaften Aufenthalt überführt werden kann. • Daraus ergibt sich, dass 3.928 Drittstaatsangehörige im Besitz eines asylrechtlichen Aufenthaltstitels gewesen sein müssen. Zum Teil sind sie asylberechtigt, zum Teil subsidiär schutzberechtigt und zum Teil befinden sie sich im Asylverfahren. Das sind drei höchst verschiedene aufenthaltsrechtliche Lagen  : Sehr gut ist jene der Asylberechtigten, schon prekärer – durch unendlich oft

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verlängerbare einjährige Galgenfristen – jene der subsidiärer Schutzberechtigung, völliger Ungewissheit sind Asylwerberinnen und Asylwerber ausgesetzt. Es gibt keine veröffentlichten Zahlen über die Aufteilung der asylrechtlichen Aufenthaltstitel auf diese drei Kategorien, obwohl es den zuständigen Behörden an sich möglich sein müsste, die Anzahl vielleicht nicht mit letzter Genauigkeit aber doch annähernd zu bestimmen. Mit der Staatsbürgerschaft beziehungsweise mit der Abstufung der Aufenthaltstitel sind Rechte im Beschäftigungswesen verbunden. Das ist seit 1993 eine höchst komplexe Materie geworden, die sich durch die in kurzen Abständen folgenden Novellierungen des Fremden- und Asylrechts und durch die laufende Rechtsprechung auch in permanentem Umbau befindet.8 Ohne Beratung ist es schon lange nicht mehr möglich, zu wissen wie man dran ist. Es besteht auch bisher keine Verknüpfung zwischen der aufenthaltsrechtlichen Information und den Beschäftigungs- oder Sozialdaten, sodass hier tatsächlich eine Wissens­ lücke gegeben ist. Wir wissen nicht, welche Folgen es für die individuelle Biographie und für die Gesellschaft hat, mit diesem oder jenem Aufenthaltstitel das Leben in Österreich zu beginnen. Bildung aus dem Ausland Eine Ausbildung im Ausland absolviert zu haben, bedeutet häufig, aus inländischer Sicht keine oder nur geringe Bildung zu haben. So hat das AMS bis 2012 immer nur die in Österreich formell anerkannten Ausbildungen erfasst, nicht die tatsächlich absolvierten. Dadurch wurden in aller Regel Personen mit mittleren oder höheren Abschlüssen aus dem Ausland erfasst, als ob sie nur die Pflichtschule absolviert, und Personen mit Pflichtschule als ob sie keine Ausbildung hätten. Dementsprechend wurden sie auch vermittelt. Diese Praxis ist seither im Umbruch, aber noch nicht beseitigt. Besonders perfide ist sie in all jenen Fällen, wo eine formale Anerkennung in Österreich für die Berufsausübung gar nicht erforderlich (und vielfach aus diesem Grund auch nicht möglich) ist. Tatsache ist, dass von jenen rund 10.000 Einwanderinnen und Einwanderern, die zwischen 1956 und 1984 zugezogen sind, nicht mehr schulpflichtig waren, in Österreich keine Ausbildung mehr gemacht haben und heute in Vor­arl­berg leben, rund 7.000 höchstens die Pflichtschule absolviert haben und der Großteil der übrigen 3.000 über eine Ausbildung unter der Matura verfügt. Von den 8 Norbert Bichl/Robert Bitsche/Wolf Szymanski, Das neue Recht der Arbeitsmigration, Wien 3 2014.

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etwa 10.500 vergleichbaren Einwanderinnen und Einwanderern der Periode 1985 bis 1997 haben nur mehr etwa 5.500 höchstens Pflichtschule abgeschlossen. Die übrigen 5.000 teilen sich in etwa 3.000 mit Abschlüssen unter und etwa 2.000 mit Abschlüssen ab der Matura. Die knapp 9.000 Einwanderinnen und Einwanderer der Periode 1998 bis 2005 umfassen nur mehr etwa 3.000 mit höchstens Pflichtschulabschluss, aber gut 3.000 mit Abschlüssen unter der Matura und etwa 2.500 mit Abschlüssen von der Matura aufwärts. In dieser Phase machen die drei Bildungsniveaus also jeweils ungefähr ein Drittel aus. Der entsprechende Zuzug seit 2006 umfasst 13.000 Personen, von denen nur mehr etwa 2.500 höchstens Pflichtschulabschluss mitbrachten, aber etwa 5.000 Abschlüsse unter der Matura und etwa 5.500 Abschlüsse von der Matura aufwärts. Die mitgebrachten Abschlüsse haben sich also innerhalb weniger Jahrzehnte massiv zum oberen Ende hin verschoben. Zuzugsperiode und aus dem Ausland mitgebrachte Ausbildungsabschlüsse der im Ausland geborenen Zuzugsperiode Bevölkerung, und die beim Zuzug mindestens 15 Jahre alt war, Durchschnitt aus dem Ausland mitgebrachte Ausbildungsabschlüsse der im2012–20139 Ausland geborenen Bevölkerung, die beim Zuzug mindestens 15 Jahre alt war, Durchschnitt 2012-2013

15.000 14.000

ab Matura

13.000

Lehre/BmS

12.000

Pflicht Kein Ab

11.000 10.000 9.000 8.000 7.000 6.000 5.000 4.000 3.000 2.000 1.000 0

1956-1984

1985-1997

1998-2005

seit 2006

Während also vom Zuzug 1956 bis 1984 nur 30 Prozent eine mittlere oder höhere Ausbildung mitbrachten, waren es vom Zuzug 1985 bis 1997 rund 50, 1998 bis 2005 rund 65 und seit 2006 rund 80 Prozent. Das vergleicht sich mit einem Anteil von gut 70 Prozent bei der nicht mehr schulpflichtigen Bevölkerung mit im Inland gemachten Abschlüssen. Die Einwanderung seit Mitte der 1990er Jahre, also der letzten 20 Jahre, hat mehr höhere Bildung mitgebracht, nämlich 9 Quelle  : Eigene Berechnungen anhand der Mikrodaten der Mikrozensus-Arbeitskräfteerhebung der Bundesanstalt Statistik Österreich der acht Quartale von 2012 und 2013.

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zu etwa 30 Prozent in der Periode 1998 bis 2005 und zu etwa 45 Prozent seit 2006, als die Bevölkerung mit inländischen Abschlüssen besitzt (20 Prozent). Auch der Zuzug der Jahre 1985 bis 1997 brachte bereits zu etwa 20 Prozent höhere Abschlüsse mit. Verteilung der Ausbildungsabschlüsse nach der Zuzugsperiode10

Verteilung der Ausbildungsabschlüsse nach der Zuzugsperiode

100% 90% 80% 70% 60%

ab Matura Lehre/BmS

50%

Pflicht Kein Ab

40% 30% 20% 10% 0%

1956-1984

1985-1997

1998-2005

seit 2006

Abschlüsse aus dem Ausland

Gesamt

Gesamt Abschlüsse aus dem Inland

Bildungsverwertung im Beschäftigungswesen Der Bildungsort hat Folgen am Arbeitsmarkt, in Österreich mehr als in den meisten anderen Staaten.11 In der EU ist nur in Zypern, Griechenland, Italien und Spanien das Risiko, unter dem eigentlichen Qualifikationsniveau beschäftigt zu sein, größer als in Österreich. Innerhalb Österreichs ist das Risiko in Westösterreich größer als im Osten oder Süden. Es ist bei den Frauen stets größer als bei den Männern, vor allem im Süden des Bundesgebiets. Längere Aufenthaltsdauer verringert das Risiko nicht.12 In Vor­arl­berg waren 2012/2013 10 Eigene Berechnungen anhand der Mikrodaten der Mikrozensus-Arbeitskräfteerhebung der Bundesanstalt Statistik Österreich der acht Quartale von 2012 und 2013. 11 Karolin Krause/Thomas Liebig, The Labour Market Integration of Immigrants and their Children in Austria (OECD Social, Employment and Migration Working Papers 127, 2011), [http:// www.oecd-ilibrary.org/social-issues-migration-health/oecd-social-employment-and-migration-working-papers_1815199x], Zugriff  : 26.11.2011. 12 August Gächter, Kosten unzureichender sozialer Integration von EinwanderInnen  ; Österreichischer Städtebund (2013), [http://www.staedtebund.gv.at/de/themenfelder/integrati-

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von den Beschäftigten mit im Inland gemachten Abschlüssen von der Matura aufwärts rund fünf Prozent in Hilfs- und Anlerntätigkeiten beschäftigt statt in mittleren oder höheren Tätigkeiten. Hilfs- und Anlerntätigkeiten sind solche, für die an sich keine Ausbildung erforderlich ist. War die Ausbildung in einem anderen EU-15/EFTA Staat erworben worden, war der Prozentsatz ähnlich niedrig. Wenn die Ausbildung von außerhalb Europas mitgebracht wurde, dann übten jedoch rund ein Viertel der Beschäftigten Hilfs- oder Anlerntätigkeiten aus. Viel höher waren die Prozentsätze, wenn die höhere Bildung aus den neuen EU-Mitgliedsstaaten, Kroatien, Bosnien-Herzegowina, dem übrigen Ost- und Südosteuropa oder aus der Türkei mitgebracht wurde. Dann übten stets die Hälfte oder drei Viertel der Beschäftigten Hilfs- und Anlerntätigkeiten aus. Anteil der Beschäftigten in Hilfs- und Anlerntätigkeiten nach Ausbildungsabschluss und Land, 2012–2013 (AT = Österreich  ; HR+BA = Kroatien und Bosnien-Herzegowina  ; OSO = übriges Ostund Südosteuropa  Anteil ; TR =der Türkei) 13 Beschäftigten in Hilfs- und Anlerntätigkeiten nach dem Ausbildungsabschluss und seinem Herkunftsland, 2012-2013

100 90 80 70

Prozent

60 50 40 30 20

bis Pflicht

Lehre/BmS

TR

Sonst

OSO

HR+BA

EU2004/2007

AT

EU15/EFTA

Sonst

TR

OSO

HR+BA

EU2004/2007

AT

EU15/EFTA

TR

Sonst

OSO

HR+BA

EU15/EFTA

EU2004/2007

0

AT

10

ab Matura

Auch bei den mittleren Abschlüssen ist das Risiko, in einer Hilfs- oder Anlerntätigkeit beschäftigt zu sein, viel größer, wenn der Abschluss von außerhalb on-und-migration/studien.html], Zugriff  : 16.6.2014  ; August Gächter, Dequalifizierung als Problem der Verwertung von Ausbildungen von Migrant/Innen und Asylberechtigten in Tirol. Endbericht an das Arbeitsmarktservice, Wien 2014, [www.forschungsnetzwerk.at/downloadpub/2014_13%20ams-tirol_p3.pdf ], Zugriff  : 14.11.2014. 13 Eigene Berechnungen anhand der Mikrodaten der Mikrozensus-Arbeitskräfteerhebung der Bundesanstalt Statistik Österreich der acht Quartale von 2012 und 2013.

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der EU-15-/EFTA-Staaten mitgebracht wurde. Es beträgt dann je nach Herkunft zwischen 33 Prozent und rund 80 im Vergleich zu 15 bis 20 Prozent, wenn der Abschluss im Inland oder den anderen EU-15-/EFTA-Staaten gemacht wurde. Selbst bei geringer Bildung, also höchstens Pflichtschulabschluss, besteht ein sehr deutlich ausgeprägter Unterschied. Während nur rund die Hälfte der Beschäftigten mit geringer Bildung aus dem Inland oder den anderen EU-15-/ EFTA-Staaten in Hilfs- oder Anlerntätigkeiten beschäftigt sind und der Anteil bei Beschäftigten aus den neuen EU-Mitgliedsstaaten bei 60 Prozent liegt, beträgt er bei allen anderen Herkunftsländern 80 oder 90 Prozent. Diese Daten zeigen, dass die Unterschiede im Dequalifizierungsrisiko zwischen Bildung aus dem Inland und Bildung aus Drittstaaten umso größer werden je höher die Bildung ist. Insbesondere ist es fast gleichgültig, ob jemand mittlere oder höhere Bildung von außerhalb der EU15/EFTA Staaten mitbringt. Die Wahrscheinlichkeit, in einer Hilfs- oder Anlerntätigkeit beschäftigt zu sein, ist in Vor­arl­berg beide Male fast gleich hoch. Bildungserwerb nach dem Zuzug Die formelle Anerkennung der im Ausland gemachten Ausbildung in Österreich geht, soweit bekannt, tendenziell mit bildungsadäquater Beschäftigung einher.14 Nicht feststellbar ist jedoch leider, ob zuerst die bildungsadäquate Beschäftigung erreicht wurde und in ihrer Folge die Anerkennung der Ausbildung, oder ob zuerst die Anerkennung erfolgte und dann die adäquate Beschäftigung. Vom System her ist Ersteres wahrscheinlicher. Die Anerkennung ist zudem so aufwendig und aufreibend, dass die Betroffenen es vielfach vorziehen, stattdessen einen weiteren Abschluss im Inland zu machen. Auch das bringt am Arbeitsmarkt eindeutig etwas, selbst wenn es ein Pflichtschulabschluss ist, mehr noch, wenn es um einen Lehr- oder Schulabschluss geht. Doch auch dafür sind die Möglichkeiten eingeschränkt. Von der gesamten im Ausland geborenen Wohnbevölkerung Vor­arl­bergs der Jahre 2012 und 2013, die beim Zuzug, wann immer dieser stattgefunden hatte, schon mindestens 15 Jahre alt und daher nicht mehr schulpflichtig war, haben nur etwa acht Prozent  – das sind nur knapp 4.000 Personen  – nach dem Zuzug noch einen erfolgreichen Ausbildungsabschluss in Österreich erlangt. Die Anteile der beiden Geschlechter sind dabei annähernd gleich. Ungefähr die Hälfte davon sind Lehrabschlüsse und rund ein Drittel sind Abschlüsse von der Matura aufwärts. Mit welcher Ausbildung diese rund 4.000 Personen zuvor 14 Gächter, Dequalifizierung, S. 44–46.

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nach Österreich gekommen sind, lässt sich nicht mehr eruieren. Der größere Teil jener, die einen Lehrabschluss gemacht haben, waren bei Aufenthaltsbeginn schon mindestens 18 Jahre alt. Das trifft auch auf praktisch alle zu, die noch einen Abschluss von der Matura aufwärts gemacht haben. Es kann also durchaus sein, dass sie bereits ähnliche Abschlüsse aus dem Ausland mitbrachten, wie sie sie in Österreich nach dem Zuzug noch erwarben. Es erweist sich somit als sehr unwahrscheinlich, nach dem Zuzug noch eine Ausbildung machen zu können. Dieser Eindruck verfestigt sich, wenn man sieht, wie wenige der unter 30-Jährigen, die bei ihrem Zuzug nicht mehr schulpflichtig waren, aktuell in Ausbildung sind. Besonders jene, die nicht beruflich aktiv sind, könnten in Ausbildung sein, und besonders jene unter ihnen, die keinen Pflichtschulabschluss haben, sollten es sein. Tatsächlich sind in Vor­arl­berg zwar drei Viertel der 15 bis 29-jährigen beruflich Inaktiven, die ohne Abschluss aus der inländischen Pflichtschule hervorgegangen sind, in Ausbildung, aber niemand, die oder der ohne Abschluss aus dem Ausland zugezogen ist. Ebenso sind 94 Prozent der 15- bis 29-Jährigen beruflich Inaktiven mit inländischem Pflichtschulabschluss in Ausbildung, also fast alle, aber nur 30 Prozent jener mit ausländischem Pflichtschulabschluss. Von den beruflich Inaktiven 15- bis 29-Jährigen mit inländischem Lehr- oder Fachschulabschluss sind 62 Prozent in Ausbildung, aber keiner von jenen mit entsprechenden Abschlüssen aus dem Ausland  ; bei Matura oder höheren Abschlüssen sind es 90 im Vergleich zu 47 Prozent. Die statistischen Unsicherheiten sind hier sehr groß, dennoch ist das Muster eindeutig. Im Bildungssystem wird dieser Zustand häufig mit zu geringen Deutschkenntnissen der Betroffenen begründet, aber das bedeutet nur, dass das Bildungssystem der Herausforderung durch die aktuelle Einwanderung nicht gewachsen ist beziehungsweise sich dieser Herausforderung einfach entzieht. Außer einem Mangel an Lehrkräften mit geeigneter Ausbildung und einem Mangel an Finanzierung sind keine guten Gründe zu erkennen, warum der Erwerb einer Ausbildung nicht mit dem Erwerb der deutschen Schriftsprache gekoppelt sein könnte, oder warum es nicht möglich sein sollte, ein Jahr lang intensiv die Schriftsprache zu vermitteln, damit eine Ausbildung möglich wird. Beide Mängel ließen sich beheben. Generationen Im Zusammenhang mit Migration wird das Wort »Generation« sehr unterschiedlich verwendet. Manchmal ist damit eine frühere Zuwanderergeneration im Vergleich zu einer späteren gemeint, dann wieder sind die im Ausland Geborenen im Vergleich zu den im Inland Geborenen gemeint, manchmal Eltern

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August Gächter

und Kinder. Auch wenn von »erster Generation« und von »zweiter Generation« die Rede ist, bleibt die genaue Bedeutung oft unklar. Das Bild im Kopf ist dann häufig eines von älteren Menschen auf der einen und von jüngeren auf der anderen Seite. Tatsächlich ist es aber so, dass die allermeisten im Alter zwischen 18 und 38 Jahren aus- oder einwandern. Die »erste Generation« im Sinn einer selbst aus dem Ausland zugezogenen Bevölkerung entsteht daher in dieser Altersgruppe und zwar fortwährend. Ebenso entsteht fortwährend eine »zweite Generation« im Sinn einer Bevölkerung, die als Kinder von Migrantinnen und Migranten zur Welt kam. Es gibt daher in jeder Altersgruppe eine »zweite Generation«, nicht nur unter den Kindern und Jugendlichen, sondern auch unter den ganz alten Menschen, und je nach genauer Definition auch in allen oder fast allen Altersgruppen eine »erste Generation«. Da mit 15 Jahren das erwerbsfähige Alter beginnt, man also von da an grundsätzlich die Möglichkeit hat, für den eigenen Lebensunterhalt zu sorgen, ist es sinnvoll, zwischen jener Bevölkerung zu unterscheiden, die bei Aufenthaltsbeginn mindestens 15 Jahre alt war (»erste Generation«) und jener, die es noch nicht war (»zweite Generation«). Letztere ist auch noch schulpflichtig und kommt daher mehr oder weniger ausführlich mit dem österreichischen Schulsystem in Berührung, während das bei letzterer kaum mehr der Fall ist, wie oben schon zu sehen war. Mit dieser Definition kann es keine »erste Generation« geben, die jünger als 15 Jahre ist. Im Alter zwischen 25 und 39 Jahren gab es 2012/2013 in Vor­arl­berg rund 15.000 Personen, die zur »ersten Generation« zählten, und rund 15.300, die zur »zweiten Generation« zählten, also praktisch gleich viele. In den jüngeren Altersgruppen gab es mehr »zweite« als »erste Generation«, in den Altersgruppen von 40 bis 64 mehr »erste« als »zweite Generation«, während sie in der Altersgruppe 65 bis 79 mit 5.200 zu 5.600 aber wieder annähernd gleich groß waren. Ab 80 Jahren überwog wieder die »zweite Generation«, also Personen, die vor 1932 als Kinder von im Ausland geborenen Eltern auf die Welt kamen und bei Aufenthaltsbeginn unter 15 Jahre alt waren. Im Alter zwischen 25 und 39 Jahren machen die »erste« und die »zweite Generation« jeweils rund 20 Prozent der Landesbevölkerung aus, zusammen rund 40 Prozent. Für diese Altersgruppe der Bevölkerung ist es daher ausgesprochen normal, mit Einwanderinnen und Einwanderern oder ihren Kindern zu tun zu haben. Am wenigsten wahrscheinlich ist es bei den 75- bis 84-Jährigen, aber es ist auch bei den 45- bis 54-Jährigen weniger wahrscheinlich als bei den 55- bis 69-Jährigen und bei den 15- bis 24-Jährigen weniger wahrscheinlich als bei den 25- bis 44-Jährigen. In Vor­arl­berg ist da eine deutliche Wellenbewegung erkennbar, welche die Einwanderungsgeschichte abbildet. In 30-Jahresabständen tritt jeweils eine etwas stärkere »erste Generation« auf, die auf die gleichaltrige »zweite Generation« aus der 30 Jahre älteren »ersten Generation« trifft, und

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selbst wieder eine 30 Jahre jüngere stärkere »zweite Generation« hervorbringt. Bemerkenswert ist, dass bei den unter Zehnjährigen die »zweite Generation« allein heute rund 40 Prozent ausmacht. Beginnend in zehn Jahren wird sie nach und nach durch eine neue »erste Generation« ergänzt werden, die dann in ihrer Altersgruppe gemeinsam vermutlich um die 60 Prozent der Landesbevölkerung ausmachen werden. Anteil der »ersten« und der »zweiten Generation« zusammen mit der Landesbevölkerung nach Altersgruppen 2012–2013 (Generation nach dem Alter bei Aufenthaltsbeginn)15 Anteil der Bevölkerung mit im Ausland geborenen Eltern nach dem Alter beim Aufenthaltsbeginn, 2012-2013

100 bei Aufenthaltsbeginn unter 15 Jahre alt oder im Inland geboren

90

bei Aufenthaltsbeginn mindestens 15 Jahre alt

80 70

Prozent

60 50 40 30 20 10 0 00-04

05-09

10-14

15-19

20-24

25-29

30-34

35-39

40-44

45-49

50-54

55-59

60-64

65-69

70-74

75-79

80-84

85+

Die jugendliche »zweite Generation« – Bildungserwerb Eine »zweite Generation« gibt es, wie gesagt, nicht nur unter den Jugendlichen, sondern in allen Altersgruppen. Wenn man darunter, wie oben, wieder jene versteht, deren Eltern im Ausland geboren wurden und die selbst im Inland geboren wurden oder zugezogen sind bevor sie 15 wurden, dann waren das in Vor­arl­ berg 2012/2013 insgesamt 74.200 Personen. Davon waren im Durchschnitt der Jahre 2012 und 2013 22.700 (30 Prozent) unter 15 Jahre alt, 17.200 (23 Prozent) zwischen 15 und 29, 14.700 (20 Prozent) zwischen 30 und 44, 9.600 (13 Prozent) zwischen 45 und 59 und etwa 10.000 (14 Prozent) 60 Jahre oder älter.

15 Eigene Berechnungen anhand der Mikrodaten der Mikrozensus-Arbeitskräfteerhebung der Bundesanstalt Statistik Österreich der acht Quartale von 2012 und 2013.

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Bildungserwerb der »zweiten Generation« nach der Altersgruppe, 2012–201316 Bildungserwerb der "zweiten Generation" nach der Altersgruppe, 2012-2013 100% 90% 80% 70% 60%

ab Matura Lehre/BmS

50%

Pflicht Kein Ab

40% 30% 20% 10% 0%

15-29

30-44

45-59

60-74

Sie alle haben ihre diversen Bildungsabschlüsse im Inland gemacht oder sind dabei das zu tun. Vergleicht man die Altersgruppen auf ihre (voraussichtlichen) Abschlüsse hin, dann zeigt sich beim jüngsten Teil, bei dem schon erkennbar ist, welche Abschlüsse sie nach der Pflichtschule machen werden, also den 15- bis 29-Jährigen, eine deutliche Steigerung gegenüber den vorangegangenen Altersgruppen. Von der 15- bis 29-Jährigen der »zweiten Generation« haben rund 31 Prozent Matura oder besuchen Schultypen, die zur Matura führen. In den anderen drei 15 Jahre breiten Altersgruppen bis 74 Jahre beträgt dieser Anteil nur jeweils etwa 18 Prozent. Diese Steigerung wurde zum Teil auf Kosten der mittleren Abschlüsse erzielt, denn der Anteil mit (kommendem) Lehrabschluss oder Fachschulabschluss beträgt bei den 15- bis 29-Jährigen nur etwa 45 Prozent – wie bei den 60-bis 74-Jährigen, hatte bei den 30- bis 44- und den 45- bis 59-Jährigen aber jeweils etwa 55 Prozent betragen. Zugleich ging sie nur in geringem Maß auf Kosten des Anteils mit höchstens Pflichtschulabschluss. Er beträgt bei den 15- bis 29-Jährigen zurzeit etwa 24 Prozent, kann sich aber noch verringern, bei den 30- bis 44-Jährigen etwa 28 Prozent, bei den 45- bis 59-Jährigen etwa 26 Prozent und bei den 60- bis 74-Jährigen etwa 36 Prozent. Man sieht also, dass sich bei der jüngsten Gruppe die Grenze zwischen mittlerer Bildung und höherer Bildung verschoben hat, während eine nennenswerte Verschiebung zwischen geringerer und mittlerer Bildung offenbar schon 30 Jahre her ist. 16 Eigene Berechnungen anhand der Mikrodaten der Mikrozensus-Arbeitskräfteerhebung der Bun­desanstalt Statistik Österreich der acht Quartale von 2012 und 2013.

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In der Verringerung des Anteils mit geringer Bildung vor 30 Jahren spiegelt sich die Entwicklung des Bildungswesens. Sie fällt mit der Ausbildungsexpansion der 1970er und 1980er Jahre zusammen. Mehr Jugendliche aus inländischen Familien bekamen die Möglichkeit, Oberstufenschulformen mit Matura zu besuchen, wodurch mehr Jugendliche aus eingewanderten Familien die Chance bekamen, eine Lehre zu machen. In der Erhöhung des Anteils mit Matura bildet sich der Rückgang der Zahl der Jugendlichen aus inländischen Familien ab, wodurch die Oberstufenschulen mit Matura verstärkt auf Jugendliche aus eingewanderten Familien zurückgreifen, um ihre Kapazitäten auszulasten. Der Anteil von 24 Prozent mit höchstens Pflichtschulabschluss an der 15- bis 29-jährigen Angehörigen der »zweiten Generation« steht in Kontrast zu nur sieben Prozent bei den 15- bis 29-Jährigen mit nicht eingewanderten Eltern. Das ist ein Abstand von 17 Prozentpunkten. Er steht wiederum in Kontrast zu den 45 Prozent bei der dreißig Jahre älteren »ersten Generation«, also der Elterngeneration der 15- bis 29-jährigen »zweiten Generation«. Zwischen den 45 und den 24 Prozent besteht ein Abstand von 21 Prozentpunkten. Einerseits also eine Verringerung um 21 Prozentpunkte zwischen Elterngeneration und Jugendgeneration, andererseits 17 Prozentpunkte Abstand zu den Gleichaltrigen. Somit ist in einer Generation mehr als die Hälfte des Bildungsabstands überbrückt worden, und zwar ohne dass das Bildungswesen darauf besonders ausgerichtet gewesen wäre. Es steht somit zu erwarten, dass die Kinder der heute 15- bis 29-jährigen »zweiten Generation« auch den verbleibenden Bildungsabstand von 17 Prozentpunkten überwinden werden, und dass die dann »dritte Generation« Bildungsgleichstand erreichen wird. Dies hat sich übrigens auch bei der Arbeitsmigration aus dem Trentino seinerzeit so abgespielt, und mit dem Bildungsgleichstand ging beruflicher und sozialer Gleichstand einher. Ab diesem Moment, der in den 1950er und 1960er Jahren erreicht wurde, war mit italienischen Familiennamen auch kein Stigma mehr verbunden, ja sie hörten auf, als italienisch wahrgenommen zu werden. Es lässt sich statistisch sehr gut nachweisen, dass in der engeren Altersgruppe der 15- bis 19-Jährigen die Frage des Besuchs einer weiterführenden Ausbildung nach der Pflichtschule heute kaum mehr vom Herkunftsland der Eltern abhängig ist. Offenbar wird im Ausbildungswesen nur in geringem Maß herkunftsbasierte Ausschließung aus der weiterführenden Ausbildung praktiziert. Viel eher wirkt sich hier die Bildung und die Berufstätigkeit der Eltern und der anderen Haushaltsmitglieder aus, ganz gleich wo sie her sind. Dass die Bildungschancen nicht von der sozialen Stellung der Eltern abhängig sein sollten, oder zumindest nicht in diesem Ausmaß, ist eine andere Sache. Ebenso lässt sich zeigen, dass die Jugendlichen mit Eltern aus den EU15/EFTA Staaten und aus der Türkei im Verhältnis zu ihren Lebensumständen ungewöhnlich häufig

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eine zur Matura führende Schule besuchen, statt eine Lehre oder Fachschule zu machen, während jene aus Bosnien-Herzegowina und aus Serbien dies ungewöhnlich selten tun. Die Gründe für diesen Unterschied sind unklar. Aus Anekdoten ergibt sich der Eindruck, dass Eltern aus der Türkei sich möglicherweise nicht so sehr von der Autorität der Lehrkräfte beeindrucken lassen und ihre Kinder bei geeignetem Schulerfolg auch dann für Gymnasien anmelden, wenn die Lehrkräfte in der vierten oder achten Schulstufe anderes empfohlen hatten. Das passt auch zu den gut dokumentierten hohen Bildungsaspirationen der Eltern.17 Ein zweiter Eindruck ist, dass Berufe, die mittels Lehre zu erreichen sind, bei Eltern aus der Türkei vielfach nicht dasselbe Ansehen besitzen wie bei Eltern aus dem ehemaligen Jugoslawien oder aus Österreich. Aber das sind nur anekdotische Eindrücke, keine Fakten. Bildungsverwertung im Beschäftigungswesen Nicht nur im Ausland erworbene Bildung ist auf dem Vor­arl­berger Arbeitsmarkt schwer zu verwerten, sondern auch im Inland erworbene, wenn die Eltern aus dem Ausland sind. Ein besonderes und hartnäckiges Problem ist, dass die Arbeitslosigkeit bei den Männern mit Eltern aus neuen EU-Mitgliedsstaaten und aus Drittstaaten dreimal höher ist als bei jenen mit Eltern aus Österreich, und zwar ganz gleich welche Ausbildung sie haben. Es trifft bei jenen mit höchstens Pflichtschule genauso zu wie bei jenen mit Lehre und mit Matura oder Hochschulabschluss. Bei den Frauen tritt das Phänomen nicht mit derselben Vehemenz auf. Bildungsadäquate Beschäftigung zu erhalten, ist ein ausgeprägtes Problem. Von den beschäftigten Frauen mit höherer Bildung und mit Eltern aus neuen EU-Mitgliedsstaaten und Drittstaaten, deren Aufenthalt in Österreich mit der Geburt begann oder bevor sie 15 Jahre alt wurden, sind 16 Prozent in Hilfsund Anlerntätigkeiten beschäftigt, während es nur fünf Prozent sind, wenn die Eltern in Österreich geboren wurden. Bei den Männern sind es acht Prozent im Vergleich zu drei Prozent. Auch bei mittlerer Bildung, also Lehrabschluss oder Fachschule ohne Matura, besteht das Problem. Die entsprechenden Prozentsätze betragen bei den Frauen 29 Prozent im Vergleich zu 18 und bei den Männern 31 im Vergleich zu 13 Prozent. Selbst bei geringer Bildung besteht es. Bei jenen, die nur einen Pflichtschulabschluss haben, beträgt der Anteil in Hilfs- und Anlerntätigkeiten bei den Frauen 74 im Vergleich zu 49 und bei den Männern 65 im Vergleich zu 51 Prozent. 17 Birgit Becker, Bildungsaspirationen von Migranten. Determinanten und Umsetzung in Bildungs­ ergebnisse (Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung 137), Mannheim 2010.

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Anteil der Beschäftigten in Hilfs- und Anlerntätigkeiten mit Aufenthaltsbeginn unter 15 Jahren nach dem Ausbildungsabschluss und dem Geburtsstaat der Eltern, 2012–201318 100 90 80 70

Prozent

60 50 40 30 20

bis Pflicht

Lehre/BmS Frauen

ab Matura

bis Pflicht

Lehre/BmS Männer

Sonst

EU15/EFTA

Österreich

Sonst

Österreich

EU15/EFTA

Sonst

Österreich

EU15/EFTA

Sonst

Österreich

EU15/EFTA

Sonst

Österreich

EU15/EFTA

Sonst

Österreich

0

EU15/EFTA

10

ab Matura

 

Es somit klar ersichtlich, dass es für die »zweite Generation« nach wie vor eine erhebliche Herausforderung bedeutet, auf dem Arbeitsmarkt dieselbe Akzeptanz zu finden, wie Altersgenossinnen und Altersgenossen, deren Eltern in Österreich oder Deutschland geboren wurden. Schlechtere Deutschkenntnisse werden nicht nur auf Seiten der Betriebe, sondern auch des AMS und anderer Akteure häufig als Rechtfertigung genannt. Tatsache ist aber, dass Diskriminierungstests, wie sie seit Mitte der 1960er Jahre entwickelt wurden, stets zeigen, dass perfekte Kenntnisse der dominanten Sprache wenig helfen, wenn auch nur ein Hauch von Akzent vorhanden ist oder wenn der Name an Einwanderung denken lässt. Solche Tests wurden 2013 auch in Österreich durchgeführt mit ähnlichen Ergebnissen wie zehn Jahre zuvor in der damals ebenfalls konjunkturell ungünstigen Situation in der Deutschschweiz. Sie zeigen, dass sich Beschäftigungssuchende außerhalb von Wien mit türkischen oder serbischen Namen 4,6 beziehungsweise 4,4 Mal bewerben müssen, um einmal zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden, während von der Qualifikation her genau gleichgestellte Beschäftigungssuchende mit österreichischen Namen sich nur 2,6 Mal bewerben müssen. Beschäftigungssuchende mit chinesischen Namen müssen sich 3,8 Mal und solche mit nigerianischen Namen 5,7 Mal bewerben.19 18 Quelle  : Eigene Berechnungen anhand der Mikrodaten der Mikrozensus-Arbeitskräfteerhebung der Bundesanstalt Statistik Österreich der acht Quartale von 2012 und 2013. 19 Rosita Fibbi/Bülent Kaya/Etienne Piguet, Le passeport ou le diplôme  ? Etudes des discriminations à l’embauche des jeunes issus de la migration (Swiss Forum for Migration and Population Studies/Rap-

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Das heißt, mit serbischen Namen waren um zwei Drittel und mit türkischen Namen um drei Viertel mehr Bewerbungen erforderlich. Mit der gleichen Methode in Chicago durchgeführte Tests zeigten geringere Unterschiede. Typisch schwarzamerikanische Namen ebenso wie ausländisch wirkende Namen erforderten ein Drittel mehr Bewerbungen als typisch weiße angloamerikanische.20 Ausblick Der Einzugsbereich Österreichs und auch Vor­arl­bergs beträgt heute rund 7.500 Kilometer. Das reicht im Süden bis zur westafrikanischen Küste und im Osten bis Bangladesch. Daran wird sich in den nächsten fünfzig Jahren vermutlich nicht viel ändern. Damit sind Herausforderungen verbunden, auf die bisher in Bund und Land noch nicht adäquat reagiert wird. Erstens werden auf mittlerem Niveau beruflich gut ausgebildete Arbeitskräfte, auf die sich die österreichische und noch mehr die Vor­arl­berger Wirtschaft derzeit stützen, in diesem Umkreis nur in kleinen Mengen hervorgebracht. Es wird daher auf absehbare Zeit nötig sein, im Inland in die Ausbildung der Einwanderinnen und Einwanderer zu investieren, auch wenn sie nicht mehr im dafür typischen Alter sind. Es wird auch nötig sein, die betriebliche Zusammenarbeit neu zu erfinden, da sie sich nicht mehr auf Einsprachigkeit und einen von Kind an vorausgesetzten gemeinsamen Code wird stützen können. Zweitens werden die Dörfer und Städte einen anderen Umgang mit Religiosität finden müssen. Ein sehr großer Teil der Bevölkerung in dem Umkreis von 7.500 Kilometer ist in der einen oder anderen Variante muslimisch, ein beträchtlicher Teil hinduistisch, die Christen vorwiegend nicht katholisch. Man wird sich nicht dauerhaft darauf versteifen können, dass nur katholische Kirchen ins Ortsbild passen und an prominenten Plätzen stehen dürfen. Denkbar ist aber, dass in einem stärker religiös gefärbten Umfeld auch der Katholizismus wieder eine Aufwertung erfährt. In jedem Fall werden Bürgermeister und Landeshauptleute Äquidistanz zu den Glaubensgemeinschaften lernen müssen, auch wenn sie selbst einer angehören, und vor allem werden sie für den konport de recherche 31/2003), [http://doc.rero.ch/lm.php  ?url=1000,44,4,20070222144033-RW/31. pdf ], Zugriff  : 24.9.2010  ; Doris Weichselbaumer, Correspondence Testing, in  : Helmut Hofer u. a. (Hg.), Diskriminierung von MigrantInnen am österreichischen Arbeitsmarkt, Wien 2014, S. 20–57, [http://www.sozialministerium.at/cms/site/attachments/0/0/9/CH2247/CMS1318326022365/ diskriminierung_migrantinnen_arbeitsmarkt.pdf ]. 20 Nicolas Jacquemet/Constantine Yannelis, Indiscriminate Discrimination  : A Correspondence Test for Ethnic Homophily in the Chicago Labor Market, in  : Labor Economics 19 (2012), Heft 6, S. 824–832.

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Nenzing Heimat, 1994 (Foto  : Nikolaus Walter, vorarlberg museum)

tinuierlichen Dialog zwischen ihnen sorgen müssen, um der Entstehung und Verfestigung von Feindbildern vorzubeugen. Völlig klar ist drittens, dass das seit 1945 geläufige Muster, wonach im Durchschnitt in jedem Jahrzehnt ein großes Fluchtereignis auftritt, nach wie vor besteht – trotz aller Versuche, das Asylrecht so restriktiv wie möglich zu interpretieren und zu handhaben. Solche Ereignisse bringen jeweils einen wesentlichen Teil des Neuzuzugs nach Österreich und zwar auch immer wieder aus neuen Herkunftsgebieten. So wünschenswert es wäre, die Einwanderung zu verstetigen, so klug wird es sein, die materielle und soziale Infrastruktur für große Fluchtereignisse zu erhalten und zu verbessern, das zeigt gerade wieder die aktuelle Situation. Insgesamt wird es höchst ratsam sein, in den gesellschaftlichen Institutionen und in den Organisationen rasch größere Kompetenz für die gesellschaftliche Aufnahme neu ankommender Menschen aus Krisengebieten und für Migrantinnen und Migranten insgesamt zu entwickeln. Bereits Jahrzehnte zu lange wird diese Aufgabe aufgeschoben.

Personenregister Akpinar Ihsan  228, 235–239, 258 Alge Oskar  244 Allenbach Anna Maria  88 Allenbach Johann  88 Allenspach Norbert  12 Amand 68 Amman(n) 68 Ammon 68 Annessi Angelo  115 Annoni Gaetano  115 Aquistapace Antonio  115 Azmoos 123 Bali Aydin  229, 235, 237, 238 Bamberger Louis  154 Barbitta Giuseppe  115 Batliner Johann  92 Bauer Josef  88, 89 Bauer Maria  78 Bayer 249 Bayer Gerhard  249 Beglinger Johannes  115 Bereuter Margit  200 Berger David  115 Berger Florian  115 Berger Georg  115 Berger Johannes  115 Berkmann Franz  198, 201 Berkmann Lisbeth  200 Berlhefter Daniel  101 Bernat  68, 69 Bernhard (Bernhart)  68 Bertolini Johann (Giovanni)  130, 131 Bianchi 120 Bickel 68 Blatter Werner  244 Bleuler Johann Ludwig (Louis)  79 Böhler Wilhelm  136 Bösch Armin  245 Bösch Arthur  253, 258 Bösch H+R  244 Bösch Wilhelmine  253 Breitenfeld Rosalie  100 Bühler Johann  88

Burgauer Anton  153 Burtscher 236 Celik Süleyman  253, 258 Chiesa 119 Chruschtschow Nikita  202 Collini Johann  245 Delibas Yildiz  243, 248, 251, 259 Dreier Werner  12 Dschemiljew Mustafa  191 Dür Reinhard  200 Düzel Pinar  199 Egger Maria  88 Egli Johannes  121 Eller 120 Ender Otto  16, 17 Ender Xaver  85 Engler 68 Enzensberger Hans Magnus  20 Eugster  119, 120 Farbstein David  160 Fink Barnabas  133, 141 Freudenfels Sigmund  103–105 Frick 68 Fritsch 68 Fulterer 236 Gabriel Ulrich  238 Galeli Mike  232 Gamon Christoph  74 Geiger 68 Getzner  44, 134 Gillard John  238 Giselbrecht Eugen  255, 257 Göldi Andreas  115 Gorbach Georg  93 Gorbatschow Michail  202 Grass 236 Grassmayr 104 Grüninger Paul  161 Haas Franz Anton  91 Haas Franz Josef  91–93

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Personenregister

Haas Franziska  78–82, 85, 90, 91 Haas Jakob  85 Haas Ottilia  93 Haas Viktoria  93 Habsburg  14, 15, 24, 27, 33, 47, 50, 98, 103, 105, 130, 148, 166, 207 Hämmerle Markus  12 Hämmerle Otto  243 Hartmann 68 Hecke Arthur  108, 111 Hecke Elsa  108, 111 Heinzle Oliver  249 Hilcona  181, 183 Hitler Adolf  202 Hohenems, von  11 Horkheimer Max  113 Hueber Blasius  57 Hum(m)er 68 Iklé Leopold  157 Iklé Moses  156 Illwerke 194 Jansen Norbert  12 Jenny Samuel  16 Jerusalem Dorothea  99, 103, 104 Jerusalem Friederike  103 Jesus von Nazareth  152 Kállays Benjamin von  207 Kanduth Petra  199 Karakay Nazmi  242 Kaufmann Christian  73 Kirimcan Naciye  201 Kirschbaumer Agatha  78–83, 87, 88 Kirschbaumer Anna Maria  88–90 Kirschbaumer Emil  84 Kirschbaumer Fidel  90 Kirschbaumer Heinrich  80 Kirschbaumer Johann  82 Kirschbaumer Johann Georg  78 Kirschbaumer Katharina  80 Kirschbaumer Maria Christina  87, 88 Kirschbaumer Matthäus  77–79, 83, 84, 87, 88 Kirschbaumer Nikolaus  82 Knobel Kreszentia  88, 89 Kraft Karl Fidel  74 Kühne Heinrich  80

Kunert 245 Künzle Franz Josef  75, 78–80, 82, 83 Lampert 68 Längle Wilfried  196 Lehmann-Gugolz Ursula  12 Löw Kunigunde  106 Lutz 120 Mähr Ferdinand  73 Mähr Xaver  88 Manstein Erich von  192 Maria Theresia  101 Marino 130 Marte 236 Martin Christa  74 Marxer Michael  82 Matt Katharina  73 Mayer Saly  161 Menzinger Johann Michael  81–84 Merki Christoph Maria  164 Moll 68 Moll Maria Katharina  81 Moro Giuseppe  115 Napoleon 26 Näscher Franz Josef  81 Neumann Gustav Ritter von  173 Nottebohm Friedrich  171, 172 Oberhuber Benedikt  78–83, 85 Oberhuber Katharina  85 Oberhuber Maria Anna  77, 83, 84, 90 Öhry Johann Georg  82 Ortayli Ilber  201 Ortner Ferdinand  251 Ott 68 Ott Johann ( Jean)  68 Özayli Ali Riza  243 Özayli Günay  244, 247, 249 Özayli Ismail  242, 247, 249, 252, 254–256 Peer Josef  110, 111 Perlhefter Anna (Franziska)  18, 99, 105 Perlhefter Dorothea  105 Perlhefter Eduard ( Jeremias)  95, 99–105, 113 Perlhefter Emanuel  102, 112 Perlhefter Jakob  100, 101 Perlhefter Max  100, 105

Perlhefter Salomon  102 Pichler Günter  236 Pichler Meinrad  12 Pircher Maria  106 Pirquet Clemens  48 Pokorny Peter  86 Poza 122 Purtscher Johann Anton ( Jean Antoine)  75 Rauch 68 Reich Ulrich  115 Reichenbach 156 Rhomberg & Lenz  28 Rhomberg Adolf  127, 128, 145, 147 Rhomberg Johann  105 Riccabona Alfons von  106 Riccabona Alfred von  106 Riccabona Anna  95–99, 113 Riccabona Elsa (Elisabeth)  107, 108, 111 Riccabona Gottfried (Kuno)  18, 95–100, 105–108, 110–112 Riccabona Julius von  106 Riccabona Ludwig  107, 109, 110 Riccabona Max  99 Riccabona Othmar von  106 Riccabona Pius von  106 Riccabona Rudolf von  106 Risch Johann  83 Rohn Liselotte  199, 200 Rohrer Christian  120 Rossi Vincenzo  115 Rothmund Heinrich  160, 161 Ruff Margarethe  194, 197 Ruodi Anna  78 Ruth Max  160, 161 Schaller 68 Schedler 68 Scheffknecht Helga  256 Scheffknecht Rosa  256 Scher(r)er 68 Scherer Ottilia  91, 92 Schmid Carl Alfred  160 Schurti Pio  12

Personenregister 

Seeberger 69 Senel Adnan  246 Sentürk Kazim  242 Sentürk Saliye  242, 250, 260 Settari Luis  109, 110 Siglar (Siglär)  68 Simma Guntram  237 Simmel Georg  176 Sönser Adam  74 Stalin 194 Styger Benedikt  92 Suade Akcollu  198 Sucher Gertraud  250 Teitler Abraham  158, 159 Teitler Samuel  158, 159 Tiefenthaler Katharina  73 Tiefenthaler Sebastian  73 Tito Josip Broz  212, 217 Tschubarow Refat  191 Türkyilmaz Ismail  243, 257, 258 Uperti 130 Vogel 122 Wachter Georg  68 Wagner Franz Josef  87 Walther Heinrich  152 Welte 68 Wey Jost  121, 122 Wildauer Josef Franz  106 Wildauer Kunigunde  106 Wimmer Michael  176 Yilmaz Haydar  243, 246 Yurter Feyzi Rahman  199, 203 Yurter Fikret  195, 197, 198, 200, 201, 203 Yurter Ismet (Abibullah)  198 Zamboni 130 Zanini Camillo  115 Zumtobel 236 Zumtobel Anton  97, 98 Zumtobel F.M.  245 Zugg Maria Anna  75

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Ortsregister Aargau  59, 72, 161 Adlergebirge 103 Afghanistan 237 Alberschwende  19, 144, 191, 195, 198–201, 203 Alessandria 74 Altach 260 Altstätten 120 Ampezzo 106 Anatolien 237 Andelsbuch 130 Andijan 202 Ankara  198, 199 Appenzell  63, 72, 92, 267 Arbon 243 Arlberg  127, 130, 133, 139, 144 Au 144 Auer 107 Außerfern 108 Außerrhoden  267, 268 Australien  196, 214, 234, 235, 252, 258 Bachcisaraj 193 Baden  59, 60, 63, 65, 70, 72, 91, 92 Baden-Württemberg 267 Balgach 59 Bangladesch 282 Basel  61, 72, 116, 117 Bayern  26, 28, 56, 57, 59, 60, 68, 70–73, 75, 98, 101, 106, 107, 128 Belgien  65, 196, 266 Belgrad  9, 219, 244 Bern  70, 72, 73 Bezau  136, 144 Biegno 115 Bihac 213 Bisuschio 115 Bludenz  18, 40, 41, 44, 49, 55–57, 63, 67, 68, 75, 78, 80, 81, 127, 133, 144, 213, 214, 223, 224, 237 Bludesch  55–57, 61, 67, 80 Blumegg 91 Blumenegg  55, 67, 133 Bodensee  65, 66, 92, 117

Bodman 59 Böhmen  18, 63–66, 71, 100–102, 108, 112, 134 Bosanski Brod  210 Bosnien-Herzegowina  205–214, 220–222, 263–265, 273, 279 Bözberg  116, 117 Bozen  106, 107, 110 Bregenz  9, 16, 40, 49, 57, 74, 127, 133, 135– 138, 141, 144, 145, 198, 201, 223, 224, 236 Bregenzerach 141 Bregenzerwald  11, 30, 78, 128, 130, 133–136, 141, 142, 144, 148, 198, 200 Brixen  26, 106 Brod 210 Brooklyn 201 Brünn 102 Buchs  9, 120 Burgenland  34, 38, 46, 53, 221 Bürs  41, 44, 55, 56, 58, 64, 74, 133, 134 Calamona 115 Cazinska Krajina  213, 214 Chicago 281 Chotzen 103 Chur 81 Cisleithanien  38, 40, 41, 103, 142 Dachau  99, 113 Dalaas 144 Damüls  128, 144 Dänemark 266 Daudleb an der Adler  100–103 Davos 13 Dayton 210 Deggenhausertal 59 Den Haag  172 Denizli 247 Deutschland (Deutsches Reich)  10, 12, 20, 33, 38, 42, 59–66, 69–72, 95, 113, 115, 116, 130, 133, 143, 148, 153, 154, 156, 160, 166–171, 175, 179, 180, 192–194, 196, 199, 201, 202, 218, 230, 233–236, 246, 252, 254, 256, 262–267, 281 DDR 265

Deutschösterreich 103 Dornbirn  16, 28, 30, 39, 40, 48, 97, 104, 128, 129, 133, 144, 145, 214, 223, 224, 236, 237, 243, 245, 256, 258, 268 Dreikirchen 110 Düns  55, 56, 61, 67, 81 Dünserberg  55, 56, 61, 67 Egg  130, 134, 136, 137, 139, 144 Elsass  58, 59, 61–66, 68, 69, 71–73, 91, 130 Emmishofen 75 England 151 Eppan 107 Erl 110 Eschen  77, 78, 81, 83, 85, 91–93 Etsch 107 Feldkirch  18, 27, 29, 39–41, 49, 55–57, 81, 84, 88, 95–97, 99, 100, 104–111, 113, 135, 137, 144, 145, 201, 214, 223, 224, 236 Fergana 202 Flandern  71, 74 Flexen  128, 145 Florenz 119 Forstegg 118 Franche-Comté  64, 72 Franken  59, 68, 72, 73 Frankreich  12, 41, 42, 58–66, 69, 71, 72, 130, 155, 160, 180, 196, 266 Frastanz  55, 56, 58, 66, 67, 69, 73, 74, 78, 133, 140, 141, 243, 258 Friedrichshafen 133 Fürstenberg-Heiligenberg  59, 70 Fußach  129, 130 Galizien  134, 158, 159 Gamperdonatal  79, 80 Gams  122, 123 Genua 119 Gerola 115 Gibraltar 192 Glarus 72 Göfis  55–59, 67, 73, 229 Gotthardtunnel 117 Götzis 144 Grabs  122, 123 Graubünden  9–12, 62, 65, 66, 70, 72, 78, 88, 267, 268

Ortsregister 

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Graz  198, 199 Griechenland  180, 272 Großbritannien  196, 266 Großes Walsertal  30, 144 Guatemala 172 Haag 121 Hagnau 59 Haguenau 59 Hall 106 Hamburg 156 Hard  16, 41, 133, 134 Herzegowina (s. Bosnien-Herzegowina) Hessen 68 Hittisau 144 Höchst  45, 144, 236 Hohenems  101, 129, 153, 155, 156, 245, 263 Hohenweiler 144 Holland  63, 64 Ill  55, 57, 58, 128 Innerfratte 134 Innerrhoden  267, 268 Innsbruck  95, 103–111, 133, 137, 138, 198, 199 Inntal  27, 104, 139 Istanbul 242–247 Italien  41, 59, 64–66, 69, 71, 73, 110, 112, 116, 122, 123, 128, 130, 133, 180, 272 Jagdberg  55, 57, 67 Jalta 201 Jugoslawien  19, 20, 180, 181, 196, 205, 207–209, 211–213, 217–226, 241, 242, 244, 267, 280 Jura 72 Kaltern  106, 107 Kanada 196 Kärnten  41, 45, 221, 241 Kaukasus  192, 237 Kennelbach  41, 133 Kerc 193 Kizilca 247 Kleines Walsertal (Kleinwalsertal)  144, 200 Klostertal  30, 127 Königgrätz 100 Kosovo  208, 211, 212, 221, 222 Krementschuk 194

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Ortsregister

Krim  19, 191–194, 198, 199, 201, 202 Kroatien  72, 135, 149, 208, 210, 212, 220–222, 264, 265, 273 Kurtinig 107 Ladis 68 Landeck  198, 201 Langen am Arlberg  93, 136, 144 Lauterach 141 Leitomischl  101, 102 Liechtenstein  9–13, 16, 18, 19, 58–60, 63–66, 69, 71, 73, 77, 81, 83, 86, 87, 89, 91–93, 110, 163, 164, 166–171, 173, 175, 177–189, 201, 263, 267, 268 Lindau  62, 133 Lingenau  130, 141, 142 Lissabon 161 Livorno 119 Lombardei 115 London 156 Long Island  201 Lorüns  21, 133 Lothringen  58, 59, 62–69, 71 Ludesch  55, 56, 62, 67, 75, 79 Luhansk 194 Lünerseefabrik 44 Lustenau  20, 45, 128, 236, 237, 241–247, 249, 251, 252, 254–259 Luxemburg  41, 59, 63–65, 69, 71, 175 Luzern  116, 152 Mähren  64, 102 Mauren  77–84, 87, 88, 93 Mazedonien  208, 212, 221, 222 Meersburg 92 Mehrerau 74 Memmingen 68 Mendelpass 107 Meran 110 Montafon  11, 30, 87, 128, 130, 134, 138, 139, 144, 148 Montenegro  208, 212, 220–222 München  104, 106, 107 Murnau 60 Müselbach 136 Neapel  59, 73, 119 Nendeln  77, 81, 83–85

Nenzing  55–58, 65–67, 74, 78, 79, 283 Neuchatel 72 Neugotland 192 Neumarkt 107 Neuseeland 196 New York  198, 201, 203 Niederlande  41, 71, 196, 266 Niederösterreich  34, 42, 49, 103, 134, 221 Nonstal 130 Norwegen 266 Nürnberg  96, 98 Nüziders  55, 56, 62, 67 Oberösterreich  38, 41, 103, 221, 237 Oberriet 120 Obersept 73 Österreich  14, 15, 24–26, 31–34, 38, 40, 42, 43, 45, 46, 48, 75, 93, 95, 96, 98, 103, 113, 115, 122, 127, 131, 134, 136, 138, 142, 147, 161, 168, 170, 175, 177–180, 193–196, 198, 200, 201, 203, 207, 211, 213, 218–223, 226, 228, 230–238, 242–244, 246, 247, 260, 262, 265, 266, 270, 272–275, 280–282 Padua 130 Paris  64, 72, 156 Pennsylvania 68 Pfalz  61, 63, 65, 67–69, 71, 73 Piemont  73, 74 Pocking  106, 107 Polen  61, 62, 71, 134, 196 Portugal 180 Prag  103, 104, 108 Prättigau 74 Preußen  62, 66, 72 Rankweil  29, 36, 55, 59, 214, 215, 245 Ravensburg 74 Reichenau an der Knieschna  100 Reutte 108 Rhein (Alpenrhein)  10, 12, 13, 17, 61, 65, 66, 69, 71, 122, 128, 129 Rheinland-Pfalz 63 Rheintal  10, 13, 18, 27, 55, 91, 116–119, 142, 144, 267 Richenburg 100 Rom  86–89, 91, 92 Röns  55, 56, 60, 67

Rosenberg 158 Rowenki 194 Rumänien 72 Russland  160, 191, 202 Rüthi 115 Saarland  59, 62–65, 67, 69, 71, 72 Salez  115, 117, 119, 123 Salzburg  25, 38, 41, 99, 221 Samarkand 202 Samina  88, 177 Samsun 251 St. Anton (Montafon)  130 St. Anton (Tirol)  144 St. Gallen  9, 10, 12, 16, 18, 58, 59, 63–66, 69, 70, 72, 115, 119, 122, 124, 125, 151–157, 159–162, 267 St. Gallenkirch  138 St. Margarethen  133 Sarajevo 213 Sardinien  73, 74 Satteins  55, 56, 58, 59, 67, 74, 81 Schaan  73, 83, 110 Schaanwald 84 Scherwiller 91 Schiers 74 Schlesien  66, 71 Schlins  55, 56, 59, 67, 69, 80 Schnifis  55, 60, 67 Schoppernau 141 Schruns  87, 134 Schwaben  11, 12, 58–60, 62–66, 70–74, 93 Schwarzenberg 78 Schwarzes Meer  192 Schweden 266 Schweiz 10–16, 18, 35, 38, 41, 58–66, 68–72, 75, 78, 86, 93, 115–117, 119, 123, 130, 133, 143, 148, 151, 155, 157, 159–161, 164, 166, 167, 169–172, 175, 178–180, 182–184, 186, 187, 218, 241, 243, 254, 263, 266–268, 281 Schwyz  65, 70, 72 Senftenberg 101 Sennwald  115–117, 120, 122–124 Serbien  72, 207, 208, 210–212, 214, 220–222, 265, 279 Sewastopol  193, 194 Sibirien  194, 202

Ortsregister 

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Silbertal 132 Simferopol 193 Sinop 246 Sivas 258 Sizilien  59, 73 Slowakei  66, 72, 135, 149 Slowenien  208, 211, 212, 220–223 Solothurn  70, 72 Sonnenberg  55–57, 78 Sonntag 144 Sowjetunion  191, 193, 196 Spanien  59, 64, 66, 71, 180, 272 Spiegel an der Warthe  62 Steiermark  38, 41, 53, 103, 134, 193, 221, 241 Strasshof 201 Stuben 144 Stühlingen 91 Südtirol  18, 27, 53, 73, 106, 107, 110, 122, 130, 132, 134 Sulz  55, 59 Sulzberg 144 Surbtal 151 Taschkent 202 Tettnang 83 Tessin  115, 116 Thurgau  61, 70, 72, 161, 267 Thüringen  41, 55, 56, 61, 67, 83, 133 Tirol  25–27, 33–35, 38, 41, 53, 56, 57, 67, 68, 103, 105, 106, 108, 110, 127, 128, 131, 139–142, 144, 147–149, 221 Tisis  135, 201 Toggenburg 117 Trient (Trentino)  26, 41, 45, 109, 128, 129, 131, 132, 147, 261, 279 Triesenberg  88, 89 Triest 41 Tschechien 207 Tschetschenien 265 Tunceli 247 Türkei  19, 180, 199, 223, 227, 228, 230, 231, 233, 234, 236, 238, 241, 242, 244–252, 256, 258, 260, 263–265, 273, 279 Udine 130 UdSSR 199 Ukraine  191, 194, 196, 197, 202 Una 213

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Ortsregister

Ungarn  60, 62–66, 71, 72, 127, 134, 142, 147, 148, 211 Untervaz 78 USA  38, 45, 156, 161, 196, 198, 199, 201 Vaduz  77–79, 81–85, 88–90, 92, 165 Valduna 55 Vandans 37 Vensertobel 130 Verona 130 Villnös 107 Vojvodina  208, 211, 212, 222 Vorarlberg  9–13, 16–20, 23–27, 31–44, 46–49, 51–53, 55–57, 67–70, 79, 81–83, 93, 95–98, 103–108, 111–113, 127, 130–135, 139–142, 144, 146–149, 153, 191, 194–197, 200, 201, 203, 205, 206, 211–215, 217, 221–228, 232, 236–238, 241–244, 246, 247, 250, 252, 254, 256–258, 260–263, 265–270, 272, 274–277, 280, 282

Walgau  18, 27, 55–58, 67–69, 71, 74, 142, 144 Wallis  58, 62, 72 Warschau 160 Warth 144 Washington 201 Weimar 166 Weißenau 74 Werdenberg  12, 115, 121–123 Widnau 59 Wien  39, 42, 48, 99, 103, 110, 111, 137, 198, 199, 201, 221, 247, 281 Wilna 193 Wolfurt  45, 136 Wolschau 103 Württemberg  62, 63, 68, 70, 73, 115 Zizers 74 Zug 72 Zürich  70, 72, 117, 157, 159–161, 252 Zypern 272

Autorinnen und Autoren

Klaus Biedermann Historiker und Redaktor. Studium der Geschichte und Anglistik in Bern. Lizentiatsarbeit zum Rodfuhrwesen, veröffentlicht 1999. Von 1995 bis 2008 Geschäftsführer des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein. Zahlreiche Publikationen zur liechtensteinischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, zum Teil mit regionalem Bezug, in jüngster Zeit besonders zu Einbürgerungsfragen sowie zu nicht-sesshaften Unterschicht-Familien. Werner Bundschuh Mitarbeiter bei erinnern.at seit 2009. Studium der Germanistik und Geschichte in Innsbruck, Lehramtsprüfung, Lehrer am Bundesgymnasium Dornbirn. Seit 1982 Lehrbeauftragter am Zentrum für Fernstudien Bregenz, ab 1991 Obmann der Johann-August-Malin-Gesellschaft, Verein zur Erforschung der Vorarlberger Geschichte. Diverse Publikationen zur Regional- und Landesgeschichte mit Schwerpunkt Zeitgeschichte (u. a. Projekte zur Geschichte der Zwangsarbeit). Hüseyin I. Çiçek Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Erlanger Zentrum für Islam und Recht in Europa, Institut für Politik und Zeitgeschichte des Nahen Ostens sowie Lehrbeauftragter an der Universität Liechtenstein. Studium der Politikwissenschaft, Katholische Theologie, Islamwissenschaft und Geschichte an der Universität Innsbruck, Universität Erlangen-Nürnberg und University of New Orleans. Forschungsschwerpunkte: Laizismus und Religion in der Türkei, Terrorismus, Islamismus und Internationale Beziehungen. Petar Dragišić Mitarbeiter des Instituts für neuere Geschichte Serbiens in Belgrad (Institut za noviju istoriju Srbije) seit 2000. 2008 Promotion am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien mit einer Arbeit über die Beziehungen zwischen Jugoslawien und Österreich zwischen 1945 und 1955. Seine Schwerpunkte sind: Jugoslawische/Serbische Migranten in Westeuropa, Zerfall Jugoslawiens und Außenpolitik Jugoslawiens nach dem Zweiten Weltkrieg. August Gächter Mitarbeiter des Zentrums für Soziale Innovation (Wien) seit 2002. Geboren 1958 in Vorarlberg. Seit 1989 mit Forschung zu Migration und Integration be-

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Autorinnen und Autoren

schäftigt. Von 1991 bis 2002 am Institut für Höhere Studien (Wien) beschäftigt. Bis 2008 Lehrbeauftragter für Entwicklungstheorie an der Universität Wien. 1998 bis 2010 Konsulent der Migrations-Programme der ILO (International Labour Organization). Nikolaus Hagen Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck. Laufendes Dissertationsprojekt zur nationalsozialistischen Kulturpolitik im Gau Tirol-Vorarlberg. Seit 2013 Freier Mitarbeiter des Ausstellungsund Forschungsprojekts »Der Fall Riccabona« am vorarlberg museum in Bregenz. Elmar Hasović Geboren 1979 in Cajnice (südöstliches Bosnien-Herzegowina) und lebt seit dem Ausbruch des Krieges 1992 in Österreich. Studium der Geschichte und Slawistik, Abschluss 2010. Im Auftrag des vorarlberg museums arbeitet er derzeit an der Aufarbeitung der Migrationsgeschichte aus dem ehemaligen Jugoslawien. Oliver Heinzle Mitarbeiter im Historischen Archiv der Marktgemeinde Lustenau seit 2007 mit Forschungsschwerpunkten in den Bereichen Zeitgeschichte (Aufbau des Zeitzeugenarchivs Lustenau) und Migration. Geboren 1976 in Lustenau, lebte einige Jahre in Wien. Abschluss der Pädagogischen Akademie in Feldkirch (Geschichte und Englisch) 2006. Leitung und Kuratierung der Galerie Hollenstein von 2012 bis 2016. Peter Melichar Historiker, seit 2009 Kurator im vorarlberg museum; Mitherausgeber der Öster­ reichischen Zeitschrift für Geschichtswissenschaften. Publikationen: http:// www.clio-online.de/forscherinnen=9550 Dieter Petras Freier Autor, Fotograf, Lektor, Archivbetreuer und Ausstellungsgestalter. Geboren 1964, Pflichtschule in Lustenau, Ausbildung bei der Österreichischen Post, Fotografenlehre und Arbeit als Fotograf freiberuflich, selbständig und angestellt, zweiter Bildungsweg am Abendgymnasium Feldkirch, nebenberufliches Studium der Geschichte und Politikwissenschaft 1996 bis 1999 und 2006 bis 2007 in Innsbruck, Diplom in Geschichte des Mittelalters 2008 bei Landesarchivar Alois Niederstätter, Doktoratsstudium 2009 bis 2012, Promotion 2015 bei Thomas Albrich vom Institut für Zeitgeschichte zur Migrationsgeschichte des Walgau.



Autorinnen und Autoren 

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Hans Jakob Reich Freischaffender Journalist und Publizist seit 1997. Geboren 1952, aufgewachsen in Salez SG. Ausbildung zum Grafiker an der Schule für Gestaltung St. Gallen, anschliessend Weiterbildung in Deutsch und Volkswirtschaft in Zürich. 1974–1988 Tätigkeiten in Werbung und Public Relations in St.Gallen und Bern. 1988–1996 Chefredaktor der Regionalzeitung »Werdenberger & Obertoggenburger«. 1987 Mitbegründer des Werdenberger Jahrbuches und seither Redaktionsleiter. Seit 2000 editorische Betreuung der Reihe «Begleitpublikationen zum Werdenberger Jahrbuch». Diverse Publikationen zu regionalgeschichtlichen und landeskundlichen Themen. Andreas Rudigier Kunsthistoriker und Jurist, seit 2011 Direktor des vorarlberg museums. Davor langjähriger Leiter der Montafoner Heimatmuseen, zahlreiche Publikationen zur Kunst- und Kulturgeschichte Vorarlbergs. Nicole Schwalbach Studium der Geschichte und Deutschen Literaturwissenschaft in Basel (Lizentiat 2001, Promotion 2016), Dissertation zur Schweizer Ausbürgerungsthematik während des Zweiten Weltkriegs mit dem Titel »Ein Staat kann nicht nur gute Bürger haben, er muss auch mit den schlechten fertig werden«. 2008 bis 2012 Projektbeauftragte in Liechtenstein zum Thema Finanzeinbürgerungen (»Bürgerrecht als Wirtschaftsfaktor. Normen und Praxis der Finanzeinbürgerung in Liechtenstein 1919–1955«, 2012). 2003–2007 Wissenschaftliche Mitarbeit in einem Projekt des Schweizer Nationalfonds zur Ausbürgerungsthematik; 2003– 2005 Wissenschaftliche Mitarbeit in einem weiteren Projekt des Schweizer Nationalfonds zur Entwicklung des Schweizer Bürgerrechts. Martina Sochin D’Elia Forschungsbeauftragte des Fachbereichs Geschichte am Liechtenstein-Institut seit 2011. Geboren 1981. Studium der Zeitgeschichte (Hauptfach) und Medienund Kommunikationswissenschaften sowie Volkswirtschaftslehre (Nebenfächer) in Freiburg i. Üe. Publikationen zu den Themen Migration, Ausländer, Integration, Flüchtlinge, Bürgerrecht, Schulwesen, Katholizismus, Frauengeschichte, etc. Gerhard Wanner Emeritierter Professor für Geschichte (Gorki-Universität in Jekaterinburg, Pädagogische Hochschule Feldkirch), Geschäftsführer der Rheticus-Gesellschaft, zahlreiche Publikationen zur Zeitgeschichte Vorarlbergs und Österreichs.

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Autorinnen und Autoren

Andreas Weigl Geboren 1961 in Wien. Studium der Wirtschaftsinformatik und Geschichte an der Universität Wien. Seit 2008 Mitarbeiter des Wiener Stadt- und Landesarchivs. Privatdozent am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien mit Schwerpunkt historische Demographie, Stadtgeschichte, Konsumgeschichte, Sozialgeschichte der Medizin. Ab 2011 Vorsitzender des Österreichischen Arbeitskreises für Stadtgeschichtsforschung. Hanna Zweig-Strauss (†) Geboren 1931 in Frankfurt am Main. Sie lebte mit ihren Eltern ab 1931 in der Schweiz, studierte in Zürich Medizin und wurde Pathologin. Sie war mit dem Psychologen Adam Zweig, dem Sohn des Schriftstellers Arnold Zweig, verheiratet. Nach ihrer Pensionierung studierte sie Geschichte in Luzern und verfasste mehrere biographische Studien. Sie starb 2014.