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German Pages 700 [702] Year 2021
Oliver Dürkop
Walter Siegert: Dem Gemeinwohl der Ostdeutschen verpflichtet
Oliver Dürkop
Walter Siegert (1929–2020) Dem Gemeinwohl der Ostdeutschen verpflichtet Biografie über den Minister und Staatssekretär im Ministerium der Finanzen der DDR Mit einem Vorwort von Theo Waigel
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wbg Academic ist ein Imprint der wbg © 2021 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. E-Book: Satzweiss.com Print Web Software GmbH, Saarbrücken Umschlag, Layout und Satz: Oliver Dürkop Umschlagabbildung: 90. Geburtstag von Walter Siegert in Berlin – 18. Mai 2019 Bildbearbeitung: Philipp Wehmeyer, Brunsbüttel ([email protected]) Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de
ISBN
978-3-534-27386-7
Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF) eBook (epub)
978-3-534-27387-4 978-3-534-27388-1
Inhalt Vorwort von Theo Waigel ................................................................................ 11 I.
Einleitung und konzeptionelle Überlegungen 1. Kurzfassung ........................................................................................ 13 2. Danksagung des Herausgebers ........................................................... 14 3. Erkenntnisinteresse und Zielsetzung .................................................. 16 4. Forschungsgegenstand und -fragen .................................................... 17 5. Struktur ............................................................................................... 18 6. Methodik, Umsetzung und Spezifika ................................................... 19
II. Einführung in die Thematik Sozialismus und Finanzen:
Wirtschaftlicher und finanzieller Kurswechsel (1948–1984) 1. Marshallplan-Hilfe für den Westen .................................................... 23 2. Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe für den Osten ........................... 23 3. Organe im politischen System der DDR .............................................. 25 4. Das „Neue Ökonomische System der Planung und Leitung“ (1963–1967) ....................................................................................... 29 5. Das „Ökonomische System des Sozialismus“ (1967–1971) ................. 30 6. Honeckers „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ (ab 1971) .... 32 7. Abhängigkeit vom Klassenfeind: Die F. J. Strauß-Kredite (1983–1984) ....................................................................................... 35 Friedliche Revolution, Zusammenbruch und Rettungsversuche der „Regierung der nationalen Verantwortung“ in der DDR (1985–1990) 1. Gorbatschows gescheiterte Reformpolitik „Perestroika und Glasnost“ ............................................................................................ 39 2. Krenz und der sog. „Schürer-Bericht“ (Oktober 1989) ....................... 41 3. Das Imperium Kommerzielle Koordinierung ...................................... 45 4. Modrow-Delegation in Bonn: Forderung von 15 Milliarden DM „Solidarbeitrag“ (13./14. Februar 1990) ............................................. 49 5. Konzeptionsgeschichte, Gründung, Abwicklung und Bilanz der Treuhandanstalt ................................................................................. 52 6. Aufnahme-Antrag der DDR als 13. EWG-Mitgliedstaat (16. März 1990) ................................................................................... 57
III. Prägungen von Walter Siegert: Kindheit, Studium, Promotion und beruflicher Aufstieg (1929–1961) 1. Elternhaus, Kriegszeit und Schul- und Berufsausbildung (1929–1947) ....................................................................................... 61 2. Inhaftierung: Verdacht einer konterrevolutionären Tätigkeit (1948).. 62 3. Revisor-Tätigkeiten, Mitgliedschaften im Jugendverband FDJ und der SED (1948–1952) .......................................................................... 63 4. Wissenschaftliche Karriere: Diplom-Studium und Promotion zum Dr. oec. (1952–1961) .......................................................................... 65 5. Garant für den Erfolg: Eine emanzipierte und gleichberechtigte Ehefrau ............................................................................................... 66 IV. Das Wirken von Walter Siegert im Ministerium für Finanzen der DDR (1961–1991) 1. Mitarbeiter in der Regierungskommission (1961–1967) ................... 68 2. Abteilungsleiter im Finanzökonomischen Forschungsinstitut (1967–1968) ....................................................................................... 71 3. Stellvertretender Leiter und Leiter der Staatlichen Finanzrevision (1968–1980) ....................................................................................... 73 4. Staatssekretär in der Regierung Stoph unter den Finanzministern Böhm, Schmieder und Höfner (1980–1989) ....................................... 76 5. Staatssekretär in der Übergangsregierung Modrow unter Finanzministerin Nickel und geschäftsführender Finanzminister (1989–1990) ........................................................................................ 79 6. Austritt aus und Trennung von der SED ............................................. 83 7. Privatisierung der Staatlichen Versicherung ...................................... 88 8. Staatssekretär in der Regierung de Maizière unter den Finanzministern Romberg und Skowron (1990) ........................................... 91 9. Koalitionsbruch und Einigungsvertrag als Vertrag sui generis ........... 95 V. „Damals und heute“: Eine Einordung von Politik, Medien und Öffentlichkeit – Struktur und Organisation der Medien ........................................................... 99 VI. Fazit, Begrenzungen und Ausblick ................................................................ 110 1. Fazit .................................................................................................. 111 2. Begrenzungen .................................................................................. 125 3. Ausblick ............................................................................................ 126 VII. Anhang Berichte von und Zeitzeugengespräche mit politischen Akteuren 1. Walter Siegert – Staatssekretär und Minister im Finanzministerium der DDR 1.1. Tabellarische Biografie ..................................................................... 129
1.2. Die Rolle von Geld, Finanzen und Preisen in der Wirtschaftsreform. Diskussionsvorschlag einer Arbeitsgruppe beim Ministerium der Finanzen und Preise (14. Dezember 1989) ....................................... 137 1.3. Walter Siegert und Horst Kaminsky: Vorschlag für die Verhandlungsposition zum Problem Währungsunion (10. Februar 1990) ............. 144 1.4. Die DDR – ihr Wachsen und Werden sowie ihre Sorgen .................. 149 1.5. „Good luck and take care!“ (25. September 1990) .......................... 209 1.6. Walter Siegert (†) „Machterhalt kennt keine Bedenken, auch wenn es zu Lasten der Bürger geht.“ ..................................................................................... 215 1.7. Carmen Siegert „Er hat immer hinter mir gestanden und sich schützend für mich eingesetzt.“ .............................................................................. 413 1.8. Bilderteil: In Erinnerung an Walter Siegert ....................................... 414 2. Regierung Modrow (13. November 1989 bis 12. April 1990) Hans Modrow „Die Regierung musste alle versorgen, das war die Denkstruktur, die der normale DDR-Bürger hatte.“ ................................................. 429 Klaus Blessing „Ich lernte Walters Ausgeglichenheit kennen und als Kontrast zu meinen häufig bewusst provokanten Thesen auch zu schätzen.“ .... 447 Christa Luft „Zusammengefasst steht für mich die Treuhand für die größte Vernichtung von Produktivvermögen in Friedenszeiten und das bei Duldung durch die Bundesregierung.“ ........................................ 449 3. Regierung de Maizière (12. April bis 2. Oktober 1990) Lothar de Maizière „Walter Siegert war also auch ein Mann, für den ich jederzeit meine Hand ins Feuer gelegt hätte.“ ............................................... 457 Günther Krause „Ich habe durchgesetzt, dass auch eine Sozialunion geschaffen wurde. Die war im Entwurf des BMF seinerzeit nicht vorgesehen.“ ............. 465 Hans-Joachim Lauck „Ich habe Siegert als sachlichen, kompetenten, ehrlichen und vertrauenswürdigen Kollegen kennen sowie schätzen gelernt.“ ........... 468
4. Experten der Treuhandanstalt und Wirtschaft Peter Breitenstein „Der Erwartungsdruck der Ostdeutschen, vor allem nach Freiheit, Wohlstand und DM war so groß, dass dies keine DDR-Regierung hätte länger aushalten können.“ ............................ 469 Willy Delling „Sie kannten die Marktwirtschaft, die DDR-Wirtschaft allerdings ‚nur‘ aus der BILD-Zeitung.“ ............................................. 489 Manfred Domagk „Walter gehörte aus meiner Sicht zu den qualifiziertesten Fachleuten des Finanzwesens der DDR.“ ......................................... 495 Karl Döring „Was machen eigentlich die politischen Akteure eines anderen Staates auf unserem Territorium?“ ................................... 511 Uwe Trostel „Das böse Erwachen kam erst, als sie sich als Arbeitslose auf der Straße wiederfanden. Die Einführung der DM hat die Festung DDR-Wirtschaft sturmreif geschossen.“ ............................. 525 5. Lehre und Wissenschaft der DDR Horst Steeger „Das Ende der DDR 1990 bedeutete auch ein abruptes Ende der DDR-Wirtschaftswissenschaft in Lehre und Forschung.“ ........... 537 Johannes Gurtz „Der Lebensweg von Walter Siegert steht für viele seiner Generation, die schließlich die Führungselite in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft der DDR wesentlich bildeten.“ ........... 547 6. Banken, Staatliche Versicherung und Justiz Jürgen Brockhausen „Es bleibt die Erfahrung, die wir im Westen nicht gemacht haben, das Erleben eines totalen Umbruchs.“ ............................................. 553 Horst Kaminsky (†) „Der Untergang der DDR hatte sowohl innere als auch äußere Ausgangspunkte.“ ……………………………………………………………. 573
Günter Ullrich „Die anhaltende Mangelwirtschaft stand im krassen Gegensatz zu den Dogmen und Parolen in Presse, Funk und Fernsehen und verschlechterte zunehmend Stimmung und Motivation.“ ........ 581 Werner Strasberg „[…], der Austausch nahezu aller Richter und Staatsanwälte der DDR gegen Beamte aus der BRD war ein noch heute überall spürbarer ‚Kulturbruch‘.“ ..................................................... 595 7. Diplomatie Bruno Mahlow „Ich kann Ihnen generell wie menschlich die Ursachen begründen, warum die SU zerfallen war, aber bis zum Ende begreifen werde ich es trotzdem nicht.“ ................................. 603 8. Medien, Politik und Öffentlichkeit Klaus Feldmann „Nimmt es da Wunder, dass die ‚Aktuelle Kamera‘ ein ungeliebtes Fernsehkind bei den Zuschauern war?“ ....................... 627 Günther von Lojewski „Schließlich sind Journalisten nicht weniger Opportunisten als andere Menschen auch.“ …….……………………………………………………631 Frank Schumann „Mir muss man nicht erzählen, was bei uns alles schlecht war, ich weiß das, ich habe hier schließlich 40 Jahre gelebt.“ .................. 655 VIII. Quellenverzeichnisse 1. Abbildungsverzeichnis .................................................................... 671 2. Literaturverzeichnis: primäre und sekundäre Literatur/ Internetquellen ............................................................................... 674 3. Medienspiegel Walter Siegert ........................................................ 690 4. Personenregister ............................................................................ 692
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Vorwort Theo Waigel Ehemaliger Bundesminister der Finanzen Vorsitzender der CSU a. D. Ehrenvorsitzender der CSU
Abb. 3: Theo Waigel
Walter Siegert war in einer bewegten Phase deutscher Politik ein sachkundiger und verlässlicher Partner. Er verfügte über Kenntnisse und Zahlen der DDR-Finanzwirtschaft, ohne die es nur schwer möglich gewesen wäre, die deutsche Währungs-, Wirtschaftsund Sozialunion zu verwirklichen. Wir sind in dieser Zeit vertrauensvoll miteinander umgegangen. Ich konnte die schwierige Situation unserer Verhandlungspartner verstehen und habe mich bemüht, ihnen mit Respekt zu begegnen. Das kommt auch in den Erinnerungen von Walter Siegert zum Ausdruck. Ich war überzeugt, dass die profunden Kenntnisse des früheren Staatssekretärs im DDR-Finanzministerium noch längere Zeit von Nutzen bei der Verwirklichung der deutschen Einheit sein würden. Das war auch der Grund, weshalb mein Staatssekretär Peter Klemm seinem Gegenpart Walter Siegert das Angebot machte, auch nach Abschluss des Staatsvertrags dem Bundesfinanzministerium beratend zur Seite zu stehen. Das ist auch geschehen, bis Walter Siegert in seiner letzten Berufsstation zur Privatwirtschaft stieß, die zu DDR-Zeiten nur im Verborgenen blühte. Die Biografie über den Minister und Staatssekretär im Ministerium der Finanzen der DDR bedarf einer intensiven Befassung, wenn man sich die 700 Seiten des Werkes ansieht. Es ist die subjektiv empfundene Zeitgeschichte eines Lebens, geprägt von den Brüchen des vergangenen Jahrhunderts und dem Scheitern eines sozialistisch-kommunistischen Traums auf deutschem Boden. Walter Siegert war Zeitzeuge, aber auch der Zeitzeuge kann seine Erinnerung verklären. Von einem Geschichtsprofessor stammt der Satz: „Der Zeitzeuge ist der größte Feind des Historikers“. Darum bedarf die Sicht des Zeitzeugen einer kritisch-historischen Reflexion. Diese hätte ich mir in dem Werk stärker ge-
12 wünscht. Max Frisch schreibt in einem seiner Tagebücher: „Überzeugungen sind der beste Schutz vor dem lebendig wahren.“ Überzeugungen müssen sein und gehören zum Wesen des Menschen, sie können aber auch in Widerspruch zu geschichtlichen Vorgängen und Ereignissen stehen. Ich habe die Kompetenz der Wirtschaft und Finanzfachleute in der SED-Hierarchie in ziemlich schlechter Erinnerung. Die realen Fakten, der Produktivitätsrückstand, die Auslandsverschuldung, die fehlende Kapitalallokation und die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit im internationalen Bereich kommen mir bei Walter Siegert zu kurz. Sein Lob über das Bildungs- und Erziehungssystem geht kaum auf den Ausschluss und die Benachteiligung kritischer Bevölkerungsgruppen ein. Die willkürliche Justiz, Schießbefehl an Mauer und Grenze, der Freikauf von Häftlingen in Milliardenhöhe, die Repression gegen Opposition und Kultur, tauchen bei Walter Siegert nur marginal auf. Bei der Rolle von Michal Gorbatschow folgt Walter Siegert mehr der Sicht von Honecker als dem realistischen Bild über den Zustand der Sowjetunion, seiner Satellitenstaaten und der DDR. Die Vorstellung, man könne mit einem „Lastenausgleich“ zwischen beiden Staaten in Deutschland von 15 Milliarden DM die DDR reformieren ist Illusion. Die tatsächlichen Aufwendungen für Ostdeutschland im Zuge der Wiedervereinigung betrugen jährlich das Zehnfache dieser Summe. Die Zurückweisung dieser Forderung durch mich war nicht eine schroffe Ablehnung eines vernünftigen Begehrens, sondern die konsequente Einsicht, dass finanzielle Hilfe nur im Einklang mit einer Änderung des gesamten Wirtschaftssystems erfolgen könne. Die finanziellen Aufwendungen für die Einheit Deutschlands in den letzten 30 Jahren stellen die größte Solidaraktion auf deutschem Boden in der Geschichte dar. Auch wenn ich die Geschichtsbetrachtung und die Eigenschaften des DDR-Staates in vielen Punkten anders sehe als Walter Siegert, versage ich ihm nicht den Respekt vor seiner Bereitschaft in schwierigster Zeit Verantwortung zu übernehmen und Deutschland damit einen wichtigen Dienst zu erweisen. Das Buch gibt einen interessanten Einblick in die Entscheidungsabläufe, die Struktur und der agierenden Personen der DDR-Spitze. Dr. Theo Waigel Bundesminister der Finanzen a. D.
22. März 2021
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I. Einleitung und konzeptionelle Überlegungen 1. Kurzfassung: „Ilse, wir führten ein schönes Leben. Wir haben unsere Arbeit nach bestem Wissen und Gewissen erledigt, unsere Kinder großgezogen und schöne Reisen unternommen. Es ist nicht jedem vergönnt fast 91 Jahre alt zu werden.“ Das waren die letzten Worte von Dr. Walter Siegert an seine Frau Ilse, bevor er nach schwerer Krankheit am 2. Februar 2020 einschlief. 1 Ein dreiviertel Jahr zuvor feierte der Diplomwirtschaftler Siegert im Kreise seiner Liebsten am 18. Mai seinen 90. Geburtstag. 2 Dieses erfreuliche Alter zu erreichen, war für Siegert mit ein Beweggrund, um retrospektiv mit Stolz und einer gewissen Genugtuung über Stationen aus seiner Lebens- und Leistungsbilanz zu reflektieren. Siegerts Bedürfnis war es, aufwendig und umfangreich sowie selbstkritisch und wahrheitsgemäß sich dem Fachjournalisten Oliver Dürkop mitzuteilen, um Interessenten der wissenschaftlichen Geschichts- und Ökonomieforschung, den nachfolgenden Generationen, seiner Familie sowie Freunden Erlebnisse und Erfahrungen mit Schwerpunkten aus seinem Arbeitsleben einer fast 41-jährigen Existenz der DDR – vom 7. Oktober 1949 bis zum 3. Oktober 1990 – zu schildern. Im Fokus dieser Publikation stehen Siegerts Ausführungen auf recherchierte und zugeschnittene Interviewfragen, die Dürkop seit 2017 dem Protagonisten in tiefgründigen Hintergrund- und Zeitzeugengesprächen in über 120 Stunden stellte. Diese Gesprächsaufzeichnungen sowie dazu größtenteils unveröffentlichte Schriften und Berichte von Siegert bilden das Fundament und dienen als wichtigste Quellengrundlage für diese Forschungsarbeit. Chronologisch werden zum jeweiligen Ereignis die verschiedenen Phasen der Entstehung und Gründung, der Weiterentwicklung bis zur Destabilisierung, dem ökonomischen und ökologischen Desaster, dem Umbruch und Zusammenbruch einhergehend mit dem Niedergang und Ende der DDR eingeordnet. Einerseits erinnerte sich Siegert an damalige Ereignisse, Begebenheiten sowie politische Weggefährten, andererseits resümierte, beurteilte und bewertete er Zäsuren und Auffälligkeiten mit angereichertem Wissen aus einer räumlichen sowie zeitlichen Distanz von Jahrzehnten bis zu seiner Kindheit. Im Speziellen berichtete Siegert u. a. über sein Aufwachsen und die Verhältnisse aus dem Bezirk Chemnitz 3 vor, während und nach der NS-Diktatur. Dazu gehörten der Dienst als Kassenverwalter (Pimpf) im Deutschen Jungvolk (DJ), seine schulische, universitäre sowie Dürkop im Gespräch mit Ilse Siegert am 5.8.2020 in Berlin. Tabellarische Biografie von Walter Siegert im Kapitel VII. Anhang S. 129 ff. 3 Drittgrößte Stadt (neben Dresden und Leipzig) in Sachsen. Von 1953 bis 1990 in Karl-Marx-Stadt umbenannt. Am 28. Oktober 2020 wurde Chemnitz zur Europäischen Kulturhauptstadt 2025 gewählt. 1 2
14 berufliche Aus- und Fortbildung, sein Engagement bei den Wirtschaftsausrichtungen unter Walter Ulbricht, der u. a. Erster Sekretär des Zentralkomitees (ZK) der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) und Vorsitzender des Staatsrates war, das „Neue ökonomische System der Planung und Leitung“ (NÖS oder NÖSPL), das „Ökonomische System des Sozialismus“ (ÖSS) sowie seine Bedenken beim Richtungswechsel ab 3. Mai 1971 unter Erich Honecker, der u. a. der neue Generalsekretär des ZK der SED wurde. Mit Vorgabe der „Einheit von Wirtschaft und Sozialpolitik“ baute Honecker die Wirtschaft und soziale Strukturen weiter aus, geriet jedoch zunehmend in politische Seilschaften und Stagnation, sodass das Vertrauen zwischen Bevölkerung und Politik vernichtet wurde. Eine bedeutsame Zäsur der deutsch-deutschen, europäischen sowie sowjetischen Zeitgeschichte zum Ende des 20. Jahrhunderts war zweifellos die friedliche Revolution in der DDR von 1989/90, die für Gewaltlosigkeit steht. In rasanter Zeit führte nach dem Ende der SED-Herrschaft ein gesellschaftspolitischer Wandel in eine parlamentarische Demokratie, wobei Siegert in Verantwortung als Staatsekretär und kurzzeitig als Minister der Finanzen in der DDR fungierte. 4 Diese Publikation trägt dazu bei, die tatsächlichen Gegebenheiten zu erforschen, um sich mit Hilfe von Fakten, Tatsachen und Dokumenten der Wahrheit anzunähern, um neue Erkenntnisse und Befunde zu liefern und Mythen und Spekulationen zu dekonstruieren. Das Vermächtnis sind die Gespräche und Dokumente, die in dieser wissenschaftlichen Biografie des Staatssekretärs Siegert analysiert werden, dessen Leben und berufliches Wirken bis heute keine angemessene und vollumfängliche Würdigung in der zeitgeschichtlichen Literatur fand.
2. Danksagung des Herausgebers: Diese Arbeit wäre ohne viele Unterstützer und Hel-
fer gar nicht erst entstanden. Zuallererst bin ich Dr. Klaus Blessing (Berlin) sehr dankbar, der mir nach einem Zeitzeugengespräch (Dezember 2016) für mich eine Empfehlung aussprach und einen Kontakt zu Siegert herstellte. Aus zeit- und gesundheitlichen Gründen lehnte er Anfragen von Journalisten und Studenten ab. Nach meiner schriftlichen Anfrage sowie mehreren Telefonaten kam es im Februar 2017 zu einem ersten Treffen in seiner Berliner Privatwohnung, wodurch sich gleichsam eine langjährige und tiefgreifende Zusammenarbeit mit gebührendem Abstand von Respekt und journalistischer Objektivität entwickelte. Die Chemie stimmte, weil Siegert ansonsten nicht bereit gewesen wäre, diese historische Aufarbeitung gemeinsam anzugehen. Von Vorteil war meine berufliche und private Lebenserfahrung (Geburtsjahr 1971). Siegert fand es durchaus interessant, dass meine Schwerpunkte mit den steuer-, rechts-, finanz- und wirtschaftsberatenden Berufen verankert sind, weil die Gespräche u. a. auch Basiswissen der Ökonomie, des Steuerrechts sowie der sozialen Marktwirtschaft erforderten. Des Weiteren konnte ich, als jemand, der in Westdeutschland geboren, aufgewachsen und sozialisiert worden war, Ab April 1990 bis zur deutschen Einheit führte das Ministerium der DDR die Bezeichnung „Ministerium für Finanzen und Preise“. 4
15 unvoreingenommen agieren und mich vorurteils- und wertfrei dieser Aufgabe stellen. Schnell reifte der gemeinsame Gedanke, diese umfangreichen Erkenntnisse im Rahmen eines Forschungsprojektes als Master Thesis mit dem Arbeitstitel „Im Spannungsfeld von Sozialismus, Realität und Öffentlichkeit. Die Politik von DDR-Finanzstaatssekretär Walter Siegert 1980–1990.“ an der Hochschule Magdeburg-Stendal anzumelden. Zur Betreuung sagte der renommierte Historiker Prof. Dr. Helmut Müller-Enbergs sofort als Erstprüfer zu, der nicht nur über die Fachkompetenz der deutsch-deutschen Revolutionsgeschichte verfügt, sondern auch als Spezialist für Oral History gilt. Sein Opus Magnum als Mitherausgeber ist die Publikation „Wer war wer in der DDR?“, ein Lexikon ostdeutscher Biografien. Die Empfehlung für diese Erstbetreuung sprach Prof. Dr. Michael Gehler aus Hildesheim aus. Die Expertisen und Veröffentlichungen von Prof. Dr. Claudia Nothelle waren zudem ausschlaggebend dafür, sie als Zweitprüferin für das Projekt gewinnen zu wollen, dass sie im Speziellen eine Gewichtung auf den Themenkomplex „Politik, Medien und Öffentlichkeit“ legt. Dadurch wurde die Wertigkeit dieser Arbeit erheblich gesteigert, zumal Siegert in und über die Medien Wirkung erzielt hatte und so durchaus von Interesse für die öffentliche Berichterstattung war. Einen Kontakt zur Zweitbetreuung stellte Armgard von Bonin – vom Cross-Media Institut der Hochschule Magdeburg-Stendal – her. Im Vorfeld wurde Siegert über die Begutachtung durch Müller-Enbergs und Nothelle in Kenntnis gesetzt, was er wohlwollend zur Kenntnis nahm. Die Approbation zur Verwendung und Veröffentlichung der umfangreichen Interviewtexte sowie Beiträge erteilte Siegert schriftlich im Herbst 2019. Die meisten bis zum Jahreswechsel 2019/2020 vorliegenden Interviewtexte von Zeitzeugen und Weggefährten (Anhang S. 429 ff.) nahm er wertschätzend zur Kenntnis. Ebenfalls bedanken möchte ich mich bei Prof. Dr. Christine Goutrié (Weißensee Kunsthochschule Berlin), Prof. Björn Stockleben (Filmuniversität Babelsberg) und Prof. Dominik Schumacher (Institutsleiter von Cross-Media an der Hochschule Magdeburg-Stendal), die meine Eignungsprüfung (Vorstufe zur Master Thesis) mit dem Thema „Die Berliner Mauer in der digitalen Erinnerungskultur – ein kritischer Vergleich von Inhalten in der Medienerinnerung“ erfolgreich bewerteten. Dankeschön ebenso auch an Prof. Dr. Ilona Wuschig (Studienzentrumleiterin der MEU, Magdeburg) und Prof. Dr.-Ing. Michael A. Herzog (Hochschule Magdeburg-Stendal) für eine exzellente Projektbetreuung in den letzten Jahren. Ein besonderer Dank gilt Prof. Dr. Michael Gehler für seine Literaturunterstützung und für die Teilnahmemöglichkeit an den Hildesheimer Europa- und Institutsgesprächen, 5 Svetlana Egorova (Hannover) für ihr Interesse und ihre Begleitung zu Gesprächsterminen sowie für die Transkriptionsunterstützung für die Interviews durch Kristina Tissen (Dortmund) und Jessica Ludwig (Glauburg). Beim Lektorieren wirkte Vera Wahlscheidt-Komischke (Mönchengladbach) mit. Ein Überblick von 2007 bis 2020 unter https://www.uni-hildesheim.de/fb1/institute/geschichte/erasmus-und-europagespraeche/europa-gespraeche/ (letzter Zugriff 9.11.2020).
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16 Eine gebührende Anerkennung für Hilfsbereitschaft, Unterstützung und Umsetzung gilt den vielen Zeitzeugen, die maßgeblich dazu beitrugen, dass ein umfassendes Persönlichkeitsbild von und über Siegert gelingen konnte: Klaus Blessing, Peter Breitenstein, Jürgen Brockhausen, Lothar de Maizière, Willy Delling, Manfred Domagk, Karl Döring, Johannes Gurtz, Horst Kaminsky (†), Günther Krause, Hans-Joachim Lauck, Christa Luft, Bruno Mahlow, Hans Modrow, Horst Steeger, Werner Strasberg, Uwe Trostel und Günter Ullrich. Ein weiterer Dank für ihre Einschätzungen zur „Politik, Medien und Öffentlichkeit“ gilt Klaus Feldmann, Günther von Lojewski und Frank Schumann. Vielen Dank auch für das wertschätzende Vorwort vom Bundesfinanzminister a. D. Theo Waigel. Das Hauptgewicht an dem vorliegenden Ergebnis hat zweifelsfrei Walter Siegert (†), der bis ins hohe Alter eine außerordentliche Bereitschaft zeigte und trotz Erkrankung Interviews führte, redigierte und den Feinschliff (zusammen mit seiner Ehefrau Ilse) erledigte. Eindeutig ist, ohne dieses Engagement wäre dieses Werk nicht zustande gekommen. Nach dem Tod Siegerts war die Familie, insbesondere die Witwe, immer ansprechbar und entgegenkommend, sodass persönliche Eigenheiten des Verstorbenen im Detail nachgezeichnet werden konnten. Positiv dem Projekt gegenüber eingestellt und aufgeschlossen waren auch die Kinder, Carmen und Uwe. An diesem vorliegenden Vermächtnis von Siegert mitzuwirken, es auszuwerten und schlussendlich zusammenzustellen war eine journalistische Herausforderung. Inwiefern die Umsetzung gelungen ist, mögen andere beurteilen. Oliver Dürkop
Hildesheim, April 2021
3. Erkenntnisinteresse und Zielsetzung: Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist, Lebens-
abschnitte Walter Siegerts zu identifizieren, zu dekonstruieren, zu erklären und Aussagen über Wirkung und Auswirkung in einem Fazit zu treffen. Das erfolgt durch die Literaturanalyse und deren Bewertung vorhandener Forschungsliteratur sowie durch empirische Arbeit mit einer messbaren Datenerhebung, um zu verifizieren oder zu falsifizieren. Publikationen von ostdeutschen Repräsentanten sind von und über die DDR-Ministerpräsidenten Hans Modrow und Lothar de Maizière sowie vielfach über Ministerinnen und Minister aus diesen Regierungen der Zeit 1989/90, z. B. von Peter-Michael Diestel, Rainer Eppelmann und Christa Luft, vorzufinden. Oftmals ist es so, dass die Namen von Personen, die damals nicht unmittelbar im Rampenlicht standen, in Veröffentlichungen eher nicht anzutreffen sind. Auffällig hierbei ist ein Ost-West-Gefälle feststellbar. Die Erforschung der Hyetographie (Beschreibung/Messung) zeigt – insbesondere über die letzten Jahre der DDR –, dass Siegert, wenn überhaupt, oberflächlich und unsystematisch namentlich genannt wurde. Eine Autobiografie, Memoiren oder ein vollständiges Selbstzeugnis sind weder von ihm bzw. über seinen persönlichen sowie beruflichen
17 Werdegang vorhanden. 6 Vereinzelt publizierte er Kurzbeiträge bzw. Schriften für ein überschaubares, politisches und privates Netzwerk von Bekannten. In Veröffentlichungen wird sein Wirken nie in Gänze erwähnt und in keinem Kontext vollständig dargestellt. Ein Medienspiegel existiert nicht. Informationen sind neben einer standesgemäßen Wikipedia-Beschreibung, 7 Kurzinterviews als Videos auf der Plattform YouTube, Diskussionsteilnahmen bei den Kombinatsdirektoren in Berlin 8 und in universitären Wissenschaftskreisen sowie Aufsatzveröffentlichungen und Stellungnahmen zu Ereignissen der Jahre 1989/90 und zu Entwicklungen aus dem letzten Jahrzehnt verfügbar. In den Archiven des „Bundesbeauftragten für Unterlagen des Staatsicherheitsdienstes der ehemaligen DDR“ (BStU) befindet sich kein Nachlass von Siegert. Zusätzlich relevante Dokumente bewahrte er in seinem Privatbesitz auf, die allesamt mit im Projekt berücksichtig worden sind. Einblicke in die persönliche „Kaderakte“ 9 Siegerts ergaben Rückschlüsse über Zeitmarken, Beurteilungen sowie Verhaltenseinschätzungen. Im Sommer 2018 entschloss sich der Protagonist einen Antrag auf Einsicht in seine persönliche „Stasi-Akte“ 10 beim BStU in Berlin zu stellen. Ziel war es Antworten über Umfang und Intensität einer vermutlichen Beobachtung durch das ehemalige Ministerium für Staatssicherheit (MfS) zu erhalten. Nach Einsichtnahme waren allerdings keine relevanten Hinweise vorhanden, die für dieses Projekt Anhaltspunkte hätten geben können. 11 Umso mehr erscheint Siegert für Historiker ein idealer Beteiligter und eine Persönlichkeit der deutsch-deutschen Zeitgeschichte zu sein, um ihn als Ökonom, als Staatssekretär und kurzweiligen Finanzminister sowie ehemaliges SED-Mitglied und als Hintergrundakteur zu charakterisieren.
4. Forschungsgegenstand und -fragen: Neben der Beantwortung der Forschungsfra-
gen sowie wichtigen Wegmarken soll diese Publikation zur Aufklärung und zur Wahrheitsfindung beitragen. Die in der Öffentlichkeit oftmals verbreiteten Fehlinformationen, Spekulationen bis hin zu Verschwörungstheorien über Motive und Auswirkungen politischer Entscheidungsprozesse bzw. evtl. Versäumnisse bei den dramatischen Abläufen zum Ende der DDR können exklusiv auf Basis der Schilderungen des involvierten und ostdeutschen Verantwortlichen Siegerts untersucht werden. Eine Literaturliste (S. 674 ff.) und ein Medienspiegel Siegerts (S. 695 ff.) befinden sich im Anhang. Wikipedia-Einträge: Siegert selbst sieht die Darstellung als „lückenhaft“ an. Den Urheber der Veröffentlichung kennt er nicht. Dürkop pflegte das Todesdatum ein. Siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Walter_Siegert_(Politiker) (letzter Zugriff 9.11.2020). 8 Siehe http://www.kombinatsdirektoren.de/ (letzter Zugriff 1.1.2021). 9 Die Kaderakte befindet sich im Privatbesitz von Siegert. 10 Die Stasi-Akte befindet sich im Privatbesitz von Siegert. 11 Dürkop nahm keinen Einblick in die Akte. Die Akte sei „unbrauchbar und mit falschen Einträgen gefüllt“. Das teilten Walter und Ilse Siegert Dürkop im Gespräch mit. 6 7
18 Dazu wurden die folgenden Forschungsfragen explorativ untersucht: 1. 2.
3.
4. 5. 6.
7. 8.
Welche Prägungen erfuhr Siegert als Umsetzer und/oder Korrektiv, um Vorstellungen zu entwickeln? Fallbeispiele 1–3: In welchem Verhältnis stand Siegert zu den ökonomischen Strategiekonzepten von Walter Ulbricht, dem „NÖSPL“ und „ÖSS“ sowie dem Einheitskonzept „Wirtschafts- und Sozialpolitik“ von Erich Honecker? Fallbeispiel 4: Inwiefern stufte Siegert die Strauß-Milliardenkredite 1983/84 für die DDR als essenziell ein? Welche konkreten Vorstellungen über die DDR-Ökonomie besaß Siegert und mit welchem Einfluss – in Rahmen seiner jeweiligen Position/Tätigkeit – konnte er diese unter den verschiedenen Finanzministern in den verschiedenen Regierungen artikulieren bzw. umsetzen? Inwiefern war Siegerts SED-Mitgliedschaft förderlich für ihn? Wie reagierte Siegert, als die Partei im Dezember 1989 kurz vor der Auflösung stand? Siegert im Fokus der Medien: Inwieweit nutzte er diese Öffentlichkeit und welches Bild wurde dabei von ihm gezeichnet? Siegert wurde federführend damit beauftragt, die „Staatliche Versicherung der DDR“ (SV) zu privatisieren, die Versicherungsansprüche der DDR-Bürger zu erhalten und einer Zerschlagung bzw. Liquidierung dieses Unternehmens zum Vorteil des westdeutschen Wettbewerbes zu verhindern. Wie ist diese Leistung einzuschätzen? Welche Einflussnahme hatte Siegert als Mitglied in der DDR-Expertenkommission zur „Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion“ (WSS) ab Februar 1990 sowie als Mitglied in der Verhandlungsgruppe „Einigungsvertrag“ ab Juli 1990? Welche Erkenntnisse konnten über die Person bzw. den Charakter Siegerts durch die Befragung seiner beruflichen und politischen Weggefährten sowie seiner Freunde und Angehörige gewonnen werden?
5. Struktur: Die vorliegende Arbeit gliedert sich in vier Teile: Die Einleitung, einen
Hauptteil, ein Fazit und einen Anhang. Diese Arbeit ist in acht Kapitel unterteilt. In der Einleitung (Kapitel I.) werden bereits die Relevanz des Themas, das Erkenntnisinteresse und die Zielsetzung sowie der Forschungsgegenstand und -fragen dargestellt. Methodik, Vorgehensweise und Besonderheiten beenden dieses Kapitel. Die weitere Struktur wird im Folgenden dargelegt. Das Kapitel II. zeigt die Entstehungsgeschichte der DDR, den Wechsel des wirtschaftlichen Kurses von Ulbricht zu Honecker sowie den gestiegenen Bedarf an finanziellen Mitteln (Devisen) in den Jahrzehnten der 60er, 70er und 80er Jahre. Den Schwerpunkt dieser Arbeit bilden die Ausführungen des Protagonisten Siegerts, seine Prägungen in den ersten 25 Lebensjahren sowie die berufliche Entwicklung und der Aufstieg in verschiedenen Tätigkeiten bis zur Mitverantwortlichkeit auf dem Gebiet der Finanzen und
19 Preise der DDR. Dieser Komplex wird ausführlich im Kapitel III. und IV. beschrieben. Das Kapitel V. beschäftigt sich mit dem Kontext von „Politik, Medien und Öffentlichkeit“ in den beiden unterschiedlichen Gesellschaftsformen Kapitalismus und Sozialismus in der Bundesrepublik und der DDR. Dabei wird u. a. Siegerts Rolle in den Medien dargestellt. Den Schluss dieser Veröffentlichung bildet das Kapitel VI. in der kondensierten Diskussion der Forschungsfragen in acht Thesen. Die Begrenzungen sowie ein Ausblick über weitere Forschungsziele werden aufgezeigt. Ein Gesamtresümee über Siegert wird gezogen. Die umfangreichen Zeitzeugengespräche mit Siegert und Familienmitgliedern sowie mit weiteren 21 politischen Akteuren und Journalisten sind im Anhang (Kapitel VII.) dokumentiert. Das letzte Kapitel VIII. listet verschiedene Quellen, Register und Verzeichnisse auf.
6. Methodik, Umsetzung und Spezifika: Bei der Anwendung der vergleichenden Inhaltsanalyse wird Siegerts Bedeutung für die Geschichte der DDR mit ihren Gründungsphasen, mit der Zäsur beim wirtschaftlichen Kurswechsel bis hin zur friedlichen Revolution und zum Zusammenbruch der DDR jeweils im Kontext seines Erlebten untersucht. Hilfreich dafür sind die verfügbaren Quellen, die in den Disziplinen des Vergleichs kausale Zusammenhänge, Ursachen-Wirkungs-Beziehungen sowie Vorhersagen und Interpretationen ermöglichen. Der Schwerpunkt liegt auf der „Oral History“, die als die Produktion und Bearbeitung mündlicher Quellen verstanden wird. 12 In der Geschichtswissenschaft existieren zwei Formen der „Oral History“: Zum einen gibt es das thematische Interview (Zeitzeugenbefragung), wobei Zeitzeugen zu einem bestimmten Sachverhalt ihres Lebens befragt werden. Zum anderen gibt es das biographische Interview, das sich mit der kompletten Lebensgeschichte des befragten Zeitzeugen beschäftigt. In dieser Publikation werden beide Formen umgesetzt. 13 Mit Hilfe der Methode der vergleichenden Inhaltsanalyse wird das Wirken und das Leben von Walter Siegert (re)konstruiert und aus der Retrospektive heraus gedeutet. Hieraus ergibt sich eine objektivere Betrachtungsweise einzelner inhaltlicher Elemente, um diese wissenschaftlich zu entschlüsseln. Dazu dienen die vielen Gespräche mit Siegert, aber auch die mit seinen Wegbegleitern, Freunden und seiner Ehefrau. Siegerts Aussagen zu Ereignissen und zu seinen Handlungen werden im Vergleich zu den Erinnerungen seiner Begleiter dekonstruiert. Mit dieser Methode soll herausgefunden werden, welche gesellschaftspolitische Perspektive Siegert einnahm oder nicht vertrat.
Horst W. Heitzer, Oral History in: Waltraud Schreiber/Hans-Michael Körner, Erste Begegnungen mit Geschichte. Grundlagen historischen Lernens, 2. Auflage, Neuried 2004, S. 509–525, S. 460. 13 Urheber für die Methode der Inhaltsanalyse ist Werner Früh (geboren 1947), ein deutscher Kommunikations- und Medienwissenschaftler. „Die Inhaltsanalyse ist eine empirische Methode zur systematischen und intersubjektiv nachvollziehbaren Beschreibung inhaltlicher und formaler Merkmale von Mitteilungen.“, Werner Früh, Inhaltsanalyse. Theorie und Praxis, München 1981, S. 23. 12
20 Umsetzung: Die umfangreichen Interviews (S. 215 ff. und 429 ff.) sind auf der Grundlage der „Qualitativen Methode“ mittels Befragung – als ein Teilgebiet der empirischen Sozialforschung – geführt worden. Aufgrund des Umfangs, einer befristeten Projektdauer, teilweise gesundheitlicher Beeinträchtigungen bei den Interviewpartnern und der seit März 2020 grassierenden weltweiten Corona-Pandemie wurde die Befragung nach Rücksprache entweder mündlich, fernmündlich bzw. schriftlich durchgeführt. Um eine Vergleichbarkeit herzuleiten, wurde ein standardisierter Fragenkatalog, der einen Gesamtumfang von zehn Fragen nicht überschreiten sollte, als ein Leitfadeninterview für alle konzipiert, der sich zunächst an biographischen und beruflichen Stationen sowie Empfindungen und Erlebnissen der Akteure orientiert (Sondierungsfragen). Die Vorstrukturierung mit zentralen Fragen betraf die Beziehung von Zeitzeugen zu Siegert sowie das Erfragen in Form einer Charakterisierung. Wichtig war festzustellen, welche Gründe für bzw. gegen das Ende der DDR sprechen. Ebenso auch eine Einschätzung der drei Übergangskandidaten Egon Krenz, Hans Modrow und Lothar de Maizière, um eine Verortung im zeitgeschichtlichen Rahmen zu erhalten. Um Siegert als Person ausgiebig zu bewerten, war ein Einblick in sein Privatleben notwendig: Wie nahm er sein Umfeld selbst wahr und wie wurde er von seinen politischen Wegbegleitern wahrgenommen? Bei Siegert war es so, dass er sich mitteilen wollte, sodass sich die vielen Gespräche immer intensiver und ausdehnender gestalteten (Tiefeninterview). Zusätzlich kamen im Gesprächsverlauf Gegenfragen, Initialfragen, Suggestivfragen und rhetorische Fragen zum Einsatz, die Siegert gehaltvoll beantwortete (Ad-hoc-Fragen). Dieser Zugang war möglich, weil er offen und frei kommunizierte und sich als redseliger Gesprächspartner anbot. Die Gespräche wurden mit einem Aufnahmegerät geführt, transkribiert, redigiert, strukturiert und dem Zeitzeugen zur Überarbeitung und abschließender Approbation zugeleitet. In der Umsetzung werden nicht die gesamten Interviews ausgewertet, sondern einzelne Aspekte daraus in den Kapiteln zitiert und miteinander verglichen (vergleichende Inhaltsanalyse). Die Auswahlliste der Zeitzeugen wurde mit Siegert abgestimmt. Dabei konnte allerdings kein ausgewogenes „Ost-West-Akteurs-Verhältnis“ umgesetzt werden. Es existiert ein Überhang an ostdeutschen Vertretern, weil Siegert mit diesen seinen beruflichen Lebensmittelpunkt begründete. Absagen auf Anfragen zum Gespräch erteilten Horst Köhler, Johannes Ludewig und Uta Nickel. Eine Aktenforschung erfolgte im Bundesarchiv in Berlin. Eine Vorwegrecherche in der Datenbank ARGUS 14 ergab Treffer von Dokumenten, Reden und Hinweisen auf Siegerts Wirken. Aus dem Privatarchiv konnten relevante Dokumente gesichtet und verwendet werden. 15 Die sonstige Dokumentenrecherche (Medienanalyse) vollzog sich in verVgl. www.argus.bstu.bundesarchiv.de mit Suchbefehl „Walter Siegert“ (letzter Zugriff am 27.5.2020). 15 Derzeit liegen keine Unterlagen aus Siegerts Privatarchiv im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde. Der Verstorbene regelte in einem Nachlassvertrag, dass Unterlagen nach seinem Ableben dem Archiv zugeleitete werden sollten, (dazu Emailverkehr Dürkop und Ulf Rathje vom 10.11.2020). 14
21 schiedenen Ost- und Westmedien: Die Medienzugänge waren durch Neues Deutschland (ND), Berliner Zeitung (BZ) und Neue Zeit (NZ) 16 sowie durch die Magazine Der Spiegel und Der Stern möglich. Der Bestand „Deutschland-Archiv“ konnte am Institut für Geschichte in Hildesheim eingesehen werden. Weitere Quellen waren Primär- und Sekundärliteratur über die Hildesheimer Universitätsbibliothek bzw. Fernleihe und Internet-Videos. Die Professorin für Theorie und Didaktik, Waltraud Schreiber, stuft „Oral History“ in der zeitgeschichtlichen Forschung als „etabliert“ ein, mahnt jedoch, die „Subjektivität der Erinnerung, ihre mangelnde Validität, zum Teil auch die Betroffenheit“ 17 an: „Die Erzählung eines Zeitzeugen im Jahre später geführten Interview ist notwendigerweise eine von ihm selbst verfasste Darstellung über die eigenen Erfahrungen. Im Zeitzeugengespräch haben wir es also mit einer ‚Narration‘ über Vergangenes zu tun und nicht mit den ‚originalen‘ vergangenen Erfahrungen. Uns begegnet ‚Geschichte‘ und nicht ‚Vergangenheit‘. Der Zeitzeuge erzählt die Geschichte, indem er im Gespräch seine Erfahrungen in bestimmte Zusammenhänge einordnet, deutet und interpretiert. Dabei reagiert es auch auf die Fragestellungen des Interviewers.“ 18 Weiter zeigt Schreiber Gefahren auf, die nicht unbedingt bewusst aus „Geschichtsklitterung, Lüge und Manipulation“ bestehen muss, allerdings geht es auch um alle Formen von „Deutungen und Sinnbildungen“ 19: „Zeitzeugen sind lebende Menschen. Sie haben nach dem Ereignis, über das sie berichten, weitergelebt. Der Zeitzeuge kann gar nicht verhindern, dass sich die ‚Folgeerfahrungen‘ auf die Erinnerung der damaligen Erfahrungen auswirken, vor allem auf deren Einbindung in die Erzählung.“ 20 Siegert erhielt vorab den Fragenbogen (Interviewleitfaden) und hatte sich, nach eigener Aussage, auf die Gespräche vorbereitet, Gedanken gemacht und handschriftliche Notizen angefertigt, mit anderen Zeitzeugen Gespräche geführt und in der Literatur nachgelesen. Beim Korrigieren der Interviews im Nachherein „schärfte“ er an einigen Stellen nach und einige Aussagen wurden von ihm – oftmals wegen Unwichtigkeit – gestrichen. Die Triftigkeitsprüfung auf ihre Stimmigkeit zeigt, dass Siegerts Aussagen plausibel und belegbar sind. Erkennbare und/oder verdeckte Botschaften vermittelte Siegert nicht. Aufgrund seiner jahrzehntelangen Erfahrung im Hochschulwesen der DDR kannte er sich mit der Beweisführung bei Aussagen aus, was insofern auch für seine Haupt- und Nebengeschichten zum jeweiligen Thema gilt. Spezifika: Ein zusammenfassendes Protokoll aus der Gesamtheit der einzelnen Interviews zu erstellen, wurde nicht umgesetzt. Der Sprachkontext sowie das inhaltlich16
Vgl. http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/ddr-presse/ (letzter Zugriff 9.11.2020).
17 Waltraut Schreiber und Katalin Árkossy (Hrsg.), Zeitzeugengespräche führen und auswerten, His-
torische Kompetenzen schulen, Neuried 2009, S. 5. Ebd., S. 22. 19 Ebd., S. 23. 20 Ebd. 18
22 thematische Material wären ansonsten verloren gegangen. Außerdem wurden die Gespräche komplett redigiert (geglättet), sonst hätten die Zeitzeugen die Zustimmung zur Veröffentlichung nicht erteilt. Beispielsweise weggelassen wurden Pausen, Betonungen, Sprachbesonderheiten, Sonderzeichen, Gefühlsausbrüche usw. Das Verfahren der qualitativen Analyse nach Philipp Mayring in einer Zusammenfassung und Darstellung von Zeilen, Nummern, Paraphrase, Generalisierung und Reduktion 21 unter Zuhilfenahme eines Kodierleitfadens (Variable, Code und Ausprägung, Definition, Ankerbeispiele, Kodierregeln) 22 kommen bei dieser Arbeit nur bei der internen Verarbeitung zur Umsetzung. Eine Dokumentation erfolgt nicht. Das Interview-Material im Anhang (S. 429 ff.) kann für weitere Forschungen (z. B. Promotion) strukturiert, thematisierst und evaluiert werden. Eine womögliche Umsetzung der Mayring-Methodik aus der sozialwissenschaftlichen Betrachtung würde unter Berücksichtigung der Forschungsfragen (S. 18) keine Abweichung vom Fazit (S. 110 ff.) hervorbringen.
21 22
Philipp Mayring, Einführung in die qualitative Sozialforschung, 6. Auflage, Weinheim 2016, S. 98. Ebd., S. 122.
23
II. Einführung in die Thematik Sozialismus und Finanzen: Wirtschaftlicher und finanzieller Kurswechsel (1948–1984)
Das folgende Kapitel widmet sich den wichtigsten Zäsuren der DDR-Geschichte. Die Gründungsvoraussetzungen beider Staaten waren ungleich, die Reformversuche scheiterten, die Strategien wechselten und die finanziellen Abhängigkeiten vom Westen wuchsen ins Unermessliche an, sodass der DDR 1990 die Zahlungsunfähigkeit drohte.
1. Marshallplan-Hilfe für den Westen: Die Startvoraussetzungen nach den Gründun-
gen der Bundesrepublik (BRD) am 1. Mai und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) am 7. Oktober 1949 hätten nicht unterschiedlicher sein können. Ein Grundstein wurde bereits ein Jahr zuvor gelegt. Die Währungsreform folgte am 20./21. Juni 1948. Der Umtausch von Reichsmark (RM) in Deutsche Mark (D-Mark) erfolgte im Verhältnis 1:1. 1 Die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) zog am 23. Juni mit einer eigenen Währungsreform nach, die auf ganz Berlin ausgedehnt werden sollte. 2 Die USA gewährten im Rahmen des Marshallplans (offiziell European Recovery Program – ERP) finanzielle Leistungen 3 in Höhe von 14 Mrd. US-Dollar, was einem heutigen Wert von ca. 151 Mrd. US-Dollar entspricht. Davon erhielt Westdeutschland Unterstützungsleistungen in Höhe von 1412 Mrd. US-Dollar. Nur für Frankreich (2806 Mrd.US-Dollar), für das Vereinigte Königreich (3442 Mrd. US-Dollar) und für Italien (1515 Mrd. US-Dollar) waren die Leistungen noch höher. Somit konnte sich Westdeutschland ab Anfang/Mitte der 1950er Jahre zu einem „Wirtschaftswunder“ entwickeln. Deutschland musste von dem Geld bis 1966 jedoch „nur“ 1 Milliarde US-Dollar zurückzahlen. Der Rest wurde erlassen. 4
2. Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe für den Osten: Die Sowjetunion lehnte
durch Außenminister Molotow eine Beteiligung am ERP ab und wollte einen „MolotowPlan“ (11. Juli 1947) etablieren, der aber hinfällig wurde, weil durch die Gründung des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) am 18. Januar 1949 somit eine Gegenreaktion auf den Marshallplan geschaffen worden war. Die DDR trat dem RGW am 29.
Michael Gehler, Deutschland. Von der geteilten Nation zur gespaltenen Gesellschaft 1945 bis heute, Wien – Köln – Weimar 2020, S. 51 ff. 2 Ebd., S. 52 ff. 3 Subventionen in Höhe von 9.3 Mrd. US-Dollar. Der Rest waren Darlehen und „bedingte Hilfe“. 4 65 Jahre Marshallplan https://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/137605/65-jahre-marshallplan-05-06-2012 (letzter Zugriff 5.12.2020). Zur weiteren Vertiefung empfohlen: Hans Petschar und Günter Bischof, Der Marshallplan: Die Rettung Europas und der Wiederaufbau Österreichs, Wien – München 2017; Ludolf Herbst, Option für den Westen, Vom Marshallplan bis zum deutschfranzösischen Vertrag, München 1989; Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.), Markt oder Plan, Wirtschaftsordnungen in Deutschland 1945–1961, Frankfurt – New York 1997. 1
24 September 1950 bei, die u. a. durch Abwanderungen von gutausgebildeten Fachkräften in den Westen geschwächt und belastet wurde. 5 Die Ausgangs- und Entwicklungsbedingungen der beiden deutschen Staaten waren unterschiedlich, weil die Reparationsleistungen der DDR an die UdSSR zu einem massiven Ungleichgewicht steuerten. Hinzu kamen die Entnahmen aus der laufenden Produktion und die Besatzungskosten, die zu einem Substanzverlust über Jahrzehnte hinweg führten. Die Kriegszerstörungen waren auf beiden Teilen Deutschlands in etwa gleich hoch. 6 Von der Gründung bis in den Juni 1990 verließen über 3,8 Millionen Menschen die DDR, davon viele illegal und unter großer Gefahr, die somit ökonomisch massiv geschwächt wurde. 7 Hinzu kam, dass Ostdeutschland keine industriellen Ballungszentren, wie beispielsweise das westdeutsche Ruhrgebiet, vorweisen konnte. Im RGW-Verbund stärkten sich die Mitgliedstaaten wirtschaftlich untereinander, was für die DDR überlebensnotwendig war. Kurzfristig erhielt sie Rohstoff- und Lebensmittellieferungen aus der Sowjetunion wie Walzwerkerzeugnisse, Baumwolle, Lastkraftwagen, Brotgetreide und Fett. 8 Die DDR befand sich in einem Prozess der Entwicklung vom antifaschistisch-demokratischen zur sozialistischen Eigenstaatlichkeit, in Anlehnung an die Lehre vom Marxismus-Leninismus, allerdings unter dem Machteinfluss der Sowjetunion. Langfristig, zur Intensivierung der chemischen Industrie, lieferte die UdSSR Erdöl. Die DDR konnte im Gegenzug mit Fischverarbeitungsschiffen, Werkzeugmaschinen und Computer an die RGW-Mitgliedstaaten behilflich sein. Zum Nachteil des RGW schuf dieser wechselseitige Abhängigkeiten, hatte Qualitätsmängel und es kam oftmals zu Lieferengpässen. Bis 1964 tauschten die Satellitenstaaten Ware gegen Ware, danach bezahlte man mit dem Transferrubel als Verrechnungswährung, also keiner konvertierbaren Währung. 9 Die 1950er Jahre in der DDR waren durch viel Sondierungen, Ausprobieren, Planungen, Erfolgen und Misserfolgen, Testfällen, Umgestaltungen und Zielverfehlungen geprägt. Der erste Fünfjahresplan (1951–1955) verfehlte seine Ziele. Durch den Volksaufstand 5 Zur Vertiefung: Maximilian Graf, Die DDR und die EWG 1957–1990, in: Revue d'Allemagne et des pays de langue allemande 51, 2019, S. 21–35 sowie M. Graf in Vortrag/Diskussion zum Thema „Die ökonomische Dimension der Ost-West-Beziehungen im Kalten Krieg“ am 19.4.2021 bei den Europagesprächen an der Uni Hildesheim https://www.youtube.com/watch?v=rPA8u6kg1Ug (letzter Zugriff 1.5.2021). 6 Dazu ausführlich Walter Siegert in seinem Beitrag „Die DDR – ihr Wachsen und Werden sowie ihre Sorgen“, S. 149 ff., S. 151/152 und im Interview S. 282. 7 Norbert Schwaldt, Die Welt, 2.4.2016, Ewige Baustellen. https://www.welt.de/print/die_welt/finanzen/article153916620/Ewige-Baustellen.html (letzter Zugriff 1.12.2020). 8 Dierk Hoffmann, Von Ulbricht zu Honecker – die Geschichte der DDR 1949–1989, Berlin-Brandenburg 2013, S. 15–16, (i. F. z. a. Hoffmann, Von Ulbricht zu Honecker). 9 Ebd.
25 vom 17. Juni 1953 verlor die SED das Vertrauen in der Bevölkerung. 10 Der „Neue Kurs“ der SED-Führung konzentrierte sich nicht mehr auf die sozioökonomische Umgestaltung, sondern installierte Instrumente für ihre Herrschaftssicherung bzw. -konsolidierung, die bis zum 13. August 1961 bei offener Westgrenze aufgebaut wurde. Grundvoraussetzung für die Transformation der ostdeutschen Volkswirtschaft war die staatliche Festsetzung von Preisen und Löhnen, die zu einer Abkehr gegenüber dem privatkapitalistischen Wirtschaftsmodell führte. Die Preise verloren ihre „Steuerungs- und Anreizfunktion“. Der staatliche Sektor wuchs beträchtlich an, die freien Unternehmen verloren an Bedeutung. Dezentralisierung der Planwirtschaft und ein Umbau der staats-sozialistischen Wirtschaftsordnung forderten einige, wenige Ökonomen und Intellektuelle, was scheiterte. Der Ausbruch des Ungarn-Volksaufstandes am 24. Oktober 1956 führte zur Abschottung der DDR nach außen. 11
3. Organe im politischen System der DDR: Das System der DDR war eine Parteidik-
tatur. Eine Gewaltenteilung in die drei Gewalten Gesetzgebung (Legislative), ausführende Gewalt (Exekutive) und Rechtsprechung (Judikative) existierte faktisch nicht. In Artikel 1 DDR-Verfassung n. F. 1968 hieß es: „Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei.“ Die SED (Staatspartei) verfügte uneingeschränkt über das Machtmonopol und führte den Herrschaftsanspruch mit ihrer Kaderpolitik aus. Sie bediente sich eines Systems der Trägerschaft von „staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen“. Beispielsweise waren das der Staat als Hauptinstrument, die Rechtsordnung der DDR, die sogenannten Blockparteien Ost-CDU, LDPD, NDPD und DBD, FDJ, 12 FDGB 13, Demo-
Zur Vertiefung: Michael Gehler/Rolf Steininger, 17. Juni 1953: Der unterdrückte Volksaufstand. Seine Vor- und Nachgeschichte, Reinbek 2018. 11 Zur Vertiefung: Ralf Ahrens, Gegenseitige Wirtschaftshilfe? Die DDR im RGW. Strukturen und handelspolitische Strategien 1963–1976 (Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung), Köln 2000. 12 Die FDJ wurde am 7.3.1946 Sie organisierte die Verbreitung des Marxismus-Leninismus. Hierzu Ulrich Mählert/Gerd-Rüdiger Stephan, Blaue Hemden, rote Fahnen. Die Geschichte der Freien Deutschen Jugend, Opladen 1996; Ulrich Mählert, FDJ 1946–1989 (Landeszentrale für politische Bildung Thüringen), Erfurt 2001; Textversion Ulrich Mählert, FDJ 1945–1989 https://www.lztthueringen.de/files/dj.pdf (letzter Zugriff 8.12.2020). 13 Der FDGB wurde bereits am 18.3.1945 in Aachen gegründet. Er bestand aus über 16 Einzelgewerkschaften und war Mitglied des Weltgewerkschaftsbunds. Im Jahr 1986 waren die größten Einzelgewerkschaften die IG Metall (1,8 Millionen Mitglieder), die Gewerkschaft Handel, Nahrung und Genuss (1,1 Millionen), die IG Bau-Holz (950 000) und die Gewerkschaft der Mitarbeiter der Staatsorgane und Kommunalwirtschaft (840 000). Er hatte eigene FDGB-Ferienheime, Feriensiedlungen und unterhielt Urlauberschiffe wie „Fritz Heckert“, „Völkerfreundschaft“ und „Arkona“ sowie die „Interhotels“. Im Jahr 1986 waren 98 % aller Arbeiter und Angestellten im FDGB organisiert. 10
26 kratischer Frauenbund Deutschlands (DFD), Deutscher Turn- und Sport Bund (DTSB) und der DDR-Kulturbund, die Nationale Front sowie Berufsvereinigungen und freiwillige Vereinigungen. 14
3.1. Das Zentralkomitee (ZK) war das höchste Organ in der Parteistruktur: Die Mitglieder des ZK standen in der politischen Rangfolge über den Ministern. Die ZK-Sekretäre und ZK-Abteilungsleiter waren gegenüber den staatlichen Ministern weisungsbefugt. Dem Machtzentrum stand der Erste Sekretär bzw. der Generalsekretär vor. Der Generalsekretär des ZK der SED führte zugleich den Vorsitz im Politbüro. Im Jahr 1989 bestand das ZK aus 165 Mitgliedern und 57 Kandidaten. Mitte der 1980er Jahre waren bereits über 2000 Mitarbeiter in den über 40 Abteilungen des ZK beschäftigt. Beispielsweise existierten Abteilungen für Kader, Verkehr, Sicherheitsfragen, Jugend, Planung und Finanzen, Wissenschaften, Agitation und Propaganda, Kirchenfragen, Körperkultur und Sport usw. Eine Abteilung wurde jeweils durch einen Abteilungsleiter und seinen Stellvertreter geleitet. Die letzte Sitzung des Zentralkomitees der SED fand am 3. Dezember 1989 statt, wo das Politbüro und das gesamte ZK zurücktraten. 3.2. Volkskammer der DDR (VK): Die Gründungsverfassung der DDR legte in Artikel 63 DDRVerf fest: „Zur Zuständigkeit der Volkskammer gehören: die Bestimmung der Grundsätze der Regierungspolitik und ihrer Durchführung; die Bestätigung, Überwachung und Abberufung der Regierung.“ Die Volkskammer war zwar als „oberstes Machtorgan“ (formell höchstes Staatsorgan) betitelt, jedoch aber kein Parlament im klassischen Sinne. Ihre legislative Funktion wurde von Anfang an durch die politischen Vorstellungen der SED stark begrenzt. Eine Opposition war im „Parlament“ nicht vertreten, weil bereits 1952 alle Parteien und Massenorganisationen den Führungsanspruch der SED anerkannt hatten. Alle Gesetze und Entscheidungen, die für die Gesamtgesellschaft der DDR oder auch nur Teile davon grundlegende Bedeutung hatten, wurden zunächst von den sachlich zuständigen Abteilungen des Zentralkomitees (ZK) ausgearbeitet und danach im Politbüro des ZK der SED beraten. Erst nachdem die Prozedur abgeschlossen war, wurden Gesetzesentwürfe an die zuständigen Ausschüsse der Volkskammer überwiesen, z. B. Haushalts- und Finanzausschuss (1950–1990), Mandatsprüfungsausschuss (1963–1990), Jugendausschuss (1950–1990) und Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten (1950– Insgesamt hatte er 9,6 Millionen Mitglieder. Am 30.9.1990 löste sich der FDGB auf. Die Einzelgewerkschaften des FDGB schlossen sich dem westdeutschen DGB bis im Jahr 1991 an. Das Vermögen des FDGB unterlag nach der Wende der Kontrolle der Treuhandanstalt und der UKPV (Unabhängige Kommission zur Überprüfung des Vermögens der Parteien und Massenorganisationen der DDR). Zentralorgan des FDGB war die Tageszeitung Tribüne. Weitere Recherche zum Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) online auf der WEB-Seite SED- und FDGB-Archivgut unter http://www.bundesarchiv.de/sed-fdgb-netzwerk/ (letzter Zugriff 30.10.2020). 14 Peter Joachim Lapp, Der Ministerrat der DDR. Aufgaben, Arbeitsweise und Struktur der anderen deutschen Regierung, Opladen 1982, S. 10–11, (i. F. z. a. Lapp, Der Ministerrat der DDR).
27 1990), in denen sie noch einmal diskutiert und von denen sie anschließend dem Plenum zur Bestätigung vorgelegt wurden. 15 Insgesamt fanden in der DDR zehn Volkskammerwahlen statt. In der Volkskammer gab es 500 Sitze (vor 1963: 400 Sitze). Sie verteilten sich auf fünf Parteien und mehrere Massenorganisationen, die ebenfalls Sitze in der Volkskammer hatten. Alle gemeinsam bildeten die „Nationale Front“, wobei die meisten Sitze der SED vorbehalten waren. Die Wahlbeteiligung lag oftmals bei über 99 %, wobei später Wahlfälschungen nachgewiesen werden konnten. 16 Die Volkskammer tagte üblicherweise zwei- bis viermal im Jahr. Ihr Sitz war ab 1976 bis zur Schließung (1990) im Palast der Republik in Berlin. Die Präsidenten der Volkskammer waren ab 1976 bis 1989 Horst Sindermann (SED) und von 1989 bis 1990 Günther Maleuda (DBD). Nach den Ereignissen 1989/90 vollzog sich ein tiefer Wandel und es formierte sich ab dem 18. März 1990 die erste demokratisch freigewählte Volkskammer der Geschichte mit ihrer letzten Präsidentin Sabine Bergmann-Pohl (CDU). Letztendlich besaß die Kammer keine bedeutenden Kompetenzen und wirkte ohne echte politische Einflussmöglichkeiten.
3.3. Staatsrat der DDR: Nach dem Tod von Präsident Wilhelm Pieck wurde 1960 der Staatsrat der DDR als Nachfolgeorgan des Präsidenten geschaffen. Der erste Staatsratsvorsitzende war Walter Ulbricht, danach Willi Stoph und ab 1976 übernahm Erich Honecker das Amt. Gemäß Artikel 66 bis 75 der Verfassung der DDR (vom 6. April 1968 und in der Fassung vom 7. Oktober 1974) waren u. a. die Ausschreibung von Wahlen zur Volkskammer und den anderen Volksvertretungen, die Berufung der Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates, die Ausübung des Amnestie- und Begnadigungsrechts, die Ratifizierung von internationalen Verträgen, die Akkreditierung diplomatischer Vertreter, die Verleihung staatlicher Orden und Auszeichnungen, die Übernahme von Ehrenpatenschaften für kinderreiche Familien in den Artikeln geregelt. 3.4. Ministerrat der DDR (MR): Der Ministerrat der DDR war ein Organ der Volkskam-
mer der DDR. Er wurde am 7. Oktober 1949 unter der Bezeichnung „Provisorische Regierung der DDR“ konstituiert und von 1950 bis 1954 auch offiziell als „Regierung der DDR“ bezeichnet. Er war verantwortlich für die Erarbeitung von Grundsätzen der staatlichen Innen- und Außenpolitik, für die Organisation der politischen, kulturellen und sozialen Aufgaben, für die Leitung der Volkswirtschaft und der anderen gesellschaftlichen Bereiche, für die Leitung, Koordinierung und Kontrolle der Tätigkeit der Ministerien, der anderen zentralen Staatsorgane und der Räte der Bezirke. Er entschied über den Abschluss und die Kündigung völkerrechtlicher Verträge und bereitete Staatsverträge vor, unterbreitete der Volkskammer Entwürfe von Gesetzen und Beschlüssen. Die Ministerien und die übrigen zentralen Organe wurden als Organe des Ministerrates bezeichnet. Die
Geschäftsordnung der Volkskammer vom 7.10.1974. http://www.verfassungen.de/ddr/geschaeftsordnung-volkskammer74.htm (letzter Zugriff 30.12.2020). 16 Hermann Weber, Die DDR 1945–1990, 4. Auflage, Berlin 2006, S. 32. 15
28 rechtliche Verbindlichkeit der von der Regierung gefassten Beschlüsse wirkte richtungsweisend für Politik und Wirtschaft der DDR. So musste jeder staats- oder wirtschaftsbezogene Beschluss des Politbüros des ZK der SED durch einen Beschluss des MR staatlich legitimiert werden. Beschlüsse des MR waren im rechtlichen Sinne bestätigend oder aber aufgabenstellend für ein konkret bezeichnetes Ministerium. 17
3.5. Amt für Preise: Neben Ministern und Staatssekretären bestanden weitere Organe
des Ministerrates wie staatliche Ämter und Komitees. Das wichtigste Gremium war das Amt für Preise, was die „Staatliche Preispolitik“ gewährleistete. Dort wurde der gesamte Prozess der Bildung und Kontrolle u. a. der Industriepreise, der Endverbraucherpreise, der Agrarpreise, der Importabgabepreise und der Preise für Dienstleistungen für die Bevölkerung, z. B. Mieten, geleitet. 18
3.6. Ministerium der Finanzen der DDR (MdF): Aus der Überlieferung ist folgender
Verlauf der Institutionen vor und nach der Gründung der DDR 1949 bekannt: 1945 bis 1948 Deutsche Zentralverwaltung der Finanzen, 1948 bis 1949 DWK, Hauptverwaltung Finanzen, 1949 bis 1990 Ministerium der Finanzen und von April bis Oktober 1990 Ministerium für Finanzen und Preise. Zusammen mit der Staatlichen Plankommission leitete des MdF die monetäre Seite des Wirtschaftsablaufs der DDR und stellte die finanziellen Mittel bereit. U. a. gliederte sich das MdF in folgende Abteilungen (M Bl., Nr. 1, S. 2): u. a. Hauptabteilung Banken und Versicherungen, Hauptabteilung Preise, Hauptabteilung Kontrolle und Revision, Abteilung Recht. 19 Als Organ des MR war das MdF konkret zuständig für die Planung, Bilanzierung und Abrechnung der Staatsfinanzen; Sicherung der Liquidität des Staatshaushaltes; Vorbereitung der Finanzgesetzgebung; Lenkungs- und Kontrollfunktion im Wirtschaftsablauf; Vorbereitung und Durchführung internationaler Zahlungs- und Finanzabkommen; Leitung der Finanzrevision für staatl. Einrichtungen und Wirtschaftsbetriebe; Erarbeitung von Rechtsvorschriften für Versicherungswesen, Besteuerung, Stellenplanwesen, Aufkommen und Verwendung von Edelmetallen; Verwaltung und Nutzung von Volkseigentum. 20 Die damaligen Minister der Finanzen waren in den Anfangsjahren der DDR u. a. Hans Loch (1949–1955), Willy Rumpf (1955–1966) und Siegfried Böhm (1966–1980).
Die insgesamt 14 Findbücher sind wesentliche Quellen von herausragender Bedeutung zur Erforschung der DDR-Geschichte in neu recherchierbarer Form und zugänglich unter http://www.argus.bstu.bundesarchiv.de/Bestaendeuebersicht/index.htm?kid=59FC86CB5F9D4A8A878DCA2E34BAD592 (letzter Zugriff 1.12.2020), (i. F. z. a. www.argus.bstu.bundesarchiv.de). 18 Lapp, Der Ministerrat der DDR, Ebd., S. 259. 19 Ebd., S. 138. 20 Ebd., www.argus.bstu.bundesarchiv.de (letzter Zugriff 1.12.2020). 17
29 Die Aufgaben, den Stellenwert und die Einflussnahme der Organe Politbüro des Zentralkomitees, Sekretariat des Zentralkomitees, Zentrale Parteikontrollkommission und Nationaler Verteidigungsrat (NVR) werden hier nicht näher erläutert. Hierzu wird auf einschlägige Literatur verwiesen.
4. Das „Neue Ökonomische System der Planung und Leitung“ (1963–1967): Auf
dem V. SED-Parteitag am 10. Juli 1958 verkündigte Walter Ulbricht, was völlig utopisch erschien, nämlich die Überlegenheit der Planwirtschaft im Osten gegenüber der Markwirtschaft im Westen mit der Losung „überholen, ohne sie einzuholen“. 21 Die Vorstellungen, dieses Ziel wirklich zu erreichen, waren durch die RGW-Kooperationen, die Mobilisierung aller verfügbaren Ressourcen und den Ausbau von Schlüsseltechnologien motiviert. Dieser unrealistische Anspruch erlebte 1959 bereits einen Dämpfer, indem der Fünfjahresplan abgebrochen und von einem Siebenjahresplan ersetzt wurde. Nach dem 13. August 1961 stabilisierte sich die ökonomische Lage wieder, das Ausbluten von Humankapital der DDR war gestoppt. Planungen konnten langfristig platziert werden und wirkten. Die Wirtschaftskrise Anfang der 1960er Jahre sorgte immer noch nicht zu einer Trendwende. Die Lage war äußerst angespannt. Die Vereinigungen der volkseigenen Betriebe (VVB) sollten sich zu einem ökonomischen Führungszentrum entwickeln. Ulbricht wollte, dass die Pläne nicht nur erfüllt, sondern die Rentabilität und die Qualität gesteigert und die Selbstkosten gesenkt werden. Die Planwirtschaft sollte um marktähnliche Instrumente ergänzt werden, ohne dabei aber die Wirtschaftsordnung zu verändern. Als Vorbild für das Konzept diente die „Neue Ökonomische Politik“ (NEP) von Lenin und stellte das Konzept für das „Neue Ökonomische System der Planung und Leitung“ (NÖS bzw. NÖSPL) für Ulbricht und die DDR dar. Ein Anreizsystem verlor an Bedeutung. Instrumente direkter Wirtschaftssteuerung standen wieder im Vordergrund. Am 11. Juli 1963 wurde das NÖSPL erlassen: Kernstück war, einen wissenschaftlichtechnischen Höchststand bei Erzeugnissen und in der Fertigung zu erreichen. Gewinnsteigerungen und Leistungsprämien wurde eine Absage erteilt. 22 Das System scheiterte allerdings, weil betriebliche Eigeninitiative und Kreativität nicht gefördert wurden. Die Innovationsschwäche blieb bestehen. Die Betriebe konnten ihre Gewinne und die ihnen zustehenden Prämien erhöhen, ohne ihre Leistungen aber steigern zu müssen. 23 Siegert, der anfangs Mitglied der NÖS-Arbeitsgruppe und ab und an Berichterstatter im Kollegium des Ministeriums war, erinnerte sich: „Gewollt war eine größere Eigeninitiative der Betriebe, weniger Planvorgaben, mehr Spielraum in der Ver-
Dokumentation „Überholen ohne einzuholen“, Wirtschaft, Arbeit und Soziales in der SBZ/DDR, 29. Bautzen-Forum der Friedrich-Ebert-Stiftung, Landesbüro Sachsen am 24. und 25. Mai 2018. Dazu http://library.fes.de/pdf-files/bueros/leipzig/14772.pdf (letzter Zugriff 25.10.2020). 22 Von Ulbricht zu Honecker, Ebd., S. 81–89. 23 André Steiner, Von Plan zu Plan. Eine Wirtschaftsgeschichte der DDR, München 2004, S. 135. 21
30 wendung der erwirtschafteten Gewinne für Investitionen und Prämien. Trotz positiver Resonanz in der Wirtschaft blieb die Skepsis bestehen.“ 24
5. Das „Ökonomische System des Sozialismus“ (1967–1971): Die Verbindung von
Plan und Markt: Auf dem VII. SED-Parteitag im April 1967 wurde die zweite Phase der Wirtschaftsreform eingeleitet, offiziell nun als „Ökonomisches System des Sozialismus“ (ÖSS). Es wurden Kurskorrekturen vorgenommen, wobei das Gesamtindustrieministerium wieder in einzelne Industrieministerien zerlegt wurde (ab 1965). Der Volkswirtschaftsrat wurde aufgegeben, die Aufgaben wurden von der Staatlichen Plankommission übernommen. Die Produktion sollte nach dem Willen der Staatspartei modernisiert und automatisiert werden. Der VII. SED-Parteitag 1967 war entscheidend: Ulbricht erkannte, dass die strukturpolitischen Maßnahmen den Gesamtmechanismus blockierten. Er läutete einen Paradigmenwechsel ein, weil er die Notwendigkeit sah, die Sozialpolitik stärker zu betonen und wissenschaftlich legitimieren zu lassen. In ihrer wissenschaftlichen Studie zur „sozialistischen Sozialpolitik“ erkannte Helga Ulbricht „keine geschlossene Darstellung über die sozialistische Sozialpolitik in der DDR, weder über ihre Zielsetzung, noch über ihre Aufgaben“ gibt, noch nicht einmal eine „geschlossene Übersicht darüber, auf welchen Gebieten, mit welcher konkreten Zielsetzung und mit welcher Intensität Sozialpolititk betrieben wird“. 25 Die Gründe für das Scheitern von NÖSPL und ÖSS sind vielfältig: 1. Die innerparteilichen Kritiker des Reformkurses gewannen die Oberhand. 2. Die Produktion blieb hinter dem Plansoll und verursachte somit Versorgungsengpässe. 3. Die Wirtschaftskrise Ende 1960 bis Mitte 1970 wirkte in die Bevölkerung hinein. 4. Konsumgüter fehlten in den Regalen. 5. Die ostdeutsche Handelsbilanz verschlechterte sich. 6. Die Forderungen und Verbindlichkeiten stiegen im „Nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet“ (NSW). 7. Die Produkte aus der DDR waren nur bedingt auf den westlichen Märkten konkurrenzfähig. 8. Der Prager Frühling (20./21. August 1968) und die Forderung nach einem Sozialismus mit „menschlichem Antlitz“ (Alexander Dubcek) wurden niedergeschlagen. Die DDR, die nicht an der Intervention beteiligt war, befürwortete diese Intervention vorbehaltlos. Seitdem galt dieses Ereignis als Warnsignal für die DDR-Bevölkerung. 26 Letztendlich betrieb die Führung der SED eine Modernisierung, fürchtete aber jeden modernen Gedanken. Sie wollte eine Marktwirtschaft ohne Markt, eine Demokratie ohne Mitsprache, eine kulturelle Öffnung ohne Freiheit. Ihre Parole lautete immer: „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass!“ Der gefährlichste Gegner des Reformpolitikers Ulbricht war der Machtpolitiker Ulbricht. Er konnte und wollte nicht über seinen Schatten
24 Walter Siegert, Die DDR – ihr Wachsen und Werden sowie ihre Sorgen, Berlin 2019, S. 164, (i. F. z. a. Siegert, Die DDR – ihr Wachsen und Werden). 25 Helga Ulbricht, Aufgaben der sozialistischen Sozialpolitik bei der Gestaltung der sozialen Sicherheit in der DDR, Habilitationsschrift, Leipzig 1965, S. 8. Sie war nicht mit Walter Ulbricht verwandt. 26 Hoffmann, Von Ulbricht zu Honecker, Ebd., S. 105–106.
31 springen. 27 Ulbricht befand sich in den Jahren von 1963 bis 1969 im Zenit seiner Macht. Am 30. Juni 1968 wurde sein 75. Geburtstag wie ein Staatsfeiertag begangen. 28 Den letzten Anlauf zur Wiederbelebung des NÖS nahm die Parteiführung 1986 mit einem neuen Experiment zur Eigenerwirtschaftung der Mittel in 16 Kombinaten. 1989 erwirtschafteten diese 88 Prozent aller Überplangewinne der Industrie. Das Experiment war aber nicht der rettende Wurf. 29 Unbestreitbar ist, dass gerade Walter Ulbricht lange „ein großer Dogmatiker“ war. Aufgrund seines ausgeprägten politischen Instinkts hatte Ulbricht schon mehrere Kurswechsel in führender Position überleben können. 30 Im Unterschied zu seinem politischen Ziehkind und späteren Nachfolger Honecker zeichnete er sich damals durch „Intellekt, vielseitige Interessiertheit und ein hohes Maß an autodidaktischer Bildung“ aus. 31 Ulbricht war an der Aufbesserung des völkerrechtlichen Status der DDR interessiert. Er wollte nicht, dass die DDR nur ein Provisorium bis zur deutschen Wiedervereinigung sei. Abschlüsse von bilateralen Freundschafts- und Bestandsverträgen mit Polen (15. März 1967), mit der ČSSR (17. März 1967), mit Ungarn (18. Mai 1967) und mit Bulgarien (7. September 1967) wurden erzielt. Im Jahr 1969 gelang es ihm, die diplomatische Anerkennung der DDR zu aktivieren. 32 „Am Ende der politischen Führung Walter Ulbrichts hatte unsere DDR im Ganzen eine beachtliche gute Bilanz. Die DDR hatte 1970 das Vierfache der Wirtschaftsleistung seit ihrer Gründung erreicht. Die Wirtschaft war entsprechend unserem inneren Bedarf und den Exportchancen neu strukturiert, und vor allem auf hohe Veredlung der Rohstoffe ausgerichtet. Wir waren gut mit den RGW Ländern vernetzt. […] Die DDR hatte jedes Jahr einen ausgeglichenen Staatshaushalt. Die Außenhandelsbilanz war ausgeglichen. Es gab keine Arbeitslosen. Für jeden Bürger existieren die Möglichkeiten der Inanspruchnahme von Bildung, Kultur und medizinischer Versorgung“, lautet Siegerts Fazit über die Ära Ulbricht. 33
Stefan Wolle, Aufbruch nach Utopia – Alltag und Herrschaft in der DDR 1961–1971, in: Die DDR, Eine Geschichte von der Gründung bis zum Untergang, Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2015, S. 406. 28 Ebd., S. 393. 29 Walter Siegert, Welche Rolle spielten Gewinn und Kostenkalkulation in den volkseigenen Betrieben der DDR? Berlin 2013, S. 4. 30 Monika Kaiser, Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker. Funktionsmechanismen der SED-Diktatur in Konfliktsituationen 1962 bis 1972, Zeithistorische Studien Band 10, Berlin 1972, S. 61, (i. F. z. a. Kaiser, Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker). 31 Ebd., S. 62. 32 Ebd., S. 262–263. Anweisungen des sowjetischen Botschafters in den sozialistischen Ländern (SAPMO-BArch, DY 30, J IV 2/202/81). 33 Siegert, Die DDR – ihr Wachsen und Werden, Ebd., S. 171. 27
32 6. Honeckers „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ (ab 1971): Der Berliner
Mauerbau ab dem 13. August 1961 war in gewisser Weise Erich Honeckers 34 Meisterprüfung. Die logistischen Vorarbeiten leitete Honecker als verantwortlicher Stabschef. Dabei konnte er seine organisatorischen Fähigkeiten eindrucksvoll unter Beweis stellen. Somit stieg er zum wichtigsten Mann in der DDR, hinter Walter Ulbricht, auf. 35 Die systemimmanenten Beharrungsmomente und speziell der ungebremste Machterhaltungstrieb der SED-Führung erwiesen sich viel stärker als sämtliche Modernisierungsund Reformierungsversuche. 36 Es gelang dem Honecker-Flügel, die Gefährlichkeit der eingeleiteten Veränderungen für das Machtmonopol der SED deutlich zu machen und Ende 1965 eine erste Kurskorrektur durchzusetzen, d. h. die Liberalisierungstendenzen im geistig-kulturellen Bereich wurden rigoros abgebrochen, die Parteireform wurde stillschweigend rückgängig gemacht, die Wirtschaftsreform jedoch in abgeschwächter Form und unter erneuter Stärkung bestimmter zentralistischer Momente fortgesetzt. Ulbricht duldete diese, auch weil für ihn die Sicherung der SED-Macht und der persönliche Machterhalt wichtiger als alles andere waren. 37 Das labile Kräfteverhältnis in der SED-Führung führte zu einer Art „Doppelherrschaft“ zwischen Ulbricht und Honecker/Stoph. 38 Während Ulbricht auf den Sachverstand von Wissenschaftlern und Fachleuten gebaut hatte, setzte Honecker wieder primär auf die Allmacht der Apparate. 39 Nach der Einleitung des „Ökonomischen Systems des Sozialismus“ wurden die Reformbestrebungen weiter abgeschwächt. 40 Auf Geheiß der SED schossen wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Forschungsinstitute wie Pilze aus dem Boden. Dabei existierten einige Institute nur einige Monate. Sie hinterließen allerdings kaum Spuren in der konzeptionellen Planung der SED-Führung bzw. der Staatlichen Plankommission. 41 Ein signifikanter Einschnitt in der SED-Personalstruktur erfolgte, als Ulbricht 75 junge Wissenschaftler um sich scharte, die ihm ergeben waren. 42 In der
34 Erich Honecker (1912–1994) war mit 10 Jahren Mitglied der Kommunistischen Kindergruppe, mit
14 Jahren Mitglied des Kommunistischen Jungendverbandes (KjVD), mit 17 Jahren Mitglied der KPD. 1930/31. Besuch der Leninschule in Moskau. In der Zeit von 1935 bis 1945 war Honecker wegen antifaschistischen Widerstands gegen den Nationalsozialismus inhaftiert. Nach dem Krieg Mitbegründer der Freien Deutschen Jugend (FDJ) und dessen Vorsitzender bis 1955. Ab 1957 Mitglied des Politbüros und Sekretär für Sicherheitsfragen des ZK der SED. Ab 1971 Erster, ab 1976 Generalsekretär des ZK der SED, Vorsitzender des Staatsrates und des Nationalen Verteidigungsrates bis zum 18. Oktober 1989. Ausreise nach Chile am 13. Januar 1993. Biografische Daten in: Erich Honecker, Letzte Aufzeichnungen, 3. Auflage, Berlin 2012, S. 1. 35 Hoffmann, Von Ulbricht zu Honecker, Ebd., S. 74 ff. 36 Kaiser, Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker, Ebd., S. 458. 37 Ebd., S. 459. 38 Ebd., S. 460. 39 Ebd., S. 462. 40 Hoffmann, Von Ulbricht zu Honecker, Ebd., S. 85. 41 Ebd., S. 86. 42 Ebd., S. 85.
33 zweiten Hälfte der 1960er Jahre führte die SED überdies Strukturreformen an den Hochschulen und Universitäten durch, um langfristig die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der DDR zu erhöhen. Somit erhielten Bildung und Wissenschaft den Rang eines vierten Produktionsfaktors. 43 Weitere Maßnahmen waren die Akademiereform (1968) und die Reform der Industrieforschung (1969). 44 Die Erwartungen, die die SED-Führung an das NÖSPL bzw. das ÖSS geknüpft hatte, erfüllten sich insgesamt nicht. Die Ursachen dafür waren, dass die Reformen nur halbherzig angepackt wurden. Außerdem schränkte Ulbricht geforderte Kompetenzen der Staatliche Plankommission und des Politbüros nicht ein. 45 Viele Gründe sprachen für einen Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker: Zum einen war die von Ulbricht unterstützte Wirtschaftsreform schon lange von Teilen des Politbüros abgelehnt worden. Man machte namentlich Ulbricht für das Scheitern verantwortlich. Es verschlechterten sich die Beziehungen zwischen Ulbricht und Breschnew, was auf teilweise divergierende Ziele Moskaus und dessen Deutschland- und Außenpolitik zurückzuführen war. 46 Hingegen war allerdings Ulbricht in der Bevölkerung „verhasst“. Honecker dagegen war in den ersten Jahren seiner Herrschaft „fast beliebt“. Vielen galt er das „kleinere Übel“. Im Jahr 1965 war er im SED-Apparat als „scharfer Hund“ bekannt, doch die Bevölkerung verband mit dem Namen kaum eine konkrete Vorstellung. 47 Er war der Mann der „kleinen Kompromisse“, der Meister „des stillen Nachgebens“ und des „so-Tun-als-ob“. 48 Für den Strippenzieher im Hintergrund und andere Politbüromitglieder, denen der wirtschafts- und deutschlandpolitische Kurs Ulbrichts schon seit Langem ein Dorn im Auge war, kam die Selbstisolation des Ersten Sekretärs des ZK der SED durchaus entgegen. Sie schwärzten Ulbricht in der sowjetischen Hauptstadt an und breiteten den Machtwechsel vor. 49 In einem Brief an Breschnew (21. Januar 1971) wurde der Kremlchef gebeten, Ulbricht zum Rücktritt zu bewegen. Am 27. April 1971 erfolgte dann Ulbrichts Rücktritt „aus Altersgründen“. Er blieb noch bis zu seinem Tod (1. August 1973) Staatsratsvorsitzender. Somit war der Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker vollzogen. Anfang der 1970er Jahre lag vieles im Argen, eine längst überfällige Rentenerhöhung wurde am 1. März 1971 durchgesetzt. 50 Anfang 1971 fädelte der spätere SED-Chef Honecker eigenmächtig einen Kurswechsel in der Sozialpolitik ein. Ihm gelang es, im Ebd., S. 89. Ebd., S. 90. 45 Ebd., S. 105. 46 Ebd., S. 108. 47 Stefan Wolle, Die heile Welt der Diktatur. Herrschaft und Alltag in der DDR 1971–1989, in: Die DDR, Eine Geschichte von der Gründung bis zum Untergang, Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2015, S. 41. 48 Ebd., S. 43. 49 Hoffmann, Von Ulbricht zu Honecker, Ebd., S. 109. 50 Ebd., S. 114. 43 44
34 Politbüro am 16. Februar einen Beschluss herbeizuführen, mit dem der Volkswohlstand als vorrangiges politisches Ziel festgeschrieben wurde. 51 Der Aufstieg Honeckers begann sich individuell zu entfalten. Die Hauptaufgabe des Fünfjahrplans bestand fortan, in der weiteren Erhöhung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus des Volkes auf der Grundlage eines hohen Entwicklungstempos der sozialistischen Produktion, der Erhöhung der Effektivität, der sozialistischen Produktion, der Erhöhung der Effektivität, des wissenschaftlichen Fortschritts und des Wachstums der Arbeitsproduktivität. Somit wurde der von Ulbricht begonnene Modernisierungsversuch in der Wirtschaft abgebrochen, zumal der Versuch gescheiterter war, die Bundesrepublik wirtschaftlich „zu überholen“. Die SED-Führung versuchte, eine „Massenloyalität“ in der Bevölkerung durch soziale und konsumpolitische Maßnahmen zu erreichen. 52 Die 10. Tagung des ZK der SED im Oktober 1973 war unmissverständlich mit der Zielstellung vom Bau von 2,8 bis 3 Millionen Wohnungen im Zeitraum 1976 bis 1980 verbunden. 53 Tatsächlich waren es zum Ende 1989 rund 2 Millionen „gebaute“ Wohnungen (inkl. Um- und Ausbau, Rekonstruktion). 54 Dieser „Sozialstaat auf Pump“ benötigte immer mehr (westliche) Kredite und die jährlichen Subventionen explodierten, im Jahr 1971 von rund 10,6 Milliarden Mark der DDR hin bis zu rund 65,8 Milliarden Mark der DDR im Jahr 1988. 55 Im Laufe der Zeit verlor die SED-Führung unter Honecker mehr und mehr den Blick für die Realitäten und Probleme des Lebens: „Honecker glaubte, man müsse nur politische Ziele vorgeben und Verantwortlichkeiten benennen, dann werde sich schon alles wunschgemäß entwickeln.“ Das führte zum unausweichlichen Ende dieses Versuchs, eine Alternative zur Bundesrepublik zu entwickeln. 56 Später wiesen die Staatliche Plankommission (SPK) und andere Verantwortliche die Parteispitze wiederholt darauf hin, dass weder die geplante Steigerung der Exporte (um die wachsenden Importe bezahlen zu können) noch die sozialpolitischen Maßnahmen 51
Ebd., S. 115.
52 Protokoll der Verhandlungen des VIII. SED-Parteitages (15.–19.6.1971). Bd. II. Berlin 1971 S. 316–
415, S. 322. Wolfgang Junker, Das Wohnungsbauprogramm der Deutschen Demokratischen Republik für die Jahre 1976 bis 1990, Referat auf der 10. Tagung des Zentralkomitees der SED am 2. Oktober 1973, Berlin 1973, S. 16. 54 Statistisches Jahrbuch der DDR ´90, Berlin 1990, S. 198 in Verbindung mit Joachim Tesch, Wurde das DDR-Wohnungsbauprogramm1971/1976 bis 1990 erfüllt? UTOPIE kreativ, Sonderheft Berlin 2000, S. 50–58. Siehe https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/2000_Sonderheft_Tesch.pdf (letzter Zugriff 17.10.2020). 55 Vgl. Statistisches Jahrbuch der DDR / Zeitschriftenband 1990, II. Entwicklungsreihen wichtiger Kennziffern der Volkswirtschaft, Staatshaushalt, Spalten Zuwendungen für die Bevölkerung aus Mitteln des Staatshaushaltes, Zur Sicherung stabiler Preise für Waren des Grundbedarfs und Tarife für die Bevölkerung, einschließlich Dienstleistungen und Spalte für das Wohnungswesen, S. 52. Vgl. https://www.digizeitschriften.de/dms/img/?PID=PPN514402644_1989|log9&physid=phys132#navi (letzter Zugriff 15.10.2020). 56 Kaiser, Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker, Ebd., S. 463. 53
35 hinreichend gesichert seien und das Plankonzept insgesamt nicht ausgeglichen werden konnte. Honecker verlangte aber, die Steigerung des Lebensstandards unbedingt beizubehalten. 57 Die Sozialpolitik war kein Neuanfang Honeckers, sondern vielmehr wurde nach seiner Machtübernahme „die Sozialpolitik jedoch erheblich erweitert“. 58 Siegert ließ sich – wie viele andere auch – vom Staatschef blenden: „Ich und viele andere Genossen haben Honecker – trotz früh erkennbarer Schwächen – […] sehr lange vertraut. Realitätsverlust und Versagen bei Honecker, dem Kämpfer gegen den Faschismus, das konnte doch nicht sein! So ‚kittete‘ man faktisch sein Vertrauen.“ Am 18. Oktober 1989 ereilte Honecker das gleiche Los wie seinen Vorgänger Ulbricht und seinen Nachfolger Krenz. Die Sozialismusidee war endgültig gescheitert.
7. Abhängigkeit vom Klassenfeind: Die F. J. Strauß-Kredite (1983–1984): Eine
dramatische Liquiditätskrise der DDR 1981/1982 zeigte die Devisenverschuldung im vollen Umfang auf. Dem Westen war die Schieflage der Handelsbilanz der DDR unbekannt, weil diese keine Zahlungsbilanzen veröffentlichte. Das Zahlenmaterial der „Bank für internationale Zahlungsausgleich“ (BIZ) war zudem nicht aussagekräftig genug. Die veröffentlichte Literatur zitiert Zahlenmaterial u. a. aus dem Statistischen Jahrbuch (Außenhandel) von der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik (SZS). 59 Der Abschlussbericht der Deutschen Bundesbank liegt seit August 1999 vollumfänglich vor. 60 Nach durchgeführten Stichproben sind Abweichungen innerhalb dieser Aufstellungen vorhanden, die allerdings den Gesamteindruck nur unwesentlich verändern. Nach Honeckers Neuorientierung mit seiner Losungsstrategie „Einheit von Wirtschaftsund Sozialpolitik“, nahm der Verschuldungsgrad wegen Finanzierung der Importüberschüsse, die über Bankkredite erfolgte, erheblich zu. Die zum Verbrauch bestimmten Güter machten die Masse, wie Rohstoffe, Halbfabrikate und Agrarerzeugnisse, aus. Durch den permanenten Importanstieg wuchs das Kreditvolumen an, wobei fällig werdende Kredittilgungen und Zinszahlungen in erster Linie durch eine ständige Neuaufnahme von Krediten ausgeglichen worden sind. Die Abhängigkeit von kapitalistischen Banken wurde verstärkt. 61 Beispielsweise mussten im Jahr 1978 insgesamt 1,9 Mrd. Valutamark-Zinsen 62 bezahlt werden, die aus 23,5 % des gesamten Exports ins Nichtsozialistische WirtAndré Steiner, Die Planwirtschaft in der DDR. Aufstieg und Niedergang, Erfurt 2016, S. 73, (i. F. z. a. Steiner, Die Planwirtschaft in der DDR). 58 Ebd. 59 Im Bundesarchiv Nummer 30114 und 30329 archiviert. 60 Bundesbankbericht unter https://www.bundesbank.de/de/publikationen/bundesbank/die-zahlungsbilanzder-ehemaligen-ddr-1975-bis-1989-689284 (letzter Zugriff 19.12.2020). 61 Armin Volze, Zur Devisenverschulung der DDR in die Endzeit der DDR-Wirtschaft, in: Eberhard Kuhrt/Hannsjörg F. Buck/Gunter Holzweißig, Am Ende des realen Sozialismus. Die Endzeit der DDRWirtschaft. Analysen zur Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik, Leske + Budrich, Opladen 1999, S. 151–183, S. 157, (i. F. z. a. Volze, Zur Devisenverschulung der DDR). 62 Die Valutamark war die Rechnungseinheit in der DDR und bezog sich in der Alltagssprache vor 57
36 schaftsgebiet (NSW) des Jahres 1978 und ca. 50 % des Zuwachses des Nationaleinkommens 1978 bestanden. Der negative Saldo aus Forderungen und Verbindlichkeiten und damit die Verschuldung gegenüber dem NSW betrug Ende 1978 21,4 Mrd. VM. 63 Nicht nur die Bundesrepublik rückte im Kreis potentieller Unterstützer näher, sondern die DDR versuchte ebenso, Kredite von österreichischen Banken zu erhalten. Der Präsident der Deutschen Außenhandelsbank Werner Polze war im November 1985 zu Gesprächen mit allen führenden Banken in Wien und bedankte sich für „die aktive und flexible Kreditpolitik“ zwischen Österreich und der DDR. 64 Er stellte fest, dass nach BIZ die für den OECDRaum ausgewiesenen DDR-Kredite eine Höhe von 8,2 Mrd. US-Dollar betrugen. Die Kredite der DDR aus Österreich betrugen demnach 38 Mrd. ÖS, etwa 2 Mrd. US-Dollar, konkret ein Anteil von 19 Prozent. 65 Der österreichische Präsident der Nationalbank Stephan Koren 66 hegte keinen Zweifel an der Kreditwürdigkeit der DDR. Weitere Abkommen wurden vereinbart und abgeschlossen. 67 Die westlichen Kreditvorhaben waren an Forderungen geknüpft. Konkret war es „ein Geschäft von Leistung gegen Gegenleistung“. Die Bundesrepublik wollte durch die dringend benötigte finanzielle Unterstützung humanitäre Erleichterungen in der DDR erwirken, 68 was auch realisiert wurde. Anfang der 1980er Jahre, bedingt durch die Ölkrise, den Subventionskurs und einen Importrausch in der DDR, entwickelte sich Österreich zu deren Drehscheibe und Schwerpunktpartner in der Ostfinanzierung. Das Handelsvolumen zwischen beiden Ländern war explosionsartig angestiegen in der Blütezeit beider Beziehungen. Am 8./9. Oktober 1982 reisten Günter Mittag 69, Gerhard Beil 70 und A. Schalck-Golodkowski zu Gesprächen nach Wien, wobei es um einen Bedarf von 800 000 Tonnen Öl ging. Um das Geschäft erfolgreich abzuwickeln, führten die ostdeutschen Vertreter als allem auf westliche (westdeutsche) Währung. Ist die Gesamtheit der frei konvertierbaren ausländischen Währungen, eingeschlossen die auf solche Währungen bezogenen Vermögenswerte (etwa Geldzeichen oder Wertpapiere) und Edelmetallbestände. 63 Vorlage an das Politbüro, ausgearbeitet und unterzeichnet von G. Schürer, S. Böhm, H. Kaminsky, W. Polze (Geheime Verschlusssache GVS B 5 – 2545/78 vom 29.12.1978). 64 Maximilian Graf, Österreich und die DDR 1949–1990. Politik und Wirtschaft im Schatten der deutschen Teilung, Wien 2016, S. 542, (i. F. z. a. Graf, Österreich und die DDR). 65 Ebd., S. 543 66 Geboren am 14.11.1919 und verstorben am 26.1.1988. Er war u. a. Finanzminister, ordentlicher Professor für Weltwirtschafts- und Volkswirtschaftslehre an der Wirtschaftsuniversität Wien und in der Zeit von 1978 bis zum Tod als Präsident der Österreichischen Nationalbank tätig. 67 Graf, Österreich und die DDR, Ebd., S. 543. 68 Ferdinand Kroh, Wendemanöver: Die geheimen Wege zur Wiedervereinigung, München-Wien 2005, S. 31. Eine überarbeitete Neuauflage erschien 2011. 69 In der Zeit von 1966 bis 1989 war Mittag u. a. Mitglied des Politbüros des Zentralkomitees der SED. Ab 1976 war er als ZK-Sekretär der SED für Wirtschaftsfragen der Planwirtschaft der DDR zuständig. 70 Ab 1976 war Beil u. a. erster stellvertretender Minister und in der Zeit von 1986 bis 1990 war er Minister für Außenhandel der DDR.
37 Beleg die bevorstehende Kreditgewährung der BRD an die DDR in Höhe von ungefähr 5 Mrd. Mark an. Auch der westdeutsche Bankier aus der Schweiz, Holger Bahl, sah einen Bedarf von einem Milliardenkredit von 4 bis 5 Mrd. DM vor. Dieses Konzept wurde als „Züricher Modell“ bezeichnet, 71 was scheiterte. 72 Stattdessen flossen 1983/84 die Strauß-Kredite. Wie kam es dazu? Seitens der DDR wurde der Staatssekretär im Außenministerium für Handel und MfS-Oberst Alexander Schalck-Golodkowski (kurz Schalck) beauftragt, die Verhandlungen mit den Westpartnern zu führen. Er selbst rechnete mit einem Bedarf für das Jahr 1983 von vier Mrd. DM. Der Rahmen für die Rückzahlungen sollte fünf Jahre betragen. 73 Als Strauß von den Kreditwünschen der Ostdeutschen im Herbst 1982 erfuhr, holte er sich von Kohl das Einverständnis zur Vertiefung der Angelegenheit. Strauß leistete gegenüber Kohl Überzeugungsarbeit, weil dieser Bedenken aufgrund von Geschäften mit den Kommunisten hatte. 74 Nach div. Gesprächsverhandlungen forderte Strauß Gegenleistungen mit dem Inhalt humanerer Grenzabwicklung, Reduzierung der Selbstschussanlagen und des Mindestumtausches für Jugendliche und Rentner ein. Ein Junktim war das allerdings nicht. 75 Am 30. Juni sowie am 7. Juli 1983 wurden zwei Kreditverträge zu je 500 Mio. DM, mit Laufzeit von 5 Jahren, von der Deutschen Außenhandelsbank der DDR und einem Bankenkonsortium – federführend war die Bayerische Landesbank – unterzeichnet. Transferiert wurde der Kredit über den Geldmarkt Luxemburg. 76 Ein Jahr später, im Juli 1984, wickelte die Deutsche Bank als Konsortialführer einen zweiten Kredit ab. Dessen Höhe betrug 950 Mio. DM. 77 Als Moskau davon erfuhr, ermahnte KPdSU-Generalsekretär Tschernenko Honecker und befürchtetet: „[…] Hier geht es um zusätzliche finanzielle Abhängigkeit der DDR von der BRD.“ 78 Siegert stufte die Wichtigkeit dieser Kredite herab: „Diese Kredite waren nicht die Ultima Ratio, um den Schuldendienst zu leiten – das schafften wir auch ohne sie –, aber es war die Chance, die Kreditwürdigkeit der DDR zu stabilisieren und die Konditionen für neue Heinrich Potthoff, Bonn und Ost-Berlin 1969–1982, Berlin 1997, S. 650. Ausführlich zum „Züricher Modell“: Matthias Judt, KoKo – Mythos und Realität. Das Imperium des Alexander SchalckGolodkowski, 2. Auflage, Berlin 2015, S. 158–166, (i. F. z. a. Judt, KoKo – Mythos und Realität). 72 Graf, Österreich und die DDR, Ebd., S. 514 ff. 73 Schreiben von A. Schalck an Günter Mittag vom 15. September 1982, BA, BL 226–1137, Bl 268– 274. 74 Marco Gerhard Schinze-Gerber, Franz Josef Strauß. Wegbereiter der deutschen Einheit und Europäer aus Überzeugung, Hildesheim 2020, S. 220 ff., (i. F. z. a. Schinze-Gerber, Franz Josef Strauß). 75 Ebd., S. 224. 76 Ebd., S. 228. 77 Ebd., S. 234/235. Dazu auch Bayerischer Landtag (Herausgeber), 12. WP., Schlußbericht des Unterschungsausschusses betreffend bayerische Bezüge der Tätigkeit des Bereichs „Kommerzielle Koordinierung“ und Alexander Schalck-Golodkowski, Drucksachse 12/16598, München 1994, S. 33. 78 Konstantin Tschernenko, zit. n. Alexander Schalck-Golodkowski, Deutsch-deutsche Erinnerungen, 2. Auflage, Reinbek bei Hamburg 2000, S. 306. 71
38 kommerzielle Kredite zu verbessern.“ 79 Transparenz und Aufklärung in der DDR-Bevölkerung wären für das Image der SED-Führung als Beweis ihrer westlichen finanziellen Abhängigkeit schädlich gewesen, wie Siegert eingestehen musste: „Der Bevölkerung konnte und wollte man es so nicht vermitteln. Wenn man gesagt hätte, der Strauß hatte uns sehr geholfen, dann hätte man vorher erzählen müssen, dass wir in der Klemme waren. Sonst hätte die Hilfe keinen Sinn ergeben.“ 80 Der positive Effekt trat ein, dass westliche Kreditinstitute wieder bereit waren, Kredite an die DDR zu vermitteln, was zu lebensverlängernden Maßnahmen führte. Der Effekt war spürbar, wie der Historiker Armin Volze schlussfolgernd festhält: „Die Überwindung der Liquiditätskrise ist ohne Zweifel durch innerdeutsche Faktoren erleichtert worden, durch Kompensationsmöglichkeiten im innerdeutscher Handel (idH) und vor allem durch die Strauß´schen Milliardenkredite.“ 81 Seine Erkenntnis dazu: „Es dürfte aber trotzdem klar sein, dass nicht die Devisenverschuldung und ihre Folgen die Hauptursache für den desolaten Zustand der DDR-Wirtschaft am Ende der 80er Jahre waren. Auch wenn es die Verschuldung nicht gegeben hätte, die Wirtschaft der DDR wäre aus anderen Gründen, vor allem wegen des Verfalls der Sowjetunion und des RGW, ohne eine erfolgsversprechende Perspektive gewesen.“ 82 Die Vermittlung dieser beiden Kredite von Strauß 83 sind nicht als Zäsur zu bewerten, allerdings konnte er Vertrauen aufbauen und weitreichende menschliche Erleichterungen erzielen. „[…] Die Vermittlung der beiden Milliardenkredite ist daher […] als Meilenstein für die spätere Wiedervereinigung zu betrachten, […]“, 84 ordnet der Strauß-Biograph Marco Schinze-Gerber ein.
Walter Siegert, Zum „subjektiven Faktor“ beim Aufstieg und Fall der DDR, in: Klaus Blessing, Wer verkaufte die DDR? Wie leitende Genossen den Boden für die Wende bereiteten, 2. Auflage, Berlin 2016, S. 180–188, S. 187. 80 Dürkop und Siegert im Gespräch S. 252. 81 Volze, Zur Devisenverschulung der DDR, Ebd., S. 170. 82 Ebd. 83 Strauß war in der Zeit von 1978 bis 1988 u. a. Ministerpräsident, Kanzlerkandidat sowie Ostpolitiker. 84 Schinze-Gerber, Franz Josef Strauß, Ebd., S. 239–240. 79
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Friedliche Revolution, Zusammenbruch und Rettungsversuche der „Regierung der nationalen Verantwortung“ in der DDR (1985–1990) 1. Gorbatschows gescheiterte Reformpolitik „Perestroika und Glasnost“: Die
Teilungs-, Trennungs- und Einheitsgeschichte der DDR ist ohne eine intensive Reflexion über die Geschehnisse und Abläufe sowie Aktionen und Reaktionen der Führungsakteure der Sowjetunion unvollständig. 85 Am 11. März 1985 kam es mit der Wahl von Michail S. Gorbatschow zum Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) 86 in Moskau zu einer grundlegend angedachten Neuausrichtung der Beziehungen der UdSSR zu den sogenannten „Satellitenstaaten“. 87 Dieser Veränderungsplan schloss auch die DDR mit ein, wobei Honecker bereits von Anfang an seine Skepsis und Unmut gegen die neuen Kurs- und Reformanliegen Moskaus entwickelte, die aber nicht von allen Funktionären und schon gar nicht von den Menschen in der DDR getragen wurden. Dieser einschneidende Beginn der Spaltung war Mitursache für die späteren Entwicklungen des politischen Klimas zwischen Ostberlin und Moskau. Für den „Arbeitsbesuch eines Staatsoberhaupts mit Exekutivgewalt“ in die Bundesrepublik im September 1987, den Honecker als Höhepunkt seiner politischen Laufbahn erlebte, musste er sich vorher die Erlaubnis im Kreml einholen. Die vielmals beschworene Freundschaft zwischen Kohl und Gorbatschow war anfänglich über eine längere Zeit schwer belastet, als dieser den Kreml-Chef mit Joseph Goebbels in Zusammenhang gebracht hatte. 88 Die Kernpunkte der Reformbestrebungen Gorbatschows waren Glasnost („Offenheit“ und „Transparenz“), Perestroika („Umbau“ und „Umgestaltung“) sowie die Fortführung der Entspannungspolitik im Rahmen des KSZE-Prozesses, um Entlastung für das angeschlagene sowjetische System herbeizuführen, den Kalten Krieg zu beenden sowie Abrüstungsmaßnahmen im Bereich der atomaren und konventionellen Waffen durchzusetzen. Der erhebliche Reformbedarf in der UdSSR ergab sich aus gesellschaftlichen Missständen und ökonomischen Mängeln, was wachsende Unzufriedenheit erzeugte. Es sollte eine tiefgreifende Modernisierung des real existierenden Sozialismus stattfinden. Dieser sollte jedoch keineswegs abgeschafft, sondern lediglich „optimiert“ werden. Generalsekretäre des Zentralkomitees der KPdSU: U. a. Nikita Chruschtschow (1953–1964), Leonid Breschnew (1964–1982), Juri Andropow (1982–1984) und Konstantin Tschernenko (1984– 1985). 86 Gorbatschow wurde am 14. März 1990 auch Staatspräsident der Sowjetunion. 87 Oliver Dürkop/Michael Gehler (Hrsg.), In Verantwortung. Hans Modrow und der deutsche Umbruch 1989/90, Innsbruck – Wien – Bozen 2018, S. 28, (i. F. z. a. Dürkop/Gehler, In Verantwortung). 88 15. Oktober 1986 – Interview im US-Nachrichtenmagazin Newsweek: „Er ist ein moderner kommunistischer Führer, der sich auf Public Relations versteht. Goebbels, einer von jenen, die für die Verbrechen der Hitler-Ära verantwortlich waren, war auch ein Experte für Public Relations.“ Am 6. November distanziert sich Kohl von dem Interview. Zu einer offiziellen Entschuldigung war er nicht bereit. 85
40 Gorbatschow wollte bestehende politische Seilschaften und verkrustete Strukturen beseitigen. Viele kommunistisch regierte „Volksrepubliken“ wie Polen und Ungarn folgten – getreu dem traditionellen Vorbild der Sowjetunion – nun auch den Reformen Gorbatschows. 89 Planspiele, den Reformgegner Honecker durch Hans Modrow bzw. Markus Wolf abzulösen, existierten. 90 In einem Gespräch 1988 stellte Honecker gegenüber Gorbatschow klar: „Ich möchte noch einmal hervorheben: Die Frage der Beziehung zur Perestroika existiert bei uns nicht. In der Partei versteht man, dass sie unausweichlich ist und den Interessen aller Bruderländer entspricht. Man muss zugeben, dass wir nicht wenige eigene Probleme haben.“ 91 Siegert äußerte sich resignierend über Honeckers Reformblockade, die Kritik am eigenen politischen Kurs nicht zuließ: „Die letzten Jahre der DDR waren vom Verhältnis Honecker zu Gorbatschow bestimmt und absolut destruktiv. Honecker schaute überheblich darauf, was mit und durch Gorbatschow in der UdSSR schieflief, politisch sowie wirtschaftlich. […] Nach innen stieß die Partei allen Leuten vor den Kopf, die in ‚Gorbi‘ eine Hoffnung sahen, statt einen Dialog über unsere Probleme und mögliche Reformen zu führen. Das nahmen ich und die Mehrheit der Genossen hin.“ 92 Das Politbüro reagierte mit einer Nachrichten-Zensur, um die Bevölkerung nicht zu informieren: „Reden von Genossen der KPdSU werden in Zukunft auszugsweise oder zusammengefaßt veröffentlicht.“ 93 Unbeirrt ging Gorbatschow seinen Weg weiter. Ein Meilenstein erfolgte am 15. Juni 1989, als er die „Breschnew-Doktrin“ 94 aufgab: „Jeder Krieg, ob nuklear oder konventionell, muss verhindert, Konflikte in verschiedenen Regionen des Planeten beigelegt und der weltweite Friede erhalten und zuverlässig gesichert werden. Das Recht aller Völker und Staaten, ihr Schicksal frei zu bestimmen und ihre Beziehungen zueinander auf der Grundlage des Völkerrechts in der inneren und internationalen Politik muss gewährleistet werden. Bei der Gestaltung einer friedlichen Zukunft kommt Europa eine herausragende Rolle zu. [...] Dieser Prozess muss gefördert werden. 95 Und weiter: „[...] Die Mauer kann Dürkop/Gehler, In Verantwortung, Ebd., S. 28. Ebd., S. 150 ff. 91 Horst Möller/Jürgen Zarusky, kommentiert von Andreas Hilger. Aus dem Russischen übertragen von Joachim Glaubitz, Michail Gorbatschow und die deutsche Frage. Sowjetische Dokumente 1986–1991. Gespräch Gorbacevs mit dem Staatsratsvorsitzenden Honecker am 28. September 1988, Oldenbourg Verlag München 2011, S. 107, (i. F. z. a. Möller/Zarusky, Sowjetische Dokumente). 92 Dürkop im Gespräch mit Siegert S. 358. 93 Vertrauliche Verschlußsache ZK 02 – Politbüro – Beschlüsse – 10./630 42/87 vom 20.10.1987 Dokumente unter https://www.stasi-mediathek.de/medien/beschlussmitteilung-des-sed-politbueros-zu-fragen-der-marxistisch-leninistischen-theorie-und-praxis/blatt/165/ (letzter Zugriff 21.10.2020). 94 Das Recht für die Sowjetunion, einzugreifen, wenn in einem der sozialistischen Staaten der Sozialismus bedroht würde. Verkündung von Breschnew am 12.11.1968. 95 Möller/Zarusky, Sowjetische Dokumente, Gemeinsame Erklärung sowie Gemeinsame Mitteilung von Gorbacev und Bundeskanzler Kohl vom 13. Juni 1989, Unterzeichnung der sowjetisch89 90
41 verschwinden, wenn die Voraussetzungen wegfallen, die sie hervorgebracht haben. […] Ich sehe hier kein großes Problem.“ 96 Eine eigenständige „Doktrin“ bzw. eine neue „Lehre“ entwickelte Gorbatschow selbst nicht. Die sogenannte „Sinatra-Doktrin“ ist im eigentlichen Sinne eine Erklärung. 97 Ebenso widerspricht Krenz: „Die sogenannte Gorbatschow-Doktrin, wonach er den sozialistischen Ländern, die volle Freiheit gegeben habe, eine solche Doktrin ist mir nie bekannt geworden. [...] Selbst, wenn er es gesagt hätte, wäre es Demagogie und keine Doktrin. [...].“ 98 In einem Abschiedsbrief an Kohl bekräftige Gorbatschow seinen gewichtigen Anspruch beim Vereinigungsprozess: „[...] In diesem für mich nicht leichten Augenblick wende ich mich in meinen Gedanken dem zu, was wir beide gemeinsam geschafft haben. Die Vereinigung Deutschlands – dies ist ein sehr bedeutendes Ereignis der Weltgeschichte und der neuen Weltpolitik. Und die Tatsache, dass wir mehr als irgendjemand sonst dazu beigetragen haben, wird, so hoffe ich, im Gedächtnis der Völker bleiben. [...]“ 99 Insbesondere denkt Gorbatschow – in einem zeitlichen Abstand – darüber nach, ob seine Reformbemühungen gescheitert sind: „[…] Die Perestrojka ist abgerissen, genauer: Man hat sie verhindert. Aber ihre Errungenschaften sind nicht umkehrbar. Die Strategie der Perestrojka wurde von einer Strategie der Zerstörung von Sowjetunion, Wirtschaft und sozialem Versorgungssystem abgelöst. All das geschah auf einen Schlag, was die Entwicklung unseres Landes mindestens für ein Jahrzehnt gebremst hat. […]“ 100 Die Ära Gorbatschow löste eine ambivalente Erinnerungsgeschichte aus: Bis heute wird Gorbatschow wegen seiner Außen- und Friedenspolitik im Westen und insbesondere in Deutschland ver- und geehrt. In seiner Heimat widerfährt ihm teilweise tiefste Verachtung.
2. Krenz und der sog. „Schürer-Bericht“ (Oktober 1989): Unmittelbar nach seinem
Amtsantritt gab der neue SED-Chef Egon Krenz, die „Analyse der ökonomischen Lage der DDR mit Schlussfolgerungen“ 101 in Auftrag, die von den Ökonomen Gerhard Schürer,
westdeutschen Dokumente, Ebd., S. 166. 96 Möller/Zarusky, Sowjetische Dokumente, Pressekonferenz Gorbacevs in Bonn am 15. Juni 1989, Antworten auf Fragen der Journalisten, Ebd., S. 183. 97 Gennadi Gerassimow meinte, Gorbatschow hätte eine „Sinatra-Doktrin” herausgegeben. Am 25. Oktober 1989 besuchte Gorbatschow den finnischen Präsidenten Mauno Koivisto in Helsinki. Beide erklärten an jenem Tag den Verzicht auf den Ersteinsatz von Gewalt gegen ein gegnerisches Bündnis, einen neutralen Staat oder einen Staat des eigenen Bündnisses. 98 Michael Gehler/Oliver Dürkop (Hrsg.), Deutsche Einigung 1989/1990. Zeitzeugen aus Ost und West im Gespräch, Reinbek 2021, im Gespräch mit Egon Krenz, (i. F. z. a. Gehler/Dürkop, Deutsche Einigung). 99 Möller/Zarusky, Sowjetische Dokumente, 25. Dezember 1991, Abschiedsbrief M. S. Gorbacevs an H. Kohl, Ebd., S. 596. 100 Michail Gorbatschow, Alles zu seiner Zeit. Mein Leben, Hamburg 2013, S. 357–358. 101 Das Schürer-Papier vom 30.10.1989 ist einsehbar unter
42 Gerhard Beil, Ernst Höfner, Schalck-Golodkowski und Arno Donda erarbeitet wurde. Der Parteiführung sollte die Lage bewusst gemacht werden, in welcher Lage sich die DDRWirtschaft zu diesem Zeitpunkt befand. So heißt es in diesem geheimen Politbürobericht: „Die Verschuldung im nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet ist seit dem VII. Parteitag gegenwärtig auf eine Höhe gestiegen, die die Zahlungsfähigkeit der DDR infrage stellt.“ 102 Die Verfasser dieses Berichts kommen zum Befund, dass der DDR eine Pleite gegenüber den westlichen Kreditgebern drohe. Im Sonderbericht der Deutschen Bundesbank zur Zahlungsbilanz 1989 der ehemaligen DDR steht: 103 „Die internationalen Finanzmärkte sahen die Situation jedoch noch nicht als kritisch an. Sowohl im Jahre 1988 als auch 1989 konnten die DDR-Banken Rekordbeträge im Ausland aufnehmen.“ 104 Politische Quereinund Aufsteiger wie Lothar de Maizière, der authentisch darüber berichtete, wie er schockiert reagierte, als er die Inhalte des Schürer-Papiers im November 1989 einsah: „Ich weiß es noch, als ich davor saß, heulte ich, weil mir klar war, das ist das Ende dieses Landes.“ 105 Dass die Politbüro-Führung sich ahnungslos über die Inhalte der Schürer-Analyse, dieser prekären desolaten Zustände der DDR-Ökonomie zeigte, ist zudem verwunderlich. Vielmehr ist eindeutig belegt, dass bereits im April 1988 Schürer Dokumente über Missstände an den Staatsratsvorsitzenden Honecker geschickt hatte. Dabei betonte er, dass es sich nicht „um abgestimmte Maßnahmen, sondern um Gedanken, die der Erörterung bedürfen“ handelte. Beispielsweise schrieb Schürer zu den Subventionen: „[…] Es sollte überlegt werden, die Subventionen auf den Gebieten zu beseitigen, die nicht mit der Gewährleistung der Grundbedürfnisse der Bevölkerung verbunden sind. […].“ Das Politbüro reagierte nicht, insbesondere Mittag wischte das Schürer-Papier mit dem Argument vom Tisch, „dass es die Beschlüsse vorausgegangener Parteitage und damit die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik in Frage stelle“. 106 Egon Krenz stellte sich bei diesen 24 Seiten, die voller Probleme steckten, die Frage: „Warum sind die fünf Autoren in der Lage, innerhalb so kurzer Zeit ein völlig anderes Bild über die Volkswirtschaft zu vermitteln als bisher?“ Er beantwortete sie gleich selbst: „Von den für die Wirtschaft Verantwortlichen, die die wahre Lage kannten, wurde ein geschöntes Bild für die Führung und für die Öffentlichkeit gefordert. Und die Autoren folgten der Vorgabe.“ Schürer kann sicherlich nicht gemeint sein, wie sein Einlass an Honecker beweist. https://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/w5.grenze.1989_10_30_PB_Vorlage_Schuerers_Krisen_Analyse_BArch_DY%2030_J_IV_2_2A_3252.pdf (letzter Zugriff 31.12.2020). Quelle: BArch, DY 30, J IV 2/2A/3252. 102 Datiert auf den 27.10.1989. 103 Veröffentlichung August/September 1999. 104 Siehe https://www.bundesbank.de/de/publikationen/bundesbank/die-zahlungsbilanzder-ehemaligen-ddr-1975-bis-1989-689284 (letzter Zugriff 16.12.2020). 105 Gehler/Dürkop, Deutsche Einigung, Ebd., im Gespräch mit Lothar de Maizière. 106 Siehe Dokumente https://www.bstu.de/informationen-zur-stasi/themen/beitrag/kontroversezwischen-planungschef-schuerer-und-parteioekonomen-mittag-wegen-der-wirtschaftlichen-lage1988/ (letzter Zugriff 22.10.2020).
43 Im Rückblick spricht Krenz von einer „Scheinwelt“ und rechtfertigt sich damit, indem er schonungslos das Dilemma aufzeigt: „Es gab im Politbüro wenig Entschlossenheit, den ökonomischen Zusammenhängen auf den Grund zu gehen. Die hundertprozentige Pflichterfüllung war Gesetz. Warum der Plan oft nicht erfüllt wurde, kam im Politbüro nur selten zur Sprache. Zahlen wurden in falsche Zusammenhänge gestellt oder frisiert. Die Mängel in der Volkswirtschaft waren Leistungsprobleme, sonst nichts.“ 107 Durch den Schürer-Bericht forderte Krenz endlich ein „jedes Wunschdenken abzulegen und notwendige Konsequenzen zu ziehen, die für viele schmerzlich sind.“ Die Bedenkenträger saßen für ihn im Politbüro und bei den Abteilungsleitern des Zentralkomitees, um diese „Schönfärberei“ zu beenden. Mit Günter Mittag ist ein Schuldiger Abb. 4: Egon Krenz bei seiner Buchpräsentation. für ihn schnell festgemacht, der „ging dagegen vor.“ „Und Honecker“, so Krenz, „glaubte diesen Briefen mehr als den kritischen Berichten aus den Parteiorganisationen.“ Empathie für diesen „Selbstbetrug“ hatte der SED-Chef für die Kritiker ebenso parat und forderte ein, endgültig einen Schlussstrich zu ziehen: „Die für Ökonomie Zuständigen dürfen nicht weiter in dem geistigen Korsett leben, das ihnen das frühere Politbüro angelegt hatte.“ Ende Oktober 1989 verlangte Krenz, der als mächtigster Mann der DDR für Veränderungen jegliche Ämter-Möglichkeiten besaß, diesen gewachsenen Betrug endlich zu beenden. 108 Nachdem Krenz in Moskau keine finanzielle Unterstützung erhielt (Reise am 1. November 1989), schickte er Alexander Schalck-Golodkowski am 6. November nach Bonn, um über umfassende Kreditwünsche der DDR mit einem „Gesamtvolumen von 12 bis 13 Milliarden DM“ zu verhandeln. Diese sollte sich an den zu erwartenden erweiterten Reiseverkehr wegen des geplanten Reisegesetzes beteiligen. Dabei ging es um eine Größenordnung von 3,8 Milliarden DM – 300 DM für „angenommene“ 12,5 Millionen Reisende pro Jahr. 109 Die Verhandlungsbereitschaft Bonns wurde drei Tage später durch das Weltereignis eingestellt. Ein Faktum ist, dass Honeckers „Kronprinz“ bis heute Wahrheiten und Tatsachen teilweise verwechselt bzw. verdrängt, anstatt anzuerkennen, welche Gründe und Ursachen Egon Krenz, Herbst ´89, Berlin 2014, S. 243–245. Ebd. 109 Der Vermerk von Alexander Schalck über sein informelles Gespräch mit Wolfgang Schäuble und Rudolf Seiters ist dokumentiert in: Hermann Hertle, Der Fall der Mauer: Die unbeabsichtigte Selbstauflösung des SED-Staates, Wiesbaden, 2. Auflage, 1999, S. 483 ff. 107 108
44 überhaupt diesen ernsten Umstand zugelassen hatten: Egon Krenz war seit 1983 Mitglied des Politbüros und zum Sekretär des ZK der SED für Sicherheitsfragen, Jugend, Sport, Staats- u. Rechtsfragen gewählt worden. Mit der Ernennung zum Stellvertreter des Vorsitzenden des Staatsrates wurde Krenz 1984 zum zweitwichtigsten Funktionär hinter Erich Honecker. Er hatte somit weitreichende Kenntnisse in und Einblicke über die juristische, wirtschaftliche, finanzielle, steuerliche, ökonomische und ökologische sowie innen- und außenpolitischen Lage der DDR, deren Zu- und Umstand und war bestens informiert. Das ist unstrittig. Nach der Übernahme aller Ämter Honeckers per Akklamation – Erster Sekretär des ZK der SED, Vorsitzender des Staatsrats, Chef des Politbüros und Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates (NVR) – wurde kein neues Politbüromitglied gewählt, sondern der große und vermeintliche Umschwung ließ auf sich warten. Die vorletzte ZK-Tagung begann einen Tag nach dem geschlossenen Rücktritt des Ministerrates in der Zeit vom 8. bis 10. November 1989. Nachdem einige Politbüromitglieder zurückgetreten waren, verblieben sieben Altkader (inkl. Krenz). Vier neue Akteure kamen und stiegen mit Hans Modrow, Wolfgang Herger, Wolfgang Rauchfuß und Gerhard Schürer im Politbüro auf. Einen Neuanfang mit den bisherigen altgreisen Politbüromitgliedern zu beginnen, war für Krenz somit gänzlich eigenverantwortlich ausgeschlossen. So nahm das auch die DDRBevölkerung wahr. Es war die gescheiterte Wende eines unveränderlichen ostdeutschen Kommunisten. Eine politisch-ideologische Wende erfuhr Krenz nicht. 110 Rainer Eppelmann urteilte über den fast 50 Tage amtierenden Staatsratsvorsitzenden abschätzig: „Entschuldigung, Krenz war eine Fehlbesetzung, der nur Karriere machen wollte. Er hatte nur das ungeheure Glück, dass die Katastrophe nicht eingetreten ist, weil die Kader-Partei handlungsunfähig war. […] Für seine Unfähigkeit will er auch noch einen Orden umgehängt bekommen?“ 111 Siegert formulierte sachlicher: „Krenz, kein Wirtschaftsfachmann, versuchte eine Linie zur ‚Wende‘ und Schadensbegrenzung zu finden.“ 112 Einen Tag nach der letzten Volkskammerwahl, am 19. März 1990, veröffentlichte der taz-Autor Holger Eckermann einen Artikel über das Geheimpapier „Geheime Kommandosache b51111/89“ 113 und klärte die Öffentlichkeit über die Schieflage auf: „Die DDR hat ihre Schulden auf 400 Banken verteilt. Die Zahlungsunfähigkeit sei nur zu vermeiden, schreiben die Wirtschaftsexperten weiter, wenn sich die Exportsumme ins kapitalistische Ausland bis 1995 verdoppelt. Die ‚politische Stabilität der DDR‘ hänge davon ab, die ‚Zahlungsfähigkeit der Republik‘ müsse ‚bedingungslos‘ gesichert werden – im Klartext: Konsum und Import müssen eingeschränkt werden.“ Die inhaltliche Botschaft dieses Schürer-Papiers ist für Siegert eindeutig: „Er sollte warnen! Ich las den Bericht im Entwurf. Finanzminister Ernst Höfner war Mitunterzeichner. Teile des Berichts sind bei uns entstanden. Ich las Gehler/Dürkop, Deutsche Einigung, Ebd., Charakterisierung über Egon Krenz. Ebd., im Gespräch mit Rainer Eppelmann. 112 Dürkop und Siegert im Gespräch S. 182. 113 Der Artikel hat die Überschrift „Geheimpapier: DDR kurz vor der Zahlungsunfähigkeit“ und bezieht sich auf Dokumente vom 28.9.1989. Dieser Artikel liegt in Kopie Dürkop vor. 110 111
45 auch den letzten Entwurf. Für mich war es eine Darstellung der Lage, mit entsprechenden Schlussfolgerungen.“ 114 Wichtig für den Staatssekretär ist aber, welche negative Wirkung – nach späterer Bekanntgabe – er ausstrahlte: „Dieser Bericht war später für alle, die den Untergang der DDR mit der wirtschaftlichen Pleite begründen, natürlich der ‚ultimative‘ Beweis! Dafür können die Autoren aber nicht verantwortlich gemacht werden.“ Keinen Zusammenhang sieht Siegert zwischen der Absage der Modrow-Forderung des 15 Milliarden-DM-Solidarbeitrages und einer inhaltlichen Kenntnis des Schürer-Berichtes der Bonner-Akteure: „Diesen Bericht von Gerhard Schürer u. a. kannte die politische Führung der BRD im Februar 1990 vermutlich noch nicht. […]“ 115 Der engste Berater von Bundeskanzler Kohl, Horst Teltschik, bestätigte Siegerts Vermutung: „Der geheime Schürer-Bericht lag der Bundesregierung nicht vor.“ Dabei ordnet er die Bedeutung des Papieres deutlich ein: „[…] Er dokumentierte dann den Bankrott der DDR-Wirtschaft und die Notwendigkeit überfälliger Reformen in Wirtschaft und Politik. Dafür hätten selbst 15 Milliarden nicht ausgereicht.“ 116
3. Das Imperium Kommerzielle Koordinierung: Im schwierigen Umfeld des gesam-
ten Westhandels wurde nach Wegen gesucht, um notwendige Importe der DDR aus westlichen Ländern in finanzieller Hinsicht abzusichern. Das sollte mit Unternehmen in westlichen Ländern, bei denen Strohmänner für die DDR als Eigentümer auftraten, abgewickelt werden. Die außenpolitische Isolation müsste aufgebrochen werden. Diese Waren- und Finanzoperationen verliefen unter hoher Vertraulichkeit – allerdings mit fragwürdigem Charakter. Das primäre Ziel war es, Devisen zu beschaffen und zu erwirtschaften, was auf einer stabilen und dauerhaften Grundlage geschehen und auch der DDRVolkswirtschaft zugutekommen sollte. Eine Abwicklungsmethode beim Handel mit westlichen Ländern, um kostenintensive Importe dauerhaft stabil zu refinanzieren und somit den Zugang für eigene Produkte in westlichen Märkten zu erleichtern, war die Anwendung des Kompensationsprinzips. 117 Die sogenannten Bartergeschäfte, also Waren miteinander zu tauschen, waren für die DDR unerheblich. Mit der Verfügung vom 1. April 1966 vom Vorsitzenden des Ministerrats der DDR, Willi Stoph, wurde die einheitliche Leitung mit dem Ziel verfügt, „maximale Erwirtschaftung kapitalistischer Valuten außerhalb des Staatsplanes“ zu realisieren. Die Umsetzung erfolgte am 1. Oktober. Der „Bereich Kommerzielle Koordinierung“ (BKK) bzw. später auch kurz „KoKo“ bezeichnet, wurde im damaligen Ministerium für Außen- und Innerdeutschen Handel (MAI) der DDR gebildet. Am 7. Dezember beschloss der Ministerrat der DDR, Alexander Schalck-Golodkowski zu dessen Leiter zu ernennen. 118 Durch den Politbürobeschluss des ZK der SED vom 2. November 1976 wurde Schalck-Golodkowski der Status eines Staatssekretärs mit eigenem Dürkop und Siegert im Gespräch S. 284. Ebd., S. 285. 116 Gehler/Dürkop, Deutsche Einigung, Ebd., im Gespräch mit Horst Teltschik. 117 Judt, KoKo – Mythos und Realität, Ebd., S. 94. 118 Ebd., S. 40–43. 114 115
46 Geschäftsbereich verliehen. Die Kernfelder der Geschäfte der KoKo im Inland im sowie außen- und innerdeutschen Handel entwickelten sich teilweise unseriös: U. a. als Spekulationsgeschäfte, Sondergeschäfte mit den Kirchen, 119 organisierte Geschäfte für Freikauf von politischen Häftlingen, 120 als Geschäfte mit Kunstgegenständen und Antiquitäten mit der Funktion als „Hehlerin“, und darüber hinaus vereinbarte die DDR als Friedensstaat Geschäfte mit Kriegsgerät und verkaufte Waffen vornehmlich an Entwicklungsländer sowie an Länder im aktuellen Kriegszustand (Iran und Irak). 121 Weiterhin tätigte sie Geschäfte mit der Beschaffung von embargobewehrter Waren, Geschäfte mit Versicherungs- oder Subventionsbetrug, illegale Warentransporte, Müllgeschäfte mit Westberlin. 122 Ab 30. Januar 1979 wurde ein Vertrag über die Beseitigung von Abfallstoffen aus der BRD geschlossen, 123 Inlandsexporte wurden durchgeführt durch Genex-Waren sowie Mitropa-Angebote und in Intershops, 124 die Privilegierten in der Abb. 5: Entwicklung der Kredite in Mio. VE der DDR von DDR wurden versorgt, z. B. die Bewohner der Politbürosiedlung 1949 bis 1976. Wandlitz und Reisekader 125. Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre wurde der innerdeutsche Überziehungskredit (Swing) 126 mehr als zu 95 Prozent von 900 Mio. Verrechnungseinheiten 127 im Jahr 1976 von der DDR in Anspruch genommen (Abb. Nr. 5). 128 Die Bemühungen von SchalckEbd., S. 118 ff. Ebd., S. 125 ff. und S. 221 ff. 121 Ebd., S. 254–255. 122 Ebd., S. 67 ff. 123 Ebd., S. 74 ff. 124 Ebd., S. 76 ff. 125 Ebd., S. 255. 126 „Der Swing hatte für die DDR faktisch den Charakter eines zinslosen Überziehungskredits, was die Bundesrepublik aus vornehmlich politischen Gründen duldete.“ Glossar in: Steiner, Die Planwirtschaft in der DDR, Ebd., S. 129. Def.: Swing (englisch Spielraum) ist eine Kreditlinie, die sich zwei Staaten im internationalen Handel für die Verrechnung von gegenseitigen Exportforderungen und Importverbindlichkeiten einräumen. 127 Die Verrechnungseinheit war eine künstliche Währung, von der es keine Münzen oder Scheine gab. Die Bank deutscher Länder (BdL) und auch die Deutsche Notenbank (DNB) richteten je ein Verrechnungskonto ein, über das sämtliche Finanztransaktionen abgewickelt wurden. 128 Abbildung unter https://www.bundesarchiv.de/DE/Content/Virtuelle-Ausstellungen/1975Der-Swing-Im-Innerdeutschen-Handel/1975-der-swing-im-innerdeutschen-handel.html (letzter 119 120
47 Golodkowski hingegen bei den Avancen Anfang der 1980er Jahre beim sogenannten „Züricher Modell“ und den Erfolgen bei den „Strauß-Krediten“ sind unstrittig. 129 Zum Ende der DDR verschwieg Schalck-Golodkowski, der u. a. mit Gerhard Schürer an der geheimen Politbürovorlage zur „Analyse der ökonomischen Lage der DDR mit Schlussfolgerungen“ 130 mitwirkte, die Valuta-Guthaben seiner „Kommerziellen Koordinierung“, die nicht im Papier berücksichtigt waren. 131 Hätte man diese Mittel gegengerechnet, wäre Ende 1989 eine Schuldensumme von 19,9 anstatt von 49,6 Milliarden Valuta-Mark ausgewiesen worden. 132 Gerhard Schürer korrigierte 1990 selbst seine Analyse vom Oktober 1989: „Die Auslandsverschuldung der DDR war mit 20,3 Milliarden DM um mehr als die Hälfte niedriger, als wir im Oktober 1989 ausgewiesen haben.“ 133 Schürer entschuldigte sich damit, dass er von den Guthaben der KoKo keine Ahnung gehabt habe. Schalck-Golodkowski berief sich darauf, dass er entsprechend den Parteibeschlüssen geschwiegen habe. 134 Das führte zu einer schonungslosen Bilanz der DDR, die zum einen das Ansehen erheblich beschädigte 135 und somit schlechte Voraussetzungen für die deutsch-deutschen Verhandlungen schaffte. Am 3. Dezember flüchtet Golodkowski nach Westberlin, führte wochenlang Gespräche beim Bundesnachrichtendienst (BND), um sein Wissen über „Wirtschaft, Finanzen, Politik, seiner Tätigkeit als Unterhändler und dem Komplex der Spionage“ preiszugeben. 136 Der Außenhandelsminister der DDR (1986–1990), Gerhard Beil, und der Finanzminister Siegert teilten dem Vorsitzenden des Ministerrates Hans Modrow in einem Schreiben am 28. Februar 1990 mit, dass die Liquidierung des Bereiches Kommerzielle Koordinierung voranschreitet. Dabei empfahlen sie, einen Unternehmensverband als Berliner Handelsund Finanzierungsgesellschaft mbH (BHFG) zu gründen. Diese sollte die Verantwortung tragen und „die Potenzen der einzelnen Unternehmen maximal für die Volkswirtschaft wirksam machen“. Die Konzeption sah in der Anlage u. a., die „Absicherung von Handelsund Finanztransaktionen der Unternehmen Intrac Handelsgesellschaft mbH, Forum Handelsgesellschaft mbH und der Berliner Import-Export GmbH“. Zur Gründung der BHFG wurden 300 Mio. Valuta-Mark für Eigenkapital benötigt. Dieser Betrag wurde von dem Zugriff 21.10.2020). Quelle: BArch B 288/426. 129 Judt, KoKo – Mythos und Realität, Ebd., S. 158 ff. 130 Die „Geheime Verschlusssache b5 – 1158/89“ unter https://www.chronik-der-mauer.de/system/files/dokument_pdf/58553_cdm-891030-analyse-oekonomische-lage.pdf (letzter Zugriff 21.10.2020). 131 Vom Generalsekretär des ZK der SED, Egon Krenz, in Auftrag gegeben und in der Politbürositzung vom 30. Oktober 1989 vorgelegt. 132 https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/total-verschuldet (letzter Zugriff 21.10.2020). 133 https://www.mdr.de/zeitreise/war-die-ddr-pleite100.html (letzter Zugriff 21.10.2020). 134 Frank Schumann/Heinz Wuschech, Schalck-Golodkowski: Der Mann, der die DDR retten wollte, Berlin 2012, S. 70–71, (i. F. z. a. Schumann/Wuschech, Schalck-Golodkowski). 135 https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/die-krisenanalyse-des-ddr-chefplaners417988 (letzter Zugriff 21.10.2020). 136 Schumann/Wuschech, Schalck-Golodkowski, Ebd., S. 165 ff.
48 Teil der KoKo-Valutamittel abgezogen, der eigentlich dem Staatshaushalt zugeführt werden sollte. Die beiden Akteure schätzten den kommenden Umsatz des Unternehmensverbandes auf 5 bis 6 Mrd. Valuta-Mark pro Jahr. Hans Modrow stimmte dieser angefragten Konzeption und Gründung zu. 137 Die Gründung erfolgte am 29. März 1990, nach der Volkskammerwahl vom 18. März und bevor die neue Regierung ab 12. April die Amtsgeschäfte aufnahm. 138 Der Vorlauf dazu wurde von der Vorgängerin Ministerin Uta Nickel zusammen mit Gerhard Beil durch ihren Erlass einer gemeinsamen Anweisung eingeleitet, mit der Beauftragung von Karl-Heinz Gerstenberger als kommissarischen Leiter des Bereichs Kommerzielle Koordinierung, der die Einordnung des KoKo-Bereichs in die Volks- und Finanzwirtschaft der DDR vornehmen sollte. 139 Im Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses heißt es im Jahr 1994: […] „Dr. Modrow und die insoweit zuständigen Minister Dr. Beil und Siegert hatten aufgrund ihrer MfSErfahrungen das Prinzip der Konspiration so verinnerlicht, daß sie es auch für die Tätigkeit der BHFG anwandten. […] Sie entwickelte sich sehr schnell zu einer Versorgungsanstalt für abgehalfterte SED-Genossen. Da diese Genossen sich nunmehr auch als ‚das Volk‘ fühlten, versuchten sie in der Folgezeit konsequent die ‚Privatisierung‘ von ‚Volkseigentum‘ zu ihren Gunsten. Folgerichtig bezeichnete die Staatsanwaltschaft bei dem Kammergericht Berlin die BHFG ‚als quasi Nachfolgeorganisation des Bereichs Kommerzielle Koordinierung der Regierung Modrow aufgrund eines Vorschlages von Personen, die auch in der Vergangenheit enge Verbindungen in den ‚Strukturen‘ in der DDR hielten. Insbesondere Dr. Modrow und Dr. Beil tragen auch die Verantwortung dafür, daß infolge der nicht unterbundenen Aktenvernichtung die Aufklärungsarbeit über die Geschäftsabläufe im Bereich Kommerzielle Koordinierung und die Ermittlungsmöglichkeiten der Staatsanwaltschaften in erheblichem Umfang erschwert worden sind.“ 140 Siegert wurde erst nach dem Rücktritt Nickels mit der Abwicklung und Auflösung der „KoKo“ als Finanzminister konfrontiert. Die Anfrage von Beil und Siegert bezüglich der Gründung der BHFG bei Modrow war insoweit richtig. Tatsache ist, dass die Einarbeitungszeit für die konfliktgeladene Thematik sehr kurz war. Das Dokument „Anschreiben zur Gründung der Berliner Handels- und Finanzierungsgesellschaft mbH (BHFG)“, (4 Seiten plus 2 Seiten Anlage/Datum 28.2.1990), befindet sich in Siegerts Archiv. Eine Kopie liegt Dürkop vor. Auch im Bundesarchiv DN1/38923 einsehbar. 138 Ausführlich dazu in der Drucksache 12/7600, Deutscher Bundestag 12. Wahlperiode, 1. Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses nach Artikel 44 des GGs 27. Mai 1994, S. 388 ff. Aufrufbar unter http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/12/076/1207600.pdf sowie aufrufbar unter http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/12/039/1203920.pdf (letzter Zugriff 21.10.2020). 139 Drucksache 12/7600 Deutscher Bundestag, Ebd., S. 369. 140 Drucksache 12/7600 Deutscher Bundestag, Ebd., S. 508. Auf Antrag der Mitglieder der CDU/CSU- und der FDP-Fraktion im 1. Untersuchungsausschuss Kommerzielle Koordinierung vom 12.05.1993 fand die Zeugenvernehmung von Walter Siegert, ehemaliger amtierender Minister der Finanzen und Preise der Regierung Modrow statt. Diese Divergenz war nicht Gesprächsgegenstand zwischen Dürkop und Siegert. 137
49 Im Nachhinein bewertet hätten die beiden Akteure allerdings, aus reiner Vorsichtsmaßnahme, vorbeugen können, vielleicht sogar müssen. Insbesondere hätten die Gefahren einer möglichen Bevorteilung „mit auffällig günstigen Konditionen“ durch ehemalige Gesellschafter/Mitarbeiter aus dem ehemaligen Schalck-Imperium mit einer objektiven Überprüfungsinstanz abgesichert werden müssen. Ferner wäre die in Gründung befindliche Treuhandanstalt – auch zu einem späteren Zeitpunkt – über diese Firmen-Transaktionen in Kenntnis zu setzen gewesen. Die 300 Millionen Valutamark hätten verbindlich im Verwendungszweck bestimmt und deren Einsetzung überprüft werden müssen. 141 Faktum ist, dass es sich um eine ausgearbeitete Konzeption bzw. Empfehlung von Beil und Siegert handelte und nicht um einen verbindlichen Beschluss. Eindeutig entlastend wirkte nunmehr die Tatsache, dass am 15. März der DDR-Ministerrat von der Konzeption abwich, weil „die Bildung eines Unternehmensverbandes zur optimalen Erwirtschaftung von Devisen in dem Beschluss keine Erwähnung mehr fand.“ 142 Die Akteure wurden nunmehr rehabilitiert. Im Nachherein verfolgte Siegert keine Details über die weitere Abwicklung der KoKo und des Gründungsprozesses der BHFG. Seine Amtszeit endete faktisch mit der Volkskammerwahl. Sein Nachfolger wurde Walter Romberg. In seinem Fazit stellte Matthias Judt fest, „[…], dass die KoKo der DDR letzten Endes eher Schaden zugefügt hat. Weniger im Vollzug moralisch fragwürdiger Geschäfte, als wegen der generellen Ausrichtung ihrer Geschäftspolitik und den damit verbundenen langfristig wirkenden Entscheidungen“. 143 Abschließend wurden Ermittlungsverfahren geführt und ein Untersuchungsausschuss gegen Schalck-Golodkowski eingerichtet, wobei die Anklagepunkte teilweise eingestellt wurden. Die Justiz verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe zur Bewährung. 144
4. Modrow-Delegation in Bonn: Forderung von 15 Milliarden DM „Solidarbeitrag“ (13./14. Februar 1990): Nachdem der DDR-Ministerpräsident Hans Modrow am
30. Januar 1990 zu Gesprächen bei Gorbatschow gewesen war, verkündet er nach seiner Rückkehr aus Moskau seine deutschlandpolitische Konzeption „Für Deutschland, einig Vaterland“, wobei er vorgab: „[…] Eine endgültige Lösung der deutschen Frage kann nur
Drucksache 12/7600 Deutscher Bundestag, Ebd., S. 389: „Das Stammkapital der Gesellschaft betrug laut Handelsregisterauszug 300 Mio. Mark der DDR. Nach dem entsprechenden Buchungsbeleg der Deutschen Handelsbank AG vom 30. März 1990 wurden durch das Ministerium für Außenhandel allerdings 300 Mio. DM zugunsten der BHFG überwiesen. Was der Hintergrund dafür war, daß das Stammkapital in Mark der DDR benannt, zum anderen der Überweisungsbetrag in DM ausgewiesen war, konnte nicht geklärt werden (Dokument-Nr. 758).“ Siehe dazu auch die Titelgeschichte: Der Spiegel, 6.5.1991, Ausgabe 19/1991, S. 36–56, Der macht keinen Fehler. Siehe https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13487421.html (letzter Zugriff 2.11.2020). 142 Drucksache 12/7600 Deutscher Bundestag, Ebd., S. 389. 143 Judt, KoKo – Mythos und Realität, Ebd., S. 269. 144 Drucksache 12/7600, Deutscher Bundestag 12. Wahlperiode. 141
50 in freier Selbstbestimmung der Deutschen in beiden Staaten erreicht werden. […]“. 145 Am 5. Februar nahm er acht Personen vom Zentralen Runden Tisch (ZRT) mit in die neue „Regierung der nationalen Verantwortung“ auf und ernannte diese zu Minister ohne Geschäftsbereich. Nachdem bereits im Dezember 1989 Kohl in Dresden gegenüber Modrow finanzielle Bereitschaft signalisiert hatte, erarbeiteten die Genossen ein Finanzierungskonzept, um die DDR zu stabilisieren. Anfang 1990 verkündete die Finanzministerin Uta Nickel, dass die DDR-Staatskasse 1989 voraussichtlich mit einem Minussaldo von fünf bis sechs Milliarden Mark der DDR abschließt. Gründe seien Gewinnausfälle in 70 Kombinaten, verletzte Pflichten von Betrieben, ihre Gewinne an den Staat abzuführen, und Kredite zu tilgen. Außerdem wurde eine zu geringe Selbstkostensenkung durchgeführt. 146 Nickel nahm sich daraufhin vor, eine sorgfältige und unvoreingenommene Prüfung der Subventions- und Preispolitik einzuleiten. 147 In der Zeit vom 13. bis 14. Februar reiste Modrow mit seiner Delegation nach Bonn, um von der Bundesregierung, insbesondere von Kohl und Waigel, einen Solidarbeitrag von 15 Milliarden DM einzufordern. Diese Mission endet allerdings in einem Fiasko. Modrow wollte keine Schenkung, sondern einen Kredit erwirken, wie er im späteren Gespräch aufzeigte: „Die Antwort auf Ihre Fragen könnte nicht befriedigend sein, weil es keine Daten dafür gibt: Der ganze Vorgang ist ein Prozess, der auf das Treffen in Dresden ausgerichtet war. Es ging nicht um eine Schenkung, sondern um eine politische Aufforderung. Der Osten hat alle Leistungen für die Lasten getragen die in Potsdam für die Kriegsschuld und die Verbrechen des faschistischen Deutschlands gegenüber der Sowjetunion beschlossen wurden. Daher auch der Begriff des ‚Lastenausgleichs‘ für unsere Forderung. Die Summe hätte eigentlich viel größer sein müssen, meinte Prof. Arno Peters aus Bremen 148, als wir uns am 14. Februar 1990 in Bonn getroffen haben. Seine Rechnung mit Zins und Zinseszinsrechnung lag bei über 600 Milliarden D-Mark, die von der SBZ (Sowjetische Besatzungszone) und der DDR getragen wurde. Hinter der Ablehnung Kohls stand genau dieser Vorgang. Der Westen hatte die Hilfe der USA und der Osten die Verantwortung für die Lasten gegenüber der Sowjetunion. Es war eigentlich eine politische Frage, die sich in unserer Forderung widerspiegelte. Dagegen stellte sich Kohl.“ 149 Von allen Seiten wurde über eine mögliche Verwendung dieser fiktiven Milliarden spekuliert: Der Wahltermin am 18. März zur ersten freien Volkskammerwahl rückte näher. Die Parteien Dürkop/Gehler, In Verantwortung, Ebd., S. 544–547. Neue Zeit, 3.1.1990, Jahrgang 46, Ausgabe 2, Seite 1. Siehe http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/ddr-presse/ergebnisanzeige/?purl=SNP2532889X-19900103-0-2-37-0&highlight=Uta%20Nickel%7C1990 (letzter Zugriff 19.10.2020). 147 Wilhelm Hüls, Neue Zeit, 16.1.1990, Jahrgang 46, Ausgabe 13, Seite 1. Siehe http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/ddr-presse/ergebnisanzeige/?purl=SNP2612273X-19900116-0-1-13-0&highlight=Uta%20Nickel%7C1990 (letzter Zugriff 19.10.2020). 148 Arno Peters wurde am 22.5.1916 in Charlottenburg geboren und verstarb am 2.12.2002 in Bremen. 149 E-Mail von Hans Modrow an Dürkop am 14.10.2020. 145 146
51 befanden sich bereits im Wahlkampf. In den Umfragen lagen die Sozialdemokraten vorn. 150 Interessant ist die Schilderung von Rainer Eppelmann, zu diesem Zeitpunkt Minister ohne Geschäftsbereich sowie Gründungs- und Vorstandsmitglied des Demokratischen Aufbruchs (DA), der in Bonn mit dabei war: „Modrow wäre sehr gerne mit einer Zusage von Kohl zurück nach Berlin gekommen: Er und seine Partei hätten sich dafür feiern lassen! Dann führte ich ein langes Gespräch mit Frau Rita Süssmuth und dem damaligen Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses im Deutschen Bundestag. […] Ich ermutigte beide, sie sollten möglichst viel Geld geben und fragte dann: ‚Was meinen Sie, was Hans Modrow morgen in Berlin für eine Pressekonferenz hält, wenn er von Ihnen mit fünf oder zehn Milliarden D-Mark in die DDR zurückkommt? Damit haben Sie die ersten freien Wahlen in der DDR und den Sieg der ‚SED-PDS‘ finanziert! Er wird das als seinen Erfolg verkaufen; ist doch klar, dann gäbe es doch gar keinen Grund, ihn nicht zu wählen. Da wurden Sie blass. Kohl gab nichts! […] Aus dem genannten Grund war mir nur wichtig, dass das SED-PDS-Mitglied Hans Modrow nicht mit dem Triumph nach Hause kommt, ab sofort gäbe es bei uns jeden Tag Bananen, so viel alle wollten, und er hätte das in Bonn errungen und erkämpft. Dann wäre das Wahlergebnis für die PDS am 18. März 1990 wohl ganz anders ausgegangen.“ 151 Der damalige Minister für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft, Hans Watzek, und Mitglied der Demokratischen Bauernpartei Deutschlands (DBD) war auch mit in Bonn. Er sah in dieser Ablehnung eine Strategie von Kohl und Waigel, um schnellstmöglich „zum Ende zu kommen“: „Natürlich wollte man nicht die DDR kaputt gehen lassen, aber der Weg zur deutschen Einheit sollte nicht verlängert werden. Mit der Ablehnung der 15 Milliarden ‚Solihilfe‘ wurde die DDR-Regierung unter Druck gesetzt, den von der Kohl-Regierung konzipierten schnellen Weg zur deutschen Einheit zu akzeptieren.“ 152 Die Kreditzusage für diese gedachten Milliarden, so Modrow, war bereits fest eingeplant, um „den Reformstau aufzulösen, die Wirtschaft umzustrukturieren und das gesellschaftliche Leben neu zu organisieren“. 153 Siegert, der nicht mit in die Bundesrepublik gereist war, sprach von einem „Hebel der Unterwerfung“. 154 Innerhalb von Wochen kippte – zu Lasten der DDR – die Stimmung in Bonn. Für Siegert stand fest, dass Kohl „keinen Crash der DDR herbeiführen wollte“. 155 Unsummen kosteten die Einrichtung zusätzlicher Grenzübergangsstellen und die preisgestützten Leistungen, um diese auch Westberlinern und Westdeutschen zu ermöglichen. Die Forderungen nach einem Solidarbeitrag waren somit für Siegert mehr als gerechtfertigt. Sein nüchternes Resümee: „[…] Das politische Konzept Bonns war inzwischen verändert, Stärke zeigen und die Schritte vorgeben. So gingen Modrow und seine Anfang Februar lag die SPD bei Umfragen bei 54 Prozent, gefolgt von der PDS mit 12 Prozent und der CDU mit 11 Prozent. 151 Gehler/Dürkop, Deutsche Einigung, Ebd., im Gespräch mit Rainer Eppelmann. 152 Ebd., im Gespräch mit Hans Watzek. 153 Dürkop/Gehler, In Verantwortung, Ebd., S. 323. 154 Dürkop mit Siegert im Gespräch S. 282. 155 Ebd., S. 281. 150
52 Delegation mit prominenten Bürgerrechtlern leer aus. Die Botschaft: Kein Geld – also seht, wie Ihr zurechtkommt – wir bieten Euch eine Währungsunion an, die Verhandlungen könnten kurzfristig beginnen. […]“ 156 Die Bonner Reaktion fiel anders, als von den DDR-Gästen erhofft und erwartet, aus. In der Pressekonferenz am 14. Februar kündigte Kohl sogleich Gespräche an, um über die Währungsunion zwischen Bundesrepublik und DDR zu verhandeln. 157 Unzweifelhaft hätte ein Kredit nur wenige Wochen für die DDR ausgereicht. Der Finanzbedarf war tatsächlich um ein Vielfaches höher. Letztendlich waren der Spielraum und ein Forderungsrahmen für die DDR, um kurzfristig an Liquidität zu gelangen, durch die Öffnung der Grenze, was immer bei Verhandlungen als ein Faustpfand in der Waagschale galt, seit dem Weltereignis vom 9. November 1989 weggefallen. Die ostdeutschen Bittsteller mit ihrem Forderungspaket wurden – für jedermann sicht- und nachvollziehbar – in Bonn demaskiert, abgelehnt und mit leeren Händen nach Hause geschickt. Inwiefern Kohl im Vorfeld bei mündlichen Gesprächen finanzielle Unterstützungen den Funktionären versprochen bzw. sogar zugesagt hatte, wie es bis heute vereinzelt beteuert wird, ist nicht verifizierbar.
5. Konzeptionsgeschichte, Gründung, Abwicklung und Bilanz der Treuhandanstalt: Die DDR-Treuhand wurde während der Modrow-Regierung installiert. Zum 1. März
1990 beschloss der Ministerrat der DDR die formale Gründung der Anstalt zur treuhänderischen Verwaltung des Volkseigentums. Der stellvertretende Ministerpräsident der DDR, Peter Moreth, wurde erster Vorsitzender des Direktoriums der Treuhandanstalt. 158 Nach Siegerts Aussagen war die Regierung-Modrow mit dem Versprechen einer „sozial und ökologisch orientierten Marktwirtschaft“ angetreten, dass das eigenverantwortliche Wirtschaften der volkseigenen Betriebe ermöglichen und die zentrale Planung auf eine direktive Orientierung reduzieren sollte. 159 Die Gründungsphase war turbulent. Verschiedene Varianten wurden von der RegierungModrow, vom Bundesfinanzministerium sowie vom Zentralen Runden Tisch erarbeitet, vorgestellt und diskutiert: Bereits ab November 1989 begann die von der SED/PDS-Regierung eingesetzte Arbeitsgruppe „Wirtschaftsreform“ einen Entwurf vorzubereiten, der u. a. Staatssekretär Wolfram Krause und Wirtschaftsministerin Christa Luft vorstanden. Das erarbeitete Reformkonzept wurde am 1. Februar 1990 vorgelegt.
Ebd., S. 283. Konzept Kohls zur Währungs- und Wirtschaftsunion unter https://www.helmut-kohlkas.de/index.php?msg=553 (letzter Zugriff 1.12.2020). 158 Die weiteren Präsidenten der Treuhandanstalt waren Reiner Maria Gohlke (15. Juli bis 20. August 1990), Detlef Karsten Rohwedder (1. September 1990 bis 1. April 1991) und Birgit Breuel (13. April 1991 bis 31. Dezember 1994). 159 Dürkop und Siegert im Gespräch S. 321. 156 157
53 Inhaltlich plädierten sie für langfristige wie graduelle Reformschritte zu einer „sozialistischen Markt-wirtschaft“ mit „Eigentumspluralismus“. 160 Ende Januar 1990 entwickelte das Bundesfinanzministerium eine Initiative für ein „Angebot“ zu einer sofortigen „Währungsunion“: Die D-Mark einzuführen, eine umfassende „Wirtschaftsreform“ und eine vollständige Übernahme des westdeutschen Wirtschaftsmodells waren vorgesehen. 161 Auch der Runde Tisch blieb nicht untätig: Vor Weihnachten wurde die „AG Wirtschaft“ eingerichtet. Einen Tag vor dem deutsch-deutschen Regierungstreffen in Bonn, am 12. Februar 1990, schlug Wolfgang Ullmann (1929–2004) 162 vor, die Selbstorganisationskräfte des Marktes in der DDR wirken zu lassen. Hierfür benötigte das bedrohte Volksvermögen dringend einen Schutzschirm. Die Einrichtung einer „Treuhandstelle“ sollte die „Sicherung der Rechte der DDR-Bevölkerung am Gesamtbesitz des Landes“ verschreiben. 163 Hintergrund für Ullmann war, dass das Volksvermögen aus zwei Richtungen bedroht sei: Zum einen durch alte SED-Kader, die sich zunehmend als neue „Manager“ oder Eigentümer generierten, und zum anderen durch „westliche Kapitalisten“, die sich bereits umfassend nach Spekulationsmöglichkeiten umsahen. 164 Diese Initiative führte zu einem Umdenken in der Modrow-Regierung, weil ihr vorgestellter Reformplan kaum realisierbar war. Deshalb schlug W. Krause der DDR-Regierung Ende Februar die Gründung einer Treuhandanstalt vor, was allerdings wiederum hinter den Erwartungen Ullmanns zurückblieb, weil die sofortige Ausgabe von Anteilsscheinen (Coupon-Privatisierung) 165 nicht vorgesehen war. Im Übrigen, mehr oder weniger erfolgreich, wurde diese Methode in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, wie Polen, Tschechoslowakei und Kroatien Vgl. Zielstellung, Grundrichtungen, Etappen und unmittelbare Maßnahmen der Wirtschaftsreform in weiterer Verwirklichung der Regierungserklärung vom 17.11.1989 (Entwurf). Vorschlag der Arbeitsgruppe Wirtschaftsreform beim Ministerrat der DDR vom 1.2.1990, in: Treuhandanstalt (Hrsg.), Dokumentation (Anm. 6), S. 7–14. 161 Theodor Waigel/Manfred Schell (Hrsg.), Tage, die Deutschland und die Welt veränderten. Vom Mauerfall zum Kaukasus. Die deutsche Währungsunion, 2. Auflage, München 1994, (i. F. z. a. Waigel/Schell, Tage, die Deutschland und die Welt veränderten). 162 Ullmann war Pfarrer in der DDR und gründete 1989 die Bürgerbewegung Demokratie Jetzt. Er war Mitglied des Runden Tisches. Vom Februar bis April 1990 war er Minister ohne Geschäftsbereich in der Regierung Modrow sowie danach Abgeordneter und einer der Vizepräsidenten der DDR-Volkskammer. In dieser Zeit arbeitete er vergeblich den nicht mehr beschlossenen Entwurf für eine neue DDR-Verfassung aus. 163 Der Runde Tisch, Wortprotokoll, 12. Sitzung, 12.2.1990, in: Uwe Thaysen (Hrsg.), Der Zentrale Runde Tisch der DDR. Wortprotokoll und Dokumente, Wiesbaden 2000, S. 709. 164 Vgl. dazu Wolfgang Seibel, Die Herstellung der Wirtschafts- und Währungsunion und die Errichtung der Treuhandanstalt, in: Andreas H.Apelt/Robert Grünbaum/Martin Gutzeit (Hrsg.), Der Weg zur Deutschen Einheit. Mythen und Legenden, Berlin 2010, S. 71–84. 165 Zur weiteren Vertiefung zum Konzept der Bezugsschein-Privatisierung in: Burkhard Wehner, Der lange Abschied vom Sozialismus. Grundriss einer neuen Wirtschafts- und Sozialordnung, Berlin 1990. 160
54 durchgeführt. Unter Mitarbeit von Stephan Supranowitz 166 wurde ein erster Entwurf 167 für die Treuhandanstalt vorgelegt. Der Beschluss sah vor, dass die Betriebe in Gesellschaften mit beschränkter Haftung (GmbH) oder Aktiengesellschaften (AG) umzuwandeln sind. Eigentümer ist die Treuhandanstalt, allerdings ohne Befugnisse zur Einflussnahme auf die Geschäftsführung der Unternehmen. Das Statut wurde am 15. März beschlossen. 168 In das erste Direktorium wurden neben Moreth (15. März 1990 bis 15. Juli 1990) auch Wolfram Krause als Stellvertretender Vorsitzender (15. März 1990 bis 15. Juli 1990), Paul Liehmann als Direktor (15. März 1990 bis 15. Juli 1990) und Siegfried Zeißig ebenfalls als Direktor (15. März 1990 bis 15. Juli 1990) berufen. 169 Nach dem (überraschenden) Sieg der Allianz für Deutschland bei den ersten und letzten freien Volkskammerwahlen wurden sämtliche Pläne einer sozialistischen „Wirtschaftsreform“ oder „Dritte Wege“ sinnlos. Ab April 1990 nahmen die ersten 77 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen ihre Tätigkeit im vormaligen DDR-Außenhandelsministerium auf. In 15 neu eingerichteten Außenstellen im gesamten Gebiet der DDR sollten ab sofort ca. 8500 DDR-Betriebe mit über vier Millionen Mitarbeitern zügig auf die neuen Rechtsformen umgestellt werden. Allerdings bremste eine erste Zwischenbilanz von Wolfram Krause am 23. Mai 1990 die Verkaufs-Euphorie erheblich – Punkt Nr. 3: „683 Unternehmen sind auch nach der Umstellung auf die DM ohne Fördermittel rentabel; 920 Unternehmen sind sanierungsfähig, werden aber vermutlich mit Verlust weiter arbeiten können und 597 Unternehmen sind konkursgefährdet.“ 170 Unter Punkt 2 wies W. Krause auch das Vermögen von Volkseigentum in Höhe von „914,5 Milliarden Mark der DDR“ aus, wobei er einschränkte, dass noch nicht alle Vermögenswerte erfasst worden wären. 171 Seine Einschätzung erwies sich als falsch. Insgesamt herrschte Uneinigkeit über das Volksver166 Supranowitz war an der Verhandlung der beiden Staatsverträge zwischen der DDR und der Bun-
desrepublik Deutschland beteiligt, zunächst unter Leitung von Walter Romberg. Ab August 1990 unter Günther Krause (CDU). Unter der Regierung von Lothar de Maizière gehörte er im Mai 1990 neben dessen Cousin Thomas de Maizière und Krause zur Arbeitsgruppe beim Amt des Ministerpräsidenten. Diese erarbeitete eine erste Gesetzesvorlage für eine Neufassung des „Gesetzes zur Privatisierung und Reorganisation des volkseigenen Vermögens“ (Treuhandgesetz). 167 Am 1. März 1990 beschließt der Ministerrat der Regierung Modrow die Gründung einer Anstalt zur treuhänderischen Verwaltung des Volkseigentums (Treuhandanstalt/THA). Gemeinsam mit dem Beschluss tritt eine Verordnung zur Umwandlung von volkseigenen Kombinaten, Betrieben und Einrichtungen in Kapitalgesellschaften in Kraft. Quelle: BArch, DC 20-I/3/2922. Siehe unter https://deutsche-einheit-1990.de/wp-content/uploads/DC_20_I_3_2922_0065.pdf (letzter Zugriff 23.10.2020). 168 Quelle: BArch, DC 20-I/3/2935. Siehe unter https://deutsche-einheit-1990.de/wp-content/uploads/DC_20_I_3_2935_0120.pdf (letzter Zugriff 23.10.2020). 169 Siehe unter http://deutsche-einheit-1990.de/ministerien/ministerium-fuer-wirtschaft/treuhandgesetz-und-treuhandanstalt/ (letzter Zugriff 23.10.2020). 170 Quelle: BArch, DA 1 / 17490. Siehe Beschlussprotokoll vom 25.5.1990 unter https://deutscheeinheit-1990.de/wp-content/uploads/BArch-DA_1_17490.pdf (letzter Zugriff 23.10.2020). 171 Ebd.
55 mögen der DDR: Der erste bundesdeutsche Treuhand-Vorstand, Detlev Karsten Rohwedder, nannte am 22. Oktober 1990 seine Vorstellung von 600 Milliarden D-Mark. In DMark gerechnet verdiente die Treuhand mit 66,6 Milliarden am Ende gerade mal ein Zehntel der Summe, die ursprünglich von Rohwedder geschätzt worden war. 172 Kurz vor seinem Tod prägte er in seinem Osterbrief 1991 an die Mitarbeiter der THA die Leitsätze, die die Arbeit bestimmen sollten: „Schnelle Privatisierung – entschlossene Sanierung – behutsame Stilllegung.“ 173 Hans Tietmeyer listete die illusionäre Vorstellung der eigenen Wirtschaftskraft und des eigenen Volksvermögens der DDR in einem Brief an Kohl auf (25. Oktober 1999): Im Statistischen Jahrbuch der DDR (1989) war die Rede von 1,74 Billionen DDR-Mark die Rede, Hans Modrow korrigierte diesen Wert zu Beginn des Jahres 1990 auf 1,60 Billionen DDR-Mark und Christa Luft korrigierte am 6. Juni 1990 auf 1 Billionen D-Mark. 174 Nach weiteren Bildungen von Arbeitsgruppen und Debatten kam es am 17. Juni 1990 zu einem Meilenstein der Treuhandgeschichte: In der Volkskammer wurde ein Treuhandgesetz verabschiedet. 175 Die Bewahrung des Volkseigentums wurde gekippt und es galt „die Wettbewerbsfähigkeit möglichst vieler Unternehmen herzustellen und somit Arbeitsplätze zu sichern und neue zu schaffen“. 176 Das Gesetz zur „Privatisierung und Reorganisation des volkseigenen Vermögens“ 177 trat zusammen mit der Währungs, Wirtschafts- und Sozialunion am 1. Juli 1990 in Kraft. Danach waren abermals Korrekturen bzw. Nachbesserungen erforderlich. Bis zum 2. Oktober 1990 erließ die Volkskammer fünf Durchführungsverordnungen (DVO), die unterschiedliche Aspekte der Arbeit der Treuhandanstalt regelten: 1. Struktur und Aufgaben der Treuhandaktiengesellschaften, 2. Privatisierung ausgesonderten Militärvermögens, 3. Volkseigenes Vermögen der Land- und Forstwirtschaft, 4. Vermögen und Liegenschaften des Ministeriums für Staatssicherheit und 5. Verordnung über die von Wirtschaftseinheiten genutzten Grundstücke. 178
Beiträge in: Schnell privatisieren, entschlossen sanieren, behutsam stilllegen. Ein Rückblick auf 13 Jahre Arbeit der Treuhandanstalt und der Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben, Berlin 2003, S. 98 ff. 173 Ebd., S. 78. 174 Joachim Algermissen, Hans Tietmeyer: Ein Leben für ein stabiles Deutschland und ein dynamisches Europa, Tübingen 2019, S. 292. 175 Siehe dazu: 10. Volkskammer der DDR, Drucksache 55b, https://deutsche-einheit-1990.de/wpcontent/uploads/VK-Drucksache-55b.pdf (letzter Zugriff 1.12.2020). 176 Vgl. dazu v.a. auch die parlamentarische Debatte: Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik, Stenographisches Protokoll, 10. Wahlperiode, 15. Tagung (Sondertagung), 17. Juni 1990, in: Treuhandanstalt (Hrsg.), Dokumentation (Anm. 6), S. 201–206, hier S. 202. 177 https://deutsche-einheit-1990.de/wp-content/uploads/Gesetzblatt_1990_I_33_02_Treuhandgesetz.pdf (letzter Zugriff 24.10.2020). 178 Treuhandgesetz und Treuhandanstalt in der Chronologie unter https://deutsche-einheit1990.de/ministerien/ministerium-fuer-wirtschaft/treuhandgesetz-und-treuhandanstalt/ (letzter Zugriff 26.10.2020). 172
56 Die Nachfolge-Behörde Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben (BvS) gehörte zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen und stellte im Jahr 2000 die operative Arbeit ein. Im Jahr 1998 bezifferte ein vom Bundestag eingesetzter Untersuchungsausschuss den entstandenen Schaden auf drei bis zehn Milliarden D-Mark. Demnach sollte es Bilanzfälschungen, Korruption und Unterwertverkäufe, Preisabsprachen und Handel mit Insiderwissen gegeben haben. 179 Es gab bereits zwei Treuhand-Untersuchungsausschüsse im Bund und weitere in den Ländern. 180 Bis heute spaltet die Diskussion über Erfolg und Misserfolg der Treuhandanstalt die Gemüter in Ost- und Westdeutschland. In den Jahren 2020/2021 läuft die 30-Jahres-Schutzfrist für die Gründungs- und Entstehungsphase der Treuhandanstalt ab. Eine Benutzung bzw. eine Einsicht kann allerdings für viele Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse auch nach Ablauf der Schutzfirst bestehen bleiben. 181 Die verheerende Bilanz zum Ende der Treuhandanstalt sorgte nicht bei allen Beteiligten für Unmut. Birgit Breuel erinnerte jüngst daran, den Gesamtkontext zu sehen sowie korrekt einzuordnen: „Die 230 Milliarden D-Mark oder 115 Milliarden Euro Verlust, mit denen die Treuhand 1994 abgeschlossen hat, sind als Summe schließlich im Osten geblieben. Dazu kamen Investitionszusagen aus dem Westen in dreistelliger Milliardenhöhe, die auch dem Osten zugutekamen.“ 182 Mahnend hält Klaus Behling dagegen: „[…] Kaum jemand macht sich darüber Gedanken, dass die Treuhand Ost auch ein soziales Versuchslabor West war. Mit ihr kamen die längeren Arbeitszeiten, der Bruch der Tarifverträge und das Arbeiten ohne Entgelt oder zu Mini-Löhnen für Arbeitssuchende und junge Leute. Sie leitete den Abbau des deutschen Sozialstaates ein und etablierte das Prinzip, Gewinne zu privatisieren und Verluste zu sozialisieren. […]“ 183 Bis ins hohe Alter belasteten den Ökonom Siegert seine Erinnerungen an Fehldeutungen und Ungerechtigkeiten über die Treuhandabwicklung: […] Die erste Phase nach der Wende war der Versuch Modrows, die DDR in einen behutsamen Übergang vom Sozialismus zu einer sozialen Marktwirtschaft zu bringen. Dabei sollte das soziale Gefüge der DDR erhalten bleiben. […] Pardon, aber es war eine Art ‚Invasion von Experten und Beamten‘ aus dem Westen. Die ostdeutsche Elite wurde überall ausgegrenzt und entlassen. Gründe dafür waren rasch gefunden. […] Es gab weder politisch noch wirtschaftlich ein Interesse, alle ostdeutschen Betriebe zu erhalten, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Bericht vom 2. Untersuchungsausschuss Treuhand einsehbar unter https://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/12/084/1208404.pdf (letzter Zugriff 24.10.2020). 180 Kritische Auseinandersetzung mit der Treuhandanstalt u. a. in der Publikation der Schweizer Soziologin Yana Milev, Das Treuhand-Trauma: Die Spätfolgen der Übernahme, Berlin 2020. 181 Zugangsmöglichkeiten https://www.bundesarchiv.de/DE/Content/Pressemitteilungen/treuhand-projekt.html (letzter Zugriff 24.10.2020). 182 Die Welt, 21.7.2019, Westdeutsche hätten das nicht durchgehalten. Siehe https://www.welt.de/politik/deutschland/article197203557/Treuhand-Chefin-Breuel-Westdeutsche-haetten-das-nicht-durchgehalten.html (letzter Zugriff 24.10.2020). 183 Klaus Behling, Die Treuhand. Wie eine Behörde ein ganzes Land abschaffte, Berlin 2016, S. 467. 179
57 […] Die DDR war ein in Konkurs geratenes Land und mit einer Art Konkursverwaltung abgewickelt. […] Es war doch alles marode, keine brauchbare Technik, alles nur Schrott! Dieses Totschlagargument ist aber nur eine Teilwahrheit. […] Mit Verlaub, das ist keine üble Nachrede verärgerter Ossis!“ 184 Der letzte Präsident der BvS, Schroeder-Hohenwarth, zeichnet ein Bild des Erfolges: „THA und BvS sind deshalb bisher eine Erfolgsgeschichte vor allem der Akteure geblieben. Die Beobachter und die Betroffenen zu gewinnen, liegt immer noch vor uns.“ 185 Eine Aufarbeitung erscheint wichtiger denn je, allerdings sind die Interessen – nach über 30 Jahren – unterschiedlich gelagert, wie Marcus Böick in seinem Fazit zusammenfasst: „[…] Während sie gerade unter Ostdeutschen mittleren oder fortgeschritten Alters noch als die zentrale Referenz von entfremdender ‚Abwicklung‘ und rigorosem ‚Ausverkauf‘ nach dem Ende der DDR gilt […] ist sie unter jüngeren Personen beziehungsweise in Westdeutschland kaum noch bekannt. […].“ 186
6. Aufnahme-Antrag der DDR als 13. EWG-Mitgliedstaat (16. März 1990): Am 15.
August 1988 nahm die DDR offiziell diplomatische Beziehungen zu den damaligen Europäischen Gemeinschaften auf. Das waren drei Jahre, nachdem das Weißbuch für den Binnenmarkt von Jacques Delors vorlag. Es zeichnete sich ab, dass Gorbatschow zwischen COMECON 187 und der EWG 188 eine Normalisierung und demzufolge ein Kooperationsabkommen wünschte. In der Regierungszeit Modrow wurde das aufgegriffen. Der Rat der EG-Außenminister sprach sich anlässlich seiner Tagung vom 18. bis 19. Dezember 1989 grundsätzlich für den Abschluss eines Handels- und Kooperationsabkommens mit der DDR aus. 189 Am 17. Januar 1990 zeigte Delors Möglichkeiten einer engeren Kooperation in seiner Rede im Europäischen Parlament für den „Sonderfall DDR“ auf: Ein Assoziierungsabkommen oder ein Beitritt als selbstständiger Staat oder die Einbeziehung der DDR in die EG als Folge der Vereinigung Deutschlands. 190 Zwei Tage vor der Volkskammer-Wahl am 18. März stellte die DDR einen Antrag auf Vollmitgliedschaft, was vielmehr als „nur“ ein Handels- oder Assoziationsabkommen war. Offenbar wollte die DDR EGMitglied werden. Offiziell dann das 13. EG-Mitgliedsland, was in gewisser Weise auch mit
Dürkop und Siegert im Gespräch S. 324–325, S. 327. Vorwort von Hans Hinrich Schroeder-Hohenwarth in: Schnell privatisieren, entschlossen sanieren, behutsam stilllegen, Ebd., S. 19. 186 Marcus Böick, Die Treuhand 1990–1994: Idee – Praxis – Erfahrung, (Sonderausgabe), Bonn 2018, S. 723. 187 RWG (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe) bzw. (in englischer Sprache) Council for Mutual Economic Assistance (CMEA) oder Comecon. 188 Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) von 25.3.1957. Ab 1.11.1993 dann Europäische Gemeinschaft (EG). 189 Michael Gehler/Maximilian Graf (Hrsg.), Europa und die deutsche Einheit, Beobachtungen, Entscheidungen und Folgen, Göttingen 2017, S. 315, (i. F. z. a. Gehler/Graf, Europa und die deutsche Einheit). 190 Ebd., S. 317. 184 185
58 den übrigen EG-Elf abgestimmt sein musste, allerdings ohne die Bundesrepublik Deutschland. Wie die Reaktionen der übrigen EG-Partner auf dieses Antragsgesuch waren ist nicht bekannt. In Brüssel wirkte DDR-Botschafter Ingo Oeser, 191 der versuchte, sich der EG anzunähern. Die DDR war dort diplomatisch vertreten und unterhielt zu allen EG-Staaten diplomatische Beziehungen. Die Europäischen Gemeinschaften waren zu diesem Zeitpunkt noch kein Völkerrechtssubjekt, sie stellten aber ein gigantisches Projekt, wie den Binnenmarkt mit den vier Freiheiten (Dienstleistungen, Güter, Personen und Kapital), auf. Dieser Binnenmarkt war ein Konzept, das über einen Zollunions-Rahmen deutlich hinausging. Die DDR war bereits durch den innerdeutschen Handel fest mit einbezogen. Im November 1989 besuchte der EG-Kommissar für den Binnenmarkt, Martin Bangemann, Ostberlin, was in Absprache mit dem deutschen Außenminister Hans-Dietrich Genscher geschah. Es gab u. a. Begegnungen mit Krenz und Beil. Nach seiner Rückkehr empfahl er in Brüssel, die DDR unter den Bedingungen des Binnenmarktes näher an die EG heranzuführen. Egon Krenz, seit 18. Oktober 1989 Nachfolger Honeckers und neuer Generalsekretär des ZK der SED, hat keine besonderen Erinnerungen an diese Begegnung: „Was den Antrag betrifft, dazu kann ich nichts sagen, weil ich zu dem Zeitpunkt bereits ohne jedes politische Amt war. […] Bangemann hatte selbst um das Gespräch gebeten. Man darf nicht verkennen: Solange es die DDR noch gab, waren die Repräsentanten der BRD, er war ja einer, auch wenn er EG-Kommissar war, an Gesprächen mit DDR-Funktionären interessiert. Manchmal haben sie sogar gesagt, sie bräuchten es für ihren Wahlkampf. Das Gespräch mit Bangemann hatte keine grundsätzliche Bedeutung. Ich kann mich nicht mehr an Einzelheiten erinnern.“ 192 Der verantwortliche Ministerpräsident der DDR, Hans Modrow, sah eine Notwendigkeit in der Botschaftseröffnung in Brüssel: „Für die BRD nahm die DDR mit 1,5 % ihres Außenhandels Platz 15 ein. Für die DDR war die BRD nach der Sowjetunion der zweitstärkste Handelspartner. Die Entscheidung vom 15. August 1988 zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der Europäischen Gemeinschaft sollte die Souveränität der DDR stärken und Zeichen für die Zweistaatlichkeit setzen.“ Über die konkreten Abläufe und Beweggründe bzw. Motive für die Antragsstellung der DDR während seiner Amtszeit kann sich Modrow allerdings nicht erinnern und keine befriedigende Aussage abliefern: „Hier muss ich weitgehend passen, weil das zu spezielle Fragen sind, die in dieser Phase, als ich Regierungschef war, nicht mehr am Kabinettstisch behandelt wurden. Ich will nicht ausschließen, dass es in Brüssel solche Kontakte gab, aber an einen offiziellen Antrag der DDR zur Aufnahme in die EG – und das kurz vor den Volkskammerwahlen 1990 – kann ich mich nicht erinnern. Ich halte das auch für unlogisch. Anfang Februar erklärte ich ‚Deutschland, einig Vaterland‘ – und danach stellen wir Ingo Oeser wurde am 1. April 1930 in Hamburg geboren und verstarb im Jahr 1998 in Berlin. U. a. war er ab 15. August 1988 der erste und letzte Botschafter der DDR bei der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft in Brüssel bis zur Schließung der Botschaft im Jahr 1990. 192 Dürkop/Gehler, In Verantwortung, Ebd., S. 209–210. 191
59 einen Antrag auf Mitgliedschaft in der EG? Das ist doch absurd. Ich bezweifle, dass es ein solches Ansinnen unter Honecker gab. Eine Doppelmitgliedschaft im RGW und in der EG war aus verschiedenen Gründen ausgeschlossen. Einen Austritt aus dem RGW hat die DDR nie erwogen.“ 193 Das es offenbar einen Trend gab, das Projekt auszuloten, zu testen und möglicherweise über diesen Weg den Erhalt der DDR zu prolongieren (nicht zu garantieren) hält Modrow für Spekulationen, allerdings aber auch für denkbar, dass „Bangemann als EU-Kommissar für Binnenmarkt sich darum bemühte, die DDR über das Vehikel Bundesrepublik stärker zu protegieren [...].“ Modrows unterstellte nicht, dass Bangemann „eine Strategie verfolgte, die auf das Herausbrechen der DDR aus dem östlichen Bündnis inklusive Markt abzielte.“ 194 Anfang August 1990, nach der Einführung der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion (WWS), beauftragte der letzte DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière seinen Staatssekretär Siegert, zur EG-Kommission nach Brüssel zu reisen. Sein Auftrag lautete: „Möglichkeiten der Vergünstigungen im Sinne einer Sonderwirtschaftszone für Ostdeutschland bei den zuständigen EG-Beamten zu erkunden.“ 195 Am 15. August bekam er von den Bürokraten vor Ort eine Absage: „Alles freundlich, langatmig, belehrend aber überhaupt nicht sach- oder gar ergebnisorientiert. Bis zu dem zuständigen Kommissionsmitglied kamen wir gar nicht! Kurzum: mit freundlichen Reden waren wir abgeblitzt.“ 196 Die Gründe sind für Siegert nachvollziehbar: „Die Rechte einer wie auch immer gearteten Sonderwirtschaftszone hätten doch (vielleicht) nicht bloß Ostdeutschland genützt, sondern die ohnehin überlegene deutsche Wirtschaft privilegiert. Das war sicher der Hintergrund dieser Absage. Da gab es klare Order. Herr Delors konnte seinen guten Freund Mitterrand nicht enttäuschen.“ 197 Der Hildesheimer Historiker Michael Gehler erinnert an die Bremse Frankreichs, was durch die Änderung des Status quo in Europa die Gefahr des eigenen Machtverlustes in sich barg, was im Übrigen auch London teilte: „[…] Ein geteiltes Deutschland war für die ‚classe politique‘ in Paris immer besser als ein geeintes. […]. 198 François Mitterrand handelte und traf sich u. a. mit Hans Modrow zu Gesprächen am 21. und 22. Dezember 1989 in der DDR. Frankreichs Präsident stellte ernstzunehmende Überlegungen an, um die DDR als 13. EG-Mitgliedland zu gewinnen. 199 Gegen einen Beitritt der DDR sprachen sich Ebd., S. 330. Ebd., S. 331. 195 Dürkop und Siegert im Gespräch S. 260. 196 Ebd., S. 261. 197 Ebd., S. 262. 198 Michael Gehler, Europa: Ideen-Institutionen-Vereinigung-Zusammenhalt, 3. Auflage, Reinbek 2018, S. 364. 199 Detlef Nakath, Die DDR – heimliches Mitglied der Europäischen Gemeinschaft? Zur Entwicklung des innerdeutschen Handels vor dem Hintergrund der westeuropäischen Integration, in: Knipping/Schönwald (Hrsg.), Aufbruch zum Europa der zweiten Generation. Die europäische Einigung 193 194
60 der niederländische Außenminister Hans van den Broek und sein belgischer Amtskollege Mark Eyskens aus. Der französische Außenminister Roland Dumas und sein britischer Amtskollege Douglas Hurd sahen u. a. beträchtliche Kosten auf die EG zukommen. 200 In Bonn fand diese Option keine Zustimmung und wurde abgelehnt. 201 Erfolgreich agierte Lothar de Maizière, der eine „eigenständige Interessenvertretung der DDR gewährleistet sehen wollte“. 202 Am 8. Mai wurde zwischen der DDR und EG ein Handels- und Kooperationsabkommen abgeschlossen. 203 Vor der deutschen Einigung erreichte die letzte DDRRegierung Sonderkonditionen und der Staat wurde Empfänger von EG-Finanzhilfen, der Europäischen Investitionsbank (EIB) in Luxemburg. 204
1969–1984, S. 502, S. 451–473. 200 Gehler/Graf, Europa und die deutsche Einheit, Ebd., S. 317. 201 Ebd. 202 Ebd., S. 336. 203 Ebd., S. 337. 204 Ebd.
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III. Prägungen von Walter Siegert: Kindheit, Studium, Promotion und beruflicher Aufstieg (1929–1961) In diesem Kapitel wird auf den heranwachsenden Walter Siegert eingegangen, um die Forschungsfrage, nach dem „wer und/oder was?“ ihn prägte, zu beantworten.
1. Elternhaus, Kriegszeit und Schul- und Berufsausbildung (1929–1947): Nach
dem Ende des Kaiserreichs (1918/19), mitten in die Zeit der Weimarer Republik (1919– 1933) und vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten (1933) wurde Walter Siegert am 18. Mai 1929 geboren. Die Weltwirtschaftskrise stand Pate an seiner Wiege. Der Vater Rudolf Siegert war kaufmännischer Buchhalter sowie Einzelhändler. Die Mutter Elise Siegert arbeitete als Kontoristin. Die Weltansicht seiner Eltern wurde durch den Ersten Weltkrieg und der Weimarer Zeit bestimmt und im Grunde genommen waren sie unpolitisch orientiert. Ihr einziges Kind wuchs mit ihnen zusammen in kleinbürgerlichen Verhältnissen im sächsischen Siegmar bei Chemnitz auf. Als dort der größte Maschinenbaubetrieb in Sachsen, Richard Hartmann, pleiteging, übernahm sein arbeitslos gewordener Vater in Erfenschlag, einem Arbeiter-Vorort von Chemnitz, ein kleines Lebensmittelgeschäft und baute für die Familie eine selbstständige Existenz auf. Dieser Laden war in seinem ganzen Tief- und Hochgang ständiger Begleiter für Walters Kindheit und Jugend, die ihn frühzeitig für sein späteres Leben prägte. Dieser kleine Kosmos vom Warenverkehr sowie der Umgang mit Geld, Kunden und Lieferanten faszinierten den jungen Walter sehr. Daraufhin entwickelte sich der Wunsch des Vaters, dass sein Sohn später Kaufmann werde sollte, so wie er eben selbst. Mit Rücksicht auf das Geschäft, wie sein Vater erzählte, wurde dieser nach 1933 Mitglied der NSDAP. Siegerts Bildung begann im Jahre 1935 mit der Einschulung in die Volksschule in Erfenschlag, die er bis 1941 besuchte. In der Zeit von 1939 bis 1945, im Alter von zehn Jahren, wurde er Mitglied und Kassenverwalter im Deutschen Jungvolk (DJ). Im Jahr 1941 besuchte er die Wirtschaftsoberschule, eine Bildungsstätte, die fast ausschließlich von Fabrikantenkindern besucht wurde. In einer Beurteilung von 1943 ist zu entnehmen: „S. ist willig und kameradschaftlich. Seine Führung ist einwandfrei“, sowie von Ostern 1944: „S. ist willig und kameradschaftlich, aber etwas sehr ruhig und zurückhaltend. Wenn er aufmerksamer wäre, könnte er bessere Leistungen erzielen. […] Seine Führung ist einwandfrei.“ 1 Diese Schule absolvierte er bis Februar 1945, als plötzlich der Krieg in voller Härte in Chemnitz und Erfenschlag einschlug. Die schweren Bombenangriffe zerstörten fast alles. Die Jungs wurden zum Räumen der Trümmer und zum Bergen der Toten eingesetzt. Allein 80 Tote beklagte Erfenschlag. Erschwert kam hinzu, dass Walter im März einen Einberufungsbefehl für die Armee erhielt, womit er im Alter von fast 16 Jahren zum Dienst an der Waffe gezwungen wurde. Er musste in einer Art Volkssturm, westlich von Chemnitz, in den Schützengraben ziehen. Was erlebte Unmenschlichkeit mit einem Heran1
Dokument ist im Archiv Siegerts. Kopie im Bestand von Dürkop.
62 wachsenden machte, ist im Heutigen schwer vorstellbar. Über diese schlimmen Erlebnisse zu sprechen, berührte und emotionalisierte Siegert ein Leben lang. Gott sei Dank standen bereits die amerikanischen Soldaten an der sächsischen Grenze. Er hatte sozusagen Glück. Ende April wurde er aus der Armee entlassen und ging zu Fuß nach Hause. Am 2. Mai fuhren die ersten sowjetischen Panzer in seinem Dorf auf. Erleichterung war überall zu spüren. Wie sollte es nun für ihn zukünftig weitergehen? In seinem Dorf wurde eine Bauhütte neu gegründet. Die Schulen waren noch geschlossen. So ging Siegert als Bauhilfsarbeiter in diese Bauhütte und baute Scheunen für die bevorstehende Sommerernte mit auf. Das war für ihn eine sehr interessante Erfahrung. Als im November 1945 wieder die Wirtschaftsoberschule öffnete, hatte Siegert dazu eigentlich keine Lust mehr, weil er lieber auf dem Bau arbeiten wollte. Sein Vater, der im Ersten Weltkrieg als Leib-Grenadier im Regiment Nr. 100 bei Friedrich August III., dem letzten König von Sachsen, diente, was häufig sein Sohn in der Erziehung zu spüren bekam, bestimmte weiterhin den beruflichen Lebens- und Schicksalsweg. In seiner Gesamthaltung war der Vater ewig der Leib-Grenadier. 2 Im Jahr 1946 kam Rudolf Siegert vor die örtliche Entnazifizierungskommission und wurde als „nicht schuldig“ eingeschätzt, im Beisein seines Sohnes. Im Jahr 1947 absolvierte er die Schule zu Ende und schloss mit dem Abschluss und der Berechtigung zum Hochschulstudium erfolgreich ab. Die damaligen Lehrer vermittelten ihm ein neues und gutbürgerliches Weltbild. Der jugendliche Siegert ging mit der Zeit, nahm sich vor, verantwortungsbewusst zu leben und demzufolge sich so zu verhalten, wie es ihm im Elternhaus vermittelt und anerzogen worden war – durch „Zielstrebigkeit und Disziplin“. 3 Infolgedessen strebte er eine berufliche Entwicklung nach bestem Wissen und Gewissen an. Nach dem Ende des Krieges entfaltete sich ein patriotischer Zeitgeist im Osten Deutschlands: nie wieder mit einer Waffe in der Hand! Diese Denkart verinnerlichte auch Walter Siegert für sich. Er war kein gläubiger Mensch, mehr Atheist, aber hatte immer „Respekt“ vor Andersdenkende. 4 Im Sommer 1947 wechselte Siegert in eine Steuerberaterkanzlei in Chemnitz, um dort als Lehrling die sogenannte Wirtschaftstreuhänder-Ausbildung zu absolvieren.
2. Inhaftierung: Verdacht einer konterrevolutionären Tätigkeit (1948): Für
Siegert sowie für viele seiner Generation, war es politisch nicht ganz einfach, einen neuen Weg nach dem Krieg zu finden. Zusammen mit Kameraden aus der Abiturklasse entstand die Idee, sich regelmäßig zum Gedankenaustausch zu treffen. Dazu gründeten sie den „Oase-Club“, eine Gruppe von 15 Leuten. Sie gaben sich ein eigenes Statut, organisierten Vorträge und diskutierten in alle Denkrichtungen untereinander, was im Jahr 1947 allerdings absolut „verdächtig und gefährlich“ war. Ein gemeinsamer Ausflug der Gruppierung „Oase“ endete am 1. Mai des Jahres 1948, dem „Kampftag der Werk-
Dürkop und Ilse Siegert im Gespräch am 5.8.2020 in Berlin. Ebd. 4 Ebd. 2 3
63 tätigen“, ganz abrupt. Sie wurden unterwegs von sowjetischen Militärpolizisten, wie sich später herausstellten sollte, verhaftet. Plötzlich saßen sie in Untersuchungshaft im Chemnitzer Polizeipräsidium, was für alle Beteiligten ein Schock war. Dort nutzte Siegert die Gelegenheit, über vieles darüber, was er bisher falsch gemacht bzw. unterlassen hatte, nachzudenken. Die Kameraden saßen in verschiedenen Zellen mit anderen „politischen“ Häftlingen, u. a. mit Leuten der SS (Schutzstaffel), die aus den Konzentrationslagern kamen, zusammen. Diese Gespräche waren für Siegert lehrreich. In den Verhören wurden sie zu ihren Aktivitäten befragt: „Was haben Sie gewollt?“ Es war allerdings nur ein harmloser Ausflug, unglaubwürdig für die Vernehmer, weil der Nazi-Untergrund immer noch aktiv war. Sie hatten Glück, weil sie nach drei Wochen wieder entlassen wurden. Es bestätigte sich nicht die Vermutung, dass sie zu der konterrevolutionären Gruppe „Weiße Rose“ aus Chemnitz gehörten. Der Anfangsverdacht auf eine konterrevolutionäre Tätigkeit wurde fallengelassen. Sie wurden diszipliniert und bekamen die Zurechtweisung, sich politisch „nicht abseits, sondern besser in der Gesellschaft zu orientieren“, beispielsweise in der Freien Deutsche Jugend (FDJ) oder in der Gesellschaft zum Studium der sowjetischen Kultur oder Kulturbund. 5
3. Revisor-Tätigkeiten, Mitgliedschaften im Jugendverband FDJ und der SED (1948–1952): Siegert kehrte danach in seinen Ausbildungsberuf zurück. Sein neuer
politischer Bildungsweg, wie man es ihm bei der Freilassung geraten hatte, führte Ende 1948 in die FDJ. Bei der nächsten Kreisdelegiertenkonferenz (1949) wurde er ein Teil des Kreisvorstands in Chemnitz und sogleich zum Chef dieser Kreisrevisionskommission gewählt. Hierdurch kam er mit seinem Ausbildungsberuf in eine Kollision. Es entstanden Reibereien, wobei er erkannte, dass Buchführung und Steuerberatung für Unternehmer nicht mehr seine größte Leidenschaft waren. Schließlich legte man ihm nahe, lieber Karriere in der volkseigenen Industrie zu machen. Daraufhin orientierte er sich beruflich mit dem Abschluss als Wirtschaftstreuhänder um und arbeitete fortan in der Vereinigung volkseigener Betriebe des Textilmaschinenbaus mit. Dort wurde er am 1. Oktober 1949 als Revisionsassistent eingestellt. Diese Unternehmen, damals meist Strumpf-Betriebe im Erzgebirge, hatten am Monatsende immer mehr Ausgaben als Einnahmen verbucht. Ein deutlicher Hinweis, dass Einnahmen unterschlagen wurden. Als Steuerexperte hatte Siegert den Auftrag, die Dinge einigermaßen hinzubiegen, damit die Betriebe einer Prüfung beim Finanzamt bestehen konnten. Dort lernte er viele verschieden Menschen kennen, auf die sich der junge Siegert einstellen musste, der vorher nur Buchführungsarbeiten und kleine Beratungstätigkeiten durchgeführt hatte. Es entstand also ein gespanntes Verhältnis, weil die Richtung bereits damals galt, bei Anleitungen vom Finanzamt, wo er gelegentlich zum Gespräch war, dazu Katja Kuhn, Wer mit der Sowjetunion verbunden ist, gehört zu den Siegern der Geschichte. Die Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft im Spannungsfeld von Moskau und Ostberlin, Dissertation 2002, aufrufbar https://madoc.bib.uni-mannheim.de/64/1/DSF.PDF (letzter Zugriff 1.12.2020).
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64 angehalten wurde, nicht den Unternehmer zu fördern. 1949 wurde die Deutsche Demokratische Republik (DDR) gegründet, damit auch die Ministerien in Berlin. Siegert wurde vorgeschlagen, im Frühjahr 1950 eine Aufgabe in den neugegründeten Ministerien für Maschinenbau zu übernehmen, was gewissermaßen eine übergeordnete Regierungsinstitution war. Aus dem provinziellen Arbeitermilieu und dem Schutz des Elternhaues ging es für ihn auf zu neuen Herausforderungen in die Hauptstadt der DDR nach Berlin. Eine riesige Umstellung. Als er Mitte 1950 dort ankam, knüpfte er an bereits Erlerntem an und wurde wieder Revisor in der Hauptabteilung für Allgemeinen Maschinenbau. Eine überschaubare Gruppe von recht qualifizierten Volksgruppen- und Betriebsgruppendiplomen, ein spezieller Personenkreis, der aus großen Berliner Betrieben oder Betrieben anderer Orte zusammenkam. Eine Folge war allerdings, dass einige sich aus dieser Gruppe zu ihren alten Konzernen und Arbeitgebern in den Westen absetzten. Was Siegert betraf, hatten er große Betriebe zu prüfen, wie beispielsweise die Maschinenfabrik in Halle, Simson in Suhl und die Harzer Werke in Blankenburg. Selbstkritisch musste er allerdings eingestehen „Das war für mich eine Nummer zu groß!“ Er bemerkte, dass es ihm an elementaren, betriebswirtschaftlichen Kenntnissen fehlte und er deshalb dazulernen musste. Die Verwaltungen der volkseigenen Betriebe, d. h. die übergeordneten Verwaltungsorgane der neuen volkseigenen Betriebe waren noch in der Entstehungsphase. In der Nähe von Chemnitz war eine große Verwaltung, die sich „Verwaltung volkseigener Betriebe – Textima“ nannte, also ein Textilmaschinenbau. Dazu gehörten vielleicht 30 volkseigene Betriebe. Nach verschiedenen Bewerbungen wurde er in dieser Textima aufgrund seiner Vorbildung abermals Revisor. Ab sofort kontrollierte Siegert die verschiedenen Betriebe, beispielsweise den Spinnereimaschinenbau, die Nadelfabriken und den Werkmaschinenbau, wodurch er diese ganze Branche gut kennenlernte. Er wurde dort ein anerkannter Mitarbeiter und hatte vorbildliche Vorgesetzte. Sein unmittelbarer Abteilungsleiter war ein promovierter Volkswirt aus Bayern und der Hauptbuchhalter war ein promovierter Diplomkaufmann. In diesem Unternehmen arbeiteten Leute zusammen, die vor dem Krieg in Großbetrieben tätig gewesen waren. In Chemnitz existierten viele große Maschinenbauunternehmen, die nach dem Krieg wieder aufgebaut und volkseigen wurden. Politisch waren für Siegert die Erfahrungen in diesen Berliner Ministerien sehr interessant. Mittlerweile war er im FDGB (seit 1949) und Kandidat der SED (1950–1952) geworden. Besonders beeindruckte ihn der Minister für Maschinenbau, Paul Gerhart Ziller, ein bewährter Kommunist, antifaschistischer Widerstandskämpfer, der lange im Konzentrationslager gewesen war. 6 Damals war es so üblich, dass der Minister in die FDJ-Leitung kam, um seine Erfahrungen zu vermitteln. Siegert baute eine persönliche Beziehung zu Ziller auf. Umso mehr war für ihn das Ereignis im Jahre 1957 ein ganz schwerer und harter Schlag, als er erfuhr, dass Ziller als Wirtschaftssekretär der Parteiführung nicht mehr 6 Paul Gerhart Ziller (1912–1957) war u. a. in der Zeit 1950 bis 1953 Minister für Maschinenbau und
in der Zeit von 1953 bis 1954 Minister für Schwermaschinenbau der DDR. Seit 1953 war er Mitglied und Sekretär für Wirtschaftspolitik des Zentralkomitees der SED sowie Abgeordneter der Volkskammer. Er verstarb durch Suizid.
65 weiterwusste und sich zum Schluss das Leben nahm und sich erschoss. Für Siegert war Zillers Tod ein „traumatisches Erlebnis“. Dabei fragte er sich: „Wenn ein Kommunist mit dieser Vita kapituliert, was ist dann von den Praktiken dieser Parteiführung zu halten?“ 7
4. Wissenschaftliche Karriere: Diplom-Studium und Promotion zum Dr. oec. (1952–1961): Nach einem kurzen Einsatz in dem Organisationskomitee der Weltfest-
spiele bekam Siegert die Chance, ein Studium am 1. September 1952 an der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft der DDR (ASR) im Potsdamer Stadtteil Babelsberg am Griebnitzsee anzufangen. An dieser Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät (WiwiFak) mit dem Dekan Prof. Dr. Gunther Kohlmey lernte er den Leiter des Finanzinstituts, Erhard Knauthe, kennen und schätzen. Bei Anton Ackermann hörte er sich Geschichtsvorlesungen an. Inzwischen war er Mitglied der SED und fühlte sich somit „den Spielregeln der Parteidisziplin verpflichtet“! 8 Im Jahr 1953 wurde das Finanzinstitut in eine Finanzhochschule umgewandelt, deren hoffnungsvolle Eröffnungsrede er vom damaligen Finanzminister Willy Rumpf 9 anhörte. Siegert entschied sich, bei dieser Finanzhochschule für die Finanzen der Wirtschaftszweige zu bleiben, was ihm allerdings ausgeredet wurde, weil die Genossen der Abteilung des Zentralkomitees den Auftrag bekamen, Leute für die Abteilung Finanzen im Referat Steuern zu gewinnen. Als Student hörte er bei Prof. Dr. Ernst Kaemmel der WiwiFak Vorlesungen über die Einkommensteuer und die Bewertungssätze. Im Jahr 1955 schloss Siegert mit dem Examen als Diplomwirtschafter zum Thema: „Die Besteuerung der volkseigenen Betriebe“ ordentlich ab. Die Diplomarbeit mit dem Thema legte ihm Kaemmel nahe. Aufgrund guter Studienleistung wechselte der Jungakademiker nicht in die Praxis, sondern arbeitete als Assistent am Institut für Staatshaushalt der Hochschule für Finanzwirtschaft mit. Der Institutsleiter war Prof. Herbert Wergo, von dem er die Chance bekam, sich auf seine Promotion vorzubereiten. Wergo wurde sein Doktorvater. Der Zweitbetreuer war Prof. Dr. Erhard Vogel. Die Aufgabenstellung wählte Siegert aus dem Gebiet der Preise und Staatseinnahmen der Bekleidungs- und Textilindustrie. Das Thema seiner Promotion zum Dr. oec. (1961) lautete: „Die Produktionsabgabe in der volkseigenen Bekleidungsindustrie. Eine Untersuchung der Probleme bei der Bestimmung der Produktionsabgabesätze in Verbindung mit der Preisbildung sowie einiger Fragen der Planung, Realisierung und Kontrolle der Produktionsabgabe.“ 10 Weitere Unterstützer in dieser Schaffenszeit waren Werner Kalweit, 11 Heinz Joswig, Ernst Kupfernagel und H. Brandt. Siegert in: Die DDR – ihr Wachsen und Werden sowie ihre Sorgen S. 158–159. Dürkop und Siegert im Gespräch S. 230. 9 Willy Rumpf (1903–1982) trat 1946 der SED bei. Er war in der Zeit von 1949 bis 1967 Abgeordneter der Volkskammer. Ab 1950 war er Kandidat und ab 1963 Mitglied des Zentralkomitees der SED. In der Zeit von 1955 bis 1966 war er Minister der Finanzen und Mitglied des Ministerrates sowie ab 1963 seines Präsidiums. 10 Die Promotionsarbeit befindet sich im Archiv von Siegert. 11 Werner Kalweit (geboren 1926) war u. a. Lehrstuhlleiter für politische Ökonomie am Institut für 7 8
66 Der Auslöser für Siegerts wissenschaftliche Forschung hatte mit der von Willy Rumpf angestoßenen Arbeit zur weiteren Qualifizierung der wirtschaftlichen Rechnungsführung zu tun. Im Jahr 1952 war dazu ein Beschluss gefasst worden, in dem man von allen volkseigenen Betrieben verlangte, eine Rechnungsführung über Einnahmen und Ausgaben und Gewinn anzufertigen, Bilanzen zu erstellen sowie Betriebsabrechnungen nachzuweisen. Dort war natürlich die Kostengenauigkeit sehr wichtig. Es ergaben sich eine ganze Reihe von Problemen, z. B. bei der Bewertung von Kunden und Preisen. Es durften Kraft eines Beschlusses von 1949 bzw. gar eines Befehles der SMAD, keine Preise verändert werden (Preis-Stopp), was natürlich mit der wirtschaftlichen Rechnungsführung kollidierte. Rumpf hatte angestoßen, Untersuchungen dazu anzustellen, wie man das Kostenbild im Preis besser darstellen könnte und wie man mit dieser ganzen Sache die Staatseinnahmen, das heißt also die Produktionsabgabe als eine Art Verbrauchssteuer und die Gewinnrate in ein richtiges Verhältnis bringen könnte. Rumpf verfolgte die Linie, die wirtschaftliche Rechnungsführung und das Kostenbild zu qualifizieren. Dazu gehörten die Grundfonds, also Maschinen und Anlagegegenstände, richtig zu bewerten, welche noch mit den alten Werten in der Bilanz standen, damit die Amortisationsraten stimmten. Mit diesem Forschungskern beschäftigte sich Siegert in seiner Promotions-Arbeit. Die Finanzhochschule war inzwischen zur Hochschule für Ökonomie geworden, 12 weil man glaubte, dass man sich eine Hochschule für Finanzwirtschaft nicht mehr leisten konnte. Brandenburg – ein Land von zwei Millionen Einwohnern hatte jetzt eine Finanzhochschule. Die Regierung hatte also beschlossen, die Grundmittelbewertung auf eine neue Basis zu stellen, wozu eine Arbeitsgruppe beim Finanzminister gebildet wurde.
5. Garant für den Erfolg: Eine emanzipierte und gleichberechtigte Ehefrau: Beim
ambitionierten Junggesellen stellte sich das Liebesglück ein, was ihn formte und reifen ließ. Sein Lebensumfeld wurde neu geordnet. Inständig hofften seine Eltern, dass er die Tochter des Strumpfwerkes aus Chemnitz-Erfenschlag heiratet. Durch die Schulbesuche wurde er in „höhere Kreise“ sozialisiert, was selbstverständlich mit der richtigen Wahl Gesellschaftswissenschaften (IfG) beim Zentralkomitee der SED. Von 1967 bis 1971 war er stellvertretender Direktor des IfG. Von 1967 bis 1990 war er Abgeordneter der Volkskammer. Ab 1970 war er Mitglied der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der DDR. Im Jahr 1971 wurde er Mitglied der Akademie der Wissenschaften der DDR. In der Zeit von 1972 bis 1989 war er deren Vizepräsident. 12 In den Jahren 1956 und 1958 erfolgte die Vereinigung mit der 1953 gegründeten Hochschule für Finanzen, Potsdam-Babelsberg, unter dem Rektorat von Alfred Lemmnitz, und der 1954 entstandenen Hochschule für Außenhandel, Berlin-Staaken, unter dem Rektorat von Erich Freund. Die Konzentration der ökonomischen Ausbildung und Forschung durch den Zusammenschluss der drei Hochschulen zur Hochschule für Ökonomie sollte die Effizienz in Lehre und Forschung steigern. In den folgenden Jahrzehnten wurde die Hochschule für Ökonomie zur bedeutendsten wirtschaftswissenschaftlichen Einrichtung im Hochschulwesen der DDR und entwickelte sich in Richtung einer Wirtschaftsuniversität. 1972 erhielt sie den Namen Hochschule für Ökonomie Bruno Leuschner. Ab 1988 wurde die Fachschule für Außenwirtschaft eingegliedert.
67 der Lebenspartnerin an seiner Seite fortgeführt werden sollte. Allerdings nahm Siegert diesen Ratschlag seiner Eltern nicht an, sondern folgte seinem Herzen. Auf einer Jugendkonferenz in Potsdam lernte er Ilse Mewes kennen. Beim gemeinsamen Waldspaziergang knisterte es zwischen den beiden. Der großgewachsene und modisch im Trend liegende Jungakademiker, mit weißem Schal um den Hals gewickelt, mit Baskenmütze auf dem Kopf und einer Collegemappe unterm Arm, überraschte seine zukünftige Holde mit einer Aufmerksamkeit. Beide kamen sich näher und verliebten sich auf Anhieb ineinander. Ilse, die über sieben Jahre jüngere Studentin vom Lehrer-Bildungsinstitut, stammte vom Lande und war ein einfaches, bescheidenes Arbeiterkind mit langen blonden Zöpfen, die mit ihren beiden älteren Geschwistern (Heinz und Irene) im kleinbürgerlichen Milieu und ärmlichen Verhältnissen von Pretzien (Sachsen-Anhalt) aufwuchs. Ihr Vater war Steinbruchmeister aus der Steinbruchdynastie und ihre Mutter Arbeiterin in der Schuhfabrik sowie Hausfrau. Diese erste Begegnung fand im Sommer 1955 statt und sollte der Beginn einer harmonischen, innigen und langlebigen Beziehung werden. Für das Paar wurde diese feste Bindung zur Liebe ihres Lebens. Schon kurze Zeit darauf gaben sich die Frischverliebten am 21. Januar 1956 in Potsdam das Ja-Wort. Ihr gemeinsamer Kinderwunsch erfüllte sich im selben Jahr durch die Geburten von Uwe-Jens und zwei Jahre später von Carmen-Uta. Die Ehefrau absolvierte ihr Studium trotz Schwangerschaft erfolgreich bis zum Ende. 1960 zog die Familie in eine kleine Genossenschaftswohnung in die Rummelsburger Straße von Berlin, wo die Witwe heute noch wohnt. Maßgeblich an der Entwicklung Siegerts trug Ilse Siegert bei. Sie besaß mehr Einfühlungsvermögen, Menschenkenntnis und hielt ihrem Mann den Rücken von privaten Problemen frei. Eine leidenschaftliche Beziehung, die sich fortan immer auf Augenhöhe verstand. Grundsätzlich war Siegert fürs Handwerk nicht geboren, obwohl er als Bauhilfsarbeiter nach Kriegsende Scheunen für die bevorstehende Sommerernte mit aufbaute. Er konnte die Gartenarbeit in der Datscha (Nähe Hoppegarten) ab 1964 zu seinem Hobby machen, was sich als ein angenehmer Ausgleich zur geistigen Tätigkeit herausstellte. Trotz alledem nahm Siegert oftmals Unterlagen zum Nacharbeiten vom Arbeitsplatz mit nach Hause. Wenn zur Freizeitbeschäftigung ein Zeitfenster offenstand, entspannte der Asthmatiker bei frischer Luft und las u. a. die Klassiker von Marx und Engels, die Geschichte der Arbeiterbewegung, über die beiden Weltkriege sowie historische Literatur, insbesondere auch Weltliteratur von Lew N. Graf Tolstoi und Johann Wolfgang von Goethe, über den NS-Widerstand und den Spanischen Bürgerkrieg oder er versuchte, seine Kenntnisse der englischen, französischen und russischen Sprache zu verbessern. In den 1950er Jahren bestand die Möglichkeit für Siegert, zu seinen Verwandten nach Amerika auszuwandern. Seiner Liebe wegen – zur Familie und zu seinen Eltern – nutzte er dieses Sprungbrett nicht, um den westlichen Freiheitstraum zu leben, sondern verblieb im Sozialismus und baute ihn mit auf. Im September 1990 sprach Siegert – im Auftrag vom Ministerpräsidenten Lother de Maizière – im Washington State Department, auf Einladung des amerikanischen Botschafters in Ostberlin, Richard C. Barkley, über die
68 Situation und Einheit Deutschlands (Anhang S. 209 ff.). Insbesondere für Ilse Siegert war diese Reise ein besonderes und unvergessliches Erlebnis. Für die Witwe war ihr Mann ein Vorbild an Pflichterfüllung. Ohne Eitelkeiten standen als Wirtschaftsfachmann seine Aufgaben im Vordergrund. Er war kein Selbstdarsteller, sondern eher ein fleißiger, gradliniger und zuverlässiger Mensch, der mitunter aber auch seine eigenen Bedürfnisse befriedigte. Zu seinen Mitmenschen hatte er keine Berührungsängste und zeigte gerne Nähe. Die Familie Siegert nahm sich selbst zurück, pflegte einen bescheidenen und normalen Lebensstil, ohne sich Extravaganzen zu leisten. Eine Ausnahme war – im Vergleich zur Bevölkerung – ein Telefon, was beruflichen Zwecken diente. In ihrem Domizil war ansonsten kein Luxus anzutreffen. Siegert blieb seinen Prinzipien treu und biederte sich nirgendwo an. Zusammen mit seinen Kindern unternahm der bereits kranke Pensionär eine letzte Reise an seinen Geburtsort in den Bezirk Chemnitz im September 2019, auch um sich dort von Freunden und Bekannten zu verabschieden. In diesem hohen Alter machte er sich zunehmend Gedanken und Sorgen über rechtsextremistische Entwicklungstendenzen in Deutschland sowie in der Parteienlandschaft (AfD 13), die in den letzten Jahren in Ostdeutschland vermehrt Resonanz und einen Nährboden fanden. Wichtig war ihm immer, das Gesamtbild über die DDR wahrheitsgemäß darzustellen. 14
IV. Das Wirken von Walter Siegert im Ministerium für Finanzen der DDR (1961–1991) Dieses Kapitel beschäftigt sich mit dem beruflichen Aufstieg und den Höhepunkten der Schaffens- und Wirkungsphasen Siegerts. Deutlich werden Gründe, warum er sich im System anpassen musste. Seine Mitwirkung in den Verhandlungsrunden zu den beiden deutschen Staatsverträgen sowie zu der Privatisierung der Staatlichen Versicherung der DDR war nicht unbedeutend für deren Verlauf und den erzielten Ergebnissen.
1. Mitarbeiter in der Regierungskommission der DDR (1961–1967): Der Minis-
terrat der DDR (Vorsitzender Otto Grotewohl und sein Erster Stellvertreter Willi Stoph) beschloss, die Grundmittelbewertung auf eine neue Basis zu stellen, wozu eine Arbeits-
Die Partei „Alternative für Deutschland“ sieht sich selbst als „Demokratische Partei und Bürgerbewegung gegen die undemokratische und rechtswidrige Willkür der etablierten Altparteien“. (Vgl. www.afd.de). Tatsache ist allerdings, dass der Verfassungsschutz „den ‚Flügel‘, mit seinen etwa 7000 Mitgliedern, nunmehr als eine gesichert rechtsextremistische Bestrebung gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung einstuft“. (Vgl. https://www.verfassungsschutz.de/de/oeffentlichkeitsarbeit/presse/pm-20200312-bfv-stuft-afd-teilorganisation-derfluegel-als-gesichert-rechtsextremistische-bestrebung-ein (letzter Zugriff 7.12.2020). 14 Dürkop und Ilse Siegert im Gespräch am 5.8.2020 in Berlin sowie fernmündlich mit den Kindern, Carmen und Uwe, am 1.3.2021. 13
69 gruppe beim Finanzminister gebildet wurde. In der Zeit vom 1. Februar 1961 bis 30. Juni 1967 arbeitete Siegert als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Büro der Regierungskommission für „die Umbewertung der Grundmittel“. Am 1. Juni 1962 wurde er zum Leiter des Arbeitskreises „Industrie“ und gleichzeitig zum Stellvertreter des Leiters des Büros der Regierungskommission bestimmt. Dort führten sie u. a. gründliche Untersuchungen sowie Analysen in Großbetrieben durch. Siegert selbst war im VEB Leuna-Werk „Walter Ulbricht“ (LWWU) und verschieden Maschinengruppen vor Ort, was sich für ihn als sehr lehrreich darstellte. Einen tiefen Überblick bekam er über den Zustand der technischen Basis und auch über die betriebswirtschaftliche Situation in diesen Großbetrieben. Sie leiteten aus Prinzipien ab, wie man die Grundmittel neu bewerten konnte, also zu Werten in der Bilanz darstellte, die den aktuellen Preisen entsprachen. Am Rande bemerkte Siegert, dass die Mehrheit des Grundfondbestands noch „uralt!“ war. Auf diese Weise hatte er zu einem gewissen Anteil an den Beschlüssen aus dem Jahr 1963 der in Gang kommenden Arbeit am sogenannten „Neuen Ökonomischen System der Planung und Leitung“ (NÖS) beigetragen. Im Kern wollte man den Betrieben mehr Eigenverantwortlichkeit geben und mehr Möglichkeiten im Verwenden des überbleibenden Gewinns bieten. 15 Die Arbeitsgruppe zur Bewertung der Grundmittel war ein Teil des Finanzministeriums. Als Angehöriger des Finanzministeriums sollte er diese Arbeit eigentlich nur für zwei Jahre ausführen, was anfänglich als ein Praktikum für ihn geplant war. Nach den ersten zwei Jahren erlaubte er sich nachzufragen, ob er nicht zur Hochschule zurückkehren könnte. Da wurde er zum Finanzminister Willy Rumpf einbestellt, der zu Siegert meinte: „Junger Genosse, hast Du das verstanden? Zuerst erledigt man seine Arbeit und dann kann man etwas Neues anfangen!“ Somit war Siegert „festgenagelt“ und blieb bis Mitte 1967. Ausführlich nahm Siegert 1963 als stellvertretender Leiter des Büros der Regierungskommission für die Umbewertung der Grundmittel in einem veröffentlichten ADN-Interview mit dem Titel „Rechnen mit Grundmitteln. Umbewertung und ihr ökonomischer Nutzen“ ausführlich Stellung zu den Hauptzielen einer gegenwärtigen Aktion in der volkseigenen Industrie und Bau- und Landwirtschaft: „Es müssen entsprechend dem ökonomischen System in stärkerem Maße als bisher ökonomische Hebel angesetzt werden, die die Betriebe ansprechen, das höchstmögliche Produktionsergebnis je Kapazitätseinheit zu erreichen. Wie war es bisher? Die Abschreibungssätze waren auf Grund der zu niedrigen und unterschiedlichen Bewertung in vielen Betrieben als Bestandteil der Selbstkosten ziemlich wirkungslos. Durch die Umbewertung auf der Basis heutiger Preise erhöhen sich die Abschreibungen, nehmen einen größeren Teil der Selbstkosten ein und zwingen den Betrieb, diese durch bessere Auslastung der Maschinen und Anlagen, z. B. durch mehrschichtige Arbeit, stärker als bisher zu senken. Denn die Selbstkosten beeinflussen die zentrale Ziffer im neuen ökonomischen System — den Gewinn.“ Weiter fügte Siegert hin15
Dürkop und Siegert im Hintergrundgespräch am 14.5.2018.
70 zu: „Die Neufestsetzung der Werte gestattet die jetzt notwendiger denn je werdende Perspektivplanung, weil einmal der Bestand und die Struktur der Grundmittel und zum anderen die Darstellung des Verschleißes neu ermittelt werden.“ Zum zeitlichen Rahmen konnte Siegert angeben, dass die Umbewertung der Gebäude und baulichen Anlagen in der zentralgeleiteten volkseigenen Wirtschaft bereits im Juli 1963 beendet worden sind, während die Überprüfung der Maschinen und Anlagen bis zum 31. Oktober abgeschlossen sein sollte. In der örtlichen volkseigenen Wirtschaft ist bisher ungefähr ein Viertel der Grundmittel neu bewertet worden und sollte ebenso wie in der volkseigenen Landund Forstwirtschaft spätestens Ende des Jahres 1963 zum Abschluss kommen, während in den LPG Typ III im Frühjahr 1964 diese Aktion beendet sein sollte. Siegert führte im Gespräch weiter aus: „Mit Hilfe der Lochkartentechnik werden dann aus dem Material volkswirtschaftliche Gesamtübersichten erarbeitet. Für die Vorbereitung der Aktion war in den vergangenen Jahren eine umfangreiche Arbeit notwendig: Wir mussten etwa 125 Kataloge mit Zehntausenden von Wiederbeschaffungspreisen und Bewertungsmaßstäben der Grundmittel zusammenstellen.“ Seine Schlussfolgerungen aus dem Abschluss der Umbewertung in acht Experimentierbetrieben zog der stellvertretende Leiter folgendermaßen: „Gebäude und bauliche Anlagen haben einen höheren Umbewertungsfaktor als Maschinen und Ausrüstungen. Die Betriebe werden infolge der höheren Abschreibungssätze und der vorgesehenen Produktionsaufgabe neben der besseren Ausnutzung auch dazu veranlasst, ungenutzte Grundmittel zu verkaufen. Das Verhältnis von Ersatzinvestitionen zu Reparaturen wird planmäßig zugunsten der ersteren verändert werden müssen. Es ist notwendig, die jeweils rationellste Reproduktionsform in den Betrieben anzuwenden.“ 16 Diese Kraftanstrengung war für die DDR enorm, wie der damalige Leiter der Zentralen Staatlichen Preiskontrolle für Investitionen erzählt: „Was die Industriepreisplanung betrifft: sie war das Hauptinstrument zur stätigen Annäherung an den gesellschaftlich notwendigen Aufwand. Das betraf z. B. ein Preisänderungsvolumen in der Industrie bis 1986 von rd. 188 Mrd. Mark – vor allem den gestiegenen Kosten für importierte Roh- und Werkstoffe sowie für die Gewinnung einheimischer Rohstoffe geschuldet. Hinter diesem Volumen verbarg sich eine immense Arbeit auf dem Gebiet des Preisrechts. Jeder Preis musste staatlich bewilligt sein und den Abnehmern entsprechende Erzeugnisse mitgeteilt werden, um in der finanziellen und materiellen Planung entsprechend Anwendung zu finden. Dazu wurden Preisanordnungen oder Preisverordnungen bzw. andere rechtliche Dokumente erlassen.“ Dass Siegert nicht alleine die Herausforderungen stemmen musste, kann der Abschlussbeurteilung vom Büro der Regierungskommission für die Umbewertung der Grundmittel (Frase) entnommen werden: „[…] Unter verantwortlicher Leitung des Genossen Dr. Siegert haben zur Lösung dieser Aufgabe zahlreiche Arbeitskreise, bestehend aus MitarbeiVeröffentlich in der Berliner Zeitung, 17.8.1963, Jahrgang 19 / Ausgabe 224 / S. 4. Siehe unter http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/ddr-presse/ergebnisanzeige/?purl=SNP2612021519630817-0-4-38-0&highlight=Siegert%7CWalter (letzter Zugriff 30.10.2020).
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71 tern von Projektierungsbetrieben, VVB, Betrieben einer Reihe von Industriezweigen, Instituten und Hochschulen beigetragen. […] Genosse Dr. Siegert hat sich im Verlaufe seiner mehr als 6-jährigen Tätigkeit im Büro umfangreiche Kenntnisse auf dem Gebiet der Ökonomie der vergegenständlichen Arbeite erworben. Seine Fähigkeit, ökonomische Probleme wissenschaftlich zu lösen, kam insbesondere bei der Mitarbeit an den Grundsätzen für die Generalinventur und Umbewertung der Grundmittel in der volkseigenen Industrie und in den Haushaltsorganisationen sowie bei der Klärung einer Reihe von speziellen Fragen zum Ausdruck. Er besitzt die Fähigkeit zur Leitung größerer Kollektive und seine Einsatzbereitschaft und Arbeitsmoral sind als vorbildlich zu bezeichnen. […] Genosse Dr. Siegert ist ein der Partei treu ergebener Genosse, der bewußt und mit Eigeninitiative die Beschlüsse der Partei verwirklichen hilft. […]“ 17
2. Abteilungsleiter im Finanzökonomischen Forschungsinstitut (1967–1968): Im
Juni/Juli 1964 wurde das Finanzökonomische Forschungsinstitut (Föfi) gegründet, was unmittelbar dem Ministerium der Finanzen der DDR (MdF) bis zu seiner Auflösung 1990 unterstand. 18 Dorthin wechselte im Sommer 1967 Walter Siegert und übernahm dort die Leitung der Abteilung für den Forschungsbereich „Wirtschaftliche Rechnungsführung im NÖS“. Somit war er praktisch ständig in die von Prof. Dr. sc. phil. Herbert Franz Wolf 19 geleitete „Neues-Ökonomen-System-Gruppe (ÖSS-Gruppe) eingebunden. Es entstanden interessante Ansätze für die eigene Wirtschaft und man gewann Mittel für die eigenverantwortliche Verwendung von Gewinnen, um mehr Spielräume für Investitionen und die Kreditaufnahme zu schaffen. Dieses Finanzökonomische Forschungsinstitut hatte zu dieser Zeit zwischen 60 und 80 Mitarbeiter, die sich zum Teil aus „Veteranen“ aus dem Finanzministerium und zum Teil aus „jungen Leuten“ zusammensetzten. Die Ergebnisse waren unterschiedlich, aber sie konnten mit neuen Ideen zu verschiedensten Gebieten beitragen. Neben der wirtschaftlichen Rechnungsführung existierte auch ein „Institut für Geld und Kredit“ sowie eine umfangreiche „Dokumentation“, wo sie alle möglichen Zeitschriften auswerteten. Ebenso erfolgte eine intensive Zusammenarbeit mit der Humboldt-Universität. Die zuständige Person für die Arbeitsgruppe war Professor Erich Langner. Er war an der WiwiFak und später Chef der Redaktion für die Gründung, Entwicklung und Abwicklung der Sektion Ökonomische Kybernetik und Operationsforschung, Wissenschaftstheorie und -organisation. Zur Koordinierung: Die verschiedenen Experten aus den verschiedenen Institutionen wurden in der Regel im FDBG-Heim zusammengeführt. Dort verbrachten die Experten bis zu vier Wochen, wie z. B. mit dem Wirtschaftswissenschaftler Harry Nick (1932–2014), Das Dokument befindet sich im Archiv von Siegert. Eine Kopie liegt Dürkop vor. Siehe http://www.argus.bstu.bundesarchiv.de/dn100/index.htm?kid=titelblatt (letzter Zugriff 30.10.2020). 19 Herbert Franz Wolf (1927–1993) war u. a. gehörte zu den Mitbegründern der akademischen Soziologie in der DDR. Lebenslauf siehe https://research.uni-leipzig.de/agintern/CPL/PDF/Wolf_HerbertFranz.pdf (letzter Zugriff 1.3.2021). 17 18
72 mit Leuten aus der Plankommission, aus den Banken und den Kombinaten usw. Die Themenvorgaben stammten vom Stellv. Vorsitzenden der Staatlichen Planungskommission (SPK) Prof. Herbert Wolf (Jahrgang 1925), 20 die dort abgearbeitet wurden. In Abständen fanden sogenannte Verteidigungen der Ergebnisse statt, die dann jeweils in eine bestimmte neue Rechtsvorschrift der Gewinnverwendung gemündet sind, die auch bestimmte Impulse für die Kombinate brachten. Die Schwerpunkte bei der Lösung der finanzökonomischen Forschungsaufgaben sollte die Erforschung folgender Problemfelder sein: 21 • • • • • •
Wissenschaftliche Grundlagen der Finanzen im Neuen Ökonomischen System Wirkungsweise der Finanzen im System der ökonomischen Hebel Weiterentwicklung der finanziellen Jahres- und Perspektivplanung Weiterentwicklung der Formen der Finanzbeziehungen zu den Ländern des RGW Weiterentwicklung der finanziellen Jahres- und Perspektivplanung Untersuchung spezieller Probleme der Finanzwirtschaft und -politik der BRD, anderer kapitalistischer Staaten und von Entwicklungsländern
Zu den erwähnenswerten Problem- bzw. Fragestellungen gehörten: 22 • • • • • • • • •
Volkswirtschaftliche Effektivitätsmessungen Analysen zur Kosten- und Selbstkostensenkung Ziele bzw. Stellung der Natural-Wert- bzw. Geldverflechtungsbilanz Stabilität der Währung und der Staatsfinanzen Exportrentabilität Analysen und Leistungsvergleiche zwischen volkseigenen Kombinaten Valuta- und Finanzbeziehungen zwischen den RGW-Mitgliedsländern Konvertierbarkeit von Währungen sozialistischer Länder, z. B. des transferablen Rubel Einberufung einer Internationalen Währungskonferenz
Herbert Wolf war u. a. in der Zeit von 1963 bis 1966 Stellvertretender Direktor des Ökonomischen Forschungsinstituts der SPK. Er war Mitautor der Richtlinie zum Neuen Ökonomischen System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft in der DDR. In der Zeit von 1966 bis 1972 Stellvertretender Vorsitzender der SPK. 21http://www.argus.bstu.bundesarchiv.de/dn100/index.htm?kid=E3637F86C26D43A39890DAF17A8D039E (letzter Zugriff 29.12.2020). 22 Ebd. 20
73 Hinzu kamen auch die Vergabe und die wissenschaftliche Betreuung von Promotionsund Habilitationsschriften an den Universitäten und Hochschulen der DDR. Der Minister der Finanzen bestätigte die Vorschläge für finanzökonomische Forschungsthemen, die ihm in Form von Berichten unmittelbar nach Fertigstellung übergeben worden sind. 23
3. Stellvertretender Leiter und Leiter der Staatlichen Finanzrevision (1968– 1980): Im Jahr 1967 wurde die Staatliche Finanzrevision der DDR (SFR) als Bereich des
Ministeriums der Finanzen mit Inspektionen in den Bezirken der DDR gebildet. 24 In der SFR wurde 1968 ein neuer stellvertretender Leiter gesucht. Siegert hatte bereits Vorleistungen und Expertisen als Revisor aufzuweisen, die in seiner Kaderakte eingetragen waren. Er wurde angesprochen und überzeugte. Den Zeitraum der Jahre 1974 bis 1980 empfand Siegert als „interessanteste und spannendste Periode meines beruflichen Weges“. 25 Als neuer Leiter der Staatlichen Finanzrevision (ab 1973) – der ehemalige Leiter Genosse Siegfried Zeißig wurde Vizeminister der Finanzen der DDR – trug Siegert Verantwortung für die Stabilität der Staatsfinanzen. Täglich war er über die Revisionsberichte mit dem Leben im Land, der Wirtschaft und den Kommunen – oftmals vor Ort – verbunden. 26 Der Umgang „mit Leuten sowie die Nähe zum Geschehen“ taten ihm sehr gut. 27 Zur Einordnung: Der Revisor agierte in einer Diskretionszone und war kein beliebter Mann, weil er immer derjenige war, der überprüft, um etwas festzustellen, und sogar etwas findet. Es war sozusagen ein „ambivalentes Verhältnis“ zu den Generaldirektoren und Ratsvorsitzenden vorhanden. Gelegentlich begegnete man dem Revisor mit der Forderung, „keine Probleme!“ aufzudecken, wenn man sie eben nicht sehen wollte, was natürlich zu einem „Anecken“ an dieser Stelle mit den Verantwortlichen führte. Zur Ehre des Finanzministers Böhm verdeutlichte Siegert, dass Böhm „die korrekte Revisionstätigkeit sehr gefördert hat! Er wollte immer die Wahrheit auf dem Tisch haben!“ 28 Klaus Poetsch arbeitete 20 Jahre für die SFR der DDR und drückte seine Motivation für die tägliche Arbeit aus, die für die SFR-Mitarbeiter und auch Siegert galt: „[…] Mich reizten Finanzrevisionen im Zusammenhang mit Betrugshandlungen. Für mich waren derartige Prüfungen eine Herausforderung. Besonders motiviert war ich, wenn es galt, eine ‚Stecknadel im Heuhaufen‘ zu finden. Dieser damalige ‚Makel‘, also strafbare Handlungen festzustellen und bis zum letzten Pfennig aufzuklären, hängt mir bis heute an. […].“ 29 Ebd., Argus der BStU im Bundesarchiv. Beschluss des Ministerrates vom 12.5.1967. 25 Dürkop und Siegert im Gespräch S. 269. 26 Siehe u. a. die Finanzstatistik vom Statistischen Bundesamt, Sonderreihe mit Beiträgen für das Gebiet der ehemaligen DDR. Heft 34, DDR-Statistik, Grundlagen, Methoden und Organisation der amtlichen Statistik der DDR 1949 bis 1990, Wiesbaden 1999, S. 276 ff. 27 Dürkop und Siegert im Hintergrundgespräch am 17.5.2017. 28 Ebd. 29 Klaus Pötzsch, (schrieb unter dem Pseudonym Klaus Richard Grün), Finanzrevisor Pfiffig aus der DDR, 2. Auflage, Leipzig 2017, S. 25. 23 24
74 Siegert übernahm ab 1968 als Stellvertreter eine für ihn recht schwierige Aufgabe. Er stand plötzlich vor der Herausforderung, in ganzer volkswirtschaftlicher Breite sich den Revisionsaufgaben zu stellen. Er musste in diesem Apparat der SFR von nahezu 2000 Mitarbeitern (davon etwa zwei Drittel Hochschulabsolventen) Berichte begutachten. Die Finanzrevision war ein Bestandteil des Finanzministeriums, aber trotzdem eigenständig mit einem Leiter und seinem Stellvertreter an der Spitze, der de facto im Range eines stellvertretenden Ministers stand. 30 Die Prüfungsobjekte der SFR waren kleinste Gemeinden, volkseigene Betriebe und Kombinate bis hin zum Ministerium. Der Prüfungsturnus wurde je nach Betriebsgröße zwischen einem und drei Jahren festgesetzt. Diese praktische Tätigkeit wird heute von den Wirtschaftsprüfungsgesellschaften (prüft Privatbetriebe) und dem Bundesrechnungshof (prüft den Bund, Beteiligungen des Bundes an privatrechtlichen Unternehmen, Sozialversicherungsträger) geleistet. Im Wesentlichen wurde ihnen aufgetragen, die staatliche Finanzkontrolle, als Gegenpol zur größeren Eigenverantwortung der Kombinate und Betriebe zu stärken und die Balance zwischen der gesamtstaatlichen Verantwortung und der Eigenständigkeit der Kombinate und Betriebe zu wahren. Im Rückblick scheint es auch gelungen zu sein. Sehr intensiv arbeitete man an der Qualifizierung des Personals. Die WiwiFak an der HumboldtUniversität diente dabei als ein ganz großer Kader-Spender für SFR. Ab 1970 bekam die SFR jährlich zwischen 30 und 50 gut ausgebildete Absolventen. Am 7. Dezember 1965 wurde in der WiwiFak an der Humboldt-Uni durch die Idee von Finanzminister Willy Rumpf, ein Wirtschaftsprüferstudium als postgraduales Studium installiert. Rumpf plädierte dafür, dass die DDR etwas „ähnliches“ wie der Westen haben müsste. Daraufhin bestimmte sie Leute, um das West-System auszukundschaften, woraufhin die Umsetzung in der Wirtschaft-Wissenschaftlichen-Fakultät erfolgte. Das Konzept sah zunächst vor, etwa 40 bewährte Finanzrevisoren aus den Inspektionen zu Wirtschaftsprüfern auszubilden. Die Absicht war, die im kapitalistischen System bewährte Institution der unabhängigen Wirtschaftsprüfung in die sozialistische Wirtschaft zu transformieren. Wegbereiter u. a. waren Prof. Dr. Günter Goll und in den ersten Monaten Professor Dr. Karl Fischer, der gerade dabei war, sein Buch über die Betriebsanalyse 31 zu schreiben. 32 Es entstand eine neue Qualität der Arbeit, die Siegert und seinem Team ab 1970 aufgetragen worden war: Beispielsweise mussten sie den Soll-Ist-Vergleich von „Gesetzlichkeit und Richtigkeit“ der Rechnungsführung mit einer bestimmten Wirtschaftsanalyse verbinden. Die oberste Prämisse für die Staatliche Finanzrevision war, ökonomische Reserven zu erschließen, was allerdings „belächelt“ wurde. Bei der Analyse bestimmter Zusammenhänge stellten sie fest, wenn man ein Kooperationsglied schließen würde, dass dann 30 Walter Siegert, Wie funktionierte die Staatliche Finanzrevision in
der DDR?, Berlin 2008, S. 6. Das Dokument befindet sich im Archiv von Siegert. Eine Kopie liegt Dürkop vor, (i. F. z. a. Siegert, Staatliche Finanzrevision). 31 Karl Fischer, Betriebsanalyse in der volkseigenen Industrie, Berlin 1962. 32 Siegert, Staatliche Finanzrevision, Ebd., S. 5.
75 mehr Export erzielt werden könnte, zusätzliche Lager- und Leistungsreserven sowie nicht genutzte Produktionskapazitäten und sogar Erz- und Stahl-Reserven nachgewiesen werden könnten. Mit dieser Arbeit erlangten sie bei den Ministern ein Image, um endlich „ernst“ genommen zu werden. Der Finanzminister stellte aus diesem Grund einen gesonderten Prämienfond für die Mitarbeiter zur Verfügung. Somit konnte auch das materielle Interesse befriedigt werden. Im Jahr 1973 hatte sich die SFR die nötige Qualifikation erworben und ein neues System der Bilanzprüfung entwickelt. Es war eine Neuordnung der Prüfung und Bestätigung der Bilanzen und Gewinn- und Verlustrechnung der volkseigenen Kombinate und Betriebe. Die Bilanzbestätigung hatte für die Direktoren der volkseigenen Betriebe einen hohen Stellwert. 33 Die großen Kombinate waren zum Ende des Jahres hinsichtlich ihrer „Sauberkeit des Ausweises“ – auf finanzielle Gesichtspunkte als auch auf der Leistungsseite – zu überprüfen. Klar stand fest, dass „Leistungsbetrug und falsche Abrechnungen“ ein bedeutsames Thema wurden und waren. Jeder wurde am Erfolg gemessen und es kam vor, dass bei Erfolglosigkeit dieser dann auch mal vorgetäuscht wurde. Bei Nichtbestätigung der Bilanz verloren die Direktoren einen Teil ihrer Prämie. 34 Siegert persönlich führte eine große Prüfung im Jahr 1972 im Kombinat Zeiß durch, wobei er auf Unstimmigkeiten großer Valuta-Stellen in der Valuta-Abrechnung und -Verwendung gestoßen war, was dazu führte, dass der Generaldirektor als Mitglied des Zentralkomitees der SED entlassen wurde. Bei einer Außenprüfung attackierte Siegert und sein Team den Generaldirektor vom Textilkombinat in Leipzig, der nicht ganz „sauber“ gearbeitet hatte. Man hatte ihn allerdings darauf hingewiesen, dass dieser Generaldirektor zum Generalsekretär Honecker ein „inniges“ Verhältnis pflegte. Siegert kam in größte Bedrängnis. Allerdings wurde er von Böhm gedeckt. Siegert erkannte: „In diesem Widerspruch musste man als Revisionstätiger leben!“ Und ergänzte: „Das soll heute immer noch so sein, wenn auch unter anderen Vorzeichen.“ 35 Bei der Aufdeckung von Finanzdelikten – einschließlich Diebstahl von Volkseigentum – verzeichnete die SFR Erfolge. Dort, wo Unterschlagungen und Diebstahl im Buchwerk nachvollziehbar waren. In diesem Prüfungssegment bestand eine enge Zusammenarbeit mit der Kriminalpolizei und den Staatsanwälten. Persönliche Bereicherung am Volkseigentum wurde mit Erfolg bekämpft, aber konnte nicht ausgeschlossen werden. Jährlich kamen etwa 150 bis 200 größere Fälle von Veruntreuungen volkseigenen Vermögens zur Anklage. Viele Diebstähle von Materialien, z. B. für den Datschenbau, blieben unentdeckt. 36 Ebd., S. 6. Walter Siegert, Welche Rolle spielten Gewinn und Kostenkalkulation in den volkseigenen Betrieben der DDR?, Berlin 2013, Das Dokument befindet sich im Archiv von Siegert. Eine Kopie liegt Dürkop vor, S. 4. 35 Dürkop und Siegert im Hintergrundgespräch am 17.5.2017. 36 Siegert, Staatliche Finanzrevision, Ebd., S. 7. 33 34
76 Im Jahr 1974 wurden überraschenderweise Siegert und seinem SFR-Team die Kontrollaufgaben im Bereich der „Kommerziellen Koordinierung“ (KoKo) aus der Verantwortung genommen. Diese Entscheidung war ungewöhnlich. Sein Finanzminister Böhm war „verschnupft“! Für Siegert war es eine bindende Weisung, die er aber hinnahm und nicht mehr hinterfragte. In einer Beurteilung hielt Finanzminister Böhm über Siegert am 19. Juli 1974 fest: „[…] Genosse Dr. Siegert zeichnet sich durch schöpferische Aktivität und Initiative aus. In seinem Auftreten ist er bescheiden. Sein umfangreiches politisches und fachliches Wissen sowie seine pädagogischen Fähigkeiten setzt er vorbildlich ein. In diesem Zusammenhang unterstützt er aktiv die Humboldt-Universität und die Fachschule für Finanzwirtschaft in Gotha bei der Aus- und Weiterbildung von Kadern für die Finanz- und Bankorgane. Besonders hervorzuheben ist eine mehrjährige Tätigkeit als Lehrer an der Kreisschule des Marxismus-Leninismus der Partei. Genosse Dr. Siegert nutzt seine Freizeit zur politischen, fachlichen und kulturellen Weiterbildung. Er führt ein geordnetes Familienleben und erzieht seine Kinder im Geiste des sozialistischen Patriotismus.“ 37
4. Staatssekretär in der Regierung Stoph unter den Finanzministern Böhm, Schmieder und Höfner (1980–1989): Ab 1980 erlebte Siegert mit der Berufung zum
Staatssekretär im Ministerium der Finanzen der DDR (MdF) die Höhepunkte seiner Wirkungs- und Schaffungsphase. Keineswegs war er damit „nur“ ein Akteur der zweiten Reihe oder in seiner Entscheidungskompetenz handlungsbeschränkt. Vielmehr agierte Siegert bereits seit 1973 als Leiter der Staatlichen Finanzrevision als Stellvertreter seines Finanzministers Siegfried Böhm (SED), der in der Zeit von 1966 bis zu seiner tödlichen Ehetragödie am 4. Mai 1980 amtierte. Des Weiteren arbeitete er unter dem Finanzminister Werner Schmieder (SED) 38, der kurzweilig von Juni 1980 bis Juni 1981 amtierte sowie in den 1980er Jahren unter Finanzminister Ernst Höfner (SED) 39, der in der Zeit vom 26. Juni 1981 bis November 1989 amtierte. Zu Siegerts Zeit waren die Vorsitzenden des Ministerrates der DDR Willi Stoph von 1964 bis 1973, Horst Sindermann von 1973 bis 1976 und abermals Willi Stoph von 1976 bis 1989. Als Siegert ab 1980 die Aufgabenstellungen zum Staatssekretär wahrnahm, gestaltete sich das vorliegende Jahrzehnt als das Schwierigste in der Geschichte der DDR. Siegert bilanzierte den Staatshaushalt, was sich für ihn aber immer mehr als ein schwieriges Unterfangen herausstellte. Jedes Jahr zeigten sich offene Posten, die nur durch sogenannte „strukturbestimmende Investitionen“ gedeckt werden konnten, die der Haushalt zu finanzieren hatte, um das Kreditsystem zu verlagern. Das addierte sich bis zum Ende der DDR (Jahr 1990) auf etwa 30 Milliarden Mark der DDR. Grundsätzlich keine große Das Dokument befindet sich im Archiv von Siegert. Eine Kopie liegt Dürkop vor. Werner Schmieder (SED) geboren am 11.11.1926 war in der Zeit von Juni 1981 bis April 1981 Minister der Finanzen der DDR. Die Zeit fiel kurz aus, weil er sich mit Honecker überwarf. 39 Ernst Höfner (SED) wurde am 1.10.1929 geboren und verstarb am 24.11.2009. U. a. war er vom 26. Juni 1981 bis November 1989 Minister der Finanzen der DDR. 37 38
77 Summe, aber es war nicht richtig, weil der Staatshaushalt eigentlich keine Kredite aufnehmen durfte, anders als beim deutschen Bundeshaushalt. Das war praktisch eine „indirekte Kreditnahme“. Hinzu kam, dass die Außenhandelsstützungen immer schwerer zu decken waren. Bekannt war, dass die Valuta-Verbindlichkeiten von 2 Milliarden ValutaMark (1970) auf 30 Milliarden Valuta-Mark (1980) anwuchsen und auf etwa 49 Milliarden Valuta-Mark (1989) gestiegen waren. Dafür musste ein beträchtlicher Zins- und Tilgungsdienst geleistet werden. 40 Ein Export um jeden Preis mit immer schlechteren Exportergebnissen begann, weil der Verkauf zu Schleuderpreisen erfolgte, welcher nicht voll aus dem Haushalt, sondern zum Teil von dem Kreditsystem abgedeckt wurde. Das summierte sich bis zum Ende der DDR auf immerhin um die 30 Milliarden Mark der DDR. 41 Der letzte Ministerpräsident der DDR, Lothar de Maizière, erinnert sich an diese Verfehlungen: „Der Siegert war schon vor Modrows-Zeiten irgendwie in Ungnade gefallen, weil er den Haushaltsentwurf gewissenhafter aufstelle, als denen das Recht war. Das war bereits im Jahr 1987. Der war nicht gedeckt, wo also viel mehr Ausgaben eingestellt als Einnahmen zu erwarten waren. Dann kriegte er den Befehl, er sollte einen gedeckten Haushalt vorlegen, wobei er sagte, das geht nicht, weil die objektive Situation keinen gedeckten Haushalt hergibt. Dann wurde er damals abgelöst, weil man über Jahre hinweg immer mehr Einnahmen behauptet hat, die nicht reinkamen. Als er bemerkte, dass man die Bilanzen schiebt, verweigerte er sich, dass es mit ihm nicht zu machen ist.“ 42 Siegerts Meinung nach wirkte sich der Honecker-Kurs der „Einheit von Wirtschaft- und Sozialpolitik“ kontraproduktiv aus. Sicherlich durchaus positiv für die Bevölkerung, allerdings ohne Rücksicht auf die erwirtschafteten Mittel. Alle Überlegungen, die Siegert und seine Mitarbeiter einbrachten, blieben von der Führung ungehört. So wuchs die sogenannte „zweite Lohntüte“, 43 die voll aus dem Staatshaushalt mitfinanziert wurde, beträchtlich an, allerdings viel schneller, als das Nationaleinkommen und die Staatseinnahmen wachsen konnten. Die Senkung der Kosten und die Senkung des Produktionsverbrauches hingen in den 1980er Jahren immer weiter hinter den Vorgaben des Planes her. Resignierend stellte Siegert fest: „Wir haben nie geschafft, was wir uns vorgenommen hatten.“ Ein Grund dafür, dass die Wirtschaft in sich nicht mehr „passfähig“ war. Vieles wurde einfach zu teuer hergestellt bzw. produziert. Die Belastung der Mikroelektronik kam hinzu, was sicherlich für die DDR richtig und wichtig war, sie wurde aber sehr teuer erkauft. Die weiteren Beispiele nannte Siegert als eine schwere Belastung des Haushalts, die evident für die Ausgabenposten der DDR waren: Einen Schwerpunkt bildeten die Ausgaben für Verteidigung und Sicherheit, die sich in der Zeit von 1980 bis 1990 fast verdoppelten. Es wuchs stark an, weil man aufgrund der Konfliktlage wegen des NATO-DoppelbeDürkop und Siegert im Hintergrundgespräch am 1.3.2019. Ebd. 42 Dürkop und de Maizière im Gespräch S. 458. 43 In der DDR wurden staatliche Subventionen als „zweite Lohntüte“ bezeichnet. 40 41
78 schlusses in der DDR vom Warschauer Pakt für neue Technik gedrückt wurde. Siegert erinnerte sich an ziemlich heftige Auseinandersetzungen mit der Armee-Führung, was aber grundsätzlich tabu war. Hinzu kam das Wachsen des Ministeriums für Staatssicherheit, was jeder Nichtbeteiligte sehen und feststellen konnte. Eine weitere Haushaltsbelastung war die Stationierung der sowjetischen Truppen auf dem Territorium der DDR: Kraft des Besatzungsabkommens hatte die DDR die Liegenschaften zu finanzieren. Das Militärkrankenhaus in Berlin-Karlshorst war in einem schlechten Zustand, wo man versprach, es unmittelbar instand zu setzen, was wiederum 11 oder 12 Millionen Mark der DDR kostete. Siegert selbst fuhr jeden Monat einmal nach Wünsdorf, um das Gespräch mit dem General der Finanzverwaltung zu führen, der ständig neue Forderungen aufstellte: „Genosse Siegert, versteh doch mal. Wir haben über 24 Stunden Totaleinsatz. Du musst doch ...!“ Von dieser Seite her gab es immer zusätzliche, aber nicht kalkulierbare Forderungen, die im Interesse des Freundschaftsbündnisses und des Verständnisses für die Schutzbedürfnisse lagen, soweit das möglich war. Eine große Last war die Wismut AG 44 (davor SDAG Wismut) 45 mit einem schlechten Verrechnungsverhältnis. Der Wismut-Koeffizient war viel schlechter als der bei normalen Lieferungen. Siegert unternahm drei oder vier Anläufe, um diesen Wismut-Verrechnungskoeffizienten – also „Mark zu Transferrubel“ 46 – zu verbessern. Das gelang ihm aber nicht. Die letzte Runde unternahm er 1986 gemeinsam mit Alfred Neumann, wo beide unverrichteter Dinge wieder nach Hause geschickt worden sind. In einer geschichtlichen Rückbetrachtung liegen Ursachen einer Fehlentwicklung der 1980er Jahre in den Anfängen der 1970er Jahre, als Honecker zum Ersten Sekretär am 3. Mai 1971 (1976 zum Generalsekretär des ZK der SED) gewählt wurde: „Das ‚Neue Ökonomische System‘ wurde durch den Parteitag praktisch beerdigt!“ Es wurden allerdings Elemente des Neuen Ökonomischen Systems weitergeführt, in großen Kombinaten, Schifffahrt, Mikroelektronik usw. Diese Kombinate hatten bei den überplanmäßigen Gewinnen und bei der Erwirtschaftung von Valuta über den Plan hinaus einen guten Bonus. Es bestand die Möglichkeit, Kredite bzw. sogar Valuta-Kredite in Anspruch zu nehmen. Bergbauunternehmen und Produzent von Uran. U. a. wurde das in Sachsen und in Thüringen geförderte und aufbereitete Uran als Rohstoffbasis für der sowjetische Atomindustrie geliefert. Zur Geschichte unter https://www.wismut.de/de/sag_wismut.php bzw. zur Chronik https://www.wismut.de/de/wismut_chronik.php (letzter Zugriff 11.3.2021). 45 SDAG Wismut heißt „Sowjetisch-Deutsche Aktiengesellschaft Wismut“. 46 Die Verrechnungskurse zwischen den Währungen der Ostblockstaaten und dem Transferrubel waren festgelegt: Der Umrechnungskurs betrug in der Zeit von 1976–1980 war mit 1 Transferrubel gleich 5 Mark/Valutagegenwert (M/VGW) und in der Zeit von 1981–1989 mit 1 Transferrubel gleich 4,67 Mark/Valutagegenwert M/VGW. Die Clearingstelle war die Internationale Bank für Wirtschaftliche Zusammenarbeit (IBWZ) in Moskau. Für die DDR war das die Deutsche Außenhandelsbank AG (DABA) zuständig. Das Transferrubelverfahren wurde bis zum 31.12.1990 beibehalten, was den Transferrubelbetrug ermöglichte. Dazu Kai Renken, Werner Jenke in https://www.bpb.de/apuz/26098/wirtschaftskriminalitaet-imeinigungsprozess (letzter Zugriff 1.3.2021). 44
79 Ob nun dadurch ihr Begehren befriedigt wurde, bezweifelte Siegert. Trotzdem war er sich sicher, dass im Rahmen der Möglichkeiten ein Gleichgewicht zwischen Staatshaushalt und Kombinaten erreicht wurde. Heute gesteht Siegert ein, dass man am Finanzierungsverhältnis für Umlaufmittel drehte, der Kreditanteil erhöht wurde und man auf diese Weise erreichte, dass mehr vom Nettogewinn abgeführt werden konnte. So passierte es auch bei der Abführung von Amortisationen, wo man ebenfalls herumdrehte, was natürlich tödlich für Betriebe war, weil diese dort voll verbleiben sollten. Siegert gibt deshalb zu bedenken, dass der Appetit des Staatshaushaltes „gezwungenermaßen“ aus der Not heraus sehr groß und vorrangig war! 47
5. Staatssekretär in der Übergangsregierung Modrow unter Finanzministerin Nickel und geschäftsführender Finanzminister (1989–1990): Die besorgniser-
regenden Erkenntnisse aus dem erstellten Bericht zur „Analyse der ökonomischen Lage der DDR“ (sog. Schürer-Gutachten) von Ende Oktober 1989 forderten die Verantwortlichen der Regierung Modrow zum Handeln auf. 48 Für Siegert stand fest, dass das Papier auf die wachsenden Schulden hinweist, aber auch mitteilt, dass die DDR alle bedient hat und weiter bedienen wird. Trotzdem waren die Aussichten für das kommende Jahr 1990 dramatisch, was die „Niedergang-Entwicklungen“ im vierten Quartal 1989 verdeutlichten. Deshalb war gefordert, die Wirtschaft umgehend zu stabilisieren, was die Genossen auch unmittelbar versuchten umzusetzen. Am 7. November trat die Regierung Stoph zurück. Hans Modrow wurde ab den 13. November als neuer Vorsitzender des Ministerrats mit dem Regierungsauftrag betraut. Die neue Finanzministerin in dieser Regierung wurde Uta Nickel aus Leipzig. Für Siegert änderte sich erstmal nichts. Er blieb unter Nickel Staatssekretär. Allerdings verpasste Siegert zu Beginn die Möglichkeit, in der Regierung Modrow dieses wichtige Amt auszuüben. Warum Uta Nickel Finanzministerin wurde, aber nicht Siegert, darüber konnte er nur spekulieren: „Das kann ich Ihnen gar nicht sagen, um womöglich eine weitere Frau – neben Christa Luft und Hannelore Mensch – in diese Modrow-Regierung zu kriegen.“ 49 Diese ab Mitte der 1980er Jahre gewachsene „streitbare“ SED-Position über eine FrauenQuote in der Regierung könnte einer der Gründe gewesen sein, dass Siegert nicht bereits viel früher, sondern erst in der Endphase der Regierungszeit zum Minister der Finanzen und Preise berufen wurde. Ministerpräsident Modrow rekonstruiert aus seinen Erinnerungen: „Für die DDR galt ein Prinzip, was auch bei der Bildung einer Regierung in der Bundesrepublik Deutschland die Basis ist: Nicht der Ministerpräsident oder die Kanzlerin entscheiden, wer aus anderen Parteien Minister oder Ministerin werden wird, sondern die Parteien schlagen das selbst vor. So war es auch während meiner Regierung der Fall. Wir waren fünf Parteien in der Regierung, nannten uns Regierung der großen Dürkop und Siegert im Hintergrundgespräch am 17.5.2017. Ausführlich dazu Kapitel II. Nr. 2. S. 41 ff. 49 Dürkop und Siegert im Hintergrundgespräch am 6.7.2018. 47 48
80 Koalition, und die SED unterbreitete ihre Vorschläge. Genau wie die anderen Parteien auch.“ 50 Bereits im Dezember ´89 war der Ruf nach der D-Mark in der DDR bereits riesengroß. Das Bundesfinanzministerium erarbeitete unter Leitung von Thilo Sarrazin in der Arbeitsgruppe „Referat – Innerdeutsche Beziehungen“ eine Studie über die Möglichkeit einer Währungsunion. Die Studie verwendete Finanzminister Theo Waigel und Bundeskanzler Kohl in den ersten Gesprächen mit Hans Modrow. Die DDR-Seite richtete sich auf die zu erwartenden Verhandlungen ein. Gemeinsam mit Wirtschaftsministerin Christa Luft und anderen entwickelte sie ein Konzept eines Stufenprogramms, um keine „Crash-Entwicklungen“ zuzulassen. Damit wollten sie in die Verhandlung gehen. Personell änderte sich in der Modrow-Regierung einiges, was auch das Tätigkeitsfeld Siegerts unmittelbar betraf. Uta Nickel, die seit November 1989 im Amt war, wurde in ein Ermittlungsverfahren verwickelt, was mit ihrer Leipziger Tätigkeit zusammenhing, und trat am 22. Januar 1990 zurück. Am 29. Januar wurde der mittlerweile parteilose 51 Walter Siegert nach der Abberufung Nickels 52 zum geschäftsführenden Minister der Finanzen und Preise der DDR berufen und amtierte bis zum Regierungswechsel am 12. April. Eine Vereidigung erfolgte wegen des absehbaren Endes der Regierung Modrow nicht mehr. Zu Siegert äußerte sich Lothar de Maizière: „Ich erinnere mich an diese Zeit, weil mir immer klar war, dass er der einzige war, der dort wirklich fachlich auf dem Höchststand agierte. Das hat mir auch der damalige Staatssekretär und spätere Bundespräsident Horst Köhler bestätigt, dass Siegert derjenige war, den man als Fachmann ansprechen konnte“. 53 Der Zentrale Runde Tisch (ZRT), der eine Etappe des Protestes und des Suchens verkörperte sowie konstruktive und destruktive Leute um sich herum sammelte und über Wege diskutierte, tagte sechszehnmal, zuerst am 7. Dezember 1989. Die zentralen Aufgaben waren u. a. die Vorbereitung von freien demokratischen Wahlen, die Ausarbeitung einer demokratischen Verfassung sowie die Auflösung des Staatssicherheitsdienstes. 54 Acht führende Vertreter des Zentralen Runden Tisches traten in die neue „Regierung der nationalen Verantwortung“ als Minister ohne Geschäftsbereich ein (5. Februar). Für Siegert war somit der bis dahin bestehende Dualismus, also Zentraler Runder Tisch und Modrow-Regierung, beendet. Mit der letzten Sitzung am 12. März 1990 stellte der ZRT politische Empfehlungen auf: Die Bewahrung und Festigung der sozialen Stabilität der DDR, eine sozial und ökologisch verpflichtete Marktwirtschaft sowie gleichberechtigte Dürkop im Gespräch mit Modrow S. 432. Ausführlich dazu: Austritt aus und Trennung von der SED, S. 83 ff. 52 Am 12.9.2018 fragte Dürkop fernmündlich bei Uta Nickel an, ob sie ein Zeitzeugeninterview führen möchte. Mitten im Gespräch „würgte“ Nickel ab und äußerte sich mit „kein Interesse daran!“. Laut Siegert bestand zwischen beiden Personen nie eine persönliche Verbindung. 53 Dürkop und de Maizière im Gespräch S. 459. 54 Vgl. Zentraler Runder Tisch: Einleitung unter http://www.argus.bstu.bundesarchiv.de/DA326498/index.htm?kid=d666112e-5174-487f-aa81-640c968e2309 (letzter Zugriff 12.12.2020). 50 51
81 Einbringung beider dt. Staaten in die Einheit. 55 Ihre großen Ziele demnach waren Freiheit, Selbstbestimmung und Demokratie anstatt Diktatur. 56 Anfang Februar rief Horst Köhler, Staatssekretär im Finanzministerium, 57 bei Siegert an und bat um einen Gesprächstermin. Eigentlich ging Siegert mit einer großen Belastung in diese Gespräche, weil er glaubte, dass nach der politischen Attacke, die für ihn Kohl beim Besuch kurz vor Weihnachten in Dresden gestartet hatte („Mein Ziel bleibt, wenn die historische Stunde es zulässt, die Einheit unserer Nation! […]“), er mit ganz großen Problemen konfrontiert werden würde. Nachträglich empfand er diese Treffen als „unkonventionell“. Köhler ließ sich von Siegert „die Finanzwelt der DDR“ erklären, der beim Gespräch zwei Ministerialdirektoren dabeihatte. Den neuen Kurs Richtung D-Mark aus Bonn überraschte die DDR-Führung. Deshalb erarbeiteten Siegert und Kaminsky eine Textvorlage zum internen Gebrauch als Vorschlag „für die Verhandlungsposition zum Problem Währungsunion“ aus (Anhang S. 144 ff.), die in den kommenden Wochen und Monaten die Linie der ostdeutschen Regierungsvertreter am Runden Tisch (12. Februar), in Bonn (13./14. Februar) sowie bei den Expertenund Plansitzungen mitbestimmen sollte. 58 Vorausschauend prophezeiten die beiden Ökonomen: „Die sofortige Einführung der DM ist angesichts des beträchtlichen Produktivitätsgefälles unserer Wirtschaft mit erheblichen politischen und sozialen Auswirkungen verbunden, deren konkrete Ausmaße gegenwärtig noch nicht voll kalkulierbar sind.“ 59 Am 13./14. Februar forderte vergeblich die neue Modrow-Delegation in Bonn eine 15 Milliarden DM „Soforthilfe“ für die finanziellen Probleme, die sich in der DDR zu diesem
Ebd. Zur Vertiefung: https://www.demokratie-statt-diktatur.de (letzter Zugriff 21.12.2020). 57 Von 1990 bis 1993 war Köhler Staatssekretär im Bundesfinanzministerium als Nachfolger von Hans Tietmeyer. Er war verantwortlich für finanzielle und monetäre Beziehungen und damit der federführende deutsche Unterhändler bei den Verhandlungen zum Vertrag von Maastricht und teilweise bei jenen für die deutsche Wiedervereinigung. Köhler, der mit Russland Milliardenzahlungen für den Abzug der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland aus Deutschland aushandelte, regelte auch die deutsche Finanzhilfe für den Golfkrieg 1991, d. h. die Zahlung von ca. 12 Mrd. DM an die USA. Als so genannter Sherpa des Bundeskanzlers Helmut Kohl sowie als dessen persönlicher Vertreter bereitete er die G7-Wirtschaftsgipfel in Houston (1990), London (1991), München (1992) und Tokio (1993) vor. Laut Lorenz Maroldt, Chefredakteur des Tagesspiegels, war Köhler in seiner Eigenschaft als Staatssekretär „maßgeblich an der Gestaltung der deutschen Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion beteiligt“. 58 Das Dokument „Vorschlag für eine Verhandlungsposition zum Problem Währungsunion“ (11 Seiten plus 1 Anlage/Datum 12.2.1990) befindet sich im Archiv von Siegert. Eine Kopie liegt Dürkop vor. Teilabdruck des Inhalts in: Dieter Grosser, Geschichte der deutschen Einheit. Das Wagnis der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion. Politische Zwänge im Konflikt mit ökonomischen Regeln, Stuttgart 1998, S. 199–202, (i. F. z. a. Grosser, Geschichte der deutschen Einheit). 59 Siegert/Kaminsky, 10.2.1990, S. 145. 55 56
82 Zeitpunkt massiv aufgestaut hatten. 60 Ab 15. Februar wurde Siegert Mitglied der Verhandlungsdelegation für die Währungsunion. In dieser Eigenschaft intensivierte er die Kontakte zum Staatssekretär Köhler. Am 20. Februar kam es zwischen der west- und ostdeutschen Delegation zum ersten „deutsch-deutschen Expertengespräch“ zur Vorbereitung der „Währungsunion mit Wirtschaftsgemeinschaft“. Die westdeutsche Delegation führte Köhler an. Er wurde u. a. von den Staatssekretären des Wirtschaftsministeriums Dieter von Würzen, vom Arbeitsministerium Bernhard Jagoda 61 und vom Vizepräsidenten der Bundesbank Helmut Schlesinger 62 begleitet. Sarrazin war ebenfalls dabei. Die ostdeutsche Seite wurde von Walter Romberg angeführt. Romberg, ohne einschlägige Erfahrung, 63 wurde u. a. vom amtierenden Finanzminister Siegert, dem Präsidenten der Staatsbank Horst Kaminsky, dem Vizepräsidenten der Staatsbank Stoll und dem Minister für Maschinenbau/Leichtindustrie Karl Grünheid begleitet. 64 Nach Siegerts Meinung haben die ostdeutschen Akteure auf dieser Ebene bis zum März ein ziemlich gutes Konzept zustande bekommen. 65 Deshalb wollte er bereits vor der Wahl am 18. März zu „greifbaren Ergebnissen“ kommen. 66 Köhler zeigte sich kooperativ, ebenso die anderen Beteiligten. Trotzdem waren die unterschiedlichen Zielsetzungen der Verhandlungspartner evident. 67 Klar war für die ostdeutsche Seite aber auch, als sich die „Allianz für Deutschland“ bildete, dass keiner von den westdeutschen Akteuren mehr ernsthaft bereit war, mit der linken Regierung vor dem 18. März etwas Endgültiges zu beschließen. Weitere Plansitzungen der Arbeitsgruppen mit den Themenschwerpunkten Währung, Wirtschaft, Finanzen und soziale Sicherung fanden am 5. März und am 13. März statt. 68 Der Zwischenbericht der Expertenkommission wurde beim letzten Treffen verabschiedet. 69 Kapitel II. Nr. 4, S. 49 ff. U. a. auch Präsident der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg. 62 U. a. Präsident der Deutschen Bundesbank in der Zeit von 1.8.1991 bis 30.9.1993. 63 Aus Siegerts Erinnerung war Walter Romberg: „Ein hochqualifizierter Mann, Abteilungsleiter der Mathematik in der Akademie der Wissenschaften und gleichzeitig Mitglied in der Leitung der evangelischen Kirche in der DDR. Somit stand ein kritischer Bürger an der Spitze der DDR-Delegation bei den Gesprächen mit den westdeutschen Partnern. Natürlich war es schwer, dass ein gelernter Mathematiker die Währungsunion verhandeln sollte.“ Dürkop und Siegert im Hintergrundgespräch am 11.7.2019. 64 Grosser, Geschichte der deutschen Einheit, Ebd., S. 211. 65 Das Dokument Walter Siegert, Die Konzeption für die Verhandlungen mit der Regierung der BRD zur Vereinbarung einer Währungsunion und Wirtschaftsgemeinschaft der DDR, (10 Seiten/Datum 19.2.1990) befindet sich im Siegerts Archiv. Eine Kopie liegt Dürkop vor. Der Stellvertreter des Ministers für Finanzen war Ingolf Noack. Siegert war zu Fragen des Staatshaushaltes, der Steuern und Preise zuständig. 66 Ebd. 67 Siehe dazu Ministerium der Finanzen und Preise, Berlin 13.2.1990; BMF Außenstelle Berlin, Ordner I, 1 zur WWU. 68 Grosser, Geschichte der deutschen Einheit, Ebd., S. 211. 69 Zwischenbericht, unterschrieben von Köhler und Romberg, veröffentlicht in: Waigel/Schell, 60 61
83 Am 28. Februar 1990 stellten Bundesbankpräsident Kaminsky und der Finanzminister Siegert das Modell eines zweistufigen Bankensystems im Volkskammerausschuss Haushalt und Finanzen der DDR vor. Die Staatsbank der DDR sollte umgestaltet werden: Demnach sollte das Unterstellungsverhältnis der Staatsbank unter den Ministerrat aufgehoben und die Staatsbank zu einer Zentralbank umgestaltet werden, deren zentrale Aufgabe die Überwachung der Währungsstabilität sein sollte. Sie sollte der Stabilität des Geldes und dem Schutz der Währung verpflichtet sein. Zudem war eine Senkung der steuerlichen Belastung für Handwerker und Gewerbetreibende auf 60 % und der Körperschaftssteuer auf 50 % geplant. Davon wurden positive Synergieeffekte für die Marktwirtschaft erwartet. Dieses Modell wurde aber nicht mehr umgesetzt. Dazu würden einerseits Geschäftsbanken unterschiedlicher Eigentumsformen entstehen, die unabhängig von einer zentralen DDR-Finanzinstitution tätig sind. Die Geld- und Kreditpolitik sollte in Zukunft von währungspolitischen Erfordernissen auf der Basis einer ökonomischen Steuerung der Geldmenge bestimmt werden. Dabei werde der Zinssatz für Kredite und Geldanlagen eine wichtige Rolle spielen. Die künftige DDR-Zentralbank werde für ihre Arbeit Erfahrungen westeuropäischer Zentralbanken nutzen. Geschäftsbankfunktionen übernehmen nach dem Änderungsentwurf die Genossenschaftsbanken für die Landwirtschaft, Handwerk und Gewerbe sowie die derzeit noch von der Staatsbank angeleiteten Sparkassen, die kommunalen Finanzeinrichtungen. Beide Akteure beantworteten außerdem auch Fragen von CDU- und NDPD-Abgeordneten zu Sorgen in der Bevölkerung um die Sparguthaben. Der Finanzexperte Siegert verwies darauf, dass die Unruhe vor allem durch persönliche Äußerungen von Politikern in der DDR und der BRD geschürt worden sei. Repräsentanten der Staatsbank bestehen bei einer Währungsunion DDR-BRD auf einem Umtauschverhältnis zwischen Mark und DM von „1:1“ für die Sparguthaben der Bürger. In der Wirtschaft müssten andere Lösungen gefunden werden. 70
6. Austritt aus und Trennung von der SED: Die Gründung der SED erfolgte am 21./22.
April 1946. Sie entstand aus einer Zwangsvereinigung der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) und der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) in der Sowjetischen Besatzungszone und der Vier-Sektoren-Stadt Berlin. Der Gründungsort war der Admiralspalast in Ost-Berlin. Die Jugendorganisation war die Freie Deutsche Jungend (FDJ) und das Zeitungsorgan war das Neue Deutschland. Im Oktober 1989 lag die Mitgliederzahl der SED bei 2,3 Millionen, was ein sehr hoher Anteil bei etwa 8 Millionen Erwerbstätigen und einer Gesamtbevölkerung von 16,8 Millionen Menschen in der DDR war. Durch Parteireformen und -erneuerung wurde im Dezember 1989 die SED zuerst in die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands – Partei des Demokratischen Sozialismus (SEDTage, die Deutschland und die Welt veränderten, Ebd., S. 129–134. 70 Neue Zeit, 1.3.1990, Jahrgang 46, Ausgabe 51, Seite 2. Siehe http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/ddr-presse/ergebnisanzeige/?purl=SNP2612273X19900301-0-2-31-0&highlight=Horst%20Kaminsky%7C1990 (letzter Zugriff 1.11.2020).
84 PDS) und am 4. Februar 1990 in die Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) umbenannt und trat zur Volkskammerwahl am 18. März (Ergebnis 16,4 %) an. Am 16. Juni 2007 wurde die PDS mit der westdeutschen Arbeit & soziale Gerechtigkeit – Die Wahlalternative (WASG) zur Partei „Die Linke“ vereinigt. Die Vorsitzenden der SED waren Staatspräsident Wilhelm Pieck (1946–1954) und Ministerpräsident Otto Grotewohl (1946–1954). Ab 1954 wurde das Amt abgeschafft. Von Anfang an lag die Macht beim Generalsekretär des ZK der SED (ab 1950). Generalsekretäre des ZK der SED waren Walter Ulbricht von 25. Juli 1950 und Erster Sekretär des ZK der SED in der Zeit vom 26. Juli 1953 bis zum 3. Mai 1971, dann Erster Sekretär des ZK der SED war Erich Honecker in der Zeit vom 3. Mai 1971 sowie Generalsekretär des ZK der SED vom 22. Mai 1976 bis zum 18. Oktober 1989 sowie Generalsekretär des ZK der SED Egon Krenz in der Zeit vom 18. Oktober bis zum 6. Dezember 1989. Gregor Gysi war in der Zeit vom 9. bis zum 17. Dezember 1989 Vorsitzender der SED, danach bis 4. Februar 1990 Vorsitzender der SED-PDS und danach bis zum 31. Januar 1993 Vorsitzender der PDS. Aus der SED wurden für den Neuanfang u. a. Erich und Margot Honecker, Egon Krenz, Heinz Keßler, Kurt Hager usw. entfernt. 71 Eine Aufnahme von ehemaligen SED-Mitgliedern in die neugegründete Sozialdemokratische Partei der DDR (SDP), sprich Ost-SPD (seit 7. Oktober 1989), wurde von der Parteiführung (u. a. Markus Meckel und Steffen Reiche) abgelehnt. Mit dem 1. Juni 1990 ging das bestehende Vermögen der SED zur Prüfung und treuhänderischen Verwaltung in die Hände der Unabhängigen Kommission zur Überprüfung des Vermögens der Parteien und Massenorganisationen (UKPV) und der Treuhandanstalt über. Es war Modrow, der den Herrschafts-, Macht- sowie Deutungs- und Wahrheitsmonopol der Einheits- und Staatspartei beendete. Am 1. Dezember 1989 wurde aus dem Artikel 1 der DDR-Verfassung das Alleinstellungsmerkmal „Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei“ gestrichen. 72 Siegerts Mitgliedschaften u. a. in der FDJ und SED, dem FDGB und der DSF füllte er mit politischer Aktivität und Überzeugung aus, oftmals skeptisch, allerdings ohne ein Risiko, berufliche und auch private Konsequenzen einzugehen. Dementsprechend proportioniert, bewusst und nicht provozierend sowie zurückhaltend war sein Engagement. Er versuchte dabei immer durch seine fachliche Expertise zu überzeugen. Als kommunaler Verantwortlicher und als WBA-Mitglied und -Vorsitzender der NationaTonbandprotokolle über die Sitzung vom 20./21.1.1990 der Zentralen Parteikontrollkommission gewählte Schiedskommission unter Leitung ihres Vorsitzenden Günther Wieland. Dazu 14 SED-Mitglieder und Kandidaten des Politbüros unter Entstehung durch die Rosa-Luxemburg-Stiftung und den Karl Dietz Verlag hörbar unter https://www.rosalux.de/news/id/41485/ausschluss-das-politbuero-vor-dem-parteigericht?cHash=523e2a7352c1297e0e2a73283daaa21b (letzter Zugriff 3.11.2020). 72 Vgl. https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/die-ddr-aendert-ihre-verfassung462126 (letzter Zugriff 1.11.2020). 71
85 len Front des demokratischen Deutschlands hielt Siegert in den 1960er/1970er Jahren regelmäßig in seinem Berliner-Stadtbezirk die offizielle Festrede zur Jugendweihe und überreichte den Teilnehmern ihre Urkunden und das Buch Weltall. Erde. Mensch. Ein weiteres Faktum: Siegert argumentierte bei seinen Aktivitäten in Parteiversammlungen und Diskussionsbeiträgen sachbezogen und unternahm abermals den Versuch, prekäre Botschaften zu übermitteln. Diese Haltung bezog sich insbesondere auf Parteiinhalte oder -entwicklungen. Bis in die turbulente Zeit vom Herbst ´89 war Siegert „immer noch in der Hoffnung gefangen, dass die SED ihre ‚Starre‘ sowie ‚Realitätsferne‘ überwindet“. 73 Siegert resümiert über seine parteilichen Ambitionen: „Ich war nie nur ein formales Mitglied der SED. Ich wollte dieser Partei dienen und habe mich stets mit viel Kraft und Herzblut eingebracht. Aber ich habe nie meine Vorbehalte und Misstrauen gegen ´großmäulige´ Redereien, Unredlichkeit und Intrigen abgelegt, was mir nicht passte, habe ich deutlich ausgesprochen sowie aufgezeigt. Es soll nicht selbstgefällig klingen: Ich habe durch Leistung überzeugt, mich auch nie mit Halbheiten in der Arbeit oder der Partei abgefunden. Nie hat man mir eine hauptamtliche Parteifunktion angetragen, sondern ich übte ehrenamtliche Funktionen, beispielsweise im Studium und Ministerium, aus. Man hat wohl bei meinem Auftreten, meiner Art mich zu äußern und zu positionieren gemerkt – Siegert ist ein Mann, der nicht für ein ‘stringentes Parteiamt‘ taugt! Noch einmal: Ich war immer mit Herz und Tat ein Genosse, mehr, als jene großen ‚Brüller´, die wir zunehmend hatten!“ 74 Auf Nachfrage von Dürkop, ob er feige war, antwortet Siegert nachdenklich: „Ja, ich war es aus moralischen Gründen.“ 75 Siegert hielt sich an die Parteibeschlüsse und war insofern „linientreu“. Er wollte sich selbst aber auch treu bleiben. Seinen Blick auf Fehler und Irrtümer ließ er sich nicht verbieten und äußerte sich – im Rahmen seiner Möglichkeiten – unbequem. Beispielsweise in Parteibesprechungen sowie internen Beratungen als Staatssekretär im dienstlichen Bereich. Bei seiner Arbeit im Ministerium hatte diese Kritik eine gewichtige Bedeutung. Ranghöher blieb sie aber auf der prinzipiellen Linie der Partei wirkungslos und verpuffte. In der Öffentlichkeit äußerte Siegert gegenüber Partei und Führung keine Kritik. Das hätte für ihn sofortige Konsequenzen bedeutet, was ihm selbstverständlich bewusst war. In jeder Auszeichnung und Würdigung wurde explizit darauf hingewiesen: […] Als langjähriger Staatssekretär im Ministerium der Finanzen haben Sie hohen Anteil an der konsequenten Durchführung der Beschlüsse der marxistisch-leninistischen Partei und der Regierung zur Verwirklichung der ökonomischen Strategie und zur Sicherung der Stabilität der Staatsfinanzen der Deutschen Demokratischen Republik. […].“ 76 Dürkop und Siegert im Hintergrundgespräch am 6.7.2018. Ebd. 75 Dürkop und Siegert im Hintergrundgespräch am 13.7.2018. 76 Glückwünsche zum 60. Geburtstag durch den Vorsitzenden des Ministerrats der DDR, W. Stoph, am 18.5.1989. Das Dokument befindet sich im Archiv von Siegert. Dürkop liegt eine Kopie vor. 73 74
86 Nachdem das ZK der SED, das Politbüro und Egon Krenz Anfang Dezember zurücktraten, fanden zwei Sonderparteitage der SED am 8./9. sowie am 16./17. statt. Schwerpunkte waren die parteiliche Neuausrichtung, die Partei vor einer Auflösung zu retten, den neuen Vorsitzenden Gregor Gysi zu wählen und die Partei in die SED-PDS umzubenennen. Gysi dazu: „Ich erinnere mich an keine Unterschiede im Ansatz zwischen Hans Modrow und mir hinsichtlich der Frage, ob eine Auflösung der Partei sinnvoll oder nicht sinnvoll ist. Auf jeden Fall hatte mich Michail Gorbatschow in einem Telefongespräch schwer vor einer Auflösung der SED gewarnt, weil sie die Auflösung der DDR und damit den Untergang der Sowjetunion bedeutet hätte. Außerdem kamen viele andere Faktoren hinzu. Das gesamte Eigentum der Partei wäre herrenlos geworden. Hunderttausende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Parteiapparat aber auch in den parteieigenen Betrieben wären arbeitslos geworden, und zwar ohne jedes Arbeitslosengeld. So etwas gab es in der DDR nicht. Da andererseits feststand, dass die Staatssicherheit aufgelöst werden musste, hätte das ein Bündnis ergeben können, mit katastrophalen Folgen. Man darf nicht unterschätzen, dass viele auch militärisch ausgebildet waren. Eine solche Zuspitzung galt es zu verhindern.“ 77 Bei diesen Sitzungen im Dezember im Sportforum Hohenschönhausen im Bezirk Lichtenberg nahm Siegert passiv teil. Dabei verfestigte sich sein Entschluss, zukünftig nicht mehr mit der Partei weiterzugehen: „Ich nahm an dem Parteitag als Gast teil. Es war alles ganz anders, als wir das von unseren vorherigen Parteitagen kannten. Die Delegierten und Gäste reisten aus allen Ecken der Republik an und befanden sich in einer Aufbruchsstimmung. Die Ausgangsfrage war: Wie konnte es soweit kommen? Wer trägt die Schuld an diesem Niedergang? Wie geht es weiter? Also eine Auflösung und Neubeginn oder mit einem neuen Konzept weitermachen? […] Für mich waren die Erlebnisse des Parteitages das Ende meiner Mitgliedschaft, allerdings aber nicht das Ende meines Engagements für eine andere gerechtere Gesellschaft.“ 78 Jürgen Brockhausen, ehemaliger Bundesbankdirektor, arbeitete als Ministerialrat dem Finanzminister Romberg – unter der Regierung Modrow für die Vorbereitung der Währungsunion – zu und beriet ihn während der Koalitionsverhandlungen. Als Brockhausen Anfang 1990 nach Berlin wechselte, lernte er dort Siegert kennen, wobei ihm die Biografie „unwichtig“ erschien: „Erstens wusste ich, dass er ehemaliges SED-Mitglied war. Sonst wäre nämlich gar nicht die Frage aufgetaucht, dass er weggehen sollte. Romberg sagte mir, er würde dem Siegert vertrauen, egal, was er vorher gewesen wäre. Ich hatte auch keine Vorbehalte. Wissen Sie, ich war eher misstrauisch gegenüber Leuten in der SED, die erzählten, sie hätten schon an der Mutterbrust gegen den Kommunismus gekämpft. Dass er aus Überzeugung ausgetreten ist, habe ich ihm abgenommen. […] Und natürlich wollte er etwas bewegen und natürlich war ihm auch sicher, dass ein Austritt für ihn nützlicher war. Aber das hat mich überhaupt nicht interessiert.“ 79 Dürkop/Gehler, In Verantwortung, Ebd., S. 55. Dürkop und Siegert im Gespräch S. 193. 79 Dürkop und Brockhausen im Gespräch S. 563. 77 78
87 Der ehemalige Staatssekretär im Amt für Preise beim Ministerrat der DDR, Manfred Domagk, zeigte Grenzen von individueller Meinungsfreiheit bei Parteiversammlungen auf: „Unter vier Augen und im internen Kreis haben wir viel mehr geredet als wir uns in der öffentlichen Versammlung äußerten. Denn wir waren, er wie ich und auch andere, der Abteilung Planung und Finanzen unterstellt. In diesem Sinne waren wir Nomenklaturkader. Da ist die Verpflichtung, nach bestem Gewissen zu arbeiten und die Beschlüsse umzusetzen. […]“ 80 Domagk weiter: „Nur Parolen und Losungen der Partei oder allgemeine Sprüche von uns zu geben, wie das manch einer draufhatte, um als strammer Parteigenosse zu erscheinen, war unser beider Sache nicht. […]“81 Unterstellungen sowie Verdächtigungen über eine evtl. Bereicherung bzw. Veruntreuung von SED-PDS-Geldern trafen Walter Siegert schwer. Emotional aufgebracht erinnerte sich die Witwe Ilse Siegert an den Februar 1990 mit Schrecken zurück, als es zu einer Razzia im Hause der Familie kam: „Die Polizei wühlte die privaten Sachen durch, um gegebenenfalls belastendes Material für evtl. Parteigeldverschiebungen zu finden. Ebenso wurden die Bankkonten durchsucht. Diese Verdächtigungen empfanden wir als menschenunwürdig, was aber diesen Umbruchzeiten geschuldet war.“82 Im Ergebnis wurde man nicht fündig. Als der Termin zur Volkskammerwahl vom 6. Mai auf den 18. März vorgezogen wurde, begann unmittelbar für Modrow als Spitzenkandidat der PDS in den ersten Monaten des Jahres 1990 der Wahlkampf. Weder die Wirtschaftsministerin Christa Luft noch der Finanzminister Walter Siegert unterstützten den Ministerpräsidenten oder beteiligten sich aktiv im Wahlkampf für die Parteien. Was Modrow wiederum so einschätze, dass Siegert dem Grunde nach kein sogenannter „Parteifunktionär“ war: „Er verstand sich wohl als ein aktives Mitglied der SED, jemand, der im Auftrag seiner Partei Regierungstätigkeiten übernahm, aber nicht als Parteifunktionär. Darüber gab es klare Abgrenzungen. Denn er war nicht im Apparat der Partei tätig, und er war in keinem gewählten Gremium. Es gab auch Parteifunktionäre in mehreren Funktionen. Beispielsweise war Willi Stoph Mitglied des Politbüros und Ministerpräsident. Aber Siegert war kein ZK-Mitglied oder Mitglied in der Bezirksleitung der SED in Berlin. Er war nur ein Mitglied in der Partei.“ 83 Im August 1990 platzte die Große Koalition und die SPD stieg aus. Die Gründe dafür lagen in dem Kurs Rombergs, der sich gegen seinen Ministerpräsidenten Lothar de Maizière stellte, wie dieser erzählte: „Im Grunde genommen ist die SPD ausgeschieden, weil ich den Romberg abberufen habe, weil er beim Einigungsvertrag gegen die Interessen der ostdeutschen Länder verhandeln wollte und ich ihm gesagt habe, er muss so verhandeln, wie ich es will und wie Siegert das machen würde.“ De Maizière stellte sich eindeutig hinter seinen Staatssekretär: „Siegert war zu mir gekommen und hatte mich eben gebeten, ihn abzurufen, sein Minister würde ihn zwingen zu verhandeln beim Einheitsvertrag Dürkop und Domagk im Hintergrundgespräch am 4.8.2020. Dürkop und Domagk im Gespräch S. 502. 82 Dürkop und Ilse Siegert im Hintergrundgespräch am 5.8.2020. 83 Dürkop und Modrow im Gespräch S. 439. 80 81
88 gegen die Interessen der DDR. Das machte er nicht mit. Er wäre jahrelang treu gewesen und habe mit Überzeugung gehandelt.“ 84 Prekär wurde die Lage für Siegert, als ihn die SPD-Fraktion vorlud und befragte, warum er nach dem Ausstieg der SPD nicht ebenfalls den Rückzug antrat. Eindeutig machte dieser seine Haltung deutlich, dass er im Frühjahr dem Ruf Rombergs folgte und an seiner Seite als Staatssekretär antrat. Siegert war zu dem Zeitpunkt allerdings nicht klar, dass er durch die Zusage an Romberg „im ‚Gefolge‘ der SPD lief“. 85 Seine Emotionen waren andere, als von den Sozialdemokraten eingestuft: „Ich fühlte mich nach wie vor als beamteter Staatssekretär sowie parteilos; die SPD sah das allerdings im anderen Licht. Sie hatten mich damals nominiert. Das hatte ich aber so nie verstanden“. 86 Der Fraktionsvorsitzende der SPD und Theologe Richard Schröder forderte Siegert auf, darüber nachzudenken, warum er überhaupt bei den Verhandlungen zum Staatsvertrag zur deutschen Einheit dabei sein durfte: „Herr Siegert, Sie sind doch eigentlich in unserem Auftrag dort.“ Siegert antwortete: „Ich kann Ihnen nur sagen, ich folge nur dem, was ich als Fachmann und Mensch für richtig halte und nicht irgendeiner Partei. Ich erklärte ihm, warum ich mich so verhielt. Obwohl ich Romberg sehr schätzte und gerne sein Engagement unterstützt hatte, konnte ich ihm in dieser Frage nicht folgen. 87
7. Privatisierung der Staatlichen Versicherung: Im Februar 1990 führte Siegert Verhandlungen, die die Staatliche Versicherung (StV) der DDR betrafen. Die StV war ein Monopolversicherungsunternehmen, sowohl für die Wirtschaft als auch für die Bürger. Dieses große Unternehmen war dem Minister der Finanzen unterstellt. Bürger der DDR hatten etwa 11 Millionen Lebensversicherungsverträge und mehr als 35 Millionen Sach- und Personenversicherungsverträge bei der StV abgeschlossen. Die Gesellschaft beschäftigte 13 000 hauptamtliche und ca. 30 000 nebenberufliche Mitarbeiter. 88 3200 Mitarbeiter waren im Außendienst tätig. 89 Das Unternehmen arbeitete mit Gewinn und führte zuletzt 1,7 Mrd. DDR-Mark an den Staatshaushalt ab. Die gesamten Beitragseinnahmen beliefen sich 1989 auf 7,5 Mrd. DDR-Mark, davon entfielen 3,9 Mrd. DDR-Mark auf die Lebensversicherung. 90 Schadensleistungen wurden aus den Beiträgen gedeckt. Fonds für Schadensreserven wurden nicht gebildet. Mit der bei der Wiederver-
Dürkop und de Maizière im Gespräch S. 462. Dürkop und Siegert im Gespräch S. 396. 86 Ebd. 87 Ebd. 88 Dürkop und Siegert im Gespräch S. 397. 89 taz. die tageszeitung, 16.3.1990, S. 11, Inland: Allianz steigt bei DDR-Monopolversicherung ein. Siehe https://taz.de/Allianz-steigt-bei-DDR--Monopolversicherung-ein/!1776315/ (letzter Zugriff 4.11.2020). 90 Ebd. 84 85
89 einigung zu erwartenden Marktsituation entschied man sich für eine Partnerschaft mit der Allianz Holding München. Die Treuhandanstalt wurde als Partner wirksam. 91 Wie kam es dazu? Der Hauptdirektor, Günter Hein, hatte bereits Ende 1989 mit seinem Leitungsgremium, Beratern aus der Wissenschaft und Siegert überlegt, wie das Versicherungsunternehmen der DDR zukünftig agieren könnte. Kontakte der Staatlichen Versicherung zu westdeutschen und ausländischen Versicherern bestanden schon immer. Der Marktführer Allianz aus München bekundete Interesse und überzeugte mit einem Konzept. Als Finanzminister führte Siegert auch Gespräche mit den Allianz-Vorständen Dr. Uwe Haasen und Dr. Friedrich Schiefer. Nachdem der DDR-Ministerrat am 8. März 1990 beschloss, die StV in eine AG umzuwandeln, unterzeichnete Siegert am 14. März eine Absichtserklärung in Form eines unterschriebenen „Joint Venture Vertrages“. Die Richtung war somit für die kommende Regierung vorgegeben. Im Frühjahr warben alle westdeutschen Versicherer in der DDR um Versicherungskunden. Außerdem wechselten etwa 3000 Mitarbeiter der Staatlichen Versicherung den Arbeitgeber. Etwa 3 Millionen Lebensversicherungsverträge bei der Staatlichen Versicherung wurden im Frühjahr gekündigt und in Form des Rückkaufswertes ausgezahlt. 92 Der neue Ministerpräsident Lothar de Maizière war mit der Sache vertraut. Am 26. Juni wurde der Vertrag über die Gründung der „Deutschen Versicherungs AG“ (DV) – also die Überleitung der Staatlichen Versicherung in eine Beteiligungsgesellschaft mit der Allianz – von Siegert unterzeichnet und die StV in die Obhut der Treuhandanstalt der DDR übergeleitet. Die Treuhandanstalt brachte als Sacheinlage für einen Anteil von 49 % die Geschäftsbetriebe, Bankguthaben, Kassenbestände in Höhe von 520 Mill DM ein. Die Allianz zahlte 541 Millionen DM an die Treuhand. In dieser Form bestand dieses „Joint Venture“ bis zum 18. Dezember 1991. In den Folgejahren überwies die Allianz weitere Abschlagszahlungen an die Treuhandanstalt, die sich auf knapp 2 Milliarden DM summierten. 93 Diesen Weg beschrieb Siegert als besonders steinig, weil es Bestrebungen gab, den Vertrag kurz vor der Unterzeichnung zu verhindern: „Bis es im Juni 1990 so weit gediehen war, gab es seitens der Konkurrenzunternehmen in der BRD immer wieder Versuche, das Vorhaben zu torpedieren! Wir bekamen Drohbriefe, die Presse wurde mit Stories gefüttert, die mit Vermutungen und Verdächtigungen sowie blanken Lügen ausgeschmückt waren.“ 94 Wie wichtig de Maizière der Vertrag mit der Allianz war, zeigte er auf: „Mir war wichtig, dass bis zum Eintritt der Währungsunion das Problem Versicherung gelöst war, weil die Staatliche Versicherung der DDR Lebensversicherungen mit einem Kapitalstock von 18 Milliarden Mark hatte. Wenn die Leute alle am nächsten Tag, am 2. Juli 1990, ihre Lebensversicherung gekündigt hätten, wäre die Staatliche Versicherung nicht in der Lage gewesen, das finanziell zu bedienen.“ 95 Dürkop und Siegert im Hintergrundgespräch am 21.10.2019. Ebd. 93 Dürkop und Siegert im Gespräch S. 400. 94 Dürkop und Siegert im Gespräch S. 401. 95 Dürkop und de Maizière im Gespräch S. 460. 91 92
90 Im Jahr 1991 wurde Siegert ein Fall für die Staatsanwaltschaft, die gegen ihn ermittelte. Sein juristischer Vertreter war die Berliner Anwaltssozietät Otto Schily, Nicolas Becker & Reiner Geulen: „Es gab u. a. eine Anzeige von einem Professor aus der Hallenser Universität. Da wurde die Vermutung ausgesprochen, die Allianz habe die DDR-Unterhändler ‚bevorteilt‘, um den ‚Deal‘ zu ermöglichen. Das folgende Ermittlungsverfahren betraf alle in die Sache einbezogenen ehemaligen Leiter der Staatlichen Versicherung der DDR und natürlich mich. Es folgten alle möglichen Verdächtigungen, Verleumdungen usw. […] Mehrere Haussuchungen wurden bei allen Betroffenen und auch bei mir durchgeführt. Es gab monatelange Ermittlungen. Ich habe mich ratsuchend an einige aus den Verhandlungen mir Vertraute in Bonn gewandt. […] Wir konnten uns mit guten Argumenten sowie Beweisen erfolgreich wehren. Am Ende blieb nur die Einstellung des Verfahrens.“ 96 Die Medien informierten die Öffentlichkeit über dieses Verfahren, wobei Siegert sich eindeutig von seiner Schuldfähigkeit distanzierte: „Der Vorwurf, daß Schmiergelder geflossen sind, ist völlig absurd.“ 97 Ministerpräsident de Maizière, der als Zeuge in dieser Angelegenheit geladen war, empfand diese Ermittlungen gegen Siegert als „völliger Blödsinn!“ Das eigenverantwortliche Arbeiten von Siegert wurde ihm quasi zum Verhängnis: „Es wäre besser gewesen, wenn er unter einem ‚Vier-Augen-Prinzip‘ gearbeitet hätte, dann hätte man später nicht solche blödsinnigen Verdächtigungen gegen ihn loslassen können.“ 98 Bei dem Vertrag mit der Münchner Allianz Versicherung gab es keine öffentliche Ausschreibung. Weitere Mitbewerber waren beispielsweise die Colonia, Nordstern, Württembergische Feuer, R + V, Gothaer usw., die diese Vergabepraxis in Frage stellten und kritisierten. Günter Ullrich hatte als amtierender Generaldirektor und nach der Gründung der Deutschen Versicherungs AG (DV) im Juni als Vorsitzender des Vorstands dienstliche Kontakte zu Siegert. Zum Verfahren meinte Ullrich: „Das Thema Ausschreibung ist ein Thema oder ein Begriff, den es zu DDR-Zeiten überhaupt nicht gab, weil bekanntlich kein Markt existierte.“ Für Ullrich waren drei Hauptkriterien wichtig: „1. Wir müssen schnell mit einem großen und finanzstarken Versicherer ins Geschäft kommen. […] 2. Wir konnten uns als Monopolisten überhaupt nicht vorstellen. […] 3. Wir hielten es für nicht akzeptabel, dass 13 000 hauptberufliche Mitarbeiter in irgendeiner Weise deswegen überflüssig werden. […].“ 99 Seiner Wahrnehmung nach war Siegert „ein Glücksgriff“, weil er wusste, „welche Verantwortung die Staatliche Versicherung für die Bevölkerung der DDR zu tragen hatte und dass die Zeit drängt. Neben Kompetenz und Urteilsvermögen ist Siegert von einem ausgeprägten sozialen Bewusstsein gesteuert“. 100 Dürkop und Siegert im Gespräch S. 401. Der Spiegel, 23.12.1991, Ausgabe 52/1991, S. 84–85, Ganz kühl abgefertigt. Durchsuchung in Stuttgart und München: Die Übernahme der DDR-Versicherung durch die Allianz bleibt im Zwielicht. Siehe https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13492320.html (letzter Zugriff 5.11.2020). 98 Dürkop und de Maizière im Gespräch S. 461. 99 Dürkop und Ullrich im Gespräch S. 588. 100 Ebd., S. 589. 96 97
91 Im entscheidenden Gespräch vor Vertragsunterzeichnung am 26. Juni 1990 überzeugte Siegert seinen Minister Walter Romberg, im Beisein von Ullrich, von der zwingenden Notwendigkeit eines schnellen Handelns. Die Verdächtigungen 1991, so Ullrich, setzten Siegert extrem zu: „Inhaltlich und nervlich hat das aber Siegert nach meiner Wahrnehmung schon stark mitgenommen. Er war betroffen und verletzt, dass ihm überhaupt so etwas zugetraut wurde, sich mit Geld bestechen zu lassen, um seine Regierungstätigkeiten zu erledigen.“ 101 Alternativen gab es nicht. Das bestätigte Finanzminister Romberg in seinem Brief an den Ministerpräsidenten de Maizière: „Ich habe zwischenzeitlich nochmals geprüft, ob eine Alternative zur Allianz besteht. Unter den gegebenen Umständen insbesondere […] des Zeitdrucks empfehle ich, an dem vom Ministerrat am 8. März 1990 beschlossenen Konzept der Gründung der Deutschen Versicherungs-AG unter Beteiligung der Allianz und dem darauf basierenden Vorvertrag vom 14. März […] festzuhalten.“ 102
8. Staatssekretär in der Regierung de Maizière unter den Finanzministern Romberg und Skowron (1990): Im Frühjahr 1990 sondierten beide deutsche Staaten ihre
Positionen zur Einführung der D-Mark und der Marktwirtschaft in der DDR. Die Bundesregierung und die Deutsche Bundesbank bereiteten sich auf die Vertragsverhandlungen vor, die sie nach der Volkskammerwahl am 18. März mit den Vertretern der neuen Regierung intensiviert führen wollten. Am 5. März fertigte Bruno Schmidt-Bleibtreu (1926–2018), in der Zeit von 1982 bis 1991 Ministerialdirektor und Leiter der Abteilung V, eine erste Skizze eines Modells für einen Vertrag an. Am 7. März riet Klaus Kinkel (BMJ) davon ab, zum gegenwärtigen Zeitpunkt einen Staatsvertrag mit der DDR zu fixieren, im Hinblick auf die kommenden schwierigen Zwei-plus-Vier-Gespräche. Ein erster Rohentwurf wurde dennoch vom federführenden BMF am Wochenende des 30. März bis 1. April erarbeitet. Um es vorwegzunehmen, dieser Entwurf entsprach weitgehend dem späteren, von beiden Seiten akzeptierten endgültigen Vertragsentwurf. 103 Am 12. April wählte die Große Koalition in Ostberlin in der Volkskammer Lothar de Maizière zum Ministerpräsidenten. Im großen Kabinett mit Ministerpräsident Lothar de Maizière an der Spitze und unter dem neuen Finanzminister Walter Romberg (SPD) wurde Siegert neben dem Parlamentarischen Staatssekretär Dieter Rudorf (SPD) 104 sowie Ebd., S. 592. Barbara Eggenkämper, Gerd Modert, Stefan Pretzlik, Die Staatliche Versicherung der DDR. Von der Gründung bis zur Integration in die Allianz, München 2010, S. 189. 103 Grosser, Geschichte der deutschen Einheit, Ebd., S. 240–243. 104 Dieter Rudorf (geboren 1938) war bis 1989 parteilos und ab November 1989 Mitglied der SPD. Rudorf war Mitglied im Vorstand Sachsen-Süd. Von März bis Oktober 1990 war er Abgeordneter der Volkskammer. Zwischen Juni und August 1990 war er Parlamentarischer Staatssekretär im Ministerium der Finanzen der DDR. 101 102
92 den beiden Staatssekretären Werner Skowron (CDU) 105 und Martin Maaßen (LDPD/FDP), 106 abermals Staatssekretär. Die Koalitionsvereinbarung (unterschrieben am 2. April) trug zu großen Teilen und in einem beachtlichen Maß eine Übereinstimmung mit den Positionen, die die Regierung Modrow während der deutsch-deutschen Expertengespräche vertreten hatte. Die Personen in den Ministerien waren dieselben, die bereits in der Modrow-Regierung mitgewirkt hatten. 107 Einer davon war Walter Siegert. Wie kam es dazu? Nach dem Ende der Amtszeit der Modrow-Regierung war es zugleich auch der letzte Arbeitstag für Siegert im Finanzministerium. Beim Zusammenräumen im Büro klingelte das Telefon. Ein Anruf vom neugewählten Ministerpräsidenten de Maizière, der Siegert darum bat „weiterzumachen“, denn seine „Erfahrung“ würde weiterhin gebraucht werden. 108 Ursprünglich hoffte der Ministerpräsident, dass Romberg Außenminister wird und nicht Finanzminister. Die SPD zeigte zunächst wenig Neigung, das Finanzressort zu übernehmen. Obwohl de Maizière Romberg in einem persönlichen Gespräch bat, das Amt nicht anzunehmen, beharrte er jedoch darauf. De Maizière änderte allerdings seine Meinung: „Da er Walter Siegert, einem hocherfahrenen Finanzspezialisten, zum Staatssekretär machten wollte, machte ich von meinem Vetorecht keinen Gebrauch.“ 109 Einige Tage später stand Romberg am späten Abend vor Siegerts privater Haustür und fragte: „Ich würde diese Aufgabe in der neuen Regierung übernehmen, aber nur mit Ihnen an meiner Seite! Sind Sie bereit, meinen Vorschlag anzunehmen?“ 110 Siegert willigte nach Rücksprache mit seiner Frau ein. Romberg war sichtlich erleichtert. Eine Entscheidung, so beteuerte Siegert, die er niemals bereute. 111 Nachdem Tietmeyer den Ministerpräsidenten der DDR den Text eines Vertragsentwurfs am 23. April überreicht hatte, de Maizière seine Bedenken über weitergehende Hilfs- und Schutzmaßnahmen am 24. April bei Gespräch mit Kohl in Bonn äußerte, leitete er am 25. April das Dokument an seinen Parlamentarischen Staatssekretär Günther Krause weiter,
Werner Skowron (CDU), geboren am 30.10.1943 in Rückers (Landkreis Glatz) und verstorben am 18.3.2016 in Fredersdorf-Vogelsdorf. Er war Staatssekretär und in der Zeit vom 20.8. bis zum 3.10.1990 der letzte Geschäftsführende Finanzminister der DDR und somit Nachfolger von Walter Romberg. 106 Maaßen (geboren 1934) war seit 1956 Mitglied in der LDPD. Am 2.5.1990 wurde er im Zuge der Regierungsbildung zum Staatssekretär im Ministerium der Finanzen berufen. 107 Grosser, Geschichte der deutschen Einheit, Ebd., S. 273. 108 Dürkop und Siegert im Gespräch S. 301. 109 Lothar de Maizière, Ich will, dass meine Kinder nicht mehr lügen müssen, Meine Geschichte der deutschen Einheit, Freiburg im Breisgau 2012, S. 152, (i. F. z. a. De Maizière, Ich will, dass meine Kinder). 110 Dürkop und Siegert im Gespräch S. 301. 111 Am 2.5.1990 wurde Siegert zum Staatssekretär im Ministerium der Finanzen des Ministerrats der DDR berufen. Das Dokument wurde von Lothar de Maizière unterschrieben und befindet sich im Archiv von Siegert. Eine Kopie liegt Dürkop vor. 105
93 der für die ostdeutsche Seite der Verhandlungsführer in den nächsten Wochen und Monaten sein sollte. An diesem Tag begann die erste Runde mit den Gesprächen über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion in Ost-Berlin. Die Delegation der Bundesrepublik setzte sich aus dem Leiter Tietmeyer, den Staatssekretären Klemm, Köhler und von Würzen, mit Jagoda und Schlesinger zusammen. Die ostdeutsche Seite wurde von Krause geleitet und bestand aus den Staatssekretären Siegert und Alwin Ziel, den Abteilungsleitern Siegfried Wenzel und Peter Grabley, Wolfried Stoll und zeitweise auch Peter Kauffold und Stephan Supranowitz. Hinzu kamen zahlreiche Referenten auf beiden Seiten. 112 Aufgrund der Kurzfristigkeit der Kenntnisnahme über die Inhalte des Entwurfs war nur ein erster Gedankenaustausch möglich. Die zweite Gesprächsrunde fand am 27. April wieder in Ost-Berlin statt. Die ostdeutsche Delegation akzeptierte bereits 90 % des West-Entwurfs und war letztendlich froh darüber, dass dieser vorlag und in den Formulierungen auf die Wünsche der DDR – so weit wie möglich – einging. 113 Problemfelder waren u. a.: Formulierungen in der Präambel abzustimmen; eine internationale Absicherung des Staatsvertrags zu erzielen; eine Anpassung der Landwirtschaft an die EG-Agrarmarktordnungen zu vereinbaren; Neuauflagen für den Umweltschutz; Eigentumsfragen; Strukturanpassungshilfen fehlten; Fragen über die sozialen Sicherung der Kranken- und Rentenversicherung; Bedingungen der Währungsumstellung usw. 114 Siegert dazu: „Unsere Bemühungen gingen vor allem dahin, alles zu tun, um die Betriebe nicht sofort in die Knie gehen zu lassen!“ 115 Die dritte Runde fand im kleinen Kreis am 30. April/1. Mai statt, wobei Einigung über die Bedingungen der Währungsumstellung erzielt wurde. Am 2. Mai stimmten beide Seiten der 12-Punkte-Erklärung zur Währungsumstellung zu, die Tietmeyer und Seiters vor der Bundespresskonferenz in Bonn vorstellten. 116 Am 3./4. Mai fand die vierte Gesprächsrunde über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion. Strittig waren u. a. Punkte der sozialen Sicherung. Auch, dass die Bundesbank ihr eigenes Recht erhielt, auf dem Territorium der DDR ihre eigene Organisation zu errichten. Stoll wollte mehr Einfluss für die DDR-Staatsbank erreichen, scheiterte jedoch und verzichtete ganz wesentlich auf ihre Souveränität. Aufgrund der am 6. Mai bevorstehenden Kommunalwahlen in der DDR lagen die von Regine Hildebrandts Ministerium für Arbeit und Soziales fixierten Einwände nicht vor. Am Wochenende vom 11. bis 13. Mai kam es bei der letzten „Marathonsitzung“ in Bonn 117 zur Einigung über den Entwurf. Am 14. Mai gab es wiederum ein Treffen zu weiteren Grosser, Geschichte der deutschen Einheit, Ebd., S. 280. Ebd., 281. 114 Ebd., S. 282–285. 115 Dürkop und Siegert im Hintergrundgespräch am 11.7.2019. 116 Die Zwölf-Punkte-Erklärung ist aufgeführt in: Grosser, Geschichte der deutschen Einheit, Ebd., S. 288–289. 117 Ebd., S. 296. 112 113
94 Gesprächen zwischen den Finanzministern Waigel und Romberg. Dabei anwesend waren Tietmeyer und Klemm, Schleußer (NRW) und Tandler (Bayern) sowie Beamte des Finanzministeriums und für den Osten Krause, Stoll und Siegert. Es herrschte Unstimmigkeit über die genauen Zahlen des Finanzbedarfs der DDR. Romberg und Siegert erklärten die Gründe: „Wachsende Absatzprobleme der Industrie, deren Produkte von Westwaren verdrängt würden. Daraus ergäben sich erhebliche Mindereinnahmen für den Staatshaushalt“. 118 Als Waigel darauf drängte, die Haushaltsplanung der DDR für die zweite Hälfte 1990 und für das Jahr 1991 vorzutragen, erklärte sich Romberg dazu außerstande. Hinzu existierte für Waigel das Problem, wie diese DDR-Haushaltsdefizite überhaupt finanziert werden sollten. Siegert und Klemm wurden beauftragt, eine endgültige Übersicht „für die Festschreibung der Kreditaufnahme der DDR, der Zuweisungen aus der Bundesrepublik und der Aufteilung der Schulden nach Beitritt“ auszuarbeiten. 119 Am 17. Mai lieferte Siegert die Zahlen und ging dabei „von einem Defizit von 43 Mrd. [DM] im 2. Halbjahr 1990 und von 65 Mrd. [DM] 1991 aus“. 120 Er nannte dieses Zahlenwerk, weil er die Angaben um die Strukturanpassungshilfen für die Betriebe erhöhte, was Klemm allerdings eher bei den Privatisierungserlösen bei der Treuhand finanziert sehen wollte. Siegert akzeptierte anstandslos die Position von Klemm. 121 Daraufhin einigten sich beide Seiten auf den Kompromiss, wobei „die Vorschläge zur Deckung der zu erwartenden Haushaltsdefizite von 33 Milliarden DM im zweiten Halbjahr 1990 und 53 Milliarden DM im Jahr 1991 beiderseitig akzeptiert“ wurden. 122 Am 18. Mai stimmten die Bundesregierung und die Regierung der DDR dem Staatsvertrag zu und die Finanzminister Waigel und Romberg unterzeichneten den Vertrag im Palais Schaumburg in Bonn. Der Staatsvertrag fand in der Volkskammer eine breite Zustimmung. Nur die PDS und Bündnis 90/Grüne waren insgesamt unzufrieden und kündigten an, dem Werk nicht zuzustimmen. Schlussendlich wurde am 21. Juni der Staatsvertrag in der Volkskammer mit einer Zweidrittelmehrheit bejaht. In der Nacht am selben Tag ratifizierte auch der Bundestag von 506 Stimmen mit 445 Ja-Stimmen, 60 Nein-Stimmen und einer Enthaltung dieses Vertragswerk. 123 Die letzte Hürde nahm der Vertrag am 22. Juni im Bundesrat, Ebd., S. 302. Ebd., S. 303. 120 Direktive für die abschließenden Verhandlungen des Ministers der Finanzen der DDR […]. BA DC 20 /61 82. 121 Grosser, Geschichte der deutschen Einheit, Ebd., S. 303. 122 Johannes Ludewig, Unternehmen Wiedervereinigung. Von Planern, Machern, Visionären. Hamburg 2015. Auch Thilo Sarrazin erinnert sich: „Ein Vorbereitungsgespräch der Staatssekretäre Dr. Klemm und Siegert führte dann schließlich zu den abgestimmten Zahlen, die die Grundlage für die Einigung der Minister am Nachmittag des 17. Mai waren.“ In: Waigel/Schell, Tage, die Deutschland und die Welt veränderten, Ebd., S. 213. 123 Die Sitzungsprotokolle Bundestag sind unter http://dipbt.bundestag.de/doc/btp/11/11217.pdf einsehbar (letzter Zugriff 2.11.2020). Das Abstimmungsergebnis im Bundestag siehe S. 146 ff. 118 119
95 wobei außer Niedersachsen (MP Gerhard Schröder) und das Saarland (MP Oskar Lafontaine) alle anderen Bundesländer zustimmten. Am 1. Juli trat der Vertrag zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion in Kraft. 124 In der Nachbetrachtung sah Siegert bei der Rechtsangleichung von Ost und West kein „Verhandeln auf Augenhöhe“. Vielmehr bestand Bonn darauf, dass sich „alle Ostdeutschen nun den besseren sowie bewährten Regeln des Rechtsstaates zu unterwerfen hatten“. Ferner reklamiert er, um die Tatsache nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, „die mehreren tausend Beamte, Richter, Anwälte usw., die aus dem Westen in unsere Neuen Länder eilten, sollten die etwa ‚umlernen‘? Sicherlich nicht!“ 125 Anerkennend äußerte sich Siegert über die Unterstützung und Beratung aus dem Westen, die behilflich bei der Kompromissfindung waren. Besonders hob er Kollegen Peter Breitenstein und Jürgen Brockhausen sowie auch den Cousin von Lothar de Maizière, Thomas de Maizière, und seinen Partner aus dem Bundesfinanzministerium Peter Klemm hervor. Dabei schlussfolgerte der Ökonom: „[…] die Spielräume waren allerdings sehr klein. […] Aber es war für uns alternativlos.“ 126 Seinen Anteil ordnet er realistisch ein: „Zugehört, mitgedacht, nachgefragt, diskutiert, sich bemüht, das System der Regelungen zu verstehen und unsere, d. h. die Interessen der Bürger der DDR vor allem in Bezug auf die Umtauschmodalitäten zu wahren.“ 127
9. Koalitionsbruch und Einigungsvertrag als Vertrag sui generis: Am 6. Februar 1990 bildete die Bundesregierung einen Kabinettsausschuss „Deutsche Einheit“ unter Vorsitz von Bundeskanzler Kohl. Es wurden sechs Arbeitsgruppen gebildet, wovon sich einer mit der Schaffung einer Währungsunion und mit Finanzfragen unter Leistung des Finanzminister Waigel befasste. Der neugewählte Ministerpräsident, Lothar de Maizière, beauftragte Günther Krause, Parlamentarischer Staatssekretär im Amt und zugleich Leiter des Arbeitsstabes Deutsche Einheit, mit der Verhandlungsführung. Der erste Schritt war bereits mit dem Vertrag über die Herstellung der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion, der am 1. Juli 1990 in Kraft trat, gemacht worden. Mit einem zweiten Staatsvertrag sollte nun die Rechtsangleichung auf den übrigen Rechtsgebieten erfolgen. 128 Am 4. Juli 1990 beauftrage Finanzminister Romberg die Staatssekretäre Siegert und Skowron, Verhandlungen zum Staatsvertrag zur Herstellung der deutschen Einheit zu
Das Gesetz vom 25.06.1990 – Bundesgesetzblatt Teil II 1990, Nr. 20 29.6.1990, S. 518 ist beim Bundesanzeiger Verlag GmbH in Köln einsehbar unter https://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?startbk=Bundesanzeiger_BGBl&start=//*%5b@attr_id=%27bgbl290s0518.pdf%27%5d#__bgbl__%2F%2F*%5B%40attr _id%3D%27bgbl290s0518.pdf%27%5D__1604397235162 (letzter Zugriff 2.11.2020). 125 Dürkop und Siegert im Gespräch S. 394. 126 Ebd., S. 311. 127 Ebd., S. 384. 128 De Maizière, Ich will, dass meine Kinder, Ebd., S. 282. 124
96 führen. 129 Somit wurde Siegert auf dem Teilgebiet Finanzen des Einigungsvertrages (EinigVtr) beteiligt. Beim ersten Staatsvertrag war es noch so, dass der Entwurf von der Bundesrepublik kam, sodass die ostdeutsche Seite es relativ schwer hatte, „abweichende Regelungen“ durchzusetzen. Das sollte beim zweiten Staatsvertrag anders laufen. Die Rohskizze kam von der DDR-Seite. Des Weiteren unterbreitete de Maizière den Vorschlag, den zweiten Staatsvertrag „Einigungsvertrag“ zu nennen. Am 6. Juli 1990 fanden die ersten Verhandlungen statt. Einige Aufgaben, die es zu lösen galt, standen bei den Verhandlungen auf der gemeinsamen Agenda: Beispielsweise Fragen zur künftigen Hauptstadt mit dem Regierungssitz (Bonn oder Berlin), ein neuer Name des gemeinsames Staates, eine gemeinsame Hymne, § 218 Strafgesetzbuch (Abtreibung), der grüne Pfeil im Verkehrsrecht, die Bestimmung des Tages der Deutschen Einheit, Neufassung des Artikels 143 Grundgesetz (Bodenreform), Vereinbarung über den horizontalen Länderfinanzausgleich und gesamtdeutschen Finanzausgleich, Mittel aus dem Fonds Deutsche Einheit, Fragen der Staatensukzession, Umgang mit dem Treuhandvermögen zum Ende, die kulturelle Substanz in den ostdeutschen Gebieten sollte keinen Schaden nehmen (Investitionszusage), Anerkennung von Berufs- und Ausbildungsabschlüssen, Vermögensfragen (Entschädigungsprinzip vs. Rückgabeprinzip) usw. 130 Bei der Steuerhoheit kam es zum Konflikt. Dabei ging es um eine drohende Finanzierungslücke. Die Akteure versuchten, die Finanzverfassung der ostdeutschen Länder so gegenüber dem alten Stand zu verändern, dass alle Steuern im Osten bleiben sollten. Grundsätzlich unterscheidet das deutsche Steuersystem zwischen Gemeinschaftssteuern, die an mehrere staatlichen Ebenen gehen, Bundessteuern, Landessteuern und Gemeindesteuern. Insgesamt gibt es in Deutschland fast 40 verschiedene Steuerarten. Die Aufteilung erfolgt im bundesstaatlichen Finanzausgleich, mit der vertikalen und horizontalen Steuerverteilung sowie mit dem Länderfinanzausgleich. 131 Dass Steuern zwischen Bund und Länder aufgeteilt werden sollten, wollte Romberg nicht. Dabei versuchte er, eine möglichst gute Zuordnung des Vermögens zu den Ländern und den Gemeinden zu erreichen. Weniger zum Bund, sondern mehr zugunsten der ostdeutschen Länder und Gemeinden. In dieser Problematik kam es zwischen Siegert, Romberg und de Maizière zum Zerwürfnis, als Romberg eine andere Verteilung der Steuern wählen wollte, wozu ihm westliche Berater – Dr. Otto-Erich Geske und Alvin Steinke 132 – geraten hatten, die gesamte 129 Das Dokument wurde von Walter Romberg unterschrieben und befindet sich im Archiv von Siegert. Eine Kopie liegt Dürkop vor. 130 De Maizière, Ich will, dass meine Kinder, Ebd., S. 282–293. 131 Siehe dazu https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Standardartikel/Themen/Oeffentliche_Finanzen/Foederale_Finanzbeziehungen/Laenderfinanzausgleich/Der-Bundestaatliche-FAG.pdf?__blob=publicationFile&v=3 (letzter Zugriff 1.11.2020). 132 Jürgen Brockhausen, Dr. Walter Romberg – Verpflichtung eines Christen in die Politik: Überarbeitung eines Vortrags vom 16. April 2015 im Pfarrhaus Teltow, Düsseldorf 2019, S. 28.
97 Umsatzsteuer sowie andere Steuern voll in den neuen Ländern zu belassen, also keine Aufteilung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden zu übernehmen. Lothar de Maizières Berater warnten allerdings vor einem solchen „Wagnis“. Es war bereits abzusehen, dass die Wirtschaft im Osten zunehmend erlahmte. Deshalb war das eigene Steueraufkommen höchst fraglich. Diese Situation führte zum Ende der Koalition mit den Sozialdemokraten. Bei de Maizière erschien der Staatssekretär Siegert und bat darum, ihn selbst abzuberufen. 133 Der Grund war, dass Romberg ihn im Zuge der Einigungsvertragsverhandlungen zwang, einen Finanzmodus zu verhandeln, der gegen die Interessen der DDR gerichtet sei. Siegert sah nach seiner SED-Zeit im Finanzministerium die Chance zur Wiedergutmachung in dieser Regierung dienen zu dürfen: „Er wollte nun aber nicht erneut der DDR schaden. Deswegen bat er mich, ihn abzuberufen.“ 134 Weil Romberg darauf beharrte, dass sich die Ostdeutschen nicht auf Dauer „alimentieren“ lassen sollten, entschied de Maizière, in Rücksprache mit Richard Schröder, der den Ministerpräsidenten in der Argumentation unterstützte, Romberg die Entlassungsurkunde zu überbringen. Diese Entlassung nahm die Fraktion der Sozialdemokraten zum Anlass, aus der Koalition auszuscheiden. 135 Schröder wollte kein Misstrauensvotum gegen de Maizière stellen. Er trat als Fraktionsvorsitzender zurück. Wolfgang Thierse wurde sein Nachfolger im Amt. 136 Am 19. August 1990 trat die SPD mit sechs Ministern aus der gemeinsamen Regierung mit der CDU aus. Siegert behielt sein Amt als Staatssekretär inne. Kommissarisch führte Werner Skowron das Amt des Finanzministers der DDR bereits seit 15. August bis zum Tag der Deutschen Einheit weiter. Der schlimmste Kontrahent für die Ostdeutschen war Wolfgang Clement (1940–2020) 137 aus Nordrhein-Westfalen. Ziel der ostdeutschen Akteure war es, möglichst viele ihrer Mitarbeiter in Beschäftigung zu bringen. Das Bundesfinanzministerium, das seit März 1990 bereits viele Berater im DDR-Finanzministerium untergebracht hatte, kannte den Kaderbestand sehr gut und übernahm rund 100 Leute. Zum Teil auch auf Gebieten, die diese Mitarbeiter noch gar nicht leisten konnten, z. B: RGW-Spezialisten. Ein großer Teil der Mitarbeiter wechselte u. a. in die Finanzämter und in die Oberfinanzdirektion Berlin. Viele Leute aus der DDR-Finanzrevision kamen in Wirtschaftsprüferinstitutionen unter. 138 Hans Tietmeyer erinnerte sich an seine Zweifel beim Aufbau der Finanz- und Steuerverwaltung sowie, dass die unverzügliche Anwendung des sehr komplizierten Ausführlich dazu im Interview: Walter Siegert als Staatssekretär in der Regierung de Maizière und unter Finanzminister Walter Romberg, S. 307 ff. 134 De Maizière, Ich will, dass meine Kinder, Ebd., S. 165. 135 Ebd. S. 166. 136 Ed Stuhler, Die letzten Monate der DDR. Die Regierung de Maizière und ihr Weg zur deutschen Einheit, Berlin 2010, S. 67 ff. 137 Im Jahr 1989 wurde er als Staatssekretär und Chef der Staatskanzlei des Landes NordrheinWestfalen in die von Ministerpräsident Johannes Rau geführte Landesregierung berufen. Ab den 13.6.1990 war Clement im Range eines Ministers für besondere Aufgaben. 138 Dürkop und Siegert im Hintergrundgespräch am 14.5.2018. 133
98 westdeut-schen Steuerrechtes möglich sei: „Man nahm zwar meine Zweifel entgegen, glaubte aber die Probleme nach relativ kurzer Übergangszeit bewältigen zu können.“ 139 Am 6. August erfolgte die Fertigstellung des ersten Entwurfs des Einigungsvertrages. Am 23. August erfolgte dann der Beschluss der Volkskammer, dass die DDR, nach Artikel 23 Grundgesetz, der Bundesrepublik beitreten wird (mit 294 von 400 Stimmen). Die zweite Variante nach Artikel 146 Grundgesetz beizutreten, wonach eine neue, gesamtdeutsche Verfassung das Grundgesetz hätte ablösen können, wurde verworfen. Die vorletzte Runde fand am 28. statt, wobei eine weitgehende Übereinstimmung über Finanzfragen im Rahmen des Einigungsvertrages erzielt wurde. Am 30. erfolgte die abschließende Verhandlungsrunde zum Einigungsvertrag in Bonn. Am 31. erfolgte die Paraphierung des Einigungsvertrages in Bonn und Ost-Berliner Kronprinzenpalais. Unterzeichnet wurde der mit neun Kapiteln, fünfundvierzig Artikeln und über 1000 Seiten umfassende Vertrag von Wolfgang Schäuble, Bundesminister des Innern, und dem DDR-Staatssekretär Günther Krause. Am 20. September wurde der Einigungsvertrag in zweiter und dritter Lesung im Deutschen Bundestag verabschiedet. Am 21. erfolgte die Verabschiedung im Bundesrat. Auch die Volkskammer stimmte dem Vertrag zu (299 Ja-Stimmen, 80 Nein-Stimmen, 1 Stimmenthaltung). Am 2. Oktober wurde der Einigungsvertrag im Gesetzblatt der DDR verkündet (Teil 1, Seite 1988). Für de Maizière war der Einigungsvertrag 140 ein Vertrag „sui generis“ (Vertrag ganz eigener Art) und kein staatsrechtlicher oder völkerrechtlicher Vertrag. Wolfgang Schäuble sah eine Art „Contract social“ (Gesellschaftsvertrag). 141 Siegert arbeitete nach dem Tag der deutschen Einheit bis zum 31. März 1991 als Berater im Ministerium der Finanzen in Bonn mit, bevor er in die private Wirtschaft wechselte. 1996 ging er in den Ruhestand und beteiligte sich immer wieder am öffentlichen Diskurs.
Waigel/Schell, Tage, die Deutschland und die Welt veränderten, Ebd., S. 108. Der Einigungsvertrag ist unter https://www.gesetze-im-internet.de/einigvtr/BJNR208890990.html einsehbar (letzter Zugriff 7.11.2020). 141 De Maizière, Ich will, dass meine Kinder, Ebd., S. 292–293. 139 140
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V. „Damals und heute“: Eine Einordnung von Politik, Medien und Öffentlichkeit – Struktur und Organisation der Medien Die Geschichte der Entstehung und Entwicklung der Systeme „Politik, Medien und Öffentlichkeit“ in der Bundesrepublik und in der DDR könnten gar nicht unterschiedlicher gewesen sein. Ausführlich, insbesondere zu den Anfängen der gemeinsamen deutschen Mediengeschichte beider deutscher Staaten, äußerten sich im Gespräch Günther von Lojewski (Anhang S. 631 ff.) und Frank Schumann (Anhang S. 655 ff.). Dabei zeigten die beiden Journalisten ihre unterschiedliche Perspektive auf die ambivalente Weiterentwicklung ab den 1960er Jahren, in den Zeiten der Trennung im Kalten Krieg, auf. Eine weitere Einschätzung lieferte Klaus Feldmann (Anhang S. 627 ff.), der ehemalige Nachrichtensprecher der „Aktuellen Kamera“ (AK). Nachfolgend stellt dieses Kapitel die Mediensysteme der DDR, wie Fernsehen und Printmedien, dar. 1 Siegerts mediale Nutzung, vor sowie auch nach dem Ende der DDR, wird in einigen Beispielen aufgezeigt. Das Fazit spannt einen Bogen vom schwierigen Integrationsprozess der ostdeutschen Medienvertreter in die für sie neue Medienlandschaft bis hin zur gegenwärtigen Rolle von Journalisten, Experten und Kommunikationsmitteln. Alle Medien in der DDR waren eng mit der führenden SED verbunden. Am 21. Dezember 1952 nahm das Fernsehen offiziell den Sendebetrieb auf. Ab 1956 wurde ein regelmäßiges Programm in Schwarz-Weiß unter dem Namen „Deutscher Fernsehfunk“ (DFF) ausgestrahlt. Damit wurde der komplette technische Verantwortungsbereich in die Hände des Ministeriums für Post- und Fernmeldewesen gelegt. Ab den 1960er Jahren etablierte sich das Fernsehen in der DDR, was dazu führte, dass der Staat noch mehr Einfluss auf Bild und Ton übernahm. Das oberste Leitungsgremium war das „Staatliche Komitee für Fernsehen“ (SKF), 2 was formal dem Ministerrat der DDR unterstand. Am 21. Dezember 1989 wurde das SKF in „Fernsehen der DDR“ umbenannt und am 15. März 1990 in „Deutscher Fernsehfunk“ umgewandelt. Im Jahr 1968 wurde Heinz Adameck Vorsitzender des SKF. Damit prägte er jahrzehntelang das DDR-Fernsehen und sorgte für dessen politische Ausrichtung erheblich mit. Am 30. November 1989 wurde Adameck, gemäß eigener Bitte, von Ministerpräsident Hans Modrow abberufen. Sein Nachfolger als Generalintendant wurde ab dem 1. Dezember Hans Bentzien. Die „Agitation und Propaganda“ beim ZK der SED in der DDR bediente sich des Vorbilds Lenins – Agitprop für die Gesamtheit der Vermittlung kommunistischer Politik leninistischer Ausprägung –, um eine einheitliche, propagandistische Sprachregelung für politische Werbung in die Gesellschaft zu implantieren. Zusätzlich existierte die Abteilung „Agitation“, als eine zentrale Diensteinheit des Ministeriums für Staatssicherheit in der 1 2
Bei der weiteren Betrachtung stehen Film und Radio nicht im Fokus. Wurde am 15.9.1968 in Ostberlin gegründet.
100 DDR (1955–1985). Primär sorgte die Abteilung für die Traditionspflege (Handlungsmuster, Überzeugungen), Öffentlichkeitsarbeit (Kommunikation) und Stärkung des eigenen Ansehens des MfS in der Bevölkerung. Ab 1985 wurde die Diensteinheit in das Funktionalorgan „Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe“ (ZAIG) eingegliedert. 3 Die mediale Umsetzung erfolgte u. a. durch die älteste deutsche und tägliche Nachrichtensendung, die Aktuelle Kamera (AK), die vom 21. Dezember 1952 bis 30. Oktober 1989 ausgestrahlt wurde. Die Sendungsinhalte bestanden aus ausführlichen Berichterstattungen, aus Tagungen des Zentralkomitees und aus den Parteitagen der SED, Staatsbesuchen, Jahresfeierlichkeiten, Auszeichnungsverleihungen, Betriebsbesichtigungen und anderen offiziellen Anlässen sowie der „Planerfüllung“ und den „Rekord-Ernten“ in der Landwirtschaft. Auch eine intensive Auslandsberichterstattung aus weiteren Satellitenstaaten bzw. über „den großen Bruder“ in Moskau sowie Sportereignisse waren gesetzte Sendungsformate. Eine kritische Berichterstattung über innenpolitische Probleme, eine wirtschaftliche und finanzielle Schieflage, intensive Kreditinanspruchnahme, Entstehung und Entwicklungen einer Oppositionsbewegung (sog. Teilöffentlichkeit), über gescheiterte Fluchten und Todesfälle an der Mauer und am antifaschistischen Schutzwall 4, über gefälschte Wahlergebnisse, über die Ausreisewelle und erfolgreiche Fluchten im Frühjahr/Sommer 1989 usw. waren absolute Tabuthemen. Klaus Feldmann war über 30 Jahre als Nachrichtensprecher das Gesicht der Aktuellen Kamera im DDR-Fernsehen. Heute äußert er sich distanziert zu den Entwicklungen der Sendung und seinen beschränkten Möglichkeiten. Er bestätigt die Partei- und Staatskontrolle: „Ansätze einer bisher durchaus üblichen kritischen Berichterstattung verschwanden aus den Sendungen der ‚AK‘. Inhalte und Reihenfolge der Beiträge wurden von der Agitationskommission des ZK der SED täglich der Chefredaktion vorgegeben.“ War die DDR-Bevölkerung technisch dazu in der Lage, wanderte sie medial allabendlich in den Westen aus, was auch Feldmann wusste: „Natürlich informierten sich die DDR-Bürger, wenn ein Empfang möglich war, bei ARD und ZDF, um über die Lage im Lande informiert zu sein.“ 5 Ein weiteres Sendungsformat, mit gespitzter SED-Propaganda gen Westen gerichtet, war die Sendung „Der Schwarze Kanal“ mit dem Chefkommentator Karl-Eduard von Schnitzler. Ausschnitte aus westlichen Reportagen, Nachrichten, Polit-Magazinen wurden süffisant von „Sudel-Ede“ 6 mit aggressiver Polemik kommentiert. Für die DDR-Bevölkerung Siehe Öffentlichkeits- und Traditionsarbeit des MfS unter https://www.bstu.de/mfs-lexikon/detail/oeffentlichkeits-und-traditionsarbeit-des-mfs/ (letzter Zugriff 1.3.2021). 4 „Friedenssicherung am antifaschistischen Schutzwall“, so lautete die offizielle DDR-Bezeichnung für die Tätigkeit der Grenztruppen. Die innerdeutsche Grenze war 1 378 Km lang. 5 Dürkop und Feldmann im Gespräch S. 629. 6 Der Spiegel, 8.2.1961, Ausgabe 7/1961, S. 58, Propaganda: Mann gegen Mann. Das SchnitzlerZitat „Schwarze Kanäle mögen sudeln“ benutzte TV-Moderator Günter Lincke zur Schluss-Attacke: „Wer hier sudelt, das dürfte ... klargeworden sein.“ Und „schlicht und einfach“ taufte er Walter Ulbrichts Fernseh-Agitator „Sudel-Ede“. Siehe https://www.spiegel.de/spiegel/print/d3
101 war allerdings diese übertriebene Darstellung der westlichen Lebensverhältnisse mehr als unglaubwürdig. Schnitzler rückte zum meistgehassten Journalisten auf. Am 30. Oktober 1989 – nach 1519 Folgen – wurde die Sendung aus dem Abendprogramm entfernt, weil die Absetzung u. a. auf den Montagsdemonstrationen gefordert worden war. Hingegen fiel Siegerts Meinung über von Schnitzler „milder“ als vom Interviewer erwartet aus: „Er war grantig, überzog auch. Das war eben sein Stil, aber er hatte schon Argumente zu Vorgängen in der BRD, die aufhorchen ließen. […] Viel hat sich Schnitzler mit den avancierten Nazi-Größen in der BRD befasst. Die haben Kraft ihres Einflusses natürlich zugeschlagen, ihn öffentlich diffamiert.“ Die Kritik Siegerts, der einige Sendungen gesehen hatte, bezog sich vielmehr auf die Art der Präsentation und Kommentierung des Protagonisten: „Sicher, er überzog mitunter. Die ihn in der DDR ablehnte, war wohl jene Gemeinde, die sich vom Westfernsehen angezogen und unterhalten fühlte. […] Mit ein bisschen ‚Schmäh‘ wäre manches besser rübergekommen. Aber er fühlte sich eben als zupackender Streiter.“ 7 Eindeutig und negativ fiel die Meinung über von Schnitzler durch den Journalisten und SFB-Intendanten (1989–1997) Günther von Lojewski aus, der wie sein Vater auch, in der Sendung vorgeführt wurde: „Fakt ist, dass seine Einschaltquote in der Schlussphase bei ungefähr drei Prozent lag, mit anderen Worten also, er wurde nicht nur lächerlich gemacht, sondern er wurde nicht mehr beachtet. Das ist im Grunde für einen Journalisten noch viel schlimmer. Aber es bleibt dabei: von Schnitzler war am Ende nicht mehr in der Lage, die Realität zu erkennen. Er verabschiedete sich mit dem letzten Wort ‚Auf Wiedersehen‘. Wir haben ihn allerdings danach nie wiedergesehen. Das war schlichtweg ein Realitätsverlust. Er war in seiner Ideologie, die Journalisten grundsätzlich nicht haben sollten, so verhaftet, dass er am Ende nicht nur den Glauben verloren hatte, sondern vor allen Dingen das Publikum.“ 8 Das Printmedium und Zentralorgan Neues Deutschland (ND), die SED-Tageszeitung, erschien in der Zeit von 1946 bis 1989 täglich. Bis heute ist das ND in Ostdeutschland eine gute verbreitete und gelesene überregionale Tageszeitung, obwohl der Auflagenrückgang deutlich von damaligen mehr als einer Million (80er Jahre) zu gegenwärtig nur noch unter 20 000 Exemplare gesunken ist. Ein Medienaufbereiter und -verteiler war die Panorama DDR-Auslandspresseagentur GmbH (Berlin), die Exklusivbeiträge für ausländische Massenmedien verschickte und Faktenmaterial und Dokumentationen über das gesamte öffentliche Leben in der DDR produzierte.
43159693.html 7 Dürkop und Siegert im Gespräch S. 375. 8 Dürkop und von Lojewski im Gespräch S. 639.
102 Der Allgemeine Deutsche Nachrichtendienst (ADN) fungierte als zugelassene Nachrichten- und Bildagentur der DDR. Er belieferte Funk, Fernsehen und Zeitungen mit Nachrichten und Fotos. Es fand mit sechzig Agenturen anderer Länder ein reger Nachrichtenaustausch statt. Offiziell unterstand der ADN dem Ministerrat der DDR. Im Mai 1992 wurde der ADN an den Deutschen Depeschendienst (ddp) verkauft. Das ADN-Zentralbildarchiv (ZB) wurde in das Bundesarchiv nach Koblenz überführt. Das Presseamt der DDR war ein Meinungslenkungsapparat zur Lenkung und Kontrolle der Medien in der DDR. Nach Gründung der DDR erfolgte im Oktober 1949 die Umbenennung von Hauptverwaltung für Information in das Amt für Information. In der Zeit von 1952 bis 1963 war das Presseamt beim Ministerpräsidenten der DDR und ab 1963 beim Vorsitzenden des Ministerrates der DDR angesiedelt. Demnach gab es beim Presseamt fünf Abteilungen: die Informationsabteilung, die Abteilung Lektorat und Lizenzen, die Abteilung Journalistenbetreuung bzw. Sektor Verbindungen und die Abteilung Presse der Sowjetunion. Die Abteilung Finanzen und Verwaltung war für die administrativen und finanziellen Belange zuständig. 9 Das System der Medienlenkung in der DDR bestand aus Aktivitäten und Akteuren auf verschiedenen Ebenen, die sich gegenseitig anwiesen und unterstützten. Das Presseamt war eng und vielfältig in dieses System eingebunden und nahm unterschiedliche Aufgaben wahr, die sowohl rein organisatorische, aber auch ideologische Fragestellungen umfassten. 10 Im Resümee ihrer Publikation „Das Presseamt“ stellte Katrin Bobsin fest: „[…] Die SED versuchte also mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln die DDR-Medien und dadurch die eigene Bevölkerung zu beeinflussen und zu lenken. […]“ 11 Die nur etwa 60 Mitarbeiter im Presseamt nahmen „eine Vielzahl von Aufgaben wahr, die das System der Medienlenkung der SED unterstützten und vor allem die Koordination und Kontrolle der Öffentlichkeitsarbeit zwischen Staat, Partei und den Medien gewährleisteten. […].“ 12 Siegerts Veröffentlichungen im Fokus der Analyse: Die Zunahme der Ausreisewellen und Forderungen der Menschen auf den Straßen seit der Bekanntgabe der gefälschten DDRKommunalwahl am 7. Mai 1989 nahmen immer intensivere Züge an. Es waren nicht nur ökonomische Bedürfnisse und das Reisefernweh, sondern vielmehr standen die Meinungs-, Medien- und Presse- sowie Demonstrationsfreiheiten im Mittelpunkt des Verlangens. Zwei Veröffentlichungen vom amtierenden Staatssekretär Siegert zeigten bereits tendenziell Versäumnisse und Irrwege – zuerst in der Volkswirtschaft und dann später in der DDR – auf, die er medial kommunizierte. In der Publikation „Selbstkosten senken. 9 Katrin Bobsin, Das Presseamt der DDR. Staatliche Öffentlichkeitsarbeit für die SED. Köln – Weimar
– Wien 2013, S. 81, (i. F. z. a. Bobsin, Das Presseamt). Ebd., S. 434. 11 Ebd., S. 438. 12 Ebd., S. 440. 10
103 Grundlegende Anforderung der umfassenden Intensivierung“ 13 schrieb Siegert in seinem Beitrag „Wir brauchen ein hohes Tempo der Selbstkostensenkung“ wie folgt: „[…] Sparsam mit allen Ressourcen umzugehen, die uns zur Verfügung stehen, ist in unserer Gesellschaft keine aus der Not geborenen Tugend, sondern objektive Notwendigkeit und unerläßliche Bedingung für steigenden gesellschaftlichen Reichtum wie auch für ein höheres persönliches Einkommen. Unsere Partei stellt die Fragen des Kampfes um höhere ökonomische Ergebnisse in jedem Kombinat und jedem Betrieb so nachdrücklich, weil wir auf dem bisherigen Weg der Intensivierung unserer Volkswirtschaft viele gute Erfahrungen gewonnen haben, die mit noch mehr Engagement und Tempo verallgemeinert werden müssen. […] Jeder Leiter ist deshalb aufgefordert, in seinem Verantwortungsbereich kontinuierlich neue Reserven zu erschließen und das Verhältnis von Aufwand und Ergebnis weiter zu verbessern. […]“ 14 Siegert prangerte die Verschwendung von Ressourcen an und ermahnte damit die Kombinats- und Betriebsleiter. Am 14. Dezember 1989 trauten sich Siegert, Wolfgang Lebig und Frank Mothea in einem ausführlichen Beitrag im Neuen Deutschland mehr zu und nahmen kritisch Stellung zum Thema „Die Rolle von Geld, Finanzen und Preisen in der Wirtschaftsreform“. Der Artikel sollte in erster Linie beruhigend wirken, Vertrauen in die DDR-Währung herstellen und die Bevölkerung auf zukünftige Veränderungen vorbereiten: „Wenn es um die Durchführung einer durchgängigen Wirtschaftsreform in unserem Lande geht, dann erfordert das auch konsequente Reformen in der Geld- und Finanzpolitik. […] Im Kern geht es um die Wiederherstellung der Rolle des Geldes als Wert- und Regelgröße für Leistungen in der Wirtschaft und letztlich für jeden Werktätigen. Deshalb ist besondere Bedeutung der Nutzung flexibler Regulatoren der Finanz-, Kredit-, und Steuerpolitik wie Kurse, Zinsen, Steuersätze, Abschreibungsverfahren. […] Ziel einer umfassenden Steuerreform muß die schrittweise Schaffung eines einheitlichen Einkommensteuergesetzes für alle Arbeiter und Angestellten, Handwerker, Gewerbetreibenden und freiberuflich tätigen Bürger sein, um dem Grundsatz nach Steuergerechtigkeit und Steuergleichheit voll zu entsprechen. […].“ 15 Wohlgemerkt funktionierte zu diesem Zeitpunkt der SED-Staat noch, was für die Autoren sicherlich ein Risiko bedeutete. Im weiteren Ablauf waren die Inhalte gut gemeint, kamen aber nur unwesentlich zur Umsetzung und blieben Worthülsen. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass die Autorengruppe zu diesem Zeitpunkt von einem Fortbestand der DDR ausging. Am 1. Dezember wurde bereits der Führungsanspruch der Partei gestrichen, was die Autoren mit ermutigte: „Auf Antrag aller zehn Fraktionen beschließt die Volkskammer, den in der Verfassung verankerten Führungsanspruch der SED zu streichen. Art. 1 Abs. 1 Walter Siegert, Wir brauchen ein hohes Tempo der Selbstkostensenkung, in: Walter Siegert und Horst Neumann, Selbstkosten senken. Grundlegende Anforderung der umfassenden Intensivierung, Blickpunkt Wirtschaft, Berlin 1989. 14 Ebd., S. 1. 15 Die Rolle von Geld, Finanzen und Preisen in der Wirtschaftsreform, Ebd., S. 129. 13
104 lautet: Die DDR ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land. Unmittelbar danach wurde gestrichen: unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei – 7. Oktober 1974.“ 16 Einen weiteren Beitrag veröffentlichte Staatssekretär Siegert – zusammen mit Edgar Most, 17 der Präsident der Kreditbank AG war –, als er auf einer Beratungsveranstaltung mit Vertretern von Industrie und gewerblicher Wirtschaft am 22. Juni 1990 referierte. In der Publikation „Für Starthilfe ist gesorgt!“ verkündete er u a.: „[…] Mit Beschluss der Regierung der DDR vom 13. Juni 1990 wurde eine Ausfallbürgschaft für Kredite, die im Zusammenhang mit Betriebsstilllegung und Umstrukturierungen nicht mehr rückzahlbar sind, gegenüber der Deutschen Kreditbank AG übernommen. […] Für eintretende Ausfallbürgschaften soll das Vermögen der Treuhand eingesetzt werden. Die Entscheidungen sind sukzessiv, spätestens mit den D-Mark-Eröffnungsbilanzen, zu treffen. […].“18 Letztmalig öffentlich äußerte sich Siegert zusammen mit Klaus Blessing in der Berliner Zeitung am 10. September 2019 in einer Gegendarstellung „Wie sich Richard Schröder arm rechnet“. Bei den wenigen Funden (1963, 1989 bis 2019 – Anhang S. 695 ff.) stand immer nur die Berichterstattung über berufsspezifische Anlässe im Vordergrund. Eine Selbstdarstellung Siegerts ist aus dem Material nicht ableitbar. Ihm war ferner bewusst, dass seine Jahresberichte über das Zahlenmaterial der volkswirtschaftlichen DDR-Bilanz der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Siegert wurde namentlich als Mitverantwortlicher genannt. Als Zwischenbefund kann gelten, dass Siegert eher selten die Medien nutzte, um auf sein Anliegen aufmerksam zu machen. Er spielte medial deswegen nur eine untergeordnete Nebenrolle. Fazit: „Zeitzeugen und Historiker sind sich einig, dass es in der DDR keine Öffentlichkeit gegeben hat – kein intermediäres ‚Diskussionssystem‘, das für die Politik ähnliche Funktionen hat wie der Markt für die Wirtschaft, weil es Informationen, Meinungen und Interessen sammelt, verarbeitet und artikuliert und der Politik auf diese Weise mitteilt, welche Themen zu bearbeiten sind und wie dies im Idealfall geschehen sollte.“, so lautet die Einschätzung vom Kommunikationswissenschaftler Professor Michael Meyen. 19 Es existierte keine freie veröffentlichte Meinung. Vgl. DDR: Wir sind ein Volk. Die Entscheidung für 1. Dezember 1989. Siehe https://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschland-chronik/132308/1-dezember-1989 (letzter Zugriff 1.12.2020). 17 U. a. auch Vizepräsident der Staatsbank der DDR im Jahr 1990. 18 Walter Siegert und Edgar Most, Für Starthilfe ist gesorgt, Ministerium für Wirtschaft, Berlin 1990, S. 25. 19 Michael Meyen, SCM Studies in Communication, 0. Jg., 1/2011, Öffentlichkeit in der DDR, S. 3– 69, S. 6. Siehe https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/2192-4007-2011-1-3/oeffentlichkeit-inder-ddr-jahrgang-0-2011-heft-1?page=0 Auch: Jürgen Gerhards und Friedhelm Neidhardt, 16
105 Die Revolution im Herbst ´89 konnte auch gelingen, weil bereits jahrelang im Untergrund hektographierte Literatur wie Zeitschriften, Kalender und Flugblätter gedruckt, verteilt und gelesen wurden, selbstverständlich unter Gleichgesinnten. Die Filmaufnahmen vom Demonstrationszug am 9. November in Leipzig fertigten Siegbert Schefke und Aram Radomski heimlich an und übergaben das Material Roland Jahn zur Ausstrahlung im Westfernsehen. 20 Auch Leserbriefe wurden im November zum Meinungsventil. Als erste Tageszeitung der DDR stellte sich die Junge Welt, vom Zentralrat der FDJ herausgegeben, an die Seite reformorientierter Kräfte: „Seitenweise Jubelberichterstattung über den Verlauf des 7. Oktobers, 40. Jahrestag der Gründung der DDR, auf der Seite 3 unten ein kleineres Foto von Gegendemonstranten, dann auf den Seiten 10/11 der Offene Brief Hermann Kants, Präsident des Schriftstellerverbandes der DDR, und auf der Seite 15 Berichte über Auseinandersetzungen zwischen Volkspolizei und Demonstranten in Berlin und Dresden.“ 21 Die Darstellung Honeckers beleuchtete der Historiker Martin Sabrow in seinem Beitrag „Erich Honecker im Bild“ und beschrieb u. a. das zeitlose Herrscherporträt, was nicht nur in den Zeitungen und zahlreichen Publikationen omnipräsent wirkte: „[…] Nicht zufällig verbirgt sich Erich Honeckers Lebensbild hinter einem millionenfach verbreiteten Porträt. Es präsentiert vor ruhigem hellblauem Hintergrund einen grauhaarigen Mann in korrekter Kleidung ohne markante Züge, dessen durch eine Brille verschatteter Blick ausdruckslos auf den Betrachter gerichtet ist: das Gesicht der Gesichtslosigkeit kommunistischer Herrschaft. So hing das Bild fast zwanzig Jahre lang in den Amtsstuben der Parteistellen, Schulen und der Dienstbehörden des zweiten deutschen Staates – als zeitloses Porträt einer alterslosen Macht.“ 22 Mitunter war die Wende auch nur möglich, weil die ostdeutsche Medienbranche mit deren Mitarbeitern sofort auf Reformkurs umschaltete und somit den Weg für gesellschaftliche, politische, wirtschaftliche und kulturelle Veränderungen ebnete. Diese Diagnose stellt von Lojewski: „Auf allen Ebenen versuchte man an Glaubwürdigkeit zu gewinnen, zugleich der Konkurrenz aus dem Westen das Wasser abzugraben oder ihr zuvorzukommen. Dazu kam bei vielen Beteiligten ein Schuss persönlicher Opportunismus.“ 23 Der daraus resultierende Prozess der Integration von rund 14 000 Mitarbeitern in die westlichen Medienanstalten wurde mittels Anhörbogen und u. a. Fragen nach SED-Zugehörigkeit, Parteifunktionen, Leitungs- und Stasi-Tätigkeit durchgeführt. Von Lojewski befürwortete diese Aktion, weil er Befürchtungen hatte, die sich in Einzelfällen bestätigten. Auch Siegert sah eine Beteiligung ostdeutscher Medienvertreter an der Pressezensur, Agitation und Propaganda im Kollektiv, was westliche Medienformate unmittelbar Strukturen und Funktionen moderner Öffentlichkeit Fragestellungen und Ansätze, Berlin 1990. Siehe https://bibliothek.wzb.eu/pdf/1990/iii90-101.pdf (letzte Zugriffe 1.12.2020). 20 Gehler/Dürkop, Deutsche Einigung, im Gespräch mit Jürgen Engert. 21 Peter Jung, AufBRUCH – 9. November `89. Leserbriefe aus der DDR, Köln 2009, S. 7–8. 22 Martin Sabrow (Hrsg.), Die Macht der Bilder, Heft 15, Helmstedter Universitätstage, Göttingen 2013, S. 94. 23 Dürkop und von Lojewski im Gespräch S. 638.
106 aufgriffen, auch in den turbulenten Monaten der Wendezeit 1989/90. Einen sofortigen Sinneswechsel konnte er ebenfalls erkennen: „Unsere ‚gesteuerte Information‘ hatte so manches ausgespart. Unsere Presse holte Versäumtes nach. Zugleich feuerte die BRDPresse nun mit Genuss auf all das, was der politische Umbruch und die Krisensituation jeden Tag Neues bot.“ 24 Frank Schumann, weit über 40 Jahre für die ostdeutsche Medienanstalten tätig, widersprach einer existierenden Medienzensur: „In der DDR gab es keine Zensur. Es gab allenfalls eine Selbstzensur, deren Konditionierung vom Selbstverständnis und den Fähigkeiten des einzelnen Journalisten abhing. Dass diese Zunft sich zu allen Zeiten und unter allen Fahnen mehrheitlich opportunistisch verhielt und verhält, hat sich inzwischen wohl herumgesprochen.“ 25 Mit seiner Sichtweise hat Schumann bei den beteiligten Zeitzeugen ein Alleinstellungsmerkmal. Es ist unstrittig, dass die SED die Informationspolitik in der DDR steuerte, kontrollierte und überprüfte, was Bobsin attestierte: „[…] Sie hatte die Macht der Medien zwar erkannt, handelte nach den Vorgaben Lenins und versuchte durch eine exakt geplante staatliche Öffentlichkeitsarbeit und gezielte Agitation das DDRBild in den eigenen und fremden Medien nach den eigenen Vorstellungen zu formen. […]“ 26 Sind die Grundrechte durch das digitale Zeitalter in Gefahr? In den beiden Jahrzehnten des einundzwanzigsten Jahrhunderts haben sich die Medienangebote fundamental verändert. Jedermann kann Beiträge bzw. Bilder und Videos in Social Media – Online-Aktivitäten auf Sozialen Netzwerken – veröffentlichen. Diese grenzenlose Freiheit birgt allerdings auch Gefahren, auf die näher eingegangen werden muss: Bei den „Fake-News“ 27 muss unterschieden werden zwischen aktuellen Desinformationen, die wissentlich hergestellt und verbreitet werden, und Falschinformationen, die unwissentlich, unbeabsichtigt und im Normalfall berichtigt werden, wenn ihre Unwahrheit bekannt wird. Bei den „alternativen Fakten“ (alternative facts) glauben die Verbreiter oftmals selbst an den Wahrheitsgehalt ihrer Äußerungen, obwohl es sich dabei um unwahre Darstellungen handelt. 28 In Deutschland hat sich bereits die Formulierung „postfaktisch“ – Unwort des
Siegert im Beitrag „Die DDR – ihr Wachsen und Werden sowie ihre Sorgen“, S. 192. Dürkop und Schumann im Gespräch S. 661. 26 Bobsin, Das Presseamt, Ebd., S. 440. 27 Wörtlich „gefälschte Nachrichten“. 28 Alternative Fakten (Unwort des Jahres 2017): Diese Formulierung wählte die Beraterin des USPräsidenten Donald Trump, Kellyanne Conway, während eines Interviews in der NBC-Sendung Meet the Press. Sie bezog sich damit auf die Kritik an Äußerungen des Pressesprechers des Weißen Hauses: Dieser hatte die Zahl der Besucher bei der Amtseinführung von Donald Trump deutlich zu hoch angegeben, wie sich später nachweisen ließ. Dies bezeichnete Conway dann schlicht als alternative Fakten. Siehe https://www.duden.de/sprachwissen/sprachratgeber/Alternative-Fakten (letzter Zugriff 7.12.2020). 24 25
107 Jahres 2016 – eingebürgert, wobei für ein politisches Handeln und Denken nicht mehr die Fakten im Mittelpunkt stehen, sondern offensichtlich Lügen akzeptiert werden. 29 Der Gesetzgeber reagierte auf die Zunahme von Fake-News und verabschiedete am 30. Juni 2017 das am 1. Oktober in Kraft getretene NetzDG. 30 Einen konkreten Überblick über das Ausmaß des Problems ist derzeit unklar. Die Menschen nutzen zudem alternative Drittplattformen. Dadurch entsteht die Gefahr der Mediennutzung in einer Filterblase. Die populistische Ideologie mit ihren weltweiten zahlreichen Akteuren wird gestärkt und der etablierte Journalismus dadurch geschwächt. 31 Till Eckert, Kommissarischer Leiter bei CORRECTIV.Faktencheck 32 sieht bei der AfD täglich, dass die Partei Desinformationen für ihre Zielgruppe streut. Aus seiner Erfahrung heraus meint er, dass er diese Vergehen bei Rundfunk, Fernsehen und Zeitungsverlagen nicht feststellen konnte. Vielleicht fehlte mal ein wünschenswerter Kontext. CORRECTIV.Faktencheck arbeitet für seine Auftraggeber und führt virale Qualitätsprüfungen durch. Dabei werden z. B. Facebook-Einträge ab 1000-mal geteilt und YouTube bei 100 000 Aufrufen interessant. Der Faktencheck bedient sich dann primärer Quellen, um Behauptungen zu widerlegen. Im Jahr 2020 war das beherrschende Thema die Corona-Pandemie. Davor verifizierten die Experten Veröffentlichungen über die Migration, Gesundheit und Heilmittel, manipulierten Bilder und Videos sowie gefälschte Zitate von Politikern. Falschmeldungen und Behauptungen bei WhatsApp zu widerlegen, ist für die Faktenchecker schwierig, weil es sich hierbei um einen nicht öffentlichen Raum handelt (sog. Dark Social). 33 Abstruse Verschwörungsmythen und -spekulationen werden über die virale Verbreitung im globalen Netz (Plattformen und Kommunikationsvarianten) immer einflussreicher und destabilisieren Gesellschaften und Demokratien, mahnt Harald Lesch an. 34 Viele Bewegungen wie z. B. Transparency, Friday for Future, Black Lives Matter, #evakuierenJETZT und #MeToo zeigen Missstände in der jeweiligen Gesellschaft auf. Auf der anderen Seite diffamieren Corona-Leugner, Pegida-Protestler, Qanon-Anhänger, 35 Rechtsextremisten, Cancel Culture Aktivisten, die Identitäre Bewegung, die Reichsbürgerbewegung, Holocaustleugner, Staatsfeinde, Hassprediger, Querdenker, Trolle und Vgl. ausführlich dazu, Bpb.de, 27.10.2017, Die Wahrheit über Postfaktizität. Siehe unter https://www.bpb.de/apuz/258506/die-wahrheit-ueber-postfaktizitaet (letzter Zugriff 7.12.2020). 30 Netzwerkdurchsetzungsgesetz. 31 Philipp Müller und Nora Denner, Was tun gegen Fake News? 2. überarbeitete Auflage, Berlin 2019, S. 23. 32 CORRECTIV – Recherchen für die Gesellschaft, ist eine Marke der CORRECTIV – Recherchen für die Gesellschaft gemeinnützige GmbH Essen. 33 Till Eckart online im Gespräch und Vortrag der Friedrich-Ebert-Stiftung am 30.11.2020. 34 Harald Lesch, 8.12.2020, ZDF-Sendung: Fake oder Fakt: Wie die Wahrheit unter die Räder kommt. Siehe https://www.zdf.de/wissen/leschs-kosmos/fake-oder-fakt-wie-die-wahrheit-unterdie-raeder-kommt-100.html (letzter Zugriff 9.12.2020). Vgl. Edgar Wolfrum, Der Aufsteiger, Eine Geschichte Deutschlands, Stuttgart 2020. 35 Entstammt aus „Q“, in Anlehnung an die „Q Clearance“. 29
108 Provokateure verschiedener anderer Subkulturen die Medien als Lügenpresse und verharmlosen Fakten. Hinzukommen historische Vergleiche, ein festzustellender Geschichtsrevisionismus und eine Geschichtsverklitterung mit dem Versuch einer Strategie, die durch Umdeutung die deutsche Geschichte für ihre Zwecke und Propaganda missbrauchen. Beispielsweise, wenn die AfD und Pegida Losungen der deutsch-deutschen Revolution mit „Wir sind ein Volk" oder „Wir sind das Volk“ für sich vereinnahmen 36 und mit dem Slogan „DDR 89 – BRD 2020“ einen „Systemwechsel“ einfordern. Auch Verschwörungstheoretiker, die sich unzulässiger Weise mit der Widerstandskämpferin Sophie Scholl und Anne Frank vergleichen, bei Veranstaltungen mit überlebensgroßen Mahatma Gandhi Bildern protestieren, die MNS-Maske 37 mit dem Judenstern vergleichen 38, lassen unsere demokratische Medien-, Demonstrations- und Pressefreiheit als gefährdet wirken. Auch werden Journalistinnen und Journalisten (auch Fotografen/Kameraleute) in ihrer Berufsausübung beleidigt, behindert, bedroht, landen im Gefängnis oder sogar ermordet. 39 Eine Wandlung öffentlichen Bewusstseins ist nicht undemokratisch. Das Bedürfnis nach vertrauenswürdiger Information ist derzeit sehr hoch, viele blicken und klicken in diesen unsicheren Zeiten auf die Berichterstattung der Medienangebote. In Krisenzeiten ist es „systemrelevant”, dass Menschen sich unabhängig informieren können. Wertschätzung und Beteiligung kann in Zukunft das sein, was sie ist: eine kritische Öffentlichkeit, ein Forum für Meinungsvielfalt, eine engagierte Stimme für Minderheiten. 40 Der über 85-jährige Medienexperte von Lojewski stufte die Grundrechte im digitalen Zeitalter als nicht gefährdet ein: „Weder die Informationsfreiheit noch die Meinungsfreiheit, beides überhaupt nicht. Aber ich sehe die Presse und die Informationen missbraucht. Das ist natürlich nicht gut.“ 41 Alle müssen im gesellschaftlichen Dialog eingeschlossen und mitgenommen werden. Nur die „Mitte“ zu bedienen, ist falsch. Durch einen Faktencheck könnten Medienakteure Falschinformationen dekuvrieren. Weiterhin sind unser Staat, unsere Öffentlichkeit und unsere Gesellschaft gefordert, gegen Rassismus, Nationalismus, Antisemitismus, Schweriner Volkszeitung (SVZ), 22.2.2016, Wem gehört der Slogan: „Wir sind das Volk“? https://www.svz.de/12811571 Vgl. dazu auch, MDR.de, Zeitreise, 8.10.2019, Wer ist das Volk? Die AfD und die Tradition der Bürgerrechtsbewegung in der DDR, https://www.mdr.de/zeitreise/afd-pegida-ddr-buergerrechtsbewegung100.html (letzte Zugriffe 7.12.2020). 37 MNS-Maske: Mund-Nasen-Schutz-Maske. 38 Dr. Gerlind Läger äußerte auf einer Querdenker-Demo am 23.11.2020 in Oelsnitz (Erzgebirge): „Die Maske ist ein Stern. Ich bin schon froh, dass er nicht gelb sein muss.“ Die Staatsanwaltschaft Zwickau ermittelt wegen Verdacht auf Volksverhetzung. 39 Das Jahr 2020 war ein gefährliches Jahr. 30 Journalisten wurden ermordet und mindestens 387 sitzen wegen ihrer Arbeit im Gefängnis. Vgl. dazu Studie der Nichtregierungsorganisation Komitee zum Schutz von Journalisten (CPJ) https://cpj.org/reports/2020/12/murders-journalists-morethan-doubled-killed/ (letzter Zugriff 22.12.2020). 40 Appell der tageszeitung (taz). 41 Dürkop und von Lojewski im Gespräch S. 653. 36
109 Fremden- und Islamfeindlichkeit sowie weitere Diskriminierungen in Deutschland gemeinschaftlich klar Stellung zu beziehen und es nicht zu tolerieren. Ebenso muss der Unkultur im Netz – von rechts wie von links kommend – gegen Cybermobbing, Shitstorm und Hate Speech entgegengewirkt werden. Dafür lohnen sich die Anstrengungen, um eine zukünftige, pluralistische, diverse und vielfältige Gesellschaft zu etablieren. Wer das bewusst missbilligt, dem sei gesagt, es gibt Grenzen der Toleranz.
110
VI. Fazit, Begrenzungen und Ausblick Die vorliegende Publikation zeichnet die Lebens- und Leistungsbilanz von Walter Siegert in Gänze nach. Eine Retrospektive mit biographischen Schwerpunkten. Bisher stand der Staatssekretär Siegert kaum im Fokus geschichtswissenschaftlicher Betrachtung, obwohl er als Verbindungsmann zwischen seinen Ministern der Finanzen einerseits und innerministeriell als Leiter seiner Beschäftigten des Ressorts andererseits nicht unbedeutend agierte. In den herkömmlichen Veröffentlichungen über die Geschichte der DDR und den Jubiläumsschriften taucht Siegert, wenn überhaupt, namentlich nur oberflächlich und unsystematisch auf. Er selbst allerdings offenbarte nur gelegentlich sein Erlebtes. Vielmehr waren es ausgewählte Gesprächskreise und wissenschaftliche Foren, wo er gerne Rede und Antwort stand. Ein vollständiges Selbstzeugnis ist bisher nicht vorhanden. Kurzbeiträge bzw. Schriften erstellte er nur für sein privates Netzwerk. Dementsprechend war Siegert das ideale Forschungssubjekt, um mit ihm über die Ökonomie, Finanzen und Steuern zu sprechen und seine Einschätzungen zu ehemaligen Akteuren (Regierungsrepräsentanten, Ministerpräsidenten, Finanzministern und wissenschaftliche Weggefährten) einzuholen sowie Zeitmarken der deutsch-deutschen Geschichte zu gewichten. Gerade in der dramatischen Umbruchsphase der Jahre 1989/90 war der Protagonist nicht nur ein Beobachter, sondern vielmehr noch ein aktiver Akteur in der Planung, Gestaltung und Umsetzung. Grundlage für diese qualitative empirische Untersuchung waren tiefgründig geführte Interviews und Hintergrundgespräche, wozu die Bereitschaft Siegerts vorhanden war. Das erarbeitete Material mit einem Umfang von über 120 Gesprächsstunden kann demzufolge als Vermächtnis verstanden und eingeordnet werden. Exklusiv reflektierte der Zeitzeuge rückblickend in einem Beitrag über „Die DDR – ihr Wachsen und Werden sowie ihre Sorgen“ (Anhang S. 149 ff.). Um ein klareres Bild über die berufliche Akzeptanz und Wesensart zu erhalten, äußerten sich die Ehefrau und Tochter sowie 21 Zeitzeugen über Siegert bzw. erinnerten sich selbst an ihre Empfindungen und die Umstände ihrer Lebensabschnitte und bildeten ein zusammenfassendes Urteil. Unter Hinzunahme von Fachliteratur (Anhang S. 674 ff.) und Dokumenten aus Siegerts Privatbesitz konnten die acht Forschungsfragen systematisch im Fließtext (Hauptteil) beantwortet werden. In dieser Veröffentlichung wurden wichtige Zäsuren der DDR sowie der deutsch-deutschen Teilungs- und Vereinigungsgeschichte chronologisch analysiert und mit Siegerts Wegmarken kontextualisiert (Kapitel III. bis IV.). Die Einordnung von „Politik, Medien und Öffentlichkeit“ (Kapitel V.) verdeutlicht das unmittelbare und geräuschlose Umschalten der Akteure der Staatsmedien von Fernsehen, Zeitungen und Hörfunk hin zur medialen Unabhängigkeit und Vielfalt. Auch Siegert nutzte diese Plattform.
111 Fazit: Im Folgenden sollen nun die eingangs definierten Forschungsfragen (Kapitel I.
S. 18) der Reihe nach beantwortet werden. Dazu werden acht abschließende Thesen formuliert, die die jeweiligen Antworten prägnant zusammenfassen und den Ermittlungsertrag abbilden.
These 1: Erziehung, Kriegserfahrung und die Sozialismusidee prägten Siegerts Charakter und Persönlichkeit Walter Siegert wurde 1929 in Sigmar bei Chemnitz geboren und wuchs im Osten Deutschlands als Einzelkind auf. Die Weltwirtschaftskrise, der Nationalsozialismus und die Kriegsjahre trafen im Besonderen die Familie Siegert mit Arbeitslosigkeit, Einkommensverlusten und dem Bombardement ihrer Heimat. Der strenge Vater bestimmte die berufliche Zukunft seines Einzelkindes, der Kaufmann werden sollte. Die schrecklichen und zerstörerischen Kriegsjahre prägten den heranwachsenden Siegert fürs Leben: „Ich erlebte die verwüsteten Läden im Jahr 1938. Das wurde von den Leuten als Schock wahrgenommen. […] Man sah die Leute mit dem Judenstern auf der Straße, man sah polnische Arbeiter mit dem ‚P‘. […] Solche Erfahrungen, die ich als Schüler machte, waren nachhaltig. […] Wir nahmen alles wahr, waren erschrocken, ängstlich, aber auch hilflos. Man gewöhnte sich daran, es war unabänderlich. […] Als die Bomben im Februar 1945 fielen, erlebte ich KZHäftlinge, die bei uns im Garten Blindgänger – metergroße nicht explodierte Fliegerbomben — ausgruben, entschärften und abtransportierten. Diese Männer in Häftlingskleidung — wir haben dabei zugesehen — taten ihren Dienst. Die Bewacher mit Gewehr standen dabei. […].“ 1 Professor Dr. Johannes Gurtz, der den jungen Siegert in den 1950er Jahre an der Humboldt-Universität in Berlin kennenlernte, charakterisierte ihn in der Entwicklung nach dem Kriegsende und den Anfängen der sich formierenden DDR folgendermaßen: „Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnisse und Erfahrungen wuchs die Überzeugung, dass Antifaschismus, Frieden, Völkerfreundschaft, Demokratie und Gerechtigkeit den Kompass für seinen eigenen Lebensweg bilden sollen. In der Gründung der DDR 1949 sah er ein Staatswesen, das alle seine Ideen und Ideale verkörpern würde. Mit ihm verband er alle seine Hoffnungen. Mit ihm fühlte er sich von Anfang an auf das Engste verbunden.“ 2 Diese Sozialismusidee – von Gleichheit, Gerechtigkeit, Solidarität und Emanzipation – beeinflusste Siegerts Entwicklung nachhaltig. Nach dem Abitur ging der Heranwachsende in die Lehre zum Wirtschaftstreuhänder-Assistenten, wobei sich sein Interesse im täglichen Umgang mit Zahlen, Belegen, Akten, Mandanten, Behörden, Steuern/Gebühren und Gesetzen verfestigte. Eine wichtige Grundvoraussetzung dafür war es, die theoretischen Grundlagen zu kennen, zu vertiefen und anzuwenden. Darin fand Siegert Gefallen. Erste Erfolge motivierten ihn für seinen 1 2
Dürkop und Siegert im Gespräch S. 222. Beitrag von Johannes Gurtz S. 548.
112 weiteren Weg. Ein Einschüchterungs- und Disziplinierungsversuch war die kurzfristige Inhaftierung (1947), wo seine Mitstreiter und er selbst unter dem Verdacht einer „konterrevolutionären Bewegung“ standen, obwohl sie nur einen regelmäßigen politischen Gedankenaustausch pflegen wollten. Siegert begriff, um nachhaltig Veränderungen zu erreichen, müsste man aktiv mitarbeiten, was er durch seine Mitgliedschaft in den legalen Verbänden Freie Deutsche Jugend (FDJ) oder Gesellschaft zum Studium der sowjetischen Kultur oder Kulturbund anstrebte: „Ich bin ein Mann, der nie halbe Sachen machte, wenn ich mich irgendwo betätigte, nur richtig und mit Engagement.“ 3 Wobei er viel später merkte, dass praktische Anpassung und Konformität, um das System zu verändern, in der DDR nicht funktionierte. Mit dem Ausbildungsabschluss im Alter von 21 Jahren wechselte er von der Provinz sodann in die Hauptstadtmetropole Berlin und wurde im Ministerium für Maschinenbau untergebracht. Im Neubeginn türmten sich für ihn große Aufgaben auf, wobei er sich zuerst mit den Anforderungen des Berufsbildes und den Tätigkeiten eines Revisors vertraut machen musste. Diese sollten sich für seine weitere Karriere durchaus auszahlen. An der EliteHochschule und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der DDR, der „Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft“ in Potsdam-Babelsberg, begann Siegert am 1. August 1952 sein Studium der Finanzwissenschaft, das er nach drei Jahren mit dem Diplom und zum Jahresende 1961 mit der Promotion zum Dr. rer. oec. an der Hochschule für Ökonomie in Berlin erfolgreich abschloss. Aufgrund seiner Leistungen und seines gesellschaftlichen Engagements stieg er in ranghöhere Positionen auf. Die Prägung Siegerts (Kapitel III. S. 61 ff.) ist nachvollziehbar durch das dominante Elternhaus (Vater), durch leidvolle Kriegserfahrungen – er wohnte neben einem Kriegsgefangenlager und sah KZ-Häftlinge – durch seine kurzzeitige Inhaftierung und war in der Gründung des Staatswesens der DDR mit verbundener Hoffnung und Umsetzung von „Ideen und Idealen“ und durch Mentoren aus Wirtschaft, Politik und Hochschulwesen begründet. Im späteren Verlauf kamen Grenzerfahrungen bei seiner beruflichen Weiterentwicklung hinzu, die Siegert in den Jahren 1989/90 für sich nutzen und umsetzten konnte. Die Persönlichkeitsstruktur des Zeitzeugen – insbesondere physische und psychische Merkmale – brachte ihm Ilse Siegert näher (Kapitel III. S. 66 ff.).
These 2: Siegerts Einwände gegenüber Ulbrichts „NÖSPL“ und „ÖSS“ sowie Honeckers „Wirtschafts- und Sozialpolitik“ blieben ungehört Siegert arbeitete und führte die Konzept-Ideen Walter Ulbrichts (1960er Jahre) und Erich Honeckers (1970er/1980er Jahre) aus. Er war und wurde aber nie ein Ulbricht-/Honecker-Versteher. „Keinem von beiden“ stand er auffallend nahe. 4 Wirkungslos blieben 3 4
Dürkop und Siegert im Gespräch S. 226. Dürkop und Siegert im Gespräch S. 276.
113 seine Versuche, Missstände klar zu benennen und aufzuzeigen sowie Korrekturvorschläge und Reformüberlegungen in den Honecker-Jahren eindeutiger zu kommunizieren. Erkennbar dabei ist, dass Siegert oftmals sehr schnell an die Grenze möglicher Einflussnahmen gelangte, um tatsächlich tiefreichende Veränderungen mit entsprechendem Wirkungserfolg durchzusetzen. Diplomatisch agierte er im Innenverhältnis in kleinen „Trippelschritten“, wobei ihm allerdings kein „großer Wurf“ gelang. Wiederum kokettierte er auch nicht mit Erfolgen bei der Revision. Die 1960er/1970er Jahrzehnte waren für den Finanzökonom Zeiten des beruflichen Aufstiegs. Zur persönlichen Herausforderung wurde seine Mitwirkung am „NÖS“ und „ÖSS“ sowie beim Gestalten und Umsetzen der neuen Richtlinien und Konzepte für die Revision in der DDR. Zuallererst war er ein Erfüllungsgehilfe des Finanzministeriums der DDR, als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Büro der Regierungskommission für die Umbewertung der Grundmittel, als Leiter des Arbeitskreises „Industrie“ und dann als Stellvertreter des Leiters des Büros der Regierungskommission. Später wurde er Abteilungsleiter im Finanzökonomischen Forschungsinstitut des Ministeriums der Finanzen und ab 1968 Stellvertretender Leiter der Staatlichen Finanzrevision der DDR (SFR) und ab 1973 deren Leiter sowie Mitglied des Kollegiums des Ministeriums der Finanzen. Hier entwickelte Siegert seine Kernkompetenzen. Als Leiter der SFR und ab 1980 als Staatssekretär der DDR gehörte Siegert dann zwangsläufig zur „Nomenklatura“. Mit den Mitgliedern der Parteiführung führte er einen Gedankenaustausch bei unterschiedlichen Gelegenheiten. 5 Nach eigener Aussage wäre er „mit dem größten Vergnügen“ weiterhin in der wissenschaftlichen Forschungseinrichtung geblieben. 6 Beispielsweise bekam er im Sommer 1960 an der Hochschule für Ökonomie in Berlin-Karlshorst einen Lehrauftrag für die Unterrichtung von Spezialseminaren mit den Themenkomplexen „Theorie und Entwicklung des sozialistischen Finanzsystems in der DDR“, „die Grundsätze der Finanzpolitik im Bereich der volkseigenen Industrie“ und „die Rolle der Finanzen bei der sozialistischen Umgestaltung der Landwirtschaft“, die Siegert in der Außenstelle Erfurt für Fernstudenten der Finanzökonomie halten sollte. 7 Er setzte sich insbesondere als Staatssekretär für die Hochschulen, als Unterstützer für die Lehre und Forschung, so Johannes Gurtz, ein: „Das machte ihn zu einem verständnisvollen Moderator in den nicht immer einfachen Beziehungen zwischen den Finanzorganen und unserer Sektion.“ 8
Dürkop und Siegert im Hintergrundgespräch am 10.12.2018. Ebd. 7 Das Vertragsdokument befindet sich im Archiv von Siegert. Dürkop besitzt davon eine Kopie. 8 Beitrag von Johannes Gurtz S. 547. 5 6
114 These 3: Der Hintergrundakteur Siegert setzte Akzente in der Gestaltung und Umsetzung für die Finanzen der DDR, ohne dabei seine Angepasstheit zu leugnen Der Aufstieg sowie der Fall der DDR wurden in der deutsch-deutschen Vereinigungsgeschichte im Lichte der Biografie von Walter Siegert betrachtet. Nachstehend kann festgestellt werden, dass der Finanzökonom Siegert ein pflichtbewusster und erfüllender Hintergrundakteur war. Gelegentliche Auftritte und Reden in Funktion als Staatssekretär (ab 1980), wie beispielsweise RGW-Besuche in Moskau (1984/1987) und in Kuba (1986), vereinzelte Auftritte im Politbüro, beim Ministerrat der DDR sowie dem Präsidium des Ministerrates der DDR, Arbeitstreffen mit den Finanzchefs der Räte der Bezirke, wie die Vertretung von Uta Nickel vorm Zentralen Runden Tisch (1989), sein Auftritt in der Volkskammer (28. Februar 1990) und seine Rede im State Department in Washington (25. September 1990) ändern diese Diagnose nicht. Er war eher ein introvertierter, stiller und intellektueller Finanzexperte, der mit ökonomischen Detailkenntnissen in der Sache brillierte. Sein primärer Fokus im täglichen Einsatz war darauf ausgerichtet, erfolgreich mit seinem Mitarbeiterteam aus dem Finanzministerium zusammenzuarbeiten, damit die Bevölkerung davon profitierte und dem Staat der DDR zu dienen. Siegert war Pazifist, Sozialist und glaubte an die Sozialismusidee, die er mit den Genossinnen und Genossen, also unter Gleichgesinnten, verwirklichen und etablieren wollte. Das war seine tiefste, innere Überzeugung, die er durchaus auch vorlebte. Allerdings waren seine ausgeübten Funktionen niemals so einflussreich, um die gewachsenen Verkrustungen aufzubrechen. Versuche dazu wären unklug gewesen. Sein Handlungsspielraum und ein eigenständiger Führungsstil waren begrenzt. Eine Art Angepasstheit war deshalb angebracht. 9 Darum steckte er in einem Dilemma: Siegert zeigte Treue zur Partei und stand für die Sache des Sozialismus ein. Anderseits wollte er Bewegungsfreiheit für konträre Meinungen, Verhaltensweisen und Konzepte im Finanzministerium und in der Partei schaffen, damit Mitarbeiter und Mitglieder davon profitieren könnten. Das stand jedoch im Widerspruch zur Partei- und Staatsräson. Einen Vertrauensbruch erlebte Siegert (1974), als er und sein SFR-Team für Kontrollaufgaben für den Bereich „Kommerzielle Koordinierung“ (KoKo) aus der Verantwortung genommen worden sind. Für Siegert war es eine bindende Weisung, die er hinnahm und nicht mehr hinterfragte. In den Umbruchmonaten der DDR konnte sich Staatssekretär Siegert ein zukünftiges Leben in einer neutralen, eigenständigen sowie weiter fortbestehenden Deutschen Demokratischen Republik mit einem reformierten Sozialismus durchaus vorstellen. 10 Gemeint Dürkop und Ilse Siegert im Gespräch am 5.8.2020. Noch im Winter 1989 meinten insgesamt 71 % der 1000 Befragten, dass die DDR ein souveräner Staat bleiben sollte. Dafür waren 93 % (7 % dagegen) der SED-Anhänger und 59 % von den
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115 war ein Leben mit sozialer Sicherheit, einer ausgewogenen Gerechtigkeit, mit guten Bildungschancen, einer Frauen-, Familien- und Kinderfreundlichkeit und keiner Arbeits- und Obdachlosigkeit. 11 Allerdings: Je lautstarker und konkreter die Forderungen der Revolution durchdrungen, desto klarer wurde, dass die Entwicklung auf eine Vereinigung hinauslaufen würde. Der Wunsch ostdeutscher Brüder und Schwestern nach einem Weiterbestehen war spätestens nach Kohls Schlüsselmoment „Mein Ziel bleibt, wenn die historische Stunde es zulässt, die Einheit unserer Nation“ 12 vor der Dresdner Frauenkirche am 19. Dezember 1989 nur noch eine Utopie. Die Vorstellungen einer Eigenständigkeit der DDR waren spätestens ab diesem Zeitpunkt als naiv und realitätsfremd einzuordnen. Als dieses Lösungsmodell obsolet wurde, blockierte Siegert diesen Volkswillen nicht, sondern setzte seine ganze Kraft für ein gemeinsames Deutschland beider Staaten ein. Er agierte mit dem Leitgedanken „Vertrauen ist die Währung der Diplomatie“ 13. Deshalb baute er stets ein Grundvertrauen zu Gesprächspartnern auf und pflegte diese persönliche Beziehungsebene. Seine oberste Maxime, Anvertrautes nicht preiszugeben, hütete er behutsam und erlangte somit einen hohen Grad an Verschwiegenheit, Loyalität und Integrität. Je nachdem, wie stark oder schwach sein Finanzminister amtierte, entfaltete sich Siegert aus dem Schatten seines Vorgesetzten heraus und bestimmt oftmals Geschicke und Belange innerhalb des Finanzministeriums mit. In der Innen- sowie Außenwirkung wurden Siegert als Staatssekretär und sein jeweiliger Finanzminister mehr als Führungspaar der Finanzen und nicht als Vertreter einer hierarchischen Rangordnung wahrgenommen. Dieser durchaus gewollte Zustand grenzte das Ministerium der Finanzen von den anderen DDR-Ministerien deutlich ab. Hinzu kam der Umstand, dass seine jeweiligen Vorgesetzten im Ministerium der Finanzen weder ein Hardliner bzw. ein Partei-Apparatschik waren, sondern vielmehr Ökonomen mit Sachverstand und Kenntnisreichtum, teilweise mit visionären Ansätzen. Das bestätigte Siegert in den Charakterisierungen über seine ehemaligen Chefs (z. B. Böhm S. 267 ff.). Jeder von ihnen verinnerlichte das Credo der ökonomischen Solidarität im Blut. Oftmals existierten vielfältige Möglichkeiten der Beeinflussung, die Siegert unterschiedlich nutzte: Unter anderem bei der zeitlich gesteuerten und inhaltlich forcierten Informationsweitergabe sowie der Darstellung von Zielen Anhängern vom Neuen Forum dafür (41 % dagegen). Ausführlich Der Spiegel, 18.12.1989, Ausgabe 51/89, S. 86–89, 98 Prozent gegen die Funktionäre. Siehe https://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/13498034 (letzter Zugriff 1.11.2020). 11 RotFuchs, April 2017, Nr. 231, S. 25, Dr. Peter Elz, Hätte der Sozialismus reformiert werden können? Siehe https://rotfuchs.net/files/rotfuchs-ausgaben-pdf/2017/RF-231-04-17.pdf (letzter Zugriff 1.11.2020). 12 Vgl. https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-kohl-dresden-433570 (letzter Zugriff 24.12.2020) 13 Internationale Politik (IP), Januar/Februar 2020, Nr. 1, S. 8, Drei Fragen an ... Wolfgang Ischinger, Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz, im Interview. Siehe https://internationalepolitik.de/system/files/article_pdfs/IP_01-2020_Techau_Drei-Fragen.pdf (letzter Zugriff 10.1.2020).
116 und Erfolgen innerhalb seines Ministeriums in die Öffentlichkeit; bei seiner Argumentationsstrategie sowie -nachhaltigkeit; beim Einsetzen, Versetzen oder Entlassen von Mitarbeitern; die selektive Wahrnehmung von Terminen; die Kontakte zu anderen Akteuren der Blockparteien und Vertretern der Ministerien. Wichtig erschien Siegert, das Beziehungsgeflecht zu den Regierungschefs Willi Stoph, Hans Modrow und Lothar de Maizière zu pflegen und zu intensivieren, als Amtsträger, aber auch in privater Funktion. Gänzlich fehlerfrei war Siegert allerdings nicht. Er besaß menschliche Schwächen. Berufliches und Privates nicht voneinander zu trennen, misslang ihm. Gedanklich fiel es ihm schwer, sich von seinen beruflichen Aufgaben und den damit verbundenen Komplikationen, insbesondere in den turbulenten Monaten 1989/90, zu lösen. Er trug Probleme und Ärger regelmäßig mit in seine Privatsphäre hinein. Die Witwe Siegerts äußerte sich nachdenklich und betrübt darüber: Oftmals, wenn ihr Ehemann und Vater der Kinder nach Hause kam, verkroch dieser sich sofort stundenlang in seinem Arbeitszimmer und war weder für die Ehefrau noch für den Rest der Familie ansprechbar. Obwohl er durchaus ein Familienmensch und fürsorglicher Vater war, vernachlässigte er letztendlich seine Familie, weil die Arbeit einen höheren Stellenwert in seinem Leben einnahm. Vieles lag im Neuaufbau und Ungewissen. Strukturen und Abläufe mussten neu koordiniert werden. 14 Hier brachten alle Familienmitglieder und Freunde ein hohes Maß an Verständnis auf, was Siegert einsah und durchaus wertschätzte: „Ja, meine Frau hat mir immer zur Seite gestanden. Sie musste oftmals auf meine Hilfe oder ein gemeinsames Wochenende verzichten. […] Ich kann es gar nicht wieder gutmachen.“ 15
These 4: Das Verhältnis zur SED war für Siegert ein Balanceakt zwischen Überzeugung und Hoffnung sowie Enttäuschung und Resignation Abgenabelt vom Elternhaus bestimmte Siegert zu Beginn seiner beruflichen Karriere seine politische Zukunft fortan selbst. Zuerst erhielt er den Status „Kandidat der SED“ und trat dann 1952 der SED bei, was für ihn u. a. mit viel Hoffnung verbunden war: „Selbstverständlich war das mein persönlicher Wunsch. […] es war kein Schritt, um der Karriere willen. Ich wusste natürlich, es gab dort auch Karrieristen, welche mir zuwider waren. Dies keimte damals immer mehr in mir auf. Anfangs, so glaubte ich wirklich, in der SED, dort sind Leute, die entweder aus dem KZ kamen oder aus anderen Gründen dem Sozialismus, Marx und Engels und dem Kommunistischen Manifest verbündet bzw. verschworen sind. Etwas anderes gäbe es dort nicht.“ 16 Die Blockparteien schienen damalig keine Alternative gewesen zu sein, weil sie sich nicht deutlich von der SED distanzieren konnten und weil sie zum SED-Kurs gezwungen worden sind. Dürkop und Ilse Siegert im Gespräch am 5.8.2020. Dürkop und Siegert im Gespräch S. 301. 16 Ebd. 238. 14 15
117 Zeitlebens beschäftigte sich Siegert immer wieder mit der Frage: Warum akzeptierten die Genossen die Befehle und Anordnungen von ganz oben, leisteten keine Gegenwehr, obwohl wissentlich die Entwicklung der DDR in eine falsche Richtung verlaufen würde? Selbstkritisch fand Siegert dazu Antworten, die aber auch seine eigene Verzweiflung verdeutlichten: „Parteidisziplin, in Hoffnung erstarrt, der Führung trotz alledem vertrauend, eine strikte Disziplin, und alle diese guten Eigenschaften kehrten sich in einer solcher Konfliktlage ins Negative, zum Schaden der Partei und Gesellschaft. Keiner wagte den Aufstand. Auch ich nicht!“ 17 Siegert räumte in den Gesprächen ein: „[…] Ende der 1940er Jahre bin ich […] zu einem sozialdenkenden und handelnden Menschen geworden. Die Praxis meines Lebens in der DDR hat diese Überzeugung immer gefestigt. Die Krise im Jahr 1989 und das Versagen unserer Parteiführung waren für mich schmerzlich, allerdings wechselte ich nie meine Gesinnung wie ein schmutziges Hemd. […]“ 18 Professor Karl Döring, Direktor der EKO Stahl AG in Eisenhüttenstadt, lernte Siegert zunächst aus privatem Anlass und in den 1990er Jahren beruflich intensiver kennen, als der Staatssekretär Mitglied im Aufsichtsrat der EKO wurde. Dabei bemerkte Döring einen Zwiespalt zwischen Systemtreue und Reformambition bei Siegert: „Er war ein absolut treuer Soldat seines Systems, das ist klar. Dabei heißt treuer Soldat nicht unkritischer Soldat. Er hatte tiefe Einblicke in alle Zusammenhänge und die Frage: ‚Was wird mit unserer DDR?‘ zukünftig geschehen, hat in unseren Diskussionen schon eine Rolle gespielt.“ 19 Festzuhalten bleibt, dass Siegerts beruflicher Bildungs- und Lebensweg sicherlich durch die Eltern geebnet, aber von ihm stringent selbstbestimmt war. Er entwickelte eben keine typische Kader-Karriere. Bei genauer Betrachtung der biografischen Daten fällt auf, dass er sich politisch nicht aufdrängte. Eine Strategie mit Kalkül zur Machterschleichung inklusiver Postengarantie war ihm fremd und entsprach nicht seinem Solidaritätsmodell. Offenkundig verfügte er über kein einflussreiches Netzwerk von Parteifreunden sowie Befürwortern, die ihm im entscheidenden Augenblick unter die Arme greifend zum Sprung an die Ministeriumsspitze verhelfen konnten. Nie war er ein brennender Parteigänger, hielt sich lieber im Hintergrund und lehnte einflussreiche Parteifunktionen strikt ab. Im Rentenalter wuchs sein Bekannten- sowie Freundeskreis stetig mit ehemaligen wissenschaftlichen und politischen Weggefährten – aus Ost- und Westdeutschland – an, den er pflegte. Einen Neuanfang in einer Partei strebte er nach seinem Austritt 1990 nicht mehr an. Anfragen dazu blockte er ab. Im Laufe der letzten drei Jahrzehnte schwankte Siegerts Sympathie zu politischen Akteuren und seiner Einstellung zu Parteiprogrammen immer abwechselnd zwischen den Linken und den Sozialdemokraten.
Siegert im Beitrag, Die DDR – ihr Wachsen und Werden, Ebd., S. 179. Dürkop und Siegert im Gespräch S. 389. 19 Dürkop und Döring im Gespräch S. 513. 17 18
118 These 5: Siegert entdeckte die gewandelten Medien der DDR ab 1989/90, um in der Öffentlichkeit Forderungen zu stellen und Impulse für einen neuen Kurs zu geben Eine erste Veröffentlichung im Neuen Deutschland geht auf die Anfangsjahrzehnte der DDR zurück. 20 Ein Siegert-Interview, als Leiter des Büros der Regierungskommission für die Umbewertung der Grundmittel, zur Analyse des Themas „Rechnen mit Grundmitteln. Umbewertung und ihr ökonomischer Nutzen“ aus dem Jahr 1963 kann durchaus als wirksam und nachhaltig eingestuft werden. Danach folgten nur wenige Veröffentlichungen, die medial im Geschehen der täglichen Berichterstattung kurzweilig wirkten und für Aufsehen sorgten. Siegert selbst sprach von „anerkennenden Reaktionen“. 21 Einen weiteren medialen Höhepunkt erlebte Siegert in der Phase der Regierung Modrow, als er mit seinen Vorschlägen konsequente Reformen im Beitrag „Die Rolle von Geld, Finanzen und Preisen in der Wirtschaftsreform. Diskussionsvorschlag einer Arbeitsgruppe des Ministeriums der Finanzen und Preise“ am 14. Dezember 1989 ansprach, diskutierte und einforderte (Kapitel VII. S. 137 ff.). Zu diesem Zeitpunkt existierten in der DDR noch die Partei- und Staatsgewalt. Der verfügbaren Zeit geschuldet, entwickelte der Ruheständler Interesse, seine Gedanken, Erinnerungen und Analysen in div. Themenbeiträgen zu dokumentieren, um sie in seinem eigenen politischen und befreundeten Netzwerk zu verteilen. Dabei waren die Expertisen seiner Bekannten und Weggefährten durchaus wichtiger als Rückkoppelungen aus der Öffentlichkeit. Zu einigen Buchprojekten lieferte er Teilbeiträge, für Videoproduktionen beantwortete er Fragen und bei öffentlichen Veranstaltungen von Rohnstock diskutierte er mit Weggefährten und besuchte auch selbst Diskussionsforen als Zuhörer. Schlaflos wurden seine Nächte vermehrt in den letzten Jahren seines Lebens, als sich eine Zunahme des Rechtspopulismus in Deutschland und Europa abzeichnete. Dabei ärgerte er sich darüber, dass die DDR der Ursprung für eine radikale Entstehung und Entwicklung gewesen sei. Arbeitslosigkeit, Strukturabbau, Perspektivlosigkeit und soziale Not- und Schieflagen, insbesondere in ländlichen Räumen, waren für Siegert eher der Nährboden für Unzufriedenheit und Rechtspopulismus. 22 Die Ausschreitungen in seiner Geburtsheimat Chemnitz (August/September 2018) trafen ihn sehr. Natürlich waren für ihn die Chemnitzer keine Rechtsextremen. Der Image-Schaden für diese Region war immens. Um vor Ort die Stimmung aufzunehmen, aber sich auch von Freunden und Bekannten zu verabschieden, reiste der erkrankte Siegert im Spätsommer 2019 in seine ehemalige Heimat.
Siehe Medienspiegel von Siegert S. 695 ff. Dürkop und Siegert im Hintergrundgespräch am 15.3.2017. 22 Dürkop und Siegert im Hintergrundgespräch am 11.7.2019. 20 21
119 Kräfte- und nervenzehrend war für den 90-jährigen Siegert seine letzte öffentliche Stellungnahme, zusammen mit Klaus Blessing, wo beide in der Berliner Zeitung am 10. September 2019 in einer Gegendarstellung „Wie sich Richard Schröder arm rechnet“ den Wahrheitsgehalt ihrer DDR-Erinnerungen (z. B. über das KoKo-Imperium, ein Anspruch auf Guthaben von RGW-Ländern, Gründe für die Forderung Modrows von 15 Milliarden DM, die Pleite der DDR-Wirtschaft) verteidigt sehen und das Resümee ziehen wollten: „[…]. Die ‚Schuldenlüge‘ ist nicht widerlegt, sondern bestätigt.“ 23 Trotz alledem gilt der Befund, dass Siegert eher selten die Medien nutzte, um auf seine Anliegen aufmerksam zu machen (Medienspiegel S. 695 ff.). Deswegen spielte er für die Öffentlichkeit eine untergeordnete mediale Nebenrolle.
These 6: Für den federführenden Siegert war die erfolgreiche Privatisierung der Staatlichen Versicherung der DDR kein persönliches Happy End Im Februar 1990 führte Siegert Verhandlungen, die die Staatliche Versicherung (StV) der DDR betrafen. Nachdem der DDR-Ministerrat am 8. März 1990 beschlossen hatte, die StV in eine AG umzuwandeln, unterzeichnete Siegert am 14. März eine Absichtserklärung in Form eines unterschriebenen „Joint Venture Vertrages“. Die Richtung war somit für die kommende Regierung vorgegeben. Für Lothar de Maizière, dem letzten Ministerpräsidenten der DDR, war es wichtig, diesen Vertrag mit der Allianz noch vor Eintritt der Währungsunion abzuschließen, um das Problem Versicherung zu lösen, was Siegert erledigte. Am 26. Juni wurde der Vertrag über die Gründung der „Deutschen Versicherungs AG“ (DV) – also die Überleitung der Staatlichen Versicherung in eine Beteiligungsgesellschaft mit der Allianz – von Siegert unterzeichnet und die StV in die Obhut der Treuhandanstalt der DDR übergeleitet. Eine Anerkennung für diese Federführung erhielt Siegert nicht, ganz im Gegenteil: 1991 ermittelte die Staatsanwaltschaft gegen ihn und weiteren, weil vermutet wurde, dass „die Allianz habe die DDR-Unterhändler ‚bevorteilt‘, um den ‚Deal‘ zu ermöglichen.“ 24 Am Ende wurde das Verfahren eingestellt. Trotzdem war Siegert zutiefst betroffen und verletzt. Eine zusätzliche Unannehmlichkeit kam zur Sprache: Bei der Entscheidungsfindung für die Münchner Allianz Versicherung gab es zuvor keine öffentliche Ausschreibung, was allerdings zu DDR-Zeiten überhaupt unüblich war. Allerdings verlief die Privatisierung der DDR-Banken in 1990 anders, woran sich Peter Breitenstein, der u. a. als westlicher Berater für den DDR-Finanzminister für Fragen der volkseigenen Wirtschaft und TreuhandanKlaus Blessing und Walter Siegert, Berliner Zeitung, 10.9.2019, Gastbeitrag zu Welt-Artikel: Wie sich Richard Schröder arm rechnet. Siehe https://www.berliner-zeitung.de/wirtschaft-verantwortung/gastbeitrag-zu-welt-artikel-wie-sich-richard-schroeder-arm-rechnet-li.12844 (letzter Zugriff 20.12.2020). 24 Dürkop und Siegert im Gespräch S. 401. 23
120 stalt fungierte, erinnerte: „[…] Es wurde versucht, beispielsweise bei der Bankenprivatisierung, neben der Dresdner Bank und der Deutschen Bank und den Sparkassen weitere Banken für belastbare Angebote zu gewinnen. […].“ Nach Günter Ullrichs Aussage, u. a. Generaldirektor der Staatlichen Versicherung der DDR, war Siegert „ein Glücksgriff“, weil dieser wusste, „welche Verantwortung die Staatliche Versicherung für die Bevölkerung der DDR zu tragen hatte und dass die Zeit drängt.“ 25 Darüber hinaus hob Ullrich Siegerts gute Absichten für die Kunden der SV hervor: „[…] Er hat sich u. a. auch dafür eingesetzt, bei Lebensversicherungen ein Umtauschverhältnis von ‚1 zu 1‘ zu erreichen, was jedoch wegen der sehr hohen zusätzlichen finanziellen Belastungen abgelehnt wurde. […].“ Fortwährend beschäftigte Siegert diese Enttäuschung, dass ihm zugemutet wurde, er hätte in Ausübung seiner beruflichen Pflichten sich etwas zu Schulden kommen lassen. 26
These 7: Siegert fühlte sich dem Gemeinwohl der Ostdeutschen verpflichtet Eine Befähigung zum Minister der Finanzen lag vor, ob er eine langjährige Amtszeit erfolgreich durchgestanden hätte, mag angezweifelt werden, weil ihm insgesamt die Robustheit fehlte. Es war bei ihm keine Strenge, Schärfe oder Härte vorhanden. Vielmehr war er ein sanfter und versöhnlicher Mensch, einer, der selten die Gemütsruhe verlor oder mit der Faust auf den Tisch haute. Insgesamt drückte sein Erscheinungsbild eine Unaufgeregtheit aus. Neben alledem besaß er wenig Menschenkenntnis, konnte seinen Gegenüber schlecht einschätzen, weil er mehr gutgläubig war und anderen nur das zutraute, was er selbst zu wagen bereit gewesen wäre. Wiederholt fungierte er bei Problemlösungen als Mediator und versuchte, einen sozialliberalen und gesunden Kompromiss für beiden Seiten zu erreichen. Schnell musste er sich von Ungerechtigkeiten überzeugen lassen, auch zu Lasten der Staatsfinanzen, obwohl er sich gesetzeskonform verhielt, weil die höhere Stelle seine Entscheidungen einkassierte. Eindeutig wirkte hier die Kaderpolitik der Parteiführung auf die mittlere Ebene des Ministeriums der Finanzen hinein. Ein ehemaliger Mitarbeiter Siegerts meinte, dass er als „richtiger Chef“ nicht wahrgenommen wurde, weil ihm dazu „Coolness, Kaltherzigkeit und Rigorosität“ fehlte. Es war bei Siegert keine ausgeprägte Streitsucht vorhanden. An Auseinandersetzungen war er deshalb weniger interessiert, weil sie ihm einfach fernlagen. Unter den Kollegen wollte er immer eine gleichbleibende, gute Atmosphäre verbreiten. 27 Im Gegensatz dazu äußerte sich Siegert gelegentlich über manchen Kollegen, dass er durch ihre Unzuverlässigkeit enttäuscht wurde. 28 Dürkop und Ullrich im Gespräch S. 589. Dürkop und Siegert im Hintergrundgespräch S. 13.7.2018. 27 Aussage eines Mitarbeiters von Siegert aus dem Ministerium der Finanzen der DDR, der namentlich nicht genannt werden möchte. 28 Dürkop und Ilse Siegert im Gespräch am 5.8.2020 in Berlin. 25 26
121 Dieser innerliche Disput beschäftigte Siegert und stellte ihn schließlich vor eine Entscheidung: Die höchste Position anzustreben, um nicht mehr über- bzw. umgestimmt zu werden, oder sich damit abzufinden, dass Vorgesetzte – über ihn hinweg – endgültige Entscheidungen treffen könnten, die allerdings nicht mehr gesetzeskonform verliefen. Weil Siegert keine Parteidoktrin lebte, er mehr seiner Profession nachging und keine einflussreichen Parteiämter anstrebte, war somit ein Schritt an die Ministeriumsspitze ausgeschlossen. Als Leiter der Staatlichen Finanzrevision konnte er noch relativ frei agieren. In den weiteren Funktionen wurden ihm durch Reglementierung Grenzen aufgezeigt. 29 Wie beschrieben, arrangierte er sich nachvollziehbar in einer sogenannten „Tandemlösung“ mit seinem jeweiligen Minister bzw. Vorgesetzten. Eindeutig war Siegert weder Vollblutpolitiker noch Politkarrierist. Vielleicht aber ein Stück weit wertkonservativ, nach Erhard Epplers (1926–2019) Vorstellungen. 30 In seinen Positionen, so Manfred Domagk, war Siegert einem Druckzustand ausgesetzt: „Hervorzuheben ist, dass er es in seiner Amtszeit – sei es als Chef der Staatlichen Finanzrevision oder als Staatssekretär – mit fünf Ministern und einer Ministerin zu tun hatte.“ 31 Dieser Zwischenbefund hingegen gilt nur für die Zeitraum Mitte der 1970er bis Anfang/Mitte der 1980er Jahre. Siegerts Denk- und Vorgehensweise erneuerte sich im Spätherbst ´89 beim versuchten, aber letztendlich gescheiterten Neuanfang der DDR. Mit Beginn der friedlichen Revolution wandelten sich rasant die gesellschaftspolitischen Zustände. Millionen Bürgerinnen und Bürger der erodierenden DDR trauten sich mehr zu und gingen ein unkalkulierbares Risiko ein. Sie forderten vehement Veränderungen ein, um etwas Neues zu erreichen. Hier beteiligte sich Siegert als ein „überzeugter Zeitgenosse, der an die neue Zeit glaubte, sie einordnete und für ein besseres Deutschland wirken wollte.“ 32 Als ein „Wendehals“ oder gar „Opportunist“ kann der Ökonom nicht beurteilt werden. Seine Position, Haltung und Gesinnung waren schon immer im Linksliberalismus bzw. mit dem Sozialliberalismus verankert, nur konnte er diese Einstellung nicht wirklich zeigen oder gar ausleben. Beruflich und politisch wirkte er auf der Seite der Mächtigen mit, obwohl er mit den Oppositionellen sympathisierte. Eine sichtbare Gefolgschaft dieser Widerständler leistet er, wie viele seinesgleichen, aber nicht. Zu DDR-Zeiten war er nicht mutig genug. Diese Beanstandung darf nicht mit Mutlosigkeit verwechselt werden. Eine Risikobereitschaft insoweit besaß er, indem er ausprobierte, wo Grenzen des Machbaren lagen. Allerdings wurden Reformansätze bereits im Keim erstickt. Sofort drohten Konsequenzen. Das darf Ebd. Erhard Eppler, Ende oder Wende – Von der Machbarkeit des Notwendigen, Stuttgart 1975. Hinweis: Eppler hatte eine federführende Rolle beim gemeinsamen Papier von SPD und SED unter dem Titel „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“ inne, welches am 27.8.1987 in Ost und West veröffentlicht wurde. 31 Dürkop und Domagk im Gespräch S. 501. 32 Dürkop und Ilse Siegert im Gespräch am 5.8.2020. 29 30
122 ihm nicht zum Vorwurf gemacht werden, was anmaßend wäre. Vielmehr war es ein kollektives Versagen. Vielleicht nach „es gibt kein richtiges Leben im falschen“ 33 oder ein „in der Wahrheit leben“ 34? Einen Auftrieb erlebte Siegert, als durch den Revolutionsbeginn ein Ausbrechen aus dem bisherigen Korsett der Staatsdiktatur möglich wurde. Er nutze die ihm gebotene Chance, sich am Prozess der Wiederbelebung der DDR zu beteiligen. Als die Modrow-Führung für die angeschlagene DDR und gescheiterte Rettungsversuche als Notlösung eine Kehrtwende vom bisherigen Kurs hin zur Initiative „Deutschland, einig Vaterland“ (ab Februar 1990) machte, entzog er sich nicht der Verantwortung, sondern gestaltete bewusst diesen Weg – mit Anstand und Würde – für ein besseres Miteinander mit. Weitere Effekte seiner Mitarbeit erzielte er in der Delegation zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion (Kapitel IV. S. 91 ff.) bei der Unterstützung vom Einheitsvertrag (Kapitel IV. S. 95 ff.) und bei der Privatisierung der Staatlichen Versicherung der DDR (Kapitel IV. S. 88 ff.). Angekommen im vereinten Deutschland hatten die mittlerweile erwachsenen Kinder Fragen an ihre Eltern, die beide Teile versuchten – so gut es eben ging – zu beantworten, wie rückblickend Ilse Siegert erzählte: „Wir mussten uns als Eltern auch die Bemerkung unserer Kinder anhören, dass wir in einem gewissen Mikroklima leben. Mein Mann in seiner Ministeriums-Atmosphäre und ich in der Schule, die vom pädagogischen Programm her politisch und ideologisch sehr überlastet war. Das führte zu Konflikten mit unseren Kindern.“ 35 Die Tochter Carmen-Uta suchte immer Antworten auf ihre Fragen zu erhalten und verstand, wie sehr ihr Vater von der Zerstörung einer sozialistischen Idee getroffen wurde: „Wir haben vor und nach der Wende viele politische Diskussionen miteinander geführt und dabei sehr oft kontrovers gestritten. Besonders in der Nachwendezeit. Dabei bemerkte ich: Er stand zu seiner Überzeugung und es war für ihn sehr schmerzhaft mitzuerleben, wie ein Großteil seiner Arbeit ‚wertlos‘ geworden war.“ 36 Erwähnenswert und nicht unbedeutend ist, dass Siegert als einer der wenigen ostdeutschen Politakteure und als ehemaliges Mitglied der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands nach dem 3. Oktober 1990 als Berater für das Bundesfinanzministerium in Bonn tätig wurde. 37 Nach seinem Ausscheiden aus dem BMF (März 1991) war für ihn klar, dass er zukünftig nicht mehr in Staatsfunktionen, hingegen verstärkt als Unternehmensberater und Ansprechpartner für Immobilienverwaltungen sowie Projektentwicklungen tätig sein wollte. 38 Das entsprach seinem Naturell, was nicht erst mit der deutschen Einheit entstand, sondern er sich bereits beim selbstständigen Mitarbeiten im kleinen Bei diesem Satz handelt es sich um eine Sentenz des deutschen Philosophen Theodor W. Adorno aus dessen Minima Moralia. 34 Vaclav Havel, In der Wahrheit leben, Berlin 2014. 35 Dürkop und Ilse Siegert im Gespräch S. 239. 36 Dürkop und Carmen Siegert im Gespräch S. 413. 37 Der Einstellungsvertrag liegt Dürkop in Kopie vor. 38 Dürkop und Siegert im Gespräch S. 407 ff. 33
123 Lebensmittelgeschäft seines Vaters abschaute, es weiter entwickelte und mitprägte. Die Welt des Zahlungsverkehrs, das Beschaffungswesen und der Verkauf, Gewinne zu realisieren und Verluste zu vermeiden, mit Ressourcen sinnvoll umzugehen und Kundenwünsche zu befriedigen, schlummerten bei Siegert im Verborgenen, insbesondere, weil sie die Staatsdoktrin isolierte. Die Kommandowirtschaft der DDR sah das eben nicht vor.
These 8: Ehemalige Weggefährten äußern sich über Siegerts Leben und Wirken Mit den Äußerungen über und Einschätzungen von dem Finanzökonom ist die achte und letzte Forschungsfrage nach der Charakterisierung und Typisierung Siegerts (Kapitel I. S. 18) vollends beantwortet worden. Positiv anzumerken ist die hohe Bereitschaft zur Beteiligung und Mitwirkung zu dieser Forschungsarbeit der Zeitzeugen. Die vorliegenden Reflexionen sind ein messbares Indiz für eine gewachsene und jahrzehntelange Verbundenheit zu Siegert. Charakterisierungen und Bewertungen über ihn fallen allesamt positiv aus. Auch eine Art Wertschätzung gegenüber ihm sind in der Literatur und in Siegerts Dokumentenarchiv (Beurteilungszeugnisse) zu finden bzw. in Zeitzeugengesprächen geäußert worden. Eine Auswahl daraus: Der Vorsitzende des Ministerrats der DDR, Hans Modrow, arbeitete während seiner Regierungszeit mit Siegert enger zusammen. Obwohl die Entscheidungshoheit bei den Parteien lag, die Kandidaten für die Ministerämter zu benennen, legte sich Modrow fest: Hätten sie nicht Uta Nickel (im November 1989) für den Posten zur Finanzministerin vorgeschlagen bzw. hätte sie abgelehnt, so wäre Siegert sofort Finanzminister der DDR geworden und nicht erst nach Nickels Rücktritt (Ende Januar 1990). Die Qualitäten dazu hatte Siegert allemal, so Modrow: „Ich lernte ihn als einen sehr sachkundigen, sehr zuverlässigen Mann kennen, der auch bereit war, kooperativ miteinander zu arbeiten. […] Sodass wir davon ausgehen konnten, dass das ein Ressort war, in dem fachkundig und sachlich gearbeitet wurde und wo ich auch, was den Charakter betraf, jemanden hatte, zu dem man Vertrauen haben konnte. […].“ 39 Außerdem war Modrow klar, warum Siegert nicht bereits in früheren Jahren Finanzminister der DDR geworden war: „[…], dass er nicht dem ZK angehörte, hinderte ihn daran.“ 40 Unter dem letzten freigewählten Ministerpräsidenten der DDR, Lothar de Maizière, wurde Siegert abermals Staatssekretär: „Nach der Einigung – ein oder zwei Jahre später – besuchte er mich im Büro und äußerte die Bitte: ‚Ich möchte so gerne, dass wir uns duzen.‘ Ich habe mich eigentlich mit den Staatssekretären und Ministern niemals geduzt. Mit ihm schon. Er war also auch ein Mann, für den ich jederzeit meine Hand ins Feuer gelegt hätte. [...] Im Westen wäre Siegert ein braver, deutscher Beamter gewesen. […].“ 41 Dürkop und Modrow im Gespräch S. 434. Ebd., S. 439. 41 Dürkop und de Maizière im Gespräch S. 463. 39 40
124 In der Abschlussbeurteilung Siegerts hielt De Maizière am 3. Oktober 1990 fest: […] Für Ihre umsichtige und verantwortungsvolle Arbeit sowie Ihr hohes persönliches Engagement in Verwirklichung unseres Regierungsprogrammes zur Vollendung der Einheit Deutschlands in Frieden und Freiheit danke ich Ihnen herzlich.“ 42 Der letzte geschäftsführende Finanzminister der DDR, Werner H. Skowron (CDU), würdigte Siegerts Verdienste für die Verhandlungen zum Staatsvertrag I. und zum Einigungsvertrag am 14. September 1990 wie folgt: „[…] Durch Ihre hohe Fachkompetenz und Ihre konsequente Verhandlungsführung haben Sie einen wesentlichen Beitrag bei der Gestaltung beider Vertragswerke geleistet.“ 43 Resultierend daraus waren die hervorstehenden Wesenszüge und Charaktermerkmale, die Siegert auszeichneten, Pflichtbewusstsein, Loyalität und Glaubwürdigkeit. Frühzeitig erkannte er, dass Erfolge immer eng mit persönlichem Einsatz verbunden sind. Deshalb fehlte es ihm auch nicht an Ehrgeiz und Motivation, die mit seinem Streben nach Anerkennung einhergingen. Obwohl eine Art Weitschweifigkeit bei seinen Antworten feststellbar war und er oftmals bei seinen Zuhörern Aufmerksamkeit einforderte, wirkte er weder oberlehrerhaft mit erhobenem Zeigefinger noch eitel. Seine Rhetorik war sachlich und nüchtern, inhaltlich gehaltvoll und oftmals mit Beispielen angereichert. Einen Habitus besaß er nicht. Solidarisch diszipliniert agierte er insbesondere in Bezug auf das Ergebnis. Siegert reflektierte mit selbstkritischer Altersweisheit, dass er in seinem Berufsleben – nach bestem Wissen und Gewissen – der jeweiligen Verantwortung gerecht geworden sei. Aufgrund seiner traumatischen Kriegserfahrungen blieb er zeitlebens ein Antifaschist. Der Abschlussbericht der Regierungskommission über „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“ 44 deckte auf, dass der „unter vielen Ostdeutschen verbreitete Eindruck, ihr Landesteil werde benachteiligt, missachtet, komme in der öffentlichen Debatte nicht angemessen vor und werde systematisch von wichtigen Entwicklungen ‚abgehängt‘ (ungeachtet seiner empirischen Stichhaltigkeit), dazu geeignet, das gesamtgesellschaftliche Klima in Deutschland weiter zu belasten.“ 45 Das geht oftmals einher „mit der Klage über fehlenden Respekt vor der Lebensleistung der Menschen in Ostdeutschland. Die daraus erwachsende Missstimmung schadet uns allen zusammen“. Entlassungsschreiben von MP de Maizière an Walter Siegert. Das Dokument befindet sich im Archiv von Siegert. Eine Kopie ist im Besitz von Dürkop. 43 Finanzminister Skowron in seiner Beurteilung über Walter Siegert. Das Dokument befindet sich im Archiv von Siegert. Eine Kopie ist im Besitz von Dürkop. 44 Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat, Abschlussbericht der Regierungskommission, „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“, Berlin 2020, siehe den Bericht unter https://www.bundesregierung.de/resource/blob/974430/1825612/cbdbb1fd3b4ca0904aa796080e3854d1/2020-12-07-abschlussbericht-data.pdf?download=1 (letzter Zugriff 9.12.2020). 45 Ebd., S. 12. 42
125 Vehement forderten die Autoren „Ostdeutschland muss eine Angelegenheit von ganz Deutschland sein“. 46 Bei der Vielzahl von Handlungsempfehlungen ist es eine zukünftige Herzensangelegenheit, „Ostdeutschland nicht als Randthema einer Region“ zu beachten, sondern stattdessen „gehört all das mitten hinein in die Debatte über Deutschlands und auch Europas Zukunft im 21. Jahrhundert.“47
Begrenzungen: Für eine zukünftige Forschung wäre es lohnenswert, weitere Ansätze zu untersuchen. Dabei könnte der Frage nachgegangen werden: Würden neue Erkenntnisse und Befunde ein anderes bzw. genaueres Gesamtbild über Siegerts Wirken entstehen lassen? Die folgenden sechs Empfehlungen könnten zur Anregung dienen. Erstens: Eine Befragung weiterer Informationsträger (Zeitzeugen), wie z. B. Horst Köhler, Johannes Ludewig, Thilo Sarrazin, Otto Schily, Wolfgang Schäuble, Theo Waigel wäre denkbar. Ebenfalls könnten auch die ehemaligen Aufsichtsräte der Allianz AG und der EKO Stahl AG angesprochen werden. Zweitens: Um neue Rückschlüsse zu erhalten bzw. weitere Resultate herauszuarbeiten, wäre eine Auswertung von weiterem Archiv-Material, wie z. B. Unterlagen, Dokumente und Gesprächs- und Sitzungsprotokolle förderlich. Wo wird Siegert namentlich erwähnt? Wie, wo und wann äußerte sich Siegert dezidiert? Welche Dokumente wurden von Siegert unterschrieben? Archive des Ministeriums der Finanzen und Preise der DDR, das Bundesministerium für Finanzen, die Staatsbank der DDR, die Staatliche Finanzrevision der DDR (SFR), die Humboldt Universität, der Ministerrat der DDR, das Politbüro, der RGW, die EKO Stahl AG in Eisenhüttenstadt, die Allianz Versicherungs AG in München, die Staatliche Versicherung der DDR, der Zentrale Runde Tisch, der Ausschuss für Finanzen und Wirtschaft der Volkskammer, die Treuhandanstalt usw. könnten dabei in den näheren Betrachtungsfokus rücken. Drittens: Über Siegert sind keine Skandale bekannt. Allerdings berichtete Der Spiegel 1990 48 über eine Tätigkeit als Aufsichtsratsmitglied der Neuen Deutschen Spielcasino GmbH. 49 Was war Siegerts konkrete Rolle in dieser Position? Viertens: Ein wissenschaftlicher Vergleich und eine Einordnung über Staatssekretäre der DDR existieren nicht. Untersuchungsparameter könnten für eine empirische Untersuchung Herkunft, Bildungsgrad, Alter und Verweildauer, Karrierestationen usw. sein. 50 Mario Niemann leistete zur Veranschaulichung mit der Ebd. Ebd., S. 13. 48 Der Spiegel, 17.9.1990, Ausgabe 38/1990, S. 131–133, Wer wen melkt. Für die seit Wochen umstrittene Übernahme der DDR-Kette Interhotel durch den Steigenberger-Konzern bringt Interhotel-Chef Fröhlich die besten Kontakte mit. Siehe https://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/13501997 (letzter Zugriff 12.12.2020). 49 War kein Thema der Gespräche. 50 Ein Vergleich zwischen ost- und westdeutschen Staatssekretären ab 1990. Sabine Klose, Beamtete Staatssekretäre im Transformationsprozess: Rekrutierungsmuster in den neuen Bundesländern, Diplom-Arbeit, Bamberg 2007. Siehe https://www.uni46 47
126 Abfassung über „Die Sekretäre der SED-Bezirksleitungen 1952–1989“ 51 bereits Pionierarbeit. Fünftens: Bei den jährlichen medialen Erinnerungen zum Mauerfall und der deutschen Einheit, insbesondere zu den Jubiläen, sollte für eine ausgewogene Berichterstattung vielmehr ein Augenmerk auf die Beteiligungen und Einflüsse von Hintermännern und Akteuren aus dem back channel gelegt werden. Sechstens: Hans Modrow erstritt vorm Leipziger Bundesverwaltungsgericht die Herausgabe seiner Geheimdienstakten, weil er jahrzehntelang vom Bundesnachrichtendienst und Verfassungsschutz beobachtet worden war. 52 Ob die Minister der Finanzen der DDR (u. a. Walter Romberg, Uta Nickel, Ernst Höfner, Siegfried Böhm) und deren Staatssekretäre ebenfalls im Blickfang der westlichen Überwachung standen, konnte abschließend nicht geklärt werden. Siegert sah für sich keinen Anlass, einen Antrag auf Akteneinsicht zu stellen. Ob bei einer Überwindung dieser Begrenzungen weitere Erkenntnisgewinne über die Lebens- und Leistungsbilanz von Walter Siegert generiert werden könnten, muss zum jetzigen Zeitpunkt ausgeschlossen werden. Das erforschte Gesamtbild in dieser Publikation bleibt – bis zum Widerruf – bestehen.
Ausblick: Der Kampf um die Deutungshoheit des Erbes der DDR muss weiterhin geführt
werden. Eine Reduzierung der DDR-Geschichte auf Stasiüberwachung, Stacheldraht und Mauertote sowie Unrechtsstaat und Ein-Parteien-Herrschaft der SED reicht im Rückblick nicht aus. Diese Reminiszenz wird oftmals von Enttäuschung, aus Verbitterung und durch viele Emotionen getrübt. Bis heute wirkt das Diktatur-Narrativ als Projektionsfläche und wertet damit die ostdeutschen Lebensleistungen ab. Um die SED-Diktatur und ihre Überwindung faktenbasiert, ausgewogen und unparteiisch zu verorten, muss weiterhin die Mentalität zum Diskurs eingefordert und gefördert werden. Opfergedenken, Erinnerungskultur und Gedenkstätten sind hierfür ein idealer Rahmen. Ein Fundament bilden vor allem die Ergebnisse und Handlungsempfehlungen der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur“. 53 Ein Phänomen ist zu beobachten, wenn Geschichtsreflexion von Nichtbeteiligten betrieben wird. Das folgende Beispiel zeigt eine zeitgenössische Gefahr auf, dass sich etwas im publizistischen Mainstream verschiebt: Die Journalistin Valerie Schönian ist ein Wendekind (Jahrgang 1990) und wuchs in Magdeburg (Sachsen-Anhalt) auf. Sie unternahm in ihrer Publikation „Ostbewusstsein“ 54 den Versuch, mit Vertretern ihrer Generation (u. a.
bamberg.de/fileadmin/uni/fakultaeten/sowi_professuren/politische_systeme/Forschung/Klose_Staatss.pdf (letzter Zugriff 1.11.2020). 51 Mario Niemann, Die Sekretäre der SED-Bezirksleitungen 1952–1989, Paderborn 2007. 52 Robert Allertz, Ich will meine Akte: Wie westdeutsche Geheimdienste Ostdeutsche bespitzeln, Berlin 2018. 53 Die Bände, die Kommission, Mitwirkende, Resümee usw. unter https://enquete-online.de/ (letzter Aufruf 19.12.2020. 54 Valerie Schönian, Warum Nachwendekinder für den Osten streiten und was das für die Deutsche Einheit bedeutet, München 2020.
127 Lukas Rietzschel und Philipp Amthor) über die DDR zu sprechen, um Antworten zu finden. Ihre Publikation wurde ein Spiegel-Besteller. Allerdings fielen die Rezensionen verheerend aus. Frank Pergande stellte fest: „[…] Schönian ist zu jung, um sich die Welt des realen Sozialismus vorstellen zu können. Ihre Bemerkungen über die DDR wirken angelesen – und sind es naturgemäß auch. […] Wenn sie über die SED-Politik zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie schwadroniert, kommt sie zu dem Schluss: ‚Vernünftige Frauenpolitik ist kein Hexenwerk.‘ Das aber kann man so nicht stehenlassen. Denn all die angeblich so tollen DDR-Errungenschaften sind im Kern doch gar keine. Sozialpolitik in einer Diktatur dient nie den Menschen, sondern den Interessen der Machthaber, um ihr Volk ruhigzustellen.“ 55 Ebenso urteilte Norbert F. Pötzl: „[…] Valerie Schönian, […] bezeichnet sich in ihrem Facebook-Profil als ‚Verstehensversucherin‘. In Wahrheit versucht sie jedoch immerfort, anderen ihr eigenes Selbstverständnis aufzudrängen. […] Immer wieder konfrontiert sie die Gesprächspartner mit ihrer These, Ostdeutsche seien benachteiligt, ihre Lebensleistung werde nicht hinreichend gewürdigt. […].“ 56 Dazu: Die Studie „30 Fakten zu 30 Jahren Deutsche Einheit“ 57 widerlegte die meisten Argumente von Schönian. Noch lebende Zeitzeuginnen und Zeitzeugen hinterfragen ihr vollbrachtes Leben in der DDR, um dieses Bewusstsein in die Gesellschaft zu transportieren und dort zu manifestieren. Deshalb ist eine akribische Forschung mit vorhandener Materiallage mehr denn je gefragt. Dazu gehören Erinnerungstexte, also Autobiografien, Memoiren und Zeitzeugeninterviews damaliger Beteiligter. Auch Karl Döring ist in Sorge über die Zunahme des Verlustes von Vergessen und Erinnern: „[…], wenn Sie heute im Osten 100 Menschen fragen, wer Walter Siegert war, dann wissen das vielleicht 3 oder 4 Personen oder auch keiner.“ 58 Eine Erklärung auf diese Reaktion ist greifbar: Es sind immer die bekannten Persönlichkeiten der vorderen Reihen, die den Ruhm, selten auch die Missgunst, abbekommen. Vielmehr sind es die weniger bekannten Akteure im Hintergrund wie Abteilungsleiter, Beamte, Berater, Staatssekretäre, Stellvertreter usw. Diese Leistungsträger bereiten vor, organisieren mit und kümmern sich, führen Hintergrundgespräche, fertigen Entwürfe und Beschlussvorlagen an, wirken in den Ausschüssen mit, unterrichten die Ministerebene und informieren über die Frank Pergande, Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 6.5.2020, Schau an, ich bin ein Ossi, Erlebt hat die Autorin den DDR-Sozialismus nicht mehr. Fehlende Erfahrung schützt aber nicht vor falscher Nostalgie. Siehe https://www.faz.net/aktuell/politik/politische-buecher/eigenheiten16744439.html(letzter Zugriff 14.12.2020). 56 Norbert F. Pötzl, Süddeutsche Zeitung (SZ), 14.6.2020, Dreißig Jahre nach dem Vollzug der Wiedervereinigung sucht Valerie Schönian nach Mitstreitern für das Anderssein. In ihren Interviews trifft sie aber oft auch auf Menschen, die ihre Fragen gar nicht verstehen, sogar in ihrer eigenen Familie. Siehe https://www.sueddeutsche.de/politik/deutsche-einheit-ii-kategorie-ost-1.4936080 (letzter Zugriff 13.12.2020). 57 Dirk Assmann, „30 Fakten zu 30 Jahren Deutsche Einheit“, Potsdam 2020. Siehe https://shop.freiheit.org/download/P2@916/295254/200813_FNF_Generation_Aufbruch_Publikation_30_Fakten_WEB-PDF_FINAL.pdf (letzter Zugriff 19.12.2020). 58 Dürkop und Döring im Gespräch S. 517. 55
128 Medien die Öffentlichkeit. Sie sind die heimlichen Allrounder, Gestalter und Macher und bilden die Basis. Beim Scheitern werden sie zuallererst fallen gelassen und spüren unmittelbar die Konsequenzen. Das erlebten gleichermaßen die Akteure beider deutscher Staaten in den Phasen der Teilung, Trennung und Vereinigung. Die Nachwendegeneration, wozu auch Schönian zählt, und Wissenschaftler, die weder in der DDR aufgewachsen sind noch sie von innen erlebt haben, sollten die Lebens- und Berufserfahrungen von Ost- und Westbeteiligten kennen, um Verhaltensweisen nachzuvollziehen und um sie besser politisch, gesellschaftlich und kulturell einordnen zu können. Das mitunter war auch Siegerts Anliegen. Jedes einzelne Individuum in der DDR steuerte – aktiv oder passiv – seinen Beitrag zum Gelingen bzw. zum Misserfolg beim Sozialismusexperiment bei. Viele bekannte, aber umso mehr unbekannte Akteurinnen und Akteure zählten dazu. Einer davon war sicherlich Walter Siegert, dessen Bemühen in der Mitverantwortung in dieser Forschungsarbeit aufgezeigt wurde und deshalb nicht in Vergessenheit geraten sollte. Die Externalisierung von Erfahrungswissen, das Wissen von Zeitzeugen, dürfen niemals verloren gehen. Dafür ist die Oral History eine wertvolle Forschungsmethode und dient als Grundlagenmaterial. Weiterführende und zukünftige Geschichtsschreibung sollte multikausal und interdisziplinär aufgestellt sein.
129
VII. Anhang Berichte von und Zeitzeugengespräche mit politischen Akteuren 1. Walter Siegert – Staatssekretär und Minister im Finanzministerium der DDR 1.1. Tabellarische Biografie 59 18.5.1929
Walter Siegert wurde in Siegmar/Chemnitz geboren. Seine Konfession war, bis zum Austritt 1942, evangelisch. Eltern: Rudolf Siegert (geboren 1893 und verstorben 1983 in OstBerlin), Kfm. Buchhalter, Einzelhändler Elise Siegert (geboren 1894 und verstorben 1972 in KarlMarx-Stadt), Kontoristin Ehefrau: Ilse (Ille) Siegert (Mewes), geboren am 17. Oktober 1936 in Pretzien. Ihre Konfession war, bis zum Austritt im Jahr 1960, evangelisch. Eltern: Albert Mewes (Mevsé) geboren 1895 und verstorben 2/1961, Bruch- und Sprengmeister Martha Mewes (geboren 1902 und verstorben 1964) Geschwister: Heinz (geboren 1926, verstorben 2011) Irene (geboren 1924, verstorben 1991) Heirat: Am 21. Januar 1956 in Potsdam. Kinder: Dr. Oec. Uwe-Jens Siegert, geboren am 17. Juli 1956, Dipl. Wirtschaftler Fachwirtin für Ökonomie Carmen-Uta Siegert, geboren am 31. Dezember 1958. Drei Enkelkinder und zwei Ur-Enkel. Verwandtschaft in Amerika: Bereits im Jahr 1896 wanderte die Schwester der Großmutter väterlicherseits nach Amerika aus. Die Korrespondenz sowie Kontakte bestanden über Vater Rudolf. Walter Siegert hielt bis zu seinem Ableben diese Verbindung aufrecht. Eine Reise nach
Die Hinweise in diesem Lebenslauf wurden überwiegend von Walter Siegert und den Familienmitgliedern übermittelt. Weitere Daten, Beurteilungen und Einschätzungen wurden Dokumenten aus dem Archiv von Siegert entnommen. Dürkop liegen diese in Kopie vor.
59
130
1935–1941 1939–1945 3–4/1945 1941–1946 1946–7/1947 10/1947–3/1949
1948–1990 1948–1955 1948–1951 1949–1952 1949–1990 1950–1952 1950 1951
1951–1952 1952 1952–7/1955
Amerika in den letzten Jahren war aus gesundheitlichen Gründen unmöglich. Volksschule in Erfenschlag Kassenverwalter im Jungvolk Deutsches Jungvolk (DJ) Einberufung zum „Volkssturm“ in die Hitler-Jugend (HJ); Dienst an der Waffe westlich von Chemnitz Wirtschaftsoberschule Chemnitz Oberklasse der Fachschule für Wirtschaft und Verwaltung in Chemnitz, Abschluss bestanden mit Prädikat „gut“ und zum Studium an den Hochschulen geeignet. Ausbildung beim Steuerberater (StB), Wirtschaftsprüfer (WP) und vereidigten Buchprüfer (vBP), Otto Weigel in Chemnitz, Abschluss zum Wirtschaftstreuhänder-Assistent mit Prädikat „gut“. Mitgliedschaft im DSF (Deutsch Sowjetische Freundschaft) Mitgliedschaft in der FDJ Verschiedene FDJ-Funktionen in Dorf- und Betriebsgruppe Revisor in der volkseigenen Textilmaschinenindustrie in Chemnitz und im Ministerium für Maschinenbau Berlin. Mitgliedschaft im FDGB Kandidat der SED Revisionsarbeit einer VVB bzw. im Industrieministerium Friedensmedaille der FDJ Teilnahme an den Jugendweltfestspielen in Ost-Berlin: Als Revisor war Siegert für die Kontrolle und Durchführung zum Bau einer Freilichtbühne auf dem Berliner Müggelsee verantwortlich. Hierüber berichtet er dem Minister Paul Gerhart Ziller regelmäßig. Ferner betreut Siegert die österreichische Jugend-Delegation bestehend aus über 100 Personen – christliche sowie sozialistische Jungend. FDJ-Kreisleitung Berlin-Friedrichshain NVA-Rekrutierungsstelle empfiehlt Siegert keinen freiwilligen Dienst aufzunehmen; Philipp-Müller-Medaille Studium an der Hochschule für Finanzwirtschaft Potsdam und der Hochschule für Ökonomie in Berlin. Er schloss sein Studium erfolgreich mit dem Thema: „Die Bedeutung der Produktionsabgabe für die Festlegung der Rentabilität der volkseigenen Betriebe“ als Diplomwirtschaftler mit dem Prädikat „gut“ ab. Gefördert wurde er mit einem Stipendium.
131 1952–12/1989 1954–1955 1955–1961 1956–1961 1957–1961 1958 1959 1960–1964 1960–1990
1961–1969 10.12.1961
1961–1963 2/1961–1967
1961–1967 1962/1966 60 61
Mitglied der SED (Austritt nach dem Parteitag 8.–9.12.1989) Parteigruppenorganisator Wissenschaftlicher Assistent an der Hochschule für Ökonomie, Berlin Parteigruppenorganisator WBA-Vorsitzender Nationalen Front 60 Nationale Volksarmee – Reservist/Reservistenlehrgang, seitdem Reserve; Mitgliedschaft Urania; VR Bulgarien Ferienreise VR Ungarn: Delegationsleiter im Studentenpraktikum HfÖ Abgeordneter im Bezirksparlament des Stadtbezirkes Berlin-Lichtenberg Gastdozent über aktuelle Ereignisse und Zahlen der DDR an der Humboldt Universität Berlin: In den Jahren referierte er über die Schwerpunkte der Methodik und Bilanzprüfungen im VEB der DDR. Weitere (Dienst)Reisen erfolgten u. a. in die Sowjetunion, Polen, Ungarn, Bulgarien, ČSSR, Kuba. Mitglied der Kampfgruppe Promotion zum Dr. rer. oec. an der Hochschule für Ökonomie, Berlin Betreuer: Prof. Dr. Herbert Wergo und Prof. Dr. Erhard Vogel, Verliehen durch den Rektor Dr. rer. oec. Johannes Rößler mit dem Prädikat: „gut“ (cum laude). Thema der Dr.-Arbeit: „Die Produktionsabgabe in der volkseigenen Bekleidungsindustrie. Eine Untersuchung der Probleme bei der Bestimmung der Produktionsabgabesätze in Verbindung mit der Preisbildung sowie einiger Fragen der Planung, Realisierung und Kontrolle der Produktionsabgabe.“ Mitglied des WBA Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Büro der Regierungskommission für die Umbewertung der Grundmittel. Ab Juni 1962 Leiter des Arbeitskreises „Industrie“ und Stellvertreter des Leiters des Büros der Regierungskommission. AGL-Vorsitzender 61 Medaille für ausgezeichnete Leistungen
Wohnbezirksausschuss der Nationalen Front. Abteilungsgewerkschaftsleitung in Großbetrieben.
132 1962–1963 17.8.1963
1964 27.5.1964 1966 1965–1969 7/1967–1968
1967 1967–1969 1968 1.5.1968 17.6.1968 1968–1973 1970–1989
21.–29.9.1970
1971–1972
WBA-Vorsitzender Nationalen Front Umfangreiches ADN-Interview und Veröffentlichung u. a. Berliner Zeitung mit dem Titel: Rechnen mit Grundmitteln. Umbewertung und ihr ökonomischer Nutzen. Siegert: „Es müssen entsprechend dem ökonomischen System in stärkerem Maße als bisher ökonomische Hebel angesetzt werden, die die Betriebe ansprechen, das höchstmögliche Produktionsergebnis je Kapazitätseinheit zu erreichen. […]. 62 Verdienstmedaille der DDR, Verdienter Aktivist und ErnstMoritz-Arndt Medaille Ernst-Thälmann-Plakette Mitgliedschaft Volkssolidarität Abgeordneter der Stadtbezirksversammlung Berlin-Lichtenberg Abteilungsleiter im Finanzökonomischen Forschungsinstitut des Ministeriums der Finanzen. Wissenschaftliche Arbeit auf dem Gebiet Finanzen der VEB am Finanzökonomischen Forschungsinstitut. VR Ungarn Dienstreise (FöFi) Parteiorganisator im Stabszug Ferienreise ČSSR Urkunde „Für ausgezeichnete Leistungen“ Ehrennadel der Urania in Silber Stellvertretender Leiter der Staatlichen Finanzrevision der DDR (SFR) Jährlicher Referent zu aktuellen Fragen der Finanzpolitik in der DDR an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät (WiwiFak) der Humboldt-Universität in Ost-Berlin. Teilnehmerkreis bestehend aus über 60 Professoren sowie Dozenten. Urkunde Lehrgang „Die Anwendung des ökonomischen Systems des Sozialismus erfordert wissenschaftliche begründete Planung und Leitung auf Grundlage der Erkenntnisse der marxistisch-leninistischen Organisationswissenschaft und mit Hilfe der elektronischen Datenverarbeitung“. Reise in die VR Polen
http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/ddr-presse/ergebnisanzeige/?purl=SNP2612021519630817-0-4-38-0&highlight=Siegert%7CWalter (letzter Zugriff 18.10.2020). Eine Anmeldung beim ZEFYS ist erforderlich. 62
133 1971–1973 10/1973–1980 1973 15.5.1974 10/1974 1976
1978 1980–1989 1980–11/1989
1980–1990
Betriebsschule Marxismus-Leninismus, zwei Lehrgänge gegeben Leiter der Staatlichen Finanzrevision der DDR und Mitglied des Kollegiums des Ministeriums der Finanzen. In der Sowjetunion zur Kur Urkunde für „25-jährige Mitgliedschaft im FDGB“ Auszeichnung mit dem Orden „Banner der Arbeit“ Stufe III Der österreichische Rechnungshofpräsident Jörg Kandutsch 63 besuchte die DDR: Finanzminister Böhm beauftragte Siegert den Präsidenten eine Woche zu betreuen. Kandutsch sieht im DDR-Theater „Der brave Soldat Schwejk“ von Bertold Brecht. Siegert erhält als Geschenk für die Betreuung eine Einladung in die Steiermark. Diese Reise anzutreten wurde ihm allerdings untersagt. Auszeichnung mit dem „Vaterländischer Verdienstorden“ in Bronze Obhut- und Aufsichtspflicht beim VEB Datenverarbeitung der Finanzorgane der DDR 64 sowie regelmäßige Teilnahme und jährliche Rede auf der Betriebskonferenz. Staatssekretär im Ministerium der Finanzen in der „StophRegierung“. Regelmäßige Berichtsvorlage sowie Besprechung in Funktion als Staatssekretär in Vertretung für den Minister der Finanzen beim Ministerrat der DDR sowie dem Präsidium des Ministerrates der DDR aufgrund von Krankheit, Urlaub bzw. terminlichen Verhinderungen. Regelmäßige Teilnahme als Staatssekretär an Politbürositzungen insbesondere zur Stellungnahme über Thematik der Lebensmittelpreise und Außenwirtschaft. Regelmäßige Arbeitstreffen mit den Finanzchefs der Räte der Bezirke vor Ort bzw. Ost-Berlin von Erfurt, Dresden sowie Karl-Marx-Stadt (Chemnitz), um über den Jahresplan, aktuelle Steuer- und Wirtschaftspolitik sowie Einnahmesituation und Ausgabenverwendung zu sprechen.
Jörg Kandutsch wurde am 14.1.1920 in Leoben geboren und verstarb am 11.11.1990 in Wien. Er war in der Zeit von 1964 bis 1980 österreichischer Rechnungshofpräsident. Kandutsch promovierte Staatswissenschaften an der Universität Graz. Ab 1949 war er sozialpolitischer Referent der WdU und der FPÖ. Im Jahr 1958 wurde er Abgeordneter zum Steiermärkischen Landtag. In der Zeit von 1953 bis 1964 war er Abgeordneter im österreichischen Nationalrat. Gemäß den politischen Umständen wurde er 1964 als Vertreter der kleinen parlamentarischen Opposition in die Kontrollfunktion des Rechnungshofpräsidenten gewählt. 64 VEB Datenverarbeitung der Finanzorgane der DDR. 63
134 2/1983 8/1985
7/1986
12/1986
6.10.1987 26.6.1988 19.–20.4.1989
Verdienter Mitarbeiter des Finanzwesens der DDR Indonesische Parlamentsdelegation zu Gast im Ministerrat: An dem Gespräch nahmen u. a. der Abgeordnete der Volkskammer und 1. Stellvertreter des Vorsitzenden des Ausschusses für Eingaben der Bürger, Wilhelm Weißgärber, 65 der Staatssekretär im Ministerium der Finanzen, Walter Siegert, sowie der Botschafter der Republik Indonesien, Kris Noermattias, teil. 4. Tagung des Gemeinsamen Wirtschaftsausschusses DDR und Republik Sambia: Für die DDR unterzeichneten der Stellvertreter des Ministers für Außenhandel Claus Gädt und der Staatssekretär im Ministerium der Finanzen Dr. Walter Siegert, für Sambia der Minister für Finanzen und Entwicklungsplanung, Basil Robam Kabwe, gemeinsame Dokumente über die weitere ökonomische Zusammenarbeit. Anwesend war der Minister für Verteidigung Sambias, Mahmba Maslieke. Dienstreise zum 48. RGW-Treffen für Finanzen nach Havanna/Kuba (Zwischenlandung in Neufundland). Weitere Dienstreisen Siegerts zu RGW-Treffen sind 1984 und 1987 in Moskau. Auszeichnung mit dem „Vaterländischer Verdienstorden“ in Silber Auszeichnung „Medaille für hervorragende Leistungen im Bauwesen der DDR“ in Gold Der Erste Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrates der DDR Günther Kleiber, Mitglied des Politbüros des ZK der SED, empfing den Minister der Finanzen der Republik Irak, Dr. Hikmat Omar Mekhailef. In den vorangegangenen Gesprächen des irakischen Gastes mit dem Minister für Außenhandel, Dr. Gerhard Beil, sowie dem Staatssekretär im Ministerium der Finanzen, Dr. Walter Siegert, wurden übereinstimmend die langjährig traditionellen Handels- und Wirtschaftsbeziehungen gewürdigt und Möglichkeiten für deren Ausbau und Vertiefung erörtert, insbesondere beim Wiederaufbau der irakischen Wirtschaft. An den Gesprächen nahm der Botschafter der Republik Irak in der DDR, Riyadh Al-Azzawi, teil.
Wilhelm Weißgärber wurde am 5.8.1925 in Brigidau/Wartheland geboren und verstarb im Jahr 2015 in Berlin. Er war Mitglied der Blockpartei DBD und war u. a. Vorsitzender des DBD-Bezirksvorstandes Berlin und Abgeordneter der Volkskammer der DDR. 65
135 29.4.1989 11/1989–1/1990 12/89–18.3.1990
14.12.1989 29.1.–11.4.1990 15.2.–12.4.1990
28.2.1990 14.3.1990 2.5.–2.10.1990 26.6.1990 8.9.1990 25.9.1990 1990er Jahre 1.9.1990–1.4.1991 3.10.1990–28.2.1991 1991–1998
Auszeichnung mit dem „Vaterländischer Verdienstorden“ in Gold Staatssekretär im Ministerium der Finanzen in der „Modrow-Regierung“ Mitarbeit in der Arbeitsgruppe „Wirtschaftsreform“ u. a. mit Christa Luft, Wolfram Krause mit dem Konzept: Vorschlag für eine Wirtschaftsreform in der DDR. Teilnahmen am „Zentralen Runden Tisch“ in Ost-Berlin als Vertretung für die Ministerin der Finanzen der DDR. Veröffentlichung im ND: Die Rolle von Geld, Finanzen und Preisen in der Wirtschaftsreform. Dokument (Anhang S. 137 ff.). Geschäftsführender Finanzminister in der „Modrow-Regierung“ Mitglied in der Expertenkommission zur Vorbereitung der „WWS“ und Erstellung eines Abschlussprotokolls. Gespräche u. a. mit Horst Köhler, die beiden Akteure der DDRStaatsbank, Präsident Horst Kaminsky sowie sein Stellvertreter und Vorstand Wolfried Stoll. Siegert und Kaminsky präsentieren vor der DDR-Volkskammer das Modell eines zweistufigen Bankensystems. Unterzeichner Vorvertrag für Kooperation zwischen „der Staatlichen Versicherung der DDR“ sowie „Allianz Versicherungs-AG“, München Staatssekretär im Ministerium der Finanzen und Preise im „de Maizière-Kabinett“ Unterzeichner der Gründungsurkunde der „Deutschen Versicherungs AG“ Reise in die USA auf Initiative vom US-Botschafter der DDR, Richard Clark Barkley 66 Rede am im „State Department“ in Washington „Was war die DDR – und warum ist sie nun zu Ende?“ Dozent für die Konrad Adenauerstiftung für ausländische Studenten aus Ost-Europa Aufsichtsrat im Eisenhüttenkombinat Ost (EKO) Berater im Ministerium der Finanzen in Bonn Consultant im Bauunternehmung und Betonwerke, F. Probst GmbH, Oelde
Richard Clark Barkley wurde am 23.12.1932 in Chicago geboren und verstarb am 30.1.2015 in Arlington, Virginia. In der Zeit vom 19.12.1988 bis zum 2.10.1990 war er letzter US-Botschafter in Ost-Berlin. Danach war Barkley von 1991 bis 1994 US-Botschafter in der Türkei. 66
136 1991/1992 1990 bis 2019
1.7.2015 2018 30.10.2018 10.12.2018 1.3.2019
10.9.2019 20.12.2019 2.2.2020 9.3.2020
Prozess wegen Verdacht der Untreue. Die rechtliche Betreuung erfolgte durch Kanzlei Becker & Schily, Berlin. Das Verfahren wurde eingestellt. Vorträge, Diskussion sowie Teilnahmen an Veranstaltungen über Finanzen, Steuern, Wirtschaftspolitik und Bürger- und Menschenrechte bei verschiedenen Foren und Anlässen. Teilnahme am Festakt „25 Jahre deutsch-deutsche Währungsunion“ der Deutschen Bundesbank im Alten Rathaus, Leipzig Walter Siegert stellte einen Antrag auf Einsicht in die Stasi-Unterlagen beim BStU Vortrag und Diskussion zum Thema „Währung“ bei den Kombinatsdirektoren, Rohnstock Verlag in Berlin Teilnahme bei der Veranstaltung „Menschenrechtspreis 2018“ für Hans Modrow in Berlin Diskussion bei den Kombinatsdirektoren, Rohnstock Verlag in Berlin; u. a. mit Hans Modrow und Christa Luft zum Thema: „Die Entstehung der Treuhandanstalt und was aus ihr wurde!“ Gastbeitrag von Siegert/Blessing zum Welt-Artikel: „Wie sich Richard Schröder arm rechnet.“ Veröffentlichung in der Berliner Zeitung. Notoperation im Krankenhaus Walter Siegert verstarb in Berlin. Nachruf in der Berliner Zeitung. Beisetzung von Siegert auf dem Evangelischen Friedhof Alt-Stralau
137 1.2. Die Rolle von Geld, Finanzen und Preisen in der Wirtschaftsreform Diskussionsvorschlag einer Arbeitsgruppe beim Ministerium der Finanzen und Preise (14. Dezember 1989) Arbeitsgruppe: Dr. Walter Siegert, Prof. Dr. Wolfgang Lebig, Dr. Frank Mothea 67
Abb. 6: Screenshot ND
Die Währungs-, Devisen- und Finanzsituation unseres Landes stand nie zuvor so im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses wie in den letzten Tagen und Wochen. Die Veröffentlichung der inneren Verschuldung des Staatshaushaltes, die Diskussion um die Auslandsverschuldung, die Notwendigkeit des Schutzes des Binnenmarktes und der Währung im Zusammenhang mit den offenen Grenzen, das Problem der Reisezahlungsmittel bei Westreisen sowie nicht zuletzt die Spekulationen bestimmter Kreise um eine mögliche Währungsreform haben unsere Mark sowie die Finanzen zunehmend ins Gespräch gebracht. In diesem Zusammenhang ist sicherlich jedem Bürger deutlich geworden, daß Geldfragen Existenzfragen sind. Das gilt für eine Volkswirtschaft genauso wie für jede Familie. Das ist durch niemanden zu bestreiten, auch wenn in den letzten Jahren das Geld in unserer Wirtschaft weitgehend durch Kontingente, Bilanzanteile, verbindliche Produktionsauflagen und andere administrative Entscheidungen zu materiellen Prozessen in seiner Wirkung verdrängt wurde. Das führte zu erheblichen Deformationen in den Geldprozessen. Und bei manchem ist in den letzten Tagen — nicht zuletzt durch die schwindelerregenden unrealen Wechselkurse der Mark der DDR zur D-Mark in westlichen Wechselstellen — der Eindruck entstanden, daß unsere Währung unter den weltoffenen Bedingungen „zu weich“ und die Finanzen „nicht stabil genug“ sind. Ein solches Pauschalurteil über Neues Deutschland, 14.12.1989, Jahrgang 44, Ausgabe 294, S. 4–5. Siehe http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/ddr-presse/ergebnisanzeige/?id=view1&highlight=Walter%20Siegert|1989&purl=SNP2532889X-19891214-0-5-67-0 (letzter Zugriff 18.10.2010). Für den Text gelten die damalig gültigen Rechtschreibregeln.
67
138 unser Geld und die Finanzen zu treffen ist sicher zu einfach und hält einer kritischen Analyse nicht stand. Das machen auch Aussagen führender Wirtschafts- und Finanzexperten aus Ost und West deutlich, die trotz aller Probleme zu dem Schluß kommen, daß die Währung der DDR durchaus als stabil einzuschätzen ist. Natürlich ist unbestritten, daß die komplizierte wirtschaftliche Situation in unserem Lande um die Geld- und Finanzwirtschaft keinen Bogen macht. Es steht deshalb außer Zweifel: Wenn es um die Durchführung einer durchgängigen Wirtschaftsreform in unserem Lande geht, dann erfordert das auch konsequente Reformen in der Geld- und Finanzpolitik. Nachfolgend soll auf einige Fragestellungen eingegangen werden, die auf diesem Gebiet von besonderer Bedeutung sind. 1. Wie kann die Stabilität der Währung und der Staatsfinanzen gesichert werden? Im Mittelpunkt des Prozesses der Wirtschaftsreform müssen aus der Sicht des Geldes und der Finanzen das Wachstum der Effektivität der gesellschaftlichen Produktion, die Wiederherstellung der Proportionalität der Volkswirtschaft sowie die Sicherung des Gleichgewichts zwischen Waren- und Geldfonds stehen. Dabei ist die Stabilität der Währung und der Staatsfinanzen neben der Bedarfsgerechtheit der Produktion zu einem Hauptentscheidungskriterium der Wirtschaftsentwicklung auf allen Ebenen zu machen. Die Schaffung einer leistungsorientierten, auf die Markterfordernisse ausgerichteten und international konkurrenzfähigen Wirtschaft schließt eine Politik des harten Geldes sowie eine restriktive Finanzpolitik notwendigerweise ein. Eine wirksame Stabilisierungspolitik des Staates erfordert ein enges Zusammenspiel von Geld-, Finanz- und Preispolitik. Dabei sind unter den neuen politischen und wirtschaftlichen Bedingungen der DDR-Sofortmaßnahmen genauso erforderlich wie gründlich durchdachte perspektivische Entscheidungen. Sofort bzw. kurzfristig zu realisierende Maßnahmen müssen sich vor allem konzentrieren auf die Verhinderung eines breiten Abflusses unserer Währung ins Ausland, die Schaffung von Möglichkeiten zur besseren Realisierung der kaufkräftigen Nachfrage der Bevölkerung, den partiellen Abbau Wirtschafts- wie sozialpolitisch nicht gerechtfertigter Preisstützungen, die Überprüfung aktueller lohn- und einkommensteuerrechtlicher Fragen, Möglichkeiten zur Ausgabe von Obligationen und Aktien, die Schaffung Wirtschaftsund finanzrechtlicher Regelungen für Kapitalbeteiligungen ausländischer Unternehmen, die Bildung des gemeinsamen Devisenfonds zur Finanzierung der Reisezahlungsmittel für unsere Bürger und vieles andere mehr. Längerfristig gesehen ist die Geld- und Finanzpolitik des Staates in enger Verbindung mit der Preis- und Einkommenspolitik auf eine wirksame Nutzung monetärer Steuerungselemente zur Förderung von Leistung und Innovation sowie Konkurrenzfähigkeit zu richten. Im Kern geht es um die Wiederherstellung der Rolle des Geldes als Wert- und Regelgröße für Leistungen in der Wirtschaft und letztlich für jeden Werktätigen. Deshalb ist besondere Bedeutung der Nutzung flexibler Regulatoren der Finanz-, Kredit- und Steuerpolitik wie Kurse, Zinsen, Steuersätze, Abschreibungsverfahren. Dort, wo es ökonomisch sinnvoll ist, sollten auch längst überholte fiskalische Traditionen wie die sogenannte Brutto-
139 finanzierung überwunden und durch eine mit ökonomischen Anreizen ausgestaltete Eigen-(Netto-)finanzierung ersetzt werden. Die direkte Einflußnahme des Staates auf die Finanzen und das Geld sollte sich auf die finanziellen Hauptströme und die hauptsächlichen Geldfonds (Staatshaushalt, umlaufende Geldmenge u. a.) beschränken. Dabei ist das einheitliche Finanzsystem in seiner bisherigen Form zu überwinden. Notwendig ist einerseits eine strenge administrative Trennung zwischen dem Finanz- und Bankensystem, andererseits sind die Finanzen des Staates stärker von den Finanzen der Territorien (Bezirke, Kreise, Kommunen) und den Finanzen der Kombinate und Betriebe zu trennen. Das System zentraler finanzieller Plankennziffern ist auf die Vorgabe weniger zur Sicherung gesamtvolkswirtschaftlicher Strukturen erforderlicher Kennziffern zu beschränken. Dabei ist davon auszugehen, daß perspektivisch der Hauptteil der Einnahmen des Staatshaushaltes aus der Wirtschaft über Steuern realisiert wird, die gesetzlich zu regeln sind. Zugleich werden sich unter den Bedingungen einer sozialistischen Marktwirtschaft die Ausgaben des Staatshaushaltes für die Wirtschaft auf wenige ausgewählte Gebiete beschränken. Das sind im Wesentlichen Ausgaben zur Finanzierung der Staatspläne Wissenschaft und Technik und Investitionen, des Umweltschutzes, des Exports und sozialpolitisch notwendige Preisstützungen für Waren und Dienstleistungen des Bevölkerungsbedarfs. Die Staatsbank ist in ihrer Funktion als Zentralbank künftig nicht mehr der Regierung, sondern der Volkskammer unterstellt. Ihr Hauptaugenmerk muß einer bewußt gesteuerten Geldemission mit antiinflationärem Charakter gelten. Die Geschäftsbeziehungen der Banken zur Wirtschaft sind ausschließlich nach ökonomischen Gesichtspunkten zu gestalten. Zu überwinden ist die bisherige Zwangskreditierung der Wirtschaft. Stärker auszuprägen ist ein differenzierter Einsatz banktypischer Steuerungsinstrumente wie Zins, Kreditlaufzeiten u. a. Das Funktionieren des gesamten Finanzsystems hängt in entscheidendem Maße von der Anwendung ökonomisch begründeter Preise, ab. Die Analyse des gegenwärtigen Zustandes macht die Notwendigkeit deutlich, eine Preisreform durchzuführen, um die in den letzten Jahren eingetretenen Deformationen in den Industrie-, Agrar- und Verbraucherpreisen zu überwinden. Das verlangt, ein Preissystem zu entwickeln, das in stärkerem Maße aufwandssenkend wirkt, sich an den internationalen Preisrelationen orientiert und eine Preisbildung ausgehend vom betriebsindividuellen Aufwand ausschließt. Zugleich muß das uneffektive Subventionssystem für Industrie-, Agrar- und Verbraucherpreise überwunden werden, ohne die soziale Wirkung des Preises zu negieren. 2. Wie muß die Geld- und Finanzwirtschaft der Kombinate und Betriebe in der Wirtschaftsreform gestaltet werden? In der gesamten Wirtschaft ist auf der Grundlage von Marktmechanismen die volle Entfaltung der Ware-Geld-Beziehungen zu sichern. Geld und Finanzen müssen als Maßstab für den wirtschaftlichen Erfolg oder Mißerfolg voll wirksam werden. Eine zentrale Bedeutung kommt dem Gewinn als Ausdruck einer effektiven und bedarfsgerechten Produktion zu. Es ist eine Geld- und Finanzwirtschaft der
140 Kombinate und Betriebe zu entwickeln, die das Entscheidungsfeld der Wirtschaftseinheiten zur Finanzierung der einfachen und erweiterten Reproduktion und der ökonomischen Stimulierung auf der Basis des erwirtschafteten Gewinns wesentlich erweitert und eine breite Grundlage für die demokratische Mitbestimmung der Werktätigen in den Betrieben schafft. Bereits 1990 muß damit begonnen werden, übermäßige administrative Einschränkungen in der Beweglichkeit bei der Bildung und Verschwendung finanzieller Fonds der Kombinate und Betriebe zu beseitigen. Dabei wird davon ausgegangen, daß sich die Gewinnerwirtschaftung auf den gesamten inneren Reproduktionsprozeß einschließlich der Außenhandelstätigkeit bezieht. Das bedeutet, daß künftig Aufwand und Erlös der Außenhandelsbetriebe in Mark bzw. Valuta in das Ergebnis des Kombinates einzubeziehen sind. Darüber hinaus sollten die Erwirtschaftung hoher Valutaeinnahmen und ihr effektiver Einsatz stimuliert werden, indem den Betrieben und Kombinaten das Recht eingeräumt wird, über einen Teil der durch hohe Leistungen im Export erzielten Valutaerlöse zu verfügen. So sollten Betriebe künftig einen Valutafonds erhalten, über den sie im Rahmen ihrer Wirtschaftstätigkeit eigenverantwortlich entscheiden können. Die von den Kombinaten und Betrieben erwirtschafteten Gewinne sind künftig nach folgenden Grundsätzen zu verwenden:
Abführungen an den zentralen und örtlichen Haushalt zur Finanzierung gesamtgesellschaftlicher bzw. territorialer Aufgaben nach festen Steuersätzen bzw. Normativen, Finanzierung der Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen und Bildung der Fonds der materiellen Interessiertheit bei Einhaltung von gesetzlich geregelten Begrenzungen. eigenverantwortlicher Einsatz für die erweiterte Reproduktion und die Bildung von Reserven.
Auch für leistungsfähige Klein- und Mittelbetriebe, die zur Befriedigung des Bedarfs der Bevölkerung und des Exports beitragen oder wichtige Zulieferungen sichern, sollten leistungsstimulierende Bedingungen geschaffen werden, die einen Anreiz für die Erhöhung der Produktivität und die Erweiterung der Produktion gewährleisten. Das muß auch Möglichkeiten der Erwirtschaftung und Verwendung von Valutamitteln einschließen. Die flexible Reaktion der Kombinate und Betriebe auf neue Entwicklungstendenzen und -prozesse, die Überwindung von volkswirtschaftlichen Disproportionen, die Stärkung des Eigentümerbewußtseins der Werktätigen und die Teilnahme an der internationalen Arbeitsteilung machen es erforderlich, neue Formen des Einsatzes finanzieller Mittel zu schaffen, die vorwiegend der produktiven Akkumulation dienen. Solche Formen können sein:
Beteiligung von Finalproduzenten am Ausbau von Zulieferbetrieben im Rahmen der Zulieferkette,
141
Beteiligung der Werktätigen an der Aufstockung von Grund- und Umlaufmitteln durch Erwerb von Obligationen, Kauf von Anteilpapieren, evtl. auch Aktien, die eine Verzinsung bzw. Gewinnbeteiligung vorsehen, Zulassung von Unternehmen mit ausländischer Beteiligung auf dem Territorium der DDR sowie im Ausland, Gründung von Pachtverhältnissen auf vertraglicher Basis mit Kollektiven von Werktätigen innerhalb bestehender Betriebe bzw. bei der Gründung von Klein- und Mittelbetrieben, Durchführung von Leasing-Geschäften (zeitweise Vermietung bzw. Anmietung von Maschinen und Ausrüstungen).
3. Wie muß das Steuerrecht im Sinne einer Steuerreform verändert werden, um das Interesse der privaten und genossenschaftlichen Betriebe an steigenden Produktions-, Reparatur-, Dienst- und Versorgungsleistungen zu stimulieren? Auch für Handwerk, Handel und Gewerbe muß der Grundsatz gelten: Gutes Geld für gute Arbeit. Dazu ist das geltende Steuerrecht zu überarbeiten, und einheitliche, übersichtliche Regelungen sind zu schaffen. Erste Schritte der Veränderung wurden in einem Beschluß des Ministerrates vom 4. November 1989 festgelegt. Sie bestehen darin, durch Gewährung von Freibeträgen die Steuerprogression für Handwerks- und Gewerbebetriebe zu mindern und damit ihre Leistungsbereitschaft zu fördern. Auch die Steuervergünstigungen für die mithelfenden Ehepartner der Handwerker und Gewerbetreibenden wurden erhöht. Ziel einer umfassenden Steuerreform muß die schrittweise Schaffung eines einheitlichen Einkommensteuergesetzes für alle Arbeiter und Angestellten, Handwerker, Gewerbetreibenden und freiberuflich tätigen Bürger sein, um dem Grundsatz nach Steuergerechtigkeit und Steuergleichheit voll zu entsprechen. Als ein erster Schritt sollte ein einheitlicher Einkommensteuertarif für Handwerker und Gewerbetreibende ausgearbeitet werden, der eine leistungsfördernde Progression mit einem angemessenen Höchststeuersatz beinhaltet. Bei den Produktionsgenossenschaften des Handwerks sollten die relativ engen Grenzen für die Bildung der Vergütungs-, Konsumtions- und Reservefonds verändert werden. Dabei ist zu gewährleisten, daß bei gleichen Leistungen von vergleichbaren Nettolöhnen in der volkseigenen Wirtschaft ausgegangen wird. 4. Wie können die Finanzen zu einer bürgernahen Kommunalpolitik der örtlichen Volksvertretungen und Räte beitragen? Die Rolle und Stellung der örtlichen Haushalte in einer bürgernahen Kommunalpolitik sind wesentlich zu erhöhen. Erstens geht es um einen hohen Grad der Selbstverwaltung der Städte und Gemeinden auf der Grundlage kommunalen Eigentums. So werden die Städte und Gemeinden im Rahmen der Volkswirtschafts- und Haushaltspläne 1990 Gesamtfonds erhalten, über die sie in eigener Verantwortung verfügen können. Das betrifft Arbeitskräfte und Lohnfonds für die Wohnungs- und örtliche Versorgungswirtschaft, für die Volksbildung, kommunale
142 Berufsbildung, für das Gesundheits- und Sozialwesen, die Kultur, Jugendfragen und Sport. Den Städten und Gemeinden sind auch die Finanzbeziehungen zu solchen Betrieben, Genossenschaften und Einrichtungen zuzuordnen, die sich organisch in die territorialen Reproduktionsbedingungen einfügen. Das sind insbesondere Betriebe der Stadtwirtschaft, der Dienstleistungen für die Bevölkerung, der Wohnungswirtschaft sowie Kapazitäten für Baureparaturen und Straßeninstandsetzung. Zweitens sollte die eigene Einnahmebasis der örtlichen Haushalte gestärkt werden. Das betrifft die bereits ab 1990 vorgesehene Einordnung der Haushaltsbeziehungen der bezirksgeleiteten Industrie und der Wirtschaftsräte der Bezirke aus dem zentralen Haushalt in die Haushalte der Räte der Bezirke und die Einordnung der Haushaltsbeziehungen des örtlich geleiteten volkseigenen und konsumgenossenschaftlichen Einzelhandels aus den Haushalten der Räte der Bezirke in die Haushalte der Räte der Kreise. Drittens schließen die Stärkung der eigenen Einnahmebasis der örtlichen Haushalte und die Erhöhung ihrer Verantwortung für die Haushaltswirtschaft Zuschüsse aus dem zentralen Haushalt nicht aus. Sie werden in Form eines verbindlichen Anteils an den Gesamteinnahmen des Haushaltes gewährt. Viertens wird die Stärkung der Eigenverantwortung der dazu führen, volkswirtschaftliche Reserven zur Erhöhung kommunaler Leistungen für die Bürger zu erschließen. Solche Möglichkeiten würden sich z. B. mit dem vollen bzw. teilweisen Übergang von Haushaltsorganisationen auf Formen der Eigenerwirtschaftung ergeben. Das betrifft Einrichtungen der Kultur und des Sports sowie die Erhebung von Gebühren und Entgelten für attraktive und ansprechende kommunale Leistungen. 5. Wie ist die Finanzpolitik unter den Bedingungen einer zunehmenden internationalen Arbeitsteilung zu gestalten? Die Erhöhung der Leistungs- und Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft der DDR unter weltoffenen Bedingungen erfordert die Ausarbeitung von Valuta- und finanzpolitischen Konzeptionen zur Mitwirkung an der Gestaltung internationaler Handels-, Währungs- und Finanzmechanismen, die die ökonomische und wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit fördern und auf der Basis des gegenseitigen Vorteils allen Beteiligten einen ökonomischen Nutzen bringen. Das gilt sowohl für die Zusammenarbeit im RGW als auch mit entwickelten kapitalistischen Industrieländern. Zugleich sind die Möglichkeiten einer verstärkten Mitwirkung in internationalen Währungs-, Finanz- und Wirtschaftsorganisationen zu prüfen, was die Klärung der Bedingungen und Konsequenzen eines möglichen Beitritts zu diesen internationalen Organisationen einschließt. In diesem Zusammenhang sind auch die. währungs- und finanzpolitischen Erfordernisse der arbeitsteiligen Beziehungen mit der BRD unter Berücksichtigung der Sicherung der Souveränität und der wirtschaftlichen Selbständigkeit der DDR in juristische Formen zu
143 kleiden. Das betrifft insbesondere Investitionsbeteiligungen, Leasing-Geschäfte, Joint Ventures und andere Formen der Wirtschaftskooperation. Zugleich sind die Konditionen für flexiblere Geld- und Kreditgeschäfte (Swing, kommerzielle Kredite u. a.) zu prüfen. Im Zusammenhang mit den vielfaltigen Bestrebungen zur Ausarbeitung eines Konzepts für die Wirtschaftsreform (vgl. auch Diskussionsvorschlag der Staatlichen Plankommission, ND vom 6. Dezember 1989) halten wir es für notwendig, die Vorschläge mit Wirtschaftspraktikern, Wissenschaftlern und allen interessierten gesellschaftlichen Kräften breit zu diskutieren.
144 1.3. Walter Siegert und Horst Kaminsky: Vorschlag für die Verhandlungsposition zum Problem Währungsunion (10. Februar 1990) 68 Vorschlag für die Verhandlungskonzeption 1. Es ist dem Bundeskanzler zu erklären, daß die DDR-Regierung alle in Dresden am 19. Dezember 1989 zugesagten Maßnahmen erfüllt hat. Das betrifft insbesondere - die großzügige Öffnung von Grenzübergangsstellen - den freizügigen visafreien Reiseverkehr - die Änderung der Verfassung der DDR als Grundlage für die Bildung von Unternehmen mit ausländischer Beteiligung und privaten Betrieben - die Erklärung der Gewerbefreiheit in der DDR sowie die Durchführung einer Steuerreform im Februar 1990. Von der BRD-Seite sind bisher lediglich der Beitrag zum Reisedevisenfonds und die Zusage von ERP-Krediten für Existenzgründungen und für die Modernisierung kleiner und mittelständischer privater Betriebe erfüllt worden. 2. Durch die einseitige, nicht abgestimmte Erklärung der Bundesregierung zur sofortigen Einführung der DM als Währung in der DDR ist eine weitere erhebliche Zuspitzung der politischen Lage und der Destabilisierung der Wirtschaft der DDR eingetreten. Aufgrund dieser Situation ist gegenüber dem Bundeskanzler die Forderung nach einem sofortigen Solidarbeitrag der BRD in Höhe von mindestens 15 Milliarden DM zur freien Verfügung der DDR zu stellen, der für die Stabilisierung der Wirtschaft, die Verbesserung der Versorgung der Bevölkerung und zur Sicherung der Zahlungsbilanz notwendig ist. Die Bereitstellung dieser Mittel muß noch vor den Wahlen am 18. März erfolgen. (...) 1. Zum Angebot der Bundesregierung zu unverzüglichen Verhandlungen mit der Regierung der DDR über eine Währungsunion Der ... Beschluß der Bundesregierung, über eine Währungsunion sofort zu verhandeln, hat eine völlig neue politische und ökonomische Situation geschaffen. Obwohl die Vorstellungen der Bundesregierung hierüber erst zu den bevorstehenden Verhandlungen unterbreitet und erläutert werden sollen, ist aus den Äußerungen führender BRD-Politiker (u. a. Finanzminister Waigel, Wirtschaftsminister Haussmann, Regierungssprecher Klein) folgendes erkennbar:
schnelle Einführung der DM … mit dem Ziel, die Mobilisierung westlichen Kapitals erheblich zu beschleunigen, partieller Souveränitätsverzicht der DDR im Geld- und Währungsbereich und Unterstellung der DDR-Finanzwirtschaft unter die Bundesbank,
Reaktionen auf das Bonner Angebot der D-Mark: Siegert und Kaminsky in ihrer Darstellung, wie das Angebot bewertet wurde und wie man darauf reagieren wollte. Textentnahme aus Grosser, Geschichte der deutschen Einheit, Ebd., S. 199–202.
68
145
durchgreifende Wirtschaftsreformen, die auf der Übernahme der Wirtschaftsordnung der BRD und bestimmter Rechtssysteme der BRD beruhen.
In ersten Kommentaren wurde zwar betont, daß der Stufenplan mit entsprechendem Zeithorizont die bessere Lösung sei, daß dafür aber die notwendige Zeit, Geduld und staatliche Autorität in der DDR nicht mehr vorhanden seien. Dieses Konzept bedeutet nach unserer Auffassung, … daß unabhängig von dem politischen Prozeß einer Vertragsgemeinschaft und Konföderation auf dem Gebiet der Wirtschaft und der Währung bereits vollendete Tatsachen der Eingliederung der DDR in die Bundesrepublik geschaffen werden (…) Das hat insbesondere einschneidende Auswirkungen auf die eigenständige Gestaltung des Währungs-, Preis-, Steuer-, Finanz-, Kredit- und Versicherungsrechts und damit Verzicht auf die Möglichkeit der Sicherung sozialer Rechte der Bevölkerung. (...) 2. Auswirkungen und Konsequenzen einer sofortigen oder sehr kurzfristigen Einführung der DM in der DDR Die Vorschläge der BRD ... sind offensichtlich darauf gerichtet, - eine politische Initiative der Koalitionsregierung der BRD im Hinblick auf die Wahlen in der BRD und der DDR spürbar zu machen, - eine Signalwirkung für das Verbleiben der Bürger in der DDR, verbunden mit einem raschen Zugang zur DM, zu erzielen, ohne die Konditionen dazu zu nennen (...) In der politischen Diskussion in der DDR werden die Chancen und Risiken aus einer Wirtschafts- und Währungsunion die zentrale Rolle spielen. Die Chancen für die DDR könnten darin bestehen - eine schnelle Mobilisierung von Auslandskapital für die Modernisierung von Betrieben, die Gründung neuer Betriebe, die wirksame Einführung von know how zur Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit und die Schaffung neuer Arbeitsplätze zu erreichen, was sich auf eine spürbare Veränderung der Arbeitsbedingungen und der Leistungsmotivation auswirken kann, - den Erwartungshaltungen der Bevölkerung hinsichtlich des Zugangs zur DM und damit einer spürbaren Verbesserung eines attraktiven Warenangebotes zu entsprechen, - günstige Bedingungen für die Zahlungsbilanz zu schaffen. Die …. sofortige Einführung der DM kann im Hinblick auf soziale Risiken einer DM-Umstellung für sich allein keine Sicherheit für das Abstoppen der Übersiedlung von DDRBürgern schaffen. Die sofortige Einführung der DM ist angesichts des beträchtlichen Produktivitätsgefälles unserer Wirtschaft mit erheblichen politischen und sozialen Auswirkungen verbunden, deren konkrete Ausmaße gegenwärtig noch nicht voll kalkulierbar sind. Im Vordergrund stehen dabei folgende Risiken:
146 - Die Anwendung der Wirtschaftsordnung ... mit einer schnellen Wirksamkeit der BRDPreise würde aufgrund des Produktivitätsabstandes dazu führen, daß ein großer Teil unserer Betriebe nicht wettbewerbsfähig und ihre Existenz gefährdet wäre. Ein notwendiger Strukturwandel ist nicht sofort realisierbar. Mit einem erheblichen Ansteigen der Arbeitslosigkeit und den damit verbundenen politischen und sozialen Spannungen muß gerechnet werden (…) Ein großer Teil der Bevölkerung ... wird hinsichtlich der Sicherheit und Kaufkraft weiter verunsichert. Panikreaktionen (erhöhte Abhebungen, Flucht in die Sachwerte) sind nicht auszuschließen. (…) Im Hinblick auf die soziale Sicherung und ihre finanzielle Deckung bestehen zunehmende Besorgnisse über die Aufrechterhaltung des gegenwärtigen sozialen Standards der DDR (...) Unterschiedliche Erwartungen werden an die Umstellung der Löhne gestellt. Der Produktivitätsabstand gestattet nicht eine schnelle Anpassung an das Lohnniveau der BRD. Andererseits werden Anpassungen an die BRD Preise, einschließlich der Wohnungsmieten, erwartet, was eine Schmälerung der Realeinkommen zur Folge hätte (...) Davon ausgehend sollte die DDR folgende Position vertreten: Die politischen Schritte zur staatlichen Einheit schließen die Währungseinheit ein, so daß die Einführung der DM grundsätzlich zugestimmt werden sollte. Das Grundproblem besteht dabei darin, unter welchen Bedingungen und in welchem Tempo das erfolgt. Die aufgezeigten Risiken machen deutlich, daß dabei ein zügiges, aber schrittweises Vorgehen im beiderseitigen politischen und ökonomischen Interesse liegt, aber vor allem unter sozialen Gesichtspunkten notwendig ist (…) Eine zweistufige Entwicklung der Währungsunion, die 1990 beginnen könnte und auf die schnelle Einführung der DDR gerichtet ist, würde den Realitäten … entsprechen. Sie würde die ökonomischen und sozialen Probleme, die mit einer sofortigen Einführung der DM verbunden sind, abfedern und für beide Seiten besser beherrschbar machen. 3. Konzept der DDR für eine Währungsunion Angesichts der politischen und ökonomischen Lage ist ein von beiden Regierungen getragenes Programm der nationalen Verantwortung notwendig, das Zukunftschancen und soziale Sicherheit für alle Bürger vermittelt (…) Aus unserer Sicht müßten dazu folgende Komplexe durchgearbeitet werden: a) Notwendig wären als erster Schritt einer Währungsunion für die Bevölkerung und Wirtschaft der DDR spürbare Sofortmaßnahmen, die der weiteren Abwanderung von Bürgern der DDR begegnen (…) Das betrifft insbesondere folgende Maßnahmen: - Sofortiger Solidarbeitrag von mindesten 15 Mrd. zur freien Verfügung der DDR. - Schneller Zufluß von Kapital aus der BRD (…)
147 - Volle Entfaltung gleichberechtigter Unternehmertätigkeit aller Eigentumsformen entsprechend dem Konzept der Wirtschaftsreform (...) - Durchführung der Preisreform mit der Abschaffung von Subventionen für die Bevölkerung bei personengebundenem Einkommensausgleich, Schaffung von Bedingungen für eine langfristige Geldanlage durch zinsdifferenzierte Sparformen, Einführung eines Wertpapiersparens einschließlich der Ausgabe von Anteilspapieren an die Belegschaften der Unternehmen und der Zugang zu Sachwerten durch Eigentumswohnungen und Eigenheime. b) Auf der Grundlage der Sofortmaßnahmen ist als zweiter Schritt einen Währungsverbund zwischen DM und der Mark der DDR auf der Grundlage eines festzulegenden Kurses mit einer Teilkonvertierbarkeit der Mark der DDR zu vereinbaren. Ein solcher Schritt zur Währungsunion könnte - schon im 2. Halbjahr 1990 wirksam werden, - eine Phase der Anpassung an das Wirtschafts- und Rechtssystem der BRD ermöglichen und ökonomische und soziale Risiken er sofortigen Einführung der DM begrenzen, - gleichzeitig die Voraussetzungen für die volle Einführung der DM als schnell zu erreichendes Ziel der Währungsunion schaffen. Damit würde die Währungsunion in Schritten verwirklicht, ohne der politischen Entwicklung vorauszueilen (...)
149 1.4. Die DDR – ihr Wachsen und Werden sowie ihre Sorgen 1 Die DDR war ein Resultat des Zweiten Weltkrieges. Es begann damit, dass die Anti-Hitler-Koalition auseinandergebrochen war und die Sieger nunmehr wieder ihre antagonistischen Interessen verfolgten. John Lewis Gaddis beschreibt das in seinem Buch „Der Kalte Krieg“ wie folgt: „Der Krieg war von einem Bündnis gewonnen worden, dessen Hauptpartner sich – ideologisch und geopolitisch, wenn auch nicht militärisch – bereits miteinander im Krieg befanden. Bei allen Triumphen, welche die Allianz im Frühjahr 1945 feierte, hatten die Erfolge doch stets darauf beruht, dass unvereinbare Systeme vereinbare Ziele verfolgten. Die Tragödie bestand darin, dass der Sieg die Sieger vor die Wahl stellte, entweder aufzuhören, sie selbst zu sein, oder einen großen Teil dessen Abb. 7: Porträt von W. Siegert 2010 aufzugeben, was sie durch die Kriegsteilnahme zu erreichen gehofft hatten.“ 2 Das „vereinbarte Ziel“, Nazideutschland zu vernichten, war erreicht. Die in Teheran und Jalta sowie schließlich in Potsdam festgelegten „Politischen Grundsätze“ der Entmilitarisierung und Entnazifizierung Deutschlands waren jedoch nun nicht mehr vorrangig. Roosevelt hatte im März 1945 im USA Kongress gemahnt, „dass die Einhaltung der Vereinbarungen von Teheran und Jalta für die friedliche internationale Zusammenarbeit unerlässlich sein wird“. Sein Nachfolger Truman – erklärter Feind der Sowjetunion – hatte ganz andere Pläne. Er – wie auch Churchill – hatte sogar insgeheim gehofft, dass die Armeen von Hitler und Stalin „gegenseitig ausbluten“.
Verantwortlich für den Inhalt ist Walter Siegert. Oliver Dürkop redigierte den Text und koordinierte, in Absprache mit dem Autoren Siegert, die Fußnoten. Die Aktualisierungen des ursprünglichen Entwurfs aus dem Jahr 2016 wurden 2018/2019 durchgeführt. Siegerts Engagement hierfür äußerte er im Gespräch: „Gründlich den Erstentwurf zu überarbeiten und zu ergänzen. Mein Bestreben war, das Ganze mit mehr Fakten auszustatten, um damit die Zusammenhänge deutlicher zu machen.“ Die Approbation durch ihn zur Veröffentlichung erfolgte am 11.10.2019. Im Frühjahr 2018 übermittelte Siegert bereits eine verkürzte Textversion an Egon Krenz. Krenz benötigte Zeitzeugeninformationen von Siegert für eine geplante Veröffentlichung in der Volksrepublik China. Eine Veröffentlichung/Verwendung dieses Textes durch Krenz ist unserer Kenntnis nach bis dato nicht erfolgt. Deshalb gilt diese vorliegende Textfassung als Erstveröffentlichung in dieser Publikation. 2 John Lewis Gaddis, Der Kalte Krieg, Eine neue Geschichte, München 2007, S. 18. 1
150 Als Nazideutschland dann besiegt war und Truman dem Potsdamer Abkommen zustimmte, hieß das nicht, dass die USA ihre strategischen Pläne aufgeben. Das gemeinsame Handlungskonzept blieb der Kampf gegen den Kommunismus. Truman schickte Churchill im März 1946 mit seiner Rede in Fulton/Missouri vor, um der Sowjetunion nun einen „Kalten Krieg“ zu erklären. Unter diesen Umständen war die von der UdSSR und auch von Stalin persönlich favorisierte und in den Abkommen von Jalta und Potsdam festgeschriebene Entwicklung eines neuen Deutschlands – friedlich, befreit von Nazigeist und Militarismus, nicht mehr im Interesse der USA und Großbritanniens. Sie setzten in ihren Besatzungszonen auf die Unterstützung der alten konservativen Kräfte. Ihr bester Partner war Konrad Adenauer, ein profilierter Vertreter konservativ-klerikaler Politik, einst Protagonist der „Rheinischen Republik“, bekennender Antikommunist und Gegner der Sowjetunion. Mit ihm und weiteren ähnlich gearteten Politikern, wie Ludwig Erhard, den Liberalen sowie Sozialdemokraten, entstand in den drei westlichen Besatzungszonen – gelenkt und unterstützt von den Besatzungsmächten – ein separates politisches System, das viele belastete Nazis und Militärs in Verwaltungen, Polizei, Geheimdiensten und Militär engagierte. Vereinfacht gesagt: Die BRD hat das sog. Dritte Reich beerbt, wo es nur darum ging, administrativpersonell, konservativ-antikommunistisch und mit der alten Herrschaftsstruktur in Wirtschaft, Junkertum und Geldadel weiterzumachen. Der SS-General Heinz Reinefahrt, bekannt als „Henker von Warschau“, wurde Bürgermeister von Sylt. Auf diese Weise war es gelungen, 1946/1948 durch alle verfügbaren administrativen und wirtschaftlichen Druckmittel die drei Westzonen von der sowjetisch besetzten Zone abzugrenzen und die innerdeutschen Wirtschaftsbeziehungen faktisch lahmzulegen. Die Krönung dieser Entwicklung war die Geburt der D-Mark in der separaten Währungsreform im Juni 1948 in den drei westlichen Besatzungszonen und Westberlin. Von da bis zum Gründen der Bundesrepublik Deutschland im Mai 1949 war es nur noch ein kleiner Schritt. In der sowjetischen Besatzungszone hatten unbelastete Persönlichkeiten – Kommunisten, Sozialdemokraten und auch Bürgerliche – im Mai 1945 eine Neuorientierung gewagt – antifaschistisch, antimilitaristisch, friedlich sollte Deutschland sein. Ein schwieriger Weg. Die Mehrheit der Leute fühlte sich nicht befreit, sondern besiegt. Die Nazipropaganda spukte noch in den Köpfen. Im Schutz und mit Hilfe der Militäradministration wurden in der sowjetischen Besatzungszone neue Verwaltungsorgane geschaffen. Durch Volksentscheid wurden 1946 die Betriebe der Kriegs- und Naziverbrecher – wie es auch das Potsdamer Abkommen vorsah – enteignet. Ebenso fand 1946 nach Volksentscheid eine Bodenreform statt. Güter über 100 Hektar, meist im Besitz des Adels oder von Industriellen, waren betroffen. Tausende Landarbeiter – darunter 220 000 aus den OstGebieten kommende Flüchtlinge – bekamen dadurch Land und damit eine neue Existenz. In der sowjetischen Besatzungszone sind 1945 neue Parteien und gesellschaftliche Organisationen entstanden. Die Kommunistische Partei Deutschlands und die Sozialdemokratische Partei Deutschlands wurden neu gegründet. Die Mehrheit der Mitglieder dieser
151 beiden Arbeiterparteien vereinigte sich 1946 zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), eine historische Konsequenz, der nicht alle folgten. Die führenden Köpfe waren Wilhelm Pieck, Otto Grotewohl und Walter Ulbricht. Leben und Überleben nach der „Stunde Null“ war unsagbar schwer. Der Osten Deutschlands wurde 1944/45 direkt zum Kriegsgebiet. Die Industriezentren waren weitgehend zerstört. In Städten Dresden, Chemnitz, Halle, Magdeburg, Potsdam und Schwerin gab es großflächig Ruinen und Trümmer. In den Jahren 1945/46 war der Neuanfang, die Überwindung von Hunger und Not, die dringendste Aufgabe. Dazu gehörte eine humanistische Erneuerung. In den Verwaltungen, Schulen und Hochschulen usw. sollten neue loyale Kräfte tätig werden. Auch in der Wirtschaft wurde neues Leitungspersonal gebraucht. Arbeiter wurden Lehrer, Bürgermeister oder auch Betriebsdirektoren. Die sowjetische Militäradministration (SMAD) unterstützte das mit Rat und Hilfe. Durch die Unterbrechung der innerdeutschen Kooperation entstanden wirtschaftliche Disproportionen. In Sachsen und Sachsen-Anhalt gab es einen gut entwickelten Maschinenbau, Textilindustrie und große Chemiebetriebe. Es fehlte aber die metallurgische Basis, die im Ruhrgebiet lag. Ähnlich war es bei den Energieträgern. An Steinkohle hatten wir nur wenige Vorkommen in Sachsen. Die energetisch wenig ergiebige Braunkohle war die einzige Rohstoffbasis. Da die Militärregierungen der Westzonen den interzonalen Warenaustausch immer mehr eingeschränkt haben, führte das zu Mangelsituationen aller Art. Erst allmählich entwickelte sich eine Kooperation mit der UdSSR, Polen und der ČSSR. Schwerwiegend waren für die Sowjetische Besatzungszone die Demontagen von etwa 3000 Industriebetrieben (ein Drittel der Industriekapazität) und 11 800 km Eisenbahngleise für Reparationen an die UdSSR. Hinzu kamen Lieferungen von Maschinen und Ausrüstungen aus der laufenden Produktion. Im Jahre 1946 begann der Uranabbau in Sachsen. Bis 1990 wurden 250 000 Tonnen Uran an die UdSSR geliefert. Anfangs als Teil der Reparationen, danach als Export, mit hohen Subventionen unsererseits. Insgesamt hat die SBZ/DDR Reparationen an die UdSSR in Höhe von zwischen 50 bis 100 Milliarden Mark geleistet. 3 Für die UdSSR war das eine unerlässliche Hilfe zum Wiederaufbau. In den Westzonen Deutschlands haben die Militärregierungen Reparationsleistungen an die UdSSR verweigert. Die USA hatten im Krieg durch ihre Rüstungslieferungen einen enormen wirtschaftlichen Literaturempfehlungen zu den unterschiedlichen Schätzungen sowie Bezugsgrößen: u. a. Siegfried Wenzel, Was war die DDR wert? 7. Auflage, Berlin 2006, S. 43 f.; Klaus Behling, Leben in der DDR. Bild und Heimat, Berlin 2018, S. 18; Lothar Baar, Rainer Karlsch, Werner Matschke, Studien zur Wirtschaftsgeschichte. Berlin 1993, S. 100; Klaus Neitmann, Jochen Laufer (Hrsg.), Demontagen in der Sowjetischen Besatzungszone und in Berlin 1945 bis 1948. Sachthematisches Archivinventar. Bearbeitet von Klaus Jochen Arnold, Berlin 2014; Karl Mai, Zeitschrift Marxistische Erneuerung (Z.), Juni 2012, Nr. 90, Ökonomische Verluste und Belastungen Ostdeutschlands bis zur Vereinigung (1945–1989), Kurzanalyse, Frankfurt am Main. Siehe http://www.zeitschrift-marxistischeerneuerung.de/article/350.oekonomische-verluste-und-belastungen-ostdeutschlands-bis-zur-vereinigung-1945-1989.html (letzter Zugriff 12.12.2020). 3
152 Aufschwung erlebt. Auch nach dem Krieg haben sie mit dem Wiederaufbau in Westeuropa gute Geschäfte gemacht. So waren sie in der Lage, ihre politische Europa-Offensive auch mit Wohltätigkeitsgeschenken zu unterstützen. Im Rahmen des Marshallplanes bekam Westdeutschland ca. 1,4 Milliarden US-Dollar Hilfe. 4 Bis es zur Gründung der DDR am 7. Oktober 1949 kam, hatten die neuen politischen Kräfte und Verwaltungen in der SBZ – unterstützt von der sowjetischen Militärverwaltung – schon neue gesellschaftliche Strukturen geschaffen. Neu war vor allem, dass die seit 1946 volkseigenen Betriebe (VEB) nun von Männern und Frauen geleitet wurden, die dem Allgemeinwohl verpflichtet waren: Volkseigentum als Quelle langsam wachsender Möglichkeiten des persönlichen und gesellschaftlichen Aufstiegs. Auf dem Lande war die Hilfe für die Neubauern und Siedler beim Hausbau, Saatgut usw. ein Schwerpunkt. Im Jahr 1948 wurden Maschinen-Ausleihstationen (MAS) gegründet, wo sich die Landwirte Technik aller Art ausleihen konnten. Eine enorme Arbeit war in den Schulen und Hochschulen geleistet worden. Tausende Neulehrer, Frauen und Männer aus allen Berufen, hatten in den Schulen und Berufsschulen die Ausbildung im antifaschistisch-demokratischen Sinne erneuert. Um den Arbeiter- und Bauernkindern den Zugang zur Hochschulbildung zu ermöglichen, wurden Arbeiter- und Bauern-Fakultäten geschaffen. Dort wurden Tausende junge Leute auf die Universität vorbereitet und absolvierten anschließend die verschiedensten akademischen Studien. Auf diese Weise wurde im Osten in den Nachkriegsjahren die Grundlage für einen breiten Zugang junger Leute zur gehobenen Bildung gelegt, unabhängig von Herkunft und Geldbeutel. So entstand eine neue volksverbundene Intelligenz. Nicht zuletzt wurden die Theater, Museen, die Lichtspielhäuser und andere kulturelle Einrichtungen wieder geöffnet bzw. wiederhergestellt. Künstler und Schriftsteller, wie Berthold Brecht und Helene Weigel, Anna Seghers, Ludwig Renn, Arnold Zweig, Willi Bredel, Erich Weinert, Friedrich Wolff usw. kehrten aus dem Exil zurück und entschieden sich für Ostdeutschland. Der Osten Deutschlands hatte seit den Volksentscheiden 1946, dem Entstehen volkseigener Betriebe sowie einer Bodenreform, eine andere politische Entwicklung genommen. Es galten nicht mehr die politischen Werte und Ziele des kapitalistischen Wirtschaftens. Bei den Menschen Ostdeutschlands war das, je nach ihrer gesellschaftlichen Situation, ihrer persönlichen Teilhabe an den neuen Aufgaben und Verhältnissen, mehr oder weniger angekommen. Nicht wenige Leute kehrten aber jeden Tag dieser Entwicklung den Rücken und gingen über die immer noch durchlässige Grenze in den Westen. Das waren nicht nur alte Nazis oder Kapitalisten oder Leute, die sich politisch nicht mehr heimisch fühlten, sondern auch einfach solche, die im Westen die besseren Zukunftschancen sahen. Nach dem Krieg hatten die Menschen vielerorts in Deutschland hart für eine neue Existenz, für einen neuen Anfang arbeiten müssen. Aber es zeigte sich zunehmend, dass der Alle 16 europäischen Länder bekamen ca. 13 Milliarden US-Dollar Lebensmittel, Rohstoffe und Industriegüter. Die Lieferungen erfolgten von Herbst 1948 bis 1952. Osteuropa blieb außen vor.
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153 Westen die besseren wirtschaftlichen Möglichkeiten dazu bot. Schlagartig wurde dieser Unterschied deutlich, als mit der separaten Währungsreform in den Westzonen und in Westberlin am 20. Juni 1948 die Deutsche Mark geboren wurde und mit gefüllten Schaufenstern und Läden ein Konsumrausch um sich griff. An dieser Stelle stellt sich natürlich die Frage, warum die DDR diesen anderen Weg ging und auch 1948/49 – als sich die Alternative hart und deutlich zeigte, dabei blieb. War das Folge des sowjetischen Einflusses oder gab es ein deutsches Interesse an einem alternativen nichtkapitalistischen Weg? Die gängige Antwort in heutigen Geschichtsbüchern lautet, dass unser Weg nach dem „sowjetischen Modell“ dem Ziel Stalinscher Politik entsprochen habe. Das wirkliche Kalkül Stalins war anders. Er wollte ein einheitliches demokratisches Deutschland – das mit der Sowjetunion wie bis 1941 zusammenarbeitet und eine sichere Westgrenze garantiert! Dass es so war, ist mit den diplomatischen Aktivitäten der Nachkriegszeit – nicht zuletzt der Deutschlandnote der UdSSR von 1952 – belegt. Umgekehrt hatten die USA und die politischen Kräfte im Westen gar kein Interesse daran, sich mit der „Soffjetzone“, wie Adenauer abschätzig sagte, und ihren „kommunistischen Intentionen“ weiter zu befassen. „Lieber das halbe Deutschland ganz als das ganze Deutschland halb“, so lautete sein griffiger Spruch. Und das war nicht nur eine Rückbesinnung auf seine Idee von der „Rheinischen Republik“, für die er schon 1919 geworben hatte, sondern auch für seine amerikanischen Freunde die bessere, ihre geopolitisch gerecht werdende Lösung. Es gab somit für Ostdeutschland nach der separaten Währungsreform 1948 und der Gründung der Bundesrepublik im Mai 1949 keinen anderen Weg, als eine eigene staatliche Struktur zu schaffen, und so wurde am 7. Oktober 1949 die Deutsche Demokratische Republik gegründet. Die UdSSR – im Besonderen auch Stalin – hat diesem Schritt zugestimmt. Denn im Westen waren mit Gründung der BRD vollendete Tatsachen geschaffen worden. Die Hoffnung auf ein antifaschistisches, demokratisches, neutrales Deutschland – wie in Potsdam vereinbart – war nun vorbei. J. W. Stalin begrüßte in einem Telegramm an die Bürger der DDR die Gründung „eines friedliebenden demokratischen Staates auf deutschem Boden als einen Wendepunkt in der deutschen Geschichte.“ Das war in der Tat das Entscheidende! Denn schon damals war für die Sowjetunion abzusehen, dass die Bundesrepublik sehr wahrscheinlich in eine neue Militärkoalition gegen die UdSSR eingebunden wird. Und bald wurde diese Befürchtung zur Realität. Die Gründung der DDR wurde damals in erster Linie von uns jungen Leuten, die den Nazistaat und die schrecklichen Kriegsjahre erlebt und überlebt hatten, begrüßt. Es gab eine unvergessliche Demonstration der Freien Deutschen Jugend in Berlin. Die Begeisterung und der Jubel, mit denen wir damals die Gründung der DDR feierten, entsprachen unseren Gefühlen und Hoffnungen. Und trotz des folgenden schwierigen Weges bleibt, dass sich jede Anstrengung gelohnt hat. Diese Wahrheit wird durch die folgenden 40 Jahre und alle unverwechselbaren wirtschaftlichen, sozialen und humanitären Errungen-
154 schaften der DDR belegt. Auch heute, über 27 Jahre nach dem Ende der DDR, gibt es – bei aller kritischen Wertung ihrer Geschichte – keinen Grund, ihre Geburt anders zu bewerten als damals. Die Mediziner sagen: „Jedem Menschen wird seine Todesursache schon in die Wiege gelegt.“ Das trifft auch auf unsere DDR zu. Es waren drei Dinge, die uns in all den 40 Jahren mehr oder weniger belastet und auch geschadet haben: 1.
Wir hatten durch den Schutz und die Hilfe der „Sowjetischen Militäradministration“ die historische Chance, die gesellschaftlichen Verhältnisse grundlegend zu ändern. Nach und nach waren Beziehungen der Zusammenarbeit und Freundschaft zur UdSSR und der KPdSU entstanden. Dieses „Bündnis“ war allzeit von den politischstrategischen Interessen Moskaus geprägt und hatte manche Schwierigkeiten auszuhalten. Die Brüche in der Führung der UdSSR, die Stagnation in den 1970er Jahren, die folgende politische und wirtschaftliche Instabilität sowie schließlich die Jahre der Perestroika haben uns nicht gutgetan. 1989 endete der „Bruderbund“ durch Gorbatschows „Deal“ mit den USA.
2.
Unsere führende Kraft, die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands, hatte den Aufbau des Sozialismus in unserem Teil Deutschlands gewagt, für den es weder bei Marx und Engels noch sonst ein Konzept oder irgendeine Anleitung gab. Es war also ein Weg des „Machens und Lernens“. Das schloss von vornherein Irrtümer nicht aus. Die sowjetischen Ratgeber konnten sich nur auf die eigenen Erfahrungen stützen, die aber auf völlig anderen historischen und sozialen Gegebenheiten beruhten. Naturgemäß kam damit auch der subjektive Faktor, das heißt, die unterschiedlichen Vorstellungen, Intentionen und Charaktere der führenden Genossen unserer Partei, umso mehr ins Spiel. Subjektive Besserwisserei und konzeptionelle Machtkämpfe waren immer möglich, gleichwie: Der Weg aus dem Chaos des Weltkrieges brauchte kluge Köpfe, integre Persönlichkeiten mit Autorität, Visionen und Gestaltungskraft, die unsere Partei und unsere Gesellschaft in Neuland zu führen in der Lage waren. Das Ergebnis der 40 Jahre DDR zeigt, dass eine alternative Gesellschaft möglich ist.
3.
Wir hatten es mit einem politischen Gegner zu tun, der die besseren wirtschaftlichen Startbedingungen hatte und mit einem enormen weltweit vernetzten Wirtschaftspotential in der Lage war, ein attraktives Konsumangebot aufzubauen und die modernen Medien und alle anderen Mittel für den Versuch einsetzen konnte, um immer mehr Bürger der DDR politisch zu vereinnahmen.
Der Weg der DDR in all den 40 Jahren ihres Bestehens war ein Weg des Aufstiegs, politisch, wirtschaftlich und in der Ausprägung einer sozialen und solidarischen Gesellschaft. Die DDR hatte schwierige Entwicklungsphasen, aber sie hatte keine Wirtschaftskrisen wie die Bundesrepublik, mit Millionen Arbeitslosen, Brüchen des Erwerbslebens und sozialen
155 Notlagen. In der DDR entstand im Laufe der Jahre eine neue Unternehmenskultur in den volkseigenen Betrieben, mit einem kooperativen Verhältnis von Betriebsleitung und Mitarbeitern. Die Unterschiede zwischen Arm und Reich in den Bildungsmöglichkeiten, der sozialen und ärztlichen Betreuung, dem Zugang zu kulturellem Genuss, wie sie die Bundesrepublik bis heute kennzeichnen, waren in der DDR überwunden. Die Gleichberechtigung von Mann und Frau in Bezug auf ihre Rechte in der Familie, Bildung und Beruf waren in der Verfassung und Gesetzen garantiert und auch praktisch auf gutem Weg. Das politische System der DDR mit der SED als führende Kraft und den Blockparteien – CDU, LDPD und NDPD – war ein Versuch, in den schwierigen politischen Entwicklungen der Nachkriegszeit unterschiedliche politische Kräfte in einem gemeinsamen Kurs zur Gestaltung neuer gesellschaftlicher Verhältnisse zu vereinen. Das hat besser funktioniert, als es im Nachhinein beschrieben wird. In der DDR gab es viele direkte Möglichkeiten der Mitsprache und Mitwirkung der Bürger in den Betrieben und auch in den Städten und Gemeinden. Die Wahlen zu den Volksvertretungen hatten eine Einheitsliste von Persönlichkeiten zum Gegenstand, die aufgrund ihrer Lebensleistung und ihrer Kompetenz sowie Vertrauenswürdigkeit zur Wahl gestellt wurden. Mitglied einer Volksvertretung zu sein, war in der DDR eine Ehre. Jeder Abgeordnete hatte Möglichkeiten, auf die Entwicklung seiner Stadt oder Gemeinde Einfluss zu nehmen. Die Beschlussvorlagen sowie Pläne und Projekte, die von Fachleuten in den Verwaltungen ausgearbeitet wurden, entsprachen dem ganz normalen Prozess jeder staatlichen Leitung. Das Mandat eines Abgeordneten war primär eine Verpflichtung, eine Möglichkeit, für die Interessen der Bürger tätig zu sein. Es war kein Posten mit üppigen Diäten. Alle Abgeordneten gingen ihrer Arbeit nach. Der dominierende Einfluss unserer Partei auf die parlamentarische Arbeit ist unstrittig. Er war gerechtfertigt dort, wo er konstruktiv war, er war schädlich dort, wo es um Besserwisserei und Bevormundung ging. Aber gleichwie: Im Mittelpunkt stand stets das Gemeinwohl – kein gewinnorientiertes Gruppeninteresse! Das alles unterschied sich ganz wesentlich vom Zustand der BRD. Wo Parteien, also Interessenverbände, die Kandidaten zur Wahl stellen und wo gewinnorientierte Interessen, gesteuert von einer mächtigen Lobby, die Richtung der Gesetzgebung bestimmen. Es steht deshalb wenig dafür, das parlamentarische System der BRD als das Bessere, „dem Volke dienende“, zu preisen. Der Weg der DDR in wesentlichen Etappen: Nachdem in den ersten Nachkriegsjahren der Wiederaufbau von Betrieben Vorrang hatte, war in den 1950er Jahren die schrittweise Entwicklung einer veränderten Industriestruktur Gegenstand der Planung und des weiteren Aufbaus. Schon damals hatte die DDR in eine eigene Grundstoffindustrie, in neue Braunkohletagebaue, Kraftwerke, Werften und Ostseehäfen viel Kraft investiert. An der Oder entstand das Eisenhüttenkombinat Ost. In der Lausitz begann der Aufbau des Kombinates „Schwarze Pumpe“. Aus Braunkohle wurde in einem in der Welt einmaligen Verfahren Hochofenkoks produziert. Die Bauindustrie leistete sowohl im Industrie- als auch im Wohnungsbau eine enorme Aufbauarbeit. Auch unser Maschinenbau nahm wieder
156 Tempo auf. Ich habe selbst als Ökonom in der Vereinigung des volkseigenen Textilmaschinenbaus in Chemnitz und später im Ministerium für Maschinenbau erlebt, wie die Leistung der „Betriebe in Volkes Hand“ stetig wuchs. Es gelang auch, die Wirtschaftlichkeit der Betriebe zu verbessern. 1950 wurde die DDR-Mitglied des Rates für sozialistische Wirtschaftshilfe (RGW), dem die UdSSR und alle nach dem Krieg entstandenen osteuropäischen Volksdemokratien angehörten. So war für uns ein riesiger Wirtschaftsraum entstanden, der uns enorme Exportchancen bot. Das hat unsere metallverarbeitende Industrie, den Anlagen- und Schwermaschinenbau, den Schiffbau, den Waggonbau strukturell geprägt und uns im Gegenzug Rohstoffquellen eröffnet. Im März 1952 fasste die Parteiführung den Beschluss über die „Wirtschaftliche Rechnungsführung der volkseigenen Betriebe“, der sich an solider Buchführung und Kostenrechnung orientierte. Betriebsleiter, das kaufmännische Personal der noch jungen volkseigenen Betriebe wurden mit diesen Instrumentarien vertraut gemacht. Ein war ein wichtiger Schritt, um die Ökonomie dieser Betriebe voran zu bringen. In dieser Zeit des schweren Anfangs hatte die Führung die „Kühnheit“, schon im Juli auf der 2. Parteikonferenz der SED zu beschließen, dass in der DDR „planmäßig“ der Sozialismus aufgebaut werden sollte. Uns junge Leute spornte das seinerzeit an. Aber es gab auch viele Zweifel, ob die Zeit für dieses hehre Vorhaben schon reif war. Hinzu kam: Im März hatte Stalin den Westmächten „Grundlagen für einen Friedensvertrag mit Deutschland“ vorgeschlagen. Das war ernst gemeint und sollte die militärische Aufrüstung Europas durch die NATO – unter Einbeziehung Westdeutschlands – aufhalten. Es gab also divergente Strategien für die Zukunft: die von Moskau bevorzugte „Ein-Deutschland-Lösung“ (Stalin wollte „kein sozialistisches Experiment“) und der im Osten angestrebte sozialistische Weg. Die Führung unserer Partei marschierte unter der Regie von Walter Ulbricht unbeirrt weiter. Sie beschloss auf der 10. Tagung des ZK im Dezember Sparmaßnahmen, auch Preiserhöhungen und Ausgabenkürzungen, um die Entwicklung der Schwerindustrie zu forcieren und die neue kasernierte Volkspolizei auszurüsten. Das ging zu Lasten von sozialen Leistungen für die Bevölkerung. Die Parteiführung setzte 1952 auch schon die Bildung von Genossenschaften auf dem Lande in Gang. Das kam für die Bauern – sie hatten ihre Wirtschaft nach der Neugründung gerade in Schwung gebracht – viel zu früh. Also wurde administrativ „nachgeholfen“. Keine gute Idee und Aufwind für reaktionäre Kräfte. Aus alledem entstand im Frühjahr 1953 eine gefährliche krisenhafte Lage. In Betrieben Berlins, in Halle, Magdeburg sowie vielen anderen Orten kam es am 17. Juni zu Protesten, Demonstrationen und Streiks, die von gewaltbereiten Kräften genutzt und von Westmedien und Geheimdiensten kräftig unterstützt wurden. Aus begründeten friedlichen Protesten gegen Norm- und Preiserhöhungen wurden gewalttätige Aktionen. In Berlin und anderen Ortes griff die sowjetische Armee ein. Diese Krise mit Folgen wäre vermeidbar gewesen. Es war ein ehrgeiziges „Tempomachen“ in Obrigkeitsmanier. Eine politische Fehlleistung mit viel Vertrauensverlust! Ulbricht, die Parteispitze und ihre Politik wurden in Moskau gerügt. In der Parteiführung hatte Walter Ulbricht nur noch Hermann Matern und Erich Honecker als Unterstützer.
157 Im Juli 1953 beschloss die Parteiführung einen „neuen Kurs“ mit Verbesserungen für die Bürger und dem Ziel, die Lage zu stabilisieren. Walter Ulbricht überstand diese Krise. Er hatte sich bei dem neuen Mann in Moskau, N. S. Chruschtschow, Absolution eingeholt und entledigte sich seiner Widersacher im Politbüro – Wilhelm Zaisser, Minister für Staatssicherheit sowie Rudolf Herrnstadt, Chefredakteur des Neuen Deutschland (ND). Sie waren die Wortführer bei der Kritik an seinem diktatorischen Führungsstil. Die Parteiführung verlor zwei hervorragende, verdiente und unersetzbare Persönlichkeiten. Diese Ereignisse, ihre Ursachen und die Art der Lösung, haben auf Dauer in unserer Partei Spuren hinterlassen. Die Führung war nun ängstlich bei Entscheidungen, gar Reformen. Statt mehr innerparteiliche Demokratie eher Sorge um „die Abweichler“ und Scheu vor Selbstkritik und „Fehlerdiskussionen“. Dem politischen Gegner – der nennt es „Volksaufstand am 17. Juni“ – hatten wir viel Stoff geliefert, um uns zu beschimpfen, massiv Unglaube und Misstrauen zu verbreiten und die Republikflucht anzuheizen. Mit Erfolg! Überlebt haben wir das alles, weil wohl doch schon viele Leute gute persönliche Erfahrungen mit dieser 1945 geborenen „Alternative“ gemacht hatten. Nach diesem Trauma verlief die Entwicklung der DDR in den Folgejahren relativ stabil. Die UdSSR stoppte 1954 die Reparationslieferungen und gab 33 große SAG Betriebe (Sowjetische Aktiengesellschaften, ehemalige Rüstungsbetriebe) an die DDR zurück. Trotz aller Fortschritte gab es jedoch weiterhin viele Engpässe. Die Differenz in den Lebensverhältnissen zur Bundesrepublik vergrößerte sich. Die BRD hatte volle Läden. Dort entwickelte sich ein „Wirtschaftswunder“! In der DDR gab es noch immer Lebensmittelkarten und ein bescheidenes Angebot. Die Folge war ein ständig wachsender Strom von Bürgern, die die DDR – meist über West-Berlin – verließen. In der Regel waren es gut ausgebildete Fachleute. Sie fanden in der boomenden Wirtschaft der BRD meist gute, berufliche Anstellungsmöglichkeiten. Das strahlte über persönliche Beziehungen und natürlich die Medien zurück auf die Verwandtschaft und Freunde in der DDR. Es gab anderen Mut, das Gleiche zu tun. Die Flucht in den Westen wurde für uns zu einer existentiellen Last. Von 1949 bis 1961 haben ca. 2,7 Millionen Ostdeutsche die DDR verlassen. 5 Für die BRDKonjunktur eine Hilfe an gut ausgebildetem Personal. Für uns ein großer Verlust, eine ständig wachsende Verunsicherung, eine Quelle des Misstrauens der Bürger in die Politik und die Zukunft. Nützlich war die durchlässige Grenze auch für jegliche westliche Geheimdienste und ihre Aktivitäten in der DDR. Nicht zuletzt ermöglichte diese Situation Von 1961 bis 1988 verließen ca. 625 000 Personen die DDR. Oftmals legal mit einem bewilligten Ausreiseantrag. In der Zeit von 1948 bis 1989 sank die Einwohnerzahl der DDR von 19,1 Millionen auf 16,4 Millionen Einwohner. Hauptsächlich durch Abwanderung und nur teilweise durch Geburtenrückgang Anfang der 70er Jahre. Historiker Hans-Ulrich Wehler schätzt, dass in der Bundesrepublik die Zuwanderung von qualifizierten DDR-Bürgern Ausgaben für Bildung und Ausbildung in Höhe von bis zu 30 Milliarden DM eingespart worden sind. In: Hans-Ulrich Wehler, Bundesrepublik Deutschland und DDR 1949–1990, Band 1–5, München 2008, S. 45.
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158 auch Gesetzesverletzern aller Art, sich hier der Bestrafung durch ihre Flucht in die BRD zu entziehen, wo sie nicht belangt, sondern belohnt wurden. Da war der Rechtsstaat BRD nicht kleinlich. Das Jahr 1956 brachte eine Zäsur in Grundüberzeugungen unserer Partei infolge des XX. Parteitages der KPdSU. Dort hatte Nikita Chruschtschow in seiner Rede über Stalins Verbrechen und den sogenannten Stalinismus berichtet und dessen Rolle in der Geschichte generell tilgen wollen. Walter Ulbricht vermittelte seine Sicht auf diese „Abrechnung mit Stalin“, was in einem Artikel im Neuen Deutschland im März 1956 erschien. Er brachte zum Ausdruck, dass es bei uns keine „Entstalinisierung“ geben müsse, weil wir keine Stalinisten hätten. Das war schlicht unwahr und provozierte in der Partei Protest. Wir hatten die „Hymnen“ auf Stalin und seine historische Rolle bei der Industrialisierung und im Vaterländischen Krieg verstanden, das konnte doch nicht auf diese Weise getilgt werden. Die Auslassungen Ulbrichts provozierten auch bei uns an der Hochschule Empörung! Es gab den Vorschlag, eine Resolution zu verfassen. Jedoch einer unserer Professoren meinte: „Aber Genossen, lasst uns diszipliniert reagieren.“ Man wusste, was gemeint war. Eine offene und/oder sachliche Klärung fiel aus. Stalin – seine historische Leistung und seine Schriften – wurden in der Folgezeit aus der Literatur sowie aus der Öffentlichkeit verbannt, ohne weiter zu klären, was in Theorie und Praxis durch und mit Stalin falsch war und welche Lehren daraus zu ziehen waren. Unsere Partei schwenkte nun voll auf den neuen Führer der KPdSU, Nikita Chruschtschow, um. Nun wurden dessen andere politische und wirtschaftliche Leitlinien auch für unsere Partei – mehr oder weniger – zum Vorbild. Aus dem Bestreben Chruschtschows, auch in der kommunistischen Weltbewegung eine Führungsrolle einzunehmen, die dementsprechend neue Zeichen setzte, kam es dann zu den Zerwürfnissen mit Mao Tse Tung. Für uns junge Genossen, die wir der Volksrepublik China seit dem Sieg der Volksbefreiungsarmee 1949 herzlich verbunden waren, ein Bruch, der viele Fragen offen ließ. Die Konflikte schwelten weiter. Karl Schirdewan und Ernst Wollweber versuchten, Korrekturen in der Parteiführung in die Debatte zu bringen. Auch Fritz Selbmann, Fred Oelßner, Paul Gerhart Ziller, Anton Ackermann u. a. meldeten sich zu Wort! Allesamt bewährte Führungskader unserer Partei, deren Rat aber nicht gefragt war. Am 14. Dezember 1957 erschoss sich Paul Gerhart Ziller, der Wirtschaftssekretär des ZK der SED. Dem ging voraus, dass er sich auf einer Beratung der „Wismut AG“ kritisch über Ulbricht geäußert hatte. Ein Spitzel hatte das weitergetragen. Als Ziller das erfuhr, zog er selbst diese schlimme Konsequenz, um sich und der Partei die öffentliche Debatte zu ersparen. Ich habe 1951/52 mit Ziller, dem damaligen Minister für Maschinenbau, persönliche Begegnungen gehabt. Ziller war ein Kommunist, mutiger Kämpfer seit seiner Jugend und lange im KZ inhaftiert. Ein Genosse, der oft mit uns Jungen diskutiert hatte und für uns ein Vorbild war. Für mich war sein Tod ein traumatisches Erlebnis: Wenn ein Kommunist mit dieser Vita kapituliert, was ist dann von den Praktiken dieser Parteiführung
159 zu halten? Nachfolger von Ziller wurde 1958 Günter Mittag, ein junger Mann aus dem Apparat des ZK mit rigorosen Karriereambitionen. Mitte der 50er Jahre hatten Prof. Fritz Behrens 6 und Arne Benary 7 neue Ideen zur Wirtschaftsleitung entwickelt. Behrens, Wirtschaftswissenschaftler und Stellvertreter des Vorsitzenden der Staatlichen Plankommission, hatte mit Benary ein Buch geschrieben: „Zur ökonomischen Theorie und ökonomischen Politik in der Übergangsperiode zum Sozialismus“. Dort waren bereits Überlegungen enthalten, die Jahre später im „Neuen Ökonomischen System“ (NÖS) praktisch genutzt wurden. Noch bevor dieses wichtige Buch diskutiert oder veröffentlicht wurde, fand es auf der 30. Tagung des ZK der SED 1957 die Missbilligung Ulbrichts und anderer in der Führung. Fritz Behrens verlor seine Funktion als stellvertretender Vorsitzender der Staatlichen Plankommission und Leiter der Zentralverwaltung für Statistik der DDR. Auf der 35. ZK Tagung 1958 wurde die fraktionelle Tätigkeit von Karl Schirdewan, Mitglied des Politbüros (PB) seit 1953 und der zweite Mann hinter Ulbricht, verurteilt. Schirdewan hatte ihm seit der Krise 1953 geholfen, die Führung wieder zu stabilisieren, genauso wie auch Ernst Wollweber, Mitglied des ZK und seit 1953 Minister für Staatssicherheit. Beide wurden aus der Parteiführung ausgeschlossen. Karl Schirdewan, seit seiner Jugend Parteifunktionär, in der Nazizeit inhaftiert und Aktivist der ersten Stunde, wurde nun Leiter der Archivverwaltung in Potsdam. Ernst Wollweber, im Jahr 1918 einer der Führer des Kieler Matrosenaufstandes, ausgebildet und gekämpft in der Roten Armee, verdienstvoller Funktionär der KPD musste gehen. Es folgte ihm Erich Mielke als neuer Minister für Staatssicherheit, ein Mann aus der alten Garde der KPD, mit einer problematischen Lebensgeschichte. Er hat sein Ressort nach und nach „zum Staat im Staate“ gemacht, geduldet von der Partei – zum Schaden unserer Gesellschaft. Auch der verdienstvolle Fritz Selbmann, Mitglied des ZK und Minister für Schwerindustrie, Wegbereiter unseres Eisenhüttenkombinates Ost und verdienter Pionier des Aufbaus, wurde aus der Führung ausgeschlossen. In der Folgezeit war er als Schriftsteller erfolgreich, aber der Partei und der Wirtschaft ging seine Führungskraft verloren. Genauso erging es Fred Oelßner, Wirtschaftswissenschaftler, bewährter Funktionär seit seiner Jugend. Er hatte am 17. Juni 1953 in Halle die Kräfte der Volkspolizei, der Partei und der Betriebe koordiniert, um den massiven Massenprotesten entgegenzutreten. Der Anlass, Oelßner aus der Führung auszuschließen, war eine Broschüre mit Vorschlägen für eine effektivere Leitung der volkseigenen Betriebe. Die Zeit war reif für Neues. Die Planung und Leitung der Wirtschaft brauchte neue Ideen und mehr Eigenverantwortung in Friedrich Franz Willi „Fritz“ Behrens (1909–1980) war u. a. ab 1947 Direktor des Instituts für Wirtschaftswissenschaften und Statistik. Ab 1954 war er Mitbegründer des Instituts für Wirtschaftswissenschaften der Deutschen Akademie der Wissenschaften. In der Zeit von 1955 bis 1957 war er Leiter der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik sowie stellvertretender Vorsitzender der Staatlichen Plankommission und Mitglied des Ministerrates der DDR. 7 Arne Benary (1929–1971) verfasste u. a. das Buch zusammen mit Fritz Behrens „Zur ökonomischen Theorie und ökonomischen Politik in der Übergangsperiode“. Er begann Suizid. 6
160 den Betrieben. Aber noch dominierte die Scheu vor Neuem in der Führung. Derweil schwelten die Folgen der faktisch offenen Grenze zur Bundesrepublik weiter. Es flossen mit den „Übersiedlern“ aus der DDR in die BRD Millionen Mark der DDR zum Westen. Der Schwarzhandel mit unserer Mark in Westberlin blühte, weil Ostdeutsche in Westberlin einkauften und Westdeutsche – auch die alliierten Truppen – die niedrigen gestützten Preise für ihre Einkäufe im Osten nutzten. Am 13. Oktober 1957 führte die DDR-Regierung einen Geldumtausch – das heißt, die Ausgabe neuer Banknoten – durch. Eine kluge Aktion! Mit einem Schlag waren alle Mark der DDR „im Westen“ wertlos. Ich selbst erlebte in einer „Geldumtauschkasse“ in Berlin Karlshorst die Zustimmung der Leute zu diesem Schlag gegen die Spekulanten im Westen. Es war für sie ein Zeichen, dass wir uns zu wehren wussten, und ein Gewinn an Vertrauen in unsere Kraft. Am 28. Mai 1958 wurden in der DDR die Lebensmittelkarten abgeschafft. Zugleich wurde das doppelte Preisniveau – höherer Preis in der HO und niedriger Preis für die rationierten Produkte – beseitigt. Ein Stück Butter kostete nun generell 4,90 Mark, vorher rationiert 3 Mark. Die höheren Lebensmittelpreise wurden durch Lohnzuschläge ausgeglichen. Etwa die Hälfte des Einkommens wurde nun für Lebensmittel ausgegeben. Andererseits gab es hohe Stützungen für Mieten und Energiepreise, die wiederum den Familienhaushalt entlasteten. Die DDR hatte eine gute Grundversorgung erreicht, die Leute hatten Arbeit und eine Wohnung. In der Vielfalt des Angebotes bei Genussmitteln, Technik, Reisen war die BRD beachtlich voraus. Wir bekamen das auch zu spüren. Das „Vergleichsmodell“ war und blieb ein Thema und verband sich mit der Frage nach der Zukunft der DDR. Es blieb unser Ziel zu beweisen, dass zum Programm des friedlichen und sozialen ostdeutschen Staates auch die Erreichung eines Wohlstandes annähernd oder gleich dem der BRD gehört. Ein wichtiger Schritt auf diesem Weg war die im November 1958 in Leuna von der Partei durchgeführte Chemiekonferenz der DDR. Sie beschloss das Chemieprogramm „Chemie gibt Brot, Wohlstand und Schönheit“, womit die Ziele des damit beginnenden weiteren Ausbaus der chemischen Industrie der DDR gesetzt waren. In Schwedt an der Oder entstand das Erdölverarbeitungswerk. Die Chemiefaserproduktion, die Plasteerzeugung, die Kosmetikindustrie, die Arzneimittelherstellung wurden ausgebaut. Die Chemieindustrie sollte neben dem Maschinenbau die stärkste Stütze unserer Wirtschaft für den inneren Bedarf und auch für den Export in den RGW-Raum werden. Das ist uns auch gelungen. Bereits im Dokument 8 über den ersten Fünfjahrplan der DDR (1951–1955) hieß es in der Einleitung: „Dieser Plan gibt die Entwicklung für ganz Deutschland vor. Er zeigt allen friedliebenden Menschen in der ganzen Welt das Gesicht eines neuen, wahrhaft friedlichen und demokratischen Deutschlands.“ Diese Voraussage war damals kühn, agitatorisch, aber ernst gemeint! Im Sinne von Karl Marx war uns schon bewusst, dass unsere Gesellschaft vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet ihre Kraft und 8
Beschluss des III. Parteitages der SED 1950.
161 letztlich ihre Überlegenheit beweisen musste. Was eben hieß: in Bezug auf Wirtschaftsleistung und Lebensniveau gegenüber der BRD aufzuholen. Ein Meilenstein war der Beginn der Produktion des modernen Kleinwagens TRABANT ab 1956 in Zwickau. Bei seiner Premiere war er eine technische Meisterleistung, das erste deutsche Auto aus einheimischer Plaste mit selbsttragender Stahlkarosse, mit Frontantrieb, sparsamem Benzinverbrauch, robust und wirtschaftlich. Dieses Ereignis erregte auch internationales Aufsehen und Achtung in Bezug auf diese Pionierleistung. Von hohem Rang war auch die in den 1950er Jahren in der DDR entwickelte MALIMONähwirktechnik. Sie revolutionierte die herkömmliche Herstellung von textilen Flächen auf geniale Weise. Es war ein enormer Fortschritt in Produktivität und Gebrauchseigenschaften der daraus hergestellten Produkte. Bald war diese Technik ein Exportschlager unseres Textilmaschinenbaus. Im September 1959 wurde von der Volkskammer der DDR im Siebenjahres-Plan (1959– 1965) als „ökonomische Hauptaufgabe“ festgeschrieben: „Die Volkswirtschaft der DDR ist innerhalb weniger Jahre so zu entwickeln, dass die Überlegenheit der sozialistischen Gesellschaftsordnung gegenüber der Herrschaft der imperialistischen Kräfte im Bonner Staat eindeutig bewiesen wird und infolgedessen den Pro-Kopf-Verbrauch der Gesamtbevölkerung in Westdeutschland erreicht und übertrifft.“ In seiner Rede zur Begründung der „ökonomischen Hauptaufgabe“ äußerte sich Walter Ulbricht sogar noch optimistischer: „Wir schlagen vor, durch gemeinsame Anstrengungen in den nächsten drei Jahren die ‘ökonomische Hauptaufgabe‘ bis 1961 zu lösen. Die DDR wird bis 1961 Westdeutschland im Verbrauch der wichtigsten Konsumtionsmittel pro Kopf der Bevölkerung einholen und übertreffen sowie im Verlauf des Siebenjahres-Planes eine höhere Arbeitsproduktivität als in Westdeutschland erreichen.“ Dieses Ziel war ein mehr als kühnes Versprechen. Es sollte eine hoffnungsvolle Orientierung für die Bürger der DDR sein, im Vertrauen darauf im Land zu bleiben. Wir konnten uns zwar auf kontinuierliche Fortschritte im Wirtschaftswachstum und der Arbeitsproduktivität der inzwischen fast 90 % ausmachenden volkseigenen Industrie der DDR stützen. Auch unsere Rohstoffbasis war besser geworden. Bereits 1957 hatte sich der neue sowjetische Staatschef Nikita Chruschtschow verpflichtet, der DDR-Wirtschaft alle benötigten Rohstoffe für ein beschleunigtes Wirtschaftswachstum zu liefern. Jedoch war der aufzuholende Rückstand zu groß. Im Jahr 1958 betrug die Wirtschaftsleistung der DDR pro Kopf nur etwa 50 % des westdeutschen Wertes. Also ein nicht reales Ziel. Die Zahl der Abwanderer aus der DDR in die BRD blieb weiterhin sehr hoch. Im Jahr 1958 waren es 216 000 Personen, im Jahr 1959 waren es 144 000 Personen und im Jahr 1960 waren es 203 000 Personen. Ein Verlust, vor allem an Facharbeitern, Ingenieuren, Ärzten aller Fachrichtungen sowie anderen Akademikern. Die Erfüllung des im Siebenjahres-Plan versprochenen Aufholtempos in der Wirtschaft der DDR ließ sich nicht verwirklichen. Die Beschaffung produktiverer und moderner Technik war nur im Rahmen der bescheidenen Deviseneinnahmen möglich. Die osteuropä-
162 ischen Freunde konnten uns meist auch nichts Modernes anbieten. Viele Betriebe halfen sich selbst, durch eigene Neuentwicklungen und Rationalisierung. Aber das brauchte seine Zeit, es war kostspielig und hatte seine Grenzen. Hinzu kam, dass die Bundesregierung im September 1960 kurzfristig das Handelsabkommen für das Jahr 1961 kündigte und durch Lieferstopp eine Menge Störungen in vielen Bereichen der Wirtschaft auslöste. Die Regierung kämpfte dagegen mit Programmen zur „Störfreimachung“ von Westimporten an. Aber weder im Lande noch mit den Partnern im RGW waren diese Probleme wirklich rasch und wenn überhaupt lösbar. Auf Importe aus kapitalistischen Ländern, soweit sie nicht von den Embargomaßnahmen des Westens betroffen waren, konnten wir nur sehr beschränkt zugreifen, denn die Devisenbasis war und blieb schmal und Auslandskredite wollte und konnte die DDR nur in Ausnahmen nutzen. Die Siebenjahrplanziele waren demzufolge nach Einschätzung des Vorsitzenden der Staatlichen Plankommission der DDR, Bruno Leuschner, nicht mehr erreichbar. Es ging vorwärts, aber eben nur im Rahmen des wirklich Möglichen. Die Pläne „sollten“ künftig dem entsprechen. Im Jahr 1961 war schließlich die Konfliktsituation an der Grenze zur BRD und vor allem an den Sektorengrenzen zu Westberlin soweit eskaliert, dass es nicht mehr nur um unkontrollierten Waren- und Geldverkehr, geheimdienstliche Aktionen und Fluchten, sondern um die Gefahr einer militärischen Eskalation – zwischen NATO und Warschauer Pakt – ging. Es musste gehandelt werden und die Entscheidung von Chruschtschow, dem Oberkommandierenden des Warschauer Paktes, hieß: Schließung der Grenze zu Westberlin und ein militärisches Grenzregime an der Grenze DDR/BRD. Der 13. August 1961 veränderte unsere Situation grundlegend militärisch, politisch sowie wirtschaftlich. Wir hatten eine gesicherte Staatsgrenze zur BRD! Das war aber keine „innerdeutsche Grenze“, sondern ein Stück der militärisch ausgebauten Trennlinie und Sicherheitszone zwischen NATO und Warschauer Pakt. Dieser Mauerbau am 13. August 1961 war die Ultima Ratio, um Sicherheit und Ordnung in der Mitte Deutschlands und Europas wiederherzustellen. Jegliche andere Interpretation – wie der bloße Bezug auf den Stopp des Flüchtlingsstroms oder das Ganze als ein „Werk Ulbrichts“ – greifen zu kurz. Die Mehrheit der Bevölkerung der DDR begrüßte diese längst fällige Entscheidung. Der wirtschaftliche Aderlass durch Untaten aller möglichen Banditen zu Lasten der DDR hatte ein Ende. Der problemlose Zugang jeglicher Geheimdienste war vorbei. Ebenso die Abwerbung von guten Facharbeitern und Fachleuten aller Art aus der DDR. Die „überraschten Politiker“ der BRD und Westberlins reagierten mit unsäglichem Hass. Der Westberliner Regierende Bürgermeister Willy Brandt rief an der Bernauer Straße, wo ich unsere Grenzsoldaten unterstützte, zum Widerstand auf und ermunterte die johlende Menge, den Mauerbau zu verhindern. Die Opfer solcher provokanten Aktionen nahm man im Westen damals und erst recht später in Kauf. Die Eskalation fand im
163 Oktober 1961 ihren Höhepunkt, als in der Berliner Friedrichstraße am „Checkpoint Charlie“ 9 amerikanische Panzer Richtung Osten rollten und nur wenige Meter vor den sowjetischen Panzern stoppten. Valentin Falin sagte dazu: „Nur noch Sekunden und wenige Meter trennten uns von einem neuen Krieg.“ Kennedy persönlich hat damals eingegriffen und Chruschtschow versprochen, dass er seinem Berlin-Beauftragten Lucius D. Clay befohlen habe, die von ihm inszenierte Attacke auf die Mauer zu beenden. Die Schließung der Grenze zur BRD war ein Erfolg. Aber die Atempause währte nur kurze Zeit. Der Reiseverkehr sowie die Familienbesuche waren unterbrochen, das bot im Westen wie in der DDR jeden Tag Material für Unzufriedenheit: Konkret bei denen, die einfach nur Verwandte treffen wollten oder im Westen ihre „Welt“ und „Zukunft“ sahen. Vor allem jungen Leuten war diese Abschottung Richtung Westen ohne jede Chance, diese „andere Welt“ selbst zu erkunden, immer schwerer zu vermitteln. Die „Mauer“ wurde das Dauerthema der Attacken auf die DDR von außen und der Unzufriedenen im Inneren. Die Jahre 1961/62 brachten uns nicht den erhofften wirtschaftlichen Aufschwung. 1962 hatten wir akute Versorgungsprobleme. Unsere Situation blieb weiter schwierig, weil wir fast alles, wie Nahrungsmittel und alle Konsumgüter, Bekleidung, Kühlschränke, Möbel, Fernseher usw. selbst produzieren und die Rohstoffe dazu selbst beschaffen mussten. Die Bruderländer waren selbst knapp dran. Der Westen hatte den Handel mit uns per Embargo auf nahe „Null“ gestellt. In dieser Situation musste unser Staat – bis in jede Gemeinde hinein – mit seinem inzwischen ziemlich gut funktionierenden System in der Wirtschaft wie auch in der sozialen Betreuung und Versorgung täglich sein Pensum leisten. Oftmals aber war es eben sehr eng. Die Mangelwirtschaft blieb spürbar bei Rohstoffen wie Konsumgütern. Wir konnten nicht wie die Bonner Republik aus dem „Vollen“ schöpfen. Diese vernetzte sich mit der ganzen Welt. Die Wirtschaft erlebte ihre „Wirtschaftswunderzeit“. Nur noch etwa 100 000 Arbeitslose und bereits etwa 200 000 „Gastarbeiter“ aus Italien, Griechenland und der Türkei trugen für wenig Lohn zum weiteren Aufschwung der BRD bei. In den 1960er Jahren blieb also für die DDR und ihre politische Führung die Aufgabe omnipräsent alles nur Mögliche zur Leistungssteigerung unserer Wirtschaft zu tun. Das gab auch den Anstoß, nun doch über eine effizientere Wirtschaftsleistung nachzudenken, wie das Fritz Behrens, Arne Benary u. a. schon Jahre zuvor vorgeschlagen hatten. Etwa zeitgleich fanden in der Sowjetunion Reform-Vorschläge von Professor Liberman 10, einem Wirtschaftswissenschaftler, das Interesse der Parteiführung. Die Initiative ging von Erich Apel aus. Er war Mitglied des ZK, erfahrener Maschinenbauer und Vertrauter Walter Ulbrichts. Apel unterbreitete – unterstützt von Mittag – ReformVorschläge. Der VI. Parteitag der SED im Januar 1963 öffnete dazu den Weg der praktischen Umsetzung. Im Juni 1963 wurde auf einer gemeinsamen Konferenz von Partei- und Friedrichstraße 43–45, 10117 Berlin. Jewgeny Grigorjewitsch Liberman (1897–1981). Bekannt wurde der Ökonom für seine theoretische Vorarbeit für die Wirtschaftsreformen in der Sowjetunion. 9
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164 Wirtschaftsfunktionären die „Richtlinie für das Neue Ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft“ (NÖS) vorgestellt. Das Echo in der Wirtschaft war zustimmend. Praktisch passierte jedoch zunächst wenig. In der Führung gab es wohl immer noch Skeptiker. Natürlich war es ein schwieriges Unterfangen, in die Planung und Leitung volkseigener Betriebe nun Spielräume unternehmerischen Handelns einzubringen, ohne dass dies zu ungewollten Freiräumen führte. Es gab kein Vorbild. Die Zweifler fürchteten Machtverlust. Finanzminister Willy Rumpf sagte sinngemäß: Der Haushalt muss auch weiterhin zu seinem Geld kommen. Gewollt war eine größere Eigeninitiative der Betriebe, weniger Planvorgaben, mehr Spielraum in der Verwendung der erwirtschafteten Gewinne für Investitionen und Prämien. Trotz positiver Resonanz in der Wirtschaft blieb die Skepsis bestehen. Es gelang insbesondere nicht, den Konservativen zu vermitteln, dass auch sozialistische Betriebe ihre Planung mit dem Markt verbinden müssen, zumal, wenn man so starke Außenwirtschaftsbeziehungen hatte. Die Sorge um „Abweichungen“ und das mangelnde Wissen und Verständnis in Wirtschaftsfragen bei Funktionären hat die breite Anwendung des „Neuen Ökonomischen Systems“ dauerhaft immer wieder gebremst. Der Machtwechsel in der UdSSR im Jahr 1964, als Chruschtschow von Breschnew abgelöst und dessen Reformversuche als voluntaristisch verurteilt wurden, war dies auch ein Signal an die DDR-Führung. Die Bremser fühlten sich umso mehr im Recht. Walter Ulbricht, der das „NÖS“ gefördert und auch über andere Fragen eines eigenen Weges der DDR nachgedacht hatte, hielt weiter diesen Kurs. Jahre später entstand auf dieser Basis das Lehrbuch „Politische Ökonomie des Sozialismus und ihre Anwendung in der DDR“. 11 Die neue Führung der UdSSR ließ das erste Mal bei den Verhandlungen zum Warenaustausch 1966 bis 1970 – im September 1965 – erkennen, welche veränderten Maßstäbe sie im Umgang mit der DDR setzte. Die UdSSR forderte Lieferungen von der DDR in Art und Umfang, die unsere eigenen Entwicklungsmöglichkeiten für die kommenden Jahre beschränkte. Andererseits war die UdSSR nicht mehr bereit, die Rohstofflieferungen in dem bisherigen Umfang zu leisten. Das wurde mit der „eigenen Wirtschaftslage“ der UdSSR begründet. Nach Einschätzung des Vorsitzenden der Staatlichen Plankommission, Erich Apel, waren damit die wirtschaftlichen Ziele des Perspektivplanes der DDR bis 1970 in Frage gestellt. Es war eine elementare Verletzung der Verträge und des Bündnisses in einer schwierigen Zeit! Trotzdem fand Erich Apel in der Parteiführung keine Unterstützung. Apel erschoss sich am 3.12.1965 in seinem Arbeitszimmer. Wir verloren einen verdienstvollen Wirtschaftsfachmann. Die Rahmenbedingungen für unsere Wirtschaftsentwicklung hatten sich verschlechtert. Der beschlossene Perspektivplan bis zum Jahr 1970 hatte manche „Löcher“. Wenige Tage später, Mitte Dezember 1965, fand das 11. Plenum des ZK der SED statt. Ursprünglich sollte dort vor allem die 2. Etappe des „Neuen Ökonomischen Systems der Das Lehrbuch wurde von führenden Wirtschaftswissenschaftlern der DDR geschrieben. Werner Kalweit, Helmut Koziolek, Herbert Wolf, Horst Steeger u. a., Politische Ökonomie des Sozialismus und ihre Anwendung in der DDR, Dietz Verlag Berlin 1969.
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165 Planung und Leitung“ (NÖSPL) beraten und beschlossen werden. Das Plenum widmete sich aber vor allem Fragen der Kultur. Erich Honecker führte das Wort. Er warf den Künstlern „Nihilismus und Skeptizismus“ vor, der insbesondere der jungen Generation schadet. Exemplarisch stand dafür der Film „Spur der Steine“, 12 in dem der Schriftsteller Erik Neutsch 13 den Arbeitsalltag einer Großbaustelle mit allen Sorgen und Konflikten – auch des Parteisekretärs – lebendig schildert. Das war der Stein des Anstoßes! Christa Wolf 14 sagte in der Diskussion, dass nicht die Literatur an der Unmoral der Jugend schuld sei, „[…], sondern eine Leere in die unsere mangelnde geistige offensive Erziehungskraft Teile der Jugend geführt habe, sodass Hohlräume entstanden sind, in die jetzt selbstverständlich fremde feindliche Ideologien eindringen.“ Auch andere wie Anna Seghers plädierten dafür, dass sich Künstler den realen Widersprüchen stellen sollten. Aber es schien so, als sollte der Auftrag der Bitterfelder Konferenz nun vergessen sein. Im April 1959 hatte Walter Ulbricht auf der „Bitterfelder Konferenz“ 15 gefordert, die „Trennung von Kunst und Leben“ zu beseitigen und die „Entfremdung von Künstler und Volk“ zu überwinden. Das hatte Früchte getragen. Künstler waren in die Betriebe und auf die Baustellen gekommen. Was passierte nun? Es gab Verbote sowie Entlassungen, auch bei unserer Filmgesellschaft DEFA. 16 Das sprach sich schnell herum; es gab viele Proteste. Damit begann eine dauerhafte Krise im Verhältnis der Parteiführung zu den Künstlern, die uns eindeutig politisch sehr geschadet und kulturell ärmer gemacht hat. Wir hatten in der DDR – bis in jedes Dorf – vorbildliche Möglichkeiten geschaffen, Kunst zu erleben und selbst auszuüben. Die DDR war ein „Land des Lesens“! Gute Bücher waren für jeden Bürger bezahlbar. Lebensverbundene und kritische Autoren wie Kant, Hacks, Heym,
Erik Neutsch, Spur der Steine, Halle 1964. Mit einer Auflage von 500 000 Exemplaren eines der meistgelesenen Bücher in der DDR. 13 Erik Neutsch (1931–2013) war Journalist und Schriftsteller sowie Autor zahlreicher Bücher aus dem Arbeitsleben. Er war einer der beliebtesten Autoren in der DDR. 14 Christa Wolf (1929–2011) war in der Zeit von 1949 bis Juni 1989 Mitglied der SED. Seit dem Jahr 1962 arbeitete sie als freie Schriftstellerin. Im Winter 1989 hielt sie eine Reform des Sozialismus unter anderer Führung noch für möglich. Am 26.11.1989 trat sie im Aufruf „Für unser Land“ für die DDR ein. Anstatt von „Wende“ sprach Wolf vielmehr von einer „Epochenwende“. U. a. erhielt Wolf im Jahr 1990 die Ehrendoktorwürde von der Universität Hildesheim verliehen. 15 Autorenkonferenz des Mitteldeutschen Verlages im April 1959 im Bitterfelder Elektrochemischen Kombinat. Die Konferenz wies den Weg zu einer lebensverbundenen neuen sozialistischen Nationalkultur, namhafte Schriftsteller wie Erwin Strittmatter waren die Referenten. Von der Konferenz ging der Appell an die Menschen, selbst zur Feder zu greifen und ihre Geschichten aufzuschreiben: „Greif zur Feder, Kumpel.“ 16 Bereits im Juni 1945 wurde auf Befehl der sowjetischen Militäradministration in den ehemaligen Studios der UFA in Potsdam Babelsberg mit der Produktion von Filmen begonnen und es entstand die Deutsche Filmgesellschaft DEFA. Zunächst waren es Synchronisationen sowjetischer Filme, bald kam die Produktion neuer Filme wie Staudtes Film „Die Mörder sind unter uns“ in Gang. Die DEFA produzierte bis 1990 etwa 700 Spielfilme, 750 Kurzfilme und etwa 8000 Synchronisationen. 12
166 Neutsch, Strittmatter, Braun, Wolf 17 usw. brauchte unser Land. Wir brauchten die Reflexion unseres Lebens in der Literatur, Debatten über den unausbleiblichen „Irrtum“, die Widersprüche in unserem Alltagsleben und keine glatten Erfolgsgeschichten. Ende 1965 wurde dann doch eine neue Etappe der Arbeit am „Neuen Ökonomischen System“ (NÖS) durch Beschluss des Politbüros eingeleitet. Relikte aus der Übernahme sowjetischer Strukturen wie der Volkswirtschaftsrat wurden beseitigt. Industrieministerien wurden wieder die zentrale Leitung der Zweige. Die Arbeiten an neuen ökonomischen Regelungen wurden wieder aufgenommen. In den Jahren 1963 bis 1965 waren alle industriellen Anlagen in der Wirtschaft neu bewertet worden. Aufgrund der aktuellen Selbstkosten wurden neue Preise in der Industrie erarbeitet und umfassende Preisreformen durchgeführt. Damit entstanden wesentlich bessere Voraussetzungen für die Kostenkalkulation und Betriebswirtschaft. Der Wille, die Wirtschaftsführung der volkseigenen Betriebe effektiver zu machen, war also nach wie vor das Anliegen der Parteiführung. Federführend bei der Arbeit waren die Staatliche Plankommission und das Finanzministerium. Im April 1966 begannen wir, die Fünf-Tage-Woche einzuführen. Zunächst nur für jede zweite Woche. Erst ab dem 1. Juni 1967 wurde dann in jeder Woche nur noch fünf Tage gearbeitet. In der Bundesrepublik war die Fünf-Tage-Woche schon 1956 eingeführt worden – ermöglicht durch den Produktivitätsvorsprung. In den 1950er Jahren begann in den USA eine geniale Modernisierung der elektronischen Halbleiter-Bauelemente, die Mikroelektronik. Sie revolutionierte bald alle Bereiche der Technik, z. B. der Nachrichtenübermittlung usw. Die DDR hat früh darauf reagiert. Im Jahr 1958 wurden im Halbleiterwerk Frankfurt Oder, gestützt auf Wissenschaftler und unsere Freiberger Rohstofffunde, die Kapazitäten der Halbleiterherstellung aufgebaut. Im August 1964 hat unsere Regierung beschlossen, in der DDR die elektronische Datenverarbeitung einzuführen und bis 1970 zunehmend Bedingungen für ihre breite Nutzung zu schaffen. Die in großen Kombinaten konzentrierte elektrotechnische Industrie wurde rasch weiter ausgebaut. Neue Anlagen aus UdSSR Importen, aber auch aus dem Westen, wurden für Pilotprojekte eingesetzt. Das war ein Beispiel dafür, was unsere Wirtschaft leisten konnte. Es wurde alles für eine breite Qualifizierung getan. In der DDR entstand schon ab 1966 ein einheitliches System der Datenverarbeitung der Finanz- und Bankorgane mit einem Betrieb in jedem Bezirk. Bald begann die schrittweise Übernahme aller Operationen der Finanz-, Bank- und Versicherungsorgane der DDR auf diese neue Technik. Ein rationelles und stabiles System entstand, das von Jahr zu Jahr modernisiert wurde. Erwähnenswert deshalb, weil das in dieser landesweiten Struktur In der DDR waren eine Reihe hervorragender Schriftsteller herangewachsen wie Hermann Kant, Erik Neutsch, Christa Wolf, Volker Braun, Erwin Strittmatter, die der gesellschaftlichen Entwicklung zustimmend verbunden waren. Gleiches trifft auch auf Stefan Heym (1913–2001) zu – einem Kommunisten, der aus dem Exil kam, und Peter Hacks (1928–2003), der aus der BRD in die DDR zog. Sie hatten aber die Absicht, die Wirklichkeit abzubilden und in Dramatik und Poesie umzusetzen. Bald kam es zu Problemen mit den Vorgaben der SED-Führung, die „keine Fehlerdiskussion“ in Romanen oder Filmen zulassen wollte.
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167 nur dank des Volkseigentums möglich war. Ein analoges EDV-System für das ganze Land entstand auch unter Regie der Zentralverwaltung für Statistik der DDR. Am 9. Mai 1966 nahm in der DDR in Rheinsberg/Mark das erste Atomkraftwerk den Betrieb auf. Damit hatten Wissenschaftler unseres kleinen Landes mit Hilfe der Sowjetunion den Anschluss an die damals noch hoffnungsvolle Alternative zum „Kohlestrom“ gefunden. Das war die Grundlage für das erste Atomkraftwerk der DDR in Lubmin/Greifswald, dessen erster Block schon im Jahr 1974 in Betrieb ging. Trotz allem, was uns voranbrachte, gelang es uns nicht, den Maschinenpark unserer Wirtschaft im notwendigen Umfang zu erneuern. Dazu fehlten die Mittel. Die Bemühungen in unserem kleinen Land, „alles“ selber herzustellen, gingen nicht auf. Veraltete Technik und breites Sortiment behinderten den Produktivitätszuwachs – die BRD hatte etwa die doppelte Produktivität. Aber wir wollten und mussten das Problem mit unseren Möglichkeiten lösen. Im Juni 1966 organisierten ZK und Ministerrat eine „Konferenz zur Rationalisierung und Standardisierung“. Dort wurden die Weichen für eine breite Modernisierung – mit Rationalisierungsmitteln aus eigener Produktion – in allen Wirtschaftsbereichen gestellt. Die Rationalisierung vorhandener Technik, d. h. alte Technik plus moderne Elemente, Steuerung, Elektronik usw. wurde für die DDR zum Hauptweg der Einführung produktiverer Produktionsverfahren. Das war natürlich nicht die kostengünstigste, aber vielerorts die einzig mögliche Lösung. Der eigene Rationalisierungsmittelbau in jedem Großbetrieb, jedem Zweig war nun Standard. Dort ist von klugen Tüftlern sowie Erfindern wirklich Enormes geleistet worden. Dieser Weg hat patentreife neue technologische Lösungen hervorgebracht. Es hat sich gezeigt, was unsere Ingenieure – oft im Verbund mit unseren Hochschulen – an Know-how zu leisten in der Lage waren. Gerade diese Erfahrungen belegen auch, was es bedeutet, wenn Erfahrungsaustausch und Teamarbeit über Betriebsgrenzen hinweg ohne Eigentums- und Konkurrenzschranken möglich sind. Im April 1967 tagte der VII. Parteitag der SED. Es wurde eine neue Phase der Wirtschaftsreform mit dem „Neuen Ökonomischen System des Sozialismus“ (NÖS) eingeläutet. Das hieß nicht neue Ideen, sondern ein neuer Anlauf! Wir waren zu dieser Zeit mit den Folgen der verschlechterten Rahmenbedingungen infolge des neuen Wirtschaftsabkommens mit der UdSSR belastet. Aber die Parteispitze wollte und musste mit aller Energie das Wachstum der Wirtschaft vorantreiben. Es war die Rede von der zentralen Lenkung der grundlegenden Innovationsprozesse und Strukturentwicklungen im Verbund mit mehr Eigenständigkeit der Betriebe. Das wurde in dem im Mai 1967 verabschiedeten Perspektivplan bis 1970 in Details festgeschrieben. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt sollte durch eine zentrale strukturbestimmende Planung der modernen Chemie und des Maschinenbaues durch Einsatz der Elektrotechnik, der EDV und der Automatisierung vorangebracht werden. Auch dieser Plan hatte viele „materielle Engpässe“. Der Druck im „System-Wettbewerb“ führte wieder zum Wunschdenken. Diese stringente Linie des Leistungszuwachses wurde im Juni 1968 durch ein „Strukturpolitisches Konzept für die Volkswirtschaft der DDR“ für die Jahre 1969/70 präzisiert.
168 Grundsatzregelungen für komplexe Maßnahmen zur weiteren Gestaltung des ökonomischen Systems in der Planung und Wirtschaftsführung in den Jahren 1969/70 wurden beschlossen. Es begann eine intensive kollektive Arbeit von Staatlicher Plankommission, Finanzministerium und Hochschulen an Regelungen. Experimente in etwa 10 Kombinaten folgten. Auch unser Finanzökonomisches Forschungsinstitut war beteiligt. Zur Verallgemeinerung kam es nicht. Man hatte wohl nach dem „Prager Frühling“ (1968) erst recht keinen Schneid etwas zu „reformieren“. Im April 1969 erfolgte dann in einer gemeinsamen Sitzung von SED Spitze und Regierung eine nochmalige Präzisierung der Ziele und Maßnahmen zur Leistungssteigerung. Die Wachstumsraten wurden nun deutlich angehoben, um im „Spurt“ die BRD zu übertreffen. Dort formulierte Walter Ulbricht auch das Ziel, die BRD „überholen ohne einzuholen“. Das war erklärungsbedürftig. Wissenschaftler der Akademie hatten in einem Gespräch mit Ulbricht die Möglichkeit begründet, dass wir Produktionsverfahren entwickeln, die es im Westen noch nicht gibt. Das würde „ein Überholen“ in der Produktivität auf bestimmten Gebieten ermöglichen. Wir hatten im Werkzeugmaschinen- und Textilmaschinenbau, auch in der Polygraphischen Industrie, durchaus solche „Spitzenleute“. Also versuchten wir es doch! Zu diesem Zweck wurden 12 Großforschungszentren in Kombinaten in Betrieb genommen. Das war sicher ein kluger Schritt, auch mit guten Resultaten, aber eben kein Zauberkasten, mit dem wir den Produktivitätsrückstand in der Breite aufholen konnten. Die Planung und Leitung sollten durch „Heuristik und Kybernetik“ in Verbindung mit der Nutzung der elektronischen Datenverarbeitung so modernisiert werden, dass daraus umgehend und in der Breite höhere Effektivität gefördert werden könnte. Unter direkter Leitung von Günter Mittag wurde im Jahr 1969 eine „Akademie für Marxistisch-Leninistische Organisationswissenschaft“ 18 aufgebaut. Sie hatte Lehrkabinette mit modernster Technik. Dort absolvierten tausende leitende Kader Lehrgänge und wurden mit modernster EDV-Technik, Leitungssystemen, Optimierungsmodellen usw. vertraut gemacht. Aber das Ganze war ein Wunschbild, abgehoben von der Realität. Die Mehrheit der teilnehmenden Direktoren hatte nicht die Chance, das Gelernte mit ähnlicher Technik im eigenen Betrieb anzuwenden.
Akademie für Marxistisch-Leninistische Organisationswissenschaft war eine Institution, die 1969 in Berlin Köpenick aus dem Nichts geschaffen wurde. In den Gebäuden des Ministeriums für Wissenschaft und Technik hatte man unter direkter Leitung von Günter Mittag Lehrbeispiele geschaffen, die aus „Spitzenbetrieben“, z. B. aus dem Landmaschinenkombinat stammten. Es ging um die Anwendung von modernen Methoden und Verfahren der Konstruktion, der Produktionsorganisation, der Datenverarbeitung usw. Die Lehrenden kamen direkt aus diesen Betrieben und den Hochschulen. Siegert absolvierte einen solchen Lehrgang: „Es war erstaunlich, was dort gezeigt wurde. Die moderne Technik stammte zu einem großen Teil aus Importen. Diese Akademie bestand etwa ein Jahr und wurde dann nach Kritik von der Parteiführung wieder geschlossen.“
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169 Es war riskant, so Politik zu machen. Walter Ulbricht war auf einem riskanten Weg. Nicht nur, weil diese Demonstration der Wunderwirkung von Kybernetik plus EDV nicht glaubhaft zu vermitteln war, sondern vor allem auch wegen der damit verbundenen Konzentration von Mitteln auf solche Vorzeigeobjekte, zu Lasten anderer notwendiger Dinge. Im Land existierten Versorgungsprobleme und es gab zu wenige neue Wohnungen und Kitaplätze. Leonid Breschnew schaute seit langem argwöhnisch auf die eigenen Wege Walter Ulbrichts. Dieser hatte schon im Jahr 1967 die These vertreten, dass die DDR sich auf dem „Weg in das entwickelte gesellschaftliche System des Sozialismus befindet“, dass eine „relativ selbstständige Gesellschaftsformation“ sei. Er wollte gegenüber der KPdSU verdeutlichen, dass die DDR den Anspruch erhebt, ihren eigenen Weg zu gehen, um ein Vorbild für die Verwirklichung des Sozialismus in einem industriell entwickelten Land zu sein. Auch in Bezug auf die neue Ostpolitik Willy Brandts sah Ulbricht eigene Chancen für die DDR. Ihm schwebte eine wirtschaftliche Konföderation mit der BRD vor, die ermöglichen könnte, wirtschaftlich aufzuholen. Dies allerdings störte den Anspruch Moskaus, die Deutschlandpolitik weiterhin allein zu bestimmen. So kam es dann wohl dazu, dass die UdSSR ein erneutes Ersuchen der DDR nach höheren Rohstofflieferungen im Juli 1969 wiederum ablehnte. Im Oktober 1969 reagierten einige Genossen des Politbüros mit einer Warnung an Walter Ulbricht „vor einer Überforderung der volkswirtschaftlichen Möglichkeiten“. Diese Differenzen in der Führung zur ökonomischen Strategie wirkten weiter und wurden bei der Beratung des Volkswirtschaftsplanes für das Jahr 1970 im Dezember 1969 erneut spürbar. In der Partei wurde das nicht „wirklich“ diskutiert. Ulbricht erwartete, dass diese „Vorwärtsstrategie“ Zustimmung findet. Ohne eine Debatte über die Nebenwirkungen. Das entsprach seiner Art, Politik zu machen. In meiner Erinnerung geblieben ist, dass wir Genossen für höhere Ziele waren, wenn sie mit den modernen Technologien und effektiverer Leitung erreichbar sein könnten. Aber das bedurfte einer seriösen und sachlichen Debatte. Was können wir wirklich? Wie weit können wir in der Veränderung der Kräfte und Mittel zu Gunsten der Wirtschaft und zu Lasten der Konsumtion gehen? Das war doch das Problem, denn man kann die Mark nur einmal ausgeben! Nicht wenige machten sich Sorgen, weil die Reibungen im Alltag bei der Versorgung mit Wohnungen immer deutlicher wurden. Aber eine offene Debatte blieb aus, weil sie die „Grenzen“ gezeigt hätte – und auch nicht üblich war. Im Mai 1970 entließ Walter Ulbricht Erich Honecker aus seiner „Kronprinzen-Rolle“. Er wurde von seiner Funktion als 2. Sekretär des ZK´s entbunden und zum Studium nach Moskau delegiert. Am 29. Juli 1970 gab es dort ein Treffen mit Breschnew. Es ging um Ulbricht, um seinen eigenwilligen Weg sowie seiner Position in der Deutschlandfrage. Faktisch wurde damit die Ablösung Walter Ulbrichts durch Honecker vorbereitet. Im Dezember 1970 tagte das 14. Plenum des ZK der SED, wo es zu einer Art „Abrechnung“ mit der Wirtschaftspolitik Walter Ulbrichts kam. Honecker hatte die Mehrheit der Mitglieder des Politbüros auf seiner Seite. Walter Ulbricht lieferte seinen Bericht zu den
170 Ergebnissen der Wirtschaftspolitik ab. Insbesondere referierte er zum Stand der strukturpolitischen Vorhaben und der Realisierung des „Neuen Ökonomischen Systems“ (NÖS). Das Referat wurde aber nicht veröffentlicht. Von Seiten Willi Stophs und anderen Funktionären gab es Kritik an den wirtschaftspolitischen Maßnahmen, die zu einseitig auf bestimmte Schwerpunkte der Modernisierung gerichtet waren. Stoph sagte: „Man kann die ökonomischen Gesetze nicht überlisten“, was auf die subjektivistischen Züge in Ulbrichts Politik anspielte. Es gab Entscheidungen zur Stornierung von Investitions-Vorhaben und Umverteilung von Mitteln. Die Experimente zum „Neuen Ökonomischen System“ (NÖS) wurden endgültig abgebrochen. 19 Im März 1971 nahm eine Delegation der SED Parteiführung unter Leitung von Walter Ulbricht am 24. Parteitag der KPdSU in Moskau teil. Am 31. März hielt dort Walter Ulbricht seine Rede. Er berief sich darauf, dass er noch persönlich Lenin gekannt habe und pries die DDR als ein sozialistisches Modell für industriell entwickelte Länder an. Diese Rede fiel aus dem üblichen Rahmen. Von den Bruderparteien und ihren Führern war man honorable Reden gewohnt. Hinzu kam, dass Breschnew in Bezug auf eigene „Ideen der Brüder“ sehr zurückhaltend war. Nach Prag hatte die Zeit der Zögerlichkeit, der Stagnation, des Reagierens anstatt des Agierens in der KPdSU begonnen! Am Rande des Parteitages gab es ein Gespräch zwischen Breschnew und Ulbricht, in dem er Ulbricht empfahl, mit Rücksicht auf sein Alter und seiner Gesundheit zurückzutreten. Bekannt ist aber auch, dass die sowjetische Führung nach wie vor Ulbrichts Lebensleistung schätzte und ihm vertraute. Zu dieser Zeit war noch immer unklar, wen die Moskauer Führung als Nachfolger Ulbrichts favorisierte. Das ist aus heutiger Sicht verständlich. Schließlich befürwortete man Honecker und empfahl den deutschen Genossen, mit Walter Ulbricht achtungsvoll umzugehen. Im Rahmen der 16. Tagung des ZK der SED am 3. Mai 1971 erklärte der bereits 78 Jahre alte Walter Ulbricht seinen Rücktritt aus gesundheitlichen Gründen. Bis dato war er seit 1945 in der Parteiführung. Das ZK wählte Erich Honecker als Nachfolger zum neuen 1. Sekretär des ZK der SED. Damit trat ein nicht unumstrittener, jedoch für das Werden und Wachsen der DDR prägender Wegführer ab. Walter Ulbricht war ein Mann, der sein Ansehen und seine Führungseigenschaften in Jahrzehnten des Kampfes erworben hatte. Er hatte sich breites Wissen und Erfahrungen angeeignet, sowohl als Funktionär der KPD als auch in den harten Jahren der Emigration, als Kämpfer im Großen Vaterländischen Am 21.1.1971 schickten 13 Mitglieder des Politbüros (von insgesamt 20 Mitgliedern) ein Schreiben an Breschnew. Sie beklagten, dass Walter Ulbrichts nicht mehr in der Lage sei, die wirtschaftlichen und politischen Realitäten richtig einzuschätzen und dass er auch gegenüber der BRD eine eigenwillige Politik verfolge. Siehe hierzu: 14. Tagung des ZK de SED (9. bis 11.12.1970) sowie Dokumente im Bundesarchiv. Das war von den Unterzeichnern – langjährige Weggefährten – wie Stoph, Matern, Sindermann, Ebert, Honecker, Mückenberger, Norden, Grüneberg, Mittag und anderen berechnend und ein Zeugnis dafür, wie es im Politbüro zuging. Dass Ulbricht selbst zu solchem Stil beigetragen hatte, macht die Sache nicht besser. Moskau reagierte zunächst nicht. Dort war man sich in Bezug auf die Nachfolge unschlüssig.
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171 Krieg 20 an der Front sowie im Schützengraben vor Stalingrad. Er hatte – so sagen seine Mitstreiter – einen komplizierten Charakter. Er wurde wegen seines sächsischen Dialektes gerne „belächelt“. Was durch seine Führung und seine Politik erreicht wurde, war er das Beispiel einer Gesellschaft, die das Allgemeinwohl, Humanität und Frieden anstrebte. 21 Dass dieser Versuch von Walter Ulbricht mit anderen Genossen nach dem Ende des Faschismus, in einem zerstörten Land, in der Auseinandersetzung mit den alten politischen Feinden sowie im Kalten Krieg unternommen wurde, spricht für seine politische Größe und Standhaftigkeit. Am Ende der politischen Führung Walter Ulbrichts hatte unsere DDR im Ganzen eine beachtliche gute Bilanz. Die DDR hatte 1970 das Vierfache der Wirtschaftsleistung seit ihrer Gründung erreicht. Die Wirtschaft war entsprechend unserem inneren Bedarf und den Exportchancen neu strukturiert und vor allem auf hohe Veredlung der Rohstoffe ausgerichtet. Wir waren gut mit den RGW Ländern vernetzt. Die genossenschaftliche Landwirtschaft hatte sich stabilisiert. Die DDR hatte jedes Jahr einen ausgeglichenen Staatshaushalt. Die Außenhandelsbilanz war ausgeglichen. Es gab keine Arbeitslosen. Für jeden Bürger existierten die Möglichkeiten der Inanspruchnahme von Bildung, Kultur und medizinischer Versorgung. Auf dem VIII. Parteitag der SED 1971 wurde die „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ als neue Grundlinie unserer Partei beschlossen. Diese Einheit war zu jeder Zeit für die Entwicklung unserer DDR sowie für das politische Handeln prägend. Diese Einheit nun besonders zu betonen, sollte eine Korrektur deutlich machen. Es sollte hervorgehoben werden, dass im Gegensatz zu den letzten Jahren, in denen zugunsten der Investitionen an Brennpunkten der Modernisierung weniger für den konsumtiven Bereich getan wurde, nun wieder Wirtschaft, Versorgung und Soziales harmonisch wachsen werden. Die Zustimmung zu diesen Beschlüssen war im Lande ungeteilt. Mehr Stabilität sowie mehr Aufmerksamkeit für soziale Druckpunkte kamen gut an. Ein gutes Entree für den neuen Generalsekretär Erich Honecker. „Erich“ galt bei uns FDJlern aus den 1950er Jahren immer noch als „Tempomacher“ an der Spitze des Jugendverbandes. Danach stand er – abgesehen vom 11. Plenum 1965 – politisch kaum im Rampenlicht. Es gab Meinungen, dass mit Honecker wieder „selbstherrliche Allüren“ kommen könnten. Ich wollte mir das nicht zu eigen machen. Vertrauen und Hoffen. In der Tat war im Jahr 1971 mit den Beschlüssen zur Erhöhung des Grundlohnes und der Grundrenten, zum Wohnungsbau sowie weiteres ein guter Anfang gelegt. In den folgenden Jahren machten der Wohnungsneubau, der Ausbau der Kinderbetreuungseinrichtungen, der Bau neuer Schulen und Turnhallen sowie Ferieneinrichtungen große Fortschritte. In Berlin und den Bezirksstädten entstanden bis zum Jahr 1980 etwa 800 000 neue WohnKampf der Sowjetunion gegen Hitlerdeutschland in der Zeit von 1941 bis 1945. Historiker Sebastian Haffner sagte 1966: „Die meisten Leute sind heute noch vollauf damit beschäftigt, sich zu wundern, dass gerade ein Ulbricht der erfolgreichste deutsche Politiker nach Bismarck und neben Adenauer werden konnte. Und man muss zugeben, es ist nicht ganz leicht zu erklären.“ In: Gudio Knopp, Goodbye DDR, München 2005.
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172 ungen. Alles mit guter Ausstattung und zu bezahlbaren Mieten. Wir entwickelten den industriellen Wohnungsbau so, dass kostengünstig, mit gutem Standard und in hohem Tempo gebaut werden konnte. Die neuen Wohngebiete waren mit allem ausgestattet, was insbesondere junge Familien brauchen: Kindergärten, Schulen, Sporteinrichtungen, Einkaufszentren, sonstige Dienstleistungen und Spielplätze. Damals entstanden neue Wohngebiete wie in Berlin-Marzahn, die für Tausende Familien ein neues und modernes Zuhause zu erschwinglichen Mieten boten. Die vom Westen verächtlich titulierten „Platten-Silos“ sind noch heute bevorzugte Wohnsiedlungen. Das Erfolgskapitel Wohnungsbau, das bis 1989 mit etwa 3 Millionen Neubauwohnungen abgeschlossen hatte, brachte auch Probleme mit sich. Für den Staatshaushalt bedeutete jede neue Wohnung zugleich mehr Stützungen, da die Miete nur etwa „ein Drittel“ der Kosten deckte. Zahlte der Bürger 1 Mark Miete, gab der Staat 2 Mark als Subvention hinzu. Im Jahr 1971 waren das 2 Milliarden Mark Stützungen aus dem Staatshaushalt und stieg bis ins Jahr 1989 auf 17 Milliarden Mark an! Das war nicht nur finanziell eine wachsende Last, sondern vom Standpunkt der rationellen Nutzung des Wohnraums nicht optimal. Unsere Vorschläge, für Neubauwohnungen differenziert höhere Mieten festzulegen, wurden abgelehnt: „Was die Partei beschließt, muss auch finanziert werden! Preisveränderungen stehen nicht zur Debatte!“ Das war ein abstraktes Wunschdenken mit eklatanten Folgen. Eine ähnliche Position der Parteiführung gab es bei der wachsenden Palette von Preisstützungen für Konsumgüter. Die festen Preise für Grundnahrungsmittel, Baby- und Kinderbekleidung und anderen Waren des Grundbedarfs für die Bevölkerung waren bei uns zu Recht ein Element sozialer Politik. Aus dieser vernünftigen Sache wurde zunehmend ein Problem, weil notwendige Preiserhöhungen infolge wachsender Rohstoffpreise bei immer mehr Konsumgütern „abgeblockt“ wurden, auch z. B. bei Handwerkzeugen, wo es dafür keinen „sozialen“ Grund gab. Die Herstellerbetriebe erhielten zur Deckung ihrer Kosten entsprechende Preisstützungen. Alle Versuche, diese Preisfragen differenzierter anzugehen, um beispielsweise einen sparsamen Umgang mit Nahrungsmitteln anzuregen oder stärker bessere Qualität neuer Produkte im Preis zu berücksichtigen, stießen auf Ablehnung. Die Preisstützungen für Lebensmittel stiegen ab dem Jahr 1971 von 5,5 Milliarden Mark bis ins Jahr 1989 auf 32,7 Milliarden Mark an. Bei einem Einkauf von 100 Mark für Lebensmittel zahlte der Staat 85 Mark hinzu. Auch bei vielen Industriewaren wie z. B. Handwerkzeugen und Schlössern wuchsen die Subventionen des Staates (1971 von rund 1 Milliarde Mark bis 1989 von rund 12 Milliarden Mark). Das war keineswegs „sozial“ begründbar. Auf diese Weise war 1989 etwa „ein Viertel“ der Ausgaben des Staatshaushaltes für solche Subventionen erforderlich. Politisch wurde das als „die zweite Lohntüte“ der Bürger gefeiert. Aber es hätte uns politisch viel mehr genützt, wenn wir bei weniger Stützungen mehr Spielräume für Lohnerhöhungen, z. B. bei Krankenschwestern, Kindergärtnerinnen, in der Altenbetreuung oder auch bei Lehrern gehabt hätten. Zunehmende Sorgen machten uns die Infrastruktur, die Straßen, das Telefonnetz, die historischen Stadtkerne. Unser Wohnungsneubau am Stadtrand bedeutete weniger
173 Erhaltung und Modernisierung in den alten Stadtkernen, sondern er sorgte zum Verfall von innerstädtischen, meist privaten Mietshäusern. Mancherorts war der Verfall von Wohnraum so groß wie der Zuwachs. Wir schlugen vor, den privaten Hausbesitzern die gleichen Zuschüsse zu gewähren wie bei volkseigenen Wohnungen. Damit und durch Vorzugskredite sollten Hausbesitzer in der Lage sein, ihre Häuser zu erhalten. Das hätte auch private Leistungen erschlossen. Aber, so hielt man uns vor: Wir können doch nicht „private“ Eigentümer fördern. Engstirnig! Am Ende wurden uns die maroden Innenstädte als ein Beispiel unserer „Misswirtschaft“ vorgehalten. Unser Vorschlag, mehr private Eigenheime zu bauen, mündete 1972 in den Beschluss des Ministerrates zur Förderung des Eigenheimbaus. Es wurden in der Folgezeit pro Jahr etwa 15 000 Eigenheime errichtet bis 1989 über 250 000. Die Familien hatten die Wahl unter verschiedenen Typenbauten mit etwa 75 m² Wohnfläche. Das Grundstück gab es kostenlos zur Nutzung hinzu. Die Baukosten betrugen in der Regel etwa 100 000 Mark. Es gab die Möglichkeit, bis zu 50 000 Mark einen Kredit aufzunehmen mit jährlicher 1 % Verzinsung. Auch der genossenschaftliche Wohnungsbau wurde wieder stärker gefördert. Die 1954 ins Leben gerufenen „Arbeiter-Wohnungs-Baugenossenschaften“ (AWG) waren nach erfolgreichen Jahren nach 1960 nicht mehr so aktiv. Nach 1970 wurde jede dritte neue Wohnung von Genossenschaften gebaut. Die AWG erhielten zinsgünstige Kredite. Jedes Mitglied hatte eine Eigenleistung zu erbringen und Genossenschaftsanteile zu erwerben. Im Jahr 1989 gab es in der DDR 1,1 Millionen Genossenschafts-Wohnungen. Unser genossenschaftliches Wohneigentum blieb uns nach dem Jahr 1990 erhalten und ist vor dem Immobilienmarkt bis heute geschützt. Nach 1953 hatten in der DDR private und nach 1960 auch halbstaatliche Betriebe eine gute Existenzgrundlage. Ihre Erzeugnisse waren gefragt. In der Regel produzierten sie Konsumgüter in der Textil-, Möbel-, Metallwaren-, Keramik- sowie Glasindustrie. Gerade, als wir mehr Vielfalt und Menge auf dem Konsumgütermarkt bei den „1000 kleinen Dingen“ gebraucht hätten, entschied die Parteiführung 1972, die noch bestehenden kleinen privaten und halbstaatlichen Betriebe – insgesamt 11 400 – zu verstaatlichen. Das ging auf Breschnew zurück, der Honecker vorhielt, dass es doch nicht zu einer sozialistischen Gesellschaft gehöre, weiter „Kapitalisten“ zu dulden. Honecker folgte ihm! Walter Ulbricht hatte diese Betriebe, in der Regel Familienbetriebe mit langer Tradition und guten Produkten gefördert, insbesondere durch staatliche Beteiligungen. Sie hatten etwa 15 % Anteil an der Industrieproduktion und ca. 50 000 Beschäftigte. Ihre Verstaatlichung hieß meist Eingliederung in größere volkseigene Betriebe und Wegfall von Traditionsprodukten. Bürger, die sich überwiegend integriert fühlten, zum Teil auch politisch in den Blockparteien mitwirkten, wurden vor den Kopf gestoßen. Auf dem Außenmarkt verschlechterten sich unsere Möglichkeiten in den 1970er Jahren rapide. Das „Bretton-Woods-System“ 22 fester Wechselkurse zerfiel. Infolge massiver Das Bretton-Woods-System entstand im Juli 1944 in einer Konferenz unter Leitung der USA in Bretton Woods, New Hampshire (USA). Wichtiges Element waren feste Wechselkurse, die eine
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174 Preissteigerungen nach dem Jom-Kippur Krieg 23 bei Erdöl und auch anderen Rohstoffen wurden wir hart getroffen. In den kapitalistischen Ländern lahmte die Konjunktur. Unsere „Terms of trade“ veränderten sich ins Negative. Für den Rohstoffimport mussten wir mehr Devisen aufbringen. Unsere Exporte in die kapitalistischen Länder wurden schwieriger. Maschinen und Anlagen sollten wir mit modernen, mikroelektronischen Steuerungen anbieten, die wir selbst aber nicht herstellten. Die Ansprüche an Importe aus dem kapitalistischen Ausland wuchsen insbesondere für Mikroelektronik und Rechentechnik. Die Parteiführung wollte auch das Angebot in den Läden stabiler halten, z. B. bei Kaffee, Bananen, Südfrüchte usw. und auch das erforderte mehr Valuten für Importe. Nicht zuletzt hatten sich auch unsere außenpolitischen Aktivitäten enorm entwickelt. Die DDR war seit dem Jahr 1973 Mitglied der UNO und ihrer Organisationen. Viele neue Botschaften der DDR wurden weltweit eingerichtet, das war für uns politisch ein Erfolg, kostete aber auch eine Menge Devisen. In den 70er Jahren wurden also aus verschiedenen Gründen wachsende Devisenbeträge gebraucht – auch zunehmend durch Kredite finanziert. Die Auslandsverbindlichkeiten nahmen zu. 1972 hatte die DDR 2 Milliarden DM Kredite im Westen, bis 1979 stiegen diese auf 21,5 Milliarden DM an; 1982 dann 25,1 Milliarden DM. Danach gelang es uns, diese Kredite auf 15,5 Milliarden DM zu reduzieren. Valuta-Verbindlichkeiten bei westlichen Banken waren eine offene Flanke für politische Erpressbarkeit. Es musste gegengesteuert werden! Das ist ein Stück weit mit MaschinenExporten zu Lasten der eigenen Investitionen, auch mit Konsumgütern „um jeden Preis“ und auch durch die kostspielige Reduzierung des inneren Heizölverbrauchs gelungen. Ab 1982 erreichten wir wieder Exportüberschüsse und eine bessere Zahlungsbilanz. Die von F. J. Strauß in den Jahren 1983/84 vermittelten Valutakredite von 1,95 Milliarden DM nahmen wir, aber sie waren keine Rettung vor der Insolvenz, wie man im Westen behauptet, sondern sie dienten der Verbesserung unserer Bonität im Kreditgeschäft. 24 In diesem Zusammenhang ist noch ein besonderer Bereich unseres Außenhandels zu erwähnen: Wir hatten schon in den 1960er Jahren Möglichkeiten gefunden, um trotz des Embargos und des Kalten Krieges Geschäftsverbindungen zu entwickeln. Eine effektive Stabilität im internationalen Geld- und Güterverkehr bringen sollten. Es wurden die Weltbank und der Internationale Währungsfonds gegründet. Eine tragende Rolle spielte die US-Währung, der Dollar, mit einem festen Goldstandard. Dieser wurde 1971 von Präsident Nixon aufgehoben. Der Vietnam-Krieg hatte die USA immer mehr in die Verschuldung getrieben. 23 Jom-Kippur Krieg war ein Krieg in der Zeit vom 6.–25.10.1973, der von Ägypten, Syrien und weiteren arabischen Staaten gegen Israel geführt worden war. 24 Übersicht der DDR der Entwicklung „Forderungen und Verbindlichkeiten der DDR gegenüber nichtsozialistischen Staaten Wirtschaftsgebiet“, die Zahlungsbilanz der ehemaligen DDR 1975 bis 1989, Tabelle 15, S. 60. Siehe https://www.bundesbank.de/resource/blob/689284/7410029db56fb56ea6ce81816f8017ee/mL/zahlungsbilanz-ddr-data.pdf (letzter Zugriff 13.12.2020).
175 Idee dazu war die Schaffung des Bereichs „Kommerzielle Koordinierung“ kurz „KoKo“ genannt, im Jahre 1966. Das waren volkseigene Außenhandels-Betriebe in Form von Kapitalgesellschaften. Sie operierten mit entsprechenden Fachleuten am internationalen Markt, um embargobelegte Technik und Rohstoffe zu beschaffen und Devisen zu erwirtschaften. Auch der Import von Konsumgütern gehörte dazu, die in unseren „INTERSHOPS“ den Besuchern aus dem Westen „günstig“ angeboten wurden und auch für DDRBürger „mit Valuten“ offenstanden. Das Letztere war politisches Glatteis. Der ständige Ausbau der Intershops und ihres Angebotes produzierte Frust, denn die Mehrheit der DDR-Bürger verfügte wie auch wir nicht über „Westwährungen“. Die Leitung dieses Außenhandels-Bereichs mit dem kryptischen Namen „KoKo“ 25 lag in den Händen von Staatssekretär Alexander Schalck-Golodkowski, einem erfahrenen Außenhändler und in den 1970/1980er Jahren in der Regel auch der Unterhändler der DDR für Abkommen und vertrauliche Sondierungen mit der BRD. Schalck-Golodkowski, Mitglied des ZK der SED, war Vertrauter von Honecker und Mittag und ebenso von Mielke. Er war ein Unikat im Führungspersonal der DDR und faktisch die zentrale Persönlichkeit im Dialog mit Politikern der BRD. Diffizile Abkommen vorbereiten, Devisenerwirtschaftung, Türen öffnen und Chancen für die Entspannung suchen, das alles vereinigte sich in der Tätigkeit dieses Mannes, wofür er zu Recht in Ost und West geachtet wurde. Der Erfolg dieses „alternativen“ Außenhandels-Unternehmens bei der Erwirtschaftung von Devisen und die Notwendigkeit „Embargo“-Technik zu importieren, ließen diese Geschäfte und Firmen rasch anwachsen. So hatten wir bald zwei Kategorien von Außenhandel: den planmäßigen und den „kapitalistisch agierenden“ Außenhandelsbereich „KoKo“. Ab 1974 wurde die Kontrolle dieser „Firmen“ durch die Staatliche Finanzrevision eingestellt. Diese Sonderstellung „per Order durch Mittag“ nutzte zwar dem Zweck, war aber auch riskant. Über diesen Sonderbereich mit eigener „Handelsbank“ liefen auch alle Transaktionen mit der BRD wie die Transitgebühren usw. Das Ende war dramatisch: Alexander Schalck, der bis dahin das Vertrauen der Führung und insbesondere auch von Egon Krenz genossen hatte, hatte am 15. November 1989 im Auftrag von Krenz mit dem Kanzleramtsminister Rudolf Seiters das erste Gespräch zwischen Seiters, Krenz und Modrow vorbereitet und wurde mit einem Haftbefehl bedroht. Schalck floh am 3. Dezember erfolgreich nach Westberlin. Vorausgegangen war eine Untersuchung des Ausschusses der DDR-Volkskammer zur „Überprüfung von Amtsmissbrauch und Korruption“. Die Staatsanwaltschaft wollte – so erfuhr man später – Alexander Schalck zu „Leistungen“ befragen, die seine Firmen für Günter Mittag und andere Spitzen-Funktionäre erbracht hatten. Schalck musste das als Infragestellung seiner Handlungen und Integrität verstehen. Das aber geschah, während Alexander Schalck in Bonn mit Kanzleramtsminister Seiters den Besuch Helmut Kohls am 19. Dezember 1989 in Dresden vorbereitete. Er nahm an dem vorausgehenden ersten Bereich Kommerzielle Koordinierung, ein besonderer Bereich des DDR Außenhandels für die Erwirtschaftung von Valuten und Außenhandelsgeschäfte der besonderen Art. Ab 1968 unter Leitung von Dr. Alexander Schalck-Golodkowski, Staatssekretär.
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176 Gespräch zwischen Krenz, Modrow und Seiters am 20. November teil. Dieser Mann, also der Vertraute von Krenz, stand plötzlich im Zwielicht als ein „Verräter“, der nun in die Hand des BND geraten war. Die Spekulationen der Medien in Ost und West waren grenzenlos. Wir veröffentlichten dazu nur das „Nötigste“, denn es gab nach wie vor allen Grund, die Geheimnisse des KoKo-Bereiches zu bewahren. 26 Die von Hans Modrow sofort eingesetzte Arbeitsgruppe der Staatlichen Finanzrevision fand in dem weitverzweigten Firmennetz Valutabestände in Größenordnungen, die uns zugutekamen. Damit war der „Lagebericht“ 27, den der Vorsitzende der Staatlichen Plankommission Gerhard Schürer und Ernst Höfner, Gerhard Beil und Arno Donda am 30. Oktober dem neuen Generalsekretär Krenz vorgelegt hatten, um minus 20 Milliarden DM Valutakredite zu korrigieren, also eine positive Sache. Ansonsten gab es wirklich nichts Sensationelles. Die im Keller des Firmengebäudes „entdeckten“ 21 Tonnen Gold waren aus einem regulären Geschäft von KoKo als Liquiditätsreserve vorgesehen. Dieses Gold wurde in die Bestände der Staatsbank der DDR überführt, so wie es die Ordnung gebot. Ein Resümee von der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ seit dem Antritt Erich Honeckers: In den 17 Jahren bis 1989 hatte die DDR im Durchschnitt einen Leistungszuwachs von 2,3 Prozent erreicht. Das Wachstum des Nationaleinkommens betrug jährlich um 3 Prozent. Der Anteil der Akkumulation am Nationaleinkommen war von 29 Prozent im Jahre 1970 auf 21 Prozent im Jahr 1989 zurückgegangen, die Konsumtion war entsprechend gewachsen. Das war ein Tribut an das starke Wachstum der sozialen Leistungen – den Wohnungsbau, die „zweite Lohntüte“ usw. Natürlich ging das zu Lasten der Investitionen in der Industrie. Die „spitze Kritik“ an dieser Proportionsverschiebung ist falsch. Es war richtig und politisch notwendig, die gewachsene Wirtschaftskraft für mehr Wohnungsbau usw. zu nutzen. Falsch war die sture Fortführung der Preisstützungen in der Breite. Da gab es Möglichkeiten des Umsteuerns, die auch politisch vermittelbar waren. Was die Investitionen in der Industrie betrifft, so sind in den 1970er und 1980er Jahren viele große Modernisierungsvorhaben in der Industrie realisiert worden, wie z. B. 1980 das neue Elektrostahlwerk im Stahl- und Walzwerk Brandenburg. Dazu gehört auch das umstrittene Prestigevorhaben „Mikroelektronik“. 28 Insgesamt haben wir in den Jahren von 1971 bis 1989 trotz der Konjunkturflaute weltweit, auch in der BRD, unsere Volkswirtschaft auf Kurs gehalten. Für unseren wissenschaftlich-technischen Fortschritt wichtige und bedeutende Zweige, wie die Mikroelektronik, die Veredlungsmetallurgie und die Erdöl- und Erdgaschemie entwickelten sich respektabel. Die im Westen „belächelte“ mikroelektronische Industrie der DDR mit großen leistungsfähigen Betrieben in Dresden, Erfurt, Frankfurt/Oder, Freiberg/Sachsen usw. 26 Hans Modrow, Aufbruch und Ende, 2. Auflage, Hamburg 1991, S. 58, (i. F. z. a. Modrow, Aufbruch
und Ende). Wird auch „Schürer-Bericht“ genannt. 28 Hermann Leihkauf, DDR: Zum aktuellen Kampf um die Deutungshoheit über den ersten sozialistischen Staat auf deutschem Boden, Schkeuditz 2017. 27
177 produzierte Großrechner, Geldautomaten, Speichertechnik usw., die uns damals in der DDR und im RGW trotz Embargos ermöglichten, moderne Systeme der Steuerung und Information zu entwickeln. Die 1970er und die 1980er Jahre offenbarten immer mehr, dass wir an das Limit unserer Möglichkeiten stießen. Es wurde vieles mit dem uns eigenen – und nicht zu Unrecht bis heute gerühmten – Improvisationstalent, der gut entwickelten, unbürokratischen und kollegialen Hilfe unter „volkseigenen“ Betrieben gelöst. Aber das hatte auch Grenzen. Auf den Punkt gebracht: Es wurde viel geleistet, um das Erreichte zu bewahren, aber die Mängel und Reibungen waren spürbar, drückten auf die Stimmung, nährten Zweifel, ob und wie es auf Dauer weitergehen könnte. Die politische Führung blieb dabei, immer nur über Erfolge und Vorzüge unseres Wirtschaftens zu reden, nicht aber die Sorgen des Alltags. Angst vor Kritik, Scheu, auch vor Humor und Satire. „Wer sich nicht selbst zum Besten haben kann, das ist mir keiner von den Besten“, so rät uns Goethe. Das traf auch auf uns zu! Unter Genossen, im kleinen Kreis, in der Familie, da redete man Klartext, erzählte auch viele gute Witze über das Leben in der DDR. Ein probates Mittel der „Problemklärung“ war, dass man darauf hinwies, dass wir noch viele Reserven hätten und dass Leiter sich mehr anstrengen sollten. Tatsächlich aber waren unsere Pläne zum Teil nicht mit Rohstoffen und Material voll gedeckt, es fehlten Zulieferungen, wir ärgerten uns über die Umweltprobleme. Es hätte uns nicht geschadet, wenn wir ganz offen darüber informiert hätten. Ganz im Gegenteil – das hätte Einsicht und Mitdenken gefördert. Mit „wirtschaftlicher Öffnung“ hätten wir manche Lösung finden können. Beispielsweise durch die Zulassung ausländischer Beteiligungen, Joint Ventures mit Partnern, nicht vorrangig aus der BRD, sondern vielmehr aus Österreich, Frankreich, Japan usw., mit denen seit Jahren eine erfolgreiche Zusammenarbeit bestanden hatte. Unsere Kombinatsdirektoren hatten aufgrund ihrer guten Kontakte Ideen und Angebote. Man kannte die Fähigkeiten unserer Ingenieure und die Qualität und Solidität unserer Fertigung. Aber das Entscheidungsverfahren, um so ein Angebot zum Vertrag zu bringen, verlief über die „politische Führung“ in einem schwierigen Prozedere. Der normale Entscheidungsweg über Kombinat und Ministerium war nicht offen. Das „Regieren“ in der Wirtschaft hatte Honecker Günter Mittag überlassen. Konkret: Über dem Ministerrat und der Staatlichen Plankommission, wo diese Minister allesamt gute Fachleute ihres Ressorts waren, stand die Mittag´sche Wirtschaftskommission. Ein Bruch in unserer staatlichen Ordnung, aber geschuldet der „führenden Rolle der Partei“. Mittag hatte für Schwierigkeiten auch keine Lösungen parat. Seine „Art“ war es, Probleme als „subjektive Leitungsmängel und Versäumnisse“ zu deklarieren. Tatsächlich waren es gerade die Improvisationskünste der „Chefs“ im Verein mit einem gut aufgestellten ingenieurtechnischen und kaufmännischen Personal sowie guten Facharbeitern, die die Wirtschaft am Laufen hielt. Wenn gestandene Wirtschaftsfachleute wie Prof. Herbert Kroker sich zu den Sorgen äußerten, sich mit Mittag auseinandersetzten, wurden sie als „Meckerköppe“ betitelt oder gar
178 sofort abgelöst. 29 Die 1980er Jahre, die mit Solidarność in Polen begannen, die mit Reagan und dem NATODoppelbeschluss eine neue Zuspitzung des Kalten Krieges erfuhren, boten auch große Chancen. 30 Das haben die zahlreichen Vereinbarungen DDR/BRD und auch der wachsende Handel gezeigt. Durch Herbert Wehner 31 hatte Erich Honecker gute Kontakte zu Helmut Schmidt. Nach dem Wechsel war Kohl bereit, über Philipp Jenninger und Häber das Konzept „Länderspiel“ fortzusetzen. Erst recht war Strauß bemüht, politische und wirtschaftliche Fäden zu knüpfen. Schließlich gelang Honeckers Besuch in Bonn 1987 nach mehreren Anläufen und er bot an, die Möglichkeit einer „Verantwortungsgemeinschaft“ auf den Weg zu bringen. Begünstigt war das dadurch, dass sich mit Gorbatschow auch die sowjetische Haltung zur BRD und der deutschen Zukunft verändert hatte. Es lag in der Verantwortung Honeckers und der Parteiführung, diese Zeichen und Chancen für die Gestaltung einer Politik zu nutzen, die innere Spannungen abbaut. Das betraf vor allem den Umgang mit oppositionellen Gruppen, die Reisemöglichkeiten und die Kirchenpolitik. Natürlich auch Reformen in der Wirtschaftsleitung und Planung. Dazu war Honecker in seiner „patriarchalischen und selbstgefälligen Haltung“ nicht bereit, was von anderen alten Barden in der Parteiführung durch Duldung gefördert wurde. Damit ist die Erosion des Vertrauens in der und zur Partei immer mehr in Gang gekommen. Wir waren in der DDR mehrheitlich Bürger mit politischer Bildung, mit Gespür für die Realitäten im Lande und im Umfeld, die sich Gedanken und zunehmend Sorgen machten. Infolgedessen musste es zunehmend zu mehr Widerspruch kommen, wenn der mitdenkende Bürger jeden Tag in den Medien mit alten, überlebten Antworten und „politischen Phrasen“ abgespeist wurde. Aber es war so! Wir haben es hingenommen, wohl wissend, dass schon die eigenen Kinder dem nicht mehr fraglos folgen werden. So sind die 1980er Jahre zu einem Erosionsprozess unserer politischen Stabilität, der Kündigung des Vertrauens und der Treue vieler Bürger zu unserem Staat und nicht zuletzt auch zu einem allmählichen Zerfall unserer Sozialistischen Einheitspartei geworden. Immer mehr Leute aus allen Schichten, vor allem die Jugend, wollten raus. Auch Bürger mit guten beruflichen Positionen, insbesondere auch junge Familien in sicheren sozialen Verhältnissen, wollten das Land verlassen. Ein sicherer Arbeitsplatz, eine bezahlbare Wohnung usw. waren immer weniger Anker des Vertrauens zur DDR. Die Ausreiseanträge wuchsen und die Ablehnungsbescheide nahmen zu, mit schwerwiegenden Folgen für die Betroffenen, die Professor Herbert Kroker (24.8.1929 in Groß Merzdorf geboren) war Generaldirektor des Kombinates Umformtechnik und wurde 1983 von Mittag abgelöst. Danach als Werkleiter in das Feuerlöschgerätewerk Apolda tätig. Im Oktober 1989 wurde er Erster Sekretär der Bezirksleitung Erfurt der SED und leitete bis zum 8.12.1989 den zeitweiligen zentralen Arbeits-Ausschuss zur Vorbereitung des Parteitages. 30 Zur Vertiefung: Filip Ganczak, Polen geben wir nicht preis. Der Kampf der DDR-Führung gegen die Solidarność 1980/81, Paderborn 2020. 31 Herbert Wehner (1906–1990) war u. a. in der Zeit von 1966 bis 1969 Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen und bis 1983 Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion. 29
179 beschämend waren. Dass die Flucht aus der DDR in die BRD eine Sache von Journalisten, Geheimdiensten und einer ganzen Branche von „Schleusern“ und Geschäftemachern war, ist bekannt, was uns aber nicht freispricht. Eine Reiseregelung, wie sie im November 1989 in Kraft trat, wäre spätestens Mitte der 1980er Jahre durchaus möglich gewesen. Wer bei uns bzw. mit uns „nicht mehr leben wollte, sollte gehen dürfen“. Das war die mehrheitliche Meinung. In der DDR gab es offiziell keine Meinungsforschung, aber sie existierte de facto. Sowohl in der Partei und in den Forschungseinrichtungen wie im Institut für Jugendforschung in Leipzig 32 und natürlich auch durch das Ministerium für Staatssicherheit (MfS). Die Parteiführung wusste durch diese Berichte, wie die Akzeptanz ihres Agierens in der Bevölkerung und auch bei den Parteimitgliedern zunehmend in die Brüche ging. Die „alte Garde“ um Honecker mit beispielsweise Horst Sindermann, Willi Stoph, Werner Eberlein, Heinz Keßler, Alfred Neumann und weitere, ergab sich aber der Hoffnung des Machterhalts. Die Jüngeren wie Egon Krenz, Siegfried Lorenz usw. machten dabei mit. Später konnte man von führenden Genossen bittere Worte des Selbstzweifels hören. Warum haben wir das aber zugelassen und akzeptiert? Parteidisziplin, in Hoffnung erstarrt, der Führung trotz alledem vertrauend, eine strikte Disziplin und alle diese guten Eigenschaften kehrten sich in einer solcher Konfliktlage ins Negative, zum Schaden der Partei und Gesellschaft. Keiner wagte den Aufstand. Auch ich nicht! Spätestens in Vorbereitung der Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 bot sich die Chance eines offenen Dialoges über die Lage und Reformen. Da hätten wir vielleicht noch die Kraft gehabt, um einen solchen befreienden Dialog bis in jede Gemeinde anzugehen. Die Führung hatte trotz oder wegen der wohl bekannten problematischen Schieflage keinen Mut und kein Konzept. Stattdessen wurden die Wahlergebnisse, die eine überwiegende Zustimmung ausdrückten, vielerorts geschönt und nach oben korrigiert. Egon Krenz war als Wahlleiter einer der Verantwortlichen. Es hat seit 1990 viele Erklärungsversuche gegeben, warum die DDR, die seit 1949 trotz aller Attacken von außen und mancher Irrungen ein gut funktionierendes Gemeinwesen geworden war, in dem die Erträge der Wirtschaft dem Allgemeinwohl zugutekamen, aber Ende der 1980er Jahre so dramatisch ihren inneren Zusammenhalt verloren hatte und im Herbst 1989 beim Versuch, die Krise zu beenden, so kläglich scheiterte. Es kam am Ende vieles an inneren und äußeren Spannungen und Problemen zusammen. Die Partei versagte, als wir Klugheit und Kühnheit für ein Konzept für die Zukunft brauchten, dass den Bürgern Antworten gegeben hätte, um Mut aufzuzeigen, uns weiter zu vertrauen. Deshalb schließe ich mich bei der Beantwortung unserer Schicksalsfrage der Erklärung meines Weggefährten Siegfried Wenzel an. Er hatte als langjähriger „Spiritus Rector“ unserer volkswirtschaftlichen Planung und Bilanzierung wohl den solidesten Überblick und Das Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED wurde im Jahr 1951 gegründet und war eine Lehr- und Forschungseinrichtung der SED. Sie löste sich 1990 auf. Das Institut für Jugendforschung an der Universität Leipzig wurde 1966 gegründet und ebenfalls 1990 aufgelöst. Ein Forschungsschwerpunkt war zur soziologischen Entwicklung der Jugend ausgerichtet.
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180 somit eine zuverlässige Einschätzung unserer Möglichkeiten und Chancen am Ende der 1980er Jahre. In seinem Bestseller „Was war die DDR wert?“ beantwortete er eindeutig die Frage, ob es einen Ausweg im Hinblick auf die weltwirtschaftlichen Veränderungen der 1980er Jahre und die politischen Wandlungen in der UdSSR im Laufe der Perestroika, die die Partei- und Staatsführung der DDR übrigens für die eigene Entwicklung stets abgelehnt und auch in der UdSSR für falsch gehalten hatte: „Die DDR war nicht pleite, aber sie hatte keine Perspektive.“ Die DDR, das „ungeliebte Kind“, wie Beria 1953 formulierte, verlor mit dem Niedergang der UdSSR immer mehr an Bindung und Wertschätzung in Moskau. Auch der Zusammenhalt der „Bruderländer“ zerfiel. Jeder suchte seine Chancen. „Die sozialistische Familie“ war wirtschaftlich und auch militärisch am Ende. Die symbolische Öffnung des Stacheldrahtzaunes zwischen Ungarn und Österreich durch den ungarischen Ministerpräsidenten Guyla Horn und den österreichischen Außenminister Alois Mock am 27. Juni 1989 war das äußerliche Zeichen dafür, dass diese Gemeinschaft – entstanden aus den Folgen und Lehren des 2. Weltkrieges – zerbrochen war. 33 Die geostrategische Zielsetzung der USA, die einzige Weltmacht zu werden, schien aufzugehen. Erinnerungen an die letzten Monate der DDR: Der Herbst 1989 brachte schließlich die „parteiorthodoxe Obrigkeit“ ins Wanken und öffnete den Weg zu einer Erneuerung der DDR. Die politischen Veränderungen im Oktober 1989 waren das Resultat verschiedener politischer Kräfte und Ereignisse. Es gab seit langem Bürgerbewegungen für demokratische Rechte im Sinne der Helsinki Deklaration, 34 die Friedens- und Umweltbewegung der Evangelischen Kirchen mit engagierten Pastoren wie Rainer Eppelmann, Friedrich Schorlemmer 35 und dem Präsidenten der EKD in der DDR, Dr. Manfred Stolpe. Am 4. September 1989 begann die erste Montagsdemonstration mit Tausenden Bürgern in Leipzig und danach in vielen anderen Städten wie Arnstadt, Rostock, Dresden, Halle, Karl-Marx-Stadt, Magdeburg, Plauen. Der Ruf „Wir sind das Volk“ war die häufigste Losung. Die Parteiführung in Berlin und den Bezirken stellte sich nicht dem Dialog, antwortete mit Gewalt, betrachtete die Demonstranten als Feinde und gar als Konter-revolutionäre. Das ging bis in die erste Oktoberdekade. Sogar beim Republikgeburtstag, am 7. Oktober in Berlin, wurden zwischen Palast der Republik und Alexanderplatz Hinweis: Bereits am 2. Mai 1989 begannen ungarische Grenzsoldaten mit der Demontage des Grenzsignalzauns. An vier Grenzübergangsstellen zur Republik Österreich wurde jeweils ein Kilometer des Zauns, der selbst noch zweieinhalb Kilometer von der eigentlichen Grenzlinie entfernt lag, durchtrennt. 34 Am 1. August 1975 unterzeichneten die Staats- und Regierungschefs der 35 Teilnehmerstaaten in Helsinki die Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, KSZE. Seit 1995 Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, OSZE. 35 Friedrich Schorlemmer war Mitbegründer der Partei Demokratischer Aufbruch (DA) und wechselte im Dezember 1989 in die neugegründete Sozialdemokratischen Partei in der DDR (SDP) über. 33
181 Demonstranten von der Volkspolizei angegriffen, teils verhaftet, während Honecker und Gorbatschow im Palast der Republik Reden auf den 40. Jahrestag der DDR hielten. Am gleichen Tag ging es auch bei einer Demonstration in Plauen ähnlich gewalttätig zu. Auch in Dresden am 8. Oktober antwortete unsere Staatsmacht auf die Proteste mit Gewalt. Erstmalig am 9. Oktober gelang es in Leipzig, eine gewaltfreie Massendemonstration zu organisieren. Initiatoren waren sechs Persönlichkeiten der Stadt: Kurt Masur, der Gewandhauskapellmeister, Bernd-Lutz Lange, ein bekannter Kabarettist, und drei Sekretäre der SED-Bezirksleitung mit Kurt Meyer, Jochen Pommert, Roland Wötzel sowie der Universitätstheologe Peter Zimmermann. Kurt Masur verlas am Vorabend den „Aufruf der Sechs“ im Stadtfunk. Tausende Flugblätter wurden verteilt. Voraus gingen auch Aufrufe von Menschenrechtsgruppen, die in der Lukasgemeinde von Pfarrer Christoph Wonneberger unterstützt wurden. Die größte Demonstration fand am 4. November mit mehr als 500 000 Teilnehmern auf dem Berliner Alexanderplatz statt. Die Initiative dazu ging von einer Versammlung von etwa 800 Theaterleuten am 17. Oktober aus, die gegen die Gewalt der Staatsmacht bei der Demonstration am Tag der Republik protestierten. Sie stellten offiziell einen Antrag für diese Demonstration beim Magistrat und der Berliner Bezirksleitung der SED, entsprechend dem Versammlungsrecht der Verfassung der DDR der genehmigt wurde. Die Demonstration zum Alex und die Kundgebung waren von einer aufgewühlten, angespannten, jedoch durchweg friedlichen Atmosphäre getragen. Vom Podium sprachen 20 Persönlichkeiten sehr unterschiedlicher Herkunft – Schriftsteller wie Christa Wolf, Christoph Hein, Stefan Heym, der Dramatiker Heiner Müller, Bürgerrechtler wie Friedrich Schorlemmer, Jens Reich, Marianne Birthler und Künstler wie Jan Josef Liefers, Ullrich Mühe, Käthe Reichel, Steffi Spira, Marion van de Kamp, Johanna Schall sowie Professor Lothar Bisky und Politiker wie Günter Schabowski, Markus Wolf und Gregor Gysi. Die Redner sprachen über ihre persönliche Sicht auf den Verfall der Bürgerrechte, der Meinungsfreiheit und Entstellungen sozialistischer Ideale sowie die notwendige Erneuerung der DDR. Sie unterbreiteten dazu ihre Vorstellungen. Der Schriftsteller Stefan Heym sagte in seiner Rede: „[…] Es ist, als hätte einer die Tür aufgestoßen! Nach all den Jahren der Stagnation – der geistigen, wirtschaftlichen und politischen – den Jahren von Dumpfheit und Mief, von Phrasengewäsch und Bürokratie, Willkür, von Blindheit und Taubheit. […]“ Das kam aus der Seele eines Mannes, der vor den Nazis als Kommunist und Jude nach den USA geflüchtet war, als US-Offizier an der Befreiung teilgenommen hatte und der dann in der DDR wegen seiner kritischen Texte nicht mehr reden durfte und faktisch in seinem Haus eingesperrt war. Nach dieser Kundgebung – das spürte jeder von uns – musste endlich auch die Führung reagieren. Wir hatten diese historische Zusammenkunft Tausender, diese wirklich historische Willensäußerung am Fernseher mitverfolgt. Wir hatten Dienstbereitschaft, weil es vorher Ankündigungen eines Marsches auf das Brandenburger Tor gegeben hatte. Dazu kam es nicht! Die Veränderungen in der Parteiführung begannen am 17. Oktober. In der Sitzung des Politbüros legte Willi Stoph Erich Honecker seinen Rücktritt nahe. In der 9. Tagung des
182 ZK am 18. Oktober gab Honecker eine dementsprechende Erklärung ab. Auch Günter Mittag und Joachim Herrmann wurden aus der Parteiführung ausgeschlossen. Aus den Informationen, die über diese Beratungen existieren, wird deutlich, dass Einsichten, Befürchtungen und Selbstkritisches vorhanden waren, jedoch keine wirkliche Zustandsanalyse. In Bezug auf die Haltung der Mehrheit der ZK-Mitglieder urteilte Hans Modrow, dass sie diese Tagung als einen „Sieg“ aufgefasst und nicht begriffen hätte, dass mit dieser Halbherzigkeit schon der Boden für die baldige Auflösung des ZK gelegt wurde. 36 Am Abend des 18. Oktobers sprach Egon Krenz im Fernsehen der DDR: Er hielt die gleiche Rede: „Liebe Genossen ...“, die er vorher vor dem ZK Plenum gehalten hatte. Dabei sprach er von einer „Wende“ zu einer besseren, erneuerten DDR. Aber in der Wortwahl, in Gestik und Stil – wie bekannt und gehabt – verkündigte Krenz keine wirkliche Vertrauensbotschaft an die Menschen. Eine von Krenz nicht gelungene Ouvertüre! Egon Krenz blieb bei den bekannten „Mutmachern und Selbstzeugnissen“, was wir alles erreicht haben und wie stolz wir doch darauf sein könnten. Das war sicherlich gut gemeint, aber keine Antwort in dieser Schicksalsstunde. Krenz sprach davon, dass man „die Lage in den letzten Monaten nicht real eingeschätzt habe“, dabei vermied er es aber, deutlich auszusprechen, dass es um die Existenz der DDR ging, dass das Gelingen der „Wende“ in Politik und Gesellschaft über die Zukunft der DDR entschied. Aber er wurde zu spät ins „Rennen“ geschickt. Die Alten mit Stoph, Krolikowski, Sindermann, Hager, Mielke saßen alle noch in diesem Politbüro und dachten nicht ans Aufhören, sondern vielmehr ans Weitermachen. Krenz begann mit seiner Inventur. Von Gerhard Schürer und weiteren Ministern ließ er „ein ungeschminktes Bild“ der wirtschaftlichen Lage der DDR erarbeiten. Das Papier zeigte die Erfolge, vor allem aber die Probleme, speziell die Verbindlichkeiten der DDR auf und verwies auf notwendige Korrekturen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik hin. Insgesamt geriet die Zustandsanalyse – wie bereits erwähnt – zu pessimistisch. Krenz, kein Wirtschaftsfachmann, versuchte, eine Linie zur „Wende“ und Schadensbegrenzung zu finden. In den folgenden Aktivitäten wollte er Bonn und Moskau für eine Stabilisierung gewinnen. Die Erhaltung der „sozialistischen DDR“ hatte für ihn oberste Priorität. Am 26. Oktober telefonierten Krenz und Bundeskanzler Kohl das erste Mal miteinander. Man ging sehr freundlich miteinander um. Kohl wünschte Krenz „eine glückliche Hand und Erfolg“. Krenz sagte: „Ich habe von einer Wende gesprochen und meine das ernst!“ Kohl versicherte Krenz, dass er die Reden „mit großem Interesse gelesen“ habe und sich daran „viele Hoffnungen knüpfen“. Kohl sprach u. a. von „einer Neuregelung der Reisefreiheit, eine in Aussicht genommene Amnestie für Grenzverletzer, für die Botschaftsflüchtlinge, für die Demonstrationen und Festnahmen.“ Schließlich motivierte Kohl Krenz: „Wenn man hier, [...] mit Ihrem Namen einen großzügigen Schritt verbinden kann Gerhard Schürer, Persönliche Aufzeichnungen über die Sitzung des SED Politbüros am 17. Oktober 1989, siehe http://www.chronik-der-mauer.de/material/180976/gerhard-schuerer-persoenliche-aufzeichnungen-ueber-die-sitzung-des-sed-politbueros-am-17-oktober-1989 (letzter Zugriff 11.10.2019). Modrow, Aufbruch und Ende, Ebd., S. 20.
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183 [...] wird es eine ganz erhebliche Wirkung nicht nur hier haben, sondern ich bin sicher, auch in der DDR.“ Krenz, von diesen aufmunternden Worten Kohls erfreut und bestärkt, interpretierte zur Verdeutlichung: „[…] Wende bedeutet aber jedoch keinen Umbruch, da hoffe ich, stimmen Sie mit mir überein, dass eine sozialistische DDR auch im Interesse der Stabilität Europas ist.“ 37 Die Gesprächsausschnitte zeigen, das war eine naive Hoffnung von Krenz, die ich damals auch noch hatte, aber zugegeben Helmut Kohl, hatte schon ganz anderes im Blickfeld. Das Schlimme war, die täglichen Demonstrationen in der DDR mit Forderungen aller Art nagten weiter an der Stabilität unseres Staates. Am 3. November reisten wieder 6000 DDR-Bürger, die in die BRD-Botschaft in Prag geflüchtet waren, in die BRD – diesmal auf direktem Weg – aus. Am Abend des 3. Novembers trat Krenz abermals im Fernsehen und Rundfunk auf. Ein „Zurück gibt es nicht.“ Er kündigt ein Aktionsprogramm der SED an. Informiert über den Rücktritt weiterer Politbüromitglieder wie Hager, Mielke, Neumann und Axen. Krenz hat aber keine neuen Mitstreiter in der Parteiführung. Die Regierung von Stoph war zu diesem Zeitpunkt noch im Amt. Wann und mit wem sollte denn die Wende Veränderungen mit sich beginnen? Der erste am 6. November veröffentlichte Entwurf für das neue Reisegesetz fiel in der DDR-Bevölkerung glatt durch. Wieder viele „Bedingungen“, also ein engmaschiges Gebilde und nicht das erwartete „Reisen für Jedermann“. Ich gehörte damals zu jener Arbeitsgruppe im Innenministerium, die den Entwurf bearbeitete. Wir warteten auf neue „Vorgaben“. In den oberen Rängen der Partei und anderen Gremien – auch in der Bevölkerung – wurde über „neue Namen“ diskutiert. Die Zeit drängte, aber es gab keine Einigung über das „Wer und Wofür“. Hans Modrow, bekannt als kritischer Kopf, war als neuer Regierungschef im Gespräch, aber auch andere Personen. Beispielsweise Alexander SchalckGolodkowski, dem man vor allem zutraute, der DDR nach „außen“, West wie Ost, den notwendigen „Aufwind“ zu verschaffen. Als Krenz am 1. November in seiner neuen Rolle nach Moskau reiste, hatte er weder personell noch programmatisch wirklich „Neues“ anzubieten! Er traf in Moskau mit Gorbatschow und führenden Politikern zusammen. Die Berichterstattung über die Lage in der DDR, die Unruhen, die Forderungen, ergaben den Hinweis Gorbatschows: „Man muss verhindern, dass ein ‚Knäuel‘ von Problemen entsteht, dass nicht mehr entwirrt werden kann.“ Im Wesentlichen bewegte sich das Gespräch in der Erörterung der nächsten Schritte, die zu gehen seien, alles in epischer Breite, wie das von Gorbatschow bekannt ist. Er betonte auch, dass die „Existenz zweier deutscher Staaten“ auch weiterhin in Gesprächen mit Margaret Thatcher und François Mitterrand anerkannt sei und sie von der „Bewahrung der Nachkriegsrealitäten“ ausgehen. Krenz bat Gorbatschow und seine Führung um die weitere Unterstützung und erinnerte daran: „Die DDR ist ein Kind der UdSSR und diese muss ihre ‚Vaterschaft‘ anerkennen!“ Das zu tun, versicherte Gorbatschow, wie gewohnt. So flog Krenz mit „dem http://www.chronik-der-mauer.de/material/180976/gerhard-schuerer-persoenliche-aufzeichnungen-ueber-die-sitzung-des-sed-politbueros-am-17-oktober-1989 (letzter Zugriff 11.10.2019).
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184 Eindruck nach wie vor ehrlicher Freundschaft und Verbundenheit“ nach Hause. Was sich bald als Irrtum herausstellte. 38 Der nächste, längst fällige Schritt war der Rücktritt der Regierung Stoph am 7. November und der Rücktritt des Politbüros am 8. November. Es folgte die Einberufung des Zentralkomitees am 9. November, um ein neues Politbüro mit Egon Krenz als Generalsekretär an der Spitze zu wählen. Diese Tagung des ZK musste auch die Nachfolge für den Ministerpräsidenten entscheiden. Das ZK der SED fasste am 8. November 1989 einstimmig – wie gehabt – den Beschluss, Hans Modrow der Volkskammer zur Wahl als künftigen neuen Regierungschef vorzuschlagen. Hans Modrow – so berichtete er in seinem Buch „Aufbruch und Ende“ – zog eine wichtige Schlussfolgerung: „Wenn die Regierungsbildung wirklich eine Chance haben sollte, dann sollte sie nicht wie bisher ausschließlich von unserer Partei nominiert werden, sondern musste eine ‚Regierung der großen Koalition aller Parteien‘ sein. Dem folgend suchte Hans Modrow das gemeinsame Gespräch nicht nur mit dem Generalsekretär der SED Egon Krenz, sondern auch mit den Vorsitzenden der anderen Parteien, Lothar de Maizière von der „Christlich Demokratischen Union Deutschlands“ (CDU), mit Manfred Gerlach von der „Liberal Demokratischen Partei Deutschlands“ (LDPD), mit Günter Hartmann von der „National Demokratischen Partei Deutschlands“ (NDPD) und mit Günther Maleuda von der „Demokratischen Bauernpartei Deutschlands“ (DBD). 39 Zunächst war in dieser Runde der nächste Schritt, die Abberufung Honeckers als Staatsratsvorsitzenden sowie die Abberufung Horst Sindermann als Präsident der Volkskammer vorzubereiten. Dies geschah in der nächsten 10. Tagung der Volkskammer der DDR am 13. November. In dieser Tagung wurde auch die am 7. November zurückgetretene Regierung von Ministerpräsidenten Willi Stoph offiziell abberufen. Dies geschah mit einer Befragung der Minister durch die Abgeordneten – ohne irgendwelche Tabus – ein erstmaliger Vorgang in unserer obersten Volksvertretung. Von Abgeordneten wurden die „außenwirtschaftlichen Verbindlichkeiten“ hinterfragt und auch die „Ausgeglichenheit des Staatshaushaltes“ in Zweifel gezogen. Unser Minister Ernst Höfner geriet schlecht vorbereitet unbegründet in Erklärungsnot. Auch zum Bereich „KoKo“ wurden Fragen gestellt. Der zu seinem Gewaltmissbrauch befragte Erich Mielke stotterte in abgehackten Sätzen: „[…] Ich liebe – ich liebe doch alle – alle Menschen – Na, ich liebe doch – ich setzte mich doch dafür ein! […]“ Auch Willi Stoph und Horst Sindermann waren in ihrer Selbstkritik sehr zurückhaltend. Wenige Tage vor dieser denkwürdigen Volkskammertagung fand die spontane „Maueröffnung“ statt. Am 9. November hatte unsere Arbeitsgruppe im Innenministerium endlich „grünes Licht“ für eine Reiseverordnung „ohne einschränkende Bedingungen“ erarbeitet. Die Verordnung gestand den Bürgern der DDR zu, „Reisen in das Ausland ohne Vorliegen besonderer Bedingungen“ beantragen zu können. Wir hatten unsere Arbeit http://www.chronik-der-mauer.de/system/files/dokument_pdf/58633_cdm-891101-krenzgorbatschow.pdf (letzter Zugriff 28.2.2021). 39 Modrow, Aufbruch und Ende, Ebd., S. 28. 38
185 gegen Mittag abgeschlossen. Dem alten Ritus folgend ging diese Reiseverordnung zuerst an Egon Krenz, der in der gerade laufenden ZK-Tagung agierte, um die Zustimmung des Politbüros einzuholen. Diese erfolgte in einer „Rauchpause“ gegen Mittag. Danach wurde der Entwurf der Rechtsabteilung des Ministerrates zugeleitet, die in der Folge alles präzise entsprechend den Regeln erledigte. Noch amtierte die Regierung Stoph und alle Minister mussten nach der geltenden Ordnung, in diesem Fall im sogenannten Umlaufverfahren, zustimmen. Auch das wurde in gewohnter Weise erledigt. Nun war von den zuständigen Ministerien die entsprechende „Einweisung“ aller Dienststellen, vor allem an den Grenzübergängen, zu organisieren, damit die Inkraftsetzung „am 10. November ab 10 Uhr“ funktionieren konnte. Bis dahin war diese Reiseregelung ein „internes Dokument“ und somit noch nicht in Kraft. Wie bekannt, wurde diese Grenzordnung aber in der Pressekonferenz, die eigentlich nur die Neuigkeiten aus der ZK Tagung vermitteln sollte, mit Schabowskis „Auskunft nach dem von Krenz diktierten Zettel“ völlig ins Chaos gestürzt. Statt Zurückhaltung und Rückversicherung redete Schabowski einfach drauf los. Seine schnoddrige, verantwortungslose Art hat die spontane Grenzöffnung in der Nacht bewirkt, die nur der besonnenen Haltung und Reaktion der Offiziere und Soldaten unserer Grenztruppen und des Zolls nicht zu blutigen Ereignissen führte. In dieser Nacht sah die Welt über die Medien verbreitet, in welchem anarchischen Zustand sich die Staatsmacht in unserer DDR befindet. Krenz und Schabowski hatten uns vor aller Welt blamiert. Die Grenze, der Schutzschild zum Westen, die dort unter großen Opfern 40 Jahre gehütete Ordnung war mit einem „Zettel“ und einer „falschen Ansage“ vor laufenden Kameras der Weltmedien ein „Nichts“. Es ist durch viele Fakten belegt, dass in dieser Nacht alle unsere Widersacher begriffen, dass unsere DDR am Ende ist. Wer diesen fast 30 Jahre mit unsagbar politischem, humanitärem und wirtschaftlichem Einsatz gehüteten „Schutzwall“ so leichtfertig preisgibt, stellt sich damit vor aller Welt ein Zeugnis der Unfähigkeit aus und wird von Niemandem mehr ernst genommen. Die nun wie vor dem 13. August 1961 faktisch wieder durchlässige Grenze, bald wurde auch der visafreie Verkehr für alle Bundesbürger eingeführt, bedeutete, dass Bundesbürger wieder bei uns billig einkaufen und in Gaststätten preiswert speisen konnten. Das umso mehr, als wir innerhalb von etwa 4 Wochen über hundert zusätzliche Grenzübergangsstellen zur BRD geöffnet haben. Die Zeche dafür zahlten wieder wir. Unser Staatshaushalt hatte dafür Ausgaben in Millionen, die Regale in den grenznahen Läden und Gaststätten mussten laufend aufgefüllt werden. Der Handel mit der Mark der DDR boomte, die Kurse kletterten auf neue Höhenrekorde, teilweise zwischen „1:6“ bis „1:10“. Das wurde auch durch zahlreich reisende DDR-Bürger, vor allem aber auch durch die „übersiedelnden“ Bürger mit verursacht. Man musste kein Ökonom sein, um zu erahnen, wie eine solche Entwicklung an der wirtschaftlichen Substanz eines Staates zehrte. Am 9. November hatte Helmut Kohl einen mehrtägigen Staatsbesuch in der Volks-republik Polen begonnen. Die Nachricht vom „Mauerfall“ erreichte ihn am Abend in seinem Hotel. Er war also gerade „am falschen Platz“ und auch am nächsten Tag mit einer
186 Kranzniederlegung im Warschauer Ghetto gebunden. Der Bundeskanzler erkannte den historischen Augenblick und ergriff „seine Chance“. Kohl eilte am 10. November nach Westberlin, wo vor dem Schöneberger Rathaus am Abend vor etwa 20 000 West- und Ost-Berlinern eine Kundgebung stattfand, wo er, zusammen mit Willy Brandt und dem Regierenden Bürgermeister Walter Momper, sprach. Kohl verkündete: „Ich appelliere an die Verantwortlichen in der DDR. Verzichten Sie jetzt auf ihr Machtmonopol!“ Das war eindeutig. Willy Brandt, der 1961 als Regierender Bürgermeister von Berlin-West den Mauerbau miterlebt hatte, rief der Menge das folgende Bekenntnis zu: „Aus dem Krieg und aus der Veruneinigung der Siegermächte erwuchs die Spaltung Europas, Deutschlands in Berlin. Jetzt erleben wir, dass die Teile Europas wieder zusammenwachsen!“ 40 Damit hatten beide Politiker an die Adresse unserer Führung und natürlich auch aller unserer Bürger gesagt, wie die Entwicklung weitergehen wird. Wenige Tage später, am 17. November, wurde Hans Modrow in der Volkskammer zum neuen Ministerpräsidenten gewählt. Modrow hatte mit den Vorsitzenden der anderen Parteien der DDR vertrauensvoll darüber beraten, wie die neue Regierung zusammengesetzt sein sollte. Natürlich sollte mit erfahrenen Persönlichkeiten die Stabilität der Regierung gewahrt werden, zugleich sollten neue politische Kräfte aus den anderen Parteien in der Regierung vertreten sein. Es sollte eine „Koalitionsregierung“ sein, die ihre Rolle als eine Übergangsregierung bis zu Neuwahlen erfüllt. Damit wurde das „Machtmonopol der SED“ faktisch aufgegeben. Die CDU hatte ihren neugewählten Vorsitzenden Lothar de Maizière als Stellvertretenden Ministerpräsidenten vorgeschlagen und übernahm zwei weitere Ministerposten. Die Liberaldemokratische Partei nominierte Dr. Peter Moreth als Stellvertreter des Ministerpräsidenten und zugleich für die Aufgabe des Ministers für die Anleitung und Unterstützung der örtlichen staatlichen Organe sowie drei weitere Minister. Die Demokratische Bauernpartei übernahm mit Dr. Hans Watzek das Landwirtschaftsressort. Die SED nominierte die Rektorin der Hochschule für Ökonomie, Prof. Dr. Christa Luft, als Stellvertreterin des Ministerpräsidenten für Wirtschaftsfragen. Sie besetzte weitere Ministerposten in Wirtschaftsministerien, das Finanzministerium mit Uta Nickel (die jedoch alsbald ihr Amt niederlegte), das Ministerium für Arbeit und Löhne mit Hannelore Mensch. Die Tagung der Volkskammer am 17. November, in der die neue Regierung vorgestellt und gewählt wurde, war endlich ein für alle wahrnehmbares Ereignis der „Wende“ und eines „Neubeginns“. In seiner Regierungserklärung hat Modrow ein Programm entwickelt, dass sich auf eine Einschätzung der Situation und die Benennung des Notwendigen stützte: „Der Erneuerungsprozess der sozialistischen Gesellschaft verlangt die Reform des politischen Systems. Darin sind sich Parteien, Massenorganisationen, Kirchen und neue Bürgerinitiativen einig. Grundanliegen ist eine neue sozialistische Gesellschaft, in der die Bürger ihre Hoffnungen und ihre Selbstbestimmung verwirklichen können. Sie erwarten mit Recht, dass der sozialistische Staat sie nicht verwaltet, sondern ihnen dient. https://www.berlin-mauer.de/videos/willy-brandt-am-rathaus-schoeneberg-727/ (letzter Zugriff 11.10.2019).
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187 Dieser Staat muss die sich vollziehenden demokratischen Umwälzungen fördern und zugleich das friedliche Zusammenleben und die ungestörte Arbeit sowie die Rechte und Würde der Bürger schützen.“ 41 Das war der politische Kern der „Wende“, einer längst fälligen Neuorientierung unserer staatlichen Arbeit. Diese Rede war befreiend, anspornend und eine Hoffnung für alle, die uns noch Glauben und Vertrauen schenken wollten. In Bezug auf das Verhältnis beider deutscher Staaten formulierte Modrow, „dass die Verantwortungsgemeinschaft beider deutscher Staaten durch eine Vertragsgemeinschaft“ untersetzt werden sollte, wodurch „beide deutsche Staaten und ihre Beziehungen wichtige Pfeiler für den Bau und die Ausgestaltung des gemeinsamen europäischen Hauses“ werden sollten. Damit verdeutlichte Modrow, dass beide deutsche Staaten mit ihren unterschiedlichen politischen Systemen in das vereinigte Europa gehen können. Damit wollte er Forderungen nach einer Vereinigung bei uns und aus Bonn begegnen und stützte sich dabei auf das bekannte Interesse Frankreichs und Großbritanniens kein neues „Großdeutschland“ entstehen zu lassen, wie es François Mitterrand und Margaret Thatcher schon bald zum Ausdruck brachten. Nach diesem bedeutenden Tag sollten möglichst rasch Taten folgen. Alle, die wir an der Seite von Modrow in Regierungsverantwortung standen, hatten die bitteren Erfahrungen des Niedergangs unserer Ideale machen müssen. Wir waren bereit, uns mit aller Kraft, Erfahrung und neuen Ideen in die Erfüllung dieses Regierungsprogramms einzubringen. Im Finanzministerium, das nun auch für die Preise zuständig war, ging es vor allem darum, den Staatshaushalt stabil zu halten und alle Verpflichtungen bis zu den Gemeinden und örtlichen sozialen Einrichtungen zu gewährleisten. Die Staatseinnahmen aus den volkseigenen Betrieben und Kombinaten waren stabil. Aber durch die Probleme vor Ort gab es Ausfälle. Es musste auch über die Konsequenzen für die Gestaltung der Haushaltsbeziehungen der Kombinate und Betriebe nachgedacht werden, die sich im Zusammenhang mit der beabsichtigten größeren Eigenverantwortung ergeben. Auch die Regelung der Beteiligungen „Joint Venture“ stand auf der Tagesordnung. Bei den Konsumgüterpreisen war über den Abbau der Stützungen nachzudenken. Das war ein politisch diffiziles Terrain, denn wer wollte in der aufgewühlten Stimmung schon Preiserhöhungen riskieren. So blieb es nach vielen Modellrechnungen mit entsprechenden Einkommensausgleichen bei Renten, Kindergeld usw. nur bei einer Reduzierung der Stützungen bei Kinderbekleidung mit entsprechender Erhöhung des Kindergeldes. Viel Zeit und Sorgfalt erforderte die Entgegennahme und Bearbeitung von Eingaben der Bürger. Da waren viele Vorschläge, wie man dies und jenes ändern könnte bei Mieten, bei der Besteuerung und bei den Preisen. Auch manche der 1972 verstaatlichten Unternehmer meldeten sich zu Wort und drängten auf die Rückgabe ihrer Betriebe. Schließlich kamen auch Besucher aus der BRD und dem Ausland, die uns Angebote verschiedenster Art unterbreiteten. Ich selbst bekam von vielen Gesprächspartnern aus Banken und von Firmen diverse 41
Regierungserklärung in: Dürkop/Gehler, In Verantwortung, Ebd., S. 493 ff.
188 Angebote. Dabei war zu sondieren, was uns nützlich sein könnte. Die Presse veröffentlichte tägliche Enthüllungen über Amtsmissbrauch und Korruption von Funktionären der SED und des Staates. Die Staatliche Finanzrevision hatte damit vollauf zu tun. Volkseigentum, also Geld, Material, Bauleistungen volkseigener Betriebe hatten immer bei einigen „Typen“ Begehrlichkeiten geweckt, die darüber illegal verfügten oder die Lücken in der Kontrolle ausnutzten. Drei Tage nach der Regierungsbildung, am 20. November, trafen sich Krenz und Modrow mit dem Kanzleramtsminister der BRD Rudolf Seiters. In diesem Gespräch ging es darum, einen Besuch von Helmut Kohl in der DDR vorzubereiten sowie über die Standpunkte zur weiteren Entwicklung der Beziehungen zwischen DDR und BRD zu informieren. Unsere Repräsentanten waren bemüht, dem Bundesminister die auf der Tagesordnung stehenden Veränderungen der Politik der DDR nach der Wende überzeugend darzulegen. Sie machten aber auch geltend, dass die DDR Verständnis, Toleranz und auch Unterstützung der BRD brauchte. Es wurden unsererseits eine ganze Reihe Fragen berührt, bei denen die DDR das Entgegenkommen der Bundesregierung auch in finanzieller Hinsicht erwartete. Bei diesem Punkt war in der Antwort von Seiters erkennbar, dass die Bundesregierung „kurztreten“ wollte, weil sie nach den Aufwendungen, z. B. für das etwa 1,5 Milliarden DM jährlich betragende Begrüßungsgeld und andere Lasten durch die Übersiedler aus der DDR bei der „Akzeptanz“ in der eigenen Bevölkerung an Grenzen stoßen würde. Hans Modrow brachte auch die Frage des „sich anhäufenden DDR-Geldes in der BRD“ ins Gespräch, das man unter Kontrolle bringen sollte. Dazu sollten die Staatsbank der DDR und die Deutsche Bundesbank Gespräche führen. 42 Am 28. November hielt Bundeskanzler Helmut Kohl vor dem Bundestag seine programmatische Rede, wie er sich den weiteren Weg in der deutschen Frage vorstellte. Er hatte diese Rede und ihren weitreichenden Inhalt mehr oder weniger nur mit seinen engsten Vertrauten, vor allem dem Beauftragten für die Deutschlandpolitik Horst Teltschik, vorbereitet. Seine Koalitionspartner und auch die westlichen Verbündeten hatte er nicht über sein Vorgehen informiert. Der Kern seiner Ausführungen war ein „Stufenplan zur Vereinigung Deutschlands und Europas“, der als „Wegmarke für die deutsche Wiedervereinigung gilt“. 43 Das Wort „Wiedervereinigung“ wurde von ihm vermieden. Kohl machte aber im Punkt 10 – deutsche Einheit – klar, dass „die Wiedergewinnung der Einheit Deutschlands das politische Ziel der Bundesregierung“ bleibt. In den Punkten 4 und 5 war er faktisch auf Modrows Regierungserklärung eingegangen und hatte den weiteren Weg der Zusammenarbeit der beiden deutschen Staaten durch eine „Vertragsgemeinschaft“ und später „die Schaffung konföderativer Strukturen“ vorgeschlagen. Das sollte in einem Zeitraum von 4 bis 5 Jahren erfolgen. Als Kohl seine Rede beendet hatte, rief ihm Genscher zu „[...] 42 Detlef Nakath und Gerd-Rüdiger Stephan, Countdown zur deutschen Einheit, Berlin 1996, S. 242,
(i. F. z. a. Nakath/Stephan, Countdown). Vgl. https://www.chronik-der-mauer.de/material/180402/rede-von-bundeskanzler-helmutkohl-im-bundestag-10-punkte-programm-28-november-1989 (letzter Zugriff 1.1.2021).
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189 das war eine große Rede, Helmut!“ Mit Theo Waigel, dem CSU-Vorsitzenden, hatte Kohl sein Programm vorher im Detail abgesprochen. Theo Waigel sagte am 11. Dezember in München auf einer Sitzung des CSU-Landesvorstandes: „Der Kanzler hat das Gesetz des Handelns in die Hand genommen.“ 44 Die Reaktion der westlichen Verbündeten – außer James Baker, den Kohl vorher informiert hatte – war kritisch bis empört. In Paris und London fühlte man sich nicht nur übergangen, sondern wollte zu dieser Zeit auch noch keine Ideen in Richtung Wiedervereinigung unterstützen. In Moskau hatte sich Teltschik vorher „intern“ beraten und von Nikolai Sergejewitsch Portugalow eine Bereitschaft für eine „Wiedervereinigung“ gefunden. Es sei angemerkt, dass die „Wiedervereinigung“ nach den sog. Ostverträgen, Helsinki und KSZE in den 1970er Jahren, in der BRD weder bei den Regierenden noch beim Bürger als Nahziel galt. Die beiden deutschen Staaten hatten in Verträgen das Mögliche geregelt. Kohl und noch mehr Strauß sahen das Miteinanderreden und das Erreichen von politisch wie kommerziell nützlichen Verträgen als „Modus Vivendi“ an. Speziell Franz Joseph Strauß hatte mit seinen speziellen Kontakten – auch zu Erich Honecker persönlich – ein eigenes politisches und wirtschaftliches Spielfeld geschaffen, mit dem er mit seiner „Ostpolitik“ an Kohl vorbei wirkte, die für ihn und seine „Spezies“ sehr ergiebig war. Schäuble sagte 1987 „[...] die Überwindung der Teilung Deutschlands als Bestandteil der europäischen Teilung [...] steht auf absehbare Zeit nicht auf der Tagesordnung.“ Bei alledem spielte auch eine Rolle, dass die BRD-Bürger um den Erhalt ihres Wohlstandes sehr besorgt waren und die „armen Brüder und Schwestern im Osten“, wenn sie denn dazu kämen, diesen „Wohlstand“ gefährden könnten. Nun war aber die Chance zur „Wiedervereinigung“ und das damit verbundene „Bonuspotential“ für die nächste Bundestagswahl von Kohl offenbar entdeckt worden. Er hatte 1989 in und mit der CDU nicht die besten Chancen, der nächste Wahlsieger zu sein. Aber das sollte sich ändern. Am 13. November waren in Leipzig schon bei den Montagsdemonstrationen Forderungen nach einem „vereinigten Deutschland“ aufgetaucht. Das hatte die BRD-Elite sehr wohl registriert. Am 26. November war in Berlin ein Aufruf „Für unser Land“ von der Schriftstellerin Christa Wolf verfasst worden, der am 28. November in einer Pressekonferenz in Berlin veröffentlicht wurde. Die Initiatoren des Aufrufs, Künstler, Wissenschaftler, Bürgermeister, Kirchenvertreter, Betriebsdirektoren und Bürgerrechtler befürchteten eine politische und wirtschaftliche Vereinnahmung der DDR und wandten sich gegen eine Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten und auch gegen die zunächst geplante Konföderation der DDR mit der Bundesrepublik. In dem Aufruf stand der ultimative Satz: „[…] Noch haben wir die Chance, in gleichberechtigter Nachbarschaft zu den Staaten Europas eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik zu entwickeln. Noch können wir uns besinnen auf die antifaschistischen und humanistischen Ideale, von denen wir einst ausgegangen sind. […]“ In den ersten zwei Wochen haben mehr als 200 000 Personen den 44
Waigel/Schell, Tage, die Deutschland und die Welt veränderten, Ebd., S.11.
190 Aufruf unterzeichnet. Darunter auch Lothar de Maizière, der spätere letzte Ministerpräsident der DDR. 45 Nach dem Ende der Aktion am 19. Januar 1990 wurden etwa 1,17 Millionen Zustimmungen gezählt. 46 Es war ein auch international sehr beachteter Versuch den Abwärtsgang abzubremsen, aufzurütteln und vor falschen „Propheten“ zu warnen. Derweil ging die Krise in der DDR weiter. Vor dem SED Zentralkomitee-Gebäude demonstrierten Bürger, darunter viele Genossen, die aufgrund der bekannt gewordenen Wahlfälschungen einforderten, dass diese Vergehen des Amtsmissbrauchs von führenden Genossen geahndet werden. Auch ein außerordentlicher Parteitag sollte einberufen werden. Am 3. Dezember 1989 begann die 12. „außerordentliche“ Tagung des Zentralkomitees der SED – es sollte die letzte Tagung werden. Die Tagung musste sich mit den Anschuldigungen gegen führende Genossen wie Stoph, Milke, Krolikowski u. a. befassen. Auch die gerade bekannt gewordene Flucht des ZK-Mitgliedes und KoKo-Chefs Alexander SchalckGolodkowski stand zur Debatte, weil sie möglicherweise Modrow, der ihn als Unterhändler mit Seiters genutzt hatte, in Schwierigkeiten bringen könnte. Auch aus den Bezirken kamen schlechte Nachrichten, weil Bezirkssekretäre unter dem Druck von Beschuldigungen zurückgetreten waren. Die Zentrale Parteikontrollkommission, die nun von Werner Eberlein geleitet werden sollte, erhielt den Auftrag, notwendige Untersuchungen einzuleiten. Insgesamt offenbarten sich in den Debatten die Ratlosigkeit, die Illusionen und Fehleinschätzungen der führenden Genossen. Es rächte sich nun, dass auch im ZK immer nur „brave“ Reden gehalten wurden, die Genossen nicht wirklich die Führungsfragen debattiert hatten, kopflos auf die Wahrheiten und Konflikte reagierten und faktisch in Resignation verfielen. Schließich traten Egon Krenz und das Politbüro zurück. Für den 16./17. Dezember wurde ein außerordentlicher Parteitag einberufen. Die Vorbereitung übernahm ein Arbeitsausschuss unter Leitung des 1. Sekretärs der Bezirksleitung Erfurt, Prof. Dr. Herbert Kroker. Für den 7. Dezember bekam unsere Ministerin für Finanzen eine Einladung zum „Zentralen Runden Tisch“, die sie aber nicht wahrnahm. Die Bürgerbewegung hatte im Zusammenhang mit den Demonstrationen, ihren Forderungen an die Regierenden, Formen der Beratung und des „Mitregierens“ mit dem sog. „Runden Tische“ gefunden. Dort, wo sich Bürger und Vertreter der Staatsorgane trafen, ein Forum der Bürgerdemokratie. In Berlin hatte der Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR die Initiative ergriffen und gemeinsam mit der Berliner Bischofskonferenz der römisch-katholischen Kirche und weiteren Kirchenleitungen eine solche Beratung im Dietrich-Bonhoeffer-Haus in Berlin einberufen. Ich habe unser Ministerium dort vertreten. Nach einem Zeitplan geordnet saßen an der Stirnseite des Raumes Regierungsvertreter etwa 20 Vertreter von Bürgerbewegungen wie dem Neuen Forum, neue Parteien wie die ostdeutsche SPD und Gesandte der Alt-Parteien und Massenorganisationen der DDR gegenüber. Die Leitung und Moderation hatten Oberkirchenrat Martin Ziegler, Monsignore Dr. KarlEbenfalls unterschrieben u. a. von Egon Krenz, Wolfgang Berghofer, Hans Modrow, Friedrich Schorlemmer, Ulrike Poppe. 46 Es gab über 9 200 Ablehnungen. 45
191 Heinz Ducke und Pastor Martin Lange. Bei der Eröffnung erklärte Martin Ziegler: „Wichtig ist uns, dass alle politischen Kräfte unseres Landes die Möglichkeit erhalten, gleichberechtigt und gleichverpflichtet mitzuarbeiten an der Bewältigung grundlegender Fragen der gesellschaftlichen Erneuerung. Die Zeit drängt.“ Mein Auftritt vor diesem Gremium hatte zum Inhalt, die Lage der Staatsfinanzen der DDR darzulegen und Fragen zu beantworten. Die Debatte geriet rasch in Turbulenzen. Warum? Neben sachlichem Diskurs gab es auch aggressive Fragesteller. Wir hatten manches aufzuklären, was bislang „geheim“ war. Ich bekenne, dass ich erst eine Einlaufphase benötigte, um dieser hitzigen Atmosphäre der Sache gerecht zu werden. Am Ende des etwa zweistündigen „Verhörs“ war manches geklärt, viele Fragen noch offengeblieben, sodass ich bald wieder Gast war. Ich fand dort überwiegend Leute vor, die sich Sorgen um unser Land machten, die an einer Erneuerung interessiert waren, dazu ihre unterschiedlichen Vorstellungen hatten. Sie wollten, dass wir Wege finden, um unsere Eigenständigkeit zu erhalten. Ich spürte: Es sind „Kinder der DDR“, die wussten, was zu „verlieren“ war, wenn … Es gab aber auch Versuche, das Forum für eine Abrechnung mit dem „SED Regime“ zu nutzen und unerfüllbare Forderungen zu stellen. Manches war auch „ferngesteuert“, denn die Westparteien CDU, FDP und auch SPD „kümmerten“ sich nun um ihre neuen Parteifreunde im Osten. Überwiegend war der „Runde Tisch“ in Berlin und anderswo ein Forum, eine Kraft für die Erneuerung. Aber kein Ersatz für eine Neuwahl der Volksvertretungen, zentral und in den Ländern. In der Sitzung am 7. Dezember hatte sich der Runde Tisch mit den Regierungsvertretern dazu verständigt, die Neuwahl der Volkskammer und der kommunalen Volksvertretungen auf den 6. Mai 1990 zu terminieren. Unsere Regierung hielt es für wichtig, mit dem Runden Tisch ein Verhältnis des Vertrauens und der Zusammenarbeit herzustellen. Nur im Dialog konnte man sich annähern. Wir brauchten die Meinung, den Rat und wir suchen den Rat dieses Forums. Am 11. Januar 1990 unterbreitete Modrow in der Volkskammer den Vorschlag, die Zusammenarbeit der Regierung mit dem Runden Tisch konstruktiver zu machen. Es sollten von dort Vorschläge für das beabsichtigte Treffen mit Bundeskanzler Kohl gemacht werden und kompetente Persönlichkeiten sollten für die Mitarbeit in der Regierung vorgeschlagen werden. Es war eine schwierige Geburt, aber im Februar 1990 wurde unsere Regierung um acht Minister – Persönlichkeiten vom Runden Tisch – erweitert. Modrow nannte sie eine „Regierung der Nationalen Verantwortung“. Es wurde viel Konstruktives von diesen neuen Regierungsmitgliedern beigetragen. Der Kirchenhistoriker Wolfgang Uhlmann trug maßgeblich zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung bei. Walter Romberg, Mathematiker aus der Akademie der Wissenschaften, übernahm im Februar 1990 die Leitung für unsere Verhandlungsdelegation für die Währungsunion. Insgesamt muss ich diese in etwa drei Monaten geleistete Zusammenarbeit von Regierung und „Rundem Tisch“ als einen gelungenen Versuch der Konfliktbewältigung und Vertrauensbildung in der Endphase unserer DDR bewerten. Es war aber zu spät. Aber,
192 dass es dazu kam, diese Brücke zur Bürgerbewegung, zu oppositionellen Kräften aufzubauen, auch mit der versöhnenden Autorität der Kirchen, beweist, dass wir es konnten. Das heißt, wir hatten die Persönlichkeiten und das politische Geschick für eine bürgernahe Politik, für ein breites Bündnis, wie es schon Anfang der 1980er Jahre nötig und möglich gewesen wäre. Damals wollte die Partei Andersdenkern nicht zuhören und argumentierte: „Wer nicht für uns ist, der ist unser Gegner.“ Auf der internationalen Bühne war inzwischen das neue Zeitalter eingeleitet worden. Am 2./3. Dezember 1989 trafen sich die beiden „Supermächte“ USA und UdSSR, Präsident George H. W. Bush und KPdSUGeneralsekretär Michail Gorbatschow an historischer Stelle Maltas auf dem sowjetischen Kreuzfahrtschiff „Maxim Gorki“. Man kann das Wesentliche des Treffens so zusammenfassen: Es wurde eine Art Bestandsaufnahme der Veränderungen in Mittel- und Osteuropa vorgenommen und eingeschätzt, dass die Länder des Ostblocks sich nun für eigene demokratische Wege entschieden haben, die Sowjetunion sich selbst verändert und ihre dominante Rolle aufgibt und somit das Ende des „Kalten Krieges“ gekommen sei. Es könne somit zwischen den beiden Großmächten eine Zeit der friedlichen Zusammenarbeit beginnen. Gorbatschow sagte in der gemeinsamen Pressekonferenz: „Die Welt verlässt eine Epoche und betritt eine andere. Wir befinden uns am Anfang eines langen Weges in eine neue friedliche Ära. Gewaltandrohung, Misstrauen, psychischer und ideologischer Kampf sollten der Vergangenheit angehören.“ George H. W. Bush sagte: „Wir können einen dauerhaften Frieden verwirklichen und die Ost-West-Beziehungen in eine dauerhafte Zusammenarbeit umwandeln.“ Welch ein Segen für die Menschheit, wenn das so wahr geworden wäre. Jedoch ist kaum anzunehmen, dass George H. W. Bush an diesem Tag das Ziel der USA vergessen hätte: Nach dem schon absehbaren Zerfall der UdSSR, die einzige Weltmacht zu werden. Natürlich wusste er, dass die UdSSR politisch und wirtschaftlich am Limit war. Zu den Ergebnissen von Malta gehörte wohl auch, dass Gorbatschow Bush Bereitschaft „in der deutschen Frage“ signalisierte. Zum Thema Medien: Die Ausreisewelle ging im Dezember weiter und es fehlten bald überall Leute am Arbeitsplatz. Die Medien der BRD, aber auch in der DDR, „trieben jeden Tag eine andere Sau durchs Dorf“. Es gab Stoff genug. Unsere „gesteuerte Information“ hatte so manches ausgespart. Unsere Presse holte Versäumtes nach. Zugleich feuerte die BRD-Presse nun mit Genuss auf all das, was der politische Umbruch und die Krisensituation jeden Tag Neues bot. Die Staatssicherheitsdebatte, das gescheiterte Vorhaben eines Amtes für Nationale Sicherheit, bot brisante Nachrichten, alles dazu geeignet, um die Anstrengungen zur Beendigung der Krise in Frage zu stellen. Zum Thema Amtsmissbrauch und Vorteilsnahme: Die Funktionäre in Partei und Staat waren bereits in Gang gekommen. Es ging um Jagdhütten für Funktionäre, Vorteilsnahme in Betrieben durch Leiter, wie Bauleistungen für das eigene Haus, auch die Begünstigung von Künstlern durch Geld und Privilegien usw. In der Mehrheit waren das Dinge, die sich im Laufe der Zeit „entwickelt“ hatten. Manche Leiter glaubten, ihr Amt
193 rechtfertige, sich „Vorteile“ zu gestatten. Die Staatliche Finanzrevision und auch die Parteikontrolle hatten solche Erscheinungen des Öfteren schon aufgedeckt. Aber wo kein Kläger, da kein Richter. Das Ermittlungsverfahren gegen unsere Ministerin Uta Nickel hatte auch solche Verfehlungen zum Anlass. Ihr wurde u. a. vorgeworfen, dass sie zu Gunsten des Ratsvorsitzenden Rolf Opitz in Leipzig Rechnungen für die Renovierung des von Opitz genutzten Hauses aus der Staatskasse bezahlt hatte. Diese Vorwürfe veranlassten sie zum Rücktritt. Die in Gang gekommene kritische Aufbruchsstimmung verlief nicht überall ohne ernste Vorkommnisse. Es gab gewaltsame Angriffe auf staatliche Gebäude, nicht nur der Staatssicherheit, auch auf Betriebe, Lager usw. Die innere Sicherheit war brüchig geworden. Sie lag in erster Linie in den Händen der Volkspolizei. Der Versuch unserer Regierung, das Ministerium für Staatssicherheit in eine Art „Verfassungsschutz“ mit der Bezeichnung „Amt für Nationale Sicherheit“ umzugestalten, war gescheitert. Am 13. Januar 1990 hatte das Neue Forum (NF) in Berlin zu einem „Sturm“ auf die StasiZentrale in der Normannenstraße aufgerufen. Das geschah ohne Absprache am Runden Tisch! Modrow eilte dorthin, ebenso Pfarrer Rainer Eppelmann. Beide mahnten die aufgebrachten Leute zur Ruhe. Aber Tausende hatten sich gewaltsam Eingang verschafft, plünderten und zerstörten. Es wurden gezielt Aktenbestände der Aufklärung „mitgenommen“. Die Attacke – es waren nicht nur „empörte“ Bürger – liegt bis heute im Zwielicht des Dunklen. Es wird vermutet, dass Dienste auf diese Weise sich Akten beschafft hatten! Die Stasi und alles, was damit zusammenhing, die Akten, die Bespitzelung der Bürger waren nun täglich Themen in den Medien. Das hat eindeutig zur Beschleunigung der Krise beigetragen. Am 16. und 17. Dezember 1989 fand in Berlin der von vielen Mitgliedern der Partei geforderte und von Arbeitsgruppen – das alte ZK existierte nicht mehr – vorbereitete außerordentliche Parteitag statt. Wir hatten als Parteikreisorganisation der Finanz- und Bankorgane fast einstimmig Edgar Most als Delegierten gewählt. Ich nahm an dem Parteitag als Gast teil. Es war alles ganz anders, als wir das von unseren vorherigen Parteitagen kannten. Die Delegierten und Gäste reisten aus allen Ecken der Republik an und befanden sich in einer Aufbruchsstimmung. Die Ausgangsfrage war: Wie konnte es soweit kommen? Wer trägt die Schuld an diesem Niedergang? Wie geht es weiter? Also eine Auflösung und Neubeginn oder mit einem neuen Konzept weitermachen? Gregor Gysi plädierte in seinem Referat für ein „Weitermachen mit neuem Programm und neuen Namen!“ Dafür fiel dann auch die Entscheidung der Mehrheit der Delegierten. Weitermachen hieß nicht nur, eine gewisse Substanz an Mitgliedern, Funktionären und Vermögen zu retten, sondern bewahrte die Partei auch vor einer Zersplitterung durch mehrere Neugründungen mit vielen unterschiedlichen „Glaubensrichtungen“. Für mich waren die Erlebnisse des Parteitages das Ende meiner Mitgliedschaft, allerdings aber nicht das Ende meines Engagements für eine andere gerechtere Gesellschaft. Am 19. Dezember besuchte Bundeskanzler Kohl Dresden. Das Programm sah zunächst vor, dass der Bundeskanzler und unser Ministerpräsident Modrow sich über die weitere Gestaltung einer Zusammenarbeit verständigten. Es gab ein Vier-Augen-Gespräch und
194 weitere Beratungen, in denen wichtige Punkte behandelt wurden. So z. B. sprach man über einen Vorschlag von Modrow, dass Bonn der DDR einen Solidarbeitrag von 15 Mrd. DM zur Verfügung stellen sollte. Modrow brachte das in den Zusammenhang eines „Lastenausgleichs“, da die DDR mit 99 Mrd. DM Reparationsleistungen für ganz Deutschland eine große Belastung auf sich genommen hatte. Kohl wollte zwar den Begriff Lastenausgleich nicht gelten lassen, zeigte sich aber in Bezug auf einen Solidarbeitrag nicht ablehnend. Man verständigte sich auch darüber, dass die Ausgestaltung einer Vertragsgemeinschaft Gegenstand von Verhandlungen im Januar 1990 sein sollte. Also – wie es schien – ein vernünftiger Anfang! Nach den offiziellen Gesprächen war eine Begegnung Kohls mit Bürgern an der Ruine der Frauenkirche vorgesehen. Kohl hatte kein Redemanuskript vorbereitet – so heißt es. Aber als Kohl an diesem historischen Platz vor den Trümmern der Frauenkirche stand und dort Tausende Menschen ihm zujubelten, da ergriff er das Wort. Kohl hat diesen Moment, die Stimmung, diesen Zuspruch der vielen Leute und diese Rede als sein „Schlüsselerlebnis“ für den Entschluss, nun zielstrebig den Weg zur deutschen Einheit zu gehen, bezeichnet. In diesem Moment habe er seine bisherigen Vorstellungen von einem drei bis vier Jahre dauernden Weg bis zur Wiedervereinigung korrigiert. Auf einem Foto sieht man nahe bei Kohl an dem Podium einige Leute mit Transparenten „Deutschland einig Vaterland“. Zeitzeugen sagen, es hätten nur wenige Leute an der Tribüne Rufe nach der Einheit skandiert, ansonsten seien viele Zuhörer eher abwartend gewesen. Kohl hatte in seiner Rede sich eher zurückhaltend geäußert und er hatte die Zuhörer zu „Vernunft und Augenmaß und Sinn für das Mögliche“ gemahnt. Zu vermuten ist, dass manches bei der Kundgebung nicht so „spontan“ war. Die Leute mit den nagelneuen „Schwarz-Rot-Goldenen“-Fahnen nahe der Tribüne – woher kamen die? Aber gleich wie: Es gab zu dieser Zeit schon nicht wenige Stimmen für die „baldige Einheit“. Das wurde noch getoppt durch Helmut Kohls Rede am 22. Dezember, als in Berlin die Grenzübergangsstelle, das Brandenburger Tor, geöffnet wurde. Ein symbolträchtiges Ereignis, das er zu nutzen wusste. Helmut Kohl begann seine Rede mit einem kurzen Rückblick auf Dresden: „Liebe Berlinerinnen und Berliner, liebe Landsleute! Herr Ministerpräsident, es sind erst wenige Tage her, seit wir uns in Dresden getroffen haben. Es war eine erste, es war eine wichtige Begegnung und wir haben Verabredungen getroffen, die den Menschen in Deutschland helfen sollen. […].“ 47 Das hörte sich fast wohlwollend an. Aber von diesen hoffnungsvollen Worten zu den bald folgenden machtpolitischen Zügen Kohls vergingen nur wenige Wochen. Das neue Jahr begann mit einer großen Demonstration am Treptower Ehrenmal für die sowjetischen Soldaten. Ich war dabei und habe mit meinen Freunden die mehr als 250 000 Menschen vor Ort erlebt, die sich gegen jene Kräfte wandten, die kurz zuvor dieses Ehrenmal geschändet hatten. Es war für uns ein Signal und ein Anlass zu warnen. Die Schandtat zeigte Rede siehe unter https://www.lmz-bw.de/fileadmin/user_upload/Downloads/Handouts/201806-13-kohl-rede.pdf (letzter Zugriff 14.12.2020).
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195 doch, dass auch faschistische Kräfte ihre Stunde für gekommen sahen. Für unsere Regierung begann das neue Jahr 1990 mit der Weiterführung unseres Kurses der Stabilisierung und dazu dienlicher Schritte. Belastend blieb, dass immer noch täglich Tausende die DDR verließen, mit Folgen in der Wirtschaft, dem Gesundheitswesen usw. Zugleich wurden die Aktivitäten von Emissären der Bonner Parteien in der DDR immer spürbarer. Sie versuchten, vor allem in der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands (LPD bzw. LDPD) und in der CDU für eigene Wege, also raus aus der Koalition, zu „werben“. Am Runden Tisch zeigte sich, dass einige oppositionelle Kräfte die „Auflösung der Staatssicherheit“ immer wieder zum Thema machten, obwohl unsere Regierung wirklich alles tat, um diese Sache solide voranzubringen. Am 10. Januar 1990 fand in Sofia die 45. Tagung des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) statt. Die Lage der wirtschaftlichen Zusammenarbeit entsprach der schwierigen Situation in den Ländern. Beispielsweise hatte die UdSSR Lieferrückstände bei Erdöl sowie die vertraglichen Mengen reduziert. Der Paukenschlag war, dass Nikolai Ryschkow, der sowjetische Ministerpräsident, in Sofia forderte, die Zusammenarbeit im RGW sollte sich „radikal“ erneuern und dazu gehöre, dass man die Geschäfte zu aktuellen Weltmarktpreisen tätigen und in konvertierbaren Devisen bezahlen sollte. Das hieß, dass er die bisherige Regel „Landespreise“ und „Transferabler Rubel als Verrechnungswährung“ abschaffen wollte. Das wäre – abgesehen von allen anderen Problemen – das Ende unserer Wirtschaft geworden. Um alle sich nun bietenden Chancen für die Modernisierung und Sanierung zu nutzen, wozu es zu dieser Zeit schon Angebote von ausländischen Partnern gab, gingen wir einen längst fälligen Schritt. Die 14. Tagung der Volkskammer am 11. Januar 1990 beschloss eine Verfassungsänderung, die die Möglichkeit schuf, eine „Verordnung über die Gründung und Tätigkeit von Unternehmen mit ausländischer Beteiligung“ zu beschließen. Dieser Weg für ernsthafte Angebote stand nun offen. Wenige Tage später meldeten sich die ersten Interessenten. Auch das bestehende „Handwerksförderungsgesetz“ wurde von der Volkskammer geändert und wesentlich günstigere Bedingungen für die Handwerksbetriebe geschaffen. Am 13.und 14. Januar 1990 veranstaltete unsere Regierung in Rahnsdorf ein Symposium mit führenden Vertretern der westdeutschen Wirtschaft, wo unsere stellvertretende Ministerpräsidentin, Prof. Christa Luft, die beabsichtigte Wirtschaftsreform erläuterte. Da waren Tyll Necker vom BDI, Edzard Reuter von Mercedes Benz und andere Spitzenmanager anwesend. Unser Stellvertretender Minister, Siegfried Zeißig, der an dieser Beratung teilnahm, berichtete im Kollegium über die „Hoffnungen auf ein konstruktives Engagement“, die man aufgrund der Äußerungen der bundesdeutschen Spitzenleute in Rahnsdorf haben könnte. Mitte Januar war Modrow mehrfach selbst Partner am Runden Tisch. Er wollte jede Chance nutzen, um aus dem kritischen Dialog „Regierung – Runder Tisch“ ein Miteinander zu entwickeln. Das war schwierig. Es gab immer wieder aus den neuen politischen Parteien bzw. von einzelnen Bürgerrechtlern Versuche, mit Vorwürfen in Richtung SEDRegime, anstatt in den Dialog zu treten, Unruhe zu erzeugen. Ich selbst hatte den
196 Eindruck, es waren Leute, die selbst oder als Sprachrohr anderer gar nicht wollten, dass wir uns stabilisieren. Zum Teil ging es um bloße Profilierung, Aufmerksamkeit in den Medien und einen Einstieg in eine zukünftige Karriere, was später manchem Bürgerrechtler bravourös gelang. Mit der Absicht, die Regierung und die Opposition durch eine direkte Brücke zu verbinden, schlug Modrow als Vertrauensbeweis vor, dass die neuen politischen Parteien und Organisationen des Runden Tisches Vertreter für die Mitarbeit in der Regierung benennen sollten. Das fand eine breite Zustimmung! Am 7. Februar 1990 sind acht Persönlichkeiten nach Bestätigung durch die Volkskammer in unsere „Regierung der nationalen Verantwortung“ als Minister ohne Geschäftsbereich eingetreten. Ich habe diese Persönlichkeiten am Kabinettstisch jede Woche erlebt, wie interessiert und konstruktiv sie waren. Zu Dr. Walter Romberg, einem Mathematiker und Aktivist der kirchlichen Friedensbewegung seit den 1960er Jahren, jetzt einer der Mitbegründer der Sozialdemokratie in der DDR, der sich insbesondere schwerpunktmäßig für den Staatshaushalt und die Währung interessierte, entwickelte sich bald eine sachbezogene Freundschaft. In dieser Debatte des Runden Tisches um mehr Mitsprache war seitens einiger Gruppen die Forderung nach einem früheren Wahltermin als dem 6. Mai 1990 gestellt worden. Dabei war eine Hoffnung auf Nutzung des „Bürgerrechtler-Bonus“ vorhanden. So kam es zur Festlegung unter Berücksichtigung des notwendigen Procedere des frühestmöglichen Termins, Sonntag, den 18. März 1990. Der Januar 1990 war nach meiner Erinnerung ein Jahresanfang mit Endzeitstimmung. In den sechs Wochen seit Regierungsbeginn hatten wir vieles angepackt und damit begonnen zu verändern. Aber im Innern wie von außen blieb die Stabilisierung aus. Als Modrow am 25. Januar mit Kanzleramtsminister Seiters sprach, hielt dieser ihm vor, dass man in Bonn sehr beunruhigt über die hohe Zahl der Übersiedler sei. Es waren seit Anfang Januar ungefähr 42 000 Menschen. Bei dem Gespräch ging es um die Vorbereitung eines Besuchs von Modrow in Bonn, bei dem – wie in Dresden mit Kohl besprochen – die Fragen der Vertragsgemeinschaft BRD/DDR besprochen werden sollten. Seiters bremste offenbar diese berechtigte Erwartung. Modrow machte auf die Erwartungshaltung in der DDRBevölkerung aufmerksam, auf die Dringlichkeit, in den Abmachungen voranzukommen, als Zeichen der Stabilisierung. Seiters hingegen bremste und vertröstete auf die Zeit nach den Neuwahlen. Faktisch war zu erkennen, dass Bonn die Strategie veränderte, weil sie die „Vertragsgemeinschaft“ nicht so frühzeitig oder gar nicht haben wollte. Auch in Bezug auf finanzielle Unterstützung der DDR durch die BRD, um die wirtschaftliche Lage zu stabilisieren, trat Seiters kurz. Alles kein Grund zur Hoffnung für uns. Am 20. Januar traf sich der DDR-Außenminister Oskar Fischer mit dem sowjetischen Außenminister Eduard Schewardnadse in Moskau. Fischer erfuhr dort – verpackt in viel Selbstlob –, dass die Perestroika-Politik dem großen Land nicht viel Gutes gebracht hatte, weder in der Wirtschaft, in der Versorgung noch in der inneren Sicherheit. Schewardnadse unterstrich, dass die UdSSR den Deutschen keinesfalls das Recht auf Selbstbestimmung abspreche. Der Wunsch nach engerer Zusammenarbeit, wenn es die
197 Deutschen so entscheiden, eine staatliche Einheit, werde respektiert. Das war deutlich, aber auch nicht neu, denn vorher im Dezember 1989 hatte Schewardnadse gegenüber Egon Krenz ähnliches geäußert. In Moskau wollte man, wie Schewardnadse zu Krenz sagte, in der eigenen Not „Ballast abwerfen“, dazu gehörte auch der „Bruderbund mit der DDR“. Am 30. Januar hatte Modrow uns, also Manfred Domagk und andere Regierungsvertreter zur Diskussion anstehender Wirtschaftsfragen in seine „Wohnung“, das Gästehaus Johannishof, eingeladen. Er war an diesem Tag in Moskau zu einem Gespräch mit Michail Gorbatschow gewesen. Es war schon spät abends, als er eintraf und uns damit überraschte, dass er anstatt der geplanten Themen uns eine Erklärung vortragen werde. Er verlas seine Konzeption „Deutschland, einig Vaterland“. Dieses Dokument war in Vorbereitung seiner Moskaureise am 30. Januar entstanden. Es war die Konsequenz aus der Entwicklung sowohl hier bei uns in der DDR als auch in Moskau und im Bündnis. Er hatte dieses Konzept an diesem Tag in Moskau zur Grundlage seines Gesprächs mit Michail Gorbatschow gemacht und bei ihm Zustimmung zu der angestrebten Vertragsgemeinschaft mit der BRD gefunden. Gorbatschow hatte offen bekannt, dass an diesem Tisch vor wenigen Tagen ähnliche Überlegungen erörtert worden seien und er auf eine solche Fragestellung vorbereitet sei. Gorbatschow ging so weit, dass er meinte, die vier Großmächte sollten diese Frage auf höchster Ebene erörtern und eine Absichtserklärung abgeben, um die DDR in diesen ganzen Prozess einzuschließen. Man könne die deutsche Vereinigung nur im Kontext der europäischen Integration betrachten. Gorbatschow zeigte in diesem Gespräch, dass er dabei bis zu den Fragen der militärischen Neutralität von BRD und DDR die Konföderation begrüße und den Weg dahin unterstützen werde. 48 Modrow hat später vor allem drei Gründe dafür genannt: Es war nicht um ein „Umkippen“ seiner Position gegangen, die DDR zu erhalten, sondern er hatte mit seinem außenpolitischen Berater Harry Ott Anfang Dezember 1989 in Moskau erlebt, wie oberflächlich und unsicher Gorbatschow mit der deutschen Problematik umging. So ergab sich die Konsequenz für ihn, sich selbst Gedanken über die weitere Entwicklung machen zu müssen. Hinzu kam das „Schlüsselereignis“, nämlich Gorbatschows Treffen mit Bush in Malta, wo er dem Westen wie ein „nackter Mann“ gegenübergesessen hatte. Das zweite waren die Erfahrungen Modrows auf der RGW-Tagung im Januar 1990 in Sofia, wo Ministerpräsident Ryschkow ein Konzept entwickelt hatte, dass die RGW Staaten künftig ihre Verträge und die Zusammenarbeit auf der Basis „freikonvertierbarer Währungen“ gestalten sollten. Politisch und militärisch hielt das Bündnis nicht mehr. Auf ökonomischem Gebiet war keine Kooperation mehr möglich. Drittens: Innerhalb der DDR war die Massenstimmung weiter umgeschlagen! 49 Wir hatten in dieser kleinen Runde erst einmal zu verarbeiten, was diese bisher nicht gewollte Wegrichtung „einig Vaterland“ statt der „Erhalt der DDR“ für uns bedeutete. Es war eine Zäsur! Mehr oder weniger hatten uns die eigenen Erfahrungen, die Nakath/Stephan, Countdown, Ebd., S. 292–294. Interview mit Arno Schölzel unter https://www.neutrales-deutschland.de/ (letzter Zugriff 14.12.2020).
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198 entstandenen Realitäten, der nicht mehr zu reparierende Vertrauensverlust, die starke Fluchtbewegung uns auch an diesen Punkt hingeführt. In dieser Stunde und den folgenden Tagen war das Konzept ein Paukenschlag, konkret also eine „Wende in der Wende“! Daraufhin gab es in der Partei, bei den Bürgerrechtlern und am Runden Tisch nicht nur Zustimmung, sondern auch heftigen Widerspruch. Am nächsten Tag, dem 1. Februar, stellte Modrow in einer internationalen Pressekonferenz den Wortlaut der Konzeption „Für Deutschland, einig Vaterland“ vor. Was war der wesentliche Inhalt der Konzeption? Die Schritte auf dem Weg zur deutschen Einheit könnten sein:
Abschluss eines Vertrages über Zusammenarbeit und gute Nachbarschaft als eine Vertragsgemeinschaft. Bildung einer Konföderation von DDR und BRD mit gemeinsamen Organen und Institutionen. Übertragung von Souveränitätsrechten beider Staaten an Machtorgane der Konföderation. Bildung eines einheitlichen Deutschen Staates in Form einer Deutschen Föderation oder eines Deutschen Bundes durch Wahlen in beiden Teilen der Konföderation.
Zu den notwendigen Voraussetzungen für diese Entwicklung hieß es:
Wahrung der Interessen und Rechte der vier Mächte sowie der Interessen alle Völker Europas an Frieden, Souveränität und sicheren Grenzen. Die vier Mächte sollten ihre Absicht erklären, nach Bildung eines einheitlichen deutschen Staates alle aus dem Zweiten Weltkrieg und der Nachkriegsperiode entstandenen Fragen abschließend zu regeln, einschließlich der Anwesenheit ausländischer Truppen auf deutschem Boden und die Zugehörigkeit zu Militärbündnissen. Militärische Neutralität von DDR und BRD auf dem Weg zur Konföderation.
Die mit dieser Konzeption angestrebte Entwicklung sollte etwa fünf Jahre dauern, also ein Zeitrahmen, in dem man die anstehenden, wirklich mehr als komplizierten Fragen zwischen allen Beteiligten in der BRD und der DDR hätte debattieren und aushandeln können. Auch ein Zeitrahmen, der es möglich gemacht hätte, die Menschen in beiden deutschen Staaten an diesem Prozess zu beteiligen, sie wirklich auf diesem Weg mitzunehmen. Das Echo nach dieser Pressekonferenz war international positiv. Es wurde auch im westlichen Europa als ein „staatsmännisches Angebot in schwieriger Zeit“ gewertet. Ein entmilitarisiertes, nicht in Militärbündnissen verankertes Deutschland wurde vor allem von
199 Briten und Franzosen begrüßt. Nicht so natürlich von all jenen, die schon damals mit der Ausdehnung der NATO bis an Russlands Haustür liebäugelten. Am 5. Februar 1990 tagte die Volkskammer der DDR. Dort war das Konzept „Für Deutschland, einig Vaterland“ der erste Tagesordnungspunkt. Auch hier waren geteilte Meinungen vorhanden. Dann folgte die Berufung der vom Runden Tisch benannten acht Persönlichkeiten zu „Ministern ohne Geschäftsbereich“. Es entstand, wie Modrow formulierte, eine „Regierung der nationalen Verantwortung“. Der letzte Versuch, ein handlungsfähiges Bündnis mit der Bürgerbewegung zu schließen. Ich war Zeuge in dieser Tagung, da ich dort als „amtierender Minister für Finanzen und Preise“ den Abgeordneten vorgestellt wurde. Aus meinen Erfahrungen kann ich über diese neuen Minister und ihrem Mitwirken am Kabinettstisch sagen, dass sie alle konstruktiv bei den Debatten um Gesetze und die aktuelle Lage von Problemen mitwirkten. Es kamen in der Tat neue Aspekte in die Debatte! Da denke ich vor allem an Dr. Walter Romberg von der SPD, Matthias Platzeck von der „Grünen Liga“, und Dr. Wolfgang Uhlmann vom Bündnis „Demokratie Jetzt“. Ich habe mit einigen von ihnen auch außerhalb der Sitzungen interessante Gespräche geführt und konnte Ratschläge geben. Für Modrow war der nächste internationale Termin der 3. Februar 1990 auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos. Dort führte Modrow mit Kanzler Kohl am Rande der Konferenz Gespräche, die ausgehend von den Dresdener Vereinbarungen die weiteren Aktivitäten zur Stabilisierung der Lage in der DDR, einschließlich der Vorbereitung der Wahlen am 18. März, vermittelten. Kohl erfuhr von Modrow auch die destabilisierende Wirkung der Einkäufe Westdeutscher in immer größerem Umfang. Auch wurde über die schon eingehenden Rechtsansprüche von BRD-Bürgern auf Bodenreformland in der DDR gesprochen. Kohl betonte, „man müsse ungeachtet wahltaktischen Verhaltens nach einem Weg suchen, die DDR zu unterstützen. Es sollten sich dazu von beiden Seiten ‚unorthodoxe Denker‘ zusammensetzen.“ Wir benannten zu diesem Zweck unsere stellvertretende Ministerin, Dr. Herta König, den Präsidenten der Deutschen Außenhandelsbank, Prof. Dr. Werner Polze und den persönlichen Mitarbeiter von Modrow, Karl-Heinz Arnold. Passiert ist allerdings nichts! Was aber Modrow insgesamt an diesem Gespräch in Davos auffiel, „der Kanzler zeigte sich zwar interessiert, machte Andeutungen, ohne jedoch weitere Schritte in den Beziehungen BRD und DDR erkennen zu lassen.“ 50 Die Hintergründe waren: Kohl hatte begonnen, sich an einer neuen Strategie zu orientieren. Wie sich bald zeigen sollte, war es nicht mehr der Weg zu einer Vertragsgemeinschaft mit der DDR, sondern der direkte und kurze Weg, über eine Währungsunion von BRD/DDR zur Wiedervereinigung zu kommen. Das hatten Experten des Bundesfinanzministeriums als einen möglichen sowie politisch opportunen Weg vorgeschlagen, um die Abwanderung aus der DDR zu bremsen. Dem Kanzler war dies in einem Grundsatzpapier vom 29. Januar übermittelt worden. 50
Modrow, Aufbruch und Ende, Ebd., S. 128–129.
200 Am 6. Februar unterbreitete Bundeskanzler Helmut Kohl unserer DDR-Regierung überraschend das Angebot, es sollte unverzüglich über eine Währungsunion verhandelt werden. Im Fernsehen erklärte Kohl: „Politisch und ökonomisch bedeutet dieses Angebot der Währungsunion, dass wir bereit sind, auf ungewöhnliche, ja revolutionäre Ereignisse, eine ungewöhnliche, und wenn Sie es ökonomisch betrachten, auch revolutionäre Antwort zu geben.“ 51 Dieser Alleingang von Kohl führte in der BRD zu aufgeregten Reaktionen, weil man eine Destabilisierung der D-Mark und eine große Belastung des Budgets befürchtete. Bei uns war sofort die Sorge präsent, dass ein solcher Schritt, ohne entsprechende längerfristige Vorbereitung, unserer Wirtschaft schweren Schaden zufügen könnte. Kohl ließ seinen Kanzleramtsminister Rudolf Seiters erläuternd erklären: „Löhne, Gehälter, Stipendien, Mieten, Pachten und Renten sowie andere wiederkehrende Versorgungszahlungen werden im Verhältnis ‚1 zu 1‘ umgestellt.“ Die Medien hatten diese Initiative Kohls mit Berichten über die ungebremst hohe Zahl von Übersiedlern aus der DDR in die BRD vorbereitet. Im Januar verließen 200 000 Menschen die DDR. Bei den Demonstrationen hatten die Medien Transparente mit der Losung „Kommt die D-Mark nicht nach hier, dann gehen wir zu ihr!“ eingefangen. Kohl berief sich auch darauf, dass er von Kommunen Hilferufe bekommen hatte, weil sie mit der wachsenden Anzahlzahl an Übersiedlern nicht mehr zurechtkamen. Also Kohl hatte durchaus plausible Argumente für seinen Vorstoß. Aber wie sollte das funktionieren? In kurzer Frist und ohne „Stufen“ der wirtschaftlichen Konsolidierung und Vorbereitung Modrow hatte in seiner Konzeption „Für Deutschland, einig Vaterland“ zwar auch eine „Wirtschafts-, Währungs- und Verkehrsunion“ als einen der Schritte im Rahmen der Vertragsgemeinschaft von BRD und DDR vorgesehen, aber eben als ein Vorhaben in einem mehrjährigen Prozess der Zusammenarbeit. Am 9. Februar trafen sich der Präsident der Deutschen Bundesbank Karl Otto Pöhl (SPD) und der Präsident der Staatsbank der DDR Horst Kaminsky zu einem Gespräch über dieses Thema. Pöhl (SPD), den Kohl allerdings nicht in die Vorbereitung dieses Schrittes einbezogen hatte, fühlte sich düpiert. Er machte nach dem Gespräch mit Kaminsky öffentlich deutlich, dass er Kohls Vorgehen für finanzpolitischen Unfug hielt. Er sagte: „Das halte ich doch für sehr fantastisch, diese Ideen, ich glaube, dass das eine Illusion ist, wenn man sich vorstellt, dass durch die Einführung der D-Mark in der DDR auch nur eines der Probleme, die die DDR hat, gelöst würde.“ Diese Meinungsäußerung von Pöhl wies Kohl sofort scharf zurück. Pöhl „knickte ein“ und widerrief seine Aussagen. Schon bald war er nicht mehr im Amt. Mit dem Wissen um diese neue Strategie Bonns begann die vereinbarte Reise Hans Modrows sowie mehrerer neuer Minister nach Bonn. Das war am 13. Februar. Von vornherein ein Unternehmen mit schlechten Aussichten. Es war klar, dass nicht, wie ursprünglich mit Kohl in Dresden besprochen, die weiteren Schritte zu einer Vertragsgemeinschaft 51
Länderreport am 29.6.2015 im Deutschlandradio.
201 besprochen werden. Auch der Solidarbeitrag von 15 Mrd. DM, wobei unsere Regierung dem Minister Seiters die Verwendung aufgelistet hatte, war somit vom Tisch. Als politischen Trumpf hatte Kanzler Kohl das am 5. Februar in seiner Anwesenheit und mit Nachhilfe durch seinen Generalsekretär Volker Rühe in Berlin für die Volkskammerwahl am 18. März gegründete konservative Wahlbündnis „Allianz für Deutschland“ hinter sich. In dieser Allianz hatten sich vereinigt: die CDU der DDR unter Leitung von Lothar de Maizière, die Deutsche Soziale Union unter Hans-Wilhelm Ebeling (eine von der bayrischen CSU und Theo Waigel in Leipzig geförderte Gründung einer „Filiale“ in Sachsen) und der Demokratische Aufbruch (DA) unter Wolfgang Schnur und Rainer Eppelmann. Die Beratungen am 13. Februar hatten also, bevor sie begannen, schon entscheidende Eckpunkte zugunsten Bonns erhalten: Währungsunion und baldige Wiedervereinigung – ein pro Einheit votierendes Wahlbündnis! Kanzler Kohl hatte die Position der Bundesregierung so formuliert: „Das Beste, was die Bundesrepublik besitzt, die D-Mark, wird nun auch bald der Bürger in der DDR besitzen.“ In der Debatte kamen von der DDR-Seite zuerst Wolfgang Ullmann, Rainer Eppelmann und Matthias Platzeck zu Wort. Wolfgang Ullmann, der für „Demokratie Jetzt“ sprach, wandte sich entschieden gegen einen Anschluss der DDR an die BRD nach Artikel 23 des Grundgesetzes. Es dürfe nicht in der Mitte Europas ein Machtkartell, ein Viertes Reich entstehen, das Ängste bei seinen Nachbarn hervorruft. Matthias Platzeck verwies auf die wirtschaftliche Situation der DDR und forderte die Bundesregierung zur Soforthilfe auf. An Kohl direkt gewandt sagte er: „Sie haben immer von Brüdern und Schwestern gesprochen. Ich glaube, mit Brüdern und Schwestern taktiert man nicht!“ Rainer Eppelmann verwies auf die großen Veränderungen in der DDR seit dem letzten Herbst. Als Minister erlebe er diese Regierung der DDR als eine kollegiale Regierung, als einen ehrlichen Makler für die 16 Millionen DDR-Bürger. Christa Luft sagte, bei einer Währungsunion müssten grundlegende soziale Rechte und Interessen gewährleistet bleiben. Sie verwies auf möglichst verlustarme Regelungen bei den Sparguthaben der Bürger und darauf, dass Betriebe, die mit ihren Produkten noch nicht konkurrenzfähig seien, zeitweilig noch Subventionen erhalten sollten. Diese Position wies Theo Waigel in der anschließenden Pressekonferenz in nahezu beleidigender Art zurück. Auch der erbetene und wieder abgelehnte Solidarbeitrag war für Kohl ein Anlass, erneut auf die „marode Wirtschaftslage“ der DDR und ihre Ursachen im SED-Regime hinzuweisen. Es zeigte sich nun unverblümt der Wille Kohls, ohne Rücksicht auf die Folgen seine „historische Chance“ wahrzunehmen. 52 Am selben Tag – dem 13. Februar – trafen sich in Ottawa die Außenminister der UdSSR, der USA, Frankreichs und Großbritanniens sowie der BRD Hans-Dietrich Genscher und der DDR Oskar Fischer zu einem KSZE-Gipfel. Dort wurde beschlossen, dass diese sechs Spitzendiplomaten sich zu Gesprächen treffen wollen, die „die äußeren Aspekte der 52
Modrow, Aufbruch und Ende, Ebd., S. 132–133.
202 Herstellung der deutschen Einheit“ betreffen. Faktisch ging es darum, dass die vier Siegermächte des Zweiten Weltkrieges faktisch mit den beiden deutschen Staaten endgültig die Nachkriegsperiode mit Friedensverhandlungen abschließen. Aber auch hier fühlte sich Kohl wieder zurecht als der Initiator, denn die Absprache von Ottawa wurde nur möglich, weil ihm drei Tage vorher in Moskau Gorbatschow versichert hatte, dass die UdSSR nunmehr keinen Einspruch mehr gegen die Wiedervereinigung Deutschlands erheben werde. Am 20. Februar begannen in Berlin die Verhandlungen über eine Währungs-, Wirtschaftsund Sozialunion. Unsere Expertenkommission stand unter Leitung von Minister Dr. Walter Romberg. Die der BRD unter der Leitung von Staatssekretär Dr. Horst Köhler. Zu unseren Experten gehörten Kaminsky, der Staatsbankpräsident, ich als amtierender Minister der Finanzen und Preise und weitere Regierungsvertreter. Wenige Tage zuvor hatte ich den ersten Telefonkontakt mit Dr. Köhler. Er warb mit freundlichen Worten für ein möglichst sachbetontes Herangehen. Er war daran interessiert, bei diesem ersten Treffen Informationen über Strukturen und Funktionsverteilung unseres Hauses zu bekommen. Unsere Verhandlungen begannen freundlich und sachlich mit dem Austausch der konzeptionellen Vorstellungen. Wir warben um Verständnis dafür, dass die sozialen Interessen unserer Bürger gewahrt werden und unsere Wirtschaft verkraftbare Übergänge bekommen sollten. Unsere Bonner Gesprächspartner hatten in der Hinterhand ein durchkonstruiertes Konzept einer Währungsunion, die faktisch bereits mit dem „Anschluss“ der DDR an die BRD nach Artikel 23 des GG war. Sozusagen die Währungsunion als das Vehikel zur raschen Wiedervereinigung! Daran hatte eine Arbeitsgruppe des Bundesfinanzministeriums mit Gert Haller, Thilo Sarrazin und andere Experten intensiv gearbeitet. Die Idee der Wiedervereinigung nach Artikel 23 des GG hatte der Leiter der Rechtsabteilung des Bundesfinanzministeriums Bruno Schmidt-Bleibtreu eingebracht. Sie hatte bei der Obrigkeit rasch Zustimmung gefunden. Nach Artikel 23 des GG konnten die fünf ostdeutschen Länder in die Alt-BRD gewissermaßen einfach eingegliedert werden, ohne aufwändige verfassungsrechtliche und parlamentarische Prozedur. Man brauchte keine neuen Gesetze und Regelungen, die neuen Länder hatten sich in die bestehende Rechts- und Wirtschaftsordnung einzufügen. Der andere Weg, nach Artikel 146 des GG zu verfahren, hätte bedeutet, dass eine neue Verfassung erarbeitet, über die dann beraten und abgestimmt wird. Kurzum gesagt: „Nach Erringung der Einheit eine Verfassung für das ganze Deutschland.“ Ein langer Weg, der sicherlich viele Fragen und heftige Debatten ausgelöst hätte. Das war nicht der Wille der Bonner Koalition. Die alte „bewährte Ordnung“ der letzten 40 Jahre, die soziale Marktwirtschaft, war doch für alles gut genug für die neuen Länder. Die Devise hieß: „Weiter so wie bisher!“ So ist es bis heute geblieben! Beim ersten Besuch unserer Expertenkommission im Bonner Finanzministerium hat uns Ministerialdirektor Dr. Schmidt-Bleibtreu in einem Kolloquium die Vorzüge des Artikels 23 GG für den Beitritt der DDR exzellent erläutert. Er war einer der Autoren des
203 Kommentars zum Grundgesetz der BRD. Und Artikel 23 GG und seine „Möglichkeiten für eine rasche politische Lösung“ im Vergleich zu Artikel 146 GG zu erkennen, war nach seinem Vortrag auch für uns „verständlich“. Der freundliche Professor hatte uns „Neulinge“ aufgeklärt und dafür geworben, dass wir uns diese Sichtweise auch zu eigen machen. Übrigens erfuhr ich dabei, dass der Begriff „Anschluss“ natürlich tabu sei. Die Expertengespräche verliefen naturgemäß mit inhaltlicher Priorität von der Bonner Seite aus, denn sie hatte das Konzept für die Währungsunion erarbeitet. Bonn bot uns die Übernahme der D-Mark an und hatte damit natürlich auch von der Sache her das Notwendigste zu den Rahmenbedingungen zu sagen. Die eigentliche große Unbekannte in den Gesprächen spielte immer wieder eine Rolle: Wie wird die kurzfristige und stufenlose Vorbereitung, die Durchführung der Währungsunion nach dem Tag X der Einführung sowie deren Auswirkungen auf unsere Wirtschaft gelingen? Wie können wir dieses wenigstens einigermaßen abmildern? Außer Präventivmaßnahmen, wie Kredite für die Wirtschaft, gab es dazu keine wirklichen Handlungsoptionen, um die Wirkungen der Währungsumstellung von „der Mark der DDR in D-Mark“ auf die volkseigenen Betriebe, auf die totale Veränderung ihres Kostengefüges, ihrer Kreditbedingungen, ihrer Marktchancen usw. abzufedern. In dem Expertenpapier des Bundesfinanzministeriums vom 8. Februar wurde eingangs erklärt: „Die krisenhafte Zuspitzung der Lage in der DDR und die immer noch starke Abwanderung erfordern eine schnelle Besserung der wirtschaftlichen Lage, damit neues Vertrauen in der Bevölkerung entstehen kann. Die politische Entwicklung lässt einen Weg stufenweiser Reformen immer unrealistischer erscheinen. Die wachsende Bedeutung der D-Mark in der DDR spricht jetzt dafür, den Weg über eine Währungsunion zu gehen. Dieser Ansatz bietet zugleich die Chance, schnell den notwendigen fundamentalen marktwirtschaftlichen Neubeginn zu erreichen.“ 53 „Tage, die Deutschland und die Welt verändern.“ Diese Aussage war eher Wunschbild statt Gewissheit. Aber der Korrektheit halber muss man sagen: In die politische Krisenlage hatten wir uns selber gebracht und jetzt hatten wir keine Möglichkeiten mehr zu wählen – wir mussten dieses Angebot annehmen. Am 13. März schloss die erste Runde der Expertengespräche mit einem Zwischenbericht ab. 54 Anfang März reiste Modrow mit einer Delegation der Regierung der Nationalen Verantwortung nach Moskau. Diese Reise war insbesondere auch von Rainer Eppelmann gewünscht worden und sollte vor allem eine Begegnung der Vertreter der Bürgerbewegung und der neuen Parteien der DDR mit Abgeordneten des Obersten Sowjets und Gorbatschow ermöglichen. In dem Treffen mit Gorbatschow war besonders beeindruckend, dass bei der Begrüßung Rainer Eppelmann ihm eine Kerze mit der Aufschrift „Spasiba – Danke“ überreichte und sagte, dass dieses Dankeschön an die Sowjetunion „für die Befreiung des deutschen Volkes vom Hitlerfaschismus sowie ihren Bemühungen um Frieden und Abrüstung in der 53 54
Ebd., S. 121. Ebd., S. 129.
204 Welt“ gelte. 55 Modrow brachte dort ins Gespräch diejenigen Punkte, bei denen er die Unterstützung der sowjetischen Politik im Prozess der Wiedervereinigung erwarte, darunter vor allem, dass den Bestrebungen der BRD nach Anschluss der DDR entgegengewirkt werde, und sich die Vereinigung der beiden Staaten auf gleichberechtigter Grundlage vollziehe. 56 Gorbatschow bekräftigte diese Aussage von Modrow und meinte, dass die Vereinnahmung der DDR durch die BRD für Europa ungünstige Wirkungen haben könnte. Das hatte Gorbatschow sehr bald schon vergessen, ganz abgesehen davon, dass er zu dieser Zeit bereits selbst als Bittsteller bei Kohl für finanzielle und materielle Hilfen für die Sowjetunion werben musste. Es nahte die Wahl einer neuen Volkskammer. Im Vorfeld des 18. März hatte sich mit massiver Einmischung aus der alten BRD ein Wahlkampf entwickelt, den Egon Bahr als den „schmutzigsten“ bezeichnete, den er je kennen gelernt habe. Dominierend war die baldige Einheit. Helmut Kohl war am 14. März der Redner auf dem Augustusplatz in Leipzig, der damals noch Karl-Marx-Platz hieß. Man schätzt, dass dort 320 000 Leute zusammengekommen waren, so viele, wie Helmut Kohl zuvor und danach nie wieder als Zuhörer hatte. Sein Kernsatz war: „Das Ziel ist die Einheit zu vollenden, die zum Greifen nahe ist. Die Leipziger haben es erstritten.“ Es ging bei dieser Wahl nicht mehr um ein Parlament und eine Regierung, die nun die DDR für eine längere Zeit politisch gestalten sollte, sondern darum, dass diese neue letzte Volkskammer der DDR den Prozess der Vorbereitung der Währungsunion, der mit dem nachfolgenden Beitritt der neuen Länder gekoppelt war, zu begleiten – man könnte auch sagen – fördern und absegnen sollte. Und wie sich am Abend des 18. März zeigte, wollten nahezu 48 Prozent der Wähler auch so, indem sie ihre Stimme dem Wahlbündnis „Allianz für Deutschland“ gaben. Das war eindeutig! Die Allianz für Deutschland hatte in einem Flugblatt u. a. gesagt: Nur die Parteien der Mitte schaffen den Aufbau unseres Landes. Der Sozialismus muss weg – das ist das Ziel der „Allianz für Deutschland“. Wir wollen die Mehrheit, damit wir regieren können. Nur dann haben Freiheit, Selbstbestimmung und Wohlstand eine Chance. Wir wollen, dass sich endlich etwas verändert in unserem Land, dass die sozialistischen Strukturen beseitigt und nicht durch die Hintertür wieder eingeführt werden oder gar nicht erst verändert werden ...“ Das Wahlergebnis mit fast der Hälfte der abgegebenen Stimmen für diese Politikrichtung gab zu denken. Es entsprach aber offenbar der Stimmungslage im Land. Die Leute wollten wieder Stabilität, Ende der Krise und Unsicherheit, die sich seit dem Herbst 1989 entwickelt und durch die „Wende“ und die Anstrengungen der Übergangsregierung von Modrow nicht beendet worden waren. Die Kehrseite: Damit gab ein Großteil der Wähler den Auftrag „der Sozialismus muss weg“. Das war ein Freibrief für alle bald folgenden politischen und wirtschaftlichen Konsequenzen – kurz: Man hatte der eigenen Enteignung zugestimmt! 55 56
Ebd., S. 140. Ebd., S. 139.
205 Am 18. März gingen von den 12,4 Millionen Stimmberechtigten 11,6 Millionen (93,4 %) zur Wahl. Eine Wahlbeteiligung, die das große Interesse der Bürger der DDR an dieser Wahl belegt. Warum? Nach der monatelangen Krise hoffte, sehnte man sich nach einem Neuanfang, liebäugelte mit dem Konsumangebot der BRD, glaubte aber auch an den Erhalt des Arbeitsplatzes und der sozialen Sicherheit. Die Wahlprogramme – egal von wem – versprachen so etwas. Also eigentlich konnte es nur besser werden! Wer wurde nun gewählt? Die CDU bekam 40,6 %, die Deutsche Soziale Union 6,3 % und der Demokratische Aufbruch 0,9 % der Stimmen. Somit erreichte die Allianz für Deutschland, die diese drei Parteien bildeten, 47,9 % der Stimmen. Die SPD kam auf 21,9 %. Damit waren die Hoffnungen der SPD-Führung West auf eine hohe Zustimmung der DDR-Bürger zu ihrer DDRSchwester zerplatzt. In der SPD-Führung hatte es erhebliche Differenzen zwischen dem Parteivorsitzenden Hans-Jochen Vogel, Johannes Rau und Oskar Lafontaine gegeben. Letzterer bevorzugte nicht die baldige Wiedervereinigung, insbesondere auch im Hinblick auf die Bedenken, die sich in Frankreich und Großbritannien beim Gedanken eines „großen deutschen Staates“ zeigten. Er plädierte für wirtschaftliche Hilfen für die DDR, um auf diese Weise zur Stabilisierung und zur Reduzierung der „Westwanderung“ beizutragen. Diese zwiespältige Haltung zur Wiedervereinigung in der SPD-Spitze hatte offensichtlich der SPD-Ost den Wahlerfolg gekostet. Die PDS – Partei des Demokratischen Sozialismus – erreichte 16,4 % der Stimmen. Das war mehr als die Partei erwartet hatte. Es waren jene Bürger, die nach all den Enttäuschungen auf eine Stabilisierung der DDR – etwa in Richtung der Konzeption „Für Deutschland, einig Vaterland“ – hofften. Meine Frau und ich gehörten dazu! Der Parteivorsitzende Gregor Gysi hatte sich in diesem Sinne mit Modrow und anderen mächtig ins Zeug gelegt. Seine Sprüche „Wir haben eine Programmatik, die nicht importiert, sondern selbst geschrieben ist“ oder „Wir haben noch den Mut zum Träumen und zwar nicht nur von der D-Mark“ kamen an. Die Kandidaten der Bürgerbewegungen, wie Marianne Birthler, Matthias Platzeck usw. hatten nur wenig Wähler überzeugt. Sie hatten mit ihren alternativen Themen und dem eher skeptischen Umgang mit der Wiedervereinigung keine Euphorie erzeugen können. Insgesamt kamen sie auf etwa 500 000 Stimmen d. h. etwa 5 %. Nach dieser Wahl und ihrem Ergebnis war klar, dass wir, die Übergangsregierung von Modrow, keine Zukunft hatten. Aber bevor die politischen Weichen neu gestellt werden sollten, gab es für uns noch Handlungsbedarf. Das Wichtigste war, das von mehreren Generationen Bürgern der DDR geschaffene Volkseigentum zu erhalten, vor fremdem Zugriff zu schützen und zugleich Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass sich unsere volkseigenen Betriebe in der Marktwirtschaft als eigenständige Rechtssubjekte etablieren können. Mit diesem Ziel beschloss unsere Regierung am 1. März die Gründung einer Anstalt zur treuhänderischen Verwaltung des Volkseigentums (Treuhandanstalt). Dem waren Diskussionen in der Regierung und auch am Runden Tisch vorausgegangen. Es war doch nicht so einfach, eine geeignete Form der treuhänderischen Verwaltung mit
206 enormen vielen Milliarden werten Schatzes in Form von mehr als 15 000 Betrieben, Grundstücken, Wäldern, Agrarflächen usw. zu finden. Die Treuhandanstalt – eine Verwaltung, die im Namen und Auftrag der Bürgerinnen und Bürger zu treuen Händen über das Volkseigentum verfügt und es sorgsam mehrt – schien nach deutscher Rechtstradition geeignet, eine solche Aufgabe zu erfüllen. In der uns noch verbleibenden Zeit haben wir sofort ein Führungsgremium, Mitarbeiter und den Standort bestimmt und mit der Arbeit begonnen. Am 15. März nahm der Vorsitzende des Direktoriums, Dr. Peter Moreth, sein Stellvertreter Wolfram Krause, und zwei Direktoren, Paul Liehmann und Siegfried Zeißig (ein Stellvertretender Minister aus unserem Haus) die Arbeit auf. Bald – etwa im April – kamen dann die ersten „Fachleute“ aus der Alt-BRD. Es begann der Paradigmenwechsel, nicht mehr primär Bewahrung des Volkseigentums, sondern Privatisierung der volkseigenen Betriebe. Ich hatte im Februar noch Verhandlungen zu führen, die unsere Staatliche Versicherung der DDR betrafen. Dieser große staatliche Versicherungsbetrieb, der auch Träger aller Versicherungsverträge der Bürger war, musste, in Anbetracht der mit der Wiedervereinigung zu erwartenden völlig neuen Marktsituation, einen starken Partner bekommen. Nach reiflicher Prüfung haben wir uns damals für eine Partnerschaft mit der Allianz Holding, München entschieden. Hierbei wurde die Treuhandanstalt als Partner wirksam. Dieses rechtzeitige Entscheiden für einen sicheren Weg in die Privatisierung hat dieses Unternehmen, seine Mitarbeiter und die Versicherungsverträge der Bürger vor dem „Aus“ bewahrt. Am 12. April endete unsere Regierungszeit. Wir hatten – das kann man mit gutem Gewissen sagen – das Mögliche versucht. Es war seit dem 17. November 1989 im Sinne der Regierungserklärung von Modrow ein kaum vorstellbares Arbeitspensum bewältigt worden. Ein neues Wirtschaftsprogramm, die Öffnung für Beteiligungen privater Investoren, der Entwurf einer neuen Verfassung, die außenpolitischen Aktivitäten in Ost und West – schließlich der Vorschlag für einen Weg in die Einheit, der die politischen Schritte mit den ökonomischen verbindet. Gescheitert sind unsere Bemühungen letztlich an der Tatsache, dass die Vertrauenskrise zu Beginn der sog. Wende im Oktober und der Problemberg so groß waren, dass wir nicht zum gestellten Ziel kamen. Zu alle dem kam es, dass Gorbatschow nicht im Sinne des Bruderbundes zu uns, sondern zunehmend auf der Seite der Bonner Interessen stand. An dieser Stelle endet meine Darstellung der Geschichte der DDR, denn was nun in 1990 folgte, war die Abwicklung der, waren Ereignisse, die mit der Idee einer alternativen, dem Gemeinwohl dienenden Gesellschaft nichts mehr zu tun hatten, sondern nur der Restauration kapitalistischer gesellschaftlicher Verhältnisse in Ostdeutschland dienten. Dass das erste Beispiel des Versuchs einer alternativen Gesellschaft in der Mitte Europas aus der Geschichte verschwand, ist nun seit 30 Jahren Tatsache und hat die Verhältnisse weder in Deutschland noch in Europa und der Welt besser gemacht. Allen Gegnern sozialistischer oder einfach nur alternativer Ideen von einer menschlicheren Gesellschaft, wo
207 nicht der Profit das Maß aller Dinge ist, war und ist das sehr zupasse gekommen, sie haben nun freie Hand und müssen auf keinerlei Korrektiv mehr Rücksicht nehmen. Deshalb ist es mir auch wichtig und eine Herzenssache, mich im Alter von 90 Jahren zu Worte zu melden und meine Sicht auf dieses interessante Stück deutscher Geschichte, die mein Leben bestimmte, aufzuschreiben: „Vielleicht kommt eine Zeit, in der die Enkel es besser ausfechten werden. Vielleicht, sicher ist das nicht. Wenn wir aber den Sozialismus auf sich beruhen lassen, seine große Erzählung verschweigen, wie sollen die Späteren noch wissen, was da verloren gegangen ist?“ 57
Dick Boer, Neues Deutschland, 25.3.2018, Eine Theorie ohne Praxis? Wie man Marx nach dem Ende der großen Erzählungen lesen kann. Siehe https://www.neues-deutschland.de/artikel/1083453.marxismus-eine-theorie-ohne-praxis.html (letzter Zugriff 14.12.2020). 57
209 1.5. „Good luck and take care!“ Ilse und Walter Siegert gemeinsam vorm White House am 25. September 1990
Abb. 8: Eheleute Siegert in Amerika. Auf dem Weg zum Kolloquium im Department of State in Washington DC, nur wenige Blocks vom White House entfernt.
Im Mai 1990 bot das US Chamber of Commerce der DDR-Regierung an, ein Abkommen über Meistbegünstigung im gegenseitigen Warenaustausch abzuschließen. Das Angebot war offensichtlich ein Indiz dafür, dass man in Washington davon ausging, dass die DDR noch einige Zeit existieren könnte. Ministerpräsident Lothar de Maizière beauftragte mich mit der Verhandlungsführung. Auf diese Weise kam ich erstmals mit dem Botschafter der USA in der DDR, Richard Barkley, ins Gespräch. Wir sprachen dabei über die letzten Ereignisse in der DDR und über Persönliches. Dabei ging es auch um meine zahlreichen Familienangehörigen in den USA. Gegen Ende der Verhandlungen im August 1990 – der Einigungsvertrag war paraphiert – hatte ich die Chance, Urlaub zu nehmen. Ich wollte endlich die Einladung in die USA wahrnehmen, die mein Cousin schon im Herbst 1989 ausgesprochen hatte. Der Botschafter war bei der raschen Erteilung eines Visums behilflich. In diesem Zusammenhang fragte er mich, ob ich bereit sei, in einem Kolloquium im Department of State über die aktuelle Situation in der DDR zu informieren. Ich habe das dem Ministerpräsidenten Lothar de Maizière vorgetragen. Dieser stimmte dem Vorhaben bedenkenlos zu. Nach einer langen Reise über New York nach Washburn N.D. zur Familie meines Cousins Richard (seit 1926 in den USA), kam es zu einem Familientreffen mit meinem Cousin Kurt sen. (seit 1923 in den USA) und seinem Sohn Kurt jun. in Washington D.C. Seine Frau Anne erledigte beim Dep. of State die formellen Absprachen. Am 26. September 1990, ab 11 Uhr, sollte die Veranstaltung stattfinden. Den Transport sowie weiteres hatte Anne organisiert. Ich wurde vom Chief of Department Central Europe Mr. Jannis empfangen. Nach einer kurzen Verständigung über den Ablauf der Veranstaltung, wobei ich die Bitte äußerte, in deutscher Sprache vorzutragen, gingen wir zu einem Konferenzsaal. Dort traf ich auf einen Zuhörerkreis von ca. 80 Personen. Es waren Mitarbeiter des State Dep., Journalisten, Historiker sowie Interessierte anwesend.
210 Redenotizen zum Vortrag „Gedanken zur Geschichte der DDR und den Ereignissen des Jahres 1989/90: Es ist mir eine Ehre, dass Sie an Informationen über die DDR – The German Democratic Republic (GDR) – interessiert sind. Mich verbindet mit Ihrem Land, dass hier viele Leute aus meiner Familie leben. Die ersten wanderten schon im Jahr 1886 als Siedler nach Minnesota ein. Mit einigen von Ihnen haben wir uns in den letzten Tagen in Fargo ND. sowie hier in Washington wiedergesehen. Ich bin im Jahr 1929 in Chemnitz/Saxony geboren, habe über 30 Jahre im Finanzministerium der DDR in Berlin gearbeitet, zuletzt dort als Staatssekretär. Die Deutsche Demokratische Republik ist ein Ergebnis der Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Antihitlerkoalition zerbrach nach dem Sieg und jede Seite verfolgte nun ihre eigenen, strategischen Ziele. Obwohl das 1945 geschlossene Potsdamer Abkommen, den Erhalt Deutschlands abgerüstet und entmilitarisiert in den Nachkriegsgrenzen vorsah, war die Entwicklung anders. Die DDR wurde zu einer Art Faustpfand der UDSSR in der folgenden Auseinandersetzung der Großmächte. Im Bereich der sowjetischen Besatzungszone, die fünf ostdeutsche Länder (Mecklenburg, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen), die ungefähr 17,5 Millionen Einwohnern umfasste, wurde von Beginn an eine dem sowjetischen Modell ähnliche gesellschaftliche Entwicklung gefördert. Politische Träger waren vor allem zurückkehrende Emigranten und von den Nazis inhaftierte Kommunisten, Sozialisten sowie bürgerliche Linke. Das gesellschaftliche und wirtschaftliche Fundament dazu entstand im Jahr 1946 durch Volksentscheide, die einen großen Teil der Industrie und die großen Güter in der Landwirtschaft in staatliches Eigentum überführten. Die divergenten politischen Entwicklungen in den Besatzungsgebieten in Ost und West führten schließlich im Jahr 1948 zu einer separaten Währungsreform in den Westzonen. Als Konsequenz folgte eine Währungsreform auch in der sowjetischen Zone. Der wirtschaftlichen Spaltung folgte endgültig auch die politische. Im Jahr 1949 wurde die Bundesrepublik in den drei Zonen im Westen gegründet und im gleichen Jahr die Deutsche Demokratische Republik auf dem Gebiet der sowjetischen Zone im Osten Deutschlands. Diese alternative politische Entwicklung im Osten wurde vor allem von der „Kriegsgeneration“ unterstützt. All diejenigen, die nach dem schrecklichen Chaos einen politischen Bruch mit der Vergangenheit wollten. Das war anfangs eine Minderheit. Mit den Erfolgen der Aufbaujahre wurde die Anhängerschaft größer. Jedoch sahen viele Ostdeutsche eher in der BRD ihre Zukunft. Bis zum Mauerbau im Jahr 1961 wanderten etwa 2 Millionen Bürger aus der DDR gen Westen ab. Die von der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) angestrebte wirtschaftliche und soziale Neustrukturierung war ein „Learning by doing“ mit Versuchen, Fehlern und Brüchen. Richtungsstreit der politischen Führung, sowjetische Bevormundung und politische Attacken aus dem Westen waren ständige Begleiter. In den Tagen rund um den 17. Juni 1953 kam es bei einem Volks- und Arbeiteraufstand zu Streiks und Gewalt in Ostberlin sowie in einigen Industriezentren der DDR. Die sowjetische Armee griff mit Panzern ein. Das forderte viele Tote, Verletzte und Verfahren mit Inhaftierungen. Der wirtschaftliche Wiederaufbau Ostdeutschlands war ein sehr schwieriger Prozess. Der Osten hatte mehr
211 Kriegsschäden, trug die enormen Reparationsleistungen an die UdSSR allein. Die Teilung sowie das Embargo des Westens führten zu Disproportionen in der Wirtschaft, ihrer energetischen und materiellen Basis. Dennoch gelang es in den ersten Nachkriegsjahren, die Mehrheit der wirtschaftlichen Zentren wieder zum Laufen zu bringen. Ich war damals in Chemnitz in der Konzernzentrale des sächsischen Textilmaschinenbaues tätig. Schon ab dem Jahr 1947 lieferten die wieder aufgebauten Werke Textilmaschinen für das Inland und als Reparation in die Sowjetunion. In den folgenden vier Jahrzehnten erreichte die DDR jedes Jahr Wachstum in der Industrie sowie auch in der Landwirtschaft. Insgesamt ist die Produktion der DDR von 1950 bis 1989 um mehr als 800 Prozent gewachsen. Die DDR hatte eine leistungsfähige Landwirtschaft, überwiegend in Form von Genossenschaften. Etwa die Hälfte der produzierten Güter ging in den Außenhandel mit den RGW (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe der Ostblockstaaten) bzw. auch in die BRD und das westliche Ausland. Es gelang uns ein effizientes und für alle Bürger zugängliches Bildungswesen zu erschaffen. Auch unser Gesundheits- und Sozialwesen war landesweit für alle Bürger verfügbar. Wir hatten in allen Zeitphasen eine Vollbeschäftigung. Allerdings: Infolge mangelnder Innovation blieb die DDR jedoch in ihrer Produktivität hinter der Bundesrepublik zurück. Der Rückstand vergrößerte sich vor allem in den 70er und 80er Jahren auf etwa 50 Prozent. Das Warenangebot, speziell bei technischen Gütern und Kraftfahrzeugen blieb spürbar zurück. Durch die Berliner Mauer, die Grenzsicherung, die Reisebeschränkung, die Isolation, entstanden zunehmend Ursachen für Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Mitte der 80er Jahre ist die DDR zunehmend in eine politische Krise geraten. Hauptursache war die Blockade der politischen Führung unter dem Staatsratsvorsitzenden und SED-Parteichef Erich Honecker, der gegen jeglichen Dialog mit den sich entwickelnden unterschiedlichen Oppositionsgruppen, in der evangelischen Kirche, Friedensinitiativen „Schwerter zu Pflugscharen“ und auch Andersdenken in der eigenen Partei war. Der Mehrheit der Oppositionellen ging es um eine andere, reformierte DDR, nicht um deren Abschaffung! Ansporn dazu war u. a. die von Michail Gorbatschow in der UdSSR angestrebte Perestroika (Umgestaltung). Die SED Parteiführung reagierte borniert, ablehnend sowie mit Gewalt darauf. Die Proteste eskalierten immer mehr: Es gab massenhafte Ausreiseersuchen, die Prager Botschaftsbesetzung Ende September 1989, die Montagsdemonstrationen in Leipzig am 9. Oktober usw. Erst am 18. Oktober traten Honecker und die alte Führung offiziell schließlich ab. Eine neue Regierung unter Hans Modrow, einem reformwilligen Mann, versuchte, die Krise zu stoppen. Oppositionelle wurden ab Februar 1990 in die „Regierung der nationalen Verantwortung“ mit einbezogen. Ein Reformprogramm für die Wirtschaft und eine neue DDR-Verfassung wurden erarbeitet. Aber es war eindeutig zu spät. Als am 9. November „spontan“ die Grenze, spricht die „Berliner Mauer“ öffnete, wanderten täglich Tausende DDR-Bürger in die Bundesrepublik ab. Die Hoffnung und das Vertrauen in die mögliche Reformierbarkeit der DDR waren weitgehend verloren. Die wirtschaftliche Situation der DDR war um die Jahreswende 1989/90 noch relativ stabil. Die
212 Auslandsschulden der DDR betrugen ca. 25 Mrd. DM. Der Staatshaushalt war noch ausgeglichen, die Infrastruktur funktionierte. Jedoch hatte die DDR einen täglich wachsenden Valutabedarf durch die Reisedevisen usw. Der Versuch der Modrow-Regierung mit Kanzler Kohl zu einer Finanzhilfe von 15 Mrd. DM zu kommen, wurde am 13. Februar 1990 in Bonn abgewiesen. Die Bundesregierung bot der DDR dagegen eine Währungsunion an, d. h. die Einführung der D-Mark in der DDR. Die Verhandlungen zu einem entsprechenden Abkommen zwischen der DDR und der BRD begannen Mitte Februar. Ich war Mitglied unserer Verhandlungsdelegation: Unser Bestreben war, die Währungsunion mit einer förderlichen wirtschaftlichen Zusammenarbeit zu verbinden. Des Weiteren ging es der DDR-Seite um den Erhalt des sozialen Standards. So kam der Begriff und das Bestreben nach einer „Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion“ (WWS) zustande. Bis Ende März wurde in den komplizierten vielfältigen Sachverhalten, die ein solcher Vertrag (ohne Vorbild und Beispiel) zu regeln hat, eine gewisse Verständigung und Annäherung erreicht. Als am 18. März die erste und zugleich letzte freie Volkskammerwahl in der DDR stattfand, die ein neues Parlament sowie eine neue Regierung zur Konsequenz hatte, endete unsere Legitimation. Die Wahlen am 18. März ergaben eine klare Mehrheit von 48 % für das Wahlbündnis „Allianz für Deutschland“ unter Führung der Partei der Christlich Demokratischen Union (CDU), die mit dem Slogan „Freiheit und Wohlstand – nie wieder Sozialismus“ sowie für die Herstellung der Einheit Deutschlands und die rasche Einführung der D-Mark warb. Die in Ostdeutschland neu gegründete Sozialdemokratische Partei (SDP), ab Januar 1990 dann SPD, erreichte 22 % der Stimmen und die Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) erzielte als Nachfolgepartei der SED 16 % der Wählerstimmen. Die neue Regierung wurde durch eine Koalition der Allianz-Parteien und der SPD gebildet. Neuer Ministerpräsident und Nachfolger von Modrow wurde Lothar de Maizière, der seit 10. November 1989 der Vorsitzende der CDU der DDR sowie stellvertretender Ministerpräsident in der Modrow-Regierung war. Die neue Regierung setzte Anfang April die Verhandlungen zur Währungsunion mit der BRD fort. Mir wurde die Möglichkeit gegeben, erneut als Staatssekretär im Finanzministerium tätig zu sein und die DDR in den Verhandlungen zu vertreten. Bereits am 18. Mai wurde ein entsprechender Staatsvertrag über die Einführung der D-Mark zum 1. Juli unterzeichnet. Dieser Vertrag war zugleich mit der Übernahme aller Gesetze auf dem Gebiet des Staatshaushaltes, der Banken und Steuern verbunden und beendete damit faktisch die Selbstständigkeit der DDR auf entscheidenden Feldern des Staates. Das war ein riskantes, aber durch die politischen Vorgaben der BRD-Seite ein „alternativloses“ Vorgehen. Für die DDR-Bürger waren die Umtauschverhältnisse der DDR-Mark in D-Mark mit „1 zu 1“ bzw. „1 zu 2“ für die Sparguthaben akzeptabel. Für die Wirtschaft der DDR waren die Konditionen der Währungsumstellung problematisch bis riskant, weil sie zugleich mit der Öffnung des ostdeutschen Marktes für alle westdeutschen Konkurrenzunternehmen verbunden war. Bereits im August übernahmen westdeutsche Supermarktketten große
213 Teile der Kaufhallen der staatlichen Handelsorganisation der DDR bzw. der KONSUM-Genossenschaft. Damit war die Auflösung vieler Verträge mit Lieferanten in der DDR verbunden. Gleichzeitig gewannen westdeutsche Firmen den ostdeutschen Markt. Zum Beispiel verloren die Obstbauern im Berliner Umland mitten in der Erntezeit ihre Abnehmer. Durch solche Entwicklungen brach die Produktion in zahlreichen Betrieben ein und die Zahl der Arbeitslosen wuchs sprunghaft an. Unsere Regierung hat diese Entwicklung mit vielen Streiks und massiven Protesten der Landwirte in arge Bedrängnis gebracht. Um die Eingliederung der DDR in die BRD insgesamt rechtlich und administrativ geordnet möglich zu machen, ist von den beiden Regierungen ein sogenannter „Einigungsvertrag DDR-BRD“ erarbeitet und am 31. August von beiden Regierungen unterzeichnet worden. Das ist ein mehr als eintausend Seiten umfassendes Regelwerk für ein breites Spektrum von Themen entstanden, wie die rentenrechtliche Angleichung, die Übernahme des Vermögens der DDR, die künftige Finanzausstattung der Länder und Gemeinden, die Anerkennung von Akademischen Zeugnissen und Graden usw. Ein Konvolut, an dem viele Juristen aller Bundesministerien mit der „Liebe zum Detail“ fleißig arbeiteten. Ein Mammutwerk und beispiellos! Es wird nicht einfach werden, alle diese Regelungen praktisch in den neuen Verwaltungen der ostdeutschen Länder und Kommunen umzusetzen. Schon jetzt ist vorgesehen, dass dies vor allem mit vielen Beamten, Richtern, Rechtsanwälten aus der Alt-BRD „begleitet“ werden soll. Wir Ostdeutschen müssen bisher vertraute Normen und Regelungen hinter uns lassen und „umlernen“. Man könnte mit einem hierzulande üblichen Slogan sagen „Good luck and take care“. Damit schließe ich meinen Überblick und bedanke mich für Ihre Einladung sowie Ihre Aufmerksamkeit. Reaktionen sowie Diskussion: Die folgende Aussprache war sehr lebhaft und zeigte ein großes Interesse an den verschiedensten Fragen, die DDR und die Wiedervereinigung betreffend. Aus meiner Erinnerung gebe ich hier einiges wieder: - Die DDR unterlag einem starken politischen Einfluss seitens der Russen, wie hat sich das auf die Jugend ausgewirkt, welche Motivation wurde vermittelt? - Wie muss man sich unternehmerisches Agieren in einem Staatsbetrieb der DDR vorstellen, die Rahmenbedingungen und das Konkurrenzverhalten? - Welche Möglichkeiten bestehen, um in ehem. Staatsbetriebe der DDR zu investieren, gibt es Regelungen für „Joint Venture“? - Wie beurteilen Sie die Möglichkeiten der Stabilisierung der ostdeutschen Wirtschaft nach den gegenwärtigen Turbulenzen? - Welche Rolle kann der „Einigungsvertrag“ in der Praxis spielen, wenn die eine Vertragspartei „DDR“ alsbald nicht mehr existiert? Zum Schluss stellte ich die Situation der Leute in der DDR in Kürze dar: In der DDR waren wir bemüht wie hier in den USA unsere Kinder zu befähigen „Winner“ zu werden. Die
214 Schulbildung bis zur Universität bot dazu jede Möglichkeit. Sie war für jeden kostenlos zugänglich. Und wir haben viele gute Fachleute auf allen Gebieten ausgebildet. Aber unser Lohnsystem war wenig stimulierend, der gute Ingenieur verdiente nicht viel mehr als der Arbeiter. Mit seinem Gehalt konnte man nicht sofort ein Auto kaufen, sondern hatte Wartezeiten. Ein eigenes Haus bauen war ebenfalls schwierig. Reisen zu unternehmen, wohin man wollte, war unmöglich. Der Horizont war eng auf den Ostblock beschränkt! Man konnte also ein „Winner“ werden, erfolgreich aufsteigen und im Rahmen der Möglichkeiten gut leben. Aber auf Dauer wird es schwierig, solche Grenzen zu akzeptieren, wenn man die schöne verlockende Welt nur aus dem (West)Fernsehen oder durch ein Buch erleben kann. Die Welt zu erkunden, Chancen zu nutzen, ist dem strebenden Menschen eigen. Es war der Drang nach Freiheiten, die die Menschen der DDR einforderten und durch ihren Mut mit der friedlichen Revolution jetzt bekamen.
215 1.6. Minister und Staatssekretär im Ministerium der Finanzen der DDR Walter Siegert (†) „Machterhalt kennt keine Bedenken, auch wenn es zu Lasten der Bürger geht.“
Abb. 9: Walter Siegert – 90. Geburtstag
Walter Siegert wurde am 18. Mai 1929 in Siegmar/Chemnitz geboren und verstarb am 2. Februar 2020 in Berlin. Die letzte Ruhestätte fand er auf dem Evangelischen Friedhof Alt-Stralau. Von 1935 bis 1941 besuchte Siegert die Volksschule und war von 1939 bis 1945 Kassenverwalter im Deutschen Jungvolk. Von 1941 bis 1947 absolvierte er die Oberschule mit Abitur. In den Jahren 1947/48 erfuhr er eine Ausbildung bei einem Steuerberater. Von 1948 bis 1955 war er Mitglied in der FDJ und bis 1990 in der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft (DSF). Von 1949 bis 1952 war Siegert als Revisor in der volkseigenen Textilmaschinenindustrie in Chemnitz und im Ministerium für Maschinenbau Berlin tätig. Von 1949 bis 1990 gehörte er als Mitglied dem FDGB an. Von 1952 bis 1989 war er Mitglied der SED (sein Austritt erfolgte nach dem Parteitag am 8./9. Dezember 1989). Von 1952 bis 1955 absolvierte er ein Studium an der Hochschule für Finanzwirtschaft bzw. der Hochschule für Ökonomie in Berlin. Er schloss erfolgreich als Diplomwirtschaftler ab. Von 1955 bis 1960 war er Wissenschaftlicher Assistent an der Hochschule für Ökonomie in Berlin. Von 1960 bis 1964 wirkte er als Abgeordneter im Bezirksparlament des Stadtbezirkes Berlin-Lichtenberg. Im Jahre 1961 erfolgte seine Promotion zum Dr. oec. an der Hochschule für Ökonomie. Von 1961 bis 1966 war Siegert Mitarbeiter in der Regierungskommission, von 1966 bis 1968 Abteilungsleiter im finanzökonomischen Forschungsinstitut, von 1968 bis 1973 Stellvertretender Leiter der Staatlichen Finanzrevision (SFR) der DDR und von 1973 bis 1980 Leiter der Staatlichen Finanzrevision der DDR. In den Jahren von 1980 bis 1989 hatte Siegert Obhut- und Aufsichtspflicht beim VEB Datenverarbeitung der Finanzorgane der DDR. Es erfolgte eine regelmäßige Teilnahme mit jährlicher Rede auf der Betriebskonferenz. Von 1980 bis November 1989 wirkte er als Staatssekretär im Ministerium der Finanzen in der Regierung Willi Stoph und von November 1989 bis Januar 1990 als Staatssekretär im
216 Ministerium der Finanzen in der Modrow-Regierung. Von Dezember 1989 bis 18. März 1990 erfolgte seine Mitarbeit in der Arbeitsgruppe „Wirtschaftsreform“, u. a. mit Christa Luft und Wolfram Krause mit dem Konzept „Vorschlag für eine Wirtschaftsreform“ in der DDR. Es schlossen sich Teilnahmen am „Zentralen Runden Tisch“ in Ost-Berlin als Vertretung für die Ministerin der Finanzen der DDR an. Vom 29. Januar bis 11. April 1990 war Siegert Geschäftsführender Finanzminister in der Modrow-Regierung, vom 15. Februar bis 12. April 1990 Mitglied in der Expertenkommission zur Vorbereitung der „Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion“ mit der Erstellung eines Abschlussprotokolls. Am 14. März 1990 war Siegert Unterzeichner des Vorvertrags für eine Kooperation zwischen „der Staatlichen Versicherung der DDR“ sowie der „Allianz Versicherungs-AG“, München. Vom 12. April bis 2. Oktober 1990 war Siegert noch Staatssekretär im Ministerium der Finanzen und Preise im Kabinett Lothar de Maizière. Am 26. Juni 1990 war Siegert Unterzeichner der Gründungsurkunde der „Deutschen Versicherungs-AG“. In der Zeit vom 1. September 1990 bis zum 1. April 1991 saß Siegert als Mitglied im Aufsichtsrat im Eisenhüttenkombinat Ost (EKO). Vom 3. Oktober 1990 bis 28. Februar 1991 war er als Berater im Bundesfinanzministerium in Bonn tätig. Interview: 1 Herr Siegert, Sie wurden am 18. Mai 1929 in Siegmar bei Chemnitz geboren. Welche Erinnerungen haben Sie an Ihre Kindheit, Ihre Schulausbildung und Ihr Elternhaus? Welche Lebensumstände herrschten während und nach dem Krieg? Gab es in dieser Zeit bereits Vorbilder für Sie? Erzählen Sie bitte aus Ihren Erinnerungen. Geboren wurde ich Im Jahr 1929 in Siegmar bei Chemnitz. Die Weltwirtschaftskrise stand praktisch an meiner Wiege. Zu dieser Zeit war mein Vater ein gut situierter Angestellter der Sächsischen Maschinen- und Lokomotivbaufabrik Richard Hartmann AG in Chemnitz und meine Mutter war Kontoristin 2 in einem noblen Betrieb für Haushaltsartikel, bei der J. G. Leistner GmbH in Chemnitz. Sie beendete ihre Arbeit zum Zeitpunkt meiner Geburt. Weil der große weltbekannte Betrieb – die Hartmann AG – im Jahr 1931 pleiteging, wurde mein Vater im Mai 1931 arbeitslos. Mein Vater war ein außerordentlich kluger und zielstrebiger Mann: Vier Jahre Erster Weltkrieg, 1913 eingerückt als aktiver Die div. Zeitzeugeninterviews und Hintergrundgespräche mit Walter Siegert fanden am 15.3.2017, 17.5.2017, 15.–16.9.2017, 26.–27.4.2018, 14.5.2018, 6.7.2018, 13.7.2018, 8.11.2018, 10.12.2018, 1.3.2019, 11.7.2019 und am 21.10.2019 in Berlin sowie vier Jahre fernmündlich und schriftlich statt. Die Fragen umfassen die persönliche Lebensbiografie, Zäsuren der deutsch-deutschen Geschichte bis in die Zeit der friedlichen Revolution 1989/90 sowie danach. Explizit wurden Fragen zu beruflichen Stationen als Staatssekretär und Minister der Finanzen sowie über Weggefährten Siegerts gestellt. An diesen Gesprächen nahmen die Ehefrau Ilse Siegert (Kosename Ille) und Svetlana Egorova aus Hannover teil. Auszugsweise erfolgte eine Erstverwendung von Themenschwerpunkten in Gehler/Dürkop, Deutsche Einigung, Reinbek 2021. 2 Buchhalterin in der J. G. Leistner GmbH in der Zeit von 1910 bis 1928. 1
217 sächsischer Grenadier in einem Dresdener Regiment, worauf er sehr stolz war. In den Krieg geraten wurde er mehrfach verwundet, hochdekoriert und ging als „sächsischer Patriot“ in die schwere Nachkriegszeit. Er hatte Glück mit der Anstellung in der Hauptbuchhaltung in dieser noblen Firma Richard Hartmann, verdiente gut und wurde geachtet. Beauftragt war er mit Vertrauensaufgaben, z. B. mit der Verwaltung der im Tresor befindlichen Aktien dieser Firma. Mein Vater wollte nicht arbeitslos bleiben. Er übernahm deshalb risikoreich in der Nähe von Chemnitz in einem kleinen Ort, der Erfenschlag heißt, ein Lebensmittelgeschäft, das gerade pleitegegangen war. Wir zogen dorthin, in diese Vorstadtgemeinde von damals 1500 Einwohnern, einen Arbeitervorort von Chemnitz. Chemnitz war damals die sächsische Industriemetropole mit rund 380 000 Einwohnern. Infolge der schweren Zerstörungen während des Krieges reduzierte sich die Einwohnerzahl auf knapp 300 000. Aufgrund des Treuhandcrashs nach der Wende ist Chemnitz nach dem Abstieg der Industrie in der DDR nur noch zweitrangig! In diesem kleinen Ort Erfenschlag wuchs ich in dörflichen Verhältnissen in schöner Natur am Rande des Erzgebirges auf. Mein Vater hatte nie Angestellte in seinem kleinen Geschäft. Somit hielten er, meine Mutter und meine bescheidene Hilfe dieses Geschäft am Leben. Bei Eröffnung des kleinen Ladens im Jahre 1931 war die Arbeitslosigkeit in unserem Ort sehr hoch. Das änderte sich erst 1934. Da wurde begonnen, die Zwönitz zu regulieren, ein kleines Gewässer, das durch unser Tal fließt. Ein großes Vorhaben, bei dem Hunderte Männer Arbeit fanden. Bautechnik gab es dabei kaum. Die Arbeiten erfolgten mit Hacke und Schaufel, eine schwere Arbeit für die Männer. Mein Vater nutzte diese Möglichkeit fürs Geschäft. Wir zogen jeden Morgen mit dem Handwagen los — ich war ein kleiner Bub – im Handwagen Körbe voll frisch geschmierter Brötchen, Eimer mit Gurken und Heringen. Wir gingen in die Arbeiterbaracken und versuchten dort, ein paar Mark Umsatz zu machen. Mein Vater holte oftmals mit dem Fahrrad und großem Gepäckträger Waren aus der Chemnitzer Großmarkthalle, Obst und Gemüse fürs Geschäft. Das brachte ihm einen ein paar Mark günstigeren Einkauf. Früh um vier fuhr er los — es war eine Strecke von 15 Kilometern mit einem großen Berg zu überwinden. Gegen 8 Uhr war er dann zurück und die frische Ware im Laden. Meine Eltern hatten wenig Zeit für mich. Ich wuchs relativ selbstständig auf und lernte im Laden, wie man arbeiten kann und muss! Schon als kleiner Junge füllte ich Lebensmittel in Tüten ab und half beim Flaschenabfüllen. In den kleinen Dorfläden gab es damals kaum fertige Lebensmittelpackungen. Wir bezogen große Säcke mit Reis, Zucker, Erbsen usw. Dann wurde abgewogen und in Tüten mit dem eigenen Firmenschild abgefüllt. Wein bezogen wir im Fass, befüllten selbst die Flaschen – freilich billige Sorten. Auf diese Weise lernte ich, wie hart es ist, eine derart kleine Existenz zu erhalten und dass nur mit Fleiß etwas erreicht werden kann. Mein Dorfladen war für mich eine interessante Kindheit mit prägenden Erlebnissen. Somit war der Laden in seinem ganzen Tief- und Hochgang der Begleiter meiner Kindheit und Jugend. Meine Eltern waren in ihrer Weltsicht durch Weltkrieg und Weimarer Zeit geprägt und waren eigentlich unpolitisch orientiert.
218 Meine Bildung begann im Jahre 1935 mit der Einschulung in der Dorfschule in Erfenschlag. Im Jahre 1939 begann dann der Krieg und er veränderte alles. Meine Eltern — sie hatten bereits die schrecklichen Erfahrungen des Ersten Weltkrieges – nahmen die Ereignisse mit großer Sorge wahr. Mein Vater war mit über 50 Jahren bereits zu alt für den aktiven Militärdienst. Im Jahre 1944 wurde er dann doch eingezogen und in Chemnitz kaserniert. Meine Mutter besorgte den Laden allein mit meiner Hilfe. lm Februar 1945 Abb. 10.: (v. l. n. r.): Laden 1932 – Hausgehilfin fielen an mehreren Tagen viele Bomben Isolde Polenz, Mutter Elise Siegert, Vater Rudolf auf unser kleines Dorf. Siegert und der kleine Walter. Zahllose Spreng- und Brandbomben zerstörten und beschädigten fast alle Häuser, auch unser Haus wurde schwer getroffen. 64 Tote waren zu beklagen. Ich erlebte den Krieg hautnah, mit allem Grauen, Verletzten und Toten. Überall ringsherum brannten die Häuser. Wir Jungs wurden zum Räumen der Trümmer und zum Bergen der Toten eingesetzt. Auf Wunsch meines Vaters, der aus mir einen Kaufmann machen wollte, besuchte ich seit 1941 die Höhere Handelslehranstalt in Chemnitz. Es war ein hohes Schulgeld zu zahlen und ich hatte, aus einer dreiklassigen Dorfschule kommend, allerhand Schwierigkeiten. Wir sollten innerhalb sechs anstatt acht Jahren das Abitur erreichen. Ich besuchte die Schule mit großem Eifer und lernte Klassenkameraden kennen, die aus ganz anderen Lebensverhältnissen stammten. Die Mehrheit waren Unternehmerkinder aus „gutem Haus“. Meist kleine Unternehmen, das hieß, aus dem Umfeld von Chemnitz, vor allem kleine Textilbetriebe. Es waren keine Krösusse, aber sie waren recht selbstbewusst und ich war anfangs das „Kind vom Grünwarenhändler“. Die Schule war für mich eine gute Bildungsstätte mit breitem Lernprofil, einschließlich Betriebs- und Volkswirtschaftslehre sowie Buchhaltung und Stenografie. Das ging bis zum November 1944 gut. Dann wurde die Schule von Bomben getroffen und es fand kein Unterricht mehr statt. Wie bereits erwähnt erreichten uns die Bombenangriffe in meinem Heimatort Erfenschlag im Februar 1945. Bei und nach den Angriffen versuchte jeder, den Betroffenen zu helfen. Ich sah dabei Schreckliches. In den folgenden Tagen halfen wir gemeinsam mit Kriegsgefangenen und Häftlingen aus einem KZ beim Aufsammeln von Blindgängern. In der Regel waren es Stabbrandbomben, die überall zu finden waren. Dabei wurde ich Zeuge, wie Wehrmachtsangehörige die Toten eines abgestürzten US-Bombers bargen. Zuerst wurde in die Taschen gefasst; Zigarettenetuis und andere Wertsachen wurden entnommen. Man konnte Grauen und Moralverfall greifen! 1998 habe ich meinem
219 Freund Dr. Gert Richter 3 geholfen, diese Kriegserinnerungen in einer Broschüre 4 zu veröffentlichen. Dabei konnte ich mithilfe meiner in Colorado Springs (USA) lebenden Cousine aus Archiven die Namen der vermutlich in dieser abgestürzten Maschine getöteten Soldaten ermitteln. Waren Themen „Politik und Parteien“ für Ihre Eltern bzw. Familie relevant? Die älteren Brüder meines Vaters waren zum Teil Mitglieder der SPD bzw. Gewerkschaftsmitglieder. Mein Vater war aufgrund seines Berufes eher der „neutrale“ Bürger. Er war von Jugend an im Stenografenverein organisiert und verknüpfte sein Hobby mit seinem Beruf. Aber er war in Reichenbrand 5 auch Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr, also sorgte er sich schon um das Gemeinwohl. Mein Vater hatte als jüngster Sohn einer Maurerfamilie nach der Volksschule eine Kaufmannslehre durchlaufen. Seine Brüder hatten Handwerksberufe ergriffen, wie mein Großvater, der Maurer war. Im Ersten Weltkrieg wurde mein Vater im Jahre 1913 zum Leibgrenadierregiment Nr. 100 nach Dresden einberufen. 6 Er kämpfte vier Jahre an der Westfront in Frankreich und wurde dort dreimal schwer verwundet. Aus dem Krieg nahm er die Erfahrung und den Vorsatz mit: Nie wieder Krieg! In den 1920er-Jahren sah er keinen Sinn darin, sich in einer Partei zu engagieren. Meine Eltern heirateten im Jahr 1919. Ihr erstes Kind wurde im Jahr 1919 geboren, verstarb aber bald an Unterernährung. Sie sahen den Erhalt einer bescheidenen Existenz als gemeinsame Aufgabe. Meine Eltern waren beide sehr lautere Charaktere: zielstrebig, fleißig und gesellig. Mein Vater war durch den Militärdienst recht patriotisch im guten Sinne, indem er sich wünschte, es möge wie im „alten königlichen Sachsen“ friedlich und leutselig zugehen. Als Hitler und die Nazis an die Macht kamen, hatte er gerade drei Jahre seinen Laden mühsam über Wasser gehalten. Als Geschäftsmann in einem kleinen Dorf wurde er bald auch Mitglied der NSDAP. 7 Ich wurde im Alter von zehn Jahren Mitglied im sogenannten Jungvolk 8 und blieb es bis 1945. Mein Vater musste im Jahr 1946 vor die örtliche „Entnazifizierungskommission“ 9. Das war eine öffentliche Versammlung in einer Fabrikhalle. Viele Zuhörer aus dem Dorf als „Miturteilende“ und ich waren dabei. Mein Vater wurde von der Kommission – das waren antifaschistische Leute aus dem Dorf, darunter zwei Kommunisten, die jahrelang im KZ inhaftiert waren – als „nicht schuldig“ eingeschätzt. Zu dieser Zeit hatte er aber bereits seine Gewerbeerlaubnis verloren und arbeitete als Hilfsarbeiter in einem örtlichen Holzbaubetrieb, der Gert Richter (1934–2015) war Stadtarchivar von Karl-Marx-Stadt. Gert Richter, Chemnitzer Erinnerungen 1945 (Band 4), Zeitzeugen berichten, Chemnitz 2005. 5 Reichenbrand liegt im Westen der Stadt Chemnitz und wurde als Ortsteil der ehemaligen Stadt Siegmar-Schönau im Jahre 1950 zu Chemnitz eingemeindet. 6 Königlich Sächsisches Leib-Grenadier-Regiment Nr. 100 - KAB – Dresden. 7 Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP). 8 Das Deutsche Jungvolk (DJ), kurz auch als Jungvolk bezeichnet, war in der Zeit des Nationalsozialismus eine Jugendorganisation der Hitlerjugend für Jungen zwischen 10 und 14 Jahren. 9 Zielsetzung war es u. a. eine Demokratisierung und Entmilitarisierung herzustellen. 3 4
220 Holzhäuser für die Sowjetunion als Reparationen fertigte. Unseren Laden hatten wir also bereits verloren. Er wurde die Konsum-Filiale 10 unseres Dorfes. Das heißt, die von den Nazis verbotene Verbraucherorganisation der kleinen Leute, eine Idee der SPD gab es wieder. Mein Vater kehrte im Jahr 1949 wieder in seinen kaufmännischen Beruf zurück, wurde Mitarbeiter in der Betriebsabrechnung und Kalkulation des Buchungsmaschinenwerkes in Chemnitz. Er war dort ein geachteter Fachmann, engagierte sich in der Gewerkschaft und als Obmann für das „Aufbausparen“. Erst im Alter von 72 Jahren ging er in seinen verdienten Ruhestand. Meine Eltern waren wegen des Verlustes ihres Ladens und manch anderen Ärgers mit der „neuen Politik“ im Ort nicht gerade Optimisten in Bezug auf die Zukunft. Sie waren aber glücklich, dass wir alle die Bombenangriffe überlebt hatten, und nach und nach Hoffnung auf ein besseres sowie friedliches Leben entstand. Zurück zu mir: Nach Kriegsende im Mai 1945 ging es darum, die zerstörten Häuser im Dorf, vor allem auch die Scheunen der Bauern, soweit möglich, alsbald zu reparieren. Vom Bürgermeister, einem Maurer, wurde ein kleiner Baubetrieb – genannt Bauhütte – gegründet. Alle arbeitsfähigen Männer wurden zur Mitarbeit aufgefordert. Die Arbeit in den schwer zerstörten Betrieben der Stadt ruhte noch und die Oberschulen waren auch noch nicht wieder geöffnet. Also fing ich dort als Hilfszimmermann an, für 29 Pfennige Stundenlohn. Ich lernte, Dächer mit Schalung zu versehen und Balken zu verzapfen. Wir hatten einen ganz tollen Meister, der uns Jungs, alle zwischen 16 und 19 Jahre alt, die verschiedenen Holzarbeiten beibrachte. Da es kein Material gab, holten wir uns selbst die Bäume aus dem Wald, brachten sie zum Sägewerk und am nächsten Tag waren die Bretter schon auf irgendein Dach gezimmert. In diesen ersten Friedenstagen, im Mai/Juni nach Kriegsende, war dies eine sehr befriedigende Arbeit. Also alles nach unserem hautnah erlebten Inferno und immer knapp am Tod vorbei! Ich will meine persönliche und letzte Kriegserfahrung schildern: Ende März 1945 bekam ich im Alter von fast 16 Jahren einen Einberufungsbefehl zur Wehrmacht! 11 Mein Vater meinte: „Da musst du hingehen.“ Ich tat es und wurde in einer neu aufgestellten Schützenkompanie Soldat. Da die Kasernen in Chemnitz nicht ausreichten, wurden wir in dem Ausflugslokal „Knaumühle“ kaserniert. Das lag am Rande der Kleinstadt Limbach, 12 nordwestlich von Chemnitz. Unsere Ausbilder waren Halbgenesene aus einem nahegelegenen Lazarett. Ich hatte einen Gruppenführer bzw. Unteroffizier, dem ein Arm fehlte. Der Kompaniechef, ein SS-Obersturmführer, hatte ein Auge verloren. Die Karabiner stammten aus der Vorkriegszeit. Die Uniformen kamen aus erbeuteten Beständen der belgischen Armee. So grenzwertig waren dort die Verhältnisse. Wir wurden in einem nahegeKONSUM-Filiale war eine Genossenschaft des Einzelhandels. 1923 verboten und 1945 neu gegründet. 11 Wehrmacht ist die Bezeichnung für die Gesamtheit der Streitkräfte im national-sozialistischen Deutschland. 12 Limbach ist ein Ortsteil der sächsischen Kleinstadt Wilsdruff im Landkreis Sächsische SchweizOsterzgebirge und liegt ca. fünf Kilometer westlich von dieser linksseitig über dem Tal der Kleinen Triebisch. 10
221 legenen Steinbruch in einem Schnellkurs hart ausgebildet: mit Panzerfaust, Tellerminen usw. Ab und zu Angriffe von Flugzeugen ... Keiner wusste, wo genau sich die Front befand. Die Russen standen inzwischen bei Dresden und die Amerikaner in Zwickau. Nachts luden wir auf freier Strecke verwundete bzw. tote Soldaten aus Lazarettzügen. Auf Pferdefuhrwerken ging es für die Überlebenden in das nächste Lazarett. Die toten Soldaten bekamen ihre letzte Ruhe. Schreckliche Erfahrungen, die bei mir immer wach bleiben … bis heute präsent sind. Ich hatte ein riesiges Glück, dass diese Offiziere uns Ende April 1945 nach Hause schickten. „Wir müssen Euch mal ein paar Tage Urlaub geben! Gebt Eure Uniformen und Waffen ab! Wir rufen Euch wieder, wenn wir Euch brauchen!“ Zunächst begriffen wir nicht, was vorging. Aber jeder versuchte, so rasch wie möglich davonzukommen. Dreißig Kilometer zu Fuß war die Strecke bis nach Hause. Zum Glück noch durch ein friedliches Terrain. Erst später habe ich von einem meiner Klassenkameraden aus Limbach erfahren, dass sich diese Offiziere im Steinbruch erschossen haben. Das ist die Tat und das Schicksal von Männern, die nach schlimmstem Erleben offenbar keine Chance bzw. Alternative mehr für sich sahen. Ihr Verhalten, ihre für uns jungen Leute eine lebensrettende und zugleich mutige Entscheidung zu treffen, verdient noch heute meinen Dank. Ganz anders erging es zwei meiner Klassenkameraden: Der eine wurde im Erzgebirge und der andere im Dienst vor einer Kaserne in Chemnitz tödlich getroffen. Sinnlose Kriegsopfer, für die sich wahrscheinlich die Befehlsgeber nie juristisch sowie moralisch verantworten mussten. Mit diesen prägenden Erfahrungen bin ich aus Nazi-Deutschland 1945 in die „neue Zeit“ gelangt. Wer behauptet, er sei in der Nazizeit zur Schule gegangen und es hätte ihm diese Ideologie und ihr Ende im Chaos nichts ausgemacht, er hätte das alles früh erkannt, der lügt. Einige wenige hatten das große Glück, Eltern zu haben, die Kommunisten oder irgendwie Andersdenkende waren, die wirklich ihre Kinder etwas Besseres gelehrt haben. In meinem Umfeld gab es nur eine solche Ausnahme. Was war Ihnen in dieser Zeit über die Judendeportationen bekannt? Mir ist in Erinnerung, dass bereits in den ersten Klassen der Volksschule 1935 bis 1937 das Thema „die bösen Juden“ uns Kindern nah gebracht wurde. Ich erinnere mich auch, dass die schönen Kaufhäuser — wie Tietz und Schocken in Chemnitz — in unserer Familie sehr beliebt waren. Deshalb empfand man schon einen Widerspruch! Ich erlebte die verwüsteten Läden im Jahr 1938. Das wurde von den Leuten als Schock wahrgenommen, aber eine wirkliche Empörung gab es nicht, denn man spürte Angst. Ich hatte mal in der Schule von dem „schönen Einkauf“ bei Tietz erzählt, das brachte meinem Vater eine „Aussprache“ beim Schuldirektor ein. Die Vertreibung erlebte ich so: In der Höheren Handelsschule hatten wir in der Mädchenklasse zwei sehr hübsche Mädels. Sie waren plötzlich verschwunden. Es waren Unternehmerkinder, die in der Nähe meiner Tante wohnten. So erkundigte ich mich bei ihr, warum denn diese Mädels nicht mehr zur Schule kämen. Die Antwort: Weißt Du denn nicht, das sind Juden, die werden verfolgt. Die Leute
222 waren noch rechtzeitig ins Ausland gegangen. Solche Erfahrungen, die ich als Schüler machte, waren nachhaltig. Man sah die Leute mit dem Judenstern auf der Straße, man sah polnische Arbeiter mit dem „P“. Bei dem Bauunternehmen neben uns entstand im Jahr 1941 ein Kriegsgefangenenlager mit erbärmlich aussehenden jungen Rotarmisten: zerlumpt und eingepfercht. Wir nahmen alles wahr, waren erschrocken, ängstlich, aber auch hilflos. Man gewöhnte sich daran, es war unabänderlich. Trotzdem halfen meine Eltern den russischen Soldaten mit Essen über den Zaun oder ein bisschen Nähzeug für die Kleidung aus. Als die Bomben im Februar 1945 fielen, erlebte ich KZ-Häftlinge, die bei uns im Garten Blindgänger – metergroße nicht explodierte Fliegerbomben — ausgruben, entschärften und abtransportierten. Diese Männer in Häftlingskleidung — wir haben dabei zugesehen — taten ihren Dienst. Die Bewacher mit Gewehr standen dabei, es verlief alles ohne viel Aufhebens ab. Wir fragten uns, was passiert, wenn diese Bomben explodiert wären. Die Tage zum Kriegsende im Mai 1945: Wir arbeiteten als Jungs auf dem Bau hart, hatten aber auch unseren Spaß dabei. Die Gasthöfe waren wieder geöffnet, es gab Tanzvergnügen, die Kapellen spielten. Es floss Bier oder das was nur im Entferntesten mit Bier eine Ähnlichkeit hatte. Wir gingen jede Woche „uff'n Schwof", wie das bei uns im Erzgebirge hieß. Ich war 16 ½ Jahre alt und die Polizei kontrollierte manchmal. Eigentlich durfte man erst mit 18 Jahren in den Tanzsaal. Wir hatten ein fröhliches Jugendleben und im Frühjahr/Sommer 1945 war ausgesprochen schönes Wetter, mit viel Sonnenschein. Im Herbst 1945 erhielt ich einen Brief von meiner Oberschule: Am 1. Dezember wird der Unterricht wieder beginnen. Ich sagte meinem Vater: „Der Bau ist so interessant, jeden Tag frische Luft und man sieht, was man geschafft hat!“ Wir redeten kurz und ich entschied mich, die Schule sein zu lassen. An dem Tag des Schulbeginns, wo ich schon um sechs Uhr meinen Marsch zur Baustelle antreten wollte, riet mir mein Vater: „Walter, überlege Dir das gut, das wirst Du bereuen!“ Mein Vater überzeugte mich: Seine Autorität und seine Lebenserfahrung gaben den Ausschlag für meine Entscheidung. Meine Eltern waren sehr liebevolle Leute, tolerant, wirkliche Vorbilder und klug führend. Es machte bei mir also an diesem Morgen Klick im Kopf und ich ging zur Schule. Als ich dorthin kam und meine Freunde wiedersah – wir hatten uns im Jahr 1944 als Klasse mit ungefähr dreißig Jungs verabschiedet; Jungen und Mädchen waren noch streng getrennt – fanden wir uns wieder mit ungefähr achtzehn Jungs und zwei Mädels aus der Parallelklasse ein, die nunmehr mit uns zusammengelegt wurde. Ein paar Lehrer waren übriggeblieben: Studienräte, in der Regel auch promoviert, kluge Leute, die nicht in der Nazi-Partei waren, und es kamen Leute, die wir nie vorhergesehen hatten, weil sie als Lehrer in der Nazizeit zwangspensioniert waren, natürlich hochbetagt, zum Teil über siebzig und es kam, das war das Kurioseste, ein sowjetischer Offizier, Oberst, der den Russischunterricht leitete. Ein Mann mit Professorentitel aus Riga stammend. Er hatte einen Namen, der absolut nicht russisch klang, offenbar ein Litauer,
223 Professor Joegi. 13 Wir hatten an dieser Höheren Handelsschule Betriebswirtschaft und Volkswirtschaftslehre sowie Rechtskunde, Literaturgeschichte und Geschichte. Vor allem bei den letzten beiden Fächern wurde es auch politisch, die ein gewisser Professor Dr. Fickert, 14 früher ein sogenannter Deutschnationaler, der aber nie mit den Nazis kollaborieren wollte, unterrichtete. Er vermittelte uns die Idealbilder der Literatur, wie Goethe mit der „West-östliche Diwan“ (1819) und „Faust“ oder Lessing mit „Die Ringparabel“ und Immanuel Kants „kategorischen Imperativ“ 15. Er machte uns gewissermaßen mit den ethischen und philosophischen Botschaften sowie den Traditionen des „guten“ deutschen Bürgertums bekannt. Das waren die Antworten, die wir bekamen. Ich hatte in der Klasse gute Freunde, mit denen ich sehr schnell enger zusammenfand. Mit ihnen verkehrte ich auch außerschulisch. Wir diskutierten über Gott und die Welt. Jemand fragte: „Wer sind eigentlich die Zeugen Jehovas?“ 16 Wir beschlossen, dort hinzugehen. Dann eröffnete im Jahr 1946 das Haus der sowjetischen Kultur. Wir gingen dorthin und sahen Filme und hörten in Reden deren Sichtweise auf Politik und Kultur. In unserem Dorf entwickelte sich eine „Antifa-Jugend“, 17 dort war ich zweimal, aber der Umgangston gefiel mir nicht. Es war sehr ruppig und ging es primär um die Mädels; ich will nicht arrogant klingen, aber das war nicht mein Niveau. Da ich gute Freunde in der Schule hatte, brauchte ich das nicht. Im Jahr 1947 bestand ich mein Abitur mit Prädikat „Zwei“. Darüber war ich sehr zufrieden. Mein Vater schlug mir vor, ich solle doch in eine Steuerberaterlehre gehen. Ich fand eine Stelle bei Dr. Weigel, einem Wirtschaftsprüfer und Steuerberater 18 in Chemnitz, bei ihm wurde ich Assistent. Ich besuchte eine Berufsschule und bekam nach einem Jahr diverser Prüfungen ein Zeugnis als Wirtschaftstreuhänder-Assistent. Ich kannte die Buchführung bereits aus der Schule, wir hatten ein sogenanntes Musterkontor, das war im Krieg erhalten geblieben und eine tolle Einrichtung. Ich lernte dort Stenographie und mit der Schreibmaschine zu schreiben. In der Lehre bekam ich Wissen aus dem Steuerrecht, wie Umsatzsteuer und Einkommensteuer, vermittelt. Die Klienten waren durchweg kleine Unternehmen aus dem Erzgebirge, mit ungefähr jeweils zwanzig bis dreißig Beschäftigten: Hersteller von Strumpfwaren, Unterwäsche usw. Wir hatten ständig das Problem, dass die Ausgaben die Einnahmen überstiegen, d. h. die Unternehmer hatten Einnahmen nicht in den Büchern eingetragen und ich hatte jeden Monat mindestens drei oder vier Gespräche, die so verliefen, dass ich ihnen sagte: „Rechnet doch selber mal ein bisschen … Legt doch wenigstens so viel in die Kasse, dass die Ausgaben gedeckt sind.“ Mein Chef war ein sehr Professor Joegi lehrte 1946 russisch an der Wirtschaftsoberschule Chemnitz. Professor Dr. Fickert war Oberstudiendirektor. 15 Immanuel Kants kategorischen Imperativ. Das Grundlegende Prinzip ethischen Handelns in der Philosophie. 16 Zeugen Jehovas, eine christliche, chiliastisch ausgerichtete und nichttrinitarische Religionsgemeinschaft, die sich kirchlich organisiert. 17 Antifa-Jugend auch Antifaschistische Linke Jugend. 18 Dr. Weigel, Wirtschaftsprüfer und Steuerberater, Schützenstraße 7, Chemnitz. 13 14
224 tüchtiger Mann, er nahm mich regelmäßig zu den Mandanten mit. Neben ihm und mir als Assistent gab es zwei Buchhalter und einen, ich sag mal, Hilfssteuerberater. Er war ein ehemaliger Prokurist der ADKA 19, das war vor dem Krieg eine große Bank in Deutschland, die Allgemeine Deutsche Kreditanstalt, er war bereits 75 Jahre alt und von ihm lernte ich sehr viel. Als Steuerberater wurden wir vom Finanzamt ein- oder zweimonatlich über steuerrechtliche Fragen informiert. Wir wurden immer wieder darauf hingewiesen: „Leute, lasst Euch nicht in diese Steuerhinterziehungsaffären verwickeln. Achtet auf Ordnung, das geht sonst schlecht aus!“ In der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ), 20 in der bereits im Jahr 1946 sowohl per Volksentscheid die Enteignung der Kriegs- und Naziverbrecher als auch die Bodenreform kraft Volksentscheides stattgefunden hatte, war der kleine Privatbetrieb gewissermaßen der Restposten. 21 Die großen Betriebe waren alle volkseigen und wir als Steuerberater für die Kleinen waren natürlich der Gefahr ausgesetzt, dass der Betrieb Insolvenz anmelden musste, wenn dort größere Steuerhinterziehungen festgestellt werden. Dem kamen die Unternehmer in der Regel zuvor. Wenn sie merkten, es wird eng, packten sie ihr Köfferchen und gingen über die Grenze und waren im Westen. Von Chemnitz aus ist man in ungefähr siebzig Kilometern an der bayerischen Grenze. Zurück ins Jahr 1947: Wir waren als Abiturklasse zuletzt etwa 20 Schüler, davon ein Mädchen. Es gab ein paar Außenseiter, aber die Mehrheit verstand sich gut und eine zünftige Abiturfeier, was im Jahr 1947 ein kühner Entschluss war, fand statt. Es war ein unvergesslicher Abend im „Goldenen Hahn“, der mit dem Versprechen endete, uns diese Gemeinschaft zu erhalten. Es gab die Idee, dass wir uns jede zweite Woche treffen, nicht etwa nur zum Bier, sondern zum Gedankenaustausch. Das funktionierte auch. Bald kam die Idee, wir sollten uns doch als ein „Club“ etablieren, der in der diffusen Debatte um die Zukunft nach Orientierung sucht und der sich deshalb „Oase“ nennen sollte. Der „Oase-Club“ gab sich ein eigenes Statut. Wir folgten unserem Vorhaben, trafen uns mal mit klugen Leuten aus dem Bekanntenkreis, gingen ins „Haus der sowjetischen Kultur“ zum Vortrag oder wählten selbst ein Thema aus. Das war alles gut gemeint, aber im Jahr 1947 verdächtig und gefährlich. Dann kam der 1. Mai 1948: allgemein natürlich der traditionelle „Kampftag der Werk-
ADKA war eine große deutsche Bank bis 1945. Die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) übernahm ab Juni 1945 de facto die Regierungsgeschäfte in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ). 21 Junker: Alle Großgrundbesitzer, die mehr als 100 Hektar Land besaßen, mussten ihr Land abgeben. Sie erhielten keine Entschädigung. Von solchen Großgrundbesitzern gab es östlich der Elbe, im Nordosten der SBZ, besonders viele. 7160 Besitzer mussten ihr Land abgeben. Man nannte diese Rittergutsbesitzer auch Junker. Sie mussten nicht nur ihr Land, sondern ihren gesamten Besitz abgeben, also ihre Häuser genauso wie ihre Möbel und Kleidung. Sie wurden zudem aus ihren Heimatkreisen verwiesen. Siehe http://www.zeitklicks.de/ddr/zeitklicks/zeit/politik/von-der-sbzzur-ddr/die-bodenreform/ (letzter Zugriff am 12.12.2020). 19 20
225 tätigen“ 22 mit einer großen Demonstration und „roter Nelke“. 23 Für uns ein Feiertag, an dem man mit der „Oase“ einen Ausflug machen sollte — mit „weißer Nelke“! Umgesetzt und von der Straßenbahn Endstelle Richtung Sternmühlental losmarschiert. Wir kamen nicht weit. Uns überholten zwei PKW. Wir wurden von der russischen Militärpolizei verhaftet und ins Chemnitzer Polizeipräsidium transportiert. Es kamen Stunden voller Angst. Wir saßen in verschiedenen Zellen mit anderen „politischen“ Häftlingen zusammen. Noch in der Nacht begannen Verhöre, immer mit derselben Frage: „Was haben Sie gewollt?“ Dass wir nur einen harmlosen Ausflug gemacht hatten, war ihnen schwer zu vermitteln, denn der Nazi-Untergrund war noch immer aktiv. Dass wir uns mit unserer Aktion verdächtig gemacht hatten, hatte in unseren Gedanken keinen Platz. Dokumente hatten Sie nicht dabei? Nein, wir hatten keine. Was sollten wir denn für Dokumente haben? Die Vorträge hätten sie ruhig bekommen können. Das beeindruckende Spiel ging ungefähr vier Wochen. Ich saß – insofern war das auch eine Lehrzeit – in einer Zelle, die für zwei Leute vorgesehen war, in der aber unterschiedlich, je nachdem, wie der Besatz war, acht bis zehn Leute einsaßen. Wenn man so eine Zelle betritt, kommt sofort die Frage, was man denn ausgefressen hat. Ich erzählte meine Story. Inhaftiert waren nur junge Leute. Es stellte sich heraus, dass es zum Teil ehemalige SS-Männer waren. Einer von denen, der neben mir schlief – wir lagen wie die Heringe nachts auf dem Boden – öffnete sich mir gegenüber. Er sei todunglücklich, hätte Frau und Kind zu Hause, 25 Jahre alt und im Konzentrationslager (KZ) in der Nähe von Zwickau als Wachmann tätig gewesen. Er sei schuldig. Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist. Wir saßen also in der Zelle, ab und zu wurden wir zum Verhör geholt, um immer wieder dieselben Fragen zu beantworten. Beim täglichen Rundgang sahen wir mal diesen oder jenen von unseren Freunden. Nach etwa drei Wochen wurden wir alle in einen Vortragsraum geholt. Vorn saß ein sympathischer, älterer Herr und verkündete: „Ich möchte Ihnen mitteilen, Sie sind entlassen. Ich möchte Ihnen aber noch ein paar Worte auf den Weg mitgeben. Wir haben uns um Ihre Details, Absichten und Tätigkeiten gekümmert. Es hat sich nicht bestätigt, was wir vermutet hatten, dass Sie zu der konterrevolutionären Gruppe „Weiße Rose“ 24 gehören, die wir hier in der Stadt haben. Sie sind eine Schar von schwärmerischen Abiturienten. Wenn Sie wirklich geistige Betätigung suchen, dann tun Sie das im Rahmen der legalen Verbände, Freie Deutsche Jugend (FDJ) oder Gesellschaft zum Studium der sowjetischen Kultur oder Kulturbund. Aber bitte keine nichtgenehmigten und -gewollten Vereinigungen, das bringt Sie in Verdacht. Ich selbst bin der Sohn eines Pfarrers aus dem Erzgebirge. Als junger Mann war Der 1. Mai galt als Internationaler Kampf- und Feiertag der Werktätigen für Frieden und Sozialismus. 23 Die rote Nelke war seit 1889 die Arbeiterblume. Rote Nelken zieren heute noch die Gräber u. a. von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. 24 Zur Geschichte https://www.weisse-rose-stiftung.de/widerstandsgruppe-weisse-rose/ (letzter Zugriff 12.12.2020). 22
226 ich Kommunist, wurde inhaftiert und saß im KZ. Ich habe meine Lebenserfahrung hinter mir und möchte, dass Sie einen Weg gehen, der Ihnen Ungemach erspart.“ Ich kam nach Hause und meine Eltern wussten nur, dass ich inhaftiert war, aber nicht warum, und nicht, wo. Sie wurden während Ihrer Inhaftierung also nicht von Ihren Eltern besucht? Gab es keine Besuchsregelung bzw. -recht? Unsere Eltern standen außen vollkommen vor. Es wurde nichts gemacht, auch keine Hausdurchsuchung. Wir hatten insofern Glück, dass der Vater jenes Freundes, der die Idee zum Oase-Club hatte, im KZ gewesen war. Man hat sich in der Nazizeit nicht erzählt, wenn jemand im KZ war. Das war tabu. Ich wusste nicht, dass er in seinem Elternhaus eine solche Situation hatte, er ging mit uns in die Klasse, ohne dass wir etwas davon wussten. Sein Vater hatte natürlich nach dem Jahr 1945 sofort politische Aufgaben übernommen. Er war einer der führenden Kräfte des Gewerkschaftsbundes in Chemnitz. Warum er nicht so viel Einfluss auf den Sohn hatte, dass dieser sich nun den „bürgerlich freiheitlichen Traditionen“ verpflichtet fühlte und uns sogar dazu begeisterte, diesen Oase-Club zu gründen, das blieb mir bis heute unerschlossen. Er machte später in der DDR als Journalist eine beachtliche Karriere, obwohl er weiterhin ein Rebell war und es blieb. Ebenso die anderen Freunde, soweit sie im Osten blieben, waren beruflich erfolgreich. Unsere Kontakte untereinander hielten zum Teil bis zum Lebensende. Ich nahm in meiner Firma wieder die Arbeit auf, mein Chef war natürlich ebenfalls höchst besorgt. Ich erzählte ihm die Geschichte und als gut bürgerlicher Mann meinte er: „Pech und Glück gehabt.“ Nach ungefähr sechs oder sieben Wochen wurde die FDJ aktiv und fragte, ob ich nicht mal zu ihnen kommen könnte. Sie hatten im Dorf eine kleine Baracke – ehemals für Kriegsgefangene – in der ihr Jugendheim eingerichtet war, alles sehr nett und schön gemalert. Ich wollte wissen, was ich konkret machen sollte. „Erzähl uns doch einmal etwas über Lessing“, wurde ich gebeten, „wir sind daran interessiert, wir alle sind nur einfache Leute, meist Handwerker ...“ Ich bin ein Mann, der nie halbe Sachen machte, wenn ich mich irgendwo betätigte, nur richtig und mit Engagement. Also ging ich dorthin, den Jungs und Mädels gefiel es und mir ebenso. Anschließend wurde Gitarre gespielt, gesungen oder ein bisschen getanzt. Einer der Kumpels hatte etwas zu Essen besorgt, was im Jahr 1948 noch immer nicht so einfach war. Ich fühlte mich in der Gruppe wohl. Ein knappes Jahr später fand eine Kreisdelegiertenkonferenz 25 statt, bei der der Kreisvorstand der FDJ gewählt wurde. Einer der Freunde meinte: „Wir wählen dich als Delegierten, komm doch mit dorthin.“ Ich ging hin und dort wiederum meinte jemand aus dem Kreisvorstand: „Walter, du arbeitetest doch beim Wirtschaftsprüfer. Wir brauchen hier dringend einen Mann, der die Aufgaben der Kreisrevisionskommission übernimmt. Kannst du das nicht machen?“ Ich willigte ein und es stellte sich heraus, der Vorsitzende
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Kreisdelegiertenkonferenz war ein Gremium zur Wahl der Leitung der FDJ in der Stadt Chemnitz.
227 war gerade verzogen und ich war sofort Chef dieser Kreisrevisionskommission. Ich musste natürlich Lehrgänge besuchen, wobei meine politische Bildung vorankam. Mein Chef, der Wirtschaftsprüfer, wollte mir politisch keine Vorschriften diktieren, aber 14 Tage zum FDJ-Lehrgang war nicht unbedingt seine Vorstellung. Wir seien ein kleines Büro und bräuchten deshalb jeden Mitarbeiter, sonst bliebe die Arbeit liegen. Es kam zu Reibereien. Ein Kollege, ein ehemaliger ADKA-Prokurist, ein straffer, einst deutsch-nationaler bürgerlicher Typ, der mir immer seine Ideale vortrug, meinte zu mir: „Ich muss mich mal mit Ihnen über Ihre politische Intention unterhalten.“ Ich: „Ja, Herr Schneider, machen wir das doch.“ Er: „Ich habe aber eine ganz andere Meinung, als Sie vermuten.“ Ich: „Und welche?“ Schneider: „Wissen Sie, ein junger Mensch sollte sich gut überlegen, ob er nicht den Ideen seiner Zeit folgt.“ Ich fragte ihn: „Wie meinen Sie das?“ Er: „Wenn ich jung wäre, würde ich in die volkseigene Industrie wechseln, um mich dort zu engagieren und eine Karriere aufzubauen. Denken Sie darüber nach, ob das nicht viel besser für Sie ist.“ Ich dachte, er hätte vielleicht nicht unrecht. Die Verwaltungen der volkseigenen Betriebe, d. h. die übergeordneten Verwaltungsorgane der neuen volkseigenen Betriebe waren noch im „Werden und im Wachsen“. In der Nähe war eine große Verwaltung, die nannte sich „Verwaltung volkseigener Betriebe – Textima“ 26, also Textilmaschinenbau. Dazu gehörten vielleicht dreißig volkseigene Betriebe. Ich ging nach verschiedenen Bewerbungen an anderer Stelle in diese Textima, wurde dort aufgrund meiner Vorbildung Revisor und kontrollierte die verschiedenen Betriebe, wie beispielsweise Spinnereimaschinenbau, Nadelfabrik, Wirkmaschinenbau usw. Dadurch lernte ich diese ganze Branche kennen. Ich war dort ein anerkannter Mitarbeiter und hatte sehr ordentliche Vorgesetzte. Mein unmittelbarer Vorgesetzter war ein Mann aus Bayern, ein promovierter Volkswirt. Der Hauptbuchhalter war ebenfalls ein promovierter Diplomkaufmann. In diesem Unternehmen fanden sich Leute zusammen, die vor dem Krieg in Großbetrieben tätig waren. In Chemnitz hatten viele große Maschinenbauunternehmen existiert. Die meisten wurden nach dem Krieg wieder aufgebaut und waren volkseigen. Als am 7. Oktober 1949 die DDR gegründet worden war, fing man in Berlin an, entsprechende Ministerien aufzubauen – u. a. ein Ministerium für Maschinenbau. Mein Personalchef rief mich zu sich und meinte: „Wir würden Dich gerne vorschlagen, in diesem Ministerium tätig zu sein, wenn Dir das zusagt.“ Ich war einmal als Mitglied einer FDJDelegation in Berlin zu einer großen Kundgebung gewesen, die vor dem damals noch in Teilen vorhandenen Schloss stattfand. Es war ein tolles Ereignis im August 1949, kurz bevor die DDR gegründet wurde. In Berlin zu arbeiten, wollte gut überlegt sein. Mein Vater meinte: „Berlin ist ein heißes Pflaster und hat vier verschiedene Besatzungsmächte.“ Aber er war der Meinung, das müsse ich alleine entscheiden. Er kenne Berlin nur flüchtig und wenn mir es zusagt, dann solle ich es machen, er würde mir keine Steine in den Weg legen. 26
Die „Verwaltung volkseigener Betriebe – Textima“ war in der Annaberger Straße, Chemnitz.
228 Am 1. April 1950 reiste ich nach Berlin. In der Leipziger Straße, im sogenannten „Haus der Ministerien“ 27, was einst Sitz von Hermann Göring 28 gewesen war, war auch das Ministerium für Maschinenbau untergebracht. Dort meldete ich mich bei meinem neuen Chef. Der Oberschlesier Dr. Paul Duda 29 war kaufmännischer Chef der „HutaPokoj“ 30 gewesen, ein brillanter Fachmann und natürlich SED-Mitglied. Ich war zu diesem Zeitpunkt noch parteilos. Von ihm wurde ich unter die „Fittiche“ genommen. Bei und von ihm lernte ich sehr viel. Mein Chef hatte damals schon eine rechnergestützte Abrechnung der Leistungsdaten unserer Betriebe eingeführt. Erstaunlich, weil die Mikroelektronik in den 50er Jahren überhaupt noch nicht existent war. Es gab eine amerikanische Technik, die hieß Hollerith, bei der wurden mit Lochkarten Abrechnungsprozesse durchgeführt. Die Lochkarte wurde erst einmal mit bestimmten Daten gelocht, dann ging sie durch eine Maschine und man konnte addieren, subtrahieren usw. Ich stand plötzlich im Alter von 21 Jahren vor riesigen Anforderungen. Ich hatte erfolgreich das Abitur sowie eine Lehrlingsausbildung zum Wirtschaftstreuhänderassistenten mit drei Jahren Berufserfahrung absolviert. Ich wurde zur Bilanzprüfung in die Maschinenfabrik Halle geschickt, die 10 000 Beschäftigte hatte, mit vielen Abteilungen und erfahrenen, tüchtigen Ökonomen. Dort waren Leute aus großen Konzerngesellschaften. Das war für mich ein schwieriges Unternehmen, mich mit ihnen als Revisor auseinanderzusetzten. Zurück zum Maschinenbauministerium: Dr. Duda war ein gestandener Mann aus einem großen Stahlunternehmen. Der Hauptbuchhalter der Verwaltung war ein Direktor aus der Leitung von „Kornfranck“, einer große Kaffeerösterei. Wir hatten zwei promovierte Betriebswirtschaftler, die beide aus Berliner Wirtschaftsprüferbüros kamen. Ich marschierte in diese großen Betriebe und merkte, mein „Zwirn“ ist hier wirklich zu kurz. Somit bat ich Dr. Duda um Rat. Er half mir mit Fachliteratur sowie seinen Erfahrungen. Ich stieß allerdings immer wieder an meine Grenzen. Sie waren überfordert? Ich war überfordert, versuchte das natürlich zu überspielen, mit wechselndem Erfolg. Im Jahr 1951 fanden die „Weltfestspiele der Jugend und Studenten“ in Berlin statt, Haus der Ministerien befand sich in der Leipziger Straße 5–7/Ecke Wilhelmstraße 97 in Berlin. Während der DDR-Zeit waren verschiedene Fachministerien untergebracht. In den 1990er Jahren Sitz der Zentrale der Treuhandanstalt. Seit 1992 trägt das Gebäude den Namen Detlev-RohwedderHaus. Seit 1999 Sitz des Bundministeriums für Finanzen. 28 Hermann Wilhelm Göring (1893–1946) war u. a. maßgeblich an der Gleichschaltung und der Verfolgung der Opposition beteiligt. Er war für die Gründung der Gestapo sowie die Einrichtung der ersten Konzentrationslager ab 1933 verantwortlich. Er befahl die Organisation der sogenannten Endlösung der Judenfrage. 29 Dr. Paul Duda entwickelte ein Kennziffernsystem. 30 Friedenshütte in Kattowitz. 27
229 organisiert vom Dachverband der linken Weltjugendorganisation. In diesem Zusammenhang bekam das Ministerium ein paar Aufgaben ganz technischer Art. Wir hatten z. B. als Maschinenbauministerium eine riesengroße schwimmende Freilichtbühne auf dem Müggelsee aufzubauen. Uns gehörten ein paar Fabrikgebäude, die aber zum Teil noch Ruinen waren. Dort wurden Massenquartiere eingerichtet. Eine ganz simple Strohhütte mit Brettern und Feuerlöscher. Das Mindeste für junge Leute, die für einige erlebnisreiche Tage am Abend einen Schlafplatz benötigten. Diese Weltjugendfestspiele brachten im August 1951 junge Leute aus der ganzen Welt und ebenso aus der ganzen DDR zusammen. Sechs Jahre nach dem Kriegsende war das im stark zerstörten Ost-Berlin eine große logistische Aufgabe. Wir haben rund um die Uhr mit Helfern und Handwerkern unsere Aufgaben erfüllt und wurden dafür mit unvergesslichen Erlebnissen belohnt. Von Westberlin aus wurde die Sache mit Häme „als kommunistische Show“ beschimpft. Uns zuzugestehen, dass es ein Versuch war, der Welt das Gesicht eines anderen Deutschlands zu vermitteln, wurde mit „contra“ bedacht. Über diese aggressive Rolle der in Westberlin schon gut aufgerüsteten Dienste, Medien usw. aller Art redet man leider nur ungern oder gar nicht. Junge Leute, die natürlich neugierig ebenfalls Westberlin besuchten — es gab keinerlei Hindernis — wurden geschickt umworben, wenn das nicht klappte, sogar verprügelt. Ich habe diesen militanten Anti-Kommunismus in Westberlin der damaligen Zeit mehrfach hautnah kennengelernt. Die Weltfestspiele waren zu Ende und wir wurden von unserem Minister, Paul Gerhart Ziller, zu einem Dankeschön eingeladen. Oft suchte er mit uns jungen Leuten das Gespräch. Ziller hatte als junger Kommunist viele Jahre im KZ gelitten. Er war Diplomingenieur, Freund und Kenner der Künste und hatte eine „Daumier-Kritik“ 31 veröffentlicht. Ein Mensch sowie Vorbild im besten Sinne des Wortes, vor dem ich die allerhöchste Achtung hatte und habe! Er lobte unsere Arbeit: „Genossen, ihr habt das ordentlich erledigt. Was kann ich Euch Gutes tun?“ Ich nutzte gemeinsam mit zweien meiner Freunde die Chance: „Genosse Minister, es wäre uns wichtig, wenn Sie uns beim Erlangen eines Studienplatzes unterstützen würden.“ Er gab seinem Sekretariatschef einen entsprechenden Auftrag. Es gab damals in der DDR eine Elite-Hochschule, die „Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft“ in Potsdam-Babelsberg. Heute ist sie Teil der Landesuniversität Brandenburg. Dort lehrten namhafte Wissenschaftler, die meist aus dem Exil kamen. Am 1. August 1952 begann ich dort ein Studium der Finanzwissenschaft. Die Akademie hatte eine wirtschaftswissenschaftliche Fakultät. Ihr Dekan war Prof. Dr. Gunther Kohlmey, eine Persönlichkeit aus dem Widerstand. 32
31 Honoré Daumier (1808–1879) war einer der innovativsten Künstler seiner Zeit. Er erlernte in Paris die damals recht neue Lithographie-Drucktechnik, die er vor allem für die politische Satire einsetzte. Zeit seines Lebens war er politisch interessiert und engagiert, kämpfte für die Pressefreiheit gegen die Pressezensur. 32 Gunther Kohlmey (1913–1999).
230 An der Spitze des Finanzinstituts stand ein nicht promovierter, sehr talentierter Mann, Erhard Knauthe 33, mit dem ich mich bis heute noch regelmäßig treffe: Inzwischen ist er 92 Jahre alt. Dort studierte ich drei Jahre Wirtschaftswissenschaft. Das dritte Jahr war die Spezialisierung. Prof. Knauthe lernte mich als nicht ganz untalentierten Studenten kennen. Sein Wunsch war es, mich als Assistenten zu bekommen. Inzwischen war ich Mitglied der SED und somit den Spielregeln der Parteidisziplin verpflichtet. Deshalb passierte mir folgendes: Nach einem Gespräch mit einem Mann aus dem Zentralkomitee (ZK) aus der Abteilung Finanzen, wurden fünf Studenten ausgewählt, die darauf verpflichtet wurden, die Steuerwissenschaft als Spezialisierung zu nehmen. Da aber unsere Hochschule niemanden hatte, der das lehren konnte, wurden wir – und das war wieder ein großer Glücksfall – an die Humboldt Universität geschickt. Dort war Prof. Dr. Ernst Kaemmel 34 einer der profiliertesten bürgerlichen Steuerfachleute. Ich hörte bei Kaemmel und einigen seiner Assistenten die Vorlesungen und Seminare. Wir waren dort fünf Studenten von unserer Akademie und fünf Studenten aus der Humboldt Universität. Das fand im Büro von Kaemmel statt. Er war ein brillanter Lehrer. In seiner Vorlesung fand fundierte Sachvermittlung statt und viele Geschichten wurden erzählt, aus denen wir etwas lernen konnten. Er saß am Schreibtisch und brachte uns die Einkommensteuer und die Bewertungssätze bei. Er würzte das mit vielen amüsanten Anekdoten. Mitstudenten waren dort Professor Dr. Friedmar John, der spätere stellvertretende Finanzminister und zuletzt Vizepräsident der Deutschen Außenhandelsbank (DABA). Mehrere Studenten, die mir jetzt namentlich nicht mehr gegenwärtig sind, sind überwiegend in die unterschiedlichen Steuerabteilungen verschiedener Orte gegangen. Dort schrieb ich meine Diplomarbeit zum Thema: „Die Besteuerung der volkseigenen Betriebe“. Die Diplomarbeit legte mir eigentlich Professor Kaemmel nahe. Er meinte, man sollte den Widerspruch zwischen der Förderung der Privatwirtschaft, was man mit steuerlichen Boni verschiedenster Art machte, und dem natürlich gewollten Begrenzen der Entwicklungsmöglichkeiten dieser Privatwirtschaften untersuchen. Über diesen Widerspruch – nur begrenzt fördern, dass die Betriebe nicht zu groß werden und zu viel verdienen – schrieb ich meine Diplomarbeit und war mit dem Ergebnis auch zufrieden. Übrigens: Steuer war Klassenkampfinstrument, wie man damals sagte. Anschließend verblieb ich am Institut für Staatshaushalt. Erhard Knauthe, Hochschule für Ökonomie „Bruno Leuschner“ Berlin. Siehe http://www.argus.bstu.bundesarchiv.de/N-2592-387051/xml/inhalt/dao/BasysFox/N_2592/Hunstock.pdf?target=midosaFraContent&backlink=/argus-bstu/N-2592-387051/index.htm-kid-80f51c79-f19f-4187-8ff3-6616eec83c0f (letzter Zugriff 14.12.2020). 34 Ernst Kaemmel (1890–1970) war u. a. seit 1949 als Lehrbeauftragter für Finanzwesen an der Humboldt-Universität Berlin tätig. In der Zeit von 1953 bis 1962 war er ordentlicher Professor und stellvertretender Leiter des Instituts für Finanzwesen. In der Zeit von 1954 bis 1962 war er Abgeordneter der Stadtverordnetenversammlung von Groß-Berlin (DDR). In der Zeit von 1950/51 bis 1964/65 lehrte Ernst Kaemmel Finanzwesen. Siehe http://hicks.wiwi.hu-berlin.de/history/start.php?type=person&name=Kaemmel_Ernst (letzter Zugriff 14.12.2020). 33
231 Im Jahr 1953 hatte der damalige Finanzminister Willy Rumpf entschieden, dass wir eine eigene Finanzhochschule benötigen, und gliederte das Institut Finanzen aus der Akademie aus. Somit wurde eine eigene Hochschule für Finanzwirtschaft errichtet. Diese hatte ein Institut für Staatshaushalt, wo ich ab dem Jahr 1955 tätig war. 1956 war der Finanzminister allerding der Meinung, sich mit den vielen Spezialhochschulen etwas übernommen zu haben. So wurden die ökonomischen Spezialhochschulen zu einer zusammengeführt. Konkret wurden die Hochschule für Finanzwirtschaft und die Hochschule für Außenwirtschaft in die in Karlshorst 35 bestehende Hochschule für Planökonomie integriert. Daraus entstand die Hochschule für Ökonomie. Dort arbeitete ich als wissenschaftlicher Assistent am Institut für Staatshaushalt. Anfänglich betrug meine Bezahlung fünfhundert Mark der DDR. Inzwischen hatte ich im Frühjahr 1955 meine Frau kennengelernt, die in Potsdam am Institut für Lehrerbildung studierte. In Potsdam wohnten wir in einem Zimmer vom Internat, was natürlich, als die Geburt unseres Kindes sich näherte, problematisch war. Die Hochschule war in Karlshorst, aber dort hatte man gar keinen Platz für uns, sodass wir vorerst in Babelsberg blieben. Dann ergab es sich, dass wir eine Wohnung in Berlin bekamen: anderthalb Zimmer in Friedrichshain, die Toilette eine halbe Treppe tiefer, aber wir waren überglücklich. Eine eigene Wohnung im Jahr 1956 in Berlin, das war ein Glücksgriff. Ich fuhr jeden Tag nach Potsdam, um meine Seminare im Institut zu erledigen. Meine Frau war mit dem Lehrerstudium noch nicht fertig. Sie musste also in Potsdam noch ihr Studium abschließen, was ihr natürlich in der Schwangerschaft ziemlich schwerfiel. Es war eine schwierige Zeit, aber wir meisterten es und zogen im April 1956 nach Berlin in diese Wohnung. Ab Herbst 1956 war mein Arbeitsplatz in Karlshorst. Ich hielt Steuerseminare, Vorlesungen und als Assistenten hatten wir ein Seminar zu betreuen. Wir gingen jeden Nachmittag zu den Studenten, kümmerten uns um ihre Studien – jeder hatte eine Lektüreliste – redeten mit ihnen und waren diesbezüglich sehr intensiv eingespannt. Als Assistent hatte man ordentlich zu tun. Es war ein Vollzeitjob. Zu dieser Zeit hatten wir viele Fernstudenten, weil in den fünfziger Jahren in der DDR jeder, der eine leitende Funktion hatte, ein Diplomzeugnis nachweisen musste. Ich betreute zusätzlich drei Außenstellen der Hochschule in meinem Fach: Erfurt, Chemnitz – hieß zu dieser Zeit schon Karl-Marx-Stadt – sowie Dresden. Das war eine schöne Sache: Man kam mit intelligenten Leuten zusammen, die im Bezirk eine Verantwortung trugen, beim Rat des Bezirks waren oder in der Bank arbeiteten mit relativ wenig Zeit für mich. Die ausstehende Doktorarbeit drängte ebenfalls. Im Jahr 1957 war mir klar, ich musste langsam in die „Eisen“ steigen. Da ich immer etwas frankophil war, wollte ich über das Steuersystem Frankreichs schreiben. Das Dissertationsthema wurde vorerst bestätigt und somit schrieb ich über das Steuersystem der Republik Frankreich. Ich ackerte an dem Thema, bis einer der Parteioberen meinte, dass dieses Thema hier niemanden Berlin-Karlshorst war der Sitz der Hochschule für Ökonomie 1956–1990, danach Hochschule für Wirtschaft und Technik. 35
232 interessieren würde, ich müsste doch ein Thema wählen, was in unsere Welt passe. Wenigstens veröffentlichte ich noch zwei Publikationen zu diesem Thema in der Fachzeitschrift Deutsche Finanzwirtschaft. Das Thema Ihrer Promotion zum Dr. Ökonom im Jahr 1961 lautet: „Eine Untersuchung der Probleme bei der Bestimmung der Produktionsabgabesätze in Verbindung mit der Preisbildung sowie einiger Fragen der Planung, Realisierung und Kontrolle der Produktionsabgabe.“ 36 Die Dissertation wurde an der Hochschule für Ökonomie Berlin eingereicht und bewertet. Erzählen Sie bitte davon. Ja, ich wurde auf dieses aktuelle Thema „umgelenkt“! In den 1950er Jahren hielt die Regierung es für notwendig, die Preise nach dem im Jahr 1945 verfügten Preisstopp schrittweise auf eine ökonomisch begründete Basis zu stellen. Ein besonders breites Feld war dabei die Bildung neuer Preise für die Textil- und Bekleidungsindustrie. Ich war dieser Branche durchaus zugeneigt und erfuhr, dass sich Arbeitsgruppen gebildet hatten, die sich zweigdifferenziert in Wirkerei, Strickerei, Strumpfwaren, Oberbekleidung, Bettwäsche mit dem Problem beschäftigten, und klinkte mich dort ein. Der Erstgutachter war Prof. Dr. Herbert Wergo, der gebürtig aus Süddeutschland stammte und als junger Sozialist irgendwann mit den Nazis kollidierte, zeitweilig inhaftiert war und in Berlin untergetaucht war. Er arbeitete bei einem Wirtschaftsprüfer in Berlin. In jungen Jahren wirkte er kurzzeitig im Büro von Konrad Adenauer, als dieser Präsident des preußischen Städtetages war. Prof. Dr. Wergo war ein brillanter Wissenschaftler und Urenkel von Ludwig Uhland. Darauf legte er immer großen Wert. Ich lernte sehr viel von ihm. Von einem alten und im Leben stehenden sowie wissenschaftlich erfahrenen Mann geistige und sonstige Lebensanschauungen übernehmen zu können, war ein absoluter Genuss. Ebenso hatte ich für meine Betreuung mit Prof. Dr. Erhard Vogel einen guten Zweitgutachter. Meine Promotion kam gut voran. Die Arbeitsgruppen befassten sich mit den Preisen. Ich lernte sehr viel und war in den Betrieben unterwegs. Aus dieser ganzen Wissensfülle entstand meine Dissertation in den Jahren 1958 bis 1960. Noch zu erwähnen sind Heinz Joswig, Ernst Kupfernagel und H. Brandt. Meines Erachtens war es eine Finanzfakultät mit recht guten Lehrkräften bis in die weitere Zeit hinein. Die genannten Professoren haben sehr viel geleistet. 37 Politisch waren diese Jahre zunehmend angespannt. Die Grenzen waren – insbesondere in Berlin – offen. Die DDR konnte mit der attraktiven Entwicklung des Warenangebotes und des Lebensstandards im Westen nicht mithalten. Dafür gab es viele Gründe: das Die Dissertation befindet sich im Archiv von Walter Siegert. Walter Kupferschmidt und Gernot Zellmer, 1950 bis 1991, Hochschule für Ökonomie „Bruno Leuschner“ Berlin. Leistungen und Defizite in Lehre und Forschung, Persönliche Erfahrungen und Erinnerungen, Herausforderungen an die Wirtschaftswissenschaften, Polen 2013. http://www.argus.bstu.bundesarchiv.de/N-2592-387051/xml/inhalt/dao/BasysFox/N_2592/Hunstock.pdf?target=midosaFraContent&backlink=/argus-bstu/N-2592-387051/index.htm-kid-80f51c79-f19f-4187-8ff3-6616eec83c0f (letzter Zugriff 18.10.2020).
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233 Embargo, die hohen Reparationsleistungen, die Spaltungsfolgen usw. So war der Aderlass durch Tausende „Republikflüchtlinge“ für die DDR sehr groß. Besonders bei Facharbeitern, Ärzten, Ingenieuren usw. Die kurze, relative Beruhigung der Lage nach dem 17. Juni 1953 war faktisch bald vorbei. Wie erlebten Sie diesen 17. Juni 1953? Welche Erinnerungen haben Sie an diesen Arbeiter- und Volksaufstand? Ich erlebte diesen Tag total harmlos. Ich war im ersten Praktikum meiner Studentenzeit beim Rat der Stadt Chemnitz in der Steuerabteilung. Es gab ein sogenanntes FDJStudienjahr, in dem man sich mit politischen Themen beschäftigte. Diese Aufgabe hatte ich bei den Apothekenhelferinnen des Zentrums übernommen. Am 17. Juni 1953 fuhr ich abends mit der Straßenbahn dorthin und hörte einer Frau zu: „Es gab heute großen Tumult in Leipzig und Halle.“ Ich kam in den Seminarraum, einem Belegschaftsraum in einer Apotheke am Rande von Chemnitz, und fragte die Mädels, ob sie von Streiks oder Unruhen gehört hätten. Ich blickte in erstaunte Gesichter. Wir absolvierten unser Seminar. Etwa gegen 19 Uhr erreichte mich dort in der Apotheke der Anruf, ich solle sofort ins Rathaus kommen, weil ich heute zur Nachtwache eingeteilt war. Ich fuhr dorthin und hörte von den Kollegen erste Informationen über Streiks. Auch für Chemnitz war ein Ausgangsverbot erlassen worden. Die Sperrstunde begann ab 22 Uhr. Der Rathausplatz war menschenleer. Wir sahen Streifenfahrzeuge der Polizei sowie der Roten Armee. Es blieb weiter ruhig! Gegen Mitternacht streckten wir uns aus. So ging der 17. Juni 1953 an Chemnitz, einer der großen Industriemonopolen des Ostens, spurlos vorbei. Es gab in Chemnitz viele Großbetriebe und sicher Unzufriedenheit, aber es hatte sich wahrscheinlich keiner zu dieser „Initialzündung“ bereitgefunden. Am nächsten Tag informierte die Presse über die Ereignisse in Berlin und Magdeburg: Streiks, Unruhen, Verletzte, Schäden usw. Von einem „Arbeiteraufstand“ sprach man natürlich nicht, aber die Ursachen, die Norm- und Preiserhöhung, wurden benannt. Zum Hintergrund: Das Ganze gehört in den schon von mir benannten Problemkreis einer von der Wirklichkeit losgelösten Politik, die vor allem durch Walter Ulbricht geprägt war. Die dadurch entstandenen Risiken, der Vertrauensverlust sowie die Chancen für Contras waren absehbar. Aus dem Bauarbeiterprotest in der Stalinallee, der friedlich begonnen hatte, entwickelte sich die blinde Gewalt, die in der Leipziger Straße am „Haus der Ministerien“ blutig endete. Der RIAS 38 sowie andere Kräfte trugen nachweislich zur Eskalation bei. Tatsache ist, dass eine kluge und maßvolle Politik diese verlustreichen Tage, den Vertrauensverlust im Inneren wie auch international hätte verhindern können. Der 17. Juni war ein Brandzeichen, das die DDR bis zu ihrem Ende nie wieder loswurde! Als es im Mai zu kriseln anfing, hatte ich Gelegenheit, an einem Kolloquium des Lehrkörpers unserer Akademie in Babelsberg teilzunehmen, wo Walter Ulbricht die Lage zu erklären bemüht war. Die Debatte war für mich sehr informativ und ein Schlüsselerlebnis. RIAS (Rundfunk im amerikanischen Sektor) war eine Rundfunkanstalt mit Sitz im West-Berliner Bezirk Schöneberg (Kufsteiner Straße).
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234 Wie erlebten Sie dort Walter Ulbricht? Bitte charakterisieren Sie ihn. Ich erlebte ihn dort als einen Mann, der den Gedankenaustausch sucht, der seine Entscheidungen verständlich erklären will und auf die Leute zugeht. Weder arrogant noch populistisch, sondern wirklich offen und sachlich. Er fragte den Küchenchef nach seiner Meinung zur Versorgung, den Sportlehrer nach den Möglichkeiten, allseitig Sport zu treiben usw. Der ganze Stil bestätigte eigentlich bei mir die Meinung, dass Walter Ulbricht nach seiner Vita ein kluger Politiker ist, der Vertrauen sucht und Vertrauen verdient. Ich fand nicht bestätigt, was schon damals im Umlauf war und sich in den ersten Jahren zeigte, einen autoritären Führungstyp. Natürlich war Ulbricht ein harter Kämpfer, der sich mit Joseph Goebbels 39 im Saalbau Friedrichshain im Jahr 1932 40 politisch duelliert hatte, der in Moskau die Exekutionen erlebt und im Krieg jahrelang als Propagandist an der Front sein Leben riskiert hatte. Was aber der Politik in der DDR von Anfang an nicht guttat, war die von Walter Ulbricht und Hermann Matern 41 u. a. gefahrene Linie: Was richtig ist, das wissen nur wir, ohne den Meinungsstreit in der Partei und den Dialog mit den Leuten zu gewährleisten. Der Galopp in die sozialistische Entwicklung, der Parteibeschluss von 1952 „Aufbau der Grundlagen des Sozialismus in der DDR“ 42 war riskant und wurde nicht von Moskau inszeniert, sondern eher mit Sorge um die Stabilität der gerade drei Jahre jungen DDR verfolgt. Zu Recht wollte die russische Führung als Besatzungsmacht, dass in Ostdeutschland ein ruhiges politisches Klima erhalten wird. Josef Stalin liebäugelte immer noch damit, was ein interessanter Punkt ist und heute im Westen anders dargestellt wird, zu den guten Handelsbeziehungen Sowjetrusslands zu Deutschland vor dem Krieg zurückzukommen. Er wollte ein Deutschland, wie es faktisch bis zum Jahr 1941 bestanden hatte, dass beim Wiederaufbau mit Technik aller Art Hilfe leistete. Dies begann bereits in den 20er Jahren, in denen Deutschland ganze Betriebe ausgerüstet, militärische Technik entwickelt, Junkers Flugzeuge gebaut und in Sowjetrussland erprobt hatte, was in Deutschland verboten gewesen war. Dazu hatte ebenso die Hilfe der Reichswehr für die Rote Armee gehört. Der im Jahr 1937 erschossene Marschall Michail Tuchatschewski hatte eine deutsche Militärakademie besucht, weshalb er verdächtigt wurde. Zurück zu Ulbricht: Ich nahm manches im Zwiespalt wahr, aber hatte so viel über Gesellschaftspolitik und Geschichte gelernt, dass mir klar war, der neue Weg ist richtig. Joseph Goebbels (1897–1945) war Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda und Präsident der Reichskulturkammer. Er bereitet bereitete ideologisch die Deportation und anschließende Vernichtung von Juden und anderen Minderheiten vor. 40 Joseph Goebbels und Walter Ulbricht im Saalbau Friedrichshain im Jahr 1932. 41 Hermann Matern (1893–1971) war u. a. seit 1949 Abgeordneter der Provisorischen Volkskammer. In der Zeit von 1950 bis 1954 war er Vizepräsident, danach als erster Stellvertreter des Präsidenten und in der Zeit von 1957 bis 1960 Vorsitzender des Ständigen Ausschusses für die örtlichen Vertretungen. Er war Mitglied des Nationalen Verteidigungsrates der DDR. Matern war seit 1963 Mitglied des Generalrates der Fédération Internationale des Résistants (FIR). 42 Von Ulbricht am 12.7.1952 im Abschlussreferat verkündet. 39
235 Prominente Nazis wie Hans Globke, 43 der Mörder im Warschauer Ghetto, wurden in der Bundesrepublik wieder aufgebaut, was aber nicht gut sein konnte. Ich hatte erlebt, wie einer nach dem anderen meiner Vorgesetzten aus der Textima und selbst aus dem Ministerium gingen. Der letzte war im Jahr 1952 mein Chef Dr. Duda. Sie alle wollten zurück in die restaurierte, alte Gesellschaft. Ich wollte schon eine andere Entwicklung, aber was wussten wir als junge Leute schon, was Sozialismus bedeutet. Gelesen hatten wir darüber, aber wie man das praktisch gestaltet, war unklar. Die Sowjetunion widerspiegelte Zwiespältigkeit. Wir lasen natürlich als Studenten Westliteratur, die in unserer Bibliothek zugänglich war, es war nicht so, dass wir hinterm Mond lebten. Es gab viele Diskussionen. Es ist absolut hirnrissig, wenn jemand denkt, wir hätten von früh bis abends nur die Internationale 44 gesungen. Wir hatten intensive Auseinandersetzungen in sämtliche Richtungen. Wir hatten damals noch Studenten, die liberaldemokratisch waren, von der CDU, die auch Wert auf eine andere Schattierung der Politik legten. Zurück zur Frage: Ulbricht tat für die DDR in vielem Gutes, hat aber mindestens ebenso viel Porzellan zerdeppert. Ein großer Einschnitt für mich war das Jahr 1957, als mein hochverehrter Paul Gerhart Ziller – eben dieser Minister, zehn Jahre KZ, inzwischen Wirtschaftssekretär des ZK sich nach Auseinandersetzungen mit diesen Hardlinern, v. a. mit Ulbricht, erschoss. Da führte ich mir vor Augen: Ein Mann, der zehn Jahre KZ überstanden hatte, überstand nicht die Auseinandersetzung mit seinen Genossen und zog den Schluss, es gäbe nur Suizid als Lösung. Das beschäftigte mich sehr! Es ging auch weiter mit diesem „Schlachten unterwegs“, immer die Tendenz zum Extremen, zu dem nicht den Möglichkeiten entsprechenden politischen Agieren. Dieses Problem verließ die DDR nie! Wir erlebten in den sechziger Jahren einen geläuterten Ulbricht, der viel versuchte, nach vorne zu bringen, bis zu der Tatsache, dass er enorm in Widerspruch zu Moskau geriet. Nach dem 13. August 1961 45 begann Ulbricht, über solche Fragen nachzudenken: Ist denn der demokratische Zentralismus wirklich richtig? Muss man nicht mehr sozialistische Demokratie praktizieren? Muss bis zur Käsefabrik im Kreis alles volkseigen sein oder ist es nicht viel besser, private Unternehmen zu betreiben, die mit Eigeninitiative wirtschaften und nicht plangebunden, die ihre Kräfte vor allen im Konsumgüterbereich entfalten? Wenn das so ist, muss man die Wirtschaft wirklich in dieses Plankorsett einschnüren oder muss man ihr nicht eigene Möglichkeiten geben? Das führte im Jahr 1963 bereits dazu, das sogenannte „Neue Ökonomische System“ (NÖS) zu überlegen sowie in den Ansätzen zu konzipieren. Diese Preisaktivitäten, an denen ich beteiligt war und meine Promotion dazu schrieb, waren bereits in diese Richtung gedacht. Ulbricht u. v. a. sowie auch der damalige Finanzminister Rumpf, ein sehr kluger Mann, nahmen sich vor, eine betriebswirtschaftlich und wirklich ökonomisch effiziente Wirtschaft im Rahmen eben dieser volkseigenen 43 Hans Josef Maria Globke (1898–1973) war u. a. in der Zeit von 1953 bis 1963 Chef des Bundeskanzleramts unter Bundeskanzler Konrad Adenauer. 44 Kampflied der sozialistischen Arbeiterbewegung. 45 Berliner Mauerbau.
236 Wirtschaft zu gestalten, aber eben auch mit mehr kaufmännischem Spielraum. Das bedeutete eben keine total durchgeplante Gewinnverwendung, sondern, wenn man besser war, behielt man einen Teil des Gewinns und investierte damit eigene, produktive als auch soziale Maßnahmen. Das ist in den 60er Jahren in der DDR praktisch in großen Betrieben erprobt worden. Rumpf hat wirklich Geschichte der Finanzwirtschaft der Deutschen Demokratischen Republik geschrieben. Existierte bei der Gründung der DDR – am 7. Oktober 1949 – ein Gründungsmythos? In mir war nach dem Erlebnis im Jahr 1948 schon eine gewisse politische Leidenschaft gewachsen für etwas Neues. Nun gab es im Mai 1949 die Gründung der Bundesrepublik, da war für mich klar, hier musste jetzt ein Pfahl eingeschlagen werden, der unsere Interessen festmachte. Da war die anschließende Gründung der DDR schon etwas: Wir waren ein eigener Staat. Wir waren nicht mehr ein ganzes Deutschland, wir waren jetzt zwei deutsche Staaten. Wie sollte das allerdings auf die Dauer funktionieren? Kurz gesagt: Es war nicht eine Vision, kein Mythos vom „eigenen Staat“, es war eine von den Ereignissen diktierte Entscheidung, die letztlich ihre Wurzeln in dem Zerfall der Siegermächte hatte, denn noch im Potsdamer Abkommen war diese Entwicklung zur Teilung nicht vorgezeichnet. Sie berichten von Bekannten, Freunden und Unternehmerfamilien, die in den Westen übersiedelten. War das für Sie bzw. Ihre Familie bzw. Ihre Eltern eine Option? Die Familie väterlicherseits war in die USA emigriert. Die Schwester meiner Großmutter im Jahr 1886, die Schwester meines Vaters mit ihren vier Söhnen in den Jahren 1923 bis 1926. Weitere sozialdemokratisch engagierte Leute in den Jahren 1935/36. Was passierte nach dem Krieg? Mein Vater sprach ganz gut – aufgrund seiner kaufmännischen Ausbildung – die englische Sprache und war an der Emigration seiner Schwester beteiligt. Meine Großtante zählte zu den Erstemigrierten im Jahr 1886, die in Minnesota bereits gut etabliert waren, und mein Vater hatte Korrespondenz dorthin. Seine Schwester mit Familie emigrierte zu den Verwandten in Minnesota im Jahr 1926. Mein Vater nahm nach dem Jahr 1945 natürlich sofort wieder den Kontakt auf und es kam die Frage auf, soll der Walter denn nicht lieber hier zu uns kommen? Ich hatte einen Cousin aus der mütterlichen Linie, der als Wehrmachtsangehöriger sofort in Frankfurt am Main zu diesen amerikanischen Hilfstruppen gegangen war. Die Amerikaner sammelten in der Wehrmacht Leute ein, die ihnen geeignet erschienen. Sie bekamen amerikanische Uniformen und versahen Dienste bei den Amerikanern. Meinen Cousin traf ich im Jahr 1949, als er hier im Osten seine Mutter besuchte. Er meinte: „Du hast doch viel bessere Voraussetzungen als ich!“ Er kannte diese ganze Verwandtschaft: „Willst du denn nicht rüberkommen?“ Ich erwiderte: „Gottfried, so einfach ist das nicht. Inzwischen habe ich hier ein Stück Leben gelebt und besitze eine bestimmte Auffassung.“ Er: „Ach, hör doch auf, wo soll denn das hinführen?“ Er wusste von meiner Inhaftierung. Ich sagte ihm, dass für mich es nicht in Frage käme und außerdem, wenn ich schon alles beiseitelegen würde, könnte ich nicht
237 mehr zurück. Außerdem meine Eltern alleine lassen, käme für mich absolut nicht in Frage. So ging dieses lockende Gespräch mit meinem Cousin zu Ende. Bei mir wirkte schon eine politische Überzeugung. Ich wollte nicht in eine politische Ungewissheit gehen und glaubte, dass ich in der DDR eine solide Weiterentwicklung haben würde. Kurzgesagt: In den Westen übersiedeln bzw. aus der DDR weglaufen waren für mich keine Optionen! Drei Monate Prora auf Rügen. Von wann bis wann waren Sie im Wehrdienst? Das war im Sommer 1958: Ich war drei Monate im Reservedienst bei der NVA, in der Zeit Juni bis August 1958. Für den Wehrdienst in der NVA war ich zu alt, aber ich war Hochschullehrer und meine Studenten mussten zu dieser Ausbildung gehen und wir gingen mit. Es war eine schöne Zeit und nützliche Erfahrung am Prorer Wiek, eine vorgelagerte Ostseebucht zwischen der Halbinsel Jasmund und der Granitz, zur besten Saisonzeit. Wurden Sie bereits eher angesprochen, um in die NVA einzutreten? Ich war zu alt. Die Gründung erfolgte am 18. Januar 1956 per Gesetz und die Aufstellung in mehreren Etappen bis zur Einsatzfähigkeit bis zum 1. März 1956. Die Wehrpflicht wurde erst im Jahr 1962 eingeführt, vorher war es eine Freiwilligenarmee. Beispielsweise war Rainer Eppelmann Bausoldat … Eppelmann ist um vieles jünger als ich und hatte die Wahl zwischen den Alternativen „Wehrdienst“ oder „Ersatzdienst“ als Bausoldat. Er entschied sich für das letztere. Ich wurde 1952 angesprochen, ob ich als Freiwilliger in die KVP 46 gehen möchte. Die KVP war der Vorläufer der NVA der DDR und wurde aufgrund der anspannenden Lage an der innerdeutschen Grenze für notwendig erachtet. Sie sagten ab? Nein, da ich bereits eine Einladung zum Studium an der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft hatte, wurde von der zuständigen Stelle empfohlen, ich solle zuerst mein Studium absolvieren. Diesem Rat bin ich dann gefolgt. Zuerst waren Sie Kandidat und später Mitglied in der SED. Das war bereits vor Ihrem Studienbeginn an der Hochschule für Finanzwirtschaft in den Jahren 1950 bis 1952 gewesen. Warum? Ich war im Ministerium für Maschinenbau und dort war natürlich die SED die tragende Partei und irgendwann entschied ich mich für die Mitgliedschaft. Dann wurde ich Kandidat und sollte in der letzten Parteiversammlung vor meinem Studium in einer großen Mitgliederversammlung des Ministeriums als Mitglied aufgenommen werden. Für mich gebürgt hatte mein unmittelbarer Gruppenleiter in der Abteilung Finanzen der 46
KVP: Kasernierte Volkspolizei.
238 Hauptabteilung allgemeiner Maschinenbau. Dieser Mann war ein promovierter Volkswirt, eine hochbegabte Persönlichkeit und SED-Funktionär im Ministerium. Die Versammlung ging los, die ersten Kandidaten wurden aufgenommen, dann war ich an der Reihe und der Versammlungsleiter sagte: „Jetzt wäre eigentlich der Kandidat Walter Siegert dran, aber wir haben ein Problem. Der Bürge des Kandidaten, Herr Dr. Heinz Hagen, ist nicht mehr hier.“ Er war weg. Der Parteisekretär meinte, wir sollten die Angelegenheit so lösen, ich sei ihm gut bekannt, ich wäre ein ordentlicher Kerl, er trete sofort als Bürge für mich ein. So wurde ich auf dieser Versammlung noch Mitglied der SED. War diese Parteimitgliedschaft Ihr persönlicher Wunsch? Selbstverständlich war das mein persönlicher Wunsch. In Ihrer Frage liegt ein Zweifel, aber ich erahne, weshalb. Was Sie vielleicht vermuten, es war kein Schritt um die Karriere willen. Ich wusste natürlich, es gab dort auch Karrieristen, welche mir zuwider waren. Dies keimte damals immer mehr in mir auf. Anfangs, so glaubte ich wirklich, in der SED, dort sind Leute, die entweder aus dem KZ kamen oder aus anderen Gründen dem Sozialismus, Marx und Engels und dem Kommunistischen Manifest verbündet bzw. verschworen sind. Etwas anderes gäbe es dort nicht. Den Karrieristen in dieser Partei hatte ich als nicht existent geglaubt. Aber wie naiv ist man noch als junger Mensch? Ich war nicht älter als dreiundzwanzig Jahre. Ich wollte das. Ich war das mit Herz und Sinnen. Ich sprach mit meinem Vater darüber, der zu den Dingen natürlich seine Meinung hatte. Er meinte, ich solle doch überlegen, und verwies darauf, dass ich jetzt in der Partei wäre, die er vor dem Jahr 1933 mit dem Slogan kennengelernt hatte: „Und willst Du nicht mein Bruder sein, dann schlage ich Dir den Schädel ein!“ Das war eine kommunistische Losung. Ich war der Überzeugung, das wäre jetzt alles ganz anders. Das stimmte natürlich so sehr, wie es eben auch nicht stimmte. Die Zweifel hat der Mensch immer und sie sind gut, größer oder kleiner. Diese Zweifel kamen, als mehr und mehr klar wurde, diese uniforme politische Denkweise ging nicht auf. Es ging nicht darum, die Leute zu maßregeln, sondern irgendwie die, die nicht zur Sache ständen bzw. falsch positioniert waren, zu überzeugen. An der Akademie hatten wir einen hervorragenden Professor, einen Philosophen, Leo Zuckermann, 47 wenn man den Namen hört, weiß man sofort, wo er verortet war. Ein Mann aus der jüdischen Zuckermann-Dynastie, hielt an einem Tag noch eine wunderbare Philosophievorlesung, in der man wirklich begriffen hatte, was Philosophie ist. Am nächsten Tag fiel seine Vorlesung aus, weil er plötzlich weg war. Wieso kann so ein lauterer Mann …? Dann sprachen sich Recherchen über Prof. Zuckermann herum. Übrigens, über seinen Bruder ebenso, der ein recht prominenter Arzt in der DDR war. Es stand im
47 Leo Zuckermann (1908–1985) war in der Zeit von 1948 bis 1950 Mitglied des 1. und 2. Volksrates der SBZ sowie der Provisorischen Volkskammer der DDR. Ab Oktober 1949 war er Staatssekretär und Leiter der Präsidialkanzlei des Präsidenten der DDR, Wilhelm Pieck. Er war Mitautor der Verfassung der DDR. Im Jahr 1952 floh er nach Westberlin.
239 Zusammenhang mit dem Ärzteprozess in Moskau, 48 der auch auf die DDR ausstrahlte. So bauten sich nach und nach Zweifel bei mir auf. Zeitsprung: Sie traten zum Jahreswechsel 1989/1990 aus der Partei aus? Warum? Ja, ich erlebte im Dezember 1989, wie sich die Partei von der Spitze her faktisch auflöste. Die langen und aufgestauten Probleme, die versäumte Debatte in der Partei, die Erosion der Führung: Zuerst gingen Honecker und die alte Garde, dann scheiterte auch Egon Krenz usw. Bei mir wurde über Nacht der früher gehegte Glaube, dass wir die Krise bewältigen, zerstört. Es war geradezu ein Schlag, als mir Mitte Dezember 1989 mein Parteisekretär im Finanzministerium mitteilte: Unsere Parteiorganisation ist aufgelöst! Ein Schock, aber zugleich die Quittung für Versäumnisse und Parteidisziplin anstatt einer Auseinandersetzung. Das betraf natürlich auch meine Familie: Unsere Kinder stellten Fragen zu den Problemen der letzten Jahre, wie beispielsweise nach der Grenze, warum geschossen wurde usw. Was antworteten Sie Ihren Kindern? Was sollte ich antworten? Man antwortete so, wie das der Staatsraison entsprach: Da drüben sei eine andere Welt, das sei der Schnittpunkt der beiden sich gegenüberstehenden Blöcke – das war ja auch so –, das sei nicht nur eine innerdeutsche Grenze, sondern eine zwischen zwei atomarisierten Militärblöcken und man könne nicht nur einfach mit Passierschein rübergehen … Ilse Siegert: Wir mussten uns als Eltern auch die Bemerkung unserer Kinder anhören, dass wir in einem gewissen Mikroklima leben. Mein Mann in seiner Ministeriums-Atmosphäre und ich in der Schule, die vom pädagogischen Programm her politisch und ideologisch sehr überlastet war. Das führte zu Konflikten mit unseren Kindern. In der Schule musste man Haltung und Charakter bewahren, um im Unterricht nicht irgendwelche oberflächlichen Beurteilungen abzugeben. Wie sich im Rückblick zeigt, war die Wissensvermittlung in unseren Schulen solide fundiert und das Lehrer-Schüler-Verhältnis in der Regel sehr herzlich. Das höre ich noch heute, wenn ich gelegentlich ehemalige Schüler treffe. Leider schied ich im Jahr 1986 aus dem Schuldienst aus, um meinen Schwiegervater – hochbetagt mit 91 Jahren –, der ein Vierteljahr in unserer Wohnung lebte, zu betreuen. Walter Siegert: Die Wirklichkeit stimmte mitunter nicht mit dem überein, was die politische These ausmachte …
Am 13. Januar 1953 wurden einige der angesehensten und bekanntesten Ärzte der UdSSR beschuldigt, an einer riesigen Verschwörung beteiligt zu sein, die sich zum Ziel gesetzt habe, die oberste sowjetische Politik- und Militärführung zu vergiften. Was sich nachweislich als eine Ärzteverschwörung, insbesondere gegen Juden, herausstellte.
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240 Ilse Siegert: Jeder hat es sich auf seine Weise nicht leicht gemacht … Walter Siegert: Wenn man die politisch-ideologische Überfrachtung der DDR-Pädagogik beklagt, muss man aber doch fragen dürfen, warum heute in der Behandlung der DDR und ihrer gesamten Geschichte und Ausprägung wiederum Vorgaben existieren, die mit der Grundthese „DDR gleich zweite deutsche Diktatur“ überschrieben sind. Die DDR mit dem Nazistaat gleichzusetzen, ist wirklich eine bösartige Verleumdung! Ilse Siegert: Im Gespräch mit früheren Kollegen höre ich immer mal wieder, dass man schon gut überlegen muss, wenn man den Schülern im Geschichtsunterricht zusätzliche Fakten vermittelt, die nicht in den Lehrbüchern stehen. Mitunter stehen dann auch Eltern in der Sprechstunde und machen einem praktisch das Leben schwer. Faktisch wird heute erwartet, dass der Lehrer sich an die „offiziellen“ Wertungen hält. Walter Siegert: Ich habe mir ein paar Lehrbücher zur Geschichte der Neuzeit angesehen. Wie dort der Zweite Weltkrieg und im Besonderen der Überfall auf die Sowjetunion abgehandelt wird, einfach so mit Darstellung von Fakten, wo man auch Hintergründe des Aufstiegs des Faschismus und seiner Förderer nennen müsste. Die schlimmste Zerstörungskatastrophe mit 27 Millionen Opfern in der UdSSR löst sich auf in Feldzüge und das „gescheiterte Blitzkriegsunternehmen“ sowie die „Krise der deutschen Heeresführung“. Alles bleibt vordergründig! Ilse Siegert: Wenn Sie einmal den Mut fassten, diesen musste man schon aufbringen, vor versammeltem Kollegium ein paar Missstände deutlich zu benennen, was im Alltag alles geschieht, bekamen Sie schnell Probleme mit dem Direktor oder Kollegen, die das für unangebracht hielten. Die Qualität des Unterrichts, die Wissensvermittlung auf solider wissenschaftlich durchdachter Thematik aufgebaut, erste Klasse Lese- und Rechtschreibunterricht usw. konnte sich in der DDR sehen lassen. Wie systemkritisch konnte die Lehrerschaft gegenüber dem DDR-Schulrecht sein? Ilse Siegert: Die kritischen Worte wurden schon gehört und es gab eine Debatte um pädagogische Vorgehensweisen, die Lehrplangestaltung oder schulorganisatorische Fragen bis zur Qualität der Schülerspeisung. Es ging wirklich lebhaft zu. Bei den allgemeinen Problemen, wie beispielsweise über die Versorgungsengpässe, die Intershops, das Grenzregime usw. gab es eine überlegte Zurückhaltung. Man wollte sich unliebsame Zurechtweisungen ersparen. Waren Sie sich androhender Konsequenzen bewusst? Ilse Siegert: Natürlich, was aber nicht hieß, dass man gleich seine Arbeit verloren hätte. Es ging einfach darum, dass man sich mehr Bereitschaft zur Anhörung kritischer
241 Meinungen und sachlicher Auseinandersetzung gewünscht hätte, anstatt „ideologischer“ Vorhaltungen. Frau Siegert, wie erlebten Sie die friedliche Revolution im Jahr 1989? Ilse Siegert: Wir hatten unser Leben in der DDR zufrieden und glücklich gelebt. Wenn man aus ganz einfachen Verhältnissen stammte, studieren konnte, als Lehrerin Kindern Wissen vermittelte, selbst eine Familie besaß, die gut gedieh, waren die Gründe zur inneren Zufriedenheit. Unsere Kinder Abb. 11: Ilse Siegert im Gespräch in Berlin (2020). besaßen ebenfalls gute Bildungsmöglichkeiten. Unser Sohn und unsere Tochter haben nach der Oberschule studiert und eine gute berufliche Entwicklung vollzogen. Wir hatten unsere Freude an den heranwachsenden Enkelkindern — also allen Grund zufrieden zu sein. Die in den achtziger Jahren sich entwickelnden Probleme in der politischen Landschaft nahmen wir natürlich wahr: In der Familie und mit Freunden diskutierten wir sie und hofften auf Lösungen. Es blieb bei den Beschwichtigungen. Honecker und Co. sonnten sich in den sozialpolitischen Erfolgen. Bei den Demos in Leipzig, bei der Ausreisewelle, bei den Verboten usw. erfolgten keine Debatten um Lösungen. Somit kamen die Ereignisse im Herbst 1989 nicht überraschend. Wir erhofften uns natürlich alle, dass Veränderungen in der Führung die DDR erneuern und diese erhalten könnte. So hofften und dachten wohl viele. Das war auch der Tenor der großen Kundgebung auf dem Alex, 49 an der auch unsere Kinder teilnahmen. Ich erlebte diesen Herbst ´89 im neuen Grand Hotel an der Ecke Friedrichstraße/Unter den Linden, wo ich seit dem Jahr 1986 in der „Aus- und Weiterbildung“ des Personals tätig war. Nach einigen zermürbenden Auseinandersetzungen mit Vorgesetzten, denen meine Kritik nicht gefiel, übernahm ich Anfang 1990 im Tagungsbüro der Volkskammer der DDR eine neue Aufgabe. Dort erlebte ich das Auftreten der Bürgerrechtler und anderen neuen politischen Kräfte mit. Es waren recht unterschiedliche Eindrücke und Erlebnisse, die ich gerade aus meiner Erinnerung abrufe. Walter Siegert: Ergänzend zu Ihrer Frage: In mir existierten zwei Gedanken und Wünsche. Veränderungen ja, aber Erhalt all dessen, was wir sozial und wirtschaftlich erreicht hatten, und keine Gewalt, sondern friedliche Regelung der Konflikte und Erhalt der inneren Ordnung. In diesem Sinn nahm ich meine Verantwortung im Finanzministerium wahr. 49 Die größte DDR-Demonstration am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz vor mehr
als geschätzten 500 000 Menschen. Diese Veranstaltung wurde live im Ost- und West-Fernsehen übertragen.
242 An erster Stelle standen im November neue und unbürokratische Reiseregelungen, Überlegungen zu einer Wirtschaftsreform sowie ein Dialog mit den oppositionellen Kräften. Jeden Tag entstanden neue Probleme. Wir hatten wenig Schlaf, aber auch ein gutes Gefühl, nicht bevormundet denken sowie arbeiten zu können. Die Bürgerrechtler waren in ihrem Denken und Zielvorstellungen sehr unterschiedliche Persönlichkeiten. Bärbel Bohley, 50 eine der aktivsten Persönlichkeiten, wollte nicht unbedingt, dass die Mauer fällt. Sie forderte Gerechtigkeit und Freiheit für die DDR. Rainer Eppelmann, einer der führenden Kräfte in der kirchlichen Friedensbewegung mit der Losung „Schwerter zu Pflugscharen“, forderte im Jahr 1982 mit seinem Berliner Appell, alle Atomwaffen aus der DDR und der Bundesrepublik abzuziehen. Sein Ministerium nannte er dezidiert „für Abrüstung und Verteidigung“. Erwähnenswert ist unbedingt der Aufruf „Für unser Land“, den u. a. Stefan Heym, Ulrike Poppe, 51 Friedrich Schorlemmer und weitere Oppositionelle am 28. November 1989 in der Berliner Charité verkündeten, um für eine „revolutionäre Erneuerung“ und für den Erhalt einer eigenständigen DDR mit „demokratischem Sozialismus“ plädierten. Der Aufruf wurde in kürzester Zeit von 200 000 Bürgern unterschrieben, ebenfalls von Egon Krenz und Lothar de Maizière. Ich hätte es auch gern getan, aber ich hatte andere Sorgen. Die Initiatoren befürchteten die politische und wirtschaftliche Vereinnahmung der DDR durch die BRD. Am 28. November 1989 stellte BRD-Bundeskanzler Helmut Kohl sein „Zehn-Punkte-Programm“ vor, das bereits die Option zur Wiedervereinigung enthielt. Ja, die sogenannte „friedliche Revolution“ und die Intentionen der Bürgerrechtler hießen zunächst „Erneuerung der DDR“ und nicht Einheit! Der Westwind drehte es dann. Ilse Siegert: Wir bemühten uns in der Verwaltung der Volkskammer, die stark zunehmende technische und organisatorische Arbeit durch neue Gesetze, häufige Besprechungen und Plenartagungen zu bewältigen. Später kamen dann „Verwaltungshelfer“, also Beamte aus den alten Bundesländern. Dabei lernte ich Leute kennen, die in unserem Tagungsbüro herumwuselten. Im Gespräch erfuhr man, dass sie sich nach Möglichkeiten umsahen, wo sie sich eine „Buschzulage“ verdienen könnten. 52 Das war damals eine vielsagende Redewendung, wenn man vom Westen in den Osten zum Arbeiten ging. Für uns waren das bittere Stunden. Wir erlebten in der Nachwendezeit auf unterschiedlichster Ebene viele Enttäuschungen, Unzulänglichkeiten sowie Inkompetenz. Das zog sich auch durch den Verwaltungsapparat, der komplett umstrukturiert wurde, weil man meinte, man müsse uns beibringen, wie Leute solide und kompetent behandelt werden müssen.
Bärbel Bohley (1945–2010) war Mitbegründerin des Neuen Forums der DDR und Bürgerrechtlerin. 51 Ulrike Poppe war Mitbegründerin der Bürgerbewegung Demokratie Jetzt (DJ) sowie Mitarbeiterin der Volkskammerfraktion „Bündnis 90“. 52 Wird umgangssprachlich auch als Zulage für Beamte und Soldaten abseits ihrer Heimat verwendet. 50
243 Massive soziale Probleme überforderten den Verwaltungsapparat, was zur Verbitterung beitrug. Mein Bruder Heinz 53 kam im Jahr 1949 aus der französischen Kriegsgefangenschaft und ging dann ins Krupp-Gruson Werk; 54 eines der ältesten Werke in Magdeburg, später als SKET, ein Betrieb der Anlagen in die ganze Welt lieferte. Er war Meister der Werkzeugmacherei und war der erste, der auf der Leipziger Messe die numerisch gesteuerten Maschinen bedienen durfte. Er war kein Parteimitglied, sondern Mitglied der Gewerkschaft, wie alle anderen auch. Im Jahr 1991 fristlos entlassen saß er apathisch in seiner Wohnung herum und war nicht ansprechbar. Die Jungingenieure kamen zu ihm in die Wohnung, um ihn zu holen, sie kamen mit den neuen Maschinen nicht zurecht. Er war gerade 65 Jahre alt geworden, aber noch fit und gewillt, weiter zu arbeiten; man schickte aber solche Leute mit großem Erfahrungspotential praktisch in die Wüste. Das international renommierte Kombinat SKET wurde zerschlagen, abgewickelt und platt gemacht. Vor einigen Jahren erfuhren wir von einem Insider die krimireifen Facetten dieser Geschichte. 55 Der Ausschluss einer Konkurrenz auf allen Ebenen, das war politisch so gewollt. Diese sogenannte Evaluierung an den Universitäten und Hochschulen war genau dasselbe. Im Magazin Der Spiegel beschrieb Jakob Augstein diese Situation, wie man die Akademien und den Wissenschaftsapparat der DDR abwickelte. Das war für den Wirtschaftsstandort Deutschland nachteilig. Es hätte unserem Land gutgetan, wenn wir diese Leute behalten hätten. Wir kennen selbst solche Beispiele in unserem Bekanntenkreis. Es waren unterschiedliche Gefühle: ein Gefühl der Erleichterung und die Hoffnung, dass man noch irgendwo gebraucht würde. Das Gefühl der Erleichterung wurde durch die Hoffnung gespeist, man hätte eine Chance, etwas zu tun, aber die kam eben nicht und das war das Problem. Ich wurde im Jahr 1991 55 Jahre alt und arbeitete noch in der Verwaltung der ehemaligen Volkskammer, die nun für den Bundestag tätig war. Frau Professorin Rita Süssmuth 56 schickte mich dann in den Vorruhestand. Es gab sicher bei vielen Leuten einen Nachholbedarf, was beispielsweise die Computernutzung am Arbeitsplatz betraf. Wir waren bereit, hinzu zu lernen. Das Tragische für mich war, als ich einen Termin beim Arbeitsamt wahrnahm und neben mir ein ehemaliger Schüler saß, der sich Der Bruder von Ilse Siegert lebte von 1926 bis 2011. Er war Werkzeugmachermeister. Zur Historie: Am 1.11.1946 erfolgte die Umbenennung in Maschinenfabrik Krupp-Gruson der Sowjetischen Maschinenbau AG (SAG). Am 1.5.1951 wurde das Werk in die staatliche AG für Maschinenbau, Zweigniederlassung in Deutschland, Schwermaschinenbau Ernst Thälmann Magdeburg umgewandelt. Am 1.1.1954 erfolgte die Umwandlung in den VEB Schwermaschinenbau Ernst Thälmann, Magdeburg-Buckau. Am 1.1.1969 erfolgte die Gründung des VEB Schwermaschinenbau-Kombinates Ernst Thälmann (SKET). 55 Ausführlich zur Geschichte der SKET https://www.sket.de/de/unternehmen/geschichte (letzter Zugriff 14.12.2020). 56 Rita Süssmuth war u. a. von 1985 bis 1988 Bundesministerin für Jugend, Familie und Gesundheit und in der Zeit von 1988 bis 1998 Präsidentin des Deutschen Bundestages. 53 54
244 wunderte und fragte, was ich denn auf dem Amt wollte. Das war mein schlimmstes Erlebnis! Ich musste meinem ehemaligen Schüler, dem ich Lesen und Schreiben beigebracht hatte, mitteilen, dass ich nicht mehr gebraucht werde. Man hatte so Lust auf etwas Neues und dabei mitzuwirken. Dieses Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden, teilweise erniedrigt und gedemütigt zu werden, das war eine böse Erfahrung. Worin sehen Sie die Ursachen? Ilse Siegert: Das war politisch so gewollt. Von wem? Ilse Siegert: Durch die neue Zeit, durch die Bundesregierung, durch den Einigungsvertrag. Es kamen Bewegungen, Bearbeitungsmethoden und Erneuerungsideen zum Vorschein, auf Kosten vieler DDR-Bürger … Walter Siegert: Man könnte natürlich auch folgende Nachfrage stellen: Wenn Ihr am Ende der DDR solche Probleme hattet, dann war es doch richtig, dass es sich so entwickelte? Herr Gauck bezeichnete die DDR als ein Zwangs- und Mangelregime. Das war es natürlich nicht, er studierte in der DDR und wie man weiß, er lebte gut! Die DDR hatte etwas Neues begonnen und meine Frau als Tochter eines wirklich hundeelend arbeitenden Steinbrucharbeiters aus simpelsten Verhältnissen hätte nie im Leben ein Lehrerstudium absolvieren können. Das war auch meine Erfahrung in den fünfziger Jahren, bei allem „Auf und Ab“, es ging vorwärts. Es war auch eine Zeit von aufstrebender Entwicklung in der Sowjetunion. Die Russen bauten nach dem Kriegsende ihre total zertrümmerten Städte wieder auf. Moskau stand wieder, auch Sankt Petersburg, früher Leningrad. Tausende von Städten waren aufgebaut, Tausende von neuen Fabriken geschaffen. Nicht nur das: Die Russen waren in der Mikroelektronik mitführend, als es losging. Sie waren und sind aktiv im Weltraum dabei. Man konnte als junger Mensch, der zu dieser Ideologie des Sozialismus/Kommunismus gefunden hatte, hoffen, das wird was, da geht etwas vorwärts. Dazu China: Das war für mich ein Leuchtturm ohnegleichen. Es war nicht so, dass wir keine Informationen bekamen. Wir hatten Leute in der Hochschule, die in China waren oder die streckenweise in der Sowjetunion arbeiteten, an den verschiedensten Stellen. Ich hatte Freunde aus meinem Dorf, die in der Sowjetunion studierten, die mir erzählten, wie es dort ablief. Besuchten Sie zeitweise die „Komsomol-Hochschule“ in der Sowjetunion? Überhaupt nicht. Andererseits war ich auch nie ein Feind der Amerikaner oder Engländer, schon gar nicht wegen meiner verwandtschaftlichen Beziehungen. Aber die Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg, wieder hin zu einer dramatischen Zuspitzung, die erst
245 etwas abflaute, als Willy Brandt – das ist ihm heute noch hoch anzurechnen – mit den Ostverträgen 57 versuchte, die Sache zu entspannen ... … zusammen mit Egon Bahr: „Wandel durch Annäherung“ 58 … Ja natürlich. Ich komme noch einmal auf den 13. August 1961 zurück: Man muss schon sehr verbohrt sein, um nicht zuzugeben, dass die Mauer keine fixe Idee von Walter Ulbricht war. Nein, die damalige Lage war quasi eine Minute vor zwölf, das kann man bei Kennedy 59 nachlesen. Kennedy war gerade auf seiner Europatour und froh, dass auf diese Weise erst einmal Ruhe in das System kam. Auch das Zurückpfeifen der Panzer unter Lucius D. Clay 60 im Oktober 1961 am Checkpoint Charlie in der Friedrichstraße zeugte von Vernunft der Amerikaner. Ich las unglaublich viel Literatur, ich wollte auch verstehen, wie der Korrosionsprozess in der Sowjetunion entstanden war. Die Russen hatten ein so wunderbares Dezennium vom Jahr 1945 bis etwa Ende der fünfziger Jahre hinter sich, es ging vorwärts trotz all der Probleme, auch mit Stalin. Plötzlich, in den sechziger Jahren fängt die Sache an, wackelig zu werden und droht zu kippen. Wir hörten bereits Nachrichten, die darauf hinausliefen, dass mit dem Abgang von Chruschtschow wieder ein orthodoxes Regime antreten würde. Ab Mitte der sechziger Jahre hatte ich Kontakte zum Moskauer Finanzministerium und stellte fest, da waren die Leute nicht sehr über diese Entwicklung erfreut. Mein Amtskollege von der sowjetischen Finanzrevision, ein ganz wunderbarer Mensch, war als Offizier in den Krieg gezogen und hatte seine Familie in einem Dorf an der ukrainisch-russischen Grenze verloren. Er hörte nie wieder etwas von ihr. Eine Frau und zwei Kinder – einfach weg. Dieser Mann hatte natürlich ein kritisches Auge auf sein eigenes Land, nicht zuletzt, weil er vorm Krieg kurzzeitig inhaftiert war. Man hatte dadurch natürlich ein bestimmtes Erleben seiner eigenen politischen Auffassungen. Ich trug wirklich meine sozialistische Weltanschauung nicht bloß als Banner vor mir her. Ich glaubte daran, ich hielt daran fest und hielt es für wichtig, konsequent zu sein. Aber, wie es Ihnen meine Frau schilderte, es gab immer mehr Fragen, darauf aber immer weniger Antworten. Hinzu kam auch die wirtschaftliche Problematik: Militär ja, Zivil nein, Versorgungsprobleme in dieser großen an Ressourcen reichen Sowjetunion. Wieso und warum? Die ganz großen Konflikte im politischen Raum wie auch persönlich entstanden nach dem Jahr 1961, obwohl es anfangs erst einmal eine Entspannung war. Aber es ist 57 Am 3.6.1972 traten die Ostverträge mit Polen und der Sowjetunion sowie der Warschauer und der Moskauer Vertrag in Kraft. Kurz davor, am 17.5.1972, hatte der Bundestag die Ratifizierungsgesetze zu beiden Verträgen abschließend beraten. 58 Erstmals öffentlich vorgetragen hat diese Formel der SPD-Politiker Egon Bahr am 15.7.1963 auf einer Tagung des Politischen Clubs der Evangelischen Akademie Tutzing. 59 John Fitzgerald Kennedy (1917–1963) war in der Zeit von 1961 bis zur Ermordung der 35. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. 60 Lucius D. Clay (1898–1978) war u. a. in der Zeit von 1947 bis 1949 Militärgouverneur der amerikanischen Besatzungszone in Deutschland.
246 wirklich nicht möglich, auf die Dauer eine Mauer zu ziehen und zu sagen: Schluss. Das glaubte ich erst einmal, als Notwendigkeit vertreten zu müssen. Ich war immer mehr der Meinung, die man natürlich nicht öffentlich äußerte – das ist übrigens eine Story, dass überall Spitzel saßen, wir redeten in der Partei, selbst in der Kreisleitung, wo ich Mitglied war, ganz offen darüber –, dass wir zwei große Probleme hatten: Die Grenze und die nicht vorhandene Reisemöglichkeit. Uns, der Kriegsgeneration, die wusste, wie dieser große Krieg war, konnte man diese Angelegenheit noch vermitteln, aber der Jugend nicht mehr. Den in den fünfziger Jahren geborenen Menschen wie meinen Kindern und erst recht denen aus den sechziger Jahren, war nicht mehr zu vermitteln, dass an der Grenze die Welt aufhörte, dass sie nach Wladiwostok reisen durften oder auch nach Budapest, aber der Westen für sie tabu sei. Damit baute sich ein immer größerer Druck auf, der rundum alle weiteren Probleme schuf. Die Staatssicherheit rüstete in diese Richtung weiter auf. Sie war für mich immer eine benötigte Einrichtung, denn der Westen versuchte alles, um uns zu schädigen. Ich erlebte selber solche Störversuche und Sabotageakte als Mann im Staatsapparat. Dann aber richtete sich das berechtigte Sicherheitsbedürfnis und Sicherheitsvorgehen nicht mehr gegen diese extremen und aggressiven Fälle, sondern immer mehr gegen die eigenen Leute. Die Tochter eines Kumpels, auch in Funktion, versuchte abzuhauen, wurde eingesperrt und der Vater reiste jedes Wochenende nach Cottbus, um sie im Knast zu besuchen. Er war ein guter und ordentlicher Genosse, der sein Leben lang für die Partei gearbeitet hatte. Wie konnte man denn so etwas machen? Sie konnte man beruflich maßregeln, aber doch nicht einsperren! Das waren zunehmend die harten Reibereien. Es wurde immer absurder. Meine Tochter, die Kellnerin lernte und eine Fachschule für Hotel- und Gaststättenwesen besuchte, fleißig Sprachen lernte und mein Junior, der zur gleichen Zeit an der Humboldt Universität Student war, sagte: „Bei uns studieren jetzt spanisch sprechende Freunde. Komm doch mal mit, deren Deutsch ist nicht so gut und du kannst doch Spanisch. Du hilfst uns zu dolmetschen.“ Was passierte? Meine Tochter verliebte sich in einen Kolumbianer. Ich lud ihn ein und sofort kam der Mann von der Stasi, der für unser Ministerium zuständig war, zu uns und mahnte: „Das geht natürlich überhaupt nicht!“ Ich sagte ihm: „Lass die Finger davon. Begreifst Du nicht, das ist ein kolumbianischer Kommunist, er studiert hier. Was hast Du denn für Einwände, wenn meine Tochter ihre Zeit mit ihm verbringt?“ Ich hielt mich nicht daran und es passierte weiter nichts. Einerseits gab es bei der Staatssicherheit Hardliner, andererseits gab es eine zahllos große und ganz vernünftige Mannschaft, die beurteilen konnte, ob es wirklich ein Problem war oder nicht. Es war eben kein Problem und somit erledigt. In der Geschichtsbetrachtung müssen wir differenzieren: Für viele Bürger der DDR war die Staatssicherheit der Inbegriff dafür, nur eine Bespitzelung der eigenen Leute zu betreiben. Das ist nochmal ein ganz besonderes Thema.
247 Absolut! In den siebziger Jahren befand sich die DDR im KSZE-Prozess. Wie wirkten sich diese Entwicklungsphasen sowie Entscheidungen aus Helsinki zukünftig auf die deutsch-deutschen Beziehungen aus? Die Parteiführung tat sich schwer. Im Reiseverkehr gab es in den 1970er Jahren kleine Bewegungen. Im Grenzregime aber nicht. Der Westen machte es uns schwer, sich zu bewegen. Ich sah damals keine Chance, mehr zu erreichen als die bescheidenen Reiseerleichterungen. Mit Brandt und Bahr wäre vielleicht mehr Öffnung möglich gewesen. Aber dabei spielten natürlich auch die Egoismen eine Rolle, die Moskau verfolgte. Moskau wollte Entspannung im Direktverkehr mit Bonn. Es gab wohl auch ein Misstrauen in Bezug auf die DDR und ihren neuen Mann an der Spitze! Die siebziger Jahre, die mit der Politik der Einheit von „Wirtschafts- und Sozialpolitik“ begannen, folgten einer Periode, die ich sehr bewusst miterlebte. Mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Ende der 1960er hatte Ulbricht, unterstützt von Wissenschaftlern, die Idee: Wenn wir sowohl im Innen- als auch im Außenverhältnis wirtschaftlich stärker werden wollten, müssten wir die produktionsmittelerzeugenden Bereiche stärken, v.a. die Modernisierung. Das fand ich gut. Ulbricht und der dienstbare Geist Günter Mittag, aber auch viele Wissenschaftler fügten hinzu: „Wir müssen unsere Wirtschaft in moderne Leitungsformen gießen.“ Dabei spielte die Heuristik eine Rolle und die Organisationswissenschaft, was eine Mischung aus elektronischer Datenverarbeitung und mathematischen Modellen war. Dieses Programm wurde so straff durchgezogen, dass es zu Lasten der Konsumgüterproduktion ging; der Wohnungsbau wurde ebenfalls zurückgefahren. Bei der Konsumgüterproduktion wurde weniger investiert und erweitert. Die Modernisierung der Wachstumszweige der Industrie war richtig, auch die Modernisierung der Leitung und Planung, aber die Dosis war zu groß. In dieses Konfliktpotenzial, was sich um das Jahr 1970 aufstaute, sah Honecker mit den Gefährten der konservativen Schule seine Chance und hob Walter Ulbricht vom Sessel mit Hilfe der Moskauer Führung. Diese wollte so wenig wie möglich Probleme in der DDR. Damals habe ich die entstehende Unzufriedenheit im Lande mit Sorge wahrgenommen. Wir hatten wieder einen zu großen sowie einseitigen – wenn auch richtigen Schritt – getan. In dieser brisanten Lage, mit Fortschritten in den Schlüsselzweigen und Sorgen in der Versorgung, kam die politische Orientierung „Einheit von Wirtschaft- und Sozialpolitik“ sehr gut an. Es war ein Schritt in die Richtung „Ausgewogenheit“ und innerer politischer „Zufriedenheit“. Die Früchte der wirtschaftlichen Anstrengungen werden für alle spürbar, so die Kernaussage und Hoffnung. Aber mit Honecker begann leider auch ein zunehmender „Voluntarismus“. 61 Das Primat der Politik, was wir politisch wollten, musste auch finanziert werden. Honecker fing mit zwei Millionen Valuta-Mark bzw. D-Mark Schulden an. Mitte der siebziger Jahre betrugen sie bereits ein Mehrfaches. Dabei lagen auf meiner Schulter die Aufgabe und das Problem, die Ordnung und 61
Voluntarismus ist eine Denkrichtung in Philosophie und Psychologie (www.wissen.de).
248 Gesetzlichkeit der Finanzen im Lande zu kontrollieren. Ich war zu dieser Zeit der Leiter der Staatlichen Finanzrevision, also der obersten Kontrollinstitution in der DDR. Ich hatte mit einem großen Kollektiv, etwa 2000 Mitarbeitern, ökonomisch und technisch gut ausgebildete Fachleute, die gesamte Wirtschaft und die Haushaltswirtschaft zu kontrollieren. Sie gingen in die Betriebe und Kombinate und erstellten ökonomische Analysen und Einschätzungen. Im Zentrum standen die Ordnung, die Gesetzlichkeit sowie die Wirtschaftlichkeit. Wir verbanden Kontrolle und Beratung und waren bei den Direktoren der Betriebe geachtet, weil wir ihnen nicht auf die Füße traten, sondern sie befriedigender, als ein Kollektiv führten, das gute Arbeit leistete. Wir hatten ein hohes Ansehen bei den Ministern, weil wir denen unterstützende Berichte lieferten. Die Ökonomie ist ein weites Feld, angefangen bei der Kostenrechnung über eine gute Bestandswirtschaft bis zum Inlands- und Exportumsatz. Sie erkannten die negativen Tendenzentwicklungen in der DDR seit der Mitte der 1970er-Jahre? Wie wirkten Sie diesen entgegen? Ja, aber entgegenwirken konnte ich nur mit Signalen. Wir haben in unseren Bereichen Fakten festgestellt. Ich arbeitete in der Exekutive, wobei wir natürlich Probleme und riskante Entscheidungen erkannten. Die entsprechenden Informationen gab unser Minister an die Führung weiter. Aber wie reagiert wurde, das war nicht unser „Schalter“. In der Regel antworteten die Minister sehr rasch auf die Informationen. Es war üblich, dass man sich schnellstmöglich über das Notwendigste verständigte. Die DDR musste in den 1970 Jahren, die politisch und ökonomisch angespannt waren, auch noch die Rohstoffverteuerung und die kriselnde Weltwirtschaft verkraften. 62 Deshalb mussten wir kreativ sein. Ein Beispiel dafür war der Bereich „Kommerzielle Koordinierung“ (KoKo). Dieser wurde in den 1960er gegründet und umfasste Anfang der 1970er Jahre bereits etwa ein Dutzend Betriebe. Sie agierten wie „kapitalistische Unternehmen“ auf dem Markt. Ich hatte eine Gruppe aufgeweckter Mitarbeiter, die dort die Finanzprüfungen durchführten. Zum Leiter dieses Bereiches Alexander Schalck-Golodkowski hatte ich ein gutes und sogleich auch ein kritisches Verhältnis. Es stand in der DDR immer die unkomplizierte helfende Zusammenarbeit im Vordergrund. Unsere Kontrollaufgaben im Bereich „KoKo“ wurden uns jedoch im Jahr 1974 aus der Hand genommen. Die Entscheidung war ungewöhnlich. Mein Minister Böhm war „verschnupft“, aber für mich war es eine bindende Weisung. Ich war erstaunt, nahm es aber hin. Der Ministerpräsident Horst Sindermann verfügte das. Es gehört mit zur folgenden Entwicklung, die diesen Sonderbereich des Außenhandels zu einem „Staat im Staate“ werden ließ, mit den bekannten Folgen. Die Literatur dazu ist breit aufgestellt und rückblickend sind alle „schlauer“. Aber bei allem was mit diesem Unternehmen „KoKo“ erreicht worden ist, muss immer gelten: Es kann keine besondere Disziplin ohne Kontrolle geben. Erhöhung der Rohölpreise im Jahr 1973 und 1979/1980. Auch als Ölpreiskrise, Ölpreisschock oder Ölkrise bezeichnet.
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249 Immer unter dem Aspekt: Erwirtschaftet so viel wie möglich an Devisen, um die Zahlungsbilanz wieder in die Reihe zu bringen. Wir saßen in den 1970er/1980er Jahren ständig auf dem heißen Stein. Ich vollzog meine Aufgaben in meiner Staatlichen Finanzrevision, sah die Probleme und erlebte zugleich, wie unsere Wirtschaft in allen Bereichen lief. Wir hatten jedes Jahr auf allen Gebieten unseren Leistungszuwachs, die Staatseinnahmen flossen, die kulturell-sozialen Aufgaben und der Wohnungsbau — mit hohen Zuwachsraten — wurden finanziert. Dasselbe auch in den folgenden 1980er Jahren: Es war durchaus nicht so, dass wir „pleite“ waren. Es gab keinen Zeitpunkt, wo wir unsere Rechnungen nicht bezahlten. Es gab kein Jahr, wo wir uns fragten, wie wir den Staatshaushalt ohne Schulden bilanzieren sollten. Natürlich stand Sparsamkeit überall an erster Stelle, insbesondere in der gesamten staatlichen Verwaltung, den Schulen, bei allen Investitionen usw. Man kann z. B. mit Wiederverwendungsprojekten (Typenprojekten) viel Geld einsparen und sie erfüllten auch ihren Zweck. Die DDR war ein ganz bescheidendes Unternehmen. Ich verdiente als Chef der Finanzrevision zweitausend Mark der DDR im Monat und als Staatssekretär später zweitausendfünfhundert Mark der DDR. So war das ganze Gehaltsgefüge in der Verwaltung und der Wirtschaft. In meiner Berliner Wohnung in der Rummelsburger Straße wohnen wir seit dem Jahr 1960 in einem Mehrfamilien-Plattenbau. Wir waren damit immer zufrieden. Eine Villa oder Extravaganzen hatten und haben wir nicht. Im Jahr 1968 kaufte ich mir mein erstes Auto. Bis dahin fuhr ich Bahn und verbrachte mit der Familie an der Ostsee in unserem Betriebsferienheim unseren gemeinsamen Urlaub. In Mahlsdorf haben wir heute noch einen Garten, also seit über sechzig Jahren. Wir waren glücklich, wenn wir am Wochenende im Garten buddeln konnten. 63 Sie und Ihre Familie waren sehr bescheiden. Vermutlich kommt es innerhalb der Gesellschaft zu Pauschalisierungsaussagen, weil einige politische Akteure das Amt sowie ihre Position in der DDR missbrauchten und Privilegien genossen. Das dürfen wir in der Rückbetrachtung nicht weglassen … Die Leute, die es missbrauchten, waren eine kleine Gruppe und ich verschweige nicht, dass ich sie schon damals am liebsten in den „Hintern“ getreten hätte. Wir bekamen mit, was auch alle Leute sahen, dass Funktionäre unser Ansehen derart in Misskredit brachten. Bei dem täglich zu uns übermittelten Programm aus dem Fernsehen entstand sehr schnell das „Weltbild über den SED- und den Stasi-Funktionär“. Am Ende landeten alle in einem Topf.
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Fotos im Bilderteil veröffentlicht, S. 426.
250 Deswegen ist es wichtig und richtig, allerdings auch aufwendig und mühsam, diese Details aufzuarbeiten. Mit unseren Gesprächen leisten Sie einen Anteil zu diesen neuen Erkenntnissen. Zurück zu Alexander Schalck-Golodkowski: Er erwirtschaftete in diesen vierzig Jahren erhebliche Provisionsgewinne mit der „Kommerziellen Koordinierung“. Sie wurden von Günter Mittag von der weiteren Revisionsleitung abgezogen. Wer wusste denn, außer Schalck-Golodkowski selbst, etwas über diese Gelder, über das Abziehen bzw. Abzweigen von Provisionen neben den Geschäften, die dann in die Parteikasse zurückflossen? Nein, das stimmt so nicht. Diese wenigen Betriebe hatten den Zweck, das Embargo zu umgehen, um bestimmte Defizitpositionen im Import abzudecken. Aus diesen anfänglich ca. ein Dutzend … … bis zu 150 am Ende… … wurden im Laufe der Zeit, ohne dass ich das detailliert verfolgen konnte, also Betriebe, die ein Eigendasein führten. Aber das eine – die „Undercover-Geschäfte“ – bedingte das andere und es wurde gut verdient. Bei KoKo gab es interne Kontrollen und Revisionen. Alexander Schalck und andere leitende Personen hielten die Ordnung bis zum letzten Tag im Gesamtbetrieb. Es flossen auch Gelder an die Partei und in solidarische Hilfe. Die Masse, und das kann ich mit ziemlicher Sicherheit sagen, floss schon auf die Konten der Deutschen Handelsbank Berlin. Wie hätten sonst im Laufe der achtziger Jahre das Außenhandelsdefizit und die Verschuldung abgebaut werden können, sodass wir im Jahr 1990 mit „bescheidenen“ 19,1 Milliarden Schulden DM im Westen abschlossen. Das hätte nicht geklappt, wenn alle das Geld verzockt oder die Partei es verschenkt hätte, beispielsweise an ihre Bruderparteien. Innerhalb des Unternehmens „Kommerzielle Koordinierung“ mag manches locker und mit Unterschleif 64 gelaufen sein, aber eine grundlegende Ordnung im Umgang mit den Geldern gab es. Es gab dort ein internes Revisionsorgan, dessen maßgebliche Leute ich kenne. War Schalck-Golodkowski weisungsgebunden? Schalck-Golodkowski war nur Mittag gegenüber verpflichtet. Mittag war charakterlich ein fragwürdiger, aber ein intelligenter Typ. Ich dachte oftmals – wie auch in heutiger Zeit – an den klugen Satz von Dostojewski 65: „Die Leistung eines Menschen ist immer zu dividieren durch seinen Charakter.“ Mehr ist nicht zu sagen! Ab und zu hatte ich das zweifelhafte Vergnügen, unsere Vorlagen oder Berichte erläutern zu müssen
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Hinterziehung bzw. Unredlichkeit laut www.duden.de
65 Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1821–1881) war einer der bedeutesten Schriftsteller in Russ-
land.
251 Erzählen Sie bitte davon … Das gesamte Politbüro saß zusammen. Vorne Honecker und ich gab meinen Bericht ab. Honecker sagte: „Ja!“ Vielleicht stellte Mittag noch eine Frage, das war´s dann. Ab und zu diskutierten wir miteinander. Bekannt war ihnen, dass in der Regel allenfalls Mittag zu Wirtschaftsentscheidungen Stellung nahm. Ein kritischer Zeitgeist war Alfred Neumann. In Sicherheitsfragen dominierte Mielke, so sagte man. Er hatte zu Honecker ein dominierendes Verhältnis, weil er gewisse Fakten kannte, die womöglich aus der Illegalität stammten. Das könnte manches erklären. Insgesamt kursieren heute alle möglichen wahren und erfundenen Geschichten. Für mich ist wesentlich: Unsere Parteiführung hat sich in den letzten Jahren vor der Einheit nicht den wirklichen Problemen im Lande gestellt, obwohl genügend verschiedene Themen zur Debatte anstanden. Will Stoph war im Januar 1971 66 einer der Mitunterzeichner des Briefes an die sowjetische Führung, der die Absetzung von Ulbricht befürwortete. Allerdings unterzeichnete das Politbüro nicht geschlossen das Schreiben an Breschnew … Ja, es waren „nur“ 13 der 20 Politbüro-Mitglieder, die die Bitte um Absetzung Ulbrichts unterschrieben. Nicht unterschrieben haben Walter Halbritter, Margarete Müller, Alfred Neumann, Albert Norden Friedrich Ebert, Georg Ewald. Ulbricht nicht eingerechnet. 67 Zusammenfassend: Die siebziger und achtziger Jahre waren auf der politischen Bühne Jahre des Kämpfens mit hausgemachten Problemen der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Sie überzogen unsere Möglichkeiten. Es war auf dem ideologischen Feld eine Phase des Stillstandes, wo auf Fragen nicht die notwendigen Antworten gegeben wurden. Vom Westen herüber tönte ab Mitte der siebziger Jahre, dass wir bald pleite wären. Die Banken lieferten den Stoff. Das ist gar kein Problem, wenn ich wissen will, wie es um ein Land aussieht, dann brauche ich mich lediglich bei ein paar führenden Banken zu informieren, dann weiß ich das. Dann kam natürlich stark belastend die Krise in Polen hinzu. Die polnische Partei hatte auch große Probleme gehabt, aber sie verstand es, diese relativ vernünftig zu lösen. Sie hatten sich mit der Solidarność faktisch arrangiert. Ich hatte im polnischen Finanzministerium gute Freunde, die mir ganz offen die Vor- und Nachteile dieses „Notvertrages“ vorführten. Das war zwar erst einmal eine Lösung, aber das Feuerchen glimmte natürlich. Man wusste nicht, wie lange es dauern würde, bis es Der Brief war mit dem Datum 21.1.1971 versehen. Unterschrieben haben: Axen, Grüneberg, Hager, Honecker, Mittag, Sindermann, Stoph, Verner, Mückenberger, Warnke, Jarowinsky, Kleiber, Lamberz. Der Brief von diesen 13 Mitgliedern des SED-Politbüros an das Politbüro der KPdSU und an Breschnew in: SAPMO-BA, DY 30, J IV A/158. Abgedruckt ist dieser Brief in: Peter Przybylski, Tatort Politbüro – Die Akte Honecker, Gütersloh 1991, S. 297–303. Die Antwort aus Moskau dauert 3 Monate. 67 Jochen Stelkens, Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 1997, Heft 4, Jahrgang 45, Machtwechsel in Ost-Berlin, Der Sturz Walter Ulbrichts 1971. Siehe https://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/1997_4_1_stelkens.pdf (letzter Zugriff 10.12.2020). 66
252 die nächste größere Eruption gäbe. Dies wurde begleitet von einer unheimlichen Attacke seitens der Banken. Im Jahr 1980 wurde direkt eine Kreditsperre ausgesprochen. Durch die kamen wir halbwegs hindurch. Der Chef unserer Außenhandelsbank, Prof. Dr. Werner Polze, verstand es, ein belastbares System zu entwickeln, natürlich mit tüchtigen Mitstreitern. Die Milliardenkredite von Strauß in den Jahren 1983/84 sind nicht ganz einfach einzuordnen, ich glaube aber, es ziemlich gut zu können, weil ich mich mit dem Mann von der Bayerischen Landesbank unterhielt, der das Ganze händelte. Strauß, der auf der einen Seite der Grobian und Wadenbeißer war, war hinter dieser Fassade ein absolut kluger Politiker, der uns heute vielleicht ganz guttun würde. Ich weiß von Kollegen, dass Strauß in diesen Verhandlungen ein absolut korrekter, ein um Anstand und gedeihliches Verhalten gegenüber der DDR bemühter Mann war. Wir konnten mit ihm manches Problem lösen, was sonst nicht gegangen wäre. Aber er tat es eben nicht nur als bayerischer Ministerpräsident, sondern auch als Geschäftsmann. Wir hatten große Umsätze, v.a. auf dem Gebiet der Fleischindustrie mit Bayern, die von uns gute Ware zu guten Preisen bekommen hatte – unsere Landwirtschaft war leistungsfähig – und daran natürlich verdienten. Trotzdem waren wir aber zu dieser Zeit in keiner Pleite-Situation, denn wir legten die beiden Milliardenkredite aufs Konto und nutzten sie, wie das der clevere Banker tut, um zu zeigen: Seht mal, so stehen wir da. Sie verwendeten die Gelder gar nicht. Damit wurde spekuliert, um letztendlich das internationale Rating zu verbessern sowie eine bessere Bonität, Rentabilität sowie Liquidität aufzuzeigen. Das war die Verbriefung aufzuzeigen: Wir sind – wie die Bundesrepublik Deutschland oder andere europäische Länder – kreditwürdig. Das bedeutete außerdem, dass die DDR von jedem anderen Land Kredite bekommen konnte. Übrigens: Die DDR bezahlte die Kredite vollständig im Rahmen des Vertrages zurück, inklusive Zinsen. Was waren weitere Hintergründe für diesen Kredit? Letztendlich, als es in die Öffentlichkeit durchsickerte, konnte man diese Gründe der Bevölkerung nicht einfach vermitteln. Der Bevölkerung konnte und wollte man es so nicht vermitteln. Wenn man gesagt hätte, der Strauß hatte uns sehr geholfen, dann hätte man vorher erzählen müssen, dass wir in der Klemme waren. Sonst hätte die Hilfe keinen Sinn ergeben. Überhaupt wollte man natürlich einerseits nicht verhehlen, dass der Strauß mit uns ganz vernünftig redete – es war im Fernsehen zu sehen, wie Honecker mit Strauß scherzte, als er ihn traf – aber man wollte Strauß nicht gerade als einen lieben, netten Kerl aufbauen bzw. darstellen. Das wäre wiederum zu viel gewesen. Deswegen war in erster Linie immer Schalck-Golodkowski zu sehen? Er war der Macher dort!
253 Der DDR-Devisenbeschaffer… Was heißt Devisenbeschaffer? Die Anfangsgeschichte von Schalck-Golodkowski war eine total vernünftige. Persönlich war er, wie jemand nur sein kann, der diese Rolle spielen muss. Ich kann nicht jemanden in den Dschungel schicken und dann sagen, er wäre nicht lieb den Löwen gegenüber. Für diese Situation musste man sich ausrüsten und er war erst einmal ein gescheiter Kerl und ein Mann mit Ideen. Er baute sich in dieser Rolle auf und aus und hatte kluge Mitstreiter. Können Sie nachvollziehen, dass heute argumentiert wird, dass Strauß durch diese Kreditvermittlung – es waren keine Steuergelder, sondern Bankkredite von bayerischen Banken – erfolgreich zur Destabilisierung der DDR beitrug? Es ging Strauß um zwei Punkte: Erstens, seinem Konkurrenten Kohl zu zeigen, wie er an ihm vorbei innerdeutsche Politik praktizierte. Zweitens, Strauß hat im Gegenzug von Honecker die Zusage zur Beseitigung von Selbstschussanlagen an der Grenze bekommen. Aber er und Kohl waren der gleichen Meinung: Egal wie, die DDR, das sind nicht unsere Freunde, aber wenn wir hier auf dem Gebiet der Kreditwirtschaft und der Solidität für diesen Staat drüben etwas tun können, dann sollten wir es machen. Immer natürlich den Blick darauf gerichtet – das ist ganz wichtig – weder Kohl noch Strauß wollten einen Crash in der DDR herbeiführen, so erzählte es mir der zuständige Mann aus der Bayerischen Landesbank, Gerhard Baumann, mit dem ich in den 90er Jahren ins Gespräch kam. Wie Sie bestätigen, Strauß erreichte bei der Kreditvergabe Bedingungen, wie z. B. Reiseerleichterungen oder aber einen Abbau von Selbstschussanlagen … Das war doch völlig in Ordnung … War das nicht ein Druckmittel gegen die DDR? Sie musste für nicht nur tilgen sowie Zinsen für die Kredite zahlen, sondern hatte ein ganzes Paket an Menschenrechtsforderungen zu erfüllen? Viele Mitglieder der Partei SED wie ich auch wünschten schon lange, dass in die drückenden Probleme eine Veränderung kommt. Ich sagte Ihnen bereits, dass der große Stein des Anstoßes immer mehr diese Grenze und die Dinge, die sich um die Grenze abspielten, z. B. Ausreisen und Reisen war. Wir empfahlen intern auch Reiseerleichterungen. Wir sagten denen, die Leute würden wiederkommen, sie sollten nicht so ein generelles Misstrauen verbreiten. Wenn Sie mit „wir“ formulieren, wem meinen Sie damit? Wir hatten doch Möglichkeiten, mit den Genossen im Apparat des ZK, also den Beratern zu reden. Dabei existierten Vertraulichkeit und Offenheit. Allerding ahne ich die Skepsis in Ihrer Frage – bewirkt haben solche Gespräche kaum etwas!
254 Wem meinen Sie mit den Beratern des ZK? Das ZK hatte wie jeder Parteivorstand eine Reihe von Mitarbeitern, die Referate schrieben, Vorschläge unterbreiteten usw. Mit diesen Genossen haben wir oftmals diskutiert, Informationen und Vorschläge geliefert, natürlich primär zu Finanzfragen, aber immer im Kontext zur politischen Situation und Konsequenz. Das waren Themen im Bereich Finanz- und Preisfragen, z. B. zum Abbau dieser obsoleten Stützungen. Es wurde an Verbraucherpreisen festgehalten, obwohl bekannt war, dass es längst möglich war, die Dinge zu differenzieren. Wir hatten die Idee, den Staatshaushalt von Stützungen zu entlasten und dieses Geld in die Lohnentwicklung zu stecken. Die Stützung bekam jeder, undifferenziert, man merkte es gar nicht, weil der Preis niedrig war. Mehr Lohn, z. B. für unsere Kindergärtnerinnen oder unsere Lehrer, die alle schlecht bezahlt wurden, das wäre möglich gewesen, wenn man den Haushalt von solchen Stützungen entlastet hätte. Wir gaben zuletzt ein Viertel unseres Haushaltes für Stützungen aus, für Grundnahrungsmittel, Wohnungen, usw. Wenn man in der DDR einkaufen ging, bezahlte man eine Mark und zwei Mark legte der Staat dazu. Verschwenderisch wurde mit Nahrungsmitteln umgegangen, die teilweise an Haustiere verfüttert worden sind. Dass das zum Crash führen musste, konnte sich doch jeder denken … Es kommt eben nicht zum Crash, wenn dafür andere Sachen kurzgehalten werden, z. B. die Löhne, was aber nun nicht gerade vernünftig ist. Inwiefern war der mittlerweile entstandene und immer weiter anwachsende Graubzw. Schwarzmarkt für den Umtausch von DDR-Mark zu D-Mark destabilisierend? Die Bevölkerung wusste, dass sie in den Intershops nur mit D-Mark einkaufen konnte. Es entstand eine inoffizielle Parallelwährung – die D-Mark. Das führte zu Umtauschverlusten und zu einer Parallelwirtschaft … Ja, das war einer der Punkte wachsender Unzufriedenheit. Man kam an Westmark originär nur heran, wenn man in den Westen fuhr oder wenn man jemanden, der aus dem Westen kam, ein paar Westmark abkaufte, was es natürlich gab. Es existierte auch ein Schwarzmarkt. Handwerker arbeiteten mit Vorliebe für Westmark. Ein Handwerker sagte mal zu meiner Frau: „Das kostet soundsoviel. Ich wäre an ‚grünen Kacheln‘ interessiert, haben sie welche?“ Meine Frau wusste nicht, wovon der Handwerker redete. Damit waren Forumschecks 68 gemeint, die hatten einen grünen Abschnitt. Der Klempner nahm anstelle von hundert DDR-Mark lieber zwanzig D-Mark in Form von Forumschecks. Die er wo einlösen wollte? Damit konnte er in einem Intershop einkaufen. Konkrete Situation: Ich kam von meiner Verwandtschaft aus Magdeburg, hatte meinen kleinen Nelson, den Enkel an Bord und er musste mal zur Toilette. Wir hielten an der Raststätte in Magdeburg an, gingen rein und Mit Forumschecks konnte in den Intershops eingekauft werden. Eine Forumscheck-Mark war eine D-Mark.
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255 plötzlich war der Bengel weg. Ich fand ihn im Intershop wieder, dort hatte er schon ein paar Sachen ausgesucht: „Opa, das kostet doch bloß zwei Mark … Das kannst du doch bezahlen?“ Ich versuchte, ihm zu erklären, dass das nicht unser Geld sei. Dabei dachte ich, was bin ich doch für ein „Unmensch“… Ich war Staatssekretär in diesem Land und hatte nicht eine D-Mark in der Tasche; ich brauchte die Währung normalerweise nicht. Aber es wurde etwas Attraktives angeboten, was ich gerne meinem Enkel kaufen möchte, ich konnte aber nicht, weil ich dieses Geld nicht hatte. Was war das für ein Widersinn? Ebenso die Tatsache, dass die in der DDR produzierten Artikel in den Westen exportiert und dort umetikettiert mit „Made in West-Germany“ wiederum in den DDR-Intershops landeten oder zu Weihnachten – eingekauft in der Handelskette C&A – durch die Westpakete unterm DDR-Tannenbaum landeten. Das bekam die DDR-Bevölkerung ebenfalls mit! Es gab eine Fülle von leider sich steigernden Reibungspunkten. Man konnte sagen: Wie wir insgesamt Politik betrieben, das war gar nicht verkehrt, aber wir hatten zu viele Baustellen, die nicht bedient wurden. Wann fingen wir denn nun endlich dort an? Diese Diskussion, die ich jetzt führe, die führten wir auch im Ministerium oder wenn wir privat zusammensaßen. Freitags ging ich mit anderen gleichrangigen Leuten in die Sauna, dort saßen u. a. auch Diplomaten, natürlich im Regierungskrankenhaus. Diesen Umgang, den wir damals miteinander pflegten, war offen und sehr besorgt. Aber dabei blieb es. Das war das Dilemma der 80er Jahre. Welche Erinnerungen haben Sie an den Besuch von Erich Honecker in der Bundesrepublik im Jahr 1987? 69 Ich empfand es als eine große Kasperei. Es brachte uns nichts, obwohl vieles möglich gewesen wäre. Mir war bekannt, dass die DDR ein Institut eingerichtet hatte, um die Möglichkeiten der Kontakte zu Bonn auszuloten. Es gab also ein Institut mit dem nichtssagenden Namen „Institut für Politik und Wirtschaft“. 70 Prof. Max Schmidt, 71 der Chef des IPW, war ein gescheiter Politökonom. Er hatte uns in der Sauna erzählt, dass es innerdeutsche Gespräche gäbe. Etwa im Jahr 1980 ging das los, heute ist es als „Aktion Länderspiel“ bekannt: Es ging darum, eine Entdiskriminierung der DDR im internationalen Bereich zu erzielen, um Außenwirtschaftsbeziehungen zu erleichtern und gleichzeitig die deutsch-deutsche Entspannung voranzubringen bis hin – das war die Krone der Schöpfung – zu einer Konföderation oder Vertragsgemeinschaft. Das letztere kam schon von Ulbricht. Davor oder danach, ich weiß es nicht mehr genau, In der Zeit vom 7. bis 11. September 1987. In der Zeit von 1949 bis 1971 war die Bezeichnung das „Deutsche Institut für Zeitgeschichte“ (DIZ). Danach neu gegründet war es das „Institut für Internationale Politik und Wirtschaft“ (IPW). 71 Max Schmidt (1932–2018) war u. a. in der Zeit von 1973 bis 1990 Direktor sowie ab 1980 ordentlicher Professor am IPW. 69 70
256 gab es schon einmal eine eingefädelte, über die innerdeutsche Grenze funktionierende Gesprächslinie. Dort war auf westlicher Seite Herbert Wehner eingebunden, der immer ein gesondertes Verhältnis zu Honecker hatte, mit ihm auch redete. Da aber die SPD, die zu der Zeit nicht mehr in der Regierung war, Hilfe brauchte bei der Obrigkeit, hatte Wehner – frei formuliert – mit Kohl gesprochen, worauf dieser Philipp Jenninger, seinen Kanzleramtsminister beauftragte, das wahrzunehmen. Also Kohl habe Jenninger beauftragt und Wehner als der politische „Spiritus Rector“ auf westlicher Seite und auf unserer Seite waren es Rechtsanwalt Wolfgang Vogel, 72 Leute von Schalck-Golodkowski bis hin zu Leuten von der HVA, von Markus (Mischa) Wolf 73. Das scheiterte dann aber daran, was ich erst später aus der Literatur erfuhr, dass Honecker im Jahr 1984 oder im Jahr 1985 nach Moskau bestellt wurde und Konstantin Tschernenko, der letzte Mann vor Gorbatschow, ihn dort fürchterlich ins Gebet nahm. Es kam jetzt ein Buch heraus über eine Unterhaltung zwischen Egon Krenz und Heinz Rudolf Kunze 74. Dort schildert Krenz dieses Gespräch. 75 Wie ist es konkret abgelaufen? Der Kern der Sache, dass es eine Zurechtweisung für Honecker war, stimmt. Honecker hatte Herbert Häber 76 als neues Politbüromitglied berufen. Dieser Mann wurde nach dieser ganzen Geschichte beauftragt, alles sofort einzustellen, diese Fäden zu Philipp Jenninger über Wolfgang Vogel zu kappen. Honecker hatte sich die Ansage sehr zu Herzen genommen, was er nicht hätte machen müssen, aber wie auch immer. Weil Häber Rückgrat besaß und nicht Ruhe ließ, hatte man ihn nicht aus dem ZK befördert, sondern wies ihn in eine Nervenklinik ein. Häber stammte wie ich aus Chemnitz und diese Information bekam ich von Freunden ein paar Wochen später im Urlaub, den ich mit meiner Frau im Erzgebirge verbrachte. Da war bei mir der Riemen von der Orgel, wie man so schön sagt. Das konnte doch nicht wahr sein? Honecker machte den Deckel zu. Der Ausgangspunkt meiner Bemerkung war der Besuch im Jahr 1987, dabei soll Kohl dieses Thema noch einmal aufgewärmt haben, die angeknüpften möglichen Wege in eine Konföderation oder Wolfgang Vogel (1925–2008) war u. a. für den Häftlingsfreikauf als Unterhändler der DDR zuständig. 73 Markus Wolf (1923–2006) war u. a. in der Zeit von 1952 bis 1986 Chef der Hauptverwaltung Aufklärung (HV A) des Ministeriums für Staatssicherheit. 74 Heinz Rudolf Kunzes Biografie unter https://www.heinzrudolfkunze.de/ (letzter Zugriff 15.12.2020). 75 Dieter Dehn, Ich will hier nicht das letzte Wort: Heinz Rudolf Kunze und Egon Krenz im Gespräch, Berlin 2016. 76 Herbert Häber (1930–2020) war u. a. bis 1971 Stellvertreter des Staatssekretärs für gesamtdeutsche Fragen. In der Zeit von 1971 bis 1973 amtierte er als Direktor des Instituts für Internationale Politik und Wirtschaft (IPW). In der Zeit von 1973 bis 1985 war er Leiter der Westabteilung (bzw. Internationale Politik und Wirtschaft) beim ZK der SED. In der Zeit von 1976 bis 1978 war er Kandidat, bis 1986 Mitglied des ZK und in der Zeit von 1984 bis 1985 Mitglied des Politbüros des ZK der SED. 72
257 Vertragsgemeinschaft zu lenken. Das erste Mal überschritt ich die Grenze Richtung Westen – Ende Februar 1990, weil mich mein Amtskollege im BMF Horst Köhler eingeladen hatte. Er wollte mit mir persönlich über ein paar Dinge reden. Ich fuhr nach Bonn und meldete mich in der Ständigen Vertretung. Der Chef dieser Vertretung, ein Betonkopf, wie wir sagten, empfing mich gar nicht erst, für ihn war ich ein Verräter. Sein Stellvertreter meinte, ich solle es ihm nicht krummnehmen. Wir gingen am nächsten Tag gemeinsam ein Bierchen trinken und er erzählte mir, dass wir es einfacher hätten haben können. Kohl hätte das eben genannte Konzept aufwärmen wollen. Aber Honecker war sein Spielmannszug in Wiebelskirchen wichtiger und den Beifall seiner DKP-Genossen dort zu empfangen, als sich um die Sache zu kümmern. Damit ging die Erosion der DDR weiter. Das ist meine Meinung zu dem Jahr 1987. Ich hatte eigentlich ein bisschen Hoffnung, aber es fand nicht statt. Hatte Honecker mehrmals die Chance, sich reformistisch zu öffnen? Eigentlich grob umrissen, 1982 bis 1984, wo diese Dinge abliefen. Und dann natürlich bei seinem Besuch in Bonn. Denn die Stimmung in Moskau war im Jahr 1987 eine ganz andere. Die Kontakte in den 1980er Jahre waren von Honecker geduldet? Honecker hatte das anfangs selbst gefördert, über die Kontakte von Wehner und Schmidt, das rechnete ich ihm erstmal hoch an. Als ich das von meinem Freund erfuhr, dachte ich, Honecker hätte begriffen, dass wir hier etwas machen mussten, wir mussten diesen Krampf lösen. Im Jahr 1987 wurde das gemeinsame ideologische Papier von SPD und SED verkündet? Das bewegte doch gar nichts. Um dieses Papier kümmerte ich mich überhaupt nicht, weil ich dem überhaupt keine Bedeutung beimaß. Das war am 27. August 1987. Dieses Papier war nicht die Konsequenz aus den Gesprächen im Vorfeld, die Sie schildern? Das hatte damit nichts zu tun. Da wollten sich die großen Ideologen mal etwas austauschen. Erhard Eppler war federführend bei diesem ideologischen Papier… Ja, das kann sein. Mit Ideologie können Sie die Leute bewegen oder vergraulen, aber die Welt bewegen Sie damit nicht, das war für mich klar. Nein, es ging wirklich um diese Vertragsgemeinschaft und um die Schritte zu einer Entspannung. Honecker nahm das ernst. Das beweist auch der Umstand, dass er aus dem Mitarbeiter des ZK, Herbert Häber, ein Mitglied des ZK machte und dann aus diesem Mitglied des ZK sogar ein Mitglied oder einen Kandidaten des Politbüros. Dies war ein Indiz dafür, dass diese Dinge wirklich ernst genommen wurden von ihm und er vielleicht sogar der Verkünder der Vertragsge-
258 meinschaft werden könne. Wie dann alles in die Brüche ging, erzählte ich bereits. Beim Gespräch in Moskau muss es ziemlich haarig zugegangen sein. Auch wurde dort die Sache mit Günter Mittag noch einmal aufgewärmt, ihn hatte er aber dort mit am Tisch. Das ist ungefähr so, als wenn sie das völlig ungeliebte Kind bei dem feindlichen Onkel mit zum Kaffee einladen. Es war schlimm. Honecker wandte sich letztendlich von der Perestroika- und Glasnost-Politik Gorbatschows ab. Er ging mit den Vorstellungen Moskaus nicht konform. Moskau merkte das und schlug vor, Honecker abzulösen. Es sind Planspiele in den Jahren 1985 bis 1987. Konkret gab es Überlegungen, dass Hans Modrow neuer Staatsratsvorsitzender werden sollte. Was wissen Sie darüber? 77 Sicherlich gehört und darüber gelesen, mir sind aber keine Details bekannt. Die Forschung sowie Prof. Dr. Manfred Görtemaker bestätigten diese Version eindeutig! Damalig war mir das überhaupt nicht bekannt. Andererseits habe ich aber verstanden, ohne Herzdrücken, dass Gorbatschow ins Blaue segelte. Er trat an, gab uns Hoffnung auf ein Ende dieser Unfähigkeit und Tatenlosigkeit in der Sowjetunion, die uns Sorgen machten. Aber es war mir bald klar: viele Worte und keine Konzepte! Im Jahr 1986 passierte folgendes: Es fand eine RGW-Tagung kurz vor Weihnachten in Kuba statt. Unser Minister hatte mich dort hingeschickt. Für mich war es ein Glücksfall, ich hatte die Chance, das erste Mal Kuba im Jahr 1986 zu besuchen. Dort begegnete mir nun die große Entourage des neuen sowjetischen Finanzministers, die Gorbatschow gerade berufen hatte. Ein Haufen Berater, eine Reihe kluger Leute, die zum Teil fließend deutsch sprachen. Der schickte mir einen seiner Berater mit der Bitte, wir mögen uns mal unterhalten. Das Gespräch war lang und breit, ich konzentriere mich jetzt mal auf den Punkt, der mich sehr erstaunte: „Was halten Sie denn von wirtschaftlichen Reformen?“ Ich antwortete: „Ich habe im neuen ökonomischen System der Planung und Leitung der DDR von Anfang an als Wissenschaftler im Finanzökonomischen Forschungsinstitut mitgearbeitet. Ich bin der Meinung, in das sozialistische Wirtschaftssystem kapitalistische Elemente zu implantieren, das ist so wie die Implantation einer Niere oder eines Herzens bei einem Menschen, es gibt Abstoßungsreaktionen und diese sind in der Wirtschaft nicht ungefährlich.“ Er fragte nach: „Wie meinen Sie denn das?“ Ich: „Ein einfaches Beispiel: Wenn sie einem Werkleiter eines sozialistischen Betriebes sagen, er könne jetzt von seinem erwirtschafteten Gewinn statt zehn nun zwanzig Prozent behalten. Er könne auch Auslandskredite aufnehmen, müsse sich aber zur Rückzahlung verpflichten, indem er mit der Technik, die er damit einkauft, Produkte bringt, die exportfähig seien. Dann macht er das, macht es aber schlecht. Das kann dir passieren, er ist nur der Chef, der Im Juli 1988 sprach Präsident Gorbatschow in Warschau mit dem polnischen Staatsoberhaupt Wojciech Jaruzelski (1923–2014) darüber, Honecker durch Modrow abzulösen. Vgl. Dürkop/Gehler, In Verantwortung, Ebd., S. 150–151.
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259 Kapitalist reißt sich den Arsch auf, dass bloß nichts passiert. Der Chef ist aber nur der Chef des volkseigenen Betriebes, es ist nicht sein Kapital, es ist nicht sein Leben. Dann fällt er auf die Nase. Da ist, wenn es das Inland betrifft, die Mark weg, wenn es das Ausland betrifft, sogar der Dollar. Was passiert dann? Dann darfst Du als Staat den nicht getilgten Kredit übernehmen, den Werkleiter ersetzt Du durch ein neuen, der dann verspricht, er mache es viel besser, doch er macht es aber auch nicht. Die kapitalistische Eigentümerrolle ist immer mit dem eigenen Kapital verbunden. Es ist kein Angestelltenverhältnis. Das Versagen ist, im schlechtesten Fall, der wirtschaftliche Tod. Dieses Szenario, lieber Finanzminister, kannst Du nicht im sozialistischen Betrieb nachspielen. Der ist anders strukturiert, das ist ein volkseigener Betrieb. Also hast Du jetzt verstanden, wie differenziert die Verantwortungs-, Interessen- und Konsequenzlage ist?“ „Ja, da hast Du eigentlich recht. Aber Jugoslawien …?“, erwiderte er. Ich erwiderte: „Ja, Jugoslawien habe ich mir sehr genau angesehen, ich sprach öfter mit dem Staatssekretär des jugoslawischen Finanzministeriums und genau der erzählte mir diese Probleme. Im Übrigen, lieber sowjetischer Genosse, liest Du denn deren Statistik?“ Er: „Nein, wie meinst Du das?“ Ich: „Dann musst Du dir mal deren Auslandsverschuldung und deren Inlandsprobleme ansehen.“ Das jugoslawische Experiment lief zwar im Großen und Ganzen relativ gut, die standen so schlecht nicht da, aber hatten eben dauernd solche Ausreißer. Ich wusste von meinem Amtskollegen, dass sie deshalb sehr bemüht waren, diese Spielräume wieder einzuschränken und bereits eingeschränkt hatten, weil das nicht die Lösung sein konnte. Antwort des sowjetischen Genossen war: „Naja, pass mal auf, das ist alles schön und gut, aber ich denke, wir werden es doch mal in diese Richtung probieren.“ Etwa ein Dreivierteljahr später war ich nicht bei ihm persönlich, sondern beim Staatssekretär des sowjetischen Finanzministeriums, ein Kaukasier, ein ganz energischer Typ. Ich sprach ihn bezüglich dieses Gespräches mit seinem Chef an und er lachte bloß. Er war ein alteingesessener Finanzer, er war nicht mit der neuen Gorbatschow-Welle erst dorthin gekommen: „Eine solche Laberei, die hier stattfindet und was sie alles ausarbeiten, machen und tun …!“ Seine Gorbatschowsche „Affinität“ steigerte sich noch einmal in einer ganz profanen Geschichte. Er lud uns in ein Gästehaus ein, mich und meine Mitstreiter. Wir saßen an einer schönen gedeckten Tafel und er bat den Kellner, er möge doch jetzt mal einen richtigen Wodka bringen. Daraufhin fängt dieser an, mit ihm zu diskutieren. Der Staatssekretär brüllte los: „Ich lasse mich hier nicht bevormunden! Wenn ich mit meinen deutschen Gästen hier keinen Wodka trinken kann, dann gibt es großen Ärger. Nun bemühe Dich mal.“ Der Kellner wies natürlich auf das Verbot von Gorbatschow hin. Selbst auf dieser Ebene waren die neuen Spielregeln sehr fragwürdig. Das ganze große Gedöns wurde aber nie in ernsthafte Dinge umgesetzt. Folgende Daten möchte ich Ihnen nennen – 15. August 1988: Die Beziehungen der DDR zur EG werden durch einen Notenwechsel aufgenommen. Seither ist der ostdeutsche Staat in Brüssel vertreten. 18.–19. Dezember 1989: Der Rat der EG-Außenminister
260 spricht anlässlich seiner Tagung grundsätzlich für den Abschluss eines Handels- und Kooperationsabkommens mit der DDR aus. 1. Februar 1990: Die Modrow-Regierung übermittelt an die EG-Kommission ein Memorandum zur Wirtschaftsreform in der DDR, um ihre Bereitschaft zu Veränderungen durch Öffnung zu signalisieren. 16. März 1990: Zwei Tage vor der Wahl zur DDR-Volkskammer überreicht der DDR-Vertreter in Brüssel der Kommission eine Note, in der die Eröffnung exploratorischer Gespräche zur formellen Einbindung der DDR in die EG mit Blick auf einen möglichen Vollbeitritt vorgeschlagen wird. Die Interessenlage der EG-Mitgliedsländer spricht jedoch dagegen. Wie realistisch war für Sie der Prozess mit einem EG-Vollbeitritt der DDR als 13. Mitgliedsland? Auf den letzten Satz Ihrer Fragestellung muss ich im Konjunktiv antworten: Wenn die Modrow-Regierung im ersten Quartal 1990 bei der Meisterung der Krise der DDR erfolgreich gewesen wäre, dann wäre das im Dezember 1989 vom Rat der EG-Außenminister angebotene Handels- und Kooperationsabkommen mit der DDR sicher zustande gekommen. Von Thatcher und Mitterrand sind bekannt, dass sie die Wiedervereinigung, also das neue „Großdeutschland“, nicht wollten. Sicherlich dachte man in anderen Ländern mit „schlechten Erfahrungen“ ähnlich! Aber dieser Wunsch war obsolet, als am 18. März 1990 48 % der DDR-Bürger für die „Allianz für Deutschland“ stimmten. Das war das Ende der „Modrow-Regierung“ und die „de Maizière-Regierung“ trat mit dem „Auftrag“ an, den Weg in die „Einheit“ zu bahnen. Also faktisch gab es in dieser Sache eine ganz neue „Geschäftsgrundlage“. Dazu kann ich Ihnen folgendes sagen: Als Staatssekretär des Finanzministeriums wurde ich vom Ministerpräsidenten Lothar de Maizière, etwa Anfang August 1990, damit beauftragt, zur EG-Kommission nach Brüssel zu fahren. Der Auftrag lautete: Möglichkeiten der Vergünstigungen im Sinne einer Sonderwirtschaftszone für Ostdeutschland bei den zuständigen EG-Beamten zu erkunden. An den Verhandlungen zum Einigungsvertrag, die im Juli 1990 im Ministerratsgebäude der DDR in der Berliner Klosterstraße begannen, nahm der damalige Präsident der Europäischen Kommission, Jacques Delors, als Gast teil. Meine Vermutung ist, dass Lothar de Maizière bei dieser Gelegenheit mit Delors über solche Möglichkeiten gesprochen hat. Wir haben uns auf diese Sache rasch vorbereitet. Unser Ministerium hatte Experten, die sich seit Jahren mit der EG, deren Beschlüssen und Regelungen befassten. Das entsprechende Konzept und die Verhandlungsdirektive wurden kurzfristig vorbereitet und vom Ministerpräsidenten de Maizière bestätigt. Eine Kopie befindet sich in meinem Besitz. Wann war das konkret? Nach meiner Erinnerung – wie schon gesagt – im Juli 1990. Das war aber spät. Wieso spät? Die Regierung de Maizière nahm Anfang April 1990 ihre Arbeit auf. Die erste Aufgabe war die Vorbereitung der Währungsunion. Die Verhandlungen um die Modalitäten dieses schwierigen Unternehmens waren absolutes Neuland sowie politisch
261 dramatisch. Es ging nicht nur um die Frage, wie der Umtausch Mark der DDR zu D-Mark erfolgen sollte, sondern es wurde gleichzeitig ein großes flankierendes Gesetzespaket mit dem ersten Staatsvertrag verknüpft. Die DDR verlor ihre Währungshoheit, die Bundesbank wurde auf dem Territorium der DDR tätig u. a. m. Der Staatshaushalt für das 2. Halbjahr 1990 musste neu „in D-Mark“ erarbeitet werden. Und zwar nicht allein wegen der neuen D-Mark, sondern vor allem, weil die volkseigenen Betriebe nun der Besteuerung unterlagen, aber die Leistung und der Gewinn „ins Trudeln“ kamen. Die Einnahmen waren also instabil, Kredite wurden notwendig und zwar so, dass die Schulen, Krankenhäuser, Löhne, Renten usw. finanziert werden konnten. Kein Mensch wusste, wie die Unternehmen, die Genossenschaften usw. mit den total veränderten monetären Bedingungen, Preisen, Löhnen usw. zurechtkommen würden! Da hatte die Regierung also alle Hände voll zu tun. Die Fragestellung an Brüssel gehörte zu den Themen, die wir dann nach dem 1. Juli, als auch der vorverlegte „Einigungstag“ gesetzt war, angehen mussten. Warum? Es zeichnete sich doch schon im Juli 1990 ab, dass Ostdeutschland in eine ganz schwierige wirtschaftliche Situation kommen wird. Es gab rundum Signale, dass die Industrie der DDR und auch die Landwirtschaft unter Druck sowie Existenznöte geraten waren. Die „einreitenden Emissäre“ der westdeutschen Industrie kamen doch nicht, um uns zu helfen. In der Treuhandanstalt hieß es: „Privatisieren“, nicht modernisieren! Da mussten wir überlegen, welche Möglichkeiten wir hatten, dem entgegenzuwirken. Der Blick nach Brüssel war das eine! Mein Berater aus dem Bundesfinanzministerium sagte: „Ich will Ihnen nicht den Appetit verderben, aber Sie werden sehr enttäuscht sein von den Typen, auf die Sie in Brüssel treffen.“ Aber wir wollten keine Möglichkeit außer Acht lassen. Die Reise nach Brüssel mit Beratern und Dolmetscherin für die französische Sprache startete etwa am 15. August 1990. In Brüssel bekamen wir noch Rat und Hilfe von unserem Botschafter Professor Ingo Oeser, ein freundlicher und kluger Mann. In der Sache selbst begann ein zwei Tage währendes „Vorsprechen“ bei diesem und jenem Beamten. Alles freundlich, langatmig, belehrend, aber überhaupt nicht sach- oder gar ergebnisorientiert. Bis zu dem zuständigen Kommissionsmitglied kamen wir gar nicht! Kurzum: Mit freundlichen Reden waren wir abgeblitzt. Also mein Berater aus Bonn hatte recht! Eigentlich hatte die EG-Kommission damals noch freie Hand, um das Gelingen der „deutschen Einheit“ zu unterstützen. Mögliche folgende Anträge anderer ehemaliger RGWLänder waren zu dieser Zeit noch gar nicht in Sicht. Aber der Grund für die Ablehnung unseres Anliegens lag vermutlich in der schon erwähnten Abneigung, mit der führende politische und wirtschaftliche Kräfte in Frankreich und Großbritannien das Entstehen eines neuen „Großdeutschlands“ begleiteten. Es ist inzwischen belegt, dass Thatcher und Mitterrand lieber zwei deutsche Staaten belassen wollten, die natürlich beide ein Mitglied der EU sind, aber politisch unterschiedlich agieren und mit denen sie hätten besser zurechtkommen können.
262 Die Rechte einer wie auch immer gearteten Sonderwirtschaftszone hätten doch (vielleicht) nicht bloß Ostdeutschland genützt, sondern die ohnehin überlegene westdeutsche Wirtschaft privilegiert. Das war sicher der Hintergrund dieser Absage. Da gab es klare Order. Herr Delors konnte seinen guten Freund Mitterrand nicht enttäuschen. Zurück ins Jahr 1989: Am 7. Oktober fanden die Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR in Ostberlin statt. Wie erlebten Sie diesen Tag sowie Erich Honecker? Wo waren Sie? Ich war an diesem Tag wie jedes Jahr zur traditionellen Parade, die in der Karl-MarxAllee in der Nähe des Kinos International 78 stattfand. Was mir bis heute in Erinnerung geblieben ist, war das ungute Gefühl: „Muss das sein? Müssen wir uns so martialisch präsentieren, obwohl uns immer mehr Leute den Rücken zukehren?“ Wenige Tage zuvor waren nach dem „Geniestreich“ von Genscher in der Prager Botschaft etwa 5000 DDRBürger in den Westen gereist. Anfang September hatte Ungarn durch die Grenzöffnung zahllosen DDR-Leuten die Flucht nach Österreich ermöglicht. Es war also höchste Zeit, diese Eskalation der Westflucht politisch als Votum gegen unsere Politik wahrzunehmen. Natürlich empfand ich, wie auch viele andere, Flucht ist nicht gut, denn wir hatten doch versucht, von Jahr zu Jahr das Leben im Lande zu verbessern. Also warum gingen so viele? Meist junge Leute? Sie gingen, weil die Attraktivität der westlichen Welt hinter der Mauer „wer weiß was“ versprach und unser Gesellschaftsmodell vor der Mauer, mit „bescheidenem Angebot“ nicht mehr ausreichte bzw. passte. Ich glaubte zwar damals, dass die sozialen Standards, der sichere Arbeitsplatz usw. ein Anker sein müssten, um in der DDR zu bleiben. Ich hatte aber gelernt: Die Jungen sehen diese Welt anders als wir, die gebeutelte, die bescheidene „Kriegsgeneration“. Unsere Art, politische Ideale und Werte zu vermitteln, war mit Honecker immer „hölzerner“ geworden. Die FDJ, einst eine Gemeinschaft, die unsere Ideale vermittelte, mutierte zur Pflichtveranstaltung. Ich spürte diesen Unmut, wenn ich aus guter Tradition in der Jugendgruppe unseres Ministeriums in einem Forum zu aktuellen Fragen Stellung nahm bzw. diese erläuterte. Über solche Erscheinungen bzw. Sorgen haben wir natürlich geredet, auch im Kollegium des Ministeriums. Es gab immer wieder Anlässe, wie z. B. die absurde Idee, die ohnehin knappe Valutaausstattung für Reisende nach Tschechien und Ungarn weiter zu reduzieren als Bremse für die Reisen dorthin! Es kam nicht dazu, aber allein der Gedanke war absurd wie hilflos! Es war so, dass Honecker nicht amtierte und im Krankenhaus stationiert war. Was aber geheim gehalten wurde und nur intern bekannt war, dass Krenz amtierte, und als Krenz nach China reiste, sogar Mittag das „Sagen“ hatte. Eine diffuse Situation in der Führung des Landes in den Wochen vor dem 40. Jahrestag der DDR. Ich hatte mit meiner Frau Ende September noch eine Woche Urlaub in Thüringen angetreten. Schon auf der Kino International (Bj. 1963) an der Berliner Karl-Marx-Allee 33. Vgl. dazu Dietrich Worbs, Das Kino International in Berlin. Ein Bau der Nachkriegsmoderne und der Filmgeschichte der DDR, Berlin 2015.
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263 Hinfahrt bekam ich an einer Tankstelle in Halle die neueste Junge Welt in die Hand. Da wurde schon ganz klar und breit über die Demonstrationen in Leipzig berichtet. Das war nicht mehr nach dem Stil der üblichen Meinungsdisziplin. In Leutenberg, unserem Urlaubsort, hörte man in den Gesprächen allenthalben die Sorge: Wie geht das weiter? Ich kam zurück aus dem Urlaub. Im Gespräch mit meinen Genossen im Haus dominierten die Sorgen. Mein Genosse Rolf Mager, der zuständige Stellvertreter für den RGW, sagte in einer Leitungssitzung etwa wörtlich: „Die DDR befindet sich im freien Fall!“ Trotz alledem tat die Führung so – Honecker amtierte wieder – als ob alles im grünen Bereich wäre. Gorbatschow kam zum 40. Jahrestag der DDR und Honecker zelebrierte wieder die bekannten Riten. Es fand ein großer Festempfang der Parteiführung im Palast der Republik statt, an dem auch Gorbatschow nebst Gattin teilnahm. Drinnen wurde geprostet und getanzt, draußen hatte sich eine Demonstration versammelt und vom Alex kommend mit Rufen „Gorbi, Gorbi …“ lautstark artikuliert. Die Polizei hatte den Befehl, hart einzugreifen. Im Fernsehen liefen die Bilder vom tanzenden Generalsekretär. Diese Bilder sind weltbekannt. Unser Minister der Finanzen, Ernst Höfner, schilderte mir mit „Pathos“ den Abend im Palast. Ich war betroffen und erwähnte die Demos vor dem Palast. Wir kamen hierbei nicht auf einen gemeinsamen Nenner. Konnte man mit ihm über die Ereignisse nicht reden? Wie systemkritisch war Ernst Höfner? Nein. Wobei es nicht um „System-Kritik“ ging, sondern um Antworten auf Proteste von Leuten, die die DDR im guten Sinne verändern wollten. Ernst Höfner war ein kluger Mann, aber in seiner Haltung oft recht reserviert, nicht sehr am Gedankenaustausch interessiert, wohl eher auf Zustimmung aus. Wir pflegten mehr eine Pflichtgemeinschaft! Die zehn Jahre stand ich mit ihm durch. Es gab Ambivalenzen und auch manche unschöne Szene. Ich war immer ein Mann, der auch in kritischen Situationen nach Ausgleich suchte, der Sache wegen oder als Selbstschutz. Ich konnte das, weil ich als Staatssekretär selbständig agierte. Ich hatte meine eigenen Aufgabenbereiche, im Ministerium war ich anerkannt und jeder wusste, mit mir konnte man auf Augenhöhe reden, auch über „Herzdrücker“. Ich hatte mit Ernst Höfner bis zuletzt ein zum Amt gebührendes respektierendes Verhältnis. Leider spielte bei unserer Zusammenarbeit auch ein „Dritter“ eine miese Rolle. Es war sein Intimus und zugleich der Informationsschreiber für das MfS. Ein Vertrauter von ihm und zugleich „Anbiederer“ zu mir! Er trieb recht geschickt Keile zwischen uns. Leider habe ich das erst sehr spät erkannt. Ernst Höfner starb im Jahr 2009. Er hat nach seiner Abberufung im November 1989 keine Arbeit mehr gefunden. Wir haben bis zuletzt ein freundliches Verhältnis gepflegt. Es war eine unserer Stärken, trotz vorhandener Differenzen, den Genossen zu achten. Über die Art unserer Zusammenarbeit und ihre Schattenseiten haben wir aber nie gesprochen.
264 Bitte Ihre Gedanken beim Besuch Gorbatschows und seinem Treffen mit Honecker sowie der DDR-Führung. Aus meiner Sicht wäre es doch eine letzte Chance von Egon Krenz gewesen, diese DDR durch einen „Geniestreich“ zu retten. Ein offenes Wort mit Gorbatschow, der Versuch, ihn für ein Krisenmanagement zu gewinnen, das wäre staatsmännisch gewesen. Aber er blieb arrogant und anscheinend blind für die Wirklichkeit. Wenn Egon Krenz, Günter Jahn, Hans Modrow, Siegfried Lorenz, Gerhard Schürer und andere vor dem 40. Jahrestag ihre Chance genutzt hätten, dann ... Sie müssen doch ihren Plan bereits im Kopf gehabt haben?! Allerdings schwiegen sie alle und fügten sich dem Zeremoniell. Das war nicht Parteidisziplin, sondern ein Versagen in historischer Stunde. Ich wage zu formulieren: Es hätte die folgende Entwicklung ändern können, wenn sie gehandelt hätten. Gorbatschow hätte sich nicht verweigern können, er wäre in diese „Wende“ einbezogen worden und wir hätten ihn beim Wort genommen. Eine Perestroika in den Farben der DDR! Ein Test für seine Ehrlichkeit, seiner Treue zum „Bruderbund“, die er noch bis in den Dezember 1989 beschwor. Zehn Tage später entzog die Parteiführung Honecker das Vertrauen. Aber warum nicht bereits vor diesem Republik-Feiertag? Sicherlich meine Gedankenspiele, aber sollte nicht im Kopf jener, die damals die Macht ausübten, so eine Konstellation angedacht worden sein? Wie bereits besprochen: Im Januar 1971 wurden u. a. von Honecker, Stoph, Axen, Mittag, Hager sowie anderen „Politbüro-Mitgliedern“ in einem Brief an Breschnew die Ablösung Ulbrichts eingeleitet. Im Jahr 1989 war es höchste Zeit, den nächsten Schritt zu tun. Vermutlich war bei Stoph und Krenz der Schritt im Kopf schon vorgedacht. Zu den Geschehnissen am 18. Oktober 1989: War der Machtwechsel für Sie ein Putsch gegen Honecker oder ein Rücktritt von Honecker? Putsch ist Boulevard und nicht unsere Sprache. Stoph, Krenz und andere Mitglieder der Parteiführung haben Honecker aufgefordert, er möge zurücktreten. Das war absolut legitim. Nur es hätte früher gehandelt werden müssen, aber das scheiterte an der fehlenden Entschlusskraft dieser Genossen. Heute weiß man, dass es im Zentralkomitee schon vorher Versuche gegeben hatte, die „Führungsfrage“ zur Sprache zu bringen. Zu welchem Zeitpunkt wurde Krenz das angetragen? Bekannt ist, dass es im Mai 1989 bei den Wahlen intern kritische Gespräche mit Egon Krenz gab. Er widersetzte sich aber mit dem Argument der inneren Disziplin. Informationen über diese internen Vorgänge sind erst seit der Veröffentlichung von Memoiren zugänglich. Dort gibt es ganz unterschiedliche Aussagen. Aber für mich ist das denkbar, dass es so war, denn es gab genug kritische und kluge Leute in der Parteiführung, die die Widersprüche wachsen sahen.
265 Was hatte er darauf erwidert? Das weiß ich nicht. Er blieb treu seiner Pflicht. Das war so in unserer Partei, also keine Fehlerdiskussion. Ich kann gegen Egon Krenz kein böses Wort vorbringen. Er ist ein hoch anständiger, begabter Mann, aber für diese hohe Funktion im innerlichen Konstrukt wohl nicht geschaffen. Es ist nicht untypisch, dass man jemanden zu seinem Kronprinzen aufbaut, der ein freundlicher, aber kein machtbesessener Typ ist, da hat man keine Risiken, auch wenn es „eng“ wird. Wenn man einen starken, machtgeilen Mann zu seinem Kronprinzen aufbaut, dann hat man immer Probleme. Das kann man in der heutigen Bundesrepublik ebenfalls beobachten. Zurück zu Honecker: Putsch oder Rücktritt? Zurückgetreten wäre Honecker nie, selbstgefällig und arrogant, wie er eben nun einmal war. Das hat sich noch einmal deutlich am 7. Oktober 1989 in seiner Rede gezeigt. Dort können Sie die wirklichkeitsfremden Wortblasen greifen. Das war Verrat an unserem Vertrauen zu ihm und zur Partei! Honecker genoss in erster Linie Achtung und Vertrauen wegen seiner antifaschistischen Vita von Jugend an sowie seiner langen KZ-Haft usw. Aber er hat wegen seiner Selbstüberschätzung, gefördert durch die in unserem System übliche bedingungslose Huldigung dem Kult um seine Person, die „Unfehlbarkeit“ suggeriert. An die er wohl auch selbst glaubte. Trotzdem hat er als Generalsekretär und Staatschef letztlich aber versagt. Für mich und viele meines Alters basierte die damalige Wertschätzung für Honecker aus seiner Zeit als Vorsitzender der FDJ. Dazwischen lagen viele Jahre, in denen er immer im Schatten Walter Ulbrichts gestanden hatte, Aufgaben in Bezug auf die Landessicherheit in der Parteiführung wahrgenommen und mal Ulbricht vertreten hatte. Als Gestalter von Politik hat man ihn dabei nie erlebt. In der Wirtschaftsführung kannte er sich nicht aus, weshalb er Mittag an sich heranzog. Als er im Jahr 1971 an die Spitze der Partei kam, war alles nicht so absehbar. Zweifel, die man hier und da von Genossen hörte, nahm ich zuerst nicht ernst. Die Tragik war, dass dieses Defizit an politischer Führungsfähigkeit durch die Erfolge in der Sozialpolitik der ersten Jahre zunächst kaschiert wurde. Erst die Zahlungsbilanz-Probleme Mitte und Ende der 1970er Jahre sowie die Entscheidungen zu Gunsten der Konsumtion und zu Lasten der Akkumulation gaben mir Signale. „Was die Partei beschließt, muss auch finanziert werden!“, so war ein Spruch, den wir gelegentlich aus dem „Großen Haus“ hörten. Man setzte sich mit den Genossen auseinander, aber die Entscheidungen wurden im „Großen Haus“ trotz aller Bedenken so getroffen. Wie Sie wissen, wurde in den 1970er Jahren, also nach der Schlussakte von Helsinki, der Druck auf die sogenannten Ostblockländer immer schärfer. Die Solidarność-Gewerkschaft in Danzig entstand nicht von ungefähr. Es kam eins zum anderen. Im Jahr 1979 intervenierte die Sowjetarmee in Afghanistan, dann wurde Ronald Reagan der neue Präsident. Die Entwicklung der DDR und ihre inneren Probleme wurden durch einen immer aggressiveren Ton des Westens belastet. Die West-Kanäle strahlten in fast jedes DDRWohnzimmer alltäglich hinein. Der Hass trieb schlimme Blüten. Natürlich bot der DDRAlltag, die Mauer, die Mängel da und dort auch genügend Stoff. Im Westen saß der unfreundliche Nachbar und im Osten der instabile Bruderbund. So entwickelten sich die
266 äußeren Umstände zunehmend gegen uns. So verlor unsere Politik immer mehr an Bindungskraft. Vor allem bei den Nachkriegsjahrgängen. Wenn man wie ich täglich ein hartes Stück Arbeit zu leisten hatte, nahm man den schleichenden Vertrauensverlust aber auch nicht so wahr oder schob solche Wahrnehmungen mit dem Blick auf das große Ganze, die wirtschaftlichen und sozialen Fortschritte, beiseite. Unsere Medien verkündeten fälschlicherweise jeden Tag einen „puren Optimismus“, anstatt auch über „VolkesSorgen“ zu berichten bzw. zu diskutieren. Mit Abstand begreift man das alles erst heute. Leider. Wurde an Honecker das sich im Hintergrund zusammenbrauende Misstrauen gegen ihn herangetragen? Welche Konsequenzen waren zu befürchten? Ihre Frage geht an den falschen Mann. Ich habe schon gesagt, was ich heute aus der Literatur weiß. Details kann ich Ihnen dazu nicht verraten, weil ich nie Mitglied von Führungsgremien der Partei war. Als Staatssekretär hatte ich mit diesem oder jenem Mitglied der Parteiführung zu tun. Zu einem offenen Gedankenaustausch kam es nie. Das verlief immer sehr sachlich, durchaus kritisch, aber betraf kaum das „Eingemachte“. Bei uns gab es keine Presse, die auf „Stories“ scharf war. Es existierten keine Lobbyisten und Interessenverbände, die mit Informationen der Mächtigen gefüttert werden, wie wir das heute täglich erleben. Bei aller Problematik, die politische Haltung sowie Redlichkeit waren in der DDR von besserer Qualität. Das versteht man nur, wenn man in der DDR gelebt hat. Im guten Sinne war die Mehrheit der Bürger zufrieden und bereit, die Pflichten am Arbeitsplatz zu erfüllen. Natürlich verleitet das dazu, selbstzufrieden zu sein und Konflikte nicht wahrzunehmen. Das ist bei uns zunehmend passiert. Ich schließe mich da nicht aus! Oben und Unten waren nicht wie heute. Die sogenannte „Aufarbeitung der Geschichte der SED-Diktatur“ in der Öffentlichkeit hat als generellen Auftrag zu „verurteilen“. Die Ergebnisse sind ein durchweg negativ geprägtes „DDR-Bild“. Auch stelle ich fest, dass Falschdarstellungen, wie z. B. über die Jugendwerkhöfe, gebräuchlich sind. Der Oktober 1989 war bei der Mehrheit der Bürger der DDR noch von der Hoffnung getragen, die DDR zu ändern oder sogar zu bessern. Ich zitiere die Ikone der Bürgerrechtler, Bärbel Bohley: „Ich gehöre nicht zu denen, die vergessen haben, was wir eigentlich wollten. Wir wollten nämlich nicht unbedingt, dass die Mauer fällt, daran haben wir gar nicht gedacht. Wenn heute viele sagen, sie wollten die Wiedervereinigung, dann haben sie vergessen, dass sie Freiheit wollten. Und zwar in ihrem Leben, das sie in der DDR führten. Alles andere kam später.“ 79 Das sollten insbesondere jene aufmerksam lesen sowie im Blick behalten, die den Herbst ´89 und die Wünsche und Hoffnungen der protestierenden DDR-Bürger ganz anders deuten. Aber so ist das mit der Wahrheit, wenn die Sieger Geschichte schreiben.
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Zitat von Bärbel Bohley. Siehe https://baerbelbohley.de/zitate.php (letzter Zugriff 15.12.2020).
267 Im Jahr 1966 löste Siegfried Böhm den ersten Finanzminister der DDR, Willy Rumpf, ab und amtierte in der Zeit von 1966 bis 1980. Siegfried Böhm war Minister der Finanzen sowie Mitglied des Präsidiums des Ministerrates der DDR, Mitglied des ZK der SED und Volkskammerabgeordneter, bis er erschossen wurde. Offiziell ein tragischer Unglücksfall. Möchten Sie darüber sprechen? Ja, es war ein tragischer Unglücksfall. Ehekrisen, die in Gewalt ausarten, machen vor niemandem Halt. Für mich war es ein trauriger Tag, weil ich Siegfried Böhm sehr schätzte. Er war ein kluger Mann und ein engagierter, erfolgreicher Minister. Ja, er konnte auch ruppig im Ton sein, aber das war die Ausnahme. Kurzum: Es war ein Verlust für unser Haus, das Finanzwesen der DDR und für mich persönlich. Es entstand eine ziemlich peinliche Lage im Haus sowie in der Öffentlichkeit. Niemand wollte offen über diese tragischen Zusammenhänge reden oder gar informieren. Auch nicht in Bezug auf seine Nachfolge. Dann entschied die „politische Führung“, unseren Staatssekretär Dr. Werner Schmieder zum Nachfolger zu küren. Das war, wie sich herausstellte, ein Fehlgriff und mündete nach nur einem Jahr in einen ungewöhnlichen Rücktritt! Schmieder ersuchte selbst beim Ministerpräsidenten um seine Ablösung. Diese Entscheidung ersparte uns immerhin weitere Reibereien im Hause. Er bekam sodann eine Professur am Institut für Sozialistische Wirtschaftsführung in Rahnsdorf. Was können Sie über Ihre Vorgänger Siegfried Böhm (amtierte 1966 bis 1980) sowie vom DDR-Finanzminister Willy Rumpf (amtierte 1955 bis 1966) berichten? Rumpf war ein Pionier der ersten Stunde, der aus dem antifaschistischen Widerstand kam. Er kam aus der kommunistischen Partei und war im KZ gewesen. Er war eine Zeit lang „illegaler“ Schatzmeister der KP-Führung und hatte seine Probleme mit dem „Neuen Ökonomischen System“ (NÖS). Er war abwägend, was gut und richtig war und wo es Probleme für den Staatshaushalt, für den Einnahmenfluss aus der volkseigenen Wirtschaft geben könnte. Also ein Mann der „alten Schule“, sehr erfahren, geachtet, selbstbewusst, aber – wie überall eben – in unserer Partei liebte man nicht die Bedenkenträger. Obwohl Rumpf und Ulbricht als alte Genossen ein sehr vertrauliches Verhältnis miteinander pflegten, gefiel es wahrscheinlich Ulbricht nicht, dass Rumpf immer wieder eigene „Gedanken und Probleme“ in die Debatte hineinbrachte. Der Bruch kam, als sich Rumpf in einem Presseinterview kritisch zu Preisfragen und Subventionen äußerte und meinte, dass man „dies und jenes“ verändern müsste. Aufgrund seiner Tätigkeit als Wirtschaftsprüfer hatte er große Kenntnisse auf dem Gebiet der Wirtschaft und der Finanzen. Rumpf hatte die Linie verfolgt, die wirtschaftliche Rechnungsführung und das Kostenbild zu qualifizieren. Dazu gehörte es, die Grundfonds, also Maschinen und Anlagegegenstände richtig zu bewerten, welche noch mit den alten Werten in der Bilanz standen, damit die Amortisationsraten stimmten, also, wie hoch wird amortisiert, und natürlich die Frage, wie die ganze Reproduktion in der Planung der Betriebswirtschaft weiterqualifiziert werden sollte.
268 Ich empfand das, wie viele andere in unserem Haus, durchaus richtig. Im „Großen Haus“ sah man das allerdings anders. Vermutlich gab Mittag den Anstoß, Rumpf durch einen neuen Mann zu ersetzen, weil Preise und Subventionen politisch sensible Themen waren, umso mehr, als der 17. Juni 1953 an böse Erfahrungen mahnte. Rumpf war Mitgestalter einer „kaufmännischen Betriebsführung“, aber zugleich Mahner hinsichtlich der Stabilität des Staatshaushaltes. In dem Pro und Contra zum „Wie“ im „NÖS“ wurde Rumpf wegen seiner Haltung, insbesondere von Mittag, angegriffen. Im Jahr 1966 wurde er aufgrund seiner Vorschläge zu einer ökonomisch fundierten Preisbildung schließlich zur Aufgabe seines Amtes genötigt. Trotz seiner großen Verdienste wurde Rumpf faktisch zur „Unperson“ erklärt. Er starb im Jahr 1982. Also Rumpf ging und Böhm als ehemaliger Leiter der Abteilung Planung und Finanzen des ZK der SED kam. Böhm galt mit Günter Mittag eng liiert. Wie war Ihr Verhältnis zu Siegfried Böhm? Ich kam mit ihm in Kontakt, als ich als Abteilungsleiter des Forschungsinstitutes des Finanzministeriums in den Jahren 1967/68 ab und zu in der Leitung oder bei ihm persönlich Informationen zum Stand der Experimente und Überlegungen zum „Neuen ökonomischen System“ vortrug, da unser Institut maßgeblich in den zentralen Arbeitsgruppen mitwirkte. Böhm – das entsprach seinem Impetus – legte Wert darauf, dass wir als Ministerium eine möglichst konstruktive Rolle in dieser Entwicklung des NÖS spielten. Es gab unterschiedliche Meinungen bis in die Parteiführung hinein. Ich persönlich stand zu dieser Aufgabe, weil es der Wirtschaftstätigkeit der volkseigenen Betriebe bessere Spielräume und Anreize verschaffen sollte. Dabei war die Implantation von unternehmerischen Freiräumen in der Führung der Unternehmen nicht ohne Risiken, wie ich bei einem Studium der ungarischen Erfahrungen im Jahr 1968 von meinen Amtskollegen in Budapest erfuhr. Es gab für das Regelwerk volkseigener Unternehmensführung keine Vorbilder – am wenigsten in der Sowjetunion. Im August 1968 gab es im Ministerium einige Veränderungen und mich betraf die Frage des Ministers Böhm, ob ich die Funktion des Stellvertreters des Leiters der Staatlichen Finanzrevision übernehmen wolle. Wie bereits erwähnt, war die gesamte Finanzrevision und -kontrolle in der DDR seit dem Jahr 1953 in einem dem Finanzminister unterstellten Kontrollorgan konzentriert. Die Staatliche Finanzrevision hatte im Ministerium einen zentralen Führungsbereich. Dort wurden die Aufgabenstellungen und die Berichte bearbeitet. In jedem der 15 Bezirke und nahezu in jedem Kreis gab es Inspektionen, ein vertikal gegliedertes Kontrollorgan mit etwa 1900 Mitarbeitern. Zumal die Finanzkontrolle von der Führung sehr ernst genommen wurde. Für mich kam der Vorschlag des Ministers überraschend. Ich erbat mir Bedenkzeit. Nach Beratung mit meiner Ilse stimmte ich zu. Ich sprang gewissermaßen ins kalte Wasser, konnte jedoch schwimmen, denn ich hatte Erfahrungen in der Revision. Der erste harte Brocken war eine diffizile Revision im Kombinat VEB Carl Zeiss ZEISS Jena. Die Aufgabe gebot mir, selbst vor Ort zu sein. Am Ende stand ein fundierter Revisionsbericht, der die
269 Grundlage sachlicher und personeller Veränderungen war. Mut machte die Erfahrung, dass engagierte und qualifizierte Mitarbeiter um mich herum waren. Der Minister wollte mehr Resultate. Es sollten wirtschaftliche Verbesserungen vor Ort erreicht werden. Also nicht nur einen „Soll-Ist-Vergleich“ sowie Berichte. Es ging um Effizienz und um eine bessere Wirtschaftsführung. Natürlich, um stichfeste Informationen, mit denen der Minister arbeiten konnte. Minister Böhm hat die Staatliche Finanzrevision gefördert und gefordert. Wir haben von ihm manch harte Kritik bekommen, aber auch viel Unterstützung und Lob geerntet. In den 1970er Jahren waren Sie Leiter der Staatlichen Finanzrevision … Da der Leiter der Staatlichen Finanzrevision, mein hochverehrter Genosse Siegfried Zeißig 80, bald als Stellvertreter des Ministers berufen wurde, war ich dann der Leiter der Staatlichen Finanzrevision in den Jahren 1973 bis 1980. Es wurde die interessanteste und spannendste Periode meines beruflichen Weges. Ich trug Verantwortung für eine wichtige Säule der Stabilität unserer Staatsfinanzen und hatte an meiner Seite ein großes Kollektiv engagierter Mitarbeiter. Jeden Tag war ich in Gestalt der Revisionsberichte mit dem Leben im Land, der Wirtschaft sowie den Kommunen verbunden. Oft war ich selbst vor Ort. Der Umgang mit Leuten, die Nähe zum Geschehen, tat mir gut. Wir hatten im Staat und in der Wirtschaft immer eine ganz direkte Art, miteinander umzugehen – herzlich, sachlich und in der Regel ehrlich! Eben unter Gleichgesinnten. Persönlich hatte ich meine beste Zeit. Die 1970er Jahre waren Kraft außenwirtschaftlicher Probleme, die Erdölkrise 1973 traf uns in der DDR sehr hart angespannt. Dennoch wuchs unsere Wirtschaft und es war sozial spürbar. Jeden Tag zogen Familien in neue Wohnungen ein. Aber die Mauer – 100 Meter von meinem Schreibtisch verlief der Patrouillenpfad der Gis-Westgrenze 81 – wurde immer mehr zur Quelle von Spannungen. Besonders nach Helsinki – immer mehr Druck auf Reisen und Ausreisen, mit der Hoffnung auf Lösungen, aber eben ohne Aussicht! Wie waren Wirtschaftsprüfer sowie die Wirtschaftsprüfung in der DDR organisiert und wie erfolgreich in ihrem Wirken? Unsere Staatliche Finanzrevision war unsere Wirtschaftsprüfung. Die wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Humboldt Universität zu Berlin hat schon in den 1960er Jahren ein postgraduales Studium mit dem Abschluss zum „Wirtschaftsprüfer“ eingerichtet. Das war von Minister Willy Rumpf angeregt worden. In jedem Jahr absolvierten nach zweijährigem Zusatzstudium etwa 50 Wirtschaftsprüfer das Studium. Sie übernahmen Aufgaben in der Staatlichen Finanzrevision. In dieser Ausbildung hielten wir regelmäßig Vorlesungen. Ich blicke auf diese Zeit mit sehr guten Erinnerungen zurück. Wir haben mit Siegfried Zeißig (1929–2014) war u. a. Stellvertreter des Ministers der Finanzen in der Zeit von 1973 bis 1989. 81 GIs (Galvanized Iron): Bezeichnung für einfachen Soldaten der Streitkräfte der Vereinigten Staaten von Amerika. 80
270 einem engagierten und erfahrenen Kollektiv von Mitarbeitern in der Zentrale und Mitarbeitern der Inspektionen eine Reihe von Schritten in der Qualifizierung der Prüfungsmethoden und -richtlinien vollzogen, insbesondere in der Prüfung der Bilanzen der Betriebe und Kombinate. Die Verarbeitung der vielfältigen Prüfungsergebnisse aus allen Bereichen der Volkswirtschaft zu Führungsinformationen für die Fachminister und den Ministerrat stand in der Zentrale im Mittelpunkt der Arbeit. Das war eine sehr interessante und auf wirtschaftliche Fortschritte gerichtete Arbeit. Sie wurde getragen von Mitarbeitern, die in der Regel Diplomwirtschaftler – meist mit speziellen Kenntnissen der Wirtschaftszweige – waren und von der Pieke auf das „Revisionshandwerk“ gelernt hatten. Unser Motto: Nicht nur feststellen, sondern verändern! Deshalb erfolgten die Prüfungen zeitnah und sehr akribisch. Unsere Institution war in der DDR gut angesehen, eben wegen der Sachlichkeit und Konstruktivität des Vorgehens. Natürlich gab es auch in der DDR Betrüger und Diebstahl. Insofern hatten wir auch mit strafrechtlich zu würdigenden Vorgängen zu tun. Ein breites Feld der Arbeit, vom Außenhandel der DDR über alle Betriebe und Kombinate bis hin zu den Kreis- und Gemeindeverwaltungen. Die Arbeit in der Staatlichen Finanzrevision verband für mich auf sehr befriedigende Weise Finanzkontrolle mit Analyse. Der Blick auf die Ordnung und Wirtschaftlichkeit der Finanzen bot Einblick in die Leitung der Betriebe, das kommunale Leben, die Qualität der Betriebswirtschaft. Sparsamkeit und Ordnung waren uns sehr wichtig! Also ein recht anspruchsvoller Auftrag, bei dessen Erfüllung unsere Mannschaft ein anerkannte „Meisterschaft“ erreichte. Kurzum: Ich bin heute noch stolz auf die damals erreichten Arbeitsleistungen, erinnere mich an die tüchtigen Kollegen und die kollegiale herzliche Atmosphäre. Bis heute sind meine Verbindungen zu Kollegen aus dieser Zeit lebendig. Wir treffen uns ab und zu in Leipzig, in Erfurt, in Berlin, wobei sich die Reihen leider sehr gelichtet haben. Folgender Literaturtipp sei erlaubt: Lesenswert ist übrigens das Buch von einem unserer Leipziger Revisoren, Klaus Pötzsch mit „Finanzrevisor Pfiffig – aus der DDR“, 82 der aus eigener Erfahrung die Art und Weise der Finanzkontrolle gestern und heute vergleicht. Charakterisierungen von Egon Krenz und Hans Modrow Können Sie Egon Krenz charakterisieren? Ich habe mit Egon Krenz zu Zeiten der DDR nie ein Wort gewechselt. Ich traf ihn ab und zu im Vorraum des Politbüros, wenn ich dort mal eine Vorlage unseres Hauses zu 82 Klaus Pötzsch war 20 Jahre als Finanzrevisor beim obersten Finanzkontrollorgan der DDR, bei der
Staatlichen Finanzrevision, Inspektion Leipzig, angestellt und dort zuständig für die Prüfung von staatlichen Organen und Einrichtungen in den nördlichen Kreisen des Bezirkes Leipzig. Die Staatliche Finanzrevision war als oberstes Finanzkontrollorgan direkt dem Ministerium der Finanzen unterstellt. Klaus Pötzsch schrieb (unter dem Pseudonym) Klaus Richard Grün, Finanzrevisor Pfiffig aus der DDR, 2. Auflage, Leipzig 2017. Siehe Leseprobe https://www.engelsdorfer-verlag.de/media/pdf/LP_9783960088424.pdf (letzter Zugriff 14.12.2020).
271 vertreten hatte, deshalb kann ich nur aus der Distanz urteilen: Egon Krenz war ein Mann, der durch seine Führungsrolle in der FDJ ab 1974 bekannt wurde. Danach in den 1980er Jahren kursierte immer mehr die Rede vom „Kronprinzen“, den Honecker „aufbaute“. Mir erschien das richtig, denn wir hofften auf eine Verjüngung der Führung, aber war er auch der Richtige für diese Spitzenposition? Von anderen Genossen in der Partei wurde das wohl auch so gesehen. Er war nie jemand, den man nicht geachtet oder dem man irgendetwas vorgeworfen hätte. Er war immer der strahlende Genosse aus der FDJ, der nun als jüngster Mann dem Politbüro angehörte. War Krenz wirklich ein politischer Gestalter, ein Visionär oder sogar ein Kämpfer? Auch bei uns war natürlich Charisma, Ausstrahlung und die Nähe zu den Leuten sehr wichtig. Aber das war Egons Stärke leider nicht. Honecker „kürte sich“ selbst in den 80er Jahren immer mehr zur „absoluten“ Nr. 1 ohne Gegenwind. Er pflegte Personenkult! Egon Krenz hatte nur begrenzte Möglichkeiten, sich öffentlich darzustellen. Sprachgewalt und Begeisterungsfähigkeit waren nicht seine Stärke. Das wurde abermals deutlich bei seinem ersten Auftritt als neuer Vorsitzender des Staatsrates und Generalsekretär am 18. Oktober 1989 im DDR-Fernsehen. Er konnte diese Rolle trotz ehrlichem Bemühen nicht wirklich übernehmen. Schauen Sie sich seinen Auftritt im Fernsehen an: „Liebe Genossen und Genossinnen …“, so begann er, meinte aber alle Bürger. Egon Krenz sprach erstmals von der „Wende“, die nun eingeleitet werden sollte. Das kam alles sehr hölzern sowie inhaltslos rüber. Aber gerade in dieser Stunde brauchte man eine Signalwirkung, entfacht in einem Feuer aus Leidenschaft und Überzeugung. Es hätte ein „Ruck“ durch die Gesellschaft gehen müssen. Zwei Probleme: Es war eindeutig zu spät, um Vertrauen zu retten, und Egon war nicht der überzeugende, neue Mann, der das erforderliche Vertrauen für die Gesellschaft neu aufbauen konnte. Ja, tragisch in dieser Krisensituation der DDR! Ich denke, Egon hätte das Zeug zu dieser Aufgabe gehabt, obwohl Hans Modrow die besseren Voraussetzungen mitbrachte. Denn Egon war immer nur Parteifunktionär in der Zentrale, aber man brauchte gerade in dieser Zeit eine Nähe zum Leben sowie Alltag, bei all den Sorgen der Menschen sowie der angespannten Situation in der Wirtschaft. Diese Voraussetzungen hatte Hans Modrow aus seiner jahrelangen Praxis im SED-Bezirk Dresden mitgebracht. Modrow war der bessere Kommunikator, Fähigkeiten, die er schon in seiner Zeit als FDJ-Sekretär in Berlin in den 50er Jahren hatte, wo ich ihn öfter an der Hochschule für Ökonomie erlebte. Erst recht durch seine täglichen Kontakte mit dem Leben in Dresden, wo ich ihn auch ab und zu persönlich traf. Entschuldigung: Das ist alles „Schnee von gestern“! Modrow ist als Ministerpräsident der vorletzten DDR-Regierung trotz einer schier unvorstellbaren klugen Führungsleistung nicht an sein ersehntes bzw. erhofftes Ziel gekommen, nämlich die Krise der DDR zu beenden! Letztlich entzog ihm etwa die Hälfte der DDR-Bürger bei den Wahlen am 18. März 1989 das persönliche Vertrauen. Wie viel davon auf das Konto der medialen Manipulation ging und wie viele Leute später dieses Votum gern zurückgenommen hätten, das ist eine ganz andere Frage, sind Spekulationen, wobei nur die Tatsachen für mich zählen.
272 Auffällig: Egon Bahr meinte später, es sei die schmutzigste Wahl gewesen, die er je erlebte. War Ihnen zu diesem Zeitpunkt klar, dass Egon Krenz nicht abliefern wird anlässlich der Fernsehansprache am 18. Oktober 1989 als neuer Generalsekretär des ZK der SED? Sie gucken in diese Röhre, in einer angespannten politischen Situation und erwarten eine Rede, die nicht nur die Spannung löst, sondern Hoffnung aufbaut. Dann ging das im alten Stil los. Ich hörte den alten Sound und war enttäuscht, das war kein Aufbruch zu neuen Ufern. Es war eindeutig der alte Stil! Ich fragte mich, wer hat ihn dabei bloß beraten? Folgendes nahm der Zuschauer wahr: Krenz sprach nicht frei, sondern las seinen Text fast ausschließlich ab. Die Körperhaltung war angespannt, er wirkte steif und unbeweglich. Nachdem er die Fernsehzuschauer mit „Liebe Genossinnen und Genossen, […]“ angesprochen hatte, dankte er dem ehemaligen Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker für seine verdienstvolle, erfolgreiche sowie jahrzehntelange Arbeit, für sein Lebenswerk und fügte hinzu, dass die Partei weiterhin Rat bei ihm einholen würde. Ein Neuanfang, ein politisches Signal, ein Eingeständnis von Fehlern aus der Vergangenheit oder das Einleiten einer Wende war diese Rede nicht. Das wurde aber erwartet! 83 Das war es nicht, auf gar keinen Fall! Als der lange diesem Staat dienende und auf Hoffnung bauende schaute und hörte ich mir das an. Optimismus vermittelte das kaum. Sehr verhalten selbstkritisch. Was tun? Nicht erkennbar, was man tun wollte, um zu „wenden“. Der alte Ton, gleich wie immer. Ich weiß gar nicht, wer seine Rede vorbereitet hat. Das müsste eigentlich eine kollektive Arbeit gewesen sein. Deutlich waren es die alten Redenschreiber. Egon hat das nun einmal sehr „brav“ vorgetragen. Schade, eindeutig eine riesige Chance verpasst! Dennoch hatten diese Tage etwas Befreiendes: Die Bevormundung durch das „Große Haus“ war spürbar weg! Ich hatte in diesen Tagen das erweckende sowie gute Gefühl: „Die Kommandos von Oben sind jetzt nicht mehr das Bestimmende. Du musst, ja Du kannst Dich jetzt um Deine eigenen Aufgaben selber kümmern, es redet Dir keiner mehr hinein, weder aus dem ‚Großen Haus‘ noch im eigenen Haus!“ Wende und Reformen hießen viel Arbeit sowie Probleme sortieren und handeln. Heute formuliert sich das mit sehr viel Abstand so scheinbar einfach, tatsächlich aber stand ich unter einem Riesendruck und hatte täglich alle möglichen Sorgen, dass sich die staatliche Ordnung im Lande auflösen könnte. Mir ging vieles durch den Kopf, was meine Verantwortung betraf, die weitere Stabilität unserer Haushaltswirtschaft, es gab schon Ausfälle bei den Zahlungen der Betriebe, unsere republikweite Datenverarbeitung, die alle Zahlungsvorgänge der Finanzorgane und Rede von Egon Krenz am 18.10.1989 an die Nation. Dazu ZDF-History, 2016 ab Timecode 7 Minuten 5 Sekunden: „Die 50 Tage des Egon Krenz.“ Siehe https://www.youtube.com/watch?v=I5kXu8yKjQ0 (letzter Zugriff 15.12.2020).
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273 Banken sowie aller Bürger einschloss, für die das Ministerium der Finanzen (MdF) – also ich – verantwortlich war. Meine Sorge war das Schicksal des Volkseigentums. Wenn man zwölf Jahre Chef eines solchen Kontrollorgans war und weiß, wie viel Begehrlichkeit und Kriminalität hinter der Mauer aber auch bei uns unterwegs war, dann stellte man sofort die Frage: Was könnte alles passieren, wenn nicht die Kontrolle über das Volkseigentum und die Staatsordnung beibehalten würde? Leider begann sich die Ordnung in den Betrieben mehr oder weniger aufzulösen. Schon im Dezember 1989 leisteten manche Betriebe nicht mehr die geplante Nettogewinnabführung an den Staatshaushalt. Der nächste Gedanke war, die wirtschaftlichen Vorgaben für die volkseigenen Betriebe flexibler zu gestalten, neu zu ordnen mit mehr Eigenverantwortung auszustatten. Im Ministerium reagierten wir rasch: Es wurden Arbeiten an Reformkonzepten in Bewegung gesetzt, unsere Mannschaft aus den NÖS-Konstrukteuren, voran mein verehrter Freund Prof. Dr. Wolfgang Lebig, wurde wieder aktiviert. Die Stoph-Regierung und der DDR-Ministerrat traten am 8. November 1989 zurück. Wie erlebten Sie dieses Ereignis? Das erlebte ich am 8. November live im Sitzungssaal des Ministerrates in der Berliner Klosterstraße. Es war klar, es würde die letzte Sitzung des Ministerrates sein, es gab nur diesen einen Tagesordnungspunkt. Die Regierung wird kollektiv zurücktreten. Ernst Höfner beauftragte mich, dorthin zu gehen. Ich weiß nicht mehr, warum er nicht selbst hinging. Der Grund ist mir nicht mehr im Gedächtnis. Wie lief das ab? Ministerpräsident Willi Stoph dankte mit wenigen Sätzen den anwesenden Ministern und Staatssekretären für ihre jahrelange Arbeit. Sinngemäß sagte er, dass all unsere Anstrengungen nicht die entstandene Lage hätten verhindern können. Seine kurze Rede war seriös und ehrlich, so wie man Stoph kannte, ohne viel Pathos. Frau Honecker machte als einzige ungefragt einige Bemerkungen, die das „Versagen des Staatsapparates“ betrafen. Ich fand es sehr unanständig, es ging auch ohne Widerrede unter. Die langjährigen Kampfgefährten, d. h. die Minister und Staatssekretäre gingen betroffen und besorgt auseinander. Minister zu werden in unserem Staat DDR war nie eine Frage nur der politischen Verdienste, es war immer eine Frage der fachlichen Befähigung. Es waren durchweg sehr tüchtige Fachleute, wenn ich an unseren Gesundheitsminister Prof. Dr. Ludwig Mecklinger 84 denke, einen erfahrenen Arzt und Hochschullehrer oder an den Verkehrsminister Otto Arndt 85, der als Eisenbahner groß geworden und in allen Bereichen des Verkehrs durch jahrzehntelange Erfahrung sattelfest war. 84 Ludwig Mecklinger (1919–1994) war u. a. in der Zeit von 1971 bis 1989 Minister für Gesundheits-
wesen, in der Zeit von 1981 bis 1990 Abgeordneter der Volkskammer und in der Zeit von 1986 bis 1989 Mitglied des Zentralkomitees der SED. 85 Otto Arndt (1920–1992) war u. a. in der Zeit von 1970 bis 1989 Minister für Verkehrswesen und Generaldirektor der Deutschen Reichsbahn, in der Zeit von 1975 bis 1989 Mitglied im Zentralkomitee der SED und von 1976 bis 1989 Volkskammerabgeordneter.
274 Das bedeutet, es war vorher bekannt und somit keine spontane Auflösung? Bitte dazu auch eine Einschätzung zu Willi Stoph? Das war bereits vorher klar, denn am 7. November war das Politbüro zurückgetreten. Damit sah der Vorsitzende des Ministerrates der DDR Willi Stoph und andere die Legitimation für den Ministerrat der DDR als erledigt an. Die Zäsur war doch die von Berliner Künstlern initiierte und erste genehmigte Demonstration am 4. November 1989. Mehr als 500 000 Bürger demonstrierten im Zentrum Berlins. Der Marsch führte von der Liebknechtstraße zum Alexanderplatz. Dort hatten etwa 20 Redner – vor allem Künstler wie Marion van de Kamp, 86 Johanna Schall, 87 Schriftsteller wie Christa Wolf und Stefan Heym, auch Bürgerrechtler wie Pfarrer Friedrich Schorlemmer und sogar prominente SED-Funktionäre wie Günter Schabowski 88 etwa 3 Stunden Vorschläge zur Erneuerung der DDR vorgetragen. Es war eine unüberhörbare Manifestation für Reformen. Scharfe Kritik an die Politik: „Phrasengewäsch und bürokratischer Mief“, wie Stefan Heym rief. 89 Das war wie ein Gewitter, woran ich mich noch sehr gut erinnere. Wir waren damals erleichtert, dass diese riesige Manifestation so friedlich, so erfrischend im Inhalt und auch optimistisch ablief. Es hätte auch zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kommen können. Die Polizei hatte an diesem Tag den Auftrag, passiv die Ordnung zu gewährleisten. Gott sei Dank! Ich verfolgte das alles über mein Radio im Ministerium, denn es war „Dienstbereitschaft“ angeordnet. Das alles wurde von den alten Männern im Politbüro endlich verstanden, sozusagen als öffentliches Bekunden, dass ihre Zeit zu Ende ist. Diese „Wende“, die Krenz eingeleitet hatte, war mit der neuen sowie der halben alten Führung nicht mehr zu bewerkstelligen. Stoph hatte im Politbüro selbst den Vorschlag zur Ablösung Honeckers vorgetragen. Dass seine Zeit vorbei war, war ihm sicherlich klar. Zur Charakterisierung: Willi Stoph war ein lauterer Charakter, genoss großes Ansehen bei Marion van de Kamp (geb. 1925) ist eine Schauspielerin. Johanna Schall (geb. 1958) ist eine Schauspielerin und Theaterregisseurin. Sie ist die Tochter von Barbara Brecht-Schall und Enkelin von Bertolt Brecht. 88 Günter Schabowski (1929–2015) war u. a. Mitglied der Hitlerjugend und zum Schluss Scharführer. Im Jahr 1950 trat er der FDJ bei und wurde im Jahr 1952 Mitglied der SED. In der Zeit von 1978 bis 1985 war Schabowski Chefredakteur und zugleich Mitglied des Zentralvorstands des Verbandes der Journalisten der DDR (VDJ). Im Jahr 1985 wurde er Erster Sekretär der Bezirksleitung der SED. Am 8.11.1989 wurde er wieder als Mitglied des ZK in das neue Politbüro gewählt. Am 20.1.1990 wurde Schabowski aus der SED-PDS ausgeschlossen. Im Dezember 1999 trat er seine Haftstrafe in der Justizvollzugsanstalt Hakenfelde an, wo er nach einem knappen Jahr Haft im offenen Vollzug entlassen wurde. Seine Äußerungen am 9.11.1989 führten zur Grenzöffnung und dem sogenannten Mauerfall. Ob er dieses vorab geplant hatte oder es versehentlich passierte, kann bis heute nicht abschließend geklärt werden. 89 U. a. sprach Stefan Heym: „[…] Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen nach all den Jahren der Stagnation, der geistigen, wirtschaftlichen, politischen, den Jahren von Dumpfheit und Mief, von Phrasengewäsch und bürokratischer Willkür, von amtlicher Blindheit und Taubheit […].“ Siehe https://www.youtube.com/watch?v=tsPKRSvSWVg (letzter Zugriff 20.12.2020). 86 87
275 vielen Bürgern. Er war seit dem Jahr 1964 – mit kurzer Unterbrechung – im Amt. Sein Auftreten war immer seriös. Die anderen Akteure wollten sicherlich wissen, warum Sie und nicht Ihr Minister Höfner anwesend war? Nein, man kannte mich dort. Ich vertrat Höfner öfter. Es waren auch andere Staatssekretäre anwesend, die dort ihren Minister vertraten. Wie viel Einfluss hatte Margot Honecker auf die Politik ihres Mannes? Dazu gibt es viele Geschichten. Sicher hatte sie viel Einfluss. Ich drehe mal die Frage herum, sie wurde nicht zur Ordnung gerufen – von wem auch? Margot hatte eine Art „Narrenfreiheit“. Aber so abstoßend ihr Auftreten und ihre Arroganz waren, ihre Rolle und ihr Einfluss – auch als Ministerin – wird im Nachhinein übertrieben dargestellt, weil geeignet, um uns vorzuführen. Als sie im Jahr 1963 in das Ministerium kam, hatte unser Bildungswesen eine enorm erfolgreiche Periode vom Neustart im Jahr 1945 mit vielen „Neulehrern“ bis zur internationalen Anerkennung hinter sich. Die Umsetzung: Gleiche Bildungschancen für alle war Realität geworden. Unsere Volksbildung, das gesamte Schulwesen der DDR von der ersten Klasse bis zum Abitur war schon in den 1950er Jahren neu organisiert sowie inhaltlich vom alten Geist befreit. Erfahrene, wissenschaftlich gebildete Fachleute, Genossen wie Paul Wandel 90, Prof. Alfred Lemmnitz 91, Emil Alfred Fritz Lange 92 und andere hatten diese Grundlagen gelegt. Es war nach dem Krieg gut organisiert eine neue Lehrergeneration herangebildet worden. Es wurden neue Pädagogische Hochschulen (für diplomierte Lehrer) und Lehrerbildungsanstalten für Unterstufenlehrer und Horterzieher (in hohem Grade Frauen) gebaut und in Betrieb genommen. Meine Frau hat als Landarbeiterin ohne Abitur ab dem Jahr 1954 eine solche Lehrerbildungsanstalt in Potsdam 3 Jahre besuchen können. Sie arbeitete dann als Unterstufenlehrerin. Als Margot Honecker im Jahr 1963 Minister für Volksbildung wurde, ging es nicht um eine neue Etappe. Sie übernahm von dem alten verdienten Lemmnitz dieses Amt und brachte Paul Wandel (1905–1995) war u. a. Abgeordneter der Volkskammer der DDR. In der Zeit von 1949 bis 1952 war er der erste Minister für Volksbildung der DDR. In der Zeit von 1953 bis 1957 war Wandel Sekretär für Kultur und Erziehung des Zentralkomitees der SED, Mitglied des Nationalrats der Nationalen Front der DDR und Mitglied des Präsidiums des Friedensrats der DDR. 91 Alfred Lemmnitz (1905–1994) war u. a. in der Zeit von 1958 bis 1963 Minister für Volksbildung und Mitglied der Ideologischen Kommission beim Politbüro des Zentralkomitees der SED. In der Zeit von 1963 bis 1965 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Wirtschaftswissenschaftlichen Institut der Akademie der Wissenschaften und bis 1971 stellvertretender Direktor des Deutschen Wirtschaftsinstitutes. 92 Emil Alfred Fritz Lange (1898–1981) war u. a. in der Zeit von 1954 bis 1958 Minister für Volksbildung der DDR. 90
276 Erfahrungen aus dem Jugendverband ein. Sie hatte Verdienste und auch fachliche Voraussetzungen für dieses Amt. In den ersten Jahren verlief ihr Agieren auch angemessen. Das veränderte sich merklich erst in den 1970er Jahren, als Erich der „Chef“ wurde. Was sie dann in den Jahren bis 1989 als Minister für Volksbildung geleistet hat, lässt sich für mich etwas vereinfacht unter „Ideologisierung“ zusammenfassen. Volksbildung und Schulbildung ist immer mit einer staatsbürgerlichen Motivation verbunden. Das ist sicher auch richtig. Wenn es aber in eine „ideologische Gängelung“ der Lehrer, in die Einschränkung der freien Debatte sowie Meinungsbildung mündet, ist das destruktiv. Es schadet der Bildung und verärgert Lehrer sowie Bürger. Das war zunehmend so. Es entsprach dem Zeitgeist der Ära Honeckers. „Sie“ transportierte diese politische Gängelung in die Lehrerbildung und in die Lehrerkollektive. Es gab oft spitzfindige Besserwisserei und Streit, ausgelöst von Parteifunktionären in den Lehrerkollektiven. Oftmals habe ich meine Frau, die betroffen war, trösten müssen. Dennoch hat unser Schulwesen bis zuletzt gut funktioniert. Inhalt und Didaktik hatten Niveau. Schauen Sie sich unsere Schulbücher an, speziell die naturwissenschaftlichen, die auch im Westen gefragt waren. Dass Margot Honecker auf ihren Mann und seine politische Haltung, seinen Hang zur persönlichen „Heroisierung“, einen Einfluss hatte, das ist sicherlich zutreffend. Sie selbst hat sich immer im Glanz ihres Mannes gesonnt. Sie hat immer versucht, beispielsweise uns gegenüber bei der Haushaltsplanung zu Gunsten ihres Ressorts, Vorteile zu erreichen. Das war oftmals sehr ärgerlich, aber wir hielten auch dagegen. Insgesamt ist die „Causa“ Margot Honecker kein Ruhmesblatt für die DDR gewesen, aber weit weniger bedeutsam, als es heute dargestellt wird. Was ihre Art, sich selbst darzustellen, betrifft, wie ich es erlebte, war wohl eher „Operette“ als staatsmännisch, aber das hängt eben vom menschlichen Charakter ab. Waren Sie eher W. Ulbricht oder E. Honecker zugeneigt? Keinem von beiden. Ich versuchte es bereits darzustellen, es gefiel mir an beiden so manches nicht. Aber ich muss sagen, an Honecker gefiel mir immer weniger seine hohle Rederei, er entfernte sich immer mehr von den realen Problemen – der Lebenswirklichkeit! Walter Ulbricht war eine Persönlichkeit, ein erfahrener Funktionär der Arbeiterbewegung mit allen Ecken und Kanten. Er hat die ersten Jahre der DDR-Geschichte maßgeblich mitgestaltet. Ein Weg ohne Vorbild, mit „learning by doing“, mit Erfolg und Irrtum. Aber das näher zu beschreiben, wäre ein ganz neues Kapitel. Wer traf die Entscheidungen zur (personellen) Neubildung der Modrow-Regierung? Ich kenne diesen Vorgang nicht im Einzelnen. Hans Modrow ist hierfür der bessere Partner. Ich nehme an, dass Hans Modrow und andere Leute aus der Partei sich mit den neuen Leitungen, den sogenannten Blockparteien CDU, LDPD und NDPD, verständigt haben. Ein Teil der Minister kam aus der SED. Aus der LDPD kam Dr. Peter Moreth 93, aus Peter Moreth (1941–2014) war u. a. in der Zeit vom 1.3. bis 14.7.1990 der erste Präsident der Treuhandanstalt der DDR und in der Zeit vom 15.3. bis 15.7.1990 ihr Direktor. Seit 1962 war er
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277 der CDU kam Lothar de Maizière usw. Das heißt, die Regierung Modrow hatte in fast allen Ressorts neue Persönlichkeiten aufgestellt, die in ihrem Fach bzw. ihrer bisherigen politischen Tätigkeit Statur gezeigt hatten. In unserem Haus war das nicht so. Die Nominierung bei uns im Ministerium fiel auf Uta Nickel. Sie kam ursprünglich im Jahr 1986 aus Leipzig in unser Ministerium. Drei Jahre hat sie als stellvertretende Ministerin für den Bereich Finanzen des Handels und der Land- und Nahrungsgüterwirtschaft agiert. Sie war neben Dr. Herta König 94 die zweite Frauenförderung auf der Ministerebene in unserem Haus. Als Minister war Nickel jedoch überfordert! Irgendjemand hatte den Ehrgeiz, nun eine Finanzministerin zu küren. Wir haben das zunächst positiv aufgenommen und ich als weiter dienender Staatssekretär auch alles dafür getan, um meiner Kollegin ins Amt zu verhelfen. Das funktionierte bis zum Jahresende 1989 mehr oder weniger gut. Es ging mit „Trouble“ los: Frau Nickel war kaum im Amt, da kamen verschiedene öffentliche Auftritte auf sie zu, denen sie aus dem Weg ging. Das Diffizilste war wohl die Einladung zum 7. Dezember 1989: Es begann der „Zentrale Runde Tisch“, das Forum für die Debatte zwischen Bürgerbewegung und Regierung, zu tagen. Am ersten Tag sollte natürlich der Finanzminister dort an- bzw. auftreten. Uta Nickel sagte zu mir, dass ginge überhaupt nicht, denn dort sei mit vielen Fragen zu rechnen, die die ganze Breite des Haushalts und der Zahlungsbilanz betreffen. Deshalb müsse ich dorthin gehen. Also ein klarer Auftrag für mich! Ja, die Frau war eitel und unsicher, bestimmte Auftritte nahm sie wahr, andere wiederum nicht. Übrigens: Dem Wunsch des BRD-Finanzministers Theo Waigels nach einem ersten Gespräch kam sie nach. Das erfuhr ich allerdings erst Monate später, aber dem „Runden Tisch“ wich sie aus. Also ging ich dorthin. Das war dann mein ständiges Geschäft. Man musste sich schon „warm“ anziehen; vieles hatte sich aufgestaut. Dort saßen wissbegierige Leute am Tisch, eben Bürgerrechtler aller Couleur sowie alle Parteien, die neuen wie beispielsweise die Grüne Partei, die SDP (SPD-Ost), Frauenverbände, Gewerkschaftsvertreter usw. Die Veranstaltung fand unter Federführung von Vertretern der Kirchen im Bonhoeffer Haus der Evangelischen Kirche in der Friedrichstraße statt. Saßen Vertreter der Staatssicherheit am ersten „Zentralen Runden Tisch“ mit dabei? Hinweis: Das „Amt für Nationale Sicherheit“ (AfNS) war zu diesem Zeitpunkt das Nachfolgeministerium vom „Ministerium für Staatssicherheit“ (MfS) geworden. Ja, denn Ibrahim Böhme, 95 der Mitbegründer der SDP (Ost-SPD), war „IM“, ebenso wie Mitglied der LDPD der DDR. 94 Herta König war u. a. in der Zeit von 1968 bis 1990 stellvertretende Finanzministerin. Über einen Coup berichtete Der Spiegel, 4.9.1995, Ausgabe 36/1995, S. 92–93, Schönes Geld: Kurz vorm Untergang der DDR verschwanden zwölf Milliarden Mark – den Coup haben vermutlich drei Damen gedreht. Siehe https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-9218687.html (letzter Zugriff 22.12.2020). 95 Ibrahim Böhme (1944–1999) (richtigerweise Manfred Otto Böhme) war u. a. in der Zeit von 1962 bis 1978 Mitglied der SED und war Mitbegründer der SDP (7.10.1989). Er wurde nach der Volkskammerwahl (18.3.1990) als „IM“ (Inoffizieller Mitarbeiter des MfS) enttarnt. Bereits seit 1969
278 Rechtsanwalt Wolfgang Schnur 96 vom DA (Demokratischen Aufbruch), der zusammen mit Eppelmann am ZRT teilnahm. Ich kam ins Bonhoeffer Haus und wurde im Präsidium platziert. Neben mir „Monsignore“ Dr. Karl-Heinz Ducke, 97 katholischer Pfarrer, auf der anderen Seite Martin Ziegler, Pastor und Direktor des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg sowie Sekretär der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen der DDR, Martin Lange. Die Kirche hatte es in dieser schwierigen Zeit übernommen, zur Versöhnung und Stabilisierung der Lage beizutragen. Sie gab diesem ersten Forum der Bürgerbewegung nicht nur ein Obdach und ein paar Stühle, sondern auch Moderatoren. Bis heute bin ich beeindruckt von der Art und Weise, wie diese Kirchenmänner ihre Aufgabe erfüllten. Zur Kirche hatte ich immer ein gutes Verhältnis, nicht als Mitglied, aber aus innerer Überzeugung. 1929 war ich evangelisch getauft worden, war als Kind fast jeden Sonntag mit meiner Mutter in die Kirche zum Gottesdienst gegangen. Ich habe im Krippenspiel unserer Dorfkirche mitgewirkt. Konfirmiert wurde ich nicht, weil wir im Jahr 1942 aus der Kirche ausgetreten waren. Neben diesen braven Kirchenmännern hatte ich ein gutes Gefühl. Nach einem lang aufgestauten Potential an Fragen und Frust versuchte ich dort nun ein kleines Entree in die „Interna“ unserer Staatsfinanzen zu liefern. Dann prasselte natürlich der ganze Unmut über die Geheimniskrämerei, die vermutlichen Schulden und die drohende Pleite der DDR-Finanzen auf mich ein. Schuldzuweisungen? Ja, alles Mögliche. Die Atmosphäre war so gemischt wie eben die Leute am Tisch. Mal ein Donnerwetter, mal eher sachliche Debatte. Aber gleich zu Beginn ging eine Attacke auf mich los, sodass der Oberkirchenrat, der die Debatte moderierte, beruhigte: „Meine Damen und Herren, Ruhe bitte! Wir legen eine Pause ein!“ Draußen trösteten mich die beiden Priester. „Herr Staatssekretär, tun Sie sich den Gefallen und lassen Sie sich hier nicht an den Pranger stellen. Sie haben hier zu antworten und es ist die Pflicht der Leute, Sie anständig zu befragen. Eine Pogromstimmung lassen wir hier nicht zu!“ Mir tat dieser Beistand sehr gut. Die Sitzung wurde fortgesetzt, wir gingen in den Saal hinein und ich sollte mich darauf verlassen, die Moderatoren würden sofort die Gespräche unterbrechen, wenn es wieder „ausarten“ würde. Ich hatte mich natürlich vorbereitet, merkte wurde er als „IM“ geführt. Am 1.4.1990 trat er zurück. Erst 1992 erfolgte der Parteiausschluss aus der SPD. 96 Wolfgang Schnur (1944–2016) war u. a. im Oktober 1989 Mitbegründer und dann Vorsitzender der Partei Demokratischer Aufbruch (DA), dann Teilnehmer am ZRT. Durch die Beteiligung des DA bei der „Allianz für Deutschland“ bestand die Möglichkeit, dass Schnur Ministerpräsident werden könnte. In der Woche vor der ersten freien Volkskammerwahl trat er aufgrund der Stasi-Vorwürfe zurück. Seine politische Karriere war beendet. Seit 1965 wurde er als IM geführt. Der Journalist und Schnurs ehemaliger Mandant, Alexander Kobylinski, schrieb das Buch: Der verratene Verräter. Wolfgang Schnur – Bürgerrechtsanwalt und Spitzenspitzel, Halle 2015. 97 Karl-Heinz Ducke (1941–2011) war u. a. katholischer Theologe und Bürgerrechtler.
279 aber: Hier kannst du mit deinen Sachdarstellungen gar nichts erreichen! Ich versuchte, auch den anklagenden Fragestellern gerecht zu werden. Nach vielleicht einer Stunde war mein Thema durch und einer meiner Amtskollegen war an der Reihe. Konfrontationsgespräche waren Sie gewohnt. Andere Akteure allerdings nicht … Sicherlich. Ich kann mich schon flexibel auf dem Podium artikulieren. Ich bin kein verklemmter Referent. Das Problem war nur, wenn diese Debatte verleumderisch oder gar gehässig wird, dann meldet sich bei mir die Selbstachtung. Emotional bewegt argumentiert es sich eindeutig schwieriger … Zurück zu Ihren Schilderungen von der Situation am ZRT … Ich versuchte, aus meinem „Speicher“ alles abzurufen. Da ich nicht alle Zahlen im Kopf hatte, sagte ich den Fragestellern zu, die offen gebliebenen Fragen in der nächsten Sitzung nachzureichen bzw. zu beantworten. Das wurde so akzeptiert. Mein nächster Auftritt am Runden Tisch war dann kurz nach Weihnachten. Ich erinnere mich, dass ich beim zweiten Mal schon eine eher sachliche Atmosphäre vorfand. Bei uns im Haus war die Ministerin Frau Nickel immer weniger präsent. Offiziell endete ihr Amt am 24. Januar 1990. Sie hatte massive Sorgen bekommen. Sie geriet in ein Ermittlungsverfahren in Leipzig, ich kannte in etwa die Umstände, weil ich von ihr hörte, dass sie in Leipzig ein sehr enges Verhältnis zum Vorsitzenden des Rates des Bezirkes, Dr. Rolf Opitz 98, pflegte. Dieses Amt des Vorsitzenden muss man sich vorstellen als eine Art Ministerpräsident. Leipzig ist ein großer Industriebezirk mit mehr Einwohnern als das Saarland. Die Handreichung, die sie dort getätigt haben sollte, war ein Grenzfall. Opitz kam aus Altenburg und wurde Ratsvorsitzender. Er bezog in Leipzig ein Haus, welches der Stadt gehörte. Frau Nickel sorgte dafür, dass dieses Haus renoviert wurde, bezahlt aus dem Haushalt des Bezirkes. Der Knackpunkt war allerdings, dass eine teilweise Kostenübernahme ausblieb. Das wurde nun als Betrug am Volkseigentum gewertet. Wie die Sache ausging, weiß ich nicht, aber Frau Nickel stand am Pranger. Vielleicht war es auch eine Intrige früherer Rivalen? Gleichwie! In solchen Zeiten wird gern schmutzige Wäsche gewaschen. Frau Nickel hatte danach einen guten Neustart als erfolgreiche Maklerin in Leipzig. Welche Grundlage existierte für Ermittlungsverfahren gegen Verfehlungen von Mitgliedern in der Modrow-Regierung? Mit Beginn der Modrow-Regierung hatte die Volkskammer der DDR immer noch die alte Besetzung. Sie begann, sich Themen zu widmen, die bis dahin tabu waren. Der ehemalige Präsident des obersten Gerichts der DDR, Dr. Heinrich Töplitz 99, Mitglied des Rolf Opitz (1929–2006) war u. a. in der Zeit von 1974 bis 1989 Vorsitzender des Rates des Bezirkes Leipzig. Gleichzeitig war er in dieser Zeit Mitglied des Sekretariats der SED-Bezirksleitung sowie in der Zeit von 1976 bis 1989 Abgeordneter des Bezirkstages. 99 Heinrich Töplitz (1914–1998) war u. a. seit 1949 Mitglied in der CDU der DDR. In der Zeit von 1960 bis 1986 war er Präsident des Obersten Gerichts der DDR sowie in der Zeit von 1962 bis 1985 98
280 Parlaments, unterbreitete den Vorschlag und es kam ein Beschluss des Plenums zustande, eine „Arbeitsgruppe gegen Amtsmissbrauch, Bereicherung und Korruption“ zu bilden. In allen fünfzehn Bezirken der DDR haben die Bezirksparlamente gleiche Gruppen gebildet. Die Leipziger haben diesen Fall dann aufgenommen. Die Staatsanwaltschaft und die Kripo wurden dementsprechend aktiv. Es kam zu einer Vielzahl solcher „E-Verfahren“, teilweise mit Inhaftierungen. Die Sachverhalte waren – soweit ich das kenne – nicht wirklich große Delikte. Es ging um die Inanspruchnahme von Material, Leistungen oder Vorteilen, die mit staatlichen Geldern bezahlt wurden. Es gab auch bei uns Leute in Staat, Partei und Wirtschaft, die sich „erlaubten“, für das eigene Haus, die Datsche, die Jagdhütte usw. die Arbeiten ohne Rechnung ausführen zu lassen. Ich hatte in meiner Zeit als Chef der Staatlichen Finanzrevision damit zu tun. Natürlich haben wir das nicht geduldet und selbstverständlich geahndet. Von wem wurde diese Untersuchungskommission installiert? Wie ich schon sagte, haben die Volkskammer und die Bezirksparlamente solche Arbeitsgruppen gebildet. Ermittelt wurde durch die Kriminalpolizei mit Hilfe der Staatlichen Finanzrevision. Um die Jahreswende 1989/90 gab es eine ganze Reihe solcher Fälle in allen Bezirken. Sie betrafen Funktionäre oder Bürger. Die Palette war „bunt“. Einer unserer Abteilungsleiter war in ein solches Ermittlungsverfahren verwickelt. Er hatte eine Entscheidung zum Erlass einer Abgabe getroffen, die den Hausbau eines prominenten Künstlers betraf. Das war als eine Art „Förderung“ angelegt. Das war nicht seine Idee, sondern es gab einen Auftrag aus dem „Großen Haus“. Der Fall lag lange zurück, aber es gab Interessen, daraus etwas zu machen. Ja, so ist das! Heinrich Töplitz hatte in guter Absicht eine Sache angestoßen, die in der Tat Rechtsverstöße betraf. Soweit in Ordnung. Aber die Sache artete dann in eine Art „revolutionären Aktionismus“ aus. Töplitz wollte dem Ärger über solche Erscheinungen Luft machen. Aber diese „Selbstbedienung“ von Funktionsträgern wurde vorher ja nicht einfach toleriert. Wenn die Finanzrevision oder die „Arbeiter- und Bauern-Inspektion“ solche Vergehen aufgedeckt hatte, dann gab es in der Regel Strafen. Aber Sie kennen es: Wo kein Kläger war, gab es auch keinen Richter! Mein Los: Wenn die Ministerin weg ist, muss der Staatssekretär die Geschäfte leiten, was bis Mitte Januar 1990 anhielt. Das Gespräch mit Dr. Waigel, was am 3. Januar 1990 stattfand, das nahm nur Frau Nickel noch wahr. Sie waren bei diesem Gespräch mit Finanzminister Theodor Waigel nicht dabei, trafen Waigel allerdings später … Ja. Frau Nickel sagte es mir nicht. Ich erfuhr es erst Wochen später. Als ich erstmals mit Dr. Waigel sprach, spielte dabei sein Gespräch mit Frau Nickel keine Rolle. Das Gespräch Präsident des Verbands der Juristen (VdJ) der DDR sowie in der Zeit 1975 bis 1990 Präsident der Freundschaftsgesellschaft DDR-Italien.
281 hatte wohl eher keine Substanz. Mein Tagesgeschäft im Januar 1990 war knallhart. Frau Nickel mittlerweile ab- bzw. untergetaucht. Das innere und das äußere Tun des Ministeriums der Finanzen (MdF) hatte ich – natürlich mit einer guten Mannschaft – allein zu verantworten. Würde ich jetzt ins Detail gehen, wäre diese Liste lang. Zur Erinnerung: Der „Runde Tisch“ war zunehmend eine sachliche Debattenveranstaltung geworden. Es wurden Vorschläge zu Reformen diskutiert, zur Wirtschaft, zur Umwelt und dem Recht. Es entstand ein Entwurf einer neuen DDR-Verfassung 100. Im Januar 1990 hatten wir vor allem mit den Vorschlägen zur Korrektur der Preisstützungen mit entsprechenden Ausgleichszahlungen für Kinder, Rentner usw. zu tun. Politisch nachvollziehbar und alles sehr schwierig. Neue und wichtige Regelungen traten in Kraft wie die „Joint-Venture-Verordnung 101“. Es gab sofort Reaktionen von Unternehmen sowie Anfragen. Ich selbst empfing Unternehmer, mit denen ich über „wie und wo“ diskutierte. Das ergab Hoffnung. Ende Januar 1990 beauftragte mich dann Modrow, als Minister zu amtieren. Der Ministerrat bestätigte das und in der Volkskammer war das nur noch ein informativer Akt. Diese Zeit, von Januar und Februar 1990, war eine „Ochsentour“ mit sehr wenig Schlaf für alle Beteiligten. Die Regierung Modrow wollte mit ernsthaften Reformen einen neuen Kurs fahren. Im Mittelpunkt standen u. a. die Wirtschaftsreform, die „Marktwirtschaft mit Plan“, die Stabilisierung, Joint Ventures sowie Modernisierungen. Dabei hatte die Ministerin für Wirtschaft, Prof. Christa Luft, die federführende Rolle. Sie holte viele Fachleute aus Wirtschaft und Wissenschaft hinzu. Die akute Krisenlage kostete viel Kraft und unser finanzieller Rahmen war eng gefasst. Die faktisch offene Grenze, die Ausfälle in der Wirtschaft, die Stasi-Affären, Emissäre und Spekulanten aus dem Westen belasteten. Dann fuhr Modrow nach Bonn, nahm die Minister ohne Portefeuille, die vom Runden Tisch kamen, mit in die neue „Regierung der nationalen Verantwortung“, darunter u. a. mein Freund Walter Romberg, Rainer Eppelmann, Gerd Poppe, Matthias Platzeck sowie Wolfgang Ullmann. Warum bekamen Ministerpräsident Hans Modrow und seine Delegationsmitglieder die „Regierung der nationalen Verantwortung“, keine 15 Milliarden DM „Solidarbeitrag“ von der Bundesregierung? Die Reise nach Bonn fand am 13./14. Februar 1990 statt. Kohl wollte zunächst – daran glaube ich bis heute – uns wirklich entgegenkommen. Er wollte keinen Crash der DDR herbeiführen. Er sprach anfangs davon, dass es eine Übergangszeit von zwei bis drei Jahren in einer Vertragsgemeinschaft geben könnte. Es gab Entwurf der Arbeitsgruppe „Neue Verfassung der DDR“ des ZRT, April 1990. Siehe http://www.documentarchiv.de/ddr/1990/ddr-verfassungsentwurf_runder-tisch.html (letzter Zugriff 12.12.2020). 101 25.1.1990: Die Regierung von Ministerpräsident Modrow erlaubte die volle Gewerbefreiheit für Handwerks-, Handels- und Dienstleistungsbetriebe in der DDR. Die beschlossene „Joint-VentureVerordnung“ erlaubte ausländischen Unternehmen die Beteiligung an den volkseigenen Unternehmen der DDR, wenn das Unternehmen oder die Person auch in der DDR ansässig war. 100
282 aber, was sich im Verlauf dieser Verhandlungen bemerkbar machte, einen „schwarzen“ Kern, nicht unbedingt in der Regierung, aber sicher in der CDU oder CSU, der forderte, hier müssten nun endlich Nägel mit Köpfen gemacht werden. Wenn wir erst mal die fünfzehn Milliarden DM bekämen, würde sich daraus die „ungeliebte SED-Diktatur“ stabilisieren. Das wollten diese Leute verhindern! Diese fünfzehn Milliarden waren allerdings berechtigt sowie begründet. Wir hatten mit dem Mauerfall, was sich heute keiner mehr vorstellen kann, etwa fünfhundert zusätzliche Grenzübergänge anzulegen, rasch zu bauen, mit allem Notwendigen auszustatten. Das kostete viel Geld. Das nächste Problem für unseren Staatshaushalt war: Die offene Grenze ermöglichte es Westberlinern und westdeutschen Bürgern, die im grenznahen Raum wohnten, die preisgestützten Leistungen der DDR in Anspruch zu nehmen. Die Gaststätten waren jeden Tag voll, das Schnitzel gab es für 2,50 Mark. Es wurde Kleidung, Wäsche, Hausrat aller Art in Massen gekauft, eben gut und billig. Aber der Staatshaushalt hatte die Stützung dafür zu zahlen, das ging auf Milliarden hoch. Dazu der Reiseverkehr. Wir hatten im Reiseabkommen mit der BRD vereinbart, dass für Bahnreisende der Streckenteil auf BRD-Gebiet in D-Mark an die Bundesbahn zu erstatten ist. Der Reiseverkehr in Richtung West hatte sich enorm entwickelt. Jeder Reisende musste mit West-Mark ausgestattet werden. Es waren also D-Mark-Summen nötig, die wir in solchen Dimensionen ehrlicherweise nicht hatten. So kam u. a. die Bitte um die fünfzehn Milliarden DM zustande. Nach der Freude darüber, dass die Mauer nun gefallen ist, wäre es mehr als fair und für die Regierung Kohl kein Problem gewesen, unserer Finanzforderung nachzukommen. Aber hier setzte bereits der Hebel der Unterwerfung an. Warum folgte man nicht den soliden Vorschlägen der Professoren Fritz Baade 102 und Arno Peters 103? Prof. Baade hatte bereits in den 1960er Jahren nachgewiesen, dass die BRD wegen der von der DDR allein getragenen Reparationen in der Schuld der DDR steht. Im Januar 1990 unterbreitete Prof. Dr. Arno Peters einen Vorschlag, der auch von diesem Faktum ausging. Er rechnete vor, dass die BRD für die Reparationsleistungen, die von der DDR getragen worden waren, in Höhe von 780 Milliarden D-Mark – hierbei waren die in 40 Jahren aufgelaufenen Zinsen eingeschlossen – zahlen sollte. Der Vorschlag, den auch Prof. Hickel 104 und andere unterstützten, sah weitere Maßnahmen zur wirtschaftlichen Stärkung der DDR vor. 105 Das wäre ein Ansatz für die Bundesregierung gewesen, wobei Fritz Baade (1893–1974) (SPD) war u. a. in der Zeit von 1948 bis 1961 Direktor des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel. In der Zeit von 1949 bis 1953 war Baade stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses für ERP-Fragen des Deutschen Bundestages. 103 Arno Peters (1916–2002) studierte u. a. Geschichte, Kulturgeschichte und Zeitungswissenschaften in Berlin. 104 Rudolf Hickel (geboren 1942) war u. a. in der Zeit von 2001 bis 2009 Direktor des Instituts für Arbeit und Wirtschaft (IAW) der Universität Bremen. 105 Markus Daschne, taz. die tageszeitung, 19.2.1990, S. 22, „Signal gegen Ausverkauf der DDR“. 30 Jahre alter Plan eines Bremer Historikers gewinnt neue Aktualität. Siehe https://taz.de/!1779788/ 102
283 natürlich über Modalitäten zu reden gewesen wäre. Nichts dergleichen passierte. Keine Erwähnung in den Medien. Hier begann meine Vorahnung, was die vielen blumigen Reden über den „Fall der Mauer“ am Ende wert sein könnten! Als Modrow nach Bonn fuhr, auch im Glauben an Kohls „10 Punkte Programm“ vom 28. November 1989 und einer eventuellen Vertragsgemeinschaft, hatte er dabei natürlich diesen Vorschlag der Professoren im Kopf. Das politische Konzept Bonns war inzwischen verändert, Stärke zeigen und die Schritte vorgeben. So gingen Modrow und seine Delegation mit prominenten Bürgerrechtlern leer aus. Die Botschaft: Kein Geld, also seht, wie ihr zurechtkommt, wir bieten euch eine Währungsunion an, die Verhandlungen könnten kurzfristig beginnen. Das war Mitte Februar 1990. Der neue SED-Chef Krenz schickte Alexander Schalck-Golodkowski Mitte Oktober 1989, offiziell Staatssekretär im Außenhandelsministerium, nach Bonn. Im Gespräch mit Kanzleramtsminister Rudolf Seiters und Innenminister Wolfgang Schäuble präsentierte Schalck-Golodkowski eine Rechnung: Angeblich verursachte die Deutsche Bundesbahn Mehraufwendungen in der DDR. Dafür wollte Schalck-Golodkowski fünfhundert Millionen DM haben. Was ist Ihnen über diesen Vorgang bekannt? Ja, ich erinnere mich. Es ging dabei tatsächlich um solche Fragen wie die Belastungen durch den zu erwartenden Reiseverkehr in die BRD. Alexander Schalck hatte die besten Kontakte, um erfolgreich zu sein. Wie schon erwähnt, verursachte jede Bahnreise eines DDR-Bürgers in die BRD Kosten in Valuta. Wenn jemand aus Magdeburg nach Köln fuhr, stellte uns die Bundesbahn die Strecke von der Grenze bis Köln in Rechnung. Umso mehr Leute rüberfuhren, umso mehr mussten wir der Bundesbahn erstatten. Als wenig Grenzverkehr war das zu verkraften, als aber die Leute nach dem 9. November 1989 auf Grund der neuen Reiseregelung massenhaft reisten, verdiente die Bundesbahn damit richtig Geld, das wir zu zahlen hatten. Das war vorauszusehen, als wir das Reisen möglichst allen erlauben wollten. Im Übrigen: Fünfhundert Millionen DM sind in einem solchen wirtschaftlich starken Staat wie die BRD eine „lächerliche“ und durchaus leistbare Summe. Zum Gerhard Schürer-Bericht, einer „Analyse der ökonomischen Lage der DDR mit Schlussfolgerungen“: Der Auftrag hierfür kam von Egon Krenz. Die Erstellung erfolgte durch Gerhard Schürer, Gerhard Beil, Ernst Höfner, Schalck-Golodkowski und Arno Donda 106. Die Vorlage erfolgte am 30. Oktober 1989 in der Politbürositzung. Welche (letzter Zugriff 12.12.2020). 106 Arno Donda (1930–2008) war u. a. Professor mit Lehrauftrag für Statistik und zur Mitarbeit in der Arbeitsgruppe „Bernau“ zur Vorbereitung des „Neuen Ökonomischen Systems der Planung und Leitung der Volkswirtschaft“ (NÖSPL) berufen. In der Zeit von 1963 bis 1990 Leiter bzw. Präsident der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik, ab 1990 Statistisches Amt der DDR. In der Zeit von
284 Erinnerungen haben Sie an diese „Geheim-Analyse“ mit dem Befund einer unmittelbar bevorstehenden Zahlungsunfähigkeit und der grassierenden Devisenverschuldung der DDR? Eine Wertung von Klaus Blessing unterstellt Gerhard Schürer die Absicht, eine Katastrophenstimmung zu verbreiten. Er ist der Meinung, die Autoren hätten den Bericht anders schreiben können, in dieser Lage wurde Mut gebraucht und eben keine Finsternis. Diese Aufgabe hatte dieser Bericht gar nicht! Er sollte warnen! Ich las den Bericht im Entwurf. Finanzminister Ernst Höfner war Mitunterzeichner. Teile des Berichts sind bei uns entstanden. Ich las auch den letzten Entwurf. Für mich war es eine Darstellung der Lage mit entsprechenden Schlussfolgerungen. Dass Schürer und die anderen ausdrückten, wir müssten dies und jenes tun, falls dies eben nicht geschehe, dann gäbe es bestimmte Folgen, das empfand ich nicht als eine „Panikmache“. Dieser Bericht war später für alle, die den Untergang der DDR mit der wirtschaftlichen Pleite begründen, natürlich der „ultimative“ Beweis! Dafür können die Autoren aber nicht verantwortlich gemacht werden. Inzwischen existieren genügend „ordentliche Analysen“ zur wirtschaftlichen Lage der DDR aus dem Herbst 1989. Erlauben Sie mir eine Literaturempfehlung: Insbesondere das Buch vom Stellvertreter Schürers, Siegfried Wenzel 107, dem eigentlichen Stabschaf unserer Staatlichen Planung: „Was war die DDR wert? Wo ist dieser Wert geblieben? Versuch einer Abschlussbilanz“ ist im Verlag Das Neue Berlin im Jahr 2000 erschienen. Wer also an einer seriösen Darstellung des Scheiterns der DDR interessiert ist, findet dort Antworten zu diesem Thema. Las Klaus Blessing diesen „Schürer-Bericht“ im Herbst 1989 oder erst viel später? War die Wirkung nicht verheerend? Ich bin ziemlich sicher, dass Klaus Blessing diesen Bericht damals las. Er war einer der wirtschaftspolitischen Abteilungsleiter des ZK-Apparates, vormals der Bereich von Günter Mittag. Mittag war schon weg, aber Günter Ehrensperger 108 und Klaus Blessing waren noch im Amt. Ferner bin ich mir sicher, dass Klaus Blessing damals den „Schürer-Bericht“ so verstanden hat, wie er gemeint war. Alexander Schalck-Golodkowski und Ehefrau flüchteten am 3. Dezember 1989 in den Westen. Über sechs Wochen tätigte er umfangreiche Aussagen beim BND. Sehr 1963 bis 1990 war er Mitglied der Ständigen Kommission für Statistik des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW). Er war Mitautor der „Analyse der ökonomischen Lage der DDR mit Schlußfolgerungen“ (sogen. Schürer-Papier) Oktober 1989. 107 Siegfried Wenzel (1929–2015) war u. a. in der Zeit von 1967 bis 1989 Stellvertreter des Vorsitzenden der Staatlichen Plankommission der DDR (SPK) für den Bereich volkswirtschaftliche Gesamtrechnung und Plankoordinierung tätig. Wenzel war 1990 Mitglied der Regierungsdelegation der DDR für die Schaffung der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion. 108 Günter Ehrensperger (geboren 1931) war u. a. in der Zeit von 1981 bis 1989 Mitglied des ZK der SED und Abgeordneter der Volkskammer der DDR.
285 wahrscheinlich berichtet er über seine Kenntnisse aus dem Bereich „Kommerzielle Koordinierung“ und seiner Arbeit für das Ministerium der Staatssicherheit. Die Akten sind unzugänglich. Er wirkte intensiv beim Schürer-Bericht mit. Jetzt flogen im Februar 1990 Modrow und seine Delegation mit Forderungen im Gepäck zur Bundesregierung nach Bonn und erbaten fünfzehn Milliarden DM Solidarbeitrag, wie gerade darüber gesprochen. Was meinen Sie? Zu welchem Zeitpunkt wussten die westlichen Akteure Kohl, Waigel, Schäuble usw. von der Kernaussage des sogenannten „Schürer-Berichts“? Mit dieser Information hätten sie schlussfolgern müssen, die fünfzehn Milliarden DM, die Modrow einforderte, nicht mehr in eine „bankrotte“ DDR zu investieren! Diesen Bericht von Gerhard Schürer u. a. kannte die politische Führung der BRD im Februar 1990 vermutlich noch nicht. Wenn Sie in der Literatur – beispielsweise bei Theo Waigel – nachlesen, wird deutlich, dass es bei der Ablehnung der Bitte von Hans Modrow bei den 15 Milliarden DM schlicht um eine politische Demonstration ging, die die Grundrichtung des Umgangs mit der DDR angeben sollte. Ich erspare mir darüber weitere Details. Man wollte Druck ausüben. Um zu wissen, dass man die DDR-Regierung mit einer solchen Ablehnung in Zugzwang bringen würde, brauchte man kein Detailwissen. Dass die DDR im Februar 1990 in Nöten war, ergab sich allein aus den täglich wachsenden Zahlen der in den Westen ziehenden „DDR Übersiedler“. Im Januar 1990 waren es täglich um die 2000 Personen. Es gab darüber im Westen überhaupt nicht nur Freude, sondern Ängste um neue Konkurrenten, um die knappen Arbeitsplätze. Also wollte man mit der Ablehnung dieser Bitte und der Aussicht auf die D-Mark ganz praktisch zum Verbleiben in der DDR auffordern, d. h. die Übersiedelung bremsen. Insbesondere Kohl und Waigel zitierten immer wieder das Plakat mit dem Spruch: „Kommt die D-Mark nicht nach hier – gehen wir zu ihr!“ Wobei es Zweifel darüber gibt, ob es wirklich eine „spontane“ oder sogar eine „gelenkte“ Willensbekundung war. Die D-Mark galt als politisches Zugpferd für die Wiedervereinigung. Das war politisch gut kalkuliert. Egon Krenz gab das „Pfund“, nämlich die geschlossene Grenze, aus der Hand. Ich spekuliere: Wenn die Grenze ein paar Wochen oder Monate länger bestanden hätte, so wären Kredite bzw. finanzielle Forderungen für die DDR leichter zu verhandeln gewesen. Ab dem 9. November 1989 eben nicht mehr! Sie haben völlig recht! Die Mauer war wirklich ein Pfund, mit dem wir in die Verhandlungen hätten gehen können. Hat es Krenz so im Blickfeld gehabt? Modrow sicher! Aber es verlief eben ganz anders. Warum? Weil in diesen Wochen seit Krenz´s „Wende-Versprechen“ dieser strategische Punkt untergegangen war, im Eiertanz um die Reiseregelung, im fehlenden Konzept, im Gerangel um die Partei-Zukunft sowie dem Druck wichtiger Tagesfragen. Ich erinnere mich sehr gut an die aufgeheizte Stimmung um die neue Reiseregelung, die mehrmals verändert wurde. Anfangs wollte man noch mit viel Bürokratie und Vorsicht
286 zu Werke gehen. Ich vermute, dass die Bedenkenträger sowohl im Apparat des ZK als auch beim MfS saßen. Real denkende Leute machten deutlich – vor allem auch Gerhard Lauter 109, der Hauptabteilungsleiter für Pass- und Meldewesen im Ministerium des Inneren der DDR, dass „kleine und halbherzige Schritte“ keine politische Beruhigung bringen, sondern nur neue Proteste hervorrufen würden. Ich sah das auch so. Mein Part war aber dort lediglich die Ausstattung mit Reisedevisen. Am 8. November kam der „große Wurf“, d. h. eine sehr weitgehende sowie unbürokratische Lösung. Sie wurde am nächsten Tag von der Parteiführung – das ZK tagte gerade – gebilligt, aber es war die anschließende staatliche Zustimmung und Umsetzung notwendig. Das sollte Krenz und Schabowski klar gewesen sein. Sie waren lange genug im Amt. Also ohne eine ordentliche „Umsetzung“ in den Grenz- und Zollorganen, in den örtlichen Verwaltungen sowie in den Banken war eine erfolgreiche Durchführung dieser Angelegenheit undenkbar. Es sollte alles geordnet ablaufen, so war das vorbereitet, also eine ordentliche Grenzabfertigung und kein Chaos. Aber das hat Günter Schabowski in der bekannten Pressekonferenz am Abend des 9. Novembers durch seine schusselige Art des Vortragens und die Beantwortung der Frage eines Journalisten verdorben. In zehn Sekunden wirrer Rede war die streng gehütete Grenzordnung dahin! Ein Ausdruck der sich auflösenden Disziplin in der Führung. Es war eine Art „Selbstmord“ der staatlichen Ordnung. Es ist den Grenzoffizieren zu verdanken, dass nichts Schlimmeres passierte. Sie allein behielten die Nerven und entschieden, die Grenze – zuerst an der Bornholmer Straße – für die anstürmenden Massen von Leuten zu öffnen. Die Führung schlief. Das Oberkommando der sowjetischen Streitkräfte in Wünsdorf erfuhr es auch nur „auf dem kleinen Dienstweg“ über den Nachtdienst der sowjetischen Botschaft Unter den Linden. Ich selbst und meine Frau haben das alles gar nicht mitbekommen. Ich hatte an dem 9. November bis spät im Ministerium gearbeitet, war dann mit meinem PKW nach Hause gefahren und hundemüde ins Bett gegangen. Am nächsten Morgen, als ich etwa 6.30 Uhr zur Arbeit fuhr, war an der Stralauer Allee, am Grenzübergang „Oberbaumbrücke“, die Straße von Wartenden blockiert, die „rüber“ wollten. Erst da kam der Schock für mich! Was ist da los? Ist die Grenze offen? Wie alles gelaufen war, erfuhr ich von unserem Pressereferenten, der auch in der Pressekonferenz von Schabowski anwesend gewesen war. Er selber realisierte auch nicht, welche Folgen diese „schnoddrige Rede“ von Schabowski hatte. Krenz handelt am 9. November nicht! Öffnete Schabowski absichtlich oder unabsichtlich die Grenze bzw. Grenzübergangsstellen (GÜSt)? Schabowski hat sicherlich nicht absichtlich gehandelt. Er hatte schon über die 10. Tagung des ZK geredet. Dort war viel passiert, das Politbüro abgelöst, ein neues gebildet Gerhard Lauter (geboren 1950) übernahm ab 1.7.1989 die Position des Leiters der Hauptabteilung Pass- und Meldewesen im Ministerium des Innern der DDR. Sein letzter Dienstgrad war Oberst der VP.
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287 sowie ein Aktionsprogramm beschlossen. Es ging kritisch zu wie nie zuvor. Hermann Kant 110 kritisierte die immer noch „gepflegte“ Arroganz der Partei. Vor dem ZK-Gebäude fand eine Demonstration statt, die einen Parteitag forderte. Ich war dabei. Wir forderten laut, dass Krenz uns Rede und Antwort stehen sollte. Es dauerte, bis er sich zeigte und eine nichtssagende Erklärung abgab. Konkret: Schabowski hatte in dieser internationalen Pressekonferenz – das war völlig neu – detailliert etwa eine Stunde über die ZK-Tagung berichtet. Er war wohl etwas „geschafft“ und sicherlich „emotional“ sehr bewegt, denn er gehörte seit langem zu der Führung, die nun gerade amtsenthoben worden war. Nach einer Stunde Referat kam dann diese Frage zur Reiseverordnung. Dann folgte das Nachhaken des italienischen Korrespondenten. Da war Schabowski vermutlich nicht richtig im Thema und auch physisch geschafft. Aber es entsprach seiner Art natürlich forsch zu reagieren. Schabowski war auf seine Art ein Machtmensch besonders massiver Art. Dieser Ruf ging ihm in Berlin voraus. Eine diplomatische Zurückhaltung oder gar eine Nachfrage bei Podiumsanwesenden, bevor er antwortete, blieb aus. Es hätte gab die Möglichkeit gegeben, sich mit den anderen auf dem Podium, u. a. mit Gerhard Beil zu verständigen! Alles blieb aus! Leicht stotternd antwortet er: „Ja, das gilt ab sofort!“ Ein Signal, dass sofort in Minuten über alle Ticker und Sender ging. Man hat das alles dann versucht zu erklären, zu entschuldigen oder wie auch immer. Schabowski kam aus der Sitzung des Zentralkomitees und sollte in erster Linie über das Debattierte informieren. Die neue Reiseordnung gehörte nicht dazu! Vorsorglich hatte ihm „jemand“ auf einen Zettel ein paar Stichworte aus der neuen Reiseverordnung aufgeschrieben. Jener meinte, – es war evtl. Krenz – Schabowski könnte in der Pressekonferenz dazu gefragt werden. Dieser „Zettelverfasser“ vertraute sicher darauf, dass Schabowski mit der Information so umging, dass nichts aus dem Ruder laufen konnte. Diese Regelung war doch keine „Parteisache“, sondern eine staatliche Regelung, deren Bekanntgabe einer bestimmten Ordnung unterlag. Schabowski wusste das! Er kannte das Prozedere! Es wurde von allen mit der Sache befassten Personen bezweifelt, dass Schabowski nicht konkret wusste, dass die offizielle Bekanntgabe und die Inkraftsetzung erst für den nächsten Tag vorgesehen waren. Es ist unzweifelhaft, dass er wusste, welche Vorbereitung und Einweisung seine Ankündigung an der Grenze bei den Grenzern und Zöllnern erforderte. Und keiner der anderen Leute im Präsidium zog die Notbremse?! Bis heute ist das sehr rätselhaft, wie konnte Schabowski in dieser Situation so „geistlos“ handeln? Er wusste, um welch schwergewichtige Frage es dabei ging, als der italienische Pressemann und danach Peter Brinkmann von der Bild-Zeitung ihn nach dem Zeitpunkt des Inkrafttretens befragten. Als erfahrener Mann der Parteiführung wusste er, dass es in dieser Frage keine „ad hoc“ Regelung geben kann. Als ehemaliger Chefredakteur des Hermann Kant (1926–2016) war u. a. in der Zeit von 1981 bis 1990 Abgeordneter der Volkskammer der DDR und in der Zeit von 1986 bis 1989 Mitglied des ZK der SED. Werke als Schriftsteller sind u. a. die Aula (1965), das Impressum (1972), die Autobiografie Abspann (1991) und Kennung (2010). Juristisch wehrte sich Kant gegen die Anschuldigungen, er sei ein „IM“ des MfS gewesen. 110
288 Zentralorgans der SED kannte er sehr wohl auch die Scharmützel solcher Journalisten. Also seine laxe Antwort „ja, gültig ab sofort“ war eine üble Entgleisung. Gerhard Beil, der neben ihm saß, guckte verdutzt, aber er griff nicht ein! Ein sonst beherzter sowie kluger Mann, aber in diesem Fall überfordert. Die Antwort von Schabowski ging innerhalb einer Stunde über alle Agenturen! Der Ansturm Tausender Bürger und Bürgerinnen auf die Grenze begann. Oberstleutnant Harald Jäger, der Leiter des Grenzübergangs Bornholmer Straße, rief seinen Chef und dieser rief seinen Minister an. Keine Chance, diesem Begehren, diesem Druck auf die Grenzöffnung lange Stand zu halten. Und so handelte dieser Offizier verantwortungsbewusst und menschlich. Er ließ die Leute durch die offene Grenze passieren. Es fiel kein Schuss, alles verlief friedlich in einer spontanen Feierlaune wie nie wieder in der Folgezeit. Ich frage mich ernsthaft, wo waren denn die sonst so allwissenden Genossen? Zum Verhalten von Krenz, Schabowski und anderen führenden Leuten in diesen Abend- und Nachtstunden existieren verschiedene Erklärungen in ihren Veröffentlichungen. Ich will das nicht bewerten. Aus meiner Sicht ist es beschämend, dass u. a. Egon Krenz und die anderen Verantwortungsträger so „lax“ gehandelt hatten, bei einer Angelegenheit, die im schlimmsten Fall einen Krieg hätte auslösen können. Mit Verlaub, Herr Siegert, aber wie hätten Sie in Egon Krenz´s Position agiert bzw. reagiert? Krenz hätte mit der Information auf dem Zettel wenigstens den Hinweis verbinden müssen: Pass auf, das gilt erst ab morgen und befindet sich noch im Abstimmungsgang des Ministerrates. So war es auch tatsächlich! Aber diese „warnende“ Bemerkung kam ihm wahrscheinlich selbst nicht in den Sinn. Das Politbüro selbst hatte sich mit dieser neuen Reiseordnung in einer „Raucherpause“ befasst und zugestimmt. Also für mich ein unprofessionelles Umgehen mit einer Angelegenheit vom höchsten politischen Gewicht! Dass Schabowski so „schnoddrig“ mit dieser Meldung umging, bekam Krenz gar nicht mit. Er war wieder im ZK Gebäude auf dem ZK Plenum. Vermutlich verfolgte dort niemand die Pressekonferenz mit. Auch das war wieder ungewöhnlich nachlässig. Als Krenz schließlich spät in der Nacht, als er schon zu Hause war, erfuhr, was an der Grenze passierte, war es zu spät. Er telefonierte noch mit anderen „Größen“, aber sie taten nichts. Die Chance, die Grenzordnung wiederherzustellen, war vertan. Konkret zu Ihrer Frage: Ich hätte diesen Zettel so nicht verfasst. Entweder hätte ich untersagt, in der Pressekonferenz überhaupt etwas dazu zu verkündigen, um „Ruhe und Ordnung“ in den Vorbereitungen zu sichern. Allernativ hätte ich Schabowski konkret angewiesen, folgendes zu veröffentlichen: „Wir bereiten in dieser Nacht eine neue Reiseregelung vor, die ab morgen 10 Uhr gelten soll!“ Glauben Sie mir, das ist von mir keine Klugscheißerei, wir haben oftmals andere schwierige Akte vorbereitet und erfolgreich durchgeführt. Dazu gab es immer eiserne Regeln, die hier aber keine Anwendung fanden.
289 U. a. war Gerhard Lauter beauftragt, die neue Reiseregelung neu abzufassen … Ja, Gerhard Lauter war der Leiter unserer Arbeitsgruppe und Hauptabteilungsleiter im Innenministerium … Er war Hauptabteilungsleiter für Pass- und Meldewesen im Innenministerium und für die Reiserechtsregelung zuständig … Ja, er war federführend. Übrigens: ein sehr erfahrener und sympathischer Kollege. Er kannte sich in diesem Metier bestens aus. Er hatte die Autorität im eigenen Haus und bei den Entscheidungsträgern. Konkret zum Ablauf: Das Entscheidende war, dass diese Regelung ab 10. November gelten sollte und zwar für jeden DDR-Bürger bzw. Bürgerin. Bis morgens um 4:00 Uhr galt die Sperrfrist. Am 9. November sollten bis 19 Uhr alle 44 Minister der DDR per Umlaufverfahren diesem Beschluss des Ministerrates nach Einverständnis des Politbüros zustimmen. Am 10. November ab 10:00 Uhr sollten dann die Genehmigungen erteilt werden – à jour. Diese weitreichende Konsequenz wurde von Krenz in der Politbürositzung vorgelesen und keiner äußerte dagegen einen Einwand. Die Tragweite dieser neuen Reiseregelung hatte in diesem Moment Krenz akzeptiert. Aber auch alle Anwesenden einkalkuliert? Mit Gerhard Lauters Absatz in der Verordnung wäre alles ab dem 10. November ordnungsgemäß umgesetzt worden. Allerdings kam es nicht zustande, weil eben Schabowski weder die Speerfrist noch die Genehmigungen erwähnte, oder? Ja, so ist das abgelaufen. Sie machen mit diesen Fakten noch einmal deutlich, wie hier geschludert wurde. Die Tragweite der Regelung hatten Krenz und wohl auch die Mehrheit der anderen ZK-Mitglieder – es war nicht nur das Politbüro – verstanden. Krenz und die anwesenden Minister, die ZK-Mitglieder waren, wie beispielsweise Friedrich Dickel 111 und andere, die mit der Sache befasst waren, wussten nach meiner Kenntnis bei solchen TOP-Themen genau, worin die Eckpunkte der Regelung bestanden. Ihre Zweifel teile ich nicht. Krenz und alle, die dort saßen, waren doch durchweg erfahrene Leute. Es gibt dafür keine Entschuldigung, weil es ein strafwürdiges Versagen war! Mit Gerhard Lauter hat das nur insoweit zu tun: Wie geschildert war er der zuständige Abteilungsleiter. Sein Minister war der Innenminister Friedrich Dickel, der dieses Prozedere der Zustimmungsabläufe in Gang setzte. Gemeinsam mit den Juristen des Ministerrates. Der Apparat funktionierte noch immer, auch in diesem Falle also – im Interesse der Dringlichkeit – also eine erforderliche Zustimmung im Umlaufverfahren. Das ist alles in Ordnung und war „x-mal“ bekannt und erprobt. Wir hatten etwa 4 oder 5 Entwürfe erarbeitet. Jeder kam mit Bemerkungen zurück: „Das Friedrich Dickel (1913–1993) war u. a. in der Zeit von 1963 bis 1989 Minister des Inneren und Chef der Deutschen Volkspolizei sowie bis 1976 Chef der Zivilverteidigung. Dickel war in der Zeit von 1967 bis 1989 Mitglied des Zentralkomitees der SED und bis März 1990 Abgeordneter der Volkskammer.
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290 Abändern, das Verändern, das Streichen!“ Der vorletzte Entwurf fiel ebenso durch, weil er noch zu viele „Bremsen“ enthielt. Wir veränderten nochmal, nicht weil wir wenig Öffnung wollten, sondern weil wir das Ganze beherrschbar regeln wollten. Ziel war es, einen Ansturm auf die Übergänge zu vermeiden, ansonsten würde uns das Ganze aus der Hand laufen. Nach der letzten Runde rief mich Lauter an und teilte mir mit, sein Minister Friedrich Dickel hätte nun die Zustimmung erhalten, jetzt sei das eine Fassung, mit der die Partner in der Parteiführung, dabei denke ich wieder an Egon Krenz, einverstanden gewesen sind. Aber diese Fassung hatte durch den Passus von Lauter weitreichende Konsequenzen! Letztendlich hatte Krenz selber gar keinen Einfluss auf den Entwurf dieses Reisegesetzes, oder? Es ging doch nicht um einen „Passus“ von Lauter. Die ganze Verordnung war doch – vor allem in den prägenden Bestimmungen wie Prozedere und Termin – in einem Prozess der Beratung und mehrfachen Abstimmung mit den politischen Entscheidungsträgern in der Partei, im Ministerrat usw. entstanden. Krenz muss dabei einbezogen gewesen sein! Jede gesetzliche Regelung in der DDR und auch diese war erst einmal eine Sache der zuständigen Ministerien: Inneres, Justiz, Finanzen. Das ist ein ganz normaler Arbeitsprozess. Dann gab es natürlich in jedem Fall Abstimmungen mit dem Parteiapparat bis zum Politbüro. Deshalb kann ich mir nicht vorstellen, dass in dieser „Schicksalsfrage Nr. 1“ Egon Krenz nicht persönlich zu den Eckpunkten der Reiseverordnung befragt wurde. Wie groß war der Anteil von Krenz durch Einflussnahme auf Inhalte der Reiseregelung oder auch durch Nichtstun bei der missglückten Umsetzung? Alle wurden angerufen, aber keiner unternahm etwas konkret. Krenz gab keinen Befehl, die Grenzen geschlossen zu halten. Das hätte nicht funktioniert. Wie denn? Wenn Tausende Leute in Berlin vor den Grenzübergängen stehen und rüber wollen. Sie aufzuhalten, war nur mit Gewalt möglich – Gott sei Dank kam niemand auf diese Idee! Es wäre nicht einmal möglich gewesen, den formellen Ablauf nach dieser Verordnung in der Nacht wiederherzustellen. Denn diese Verordnung hatte an der Grenze keiner der Offiziere in der Hand. Die Instruktion sollte erst am 10. November in der Frühe geschehen. Dann hätte das funktioniert. Die Bürger hätten die Regelung am 10. November früh aus den Medien erfahren. Ob dies dann zu einem großen Andrang gekommen wäre, weiß ich nicht, aber wahrscheinlich schon. Aber dann wären alle vorbereitet in Startposition gewesen: die Grenzsoldaten, der Zoll und die Leute von der Bank, die hätten doch die Reisezahlungsmittel auszahlen müssen. Abschließend zu Krenz und seiner Rolle bei dieser Verordnung: Mir erscheint es als absolut sicher, dass auf der Agenda von Krenz die Reisemöglichkeiten ganz oben standen. Konkret dazu: Die uns als „Bearbeiter“ dieser Sache übermittelten Hinweise: Nicht so
291 und/oder nicht so … kamen auch von Krenz sowie seinem Umfeld. Er war doch der neue Generalsekretär und auch Vorsitzender des Staatsrates. Die Grenzübergangsstelle (Güst) Brandenburger Tor wurde erst am 22. Dezember 1989 geöffnet. Kohl und Modrow gingen gemeinsam durch das Tor. Nachgefragt zu Krenz: Wie reagierten Sie darauf, dass Krenz alle wichtigsten Staatsämter sowie den SED-Generalsekretär in einer Ämterkumulation besetzte? Das war auch bei Honecker so. Und Krenz hatte das übernommen. Genau, richtig! War aber nicht genau diese Ämteranhäufung das falsche Signal für die Öffentlichkeit? Wie also eine Wende einläuten, wenn alles doch beim Alten bleibt, zumindest bei dieser Machtkonzentration von Ämtern? Ja, richtig, Krenz hätte es vorher als Fehler erkennen müssen. Ich vermute, er glaubte damals, dass das so richtig sei! Warum? Er hatte wohl noch Illusionen, den freien Fall nicht wahrgenommen. In dieser Situation war die politische Führung schon so diskreditiert, dass man Zeichen der Veränderung setzen musste. Dies wurde erwartet. Aber außer dem Wort „Wende“ schien es, dass alles beim Alten blieb. Der gute Egon Krenz – ich schätze ihn sehr – stand so auf verlorenem Posten! Die aufgehäufte Unruhe, die Unzufriedenheit und die notwendigen Reformen hätten mit klaren Worten benannt werden müssen. Die bleibende Ämterhäufung bei Krenz war sicher kein gutes Signal für die Öffentlichkeit. Es fehlte insgesamt das Signal eines wirklichen Aufbruchs. Es blieb ein politischer Appell alten Stils. Ich war davon nicht begeistert. Ich hatte ein Gefühl, der Parteijargon ist immer noch da, also lasst es uns selber tun, damit wir aus dem Tal herauskommen. Eindeutig eine vertane Chance, dem Volk Mut zu machen. Ich möchte gern Rainer Eppelmann zitieren, der im Gespräch meinte: „Als Egon Krenz der Nachfolger Honeckers wurde, wussten wir, dass die DDR sich auflöst. Mit Hans Modrow wäre die Hoffnung für einen Neubeginn wesentlich aussichtsreicher gewesen.“ Stimmen Sie Eppelmann zu? Ja, dem stimme ich zu. Ich sagte Ihnen bereits, dass ich versuchte, diese letzte Phase der DDR zu analysieren, weil ich mir selber eine Antwort geben wollte: Haben wir in der Modrow-Regierung so viel falsch gemacht oder woran lag es? Modrows Start kam Wochen zu spät. Dass vor dem Start der Modrow-Regierung im November 1989 die WendeRede von Krenz lag, die wie eben bemerkt, den Fortgang der Bündelung von Partei- und Staatsämtern erklärte, war nicht förderlich. Eine Metapher, die zutrifft: Die alte Orgel wurde weitergespielt, obwohl diese Töne keiner mehr hören wollte. Das meint Rainer Eppelmann. Der Runde Tisch – die Opposition – wollte die Auflösung der Staatssicherheit und die Beendigung der führenden Rolle der Partei. Auf beide Forderungen wurde durch
292 Modrow reagiert. In seiner Antrittsrede in der Volkskammer am 17. November hat Modrow die Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit bekannt gegeben. Am 1. Dezember wurde von der Volkskammer der DDR die Verfassung im Artikel 1 geändert und die „Führende Rolle der SED“ beseitigt, die Volkskammer aber immer noch kein gewähltes demokratisches Parlament. Damit waren entscheidende Kritikpunkte erfüllt. Dass Modrow ein „Amt für Nationale Sicherheit“ (AfNS) bildete, war m. E. richtig, aber es wurde ihm sofort als „Trick“ zum Erhalt der Staatssicherheit ausgelegt. Wie Sie sehen, Modrow packte die Probleme an, aber die Krise wurde nicht aufgehalten. Die „Wende“ wurde zu spät angepackt. Zu lange warteten kritische Köpfe wie Modrow, Schürer, Jahn u. a. ab und wir alle zögerten. Wir, vor allem die reformbereiten Genossen, hätten die Bürgerrechtler früher als geeignete Gesprächspartner akzeptieren sollen. Die Abgrenzung war falsch bis auf jene, die den Dialog nicht wollten. Mit Hans Modrow, da hat Rainer Eppelmann recht, wäre der Neubeginn aussichtsreicher gewesen. Aber was noch schwerwiegender ist, mit Hans Modrow wäre die Schlappe, das Versagen in der Nacht des 9. Novembers mit der Grenzöffnung nicht passiert. Für „Freund und Feind“ war klar: Die DDR-Führung trudelt, öffnet die Grenze spontan und anarchisch. Der entscheidende Trumpf für kommende Verhandlungen mit der DDR war vergeigt. Keiner erkannte diese Chance besser als Helmut Kohl und sein Berater Horst Teltschik. Kohl eilte aus Warschau über die Umwege Schweden und Hamburg mit einer US-Militärmaschine nach Tempelhof in Westberlin. Am 10. November wurde er umjubelt – am Checkpoint Charlie feierten ihn die Leute aus der DDR wie einen „Heiligen“. Kohl später: „Ich spürte, jetzt wird Weltgeschichte geschrieben!“ Das war das Ende jeder Chance, die DDR zu erhalten. Kohl hatte seine Mission erkannt und begann nun, sie zielstrebig zu erfüllen. Was noch? Ein zweiter Punkt des Verfalls: die Flucht von Schalck-Golodkowski am 3. Dezember in den Westen, die weit mehr als nur der Abgang eines Staatssekretärs mit okkultem Umfeld war. 112 Alexander Schalck hatte viel für die DDR geleistet. Nun musste er seine Verhaftung befürchten. Was war passiert? Wer bedrohte ihn? Warum gab es einen Haftbefehl? Wer hatte diese Bedrohung Schalcks inszeniert? Wer zog hier die Drähte? Wahrscheinlich Mielke oder sogar noch andere Akteure. Dann erfuhr ich, dass er in der Volkskammer von Heinrich Toeplitz 113 Fragen zur „KoKo“ beantworten sollte. Der neue Generalstaatsanwalt, Hans-Jürgen Joseph 114, veranlasste Der Ausschluss aus dem ZK der SED erfolgte am 4.12.1989. In der Zeit von Ende 1989 bis 1990 war Toeplitz Vorsitzender des zeitweiligen Ausschusses der Volkskammer der DDR und verantwortlich für die Überprüfung von Fällen des Amtsmissbrauchs, der Korruption, der persönlichen Bereicherung und anderer Handlungen. 114 Hans-Jürgen Joseph (geboren 1950) war u. a. in der Zeit von Januar bis Juni 1990 Generalstaatsanwalt in der DDR. 112 113
293 eine Untersuchung. Ich war mehr als sprachlos. An diesem Punkt hatte die Presse im Osten wie im Westen einen riesigen Vertrauensbruch im System erkannt: Ein Buhmann war gefunden, wobei nun alle möglichen Kriminalgeschichten um Schalck kreiert wurden. Ich bekam die Nachricht über seine Flucht spät abends am 3. Dezember von Frau Uta Nickel. Wir besprachen bei ihr, was die Folgen sein könnten und was zur Gefahrenabwehr zu tun ist. Wie hatte Schalck seine Firma hinterlassen? Ein Kassensturz, mit allem was dazugehört, ist in solchem Fall die erste Maßnahme. Am nächsten Morgen bekam ich vom Ministerpräsidenten Modrow den Auftrag, sofort eine Untersuchung in den Geschäftsräumen des Bereichs „Kommerzielle Koordinierung“ (KoKo) durchzuführen. Für diese Aufgabe waren Mitarbeiter der Staatlichen Finanzrevision am besten geeignet. Am 4. Dezember begann die Untersuchung der Büros, der Lager usw. Die erste Überraschung war ein Goldfund im Keller des Verwaltungsgebäudes in der Wallstraße in Berlin. Es war eine legale Sache, wie sich bald herausstellen sollte. Die Firma hatte Gold am Markt gekauft, als der Preis niedrig war. Eine Sicherheit, die im Rahmen der Geschäftstätigkeit des Bereiches Kommerzielle Koordinierung lag. Mir wurde die Überführung der Goldreserven in den Tresor der Staatsbank als Vollzug gemeldet. Dort lagerten die über 21 Tonnen Gold in Barren im Wert von damals etwa 600 Millionen D-Mark. Trotz der strengen Geheimhaltung drang diese Sache bald an die Öffentlichkeit, was natürlich wieder Futter für die Schlagzeilen war, die uns wieder schadeten. Im Frühjahr 1990 sind Teile des Goldbestandes verkauft worden, wie ich von der Staatsbank erfuhr. Die Untersuchung des Bereiches „KoKo“ dauerte bis Februar 1990, einschließlich der Auflösung und Neuordnung. 115 Das Dokument aus dem Bereich der Staatlichen Finanzrevision (SFR) des Ministeriums der Finanzen (MdF) (als Seite 18) sowie die unterschriebene Aussage von Walter Siegert liegen Dürkop vor. Der Goldbestand ist laut Aussage von Prof. Dr. Wolfrid Stoll (Vizepräsident der Staatsbank der DDR) in die Tresor-Verwaltung überführt worden und im Frühjahr 1990 teilweise verkauft worden. Die Archivbestände der Tresor-Verwaltung sind im Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen (BADV) in Berlin eingelagert. Ziel der streng bewachten Konvois war die Staatsbank. Dort wurde das Gold im unterirdischen Tresor deponiert und am 6.12.1989 inventarisiert. Wert zu diesem Zeitpunkt ca. 482 Millionen. Die Regierung de Maizière verkaufte das Gold wenige Tage vor der Währungsunion für 463 Millionen an die Staatsbank – ein wirtschaftlich unsinniges Geschäft, dessen Zweck sich die Justiz nicht erklären konnte. Denn die Staatsbank zahlte, wie damals noch üblich, in Mark der DDR. Der Verkaufspreis lag nicht nur knapp 20 Millionen unter dem Wert, der auf dem Weltmarkt in harter Währung zu erzielen gewesen wäre. Da die Konten im Verhältnis 1:2 umgestellt wurden, halbierte sich zudem automatisch der Erlös. Das von der Staatsbank so günstig erworbene Gold aber wurde zusammen mit dem DDR-offiziellen Geldinstitut gleich darauf bei der Währungsumstellung am 1.7.1990 teilprivatisiert. Den Schatz teilen sich nun die neuen Aktionäre, also verschiedene Geschäftsbanken und der Bund, während das Goldgeschäft ganz offen in die Bilanz der Staatsbank aufgenommen worden ist. Artikel taz. die tageszeitung, 14.3.1990, S. 6, Inland: Schalck und der Goldschatz der „KoKo“. Firmenkonzern unter dem früheren Devisenbeschaffer der DDR, Schalck-Golodkowski, hortete 21 Tonnen Gold / SED-Spitze verbrauchte 1989 15 115
294 Drittens: Wie bereits angesprochen, löste Modrow die Staatssicherheit nicht auf, sondern baute das Ministerium in das „Amt für Nationale Sicherheit“ (AfNS) um. Hans Modrow war der Ansicht, der man durchaus folgen kann, gerade jetzt in der Krise brauchen wir ein Sicherheitsorgan. Aber das war den Leuten im Lande kaum zu vermitteln. Unter Mielke hatte das im Kalten Krieg notwendige Schutzorgan ein „Eigenleben“ entwickelt, sich überall schnüffelnd eingemischt. So war der Hass auf die „Stasi“ entstanden; deshalb war die Entscheidung von Modrow nicht vermittelbar. Die Bürger fühlten sich von der Politik getäuscht, was wiederum zu weiterem Vertrauensschwund führte. Honecker und das Politbüro hatten Mielke gewähren lassen, was ein trauriges Kapitel für sich ist. War dieser dritte Punkt in der Gewichtung und Tragweite der größte Fehler Modrows während seiner Regierungszeit in den Jahren 1989/1990? Nein, der war es nicht. Die Grenze zu öffnen, wog hundert Mal schwerer. Es kam zu diesem ganzen Contra hinzu, über das sich die Presse und politischen Gegenkräfte in der DDR ausließen. Das waren doch nicht nur Leute, die es ehrlich mit der Erneuerung der DDR meinten wie Rainer Eppelmann, Friedrich Schorlemmer oder Stefan Heym, der im Dezember den Aufruf „Für unser Land“ mit Christa Wolf u. a. initiiert hatte. Das Thema „Stasi“ hing uns wie ein Klotz am Bein. Niemand war bereit, im Sinne der berechtigten Sicherheitssorge Modrows, darüber eine sachliche Debatte zu führen. Es mischten sich alle möglichen selbsternannten „Stasi-Aufklärer“ ein. Wir wollten das in geordnete Bahnen lenken. Schickten vertrauenswürdige Leute dorthin. Aber das wurde immer wieder in Frage gestellt. Modrow wollte ernsthaft eine sachliche Debatte und geordnete Auflösung dieses sehr umfangreichen Apparates mit vielen Mitarbeitern, Immobilien und der Technik vollziehen. Die spontanen Aktionen, deren Urheber zum Teil bis heute im Dunkeln geblieben sind, verhinderten das. Genutzt hat das jenen Kräften im Westen, die ganz spezielle Interessen verfolgten. Denken Sie mal an die Rosenholzdatei, 116 die plötzlich in Millionen Devisen / Verstöße bei Kassenführung der KoKo-Firmen. Siehe https://taz.de/Schalckund-der-Goldschatz-der-KoKo/!1776585/ (letzter Zugriff 12.12.2020). 116 Die Rosenholz-Dateien betreffen hunderte von Datenträgern auf CD-ROM mit zirka 350 000 Dateien mikroverfilmter Karteikarten des Auslandsnachrichtendienstes der DDR, der Hauptverwaltung Aufklärung (HV A). Es ging nicht um Informationen von inoffiziellen Mitarbeitern (IM) des MfS, sondern um Personen aus dem Umfeld der IM. 1989/90 gerieten die Materialien unter ungeklärten Umstanden in den US-amerikanischen Auslandsdienst CIA. Laut dem Moskauer CIA-Stationschef Milton Bearden wurden die Rosenholz-Dateien nicht bei der Erstürmung des MfS am 15.1.1990 erbeutet. Erst auf Anweisung des US-Präsidenten George H. W. Bush wurde der Chef das CIA-Büros in Berlin mit der Beschaffung beauftragt. Nach langwierigen Verhandlungen wurden die Daten 2003 der Bundesrepublik übergeben. Der Name „Rosenholz“ rührte von der Bezeichnung, unter der die CIA auf die Herausgabe der Datenträger drängte. Siehe dazu: Helmut Müller-Enbergs, Sabine Fiebig, Günter Finck, Georg Herbstritt, Stephan Konopatzky, Rosenholz. Eine Quellenkritik, 2. Auflage, Berlin 2007. Siehe https://www.bstu.de/assets/bstu/de/Publikationen/BFi28_MuellerEnbergs_Rosenholz.pdf. Weitere Informationen https://www.bstu.de/informationen-zur-
295 den USA auftauchte … Sie wurde mit ziemlicher Sicherheit bei der spontanen Erstürmung der Stasizentrale in der Normannenstraße entwendet. Krenz, Modrow und de Maizière unterschrieben ebenfalls diesen Aufruf „Für unser Land“ … Dass Krenz unterschrieben hatte, hat dieser Initiative leider nicht gutgetan. Man sah seine Unterschrift als Siegel der „Ewiggestrigen“ an. Man nahm ihm nicht ab, dass er im Sinne dieses Aufrufs „Für unser Land“ der Richtige ist. Das war bei Modrow und de Maizière eben anders. Die Bürgerrechtsbewegung hatte mit Stefan Heym, Friedrich Schorlemmer, 117 u. a. verschiedene Anführer. Sie sind sich treu geblieben. Andere schauten nur nach dem nächstbesten Job im neuen System und vergaßen, wofür sie ursprünglich stritten. Vergessen war bald die richtige Forderung der christlichen Friedensbewegung in der DDR: „Macht Schwerter zu Flugscharen!“ 118 Diese enttäuschte Hoffnung beobachtete ich bei meinem Freund Walter Romberg, ein Aktivist der Friedensbewegung der Evangelischen Kirchenleitung in der DDR. Wir trafen uns später häufig nach unserer aktiven Zeit. Dabei sprachen wir über das Abdriften der Politik in den 90er Jahren, den Ausverkauf im Osten, die NATO-Osterweiterung, die Zukunft Europas sowie die versäumten Chancen der deutschen Einheit. Andere Leute aus der Bürgerbewegung nahmen das locker. Sie haben sich schlicht angepasst und erhielten hohen Lohn. Machen Sie sich die Mühe, näher hinzuschauen, wie einige rasch in ihre neuen Rollen schlüpften. Gut in Erinnerung ist, wie einige am „Runden Tisch“ und in der Presse sich für eine bessere DDR artikulierten sowie den Aufruf „Für unser Land“, worüber wir bereits sprachen, mitunterschrieben. Wenn Sie allerdings diese Personen heute hören oder darüber lesen, wie sie den „Unrechtsstaat DDR“ verteufeln, obwohl sie eine gute Ausbildung, ein Studium mit Stipendium absolviert hatten, einen erfolgreichen beruflichen Aufstieg genossen usw., dann zeugt das meiner Meinung nach von einem bedenklichen Grad Charakterlosigkeit. War die Umbenennung und der Versuch der Reformierung des „Ministeriums für Staatssicherheit“ (MfS) in das „Amt für Nationale Sicherheit“ (AfNS) ein Fehler? Unter dem Aspekt der Sicherheit sowie der inneren Ordnung war es kein Fehler! Dieses richtige Motiv dieser Entscheidung war aber nicht öffentlich vermittelbar. Das MfS mit seinen Bediensteten war in der Bürgerbewegung und durch die Einsätze bei den Demonstrationen – ohne Unterschied – negativ so belastet, dass eine sachliche Diskussion unmöglich war. Die Medien trugen ihren Teil dazu bei. Die „Öffentlichkeit“ wollte die stasi/themen/beitrag/die-rosenholz-dateien/ (letzte Zugriffe 12.12.2020). 117 Daniela Dahn (geboren 1949) war u. a. Mitbegründerin des Demokratischen Aufbruchs (DA) und Mitherausgeberin der Zeitschrift Ossietzky. 118 „Macht Schwerter zu Flugscharen“ wurde ab 1980 das Zitat zum Symbol der Opposition und Friedensbewegung in der DDR.
296 totale Auflösung des MfS. Das wurde das „wichtigste Thema“ und dabei lief alles aus dem Ruder, wie die „Erstürmung“ des MfS in der Normannenstraße am 15. Januar 1990 zeigte. Bis heute wird gerätselt, durch wen und wie die gewaltsame Öffnung bewirkt worden war. Dabei sind – wie bereits erwähnt – wichtige Dateien verschwunden. Hans Modrow ist aus der Sitzung des Ministerrates dorthin geeilt und mahnte von einem LKW aus zur Ruhe. Auch die dort anwesende Bürgerrechtlerin, Bärbel Bohley, wurde ausgepfiffen. Sie konnte die Gewalt nicht aufhalten. Ich denke, Hans Modrow und seine Regierung versuchten, in dieser Sache vernünftig zu handeln. Ich bin Zeitzeuge. Unser Haus schickte einen unserer besten Abteilungsleiter in dieses „Komitee zur Auflösung des MfS“, das war im Januar 1990. Im März wurde er dort herausgedrängt, mit Vorwürfen und sogar einem „E-Verfahren“ bedroht. Meines Erachtens alles politisches Kalkül. Inzwischen nachlesbar, wer sich dabei wie „verdient“ gemacht hatte. Letzte Anmerkung: Die Staatssicherheit hatte von der Volkspolizei bestimmte Ressorts der Verbrechensbekämpfung mit einer besonderen Schwere übernommen. Diese erfahrenen Kriminalisten hätte das Land gerade in dieser Zeit gebraucht. Abgesehen davon, dass viele Angehörige der Staatssicherheit ehrliche sowie tüchtige Kerle waren, die engagiert der Sicherheit unseres Staates dienten. Sie alle wurden, ohne Unterschied und ohne Prüfung der Fakten, pauschal kriminalisiert. Das ist nicht rechtsstaatlich abgelaufen. Um uns herum gab es Geheimdienste aller Couleur, allein in Westberlin mehrere Dutzende. Aber wir sollten das Recht nicht haben, uns mit einem speziellen Schutzorgan zu sichern. Im Dezember 1989 war Modrow Ministerpräsident und Gregor Gysi wurde zum Parteivorsitzenden gewählt. Gysi reformierte die SED, erst in die SED-PDS und ab Februar 1990 dann in die PDS, die bei den Volkskammerwahlen am 18. März 1990 antrat. U. a. rettete Gysi den Fortbestand der damaligen SED und stoppte den Mitgliederschwund. Viele waren bis zum Dezember 1989 aus der Partei ausgetreten. Sie ebenfalls. Dann stellten Mitglieder einen Antrag auf Parteiauflösung auf dem Parteitag. Modrow erkannte diese Gefahr, riss das Ruder herum und beschwor die Mitglieder auf Parteiloyalität. Sie wurde nicht aufgelöst! Das war Modrows Verdienst. Das war sein entscheidender Parteierfolg im Dezember 1989. Bis heute existiert die Partei „Die Linke“ im Bundestag und in ostdeutschen Landtagen. Ist Modrow deshalb der „Partei-Retter“ der Stunde gewesen? Ach, ums Retten ging es gar nicht. Man hätte, wie viele Genossen das auch wollten, eine neue Partei gründen können. Ich war auf diesem Parteitag im Dezember 1989 und erlebte die Redner. Es war eine kunterbunte Debatte darüber, was man tun sollte, programmatisch und organisatorisch erfrischend, aber ziemlich anarchisch. Kein Wunder, denn es hatte sich viel aufgestaut. Es gab die verschiedensten Vorschläge für eine neue Partei, die gewissermaßen die historische Last der alten SED nicht mehr tragen muss. Ich war dort nicht als Delegierter mit Mandat, nahm also nicht an den Beratungsgruppen teil
297 und war nicht die ganze Zeit vor Ort. Was ich über die letztliche Entscheidung der Namensänderung weiß, ist, dass es wohl insbesondere um die Frage des Parteivermögens ging. Eine Auflösung der SED hätte die Vermögensauflösung bedeutet. Die SED hatte ein großes Vermögen in den mehr als 40 Jahren angesammelt. 119 Wenn man eine Partei auflöst, muss man entscheiden, was konkret mit dem Vermögen geschieht. Das bestand aus Verwaltungsgebäuden, Zeitungen, Ferienheimen und Geldbeständen im In- und Ausland usw. Ich hatte nie die Möglichkeit nur einen winzigen Blick in das Vermögen oder die Finanzen der Partei zu werfen. Das war eine abgeschirmte Sache von wenigen Vertrauten. Nun kam ein Anwalt – Gregor Gysi – als neuer Mann an der Spitze. Er sah diesen Prozess einer bevorstehenden Auflösung oder Neugründung aus seiner Sicht. Ich nahm ab und zu an Beratungen zu diesem Thema teil. Es ging dabei um die Rechtsnachfolge sowie um Spielräume über den Verbleib oder eine Verteilung des Vermögens bei Auflösung und Neuanfang. Genossen des Parteiapparates, die mich seit meiner langen Arbeit kannten, fragten mich um Rat. Aber ich zog mich bald zurück. Ich war bereits aus der Partei ausgetreten, nicht formell, sondern faktisch mit Auflösung meiner Parteigruppe im Ministerium. Das war im Dezember 1989. Da teilte mir mein Parteisekretär kurz und sachlich mit: Unsere Parteiorganisation im Ministerium der Finanzen löst sich auf! Eine Woche zuvor gab er mir noch „kluge Hinweise“ auf den Weg. Ich war überrascht und wütend über diese würdelose Kapitulation. Mein Genosse, Hans Neumann, unser Parteisekretär im Ministerium, Jahrgang 1930, erlebte meinen Frust: „Seid ihr denn wahnsinnig? Unsere Partei, in die wir so viel Kraft investierten, macht jetzt so einfach Ladenschluss?“ Das war in diesem Moment unsachlich, denn er war nur der Überbringer der schlechten Nachricht. Das war ein Trauerspiel. Das große und unfehlbare ZK mit seinem Apparat vieler tüchtiger Genossen schmiss einfach hin. Das traf viele Genossen, die seit ihrer Jugend dabei waren, ins Herz. Sie gaben ihre Parteidokumente ab. Aber es war auch die bittere Konsequenz der von mir „in Disziplin“ geduldeten Untätigkeit und Unfähigkeit der Parteiführung, die seit mehr als einem Jahr taub und sprachlos die Abwärtslinie unseres Zusammenhalts hinnahm. Wann genau? Das war um den 10. Dezember 1989. Dieser Beschluss wurde von der Volkskammer am 6. Dezember gefasst. Die führende Rolle der Partei wurde aus der Verfassung der DDR gestrichen. Die Initiative ging von Abgeordneten der Blockparteien aus. Auch in den Massenprotesten gab es diese Forderung. Was bedeutet das? Ursprünglich war diese „führende Rolle“ ideologisch sowie programmatisch gemeint. Die sozialistische Partei gibt im „Arbeiter- und Bauernstaat“ die Richtung an. 120 Das war nach dem Krieg gut sowie mehrheitsfähig. Aber bald wurde daraus Die SED wurde am 21.4.1946 in Berlin gegründet. Zur Vertiefung: Zeithistoriker Jens Schöne, Die DDR: Eine Geschichte des Arbeiter- und Bauernstaates, Berlin 2020.
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298 eine „Meinungshoheit“. Das hatte Folgen. Es wurde zunehmend dekretiert statt zugehört. Insbesondere in den frühen Jahren war es richtig und notwendig, klare Ziele zu setzen sowie schnell Aufgaben in der Wirtschaft und in der Bildung anzupacken. Den richtigen Ansatz gab das Programm unserer Partei, eine für alle an Gemeinwohl orientierte Wirtschaft, Bildung und Kultur. Mehrere tausend junger Leute – ebenso Frauen – aus den Arbeiter- und Bauernfamilien fanden nach dem Krieg den Weg ins Studium. Lesen Sie Hermann Kants „Die Aula“. Die Förderung, insbesondere über die ABF, 121 war großartig. Betrachten Sie das anhand der Persönlichkeiten in unseren Universitäten und den Betrieben. Ohne die führende und organisierende Rolle der Partei hätte es nicht funktioniert. Vergleichen Sie das mit der BRD der Nachkriegszeit. So sind die Aufbauleistungen im ärmeren Osten trotz größerer Kriegsfolgen, Reparationen und Embargo zustande gekommen. Aber „die führende Rolle“ darf nicht als Maulkorb oder zum Kommandieren missbraucht werden. „Die führende Rolle“ der Partei wurde durch Menschen vermittelt, eben erfolgreich, d. h. fördernd oder auch nicht. Ich war ein Teil dieses politischen Systems. Wie ich haben viele andere Akteure diese politische Verantwortung und Rolle mit Vernunft ausgefüllt. Aber die politische Kultur hat sich leider am Ende immer mehr verschlechtert. Dafür kann man Gründe anführen, wie beispielsweise die Qualität der Führung an der Spitze, der Führungsnachwuchs in den örtlichen Parteiorganen oder das penetrante Einmischen des MfS. Wir haben uns selbst geschadet, was wahrgenommen, aber nicht verändert wurde. Praktisch verlief das sehr unterschiedlich und hing von Personen ab. Konkret von deren Charakter, Bildungsniveau sowie Karriereinteresse. Es konnte sehr massiv sein, wie die „führende Rolle der Partei“ im kommunalen Leben ausgespielt wurde. Das führte zur Verärgerung und eben Vertrauensverlust. Obwohl sich die sozialen Verhältnisse, Wohnungen, sicherer Arbeitsplatz, Kita, Poliklinik auch in den 1980er Jahren im Allgemeinen verbessert hatten, gab es zunehmend Probleme: Versorgung mit Nahrungsmitteln, Verfall der Altbauten, Infrastrukturprogramme fehlten, wenige Telefonanschlüsse usw. Zurück zur Entscheidung in der Volkskammer Dezember ´89: Sie kam eben zu einem Zeitpunkt, wo die Partei längst ihren Zusammenhalt verloren hatte. Deshalb diese Kraftlosigkeit und faktische Selbstauflösung. Ich hätte wenigstens eine Mitgliederversammlung erwartet, wo man den Beschluss und seine Folgen bekannt gab. Die ideologische Substanz, die Autorität und die Kader unserer einst geachteten Partei waren verschlissen. Im sogenannten „Großen Haus“, dem Gebäude des Zentralkomitees (ZK), früher die Deutsche Bank und heute das Auswärtige Amt, ging es zu wie in einem Taubenschlag. Es war wie bei einem verschleppten Konkurs. So kam es zu massenhaften Austritten in nur wenigen Wochen. Bei einem Betriebsbesuch in Marzahn warfen Genossen ihre Parteidokumente Egon Krenz vor die Füße. Die SED hatte ihre Würde sowie ihren Glauben verloren.
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ABF meint Arbeiter- und Bauernfakultät an den Hochschulen.
299 Sie wechselten nicht in eine Blockpartei bzw. in die neu gegründete SDP? 122 Sie sind bis heute parteilos geblieben? Ja, ich bin doch kein Farbenwechsler. Es wechselten aber andere Genossen … Ja, aber nur wenige! Die SPD sperrte sich damals gegen eine Aufnahme der SED-Genossen, sie nahm nur wenige auf. Das hat sie später bereut. Denn so mancher Kader der PDS hätte der SPD gutgetan. Ganz wenige sind wohl zur CDU gewechselt. Die Mehrheit meiner Freunde hat wie ich nie wieder einer Partei angehört. Viele von uns sind in der Gesellschaft für Bürgerrecht und Menschenwürde tätig. Ilse Siegert: Ich habe mich auch so entschieden. Es machte keine Freude mehr zu hören, wie selbst in der Gruppe der PDS hier im Wohngebiet über unsere DDR geredet wurde, wie man Genossen beschimpfte, ihre früheren Funktionen anprangerte. Das war nicht mehr die Gemeinschaft, in der man sich wohl fühlte. Walter Siegert: Also ich war kein Mitglied mehr, wurde allerdings in Beratungen einbezogen. Dort waren für mich schwer einschätzbare sowie juristische Erwägungen im Spiel. Gregor Gysi befragte mich in einer stillen Stunde zu verschiedenen Dingen, wie ich denn „dies oder jenes“ sehen würde. Das war im Januar/Februar 1990. Es wurde ein Schatzmeister gesucht, aber dafür stand ich nicht zur Verfügung. Ilse Siegert: Anfangs ging das so weit, dass man die Forderung erhob, die Parteibeiträge an die ehemaligen Mitglieder zurück zu bezahlen. Das ist sogar irgendwo erfolgt. Es wären viele tausend Mark gewesen. Denn der Mitgliedsbeitrag war erheblich und betrug in etwa 3 bis 4 % im Monat vom Bruttogehalt. Walter Siegert: Ich entzog mich den Versuchen, mich in solche Debatten einbinden zu lassen. Es gab z. B. die Idee eines Genossen im Apparat des ZK, aus den Geldern der Partei allen Rentnern vor der Wahl am 18. März 1990 einhundert Mark zu überweisen. In unserem Haus war das sofort für einige „ganz Schlaue“ ein Thema. Ich warnte vor solchen Tricks und rief Genossen aus dem Umfeld von Gysi an. Gott sei Dank fiel das durch. Eindeutig eine Aufmerksamkeit, um die Wahlstimme zu erkaufen? Ja, als gutgemeinte Geste der Partei an die Bürger, wobei der letzte Rest an Reputation weg gewesen wäre. Es war kurios, was in den Köpfen herumspukte. In Bezug auf die Parteigelder unternahm die PDS eine Reihe von Aktionen, die total schief gingen. Sie versuchten, Gelder in die Sowjetunion zu transferieren oder in den Westen. Das führte dazu, dass der gerade neu eingesetzte Schatzmeister, ein untadeliger Mann, Magdeburg SDP wurde am 7.10.1989 gegründet, ab 1990 hieß sie dann SPD (Ost) und vereinigte sich mit der SPD (West) am 26.9.1990. 122
300 Wolfgang Pohl 123 und später Gerd Pelikan 124, ich kannte beide gut, in die missliche Lage kam, in diese Aktion einbezogen zu werden und sie wurden juristisch zur Verantwortung gezogen. Sie fragten mich, warum diese Kontinuität? Es spielte der Wunsch eine Rolle, eben zu retten, was noch zu retten war. Das war der ganze Hintergrund. Das ist sicher verständlich. Jede andere Partei würde das ebenso versuchen. Die SED/PDS stand ab dem Jahr 1990 unter schärfster Beobachtung und hatte keinerlei Freunde mehr im neuen Staat. Mitte 1990 wurde das SED-Parteivermögen, das FDGB-Vermögen sowie das Vermögen anderer gesellschaftlicher Organisationen der DDR einer bei der Treuhand angegliederten „Unabhängigen Kommission zur Überprüfung des Vermögens der Parteien und Massenorganisationen der DDR“ (UKPV) 125 zur Prüfung anvertraut. Nach meiner Erinnerung ist der größte Teil enteignet worden. Teile davon sind den neuen Bundesländern zugefallen. Kurzum, die Überlegungen bzw. Versuche, das Vermögen für die künftige Arbeit einer neuen sozialistischen Partei zu retten, sind zu keinem guten Ergebnis gekommen. Hingegen haben die DDR-CDU und die DDR-Bauernpartei – beide schlossen sich mit der CDU-West zusammen – ihr Vermögen in die CDU-West „integriert“. Mit Verlaub: So unterschiedlich kann „Recht“ sein. Zu Hans Modrow: Sie erlebten ihn hautnah und erhielten somit Einblicke bzw. einen Überblick über seine Herausforderungen, seine Aufgaben und Tätigkeiten, seinen Einfluss, sahen seine Erfolge und Misserfolge. War Modrow für Sie während seiner Regierungszeit mehr ein Partei- oder Staatspolitiker? Hans war Ministerpräsident mit einem enormen Einsatz, Führungsfähigkeiten sowie vielseitigem Wissen. Sein Staatsamt als Ministerpräsident für alle Bürger stand immer auf Platz 1, natürlich ausgefüllt mit seiner politischen Überzeugung. Nachhaltig habe ich von Hans aus dieser turbulenten Zeit sehr gute Erinnerungen. Hans Modrow führte unsere Regierung mit Engagement, Klugheit und Anstand. Das war vom ersten bis zum letzten Tag so. Es gab eine Debatte und dann eine klare Linie. Anders wäre das enorme Pensum nicht bewältigt worden. Hans ließ uns arbeiten und da, wo wir Hilfe brauchten, gab er uns Rat. Er war der Erste unter Gleichen, egal, zu welcher Partei der Minister oder Staatssekretär gehörte. So waren auch seine Stellvertreter aus CDU, LDPD und NDPD gleich geachtete Partner. Wolfgang Pohl (geboren 1940) war u. a. in der Zeit von 1978 bis 1989 Erster Sekretär der SEDStadtbezirksleitung Magdeburg-Nord. In der Zeit von März bis Oktober 1990 für die PDS Abgeordneter des DDR-Parlaments. Im Zusammenhang mit dem Putnik-Deal trat Pohl im Oktober 1990 von allen Ämtern zurück. 124 „Dr. Gerd Pelikan war etwa 3 Jahre in meinem Büro als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig. 1986 wurde er Mitarbeiter der Abteilung Planung und Finanzen des ZK der SED.“ Dürkop und Siegert im Hintergrundgespräch. 125 Die UKPV war in der Zeit vom 1. Juni 1990 bis zum 15. Dezember 2006 für die Ermittlung der Vermögen der Parteien und Massenorganisationen der DDR (PMO) im In- und Ausland zuständig. 123
301 Sein Hauptwohnsitz war damals in Dresden. In Berlin wohnte er im „Hotel Johannishof“ in der Friedrichstraße. Er bestellte uns abends oftmals dorthin, um mit uns den Tag zu besprechen. Sachlich, konzentriert, aber auch mal ein gemeinsames Bier. In dieser beinahe väterlichen Weise ging er mit uns um. Das war ein Gefühl, ein Vertrauen, das uns half, die Herausforderungen zu stemmen. Ich erinnere mich an meine Verabschiedung im März 1990: Er wünschte mir alles Gute. Für mich war nach der Modrow-Regierung „Feierabend“. Ich war arbeitslos, weil ich nicht wie andere, z. B. Christa Luft oder Hans Modrow in der Volkskammer ein Mandat vom Souverän erhielt. Sie wurden am 18. März 1990 für die PDS dort hineingewählt. Also war es für mich das Ende der Amtszeit der Modrow-Regierung, zugleich der letzte Arbeitstag im Finanzministerium, so glaubte ich zunächst. Anfang April 1990 beim Zusammenräumen in meinem Büro, klingelte das Telefon. Ein Anruf von Lothar de Maizière. Er fragte, was ich zukünftig plane. Ich antwortete: „Nichts!“ Da bat er mich freundlich weiterzumachen, denn meine Erfahrung würde gebraucht werden. Es war ein gutes Angebot, wenn allerdings mit Fragezeichen, denn wer wusste schon, wie die neuen politischen Kräfte agieren würden. Ein paar Tage später, an einem späten Sonntagabend, stand Walter Romberg vor unserer Tür. Er hatte telefonisch, etwa um 23 Uhr, um dieses persönliche Gespräch gebeten und es sei dringend. Walter Romberg hatte oft etwas Pathetisches in seinen Worten. Erst recht an diesem Abend. Offensichtlich sehr bewegt, sagte er: „Ich hatte damit gerechnet, das war in unserer Partei so abgesprochen, dass ich als Außenminister in der Koalitionsregierung fungiere. Da ist mir aber Markus Meckel zuvorgekommen.“ Meckel war Pfarrer sowie Mitbegründer der SDP (Ost-SPD) am 7. Oktober 1989. Romberg war vermutlich der Einzige, dem man die Position Finanzminister für die SPD zutraute. Das hatte insofern Realitätsgehalt, als Romberg bei den im Februar begonnenen Verhandlungen zur Währungsunion als Sprecher der DDR-Seite wirkte. Er war als „Minister ohne Geschäftsbereich“ in die „Regierung der nationalen Verantwortung“ von Ministerpräsident Modrow Anfang Februar eingetreten. Zurück zu diesem Abend im April 1990: Romberg meinte weiter: „Ich würde diese Aufgabe in der neuen Regierung übernehmen, aber nur mit Ihnen an meiner Seite! Sind Sie bereit, meinen Vorschlag anzunehmen?“ Diese Frage wurde von Herrn Romberg faktisch an uns beide, meine Frau und mich, herangetragen. Wir schauten uns kurz an. Was geht einem nach diesen Monaten des auszehrenden Versuchens und Hoffens durch den Kopf? Eigentlich war ich nicht wild auf weitere Kapriolen. Meine liebe und gute Frau nickte mir aufmunternd zu. Ich willigte ein. Walter Romberg war sichtlich erleichtert. Diese Entscheidung bereute ich nie. Mit Walter Romberg arbeitete ich zusammen, bis er von Lothar de Maizière entlassen wurde, was leider am 16. August 1990 geschah. Ja, meine Frau hat mir immer zur Seite gestanden. Sie musste oftmals auf meine Hilfe oder ein gemeinsames Wochenende verzichten. So extrem war es in den folgenden Monaten in dieser Regierungszeit im Jahr 1990. Ich kann es gar nicht wieder gutmachen.
302 Sie wurden unter Romberg kein Parlamentarischer Staatssekretär, sondern Dieter Rudorf. Warum? Nein, ich war, wie man im BMF sagen würde, ein beamteter Staatssekretär. Rudorf wurde von der SPD als Parlamentarischer Staatssekretär ins Rennen geschickt. Er war die Ausnahme! Das geschah wohl auch auf Wunsch von Herrn Rudorf. Die CDU schickte den Staatssekretär Werner Skowron in unser Haus. Er war vorher in einem Berliner Stadtbezirk der Finanzchef, also ein ausgewiesener Fachmann gewesen. Er war also faktisch „beamtet“ wie ich. Wir hatten außerdem mit Martin Maaßen einen Staatssekretär aus der LDPD 126. Er war seit 1982 in unserem Haus als Stellvertreter des Ministers für den Bereich Steuern und Abgaben tätig. Ein sehr erfahrener Fachmann und lieber Kollege. Das „Ministerium der Finanzen der DDR“ (MdF) hatte ab der „de Maizière-Regierung“ vier Staatssekretäre und davon einen parlamentarischen Vertreter, den das Parlament, also die Volkskammer, nominiert hatte. Für Sie war diese Position obsolet … Ja, das kam für mich gar nicht in Frage. Ich war doch nicht im Parlament, somit kann mich das Parlament auch nicht ins Finanzministerium schicken. Als parlamentarischer Vertreter kam Dieter Rudolf. Er war Dozent von der Bergakademie in Freiberg und zählte sich zu den Bürgerrechtlern. Rudorf war sehr auf Stellung und Reputation bedacht. Gemeinsam mit Beratern, die uns die SPD aus Bonn ins Haus geschickt hatte, versuchte er sich, in die Arbeit einzumischen. Hans Modrow trat erstmalig am 15. Januar 1990 am „Zentralen Runden Tisch“ auf. Auf Einladung Modrows erschienen am 22. Januar Egon Krenz und Wolfgang Herger zu einer Anhörung der 9. Sitzung vom ZRT. Zu diesem Zeitpunkt war Krenz bereits nicht mehr in Funktion sowie einen Tag zuvor aus der Partei ausgeschlossen worden. An diesem Tag verlas er eine Erklärung. Sinngemäß wäre das MfS ein „Staat im Staate“ gewesen – so transportierten es die Medien weiter. Konkret ausgesprochen hat es Krenz aber nicht. Wie sehen Sie diese Problematik? 127 Mit dem „Staat im Staate“, das ist leider wahr. Dabei war ich nicht und das hörte ich auch nie von ihm. Aber natürlich war das so, ein Sicherheitsapparat, der unter Mielkes Kommando machte, was dieser wollte. Mielke hatte sein Handwerk in Moskau gelernt und bekam von dort immer Unterstützung. Das ist eine lange Geschichte. Ich kann Ihnen mit einem Buch über „Mielkes Weg“ 128 weiterhelfen. Aber das ist mit Geheimdiensten wohl so. Der CIA 129 kann alles, wie man im TV erfährt, Die Blockpartei LDPD war die Liberaldemokratische Partei der DDR. Abdruck von Krenz/Herger in: Gehler/Dürkop, Deutsche Einigung, Ebd. 128 Wolfgang Kießling, Leistner ist Mielke: Schatten einer gefälschten Biographie, Berlin 1998. 129 CIA (Central Intelligence Agency) ist der Auslandsgeheimdienst der Vereinigten Staaten von Amerika. 126 127
303 denken Sie nur daran, was über den BND im Zusammenhang mit dem NSU-Prozess 130 bekannt wurde, an V-Leuten, Tricks und Vertuschungen. Abschaffen wäre die einzige Lösung. Brauchen wir das? Eine gute Polizei reicht doch für die Sicherheit im Lande aus. Jetzt möchte ich mit Ihnen über die Ereignisse im Februar 1990 sprechen: Kohl und Waigel verwehrten Modrow und seiner Delegation einen 15 Milliarden „DM-Solidarbeitrag“. Die Währungsunion wurde in Form von Verhandlungen in Aussicht gestellt. Wie ging es weiter? Modrow rief mich an und erteilte mir den Auftrag zur Vorbereitung. Gemeinsam mit dem Staatsbankpräsidenten Horst Kaminsky 131 erarbeiteten wir mit Experten ein Konzept für den Auftakt der Währungsunion. Das war so üblich in der DDR. Man setzte sich ohne irgendwelche Eitelkeiten zusammen und überlegte, was zu tun sei, einfach unter dem Aspekt: Was konkret hilft der Sache? Was war vom „Zentralen Runden Tisch“ zu erwarten und im Konzept enthalten? Gar nichts. Wen hätten wir dort ansprechen sollen? Zu dieser Zeit saßen neun vom Runden Tisch auserkorene Männer als Minister ohne Geschäftsbereich im Ministerrat. 132 Dort wurde natürlich unser Konzept für die ersten Verhandlungen als Vorlage behandelt. Der Kern der Sache war ein akzeptables Umtauschverhältnis und soziale Aspekte, wie z. B. der Erhalt der Spareinlagen. Wir wollten diese Chance für einen politischen Gewinn nutzen. So war das Papier angelegt. Unsere Mark floss mit den Übersiedlern massenhaft ab. In Westberlin war die Ost-Mark im Verhältnis bei „1 zu 10“. Der Auftakt war erst einmal ein „Präludium“; man formulierte Positionen und wurde noch nicht konkret. Wir fixierten von vornherein unsere sozialen Eckpunkte, dort lag unser Risiko. Einen Tag vor Beginn der Gespräche war das Bundesfinanzministerium am Telefon, Horst Köhler wollte mich sprechen. Er war sehr verbindlich, als ob wir uns bereits aus früheren Begegnungen kannten. Es ging ihm um eine Bitte, die er an mich herantrug: Er hätte wenig Kenntnis über die Finanzen der DDR und über die Formalien, ob wir uns nicht nach der offiziellen Runde zusammensetzen könnten. Er würde zwei Abteilungsleiter mitbringen. War Thilo Sarrazin ebenfalls dabei? 133 130 Der NSU-Prozess ist das Strafverfahren gegen fünf Personen, die angeklagt waren, an den Taten der rechtsextremen Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund beteiligt gewesen zu sein. 131 Horst Kaminsky (1927–2019) (SED) war u. a. in der Zeit von 1974 bis 1990 Präsident der Staatsbank der DDR. 132 Hinweis: Es waren acht Minister, weil die Vereinigte Linke (VL) den Platz nicht besetzte. 133 Thilo Sarrazin (geboren 1945) war u. a. in der Zeit von 1989 bis 1990 das Referat Innerdeutsche Beziehungen für die Vorbereitungen zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion. In der Zeit von 1990 bis 1991 war er für die Treuhandanstalt tätig. In der Zeit von 2002 bis 2009 war er Berliner Senator für Finanzen. In der Zeit von 2009 bis 2010 war er Vorstandsmitglied der Deutschen
304 Bei dieser ersten Runde nicht. Wir trafen uns im Haus des Ministerrates der DDR in der Klosterstraße. Das ist der großartige monumentale Bau links vom Roten Rathaus, errichtet um 1900 zur Entlastung dieses Rathauses. Das sogenannte „Alte Stadthaus“ dient heute wieder der Berliner Verwaltung. Im Ministerrat der DDR fand die erste Sitzung der Verhandlungsrunde statt. Der Leiter der BRD-Delegation war der Finanzstaatssekretär Dr. Horst Köhler. Seine Begleiter waren Spitzenbeamte aus der Bundesbank, dem Wirtschaftsministerium und aus dem Sozialministerium. Unsere Delegation leitete Walter Romberg, was von Modrow festgelegt war. Romberg, ein Minister ohne Portefeuille und vom Runden Tisch. Also eben eine der neun Persönlichkeiten, die auf diese Weise in Mitsprache und Verantwortung gerückt werden sollten, um den Runden Tisch in die Regierung einzubinden. Romberg übernahm diese Aufgabe mit Eifer, doch es fiel ihm sichtbar schwer. Er kannte sich in den Währungsfragen nicht aus. Währung, Finanzen waren für ihn, den Mathematiker und Forscher weit entfernt. Er war in der Akademie der Wissenschaften der DDR, der Abteilungsleiter für theoretische Mathematik. Die erste Runde verlief mit dem Vortrag der Statements. Walter Romberg stützte sich auf unser Material, Köhler tat das Seine. Er ließ erkennen, dass diese Geste der BRD großzügig gedacht sei, aber keinesfalls ohne marktwirtschaftliche Reformen zu bekommen sein wird. Schon beim ersten Auftritt verhakten sich Romberg und Köhler im Disput. Es ging nach meiner Erinnerung um Rombergs tief verwurzelten Sinn für Gerechtigkeit sowie Soziales, das er gewahrt sehen wollte. Köhler fühlte sich als „Herold des Rechtstaates“ und Überbringer einer guten Botschaft für die nach der DMark sich sehnenden DDR-Bevölkerung. Insgesamt war der Ton aber auf gegenseitiges Verstehen angelegt. Die erste Runde verlief als formaler Akt. Details sollten vierzehn Tage später besprochen werden. Anschließend kam der Vier-Augen-Part mit Köhler. Es ging ins Eingemachte. Köhler wollte neben den strukturellen Fragen vor allem Antworten auf die Haushaltslage. Die Staatsfinanzen sind überall geheimste Verschlusssache. Nun stand ich plötzlich vor der Frage, die innere Struktur unseres Staatshaushaltes, einschließlich Armee und Staatssicherheit, Polizei, auf den Tisch legen zu müssen. Normalerweise hat ein Staatssekretär und amtierender Minister noch „Ebenen“ über sich, die er fragen muss. Ich hatte zu dieser Zeit niemanden mehr, den ich fragen musste. Es gab keine Hierarchie mehr. Ich musste also selbst entscheiden, was ich im Interesse der Sache an Informationen übermittele. Rahmen und Ziele waren konzeptionell vom Ministerpräsidenten Modrow bestätigt. Nun hatten wir zu handeln. Ministerpräsident Modrow war bei dem Gespräch nicht dabei, oder? Wann fand das Gespräch statt? Es war am 20. Februar 1990. Nein, Hans Modrow war nicht dabei. Nur Finanz- und Bankleute beider Seiten. Im Hinblick auf die Stabilität der DDR, ihrer Finanzen usw. Bundesbank.
305 betonte Dr. Köhler, dass sie unsere Lage gar nicht kennen. Deshalb sollten wir über Details sprechen. Köhler hatte zwei ranghohe Beamte dabei: Dr. Manfred Overhaus, den Leiter der Abteilung Bundeshaushalt, 134 und Dr. Klein, er war Abteilungsleiter Steuern im BMF. Das zeigte – man nahm uns und die Sache sehr ernst. Bei diesen Gesprächen war in der Regel der Direktor unseres Forschungsinstitutes, Prof. Dr. Wolfgang Lebig 135, mein bester Berater und Begleiter. Ein erfahrener Fachmann, ein guter Kommunikator sowie ein herzlicher Weggefährte. Leider schon im Jahr 1995 früh verstorben. Mit ihm verstand ich mich blind. Wir hatten uns eine Strategie zurechtgelegt, die zum Inhalt hatte „vorbehaltlos informieren“, um Vertrauen zu gewinnen. Jede Zurückhaltung oder Trickserei konnte der Sache schaden. Ich erläuterte Köhler und seinen Begleitern zunächst eine Reihe von Formalien und Strukturen. Danach kamen die „Gretchenfragen“ zum Stand unseres Haushaltes sowie der Wirtschaft. Es war ein vorbehaltloses Gespräch und wir konnten deutlich machen, dass wir zwar durch die wirtschaftlichen Störungen Probleme mit den Einnahmen haben, Kassenkredite der Staatsbank in Anspruch nahmen, aber eben zahlungsfähig und nicht pleite sind! Die entsprechenden internen Übersichten konnte Köhler damals mit nach Hause nehmen. Das hatte ich mir vorher aufbereiten lassen, sodass also mit diesem Tag das BMF, Minister Theo Waigel, sicher auch bald Kohl und andere wussten, wie der Staatshaushalt der DDR aussah, wie es um die Eckdaten der Zahlungsbilanz stand. Ein gelegentliches späteres Gerede über „nicht bekannte Defizite“ in den DDR-Finanzen habe ich mir dennoch anhören müssen. So wird eben in der Politik gespielt. Die Zahlungsbilanz war die kumulierte Jahresbilanz von 1989? Nein, die Zahlungsbilanz betrifft die Auslandsbeziehungen, Außenhandel, Kredite, Guthaben sowie den Zahlungsverkehr. Am Jahresanfang wurde eine Zahlungsbilanz aufgestellt, sprich mit Einnahmen, Ausgaben in Valuta, mit Bankguthaben und -beständen. Diese musste aber laufend fortgeschrieben werden. Der aktuelle Stand der Zahlungsbilanz war regelmäßig Gegenstand der Beratung einer speziellen Arbeitsgruppe von SPK, 136 MdF und Außenhandelsbank.
134 Manfred Overhaus (1939–2019) war u. a. zuständig für die Abteilungen Bundeshaushalt, Zölle, Verbrauchsteuern, Branntweinmonopol, Bundesliegenschaften, Bundesbeteiligungen sowie den Bereich der Nachfolgeorganisationen der Treuhandanstalt. In der Zeit von 1993 bis 2004 war er Staatssekretär im Bundesfinanzministerium. 135 Wolfgang Lebig war u. a. der Direktor des Finanzökonomischen Forschungsinstitutes beim Ministerium der Finanzen der DDR. 136 SPK (Staatliche Plankommission) war ein zentrales staatliches Organ des Ministerrates der DDR und zuständig für die gesamtstaatliche Planung und Entwicklung der Volkswirtschaft.
306 Dann war es der Stand zum 31. Januar 1990? Wie ging es weiter? Ja, in etwa. Jedenfalls verstanden wir uns im sachlichen Austausch. Köhler nahm es ebenfalls so auf, das bestätigte er mir später in einem Gespräch. Wir pflegen bis heute den Kontakt. Diese Ouvertüre war wirklich gut, das hat erstmal geholfen, mit den Bonner Entscheidungsträgern in einen offenen Dialog zu treten. Beim zweiten Besuch in Bonn trafen wir uns abends informell im Hotel. Ich brauchte Informationen und mehr Hintergrunddaten. Es war für mich ein ganz neues Arbeitsfeld. Damit es zwischen Romberg und Köhler besser verlief, versuchte ich, Köhler zu erklären – er war um vieles jünger als ich –, dass man mit Romberg als „Quereinsteiger“ und ehrlich bemühten Christen sowie Bürgerrechtler doch verständnisvoll umgehen sollte. Köhler war für diese Bitte aufgeschlossen, obwohl er nicht das Empfinden hatte, dass es bisher Misstöne gegeben hätte. Ich hingegen hatte das Gefühl, etwas Gutes getan zu haben. Aber es war wohl auch etwas naiv von mir. Um es vorweg zu nehmen: Während der Periode bis zum Ende der Modrow-Regierung tagten wir nur noch einmal im Plenum. Zwischendurch aber gab es viele Abstimmungen auf Arbeitsebene, u. a. mit Köhler, Dr. Haller, 137 Overhaus, mit Klein und auch Thilo Sarrazin. Sie waren sachlich und offen. Thilo Sarrazin, der als Referatsleiter Währungen im BMF für die konzeptionelle Arbeit verantwortlich war, hat uns sowie mich persönlich in unbürokratischer Weise unterstützt. Natürlich war das kein „kuschliges Verhältnis“. Jeder hatte knallhart seine Interessen zu wahren. Aber kollegial und verbindlich ging es allemal zu. Das hat mich nach alledem, was uns politisch voneinander trennte, schon zu Korrekturen im Denken sowie in den Wertungen veranlasst. Ich erinnere mich: Ich saß eines Sonntagabends mit unseren Leuten und beriet die nächsten Schritte. Ende März fand eine abschließende Sitzung der beiden Verhandlungsdelegationen statt. Ein gemeinsames Abschluss-Kommuniqué, das im Buch von Theo Waigel dokumentiert ist. 138 Wir verabschiedeten uns, denn keiner von uns wusste, wer die Fortsetzung der Verhandlungen tragen würde. Das war eine Entscheidung, die die neue Regierung in Berlin mit Bonn aushandeln musste. Exkurs: Ich hatte nun zum ersten Mal das Agieren eines Bundesministeriums „live“ miterlebt. Das Bundesfinanzministerium hatte damals noch seinen Standort in der alten Kaserne in der Graurheindorfer Straße. Es war alles nobel ausgestattet. Moderne Technik stand zur Verfügung. Im Parterre gab es ein Casino mit Gartenterrasse. Es war vieles anders, aber auch besser? Mein Eindruck war, dass dieser Apparat mit mehr als Tausenden hoch vergüteten Beamten und komfortablen Arbeitsbedingungen nicht besser läuft. In der Art der Arbeitsabläufe verlief alles seinen beamtenmäßigen Gang. Die Akten wurden von Boten zugestellt. Man ging nicht selbst zum nächsten Bearbeiter. Mit unseren Entwürfen und Protokollen hatten wir mit 137 Gert Haller (1944–2010) war er u. a. Ministerialdirektor im BMF, Staatssekretär und leitete in der Zeit von 1993 bis 1995 die Abteilung IX. im Bundesfinanzministerium. In der Zeit 2006 bis 2009 war Haller Chef des Bundespräsidialamtes in Berlin. 138 Zwischenbericht der Expertenkommission vom 13.3.1990, in: Waigel/Schell, Tage, die Deutschland und die Welt veränderten, Ebd., S. 129–134.
307 den uns zugewiesenen Mitarbeiterinnen Pannen, sodass ich beim zweiten Anlauf unsere Sekretärinnen mit nach Bonn nahm. Unsere Frauen hatten wiederum Probleme, sich an die moderne Schreibtechnik zu gewöhnen. Ja, das BMF war eine andere Welt, die uns dennoch unterstützend entgegenkam. Es gab eine Abschlusserklärung über das Besprochene. Diese sowie weitere Arbeitspapiere übergab ich den zuständigen Leuten im Ministerrat. Wie geschildert: Für mich näherte sich mein letzter Arbeitstag. Dann kam diese Szene mit Romberg und zuvor noch der Anruf von de Maizière bei mir. Wir kannten uns aus der Regierungszeit und wohl bereits schon vorher. Er war Anwalt und es gab auch in der DDR Steuervergehen, bei denen Anwälte tätig wurden, die manchmal zu Gesprächen auf unserer Ebene führten. Bitte schildern Sie Ihre Eindrücke sowie Erlebnisse „abermals“ als Staatssekretär in der Regierung „de Maizière“. Der neue Finanzminister Romberg und ich hatten den Vorteil, dass wir schon gemeinsam die erste Phase der Verhandlungen zur Währungsunion bewerkstelligt hatten. Mir kam zugute, dass ich schon 30 Jahre im Finanzministerium Dienst tat. Mit der neuen Regierung veränderte sich in unserem Ministerium personell wenig, inhaltlich aber sehr viel. Wir steuerten auf allen Gebieten strukturelle und inhaltliche Veränderungen an, die ab 1. Juli 1990 Gesetz sein sollten. Details dazu erspare ich mir, ich nenne nur das völlig neue System der Besteuerung der volkseigenen Betriebe: Meine neuen StaatssekretärKollegen hatte ich schon erwähnt. Der Minister traf dementsprechend neue Zuordnungen der Verantwortungsbereiche. Der Staatssekretär, den die CDU nominierte, Werner Skowron, kam aus einem Berliner Stadtbezirk, dort war er Finanzstadtrat. Ein Mann damals um die 50 Jahre alt und ein angenehmer sowie kooperativer Kollege. Er war nun der erste Stellvertreter des Ministers bei Abwesenheit. Der Staatssekretär mit Mandat der LDPD Martin Maaßen hatte seinen Fachbereich Steuern schon seit etwa dem Jahr 1982 als Stellvertreter des Ministers geleitet und war ebenso ein kompetenter Fachmann. Der neue Mann Rudorf war von der SPD nominierter Parlamentarischer Staatssekretär, ein Montanwissenschaftler, von der Bergakademie Freiberg. Er zeigte – wie erwähnt – wenig Lust an der Sache, strebte aber unbedingt einen Platz am Tisch der kommenden Verhandlungen an. Ich versuchte mich auf die neue Lage einzustellen als einer unter Gleichen. Die Verantwortungsbereiche wurden im Haus verändert. Ich gab meine bisherige Zuständigkeit für unseren Datenverarbeitungsbetrieb an Werner Skowron ab. Das war eine wichtige Entlastung für mich. Es handelte sich immerhin um einen Betrieb mit etwa 1 900 Beschäftigten, die in 15 Bezirksstationen den gesamten Datenverkehr aller Finanz- und Bankorgane der DDR, einschließlich der Sparkassen und aller ca. 350 Geldautomaten aus eigener Produktion rund um die Uhr zu bewältigen hatten. Nun wurde ich stärker in die vielen neuen Fragen des Ministers eingebunden. Jede Woche entstanden Berge von Gesetzesvorlagen für den Ministerrat. Beim Minister gab es
308 drei neue Berater. Zwei ehemalige Spitzenbeamte aus dem Bundesfinanzministerium aus der Zeit von Helmut Schmidts SPD, also SPD-Beamte im zeitweiligen Ruhestand. Sehr ehrgeizig, mit Ideen und Plänen ihrer Partei im Kopf, die sie bereits früher schon einmal ausprobiert hatten – mitunter schwierig im Umgang. Ein weiterer Berater des Ministers, ebenfalls aus der SPD, Jürgen Brockhausen 139 hatte in der Bundesbank und im Wirtschaftsministerium des Landes Nordrhein-Westfalens gedient, war sehr kompetent und kooperativ. Von ihm lernte ich sehr viel. Ich selbst bekam Hilfe durch einen Berater aus dem BMF, SPD-Mitglied, mit großer Erfahrung in den Staatsbetrieben der Alt-BRD und ein umgänglicher, stets optimistischer Badenser aus Karlsruhe: Dr. Peter Breitenstein. 140 Er war für mich ein „Allroundman“, der auf Anhieb zu einer Frage in kürzester Frist eine ordentliche Antwort ablieferte und der mir immer mit Rat zur Seite stand. Insbesondere, als die verschiedensten Leute mit mir Kontakt aufnahmen wie Wirtschaftsminister Helmut Haussmann, 141 der Präsident des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes Helmut Geiger 142 und Bankpräsident Hilmar Kopper 143. Breitenstein begleitete mich auch bei meinen Gesprächen mit Detlef Karsten Rohwedder, der etwa im April/Mai 1990 in unserer Treuhandanstalt am Alexanderplatz einzog. Peter Breitenstein verdanke ich viele Ratschläge sowie Warnungen vor Untiefen, die alltäglich im „fremden Terrain“ für mich schwer erkennbar waren. Bitte weiter zum Thema Währungsunion … Die spannende Frage für mich war: Wann beginnen wir mit der Fortsetzung der Verhandlungen über die Währungsunion, deren baldiger Beginn politisch gewünscht war? Insofern gab es eine schwer erklärbare Stille und Untätigkeit in dieser Sache. Warum, sollte ich alsbald erfahren. Etwa am 20. April 1990 rief mich Dr. Lässig 144 aus dem Ministerrat an und lud mich zu einer Besprechung ein. Es sollte um die weiteren Verhandlungen zur Währungsunion gehen. Ich war gespannt, die Zeit drängte, wenn der 1. Juli der „Stapellauf“ sein sollte. Im Haus des Ministerrates in der Klosterstraße fand sich also eine bunte Runde zusammen. Viele neue Leute, nur wenige bekannte Gesichter. Die Runde wurde vom Parlamentarischen Staatssekretär beim Ministerpräsidenten, Prof. Dr. habil. Günther Krause 145, Jürgen Brockhausen im Gespräch S. 553 ff. Peter Breitenstein im Gespräch S. 469 ff. 141 Helmut Haussmann (geboren 1943) war u. a. in der Zeit 1988 bis 1991 Bundesminister für Wirtschaft sowie in der Zeit davor von 1984 bis 1988 Generalsekretär der FDP. 142 Helmut Geiger (1928–2020) (CSU) war u. a. Präsident des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes. 143 Hilmar Kopper (geboren 1935) war u. a. in der Zeit von 1989 bis 1997 Vorstandssprecher der Deutschen Bank. 144 Wolfram Lässig war u. a. Koordinator der Verhandlungen im Ministerrat der DDR. 145 Günther Krause war u. a. Parlamentarischer Staatssekretär beim Ministerpräsidenten der DDR, Lothar de Maizière. 139 140
309 geleitet. Er machte uns mit den neuen Leuten bekannt, zu denen u. a. auch Thomas de Maizière gehörte, ein Cousin von Lothar de Maizière. In dieser ersten Sitzung vermittelte uns Krause das Prozedere der weiteren Beratungen zur Währungsunion. Die Grundlage sei ein Entwurf, der von Bonn erarbeitet worden war und alles Notwendige beinhalte. Der umfangreiche Ordner lag nun auf dem Tisch. Die Vorgeschichte der Verhandlungen zwischen Köhler und Romberg spielte in seinen Ausführungen de facto keine Rolle mehr. Dass ich diese Kontinuität erwartete, war sachlich gedacht, aber politisch völlig naiv. Ich hatte zu dieser Zeit noch gewisse Illusionen: „Warum sollte man nicht dort weitermachen, wo man aufgehört hatte?“ Unser gemeinsamer Zwischenbericht aus der ersten Runde vom 13. März 1990, nachlesbar in dem Waigel-Buch „Tage, die Deutschland und die Welt veränderten“, hatte Substanz. Warum spielte er weder dort noch später eine Rolle? Ehrlicherweise hatte ich Schwierigkeiten, diesen Bruch und seine Gründe zu realisieren, weil ich mich selbst fragte: Mehrere Wochen seriöse Gespräche mit einem „einvernehmlich abgeschlossenen Zwischenbericht“, so der O-Ton von Köhler und jetzt ein ganz neues Szenario. Meine Ernüchterung: Ich hatte nicht verstanden, dass man einen mit Fachleuten aus der Regierung Modrow produzierten Text nun auf keinen Fall mehr weiterverwenden wollte und schon gar nicht als „Entrée“ für den folgenden großen Wurf. Das hätte Kontinuität bedeutet! Es war politisch und in der Sache nicht gewollt, dort ging man nun ganz anders vor. In dieser Runde stellte ich natürlich keine Fragen mehr. Ruhig bleiben und zuhören. Für mich war es nicht mehr die alte Position. Ich diente als „Experte“ der neuen Koalitionsregierung. Dazu hatte ich mich entschieden, also musste ich meine Position in diesem neuen politischen Rahmen ausloten. Das hieß: Lernen, wie die neuen Akteure denken und wie man miteinander umgeht. Krause legte dann auch sein politisches Credo dar. Das bestand in einem ziemlich forschen Verriss der „SED-Herrschaft und ihrer Hinterlassenschaft“ sowie der Verheißung, was die D-Mark und die soziale Marktwirtschaft uns bald Gutes bringen werde. Das war dann auch so, oder bezweifeln Sie das? Ja, natürlich war das alles so gelaufen. Die DDR sah nach der verpatzten Wende, den vielen Tiefschlägen, nicht mehr gut aus. Wir hatten die Krise nicht beseitigen können. Unsere Reformpläne waren nicht mehr aktuell. Es gab eine neue politische Agenda. Aber trotz allem empfand ich Krauses Reden als eine Art „Fishing for Compliments“ in Gegenwart der neuen BRD-Leute. Ich fragte mich, ob dieser junge Krause – auch ein Kind der DDR – wirklich so austeilen müsse. Aber es war so, er wollte sich positionieren, die neuen Kollegen aus Bonn sollten wohl hören, „hier wird mit der DDR abgerechnet!“ Krause lud mich am Ende der Besprechung zu einem persönlichen Gespräch ein. Dabei trug er mir an, in den nun bald beginnenden weiteren Verhandlungen, die er auf der DDRSeite leiten werde, als sein persönlicher Ratgeber und Stellvertreter zu fungieren. Das war ein Angebot!
310 Ich musste allerdings meine umtriebigen Gedanken loswerden: Also legte ich meinem neuen Amtskollegen freundschaftlich ratend dar, dass er davon ausgehen sollte, dass wir ehemalige Verantwortungsträger unsere Arbeit so gut es ging getan hätten und globale negative Urteile keine gute Grundlage für die künftige Zusammenarbeit sein könnten. Krause reagierte etwas betroffen: er habe das natürlich nicht persönlich gemeint. Dabei versicherte er mir, dass er meine bisherige Arbeit in der Sache sehr schätzt und mit mir zukünftig vertrauensvoll zusammenarbeiten möchte. Schließlich bot er mir an – wie es unter uns in der DDR weitgehend üblich war – uns zu duzen. Die Brücke war gebaut, es sollte zu schwierigen Belastungsproben kommen, aber wir sind bis heute Freunde geblieben. Krause hat seitdem einen nachhaltigen Erfahrungs- und Erkenntnisprozess durchgemacht und dabei schmerzlich viel Lehrgeld bezahlen müssen. Bitte charakterisieren Sie Günther Krause! Krause war Hochschullehrer, unterrichtete u. a. an der Universität Rostock und an der Hochschule für Seeschifffahrt in Wustrow/Fischland. Mit 37 Jahren wurde er Staatssekretär an der Seite des Ministerpräsidenten der DDR, Lothar de Maizière. In seiner neuen Rolle ging er sofort auf Volldampf! Er hatte ein fundiertes Wissen und war in seiner wissenschaftlichen Arbeit ehrgeizig und erfolgreich gewesen. Genau an diesen Erfolg knüpfte er in dieser neuen Aufgabe an. Er war ein Macher, allerdings manchmal sehr spontan mit einem zu „flotten Mundwerk“. Im Kern ein herzlicher Mensch, christlich geprägt und musisch gebildet. Ein CDU-Mitglied aus Überzeugung und in der neuen Leitung der DDR-CDU im Präsidium. Seine politische Überzeugung war im Grunde durch die DDR geprägt, aber eben mit der Erfahrung der letzten Jahre der DDR ausgestattet. Er glaubte damals, die soziale Marktwirtschaft der BRD könnte die bessere Lösung sein. Krause nahm diese neue Herausforderung mit aller Kraft und Zielstrebigkeit wahr und hatte Gutes im Sinn. Er war kein Karrierist, sondern wollte gestützt durch seine Erfahrung und sein Wissen mit dem Votum vom 18. März 1990 den vorgegebenen Weg mitgestalten. Wir haben ab diesem Tag gut und mit Anstand zusammengearbeitet. Er war nie Mitglied der SED! 146 Richtig, sondern immer Mitglied der CDU in der DDR. Krause stammte aus einem christlichen Elternhaus in Halle. An der Universität Rostock wirkte er als angesehener Hochschullehrer und Forscher an der Neukonzeption des Rostocker Hafens mit. In seiner wissenschaftlichen Arbeit beschäftigte er sich mit Seefahrt, Hafenwirtschaft und Planungsprozessen. Die Uni Rostock hatte in der DDR eine wichtige Schlüsselfunktion bei der Entwicklung der Hafenwirtschaft der DDR und der ganzen Region, die vorher stark landwirtschaftlich geprägt war. Mit seinem Erfahrungsschatz nahm er diese politische Herausforderung an. In der Politik – zumal in dieser Dimension – war auch er unerfahren. Aber Krause hatte Talent und Intelligenz genug, um seine Rolle an der Seite von de Maizière 146
Gehler/Dürkop, Deutsche Einigung, Ebd., im Gespräch mit Günther Krause.
311 gut zu spielen. Für mich war das eine akzeptable Grundlage, um mit ihm als Experte in Sachfragen der Währung und Finanzen zusammenzuarbeiten. Unsere Delegation war mit weiteren Fachleuten, wie Prof. Lebig und Prof. Stoll, gut besetzt. Die Spielräume waren sehr klein. Der vorgefertigte und durch alle Bonner Instanzen abgesegnete Vertragsentwurf für die Währungsunion war ein Beamtenwerk, das alle Interessen Bonns, auch der Wirtschaft und Banken, gut integrierte. Aber es war für uns alternativlos. Das politische Ziel war, die Währungsunion am 1. Juli 1990 so anzulegen, dass damit die Eigenstaatlichkeit der DDR bereits beendet wurde. Auf einen kurzen Nenner gebracht wurde mit dem Schlagwort „Stabilität der D-Mark“ eine „Eins-zu-eins-Rechtsangleichung“ in allen Fragen des Haushaltes, der Währung, der Banken, der Versicherungen und der Wirtschaft verordnet, d. h. eine Fülle von neuen Gesetzen dem Osten überzustülpen. Niemand konnte ernsthaft glauben, dass das verkraftbar war mit einer innerhalb weniger Wochen zur Verfügung stehenden Vorbereitungszeit. Dem Saarland hatte man damals eine Übergangszeit gewährt. 147 Das wurde anfangs auch in unsere Debatte eingebracht, aber „mit guten Gründen“ widerlegt“. Auch der Versuch, deutlich zu machen, dass die Modrow-Regierung bereits alles Nötige getan habe, um die volkseigene Wirtschaft in einen marktwirtschaftlichen Rechtsrahmen zu stellen, brachte nichts. Es gab die Treuhandanstalt mit dem am 1. März in Kraft gesetzten Regelungen, 148 die auf Umwandlung in GmbH´s und Aktiengesellschaften sowie auf Stabilisierung und Sanierung der Betriebe in einem Zeitraum von 3 bis 4 Jahren ausgerichtet war. Es gab neue, zur BRD systemgleiche Steuergesetze sowie eine neue Haushaltsordnung. Unsere Banken organisierten wir bereits in Richtung Geschäftsbanken neu. Die Staatliche Versicherung hatte einen Joint-Venture-Vertrag mit der Allianz, gültig für den 1. Juli, abgeschlossen. Wir haben in solider Weise vorgearbeitet. Aber zu glauben, dass dies in Bonn so überhaupt diskutiert oder gar ernstgenommen würde, war schlichtweg eine Illusion. Also dies alles zu negieren und uns mit Bundesrecht an den Schaltstellen, obwohl noch DDR, ab 1. Juli zu beglücken, war schon eine herbe Zumutung. Das war von Beamten ohne politisches Folgedenken gemacht und von der Bundesregierung von allen Parteien abgesegnet worden. Es gab wenige Mahner, die rasch verstummten. Es waren der CDU/CSU, Kohl usw. kein Preis zu hoch, um mit Blick auf die nächste Wahl diesen Siegeszug der D-Mark in Ostdeutschland zu integrieren. Unsere Regierung de Maizière war programmatisch und personell so ausgerichtet, dass sie in Abhängigkeit von der Bundesregierung agierte bzw. agieren musste, denn die D-Mark war nur zu diesem Preis zu erhalten. Durch das Gesetz über die Eingliederung des Saarlandes vom 23.12.1956 wurde das Saarland am 1.1.1957 politisch als zehntes Bundesland in die damalige Bundesrepublik Deutschland eingegliedert (sog. kleine Wiedervereinigung). 148 Beschluss zur Gründung der Anstalt zur treuhänderischen Verwaltung des Volkseigentums (Treuhandanstalt) vom 1.3.1990. Siehe https://www.ddr89.de/texte/gesetz1.html (letzter Zugriff 1.5.2020). 147
312 Mit Verlaub: Ich sage das hier so deutlich, weil schon damals und erst recht danach sich alle möglichen Kritiker zu Wort meldeten, die alles besser wussten und natürlich auch gemacht hätten, wenn sie denn auch gefragt worden wären. Ich erinnere an den Bundesbankpräsidenten Karl Otto Pöhl 149 von der SPD und seine ganz andere Zeitdisposition, die schnell von Kohl gekippt wurde. Ebenso die Einwände des damaligen SPD-Vorsitzenden sowie Kanzlerkandidaten Oskar Lafontaine 150, die beide hierzu bis heute immer wieder zitiert werden. Politik ist Machtpoker – ohne Wenn und Aber – das lernten wir. Kohl hatte damals große Sorgen, dass in der Sowjetunion die Dinge anders verlaufen könnten, als sein Freund Gorbatschow es wollte. Das berühmte Treffen im Kaukasus mit Blanko-Vollmacht für Kohl, was die Einheit betrifft, fand erst im Juli 1990 statt. Zu diesem Zeitpunkt waren noch 350 000 atomar bewaffnete Sowjetsoldaten in der DDR stationiert. Die Gefahr, das berühmte „Zeitfenster“ könnte sich wieder schließen, bestand natürlich. Zurück zu den Verhandlungen: Sie wurden auf Seite der BRD von Staatssekretär Prof. Hans Tietmeyer 151 geleitet. Ein Mann mit langer Erfahrung und großen Meriten. Er hatte im Jahr 1982 das sogenannte „Lambsdorff-Papier“ 152 verfasst, das zum Bruch der sozialliberalen Koalition geführt hatte. Tietmeyer war ein brillanter Fachmann, verbindlich, immer dozierend und teilweise belehrend, aber ohne jede Bereitschaft zu Kompromissen. Er hatte von Kohl persönlich den Auftrag erhalten, diesen Staatsvertrag buchstabengetreu plangemäß unter Dach und Fach zu bringen. Das tat er. Wir haben hier und da eine Formulierung etwas entschärft oder ergänzt. Das war`s. Tietmeyer wurde unterstützt durch den Vizepräsidenten der Bundesbank Prof. Helmut Schlesinger, 153 Staatssekretären aus den BMF Finanzen Peter Klemm, 154 der Wirtschaft mit Dieter von Würzen, 155 aus Soziales, Inneres, Justiz sowie Staatssekretären aus den Bundesländern und einem Expertenstab. Es wurde der Entwurf des ersten Staatsvertrages Satz für Satz durchgegangen, der Sinn und Zweck erläutert und darüber diskutiert und erklärt usw. Alles gründlich und durchaus mit kollegialem „Wissen“ vermittelnden Erörterungen. Karl Otto Pöhl (1929–2014) war u. a. in der Zeit von 1980 bis 1991 Präsident der Deutschen Bundesbank. 150 Oskar Lafontaine (geboren 1943) war u. a. in der Zeit von 1985 bis 1998 Ministerpräsident des Saarlandes und 1990 der Kanzlerkandidat der SPD. 151 Hans Tietmeyer (1931–2016) war u. a. in der Zeit von 1982 bis 1989 beamteter Staatssekretär im Bundesfinanzministerium und in der Zeit von 1993–1999 Bundesbankpräsident. 152 Ausführlich dazu in: Algermissen, Hans Tietmeyer: Ein Leben für ein stabiles Deutschland und ein dynamisches Europa, Tübingen 2019. 153 Helmut Schlesinger (geboren 1924) war u. a. in der Zeit von 1991 bis 1993 Bundesbankpräsident. 154 Peter Klemm (1928–2008) war u. a. in der Zeit von 1986 bis 1989 Leiter des Ministeriums für die Zentralabteilung. 1986 wurde er zum Ministerialdirektor befördert. In der Zeit von 1989 bis 1993 war er Staatssekretär. 155 Dieter von Würzen (1930–2003) war u. a. Ministerialdirigent und Ministerialdirektor. 149
313 Die folgende Ergänzung wurde beraten: Im Auftrag von de Maizière sollten die etwa 12 Millionen Lebensversicherungsverträge von DDR-Bürgern, meist in einem ganz bescheidenen Rahmen zwischen 3000 bis 5000 Mark der DDR ebenfalls mit „1:1“ umbewertet werden. Das wäre möglich gewesen. Es war keine ins Gewicht fallende Größe. Bei späterer Fälligkeit hätten die Beträge locker aus dem Haushalt der Staatlichen Versicherung der DDR, dann der Allianz, gedeckt werden können. Das wurde mit Hinweis auf das Prinzip der „Gleichheit“ sowie aus juristischen Bedenken abgelehnt. Ich versuchte, Prof. Schlesinger als Verbündeten zu gewinnen. Er zeigte Verständnis, wich aber auch nicht von der „Linie“ ab. Es ging also in den Verhandlungen zum Staatsvertrag über die Währungsunion praktisch nur um einen Dialog, konkreter, einer „Lehrstunde“ zur Vermittlung aller Instrumentarien und Regelungen des faktischen Beginns des Anschlusses der DDR an die BRD. Das Umtauschverhältnis „1:1“ für 4000 DM und die bekannten Quoten für Rentner usw. waren für die Bürger der DDR gut und sogar besser als erwartet. Politisch als Sympathiebonus einkalkuliert! Die Umbewertung der Löhne und Renten „1:1“ war richtig und alternativlos. Jede andere oder gar schlechtere Quote hätte die Lage der DDR-Bevölkerung – das Lohnniveau und die Renten waren niedrig – nach dem 1. Juli 1990 extrem verschlechtert. Also – das war keine Option. Bewusst verzichtete ich auf die Auseinandersetzung mit den Debatten „schlauer Leute“, die in der „1:1“ Lohnangleichung den Zusammenbruch der Wirtschaft der DDR sahen. Sie wollten, dass die Löhne wegen des Produktivitätsrückstandes halbiert werden. Dann wäre ein Durchschnittslohn von 500 DM für die DDR-Arbeiter herausgekommen. Die Bürger hätten mit einem halben Lohn in der Haushaltskasse mit den neuen, aber nicht mehr großzügig gestützten bzw. subventionierten Mieten und Preisen zurechtkommen müssen. Das wäre ein Fiasko geworden. Wir haben als DDR-Delegation das getan, was für den Start am 1. Juli 1990 im Sinne dieses mit dem Votum vom 18. März vorgezeichneten Weges notwendig war. Insofern hatte ich am Ende – es waren harte Tage und Wochen – eine gewisse Befriedigung mit dem Erreichten. Es stand alles auf dem Papier, der Weg für die D-Mark in die Hände der DDR-Bürger war gebahnt. Die absehbaren Anpassungsprobleme für unsere Wirtschaft waren vorsorglich mit finanziellen „Rettungsringen“ versehen. Fast zum Schluss der Debatte über den ersten Staatsvertrag gab es noch ein Eklat: Wir saßen beim Mittagsessen und ahnten nichts Böses. Da rief Dr. Holzwarth 156, ein Berater von Lothar de Maizière, Günther Krause an. Er teilt ihm mit, dass die Formel „Entschädigung vor Rückgabe“ als Handlungsdirektive nun umgekehrt zur „Rückgabe vor Entschädigung“ werden sollte. Konkret hieß das, alle jene Ostdeutschen, die auf Grundstücken von Westdeutschen gebaut hatten oder sogar auch deren Häuser bewohnten, waren nun nicht in der Lage, per Entschädigung zu bleiben. Jetzt hatte es der Westdeutsche in der Hand, die zurückge156 Fritz Holzwarth war bislang Leiter der Abteilung Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik im Konrad-
Adenauer-Haus in Bonn.
314 gebene Immobilie nach seinem Gusto zu verkaufen. Am Tisch gab es sofort erregte bzw. besorgte Reaktionen. Peter Klemm aus dem BMF meinte auch, dass das keine gute Nachricht sei, aber erklärend fügte er hinzu, der Koalitionspartner, also die FDP, hätte dies so gewollt. Klaus Kinkel (FDP), der mit an unserem Tisch saß, hielt sich bedeckt. Man musste es wohl „schlucken“. In der Tat, es blieb dabei. Die Folgen für die Ostdeutschen, die direkt betroffen waren, zeigten sich in den 1990er Jahren. Sie verloren ihre Häuser und Grundstücke, wo sie und ihre Familien seit Jahren lebten, wo sie viel Liebe, Arbeit und Geld investiert hatten. Die gütliche Einigung war der Ausnahmefall. Am Ende des ganzen Verhandlungsmarathons gab es eine ranghohe Abschlussbesprechung unter Federführung der Minister Romberg und Waigel in Berlin im Haus unseres Finanzministeriums. Es war faktisch die Absegnung des Vertragswerkes durch die Minister und auf Bundeseite auch durch die Bundesländer, die mit drei Finanzministern aus Bayern, Nordrhein-Westfalen und Bremen vertreten waren. Auf unserer Seite war dem eine Debatte der Verhandlungsergebnisse im Ministerrat vorausgegangen, die mit einer Zustimmung endete. Daran hatte ich teilgenommen und glaubte, dass mein Abschlussbericht, den ich in dieser Ministerrunde vortragen sollte und den Minister Romberg gebilligt hatte, glatt über die Bühne gehen werde. Dennoch gab es in dieser Besprechung am 14. Mai 1990 einen unerwarteten Eklat: Wie aus heiterem Himmel zog Romberg nach meinem Vortrag eine Art Notbremse. Er erklärte in etwa, die im Abschlussbericht genannten „finanziellen Hilfen der Bundesregierung“ nach dem 1. Juli für die DDR seien in einigen Punkten nicht akzeptabel, weil unzureichend. Deshalb könne er dem nicht zustimmen. Betretene Gesichter und Kopfschütteln auf der Bundesseite. Theo Waigel versuchte noch in der Sitzung die Sache zu retten, aber Romberg blieb ungerührt bei seinem Einwand. Damit lag statt einer Übereinstimmung eine Missstimmung in der Runde. Der Staatsvertrag hing „in der Luft“. Ich saß als der Urheber des von Romberg nicht genau bezeichneten Problems da und fühlte mich als „Dödel der Nation!“ Ich war geschockt! Die Runde ging kopfschüttelnd auseinander. Sechs Fernsehteams standen vor der Tür. Waigel bat zu einer internationalen Pressekonferenz in den kleinen Festsaal des Ministeriums. Anstatt Romberg saß ich an Waigels Seite. Es kam eine Fülle von Fragen. Waigel gab den souveränen Sieger. Das Problem blieb unter der Decke. Auf der Treppe zum Ausgang fragte ich Minister Waigel, was denn nun zu tun sei, damit die Unterzeichnung des Staatsvertrages am 18. Mai nicht platzt. Waigels Ton: „Besprechen Sie das morgen mit Dr. Klemm, wir finden eine Lösung.“ Romberg war an diesem Tag nicht mehr für mich zu sprechen. Ich hatte den Beistand meiner Kollegen Siegfried Zeißig 157, Werner Skowron und Prof. Lebig, die alles miterlebten, aber mein Minister ließ mich schmoren. Ja, so konnte Romberg sein, eigenwillig und verschlossen. Siegfried Zeißig war u. a. in der Zeit vom 15. März 1990 bis 15. Juli 1990 Direktor der Treuhandanstalt der DDR. 157
315 Am nächsten Tag sprach ich mit den Partnern in Bonn über die mögliche „Reparatur“ dieser peinlichen Situation. Wir waren uns schnell einig: „Kommen Sie morgen zu uns“, so mein Partner Staatssekretär Peter Klemm, „wir finden eine Lösung!“ Das habe ich Herrn Romberg vorgetragen, auch er hatte mit seinen Genossen in der SPD-Zentrale das Weitere besprochen. Er schlug vor, dass wir uns in Bonn nach meinem Gespräch im BMF über den verbesserten „Finanzrahmen“ abstimmen. Am nächsten Tag flogen wir beide nach Bonn, gingen aber getrennte Wege. Ich zum Bundesfinanzministerium und Walter Romberg zu seinen Genossen in die „SPD-Baracke“, zum Bundesparteivorstand. Im BMF war ein neuer Text mit entsprechend erhöhten „finanziellen Hilfen“, wie Kreditzusagen, Verpflichtungsermächtigungen usw. nach dem 1. Juli 1990, vorbereitet. Nach einer kurzen Verständigung erschien uns das akzeptabel und zur Lösung des „Knotens“ geeignet. Per Bote wurde dieser Text an Romberg geliefert. Nach etwa einer Stunde kam seine Zustimmung. Ich war erleichtert. Danach luden die „Kollegen“ des BMF Prof. Lebig und mich zum Essen ein. Am Abend flogen wir gemeinsam mit Romberg nach Berlin zurück. Er gab auf dem Flugplatz noch ein Interview für die WELT, wo er die Sorgen wegen der zu erwartenden Probleme für die Wirtschaft der DDR und die Arbeitsplätze umriss und damit im Sinne „seiner Partei“ die Risiken dieser „ad hoc“ Währungsunion verdeutlichte. Dem konnte ich nur zustimmen. Da es keine Alternative zum Vertragsentwurf gab, also die SPD rein gar nichts an der Lage veränderte, war es nur ein gut gemeintes Statement von Romberg, das die bevorstehenden Turbulenzen erahnen ließ, aber in der allgemeinen Euphorie unterging. Das heißt, Ihnen wurde ein neues Angebot unterbreitet? Ja, aber es war absolut keine neue Qualität in der Lösung, sondern nur eine Erhöhung des Kreditrahmens, d. h. die Möglichkeit, höhere Kredite für den DDR-Haushalt für das zweite Halbjahr 1990 aufzunehmen. Der DDR-Haushalt für das 2. Halbjahr 1990 stand bereits unter Aufsicht des BMFs. Wir hatten doch einen völlig neuen Haushaltsplan in D-Mark mit neuen Planansätzen nach neuen Preisen, ohne Stützungen usw. Also auch mit vielen Unbekannten. Gemessen an alledem war das nur eine Art „kleines Licht“ im unbekannten Dunkel. Die Zustimmung zu dieser neuen Fassung gab Ihnen Romberg noch am selben Tag in Bonn? Ja, es lief so ab, wie ich das geschildert habe. Ich sprach mit ihm vom BMF aus per Telefon. Er meinte: „Ja, ich habe das Neue gelesen und stimme dem zu!“ Das war alles. Man kann annehmen, dass Romberg dort im SPD-Vorstand mit Lafontaine gesprochen hatte oder dessen Beratern. Für mich war es eine Lehre, wie Politik in der BRD funktioniert.
316 Versuchte Lafontaine über Romberg Einfluss auf den Prozess des ersten Staatsvertrages zu nehmen? Ja, Sie kennen ihn doch in seiner Art. Er und seine SPD-Genossen übten Kritik am Tempo und an einzelnen Sachen. Aber ich habe erlebt, wie SPD-Minister sich in den Verhandlungen brav verhielten. Wenn man sich in der Opposition befindet, kann man viel wollen, wirklich gestalten kann man aber nicht. Ich glaube schon, dass Lafontaine für eine längere Vorbereitung zur Anpassung der DDR-Wirtschaft ohne Crash war. Das hat Lafontaine später immer wieder als seine geniale Alternative gepriesen. Bundesbankpräsident Karl Otto Pöhl, ebenfalls SPD-Mitglied, versuchte, die Hand im März 1990 dazwischen zu halten, um den Eilzug zu stoppen. Er zuckte nach Kohls Rüffel aber zurück. Alles nur Schattenspiele, die uns nicht halfen. Die Macht lag bei der CDU/CSU/FDP, damals wie heute mit einem knallharten großbürgerlichen Hintergrund. Lafontaine und die SPD besaßen keinerlei Chancen, sie wollten vermutlich in Richtung „neue Länder“ ihr Gesicht wahren sowie Wähler für die bevorstehenden Bundestagswahlen im Dezember 1990 gewinnen. Lassen Sie mich folgendes zu meinem 61. Geburtstag am 18. Mai 1990, schildern: An diesem Tag flog ich mit der ganzen Entourage nach Bonn. Von Berlin Schönefeld startete die Regierungsmaschine der DDR. Drinnen saßen de Maizière, Romberg, Minister, die junge Angela Merkel, in Gesellschaft von Walter Momper, Hans-Jochen Vogel usw. und alle in fröhlicher „Sieger-Stimmung“. Unser Expertenteam mitten drin. Momper, damals der Regierende Bürgermeister in Berlin, saß in meiner Nähe und zog mich ins Gespräch hinein. Im Bonner Palais Schaumburg war ein großer Empfang vorbereitet. Kanzler Kohl persönlich begrüßte uns. Jemand hatte Waigel gesteckt, dass ich Geburtstag habe, und er reagierte sofort aufgeschlossen und freundlich. Waigel erhob das Glas mit mir. Es gefiel ihm nicht, dass es kein Buffet gab. Jovial meinte er: „Herr Siegert, im Finanzministerium haben wir volle bayrische Verpflegung, da gehen wir anschließend rüber, dort bekommen wir ordentlich etwas zu essen“, wozu es aber nicht kam. Es stellte sich heraus, dass Helmut Haussmann, damals Wirtschaftsminister, ebenfalls Geburtstag hatte. Dann wurde auch Kohl aufmerksam und gratulierte mir noch mit freundlichen Worten. Ich wurde, was mir noch nie passiert war, von höchsten Persönlichkeiten mit Händeschütteln bedacht. Unterschwellig kam mir meine letzte Geburtstagsfeier in mein Gedankenbild, also mein sechzigster Geburtstag, im Kreis der Kollegen im DDR-Finanzministerium gefeiert. Wer hätte damals geglaubt, wie schnell sich unsere kleine Welt in einem Jahr verändern würde … Mit der feierlichen Unterzeichnung des Staatsvertrages durch die Minister Waigel und Romberg war alles unter Dach und Fach. Wir flogen leicht aufgekratzt, aber nachdenklich – mit dem Kommenden befasst – wieder nach Hause. De Maizière und Kohl waren als Regierungsrepräsentanten anwesend … Ja, beide waren anwesend, aber beide waren dort nur gewissermaßen die höchsten Würdenträger des Staatsaktes, die Regierungs-Chefs. Die Akteure, die Unterschriften leisteten die Finanzminister Romberg und Waigel. Schauen Sie sich dazu die Fotos an.
317 Vor der Unterzeichnung kehrte Romberg in sich, senkte sein Haupt und betete bzw. hielt einen Moment inne. Er machte jedenfalls die Geste eines „Insichgehens“. Wie interpretierten Sie diese Geste? Dazu kann ich nichts sagen. Ich saß in den hinteren Reihen und konnte somit die Szene nur aus Distanz beobachten. Aber Sie stützen sich wohl auf Theo Waigel, der dazu später sagte: „Walter Romberg hat als bekennender Christ in diesem Moment der Unterschrift den Beistand des ‚lieben Gottes‘ gewünscht und ein heimliches Wort an ihn gerichtet.“ Ich kann Romberg gut verstehen, denn er nahm seine Rolle sehr ernst. Er war kein Politiker, der einem Machttrieb folgte, sondern er folgte seinem Gewissen und seinem Glauben, nämlich etwas Gutes für sein Land leisten zu müssen bzw. zu können. Romberg kam bei diesem Vertragswerk zurecht in Konflikte. Es war ein Machtprojekt und kein Akt der Nächstenliebe, wie sich bald zeigen sollte. Auf der Seite 248 vom Buch „Ich will, dass meine Kinder nicht mehr lügen müssen“ schreibt Lothar de Maizière in seiner Erinnerung an diese Szene, folgendes: „Ich sehe noch, wie Walter Romberg vor der Unterzeichnung unter dem Tisch die Hände faltet und ein Gebet sprach. Ich deutete dies so, dass er sich freute und Dank sagte, dafür, dass dieser Vertrag zustande gekommen war. Richard Schröder hat erst später erzählt, dass er die Unterschrift unter diesen Vertrag als Akt der Demütigung und Unterwerfung empfunden habe. Offenbar plagte ihn damals schon eine Haltung oder Einstellung, die später beim Einigungsvertrag schwerwiegende Folgen haben sollte.“ Ja, das habe ich gelesen. So war es wohl. Lothar de Maizière hat das aus nächster Nähe beobachtet. Er – auch ein bekennender Christ – musste die Situation nüchterner sehen. Für ihn war es ein Meilenstein auf dem Weg, den er in seiner Rolle als der letzte Regierungschef der sich verabschiedenden DDR angetreten hatte. Da musste er in dem Orchester mit dem Dirigenten Helmut Kohl seinen Part spielen. Romberg und de Maizière waren sich in ihrer Verbindung zur Kirchenleitung in der DDR nahe, allerdings waren sie keine Freunde. Richard Schröder 158 ist damals wohl mit weniger Bedenken belastet gewesen. Ihm ist später erst manches klar geworden. Er war der Fraktionschef der SPD in der letzten Volkskammer. Zu Richard Schröder habe ich eine sehr kritische Position, er redet über alles und maßt sich dabei als Theologe Urteile über die DDR-Wirtschaft sowie die Treuhandanstalt an, die nicht der Wahrheit entsprechen. Er hat sich angepasst, Walter Romberg eben aber nicht! 159 Zurück zu den letzten Wochen vor dem 1. Juli 1990: Es war viel zu tun. Abgesehen von den Aufgaben, die für den eigentlichen Umtausch „Mark der DDR“ in „D-Mark“ zu lösen waren: Geldtransporte, technische Vorbereitungen in Banken und Sparkassen, die gesamte Wirtschaft, jedes Krankenhaus, jede Gemeinde musste auf diesen Tag eingestellt Richard Schröder (geboren 1943) war u. a. in der Zeit vom 3.4. bis 21.8.1990 Fraktionsvorsitzender der SPD (Ost). Gehler/Dürkop, Deutsche Einigung, Ebd., im Gespräch mit Richard Schröder. 159 Zur Vertiefung: Karl-Heinz Paqué, Richard Schröder, Gespaltene Nation? Einspruch! 30 Jahre Deutsche Einheit, Basel 2020. 158
318 werden. Dabei war die technische Seite nur das eine Problem, denn die wirtschaftliche Kontinuität, die Zahlungsfähigkeit vom ersten Tag an und die Lohnzahlungen mussten organisiert werden. Die Betriebe hatten über Nacht mit einem völlig neuen Kostengefüge, d. h. mit Preisen in Bezug sowie im Absatz zu tun. Die Marktsituation hatte sich total verändert, in jeder Branche, wie beispielsweise Handel und Landwirtschaft, stand die Westkonkurrenz bereits vor der Tür. Wir haben viele Informationsveranstaltungen im Land organisiert, Broschüren und Beiträge in der Presse veröffentlicht. Ich erläuterte in Foren mit Kombinats- und Werkdirektoren die neuen Steuergesetze. Zusammen mit Kollegen von unseren Banken auf dem Podium, um die neuen Kreditmodalitäten zu erklären. Nicht zuletzt mussten wir unsere eigenen Finanzleute in den Bezirken und Kreisen auf die neuen Aufgaben vorbereiten. Also, wir waren in dieser Zeit Wanderprediger sowie Auskunftei. Dann kam mit dem 1. Juli 1990 der entscheidende Tag: Wiederum gab Romberg seiner Abneigung zu Waigel freien Lauf. Mir erklärte er, er wolle diesen Tag bei den „Leuten in Brandenburg“ verbringen. Er werde mit seiner Frau durch das Land Brandenburg fahren, verschiedene Städte besuchen und sich ansehen, wie die Leute auf das neue Geld reagierten. Ich sollte mich um Herrn Waigel sowie die Dinge im Ministerium kümmern. Ich ging also früh in das Haus des Ministerrates in der Klosterstraße. In Siegerlaune gab Waigel eine internationale Pressekonferenz, was er brillant absolvierte. Wer in französischer Sprache fragte, wurde von ihm in französischer Sprache bedient; in englischer Sprache ebenso. Anschließend schlug er mir vor: „Jetzt machen wir uns mal einen schönen Tag und gehen durch einige Umtauschstellen.“ Darauf war ich vorbereitet. Als erstes besuchten wir die Sparkasse in der Leipziger Straße von Berlin-Mitte. Die Sparkassenangestellten – das war nun wieder DDR-typisch – hatten Kuchen, Kaffee und Blumen für Waigel vorbereitet und zeigten sich im besten Kleid, freundlich und dienstbeflissen. Waigel kam in die Sparkasse, nahm den Blumenstrauß entgegen, pflückte diesen sofort auseinander und überreichte jeder Frau eine Blume, was natürlich gut ankam. „Ach, dann lassen wir uns es mal gutgehen“, sagte er in seiner lockeren Art. Wir waren noch an zwei oder drei weiteren Stellen. Dann war sein Zeitrahmen erschöpft. Er war zufrieden. Für mich war es ein einmaliges Erlebnis. Theo Waigel war für mich in dieser dramatischen Zeit zu einer Persönlichkeit des Vertrauens geworden, trotz allem Trennenden in den politischen Standpunkten. Das war in dieser konfliktreichen Zeit mit vielen dubiosen Leuten, von hier und aus dem Westen, eben ein Glücksfall. Das mögen manche Besserwisser anders sehen, denen aber sage ich: Jahre früher hatten wir vielleicht noch politische Alternativen, die verpasste allerdings unsere DDR-Führung arrogant, nun mussten wir die Möglichkeiten nutzen, die sich anboten. Ich ging dann zurück ins Finanzministerium. Der diensthabende Abteilungsleiter informierte mich über die Lage vor Ort. Es waren gute Nachrichten: Am Vortag hatten Bundeswehr und Volkspolizei die Anlieferung und die Sicherung des „neuen Geldes“
319 übernommen. Seit Mitternacht warteten die Leute schon an den Wechselstellen. Es lief überall im Land reibungslos. Es gab keine Vorkommnisse. Das war doch fürs Erste eine gute Nachricht, nach all diesen harten Tagen sowie schlaflosen Nächten. Am Abend kehrten Walter Romberg und seine Frau Renate ins Ministerium zurück. Er verteilte selbst geschmierte Stullen und erzählte fröhlich und entspannt von seinen Erlebnissen in Brandenburger Umtauschstellen, den Gesprächen mit Leuten und dem Besuch eines Gottesdienstes. Dort war alles auch „in Wohlgefallen“ verlaufen. Damit war der „Jahrhundertakt“ abgeschlossen. Nun hieß es, sich auf die Unbilden der neuen Lage im Lande einzustellen. Die erste Lohnzahlung in D-Mark kam bald und sie sollte überall finanzierbar sein. Dafür fühlten wir uns als Regierung verantwortlich, dass gehörte sich so in der DDR. Allein das ist ein Relikt aus unserer Zeit, das heute kaum noch vorstellbar ist. In einem YouTube-Video sprachen Sie von 28 Milliarden, die in den Monaten Juli und August 1990 an Krediten für Betriebe in diesem Zusammenhang zur Liquiderhaltung, z. B. Löhne und Gehälter usw., gewährt worden sind. 160 Ja, diese Zahl ist zutreffend. Ich darf an folgende Szene erinnern: Ich saß mit Professor Wolfgang Lebig am Abend in meinem Büro – es mag etwa der 8. Juli 1990 gewesen sein – wir dachten über irgendeine Sache nach, die wir in den nächsten Tagen zu regeln hatten. Es ging die Tür auf und meine Sekretärin signalisierte, dass Dr. Horst Köhler vor der Tür stand. „Ich habe mich mit Frau Dr. König über die außenwirtschaftlichen Probleme unterhalten, die nun anstehen“, meinte Köhler, der im BMF als Staatssekretär auch für die Außenbeziehungen zuständig war. Insofern war er „Sherpa“, der Kohl stets zu den G7-Gipfeln begleitete. Mein Kontakt zu Horst Köhler war immer aktiv geblieben, sodass wir ohne viel Umschweife miteinander reden konnten. Er kam gleich zur Sache: „Wir erhielten einen Brief über die Finanzbedürfnisse der volkseigenen Kombinate. Das ist aber eine erschreckende Zahl, dreißig Milliarden DM. Bei Ihnen war es in der DDR immer so, wenn man einhundert haben wollte, hat man zweihundert angemeldet. Also teilen wir das doch mal auf die Hälfte, fünfzehn Milliarden DM sollten doch reichen!“ Ich entgegnete: „Herr Köhler, das können Sie machen, aber es könnte schief gehen! Wie Sie wissen, ist beim Thema Lohn mit den Leuten nicht zu spaßen. Da kann es ganz schnell großen Krach geben.“ Es folgte dann eine kurze Debatte über pro und contra betreffend der Liquiditätslage der DDR-Kombinate. Ich merkte, man wollte das Problem klein halten. Die Treuhandanstalt – nunmehr in ihrer neuen „westdominierten Führung sowie Rolle“ sollte nicht so hoch in die Kredite geraten. Ich hörte die Melodie: Das nicht sein kann, was nicht sein darf – Köhler wollte als für die Treuhand zuständiger Staatssekretär des BMFs – mir ein freundlicheres Kreditersuchen einreden. Ich sagte ihm, dass ich mit meinen Leuten über dieses Problem nachdenke. Was machte allerdings der gute Köhler? Unzutreffender Weise sagte er nach diesem Siehe Video der Bundesstiftung Aufarbeitung, in: Walter Siegert zur „Situation der DDR-Wirtschaft“ auf dem Video-Portal https://vimeo.com/150792279 (letzter Zugriff 8.12.2020).
160
320 Gespräch seinem zuständigen Ministerialdirektor, ich hätte ihm eine Zusage erteilt, dass wir den Betrag halbieren! Am nächsten Morgen kam genau dieser Mann zu mir ins Ministerium und meinte, er hätte den Auftrag von seinem Staatssekretär, wir müssten das mit den Banken alles neu abstimmen. Ich rief Dr. Köhler an: „Da haben Sie mir aber eine dicke Story unterstellt, so können wir das nicht machen!“ Es ging hin und her. Ich rief den Kollegen, der für die Industriefinanzierung zuständig war, den ehemaligen stellvertretenden Minister Siegfried Zeißig. Wir stimmten uns kurz ab und besprachen dann die Angelegenheit mit dem Ministerialdirektor. Wir gingen auf neunzehn Milliarden DM Kreditbedarf runter. Das war die äußerste vertretbare Untergrenze. Es musste in den Betrieben und bei den Geschäftsbanken rasch weitergehen. In solchen Fällen muss man Kompromisse finden und der Gegenseite ein kleines Erfolgserlebnis lassen. Aber, letztendlich sind es dann achtundzwanzig Milliarden DM Kreditbedarf zur Sicherung der Liquidität geworden. Wir waren also wieder bei fast 30 Milliarden DM, wie die Bedarfsschätzung gelautet hatte. Erklärend darf ich hinzufügen, dass nach dem 1. Juli 1990 die ersten Löhne fällig wurden, bevor die Betriebe genügend neue D-Mark Einnahmen hatten. Ihre Konten waren „2:1“ umgestellt worden. Daher die Liquiditätslücke! Hinzu kam, dass überall die Liefer- und Leistungsketten wegbrachen, also litt überall auch die Liquidität. Die DDR-Treuhand wurde noch während der Modrow-Regierung installiert. Es gab einen ersten Entwurf von Wolfgang Ullmann, Matthias Artzt 161 und Gerd Gebhardt. Sie schlugen eine Coupon-Privatisierung vor, die jedoch scheiterte. Zum 1. März 1990 beschloss der Ministerrat der DDR die Gründung der Anstalt zur treuhänderischen Verwaltung des Volkseigentums, der stellvertretende Ministerpräsident der DDR, Peter Moreth, wurde erster Chef der Treuhandanstalt. Wie kam das Modell dieser Treuhandgesellschaft zustande? Volkseigene Betriebe oder – sagen wir – dem Staat gehörende Betriebe müssen einen „Vorgesetzten“, also eine Aufsichtsinstanz haben. Das waren in der DDR die Industrieministerien bzw. die Bezirks- und Kreisverwaltungen. Jedes Ministerium führte, plante und kontrollierte die Betriebe und Kombinate seines Wirtschaftszweiges – Kohle und Energie, Chemie, Maschinenbau, Leichtindustrie usw. Es gab also eine Hierarchie, die Betriebe waren weisungsgebunden und juristisch nicht selbstständig. Der Direktor eines Betriebes hatte im Rahmen seines Planes und seiner gesetzlich festgelegten Kompetenzen den Betrieb effektiv, mit Gewinn und sozialer Kompetenz zu führen. Das war das Modell unserer Planwirtschaft. Es hat funktioniert, aber es war bereits in den 1950er Jahren an Grenzen gekommen. Das war ja der Anstoß zur Entwicklung des „Neuen Ökonomischen Systems der Planung und Leitung“ per Parteibeschluss im Jahr 1963. Das Schicksal dieses Beschlusses war wechselhaft. Experimente sowie erste Schritte in den 1960er Jahren, dann Matthias Artzt und Gerd Gebhardt haben einst die Treuhand erfunden. Im Januar und Februar 1990 dachten sie darüber nach, wie die DDR-Wirtschaft und die BRD-Wirtschaft ineinander aufgehen könnten. 161
321 gestoppt von Honecker. Dann wieder Experimente in den 1980er Jahren. Die ModrowRegierung war aber mit dem Versprechen einer „sozial und ökologisch orientierten Marktwirtschaft“ angetreten, das eigenverantwortliches Wirtschaften der volkseigenen Betriebe ermöglicht und die zentrale Planung auf eine direktive Orientierung reduziert. Im November 1989 wurde begonnen, eine Wirtschaftsreform vorzubereiten. Im Ministerrat gab es dazu eine spezielle Arbeitsgruppe mit dem Staatssekretär Wolfram Krause, 162 einem erfahrenen Wirtschaftsexperten an der Spitze. Um also diesen Zielen gerecht zu werden hatte die Regierung Modrow das Industriezweigministerium reduziert und wollte es schließlich auflösen. Das warf die Frage auf: Welche staatliche Verankerung, Aufsichts- und Verwaltungsinstitution sollte man dafür schaffen? Denn stellen Sie sich bitte vor, es waren volkseigene Betriebe, also ein gesellschaftliches Eigentum. In der Debatte dazu im Ministerrat – ich war dabei –, wie man das lösen sollte, machte Dr. Beil den Vorschlag, man solle eine treuhänderische Verwaltung einrichten, die sich um das Volkseigentum kümmert. Das fand dort die Unterstützung von Wolfgang Ullmann, der als Minister ohne Geschäftsbereich Mitglied des Ministerrates war. Ullmann kam aus dem kirchlichen Bereich, war ein sehr konstruktiver Mann aus der Opposition. Ich habe mit ihm persönlich oft zu tun gehabt. Aus dieser Debatte ging der erste Entwurf des Treuhandgesetzes hervor, den die Juristen des Ministerrates, insbesondere Prof. Dr. Stephan Supranowitz, 163 in Kontakt mit Dr. Ullmann entworfen haben. Nach Beratungen ging der Entwurf dann in die Volkskammer und wurde am 1. März 1990 im Ministerrat verabschiedet. Die Sache mit den Coupons für jeden Bürger – eine bürgerfreundliche Idee – fand keinen Platz. Wie sollten wir mit unserem „Verfallsdatum März“ uns solche Aufgabe zumuten? Bei längerem Atem hätten wir diese oder eine andere Beteiligungsform aller Bürger auf unsere Agenda schreiben können. Viel wichtiger ist, dass unser Konzept, die treuhänderische Verwaltung des Volkseigentums, vorsah, keine rasche Privatisierung wie die spätere Novellierung durch die de Maizière-Regierung. Unsere Ziele waren die treuhänderische Verwaltung und Sanierung, Mehrung des Volkseigentums und effektiveres Wirtschaften. Ich betone ausdrücklich, wir hatten bewiesen, dass volkeigene Betriebe sehr effektiv sein können. Unser Handicap war der Mangel an technischer Erneuerung, die wir immer weniger schafften, die nun aber möglich wurde.
Wolfram Krause (geboren 1933) absolvierte ein Studium der Wirtschaftswissenschaften an der HFÖ Berlin (1951–1953). In der Zeit vom 15. März 1990 bis 15. Juli 1990 war Krause stellvertretender Präsident und Mitglied des Direktoriums der Treuhandanstalt. Einige Wochen leitete er die Geschäfte der Anstalt, bis Reiner Maria Gohlke in der Zeit vom 15. Juli bis 20. August 1990 der Präsident war. Später arbeitet Krause für die Dresdner Bank und ging nach Petersburg und Moskau. 163 Stephan Supranowitz (geboren 1933) war u. a. Staatssekretär, stellvertretender Minister und Leiter des Amtes für Rechtsschutz des Vermögens der DDR. 162
322 Die Idee dieser Treuhand kam doch nicht von Ihnen … Nein, die kam nicht von mir. Wie gesagt, Gerhard Beil, 164 der Außenhandelsminister, und Wolfgang Ullmann und andere haben in der Ministerratsdiskussion ihre Überzeugungen vorgetragen. Eine treuhänderische Verwaltung von Betrieben gab es bereits schon in den Anfangsjahren der DDR bzw. in der SBZ. Sie ist auch eine übliche Form der Verwaltung von Eigentum. In diesem Sinne ist dann durch eine Arbeitsgruppe unter Leitung von Supranowitz ein Entwurf für die „Treuhandanstalt“ vorgelegt worden. Der entscheidende Punkt: Unser Konzept war tragfähig und wir zögerten nicht, es umzusetzen. Sie erwähnten schon, dass Dr. Peter Moreth, ein Stellvertreter Modrows, als Präsident die Arbeit aufnahm. Ich kannte ihn gut und unterstützte ihn. An seiner Seite begann Staatssekretär Wolfram Krause, das Finanzressort der Anstalt zu organisieren. Es wurde von fähigen Leuten aus den Industrieministerien und der Staatlichen Plankommission in die neue Treuhandanstalt übergeleitet. Wir entsandten Siegfried Zeißig als einen der neuen Direktoren. Fast 20 Jahre war er zuständiger stellvertretender Minister für die Finanzen der Industrie der DDR. Wir begannen in dieser neuen Institution sofort mit der Organisation der Arbeit. Später erfuhr ich von meinem Berater Breitenstein, der in der BRD in der Verwaltung der Staatskonzerne tätig war, dass es dort nach dem Krieg eine analoge Verwaltungsbehörde gegeben hatte, das Bundesschatzministerium, das für die Verwaltung der Rüstungsbetriebe zuständig gewesen war und faktisch dieses Vermögen verwaltet hatte. Breitenstein gab mir mit auf den Weg: „Sie werden sehen, das dauert Jahre!“ Es ist bekannt, wie lange sich dieser Prozess in der BRD hinzog, bis man Salzgitter und andere in den 1980er Jahren privatisierte. Unser Präsident Peter Moreth stand bald im Weg. Man holte Reiner Maria Gohlke, den ehemaligen Bundesbahnvorstand. Er wurde im Juli 1990 Treuhand-Präsident. Gohlke hatte nur eine kurze Gastrolle. Etwa gleichzeitig kam Karsten Rohwedder, ein erfahrener Wirtschaftsfachmann, und wie sich zeigte, mit Visionen für eine vernünftige Linie mit Sanierung der Betriebe und einer vernünftigen Privatisierung. Gohlke war vom 15. Juli bis 20. August 1990 im Amt und Rohwedder übernahm ab 1. September 1990 bis zu seinem Tod am 1. April 1991 … Rohwedder war bereits vor der Währungsunion dort tätig, er hatte die Funktion des Vorstandes der Treuhand. Gohlke war der Präsident. Als Gohlke nach Querelen den Hut nahm, übernahm Rohwedder seine Funktion zunächst in Vertretung und später wurde es offiziell. Ich war zwei- oder dreimal mit Breitenstein, der ihn wiederum kannte und Gehör bei ihm hatte, bei Rohwedder. Wir unterhielten uns mit ihm darüber, wie die Treuhandanstalt sich auf den Stichtag 1. Juli 1990 vorbereiten sollte. Es ging um die weitere Stabilisierung bzw. Sanierung der Betriebe. Gerhard Beil (1926–2010) war u. a. in der Zeit von 1986 bis 1990 Minister für Außenhandel der DDR. Im Oktober 1989 war er Mitautor vom sog. „Schürer-Bericht“. 164
323 In Erinnerung geblieben ist mir vor allem Rohwedders Redewendung: „Wir müssen alles so erledigen, um die Sterbeliste kleinzuhalten.“ Gemeint war also, es sollten möglichst wenige Betriebe in Konkurs gehen, damit möglichst viele Arbeitsplätze erhalten bleiben. Dieses Ziel hat Rohwedder, wie man von weiteren Zeitzeugen, z. B. Prof. Dr. Karl Döring, 165 dem Generaldirektor des Hüttenkombinates Ost weiß, konsequent verfolgt. Das hat ihm Ärger und Widerstand eingebracht. Wie Sie sagen, Rohwedder wurde am 1. April 1991 hinterrücks ermordet, was hinsichtlich der wirklichen Täter und Hintermänner nie aufgeklärt worden ist. Die Treuhandanstalt hatte 15 Niederlassungen. Zum Stichtag 1. Juli 1990 wurden 8500 Gesellschaften ins Handelsregister eingetragen. Diese beschäftigten ca. 4 Millionen Mitarbeiter in ca. 45 000 Betriebsstätten. Insgesamt waren es im Laufe der Zeit ca. 14 600 Gesellschaften. Dann existierte auch ein Sachverständigenrat zur Einführung der sozialen Marktwirtschaft in der DDR, also ein Wirtschaftsbeirat. Dann gab es den Verwaltungsrat. Können Sie die Strukturen näher aufzeigen? Das ist nicht ganz einfach. Die Treuhand hatte einen Vorstand, das waren, wie in einem Konzern auch, Leute, die das Sagen haben. Daneben gab es den Verwaltungsrat, dem gehörten Leute aus der Politik, der Wirtschaft, auch Anwälte und Wirtschaftsprüfer an, wenige aus dem Osten, z. B. der Generaldirektor des Eisenhüttenkombinates Ost mit Professor Karl Döring. Der Verwaltungsrat entsprach dem Aufsichtsrat. Er sollte das öffentliche Kontrollorgan sein. Ab und zu habe ich dort Romberg vertreten. Da ging es nicht wirklich zur Sache. Viel große Reden, man nahm sich wichtig. Im Verwaltungsrat saßen Kurt Biedenkopf, 166 Hans-Olaf Henkel, Hermann Rappe, Manfred Schüler, Klaus Piltz, Günter Nooke sowie weitere Akteure. Ja, daran erinnere ich mich. Der Verwaltungsrat sollte den Treuhandvorstand im Sinne der Gesellschaft, im Sinne der Entwicklung der ostdeutschen Wirtschaftsentwicklung beraten sowie kontrollieren. Allerdings hier Fehlanzeige. Bei solchen Gelegenheiten lernte ich, wie inhaltslos solche Gremien abliefen. Aber das störte niemand. Romberg empfand das auch so, wobei er sich mehrfach heftig erregte, weil er das Gefühl hatte, man will nichts Kritisches oder Alternatives hören. Es gab doch ein klares Ziel: Wir brauchen keine Konkurrenz aus dem Osten und vermarken die Betriebe so rasch wie möglich. Die Rosinen picken wir uns heraus und machen sie zur verlängerten Werkbank im Osten. Die Arbeitskräfte – die meisten gut ausgebildet – können wir einsetzen. Das war damals so deutlich nicht erkennbar. Heute ist diese traurige, vorsätzliche und organisierte Zerschlagung unserer Wirtschaft aktenkundig beweisbar.
Interview mit Döring, S. 522. Kurt Biedenkopf war u. a. in der Zeit von 1990 bis 2002 Ministerpräsident des Freistaates Sachsen. 165 166
324 Die Auflösung der Planwirtschaft war das primäre Ziel sowie die Reform der Steuerund Haushaltspolitik … Das war mit den Gesetzen des ersten Staatsvertrages bereits passiert. Die Umwandlung der VEB in Kapitalgesellschaften, Strukturmaßnahmen, Rechtsfragen, Wettbewerbspolitik, Mittelstandspolitik, Preisfragen, Außenwirtschaftsrecht, Strukturanpassungen waren ganz wichtige Themenkomplexe. Mein Eindruck ist, wenn ich die Namensliste der Personen in den Gremien studiere, dass die ostdeutschen Vertreter innerhalb kürzester Zeit – entstanden in der Modrow-Regierung bis hin zur de Maizière-Regierung – keine Mitwirkungsrechte innerhalb der Treuhand mehr besaßen bzw. unmittelbar ausschieden. Ist dieser Eindruck korrekt? Ja, das ist richtig! Pardon, aber es war eine Art „Invasion von Experten und Beamten“ aus dem Westen. Die ostdeutsche Elite wurde überall ausgegrenzt und entlassen. Gründe dafür waren rasch gefunden. Mit dem Ende der Modrow-Regierung und dem Antreten der pluralistischen de Maizière-Regierung am 12. April 1990 war eine Zäsur verbunden. De Maizière versprach, er mache alles, was auf dem Weg zur Einheit notwendig sei. Dieser gutwillige Rechtsanwalt übernahm ein schweres Amt. Die Berater von de Maizière kamen überwiegend aus dem Westen. Sein Cousin, Thomas de Maizière, war bei ihm als Berater im Amt. Ich lernte ihn als einen korrekten sowie aufgeschlossenen Partner kennen. Der Vater von Lothar war Rechtsanwalt, immer in der DDR gewesen, kirchlich gebunden, aktiv und ein wirklich treu ergebener sowie der DDR zugewandter Bürger. Sein Bruder Ulrich de Maizière 167 war der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr. Warum sie beide so weit auseinander liegen, räumlich wie politisch, kann ich nicht beantworten. Die erste Phase nach der Wende war der Versuch Modrows, die DDR in einen behutsamen Übergang vom Sozialismus zu einer sozialen Marktwirtschaft zu bringen. Dabei sollte das soziale Gefüge der DDR erhalten bleiben. Die Betriebe wurden selbständige Rechtssubjekte, was sie eben vorher nicht waren, entweder eine GmbH oder AG. Das neue Steuersystem wurde per 1. Juli 1990 eingeführt und Finanzämter neu eingerichtet. Waigel hatte diese Neuerungen skeptisch verfolgt. Leider redeten ihm ein paar „Schlaumeier“ ein, dass die Ossis zu dämlich wären, Finanzämter zu installieren. Sie bekämen die Steuern nicht in den Griff. Daraufhin lud mich Waigel zum Gespräch ein. Er befragte mich nach dem aktuellen Stand. Sinngemäß antwortet ich: „Herr Waigel, wir haben in unseren Institutionen diplomierte Finanzfachleute. Zu deren Studium gehörte ein Steuerstudium, denn in der DDR gab es immer eine Einkommensteuer, wenn die Privatbetriebe juristische Personen waren, mussten diese Körperschaftssteuer entrichten. Auf diesen personellen Grundlagen haben wir die neuen Finanzämter gut ausgerichtet. Sie können unbesorgt sein, die Steuerverwaltung wird funktionieren!“ 167
Ulrich de Maizière (1912–2006).
325 Pardon, noch einmal: Dieses Beispiel ist aber symptomatisch für die Art, wie man uns damals Sachverstand absprach und uns für inkompetent erklärte. Die Buchführung in Mark der DDR wurde zum 30. Juni 1990 abgeschlossen – siehe DMBilanzgesetz (BMBilG). Damit kam es zu einer Neubewertung von Vermögensgegenständen und Schulden. Die Bewertung erfolgte auf Basis von Wiederbeschaffungskosten, bei Anlagevermögen abzüglich fiktiver Abschreibungen entsprechend den AfA-Listen des BMF. In vielen Fällen kam es zu einem negativen Eigenkapital, wobei die Treuhand Ausgleichsforderungen erstattete. Kurzum: Betriebsstätten wurden teilweise nur mit einem Erinnerungswert bewertet und symbolisch für eine DM verkauft. Der Kaufpreis lag dementsprechend am Boden. Das Bewertungsproblem ist ein kompliziertes Thema. Nur kurz dazu: Die beiden Varianten bei der Bewertung sind Buchwert oder Verkehrswert. In der Bilanz standen die Buchwerte der Maschinen, nämlich Anschaffungspreis minus Abschreibung. Der Verkehrswert, also der am Markt evtl. erzielbare Preis, ist ein anderer. Hier existieren Spielräume für eine Bewertung sowie auch für Manipulationen! Der Verkehrswert einer technisch veralteten Maschine ist gleich Null. In unseren Betrieben gab es viele ältere Maschinen und Anlagen, die schon vielmals repariert und modernisiert waren. Wir hatten oft keine Mittel, um die notwendigen Erneuerungen in der Breite zu gewährleisten. Aber diese sachlich begründete Abwertung alter Technik oder Bauten traf nur zum Teil zu. Das Abwerten auf Null passierte auch dort, wo man einfach davon ausging: Der Betrieb hat am Markt keine Wettbewerbschancen. Das war das Totschlagargument, ob nun wahr oder nicht. In den VEB zogen eine Menge Berater und Leute aus dem Westen ein. In der Regel kamen sie von der Konkurrenz und trafen entsprechende Entscheidungen. Beispiele: Im Kombinat Umformtechnik in Erfurt, einem Weltmarktführer in Pressen für den Automobilbau, erschienen Leute aus dem westdeutschen Konkurrenzunternehmen, die die Treuhandanstalt in den neu zu bildendem Aufsichtsrat holte. Im Eisenhüttenkombinat Ost (EKO), wo ich selbst im Aufsichtsrat saß, waren Herr Cromme 168, Vorsitzender von der Krupp Stahl AG sowie andere Stahlbarone. Sie können sich vorstellen, was passierte, wenn Krupp z. B. einen Mann in das Stahlwerk Brandenburg schickte, um dort bei der Erstellung der Inventur und der neuen Bilanz mitzuhelfen, die dann Grundlage eines eventuellen Kaufpreises ist. Formell sollte er aufpassen, dass die neuen Werte richtig bestimmt werden. Tatsächlich wahrte er Interessen. Viele der Helfer und Berater waren Interessenvertreter, die diesen gesamten „Bewertungsprozess des Volkseigentums“ durchführten. Mit Verlaub, das ist keine üble Nachrede verärgerter Ossis! Das kann man in den zahlreichen Berichten über die Praktiken der Treuhand bei den sogenannten „DM-Eröffnungsbilanzen“ nachlesen. Ich bekam in dieser Zeit viele Beispiele von meinem früheren Mitstreiter Prof. Dr. Neumann geschildert, der als Experte in der Treuhand arbeitete. 168
Gerhard Cromme war Vorstandsvorsitzender der Krupp AG.
326 Ich bitte Sie, tatsächlich waren die Maschinen gegenüber dem westlichen Standard veraltet und leider nicht konkurrenzfähig für die Produktion, oder? Das bestreitet doch gar keiner. Natürlich gab es auch Fälle, bei denen der Nullwert berechtigt war. Aber die Frage ist doch, wollte man eine faire Bewertung des Volkseigentums oder ging es einfach um Willkür im Umgang mit einer Art „Konkursmasse“. Das letztere war leider allzu oft die Praxis. Zum Beispiel: Ich bekam im August 1990 aus Magdeburg ein Signal aus unserer Finanzabteilung, dass die Konservenfabrik Gerwisch – als Saisonarbeiterin arbeitete dort als junges Mädchen meine Frau – von jemandem aus dem Westen gekauft worden war. Diese Fabrik war kurz vor der Wende mit teuren, aus dem Westen importierten Konservenmaschinen ausgerüstet worden. Der Mann aus dem Westen kaufte die Fabrik für kleines Geld, weil man die Technik mit der Begründung, dass der Betrieb keine Zukunft hatte, unterbewertet. Niemals hatte er die Absicht, den Betrieb weiterzuführen. Er demontierte diese modernen Maschinen, stellte diese in seiner Fabrik auf, hinterließ eine leere Halle, wo er ein Schild mit der Aufschrift „Lagerhalle zu vermieten“ aufhing. Die Leute waren sofort arbeitslos, die moderne Technik war weg. Der Versuch, diesen Deal zu stoppen, gelang nicht. Auch prominiente Politiker nahmen teil: Der ehemalige niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht kaufte 1994 für eine D-Mark das Eisen- und Hüttenwerk in Thale/Ostharz. Es ging um 1 200 Beschäftigte. Die Presse berichtete, dass Albrecht das Kinderferienheim, das er für die eine D-Mark miterwarb, wieder für 5 Millionen D-Mark weiterverkaufen wollte. Das Bundesland Sachsen-Anhalt bekunde Interesse daran. Aus dem Verkauf wurde zwar nichts, weil das Land nicht zahlte. So ging man mit unserem ehemaligen Volkseigentum um. 169 Im Jahr 1992 wurde ich Zeuge des Verkaufs der Yacht-Werft Köpenick. Ein Unternehmer aus NRW erzählte meinem Chef, Bauunternehmer Ferdinand Probst aus Oelde, von seinem Kauf. Probst war ein gestandener Unternehmer und der Käufer glaubte, ich sei ebenfalls aus Oelde: „Herr Probst, ich habe die Yacht-Werft in Berlin gekauft.“ Probst wunderte sich, denn er würde doch davon gar nichts verstehen. „Nein, darum geht’s doch auch gar nicht. Was denkst Du denn, wo die Yacht-Werft steht? An der Spree! Das sind Baugrundstücke in exponierter 1-A-Lage!“, freute er sich. Heute können Sie das Ergebnis besichtigen. Der Westfale betrieb diese Yacht-Werft nie, machte sie platt und verkaufte die vorhandenen Grundstücke. Dort baute man später teure Stadtvillen. So lief das ab! Es gab Erfolgsgeschichten, allerdings auch Betrug. Wie konnte das passieren? Wie hätte es besser laufen können und müssen? Wer war dafür verantwortlich, dass es sozusagen „chaotisch“ ablief? 169 Michael Jürgs, Die Treuhändler: Wie Helden und Halunken die DDR verkauften, 2. Auflage, Berlin
1991, S. 223–224.
327 Diese Frage ist mit den zahlreichen Veröffentlichungen über die Treuhandanstalt, die nach Rohwedder von Frau Breuel geleitet wurde, beantwortet. Lesen Sie das bitte. Ich kann mich nur wiederholen: Es gab weder politisch noch wirtschaftlich ein Interesse, alle ostdeutschen Betriebe zu erhalten, von wenigen Ausnahmen abgesehen. In allen Branchen stand bereits die Konkurrenz in den Startlöchern, um diesen Markt zu übernehmen. Die Folgen – vor allem für die Bürger und ihr Schicksal – sind in Kauf genommen worden. In den Regalen der nach dem 1. Juli 1990 sofort im Osten – anstatt HO – agierenden Aldi-, Kaiser- oder Rewe-Märkte lagen nur „Westwaren“, was für viele Ostdeutsche die Erfüllung eines Traumes war. Ja, leider dachten viele zu kurz, weil dadurch die eigenen Arbeitsplätze überflüssig geworden sind. Die DDR war ein in Konkurs geratenes Land und mit einer Art Konkursverwaltung abgewickelt worden. Formell verantwortlich für die Treuhandanstalt war Finanzminister Waigel, der den Vorstand beaufsichtigte. Unmittelbar zuständig waren sein Staatssekretär Dr. Köhler und später Dr. Haller, als Köhler das BMF im Jahr 1993 verließ. Das ist nur die formelle Wahrheit, denn der politische Wille, der hinter dem Ganzen stand, hieß doch, so rasch wie möglich diese volkseigene Wirtschaft, die das Rückgrat und die ökonomische Basis der ungeliebten sozialistischen DDR war, abzuwickeln. Das war erklärtes Ziel der starken konservativen Elite, seitdem es die DDR gab. Später versuchte ich in Gesprächen mit den genannten Männern dieses Thema zu behandeln. Bei kritischer Nachfrage waren wir sehr schnell bei der Generalantwort: Es war doch alles marode, keine brauchbare Technik, alles nur Schrott! Dieses Totschlagargument ist aber nur eine Teilwahrheit. Wir hatten in unserer Analyse 1989 geschätzt, dass etwa 30 Prozent der Kapazitäten durchaus modern und marktfähig waren. Weitere etwa 30 Prozent waren nach unserer Einschätzung sanierungsfähig, d. h. eine Modernisierung wert. Der Rest, also 40 Prozent, war nach unserer Bewertung reif zum Abriss oder nur mit einer Totalsanierung marktfähig. Das lässt sich an vielen Beispielen belegen. Beim Prozess der Privatisierung durch die Treuhand liefen ganz anderen Kriterien ab. Wenn man, wie das innerhalb der „Breuel-Ära“ ein Prinzip war, Ziele für das Tempo der Privatisierung, den Verkauf, das Verschleudern setzt, dann greift das bei den Verkäufern. Das waren „bunte Vögel“, nicht wenige junge Leute, Unternehmerkinder aus dem Westen, wenige Ostdeutsche. Die Käufer waren Profis. In dieser Partnerschaft konnte so mancher Deal gedeihen. Alle Treuhandverkäufer waren für ihre Handlungen ausdrücklich straffrei gestellt. Ich habe dort selbst Einblick gehabt. Unsere Baufirma, der ich ab dem Jahr 1991 diente, wollte Grundstücke und auch Baubetriebe erwerben. Wir kamen aber nicht zum Zuge, mal war unser Angebot zu niedrig oder plötzlich war der Betrieb verkauft, aber zu einem viel niedrigeren Preis. In Friedland/Mecklenburg und in Erfurt hatte sich unsere Firma als „Entwickler“ für desolate Betriebe angeboten. Ich sollte das mit unseren Ingenieuren organisieren, viele Besprechungen, immer neue Partner in der Treuhand, weil die Leute ständig wechselten. Ruhestandsbeamte saßen uns als Partner gegenüber. Da waren kein eiserner Wille und keine Sachkenntnis, um wirklich aus dem vorhandenen einen Neustart zu schaffen.
328 Das erlebte ich alles. Mir war das alles fremd. Einen solchen Umgang mit Werten, mit Arbeitsplätzen, mit Entwicklungschancen, alles nach den großen Versprechungen der ersten 90er Jahre hätte ich mir im Rechtstaat BRD nicht vorstellen können. Ich vertraute anfangs den Reden von der Rechtsstaatlichkeit und den „blühenden Landschaften“. Etwas naiv von mir! Konkurrenz und Profitsucht erzeugen auch kriminelle Energie. In einem Gespräch in Eisenhüttenstadt sagte der Krupp-Vertreter im Aufsichtsrat ganz forsch: Diesen Stahlstandort brauchen wir in Deutschland nicht! Ein weiteres Problem bestand darin, dass in den Führungsetagen der Betriebe fast ausschließlich SED-Parteimitglieder – mit und ohne Kontakte zur Staatssicherheit arbeiteten, aber sicherlich unter Generalverdacht standen – saßen und entlassen wurden, sodass die Kernkompetenz in der Geschäftsführung nicht mehr vorhanden war. Somit war es für die Interessenten bzw. Käufer einfacher, in Verhandlungen mit der Treuhand zu treten. Um Ihnen in einem Recht zu geben, beginne ich bei dem negativen Fall: Ja, es gab solche Werksleiter, die sich unanständig benommen hatten, die sollten gehen. Aber das war eine Minderheit. In der Regel waren Leiter bzw. Direktoren von Betrieben gestandene Persönlichkeiten: Das Kombinat z. B., in dem mein Schwager arbeitete, das Kombinat Schwermaschinenbau SKET 170 eine Weltfirma zu DDR-Zeiten – vormals die Krupp-Gruson – für Zementanlagen, Öl- und Getreidemühlen und Walzwerke. Vor allem in den RGW-Ländern, aber auch in Syrien, Irak, Mali und Algerien finden Sie diese Anlagen. Diesem Betrieb stand ein Mann vor, der wirklich untadelig war und ein hervorragender Fachmann. Aber natürlich waren fast alle SED-Mitglieder. Es kam jemand aus dem Westen, den die IG Metall dort einsetzte und der die Gewerkschafter und insbesondere den neuen Betriebsrat „aufmöbelte“. Im Eisenhüttenkombinat Ost (EKO) war das übrigens ähnlich. In Magdeburg – insofern ist das authentisch, was ich Ihnen sage – war mein Berater Breitenstein inzwischen bei der Treuhand Beauftragter für dieses Kombinat. Er erlebte dieses Spiel, wie der Betriebsrat gegen den alten Generaldirektor Front machte, nur mit einem Ziel: „Diese Altlast muss beseitigt werden!“ Breitenstein warnte: „Leute, benehmt Euch anständig. Dieser Diplom-Ingenieur, der hier das Werk leitet, leitet es gut, vergrault ihn nicht und macht keine Stimmung gegen ihn.“ Leider half es nichts. Dieser Generaldirektor wurde beschimpft, bekam etwa zur gleichen Zeit ein Angebot von Mercedes, um für diesen Konzern in einem anderen Land ein neues Werk aufzubauen, was er sofort annahm. Die Treuhand brachte einen neuen Mann, eine „Oberflasche“, der weder den Betrieb leiten konnte, noch stemmte er sich gegen den in Gang gesetzten Zerteilungsprozess der Treuhand. Ja, so etwas gab es: Wenn jemand nicht ein ganzes Werk kaufen wollte, sondern nur einen Teil davon, dann war das für die Treuhand in Ordnung. Das lief so lange, bis es den Kombinat Schwermaschinenbau SKET in Magdeburg u. a. Spezialist für Anlagen wie Zementanlagen, Ölmühlen, Getreidemühlen usw. 170
329 Magdeburger Werktätigen zu viel wurde. Der Mann wurde von der Treuhand zurückgezogen und sie schickten ihn in das Eisenhüttenkombinat Ost (EKO). Dort war mein Freund Karl Döring noch der Werkdirekter, wobei er keine Verwendung für ihn hatte und erklärte diese Situation der Treuhand. Der Mann verschwand mit unbekanntem Ziel. Das war kein Einzelfall. Im Übrigen ist es weder moralisch noch juristisch gerechtfertigt, Persönlichkeiten wegen ihr er SED-Mitgliedschaft zu entlassen. Aber das war eben überall an der Tagesordnung. Die Diskriminierung hatte ihre Wurzeln in dem tiefen Hass gegen den Kommunismus, den all jene schürten, die den „Geist ihrer Jugend“ nie wirklich abgelegt hatten. Lesen Sie dazu die Vita des Rechtsaußen, der von 1982 bis 1991 der Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion war, Alfred Dregger. 171 Thomas Mann hatte das bereits schon in den 1930er Jahren als die Grundtorheit bezeichnet, aber ohne gehört bzw. verstanden zu werden. Im Jahr 1999 gab es im Bundestag eine große Anfrage: „Wieso kann denn der frühere Staatssekretär bei der Modrow-Regierung, Wolfram Krause, noch im Vorstand der Treuhand sein?“ Die „Treuhand-Oberen“ reagierten sofort und entließen diesen Spitzenmann. Da er russisch sprach, fand er eine neue Aufgabe in einer Bankvertretung in Russland. Ähnlich verlief es im BMF mit dem Leiter der Arbeitsgruppe, den schon erwähnten Siegfried Zeißig, der die Abwicklung der Finanzbeziehungen der ehem. VEB zum Staatshaushalt mit seiner Arbeitsgruppe regelte. Ein unentbehrlicher Fachmann, der seit 40 Jahren auf verschiedenen Gebieten und hoher Position in der Finanzwirtschaft volkseigener Betriebe tätig war. Er sollte weg! Das BMF reagierte, entließ den Fachmann und stellte ihn auf Honorarbasis wieder ein. Ohne ihn und seine Expertise hätte der Bundeshaushalt wie die Betriebe viele ungelöste Probleme und Verluste gehabt. Wenn man sich die Bilanz der Treuhand anschaut, sind über 8 400 Betriebe erfolgreich veräußert und neue Eigentümer gefunden worden. Fakt: Die Bilanz in ihrer Gesamtheit ist trotzdem erschreckend sowie traurig. Die Nachwirkungen bis heute spürbar. Inzwischen existieren mindestens zehn Bücher, von denen wenigstens die Hälfte von westdeutschen Autoren geschrieben wurden, die mehr oder weniger die Ursachen der Verluste dieses Unternehmens nachweisen. Dort kann man viele Beispiele entnehmen, wo Betriebe zu niedrig bewertet und Verkaufspreise unter Wert „begründet“ wurden. Anwälte verdienten als Liquidatoren bzw. Insolvenzverwalter Millionen D-Mark. Alle möglichen Gutachter verdienten mit. Nur wenige wurden dafür zur Rechenschaft gezogen. Es gab faktisch keine Kontrollen. Man wollte wohl auch keine, denn das hätte vielleicht das Tempo bremsen können. Ich wurde im Jahr 1990 einmal zum Thema „Innenrevision“ von einem Vorstandsmitglied der
Alfred Dregger CDU (1920–2002) war u. a. in der Zeit von 1982 bis 1990 Vorsitzender der CDU/CSU Bundestagsfraktion und zählte zu den Rechtskonservativen. Oftmals wurde Dregger historische Ignoranz vorgeworfen, im Bezug auf die Rolle der Wehrmacht im Nationalsozialismus. 171
330 Treuhandanstalt konsultiert. Meine Überlegungen waren dem Mann höchst suspekt, er ließ es spüren und das Gespräch war rasch beendet. Anscheinend lag die Absicht der Bundesrepublik vor, dass primär nur Unternehmen aus Westdeutschland im Osten einkaufen sollten. Die Wirtschaftslage war zu diesem Zeitpunkt sehr angespannt. Egal wie, also bloß keinem „ausländischen Investor“ Kaufmöglichkeiten offerieren. Zweitens: Der RGW wurde aufgelöst, die DDR-Betriebe verloren ihren starken Absatzmarkt, Kunden, Händlerverbindungen und Exportstrukturen waren unvorbereitet und finanziell ausgezehrt. Drittens: Für Filetstücke wie die LeunaWerke wurden westliche Investoren gesucht. Potentielle Unternehmen waren Bayer, Hoechst, BASF usw. Sie wollten aber ihre Standorte im Westen nicht aufgeben bzw. nicht expandieren. Filialneueröffnungen waren uninteressant. Ein paar Mitarbeiter übernahmen sie, diese mussten aber zum Arbeitsplatz in den Westen umsiedeln. Viele Investoren kamen mit einem unerfüllbaren Forderungskatalog auf die Treuhand zu, obwohl u. a. Investitionszulagen, Steuervergünstigungen und eine einjährige Mitfinanzierung der Mitarbeiter auf Staatskosten garantiert wurden. Sie waren trotzdem nicht interessiert. Dann wurde das Feld um internationale Investoren erweitert, wie für Frankreich. Insgesamt war das ein ganz schwieriger Prozess im Dreiklang von Unternehmen, Treuhand und Marktchancen. Bei der Bewertung der Treuhandbilanz scheiden sich bis heute die Geister, weil unterschiedliche Erwartungshaltungen aus einer DDR- und BRDPerspektive vorhanden waren. Die Treuhand ist im Grunde beschrieben, ich würde sagen, sie tat, was sie tun musste, denn die Direktive „So rasch wie möglich“ war doch gegeben. Sie haben einige Sachgesichtspunkte angeführt. Ja, die gab es, aber sie sind nur Details des Geschehens. Es gelten kapitalistische Spielregeln und diese zu Lasten des Vermögens der DDR-Bürger. Nehmen Sie Ihr Argument mit dem Zusammenbruch des RGW: Es existieren Untersuchungen, die nachweisen, wie die westdeutschen Konkurrenten, nachdem sie Zugang zu den Auftragsbüchern und Lieferunterlagen der volkseigenen Betriebe hatten – denken Sie dabei an die von der Treuhand eingesetzten West-Fachleute –, den Osthandel mit diesen ehemaligen Kunden der VEB in Russland, Polen usw. in Gang brachten. In diesen Ländern war doch in den neunziger Jahren eine gewisse Aufbruchsstimmung. Dort wurde insbesondere von BRD-Firmen gezielt investiert. Die BRD gab für solche Lieferungen großzügig Bürgschaften. Lesen Sie bitte bei meinem Freund Dietrich Lemke 172 in seinem Buch „Handel und Wandel“ nach. Wie erlebten Sie die Unterstützung durch die Fachkollegen aus dem Bundesfinanzministerium (BMF)? Fachleute aus dem Bundesfinanzministerium, die uns beratend abgeordnet wurden, waren uns gegenüber in der Regel loyal und kollegial, wie eben Breitenstein oder Dietrich Lemke, Handel & Wandel. Lebenserinnerungen eines DDR-Außenhändlers (1952– 1995), Eigenverlag, Zeuthen 2010. 172
331 Brockhausen aus dem Wirtschaftsministerium Nordrhein-Westfalens. Es war nur ein schwarzes Schaf dabei: Ein hochbetagter pensionierter Beamter, CDU-Mann aus Köln, der reaktiviert wurde. Er hatte immerhin eine nicht „kleine Funktion“ beim Oberfinanzpräsidenten von Köln inne. Dieser meldete sich plötzlich: „Also Herr Staatssekretär, ich bin der und der und ich bin hierher abgeordnet. Stellen Sie sich vor, es möchte niemand mit mir sprechen, ich sitze dort hinten so einsam. Man hat mir gesagt, dass hier meist Kommunisten tätig sind, die mit uns nichts zu tun haben wollen. Sie sind hier als Staatssekretär neu und gehören wohl nicht dazu?“ Das war für mich ein Beispiel dafür, welche Denkhaltung aus grauer Zeit noch immer im Kopf der alten Beamtenschaft spukte. Ich musste diesen Mann enttäuschen: „Erstens bin ich nicht neu und zweitens war ich auch ‚Kommunist‘ und bin es in Gedanken noch immer, was die Verbesserung dieser Welt betrifft, obwohl ich mich nie als Kommunist bezeichnete, sondern allenfalls als Sozialisten!“ Mein Rat an den irritierten älteren Herrn war die Empfehlung, doch wieder nach Hause zu fahren. Das hat er dann wohl auch getan. Generell einen Satz zu dem Thema: Die Herren aus Bonn und wir hatten eine total unterschiedliche Vita, Herkunft und politische Prägung. Aber in dieser Situation aufeinander zuzugehen, das war vor allem von der charakterlichen Haltung abhängig. Sie sollten uns helfen, sich mit der Praxis der BRD-Finanzen vertraut zu machen sowie Rat geben in der schwierigen Lernphase vor der Währungsunion. Das hat die Mehrheit dieser Herren mit Anstand und engagiert getan. Denke ich zurück – dann überwiegen positive Erfahrungen. Der damalige Bundesfinanzminister Theo Waigel war hingegen ein vertrauensvoller Westpartner für Sie? Der ist mir – wir haben schon darüber gesprochen – als ein Mann gegenübergetreten, der bereit war, mit uns vertrauensvoll zu reden, uns anzuhören, auch einen Rat anzunehmen. Er ist mir in den vertraulichen persönlichen Gesprächen als ein herzlicher ehrlicher Partner und Mensch begegnet. Ich lasse auf ihn persönlich nichts kommen. Er sagte mal in einer Laune: „Herr Siegert, Sie hätte ich auch eingestellt.“ Dass Theo Waigel an der Seite von Helmut Kohl eine knallharte konservative Politik vollzog – und das mit viel Geschick – es ging beiden um den Gewinn der Wahl im Jahr 1990, das ist eine ganz andere Sache. Die Geschichte der Treuhand – dieses Desaster der Verschleuderung von DDR-Volksvermögen, die geschah in seiner Amtszeit. Obwohl er sicherlich inzwischen dieses Kapitel der Wiedervereinigung nicht mehr als großen Erfolg bewertet, kritisches dazu werden Sie von ihm nichts hören. Bitte charakterisieren Sie Lothar de Maizière: Sie lernten ihn bereits als Anwalt in steuerrechtlichen Fällen kennen sowie später in der Modrow-Regierung, als er letzter DDRMinisterpräsident wurde. Wie nahmen Sie ihn wahr?
332 Lothar de Maizière ist für mich ein sehr übersichtlicher, ehrlicher, anständiger Charakter. Ein Mann, der weder mit Ecken und Kanten bestückt noch hinterhältig ist, sondern der das macht, was er sagt und das sagt, was er macht. Er hat in schwieriger Zeit Verantwortung für unser Land übernommen, ohne persönliche Bereicherung im Sinne von Ruhm, Macht oder Gewinn. Ich könnte Ihnen kein Beispiel nennen, wo er mich einmal enttäuschte. Er kniete sich als Jurist und praktisch gerade als neu gewählter Vorsitzender der DDR-CDU in diese Aufgabe hinein und füllte sein Amt mit Anstand und Würde aus. Er trat diesen Auftrag, die DDR im Grunde bis zu ihrem Ende zu begleiten, mit dem Gedanken an, er müsse etwas Bleibendes aus der DDR für die Geschichte hinterlassen, was später in der neuen, größeren Bundesrepublik Bestand hat. Was ist für Sie das Bleibende von Lothar de Maizière? Beim Auftakt zu den Gesprächen über den Einigungsvertrag war Wolfgang Schäuble, Innenminister der BRD und Leiter der BRD-Delegation, gesundheitlich in guter Verfassung. Lothar de Maizière, unser Verhandlungsführer, hatte seine Bratsche mitgebracht und legte sie bedeutungsvoll auf den Verhandlungstisch. In seinen einleitenden Worten unterbreitete er den Vorschlag als Zeichen und zur Erinnerung an die DDR die Nationalhymne zu ergänzen: „Man kann diese wunderbare Melodie von Joseph Haydn nehmen und dazu wenigstens eine Strophe unserer Nationalhymne einfügen, beginnend mit der Zeile ‚Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt, lass uns Dir zum Guten dienen, Deutschland einig Vaterland‘!“ Das würde zum historischen Ereignis der Wiedervereinigung passen. Ein weiterer Vorschlag: Man übernehme die Melodie der DDR-Nationalhymne, die von Hanns Eisler geschaffen wurde, die zum Text von Hoffmann von Fallersleben harmonisch passen würde. Er griff zur Bratsche und spielte es vor. Das war gekonnt gespielt und es klang tatsächlich harmonisch – Einigkeit und Recht und Freiheit und Eislers Melodie der DDR-Nationalhymne. Er begründete seinen Vorschlag weiter: „Eisler ist ein weltberühmter, jüdischer Komponist, der im Widerstand zum NS-Regime stand, deshalb hätte er es verdient, so gewürdigt zu werden.“ Schäuble gab sich sehr gelassen. Er nahm es mit freundlichem Lächeln auf sowie die anderen Damen und Herren der BRD-Delegation. De Maizière begründete einen weiteren Gedanken: „Bundesrepublik Deutschland, warum kann es denn nicht künftig ‚Deutsche Bundesrepublik‘ heißen? Somit hätte jeder das Gefühl im Osten, es wäre nicht nur der alte, föderale Staat BRD, sondern etwas Neues, ein wiedervereinigtes Deutschland.“ Von all diesen und weiteren Gedanken de Maizières, die bleibende Zeichen setzen sollten, blieb nichts übrig. Schon das sofortige „contra“ von Schäuble ließ das erahnen! Das ist Lothar de Maizière. Er rang immer wieder darum, auf diesem schwierigen Weg unsere Interessen so gut wie möglich zu bewahren. Man wird der Beschreibung seiner Leistung wirklich nur gerecht, wenn man diese Seite seines Handelns verdeutlich. Im Zuge der Verhandlungen über die Währungsunion beauftragte er mich, in die „1:1“ Umstellung
333 die Lebensversicherung der DDR-Bürger – in der Regel kleine Beträge zwischen 3000 und 5000 Mark der DDR – mit einzubeziehen. Die Lebensversicherung von etwa 6 Millionen DDR-Bürgern hatte wirklich den Rang einer Vorsorge und nicht einer gewinnbringenden Geldanlage. Diesem Anliegen zu entsprechen, wäre sicher möglich gewesen. Der stringente Chefdirigent der westdeutschen Verhandlungsdelegation, Staatssekretär Professor Tietmeyer, war dagegen. Ich versuchte mir einen Verbündeten zu schaffen und sprach darüber unter vier Augen mit dem Vizepräsidenten der Deutschen Bundesbank, Professor Schlesinger, ein eher einfühlsamer behutsamer Mann, bei dem ich auf Unterstützung hoffte. Er sagte mir, ich solle dies vortragen. Er sah ein, dass dies ein sehr vernünftiger, menschlicher und die monetären Prämissen der Währungsunion nicht störender Vorschlag sei. Ich tat es und fiel natürlich prompt durch. Tietmeyer erklärte mir, dass dies den Rahmen der Eckdaten sprengen würde. Er ließ auch keine Erörterung zu, die vielleicht einen Kompromiss hervorgebracht hätte. Ich musste also Lothar de Maizière diese negative Botschaft überbringen. Er hätte eher mal eine positive Nachricht in diesen „heißen“ Tagen gebrauchen können. Ilse Siegert: Ich füge hinzu: Sein Vater war ein Anwalt der einfachen Leute. Die Familie lebte in Treptow, die Kanzlei war in der Friedrichstraße, Ecke Oranienburger Straße. Man merkte ihm immer an, dass er einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn hatte. Das half ihm sicherlich in seinem Amt nicht viel, weil dort andere Prioritäten bestimmend waren. Aber er geht heute noch schwer mit dieser Erfahrung, dieser wenig vertrauensvollen Politik um, wenn man bloß an den Petersburger Dialog denkt. Egon Krenz wurde verurteilt. Während seiner Zeit gab es Grenztote, dafür bekam er sechs Jahre und sechs Monate Haft, wovon er fast vier Jahre absaß. Hans Modrow erhielt für ein Strafverfahren wegen Wahlfälschungen und meineidlicher Falschaussage eine Bewährungsstrafe. Lothar de Maizière wurde einer Stasi-Tätigkeit als „IM Czerni“ verdächtigt. Letztendlich konnten diese Anschuldigungen nicht eindeutig bestätigt werden. Finanzielle Einschränkungen sind damit ebenfalls verbunden. Wie ist Ihre Sichtweise? Ilse Siegert: Das geht bis hin zur Strafrente. Mein Mann bekommt eine „Strafrente“. Als ich in Rente ging und meinen Gehaltsnachweis einholen musste, ging es um das Grundgehalt, was ich als Lehrerin bekam. Das wurde willkürlich, aus politischen Gründen, weil ich Lehrerin war und praktisch als Staatstragende arbeitete, von siebenhundert und neunzig Mark auf sechshundert und zwanzig Mark herabgestuft. Walter Siegert: Wir schlossen uns zusammen, die „Strafrentner“, das ist ein Kreis von mehr als zehntausend Rentnern in der DDR. Bei einer Reihe von Berufsgruppen konnte man es nicht durchhalten und musste die Bestrafung zurückziehen. Diese Leute bekamen die Rente dann in voller Höhe und sogar teilweise Nachzahlungen. Ich bin noch heute
334 sehr aktiv in der Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde e.V.! Wir nahmen uns ein großes Anwaltskollegium, wir glaubten, sie bekämen das besser hin. Sie prozessierten und um die Jahrtausendwende kam ein Urteil vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Den Haag. Dieses Urteil gab uns Recht und forderte die Bundesregierung zur Korrektur dieses Unrechts auf. Es geschah aber nichts! Wir haben uns auch auf das Grundgesetz berufen. Es widerspricht dem Grundgesetz, denn eine Rente ist ein Eigentumstitel und den kann man nicht enteignen. Die Schröder-Regierung setzte sich 2005 für eine Korrektur ein. Im Sozialausschuss des Bundestages kursierte dazu ein Beschlussvorschlag. Es fanden sich aber Abgeordnete bzw. ehemalige Bürgerrechtler, die diesen Vorschlag kippten. Sie hatten längst erkannt, dass man sich mit sogenannten „Anti-DDR-Aktionen“ besonders populär machen kann, speziell in den Boulevard-Medien. Ein unappetitliches Instrument, um Wunden offen zu halten. Ich hatte die Möglichkeit, auch in den neuen Beschlussvorschlag Einsicht zu nehmen. Daraufhin rief der damalige Präsident des Bundestages, Wolfgang Thierse, 173 an. Ganz kess meinte er: „Ach wissen Sie, der Staatssekretär ist in der Liste der Strafrentner gar nicht namentlich genannt.“ Ich antwortete: „Herr Thierse, es ist der stellvertretende Minister genannt. Der Staatssekretär wurde nur vergessen, weil die Leute, die diesen Entwurf erstellten, keine Ahnung hatten. Aber der fällt genau darunter, Sie werden es erleben.“ Er meinte wiederum, es sei doch nur der „Staatssekretär im Politbüro“ genannt und ich wies ihn darauf hin, dass es den nie gegeben habe, das hatte jemand geschrieben, der keine Ahnung hat. Er beruhigte mich, es würde mir nichts passieren, meine Rente würde ich bekommen. Inzwischen sind es fast 100 000 Euro, die uns geklaut worden sind, ohne jede Fallprüfung oder einem rechtlichen Urteil. Seit 1994 bin ich Rentner, inzwischen sind es fünfundzwanzig Jahre, 300 Euro im Monat – früher waren es 600 D-Mark – fallen pro Jahr entsprechend 3 600 Euro an. Wir haben immer wieder versucht, über Klagen und Petitionen unser Recht zu bekommen. Bei der UNO-Menschenrechtskommission fanden wir Gehör, die klar formulierte: Das ist Unrecht, das muss man ändern! Ilse Siegert: Unser Stolz verbietet es, uns in irgendeiner Weise zu beklagen. Wir kommen gemeinsam monatlich mit 2 800 Euro Rente gut zurecht, sind froh, glücklich und erfreuen uns, unserem Alter entsprechend, einer einigermaßen guten Gesundheit. Wir sind in der Lage, uns den ganzen „Kladderadatsch“ von weitem anzusehen. Walter Siegert: Das ist für mich erledigt! Der liebe Gott, zu dem ich ein etwas gestörtes Verhältnis habe, war immerhin so nett, mich noch heute auf dieser Erde umherwandern zu lassen und mir – meine Frau sagte es gerade – eine Rente zu geben, mit der ich leben Wolfgang Thierse (geboren 1943) war u. a. im Neuen Forum, dann in der SDP und gehörte in der Zeit von März bis Oktober 1990 der Volkskammer der DDR an. Gehler/Dürkop, Deutsche Einigung, Ebd., im Gespräch mit Wolfgang Thierse. 173
335 kann. Dank meiner amerikanischen Verwandtschaft hätte ich die Möglichkeit, mit meiner Frau zu verreisen. Natürlich Amerika sowie Europa zu bereisen und interessante Ziele anzusehen. Nun genießen wir jeden Tag unseren Garten. Unsere Kinder, Enkel und Urenkel besuchen uns regelmäßig. Stellten Sie einen Antrag bei der BStU auf Einsichtnahme Ihrer Stasi-Akte? Zuerst nicht. Aufgrund unserer Gespräche stellte ich einen Antrag und las die Dokumente. 174 Warum zögerten Sie? Kollegen, die es taten, sagten mir, wer dort seine „Drecksnachrichten“ hinterließ – natürlich ist das schwer feststellbar, aber ich besitze eine Kombinationsgabe, es geht v. a. um zwei Personen. Von denen hatte ich damals den Eindruck, sie seien unehrlich. Das muss ich mir nicht noch einmal bestätigen lassen. Dann wäre ich nur in der Statistik von Herrn X, der nachfragte, das ist doch deren Erhaltungspotential. Sie reiten immer darauf herum, v. a. Herr Roland Jahn, dass noch immer Anfragen kommen. Was ist jetzt Ihr Eindruck? Die von uns eingesehenen Dokumente sind unbrauchbar und mit falschen Einträgen gefüllt. Faktum ist: Über 7,1 Millionen Ersuche und Anträge sind bei der BStU seit Ende 1990 bis heute eingegangen. Darunter 3,1 Millionen von Bürgern. Im Jahr 2016 stellten über 48 000 Bürger einen Antrag auf Akteneinsicht. 175 Das ist doch klar, das taten die Leute doch nicht von sich aus. Sie werden doch gezwungen, die Anträge zu stellen, weil sie in ihrer Arbeitsstelle den „Persilschein“ vorzeigen müssen. So funktioniert das. Sie gingen nicht aus Interesse und Antrieb dorthin, bis natürlich auf einen gewissen Teil, der damit eigene Ziele verfolgte. Ilse Siegert: Das vergiftet nur die Herzen und die Köpfe. Walter Siegert: Vor kurzem wurde ein erneuter Durchlauf angeordnet bei allen Leuten des Berliner Abgeordnetenhauses und des Magistrats, nur um Andrej Holm 176 als linken Staatssekretär zu kippen. Die Angelegenheit ging nach hinten los. Es gab eine große Studentendemonstration vor der Humboldt-Universität und Proteste an den Rektor, dass Holm wiedereingestellt werden müsse. Es klappte, Holm wurde wiedereingestellt. Holms
174 Durch die Gespräche mit Dürkop entwickelte Siegert ein Interesse an einer vermutlichen StasiAkte. Somit stellte er im Jahr 2018 einen Antrag auf Einsichtnahme bei der BStU in Berlin. 175 Akteneinsicht per Antrag: https://www.bstu.de/akteneinsicht/privatpersonen/ (letzter Zugriff 29.12.2020) 176 Andrej Holm war u. a. Dozent für Stadtentwicklung an der Humboldt-Universität in Berlin.
336 Mitwirkung an der Stadtentwicklung als ausgewiesener Experte wurde allerdings verhindert. Wer ist bzw. sind für Sie der bzw. die Verantwortliche(n) für das Ende der DDR? Können Sie Akteure namentlich benennen? In dem Buch von Klaus Blessing „Wer verkaufte die DDR? Wie leitende Genossen den Boden für die Wende bereiteten“ ist die Antwort zu finden. Ich gehe damit konform, abgesehen von dem Erdrutsch, den unser großer Bruder, die Sowjetunion, uns beschert hat. Aber es kann nicht alles auf sie geschoben werden, es war die Führung. François Mitterrand war damals bei Modrow und Margaret Thatcher ließ ihm über Autoritäten vermitteln, sie seien am Fortbestand der DDR interessiert, wenn es eine Wendung gäbe und sie ein marktwirtschaftlicher Staat mit vielen Veränderungen würde. Sie wollten nicht, dass ihnen die große Bundesrepublik Deutschland als Ganzes gegenüberstünde. Sie sagten, es sei überhaupt kein Problem, wir wären auf dem Weg nach Europa und ob darin ein oder zwei deutsche Staaten existent wären, sei schon interessant. Dies ist auch meine These, das kann aber auch falsch sein, aber Modrow gibt mir diesbezüglich Recht. Der österreichische Bundeskanzler Franz Vranitzky und Hans Modrow unterzeichneten am 24. November 1989 in Ost-Berlin eine Vereinbarung über die Schwerpunkte der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen der DDR und der Republik Osterreich für das Jahr 1990. Wie erlebten Sie dieses bilaterale Abkommen? Ja, das weist in die gleiche Richtung. Österreich war für uns politisch sowie wirtschaftlich ein guter Partner. Das sollte fortgeführt werden. Die DDR und Österreich waren ein Gleichgewicht. Welche Aktivitäten seitens der USA gab es in den letzten Monaten der DDR? Im September 1990 hatte ich die Chance, im State Department ein Kolloquium abzuhalten, um davon zu berichten, was die DDR war und warum sie nicht mehr existierte. Wie kam es dazu? Die DDR hatte immer darum gerungen, mit möglichst vielen Ländern den Status der Meistbegünstigung zu erreichen, d. h. gleiche sowie vorteilshafte Handelsbedingungen wie andere Länder zu erhalten. Die neue gewendete DDR war den Amerikanern plötzlich so viel wert, ihr das zuzubilligen. Ein Zeichen dafür, dass auch sie von einer längeren Existenz der DDR ausgingen. Im Büro von de Maizière war man unsicher. Es wäre Quatsch, acht Wochen vor Schluss so ein Abkommen abzuschließen. De Maizière rief mich an: „Ich halte das für falsch. Wir schließen bald, aber wenn die Amerikaner so anständig sind und uns so einen Vertrag anbieten, dann gehen wir hin und verhandeln.“ Ich übernahm diese Aufgabe. Es war „Neuland“. Ich hatte schon viele Botschaften besucht, aber war noch nie bei den Amerikanern. Nach einem sachlichen Austausch mit dem Handelsrat gab es ein Gespräch mit dem Botschafter, Richard Barkley. Er hatte gehört, dass ich Verwandtschaft in den USA habe und fragte, ob ich sie besuchen wolle. Meine Cousine Anne rief bereits Weihnachten 1990 an und fragte: „Viele haben hier
337 Besuch aus Germany, warum kommst Du nicht?“ Ich holte mir also einen Visa-Antrag und musste feststellen, dass man nach kommunistischen Zugehörigkeiten gefragt wird. Aus dieser Erfahrung sagte ich zum Botschafter: „Wissen Sie, schon bei der dritten Frage falle ich bei Ihnen durch, weil ich Ihnen da gestehen muss, dass ich Mitglied kommunistischer Organisationen war.“ Er sah mich an und entgegnete: „Herr Staatssekretär, was soll denn das, schicken Sie mir Ihren Pass zu, ich regle das.“ Mein Pass kam mit Visa schnell zurück und ich flog mit meiner Frau am 14. September 1990 los. Zuerst nach New York, dann nach Bismarck, der Hauptstadt von North Dakota zum Cousin, dann nach Washington. Mein Cousin war Professor für Health Management an der George Washington University (GW). Seine Frau betreibt ein sehr einträgliches Beratungsunternehmen. Wir durften dort in einer Villa wohnen, die beeindruckend war. Meine besorgte Frage an meinen Cousin war: „Kurt, was meinst Du, werden dort auch ‚aggressive‘ Fragen gestellt?“ Er beruhigte mich, ich bräuchte keine Sorge haben, Amerikaner seien Pragmatiker. Sie würden nur wissen wollen, wie die Dinge sind und wie nicht. Der Botschafter gab mir auf den Weg mit, dass ich das erzählen sollte, was sich momentan in der DDR abspielt. „Was sollte ich den Leuten im State Departement Neues erzählen? Sie sind doch Botschafter und berichten nach Hause, was in der DDR vorgeht.“ Er meinte: „Es ist ein sehr großer Unterschied, was wir berichten und was ein Augenzeuge erzählt.“ Der Saal war wie zu Abraham Lincolns Zeiten eingerichtet mit gedrechselten Tischen usw. Es saßen vielleicht einhundert Leute dort, einige in Uniform, also Militärs, woher, weiß ich nicht. Es gab nach meinem Eingangsstatement freundlichen Applaus, dann anschließend in der Diskussion – etwa zwei Stunden – Fragen über die gesamte Breite. Ich berichtete über das DDR-Leben: „Es war in der DDR eigentlich so, wie bei Ihnen hier. Man vermittelte den Kindern, Du musst ein ‚Winner‘ und kein ‚Looser‘ sein. Das klappte bei uns auch ganz gut. Wir hatten eine gute Ausbildung. Aber das sozialistische System hat natürlich in dieser Frage einen großen Nachteil. Wenn man sich anstrengt und etwas leistet, aber die Entlohnung nicht dementsprechend ist. Dass der Spitzeningenieur nicht viel mehr verdient als ein guter Facharbeiter, keiner ausreichend motiviert wird, dann ist der Anreiz, um mehr Liquidität auf dem Konto zu haben, dann ist Leistungsbereitschaft ein Problem. Selbst für eine Erfindung erhält man vielleicht eine Prämie von fünftausend oder auch fünfzigtausend Mark. Aber was macht man mit dieser Prämie? Ein Haus in der DDR zu bauen, war schwierig, man konnte Häuser bauen, aber das ging eben nur im Rahmen weniger Typen. Ein Auto kaufen, ach um Gottes Willen –, die Wartezeit war sehr lang. Illusorisch, das Geld in Aktien anzulegen, um damit zu spekulieren und Geld zu verdienen! So passt die Welt nicht zusammen, selbst wenn man kein Looser ist. Es gab also Barrieren, um Leistung und Initiative zu wecken.“ Nach dem Vortrag war ich erschöpft und zufrieden. Zusammen mit dem Gastgeber, Chief of Department Central Europe, stießen wir auf eine gute Zukunft an.
338 Wie entwickelte sich nach der Gründung der DDR die „private“ Wirtschaft in der DDR mit den „volkseigenen Betrieben“? Es war notwendig und gerecht, dass als Konsequenz der Verbrechen des 2. Weltkrieges aus den Waffenschmieden Volkseigentum entstand. Die industrielle Basis des Faschismus und seiner Kriege musste dauerhaft weg! Wir hatten 1945 nur einen Gedanken: Nie wieder Krieg – damit war dieser Schritt auch von den Leuten legitimiert. Die Enteignung der Nazi- und Kriegsverbrecher-Betriebe war im Potsdamer Abkommen für ganz Deutschland festgelegt. Nur im Bereich der „Sowjetischen Militäradministration“ (SMAD) hat man sich darangehalten. Man ging dabei sehr robust vor. In Sachsen fand ein Volksentscheid mit hoher Zustimmung statt. In den anderen Ländern der SBZ gab es entsprechende Landtagsbeschlüsse. Auch kleine mittelständische Betriebe hatten für die Rüstung gearbeitet. In meinem Heimatort gab es einen Ingenieurbetrieb, der baute Dieselmotoren für U-Boote, dieser wurde auch enteignet. Viele kleine und mittlere private Unternehmen blieben erhalten. Solche betreute ich als Steuerberaterassistent in den Jahren 1947/48/49. Leider sind sie dann nicht selten in Schwarzmarktgeschäfte geraten; Strümpfe und andere Textilien waren sehr gefragt. Auch steuerliche Vergehen bedeuteten oft das Ende. Schließlich verließen viele Unternehmer die DDR, mit Hoffnung auf einen Neustart im Westen. In den späten 1950er Jahren hat sich dann die Haltung der SED Führung zu den mittelständischen Betrieben „gedreht“. Die Politspitze erkannte, wie nützlich diese privaten Betriebe, ihre Initiative und ihre bürgerliche Partnerschaft sind. Die Konsequenz war dann das Angebot „Staatliche Beteiligungen“. Das haben viele Unternehmer gern angenommen. Produktion und Einkommen stiegen an. Es ging ihnen gut und sie haben sich auch zur DDR bekannt. Beispielsweise das Steinbruch- und Bausandunternehmen, in dem mein Schwiegervater als Meister arbeitete und wo ich ab und zu beratend aushalf. Im Jahr 1972 kam wieder eine Zäsur, indem alle halbstaatlichen Betriebe – mit entsprechenden Entschädigungen – zu volkseigenen Betrieben gemacht wurden. In der Regel blieben die Unternehmer weiter die Direktoren der Betriebe. Insgesamt war diese Entscheidung aber falsch, weil politisch und wirtschaftlich im Minus. Warum? Es wurden viele Produkte im Bereich der Textil-, Glas- und Haushaltswaren nicht mehr hergestellt. Die Sortimente dieser Betriebe wurden auf Zulieferungen zu den Großbetrieben umgestellt, um dort „Engpässe“ zu schließen. Diese „Aktion“ war eine Empfehlung aus Moskau, dieser folgte Erich Honecker. Ich bekam die Gelegenheit, in Apolda/Thüringen vor Ort mitzuerleben, wie die Sache konkret ablief. Dort gab es einige Unternehmer, die dieser Verstaatlichung nur deshalb zustimmten, weil sie mit einer erheblichen technischen Modernisierung ihres Betriebes verbunden war. Ihre Betriebe, in denen sie die Chefs blieben, bekamen Zugang zu modernen Westimporten. Die Leistung und das Sortiment wuchsen an. Es gab Möglichkeiten, die vorher verschlossen waren. Aber diese Vorzeigebeispiele waren nur punktuell. Insgesamt war das politisch und wirtschaftlich eine Fehlentscheidung mit vielen Vertrauensbrüchen. Es gab nach dem Jahr 1972 in der DDR ungefähr noch 8000 kleine, private
339 Unternehmen, z. B. Fuhrunternehmer, Musikinstrumentenbauer, Händler, Wäschereien usw., aber keine privaten Industrie- oder Bauunternehmen. Wurden später diese rund 8000 Betriebe von der Treuhand übernommen? Nein, die Zahl von etwa 8000 volkseigenen Betriebe bezieht sich auf die VEBs. Die kleinen, privaten Betriebe bestanden weiter oder gingen pleite. Die Treuhandanstalt begann im März 1990 unter Leitung von Dr. Moreth (LDPD), einem stellvertretenden Ministerpräsidenten aus der Modrow-Regierung, ihre Arbeit. Zunächst mit erprobten Fachleuten aus dem ehemaligen DDR-Ministerium. Nach und nach kamen im April/Mai Beamte aus der BRD, Spitzen wie Gohlke und Rohwedder, hinzu. Wie gesagt wurden die aus dem Jahr 1972 verstaatlichten privaten Betriebe reprivatisiert. Sie wurden von den früheren Eigentümern wieder übernommen, soweit diese es noch wollten oder konnten. Ich kenne solche Beispiele, wie z. B. die Möbelfabrik Eibenstock, deren Inhaber in der DDR-Mitglied der Volkskammer war und im Jahr 1990 den Neuanfang wagte, was aber leider misslang. Zum Thema Treuhand: Man kann diese Geschichte nicht verstehen, wenn man dabei nicht die damaligen politischen und wirtschaftlichen Prämissen im Blickfeld hat. Die neue Treuhandrichtlinie vom Juni 1990 kippte Modrows Zielstellung: „Volkseigentum erhalten, sanieren und stabilisieren!“ Diese wurde übrigens auch vom „Zentralen Runden Tisch“ mitgetragen. Es kam zu einem totalen Paradigmenwechsel: „Privatisieren ging vor, anstatt zu sanieren!“ Die Treuhandanstalt zur Erhaltung des Volkseigentums oder vielleicht sogar mit der Chance auf eine künftige Gewinnbeteiligung der Bürger und Bürgerinnen der DDR waren nur Träumereien! Ich gestehe mir ein, ich durchschaute diese Dimension nicht sofort, warum unsere Modrow-Verordnung zur Treuhand im Juni 1990 durch die neue Verordnung ersetzt wurde. Zumal ich aus den Gesprächen mit Rohwedder sein Credo vom „Erhalt der Arbeitsplätze“ gehört hatte. Ich erinnere mich genau an seinen Satz: „Wir müssen die Sterbeliste so klein wie möglich halten!“ Das sagte er etwa im Mai 1990 zu mir. Allerdings weit gefehlt, es kam anders, denn es galten nicht gute Absichten, sondern „Interessen“. Ich meine sogar, man brauchte in der Bundesrepublik keine Konkurrenz aus der DDR. Signale dieser Art nahm ich sehr bald wahr. Freie Kapazitäten, fehlende Aufträge, das Drängen nach neuen Märkten in Ostdeutschland sowie im gesamten RGW-Raum waren im Westen unternehmerische Zielvorstellungen. Besonders der Maschinen- und Anlagenbau der DDR war in den sogenannten kapitalistischen Ländern als Konkurrenz spürbar präsent. Dementsprechend ist es alsbald verlaufen. Zu Zeiten Rohwedders allerdings noch zögerlich, nach dessen Tod durch Mordanschlag Ostern 1991 in der neuen Ära mit Birgit Breuel 177 dann ganz ohne Scham! Birgit Breuel (geboren 1937) war u. a. in der Zeit von 1991 bis 1994 Präsidentin der Treuhandanstalt.
177
340 Übrig blieben ein paar sogenannte Leuchttürme. Beispielsweise Eisenach, Zwickau, Freiberg, Schwarzheide sowie ZEISS-Jena mit exzellenten Fachleuten und Spitzenprodukten. In Jena brachte sich Lothar Späth 178 mit seinen Freunden ein und machte Milliarden „locker“! ZEISS Jena war in der DDR bereits ein Unternehmen mit Spitzentechnologie für die Raumfahrt und in der Militärtechnik. Es war somit ein Forschungspotential ersten Ranges vorhanden. Kurzum: Es überlebte, was profitabel war. Später entschied Helmut Kohl ähnliches für Leuna. Interessant war der Traditionsstandort Eisenach für Opel sowie Zwickau für VW sowie die Hochtechnologie in Freiberg für die Chipproduktion. Alle Erklärungsversuche, die sich auf die These „das meiste war Schrott“ stützen sind pauschalisierend, unqualifiziert sowie unredlich. Mein Herz blutete: Es ist eine Melange von einem „blinden Ausverkauf“ sowie einer „alles-muss-raus- Mentalität“. Wir wollen das Thema „Volkseigentum“ und alles, was sich damit politisch und ideologisch verbindet, so schnell wie möglich aus der Welt haben – so war wohl die Parole. Es ist die Liquidation, der Ausverkauf des Eigentums „eines Volkes“, das sich selbst entmündigt hat, dem wir keine Rechenschaft ablegen müssen. Das klingt hart, so ist aber der Lauf der Dinge nach dem Votum vom 18. März 1990. Wer hat schon in dieser Zeit wissen wollen, dass das Volkseigentum der DDR das fleißige Aufbauwerk von mehreren Generationen ist und nachweislich enorme Werte an Technik, an Bausubstanz, an Grund und Boden und Finanzen verkörperte. Die Regierung de Maizière, die nach dem 1. Juli zunehmend in den Strudel der Brüche im Gefolge der radikalen Marktöffnung, einer explodierenden Arbeitslosigkeit, von Treuhandkapriolen, der explosiven Stimmung unter den Landwirten, des täglichen Presseechos in Endzeit und Auflösung geriet, konnte das nicht mehr beeinflussen. Es war mit dem Regieren vorbei. Spitzen-Politiker von damals äußern sich auch heute, wie der Kanzlerberater, Johannes Ludewig 179, in einer TV-Sendung des MDR: „Ja, wir hätten manches anders machen sollen. Wie in Jena hätten wir an anderen Orten Geld in die Hand nehmen müssen, um Leuchttürme zu erschaffen. Interessant aber waren damals die großen Infrastrukturprojekte im Osten, da winkten Riesenaufträge für die Baukonzerne, für Siemens, an den neuen Trassen, Autobahnen und der elektronischen Hochrüstung des Ostens.“ Vieles, was heute „erzählt“ wird, ist leider weit weg von der realen, politischen und wirtschaftlichen Situation der 90er Jahre, weil es damals nicht mehrheitsfähig war und auch die Interessen der Politik und der Konzerne ganz andere waren. Es spielt die Tatsache eine Rolle, dass die Ostdeutschen in Sachen sozialer Marktwirtschaft eher unerfahren bzw. sogar unwissend waren! Diese Erklärung trifft generell so nicht zu. Die „Chefs“ volkseigener Betriebe waren nicht ahnungslose Träumer in Sachen Marktwirtschaft. Alle größeren Betriebe und erst 178 Lothar Späth (1937–2016) war u. a. in der Zeit von 1978 bis 1991 Ministerpräsident von BadenWürttemberg. 179 Johannes Ludewig war u. a. Abteilungsleiter im Bundeskanzleramt und Vorstand der Deutschen Bahn.
341 recht die Kombinate hatten mit dem internationalen Markt in Ost und West zu tun. Der Hauptexporteur WMW-Export, wo mein Sohn arbeitete, hatte weltweit Vertretungen. Spezialisten verkauften Maschinen in Europa, Mittelost, auch in Japan. Man kannte die Märkte und war kraft des „Know-hows“ erfolgreich. Aber auch der Werkzeugmaschinenbau in Chemnitz war schnell abgewickelt. Die guten Fachleute folgten Offerten der Konkurrenz. Wenige der DDR-Experten verblieben in Chemnitz. Sie fanden in der TU-Chemnitz Chancen. Zum Neuanfang schaffte es ein Nachfahre der Niles Familie mit einer Neugründung in der alten Tradition dieser Weltfirmen. Die Unerfahrenheit am Markt war nicht der Grund der Talfahrt. Es ist mehr als „verständlich“, das westdeutsche Unternehmer die Chance nutzten, die Konkurrenz entweder auszuschalten oder ihre Experten, ihr Wissen sowie ihre Kunden zu okkupieren. Auf diesen Tag „X“ waren sie vorbereitet. Ohne Namen zu benennen, kann ich Ihnen verbindlich mitteilen, was mir von Partnern aus der BRD im Jahr 1990 offenherzig anvertraut wurde: Auch Gewerkschaftsfunktionäre der IG Metall wirkten mit. Für mich ist das „nachvollziehbar“, denn jeder Arbeitsplatz im Osten war für sie eine Konkurrenz. Außerdem gab es im Jahr 1990 in der Bundesrepublik fast 2 Millionen Arbeitslose. Mir berichteten Freunde, wie Gewerkschafter der IG Metall Stimmung gegen den alten Chef im SKET Magdeburg machten. Ein kompetenter Fachmann war plötzlich nur noch der „SEDBonze“, den man sofort loswerden müsste. So ging der Kapitän von Bord. Er saß bald in einer Führungsposition des Mercedes Konzerns. Der neue Mann, den die Treuhand schickte, war ein hilfloser Versager. Das große und weltweit aktive Anlagenbau-Unternehmen SKET war bald am Ende und wurde filetiert, zur Freude der Wettbewerber in der Alt-BRD. Ich habe das Treiben ganz unmittelbar im Eisenhüttenkombinat Ost in Eisenhüttenstadt verfolgt. Im Aufsichtsrat des EKO saß 1990 nun auch der Konzern-Vertreter Dieter Spethmann von der Thyssen Stahl AG, der erklärte, man brauche diesen Standort in Deutschland nicht. Also eine klare Absage. Generaldirektor Karl Döring hat mit seiner Mannschaft ums Überleben gekämpft, vor allem mit russischen Partnern Lösungsansätze und Wege gefunden. Sie lieferten Rohstoffe und bekamen Stahl. Also – der Osthandel brach nicht zusammen, wenn man die richtigen Wege ging. Die Treuhand hat 1992/93 versucht, den Betrieb zu verkaufen, viele Anläufe, viele teure Gutachten, Millionen Anwaltskosten etc. Dann gelang es im Jahr 1994, dieses Kombinat zu privatisieren; ein italienisches Unternehmen zweiter Klasse war der neue Eigentümer. Die EKO Stahl GmbH firmiert seit der Fusion mit Arcelor unter der Bezeichnung ArcelorMittal Eisenhüttenstadt GmbH. 180 Darüber schrieb Karl Döring ein Buch, für mich eine beeindruckende Geschichte. 181 Allerdings mit beschämenden Fakten, was die politische Rolle der Treuhand und mancher dort tätigen Leute angeht. Nach seinem Ausscheiden gründete Döring ein BeratungsZur Chronik: https://eisenhuettenstadt.arcelormittal.com/Ueber-uns/Geschichte/Chronik/ (letzter Zugriff 10.12.2019). 181 Karl Döring, EKO Stahl für die DDR – Stahl für die Welt: Kombinatsdirektor und Stahlmanager – Eine Autobiographie, Berlin 2015. 180
342 unternehmen und wurde Professor am Moskauer Stahlinstitut, einer großen Fachhochschule mit langer Tradition und weltweiten Verbindungen. Das Kapitel „Treuhandanstalt“, was Frau Breuel sowie andere Manager geschrieben hatten, ist insgesamt kein Ruhmesblatt. Manches war von Anfang an gegen die guten Sitten. Beispielsweise die Gewährung der Einsicht in die Kundenkarteien sowie technischen Unterlagen von ehemaligen VEBs durch Konkurrenzunternehmen aus dem Westen. Ich würde das als Wirtschaftsspionage bezeichnen. Die Treuhand war als ein Liquidationsunternehmen angelegt: Verkaufen, Privatisieren anstatt Sanieren sowie ökonomisch zu stabilisieren. Es gab Prämien für rasche Verkaufserfolge, egal, zu welchem Preis. In der Treuhand war ein „Kommen und Gehen“ von allen Leuten, jungen Absolventen sowie ausgemusterten Beamten. Ich erlebte es selbst, als ich für die Firma Probst dort verhandelte. Anwälte, Berater und auch Wirtschaftsprüfer, die dort das große Geld mit Gutachten „von der Stange“ machten, konnten und wollten vermutlich nicht anders. Auf den Punkt gebracht: Wen wundert es? Das Erbe der DDR war faktisch herrenloses Gut, wie es mal ein Journalist formulierte. Waren Sie mit Vorgängen in der Treuhand vertraut? Als Staatssekretär kaum, die Vertretung im Verwaltungsrat nahm der Minister überwiegend selbst wahr. Wie gesagt, später im Unternehmen Probst hatte ich öfter dort zu tun. Dazu: Im Jahr 1992 lernte ich im Projektentwicklungsunternehmen auf Initiative meines agilen Chefs Ferdinand Probst einige sogenannte Projekte der Treuhandanstalt kennen. In Friedland von Mecklenburg-Vorpommern sollten wir einer aus der DDR renommierten Keramikfabrik wieder auf die Beine helfen. Was war passiert? Die Tongrube, also die Rohstoffbasis des Betriebes, mit einem einmaligen seltenen Material unweit des Betriebes, hatte die Treuhand an einen Kosmetikhersteller verkauft. Dieser Betrieb hatte also seine „goldwerte“ Materialbasis verloren. Damit war das Todesurteil gesprochen, dieser alte Traditionsbetrieb war mausetot. In Erfurt bemühten wir uns monatelang Teile des ehemaligen Mikroelektronikkombinates neu zu beleben. Erst ging es mit einem sehr konstruktiven Mann aus der Landesentwicklungsgesellschaft NRW voran. Dann kamen Hindernisse und ein Abbruch dieser Hilfe aus NRW. Warum? Es erfolgte keine Erklärung. Wir hatten schon viel Zeit und Geld in diese Recherche und Planung investiert. Plötzlich kam als „neuer Mann“ der Treuhand und unser Partner ein Staatssekretär im Ruhestand. Nett, freundlich und von Sachkunde ungetrübt und freute sich, in mir einen „Kollegen“ zu treffen. Kurzum: Die Sache war nun gestorben. Wir zogen uns zurück und die Abrissbirne tat ihr Werk. Zum fiskalischen Aspekt: Der Erhalt unserer Betriebe unter dem Dach der Treuhandanstalt war so, wie wir sie uns als wirklich treuhänderisch wirkende Institution vorstellten und hatte auch eine fiskalische Seite. Die Betriebe sollten, ein gutes Management vorausgesetzt, was Sanierung und Modernisierung einschließt, weiterhin eine stabile Quelle für den Haushalt der neuen Länder sein! Diese Chance bestand. Es war nicht alles Schrott. Das ist längst widerlegt. Nehmen Sie allein die zahllosen Grundstücke in bester
343 Lage, die heute noch der TH-Nachfolgeinstitution 182 jährlich Millionen einbringen. In diesem Missmanagement der Treuhand hat der enorme Transfer von West nach Ost seine Wurzeln. Die guten Facharbeiter und Ingenieure wanderten großenteils in den Westen ab. Tausende für immer und im grenznahen Raum als Berufspendler. Davon profitierte das Bruttosozialprodukt der BRD; betrachten Sie den außerordentlichen Zuwachs der Jahre 1990/1991. Belegbar ist, dass bei einer nicht kleinen Anzahl am internationalen Markt erfolgreicher Betriebe ein Überleben möglich gewesen wäre. Potente Betriebe sind an Siemens, IG Farben oder Baukonzerne verkauft worden. Doch sie sind nur noch die „verlängerte Werkbank im Osten“ und ihre Erträge fließen steuerlich eben nicht in die Haushalte der neuen Bundesländer. Eine Person aus dem Vorstand eines Chemiekonzerns, der u. a. das Synthesewerk Schwarzheide kaufte, meinte zu mir, er habe dort einen Betrieb vorgefunden, der auf höchstem technologischem Niveau produzierte, und er habe deshalb sofort zugegriffen. Die Folgen der Integration von ostdeutschen Betrieben in die Konzerne des Westens werden beklagt, weil sie nur noch die verlängerte Werkbank sind, ihre Auslastung schwankt und somit auch die Beschäftigung. Genau das hört man immer wieder von der Ostbeauftragten der SPD. Aber es ist alles nur Theaterdonner, denn es ändert sich nichts, weil auch die Regierung hilflos ist. Die Konzerne rechnen sich alle steuerlich arm. Die Mehrwertsteuer ist die größte Einnahmequelle des Bundeshaushaltes. Dagegen ist die Körperschaftssteuer mit 15 % für die „großen Player“ ein dankbares Geschenk, oder? Die Gewerbesteuer ist eine wichtige Einnahmequelle für die Gemeinden. Wie wurde das in der DDR geregelt? Ja, sie ist eine Steuer der Städte und Gemeinden. In der DDR war die Gewerbesteuer nur noch rudimentär vorhanden, sie galt für die kleinen verbliebenen Privatbetriebe. Sie floss in die Gemeindehaushalte. Aber die Gemeinden erhielten ihre Haushaltsmittel überwiegend als Zuführung aus dem Staatshaushalt. Sie waren gut ausgestattet. Es gab in der DDR keine verschuldeten Gemeinden. In der BRD ist die Gewerbesteuer vor allem in den neuen Ländern eine ganz wichtige Quelle. Aber wenn ich in die Statistik schaue, erfahre ich, dass diese Steuer mit etwa 35 Milliarden Euro im Jahr 2018 nur etwa ein Drittel der Lohnsteuer ausmachte, also nicht der große Wurf. 183 In den Gemeinden im Osten mit wenig Gewerbe ist sie oftmals nur eine kleine Einnahmequelle. Der Bundes- und die Länderhaushalte werden nicht mehr Vgl. die Nachfolgeorganisationen der Treuhandanstalt: https://www.bundesfinanzministerium.de/Web/DE/Themen/Bundesvermoegen/Privatisierungs_und_Beteiligungspolitik/Privatisierungspolitik/Treuhand-Nachfolgeorganisationen/treuhand-nachfolgeorganisationen.html (letzter Zugriff 12.12.2020). 183 Die Gewerbesteuereinnahmen (brutto) in Gesamtdeutschland im Jahr 2018 betrugen 55 852 445 Mrd. Euro. Siehe https://www.destatis.de/DE/Home/_inhalt.html (letzter Zugriff 11.12.2020). 182
344 aus den Einkommen der großen Betriebe getragen, was eigentlich wünschenswert wäre, sondern durch die Personalsteuern der Bürger und die Massensteuern, v. a. die Mehrwertsteuer, die Energiesteuer usw. Als wir die Einheit „schmiedeten“, betrug die Mehrwertsteuer 12 Prozent, jetzt sind wir bei 19 Prozent. Es ist zum Teil absurd, was hoch besteuert wird. Unsere Schulen in der DDR hatten eine Schulküche, diese waren mehr oder weniger gut. Zum Teil bezogen die Schulen das Essen für die Schüler von einer kommunalen Küche, die in der Regel von der Gemeinde betrieben wurde und mehrere Schulen versorgte, natürlich umsatzsteuerfrei. Heute ist die Lage so: Wenn die Schule selber kocht, zahlt sie einen Vorzugs-Umsatzsteuersatz von 7 Prozent. Entschließt sie sich für den Bezug des Schüleressens von einem Unternehmen, zahlt sie 19 Prozent. Bei uns um die Ecke ist unsere Friedrichsfelder kommunale Schulküche nun ein Unternehmen, also ist die volle Mehrwertsteuer fällig. Alle Proteste haben nichts bewirkt. Gerade trafen sich die EU-Finanzminister 184 zu diesem Problem der Besteuerung. Sie sagten deutlich: Es fehlt eine einheitliche restriktive Steuergesetzgebung in Europa. Das sind Geburtsfehler der Europäischen Union. Auch gibt es in Europa zwischen den Mitgliedstaaten keine vereinheitlichte „Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion“ in der Umsetzung. Wir haben 19 Länder von 28 EU-Ländern, minus Großbritannien (Brexit), die den Euro als Währung führen. Ich muss Ihnen widersprechen. Das fehlende einheitliche Haushalts- und Steuerrecht in der Europäischen Union ist kein Geburtsfehler, es scheitert an den nationalen Interessen der Länder. Und das wird vor der Hand so bleiben. Die nationalen Interessen haben sich eher verstärkt! Schauen Sie sich das Problem der Flüchtlinge und ihre Verteilung an. In den Ländern, voran in der Bundesrepublik, wird auf die nationalen Interessen geschaut. Die BRD steht seit langem in der Kritik wegen des Exportüberschusses, der nicht nur durch technische Qualität, sondern durch das Lohndumping möglich ist. Die BRD hat den größten Niedriglohnsektor in der EU. Jean-Claude Juncker, 185 habe ich vor mehr als zehn Jahren in Debatten zu diesem Thema mit Theo Waigel erlebt. Da waren viel guter Wille und Wissen um die Probleme, aber die Lösungen scheiterten an den handfesten nationalen Interessen. Inzwischen haben sich die Fronten eher verfestigt, weil weniger kompromissbereite Kräfte in den Regierungen vieler Länder sitzen. Ich verstehe die Währung auch als eine Art Identifikation. Aber wenn z. B. in Schweden, Polen, Bulgarien, Ungarn keine Preisauszeichnung auf den Produkten in den Geschäften in EURO vorhanden sind, wie sollen sich die Leute mit Europa identifizieren und beim Preisvergleich orientieren? Zweitens: Die EU ist als Wirtschaftsunion aber nicht Das Treffen war am 23.1.2018 in Brüssel. Jean-Claude Juncker war u. a. in der Zeit von 2014 bis 2019 Präsident der Europäischen Kommission. In der Zeit von 1989 bis 2009 war er Finanzminister und in der Zeit von 1995 bis 2013 Premierminister Luxemburgs sowie in der Zeit von 2005 bis 2013 Vorsitzender der Euro-Gruppe. 184 185
345 als eine gemeinsame Währungs- und Sozialunion wahrzunehmen. Davon ist sie noch weit entfernt. Drittens: Google, Facebook, Apple, Subway sowie andere Großkonzerne nutzen „Lücken und Möglichkeiten“ der europäischen Steuergesetzgebung bis hin zu den Angeboten sogenannter Steueroasen, 186 in Europa die Gewinne zu realisieren, dafür aber keine Steuern abzuführen. Vor diesem Hintergrund von der „Inanspruchnahme“ von Steuermodellen will und muss Europa einen Riegel vorschieben. Die neue Idee lautet, bereits den Umsatz entsprechend dem Modell der Gewinnbesteuerung zu versteuern. Zurück zur DDR: Wie war die Besteuerung in der DDR bei den privaten sowie den volkseigenen Betrieben organisiert? Fangen wir mit den privaten an: Die privaten Betriebe zahlten in der DDR die traditionellen Steuern, also Einkommensteuer die Personengesellschaften, Körperschaftsteuer die Kapitalgesellschaften, die Gewerbesteuer an die Gemeinden, Umsatzsteuer bzw. Verbrauchsabgaben als Preisbestandteile. Die volkseigenen Betriebe hatten keine Steuern auf Umsatz und Gewinn zu zahlen. Für sie galt, dass sie ihren Nettogewinn an den Staatshaushalt abführen, also den verbleibenden Gewinn nach Aufteilung in betriebliche Gewinnverwendung für Investitionen und Erhöhung des Eigenkapitals, die Speisung von Prämien sowie Kultur- und Sozialfonds. Die Größenordnung – Abführung und eigene Gewinnverwendung – war je Betrieb anders. Es wurde geplant je nach dem, was für den Betrieb an Leistungszuwachs und Investitionen vorgesehen war. Das war ein übersichtliches System, ohne Manipulationsmöglichkeiten. Der kritische Punkt für jeden Betriebs- oder Kombinatsdirektor war, dass die Nettogewinnabführung zu hoch und der Eigenanteil am Gewinn zu niedrig war. Die Folge war, dadurch kam die Eigenkapitalaufstockung zu kurz. Die Interessenlage des Staatshaushaltes, ein ausgeglichener Haushalt bei Finanzierung wachsender Ausgaben, z. B. der Sozialpolitik, erforderte zum Teil höhere Nettogewinnabführungen, als es der betrieblichen Interessenlage guttat. Ein Interessenkonflikt für Budget und die Wirtschaft. Aber es war so, wenn der Haushalt mehr soziale Projekte finanzieren wollte, z. B. im Wohnungsbau, musste er die Betriebe stärker zur Kasse bitten. Wir, als Haushalt der DDR, hatten Zugriff auf die Nettogewinne, bei den Jahresplanprojekten. Das war nicht ohne Debatte, aber notwendig. Praktisch blieb das Geld im Kreislauf des Volkseigentums. Das war natürlich alles in einen Prozess der Bilanzierung und in Korrespondenz mit den materiellen Plänen und Bilanzen eingepasst. Es bedurfte vieler Beratungen, Abwägungen, Streit ums richtige Maß usw. Auf jeden Fall war dieses System dank Volkseigentum stabil, kontrollierbar und funktionierte. Die im Nachhinein kursierenden Geschichten über unsere Haushalts- und Betriebswirtschaft sind oftmals unwahr, weil man weder verstand oder verstehen wollte, wie das zwischen einem volkseigenen Betrieb und dem Fiskus funktionierte. Stellen Sie sich vor, was hierzulande an Aufwand betrieben wird, um die Steuern, die dem Staat zustehen, Steueroasen in Europa: z. B. Schweiz, Lichtenstein, Monaco, Irland. Übersee: Bahamas, Jungferninseln usw. 186
346 einzutreiben. Umgekehrt, was an Geld ausgegeben wird, um sich vor der Steuerpflicht zu drücken. In den Steueroasen blüht das Geschäft, Sie sprachen es bereits an, ganze „Berufsgruppen“ leben hervorragend davon. Alle diese Tatsachen verdeutlichen, dass gesellschaftliches Interesse mit diesem Verhalten der Steuerpflichtigen kollidiert, die sich nicht dem Gemeinwohl bzw. dem gesellschaftlichen Moralkodex entsprechend verhalten. Etwa 120 Milliarden Euro 187 entgehen dem Fiskus. Deutschland ist nach Italien an zweiter Stelle der EU, was Steuerbetrug anbelangt. 188 Galt die Nettogewinnabführung einheitlich für alle Betriebe oder individuell für jede Branche? Nein, das wurde mit dem Jahresplan für den Betrieb bzw. für das Kombinat festgelegt. Es spielte dabei die vorgesehene Entwicklung des Betriebes eine Rolle. Wenn ein Betrieb wachsen sollte, also investieren musste, dann hatte er mehr Gewinnanteile zur Verfügung, somit einen größeren eigenen Finanzrahmen. Im Konzept des NÖS war die Veränderung dieses Systems der Gewinnverwendung ein wichtiger Punkt. Mehr Rechte sowie mehr Autonomie der Betriebe. Der über den Plan erwirtschaftete Gewinn sollte im NÖS dem Betrieb zur Verfügung stehen für Investitionen und für den Prämienfonds. Das war ein Anreiz. Die Experimente zeigten, dass es praktisch wirkte. Aber wie bereits geschildert, die Umsetzung solcher Reformschritte blieb immer wieder stecken. Ich bitte, Folgendes zu beachten: In unseren Betrieben wurde wirtschaftlich gedacht und gehandelt. Kostenplanung, Betriebsabrechnung, Kostenstellenrechnung bis zum Arbeitsplatz und Kostenstückrechnung waren gut entwickelt. Die Mitarbeiter waren gut ausgebildet, und wenn die Möglichkeiten vorhanden waren, wurde auch die technische Basis der Betriebswirtschaft immer besser. In Karl-Marx-Stadt hatten wir das Buchungsmaschinenwerk – mein Vater arbeitete dort bis 1970 –, das uns immer bessere Technik lieferte sowie exportierte. In den 1960er Jahren haben wir dann begonnen, die EDV zu nutzen. Als ich nach 1991 im Bauunternehmen tätig war, fragte mich mein Projektierungschef: „Erklären Sie mir Ihre Finanzwirtschaft in einem VEB. Ich hörte, Sie bekamen am Jahresanfang eine bestimmte Überweisung und am Ende des Jahres, was davon übrigblieb, gaben Sie dem Haushalt zurück?“ Ich: „Wer hat Ihnen denn das erzählt?“ Er: „So wird es in der Uni vermittelt!“ Zur Ergänzung: Ich war 1950/52 im Ministerium für Maschinenbau in der Revision tätig. Revision und Betriebswirtschaft waren ein gemeinsamer Bereich. Damals existierte Markus Becker, Der Spiegel, 25.1.2019, Studie: Steuerhinterziehung kostet die EU-Staaten 825 Milliarden Euro pro Jahr, Steuerhinterziehung verursacht in der EU einer Studie zufolge gigantische Verluste. Die Sozialdemokraten wollen nun mit einem Fünfpunkteplan kontern. Siehe https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/steuerhinterziehung-kostet-die-eu-staaten825-milliarden-euro-pro-jahr-studie-a-1249844.html (letzter Zugriff 12.12.2020). 188 Ebd. „Hier gehen dem Fiskus jährlich rund 190 Milliarden Euro durch die Lappen. Auf Platz zwei steht Deutschland mit 125 Milliarden, gefolgt von Frankreich mit 117 Milliarden.“ 187
347 schon eine Wirtschaftlichkeitsanalyse für etwa 20 Großbetriebe mit Hilfe eines HollerithSystems 189. Ich wiederhole: Die DDR ist nicht gescheitert, weil wir nicht mit dem Geld umgehen konnten oder es uns an kaufmännischen Fähigkeiten fehlte! Unsere Schwachpunkte lagen woanders: im politischen Bereich sowie der Ressourcenknappheit, dem Materialmangel und einem Embargo. Das Neue Ökonomische System der Planung und Leitung (NÖS oder NÖSPL) war ein im Jahr 1963 begonnenes ökonomisches und gesellschaftspolitisches Reformkonzept zum Umbau des auch in der DDR etablierten sowjetischen Sozialismus-Modells, oder? Sowjetische Erfahrungen ja, Modell nein, weil es ein solches Modell nicht gab. Die Entwicklung des Sozialismus in der UdSSR hatte ihre ganz eigenen Bedingungen. Betrachten Sie die Geschichte der UdSSR. Man konnte auf allen Gebieten der Theorie sowie der Praxis von der Sowjetunion lernen, vielleicht um Fehler zu vermeiden, leider wurde aber auch blind kopiert. Die Einflüsse sowjetischer Berater auf die Gestaltung der DDR-Wirtschaft, der Planung und der Strukturen gab es bis in die 1950er Jahre hinein. Sowjetische Berater arbeiteten bis etwa 1955 im Finanzministerium. Wir versuchten, ihre Vorschläge mit den überlieferten Verwaltungspraktiken zu verbinden. Es gab in Deutschland gute Voraussetzungen, z. B. im Rechnungswesen sowohl in der Wirtschaft als auch im Staat. Ebenso gute statistische Techniken. Das sind alles Elemente, deren sich die Planung bediente. Also sowjetische Erfahrungen und Techniken wurden mit traditionellen deutschen Instrumentarien verbunden. Politisch-ideologisch war das allerdings schwieriger. Da war ein weites und offenes Feld. Wie sollte man die Rolle der Partei, der Gewerkschaft und die Leitung im Betrieb verbinden? Mit welchen Prioritäten und mit welcher Abgrenzung? Experimente, Streit, Fehler kosteten Vertrauen und schadeten wirtschaftlich. Es hing sehr von den Persönlichkeiten ab, wie klug oder formal gehandelt wurde. Ich erlebte das in den Jahren 1949/1950 in der Verwaltung volkseigener Betriebe des Textilmaschinenbaus in Chemnitz. Das Fundament der Leitung, Planung und Organisation dieses Großunternehmens waren die überlieferten Erfahrungen der technischen Planung, der Materialwirtschaft und des Rechnungswesens. Sie wurden auf die neuen Verhältnisse zugeschnitten. Dabei wirkten erfahrene Fachleute aus der früheren Ära genauso mit wie wir jungen. Es ging voran. Natürlich gab es dort auch politische Informationen und Schulungen über die sowjetischen Erfahrungen und den Wettbewerb. Einiges floss dann auch in unsere Art der Leistungsmotivation mit ein. Aber natürlich ist die in den ersten Jahren entwickelte Planung und Leitung einer wachsenden volkseigenen Wirtschaft in den 1950er Jahren an Grenzen gestoßen und forderte Reformvorschläge heraus. Sie kamen, aber die Parteiführung war durch die Erlebnisse 189 Erfinder Hollerith entwickelte ein einzigartiges System der Informationsverschlüsselung und Da-
tenverarbeitung (Lochkartencomputer).
348 des 17. Juni 1953, die neue Führung in Moskau und die Ungarn-Ereignisse im Jahr 1956 verunsichert. Also wurde erst einmal „harsch“ reagiert und Prof. Fritz Behrens und Arne Benarys Reformvorschläge wurden als schädlich verurteilt. Aber die Notwendigkeit, das Bestehende effektiver zu machen, blieb. Darüber wurde vielerorts diskutiert. Ich erlebte das an der Hochschule für Ökonomie. Walter Ulbricht selbst hatte Berater, die ihn wohl zu Reformbereitschaft rieten. So ist es dann in den 1960er Jahren zur Bewegung in Richtung Reformen der Wirtschaftsleitung gekommen. Es existierten verschiedene Aufträge und Vorarbeiten, auch im Finanzministerium, somit kam es schließlich im Jahr 1963 zum Beschluss der Parteiführung zum „Neuen ökonomischen System“. Aber die Bedenkenträger blieben aktiv. Einerseits wurde konzeptionell gearbeitet, andererseits blieben die konservativen, wenig von Wirtschaft verstehenden Kräfte in der Parteiführung in Lauerstellung. Im Jahr 1965 kam es in einer Parteiberatung auf der Insel Vilm zu einer Attacke gegen das NÖS. Ulbricht lastete man Probleme an, die ganz andere Ursachen hatten, worauf er parierte. Dann gab es im Jahr 1966 einen weiteren Anlauf, wieder mit positiven, aber auch negativen Folgen. Im Jahr 1970 schloss sich die Pforte mit dem Abgang Walter Ulbrichts. Es war praktisch und in den Köpfen manches gewachsen, aber die Sache war tot. Erst 1987 wurde das „Prinzip der Eigenerwirtschaftung“ als ein Kernelement des NÖS noch einmal in 10 Kombinaten eingeführt. Abschließender Gedanke dazu: Das „Modell“ des Sozialismus oder gar des Kommunismus gab es nie und nirgends. Weder in der UdSSR noch in China. Es blieb ein Suchen nach dem richtigen Weg. Immer unter äußerem Druck und inneren, ideologischen Rechthabereien. Nicht zuletzt gab es stets Angst vor Machtverlust. Der „Ost-West-Konflikt“ überschattete jeden Schritt. Von Juri Wladimirowitsch Andropow ist überliefert, dass er im Jahr 1983, als er sein Amt als Generalsekretär der KPdSU antrat, forderte: „Wir müssen uns fragen, in was für einer Gesellschaft leben wir und welche nächsten Ziele stellen wir uns?“ Persönlich mochte ich die immerwährenden Theoriedebatten nicht. Es war viel Selbstdarstellung von Professoren und Funktionären dabei. Es ging mir immer um den praktischen Fortschritt, nämlich, was bringen wir im Alltagsleben zustande, denn daran wurde die Partei gemessen. Der Aufbruch nach dem Krieg, die ganz praktischen Schritte im Leben, das prägte uns. Das Wichtigste für mich war, dass wir den Aufschwung der Bildung junger sowie talentierter Leute, die im Grunde in den 1950er und 1960er Jahren überall im Lande die Dinge voranbrachten, weiterführten. Um diese Aufgabe habe ich mich im Finanzministerium besonders gekümmert. Unsere Nachwuchsförderung hat nachweislich Früchte getragen. Der in den 1960er Jahren begonnene Generationswechsel ist uns gelungen. Was wir nicht verstanden haben, war, dass diese nächste Generation ein anderes Bild von der Geschichte und der Zukunft hatte. 190 Zur Vertiefung: Martin Gross, Das letzte Jahr. Aufzeichnungen aus einem ungültigen Land, Leipzig 2020. Udo Baer, DDR-Erbe in der Seele: Erfahrungen, die bis heute nachwirken, Weinheim 190
349 Wer vergab Stipendien bzw. Förderungen? Wer sich für ein Studium nach dem Abitur entschied – vorausgesetzt, die Leistung und Eignung war gegeben –, der erhielt in der Regel einen Studienplatz. Dabei wurden Arbeiterkinder bevorzugt. Man erwartete gesellschaftliche Aktivität. Das war in dieser Zeit völlig gerechtfertigt. Sicher hatte das auch Härten. Begabte aus Akademikerfamilien wurden noch in den 1950er Jahren eher benachteiligt. Wirklich keine gute Sache und mit Folgen. Später entspannte sich das allerdings, wie Beispiele, u. a. Angela Merkel, zeigen. Generell wurde weiterhin gesellschaftliche Aktivität erwartet. Bei Jungen auch die Bereitschaft für einen Wehrdienst auf Zeit. Ich bekam im Jahr 1947 nach dem Abitur als Kind eines Gewerbetreibenden zunächst keinen Studienplatz. Im Jahr 1952, nach Jahren der beruflichen Praxis und gesellschaftlicher Aktivität, erhielt ich einen Studienplatz an der besten Hochschule der DDR, an der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft in PotsdamBabelsberg. Dort herrschte ein strammes Reglement mit vielen Vorlesungen und Seminaren, Klausuren sowie laufender Hilfe in Form von Konsultationen durch die Institute. Ebenso ein buntes Angebot an sportlichen Möglichkeiten gab es. Mein Stipendium betrug monatlich 180 Mark, das Studentenheim war frei und die Verpflegung ebenso. Nach dem ersten Jahr bekam ich ein leistungsbezogenes Zusatzstipendium von monatlich 80 Mark. Meine Frau, Landarbeiterin, wurde mit 17 Jahren zum Lehrerstudium an das Institut für Lehrerbildung in Potsdam delegiert. Sie hatte als Landarbeiterin mit 16 Jahren eine Aufgabe als Pionierleiterin an einer Schönebecker Schule übernommen. Das war eine Art pädagogische Aufgabe für die außerschulische Betreuung der Kinder, natürlich mit politischem Inhalt, aber vielfältig mit Themen aller Art. Am Institut für Lehrerbildung bekam sie ein Stipendium von einhundertfünfzig Mark im Monat. Nach einem Dreijahresstudium erhielt sie ihr Diplom, wobei sie die letzten Monate als werdende Mutter absolvierte. Es war eine schwere Zeit für sie, aber meine Ilse stand das sehr tapfer und aufopferungsvoll durch. Insgesamt meine ich, dass unser System der Beratung und Lenkung der Studienbewerber, der Auswahl und der dabei gestellten Anforderungen effizienter war für die jungen Leute und für die Gesellschaft. Studium ist ein hohes Gut, es soll möglichst zielgerichtet angegangen und absolviert werden. Da brauchen die jungen Leute Rat und auch Entscheidungshilfen. Das hat m. E. nichts mit Gängelei zu tun. Die hohen Quoten der Studienabbrecher, die massenhafte harte Landung von Absolventen in Minijobs, im berufsfremden Einsatz, die gesundheitlichen Debakel, das alles kann nicht unter dem Aspekt der „Selbstfindung und akademischen Freiheiten“ verbucht werden. Dass sich der Staat immer mehr aus der Fürsorge für die Universitäten zurückzieht, hat sich nicht zum Vorteil des akademischen Nachwuchses ausgezahlt. Am härtesten werden die jungen Leute ohne begütertes Elternhaus getroffen. In der BRD haben wir heute laut neuesten Untersuchungen nur vierzehn Prozent Studenten aus nicht akademischen Familien. Niemand interessiert sich für die verlorenen Talente sowie verbauten Chancen. Das ist schlecht für 2020.
350 unser Land und keine gesunde Entwicklung von Wissen und Leistung junger Leute sowie eine Verschleuderung von Bildungspotenzen an den Hochschulen und Universitäten. Ich muss erwähnen, dass auch auf die Parteizugehörigkeit bzw. -mitgliedschaft geschaut wurde … Ja, das spielte eine Rolle, war aber keine Bedingung. Selbst, als ich mein Studium an der Akademie 1952 begann, waren „an diesem roten Kloster“ auch in meinem Seminar parteilose Studenten. Es gab Ausgrenzung, Aversion gegen kirchlich engagierte junge Leute. Aber ebenso ist es wahr, dass es vor allem nach den Leistungen ging, sonst hätte Angela Merkel nicht Physik studiert, promoviert und dann in einem Akademieinstitut gearbeitet. Sie kommt aus einer Pastorenfamilie und hatte in der DDR alle Aufstiegschancen und ihr Bruder ebenfalls. Sie hatten einen Sonderstatus, weil sie vom Westen in den Osten gezogen war … Zu diesem Zeitpunkt war Frau Merkel gerade erst geboren, als der Vater im Jahr 1953 aus Hamburg in die Uckermark kam. Aber Angela hat sich in der Oberschule in der FDJ aktiv betätigt. Sie tat es mit Engagement, das ist doch nun gut bekannt und übrigens durchaus in Ordnung. Die Eltern waren gern DDR-Bürger, wie man weiß. Wir waren beim sowjetischen Sozialismus-Modell und Sie meinten, das gab es nicht. Sie lehnten das strikt ab? Diese Begriffsprägung stammt eher von „DDR-Erklärern“ aus dem Westen. Die Sowjetunion hatte in den 1920er nach dem Bürgerkrieg bis 1941, als der Überfall der Faschisten kam, Erfahrungen in der Gestaltung einer sozialistischen Gesellschaft gesammelt. Lenin stieß 1922 nach dem Ende der Interventionskriege sogar Gedanken einer neuen ökonomischen Politik an, also unternehmerische Elemente als Vorbild. Das alles haben wir nach 1945 durch die sowjetischen Berater vermittelt bekommen. In der Regel integre sowie erfahrene Leute. Es waren Ratschläge, wie man staatliche Strukturen aufbaut, wie man Pläne für die Wirtschaft entwickelt usw. Was war Vorbild für diese Entwicklungen? Woher kommt die Urheberschaft? Wenn Sie mich so fragen, dann muss ich Sie auf die Ideen und Ziele der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts verweisen. Das beginnt mit dem Kommunistischen Manifest von Karl Marx und Friedrich Engels. Es setzte sich fort in den Visionen und Kämpfen der deutschen Sozialdemokratie unter August Bebel 191, Wilhelm und Karl Liebknecht 192, Clara Zetkin 193 usw. August Bebel (1840–1913) war u. a. der Begründer der Sozialdemokratie. Wilhelm Liebknecht (1826–1900) war u. a. Gründervater der SPD. Karl Liebknecht (1871–1919) vertrat den linksrevolutionären Flügel der SPD. Er war Mitgründer der Kommunistischen Partei Deutschlands. 193 Clara Zetkin (1857–1933) war u. a. Politikerin, Friedensaktivistin und Frauenrechtlerin. 191 192
351 Es war doch keine fixe Idee, dass wir die gesellschaftlichen Verhältnisse verändern wollten nach diesem schrecklichen Krieg, dort lag doch der Antrieb. Weg mit den Leuten und Machtverhältnissen, die Hitler möglich gemacht hatten. Solche Gedanken existierten auch im Westen. Also die Frage nach der „Urheberschaft“ des alternativen Weges im Osten, das sind die Lehren aus der Geschichte. Klingt agitatorisch, ist aber die Wahrheit. Im Westen gab es 1945 Geburtshelfer und Ratgeber, natürlich nur mit ganz anderem Konzept. Dominierend war die US-Strategie, Deutschland in Stellung gegen Moskau zu bringen. So trennten sich die Wege in Deutschland nach dem Krieg. Der endgültige Paukenschlag kam am 20. Juni 1948, als die separate Währungsreform stattfand. Die D-Mark führte zu einer Spaltung auf Dauer, „gebar“ die BRD und als Folge den ostdeutschen Staat. Die D-Mark setzte auch das Verfallsdatum der DDR, das Jahr 1990! Erinnern Sie sich: Die Protagonisten der friedlichen Revolution wollten eine reformierte DDR. Die Bürgerrechtler hatten eine neue Verfassung der DDR erarbeitet, am „Zentralen Runden Tisch“ beraten und gebilligt. Die sozialen Werte und das Volkseigentum sollten bleiben. Blockneutralität und eine auf „Frieden“ orientierte Politik. Sie wissen von Rainer Eppelmann, wie sehr ihm Frieden und Abrüstung am Herzen lag. Dafür hat er gepredigt und gebetet und Stasi-Attacken und Anschläge auf sich genommen. Der finale Schlag für diese Hoffnungen kam von unseren „Genossen“ in Moskau. Sie waren am Ende und die DDR ein Verkaufsobjekt für sie. Gorbatschow hatte Kohl für 20 Milliarden DM eine Handlungsvollmacht erteilt. 194 Bedenken Sie, in der Politik gibt es keine Freunde, nur Interessen. Sie kommen also zu dem Befund, dass der sog. Bruderbund mit der Sowjetunion am Ende durch die Politik Gorbatschows zu Bruch ging. Ferner bewerten Sie die friedliche Revolution ab Sommer/Herbst 1989 in Bezug auf die ursprünglichen Ziele und Ergebnisse anders, als die meisten Historiker schlussfolgern. Warum? Im Jahr 1990 wurde alles, was in der DDR geschaffen wurde, zur Disposition gestellt, was juristisch „korrekt“ über die Staatsverträge und die totale Übernahme des BRDRechts ging. Ich war durch die fast kollegiale Zusammenarbeit mit den Bonner Partnern gutgläubig geworden. Diese Totalität des Vorgehens – zumal ich nicht alles im Blick haben konnte – war mir seinerzeit nicht so bewusst. Bis zum Ultimo der DDR am 3. Oktober Kanzlerberater Horst Teltschik berichtet in seinem Buch „329 Tage. Innenansichten der Einigung“, München 1996, das es bei einem Telefongespräch zwischen Kohl und Gorbatschow am 10.9.1990, also zwei Tage vor der Unterzeichnung des Zwei-Plus-Vier-Vertrages in Moskau, zentral um die finanziellen Leistungen Deutschlands ging: „Rechnet man zu den im September 1990 vereinbarten 15 Milliarden noch den bereits im Juli, kurz vor dem Parteitag der KPdSU vereinbarten Fünf-Milliarden-Kredit hinzu, so hat die Zustimmung Moskaus zur deutschen Einheit etwa 20 Milliarden D-Mark gekostet.“ Siehe MDR Zeitreise, 7.12.2020, Das Wunder vom Kaukasus: Wie Kohl Gorbatschow das Ja zur Einheit abrang, https://www.mdr.de/zeitreise/kohl-gorbatschow-verhandlungen-kaukasus-100.html (letzter Zugriff 29.12.2020). 194
352 1990 lief die Dampfwalze erst allmählich an. Beim Einstieg Lothar de Maizières beim zweiten Staatsvertrag sollte aus der DDR Bewährtes erhalten bleiben und somit für unsere Bürger ein Zeichen setzen. Eine naive Illusion, der auch ich unterlag. Die Richtung wurde von Interessenverbänden der BRD vorgegeben und von den in Scharen kommenden Beamten alter Schule, Richtern und Professoren ins Werk gesetzt. Ich erlebte in der Außenstelle des Bundesfinanzministeriums, wie mich der neue Chef Herr K. wie einen dummen Jungen behandelte. Darüber beschwerte ich mich bei meinem Partner Staatssekretär Peter Klemm. Seine Antwort: „Ja, ich kenne diesen Mann, er ist so und ich kann es nicht ändern!“ Ich zog die Konsequenz und ging. In meiner Fakultät an der Humboldt-Universität führte ein emeritierter Professor das Regime der Entlassung fast aller Professoren, in seiner Vita fand man eine Karriere bei der Waffen-SS! Sein Satz im Dekanat: „Über diese Schwelle kommt mir kein Marxist mehr!“ Das fand alles statt, ohne dass man solche Leute zur Ordnung gerufen hätte. Einzig mögliche Antwort für mich: Die rigide Art, die totale Entwertung von allem, der totale Elitenaustausch, war gewollt. Entsprechend auch der Kahlschlag im Bildungs-, Gesundheitsund Sozialwesen. Etwa 160 Polikliniken und die gleiche Zahl Ambulatorien wurden aufgelöst bzw. verkauft. Eine rationelle, sichere und auch wirtschaftliche Lösung der medizinischen Versorgung wurde privatisiert, weil es nicht ins Bild und die Interessen der AltBRD passte. Unsere Poliklinik im Haus der Ministerien übernahm 1990 im Herbst ein Mann aus Bremen, natürlich ein „Gesundheitsexperte“. Er bestimmte alles; es folgten viele Gutachten und Expertisen. Ein Ziel davon war, niedergelassene anstatt angestellter Ärzte zu beschäftigten. Am Ende kam es zur Insolvenz und der Erneuerer verschwand wieder. Das waren die Polikliniken? Ja, das waren die Polikliniken, die Ambulanzen, die Krankenhäuser, die Landarztpraxen. Wir hatten eine bürgernahe Struktur, alles war unter einem Dach im Verbund verfügbar. Verschiedene fachärztliche Praxen, Röntgen, Physiotherapie! Möglichst auch mit einer engen Verflechtung der Daten, sodass nicht jeder Arzt immer wieder von Null beginnen musste. Es ist doch heute unbestritten, dass eine große Potenz medizinischer Leistung nur durch bürokratische Parallelarbeit verpulvert wird. Die Krankenkassen müssen das bezahlen. Unser Gesundheitswesen war nicht so reich an moderner Technik und noblen Kliniken, aber es funktionierte bis ins Dorf hinein mit Landarzt und der Gemeindeschwester. Gewinnstreben und Medizin passen eben nicht zusammen. Etwa die Hälfte der Beiträge, die man an die Krankenkassen zahlt, geht nicht in medizinische Leistungen, sondern wird von Verwaltungskosten, Vorstandsgehältern und Kapitalgebern aufgezehrt. Dass Klinikkonzerne heute Millionen verdienen, aber zugleich ein „Pflege- und Hygienenotstand“ besteht, ist absurd. Gesundheitsfürsorge ist eine Gemeinwohlaufgabe des Staates. Konkret: Im Gesundheitswesen wie in der Bildung haben wir an die Forderungen der bürgerlichen Humanisten angeknüpft. Das war die Grundlage für die Heranbildung einer neuen
353 Generation von Ärzten. Allein aus meinem Freundeskreis sind nach dem Krieg mehrere junge Leute über die ABF 195 zum Medizinstudium gekommen. Gehen Sie in eine beliebige Poliklinik in meinem Berlin-Friedrichsfelde und Sie treffen auf solche Persönlichkeiten. Aber dieser „Vorrat“ ist nun bald verbraucht und diese Entwicklung wurde im Jahr 1990 unterbrochen. Somit sieht es mit dem Nachwuchs, speziell im ländlichen Raum, sehr trübe aus. Materiell-technisch hingegen ist heute alles vorhanden. Moderne Diagnosegeräte sowie eine große Palette von Medikamenten sind stetig angewachsen. Wir waren in der DDR Selbstversorger. Hatten eine eigene leistungsfähige Pharmaindustrie entwickelt. Auch die Medizintechnik war um die Fortschritte bemüht, aber es fehlte vieles, was wir mit Devisen bezahlen mussten oder was auf der Embargoliste stand. Was fehlte beispielsweise? Wir hatten leider nicht ausreichend Dialyse-Geräte. Es gab von Jahr zu Jahr Fortschritte, aber was wir nicht selbst herstellen konnten, mussten wir in der Regel im Westen kaufen. Ein knallhartes und teures Pharma-Geschäft. So kam es, dass die Verwandtschaft im Westen mitunter, wenn man sie hatte, Bittbriefe nach „diesem und jenem“ erhielt. Wer trägt die Schuld an dieser Entwicklung? Diese Frage zwingt mich eigentlich, wieder von ganz vorne anzufangen. Ich habe das bereits angesprochen: Die erzwungene Teilung, das Embargo, die separate Währungsreform 1948, die Zweistaatlichkeit und schließlich ab dem Jahr 1961 die militärisch befestigte Grenze quer durch Deutschland mit 1370 Kilometern sowie die Berliner Mauer mit 160 Kilometern. Dazu die Milliarden von Kosten, ein sinnloser Aufwand mit vielen vermeidbaren Opfern. Das war doch alles eine Konsequenz der Ost-West-Konfrontation, des Kalten Krieges und des Kampfes gegen den Kommunismus. Alle, die in der DDR Verantwortung trugen, haben sich diese Zustände nicht gewünscht. Die jungen Leute engagierten sich bei uns, auch in der BRD und in den USA, gegen den Vietnamkrieg, diesen scheußlichen Krieg mit Massenmord und mit Millionen Tonnen Gift. Ich hatte deshalb die Hoffnung, jetzt wird sich etwas verändern. Ebenso weckte der KSZE-Prozess Entspannungshoffnungen. Aber mit der weltweiten Wirtschaftskrise Mitte der 70er, der folgenden Thatcher und Reagan „Siege“ hatte die Rüstungsmaschine wieder neuen Dampf bekommen. Die DDR war dabei immer nur ein geschundener Staat und Puffer im „Ost-West-Konflikt“. Wirkliche Entspannungslösungen konnten weder Bonn noch Berlin anbieten. Beide waren nicht souverän und hatten ihre Rolle duldend angenommen. Die DDR erhöhte in den Jahren 1980–1988 die Verteidigungsausgaben von 9,4 Mrd. Mark auf 15,7 Mrd. Mark. 6,3 Mrd. Mark mehr Geld wurden in neue Militärtechnik investiert. Wozu? Diesen Betrag gaben wir für Krankenhäuser und Polikliniken in einem Jahr aus! ABF war die Arbeiter- und Bauernfakultät. Eine Einrichtung zur Vorbereitung auf ein Studium für junge Leute ohne Abitur und wurde 1947 gegründet.
195
354 Ich traf als Staatssekretär in den 1980er Jahren regelmäßig den Chef der Finanzen – zuletzt war es Generalmajor Jurij Kusnezow – bei der Westgruppe der Sowjetarmee in Wünsdorf. Es war ein Gespräch unter Freunden. Wir sprachen über die interessierenden Sachfragen, locker und herzlich. Fast jeder von diesen Offizieren hatte im Krieg Familienmitglieder verloren. Sie alle kannten das Grauen. Es ging auch um Hilfe, beispielsweise bei der Instandsetzung eines alten, preußischen Militärkrankenhauses in Karlshorst. Das alles gehört zu den Umständen, in die unsere DDR in den letzten 10 Jahren immer mehr ins Gedränge geriet. Ein immer schwierigeres, politisches Umfeld in Ost und West. In Moskau eine Führungskrise, das Ausbluten im Rüstungswettlauf, im Westen Ronald Reagan mit militärischer Attacke, Pershing-Raketen und „Star Wars“. Das führte zur Ausstrahlung auf die politischen Stimmungen und Erwartungen im Lande, mit Friedensinitiativen, wie die von Pfarrer Rainer Eppelmann gestaltet. Und wir? Eine Parteiführung, die mit Helmut Schmidt, 196 mit den Grünen sowie mit Kohl und Philipp Jenninger ängstlich taktierte. Nach innen sorgten dann Erich Mielkes Leute für „Ruhe“. Die BRD mit ihrer stabilen Wirtschaft und vollen Schaufenstern, die alle politischen Probleme im Inneren auch mit aller „Härte“ begegnete, ich denke dabei an den Radikalenerlass, 197 an die Prügelattacken auf Studenten beim Schah-Besuch, 198 den Tod Rudi Dutschkes 199 usw. Sie kam auf ihre Weise mit der Opposition und politischen Gegnern „elegant“ zurecht. Wir hingegen hatten uns diese schwierige Rolle zwischen den Blöcken nicht gewünscht. Aber wir wollten das Erreichte um keinen Preis aufgeben. Staat und der gesellschaftliche Konsens blieben lange stabil. Die DDR hat in diesem Konflikt trotz allem bis in die 80er Jahre wirtschaftlich sowie sozial in jedem Jahr ihre Ziele erfüllt. Sie mussten deshalb den „Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe“ (RGW) aufbauen? Ja! Der RGW war im Jahr 1949 von der Sowjetunion, Bulgarien, Rumänien, Ungarn, Polen und der Tschechoslowakei als ein Bündnis für die wirtschaftliche Zusammenarbeit und die gegenseitige Wirtschaftshilfe gegründet worden und wir traten am 29. September 1950 bei. Es waren die ärmsten Länder Ost-Europas, was sie leider heute wieder sind. Helmut Schmidt (1918–2015) war u. a. in der Zeit von 1969 bis 1972 Bundesminister der Verteidigung, in der Zeit von 1972 bis 1974 Bundesminister der Finanzen sowie in der Zeit von 1974 bis 1982 der fünfte Kanzler der Bundesrepublik. 197 Radikalenerlass auch Extremistenbeschluss genannt. Das Ziel war, die Beschäftigung von Verfassungsfeinden im öffentlichen Dienst zu verhindern. Im Januar 1972 wurde der Beschluss gefasst. 198 Am 2.6.1967 wurde Schah Mohammad Reza Pahlavi in West-Berlin empfangen. Auf der Demonstration erschoss der Polizist Karl-Heinz Kurras den Demonstranten Benno Ohnesorg. Dazu Helmut Müller-Enbergs und Cornelia Jabs, Deutschland-Archiv, Zeitschrift für das vereinigte Deutschland, 42. Jahrgang 2009, Der 2. Juni 1967 und die Staatssicherheit, S. 395–400. Siehe auch https://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/68er-bewegung/52044/der-2-juni-1967und-die-staatssicherheit?p=all (letzter Zugriff 12.12.2020). 199 Alfred Willi Rudolf „Rudi“ Dutschke (1940–1979) galt als Wortführer der Studentenbewegung der 1960er Jahre in der Bundesrepublik. Am 11.4.1968 wurde Dutschke von Josef Bachmann mit einer Schusswaffe schwer verletzt. 196
355 Die Idee, die wirtschaftlichen Kräfte zu bündeln, war richtig und es ist viel erreicht worden. Nationale Eigensucht spielte auch eine Rolle. Aber das ist normal. Bis ins Jahr 1990 ist ein Potential gewachsen, das in jedem Land Fortschritte der Industrialisierung erzeugte. Nicht annähernd vergleichbar mit dem westeuropäischen Kraftpaket: BRD, Frankreich, Benelux usw. Die DDR war oftmals der gebende Partner, ähnlich wie die ČSSR und Polen. Spezialisierungen der Länder – wie im Kranbau –, wo man Bulgarien stark machen wollte, gingen schief. Die UdSSR blieb eine starke und wichtige Rohstoffquelle, aber auch mit Einschnitten. Technisch lieferte die UdSSR die großen LKW, bestimmte Industrieanlagen, was nicht problemlos war, weil der Rüstungswettlauf sowie die Geheimhaltung technischer Neuerungen immer mehr den Zugang zum „Know-how“ begrenzten. Dennoch ist in den 40 Jahren, also seit 1950, vieles an Entwicklung bewegt worden. Die DDR war oft die gebende Wirtschaft. Trotz mancher Panne war die RGW-Zusammenarbeit von einem politischen Konsens getragen und erreichte besonders in der industriellen Entwicklung von Sofia bis Prag viel. Sie beschreiben die finanziellen Verpflichtungen mit immensen Ausgaben für die Grenzsicherung. Existierten Überlegungen, neue Modelle zu entwickeln, um diese Belastungen zu reduzieren bzw. ihnen zu entkommen? Gab es Gespräche darüber, um den Haushalt zu entlasten? Ja! Die DDR-Führung hat seit Anfang der 70er Jahre, nach den Ostverträgen Willy Brandts mit der UdSSR und den folgenden Entspannungsschritten in Bonn/Berlin, manches versucht. Beispielsweise mit dem Berlin-Abkommen. 200 An dem Grundkonflikt zwischen Ost und West sowie der militärischen Konfrontation hat dies nichts geändert. Daran zu denken, die Aufwendungen für das Grenzregime zu reduzieren, dafür gab es keinerlei Chance. Es war keine innerdeutsche Grenze, es war die Grenze zwischen zwei Militärblöcken. Die militärische Potenz der USA und der Bundeswehr wuchs von Jahr zu Jahr an. Denken Sie an den NATO-Doppelbeschluss. 201 Natürlich wäre es dem Westen recht gewesen, wenn wir schon in den 80ern die „Mauer“ geöffnet hätten, allerdings einseitig und mit der Folge des Vorrückens der NATO wie nach dem Jahr 1990. Nein, es ging nur über eine Verständigung zwischen den USA und der UdSSR. Aber eine solche Brücke war mit Breschnew undenkbar und in den USA kein Thema. Ein gewisser Aufbruch war mit Hoffnung verbunden und entstand mit der Brandt-Initiative der OstVerträge Anfang der 70er Jahre, die aber von den Konservativen in Bonn nicht mit Beifall begleitet wurde.
Das Viermächte-Abkommen über Berlin vom 3.9.1971 und trat mit Unterzeichnung des Viermächte-Schlussprotokolls am 3.6.1972 in Kraft und galt bis zum 3.10.1990. Danach folgten das am 17. und 20.12.1971 unterzeichnete Transitabkommen sowie der am 21.12.1972 unterzeichnete Grundlagenvertrag. 201 NATO-Doppelbeschluss vom 12.12.1979. 200
356 Der Architekt Egon Bahr 202 hatte damals den richtigen, strategischen Ansatz mit dem Konzept: „Wandel durch Annäherung“. Das war klug, weil es ein friedlicher Weg war. Es bewegte sehr viel. Bahr war ein ehrlicher Makler gegenüber Russland und blieb es bis in seine letzten Tage hinein. Ich hörte Bahr das allerletzte Mal im Herbst 2014 in der russischen Botschaft bei einem Forum der Friedrich von Weizsäcker-Gesellschaft 203. Dort meldete er sich zu Wort und forderte den Abbau der Spannungen zwischen Europa und Russland sowie die Aufhebung der Sanktionen. Die dort Anwesenden, in Russland engagierte Unternehmer, stimmten ihm zu. Bahr war bis zuletzt ein glühender Anhänger einer friedlichen Ost-West-Koexistenz. Was ist Ihnen über Kontaktaufnahmen zwischen Ost-Akteuren zu SPD-Politikern sowie umgekehrt bekannt? Es sind in den 70er Jahren Kontakte von Herbert Wehner 204 zu Honecker entstanden. Das ZK der SED entwickelte durch seine „West-Abteilung“ mit ihrem Leiter Herbert Häber Verbindungen zu Persönlichkeiten in der BRD. Das ZK der SED schuf sich ein eigenes Forschungs- und Beratungszentrum, das Institut für Politik und Wirtschaft, unter Leitung von Häber. Es entwickelte laufende Kontakte nach Bonn und lieferte interessante interne Studien. Zwei Projekte, die herausragten, möchte ich benennen. Das „Züricher Modell“ zum Ende der 1970er Jahre sowie „Aktion Länderspiel“ in den 1980er Jahren: Das „Züricher Modell“ 205 entstand im Zusammenhang mit den erwähnten Problemen der wachsenden Auslandskredite. Der Züricher Bankier, Holger Bahl, bot Ende der 1970er Jahre auf „internen Kanälen“ der DDR an, eine Bank in Zürich zu gründen. Die Bank erleichterte – ich formuliere jetzt sehr vereinfacht – der DDR den Zugang zu günstigen Auslandskrediten, sie leistete ein gewisses Management für uns auf diesem Gebiet und stellte im Ergebnis unser westliches Kreditgeschehen auf sichere Füße. Das Projekt haben die „Emissäre“ um Herbert Häber vorangetrieben, aber die Sache ist nicht perfekt geworden. Warum genau, ist nicht belegt. Es soll aber nicht an uns gelegen haben. Aber diese Fakten verdeutlichen, dass es ein starkes Interesse daran gab, der DDR als potentem Partner zu helfen. Sicherlich mit dem Blick auf das eigene Geschäft. Andererseits waren wir sehr bemüht sowie mit unseren Kontakten in der Lage, solche Chancen aufzugreifen. Das Projekt „Aktion Länderspiel“ 206 ist in der letzten Phase der Regierung von Bundeskanzler Helmut Schmidt entstanden. Es soll bei einem Treffen Honeckers im Jahr 1981 in Egon Bahr (1922–2015) war u. a. in der Zeit von 1972 bis 1974 Bundesminister für besondere Aufgaben sowie in der Zeit von 1974 bis 1976 Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit. 203 Siehe https://www.cfvw.org/cfvw.html (letzter Zugriff 12.12.2020). 204 Herbert Wehner (1906–1990) war u. a. in der Zeit von 1966 bis 1969 Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen sowie in der Zeit von 1969 bis 1983 SPD-Fraktionsvorsitzender. 205 Zur Vertiefung: Holger Bahl, Als Banker zwischen Ost und West. Zürich als Drehscheibe für deutsch-deutsche Geschäfte, Zürich 2002, 176 Seiten. 206 Zur weiteren Vertiefung: Jürgen Nitz, Länderspiel, Berlin 1995, 299 Seiten. 202
357 der Schorfheide 207 von Schmidt einen Vorschlag gegeben haben, gemeinsam über Erleichterungen im Reiseverkehr, im Grenzregime, im Handel auf vertraglicher Grundlage nachzudenken. Es folgten intensive Gespräche, an denen auch prominiente SPD-Genossen wie Lafontaine beteiligt waren. Diesen Dialog organisierte und leitete Häber. Im Jahr 1984 wurde er Mitglied des Politbüros des ZK der SED, was die Rangordnung seiner Aufgabe verdeutlicht. Honecker, der zu Häber persönlich ein sehr direktes Vertrauensverhältnis hatte, waren Fortschritte im deutsch-deutschen Dialog politisch schon sehr wichtig. Deshalb war es für ihn und natürlich für unsere Hoffnung, des Volkes Hoffnung auf Entspannung eine sehr gute Nachricht, dass Kohl bereit war, diese Gespräche nach dem Wechsel als neuer Bundeskanzler ab Oktober 1982 weiterzuführen und damit den Staatsminister im Bundeskanzleramt Philipp Jenninger (CDU) 208 zu beauftragen. Sie kamen weiter voran, allerdings mischte sich argwöhnisch die sowjetische Führung, u. a. Tschernenko und Gorbatschow, ein. Honecker, Mielke, Krenz, Häber usw. wurden nach Moskau zitiert und es hagelte Kritik bis zur Drohung, Honecker das Vertrauen zu entziehen, die Ordnung wiederherzustellen. Honeckers Reise nach Bonn war erledigt. Abermals parierte er, der Dialog wurde eingestellt. Egon Krenz hat diese deprimierende Veranstaltung als Teilnehmer beschrieben und weist Gorbatschow eine gewisse Mitschuld zu. Es war die letzte Chance der DDR, sich aus der ohnmächtigen belastenden Spannungssituation über ordentliche Vertragsverhältnisse mit der BRD zu befreien. Häber wurde sofort aus dem ZK der SED entlassen. Als er das nicht hinnahm, wurde er zum „psychiatrischen Fall“ sowie zur „Unperson“. Ein beschämender Fall! 209 Eine ganz entscheidende Chance für uns, die dringend sowie notwendige Öffnung Richtung Westen, insbesondere das Reisen usw. voranzubringen, um damit innenpolitischen Druck aus dem Kessel zu nehmen, war vorbei. Hinweis: Der spätere US-Außenminister Colin Powell, 210 der 1987 Sicherheitsberater von Reagan war, hat in seinem Buch dargestellt, dass er in einem Gespräch mit dem adäquaten Moskauer Beamten unter Gorbatschow sinngemäß erfuhr: Über die DDR könne man reden, es wäre verhandelbar. In der „Gorbatschow-Ära“ gab es früh einen Sinneswandel. Warum Honecker und seine Genossen im Politbüro diese Chancen nicht erkannten und Dezember 1981: Schmidt reiste zum dritten innerdeutschen Gipfel in die DDR. Die Treffen mit dem DDR-Staats- und Parteichef Erich Honecker fanden am Werbellinsee und in Güstrow statt. 208 Philipp Jenninger (1932–2018) war in der Zeit von 1982–1984 Staatsminister im Bundeskanzleramt und von 1984–1988 Präsident des Deutschen Bundestages. 209 Zur Vertiefung: Jürgen Nitz, Unterhändler zwischen Berlin und Bonn. Nach dem Häber-Prozeß: Zur Geschichte der deutsch-deutschen Geheimdiplomatie in den 80er Jahren, Berlin 2001, 320 Seiten. 210 Colin Powell (geboren 1937) war u. a. in der Zeit von 1987 bis 1989 Nationaler Sicherheitsberater, in der Zeit von 1989 bis 1993 Vorsitzender der Joint Chiefs of Staff sowie in der Zeit von 2001 bis 2005 Außenminister der Vereinigten Staaten von Amerika. 207
358 politisch nutzten, darüber möchte ich nicht spekulieren. Die Meinung in der Bevölkerung verdichtete sich: Honecker war und blieb unsicher sowie überfordert. Er kritisierte die Perestroika, verhielt sich arrogant gegenüber Gorbatschow. Seine politische Strategie war selbstgefällig: Regieren anstatt auf Veränderungsprozesse zu reagieren bzw. zu agieren. Deutlich formuliert: Im Jahr 1987 war Kohl an einer Vertragsgemeinschaft oder Konföderation mit der DDR eher interessiert als an einer Wiedervereinigung. Das entsprach auch der innenpolitischen Stimmung in der Bevölkerung. Die Wiedervereinigung war nach mehr als 20 Jahren „Mauer“ im Wollen der Bevölkerung – so Einschätzungen dieser Zeit – nicht mehr erstrebenswert. Die Angst vor dem „armen Verwandten“ im Osten sowie „Einbußen“ am erreichten Wohlstand zu erleiden, waren Hintergründe dieses Wandels. Aus Sicht Kohls, wahrscheinlich dachte Strauß ebenso, war die Existenz zweiter deutscher Staaten, die miteinander vertraglich verbunden und politisch einig auf dem Weg nach Europa sind, durchaus akzeptabel. Wie war der Gorbatschow-Effekt in der Wirkung in Ihrem Land spürbar? Die letzten Jahre der DDR waren vom Verhältnis Honecker zu Gorbatschow bestimmt und absolut destruktiv. Honecker schaute überheblich darauf, was mit und durch Gorbatschow in der UdSSR schieflief, politisch sowie wirtschaftlich. Er mokierte, dass es nicht mal mehr Seife gab. Nach innen stieß die Partei allen Leuten vor den Kopf, die in „Gorbi“ eine Hoffnung sahen, statt einen Dialog über unsere Probleme und mögliche Reformen zu führen. Das nahmen ich und die Mehrheit der Genossen hin. In der Hoffnung „gefangen“, weil wir wirklich immer hofften, dass sich diese Starre lockert bzw. auflöst. Ich habe damals in Diskussionen im Vertrauen auf die „verdienstvollen Kämpfer an der Spitze“ immer wieder krampfhaft Optimismus geweckt und verbreitet. Es war falsch, weil diese „verdienstvollen“ alten Genossen das Vertrauen missbraucht und letztendlich kläglich versagten hatten sowie das Aufbauwerk von Generationen verspielt hatten. Es gab nicht eine einzige Aktivität, um den „Druck“ aus dem Kessel zu nehmen, um auf die Bürgerforderungen zu reagieren. Welche Lösungsansätze existierten? Beispielweise, Ausreiseersuchen zu genehmigen. Die Praxis der Beurteilung der Anträge war ohnehin in den zuständigen Ämtern unterschiedlich. In „Eingaben“, d. h. Beschwerden der Bürger, erfuhren wir das. Ich erlebte, wie selbst die Eingabestelle des ZK der SED nach Beschwerden der Betreffenden veranlasste, dass Ausreiseersuchen genehmigt wurden. Mein Standpunkt war – was ich immer befürwortete – lasst jene reisen, die es wollen. Gerechtfertigt war allenfalls das Verbot für Geheimnisträger. Wenn die Leute, die wollten, über die Grenze hätten fahren können, wäre der innenpolitische Druck entwichen. Jede Reise nach der BRD wäre eine Begegnung mit der Realität vor Ort gewesen und hätte auch manches korrigiert.
359 Sie zeigen die Belastungen des Haushaltes auf und meinen: „Daran gab es nichts zu rütteln, zu kürzen oder zu überlegen, das war gar nicht möglich!“ War in der Öffentlichkeit der DDR bekannt, dass diese hohen Ausgaben existierten? War der DDR-Haushaltsplan transparent? Ja, er war transparent. Für die Volkskammer und die anderen Parlamente sowieso. Für die Öffentlichkeit standen die Zahlen in der Zeitung. Für die Verteidigung gaben wir allein im Jahr 1988 fast 16 Milliarden Mark aus. Die Reformbedingungen des „NÖS“ wurden ab 1967 modifiziert und trugen dann die Bezeichnung „Ökonomisches System des Sozialismus“ (ÖSS). Was war das Neue? Diese wandelnden Begriffe haben nicht viel mit den Inhalten zu tun. Es gab eine Entwicklung der volkseigenen Wirtschaft, begonnen mit dem Volksentscheid „Enteignung“ im Jahr 1946, und wurde sukzessive durch die Unternehmensführung verbessert: die wirtschaftliche Rechnungsführung, die Betriebsabrechnung sowie die Leitungsmethoden und die Planung. In der DDR wuchsen in den 1950er Jahren Erfahrungen: Eine zu detaillierte Planung engt die unternehmerische Tätigkeit der Betriebe ein. Es wurde immer wieder geändert und probiert. Genauso im Bereich der Finanzwirtschaft der Unternehmen. Es gab in der Praxis und an den wissenschaftlichen Einrichtungen viele Experten, die sich mit diesen Fragen auseinandersetzten. Es wurden Untersuchungen geführt, Dissertationen zu solchen Problemen geschrieben. Ich habe meinen bescheidenen Beitrag dazu geleistet. Es wurde immer wieder versucht, Neues in dem System zu etablieren. Die Gegenkräfte dazu saßen im Wesentlichen im Apparat der Partei mit berechtigten Bedenken und mit besserwissenden Bremsern. Selbst arbeitete ich in den 1960er Jahren an vielen solcher Projekte mit. Im Finanzministerium wurden ab etwa dem Jahr 1955 die Preisreformen vorbereitet. Bis dahin war man nur Einzelschritte gegangen. Man musste für solide Selbstkosten auch die Werte des fixen Kapitals auf aktuelle Preise umbewerten. Diese Aufgabe habe ich im Rahmen einer speziellen Expertengruppe mit bewerkstelligt. Wir haben das mit sogenannten Wiederbeschaffungspreisen realisiert. Gleichzeitig wurden neue Amortisationssätze, d. h. Abschreibungen für den Verschleiß, ermittelt. Die Marktwirtschaft verzichtet auf solche staatlichen Regularien in der Gesellschaft. Die Folgen fehlender Planung durch Staat und Länder wurden jeden Tag spürbarer. Es fehlten überall Schulen, Wohnungsbau, Pflegepersonal, Lehrern usw. Kurzum: Die Geschichte der ökonomischen Reformversuche in der DDR ist ein „Auf und Ab“, durchaus mit vorzeigbaren Resultaten gewesen. Sie entwickelten Abschreibungstabellen? Ja, sowohl mit dem physischen als auch mit dem moralischen Verschleiß. Politökonomen wie Friedrich Behrens und Gunther Kohlmey, bei denen ich Vorlesungen anhörte, rieten: „Wir müssen über unser System nachdenken, ob wir diese Art der Führung der
360 volkseigenen Betriebe so belassen können oder besser kaufmännische Elemente stärker einbringen müssen.“ Der Werkleiter sollte nicht nur feste Kennziffern der Leistungsentwicklung bekommen und weitgehend gebunden sein, sondern es müssten Freiräume für das Reagieren auf den Markt sowie auf die Dynamik der Nachfrage des Bedarfs geben. Walter Ulbricht hat damit begonnen … Ja! Es ist falsch, Ulbricht immer als den großen „Betonkopf“ hinzustellen. Ulbricht war „nur“ gelernter Tischler und hatte sein Leben lang hinzugelernt, in der Sowjetunion und später in der DDR. Er pflegte stets ein enges Verhältnis zur Wissenschaft und verfügte über viele Erfahrungen. Er wusste, dass man weiterdenken musste und förderte es. So kam es im Jahr 1963 mit diesem ersten Beschluss der Parteiführung zum „Neuen Ökonomischen System“ (NÖS). Später gab es weitere Beschlüsse, es wurde vom „Neuen Ökonomischen System Planung und Leitung“ (NÖSPL) gesprochen, wobei man sagte, wir müssten auch in der Leitung und Planung Dinge erneuern. Die volkseigene Wirtschaft war ein riesiger Wirtschaftskörper. Wir mussten wohlüberlegt prüfen, welche Schritte wir gingen und welche zuerst. Wir suchten uns bestimmte Betriebe und Kombinate heraus, in denen wir diesen neuen Mechanismus erprobten. Ich wirkte in den Jahren 1967 bis 1968 in den Arbeitsgruppen, die in diesen Erprobungsbetrieben die Möglichkeiten studierten, allesamt Wirtschaftsleute aus der Praxis und den Universitäten. Sie gaben Rückmeldung, ob das so ging oder eben nicht. Dies vervollkommnete sich immer weiter. Anfang der 1960er Jahre stieg die Sowjetunion auch in diese neue Denkweise mit ein. In der sibirischen Akademie der Wissenschaften beauftragte man Ökonomen, Mathematiker u. a. damit, solche neuen sowie modernen ökonomischen Leitungsmodelle zu entwickeln. Sie kamen hierher und hielten Vorträge. Ulbricht nahm das auf, ebenso Günter Mittag. Bei uns wurde später eine Akademie für „sozialistische Organisations- und Leitungswissenschaft“ gegründet. Werkleiter und Verantwortliche aus den Staatsorganen und Fachschulen wurden weitergebildet. Die Heuristik und die Mathematik spielten eine große Rolle und die EDV sowieso. Manches war euphorisch überzogen. Man kann mit Mathematik viel schaffen, aber damit löst man keine Probleme, die nicht lösbar sind, weil es immer wieder unsere begrenzten Ressourcen und Mängel in der Materialversorgung bis hin zu den alltäglichen Dingen waren … … innerhalb der SED-Führung. Aus der Gesellschaft heraus gab es keine Kritik zum „Ulbricht-Kurs“? Unverständlich, weil das doch die Profiteure waren! Walter Ulbricht war zu keiner Zeit unumstritten. Und das hat er selbst gewusst, aber im Wissen um seine Persönlichkeit und Erfahrung in der Politik verkraftet! Sie wissen doch um die Rolle von Persönlichkeiten in der Geschichte: kluge Köpfe, sendungsbewusst, aber schwieriger Charakter. Wer war nicht umstritten? Vielleicht Konrad Adenauer?! Walter Ulbricht hat an der Seite des schon hochbetagten Kommunisten Wilhelm Pieck und des Sozialdemokraten Otto Grotewohl eine historische Mission erfüllt. Sein Antrieb war, Ostdeutschland aus der schrecklichen Hinterlassenschaft des Krieges in eine
361 lebenswerte und neue Gesellschaft zu führen. Aber die Vormundschaft der KPdSU, also der sowjetischen Führung, war immer präsent. Der Richtungsstreit war und ist eine Erblast der Linken. Wer waren die Kritiker innerhalb der SED? In Bezug auf die Wirtschaftsreform waren es jene Funktionäre, die vom wirtschaftlichen Handeln nichts verstanden, sich aber Urteile anmaßten. In unserer Partei gab es neben hervorragenden klugen und menschlich sympathischen Leuten auch viel „Mittelmaß“. In den späteren Jahren mehr als in der Aufbauphase! Umso weniger Persönlichkeit und Wissen in einem Funktionär steckte, umso kleinkarierter und dogmatischer war sein Handeln. Im Gegensatz zu Ulbricht, der ein alter Kämpfer, aber auch immer ein Lernender war, sind andere Leute der Parteiführung an einer Stelle stehen geblieben. Nach dem Jahr 1990 haben manche Akteure ihre Probleme, ihre Gründe des Handelns oder Versagens zu Protokoll gegeben. Besonders bei Mittag und Schabowski kamen widerliche Rechtfertigungen und Erklärungen ans Tageslicht. Andere wie Werner Eberlein 211 erklärten, dass es auch objektive Umstände gab, die zum „Auseinanderbrechen“ der SED führten. Kritik und Selbstkritik, die Bereitschaft, Fehler einzugestehen, war in unserer Partei in den Führungsetagen leider kein Prinzip. Man sah darin die Gefahr des Macht- und Autoritätsverfalles. Das war nicht unbegründet, weil man durch die Ereignisse vom 17. Juni 1953 gewarnt war. Am Ende hätte nur ein „ehrliches“ Bekenntnis zur Lage den Sturz aufhalten können. Von der Spitze der KPdSU gab es zu unserer Parteiführung stets ein sehr sensibles Reagieren auf eigene Wege in der DDR. Man dachte dort selbst über neue ökonomische Lösungsmodelle nach, misstraute aber andererseits unserem eigenen Denkansatz in der DDR. Sehr deutlich wurde dies, als Ulbricht von einem Kollektiv von Wissenschaftlern das Buch schreiben ließ: „Die politische Ökonomie des Sozialismus und ihre Anwendung in der DDR“. Das war etwa im Jahr 1969. Sonderwege waren für die sowjetische Führung unter Breschnew inakzeptabel. Spätestens nach dem sogenannten Prager Frühling im Jahr 1968 war die Zeit gekommen, über die Zukunft nachzudenken. Ulbricht tat es auf seine Weise. Er wollte nicht den „sozialdemokratischen Weg“, den die Bruderpartei in Prag eingeschlagen hatte und dafür den Einmarsch der Truppen des Warschauer Vertrages erntete. Aber das war die letzte Chance, Ulbricht hat über die „sozialistische Demokratie“ nachgedacht, bei der die Partei immer die Meinungshoheit behält. Er meinte, das Verhältnis der Partei zu den Volksvertretungen muss neu justiert werden, es muss sich auf das Grundsätzliche beschränken. Das ist alles im Ansatz stecken geblieben, weil andere führende Genossen nicht mitzogen und Walter Ulbricht im Jahr 1970 gehen musste. Der entscheidende Widerstand gegen jede kleine Reform kam von Breschnew und seinem Umfeld. 211
Werner Eberlein (1919–2002) war u. a. in der Zeit von 1986 bis 1989 Mitglied im Politbüro.
362 Ulbricht ist und bleibt der entscheidende führende Kopf beim Aufstieg der DDR. Einem deutschen Staat, in dem erstmals das Gemeinwohl Priorität hatte. Was heute nicht so ist. Kein geringerer als Heiner Geißler meinte in seinen letzten Jahren: „Dieses System ist sozial so gestaltet, dass man es auf die Dauer dem Menschen nicht zumuten kann! Jeder vernünftige Mensch muss heute Kapitalismuskritik üben!“ 212 Dieses Reformkonzept von Ulbricht führte Honecker aber nicht fort. Er rief die neue Leitlinie, die von „Wirtschafts- und Sozialpolitik“ geprägt war, aus. Was konkret war Honeckers Kernidee? Kraft der Idee von Ulbricht, man müsse die Innovationskraft der Volkswirtschaft stärken, gab es in den Jahren 1968 bis 1970 eine gewisse Vernachlässigung der sozialen Seite. In diese Lücke stieß Honecker mit seinem Programm. Das war eine richtige Idee, es musste mehr dafür getan werden. Wir hatten Probleme, weil die Leute auf Wohnungen warteten, aber es sich wenig bewegte. Die Zahlen des Wohnungsbaus nach 1971 waren dementsprechend. Nun konnten wieder jeden Monat Hunderte von Wohnungen vergeben werden. Natürlich eben mit dieser cleveren Plattenbaulösung. Erst verteufelt, nun wieder überall im Bau, weil effektiv und kostengünstig. Ist das sozialistische Wirtschaftsmodell nicht immer auf „Gutmenschen“ angewiesen? Genau das, was Sie gerade ansprachen, demnach ohne die Störfaktoren Missbrauch, Egoismus, Neid, Korruption, Unrecht, Spekulation, Gewinnmaximierung, Wettbewerb usw.? Ja! Ich sagte bereits, dass wir die Vorstellung hatten, man könne den „sozialistischen Menschen“, einen verantwortungsvollen selbstlosen Aktivisten und Mitstreiter in der ganzen Breite der Gesellschaft etablieren. Das war aber ein Wunschdenken. Es gab diese Persönlichkeiten, diese zuverlässigen gut aus- und gebildeten und im Sinne unserer Vision handelnden Frauen und Männer in allen Bereichen. Sie wurden im Laufe unserer Geschichte wohl auch zur tragenden Mehrheit. Unsere Schriftsteller haben ihnen – wie in „Spur der Steine“ oder „Wege übers Land“ 213 – ein Denkmal gesetzt. Aber Selbstlosigkeit, das Aufopfern für eine politische Vision und alles zu geringem Lohn und mit viel persönlichem Verzicht, das war eben keine Sache einer Mehrheit. Sie haben recht! Die menschlichen Eigenschaften, ebenso die negativen Charaktere Der Tagesspiegel, 17.12.2011, Sahra Wagenknecht und Heiner Geißler: Jeder vernünftige Mensch muss heute Kapitalismuskritik üben. Die Linke Sahra Wagenknecht und der Christdemokrat Heiner Geißler streiten über die Frage, ob und wie der wild gewordene Kapitalismus abzuschaffen ist. Siehe https://www.tagesspiegel.de/politik/sahra-wagenknecht-und-heiner-geisslerjeder-vernuenftige-mensch-muss-heute-kapitalismuskritik-ueben/5971566-all.html (letzter Zugriff 29.12.2020). 213 „Spur der Steine“ (1968) oder „Wege übers Land“ (1968) beschreiben Episoden des Lebens in der DDR. 212
363 halten sich zäh. Jedes Individuum hat seine Prägung und in der Familie verankerte Traditionen, Träume usw. Egoismus, Neid, vielleicht auch Kriminalität sind mögliche Wegbegleiter. Ich arbeitete 12 Jahre in der Staatlichen Finanzrevision. Ich weiß also, wie diese Seite unserer Gesellschaft aussah, neben vielen braven Leuten erlebte ich auch Betrüger, Bereicherung und Machtmissbrauch. Solche Leute gaben oftmals nur ein Lippenbekenntnis ab, um sich geschickt in Szene zu setzten, und stiegen beruflich in Funktionen auf. Viele Leute wollten lieber im Westen leben, wegen der besseren beruflichen und persönlichen Chancen, um keine kollektiven Pflichten zu haben bzw. religiösem Glauben nachzugehen. Insofern war es eine Illusion, daran zu glauben, dass in einer relativen kurzen Zeitspanne sich Menschen von all den bekannten Schwächen lösen und selbstlos der Gemeinschaft dienen. Warum durften sie nicht ausreisen? Meine Meinung war, lasst sie ins gelobte Land ziehen. Die Mehrheit dachte ebenso. Die Anträge nahmen in den 80er Jahren wieder stark zu. Ich schätze, dass etwa 10 Prozent der DDR-Bürger so etwas im Sinn hatten, mit verschiedenen Gründen. Warum? Das Thema kann ich formulieren: Es gibt immer Leute, die in die Welt ziehen wollen. Oft lagen keine politischen Gründe vor, sondern Erbschaften, Reisebedürfnis oder bessere Berufschancen. Meine Verwandten, die in den Jahren 1886, 1923, 1926 und 1935 nach Amerika immigrierten, hatten recht unterschiedliche Motive wie soziale Notlagen oder politische Sorgen als Linke. Nach dem Ende der DDR war Flucht und die vielen Opfer natürlich ein beherrschendes Thema. Es gab den Stoff für eine „Diktatur“, die die Menschen einsperrte. Das tat sehr weh, wenn das alles nun zum Maßstab des Ansehens der DDR wurde. Ich bekenne, dass ich jede nachteilige Entscheidung im Zusammenhang mit Ausreiseanträgen für falsch hielt. Mein Einfluss war aber leider sehr begrenzt, darauf einzuwirken. Negative Pauschalvorurteile über die DDR, die auch von ehemaligen Leuten formuliert wurden, die selbst in der DDR bis zum Ende gut lebten, haben zusammen mit dem offiziellen Verriss der DDR das Zueinanderfinden bis heute erschwert. Das heißt, es waren soziale Trittbrettfahrer? Ja! Trittbrettfahrer? Besser: Anpasser, die stets ihren eigenen Vorteil suchen. Leute, die in der DDR durchaus ordentlich arbeiteten, sich vielleicht sogar gesellschaftlich engagierten. Aber eben auch dazu bereit waren, die DDR-Geschichte als die Geschichte einer Diktatur zu interpretieren. Wendehälse sagt man dazu. Das ist schlicht charakterlos. Allerdings auch sehr „bequem“. Das betrifft Leute wie mich und meine Generation, die wissen, wie die DDR gewachsen ist. Wie sie das Menschliche anstrebte, aber eben auch zur Abwehr, zum Schutz ihrer
364 Ordnung und Sicherheit gezwungen wurde. Fakten und Gründe, die zu Härterem führten, sind vergessen worden. Diese Leute reden gern von der zweiten deutschen Diktatur, obwohl sie sich in der DDR ganz gut einrichteten. Das soll die Gleichstellung zur Nazizeit ausdrücken. Man rechtfertigt es damit, dass wir selbst von der „Diktatur des Proletariats“ sprachen, einen Begriff aus den Schriften von Marx und Engels. Ilse Siegert: Es ging einfach darum, dass für die Menschen, die sich auf ihrem Arbeitsplatz tüchtig und redlich gemüht hatten – für wie viel Geld auch immer – die materielle Befriedigung nicht das erbrachte, was sie sich erhofften. Dass produzierte Unzufriedenheit. Beispielsweise ein Auto, worauf man sehr lange warten musste oder Reisen über die sozialistischen Länder hinaus. Alle sahen täglich im Film und im Fernsehen Berichte aus fernen Ländern, was Bedürfnisse weckte, mal die Welt kennenzulernen. Diesen Wunsch konnte man ihnen aus politischen Gründen eben nicht erfüllen. Walter Siegert: Wir hatten keine Valuten, den Leuten mit auf den Weg zu geben. Vor allem die Jugend war damit unzufrieden. Unter uns Älteren hieß die große Losung „lieber hungern, aber nie wieder Krieg“. Auf die Dauer reichte das nicht. Der Krieg war lange vorbei, die Ruinen waren weg. Zunehmend bei den jungen Leuten verbreitete sich die Meinung „wir wollen doch etwas vom Leben haben“, aber überall existierten Klemmstellen, insbesondere bei maroder Technik im Alltag, einem Zugang zu weltoffener Kultur und dem Reiseverbot. Was Ulbricht begonnen hatte, wurde von Honecker konterkariert bzw. gestoppt. Diesen Mittelweg, den es in China gibt, Kommunismus mit sozialistischer Marktwirtschaft als Lösungsmodell war ähnlich in den Reformbestrebungen von Ulbricht angedacht. Gab es zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal eine solche Art von Versuchen? Ja, es gab eine solche Art von Versuchen. Ab dem Jahr 1986 wurde in 16 Kombinaten das „Prinzip der Eigenerwirtschaftung“, ein Kernstück des NÖS, wieder praktiziert. Wir haben dazu im Jahr 1989 publiziert. 214 Insgesamt kann ich das Schicksal des NÖS in den 1970er und 1980er Jahren wie folgt bewerten: Honecker hat das NÖS nicht ausdrücklich „gestoppt“, es wurde einfach nicht mehr darüber geredet. Der große Reformschritt in der Wirtschaft fand nicht statt. Aber mit der Kombinatsbindung in der Industrie, die praktisch die Betriebe eines Zweiges, z. B. des Werkzeugmaschinenbaues, zu einer effektiven Wertschöpfungskette zusammenschloss, entstanden auch neue effektivere Leitungsund Planungsstrukturen. Die Industriebankfilialen mit dem NÖS entstanden, also faktisch spezielle Geschäftsbanken, die Finanzierung und Kreditierung besorgten usw. Also manches wurde weitergeführt und es wurde weiter konzeptionell gearbeitet. 214 Walter Siegert, Wir brauchen ein hohes Tempo der Selbstkostensenkung, in: Walter Siegert und
Horst Neumann, Selbstkosten senken. Grundlegende Anforderung der umfassenden Intensivierung, Blickpunkt Wirtschaft, Berlin 1989, 95 Seiten.
365 Leider blieben die Beziehungen zwischen Staatshaushalt, Kombinaten und Betrieben, wie sie waren, also keine großen Spielräume für die Direktoren der Betriebe bei der Gewinnverwendung. Außerdem blieb die „Vormundschaft“ der Industrieministerien. Wir wollten und brauchten effektiveres Wirtschaften, machten auch Schritte, aber der entscheidende Schritt zu einer marktwirtschaftlich unternehmerisch gestalteten Wirtschaftsleitung blieb im „Netz der Sorgen“ um Machtverlust, Ärger mit Moskau sowie Unverstand hängen. Eine Ergänzung aus meinem Wirkungsfeld: Im Jahr 1973 führten wir, die Staatliche Finanzrevision, ein neues Regime der jährlichen Bilanzprüfung ein, das die Beurteilung der Ordnungsmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit der Rechnungsführung der Betriebe und Kombinate im Fokus hatte und mit der Bestätigung oder Versagung der Bilanz abschloss. Die Ergebnisse wurden zu Informationen für die Minister und die Regierung konzentriert. Was die VR China betrifft, ergibt sich das Kuriosum, dass wir in den 1970er Jahren unseren chinesischen Freunden halfen, indem wir unsere Experten mit NÖS-Erfahrung dorthin entsandten. Es kamen Studiendelegationen zu uns. Ich habe selbst einige solcher Konsultationen durchgeführt. Es gab große Aufmerksamkeit mit Fragen, in der Regel keine Wertungen. Also – wir exportierten unser Wissen, hatten aber selbst keinen Schneid. Der entscheidende Unterschied, Deng Xiaoping, der Reformer, und seine Genossen hatten von vornherein keine Angst vor Machtverlust, sondern hofften auf Machtgewinn, was bald Realität wurde. Die chinesischen Führer nach Mao Tse Tung waren Pragmatiker. Der Spruch von Deng war: Es ist egal, ob die Katze schwarz oder weiß ist, Hauptsache sie fängt Mäuse! Das NÖS wurde also nicht zurückgeführt, sondern es gab interessante Fortsetzungen. Die durchgehende Wirtschaftsreform wurde gestoppt. Ja, so war es. Wenn man unsere DDR-Geschichte analysiert, sollte man immer daran denken, dass wir auch bei solchen politischen Querelen weiter über Alternativen nachgedacht haben. In unserem Forschungsinstitut, in dem der SPK, an der Hochschule für Ökonomie, an der Akademie war das NÖS weiter ein interessantes Thema. Und praktisch funktionierte unsere Wirtschaft auch in den 1970er Jahren weiter mit Wachstum. Wirklich problematisch in der Wirtschaftspolitik der 1970er war, dass Honecker und andere glaubten, „was die Politik will, das werden wir auch zustande bringen!“ Also Wunschgedanken, Primat der Politik zu Lasten ausgewogener Wirtschaftsentwicklung, d. h. vor allem: „Man kann nur das verbrauchen, was man erwirtschaftet hat!“ Wir hatten trotz der Krisenentwicklungen in Europa relative Stabilität, Zuwachs, Rentabilität und Staatseinnahmen. 215 André Steiner, Matthias Judt und Thomas Reichel, Statistische Übersichten zur Sozialpolitik in Deutschland seit 1945 (Band SBZ/DDR), Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Bonn 2006. Siehe http://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Publikationen/fb-f352-statistischeuebersichten-zur-sozialpolitik-in-deutschland-seit-1945.pdf?__blob=publicationFile (letzter Zugriff 19.12.2020). 215
366 War Honecker klar, als er diesen Reformprozess von Ulbricht stoppte, dass er gleichzeitig mit Ulbricht brach? War das der unumkehrbare Anlass zwischen den beiden für die resultierende Ablösung? Letztendlich war Honecker auch ein „Ziehsohn“ von Ulbricht, oder? Ja, nur Ziehsöhne danken es ihren Ziehvätern oftmals nicht, das ist überall so. Honecker war einer der jüngeren Genossen, mit einer durch politischen Einsatz und Haft gekennzeichneten Vita. Aber das Entscheidende für diese Aufgabe an der Spitze ist doch Wissen, Charakter und Integrität, womit Honecker überfordert war. Das wussten oder spürten damals sicher wenige, schon gar nicht wir Genossen, die ihn nur im Fernsehen oder auf einer Kundgebung erlebten. Ich erlebte Honecker auf einer Berliner Parteikonferenz, wo er eine kritische Rede hielt betreffend die von Ulbricht forcierte Förderung der Wachstumstechnologien, die zu Lasten der Konsumgüterproduktion und auch des Wohnungsbaues ging. Bekanntlich hatte Ulbricht postuliert „Überholen, ohne einzuholen“, eine oftmals ins Lächerliche gezogene These, im Kern strategisch wohl richtig. Diese These baute auf unseren Fähigkeiten sowie einer stärkeren Kooperation mit dem Westen auf. Ulbricht saß im Präsidium und hörte Honecker zu. Als er antworten wollte, wurde ihm faktisch vom Reden – für uns alle sichtbar – abgehalten und sofort eine „Pause“ eingeleitet. Das berührte mich und andere Genossen unangenehm. Das erlebten Sie in welchem Jahr? Das war im Herbst 1970. Etwa zur gleichen Zeit entstand im Zusammenhang mit der 14. Tagung des ZK im Dezember ein Brief, den fast alle Mitglieder des Politbüros unterschrieben. Das Schreiben schilderte Fehler Ulbrichts und gipfelte in der Bitte an Moskau, seiner Ablösung zuzustimmen. Das später verunglückte Politbüromitglied Werner Lamberz 216 überbrachte diesen Brief nach Moskau. Die Antwort ließ einige Zeit auf sich warten, denn Breschnew und andere – so erfuhr man erst nach 1990 – hatten Zweifel über den Nachfolger Honecker oder einen anderen. Im Mai 1971 wurde aber Honecker mit Zustimmung Moskaus der neue Generalsekretär der SED in der DDR, scheinbar damit in Übereinstimmung dankte Walter Ulbrich ab, er war bereits 78 Jahre alt. Es hieß, aus gesundheitlichen Gründen, und er starb im Jahr 1973. Wie bereits angesprochen, erfolgte auf dem Parteitag ein Kurswechsel mit dem verheißenden Ziel „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“, was in der Partei und im Land die Kräfte mobilisierte. Es war ein Kurs für das Allgemeinwohl. Jedoch wurden die 1970er Jahre politisch für die DDR immer schwieriger, beispielsweise mit der Ost-West-Annährung und den Ostverträgen Brands mit Breschnew, die DDR blieb dabei außen vor. Es folgten Veränderungen wie der Helsinki-Prozess, die Weltwirtschaftskrise, der 216 Werner Lamberz (1929–1978) war u. a. In der Zeit von 1966 bis 1971 Leiter der Kommission für Agitation und Propaganda. Ab dem Jahr 1967 war er Mitglied und Sekretär des Zentralkomitees der SED sowie Abgeordneter der Volkskammer. Im Jahr 1970 wurde er Kandidat und im Jahr 1971 Mitglied des Politbüros des ZK der SED. Er starb bei einem Hubschrauberabsturz.
367 Erdölpreisschock, die mikroelektronische Revolution, das Ende von Bretton-Woods, die Miniaturisierung von elektronischen Steuerungen, die uns als Industrieland hart traf. Es war eine Kette von wirtschaftlichen Problemen zusätzlich zum politischen Kurs. Die neue Führung unter Honecker und die Regierung mit Willi Stoph hatten eine schwierige Situation. Im Lande musste sich der neue politische Kurs in Taten beweisen und gleichzeitig mit den außenwirtschaftlichen Veränderungen klarkommen. Nicht zuletzt gab es große Erwartungen in der Bevölkerung, um Entspannungen sowie Erleichterungen im OstWest-Verhältnis zu erreichen. Ich erinnere mich, dass ab Anfang der 1970er Jahre in jeder Hinsicht aufs Tempo gedrückt wurde. Im Wohnungsbau hieß es „jedem seine Wohnung“, dazu entsprechend neue Schulen und soziale Einrichtungen. Jährlich wurden Tausende bezahlbare Wohnungen bezogen, bis 1978 ungefähr 1 Million. Die Versorgung – so gut, wie wir das stemmen konnten – wurde mit Importen verbessert. Die volkseigenen Betriebe aller Branchen unterstützten die Vorhaben und schufen u. a. Ferieneinrichtungen an der Ostsee. Die Staatliche Finanzrevision traf Feststellungen, wobei diese Initiativen oftmals nicht mehr im Regelbereich lagen. Sie waren großzügig. Belegbar ist, dass nicht alles aus eigener Kraft zu stemmen war, sondern die Auslandsverschuldung explodierte und überproportional in den 1970er Jahren angestiegen war … Ja, die Auslandsverschuldung der DDR bei westlichen Banken betrug 1970 2 Milliarden Valutamark (VM) und stieg bis Ende 1979 auf 21 Milliarden Valutamark an. Die äußere Krisenentwicklung hatte unsere „terms of trade“ verändert, weniger Exporte in das kapitalistische Ausland sowie höhere Preise für Importe, beispielsweise für moderne Technik und Konsumgüter, waren die Folgen. Teilweise war es richtig und notwendig, was auch von dem voluntaristischen Denken der Parteiführung getragen wurde: Was die Partei beschließt, das muss man auch finanzieren, wir werden das schaffen. Gemeinsam mit der Plankommission Gerhard Schürer versuchten wir, „vorsichtig“ zu warnen, es bestand dabei rasch die Gefahr, als „Bremser“ an den Pranger zu geraten. Welche Versuche gab es bereits vor dem Beginn des KSZE-Prozesses (ab 1972), die „Verkrampfung“ zwischen der DDR und der BRD zu lockern? Es begann mit dem Treffen zwischen Willy Brandt und Willi Stoph im April 1970 in Erfurt. Dieses Treffen ist für uns, bei dem Hunderte DDR-Bürger vorm Hotel „Willy“ riefen und dabei Brandt und nicht Stoph meinten, als Blamage in Erinnerung geblieben. Eigentlich war von der DDR-Regierung dieses Treffen als Auftakt für einen ersten entscheidenden Schritt in Richtung einer geregelten Zusammenarbeit und einer Vertragsgemeinschaft angelegt gewesen. Das sollte besprochen sowie verkündet werden. Moskau gab dafür keine Zusage. Stoph wartete vergeblich in seinem Zimmer auf ein Signal. Brandt hingegen drängte auf den Gesprächsbeginn. Es entstand eine peinliche Lage. Offenbar wollte Breschnew der DDR keinen Vortritt überlassen bei den bereits laufenden
368 Verhandlungen zwischen Bonn und Moskau. Bekanntlich setzte sich Egon Bahr intelligent und politisch mit dem Konzept „Wandel durch Annäherung“ klug in Szene. War diese schockierende Erfahrung für die DDR mit der Aufgabe solcher Entspannungsversuche in Richtung Bundesrepublik verbunden? Nein, es ging weiter! Wir wollten das Feuer gewissermaßen am Brennen halten und neue Chancen suchen. Honecker knüpfte über Herbert Wehner Kontakte, die das Ziel verfolgten, die Wege offen zu halten. Im Apparat des ZK der SED arbeitete eine „Westabteilung“, die von talentierten Experten sowie Prof. Herbert Häber geleitet wurde. Deren Aktivitäten verliefen auf vielen Kanälen streng geheim ab. Mein Wissen darüber erhielt ich von Genossen, die damals daran beteiligt waren. Nach 1990 ist über die Aktivitäten – aus gutem Grund – nur wenig bekannt geworden. Die alten Geschichten waren peinlich. Über die Projekte „Länderspiel“ und „Züricher Modell“ sprachen wir bereits intensiv. Die Schlussakte von Helsinki 1975, die Menschenrechte im Korb III. waren eine Zäsur zwischen Ost und West. Später gab es die Nachfolgekonferenzen in Madrid, Belgrad und Wien. Wien begann im Jahr 1986 – noch vor dem Honecker-Besuch in Bonn 1987 – und fand in den Folgejahren 1987, 1988 und 1989 statt. Objektive Forschungen zeigen, dass der KSZE-Nachfolgeprozess in Wien in gewisser Art und Weise Gorbatschow entgegenkam, aber den Druck auf die DDR erhöhte, z. B. durch die Forderung nach Reisefreiheit, Ausreisemöglichkeiten, Visa-Regelungen. War es somit ein für die DDR schleichender Prozess zur Destabilisierung bis hin zum Autoritätsverlust gegenüber der Gesellschaft und der Bundesrepublik Deutschland? Ja sicher, das ist unbestreitbar. Das Verlangen nach Reisefreiheit wuchs elementar durch die junge Generation, die das Bedürfnis zu reisen viel mehr als die Älteren als „normales“ Lebenselement ansahen. Dies bezog sich eben nicht nur auf Ungarn, Bulgarien oder die Hohe Tatra, sondern auf Westeuropa und vielleicht auch Amerika. Helsinki setzte das Signal der Hoffnung für viele Ostdeutsche, die im Westen Verwandtschaft hatten, zu einer passablen Reiseregelung zu kommen. Das Ganze wurde durch die westlichen Medien befeuert, die nun fast in jede Wohnung im Osten hineinschauten. Die Folgen für die DDR waren zunehmendes Reiseverlangen und Anträge für Verwandtenbesuche. Für Rentner war es kein Problem. So wuchs in den 1970er Jahren in der DDR-Bevölkerung das Begehren, das Reisealter herabzusetzen. Die DDR-Medien nahmen das nicht auf, denn man hatte keine Antworten. Von den Moskauer Genossen gab es – natürlich geheim – sogar die Orientierung, dass jeder Westkontakt durch Reisen oder Briefverkehr, „subversive Aktivitäten“ fördern könnte. Von einer notwendigen Abgrenzung für einen großen Kreis von „Geheimnisträgern“ von allen Verwandtschaftskontakten war die Rede. Ja, das war absurd, aber das muss im Zusammenhang mit der Hitze des kalten Krieges gesehen werden. Die Menschen
369 nach der Unterzeichnung und Anerkennung der Körbe in Helsinki nur zu besänftigen, reichte eben nicht aus. Sie wollten die Reisefreiheit und forderten Meinungsäußerung. War der DDR-Regierung in diesem Moment die Bedeutungstiefe klar, als Schmidt und Honecker die Schlussakte unterschrieben, was in den nächsten Jahrzehnten langfristig passieren könnte bzw. sogar würde? Ich denke schon. Denn es gab doch sicher auch in diesem Fall vorher Expertisen über die Konsequenzen dieser Schlussakte auf die Innenpolitik der DDR. Honecker und andere Genossen der Führung lebten in der Illusion, dass man das politisch durchsteht, d. h. verkürzt, „die Schlussakte von Helsinki nach den gegebenen Möglichkeiten in DDR-Normen“ zu übersetzen. Wo Honecker hinkam, wurde er bejubelt und für seine sozialpolitischen Erfolge gelobt. Er und andere Genossen litten unter einem Realitätsverlust. Deutlich wird das, indem Honecker noch im August 1989 im Mikroelektronik Kombinat Erfurt, wo unter enormen Kosten der 32 BIT Chip hergestellt wurde, den bekannten Satz von August Bebel wiederholte: „Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf!“ 217 Das war zu einer Zeit, wo jeder von uns bereits spürte, dass wir in eine Krise geraten. Diese Aussage hatte eine verheerende Strahlungs- und Wirkungskraft. Ein Zeitzeuge meinte im Gespräch zu mir: Irgendwann verlor Erich Mielke jegliche Realität. Können Sie bestätigen, dass dieser Realitätsverlust bei Honecker und anderen Genossen der Führung ebenso vorhanden war? Ab wann war und durch was war das für Sie erkennbar? Ich und viele andere Genossen haben Honecker trotz früh erkennbarer Schwächen, wie seinem Fürstengehabe bei der Staatsjagd, sehr lange vertraut. 218 Realitätsverlust und Versagen bei Honecker, dem Kämpfer gegen den Faschismus, das konnte doch nicht sein! So „kittete“ man faktisch sein Vertrauen. Bei Mielke hingegen war – so meine Kenntnis – früher klar, dass unsere Basis im Volk bröckelte. Mielke hatte den viel besseren Rückhalt beim KGB in Moskau, dem er seit den 1930er Jahren diente. Er besaß Fakten, die Honeckers Vita betrafen. Von beiden war Mielke wohl derjenige, der zuerst den Niedergang der DDR erkannt hatte. Anfang 1989 bekam ich eine „Analyse der Stimmung“ in die Hand, die vom MfS erarbeitet wurde. Darin wurde treffend beschrieben, worin die Ursachen von Unzufriedenheit mit der Politik und Partei, mit der Versorgung, den Entscheidungen in Reiseangelegenheiten usw. liegen.
„Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf!“, sagte Honecker in einer Rede in Erfurt am 14.8.1989. 218 Über die Jagdleidenschaft von Honecker sowie seinen Genossen existieren viele Berichte und Dokumentationen. Für diese Jagdprivilegien und die Erholung beim Töten wandte er Millionen auf. 217
370 Mielke fragte in kleiner Runde, es müsste August 1989 gewesen sein, ob jemand einfordert, er solle zurücktreten. Daraufhin stand Werner Großmann auf und sagte: „Ja, ich bin dafür, dass du zurücktrittst!“ Mielke reagierte nicht und leitete seine Sitzung weiter. Danach rief Mielke Großmann an und fragte, ob es eine ernstgemeinte Aufforderung gewesen sei. Großmann bestätigte! Mielke legte auf und es passierte danach nichts. Gar nichts! Das kann schon sein ... Das konkret ist Realitätsverlust! An der Macht festzuhalten, obwohl diese anscheinend vorbei ist. Wir führen ein Zeitzeugengespräch. Dabei ist es mir wichtig zu erfragen, was Ihre persönlichen Erfahrungen, Erlebnisse oder Einschätzungen sind. Nachgefragt: Ab welchem Zeitpunkt war für Sie Erich Honecker realitätsfremd? Sie zitieren Bebel: „Den Sozialismus in seinem Lauf …!“ Das sagte er im August 1989. Die Quantifizierung von menschlichen Erfahrungen und Gefühlen ist ein schwieriges Unternehmen. Wenn ich ein Thermometer gehabt hätte, hätten Sie in den achtziger Jahren sehen können, wie meine Fieberkurve sukzessive kletterte. Ich muss zugleich sagen, ich war nie ein Mann, der von der Fahne ging. Ich hatte meinen Eid geleistet, die Erklärung, ich bin Mitglied dieser Partei und habe als Staatssekretär meine Pflicht zu tun und die tat ich. In der DDR gab es unter den führenden Leuten mehr Austausch an politischen Meinungen, als das heute in der Bundesrepublik Deutschland der Fall zu sein scheint. Das wurde mir von nicht wenigen Leuten bestätigt. Jemand sagte zu mir: „Denken Sie denn, zwei Staatssekretäre unterhalten sich darüber, wie sie die Politik von Kohl finden? Dazu hat jeder seine persönliche Meinung, die er aber für sich behält!“ Ich lerne Sie als einen selbstkritischen Menschen kennen. Sind Ihnen persönliche Versäumnisse bekannt, wo Sie zum Erhalt der DDR im Wesentlichen hätten beitragen können? Oder war das in Ihrer Position gänzlich unmöglich? Nein. Ein Staatssekretär ist prinzipiell ein Mann der Pflichterfüllung. Er ist ein Gestalter in dem Verantwortungsbereich, der ihm obliegt. Das ist man vor allem im Stadium der Planung, im Dialog mit den anderen Partnern in den Fachministerien der Staatlichen Plankommission usw. Ich nutzte meine Spielräume sowie Einflussmöglichkeiten. Wir konnten z. B. dem Gesundheitsminister helfen, wenn das notwendig war. Es herrschte bei uns eine sehr kollegiale sowie unbürokratische Zusammenarbeit. Man kannte sich gut, wusste, wie der andere Partner reagiert, es wurde bei uns auch nicht laufend gewechselt. Somit kam man im Problemfall im Sinne der Sache zu einer Lösung. Natürlich gab es Grenzfälle, wobei es zum Ärger kam, weil man etwas entschieden hatte, was einer Person in der Spitze missfiel. Da musste ich auch Kritik aushalten. Es gab Beispiele, wo Genossen massiv ihrem Ärger Luft verschafften, z. B. gegenüber Mittag.
371 Das taten auch einige … Ja, ich weiß aber nicht, mit welchem Erfolg. Genau, oder auch mit welchen Konsequenzen? Ja sicher. Es gab welche, die postwendend rausflogen. Ich habe einen Freund in Erfurt, mit dem ich aufgewachsen war. Er sagte zu Mittag, er sei ein Arbeiterfeind, weil er von seinem Kombinat Leistungen verlange, die unrealistisch waren. Am nächsten Tag wurde er als Generaldirektor abgesetzt und landete als Betriebsleiter in einen kleinen Betrieb. Ein anderes Kombinat in Thüringen hatte nach einem weiteren halben Jahr Führungsschwierigkeiten. Man sagte, das könne „nur“ mein Freund regeln, und man versetzte ihn in dieses Kombinat, er schaffte es. Nun war alles vergessen. Wenn einem bewusst war, dass man nicht führungs- oder parteikritisch sein durfte bzw. sein konnte, weil man mit nicht einschätzbaren Konsequenzen rechnen musste, war man doch praktisch „aktionsgehemmt“ bzw. „mundtot“? Ich überlasse Ihnen die Phantasie. In der DDR wurde auch über die Obrigkeit geschimpft. Auch im Betrieb machte man seinem Ärger Luft. Lassen Sie heute in Ihrem Betrieb mal ihren kritischen Worten freien Lauf. Das Echo wird folgen. Was den Meinungsstreit in unserer Partei betrifft, da wurde in der Versammlung und erst recht im kleinen Kreis ordentlich „Klartext“ geredet. Nicht gewollt war allerdings die öffentliche Kritik. Seien Sie doch bitte realistisch: Werden denn heute die Defizite der Politik und sozialen Verhältnisse wirklich benannt? Wenn im Wahlkampf etwas kritisiert oder versprochen wird, was folgt danach? Redefreiheit ohne soziale Sicherheit ist „Nonsens“! Heute existieren Arbeitsrechtsbestimmungen, Gewerkschaften und Arbeitsgerichte. Die Mitarbeiter kennen ihre Rechte, aber ebenso ihre Pflichten … Ja, aber die Praxis ist knallhart. Meine Tochter, die mehrfach ihren Chef auf Verstöße gegen das Mietrecht hingewiesen hatte, verlor deshalb ihren Job. Der Chef hatte eine andere Mitarbeiterin zur „Aufzeichnung ihrer Bemerkungen“ aufgefordert. Das machte sie prompt. Sie wissen doch selbst, wie die Praxis mit „hire and fire“ aussieht. Auf einen Schlag verlieren 100 Leute ihre Arbeit, weil die Firma schließt. Kein Paragraph und kein Gericht helfen ihnen. Das Recht und seine Möglichkeiten können sich die Betroffenen nur über Rechtsanwälte erschließen und im wichtigsten Feld „Erhalt der Arbeit“ oder „Erhalt der Wohnung“ ist das oftmals anstrengend oder sogar aussichtslos. Jeden Tag kommen neue Beispiele für solches Unrecht hinzu. Zu Egon Krenz: Am 18. Oktober 1989 kam es zur Ablösung von Honecker. Mit dem geplanten Reisegesetz entstanden zugleich Forderungen an die BRD. Bitte schildern Sie die Abläufe aus Ihren Erinnerungen.
372 Nach meinen Informationen wurde Egon Krenz empfohlen, schnellstens ein Reisegesetz zu schaffen. Das hatte zwei Konsequenzen: Wenn ein DDR-Bürger in den Westen fuhr, wollte er erstens Reisedevisen mitnehmen und zweitens war die Bundesbahn so „nett“, uns für jede Fahrkarte, die sie von einem DDR-Bürger vorgezeigt bekam, eine Rechnung zu stellen. Und zwar für die Kosten der Reisestrecke, die er in der Bundesrepublik Deutschland mit der Bundesbahn zurücklegte. Das wurde exakt aufgezeichnet. Wir hatten immer den westlichen Teil der Reise mit der Bundesbahn in D-Mark zu erstatten. Das summierte sich schnell zu Milliarden hoch. Komme es zu einer neuen Reiseregelung, müsse sich Bonn mit 20 Milliarden DM an der Finanzierung beteiligen, so die Mitteilung der Ständigen Vertretung der DDR. Bereits in Schalck-Golodkowski Doktor-Arbeit (1970), 219 die u. a. Erich Mielke persönlich betreute, rechnete Schalck vor, dass die DDR über 85 Milliarden Mark Schadenersatz für die volkswirtschaftlichen Schäden durch Massenflucht vor dem Mauerbau verlangen könnte. Wie kam die Summe zustande? Ja, Krenz beauftragte den Leiter der Ständigen Vertretung der DDR Horst Neubauer, 220 der Bundesregierung mitzuteilen, dass eine großzügige Reiseregelung in etwa 20 Milliarden DM kosten würde. Wir hatten einen Tagessatz von 20 D-Mark. Nun warteten mehr als 100 000 Leute. Die Erstausstattung für 100 000 Reisende für je 10 Tage a. 20 DM ergibt 20 Millionen DM. Man musste mit einer rasanten Zunahme der Reisenden in den Monaten rechnen. Hinzu kamen auch die hohen Zahlungsansprüche von der Bundesbahn. Deshalb hatte eine höhere Forderung schon Sinn. 221
Thema: „Zur Vermeidung ökonomischer Verluste und zur Erwirtschaftung zusätzlicher Devisen im Bereich Kommerzielle Koordinierung des Ministeriums für Außenwirtschaft der Deutschen Demokratischen Republik, Mai 1970.“ Siehe https://www.yumpu.com/de/document/read/5183119/die-doktorarbeit-von-alexanderschalck-golodkowski (letzter Zugriff 12.12.2020). 220 Horst Neubauer war u. a. in der Zeit von 1988 bis 1990 Leiter der Ständigen Vertretung der DDR in Bonn. 221 Egon Krenz, Herbst ´89, Berlin 2014, S. 226: „25 Oktober 1989: Möglich wäre es, den Mindestumtausch für Bürger aus der BRD aufzuheben. Beide Staaten könnten einen Reisemittelfonds bilden. Wir gingen davon aus, dass jeder, der in die BRD fahre, einmal jährlich mindestens 300 DM umtauschen sollte. Der Erwerb von DM sei durch den Umtausch von Mark der DDR zu einem Kurs von 1:4,40 möglich. Die Größenordnung des Reisefonds liege nach unseren Berechnungen bei 3,5 bis 4 Milliarden DM. Die Valutamittel solle die BRD bereitstellen. Die Markbeträge der DDR (ca. 16 bis 20 Milliarden) könnten für gemeinsame Projekte verwendet werden, auch für die Öffnung neuer Grenzübergänge.“ Krenz weiter, S. 301: „6. November 1989: Schalck hatte noch einmal unsere Vorschläge vorgetragen: Jedem DDR-Bürger soll einmal jährlich die Möglichkeit gegeben werden, 300 DM Reisedevisen zu erwerben. Für diese Summe soll ein Umtausch von Mark der DDR festgesetzt werden. Die DDR ist in diesem Fall bereit, auf die Einnahmen aus dem Mindestumtausch für Bundesbürger und Westberliner zu verzichten. Wir rechnen mit 12 bis 13 Millionen Reisenden jährlich.“ 219
373 Waren Sie in diese Prozesse involviert? Natürlich als Staatssekretär! Wenn auch nur in Zusammenarbeit mit meiner Kollegin Dr. König, die für die BRD zuständig war. Aber das war das erste Mal, dass grundsätzlich eine Forderung zur Beteiligung seitens der DDR an die Bundesrepublik Deutschland bezüglich einer Unterstützung der Reisekosten gestellt worden war. Ist das so richtig? Wahrscheinlich wurde vorher schon über diese Frage in den Verhandlungen gesprochen, die Schalck laufend mit den zuständigen Stellen führte. Hinzu kommen die 500 Millionen DM 222, die Schalck-Golodkowski ebenfalls für Bahnzusatzaufwendungen einforderte? Beides wurde allerdings abgelehnt. Ja, Schalck-Golodkowski verhandelte am 24. Oktober 1989 mit Rudolf Seiters und Wolfgang Schäuble über die 500 Millionen DM in Bonn, ohne Ergebnis. War Schalck-Golodkowski nach dem 24. Oktober 1989 noch einmal dort? Er war noch einmal am 6. November 1989 gemeinsam mit Frau Dr. König 223 dort. Wieder ohne Erfolg. Als Krenz zurücktrat und damit seine Ämter aufgab, vorher von Modrow und den anderen Parteivorsitzenden dazu aufgefordert wurde, übernahm Manfred Gerlach als Staatsratsvorsitzender der DDR. Wer aber verfolgte weiterhin diese beiden Forderungsansätze von 20 Milliarden DM und 500 Millionen DM? Hans Modrow vielleicht? Modrow fuhr im Februar 1990 nach Bonn und wollte 15 Milliarden DM haben. Am 13. Februar 1990 wurde die „Solidarbeitrags-Forderung“ von der Modrow-Regierung in Höhe von 15 Milliarden DM abgewiesen. Nachgefragt: Verfolgte niemand mehr die Krenz-Forderungen? Nach der ersten Absage muss man nicht noch ein zweites Mal hin. Außerdem: Die „Ära Krenz“ dauerte nur 50 Tage. Die Reiseverordnung und die Vorbereitung der Regierung Hans Modrow waren die wichtigsten Ergebnisse. Das neue Politbüro – ich sage meinen
Im Schreiben von Alexander Schalck-Golodkowski an Egon Krenz vom 24.10.1989 berichtete dieser über den Besuch im Bundeskanzleramt der BRD, über die Gespräche mit Rudolf Seiters und mit dem CDU-Vorstandsmitglied Wolfgang Schäuble. Schalck verweiste u. a. darauf, dass eine mögliche Vervielfachung der Zahl an Reisen Mehrkosten verursachen würde: „[…] und damit anfallenden Zahlungen an die Bundesbahn von insgesamt ca. 160 Mio. DM auf ca. 500 Mio. DM ansteigen würden. Darin sind keine Maßnahmen zur Ausstattung mit Reisezahlungsmitteln enthalten. […]“ Dokument siehe BA, J IV 2/2A/3255. 223 Herta König war u. a. in der Zeit von 1970 bis 1990 Stellvertreterin des Ministers der Finanzen der DDR. 222
374 Eindruck aus dem, was ich selbst erlebte – versuchte eine Bestandsaufnahme, z. B auch bei den Parteifinanzen. Wurde mit der Ämterkumulierung von Krenz nach dem Honecker-Ende letztendlich nicht das System Honecker weitergeführt? Nein, das wollte keiner. Äußerlich sah das natürlich so aus. Aber das unselige Dreigestirn „Honecker, Mittag und Mielke“ waren weg. Es konnte und musste schon eine neue Aufgabenverteilung im Politbüro der Partei und auch im Apparat des ZK gefunden werden. Das hat Krenz wohl versucht. Der Ministerrat, die Minister, erledigten ihre Arbeit so weiter, wie es die Lage einforderte. Wir waren an Selbstständigkeit gewöhnt. Wir haben doch zu keiner Zeit auf die Weisungen aus dem Politbüro gewartet. Was den Staatsrat betrifft war in dieser Zeit kein Bedarf vorhanden, um zu erneuern, denn man brauchte dieses Repräsentationsorgan nicht mehr. Aber der Ministerrat mit dem Vorsitzenden Willi Stoph widersprach keinen Anweisungen von Honecker oder Krenz bis zu dessen Rücktritt am 7. November 1989? Ja, das war so. Willi Stoph führte durch, was das Politbüro beschloss. Aber er und alle Minister brauchten nicht bei jedem Schritt nach vorn die Zustimmung vom Politbüro. Es waren souveräne Fachleute mit einem großen Stab von Mitarbeitern. Wir wussten doch selbst von uns aus, was politisch gut und richtig war. Aber alle Befehle, die auch in der BStU einsehbar sind, sind letztendlich Genehmigungen vom Politbüro bzw. vom Staatsratsvorsitzenden … Das Politbüro bekam natürlich jedes Gesetz zur Kenntnis. Auf der Arbeitsebene wurden die Entwürfe abgehandelt. Dann gab es die Möglichkeit, dass das Politbüro sagte „der Minister hat recht, das lassen wir so“ oder „der Paragraph 7 ist entsprechend zu verändern“. In solchen Fällen handelte es sich meist um „sensible“ Dinge. Die Reiseregelung wurde im Innenministerium entworfen, dem Politbüro vorgelegt und ging entsprechend nach Genehmigung mit oder ohne Änderungswünsche wieder zurück. Dann stand doch letztendlich die Entscheidungsbefugnis des Politbüros über der des Ministerrates bzw. der Ministerien? Die Entscheidungsbefugnis, ja. Die Meinung des Politbüros war schon bindend. Bei der Reiseregelung, die Anfang November in der Endphase der Debatte war, hat das Politbüro sich beratend eingeschaltet. Nach meiner Erinnerung kamen aber aus dem ZK-Apparat vor allem die kleinkarierten Vorschläge, die nicht gingen. Der Durchbruch zu einer wirklich der Lage und den Erwartungen entsprechenden Fassung kam nach meiner Erinnerung von Volkskammerabgeordneten, die den Entwurf im Rechtsausschuss beraten und Veränderungsvorschläge machten. Jedenfalls gab es in der Endphase, vielleicht auch mit Hinweisen aus dem ZK-Apparat, eine vernünftige und den Menschen vermittelbare Lösung.
375 Was die Rolle von Krenz dabei betrifft: Er hatte doch den Zettel für Schabowski geschrieben. Wenn er intensiv involviert gewesen wäre, dann hätte die Information an Schabowski klarer bzw. exakter erfolgen müssen. Er wusste eindeutig was hier auf dem Spiel stand. Propaganda und Agitation: Die Sendung „Der schwarze Kanal“ wurde am 30. Oktober 1989 nach 1 519 Folgen eingestellt. Der Chefkommentator des DDR-Fernsehens und Autor Karl-Eduard von Schnitzler 224 war in der DDR-Bevölkerung der meistgehasste Journalist. Im Januar 1990 leitete die SED-PDS ein Parteiausschlussverfahren gegen Schnitzler ein. Er trat selber aus. Später wurde er Mitglied der DKP. Das Urteil über Karl-Eduard von Schnitzler, das Sie da eben nannten, kommt eher von Leuten, die die DDR nicht mochten. Er war grantig, überzog auch. Das war eben sein Stil, aber er hatte schon Argumente zu Vorgängen in der BRD, die aufhorchen ließen. Wir beide werden da kaum auf einen Nenner kommen. Bedenken Sie bitte, jede Sache hat verschiedene Seiten. Die Grenzschleuser von Menschen waren aus der Sicht des Westens Helden. Die haben damit Geld verdient und so manchen Mann oder Frau dazu verleitet, in die militärisch gesicherte Grenzzone einzudringen. Das war für uns doch kein Anlass, diesen Leuten Beifall zu zollen. Viel hat sich Schnitzler mit den avancierten Nazi-Größen in der BRD befasst. Die haben kraft ihres Einflusses natürlich zugeschlagen, ihn öffentlich diffamiert. Also kurz und gut: Ich habe mich in diesen Sendungen ab und zu auch über Vorgänge informiert, die sonst nicht publiziert wurden. Sicher, er überzog mitunter. Die ihn in der DDR ablehnte, war wohl jene Gemeinde, die sich vom Westfernsehen angezogen und unterhalten fühlte. Inwiefern schadete Schnitzler dem Ansehen der DDR? Mit seinem zugespitzten Ton und seinem Stil. Mit ein bisschen „Schmäh“ wäre manches besser rübergekommen. Aber er fühlte sich eben als zupackender Streiter. Sicher auch angetrieben von solchen Gegenspielern wie Werner Höfer und seinem „Internationalen Frühschoppen“. 225 War Schnitzler weisungsgebunden oder handelt er „alleinverantwortlich“? Er war ein kluger Kopf, konnte politische Ereignisse und ihre Deutung im Westen gut analysieren. Hatte dazu natürlich auch einen Mitarbeiterstab. Weisungen brauchte er nicht, er wusste doch, was politisch wie zu bewerten war. Ich hätte mir so eine Aufgabe mit entsprechenden Informationsquellen auch zugetraut. Karl-Eduard von Schnitzler (1918–2001) moderierte wöchentlich die Sendung „Der schwarze Kanal“ in der Zeit von 1960 bis zur deren Absetzung Oktober 1989. 1990 trat er aus der SED-PDS aus und wurde Mitglied in der DKP. 225 Werner Höfer (1913–1997) war u. a. Journalist, Fernsehmoderator und Fernsehdirektor beim Westdeutschen Rundfunk. Der Internationale Frühschoppen wurde beim WDR von 1952 bis 1987 ausgestrahlt und danach durch den Presseclub ersetzt. 224
376 War Schnitzler für Sie ein (Mit-)Grund, warum Menschen gegen Propaganda demonstrierten und deshalb öffentlich Meinungs-, Medien- und Pressefreiheit einforderten? Nein, Meinungsfreiheit, wie sie gefordert wurde, ist doch bezogen gewesen auf das Recht, Kritik an Erscheinungen in der DDR öffentlich zu üben, ohne dafür Ärger zu bekommen. Die Leute wollten in der Zeitung die Probleme lesen, die es gab, in der Versorgung, auch im Handeln von Funktionären. Sie wollten die Schönwetterberichte einschließlich der Regenwolken … Warum wurde überhaupt Schnitzler eine mediale Plattform gegeben? Weil er das Zeug zu einem politischen Kommentator hatte. Er hatte das beim WDR 226 gelernt, wo man ihn nicht mehr haben wollte. Das war die Zeit des Aussortierens aller Linken in den BRD-Medien. Wann wäre für Sie die DDR noch reformierbar gewesen, um eine eigenständige, vielleicht sogar eine sozialdemokratische DDR zu werden? Nachdem Freiräume entstanden waren, durch den von Gorbatschow gefahrenen Kurs der Perestroika und seinem Versprechen, den „Bruderländern“ auch solche Freiräume zu lassen. Das war etwa im Jahr 1987. Welche Maßnahmen hätten kurz-, mittel- bzw. langfristig umgesetzt werden müssen? Das kann man so einfach nicht sagen. Aber der erste entscheidende Schritt hätte die Vertragsgemeinschaft mit der BRD sein müssen. Darüber sprachen Kohl und Honecker. Es gab also ein „offenes“ Tor. Alles andere wäre dann davon abhängig gewesen, was Bonn wirklich bereit war zu vereinbaren. Da bin ich mir nicht sicher. Kohl hatte den Interessen der Wirtschaft und der Vertriebenenverbände Rechnung zu tragen. Ein Positivum wäre evtl. eine „Hilfe“ aus Paris und London gewesen, denn die wollten die DDR erhalten. Mitterrand sagte bekanntlich, er liebe Deutschland und deshalb hätte er gern zwei davon. 227 Was war für Sie der Dolchstoß, dass die Eigenständigkeit der DDR nicht mehr zu erhalten war und somit das Ende der DDR besiegelte? Das war die spontane Grenzöffnung am 9. November 1989. Das war der Verlust der Staatsautorität, des immer nur noch Geschobenwerdens. Welche persönlichen Versäumnisse sehen Sie? Womit hätten Sie zum Erhalt der DDR im Wesentlichen beitragen können oder war das im Rahmen Ihrer Position unmöglich? Ich sehe das ganz nüchtern. Allein hätte ich nichts verändern können, meine Stellung war dazu ungeeignet. Und die Pflicht zu erfüllen, auch wenn man Probleme mit der politischen Führung hat, das gehört nun mal zu dem Eid, den man geleistet hat. 226 227
WDR: Westdeutscher Rundfunk mit Sitz in Köln. Mitterrand lehnte im Gegensatz zur „Eisernen Lady“ die Vereinigung nicht grundsätzlich ab.
377 Ohne Richter zu spielen, aber es ist für die historische Aufarbeitung evident: Ich möchte keine Akteure „an den Pranger“ stellen, sondern legitim nachfragen: Mit welchen Personen wären Veränderungen, Revolutionen und Reformen in der DDR machbar gewesen? Hiermit meine ich im Speziellen die letzten Jahre der DDR bzw. das Jahr 1989? Zu welchen Zeitpunkten waren Akteure Gegner und/oder Befürworter? Wer stellte sich Neuerungen in den Weg? Die Antwort auf diese Frage liegt im Bereich des Ungewissen. Ich spekuliere nicht gern und schon gar nicht, was unsere Geschichte anbetrifft. Deshalb nur eine Kurzantwort: Modrow wäre auch schon 1987 eine Alternative für die Erneuerung der DDR-Politik gemeinsam mit Genossen wie Schürer, Eberlein und einigen anderen gewesen. Allerdings standen Milke, Stoph und Krolikowski einer Veränderung massiv im Wege – gestützt vom Kreml. Bitte charakterisieren Sie die ehemalige Wirtschaftsministerin Christa Luft aus der Modrow-Regierung. Welche Erfolge, aber auch Unerledigtes können Sie Luft zuordnen? Sie ist eine kompetente Wissenschaftlerin mit großer, auch internationaler Erfahrung. Für ihr Amt in der Modrow-Regierung bestens geeignet. Das Konzept der Wirtschaftsreform hat sie maßgeblich mitgeprägt. Dass es nicht verwirklicht wurde, ist dem raschen Ende der Modrow-Regierung geschuldet. Am Wahlabend des 18. März 1990 prognostizierte der Schriftsteller Stefan Heym: „Es wird keine DDR mehr geben. Sie wird nichts sein als eine Fußnote in der Weltgeschichte.“ 228 Stimmen Sie Heyms „These“ zu? Ja, es sieht ganz so danach aus, als ob er recht hatte. Es wurden Millionen ausgegeben, um die DDR vergessen zu machen, diesen „Unrechtsstaat“. Aber schon jetzt wird sichtbar, es bleibt nicht so. Die Umstände lassen nach einer Alternative zum „Turbokapitalismus“ 229 fragen. Was bleibt für Sie aus Ihren Erfahrungen und Erlebnissen aus der Geschichte der DDR (7. Oktober 1949 bis 3. Oktober 1990) von den Menschen, der Gesellschaft, den Erfolgen und den Misserfolgen, der Ideologie, dem (Unrechts)Staat, den Gewinnern, den Opfern und den Tätern, den Grenzen, der brüderlichen Gemeinschaft zu den anderen
Diesen Satz äußerte Heym im DDR-Fernsehen am Wahltag des 18.3.1990. Stefan Heym war für einen Umbruch, aber nicht für dessen Abschaffung eingetreten. 229 Turbokapitalismus auch Raubtierkapitalismus ist ein abwertender Begriff. Laut Duden: Rücksichtsloser, unverhüllt ausschließlich auf Profitmaximierung ausgerichteter Kapitalismus. Wirtschaftswissenschaftler und Historiker Edward Luttwak prägte diesen Begriff. 228
378 Blockstaaten, der Kultur, dem Land, der Musik, der Dichter und Denker usw. für nachfolgende Generationen übrig? 230 Der Kahlschlag, der Elitenaustausch usw. waren nach den Ereignissen der Jahre 1989/1990 so total, dass von der Substanz DDR nur wenige Strukturen übrigblieben. 231 Bespiele: Die Wohnungsbaugenossenschaften mit etwa 1,2 Millionen Wohnungen und Leitungen, die gewählt werden, die landwirtschaftlichen Genossenschaften in reduzierter und reformierter Form, die Volkssolidarität als eine große „NON-Profit“ Sozialorganisation. Ansonsten viele Bücher, die den „Unrechtsstaat“ so darstellen, wie er war. Und deshalb unterstütze ich dieses Zeitzeugenprojekt. Ein Wahlschwerpunkt im Februar/März 1990 bei den politischen Akteuren war, die katastrophale Umweltverschmutzung in der DDR aufzuzeigen/anzuprangern und ein sofortiges Umdenken einzufordern. Worin sehen Sie die Versäumnisse, dass die Ökologie nicht als eine Chance für die Ökonomie gesehen wurde? Ökologie ist immer eine Frage der Möglichkeiten, entsprechende Investitionen durchzuführen wie die Reinigung des Wassers oder der Luft. Und wir waren da knapp mit den technischen Mitteln, z. B. im Hallenser Raum 232. Nicht zu vergessen, dass im Westen auch der Rhein durch die BASF 233 lange Zeit verdreckt war. Jeder Beschäftigte in der DDR besaß eine „Kaderakte“ mit dienstlichen und privaten Leistungen, Verhaltensanweisungen und Verfehlungen. Nahmen Sie Einsicht in Ihre „Kaderakte“? Kennen Sie die Inhalte? 234 Wäre es besser gewesen, alle „Kaderakten“ nach der Wende zu vernichten? Heute wird bei einem Arbeitsplatzwechsel die „Personalakte“ von Mitarbeitern vertraulich für 3 Jahre gespeichert und dann gelöscht. Angeblich wurden zum Ende der DDR diese „Kaderakten“ den Leuten mitgegeben, um diese dann von den nichtdienstlichen Vorgängen zu „bereinigen“? Bringen Sie bitte Licht in diese Vermutungen. Zur Vertiefung: Gerd Dietrich, Kulturgeschichte der DDR (Band I, II, III), 2. Edition, Göttingen 2019. 231 Zur Vertiefung: Hannes Bahrmann und Christoph Links, Finale: Das letzte Jahr der DDR, Berlin 2019. 232 Hallenser Raum: Köthen, Bernburg, Merseburg sind Standorte der chemischen Industrie der DDR wie Leuna, Buna, Wolfen usw. 233 BASF war die Badische Anilin- und Sodafabrik, Ludwigshafen am Rhein. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts zählte die BASF zu den größten Chemiekonzernen weltweit mit einer sehr umfangreichen Produktpalette. 234 Ulf Rathje vom Bundesarchiv, Berlin schrieb Dürkop am 1.2.2021 (10:32) per E-Mail: „Eine Kaderakte zu Walter Siegert konnte im Bestand DC 20 Ministerrat der DDR, wo sie zu erwarten wäre, nicht ermittelt werden. […].“ Im Privatarchiv von Siegert befinden sich viele Dokumente, Urkunden und Auszeichnungen, die einer Kaderakte zugeordnet werden können. Die Unterlagen liegen Dürkop in Kopie vor. Dokumente aus diesen Unterlagen wurden (teilweise) verwendet und in dieser Publikation zitiert. 230
379 Die Kaderakten im Staatsapparat bekamen die Mitarbeiter im Jahr 1989 in die Hand. Wie es anderswo lief, weiß ich nicht. Jetzt muss ich auf westliche Praktiken hinweisen: Personalunterlagen führen im Westen auch die Arbeitgeber. Sicherlich wird hier das Verhalten mit Notizen registriert bzw. dokumentiert. Ebenso existieren „Akten“ zur Überwachung. Denken Sie an den BND. Der „Knüppel“ der Demütigung – fast sogar eine Art von Existenzvernichtung – waren die Akten des „MfS“. Bis heute eine gängige Form, um Ostdeutsche zu attackieren. Die Herren Kohl und Schäuble wollten das nicht, aus verständlichem Grund. Aber es fanden sich bald „Interessenten“ an diesem Job. Wer hier schmutzige Absichten hatte, das ist klar. Wie ging man in der BRD mit den Nazi-Tätern um? Keiner weiß oder erfährt, wo die Tausende von Richtern, die in den Osten kamen, schon überall gedient hatten. Es geht um Ihren Bezug zu den Personen Willy Delling, Peter Schönach und Lothar Fichtner aus Mühlau während der DDR-Zeit. Sie waren alle im Bereich des Wirtschaftsrates des Bezirkes in der Weiterbildung bzw. in der Finanzabteilung oder Vorsitzender des Rates des Bezirkes tätig. In welcher beruflichen Abhängigkeit standen Sie zu diesen Personen? Der Rat des Bezirkes war die oberste Verwaltungsbehörde eines Bezirkes in der DDR. Man könnte auch sagen, eines kleinen Landes, denn die Bezirke hatten zum Teil zahlenmäßig und von der wirtschaftlichen Potenz her die Größe von Bundesländern, insbesondere der Bezirk Karl-Marx-Stadt, heute Chemnitz. Dort war Lothar Fichtner seit 1985 der Vorsitzende des Rates des Bezirkes, d. h. des obersten Verwaltungsgremiums dieses Bezirkes. Zu diesem Rat des Bezirkes gehörten eine Reihe von Fachabteilungen wie Finanzen, Kultur, Gesundheit, Wirtschaft, Inneres usw. Lothar Fichtner kennt mich aus der Zusammenarbeit bei diesem Rat des Bezirkes. Die Regierung hatte die Praxis, im Laufe des Jahres Regierungsmitglieder, leitende Personen aus den Ministerien, in die Bezirke zu schicken. Ich nahm dort zum Beispiel in einer Sitzung des Rates des Bezirkes zu Finanzen Stellung. Ich bewertete manches kritisch und stützte mich auf Kontrollergebnisse, z. B. aus der Bauwirtschaft des Bezirkes oder auch anderen Themen. So entstand unsere Verbindung zu Fichtner und anderen Kollegen in den örtlichen Verwaltungsorganen. Solche Kontakte waren mir sehr wichtig, was bis heute geblieben ist. Auch in diesen Bereich gehörte Willy Delling. Der Rat des Bezirkes hatte einen eigenen Wirtschaftsrat, der wiederum die Dachorganisation der bezirksgeleiteten Wirtschaft war. Dieser Wirtschaftsrat hatte einen Vorsitzenden, einen Stellvertreter sowie Abteilungen. Zu diesem Wirtschaftsrat gehörten damals in Karl-Marx-Stadt vielleicht fünfhundert Betriebe verschiedenster Branchen. Das war ein wirtschaftliches Großunternehmen. Da man dort natürlich qualifizierte Leute brauchte, hatte der Wirtschaftsrat, der in den Spitzenfunktionen mit Diplomwirtschaftlern oder Diplomingenieuren besetzt war, ein Weiterbildungszentrum, ähnlich einer kleinen Fachhochschule. Das wiederum hatte einen Leiter und das war Willy Delling. Er war Diplomwirtschaftler und arbeitete vorher auf verschiedenen Gebieten in diesem Wirtschaftsrat. Er wuchs in meinem Ort „vis-à-vis“
380 meines Elternhauses auf und als Kinder spielten wir zusammen. Wir verloren uns nie aus den Augen, Jugendfreunde bleiben immer Freunde. Die dritte Person, Peter Schönach, jetzt 79 Jahre alt, war der Chef der Finanzabteilung des Rates des Bezirkes. Die Finanzabteilung dieses Rates war zuständig für den Steuereinzug, den gesamten Haushalt des Bezirkes – also die Haushaltswirtschaft. Wir hatten Steuern der landwirtschaftlichen bzw. handwerklichen Genossenschaften sowie der Einzelhandwerker, wie Friseure, Schuster usw. Er war weiter zuständig für die Verwaltung des staatlichen Eigentums, z. B. Gebäude und Grundstücke. Schönach war mein direkter Partner im Ressort Finanzen. Wie war Ihr Verhältnis zum jeweils Ersten Sekretär der SED-Bezirksleitung, wie z. B. Modrow in Dresden oder auch Siegfried Lorenz im Bezirk Karl-Marx-Stadt? Welche Einflussnahme bzw. Kontaktaufnahme gab es zu den einzelnen Wirtschaftsräten? Das Prinzip: Die Partei ist die Partei und der Staat mit dem Rat des Bezirkes ist der Staat. Der Ratsvorsitzende, seine Stellvertreter sowie die gesamte Struktur waren für die Arbeit des Staates in diesem Bezirk zuständig. Die Bezirksleitung war das oberste Gremium der Parteiorganisationen der SED in diesem Bezirk. Die SED sah sich als Linien- und Taktgeberin für das gesamte gesellschaftliche Leben im Bezirk. In dieser führenden Rolle der Partei hatte der Bezirkssekretär ein beratendes, informierendes Verhältnis zum Ratsvorsitzenden, in diesem Falle Lorenz und Fichtner. Es war in der Regel ein konstruktives Miteinander, aber es gab auch Zeiten, in denen der Vorgänger von Lorenz den Ratsvorsitzenden bevormundete. Zu Ulbrichts Zeiten war das „Reinregieren“ der Bezirkssekretäre in die Arbeit des Rates des Bezirkes entstanden, wurde aber nicht toleriert. Bei Honecker, als Parteiorgane sich zunehmend aufplusterten, war es schon eher Praxis. Wir als Ministerium hatten nicht nur die Pflicht, sondern auch die Möglichkeit, jederzeit mit unseren Leuten im Bezirk anleitend oder auch kritisch zu reden. Das war im Rahmen der sogenannten doppelten Unterstellung möglich, d. h., der Finanzchef im Bezirk war seinem staatlichen Vorgesetzten, dem Vorsitzenden des Rates des Bezirkes, unterstellt, aber als Fachorgan auch dem Fachminister. Das war m. E. ein sehr effektives Regime, das Ordnung und Wirtschaftlichkeit sowie Kontrolle gestärkt hat. Um nicht zu vergessen: Die Haushaltspläne der Bezirke wurden jährlich von den Bezirkstagen, also den Parlamenten, beraten und beschlossen. Sie vertraten dabei sehr engagiert und sachkundig die Interessen der Bevölkerung. Sie als Staatssekretär besuchten alle Räte des Bezirkes in der DDR? Nein, das war aufgeteilt. Ich besuchte natürlich gern meinen Heimatbezirk oder auch andere Bezirke. Ein anderer Stellvertreter war für Dresden zuständig. Ich war sehr oft in Erfurt, Rostock, Magdeburg, aber auch in Dresden vor Ort. Daher kannte ich Modrow schon längere Zeiten. Hinzu kam: Unsere Regierung legte Wert darauf, dass die Pläne der
381 Bezirke möglichst immer harmonisch und stimmig waren. Das war kompliziert, weil in jedem Bezirk auch Wirtschaftseinheiten, Kombinate, Hochschulen existierten. Deshalb fand jedes Jahr im September/ Oktober in jedem Bezirk eine große Beratung dazu statt, zu der die Zentrale in dem Bezirk zusammenkam, um die Probleme der Koordinierung zu beraten. Das war wiederum mein Part. Ich fuhr nach Karl-Marx-Stadt zu dieser Jahresplan-Beratung. Die Leitung in Karl-Marx-Stadt hatte Gerhard Schürer, der Vorsitzende der Staatlichen Plankommission. Gerhard Schürer, der u. a. den Fünf-Jahres-Plan für die DDR aufstellte … Ja. Neben Schürer waren weitere Leute, wie der Gesundheitsminister, der Kulturminister sowie der Bauminister vor Ort. Dieses Gremium aus Berlin beriet mit den Vertretern des Bezirkes die Probleme. Das war eine sehr direkte Form, um bürokratische territoriale Entwicklungsaufgaben zu lösen. Natürlich nicht ohne Absprache von durchaus berechtigten Wünschen, denn es ging knapp zu, vor allem bei den Baukapazitäten. Ab wann wurde die Betreuung der Räte der Bezirke von Ihnen u. a. als Staatssekretär in der Stoph-Regierung realisiert? Wann waren Sie als Staatssekretär erstmalig in Erfurt, Dresden oder Karl-Marx-Stadt dabei gewesen? In etwa ab 1980 jedes Jahr. Und letztmalig dann im September 1989? Da will ich mich jetzt nicht festlegen. Es kann sein, dass zu dem Zeitpunkt die Dinge schon so durcheinanderliefen. Bis zum Jahr 1988 auf jeden Fall. Hans Modrow schilderte Probleme im Bezirk Dresden ab Februar/März 1989. Er musste über Fehlentwicklungen in seinem Bezirk Stellung beziehen. Eine Untersuchung in Dresden fand statt. Was ist darüber bekannt? 235 Ja, das war wohl Ende der 1980er Jahre gewesen. Die in Dresden veranlasste Untersuchung ging von Günter Mittag aus. Das war als ein Seitenhieb gegen Modrow gedacht. Solche Aktionen gab es wohl überall im Lande. Wir haben uns auch dazu geäußert. Probleme bei der Versorgung waren überall feststellbar, nicht nur in Dresden. Ein wichtiger, aber für die Öffentlichkeit eher unbekannter Akteur wurde in der Modrow-Regierung Staatssekretär im Wirtschaftsministerium. Erzählen Sie bitte von Wolfram Krause. 236 235 Hans Modrow erfuhr aus den Akten des BND (2018/2019), dass Honecker versucht hatte, Beweise gegen ihn in Dresden zu finden, um Modrow wegen Hochverrat anzuklagen. 236 Wolfram Krause schrieb im Jahr 1978 einen Brief an das ZK der SED, wobei er auf Diskrepanzen im Wirtschaftsplan 1979 hinwies. Die geplante Produktion reiche nicht aus, um den ebenfalls vorausgeplanten Verbrauch an Konsumgütern und Investitionsmitteln zu decken. Peter Christ,
382 Wolfram Krause war Staatssekretär beim Ministerpräsidenten und zuständig für die Vorbereitung der Wirtschaftsreform. Er war ein kompetenter Fachmann, eloquent sowie zielstrebig. Krause war bis 1978 Stellvertreter des Vorsitzenden der Staatlichen Plankommission. Dort befasste er sich mit der Weiterentwicklung der Planung in Verbindung mit der elektronischen Datenverarbeitung. In diesem Zusammenhang gab es Differenzen mit G. Mittag bei einer Präsentation sowjetischer Erfahrungen. Daraufhin wurde er des Amtes enthoben. Er bekam eine Aufgabe in der Berliner Bezirksleitung der SED auf dem Gebiet Wirtschaft bei Konrad Naumann 237. Im November 1989 holte ihn Modrow ins Amt. Er wurde Staatssekretär und gleichzeitig Chef der Arbeitsgruppe „Wirtschaftsreform“. Dort aktiv waren im Zusammenwirken Christa Luft sowie Prof. Dr. Wolfgang Lebig 238. Bereits im Februar 1990 wurde das Konzept für die Wirtschaftsreform beschlossen. Ab März 1990 war Krause Mitglied des Direktoriums der Treuhandanstalt. In der turbulenten Zeit nach dem 1. Juli 1990 war Wolfram Krause derjenige, der den komplizierten Übergang managen musste. Erzählen Sie bitte von der Kommission „Abschaffung der Preisstützung mit gleichzeitigem Einkommensausgleich“. Die Modrow-Regierung wollte die überfällige Reform „Preisstützungen“ in Angriff nehmen. Im Amt für Preise, das nun Teil unseres Ministeriums war, gab es dazu Vorbereitungen. Die Aufgabe bestand darin, schnellstmöglich verschiedene Produkte auszuwählen, wo dringlichster Bedarf bestand, und das mit einem Einkommensausgleich zu koppeln. Es wurden verschiedene Vorschläge ausgearbeitet. Beispielsweise die Reduzierung von Stützungen für Baby- und Kinderbekleidung. Sie wurde täglich massenhaft von Westdeutschen aufgekauft, die Grenze war ja offen. Wir investierten viel Arbeitszeit in Tagund Nachtschicht, letztendlich wurde das alles Ende Januar gestoppt. Die Situation ließ solche notwendigen, aber politisch riskanten Schritte nicht zu. Wann traten Sie in die Arbeitsgruppe „Wirtschaftsreform“ ein? Im Dezember 1989 wurde sie gegründet und sie bestand bis zum Schluss der ModrowRegierung im März 1990. Ich arbeitete dort mit, sowie es mir möglich war. Zur Arbeitsgruppe „Währungsunion“: Von wann bis wann waren Sie in dieser AG tätig? Wer wirkte mit? Was waren die konkreten Aufgabengebiete, Erfolge sowie Misserfolge? Modrow kam aus Bonn zurück. Kohl hatte ihm einen „Korb“ gegeben, was die 15 Zeit Online, 12.9.1991, Treuhandanstalt: Zwischen Baum und Borke. Siehe https://www.zeit.de/1991/38/zwischen-baum-und-borke (letzter Zugriff 12.12.2020). 237 Konrad Naumann (1928–1992) war u. a. in der Zeit von 1971 bis 1985 Erster Staatssekretär der Bezirksleitung der SED Berlin. 238 Lebig (1927–1995) war u. a. Direktor des finanzökonomischen Forschungsinstituts beim Ministerium der Finanzen.
383 Milliarden DM „Solidarbeitrag“ betraf, und ihm vorgeschlagen, über eine Währungsunion zu verhandeln. Modrow beauftragte den Staatsbankpräsidenten Horst Kaminsky und mich, innerhalb weniger Tage ein entsprechendes Konzept zu erstellen. Der Auftrag kam vielleicht am 15. Februar 1990 nach dem Bonner Gespräch am 13. Februar. Unser Konzept stand nach meiner Erinnerung bereits am 20. Februar und ging in den Ministerrat. Dort wurde es debattiert, verändert und beschlossen. Bereits am 22. Februar erhielt ich einen Anruf von Horst Köhler mit der Bitte, einen Termin zu vereinbaren. Wenn ich mich recht erinnere, kamen wir am 26. Februar bereits das erste Mal zusammen. Ab diesem Moment lief unsere Arbeit bis zum Ende der Modrow-Regierung, die eigentlich am 18. März bereits passé war, aber noch bis zum 8. April amtierte. Es wurde sogar ein gemeinsames Schlussprotokoll erstellt: Finanzministerium der DDR – Finanzministerium der BRD. Sie waren Mitglied der Expertenkommission zur Vorbereitung der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion? Zuerst hieß es Währungs- und Wirtschaftsunion. Da wir aber viel Wert auf das Soziale legten, sagten die Bonner: „Dann nennen wir es doch gleich ‚und Sozialunion‘!“ Es war eine Art Etikett, mit dem ein „Image-Gewinn“ erreicht werden sollte. Von unserem Wirtschaftsprogramm wurde praktisch nichts in die Praxis umgesetzt. Ende März war die Modrow-Regierung am Ende ihrer Zeit. Die Arbeitsgruppe „Wirtschaftsreform“ war von Dezember 1989 bis 18. März 1990 aktiv. Ihre Mitgliedschaft in der Expertenkommission zur Vorbereitung der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion begann nach Modrows Besuch mit der Delegation in Bonn, konkret ab dem 15. Februar. Bis wann ging es weiter? Wir arbeiteten bis zum Schluss der Regierungszeit, also bis zum 12. April. Der Zwischenbericht der Expertenkommission zur Vorbereitung einer Währungsunion und Wirtschaftsgemeinschaft zwischen der BRD und der DDR basierte auf dem 12. März und ist im Buch „Tage, die Deutschland und die Welt veränderten“ (ab S. 129) nachlesbar. Als die de Maizière-Regierung antrat, dachte ich als Naivling, wir würden von diesem Arbeitsstand ausgehen, um dort weiterzumachen, wo wir aufgehört hatten. Es war nicht so, es geschah erst einmal gar nichts. Warum nicht? Insgesamt kann man die Beschäftigung mit dem in Bonn erarbeiteten Entwurf unsererseits eher als einen Dialog über Regeln und Verfahren bezeichnen, die von denen aufgeschrieben wurden, weil sie wussten, wie es geht oder auch dafür zu bürgen hatten, dass die Stabilität der D-Mark keinen Schaden nimmt. Wir mussten akzeptieren, was die „Fachleute“ als notwendige Regularien für die Währungsunion, inkl. aller Konsequenzen für die Wirtschaft, die Löhne, Renten, die Sozialversicherung, die Stützungen, Preise, den Wettbewerb usw. aufgeschrieben hatten.
384 Täglich hörte ich den Satz: Sie bekommen das wertvollste Gut, „unsere D-Mark“ und ihre Stabilität darf keinen Schaden erleiden. Und weiterhin: Das erfordert wiederum, dass die Bundesbank bereits jetzt in der DDR alle Aufgaben der Währungssicherung übernimmt, um Bedingungen zu schaffen, damit die soziale Marktwirtschaft zum Tragen kommt. Wer das hinterfragt oder gar besserwisserisch meinte: „Muss man sich denn dem bedingungslos fügen?“, dem kann ich heute nur empfehlen, sich an die damalige politische Stimmung im Land und an die beginnende Auflösung der staatlichen Ordnung sowie auch an die Euphorie des nahenden „Endes jeder Mangelwirtschaft“ mit einem befeuerten Konsumrausch und entstandener Gebrauchtwagenmärkte usw. zu erinnern. Im Bewusstsein dessen, was von unserem Tun und Lassen abhing, haben wir uns in Bonn ab dem 1. Mai 1990 mehrere Tage ohne Pause mit diesen Dokumenten, die alle zum Entwurf des 1. Staatsvertrages gehörten, mit mehr als 50 Seiten filigranem Text befasst. Die Termine waren gesetzt und wir waren solche intensive Arbeit gewöhnt. Prof. Hans Tietmeyer hat mit Umsicht sachlich und freundlich geleitet. Alle offenen Fragen wurden diskutiert, dazu gab es kompetente Antworten. Sicherlich war das in der verfügbaren Zeit eine enorme Fülle von Rechtsvorschriften, die besprochen und letztlich akzeptiert werden mussten. Für uns war es alternativlos. Eine andere, weniger weitreichende Rechtsanpassung – das war damals die für mich am meisten bewegende Frage – hätte es wahrscheinlich gegeben. Für Alternativen fehlte allerdings die Zeit. Was war bei dieser Arbeitsgruppe zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion Ihr eingebrachter, messbarer sowie erkennbarer Tätigkeitserfolg? Was konkret erledigten Sie dort? Zugehört, mitgedacht, nachgefragt, diskutiert, sich bemüht, das System der Regelungen zu verstehen und unsere, d. h. die Interessen der Bürger der DDR vor allem in Bezug auf die Umtauschmodalitäten zu wahren. Konkret also, es wurde von Bonn ein Vertragsentwurf vorgelegt und Sie nickten ihn ab? Das klingt mir sehr nach Boulevard, so hat es wohl dort auch damals so gestanden. Wir hatten als Regierung nach der Wahl vom 18. März 1990 den klaren Auftrag dieser Bürgermehrheit: Wir wollen die D-Mark so schnell wie möglich und das Ende der DDR durch die Wiedervereinigung mit der Bundesrepublik. Das war doch zugleich eine einmalige Chance, man könnte auch formulieren, ein Auftrag an Helmut Kohl und seine Regierung, das zu realisieren. Dementsprechend haben Kohl, Genscher, Waigel und andere Politiker der BRD gehandelt. Wenn später von den ostdeutschen Wählern gesagt wurde: „So hatten wir uns das aber nicht vorgestellt. Ja, wir wollten die Meinungsfreiheit, die Reisemöglichkeiten, endlich volle Regale, allerdings wollten wir aber nicht den Arbeitsplatz und die sozialen Leistungen verlieren!“, zeigt das nur, wie in diesem Jahr 1990 durch Politik, Medien „Träume erzeugt und politisch instrumentalisiert“ wurde. Auch in der damals tagenden Volkskammer der DDR herrschte Euphorie. Nur wenige mahnten und hielten dagegen, keiner sagte
385 offen: In der Politik gelten Interessen und das wichtigste Interesse war für Helmut Kohl, die nächste Bundestagswahl zu gewinnen. Von Wolfgang Schäuble hörte ich in einer Podiumsdiskussion 2015 aus Anlass des 25. Jahrestages des Einigungsvertrages den Satz: „Ja, wenn wir so etwas noch einmal machen müssten, dann sollte es nicht in einem Wahljahr sein!“ Das war sein Versuch, auf gewisse Zweifel und Kritiken, die dort aufkamen, zu reagieren. Im Klartext: Machterhalt kennt keine Bedenken, auch wenn es zu Lasten der Bürger geht. Im Juni 1990 wurde ein neues Treuhandgesetz verabschiedet. Damit wurde das von der Modrow-Regierung beschlossene Treuhandkonzept außer Kraft gesetzt. Könnten Sie zu den Gründen etwas sagen? Für mich war das eine völlig überraschende Veränderung! Wir haben schon über die Absichten gesprochen, die unsere Regierung mit dem Beschluss zur Gründung einer „Treuhandanstalt“ verbunden hatte. Im März 1990 ging es kurz vor unserem Regierungsende um die Erhaltung und Mehrung des volkseigenen Vermögens – eines von mehreren Generationen in der DDR geschaffenen Eigentums in Industrie, Land- und Forstwirtschaft, Infrastruktur, Wohnungen, Bildungswesen, Kultur usw. Es waren Milliardenwerte. Vor allem sollten weiterhin der Arbeitsplatz, die Wohnung und der Gemeinwohlanspruch in Bildung und sozialer Betreuung aller Art gesichert bleiben. Natürlich offen für einen Prozess der Erneuerung und Veränderung, in der auch von uns gewollten, sozial und ökologisch orientierten Marktwirtschaft. Das war kein Traum. Noch arbeitete und produzierte die Mehrheit unserer Betriebe und Kombinate jeden Tag normal weiter und der innere Wirtschaftskreislauf funktionierte. Am 17. Juni 1990 wurde durch den Beschluss des neuen Treuhandgesetzes „die Privatisierung des volkseigenen Vermögens“ zur Aufgabe der Treuhandanstalt erklärt. Die Verpflichtung zur „Wahrung des Volkseigentums“ war somit vom Tisch. Ich hatte an diesem neuen Gesetz weder direkt noch beratend mitgewirkt und erfuhr davon erstmalig, als ich es von unserem Minister als Vorlage im Ministerrat zur Kenntnis bekam. Erarbeitet wurde es von einer Arbeitsgruppe im Amt des Ministerpräsidenten. Meine Versuche, durch Gespräche mit Beteiligten hinter den Sinn des „Paradigmenwechsels“ zu kommen, brachten nichts Substanzielles hervor. Es gab eine Deutung, dass die Privatisierung eher zur Modernisierung beitragen könnte, als die bloße Beteiligung in Form von Joint Ventures. Wie hätte man in dieser angespannten Zeit, in den letzten Tagen vorm Einzug der D-Mark überhaupt noch groß nachdenken oder haltbare Visionen über die Zukunft entwickeln können? In der Folgezeit versuchten Wolfram Krause, der als Finanzvorstand in der Treuhand arbeitete, und ich, die massiven Liquiditätsprobleme der Betriebe nach dem 1. Juli 1990 zu lösen. Sie waren entstanden, weil die Zahlungseingänge in neuer Währung natürlich nicht mit den fälligen Löhnen, Warenrechnungen usw. bilanzierten. Es entstand ein riesiges Liquiditätsloch von 28 Milliarden DM, größer als wir – und vor allem das Bundesfinanzministerium – es eingeschätzt hatten.
386 Was die Arbeit der Treuhandanstalt in Richtung Privatisierung betrifft, ist dieser Prozess unter der Präsidentschaft und Leitung Rohwedders erst langsam in Gang gekommen. Im Verwaltungsrat vertrat unser Ministerium Minister Walter Romberg. Einmal vertrat ich ihn. Eine kurze Zeit – bis Mitte 1991 – gehörte ich auch dem Aufsichtsrat der EKO AG in Eisenhüttenstadt an. Ich nahm auf diese Weise andere Informationen wahr: Es geht immer mehr das Primat der Erhaltung des Volkseigentums bei den Handlungen und Entscheidungen verloren. Warum? Weil die inzwischen Handelnden, aus der Alt BRD kommenden Entscheider, einen ganz anderen Impetus hatten. Ich erinnere mich an ein Gespräch, das mein Kollege aus der Modrow-Regierung, Gunter Halm, 239 der ehemalige Minister für Leichtindustrie, nun Vorstand der Treuhand, mir antrug: Es ging um die Innenrevision der Treuhand, die – es war etwa August 1990 – durch einen „neuen Mann“ organisiert werden sollte. Halm hatte mich gebeten, diesem Herrn meine Erfahrungen zu vermitteln. Ich saß einem älteren Herrn gegenüber, dem Gunter Halm vermittelte, dass ich als der frühere Chef der Staatlichen Finanzrevision der DDR doch ihm bei seiner Aufgabe sicherlich helfen könnte. Als dieser ratsuchende Beamte hörte, wer ich bin, fiel ihm geradezu ein Zug der Empörung ins Gesicht. Er meinte, dass es hier doch um ganz andere Inhalte ginge und er deshalb auf mein Angebot gerne verzichten würde. Halm und ich hatten verstanden. Selten spürten wir so viel Abneigung bzw. Arroganz wie in diesem Moment. Diese Erfahrung war für mich auch der Grund, dem Angebot von Wolfram Krause nicht zu folgen, nach dem 3. Oktober 1990, dem Ende unserer Regierung, in die Treuhand unter Umständen als Finanzvorstand zu kommen. Ich ahnte, wie das weitergehen würde. Mitte 1991 wurde Krause – trotz aller Kompetenzen und Verdienste – entlassen, obwohl er maßgeblich seit März 1990 die neue Behörde mit aufgebaut hatte. Der Grund war seine frühere informelle Zuarbeit für die Staatssicherheit. Als ich für das Oelder Bauunternehmen Ferdinand Probst arbeitete, hatte ich direkte Kontakte zur Treuhand, vor allem durch mehrere Anläufe zu Unternehmens- und Grundstückskäufen sowie durch die Mitwirkung an Entwicklungs-Projekten in Friedland und in Erfurt. Auf Details dieser Erfahrungen verzichte ich. Wir bemühten uns sehr, dabei mitzuhelfen, Arbeitsplätze zu sichern. Die Kraft und Kompetenz dazu hatten wir. Allerdings kam es zu keiner effektiven Zusammenarbeit: Hinhalten, Personalwechsel, Unwissenheit, Bürokratie bis hin zur Vetternwirtschaft. Das hielt ein mittelständischer, westfälischer Unternehmer sehr bald für verlorene „Liebesmüh“ und gab auf. Von meinen Beratern wusste ich, dass es nach dem Krieg einen sehr großen Bereich staatlicher Unternehmen in der Bundesrepublik gegeben hatte. Ihre Verwaltung erfolgte durch das sogeIn der Zeit von 1984 bis 1989 war Gunter Halm stellvertretender Minister für Glas- und Keramikindustrie. In der Zeit von November 1989 bis März 1990 war er Minister für Leichtindustrie, danach in der Zeit von April bis Oktober 1990 war Halm Staatssekretär im Wirtschaftsministerium sowie in der Zeit von Ende 1990 bis 1991 Vorstandsmitglied der Treuhandanstalt.
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387 nannte Schatzministerium: Salzgitter, Volkswagen, Veba, Viag usw. mit Tochtergesellschaften, es waren weit über 1000 Unternehmen. Der Bund war bis in die 1980er Jahre der größte Aktionär der Bundesrepublik. Diese Unternehmen sind erst in den 1980er Jahren nach und nach privatisiert worden. Also existierten Vorbilder und Erfahrungen. Warum man nicht mit diesem, durch die Wiedervereinigung geerbten, riesigen, einmaligen, wertvollen Volksvermögen der DDR ebenso umging, wurde offiziell nie beantwortet. Das Generalargument „alles ist nicht mehr marktfähig, sondern größtenteils Schrott“ ist durch viele Fakten widerlegt. Die Beweislage ist mit den vielen Berichten und Büchern zur Treuhand erdrückend. Ich empfehle den im Jahr 1992 erschienen „Treuhandreport“ von Christa Luft. 240 Im Untersuchungsbericht des Deutschen Bundestages 241 zur Treuhand aus dem Jahr 2002 sind Ergebnisse der parlamentarischen Kontrolle veröffentlicht. Die Interessenlage der Verbände der bundesdeutschen Wirtschaft sprach nicht für einen Erhalt von Konkurrenz in Ostdeutschland, sondern allenfalls für eine Nutzung jener Betriebe, die auf Grund ihres „Know-hows“ und ihrer Fachkräfte als „Ergänzung“ oder einer „verlängerten Werkbank“ ihrer Strukturen geeignet waren. Der Thüringer CDU-Ministerpräsident Bernhard Vogel bemerkte in Bezug auf die skandalöse Schließung der Bischofferoder Saline – nach dem Willen der Westkonkurrenz – „Ich habe in die kalte Fratze des Kapitalismus geblickt.“ 242 Eine Absicht unterstellen Sie niemandem? Ich beteilige mich nicht daran, weil es nahe liegt, unmittelbar für die Treuhandanstalt zuständige Minister bzw. Staatssekretäre wie beispielsweise Theo Waigel, Horst Köhler und Gert Haller zu beschuldigen, mit Absicht so gehandelt zu haben. Die Institution Treuhandanstalt, die insbesondere in der Zeit von 1991 bis 1994 von Rohwedder und Breuel sowie anderen geleitet wurde, hat dort die Privatisierung der volkseigenen Wirtschaft betrieben. Ich wiederhole mich: Offensichtlich war ein Teil des politischen Konzeptes der regierenden konservativen Koalition die Maxime: Beseitigung aller Relikte der DDR! Wir wissen, wie seit Adenauer der Antikommunismus in der Bundesrepublik gepflegt wurde und faktisch „Hauptanker“ der Bonner Staatsdoktrin gewesen war. Vielleicht haben Sie das auch selbst in Ihrer Jugend, Schule und im Elternhaus erlebt. Ich denke, das war nach 1990 die Grundlage dafür, dass es in der Bundesrepublik eine große Bereitschaft gab, die „Neuen Länder“ so umzukrempeln, dass davon nichts mehr übrigbleibt. Mit meinen Gesprächspartnern aus dem Frühjahr und Sommer 1990, beispielsweise Horst Köhler, Peter Klemm, Gert Haller, habe ich nach meinem Ausscheiden aus der Christa Luft, Treuhandreport, Berlin 1992. Im Verfahren sagte Siegert im Juni 1996 201 Minuten aus. 242 Bernhard Vogel (CDU) war u. a. in der Zeit von 1992 bis 2003 Ministerpräsident des Freistaates Thüringen. Diese Aussage tätigte er 1993, weil Bischofferode für ihn ein Drama war. 240 241
388 Funktion seit Oktober 1990 keinen Kontakt mehr gehabt. Minister Theo Waigel traf ich 1998 bei der Vorstellung des Buches von Prof. Alfred Grosser 243 in Bonn das erste Mal wieder. Waigel war mit der Geburt des „Euro“ beschäftigt, zu dessen Namensgebung er wohl beigetragen hat. 244 Waren Sie 1990 im Ministerrat als geschäftsführender Finanzminister tätig? Nein. Als Minister ist man Mitglied des Ministerrates. Das Präsidium des Ministerrates gab es unter Modrow nicht mehr, aber vorher bei Stoph. Der Finanzminister war Mitglied des Präsidiums des Ministerrates. Ich war kein Finanzminister, sondern Staatssekretär. Ich durfte zwar den Minister vertreten … … auch im Präsidium des Ministerrates? Natürlich, auch im Präsidium. Ein Erster Stellvertreter des Ministers, was der Staatssekretär war, musste dorthin gehen, wenn der Minister verhindert war. Das hatte nichts damit zu tun, ob zugelassen oder nicht, das war Inhalt seiner Funktion. Was konkret erlebten Sie im Ministerrat bzw. im Präsidium des Ministerrates, als Sie Ihre Finanzminister vertraten? Der Ministerrat der DDR war ein beratendes und beschließendes Gremium aller Minister und tagte jede Woche. Als Staatssekretär vertrat ich ab und an meinen Minister. Somit fungierte ich dort wie der Minister selbst. Wie oft kam das vor? Das ergab sich des Öfteren. Der Minister hatte viele Verpflichtungen in anderen Gremien, auch im RGW, er war mal krank oder hatte Urlaub. Gab es für den Minister Gründe, sodass er meinte, Sie müssten teilnehmen? Das war eigentlich nicht möglich, aber auch nicht auszuschließen. Menschlich nachvollziehbar hatte auch ein Minister „schlechte“ Tage. Sie selbst hielten dort auch Reden bzw. Vorträge? Ja, wir begründeten unsere Vorlagen mit kurzen Reden. Oder wir nahmen Stellung zu Vorlagen anderer Kabinettsmitglieder. Sind diese dokumentiert? Höchstwahrscheinlich in den Protokollen, oder? Ja, das ist alles protokolliert und befindet sich in den Beständen des Bundesarchives.
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Politikwissenschaftler Alfred Grosser, Deutschland in Europa, Berlin 1998. Waigel hatte die Währungsbezeichnung auf der Tagung des Europäischen Rates am 15./16.12.1995 in Madrid in die Diskussion eingebracht. Waigel räumte selbst ein, wer aber nun wirklich als erster auf den Namen kam, „dass dies jetzt überhaupt nicht mehr feststellbar sei“. 244
389 Walter Romberg wurde unter Lothar de Maizière Finanzminister. Warum nicht Sie? Wie konnte ich denn als ein ehemaliges SED-Mitglied? Seit Dezember 1989 waren Sie doch „parteilos“? Das war doch keine Regierung von Parteilosen. In dieser Regierung, die sich „Regierung der deutschen Einheit“ nannte, waren Leute der alten Blockparteien (CDU, LDPD, NDPD), wie de Maizière von der CDU oder Personen der neuen Parteien wie der SDP, z. B. Walter Romberg, Markus Meckel, oder der neuen Bürgerbewegung wie Eppelmann vertreten. Auch Matthias Platzeck, der damals noch bei den Grünen aktiv war. Ihre politische Laufbahn hätten Sie im Moment des Parteiaustrittes beeinflussen können, als Sie aus der SED im Dezember 1989 austraten, indem Sie sich um einen Parteieintritt in eine Blockpartei bzw. neugegründete Partei bemüht hätten. Wäre damit nicht nachhaltig eine politische Karriere gesichert gewesen? Das war für mich moralisch keine Option. Ich habe meine politische Wegfindung nicht unter dem Aspekt einer „Karriere“ betrieben. Ende der 1940er Jahre bin ich über meine praktischen Erfahrungen mit den Entwicklungen in Ost und West, durch die Bekanntschaft mit der praktizierenden Politik in der sich zur DDR wandelnden Ostzone und nicht zuletzt durch ehrliche, glaubhafte Freunde sowie mein Studium zu einem sozialdenkenden und handelnden Menschen geworden. Die Praxis meines Lebens in der DDR hat diese Überzeugung immer gefestigt. Die Krise im Jahr 1989 und das Versagen unserer Parteiführung waren für mich schmerzlich, allerdings wechselte ich nie meine Gesinnung wie ein schmutziges Hemd. Zur Richtigstellung: Ich bin nicht aus der SED ausgetreten, sondern Anfang Dezember 1989 löste sich unsere Parteiorganisation im Finanzministerium von selbst auf, das war auch einer dieser selbstzerstörerischen Akte unserer Parteiführung. Wie alle anderen Genossen im Haus war ich plötzlich nicht mehr „organisiert“. Ich musste mich demnach entscheiden: Mitglied in der Basisorganisation im Wohngebiet und somit dieser zerfallenden Partei weiterhin anzugehören oder aufzuhören. Anfang Dezember 1989 wurde ich als Regierungsmitglied zum Sonderparteitag eingeladen, auf dem Gregor Gysi zum neuen Vorsitzenden gewählt wurde. Die Debatten, dieses „Hin und Her“ und das „Für und Wider“ eines neuen Weges der SED, diese ganze Atmosphäre entmutigten mich, diesen ziellosen Weg weiter mitzugehen. Ich hatte einfach keine Kraft mehr. Zudem kam hinzu, dass ich in meinem Amt als faktisch schon amtierender Minister jeden Tag bis spät in die Nacht „ackerte“, um die angefallene Arbeit überhaupt bewältigen zu können. Im nächsten Schritt, als aus der SED Mitte Dezember 1989 die SED-PDS wurde, sah in keinen Grund, mich erneut in einen Prozess der aufreibenden Wegsuche einzubringen. Wenn wir – was unser Ziel war –, die DDR staatlich sowie wirtschaftlich durch die Krise zu bringen, dann wird für ein neues politisches Programm die Basis vorhanden sein. So in etwa waren meine Gedanken. Dazu ist es aber nicht gekommen. Das Wahlergebnis vom 18. März 1990 war dafür die Quittung. Danach
390 stellte sich erst recht für mich nicht mehr die Frage, einer neuen Partei beizutreten. Ich bin im Herzen und im Denken das geblieben, was ich in der DDR wurde. Sie erzählten, dass Sie jährlich Ihr Silvester in der Verwaltung der Datenverarbeitung verbrachten. Was war das für eine Tätigkeit und von wann bis wann ging Ihr Engagement? Die DDR hatte eben Riten. Ein Ritual in allen Branchen war, dass die „Chefs“ in Betrieben, in denen Schichtbetrieb lief, zu Silvester zu den Leuten gingen, die in der Nachtschicht arbeiteten. Unser Datenverarbeitungsbetrieb arbeitete rund um die Uhr. Welcher Datenverarbeitungsbetrieb? Der VEB Datenverarbeitung der Finanzorgane, ein Unternehmen mit etwa 2000 Mitarbeitern, hatte die gesamte „Buchführung“ in den 1960er Jahren gegründet sowie den Zahlungsverkehr aller Finanzorgane, der Banken und der Versicherungen der DDR erledigt. Natürlich mit einer modernen hochsensiblen Technik. Dieser Betrieb war einer cleveren Initiative von Finanzminister Rumpf zu danken. Er berief frühzeitig einen Aufbaustab, der die Pläne entwickelte und die notwendigen baulichen und technischen Investitionen plante und leitete. Das Fachpersonal wurde anfangs aus dem eigenen Bestand gewonnen. Der Betrieb unterstand dem Finanzministerium. Selbstverständlich gab es eine Leitungshierarchie mit einem Hauptdirektor an der Spitze, 15 Bezirksstationen und somit in jeder Bezirksstadt der DDR einen Zweigbetrieb. Im Ministerium war der Staatssekretär für den Betrieb zuständig und hatte dazu eine Fachabteilung als Leitungsorgan zur Verfügung. Als Staatssekretär in der Stoph-, Modrow- oder de Maizière-Regierung? Seit 1980 hatte ich die Verantwortung für diesen Betrieb bis Mai 1990. Für die Leitung und Planung sowie die absolute Funktionssicherheit dieses enorm wichtigen „Kreislaufund Nervensystems“ musste eine zentrale Aufsicht und Kontrolle Sorge tragen. Mir stand dazu eine Abteilung mit etwa 20 Mitarbeitern zur Verfügung. Von ihnen wurden alle Planungen und Entscheidungen vorbereitet. Sie lieferten auch die täglichen Informationen über den Betriebsverlauf. Es hat nach meiner Erinnerung keinen Tag gegeben, wo der Betrieb nicht rund um die Uhr zuverlässig gelaufen ist. Die Hauptdirektion des Betriebes befand sich in Berlin, unweit unseres Ministeriums. Dort, in der Brüderstraße, befand sich auch die Berliner Bezirksstation. In jedem Bezirk verarbeitete eine Station das lokale Datenvolumen aller Finanzorgane und Bankfilialen. Je nach Bezirksgröße mit etwa 50 bis 100 Mitarbeitern und entsprechender Rechner- und Speicherkapazität. Die Software entwickelten wir selbst. Der Betrieb bearbeitete alle Daten des Staatshaushaltes vom Ministerium bis zur Gemeinde, alle Daten der Banken und Sparkassen und alle Daten der Versicherungen und der Sozialversicherung. Ab dem Jahr 1983 hatte die DDR ein zunehmend größeres System von Geldautomaten aus eigener Produktion. Unser Datenverarbeitungssystem war ein Unternehmen, das nur
391 in einem staatlichen Finanz- und Banksystem in dieser Rationalität möglich war und das es so in Deutschland nicht wiedergeben wird. Wir hatten in der DDR noch ein zweites System dieser Art, das die gesamte Statistik der DDR be- und verarbeitete und das auch Dienstleister für weitere staatliche Organe war. Einige Gedanken zur Silvester Nachtschicht: Es war ein seit Jahren bestehendes Ritual – übrigens auch in anderen Betrieben, die einen Rundum-Schichtbetrieb leisteten – wie beispielsweise die Kraftwerke. Ich fuhr etwa gegen 23 Uhr zu den Kollegen der Nachtschicht. Dort traf ich den Hauptdirektor, den Parteisekretär, den Gewerkschaftsvorsitzenden und natürlich Mitarbeiter aus der Nachtschicht an, soweit sie nicht direkt an den Aggregaten arbeiteten. Das war eine lockere Zusammenkunft mit Gesprächen über alles Mögliche. Die Mitarbeiter fanden es angenehm und achtungsvoll, dass ihre Chefs zu dieser ungewöhnlichen Zeit bei ihnen waren. Um 24 Uhr wurde mit einem Glas Sekt auf Gesundheit und Wohlergehen für das kommende Jahr angestoßen. Alles in allem eine angenehme Pflichtaufgabe. Hier, wie sonst auch, war mir die Nähe zu den Leuten, die vor Ort arbeiteten, ihre Meinung und ihr Befinden sehr wichtig. Wie oft waren Sie im Jahr vor Ort? In der Regel in jedem Monat mehrere Tage in unserem Betrieb, in örtlichen Finanzabteilungen, auch bei der Finanzrevision und in Betrieben, je nach Sachverhalt. In unserem Betrieb interessierte mich insbesondere die neue Technik, die wir in den 1980er Jahren zunehmend vom Kombinat Robotron in Dresden 245, dem wichtigsten Hersteller unserer Computertechnik, bekamen. Mich interessierte der Erneuerungsprozess, der insbesondere bei der Softwareweiterentwicklung nicht reibungslos verlief. Woher nahmen Sie Ihre Kenntnisse? Ich wurde von meiner EDV-Abteilung gut beraten. Mit dem Chef der Abteilung Stefan Kunath 246 hatte ich fast täglich Gespräche. Da lernt man immer dazu. Wir hatten manch eine „Nuss“ zu knacken, wenn die im System breit verankerten Terminketten für Neuerungen durch irgendwelche Pannen „wackelten“. Es war eine spannende Aufgabe, dieses System bei laufendem Betrieb zu modernisieren. Was verstehen Sie unter dem Begriff „Staatsvermögen“? Diese Frage bedarf einer ausführlichen Antwort, denn sie mündet letztlich in die „Übergabe“ unseres Volksvermögens am 3. Oktober 1990:
VEB Kombinat Robotron in Dresden, gegründet 1968, war größter Computerhersteller der DDR mit 69 000 Beschäftigten und wurde im Jahr 1990 aufgelöst. 246 Stefan Kunath (geboren 1949) war u. a. Diplomwirtschaftler und Leiter der Abt. EDV im MdF seit 1978. Nach 1990 wurde er Gesellschafter eines Software-Unternehmens. 245
392 Die Vermögensverhältnisse in der DDR haben sich seit der Bodenreform 1946 247 und der Enteignung von Nazi-, Kriegs- und Monopolbetrieben im gleichen Jahr in Richtung eines wachsenden Volkseigentums entwickelt, im Jahr 1989 etwa 75 % unseres Volksvermögens. Die zweite Eigentumssäule war genossenschaftliches Eigentum, in der Landwirtschaft, im Handwerk, in der Wohnungswirtschaft und auch in der Fischerei. Privates Eigentum gab es bis zuletzt im Handwerk, im Handel, im Transport- und Taxigewerbe und im Dienstleistungsbereich, z. B. Wäschereien. Privates Vermögen hatten alle Haus- und Grundbesitzer, wie ich mit meinem väterlichen Haus, und schließlich fast alle Bürger Auto, Boot, Gemälde, Sparguthaben usw. Schließlich gab es in der DDR auch ein bedeutendes Vermögen der Kirchen aller Konfessionen. Im Sprachgebrauch ist meines Erachtens eher der Begriff „Volksvermögen“ üblich. Das Volksvermögen war in der DDR überwiegend auch „in Volkes Hand“. Die Naturreichtümer, Bodenschätze, Wälder, Seen, Acker-, Wald- und Weideflächen waren zu etwa 80 Prozent volkseigen und zu ca. 20 Prozent im Besitz von Genossenschaften der Landwirtschaft. Volkseigener Grund und Boden war nicht verkäuflich. Zum Volksvermögen gehörten die Maschinen-, Anlagen und Gebäude der volkseigenen Betriebe. Und ebenso gehörten dazu alle Einrichtungen der Kultur, des Gesundheitswesens, des Sports, der Polizei, der Armee und der Staatssicherheit. Die Gesamtverantwortung für unser volkseigenes Vermögen hatte das Ministerium der Finanzen der DDR. In der dafür zuständigen Abteilung wurde eine Registratur aller volkseigenen Grundstücke und anderer Vermögenswerte geführt. Sie gab den Betrieben und Einrichtungen Grundstücke zur Nutzung in Fondsträgerschaft, d. h. in Verwaltung und Nutzung. Die Vermögenswerte wurden in den Bilanzen der Betriebe bzw. den Grundmittelverzeichnissen der Einrichtungen nachgewiesen. Einen Gesamtausweis des Volksvermögens hat es zu keiner Zeit und an keiner Stelle gegeben. Auskunft geben allein die in den Betrieben und Einrichtungen vorhandenen Dokumente. Sie wurden jährlich von der Staatlichen Finanzrevision des Ministeriums der Finanzen geprüft. Da herrschte eine solide Ordnung. Es wird in der Literatur eine Gesamtsumme unseres Volksvermögens mit etwa 2,1 Billionen DM zum Stichtag des 3. Oktobers 1990 genannt. Diese Zahl halte ich für begründet, eher sogar noch zu niedrig in Bezug auf die Grund- und Bodenwerte. 248 Könnten Sie bitte schildern, wie dieses Thema im Rahmen der Verhandlungen zum „Einigungsvertrag“ behandelt wurde? Bei der Beratung zu diesem Punkt wurde es sehr lebendig. Es saßen neben den Vertretern des Bundesfinanzministeriums auch Beamte aus den Ländern der Alt-BRD mit am Tisch. Zu beraten war über die bundesdeutsche „Neusortierung“ des Vermögens der DDR in Verwaltungsvermögen, also in Gebäuden, Grundstücken usw., die Verwaltungen nutzen sowie über das Finanzvermögen, das nicht diese Bestimmung hatte und deshalb der Enteignung der Großgrundbesitzer. Hermann Leihkauf, DDR: Zum aktuellen Kampf um die Deutungshoheit über den ersten sozialistischen Staat auf deutschem Boden, Schkeuditz 2017, S. 147. 247 248
393 Bundesvermögensverwaltung, also dem Bundesfinanzministerium und seinen Bundesvermögensämtern zuzuordnen ist. Die DDR hatte keine Ländergliederung, alle Bereiche der Verwaltung und Wirtschaft waren in „zentralen“ Leitungen gebündelt, was eben problematisch war. Die Vertreter des Bundes sahen hier ihre Chance, eigenes „Vermögen“ zu vergrößern. Die Länder wollten das aber nicht hinnehmen. Folgendes Beispiel: Es gab Streit über die Zuordnung von Seen und Gewässern – in der DDR wurden alle vom Amt für Wasserwirtschaft zentral verwaltet und bewirtschaftet –, weil es sinnvoller war, nun den Ländern oder Kommunen zuzuordnen. Der Bund hat sich aber durchgesetzt, weil er „Vermögen“ anreichern wollte. Solche Konflikte waren für uns ein seltsames Spiel, dieser Streit in dieser Form war uns fremd. Unser Interesse bestand darin, dass die Städte und Gemeinden alle Chancen und Mittel für die territoriale Entwicklung, insbesondere für den Wohnungsbau, bekommen. Also dass ihnen Grundstücke, Wälder usw. in ihre Rechtsträgerschaft übergeben werden. Hier war nun die Chance, der Dreh- und Angelpunkt, aus „Vermögen“ Geld zu machen. Bald sollte sich zeigen, was dabei herauskommt, wenn Bund und Länder, Länder und Kommunen mit ihrem „Vermögen“ Geld machten. Nördlich von Berlin verkaufte der Bund meistbietend einen großen See an einen Privatmann. An diesem See lagen kommunale Strandbäder, viele Grundstücke mit Badestegen usw. Nach dem Kauf begann der Seebesitzer, unverzüglich alle zur Kasse zu bitten, die Gemeinden, die privaten Anlieger. Rechtsstreitigkeiten diverser Art folgten. Ich könnte weitere Beispiele nennen, wie beispielsweise die Zuordnung ehemals militärisch genutzter Flächen, die für die Kommunen Entwicklungspotentiale boten, aber in den Bestand der Bundesvermögensämter eingingen, wo sie bald Investoren angeboten wurden. Ich spreche aus Erfahrung, weil ich für meine Firma Probst ein solches 24 Hektar großes Areal für ein Wohnungsbauvorhaben 1993 verhandelte. Letztlich bekam ein italienischer Baukonzern den Zuschlag. Er hatte „mehr“ geboten und besaß die „besseren“ Beziehungen. Ich kann nur mutmaßen, dass der Bund wegen ständig klammer Kassen sich solche Vermögen sichern wollte, um daraus „Bares“ zu machen. Für mich war dieses eifersüchtige Gezerre um Grundvermögen zwischen Bund und Ländern eine andere Welt. Der Kauf von Baugrundstücken, gleich, von wem, ist immer ein Hemmnis beim Neubau einer Schule, einer Kita oder gar eines Erholungsgebietes. Anstatt ins Gebäude und in die Ausstattung zu investieren, fließt das Geld erst einmal reichlich an den Grundeigentümer. Zurück zum Kernthema: Wie war Ihr Einfluss bei der Verhandlung des Einigungsvertrages? Bei den Themen Finanzverfassung, Steuern, Vermögen usw. hatten wir „dicke“ Bretter zu bohren. Es war wie schon beim ersten Staatsvertrag, die Normen waren vorgegeben, es ging um eine buchstabengetreue Übernahme und die Debatte bezog sich auf wenige Punkte, die wir berechtigt ändern wollten oder wo es einfach nur um „Verständigung“ über die Sachverhalte ging. So beim Länderfinanzausgleich und der Steuerverteilung.
394 Wir hatten schon erwähnt, es kam zum Streit um den Vorschlag Walter Rombergs um eine andere Verteilung der Steuern. Seine Berater hatten Walter Romberg angeraten, die gesamte Umsatzsteuer und andere Steuern voll in den neuen Ländern zu belassen, also nicht die Aufteilung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden – wie gehabt – zu übernehmen. Die Berater von Lothar de Maizière warnten vor einem solchen „Wagnis“. Es war schon abzusehen, dass die Wirtschaft im Osten zunehmend lahmte, also war das eigene Steueraufkommen höchst fraglich. An diesem Punkt kam bekanntlich im August 1990 auch der Bruch mit der SPD in der Koalition zustande. Walter Romberg musste gehen. Diese Verhandlungen um mehrere hundert Seiten juristischer Themengebiete und verschiedenster Bereiche verlangte Ihnen sicherlich sehr viel ab. War es am Ende für Sie „der große Wurf“ oder hatte es auch „alternative Wege“ gegeben? Wenn man die totale Rechtsangleichung wollte, dann gab es nur diesen Weg. Aber warum wurde nicht die Weitergeltung von DDR-Gesetzen erwogen? Die DDR hatte selbst ordentliche Gesetze wie das neue Zivilgesetzbuch, die Steuergesetze usw. Sie zu übernehmen, wenn nötig, hier und da zu ändern, wäre einfacher und vor allem ein Zeichen des „Anstandes“ bzw. des Verhandelns auf „Augenhöhe“ gewesen. Lothar de Maizière hatte zu Anfang der Verhandlungen sinngemäß gesagt: „Für die Ostdeutschen sollte deutlich werden, dass ihr Erbe in dem neuen Deutschland einen Platz findet.“ Das war vor allem in den Rechtsbereichen möglich, die den zivilen Alltag regelten, wie eben unser Zivilgesetzbuch. Aber Bonn bestand darauf, dass sich alle Ostdeutschen nun den „besseren sowie bewährten Regeln“ des Rechtsstaates zu unterwerfen hatten. Ohnehin ist das heute ein heiliges Generalurteil und ein Standardterminus: Die DDR, dieser „Unrechtsstaat“, konnte ohnehin gar keine brauchbaren Rechtsnormen haben. Nicht vergessen sollte man die mehreren tausend Beamte, Richter, Anwälte, die aus dem Westen in unsere Neuen Länder eilten, sollten die etwa „umlernen“? Sicherlich nicht! Für mich und meine Kollegen aus den anderen DDR-Ressorts war das ganze große Arbeitspensum nur zu schaffen dank der Hilfe unserer Berater. Da meine ich vor allem Peter Breitenstein 249 und Jürgen Brockhausen 250, die uns als wissende Fachleute auch auf „Fallstricke“ aufmerksam machten. Ebenso stand uns der Cousin von Lothar de Maizière, Thomas de Maizière, beratend zur Seite. Das veränderte nicht die vorgegebene „Substanz“, sondern ermöglichte uns aber, diese Schwerstarbeit mit Anstand zu erledigen. Das gleiche gilt auch für meinen Partner im Bundesfinanzministerium, Dr. Peter Klemm, der in fairer Weise bereit war, uns auf Probleme aufmerksam zu machen und bei Kompromissfindung behilflich war.
Peter Breitenstein war u. a. Berater aus dem BMF. Berater bei Siegert ab März 1990. Jürgen Brockhausen war u. a. Berater aus dem Wirtschaftsministerium NRW und bei Walter Romberg seit Anfang 1990 tätig. 249 250
395 Ende August waren die Verhandlungen zum Einigungsvertrag zu Ende. Was hatten Sie für Gedanken bzw. für Gefühle? Eine Zufriedenheit, weil wir unsere Aufgaben erfüllt hatten und viele Fragen zu dem, was vor uns lag, beantworteten. Die letzte Runde fand am 28. August 1990 im Bundesinnenministerium in Schäubles Beratungsräumen statt. Es begann am Morgen und war erst tief in der Nacht zu Ende. Man redete oder stritt über noch offene Fragen. Ich nahm dort an einer bunten Runde teil, die sich u. a. mit der Frage beschäftigte: Soll man in den Vertrag aufnehmen, dass bei „systemnahen Personen“ die „privilegierte Rente“ gekürzt wird? Das hatten dort Leute vorgetragen, die wohl aus „Bürgerrechtler-Kreisen“ stammten. Die Antwort der Bundesbeamten lautete: Nein, auf keinen Fall! Rentenansprüche sind „Eigentum“ desjenigen, der sie durch lebenslange Einzahlung erworben hat. Man verwies darauf, dass es so etwas noch nie gegeben habe. Bereits 1991 begannen wohl die gleichen Leute nun im Bundestag Gesetzesentwürfe einzubringen, die Rentenkürzungen bei „staatsnahen“ Personen, also Staatsfunktionäre vom Referenten aufwärts und natürlich Mitarbeitern der Staatssicherheit, vorsahen. Sie bekamen eine Mehrheit. Ohne jede Einzelfallprüfung wurde unsere Rente auf den „Durchschnitt“ des Rentenniveaus gekürzt. Ich war ebenfalls betroffen und bin es bis heute noch. 251 Wir führten Prozesse und gaben sehr viel Geld aus. Wir erzielten Teilerfolge, aber die „Rentenbestrafung“ hatte Bestand. Trotz der damals eindeutigen Erklärung von Bonner Spitzenbeamten: Rente ist Eigentum und das ist lt. dem Grundgesetz geschützt. Der Einigungsvertrag und die darin enthaltene juristische Regelung der Rentenüberleitung wurden schlicht ausgehöhlt. Durch wen und mit welchen Gründen? Dazu lesen Sie bitte die Protokolle des Bundestages. Es klingt hart, aber für Tausende von Leuten in der DDR, die von diesem Gesetz mit „sanktioniertem Diebstahl“, kurz genannt „Strafrente“ betroffen waren, und trotz vieler Proteste „bestraft“ blieben, war das ein Lehrstück, wie der Rechtsstaat sich selbst verleugnet, wenn es der Diskriminierung nutzt. Am 30. August 1990 erfolgte im Gästehaus des Berliner Magistrats Unter den Linden die Paraphierung. Zwei Tage später ging der Vertrag in die Volkskammer. Die PDS stimmte komplett dagegen, ebenso Die Grünen, damals „Alternative Liste für Demokratie und Umweltschutz“ (AL). Was hatte der SPD-Ausstieg für Auswirkungen auf die Verhandlungen? Sie waren nicht mehr dabei.
251 Toni Spangenberg, Berliner Zeitung, 2.10.2020, Ministerpräsident und Minister der letzten DDR-
Regierung bekommen seit 2008 eine „Ehrenpension“ für ihre Verdienste zur Einheit. Staatssekretären bleibt diese Anerkennung 30 Jahre nach der Wende weiterhin verwehrt. Siehe https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/warum-ehemalige-ddr-staatssekretaerekeine-pension-bekommen-li.108691 (letzter Zugriff 30.12.2020).
396 Warum waren Sie noch dabei? Sie hatten mich in die SPD-Fraktion bestellt, um mich zu befragen, warum ich nicht aufgab. Daraufhin begründete ich meine Haltung. Ich fügte mich zwar im April 1990 dem Ruf von Walter Romberg und bin an seiner Seite angetreten. Was mir aber nicht klar war – das klingt wirklich naiv, aber es ist eben so –, dass ich somit im „Gefolge“ der SPD lief. Ich fühlte mich nach wie vor als beamteter Staatssekretär sowie parteilos; die SPD sah das allerdings im anderen Licht. Sie hatten mich damals nominiert. Das hatte ich aber so nie verstanden. Klar wurde mir das erst zu dem Zeitpunkt, als der „Boden“ heiß wurde und sie mich dorthin bestellten. Richard Schröder, der den Vorsitz führte, sagte zu mir: „Herr Siegert, Sie sind doch eigentlich in unserem Auftrag dort.“ Ich: „Ich kann Ihnen nur sagen, ich folge nur dem, was ich als Fachmann und Mensch für richtig halte, und nicht irgendeiner Partei.“ Ich erklärte ihm, warum ich mich so verhielt. Obwohl ich Romberg sehr schätzte und gerne sein Engagement unterstützt hatte, konnte ich ihm in dieser Frage nicht folgen. Es ist selten, dass Minister parteilos sind … Das gibt es nach wie vor, in Brandenburg und auch in Berlin. Ich ging mit einem unsicheren Gefühl aus der Sitzung der SPD-Fraktion. Walter Romberg hatte mich engagiert und ich hatte ihm gedient und somit eine harte, aber sehr interessante Zeit erlebt. Das wirklich Interessante an diesen Monaten im Jahr 1990 war sowohl in der Modrow-Regierung als auch in der de Maizière-Regierung, dass man hinsichtlich der Aktivitäten keine Vorgaben mehr hatte. Während ich früher immer überlegen musste, was das ZK 252 wohl dazu sagt, was ich hier gerade produziere, existierte in den letzten beiden Regierungen eine solche Abhängigkeit nicht mehr. Dennoch waren die politischen Vorgaben gesetzt, wie auch diese Situation zeigte. Ab wann gab es diesen „Parteizwang“ nicht mehr? Schon bei Modrow. Der SED-Parteiapparat war ab November 1989 weg! Ich musste eine ordentliche Arbeit abliefern. Die Zielvorgaben sind natürlich in jeder Regierung gesetzt. Aber man muss einen Raum für sein „Denken und Handeln“ haben. Der wurde aber 1990 leider immer enger. Ich habe in der de Maizière-Regierung erlebt, wie wir immer mehr in die Mühle der Bonner Interessen gerieten und sich die eigene Kraft in Ohnmacht auflöste. Kohl setzte aufs Tempo, weil er massiv unter Druck stand, was ich erst nach dem Ende der DDR erfahren hatte. Die Länder und Gemeinden seiner Bundesrepublik wollten eine schnelle Beendigung mit der Übersiedlung der DDR-Flüchtlinge, weil sie Angst hatten, überrannt zu werden. Als erste Bremse schaffte man im Mai 1990 das Fremdrentengesetz 253 ab. Die Bundesrepublik Deutschland förderte „prinzipiell“ die Republikflucht: Im ZK der SED: Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands in der DDR. Fremdrentengesetz: Das Fremdrentengesetz blieb mit seinen Regelungen – von kleineren Änderungen und Ergänzungen abgesehen – rund 30 Jahre weitgehend unverändert. Die 252
253
397 Westen gingen die Menschen zur Rentenbehörde, wurden dort befragt, was sie im Osten gearbeitet hatten, und wurden anschließend nach westlichem Standard eingestuft. Den informierten Leuten in der DDR war diese Methode bekannt, sie waren deshalb schon an einer Flucht in den Westen interessiert, weil sie erahnten, dass sie in der DDR viel weniger Rente bekämen. Staatliche Versicherung der DDR und das „Joint Venture“ mit der Allianz München Bitte beschreiben Sie den einzigen Versicherer der DDR, das Versicherungsunternehmen, die „Staatliche Versicherung“ der DDR. Die „Staatliche Versicherung“ der DDR war die umfassende Versicherungsgesellschaft, sowohl für die Wirtschaft als auch für die Bürger. Dieses große Unternehmen war dem Minister der Finanzen unterstellt. Es bot für alle Segmente des Versicherungsschutzes vorteilhafte Konditionen an und deckte so die Versicherungsbedürfnisse für Betriebe aller Wirtschaftsbereiche einschließlich der Land- und Forstwirtschaft und für die Bevölkerung. Bürger der DDR hatten etwa 11 Millionen Lebensversicherungsverträge und mehr als 35 Millionen Sach- und Personenversicherungsverträge bei der „Staatlichen Versicherung“ abgeschlossen. Die Gesellschaft beschäftigte 13 000 hauptamtliche und ca. 30 000 nebenberufliche Mitarbeiter. Das Unternehmen arbeitete mit Gewinn und führte zuletzt 1,7 Milliarden Mark an den Staatshaushalt ab. Schadensleistungen wurden aus den Beiträgen gedeckt. Fonds für Schadensreserven wurden nicht gebildet. In einigen extremen, insbesondere wetterbedingten Katastrophenfällen erfolgten Hilfen aus dem Staatshaushalt. Welche Konzepte und Personen waren im Privatisierungsprozess eingebunden? Mit der Modrow-Regierung im Dezember 1989 begannen Bemühungen, um unsere Wirtschaft in eine sichere Zukunft zu führen. Die Richtung gaben Überlegungen aus dem Wirtschaftsreformkonzept der 1960er Jahre. Unsere volkseigenen Betriebe mussten marktwirtschaftlich tauglich werden, d. h. selbstständige Gesellschaften, kapitalstark und technisch gut aufgestellt. Hans Modrow berief dazu im November 1989 Wolfram Krause als Staatssekretär für die Wirtschaftsreform in die Regierung. Das war ein talentierter Fachmann, viele Jahre in der Staatlichen Plankommission der DDR, zuletzt als Stellvertreter des Vorsitzenden. Wie Ihnen bereits geschildert: Er verlor im Jahr 1978 diese Rechtsentwicklung in der deutschen Rentenversicherung, die tatsächlichen und rechtlichen Veränderungen in den Herkunftsgebieten und nicht zuletzt die zum Ende der 1980er Jahre dramatisch gestiegenen Aussiedlerzahlen erforderten eine Anpassung des Fremdrentenrechts. Diese erfolgte im Rahmen des Rentenreformgesetzes 1992 (RRG '92). Noch bevor diese Neuregelungen wirksam werden konnten, wurde das FRG als Folge der politischen Entwicklung in Deutschland erneut reformbedürftig. Als Sofortmaßnahme wurde der Anwendungsbereich des FRG hinsichtlich der DDRZeiten durch Artikel 23 § 1 Staatsvertragsgesetz eingeschränkt. Die endgültigen Korrekturen erfolgten dann durch das Rentenüberleitungsgesetz (RÜG).
398 Funktion nach einer Auseinandersetzung mit Dr. Mittag zu Reformgedanken in der Planung. Prof. Christa Luft und Wolfram Krause waren die führenden Köpfe bei der Ausarbeitung des Wirtschaftsreformkonzeptes, das im Februar 1990 im Ministerrat beschlossen wurde. Bereits im Januar 1990 hatte die Regierung in einer Verordnung festgelegt, unter welchen Bedingungen volkseigene Betriebe „Joint Venture“-Vereinbarungen eingehen könnten. Solche Beteiligungen waren sowohl im Hinblick auf technische Modernisierung als auch auf die Stärkung der Marktposition für bestimmte Betriebe und Kombinate interessant. Welche Erinnerungen haben Sie zum Privatisierungsvorgang der „Staatlichen Versicherung“ der DDR und welche unterschiedlichen Konzeptvorschläge wurden diskutiert? Die Frage der Zukunft stellte sich auch für die „Staatliche Versicherung“ der DDR. Bei dieser wirtschaftlich wie auch sozial bedeutenden Stellung der „Staatlichen Versicherung“ war für unser Ministerium und die Unternehmensleitung geboten, die zu erwartende Marktöffnung mit einem tauglichen Konzept vorzubereiten. Das waren wir unseren Bürgern und auch den vielen tausend Mitarbeitern schuldig. Der Hauptdirektor, Günter Hein, hatte schon Ende 1989 mit seinem Leitungsgremium, Beratern aus der Wissenschaft und uns überlegt, wie dieses große allumfassende Versicherungsunternehmen der DDR weiter auf sicherem Weg bleiben könnte. Die Überlegungen führten zu der Schlussfolgerung, dass u. U. eine Verbindung mit einem kapitalistischen Unternehmen zu erwägen sei. Es gab aber auch prominente Wissenschaftler, die meinten, man könnte mit „so viel geballter Erfahrung, dem umfassenden Kundenkreis und Vertragsbestand“ durchaus in den Wettbewerb mit den Versicherungsriesen aus der BRD eintreten. Diesem „Es-bleibt-alles-so“ konnten wir uns nicht anschließen. Das Risiko des Scheiterns war erkennbar groß. Wer das Marktverhalten der großen Konzerne kannte, konnte dem nicht folgen. Inwiefern wurden westliche Versicherer auf die „Staatliche Versicherung“ der DDR aufmerksam? Die Staatliche Versicherung hatte zu westdeutschen und ausländischen Versicherern schon immer Geschäftskontakte, denn es waren Schadensfälle im Zusammenhang mit dem Reiseverkehr und im kommerziellen Transitverkehr zu regeln. Insofern bestanden Kontakte und Kenntnisse über Struktur und Geschäftstätigkeit unserer Versicherung im Westen. Die großen Versicherer der BRD sahen also im Hinblick auf die zu erwartende wirtschaftliche Öffnung BRD/DDR nicht nur einen neuen Markt, sondern auch ein großes Potential an Fachleuten. Das führte schon im Herbst 1989 zu Kontaktversuchen auf verschiedenen Kanälen. Auch der Marktführer Allianz München hatte uns Interesse und Ideen vermittelt. Es gab Kontakte von Vorstandsmitgliedern der Allianz zur Hauptdirektion unseres Unternehmens. Im Abwägen der Vorschläge kristallisierte sich für unsere Fachleute heraus, dass die Allianz als starkes Unternehmen und die von ihren Vertretern
399 geäußerten Vorstellungen zu einem „Joint Venture“ eine gangbare Lösung bieten könnten. Da die Dinge politisch in dieser spannenden Zeit im rasanten Fluss waren und auch alle anderen Versicherungskonzerne der BRD auf die „Staatliche Versicherung“ Appetit hatten, musste rasch gehandelt werden. Welche Forderungen stellten Sie an ein sogenanntes „Joint Venture“? Unsere wichtigste Bedingung bei alledem war, dass die „Staatliche Versicherung“ mit ihren in jede Familie reichenden Versicherungsverträgen und etwa 13 000 Mitarbeitern nicht zerschlagen werden darf. Wir müssten einen optimalen Weg des Überlebens finden. Solche Gedanken waren, wie schon bald zu erfahren war, den großen Versicherern der BRD so fremd wie dem Wolf das Schafe hüten! Sie bevorzugten eine „Filettierung“ unseres Unternehmens oder sogar eine völlige Liquidierung, weil man nur so dem „Wettbewerb“ gerecht werden könnte. Diese Absicht wurde über die Medien verbreitet und über die Lobby in die politischen Kanäle transportiert. Man hoffte, auch die Entscheider in der DDR damit zu beeindrucken. Wurden aus dem Westen Mitarbeiter abgeworben? Kündigten nicht die Kunden und wechselten zu den neuen attraktiven Wettbewerbern? Ja. Die Grenzöffnung hatte es möglich gemacht, dass schon im Frühjahr 1990 alle westdeutschen Versicherer in der DDR mit vielen Werbern aktiv waren. Sie warben etwa 3000 Mitarbeiter der „Staatlichen Versicherung“ mit lukrativen Angeboten für ihre Gesellschaften ab und die sorgten auch für neue Kundschaft. Etwa 3 Millionen von den etwa 11 Millionen Lebensversicherungsverträgen von DDR-Bürgern bei der „Staatlichen Versicherung“ wurden im Frühjahr 1990 gekündigt und in Form des Rückkaufswertes ausgezahlt. Ähnliches geschah in den anderen Sparten unserer Versicherung. Wie konkret verlief der Annährungsprozess mit der Allianz München und wie waren Sie dabei involviert? Das mit unseren Fachleuten besprochene Angebot der Allianz München wurde im Februar 1990 auch dem Ministerium der Finanzen vorgestellt. Als amtierender Minister hatte ich dazu Gespräche mit den Allianz-Vorständen Dr. Uwe Haasen 254 und Dr. Friedrich Schiefer 255. Im Ergebnis kam es zu einer Übereinstimmung hinsichtlich des baldigen Abschlusses eines Vorvertrages. Es gab dazu entsprechende Abstimmungen auch mit anderen dafür relevanten Partnern in der Regierung und schließlich eine Vorlage für den Ministerrat der DDR. Nach Zustimmung der Regierung wurde der Vorvertrag am 14. März 1990 vier Tage vor der Volkskammerwahl von mir mitunterzeichnet. Damit war eine konkrete Lösung, was uns im Interesse der Sache wichtig erschien, für die kommende Regierung vorgegeben. 254 255
Uwe Haasen war u. a. Vorstandsmitglied Allianz Versicherungs AG, München. Friedrich Schiefer war u. a. Vorstandsmitglied Allianz Versicherungs AG, München
400 Im „de Maizière Kabinett“ wurden Sie abermals Staatssekretär im Finanzministerium. Wie verlief dieser Privatisierungsprozess weiter? Der neue Ministerpräsident Lothar de Maizière war bereits mit der Sache vertraut. Wir nahmen als Stellvertreter von Ministerpräsident Modrow an den Beratungen teil und unterstützten die Fortsetzung dieses Lösungsweges. Dazu gehörte auch die Abstimmung im Rahmen der Verhandlungen über die „Wirtschaft-, Währungs- und Sozialunion“ (WWS) mit dem Bundesministerium der Finanzen und anderen Regierungsstellen. Schließlich waren mit Unterstützung und Zustimmung des neuen Finanzministers Dr. Walter Romberg die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass der Ministerrat der DDR im Juni 1990 dem nunmehr endgültig paraphierten Vertrag – Grundlage war der 1. Staatsvertrag BRD/DDR vom 18. Mai 1990 – zustimmen konnte. Am 26. Juni 1990 wurde der Vertrag über die Gründung der „Deutschen Versicherungs AG“ (DV), also die Überleitung der Staatlichen Versicherung in eine Beteiligungsgesellschaft mit der Allianz, von mir unterzeichnet und die Staatliche Versicherung in die Obhut der Treuhandanstalt der DDR übergeleitet. Die Treuhandanstalt brachte als Sacheinlage für einen Anteil von 49 % die Geschäftsbetriebe, Bankguthaben, Kassenbestände in Höhe von 520 Millionen DM ein. Das war eine solide Bewertung des volkseigenen Anteils unserer Gesellschaft. Die Allianz zahlte 541 Millionen DM an die Treuhand. In dieser Form bestand dieses „Joint Venture“ bis zum 18. Dezember 1991 ... Die Allianz kaufte später – nach meinen Informationen – auch den Anteil der Treuhand von 49 % zurück. Am 18. Dezember 1991 kaufte die Allianz die „49 %“ von der Treuhand und zahlte dafür 440 Millionen DM. Gleichzeitig wurde an diesem Tag zwischen Treuhand und Allianz vereinbart, dass die Allianz weitere 600 Millionen DM als Kapitalzuführung zur Deckung der Anfangsverluste zu zahlen hat. Auch in den Folgejahren bis 1995 hat die Allianz die Verluste jeweils ausgeglichen, wodurch weitere 710 Millionen DM an die Treuhand flossen. Damit summieren sich die Leistungen der Allianz an die Treuhandanstalt auf knapp 2 Milliarden DM. Insgesamt also für die Treuhandanstalt ein durchweg solides Geschäft. Und man ist zu der Anmerkung geneigt, dass diese solide Geschäftsführung auch bei anderen Verkäufen großer DDR-Unternehmen notwendig gewesen wäre. Nachgefragt: Wie fair verlief überhaupt die Phase der Privatisierung der Staatlichen Versicherung der DDR? Was konkret erlebten Sie? Bis es im Juni 1990 so weit gediehen war, gab es seitens der Konkurrenzunternehmen in der BRD immer wieder Versuche, das Vorhaben zu torpedieren! Wir bekamen Drohbriefe, die Presse wurde mit Stories gefüttert, die mit Vermutungen und Verdächtigungen sowie blanken Lügen ausgeschmückt waren. An diesem Beispiel war zu erfahren, wie politische Größen sich für Konzerne stark machten. Die Mittel waren dreist! Auch die neue Kartellbehörde der DDR – gerade mit Hilfe von Beratern aus Bonn geschaffen – wurde gegen das Finanzministerium und mich persönlich in Stellung gebracht, um
401 den Vertrag kurz vor der Unterzeichnung zu verhindern. Hätten wir dem Druck nachgegeben, wäre auch in diesem Fall ein volkseigenes Unternehmen zerschlagen, die Werte billig als wertlose Ruinen verscherbelt und die Mitarbeiter „abgewickelt“ worden, wie das in der Folge immer häufiger die Regel war. Ganz deutlich wurde auch das Plus, den der umfassende Versicherungsschutz unserer DDR-Hausratversicherung für die Geschädigten bei der „Oderflut 1997“ bot. Jene Betroffene, die ihre alten DDR-Verträge noch bewahrt hatten, wurden entschädigt! Jene andere mit Neuverträgen anderer Versicherer gingen meistens leer aus. In der Öffentlichkeit kursierten Verdächtigungen und Vermutungen darüber, Sie wären ein Profiteuer dieses „Deals“ gewesen und wurden deshalb später gerichtlich belangt. Was ist die Wahrheit? Die ganze Geschichte landete im Jahr 1991 auf dem Tisch der Staatsanwaltschaft. Es gab u. a. eine Anzeige von einem Professor aus der Hallenser Universität. Da wurde die Vermutung ausgesprochen, die Allianz habe die DDR-Unterhändler „bevorteilt“, um den „Deal“ zu ermöglichen. Das folgende Ermittlungsverfahren betraf alle in die Sache einbezogenen ehemaligen Leiter der „Staatlichen Versicherung“ der DDR und natürlich mich. Es folgten alle möglichen Verdächtigungen, Verleumdungen usw. In der Presse, sogar im Spiegel-Magazin, wurden Dinge aufgetischt, die schlicht erfunden waren. Mehrere Haussuchungen wurden bei allen Betroffenen und auch bei mir durchgeführt. Es gab monatelange Ermittlungen. Ich habe mich ratsuchend an einige aus den Verhandlungen mir Vertraute in Bonn gewandt. Da bekam ich die Antwort, dass so etwas nun mal zum politischen Betrieb gehört und man das durchstehen müsse. Wir konnten uns mit guten Argumenten sowie Beweisen erfolgreich wehren. Am Ende blieb nur die Einstellung des Verfahrens. Damit war der Versuch, diesen vernünftigen Akt der letzten DDR-Regierung zu kriminalisieren, gescheitert. Es war für alle Beteiligten eine Erfahrung, die uns half, die Realität der „Ellenbogengesellschaft“ zu sehen.
402 Walter Siegerts letzter Arbeitstag am 2. Oktober 1990 und die neue Tätigkeit im Bundesfinanzministerium (BMF) in der Zeit von Oktober 1990 bis März 1991 Am 2. Oktober hatten Sie Ihren letzten Arbeitstag. Erzählen Sie bitte davon sowie von der bevorstehenden ungewissen Zukunft. Der 2. Oktober war mein letzter Arbeitstag im Ministerium der Finanzen der DDR. Über dreißig Jahre hatte ich auf verschiedenen Gebieten der Haushaltswirtschaft und der Staatlichen Finanzrevision gearbeitet. Um 10 Uhr hatte mein Kollege Staatssekretär Werner Skowron (CDU), der seit der Demission des Ministers Dr. Walter Romberg (SPD) die Geschäfte führte, zu einer Belegschaftsversammlung eingeladen. Sie fand im großen Festsaal statt. Es war jener Saal, in dem am 7. Oktober 1949 Wilhelm Pieck die Gründung der Deutschen Demokratischen Republik ausgerufen hatte. Werner Skowron stand auf der großen Bühne an dem Pult, das noch das Staatswappen der DDR trug, versuchte ein paar Worte und Gedanken zu finden, die Dank und Würdigung der Leistungen unserer Mitarbeiter zum Inhalt hatten. Und um es nicht so formal klingen zu lassen, versuchte er frei und locker zu reden. Es misslang! Nach wenigen Minuten brach er ab und verließ das Podium. Wir nahmen es hin. Niemand im Saal hatte ein Bedürfnis, lange Reden zu hören. Oder gab es doch noch etwas zu sagen? Nein! Es war ein ruhmloses Ende. Wir hatten verloren. Und für die vielen Mitarbeiter war nur eines wichtig: Wie geht es morgen weiter? Eine angemessene neue Arbeit, so war ihre Hoffnung. Uns als Finanzleuten ging es besser als den anderen. In der neuen Gesellschaft hatten die Finanzen in allen Spielarten – von den Finanzämtern und dem krankhaften Steuersystem bis zu den Zollämtern, dem Bundesrechnungshof sowie allen anderen Rechnungshöfen und Prüfstellen – ein großes buntes Wirkungsfeld. Es gab viele neue Stellen zu besetzen. Wir bemühten uns, allen Mitarbeitern eine neue Aufgabe zu verschaffen. Etwa achtzig Prozent fanden Arbeit, es waren vor allem die jüngeren. Unsere Fachleute waren in den neuen Strukturen willkommen. Das hatte gute Gründe: Die Steuererhebung, die Haushaltswirtschaft in den neuen Bundesländern, die Rechnungsprüfung und Kontrolle, das musste ab 3. Oktober nach den neuen Spielregeln funktionieren. Dazu musste man sachkundig sein. Die Berater aus dem Westen hatten inzwischen erkannt, dass wir in allen Fachgebieten Finanzwirtschaftler hatten, die diszipliniert zu arbeiten gewohnt waren. Mit Geld konnten wir vernünftig umgehen. Ich war bereits eine ergraute Größe im Finanzwesen. Nach der Abschiedsveranstaltung ging ich zu meinen Mitarbeitern, den Kollegen der Abteilung Datenverarbeitung, der Allgemeinen Verwaltung, des Schreibbüros und der Fahrbereitschaft. Ich sah wenig freundliche Gesichter. Dank und gute Wünsche, das klang an diesem Tag doch hohl und abgegriffen. Meine langjährige Sekretärin und mein persönlicher Mitarbeiter traten mir distanziert entgegen. Sie sahen keine Chance auf gleichwertige Arbeitsstellen. Doch einige Wochen später fand ich meinen Mitarbeiter in der Treuhandanstalt auf einem gut dotierten Posten wieder und meine Sekretärin diente im neuen Personalreferat. An diesem letzten Tag hatte ich auch noch manche formalen Dinge zu erledigen. Es waren
403 die letzten Unterschriften auf Entlassungspapiere, Beurteilungen und auch letzte Zahlungsanweisungen zu setzen. Auch die Aktenberge waren noch nicht alle sortiert und archiviert. Am Nachmittag kam es beim Minister zu einer letzten Zusammenkunft der Leitung und einiger treuer Seelen aus dem Protokoll- und Pressesektor sowie dem Ministerbüro. Wir stießen miteinander an. Doch worauf? Auf die uns verbindenden Jahre, die Gesundheit und die Hoffnung, dass die Mühen der letzten Monate nicht umsonst gewesen waren? Wir redeten über unsere Pläne. Werner Skowron strebte ein Mandat im Bundestag an. Siegfried Zeißig, Stellvertretender Minister, war als Abwickler der Kombinatsfinanzen vorgesehen. Eine Rückschau hielten wir an diesem Abschiedstag nicht. Wir hatten uns oftmals in Analyse und Selbstkritik versucht. Jetzt bewegte uns die Frage, ob denn der mit enormer Kraftanstrengung fixierte „Einigungsvertrag“ halten würde, was er versprach. Bei der Unterzeichnung am 30. September im Gästehaus des Berliner Magistrats, Unter den Linden, hatte Minister Wolfgang Schäuble versichert, dass sich die Bundesregierung in der Obhutspflicht für die Bürger der DDR befände. Sie werde sich für die Einhaltung des Vertrages und die Entwicklung der „Neuen Länder“ einsetzen, so Minister Schäuble. Gab es hierfür eine Garantie? Am Abend des 2. Oktober hatte der Ministerrat der DDR zu einem Festkonzert in das Schauspielhaus am Gendarmenmarkt eingeladen. Der Ministerpräsident Lothar de Maizière hielt eine Rede, seine letzte in dieser Funktion. Ich hatte diesen Mann, der nie ein politisches Amt angestrebt hatte, aber im März 1990 guten Willens die Herausforderung angenommen hatte, schätzen gelernt. Aus dem Berliner Rechtsanwalt war ein Gesprächspartner an der Spitze der Regierung geworden, mit dem man vertrauensvoll über Probleme und Vorschläge reden konnte. Ich spürte bei Lothar de Maizière die Achtung, die ich zuvor bei unseren Oberen zuweilen vermisst hatte. Nun stand er am Pult auf der großen Bühne vor der Berliner Staatskapelle und hatte die Aufgabe, die DDR aus der Geschichte zu verabschieden. Danach dirigierte Kurt Masur Beethovens letzte vollendete „9. Sinfonie“. Ein großartiges Erlebnis, das selbst an diesem Tag das Herz wärmte. Ich bin mit meiner Frau an diesem Abend dennoch froh gestimmt und erleichtert nach Hause gefahren. Eines war klar: Die aufregenden letzten Monate der DDR waren vorbei. Endlich werde ich mehr Zeit haben, mich meiner Familie zu widmen. Wir hatten viel nachzuholen. 256 Nach dem 3. Oktober 1990 übernahmen Sie eine Aufgabe als Berater im Bundesfinanzministerium. Wie kam es dazu? Ja, es war eine interessante Erfahrung. Mein „Amtskollege“ aus dem BMF, Dr. Peter Klemm, sagte mir Ende August während der letzten Beratung zum Einigungsvertrag, dass es „Entscheidungen“ gäbe, die auch meine Zukunft betreffen. Danach wäre es leider Katrin Rohnstock, Mein letzter Arbeitstag: Abgewickelt nach 89/90. Ostdeutsche Lebensläufe, Berlin 2014. 256
404 nicht möglich, wie mit mir ursprünglich besprochen, dass ich eine Aufgabe in der Oberfinanzdirektion Berlin übernehme. Als mögliche Alternative bot mir Dr. Klemm an, in der Berliner „Außenstelle“ des Bundesfinanzministeriums den Beginn der Arbeit zu begleiten. Das empfand ich als Chance und nahm das Angebot an. Welche Erfahrungen sammelten Sie in dem völlig neuen Umfeld eines Bundesministeriums? Es begann damit, dass der als Leiter der Außenstelle des BMF in Berlin berufene Joachim Klementa 257 mich am 3. Oktober anrief und bat, nachmittags, also am Feiertag der Wiedervereinigung, zu ihm nach Treptow zu kommen, wo er mich in einem Gästehaus des Ministerrates der DDR „zu einigen Fragen“ konsultieren möchte. An diesem Feiertag wollte ich eigentlich nachmittags verständlicherweise mit meiner Familie zusammen sein. Aber ich war an Disziplin gewöhnt, fuhr nach Treptow, wo Klementa in einem Apartment residierte. Ich kannte ihn nicht, weil er in den bisherigen Verhandlungen nie in Erscheinung getreten war. Er hatte eine lange Frageliste, die nach etwa drei Stunden zum Ende kam. Klementa hatte sich im Gespräch freundlich und dankbar gezeigt und ich dachte mir, dass es in dieser Weise vielleicht eine gedeihliche, zukünftige Zusammenarbeit geben könnte. Ich hatte aber, wie man so sagt, den Tag vor dem Abend gelobt. Die folgenden Tage und Wochen zeigten mir einen ganz anderen Klementa. Zu Besprechungen, die er oder andere Beamte führten, wurde ich nicht eingeladen. Er konsultierte mich auch nicht. Um über die Arbeit im neuen Haus im Bilde zu sein, musste ich mir Informationen von meinen ehemaligen Mitarbeitern besorgen. Manchen von ihnen war dabei unwohl. Sie hatten offenbar – mehr oder weniger – die Sorge, sich beim neuen Chef unbeliebt zu machen. Also: Gar nichts tun und isoliert von der Arbeit des Hauses zu sein, war nicht mein Ding. Ich rief Staatssekretär Dr. Klemm an, um mir einen Rat zu holen. Er äußerte sich mir gegenüber in der ihm direkten Art: „Ich verstehe Sie, so war die Beratertätigkeit nicht angedacht, aber ich habe keinerlei Möglichkeiten, Klementa zu veranlassen, sein Verhalten zu ändern. Er ist hier gut vernetzt!“ Ich ahnte, was damit gemeint war! Ein paar Tage später schickte mir Dr. Klemm eine Frageliste mit der Bitte um Beantwortung. Es war eine bunte Palette zu aktuellen Problemen in den neuen Bundesländern. Ich beantwortete die Fragen gewissenhaft und schickte den Brief an Dr. Klemm retour. Klementa erhielt davon eine Kopie. Daraufhin lud er mich zum Gespräch ein und teilte mir in „Oberlehrermanier“ mit: „Herr Dr. Siegert, Sie haben ohne meine Zustimmung überhaupt nichts mehr nach Bonn zu schicken!“ Mit Verlaub: Das saß bei mir. Als Berater unter einer Vormundschaft eines „mittelmäßigen“ Beamten musste ich mir nicht mehr weiterhin antun …
257 Joachim Klementa (geboren 1930). Dazu: Petra Brändle, taz. die tageszeitung, 12.10.1990, Rhei-
nische Fiskustruppe wacht über Ost-Steuern. Siehe https://taz.de/Rheinische-Fiskustruppe-wachtueber-Ost-Steuern/!1748596/ (letzter Zugriff 14.12.2020).
405 Nachvollziehbar. Allerdings: Vielleicht waren Sie noch zu sehr in ihrer Rolle als Staatssekretär befangen? Das mag sein. Aber Berater sein, hieß nach meinem Verständnis, Dr. Klemms Fragen zu beantworten, zumal Klementa ohnehin die Sachverhalte gar nicht verstanden hätte. Der Hintergrund war anscheinend ein anderer: Von einem anderen Herrn aus dem BMF erfuhr ich später, Klementa störte meine politische Vergangenheit, dazu hatte er sich „in einem kleinen Kreis“ ganz offen bekannt. Sie wurden nicht von jedem Vertreter mit offenen Armen in Empfang genommen. Damit mussten beide Seiten umgehen. Ein klärendes Gespräch untereinander wäre sicherlich ratsam gewesen, es ist leider nicht geschehen. War Ihre Beraterrolle somit beendet? Ja, de facto schon. Ich teilte Dr. Klemm mit, dass ich meinen Beratervertrag alsbald beenden möchte, um einer neuen Herausforderung nachzugehen. Ich hatte Glück. Es meldete sich bei mir ein Unternehmer aus Oelde, dem ich bereits im Januar 1990 begegnet war. Damals ging es darum, ihm einen Rat in Bezug auf Möglichkeiten eines geplanten Joint Ventures zu geben. Er bot mir an, ihm bei der Gründung seiner Firma in Berlin behilflich zu sein. Ich sagte ihm spontan zu. Das war Ende November 1990. Inzwischen hatte Dr. Klemm für mich eine neue Botschaft: Er schlug mir vor, in der Geschichtskommission des BMF mitzuarbeiten. Dort sollte ich den Part vom ehemaligen DDR-Finanzministerium übernehmen. Dieses Angebot nahm ich an. Es war eine Möglichkeit, meine Erlebnisse sowie Erfahrungen dort einzubringen. 258 Also unternahmen Sie einen neuen Anlauf, um im BMF zu verbleiben? Ja. Ich erarbeitete ein Konzept, was ich zum Thema dort anbieten konnte. Im Januar 1991 kam es dann zu einer Begegnung mit dem Leiter der Geschichtskommission im BMF, mit Herrn Dr. Wagner, einem Ministerialdirigenten im Ruhestand. Ein Spitzenbeamter aus der Zeit vor dem Jahr 1982, wo die SPD das Finanzressort innehatte. Ich traf Dr. Wagner in einem Büro im Dachgeschoß des BMF in Bonn. Im Gespräch kamen wir uns rasch näher. Ein erfahrener Mann, interessiert an unserer sowie meiner Geschichte. Zur Sache berichtete er mir, dass dieses Zusammentragen von Material zur Geschichte des BMF seit dem Jahr 1949 eher eine „Beschäftigung“ sei. Das Echo im Haus halte sich dabei in Grenzen. Egal wie, ich versprach Dr. Wagner meine Zuarbeit. Für mich war es damals ein interessanter Tag, wobei ich manches Unbekanntes erfuhr. Ich lieferte ihm alsbald meine Arbeit ab. Das war´s dann.
Sabine Klose, Beamtete Staatssekretäre im Transformationsprozess: Rekrutierungsmuster in den neuen Bundesländern, Diplom-Arbeit, Bamberg 2007. Siehe unter https://www.uni-bamberg.de/fileadmin/uni/fakultaeten/sowi_professuren/politische_systeme/Forschung/Klose_Staatss.pdf (letzter Zugriff 1.11.2020). 258
406 Sicherlich hatten Sie neue Pläne … Ja, weil ich inzwischen von Ferdinand Probst den Auftrag bekommen hatte, Büroräume „in bester Lage“ von Berlin zu suchen. Ich wurde zentral Unter den Linden fündig. Das ehemalige DDR-Außenhandelsunternehmen Textilkommerz suchte neue Mieter. Für den 1. März 1991 wurde der Mietvertrag geschlossen. Meine Hängepartie in der Außenstelle des BMFs lief so weiter. Ich räumte und sortierte meine Aktenbestände. Sie können sich vorstellen, was mir dabei durch „Kopf und Seele“ ging. Damals dachte ich allerdings nicht an eine intensive „Zeitzeugen-Reflexion“, sicherlich wäre dann das eine oder andere Dokument nicht in dem „Papier-Schredder“ gelandet. Zusammengefasst: Nach 30 Jahren verließ ich Ende März 1991 ohne jede offizielle Verabschiedung das Haus der Ministerien. Fast hätte meine Beratertätigkeit noch eine Wendung genommen, weil Klementa seinen Posten aufgegeben hatte. Der neue Leiter der Außenstelle wurde Hans-Michael Meyer-Sebastian, 259 den ich bereits aus den früheren Kontakten her kannte. Er wollte mich zum Bleiben bewegen, was zwecklos war. Ich ließ mich nicht mehr umstimmen! Ich hatte meine Erfahrungen im BMF hinter mir gelassen und eine interessante Aufgabe lag vor mir. Herr Siegert, Sie hatten die Gelegenheit, zwei verschiedene Finanzministerien kennen zu lernen. Wie würden Sie die Unterschiede benennen? Bei ähnlichen Aufgaben sind es zwei verschiedene Welten, die durch das jeweilige politische System geprägt sind. Im Bundesministerium der Finanzen steht die Rechtssetzung, die Auslegung, die Handhabung bis in alle Details permanent im Mittelpunkt. Die Mehrheit der Bediensteten des BMFs sind Juristen. Sie arbeiten an der Pflege ihres Rechtsgebietes: Dazu gehören insbesondere Referenten-Vorlagen, Auskünfte an Parlamentarier, die Ausschüsse, die Industrieverbände, die Parteien sowie die Lobbyarbeit. Die inneren Abläufe sind sehr wohl geordnet. Die Akten werden durch Boten von einem zum andern Beamten bewegt. Es herrschten ein strenges Procedere und ein bürgerlicher Umgangston mit vornehmer Distanz. In Bonn am Rhein lieben alle Wein und Frohsinn, das habe ich bei gelegentlichen Geburtstagen erlebt. Wie sehen Sie die Spezifika Ihres Ministeriums der DDR? In unserem Ministerium stand eher der wirtschaftliche Aspekt im Vordergrund. Unser Ministerium war bedingt durch Volkseigentum und das politische System Teil des gesamtwirtschaftlichen Handelns. Wir hatten uns im Verbund mit dem Wirtschaftsministerium um die Ökonomie zu kümmern, von der unsere Einnahmen abhingen. Auf der Ausgabenseite hatten wir, bedingt durch den einheitlichen und nicht föderalen Haushalt bis zur Gemeinde, für die Deckung der geplanten Ausgaben, sprich sozial-kulturellen Entwicklungen, zu sorgen. Bei uns war die Mehrheit der Mitarbeiter ökonomisch ausgebildet, etwa 70 % an den DDR-Hochschulen. Das Grundverständnis war, entsprechend den Hans-Michael Meyer-Sebastian (Jahrgang 1939) wurde im Oktober 1989 stellv. Leiter der Ständigen Vertretung der BRD in Ost-Berlin.
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407 Regeln und dem Plan die Geldflüsse zu sichern. Wir legten Wert auf unkomplizierte Zusammenarbeit im Haus sowie auch nach außen. Außerdem wurde viel Wert auf die operativen Kontakte zu den Partnern in der Wirtschaft und den Kommunen gelegt. Bitte selbstkritisch. Von „Perfektionismus“ kann doch nicht die Rede sein? Nein, es war Neuland und ein langer Lernprozess mit mancher Panne dabei. Unser „sozialistisches Finanzsystem“ mit dem Staatshaushalt, der staatlichen Finanzrevision, den Banken, dem örtlichen Finanzsystem und schließlich dem umfassenden EDV-System ist in den 40 Jahren gewachsen. Aber wir nehmen in Anspruch, dass wir jedes Jahr einen ausgeglichenen Haushalt geplant und trotz mancher Überraschungen auch durchgeführt haben. Dafür stehen Fakten. Im Übrigen: Wir haben am Ende eine relativ geringe Verschuldung im Inland gehabt, die erst 1989/90 entstanden ist. Walter Siegerts Tätigkeit in der Firma Ferdinand Probst (1991 bis 1997) Nach dem „Zwischenspiel“ im BMF übernahmen Sie ab dem Jahr 1990 noch eine ganz neue Aufgabe, nämlich die Gründung eines Projektentwicklungsunternehmens in Berlin. Das war sicherlich für Sie eine ganz andere „Welt“? Ja, es war eine Chance mit vielen Unbekannten, die ich aber dennoch, ohne zu zögern, genutzt habe. Ich war bereits 61 Jahre alt und wollte beruflich nicht aufgeben. Die Gespräche mit Ferdinand Probst gaben mir ein Gefühl des Vertrauens. Er hatte klare Vorstelllungen von dem Vorhaben. Ferdinand Probst hoffte auf einen Boom in den sogenannten „Neuen Bundesländern“ und vor allem in Berlin, das sich nun auf seine Hauptstadtrolle vorbereiten würde. 260 Von mir erwartete er eine Kenntnis der örtlichen Situation und Kontakte zu den Institutionen und Partnern, die man brauchte, um zu Aufträgen zu kommen. Ob ich diesem Anspruch gerecht werden könnte, wusste ich nicht, denn alles war im Umbruch. In allen Berliner Ämtern saßen nun Westberliner an den Schaltstellen. Und meine Freunde aus den Berliner Betrieben rangen ums Überleben. Aber ich nahm die neue Herausforderung an. Ferdinand Probst vermittelte mir mit seiner westfälischen Gradlinigkeit und Offenheit ein Vertrauen in die Zusammenarbeit mit diesem gestandenen Baulöwen. Wie kam das neue Unternehmen in Schwung? Ich hatte zunächst das einmalige Vergnügen, im April 1991 Unter den Linden die gemieteten Büroräume auszubauen und einzurichten. Mein Blick aus dem Fenster traf auf die Botschaft der UdSSR – die gab es damals noch. Ein exponierter Arbeitsplatz! Zum Firmenstart brauchten wir Grundstücke. Die waren in Ostberlin in der Regel in der Hand Zur Vertiefung: Jens Bullerjahn, Wolfgang Renzsch, Ringo Wagner (Hrsg.), Deutschland – Ländersache?! 30 Jahre deutsche Einheit und Föderalismus, Magdeburg 2020. Siehe ttp://library.fes.de/pdf-files/bueros/sachsen-anhalt/16825.pdf (letzter Zugriff 12.12.2020). 260
408 der Treuhandanstalt oder noch bei ehemaligen VEBs. Wir suchten vor allem Baugrundstücke für Discounterfirmen, für die Probst schon Projekte realisiert hatte. Im Norden Berlins war bald das erste größere Vorhaben im Werden. Wir hatten auch Interesse und „Know-how“ für Verwaltungsbauten. Auch Studentenwohnheime standen auf unserer Agenda. Das waren alles Objekte, mit denen die Firma Probst mit Stammsitz in Oelde, im Münsterland und im Niederrheingebiet bereits erfolgreich war. Wenn ich die attraktiv gestalteten Kataloge mit Referenzobjekten der Firma vorstellen durfte, machte mich das schon stolz, in diesem fast 100 Jahre alten Unternehmen mitwirken zu können. Jedoch war es ein zähes Mühen. Alle neuen „Obrigkeiten“ im Osten Berlins und im Land Brandenburg waren noch in der Startphase und anderes im Niedergang. Aber es bedurfte doch spezieller Kenntnisse, um die Firma gut zu vertreten? Ja, das ging nur im „learning by doing“. Die ökonomischen Aspekte des Baugeschäftes hatte ich mir bald – auch mit Hilfe der Kollegen – angeeignet. Mein kaufmännisches Rüstzeug war eine gute Grundlage. In der Firma traf ich überall auf eine offene kooperative Atmosphäre. Das waren gestandene Fachleute sowohl im technischen wie auch im kaufmännischen Bereich der Firma. Es lag wohl an der Art, wie mich Ferdinand Probst in die Firma und bei den Geschäftspartnern eingeführt hatte. Man respektierte meine Vergangenheit. Ich habe keinerlei Vorbehalte oder gar Ablehnung in der Zusammenarbeit erlebt. Meine eigene Art nutzte dabei, mir Vertrauen aufzubauen. Es gelang mir auf diese Weise, bald mehr oder weniger alle diese geschäftlichen Aktivitäten zu bewältigen, die von mir als Geschäftsführer dieses kleinen Teils der Firma erwartet wurden. Die oft beschriebene Arroganz haben Sie also in dieser Firma nicht erlebt? Nein, es ging eher um das Interesse meiner neuen Kollegen an vielen Dingen in der DDR. Ganz ausgeprägt war das bei Ferdinand Probst. Wenn wir uns in Berlin oder Oelde zu geschäftlichen Absprachen trafen, gehörte im Anhang immer ein Gespräch mit vielen Fragen zu meinen Erfahrungen in der DDR dazu. Ferdinand Probst war ein bekennender Katholik, politisch sehr interessiert und tolerant. In seiner Jugend war er als Amateur Radrennen gefahren. Dabei war er der DDR-Radsportlegende Täve Schur 261 begegnet. Es entsprach seiner sozialen Grundhaltung als Unternehmer, dass er sich für vieles aus dem DDR-Alltag und des Bauens interessierte. So kam es zu einer Begegnung mit dem Berliner Generalbaudirektor Professor Dr. Erhardt Gißke, 262 der in Ostberlin seit den 1960er Jahren alle bedeutenden Bauvorhaben maßgeblich mitgestaltet hatte, wie den Palast der Republik, den Wiederaufbau des Konzerthauses am Gendarmenmarkt, das Grandhotel, den Friedrichstadtpalast usw. Ferdinand Probst wollte wissen, wie in der DDR ein Betrieb funktionierte und viele Fragen zu unserem Leben. Er erteilte mir den Auftrag, für die Mitarbeiter unseres Unternehmens in Oelde eine Stadtrundfahrt durch Ostberlin zu organisieren, dabei die Stadt und insbesondere das Baugeschehen bis ins Jahr 1990 zu 261 262
Täve Schur (geb. 1931) war u. a. ehemaliger Radrennfahrer und Volkskammerabgeordneter. Erhardt Gißke (1924–1993) war u. a. Architekt in der DDR.
409 erläutern. Auf diese Weise verstand ich mich nicht nur mit meinem „Chef“, sondern es gab freundliche Kontakte zu Mitarbeitern. Das hat mir das Arbeiten in diesem Unternehmen sehr angenehm gemacht. War Ihre Firma – wie von Ihnen erwartet – erfolgreich? Ja, es ging voran! In einer Kleinstadt im Norden Berlins war bald das erste Einkaufszentrum in Planung und im Bau. Ich will nicht über die Hürden und verschlungen Wege reden, die wir zu gehen hatten. Im Stadtparlament waren die Meinungen geteilt, da rührten auch andere Bewerber mit. Aber am Ende war die Freude über das erste große Einkaufszentrum mit Baumarkt in dieser Gegend einhellig. Die Eröffnung war ein „Highlight“. Das nächste große Vorhaben war der Bau des Studentendorfes in Potsdam-Babelsberg. Es war ein Wiederverwendungsprojekt, das ein Brauschweiger Architektenteam schon einmal an anderer Stelle realisiert hatte. Ohne in Details zu gehen, wir wurden mit allen Hürden des Baugeschehens konfrontiert. Gut war, dass wir Bauleiter und Firmen hatten, die aus ehemaligen VEBs kamen. Für mich war es eine Bewährungsprobe mit gutem Ende. Das Baufeld lag in Nachbarschaft zum Audimax der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft, wo ich im Jahr 1952 mein Studium absolviert hatte. Das brachte manche Erinnerung zurück. Das Richtfest fand in jener Mensa statt, in der ich als Student mit meinen Kommilitonen schöne Stunde verlebt hatte. In der Folgezeit bekamen wir im Land Brandenburg weitere gute Aufträge. Es ging z. B. um die Rekonstruktion von Polizeiwachen, für die unsere Firma aus langer Erfahrung das „Know-how“ mitbrachte. Die Partner in den Landesbehörden waren überwiegend noch Fachleute aus DDR-Zeiten, sodass man eine gemeinsame Sprache fand. Für mich eine sehr lehrreiche Zeit, oftmals mit einem 12 Stunden Tag, dafür aber mit Erfolgserlebnissen. Sie mussten sich bei den Projekten an den öffentlichen Ausschreibungen beteiligen, was es in der DDR nicht gab. Wie kamen Sie damit zurecht? Ja, das ist richtig. Die Aufträge wurden ausgeschrieben und zwar bei den Landesbauten von der Bauabteilung des Finanzministeriums des Landes Brandenburg. Die war mit Beamten aus NRW besetzt. Das Procedere zu meistern, war für mich keine Hürde, weil die erfahrenen Fachleute der Stammfirma halfen. Was die rechtliche Solidität dieser Ausschreibungen betrifft, sammelte ich bald erhellende Erfahrungen. Mein Höhepunkt war, dass wir bei einem großen Projekt „Wohnungsbau für Bundesbedienstete“ am Rande Berlins trotz Spitzenplatz bei der Ausschreibung von der betreffenden Behörde zu Gunsten eines Wettbewerbers aus Italien nicht den Auftrag bekamen. Ich erlebte eine Geschichte, die mir offenbarte, wie „locker“ das recht pragmatisch verbogen wird. Kurz gesagt: Ich habe natürlich um unser Recht und den großen Auftrag gekämpft und alle Hebel in Bewegung gesetzt, um herauszufinden, wer an der „Schraube“ gedreht hatte. Am Ende vieler Anläufe sagte mir der zuständige Beamte „im Vertrauen“, dass es an „höchster Stelle“ eine Zusage an den italienischen Bauminister gegeben hatte, insbesondere italienische Unternehmen an den Bauaufträgen für den neuen Sitz der Bundesregierung in
410 Berlin zu beteiligen! Als ich dies meinem Chef Ferdinand Probst mitteilte und zu einer juristischen Attacke riet, winkte der gelassen ab: „Wenn Sie das tun, haben Sie zukünftig schlechte Karten.“ Ich hatte begriffen. Wir hatten viel Zeit und Geld eingesetzt. Übrigens hat die italienische Firma dann versucht, uns mit ins Boot zu holen, weil sie unser Projekt haben wollte. Das war uns zuwider und riskant zugleich. Die Sache zog sich dann endlos hin, um am Ende völlig zu scheitern. Für mich war es eine Lektion zum Thema „Rechtsstaatlichkeit und Lobbyismus“. Ihre Firma wurde 1996 aufgelöst. Was waren die Gründe dafür? Wir haben auch in Berlin einige größere Projekte versucht und viel Aufwand investiert, aber erkennen müssen, dass in Berlin die „Uhren“ anders ticken, als wir uns vorstellten. Auf einen kurzen Nenner gebracht: Die 1990er Jahre waren außer einigen großen Projekten wie am Potsdamer Platz im Osten eine Zeit des Zögerns. Wir haben verschiedene Anläufe gemacht, um Projektideen zu realisieren. Aber der Senat – faktisch der Westberliner – tat sich mit dem Osten schwer. Unser größtes und wohl auch sinnvolles Projekt am Bahnhof Friedrichstraße, damals seit dem Krieg nach Beseitigung der Trümmer ein rundum freier Platz, den wir mit einem attraktiven Projekt „Wohnen, Theater und Kommerz“ in historischer Tradition wiederbeleben wollten, kam nicht zum Zuge. Und das, obwohl wir mit unseren Partnern, darunter einem britischen Unternehmer, in einem Gespräch beim Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen mit viel Interesse am Projekt bedacht worden waren. Was uns dort in Worten Mut machte, woran ich glaubte, zerschmolz nach und nach wie Schnee in der Sonne. Es war eine endlose „Balgerei“ mit den Behörden, wobei immer mehr deutlich wurde, dass alte Seilschaften am Drücker waren. Als der Spitzenbeamte für die Innerstädtische Koordinierung, bei dem wir Zuspruch fanden, einer Briefbombe zum Opfer fiel, ging gar nichts mehr. Am Ende ist in jeder Firma alles eine Frage von Kosten und Nutzen. So meldeten wir im Jahr 1996 die Berliner Firma ab. Da wir überwiegend mit Vertragspartnern in Ostberliner Architekturbüros arbeiteten, wurden nur meine Assistentin und ich „arbeitslos“. Ich war schon zwei Jahre Rentner und sie bekam bald eine neue und ähnliche Aufgabe in einem anderen Unternehmen. Ich leistete noch mehrere Jahre ab und zu für die Firma Probst in Berlin diese und jene Zuarbeit. Es bereitete mir viel Freude. Ich lernte dadurch einen Unternehmer kennen, mit dem mich eine herzliche Freundschaft verband. Im Jahr 2016 wurde die Firma Probst durch sehr unglückliche Umstände insolvent. Mein Freund, Ferdinand Probst, verstarb kurz darauf nach diesem schlimmen Unternehmensende, einem erfolgreichen und fast 100 Jahre alten Familienunternehmen.
411 Verehrte Frau Siegert, verehrter Herr Siegert, vielen Dank für diese vielen gemeinsamen und intensiven Gesprächsstunden. Diese Zeitzeugenedition wird einen wichtigen Beitrag für eine zukünftige Einordnung, Beurteilung sowie Forschung der Geschichte der DDR liefern. Dazu haben Sie mit Ihren detailreichen Kenntnissen und Erinnerungen beigetragen. Dankeschön für Ihre Unterstützung. Walter und Ilse Siegert: Wir sind Ihnen ebenfalls sehr dankbar.
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413 1.7. Carmen Siegert „Er hat immer hinter mir gestanden und sich schützend für mich eingesetzt.“ Wie erinnern Sie sich an Ihren Vater? 1 Mein Vater arbeitete oftmals sehr lange und hatte in der Woche wenig Zeit für die Familie. Ich erinnere mich daran, dass er mich oft in den Kindergarten brachte und abends wieder abholte. An den Wochenenden hat er oftmals für uns alle gekocht und gebacken. Er war Abb. 12: Carmen Siegert sehr humorvoll und ein guter Geschichtenerzähler. Musikalisch war Jazz seine große Leidenschaft. Er besuchte viele Konzerte, manchmal war ich sogar mit dabei. Beeindruckend war für mich immer wieder sein großes Allgemeinwissen. Auch ohne „Google“ hatte er auf viele Fragen kompetente Antworten. Er hat uns humanistisch erzogen, wobei ihn seine persönlichen und schlimmen Erlebnisse während und nach dem Abb. 13: Tochter und Vater (2019). Zweiten Weltkrieg sehr prägten. Er hat immer hinter mir gestanden und sich schützend für mich eingesetzt. Durch seine Bodenständigkeit und offene Art, auf Menschen zugehen, besaß er viele Freundschaften zu Mitmenschen, die größtenteils zeitlebens andauerten. Wir haben vor und nach der Wende viele politische Diskussionen miteinander geführt und dabei sehr oft kontrovers gestritten. Besonders in der Nachwendezeit. Dabei bemerkte ich: Er stand zu seiner Überzeugung und es war für ihn sehr schmerzhaft mitzuerleben, wie ein Großteil seiner Arbeit „wertlos“ geworden war. Dennoch: Rückblickend war er sehr reflektiert, kritisch sowie analytisch im Umgang mit der DDR-Zeit. Zuerst verstand ich es nicht, warum er sich als Staatssekretär in der de Maizière-Regierung engagierte und in Bonn den Staatsvertrag zur deutschen Einheit für die ostdeutsche Seite mit ausverhandelte. Ich hatte ihn unberechtigterweise dafür kritisiert. Erst Jahre später wurde mir klar, dass mein Vater die Tragweite dieser historischen und einmaligen Situation erkannt hatte und deshalb, ohne Rücksicht auf seine politische Überzeugung, in seiner Verantwortung den Menschen gerecht geworden war. Darauf bin ich sehr stolz. Carmen-Uta Siegert wurde am 31. Dezember 1958 geboren. Dieses Gespräch wurde am 29.10.2020 schriftlich geführt. Es sind Einschätzungen von Carmen Siegert über Ihren Vater, Walter Siegert. Das letzte gemeinsame Foto zwischen Tochter und Vater entstand beim Besuch der ehemaligen Heimat Erfenschlag im September 2019.
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414 In Erinnerung an Walter Siegert
Abb. 14: Walter Siegert im Porträt – von 1949 bis 1990.
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Abb. 15: 1958 in Erfenschlag – Walter Siegert mit seinen Eltern.
Abb. 16: Vater und Sohn zusammen – 1957.
Abb. 17: Walter Siegert mit seinen Enkeln – Theresa (links) und Nelson – 1984.
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Abb. 18: Forschungsinstitut für Finanzen und Wirtschaft – Abb. 19: 1964 – Referent auf einer Konferenz der SED Prof. Grodie (links), Walter Siegert und Bruno Klopp des Stadtbezirkes Berlin-Lichtenberg. (rechts).
Abb. 20: Tagungspause mit Bezirksleitern der Staatlichen Abb. 21: Auszeichnung der Urania – 1968. Finanzrevision – 1968.
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Abb. 22: NÖS-AG in Heringsdorf Bellevue – 1968.
Abb. 23: Gratulation eines Finanzchefs der NVA.
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Abb. 24: Betriebskonferenz VEB-Datenverarbeitung des Finanzorgans am 26. März 1987 in Torgelow.
Abb. 25: 65. Geburtstag von Helmut Sandig (1984).
Abb. 26: RGW-Tagung 1986 in Havanna.
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Abb. 27: Gründung der Deutschen Versicherungs AG mit Unterzeichnung des notariellen Vertrages am 26. Juni 1990 (v. l. n. r.): Friedrich Schiefer, Uwe Haasen, Hans-Christoph Dölle, Walter Siegert, Klaus Löscher, Günter Ullrich und Michael Beckord.
Abb. 28: (v. l. n. r.): Staatssekretäre Walter Siegert und Werner Skowron, der Präsident der USAußenhandelskammer, der US-Botschafter in der DDR Richard Clark Barkley. Handelsabkommen zwischen der DDR und Amerika, Hotel Johannishof in Berlin-Mitte, Juli 1990.
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Abb. 29: Unterzeichnung vom Staatsvertrag zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion am 18. Mai 1990 im Palais Schaumburg in Bonn. Für die DDR unterzeichnete Finanzminister Walter Romberg (links) und für die Bundesrepublik Deutschland unterschrieb Finanzminister Theo Waigel (rechts/verdeckt). Im Hintergrund u. a. Ministerpräsident Lothar de Maizière und Bundeskanzler Helmut Kohl. Walter Siegert mittig in der letzten Reihe sitzend.
Abb. 30: Interview mit den Finanzministern Waigel und Romberg nach der Vertragsunterzeichnung. Rechts hört Siegert (mit Brille) zu – 1990.
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Abb. 31: Auf dem Weg zur deutschen Einheit. Die Unterzeichnung des Einigungsvertrages am 31. August 1990 im Berliner Kronprinzenpalais. Dort unterzeichneten Bundesinnenminister Schäuble (rechts) und DDR-Staatssekretär Krause (links) den deutsch-deutschen Einigungsvertrag. Ein 900-seitiges Werk, das die Details der Wiedervereinigung regelt und etliche Übergangsvorschriften enthält. In der Mitte Ministerpräsident Lothar de Maizière. U. a. applaudiert Walter Siegert (rechts).
Abb. 35: Walter Siegert – Im Büro Unter den Linden in Berlin in der Projektentwicklungs GmbH 1991.
Abb. 32–34: Vortragsreise Washington – 1990
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Abb. 36–38: 65. Geburtstag von Lothar de Maizière. Gratulanten sind u. a. Bundeskanzlerin Angela Merkel, Richard Schröder, Thomas de Maizière, Eheleute Siegert.
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Abb. 39: 2. Juli 2015 – 25 Jahre Währungsunion. Die Festveranstaltung der Deutschen Bundesbank im Alten Rathaus Leipzig. (Erste Reihe von links nach rechts): Günther Krause, Rudolf Seiters, Walter Siegert, Theo Waigel, Irene Epple-Waigel, Carl-Ludwig Thiele, unbekannt, Hans Tietmeyer.
Abb. 40: (v. l. n. r.) Rudolf Seiters, Walter Siegert, Theo Waigel, Irene Epple-Waigel.
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Abb. 41: Begegnung – Walter Siegert gratuliert Hans Modrow zum Menschenrechtspreis am 10. Dezember 2018 im Gebäude des Neuen Deutschlands (ND) in Berlin. Im Hintergrund: Klaus Höpcke mit einem Sektglas in der Hand.
Abb. 42: Podiumsdiskussion am 1. März 2019 – 29 Jahre nach der Gründung der Treuhandanstalt. U. a. mit Walter Siegert, Christa Luft und Hans Modrow im Rohnstock Verlagshaus in Berlin.
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Abb. 43: Begegnung nach einer Buchlesung – Egon Krenz und Walter Siegert (2018 in Berlin).
Abb. 44: Zeitzeugengespräch – Oliver Dürkop und Walter Siegert im Sommer 2018.
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Abb. 46: Mietwohnung in der Rummelsburger Straße in Berlin (seit 1960).
Abb. 45: Ausruhen vom Spaziergang
Abb. 47: Wohlfühloase als beruflicher Ausgleich – Pacht-Datscha in Berlin-Kaulsdorf (1964–2021).
Abb. 48: Besuch im Berliner Tierpark 1991 – Finanzierung und Planung vom Elefantenhaus.
Abb. 49: Gemeinsam Silvester 2000 feiern.
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Abb. 50: Ein Wiedersehen – Siegert im Gespräch mit Bundespräsident a. D. Horst Köhler (Sommer 2019).
Abb. 51: Begegnung – Klaus Blessing und Walter Siegert am 10. Dezember 2018 in Berlin.
Abb. 52: Feier zum 90. Geburtstag von Walter Siegert in Berlin. Im engsten Kreis der Familie sowie mit Freunden und Bekannten wurde Siegerts Ehrentag gefeiert.
428 Die letzte Ruhestätte: Friedhof Alt-Stralau in Friedrichshain-Kreuzberg
Abb. 53–55: Trauerfeier, Beerdigung und Urnenbeisetzung am 9. März 2020.
429 2. Regierung Modrow (13. November 1989 – 12. April 1990) Hans Modrow „Die Regierung musste alle versorgen, das war die Denkstruktur, die der normale DDR-Bürger hatte, nicht der Markt sollte das leisten, sondern die Regierung. Wir besaßen noch kein Marktdenken.“
Abb. 56: Hans Modrow erläutert seinen Standpunkt (2018 in Berlin).
Hans Georg Modrow wurde am 27. Januar 1928 in Jasenitz, Kreis Randow/Ueckermünde, dem heutigen Jasienica (Polen), geboren. 1945 bis 1949: Modrow in sowjetischer Gefangenschaft in den Lagern 33 und 56 bei Moskau. 1946 bis 1948: Er besuchte eine Antifa-Schule 2040 in der Nähe von Rjasan (250 km von Moskau entfernt). Modrow war Kursant. 1949: Modrow kehrte nach Deutschland zurück, trat u. a. der FDJ und der SED bei. 1952 bis 1953: Absolvierung der Komsomol-Hochschule in Moskau. 1966: Verleihung des Grades eines Doktors der Wirtschaftswissenschaften (Dr. rer. oec.) der HumboldtUniversität zu Berlin. 1967 bis 1989: Mitglied im Zentralkomitee (ZK) der SED. 3. Oktober 1973 bis 15. November 1989: 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Dresden. Modrow wurde in der Elbestadt der Nachfolger von Werner Krolikowski. 1987: In Moskau gab es Überlegungen zur Ablösung Erich Honeckers durch Hans Modrow. 1988: Gorbatschow traf sich in Warschau mit dem polnischen Staatschef Jaruzelski: Es ging um die Frage, ob Modrow ein möglicher Nachfolger von Honecker sein könnte. Februar 1989: Honecker gründete eine Arbeitsgruppe, um gegen Modrow einen Hochverratsprozess anzustreben. 4. Oktober 1989: Züge mit Prager Botschaftsflüchtlingen fuhren durch Dresden; Modrow war als Vorsitzender der Bezirkseinsatzleitung im Krisenstab involviert. 6. bis 7. Oktober 1989: 40 Jahrestag der DDR – Modrow nahm trotz einer Einladung nach OstBerlin nicht an den Feierlichkeiten teil, sondern verweilte im Bezirk Dresden. 13. November 1989: Modrow wurde zum Vorsitzenden des Ministerrats der DDR gewählt. 17. November 1989: Modrow verlas seine Regierungserklärung in der DDR-Volkskammer. Er
430 regierte 150 Tage lang. 4. Dezember 1989: Treffen zwischen Gorbatschow, Modrow, Krenz und Fischer und Gespräch u. a. über den sowjetisch-amerikanischen Gipfel von Malta. 19. bis 20. Dezember 1989: Bundeskanzler Helmut Kohl und Modrow trafen sich im Bezirk Dresden. 22. Dezember 1989: Das Brandenburger Tor wurde vorerst für Fußgänger geöffnet. Modrow und Kohl schritten gemeinsam durch das geöffnete Tor. 15. Januar 1990: Erstmals nahm Modrow an einer Sitzung des „Zentralen Runden Tisches“ der DDR teil. Er schlug eine Regierungsbeteiligung für die Bürgerbewegungen vor. Nachmittags: Modrow sprach vor dem Gebäude des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes (MfS) in der Normannenstraße in Ost-Berlin (sog. Erstürmung der MfS-Zentrale). 30. Januar 1990: Modrow reiste zum Arbeitsbesuch in die Sowjetunion und traf Präsident Gorbatschow in Moskau. 1. Februar 1990: Modrow unterbreitete sein Konzept „Für Deutschland, einig Vaterland“. 4. Februar 1990: Modrow traf Kohl beim Weltwirtschaftsforum (World Economic Forum – WEF) in Davos/Schweiz. 5. Februar 1990: Die Volkskammer bestätigte die „Regierung der nationalen Verantwortung“ mit acht „Ministern ohne Geschäftsbereich“ aus oppositionellen Parteien/Gruppierungen. 13. bis 14. Februar 1990: Keine finanzielle Unterstützung aus Bonn. Ein „15 Milliarden D-Mark Solidarbeitrag“ wurde Modrow nicht gewährt. 1. März 1990: Gründung der Treuhandanstalt. Modrow wird Ehrenvorsitzender der PDS Partei. 5. bis 6. März 1990: Modrow und Mitglieder der „Regierung der nationalen Verantwortung“ konferierten mit Gorbatschow in Moskau. 18. März 1990: Der neue Ministerpräsident der DDR wurde Lothar de Maizière (CDU) und Modrow übergab am 12. April die Amtsgeschäfte und blieb Abgeordneter in der Volkskammer. Dezember 1990 bis November 1994: Modrow wurde Mitglied des 12. Bundestages für die PDS. 1996: Freiheitsstrafe auf Bewährung wegen Wahlfälschung. 1999 bis 2004: Modrow als PDS-Mitglied im Europaparlament. Nach den Wahlen zum Europäischen Parlament wurde Modrow Mitglied der Fraktion Die Europäische Linke (EL). Seit Dezember 2007: Vorsitzender des Ältestenrates der Partei Die Linke. Februar 2018: Prozess „Modrow gegen die Bundesrepublik Deutschland“ vor dem Bundesverwaltungsgericht in Leipzig: Modrow klagt, um die Herausgabe von BND-Akten sowie um die Aufhebung der Schutzfrist zu erwirken. Seit 1951 hatten die Organisation Gehlen (O.G.), der Bundesnachrichtendienst (BND) und das Bundesamt für Verfassungsschutz (BFV) Hans Modrow bis zum Jahr 2012 im Visier. Veröffentlichungen (Auswahl): Hans Modrow, Brückenbauer. Als sich Deutsche und Chinesen nahe kamen. Eine persönliche Rückschau, Berlin 2021; Oliver Dürkop/Michael Gehler (Hrsg.), In Verantwortung. Hans Modrow und der deutsche Umbruch 1989/90, Innsbruck – Wien – Bozen 2018; Robert Allertz, Ich will meine Akte: Wie westdeutsche Geheimdienste Ostdeutsche bespitzeln, Berlin 2018; Hans Modrow/Volker Hermsdorf, Amboss oder Hammer. Gespräche über Kuba, Berlin 2015. Hans Modrow/Gregor Gysi, Ostdeutsch oder angepasst. Im Streitgespräch, Berlin 2013; Robert Allertz, Ich will meine Akte: Wie westdeutsche Geheimdienste Ostdeutsche bespitzeln, Berlin 2018.
431 Interview: 2 Herr Modrow, wann und wie lernten Sie Walter Siegert kennen? Ein bewusstes Kennenlernen war sehr spät und hing mit meiner Regierungstätigkeit zusammen. Ob wir uns früher bereits über den Weg gelaufen sind, will ich nicht ausschließen und das wird Walter Siegert wahrscheinlich besser und tiefer in Erinnerung haben. Auf seinem Weg schaute er mit einer anderen Sichtweise auf Zusammenhänge, als ich es in meiner Tätigkeit und meinem politischen Wirken sowie in der wissenschaftlichen Arbeit tat. Die Fragen der Finanzen im politischen System der DDR hatten keine überhöhte Bedeutung. In der Planwirtschaft war die zentrale Frage der Plan und eben nicht die der Finanzen. Ich gehörte der Volkskammer seit dem Jahr 1957 an. Immer im Dezember stand der Volkswirtschaftsplan des nachfolgenden Jahres auf der Tagesordnung. Der Haushalt war dem untergeordnet und nicht, wie ich es später im Deutschen Bundestag erlebte, die Hauptdiskussion. Das ergab sich einfach aus dem System, in dem wir unsere Wirtschaft gestalteten, planten und leiteten. Darüber kann Walter viel mehr erzählen als ich Ihnen jetzt sagen kann. Als das „Neue Ökonomische System“ (NÖS) durch Walter Ulbricht als ein historisch herangereifter Prozess – so möchte ich es formulieren – aufgenommen wurde, ging es in der Tat um Reformen, bei denen die Finanzen eine größere Rolle spielen sollten als vorher in der Volkswirtschaftsplanung. Aber mein Engagement lag, verbunden mit der Tatsache, dass ich politisch im Feld der Entwicklung von Kadern tätig war, darin, diese in den verschiedensten Zusammenhängen auszuwählen, zu qualifizieren und natürlich dann auch zu berufen. Mein Thema der Doktorarbeit, die ich im Jahr 1965 verteidigte, war „Die Auswahl und Entwicklung von Führungskräften in der Wirtschaft“, sodass sich unsere Wege im Wirken zum „NÖS“ nicht kreuzten. Ich hatte ein ganz anderes Feld, in dem ich bemüht war zu forschen. Aber hier, so glaube ich, ist kein Gegensatz vorhanden, sondern mehr ein Miteinander in einem Feld, das sehr eng mit dem Wirken von Ulbricht verbunden war. Bei dem Entscheidungs- und Bildungsprozess zur Ernennung von Ministern und Staatssekretären ab dem 13. November 1989 wurde Siegert in Ihrer Regierung kein Finanzminister, sondern zunächst Staatssekretär, obwohl er sich bereits Jahrzehnte als Staatssekretär im Ministerium der Finanzen der DDR einen guten Leumund bzw. eine Resonanz erarbeitet hatte. Warum? Für die DDR galt ein Prinzip, was auch bei der Bildung einer Regierung in der Bundesrepublik Deutschland die Basis ist: Nicht der Ministerpräsident oder die Kanzlerin Das Gespräch mit Hans Modrow fand am 24.8.2018 im Berliner Karl-Liebknecht-Haus statt. Anwesend war auch Svetlana Egorova. Die Fragen beziehen sich primär auf Walter Siegert. Hinweis: Die Publikation „In Verantwortung. Hans Modrow und der deutsche Umbruch 1989/90, Dürkop/Gehler (Hrsg.), Innsbruck 2018“ wird zur weiteren Forschung und Analyse der deutsch-deutschen Teilungs-, Umbruchs- und Vereinigungsgeschichte empfohlen. Es sind die Ansichten eines ostdeutschen Akteurs.
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432 entscheiden, wer aus anderen Parteien Minister oder Ministerin werden wird, sondern die Parteien schlagen das selbst vor. So war es auch während meiner Regierung der Fall. Wir waren fünf Parteien in der Regierung, nannten uns Regierung der großen Koalition und die SED unterbreitete ihre Vorschläge. Genau wie die anderen Parteien auch. Welcher Vorschlag war das? Der Vorschlag der SED – das war von meiner Seite aus mehr ein Grundanspruch – bezog sich vor allem auf eine Frau, was sowohl später Hannelore Mensch betraf als auch Uta Nickel. Uta Nickel war wiederum in Leipzig im Rat des Bezirkes für Finanzen zuständig und die SED entschied sich, sie als Ministerin vorzuschlagen, was mir sehr entgegen kam. Denn damit hatten wir die Chance, bei der Bildung der Regierung eine andere Zahl von Frauen einzusetzen. Vorher gab es immer nur eine Ministerin, das war eben Margot Honecker. Wir waren bemüht, wenigstens hier etwas zu verändern, und die SED war bereit, auf ihrer Liste Hannelore Mensch und Uta Nickel vorzuschlagen. Die anderen Parteien hatten keine Frauen auf ihrer Vorschlagsliste, obwohl das eigentlich eine Voraussetzung gewesen war. Zugleich strebte ich danach, dass dann ein Staatssekretär berufen und eingesetzt werden würde, der diese Ebene der DDR kannte. Es sollte niemand sein, der nur die Sicht in einem Bezirk kannte und nun plötzlich die Verantwortung über die Finanzfragen des Staates zu übernehmen hatte. Eine Frauenquote zu befriedigen, die es offiziell nicht gab, ist positiv zu beurteilen. Waren Uta Nickel als Finanzministerin und Walter Siegert als Staatssekretär Ihre persönlichen Favoriten gewesen und warum genau diese Zuordnung? Damit wir die Möglichkeit hatten, sowohl regionale Erfahrungen, die Frau Nickel mitbrachte, in das Regierungsgeschehen aufzunehmen, aber auch zugleich jemanden an ihrer Seite zu wissen, der die Wirtschaft, d. h. das Finanzwesen der DDR gut kannte. Sicherlich konsultierten Sie Siegert, um sich von Ihrem Wunschkandidaten im Gespräch seine Bereitschaft bestätigen zu lassen. Wie verlief dieses Gespräch mit Siegert vor Ihrer Entscheidung konkret ab? Das lief nicht über mich! Ich hielt mich bei der Bildung der Regierung heraus, ich führte keine Gespräche mit denen, die vorgeschlagen wurden, ob sie berufen werden wollten oder nicht, weil ich davon ausging, dass dieses Geschehen bei den Parteien lag. Ich war entschieden dagegen, wie es vorher innerhalb der DDR gelaufen war: Beispielsweise wollte Egon Krenz in dieser Beziehung im Grundsatz auch keine Entscheidung am Politbüro vorbeitreffen lassen. Diese Taktik war mit dem 18. Oktober nicht aufgehoben worden, das Politbüro blieb und aus dem Geschehen des Politbüros heraus wurde auch die Personalpolitik für die Regierung aus der SED getroffen. Denn Egon Krenz hatte nicht die Absicht, den Chef der Regierung auszuwechseln. Er hatte am 1. November noch Gorbatschow getroffen und dabei war nicht die Frage aufgekommen, ob Willi Stoph zurücktreten und abberufen werden würde. Es habe zwar die Frage von Gorbatschow im Raum
433 gestanden, ob ich als Person, in welcher Form auch immer, in die Führungstätigkeit der SED und des Staates einzubeziehen wäre. Die Auskunft von Krenz dazu war aber wohl, dass man darüber nachdenke. Der Rücktritt der Regierung am 7. November 1989, also eine Woche später, war keine Absprache mit Moskau gewesen, sondern basierte auf der inneren Situation der DDR. Ich kam aus der Sicht von Krenz als der vierte Kandidat für den Ministerpräsidenten infrage. Daraus ergab sich zwangsläufig, dass ich mich nicht in die Auswahl der Regierung von Seiten der SED einmischte. Das Politbüro konstituierte sich erst nach den Ereignissen, die mit der Regierungsbildung am 13. November begannen. Ich war als eine Person der Volkskammer vorgeschlagen worden, als Ministerpräsident mit dem Auftrag, eine Regierung zu gründen mit den Parteien, die bereit waren, in die Regierung zu gehen. Für mich war immer die Spitze der jeweiligen Partei der Partner, ich suchte nicht vorab das Gespräch mit den Kandidaten, die die Parteien vorgeschlagen hatten. Wenn Uta Nickel diesen Vorschlag als Kandidatin für den Posten der Finanzministerin abgelehnt hätte, wäre Walter Siegert für sie dann Finanzminister der DDR geworden? Ich denke, ja. Gab es sonst noch Alternativen zu diesen beiden genannten Personen? Nein, nach meiner Kenntnis nicht. Oftmals nahm Siegert Verhandlungen im Namen von Uta Nickel wahr, u. a. in der Volkskammer, im Politbüro, am Zentralen Runden Tisch und im RGW. Wie intensiv und erfolgreich war Ihre Zusammenarbeit mit Siegert? Da Nickel und Siegert sich kannten, denke ich, dass Uta Nickel sehr wohl schnell begriffen und verstanden hatte, dass sie konstruktive und kompetente Arbeit abliefern kann, wenn sie mit dem Staatssekretär zusammenarbeitet. Sie kam ja aus der Ebene eines Bezirkes und im Rahmen ausländischer Kontakte und Gespräche trat mit Siegert jemand in Erscheinung, der dort bekannt war. Sie war unbekannt, wer kannte Uta Nickel und wusste, welche Kompetenz sie hatte? Während Siegert bekannt war, denn er hatte bereits vorher Kontakte aufgebaut und gepflegt. Ich glaube, das war ein kluger Schritt. Sowohl Christa Luft als auch ich hatten diesbezüglich keine Einwände. Christa Luft war von der Zusammenarbeit sogar noch überzeugter als ich. Wir gingen davon aus, dass hier ein vertrauensvolles Miteinander für die Regierungstätigkeit viel wichtiger war, als das Protokoll zur Wirkung zu bringen. Sind Ihre Aussagen so zu verstehen, dass Sie quasi eine gewollte Tandemlösung hatten? Ich denke, ja.
434 Bitte charakterisieren Sie Walter Siegert! Es wäre anmaßend und ungerecht, wenn ich Ihnen wiedergeben würde, was – wie man es früher nannte – einen Teil seiner Kaderakte ausmachte. Ich lernte ihn als einen sehr sachkundigen, sehr zuverlässigen Mann kennen, der auch bereit war, kooperativ miteinander zu arbeiten. Ich hatte den Eindruck, dass das, was er und Uta Nickel gemeinsam erarbeiteten, wirklich eine Zuverlässigkeit gegenüber der Regierung in sich barg. Sodass wir davon ausgehen konnten, dass das ein Ressort war, in dem fachkundig und sachlich gearbeitet wurde und wo ich auch, was den Charakter betraf, jemanden hatte, zu dem man Vertrauen haben konnte. Dies war gerade in dieser Zeit eine der Kernfragen unseres Zusammenwirkens. Wenn kein Vertrauensverhältnis entstanden und gewachsen wäre, hätte man nicht miteinander in einer solch chaotischen Phase, wie wir es alle empfanden, die Situation beherrschen und eine Regierungstätigkeit entfalten können, die nun wirklich, was die Finanzseite anbetraf, auf einem sehr schmalen Grat verlief. Stellten Sie eine besondere Stärke oder sogar eine Affinität bei Walter Siegert fest? Hatte er ein Faible, ein Gespür für das eine oder andere Sach- und/oder Themengebiet oder eine besondere Gabe? Das würde ich so nicht sagen, weil sich das aus der Zusammenarbeit in dem Maße nicht zeigte. Tatsächlich spielte ein anderer Hintergrund mit: Als ich die Regierungsverantwortung übernahm, war eine große Frage, wie hoch unsere „Valutaschuld“ sei. Das war aber nicht das Feld von Siegert. Damit beschäftigte sich ein eigener Bereich innerhalb der Regierung, der auf diesem Finanzgebiet arbeitete, mit dem Alexander Schalck-Golodkowski zusammenwirkte und in den weder Siegert noch Nickel tief in die Karten gucken konnten. Damit war für Walter Siegert klar, dass er derjenige war, der sich die innere Verschuldung in der DDR genauer ansehen wollte und die Stärke, die wir im Haushalt besaßen. Da war er aus meiner Sicht der zuverlässige Partner, während ich die „Valuta-Seite“ stärker von Gerhard Beil beobachten ließ und darin dessen Wirkungsfeld sah. Es war also hier, wenn Sie so wollen, etwas Ressortdenken meinerseits dabei. Ich konnte es nicht nur politisch betrachten, wenn ich die Gesamtverantwortung trug. Ich musste auch versuchen, weitgehend ein Ressortdenken zu entwickeln. In Siegert sah ich Vertraulichkeit und Sicherheit in diesem Feld, denn wir besaßen gewaltige Subventionen. Wir subventionierten in einem Maße ohnegleichen. In einem Gespräch teilte mir Staatssekretär a. D. Dr. Manfred Domagk mit, dass es über dreiunddreißigtausend Preise waren … Und genau deshalb bestand für mich dort seine Kompetenz. Sollte sich Siegert also in den Bereich der internationalen Valutaverschuldung einarbeiten? War das von Ihnen so angedacht? Es wäre übertrieben zu sagen, dass ich das als ein bewusstes Handeln angesehen hätte.
435 Weil Sie mit Beil bereits jemanden installiert hatten? Eben. Beil war für mich einerseits für den Gesamtkomplex der zuverlässige Partner, und wir erkannten bald, dass die Führung der Wirtschaft nicht mehr weiter über die Plankommission ging. Wir bildeten bei Christa Luft ein zweites Kabinett, das Wirtschaftskabinett, das aber keine Regierungsentscheidung treffen konnte, wenn es darum ging, dass es rechtsverbindliche Entscheidungen waren. Diese musste die Regierung treffen. Aber um in der Regierung auch sachkundig entscheiden zu können, hatte Christa Luft den Auftrag, koordinierend und mit allen Ministern zu arbeiten, die im Wirtschaftsfeld tätig waren. Ohne dass das etwa ein Verfassungsrecht gewesen wäre oder eine Änderung der Verfassung der DDR nach sich gezogen hätte, waren wir uns beide bewusst, dass dieses Wirtschaftskabinett eine Voraussetzung für den Abbau der Rechte der Plankommission war, um auch die Geschäfte der Regierung im vollen Umfang zu garantieren. War ein Postenwechsel zwischen Beil und Siegert angedacht? Nein. Im Januar 1990 erfolgte die Abberufung von Uta Nickel und die Ernennung von Walter Siegert zum geschäftsführenden Finanzminister. Beschreiben Sie bitte diesen Vorgang, warum und wie es dazu kam! War das wie ein „Paukenschlag“ für Sie in der Regierung gewesen, weil es medial ausgenutzt wurde? Als „Paukenschlag“ insofern, weil es zu den Schlägen gehörte, die es in dieser Phase oft gab. Tatsächlich ging es darum, dass behauptet wurde – irgendwer erfand oder begründete es –, dass in Leipzig der Vorsitzende des Rates des Bezirkes, Herr Rolf Opitz, ein Haus gebaut habe, wofür Frau Nickel Unterstützung mit Krediten gegeben habe, die Opitz erhalten hätte. Mit einem Mal hieß es: „Ist das eine Korruption oder die Nutzung des Privilegs?“ Also Kredite zur Nickels amtierenden Ministerzeit an nahe Angehörige bzw. Freunde zu erteilen? Bestand der Verdacht einer Vetternwirtschaft? Ja. Diese Art von Vorwürfen und Anklagen gab es haufenweise, unbegründet, nicht richtig nachgewiesen, einfach in die Luft gesetzt, aber manches auch begründet. Nun sortieren Sie bitte, was davon berechtigt war und was nicht. Es landete auf Ihrem Schreibtisch? Bevor es wirklich zur Entscheidung kann, entschied Uta Nickel, dass sie zurücktreten würde. Weil Sie es ihr nahegelegt hatten? Nein, weil sie das Gefühl hatte, wenn sie nicht zurücktreten würde, könnte im Bezirk Leipzig ein Verfahren zu Opitz entstehen, zu dem sie einbezogen werden müsste. Trat sie zurück, könnten die Leute, die aus dem Bezirk Leipzig vor allem mit einer politischen
436 Stärke kamen, diese Angelegenheit nicht mehr gegen die Regierung tragen. Sie brachte uns nicht in die Situation, in der wir hätten entscheiden müssen, dass sie hier nicht mehr länger bleiben dürfe, sondern sie begann von sich aus zu prüfen, ob sie bei dem, was im Bezirk ablief, als Ministerin bleiben könne oder nicht. Das heißt, sie wendete in weiser Voraussicht Schaden vom Ministerium der Finanzen sowie auch Schaden an Ihrer Person, Hans Modrow, ab? Sie wollte Schaden von der Regierung, von ihrem Amt, von mir sowie von meiner Tätigkeit abwenden. Das ist eigentlich ein Charakterzug, den man bei Frau Nickel anerkennen muss, denn niemand konnte dann am Ende nachweisen, ob sie etwas getan hatte, dass rechtlich und rechtskräftig zu verfolgen gewesen wäre. Es gab keine Anschuldigung, wegen der sie vor Gericht stand und bestraft worden wäre. Das Ermittlungsverfahren gegen Uta Nickel wegen Verdachts der Untreue (ungesetzliche Zahlungen zum Schaden des sozialistischen Eigentums veranlasst zu haben) wurde von der Leipziger Staatsanwaltschaft im Januar 1990 eingeleitet und dann später aus Mangel an Beweisen eingestellt … Nach meiner Kenntnis gab es kein Gerichtsverfahren, das in irgendeiner Weise ein Gerichtsurteil über Frau Nickel herbeiführte. Wie beurteilen Sie die kurze Amtszeit Nickels, die sich in der Öffentlichkeit – mehr oder weniger – nicht widerspiegeln konnte? Die Archive dokumentieren hier, dass sie durch ihre regionale Vorprägung nicht das große Ganze in Berlin im Blickfeld hatte. Das ist Fakt und Tatsache. Die Regel, die es eigentlich auf diesem Gebiet und zu dieser Frage gibt, wozu auch die Aussagen meiner Doktorarbeit gehören, trifft hier zu: Man ist vorbereitet auf ein Amt, aber man muss mit dem Amt wachsen. Wer nicht mit dem Amt wächst, wird auch nie in diesem Amt bestehen, in dem Sinne, dass er es führen und gestalten kann. Nun war die Situation aber auch so, dass es etwas Besonderes war, ein Amt zu übernehmen. Darum war ich daran interessiert, dass Gerhard Schürer nicht sofort aus der Regierung wegging. Ohne Schürer wäre niemand mehr dagewesen, der diese Plankommission so überblickte wie er, der es zwei Jahrzehnte lang getan hatte. Ich begann meine Regierungstätigkeit und es waren alles neue Leute installiert. Für mich selber stand die Frage, ob ich die Kanzlei des Ministerpräsidenten verändern sollte. Ich entschied mich, dass Harry Möbis als Staatssekretär blieb. Ich dachte, wenn ich mit einer Dresdner Gruppe käme, meine Sekretärin mitbrächte, meinen Kraftfahrer und meine Mitarbeiter, würde keiner die Regierung kennen und andersherum, ich würde mir hier einen Gegensatz erschaffen. Wenn ich nicht fähig wäre, mit denen zu arbeiten, die hier vor Ort waren und die mich auch annahmen, dann würde ich scheitern. Das war dann auch der richtige Weg. Harry Möbis arbeitete mit mir sowie mit anderen, die in dem Umfeld tätig waren. Wir hatten eine Übergangsphase, in der kein Riss erfolgte. Bei Uta Nickel war schnell eine
437 Überforderung zu erkennen, die aber nicht sofort in die Regierung abstrahlte, da auch andere Vertreter in der Regierung saßen. Das lag an meinem Führungsstil. Einige kritisierten im Nachhinein mein Handeln. Aber erstmals während der Beratung einer Regierung wurde von mir zu Beginn die Lage eingeschätzt und nicht damit begonnen, andere zu befragen, wie sich die Lage auf deren Gebieten darstellte. Ich bereitete mich auf die Beratung des Ministerrates vor und gab aus meinem Feld heraus eine Einschätzung ab. Damit war niemand gefordert, Rechenschaft abzulegen und aufzuzeigen, wie jeder seinen Bereich beherrschte, sondern man urteilte zur Lage, die ich innerhalb der DDR in ihrer Gesamtheit sah. Ich stellte dar und Frau Luft ergänzte die Gesamtsicht über Wirtschaft. Dadurch entstand zunächst am Anfang stets ein Austausch. Anschließend kamen die jeweiligen Vorlagen zur Debatte, die die Ministerinnen oder Minister als Tagesordnungspunkt beantragt hatten. Das waren wiederum Absprachen, die sie mit Harry Möbis getroffen hatten und nicht mit mir. Es mag vielleicht sein, dass es für Uta Nickel in diesem Moment eine Erleichterung war, den Rücktritt vorzuziehen. Man sagt salopp, die Schuhe waren vielleicht ein bisschen zu groß für sie …! Hätten Sie aber nicht diese schwierige Personalie im Vorfeld erkennen können oder sogar müssen? Die Korrektur war am Ende ein Erfolg. Sie fiel zu Gunsten des neuen Finanzministers Walter Siegert aus – allerdings geschäftsführend. Wenn Sie diesen Übergangsprozess von Nickel zu Siegert bitte darstellen könnten? Wie verlief dieser Entscheidungsprozess? Ich denke, dass zunächst Siegert amtierte, bedeutete für ihn selber einerseits Vertrauen, war aber auch andererseits keine Berufung mehr. Er wurde in der Volkskammer nicht als Minister vereidigt, sondern geschäftsführend bestätigt. Darin lag ein Problem: Welche Sicherheit hatten wir in dieser Phase während unserer Regierungszeit noch? Dazu möchte ich mich heute überhaupt nicht verbindlich aus meinen Erinnerungen heraus festlegen. Über diese Phase müsste ich genauer im Archiv nachlesen. Auf der einen Seite lief die Regierung mit einer großen Verantwortung und auf der anderen Seite begann bereits ab Mitte Januar 1990 das Nachdenken über die Möglichkeit, dass wir in den Prozess einer Vereinigung Deutschlands gingen. Zusätzlich gab es die Überlegung, die mit dem 15. Januar 1990 – am 22. Januar nochmals sehr deutlich – ausgesprochen wurde, dass der Zentrale Runde Tisch mit in die Regierung ginge. Diesen Zusammenhang musste man auch für die Tätigkeit von Walter Siegert sehen. Lohnte es sich überhaupt, ihn während dieser Phase in die Volkskammer zu berufen? Geschäftsführend im Amt bedeutete viel mehr das Vertrauen in die Person, in diesem Moment, als in einem Parlament über eine Regierungsumbildung zu reden, wenn man vor der Frage stand, die Regierung mit Vertretern des Zentralen Runden Tisches zu bilden bzw. zu besetzen. Wir ernannten ihn auch nicht zum geschäftsführenden Minister. Uns schien viel wichtiger, dass die SED, sprich dann zu dem Zeitpunkt die PDS, nicht noch eine Berufung unternahm. Das politische Geschehen dieser Zeit hatte man auch als Chef der Regierung immer wieder im Hinterkopf. Ich war nicht souverän mit meiner Entscheidung,
438 sondern entschied mich immer anhand der Situation des politischen Kräfteverhältnisses, das ich zu beurteilen und zu bewerten hatte, und meine Entscheidungen sollten Entscheidungen sein, die ich auch mehrheitlich durchbekommen würde. Hätte ich Walter Siegert etwas Gutes angetan, wenn in der Regierung plötzlich die Mitglieder des Zentralen Runden Tischs gefragt hätten: „Ach, nun wollen die von der PDS auch noch einen Minister?“ Obwohl er zu dem Zeitpunkt nicht mehr Mitglied der SED bzw. neuen SED-PDS war? Nein. Das ist eine andere Frage. Anfang Dezember 1989 gab es eine Debatte unter den Ministern, die der SED angehörten. Auf ihre Fragen antwortete ich folgendes: „Ob ihr in der SED bleibt oder nicht, das ist euer Anliegen. Aber beginnt jetzt bitte kein gemeinsames Austreten, dann steht die Regierung überhaupt infrage. Wie sich der Einzelne verhält, ob ihr das dann im Januar oder wann macht, ist alles eure Entscheidung, aber beginnt jetzt kein kollektives Austreten aus der Regierung!“ Daran hatte man sich gehalten und ich fragte auch nicht nach, wer noch in der Partei war und wer nicht mehr. „Draußen“ heißt, Sie haben das Mitgliedsbuch abgegeben und eine Austrittserklärung unterschrieben? Ja, das Mitgliedsbuch abgegeben, eine Austrittserklärung, wie auch immer … Konkret wussten Sie aber nicht, wer ausgetreten war bzw. wer nur seine Parteimitgliedschaft ruhen ließ? Die PDS mit Gysi hatte keine innere Struktur. Ich konnte nicht davon ausgehen, dass sich das nun nach diesen Parteitagen über Weihnachten ´89 verändern und er eine feste Struktur hinbekommen würde. Er begann erst im Januar und Anfang Februar 1990 den Kontakt zu den Ministern zu suchen, die der Regierung angehörten. Es existierte aber keine Parteigruppe der PDS in der Regierung, wie die anderen Parteien ebenfalls keine Parteigruppen innerhalb der Regierung hatten. Es gab die Arbeit innerhalb der Fraktionen, solange die Volkskammer bis zum März 1990 bestand, denn diese löste sich nicht auf. Die Volkskammer bestand bis zum 18. März 1990, ob als „Regierung der nationalen Verantwortung“ oder ohne. Sie blieb ohne deren Fraktion, denn die waren am Zentralen Runden Tisch tätig. Das war kein Vorgang, der in irgendeiner Weise gegen die Verfassung oder ähnliches verstieß. Wir erweiterten eine Regierung, aber wir veränderten nicht ein Parlament durch neue Parteien, wie es früher mit der Nationalen Front der DDR einmal der Fall gewesen war. Zwischen den Wahlen konnten die Parteien – wenn beispielsweise ein Mandat durch Tod zu besetzen war – dieses über die Nationale Front verteilen. Hier gab es scheinbar diffuse, aber reguläre Vorgänge, die immer die Verfassung der DDR respektierten.
439 Forderten Sie bzw. wünschten Sie sich von Walter Siegert Engagement und Mitwirkung im Bereich der SED-Politik? Nein, das tat ich nicht, weil ich nicht davon ausging. Es begann im Kern der Sache: Ab Februar 1990 startete der Wahlkampf und ich war der Spitzenkandidat der PDS-Partei. Christa Luft ging nicht in den Wahlkampf, erst eine Wahlperiode später, auch Siegert ging nicht in den Wahlkampf. Wichtig war, dass die Regierung funktionierte und tätig war. Ist das ein Indiz dafür, dass Abb. 57: Siegert, Luft und Modrow im Kurzgespräch vor der Walter Siegert dem Grunde nach kein sogenannter „ParteiPodiumsdiskussion (1. März 2019 in Berlin). funktionär“ war? Ich würde sagen: ja. Er verstand sich wohl als ein aktives Mitglied der SED, jemand, der im Auftrag seiner Partei Regierungstätigkeiten übernahm, aber nicht als Parteifunktionär. Da gab es klare Abgrenzungen. Denn er war nicht im Apparat der Partei tätig und er war in keinem gewählten Gremium. Es gab auch Parteifunktionäre in mehreren Funktionen. Beispielsweise war Willi Stoph Mitglied des Politbüros und Ministerpräsident. Aber Siegert war kein ZK-Mitglied oder Mitglied in der Bezirksleitung der SED in Berlin. Er war nur ein Mitglied in der Partei. Hinderte ihn diese Tatsache daran, „höher“ aufzusteigen als „nur“ zum Staatssekretär in den letzten Jahrzehnten unter den Finanzministern Ernst Höfner oder Werner Schmieder, um diese zu beerben bzw. abzulösen? Eindeutig die Tatsache, dass er nicht dem ZK angehörte, hinderte ihn daran. Da ist der sichtbare Unterschied. Genossin Margot Honecker war Mitglied des Zentralkomitees und ihr Staatssekretär Werner Lorenz war Mitglied des ZK der SED. Dort war der Rang der Ministerin aber so abgesichert, dass ein ZK-Mitglied Lorenz keine Konkurrenz war. Aber wäre Siegert neben Höfner auch ein ZK-Mitglied gewesen, dann hätten sie in der Parteistruktur auf einer Höhe gesessen. Das wollte man natürlich nicht. Dieser Minister war ungeübt, aber geschützt, und daneben stand keiner, der hätte sagen können, sie seien beide ebenbürtig.
440 Bestand deshalb ein Konkurrenzverhältnis? Das gehörte zu den Machtstrukturen innerhalb des Systems. Schauen Sie sich heute bei der SPD um, erst ist man der Vorsitzende, hat einhundert Prozent und dann ist man nichts mehr... Sie sprechen die „Causa“ Martin Schulz an … Welche bestimmten Erfolge können Sie Siegert zuordnen und was konnte er im Rahmen seiner Möglichkeiten nicht erreichen? Was er nicht erreichen konnte, was sehr aufeinanderprallte, war eine Kernfrage innerhalb der Regierung: die Preispolitik und die Subventionierung. Dort bestand keine Chance für Veränderungen, weil sich zeigte, dass unser Bemühen, dieses Problem in Angriff zu nehmen, in einem Maße durch das Verhalten des Zentralen Runden Tisches blockiert wurde, was uns den Raum für Veränderungen nahm. Ich flog am 10. Januar 1990 nach Sofia zur RGW-Tagung und am Zentralen Runden Tisch wurde brüllend gefordert, ich müsse sofort zum Zentralen Runden Tisch kommen, weil die Subventionierung eine dringlich zu klärende Frage sei. Tatsache war aber, dass in diesem Moment, als die Frage auftauchte, die Regale bereits leer waren. Das kam zum ersten Mal am Zentralen Runden Tisch am 8. Januar 1990 auf die Tagungsordnung? Sie, der Generalstaatsanwalt und der Minister des Inneren sollten unverzüglich am ZRT erscheinen. Dieses Ultimatum war mit der Drohung eines Endes des ZRT verknüpft. Die Initiative ging vom Neuen Forum aus. Nach Ihrer Rückkehr aus Sofia protestierten Sie am 11. Januar in der Volkskammer über die Art und Weise der Druckausübung von Seiten des ZRT. Erstmalig traten Sie am 15. Januar beim ZRT auf. Genauso. Damit war dieser Raum weg. Wir versuchten, trotz dieser Problematik etwas bei der Kinderkleidung zu unternehmen. Das Problem war: Kleine Frauen kauften sich Kinderbekleidung. Wo war die Grenze zwischen Müttern und Kindern zu ziehen? Die Kinderbekleidung ging insbesondere bei Frauen als Kundinnen viel stärker über den Ladentisch, Frauen kleideten sich mit Kinderbekleidung ein und Mütter kauften für ihre Kinder und für sich ein. Das sind alles Kuriositäten, die man im Nachhinein überhaupt nicht nachvollziehen kann. Unser Grundsatz war: Wir nehmen dort die Subventionierung weg und was der Staat dadurch einsparte, bekämen dann die Eltern. Somit könnten sie selbst entscheiden, ob sie Bekleidung kauften oder Nahrungsmittel etc., und nicht der Staat. Da waren Spielräume, die Walter Siegert sehr wohl erkannte, aber die wir nicht bewegen konnten. Unser Feld war einfach eingeschränkt und die Mitglieder des Zentralen Runden Tisches waren politisch überhaupt nicht auf der Höhe, auf der sie begriffen hätten, was sie auslösten. Das Resultat war, dass mit einem Mal die Kaufhalle – wie wir sie nannten – leer war, nichts mehr im Regal stand, so wie man es aktuell in Venezuela sieht. Wir mussten die Armee rufen, damit sie für die Reserven, die wir hatten, den Transport übernahm und wir wieder nachfüllen konnten. Denn wir waren gar nicht in der Lage, in einer so kurzen Zeit das Angebot an Nahrungsmitteln zu gewährleisten. Wenn so eine Situation vierzehn Tage andauerte, entstünde vermutlich ein Chaos. Genau das waren die Dinge, wo Walter Siegert im Rahmen der Möglichkeiten wirkte, aber auch erkannte, wo diese
441 Forderungen die Möglichkeiten überschritten und wir auf Reserven zugreifen mussten und nicht genau wussten, wie schnell wir die Auffüllungen bräuchten und wie wir diese Phase überstehen würden. Nachgefragt: Walter Siegert wurde nicht zum Finanzminister in der Volkskammer vereidigt? War das Ihre Entscheidung? Ja. Walter Siegert wurde ab 29. Januar 1990 geschäftsführender Minister der Finanzen, das ab April Ministerium für Finanzen und Preise hieß. Welchen konkreten Auftrag bekam er von Ihnen bis zur Volkskammerwahl? Was war sein „neues“ Tätigkeitsfeld? Das Hauptproblem, was Christa Luft natürlich im Blickfeld hatte, war, dass wir die Preispolitik nicht verändern konnten, da wir das Vertrauen der Regierung verloren hätten. Die zweite Problematik, die eine Rolle spielte, war, dass das kooperative Zusammenwirken mit der Wirtschaft verstärkt werden musste, damit keine großen Versorgungslücken eintreten würden. Was man heute oft vergisst: Wir hatten zusätzlich die offene Grenze und die Unterschiede in der Währung zwischen West und Ost, West- und Ostberlin. Das waren alles Fragen, die einfach weggelassen wurden. Dazu müssen Sie den Walter tiefer befragen. Wir brauchten eine Stabilität, das war nun mal die Situation. Die Regierung musste alle versorgen, das war die Denkstruktur, die der normale DDR-Bürger hatte, nicht der Markt sollte das leisten, sondern die Regierung. Wir besaßen noch kein Marktdenken. Dies war die Seite, die das Finanzministerium zusammen mit dem Ministerium für Leichtindustrie zu verantworten hatte. Es spielte natürlich ebenso eine Rolle, dass wir die Balancen im Außenhandel zu halten hatten, der überschaubar war. Wir hielten als DDR unsere Exportverpflichtungen gegenüber der Sowjetunion treuer ein als umgekehrt. Wollten wir siebzehn Millionen Tonnen Erdöl, sagten sie: „Naja, sechzehn werden wir schon nicht mehr schaffen, wenn Ihr fünfzehn bekommt, müsst Ihr zufrieden sein!“ Aber unsere Schiffe und Eisenbahnen sollten wir weiterhin liefern. Wir lieferten auch, wir waren zuverlässiger als umgekehrt. Das waren alles wichtige Fragen, die auf diesem Gebiet standen und Lothar de Maizière übernahm – was er heute nicht bereit ist zu sagen – eine stabilere DDR-Wirtschaft, als nach außen hin verkündet wurde. Der tiefe Schlag gegen die Wirtschaft war mit der Währungsunion verbunden, nicht davor. Mit der Währungsunion entstand ein Problem, dass den RGW in sich zerfallen ließ. Davor war die DDRWirtschaft an und für sich stabil weitergelaufen. Warum kam Theo Waigel auf die Idee, Zölle haben zu wollen für gebrauchte Autos, die in der DDR verkauft wurden? Die DDR sollte Zoll bezahlen bei offener Grenze, wenn Gebrauchtwagen verkauft wurden. Es war ein so großes Durcheinander und Lothar de Maizière war, glaube ich, Walter Siegert sehr dankbar, dass er solche Situationen auch für ihn in Balance hielt. Ohne Siegert wäre wahrscheinlich ein größeres Chaos entstanden als je zuvor. Es war auch von Vorteil, dass Walter Romberg aus der SPD der Minister für Finanzen wurde. Er kam aus der Friedensbewegung und besaß ein ganz anderes internationales Denken. Das erlebte ich auf
442 meiner Reise nach Warschau. Romberg und Tadeusz Mazowiecki kannten sich. Dort kamen alte Freunde zusammen, der Ministerpräsident Polens und der Finanzminister der DDR. War für Sie klar, dass Walter Siegert im Kabinett von de Maizière nicht Finanzminister wird, sondern abermals Staatssekretär? Ja. Weil er nicht zur SPD gehörte und die SPD den Posten bekam, den sie aus sich heraus besetzten. Er war zu diesem Zeitpunkt parteilos. Wäre Siegert, nachdem er bei Ihnen geschäftsführender Finanzminister war – vorausgesetzt, er wäre in die SDP (die spätere SPD) eingetreten – im de Maizière-Kabinett Minister geworden? Sie hätten ihn nie genommen. Aufgrund seiner ursprünglichen Lebensbiografie? Genau. Er hätte keine Chance gehabt. Die SDP verweigerte ehemaligen SED-Mitgliedern die Parteiaufnahme. Bis heute gilt diese Abwehrhaltung als ein großer Fehler von 1989/90. Seine Parteilosigkeit war ohne Zweifel die Voraussetzung, selbst Romberg hätte ihn dann wahrscheinlich nicht nehmen können, denn dann wäre Romberg auch darüber gestolpert, dass er jemanden geholt hätte, den Leute wie Markus Meckel und andere ablehnten. Da hätte Siegert bereits bei der Gründung ab dem 7. Oktober 1989 zur SDP gehen müssen, was er wiederum überhaupt nicht im Blick hatte. Anfang bis Mitte August 1990 wird es spektakulär, als die SPD-Regierung aus dem gemeinsamen Kabinett austrat. Walter Siegert war involviert. Schildern Sie bitte aus Ihrer Erinnerung, wie es zu diesem Gesamtrücktritt der SPD kam. Dem will ich folgendes voranstellen: Als während der Regierungsbildung vor Romberg die Frage stand, in die Regierung zu gehen, sprach er unter vier Augen mit mir. Ich meinte: „Walter, überlegt Euch, wenn ihr jetzt in die Regierung mit der CDU bei diesem Wahlergebnis geht und wir dann eine gesamtdeutsche Wahl bekommen, ob die SPD dabei etwas gewinnt, wenn sie jetzt in die Regierung geht, bezweifle ich. Wenn es so weiterläuft, wie es jetzt aussieht, wird es große Probleme mit der DDR geben, und wenn Ihr in die Regierung geht, dann erhaltet Ihr zunächst einen Schub. Seid Ihr in der Regierung, könnt dort aber nicht bleiben, weil es eine neue Wahl gibt, dann habt Ihr große Schwierigkeiten. Das müsst Ihr überlegen: Ich kann Dir keinen Rat geben, ich kann Dir nur die Probleme aufzeigen.“
443 Wie reagierte er darauf? Er reagierte, indem er mit seinen Leuten sprach. Das Resultat war, dass er Minister wurde und die SPD in die Regierung ging. Wir blieben auch danach in einem freundschaftlichen Verhältnis verbunden. Ich war zusammen mit Christa Luft bei seiner Trauerfeier im Mai 2014 in Teltow, von den Sozis war keiner zu sehen. Eines war völlig klar: Walter Romberg stand für sich weiterhin als der Minister, der aus der Regierung Modrow als Minister ohne Geschäftsbereich kam und die entrissenen Bürger der DDR vertrat. Das war der Gegensatz, den er mit Waigel austrug. Er erkannte sehr schnell, dass alles, was dann ablief, die Interessen der DDR-Bürger nicht wahren würde. Damit entstand auch zwischen ihm und Horst Köhler und allen, die noch dazugehörten, ein Gegensatz. Horst Köhler und Thilo Sarrazin waren von der westlichen Seite ab Januar 1990 in die Abläufe involviert … Genau, da kamen diese Gegensätze auf. Ich respektiere ihn und auch Walter Siegert, dass sie diese Haltung beibehielten und dass sie sich in der Beziehung auch zu Entscheidungen, die sie in meiner Regierung mitgetragen hatten, bekannten. Denn wir waren diejenigen, die am 1. März 1990 entschieden, dass die Enteignungen von 1945 bis 1949 rechtens gewesen waren, und sie blieben es auch. Da war Walter Romberg mit dabei, er gehörte zur Regierung. Dem Zwei-plus-Vier-Vertrag liegt ein Brief im Anhang bei, in dem dieser Grundsatz von de Maizière und vom Außenminister Genscher unterschrieben worden war. Zu dieser Politik bekannte sich auch Genscher, weil das ein Hauptpunkt war, worauf die Sowjets bestanden hatten. Ein alter Freund, Julij Kwizinski, forderte als Verhandlungspartner, dass es einen beigefügten Brief geben müsse, wenn dieser Punkt nicht in den Vertrag käme. Das waren die Zusammenhänge, die ich hier sah, und Walter Romberg spielte ohne Zweifel eine sehr verantwortungsvolle Rolle und auch eine, die seinem Charakter entsprach. Am 15. Februar 1990 wurde Ihr Finanzminister Siegert über weitere Schritte zur Ausarbeitung eines Vorvertrages mit der westlichen Allianz-Versicherungs-AG informiert. Siegert unterschrieb mit Uwe Haasen und Friedrich Schiefer am 14. März den Vorvertrag. Ein Beschluss darüber erfolgte bereits am 8. März im Ministerrat der DDR. Welche Erinnerungen haben Sie an diesen Prozess? Welche Rolle spielte Siegert dabei? War die Allianz-AG auch Ihr Wunschpartner gewesen? Hier begann ein Prozess, den die Regierung nicht mehr beeinflussen konnte, sondern während dessen sich viele Momente ergaben, die etwas mit unserer Vorstellung über die Vertragsgemeinschaft zu tun hatten, auch wenn diese nicht zustande gekommen war. Im Zusammenhang mit diesen Überlegungen begannen im Januar 1990, initiiert durch Christa Luft bei einem „Rahnsdorfer Gespräch“, Begegnungen mit den großen „Wirtschaftskapitänen“ der Bundesrepublik Deutschland. Dort erfolgte ein gegenseitiges Abtasten im Vorfeld der Leipziger Messe, die dann im März 1990 stattfand. Zu diesem Zeitpunkt begannen viele Phasen und Zusammenhänge, die bis heute nicht erforscht und
444 nicht gut aufgearbeitet sind, dort begannen die Seilschaften. Was hatte Herr Edgar Most in der Zeit alles an Regeln aufgestellt, die ihn finanziell trugen. Der letzte und ehemalige Vizepräsident der Staatsbank der DDR, Edgar Most, 2015 in Berlin verstorben ... Für Walter Romberg spricht, dass für ihn hier kein Weg abging, um bei der Allianz oben einzusteigen, so wie es bei Most war, der bei der Deutschen Kreditbank AG einstieg, später von der Dresdner Bank und Deutschen Bank übernommen wurde und seiner Karriere nachging. Most machte also Zwischenstationen und ging über diesen Weg zur Deutschen Bank. Nachgefragt: Was ist Ihnen über diesen Prozess der Privatisierung der staatlichen Versicherung der DDR bekannt? Dazu kann ich in Einzelheiten nichts sagen, nur, dass es im Grundsatz mit der Überlegung einer Vertragsgemeinschaft in dieser Phase Kontakte gab, die nicht abrissen, zwischen Helmut Haussmann, dem damaligen Wirtschaftsminister der Bundesrepublik. Auch Martin Bangemann, damaliger EU-Kommissar für den Binnenmarkt, war mit dabei. Es liefen viele Kontakte zwischen Akteuren, die bereits im Wahlkampf standen, die das Regierungsgeschehen zwar berührten, aber nicht mehr ins Regierungsgeschehen aufgenommen wurden. Mit wem de Maizière auf seiner Strecke Kontakt hatte und wie viele Kontakte sich entwickelten und aufbauten auf anderen Gebieten zwischen den politischen und staatlichen Stellen der alten Bundesrepublik Deutschland und der DDR in diesen Wochen ab etwa Anfang Februar, das liegt alles noch im Dunkeln. Zu diesen Zusammenhängen kann ich Ihnen keine sachkundige Auskunft geben. Aber es wurde doch im Ministerrat der DDR der Beschluss darüber gefasst? Es wäre gut, wenn Sie mit meiner Lebensgefährtin Gabriele Lindner über die Beschlüsse sprechen. Wir hatten schon ein Verfahren, wo Listen zu Vorgängen aufgestellt wurden, bei denen vorher nur die Zustimmung über Möbis eingeholt werden musste. Wenn eine Zustimmung vorhanden war, dann wurde die Liste aufgerufen und gefragt, ob es noch Änderungen zur Liste gäbe. Wenn keiner eine Änderung bzw. einen Widerspruch zur Liste hatte, wurden auch Entscheidungen getroffen, die nicht mehr in die Debatte kamen. Wenn Sie zu diesem Zeitpunkt keine konkrete Kenntnis über die Abwicklung von der staatlichen Versicherung zur Allianz-Privatisierung mit den rund drei bis vier Millionen Kunden hatten, wie hätte es Ihrer Meinung ablaufen müssen? Insofern anders – bleiben wir mal bei der Marktwirtschaft – nämlich so, dass es im Interesse derer, die versichert waren, abgelaufen wäre. Die Allianz übernahm erst einmal alle Versicherten. Die waren dann in der Allianz versichert und konnten sich keine andere suchen. Und hier war ein Übergang, der politisch in der alten Bundesrepublik gewollt war, wo die Seilschaften in die Treuhand eingingen und nicht wir die Seilschaften in der
445 Treuhand installierten. Sondern die Treuhand-Seilschaften begannen genau in dieser Phase. Als wir dann im März 1990 die Arbeit mit der Treuhand begannen, mit Herrn Peter Moreth als Präsidenten, waren bestimmte Dinge bereits im Gange, das war auf der Messe schon ein bisschen angeschoben worden. Beispielsweise Fragen zu unserer Haltung: Wie würden wir uns zu Joint Venture verhalten? Wie sähe eine Beteiligung aus? usw. Aber unsere Regierungskraft reichte nicht mehr aus, um bis in alle Details die Entscheidungen so zu fällen, dass sie auch den Interessen der DDR-Bürgerinnen und -Bürgern entsprachen. Dort schwappte vieles um – und vieles war im Interesse der Bundesdeutschen. Die Allianz ist in meiner Erinnerung und Wertung dafür ein sehr gewichtiges Beispiel. Am 26. Juni 1990 wurde die Deutsche Versicherung AG gegründet, Basishebel war der Vorvertrag aus Ihrer Regierungsvorleistung. In der de Maizière-Regierung mit dem Finanzminister Romberg und Staatssekretär Siegert bestand die Meinung, dass keine Wettbewerbsverzerrung durch die Übernahme der Allianz Versicherung erfolgte. Trotzdem waren Mitarbeiter und Kunden verunsichert, das schilderten Sie bereits. Viele der über drei Millionen Kunden wollten sofort den verfügbaren Rückkaufswert der Lebensversicherung in D-Mark ausgezahlt bekommen. Wie verfolgten Sie diesen Prozess weiter? Sie waren nach den Wahlen Volkskammerabgeordneter in der Regierung de Maizière. Der Abschluss erfolgte Mitte 1990, es gab dazu kartell-rechtliche Bedenken. Später wurde Walter Siegert gerichtlich verfolgt. Aus Mangel an Beweisen kam es zur Einstellung des Verfahrens. Das war ein Schwachpunkt in der Tätigkeit der Fraktion der PDS in der Volkskammer, dass wir diese Vorgänge in den Ausschüssen nicht in Grundsatzdebatten in unsere Fraktion zurückgezogen hatten. Damit konnten viele dieser Probleme in der Volkskammer durch eine Mehrheit der Allianz eigentlich auch an uns vorbeigehen, ohne dass es zu großen Entscheidungen kam. Der zweite Schwachpunkt war, dass in der Volkskammer die Vielzahl der Oppositionsgruppen keine Gemeinsamkeit zeigten, um sich bei solchen Kernfragen der Wirtschaft derart entscheidend zu Wort zu melden, wie es notwendig gewesen wäre. Dabei meinen Sie im Speziellen die Zeit ab dem 18. März 1990? Ja. Walter Siegert stieg nach der deutschen Einheit aus der aktiven Politik aus, war noch bis Februar 1991 Berater im Wirtschaftsminisiterum und später Geschäftsführer für ein Bauunternehmen. Wie sehen Sie das Leben von Walter Siegert nach seinem Ausstieg? Könnten Sie eine Bewertung bzw. Beurteilung liefern? Siegert war bis zuletzt aktiv bei den Kombinatsdirektoren, dieses Forum ist Ihnen gut bekannt, weil Sie ebenfalls bei Katrin Rohnstock im Verlag zu Gast waren.
446 Genau dort war unser erstes Wiedersehen. Rohnstock ist ein Unternehmen, das Biografien schreibt und die Möglichkeit nutzt, diese zu drucken und zu publizieren. Frau Rohnstock hat Leute, die sich mit den Menschen, für die sie Biografien schrieben, unterhalten, und das ist ihr eigentliches Geschäft. Sie sprach mich an, ob ich nicht Persönlichkeiten auf diesem Gebiet kennen würde, wir tauschten uns dazu aus und trafen uns dort in dem Kreis. Schirmherr der Generaldirektoren ist u. a. Prof. Karl Döring. 3 Die Most-Biografie entstand auch über Katrin Rohnstock. In diesem Zusammenhang traf ich dort Walter wieder und unsere alte Bekanntschaft erneuerte sich. Wir tauschten uns beide zu Fragen aus, er sprach zur Debatte, ich ebenfalls. Ich nahm dort mindestens ein halbes Dutzend Mal teil und wir sahen uns immer wieder. Ich hatte stets das Gefühl, dass für Walter mit diesen Begegnungen ein weiteres Engagement im Kreis von Bekannten und Freunden verbunden war, stärker als bei mir, weil ich nicht im Kreis der Wirtschaftler tätig gewesen war. Ich war aber dort kein Isolierter, nahm allerdings in den letzten eineinhalb Jahren an solchen Begegnungen nicht mehr teil, weil es im Rahmen meines Engagements für die verschiedensten Tätigkeiten dafür dort keinen Raum gab. Kann man abschließend sagen, Sie pflegten und pflegen ein freundschaftliches Verhältnis zu Walter Siegert? Ja. Verehrter Dr. Hans Modrow, vielen Dank für Ihre Unterstützung zum Siegert-Projekt. Bitteschön. Sehr gerne.
Weitere Beteiligte sind u. a.: Klaus Blessing, Leiter der Abteilung Maschinenbau des ZK der SED sowie stellvertretender Minister für Schwerindustrie der DDR, und Hans-Joachim Lauck, Minister für Schwermaschinen- und Anlagenbau der DDR.
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447 Klaus Blessing „Ich lernte Walters Ausgeglichenheit kennen und als Kontrast zu meinen häufig bewusst provokanten Thesen auch zu schätzen.“
Abb. 58: Klaus Blessing bei seiner Buchpräsentation 2014 in Berlin.
Klaus Blessing wurde am 24. September 1936 in Liegnitz (Schlesien) geboren. Im Januar 1945 flüchtete er vor dem Anrücken der Roten Armee. Nach Zwischenunterkünften wohnte er ab Herbst 1945 in einem Dorf in Sachsen-Anhalt. Seit 1950 besuchte Blessing die Goethe-Oberschule in der Kreisstadt Köthen (Sachsen-Anhalt). Im Jahr 1958 legte er das Abitur ab und nahm anschließend das Studium der Wirtschaftswissenschaften an der Karl-Marx-Universität Leipzig auf, das er im Jahr 1958 als Diplomwirtschaftler mit der Fachrichtung Industrie (Metallurgie) abschloss. Betriebswirtschaftliche Arbeit im VEB Maxhütte Unterwellenborn und ab 1968 als Planungsleiter im VEB Bandstahlkombinat Eisenhüttenstadt schlossen sich an. Im Jahr 1970 wurde Blessing zum Leiter der Abteilung Planung und Ökonomie im Ministerium für Erzbergbau, Metallurgie und Kali, im Zeitraum von 1980 bis 1986 war er Staatssekretär dieses Ministeriums. Im Jahr 1981 erfolgte seine Promotion zum Dr. oec. an der Bergakademie Freiberg/Sachsen. Von 1986 bis 1989 war er als Abteilungsleiter für Maschinenbau und Metallurgie im ZK der SED tätig. 1989/90 fungierte er als Stellvertreter des Ministers für Schwerindustrie. Seit dem Jahr 1991 war Blessing angestellter Geschäftsführer in einer Brandschutzfirma, 1996 arbeitslos und ab 1997 Frührentner. Danach war Blessing als Autor mit gesellschaftskritischen Büchern sowie in Zeitungsartikeln präsent. 2005 erschien sein Erstlingswerk „Die Schulden des Westens“, danach u. a. „Joachim Gauck – der falsche Mann?“; „Die sozialistische Zukunft“; „Wer verkaufte die DDR?“ und „95 polemische Thesen gegen die herrschende Ordnung“. Beitrag von Blessing: 4 In der DDR war Walter Siegert als Staatsekretär im Finanzministerium für mich als Staatssekretär eines Industrieministeriums Gesprächs- und Verhandlungspartner bei FinanzAuf Nachfrage verfasste Klaus Blessing seine Erinnerungen an Walter Siegert schriftlich. Die Approbation zur Veröffentlichung erfolgte am 20.10.2020.
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448 problemen. Das war nicht sehr häufig der Fall. Ich schätzte Walter Siegert dabei als fairen, sachkundigen und uneitlen Partner. Das trifft auch für sein Auftreten in zentralen Gremien (insbesondere im Ministerrat) zu, wenn wir in Vertretung der Minister daran teilnahmen. Engere Beziehungen, auch persönlicher Art, gab es in dieser Zeit nicht. Nach der Wende gingen wir längere Zeit getrennte Wege und hatten wenig Kenntnis voneinander. Das änderte sich zunehmend, indem wir uns in politischen Veranstaltungen – auch und insbesondere bei meinen Buchlesungen – wieder begegneten. Dabei stellten wir weitgehend übereinstimmende Standpunkte bei unterschiedlichem politischem Temperament fest. Ich lernte Walters Ausgeglichenheit kennen und als Kontrast zu meinen häufig bewusst provokanten Thesen auch zu schätzen. Daraus entwickelte sich zunehmend eine politisch-fachliche Zusammenarbeit und persönlich freundschaftliche Beziehung, beides gefördert und unterstützt durch mehrere Zusammenkünfte und Diskussionsrunden mit Manfred Domagk und weiteren politischen Freunden. Die Folge war, dass beide als CoAutoren an meinem Buch „Wer verkaufte die DDR?“ mitwirkten. Walter Siegert hatte mir dafür wertvolle persönliche Dokumente für meine Recherchen zur Verfügung gestellt sowie mir geholfen, im Bundesarchiv entsprechendes Material ausfindig zu machen. Das provokante Buch hatte ich folglich vor Drucklegung mit ihm, Manfred Domagk und einigen weiteren politischen Freunden diskutiert, wobei nicht alle die Veröffentlichung für zweckmäßig erachtet haben. Auch Walter hatte Bedenken, stimmte aber zu und wurde nach Veröffentlichung letztlich von der Richtigkeit durch zustimmende Meinungsäußerungen aus seinem politischen Umfeld bestärkt. Die zunehmend vertrauensvolle Zusammenarbeit nutzte ich, um ihn als Mitautor für den „Anti-Schröder“-Artikel in der BZ zu gewinnen. 5 Dieser gewann durch seinen Namen – als ehemaliger Finanzminister der DDR – höhere Autorität. Bleibend für mich ist neben den bereits genannten Wesenszügen Walters Aufrichtigkeit und sein stetiges Bemühen um ausgleichende Meinungsbildung.
Berliner Zeitung, 10.9.2019, Klaus Blessing und Walter Siegert, Wie sich Richard Schröder arm rechnet. Zum Artikel https://www.berliner-zeitung.de/wirtschaft-verantwortung/gastbeitrag-zu-welt-artikel-wie-sichrichard-schroeder-arm-rechnet-li.12844 Eine Stellungnahme zum Artikel vom 10.9.2019 von Richard Schröder, Berliner Zeitung, 30.10.2019 https://www.berliner-zeitung.de/wirtschaft-verantwortung/kontroverse-zur-ddr-wirtschaftrichard-schroeder-findet-bei-klaus-blessing-und-walter-siegert-irrefuehrende-richtigkeitenli.48306.amp(letzte Zugriffe 20.10.2020).
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Christa Luft „Zusammengefasst steht für mich die Treuhand für die größte Vernichtung von Produktivvermögen in Friedenszeiten und das bei Duldung durch die Bundesregierung.“
Abb. 59: Porträt von Christa Luft
Christa Luft (geborene Hecht) wurde am 22. Februar 1938 in Krakow am See geboren. In der Zeit von 1952 bis 1964 war sie Mitglied der FDJ und seit dem Jahr 1958 Mitglied der SED. Sie hat das Abitur 1956 und das Studium an der Hochschule für Außenhandel bzw. HfÖ in der Zeit von 1956–1960 absolviert. Im Jahr 1968 erlangte sie den Titel Dr. rer. oec. habil. Ab dem Jahr 1971 war Luft ordentliche Professorin für sozialistische Außenwirtschaft. Von 1978 bis 1981 war Luft stellvertretende Direktorin des Internationalen Instituts für ökonomische Probleme des sozialistischen Weltsystems beim Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe in Moskau. In der Zeit von 1988 bis 1989 war Luft Rektorin der HfÖ. In der Zeit vom 18. November 1989 bis zum 18. März 1990 war sie eine der beiden stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrates sowie Ministerin für Wirtschaft. Bis zum Ende der Volkskammer war sie PDS-Abgeordnete. Danach in der Zeit von 1994 bis 2000 wirtschaftspolitische Sprecherin der PDS-Fraktion sowie bis 2002 Mitglied des Deutschen Bundestages für die PDS. Veröffentlichungen (Auswahl): Treuhandreport. Werden, Wachsen und Vergehen einer deutschen Behörde. Aufbau-Verlag, Berlin/ Weimar 1992; Die nächste Wende kommt bestimmt. Berlin 1994, Die Lust am Eigentum. Auf den Spuren der deutschen Treuhand. Orell Füssli, Zürich 1996; Abbruch oder Aufbruch? Warum der Osten unsere Chance ist. Aufbau-Taschenbuch-Verlag, Berlin 1998; Wendeland – Fakten und Legenden. Aufbau-Taschenbuch-Verlag, Berlin 2005; Wirtschaftliche Hintergründe – Fakten und Legenden. GNN-Verlag, Schkeuditz 2012.
450 Christa Luft – die Entstehung der Treuhandanstalt und was aus ihr wurde: 10 Thesen! 6 1. Fällt das Stichwort „Treuhand“, kommen viele Ostdeutsche bis heute sofort in Wallung. Mit dem Begriff verbinden sie eine massenhafte Abwicklung und Verscherbelung von DDR-Industrie-, Transport- und Bauunternehmen zumeist an westdeutsche „Investoren“, millionenfachen Arbeitsplatzverlust, das Entstehen einer kleinteiligen Wirtschaft, eine Marktumverteilung und Vermögensverschiebung zugunsten des Westens usw. Zusammengefasst steht für mich die Treuhand für die größte Vernichtung von Produktivvermögen in Friedenszeiten und das bei Duldung durch die Bundesregierung. Was in Jahrzehnten unter schwierigen inneren und äußeren Bedingungen in der DDR aufgebaut wurde, innerhalb von vier Jahren platt zu machen, ist eine „Leistung“, die ihresgleichen sucht und spricht von Arroganz der Macht. Die Folgen sind auch nach fast dreißig Jahren noch spürbar und zum Teil kaum reparabel. Wenn den Bürgern dann von Sachunkundigen oder Böswilligen entgegengehalten wird, die THA sei doch ein Geschöpf der SEDgeführten Modrow-Regierung, dann soll glauben gemacht werden, diese habe den Weg für den Ausverkauf des DDR-Volksvermögens gebahnt. Mit wachsendem Zeitabstand verblasst die Tatsache, dass es 1990 eine „Treuhand“ in zwei grundverschiedenen Ausrichtungen gab: Zum einen die am 1. März 1990 auf Beschluss der Modrow-Regierung gegründete – das war übrigens einer Koalitionsregierung, bestehend aus Vertretern von SED, CDU, LDPD, NDPD, Bauernpartei und ab Ende Januar 1990 auch aus acht Abgesandten von am Runden Tisch vertretenen neuen Parteien und Organisationen – und zum anderen die am 1.Juli 1990 nach Vorlage der de Maizière-Regierung von der Volkskammer als Gesetz beschlossene. Beide unterscheiden sich fundamental in ihrem Anliegen. Dazu komme ich noch. 2. Als die Modrow-Regierung am 17. November 1989 ihr Amt antrat, war eine der vordringlichsten Aufgaben, ein Wirtschaftsreformkonzept zu erarbeiten. Allzu lange waren drängende Probleme von der Stoph-Regierung verschleppt worden: die überzentralisierte, vorwiegend naturalwirtschaftliche Direktivplanung mit Hunderten von Kennziffern, Bilanzanteilen, Richtungs- und Umrechnungskoeffizienten usw., was Initiative lähmte, weiter die eingeschränkte Eigenverantwortung der Kombinate und Betriebe, ein starres Preissystem, das eher Verschwendung als Effizienz förderte, ein Leistungsprinzip, das den Namen nicht verdiente, die weitgehende Abschottung der meisten Industriebetriebe von den Außenmärkten, die Auslöschung eines Mittelstandes seit 1972 usw. Solchen Problemen wandte sich die Modrow-Regierung mit der Konzipierung eines Reformprogrammes sofort zu. Dieses zielte auf die Herausbildung einer sozialen und ökologisch orientierten Marktwirtschaft mit vielfältigen Eigentumsformen, darunter eines privaten Mittelstandes durch Einführung der Gewerbefreiheit sowie die Rückgabe der unter 6 Teilverwendung vom Beitrag Christa Luft, Die Treuhand – die größte Vernichtung von Produktivvermögen in Friedenszeiten, S. 16–21, in: Schicksal Treuhand. Treuhand Schicksale, Rosa Luxemburg-Stiftung, Berlin 2019. Dieser Beitrag wurde von Christa Luft am 7.10.2019 zur Veröffentlichung freigegeben.
451 Günter Mittag 1972 enteigneten privaten und halbstaatlichen Betriebe, falls die früheren Eigentümer oder deren Erben das wünschten. Erlaubt wurden auch Joint Ventures. Aus den Kombinaten sollten Bereiche ausgegliedert werden, die nicht zum Kerngeschäft gehörten, so Bau- und Transportabteilungen u. a. Eine Crash-Privatisierung der zentralgeleiteten volkseigenen Kombinate sah das Reformprogramm hingegen nicht vor. Daher enthielt es auch keine Institution wie eine THA. Eine Treuhand ist ein übliches juristisches Konstrukt, wenn es darum geht, staatliches Eigentum von Dritten verwalten zu lassen. In Großbritannien nannte es sich Schatzamt, in Österreich Bundesvermögensverwaltung. Laut unserem Programm sollte aber in Schlüsselbereichen wie Energiewirtschaft, Schwerindustrie und Verkehrswesen gesellschaftliches Eigentum die tragende Säule bleiben, ergänzt um genossenschaftliches, kommunales und privates Eigentum. An der Programmerarbeitung waren Wirtschaftspraktiker, -politiker und -wissenschaftler beteiligt. Eine Konferenz der Regierung mit Generaldirektoren fand Mitte Dezember 1989 statt. Entgegengenommen wurden deren Erfahrungen, Forderungen, Vorschläge, auch Kritiken. Vor allem ein rasches Tempo der Reformen wurde angemahnt. Am Runden Tisch, an dem zur damaligen Zeit Vertreter aller Parteien und gesellschaftlichen Organisationen saßen – er war sozusagen eine zweite Kammer – wurde das Programm wie auch in der Volkkammer Ende Januar 1989 vorgestellt und nach intensiver Beratung im Grundsatz gebilligt. 3. Die angedachten und zum Teil bereits in Umsetzung befindlichen Reformpläne der Modrow-Regierung wurden obsolet. Zum einen hatte der MP mit dem Runden Tisch die Übereinkunft getroffen, im Interesse der politischen Stabilität der DDR die Volkskammerwahlen vom 5. Mai auf den 18 März 1990 vorzuziehen. Dass danach die politische Konstellation der DDR anders aussehen würde, war abzusehen. Die Allianz für Deutschland, angeführt von der Ost-CDU, warb vehement für die rasche Vereinigung mit der BRD. Durchkreuzt wurden die Vorhaben der Modrow-Regierung zum anderen durch Bundeskanzler Kohls Ankündigung von Anfang Februar 1990, zeitnah die Mark der DDR durch die D-Mark als Zahlungsmittel abzulösen. Sein Argument: Anders ließe sich nach geöffneter Grenze die Abwanderung von DDR-Bürgern nicht stoppen und das westdeutsche Boot sei voll. Die Bevölkerungsmehrheit der DDR war begeistert und es war klar, dass das ein entscheidender Schritt zur baldigen Herstellung der deutschen Einheit sein würde. Schließlich ließ der Ablauf des offiziellen Besuchs der DDR-Regierung bei der Bundesregierung am 13. und 14. Februar 1990 in Bonn keinen Zweifel daran, dass es der Westseite nicht mehr um ein schrittweises Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten über eine Vertragsgemeinschaft und eine Konföderation ging. Nur ob Anschluss oder Beitritt der DDR zur BRD, darüber waren die Würfel noch nicht gefallen. Damit erhielt die Eigentumsfrage einen völlig neuen Rang. BGB und HGB kennen den Titel „Volkseigentum“ nicht und das Grundgesetz der BRD stellt zwar de jure auch Gemeineigentum unter Schutz, aber ein Konstrukt wie das „DDR-Volkseigentum“ war unbekannt. Und mit seinem Schutz war nicht zu rechnen. Die Bürgerrechtler forderten daher im Februar 1990
452 am Runden Tisch – unterstützt von der Ost-SPD – zur Entstaatlichung des Volkseigentums dessen kostenlose Übertragung an die Bevölkerung mittels Anteilsscheine. Ein Graf Mattuschka reiste durch die ostdeutschen Bezirke und warb mit Pathos dafür. Theoretisch war das eine Möglichkeit zur Entstaatlichung des Volkseigentums, praktisch gab es dazu angesichts der Zeit und anderen Umstände keine Chance. 4. So kam es am 1. März 1990 per Beschluss der Modrow-Regierung zur Gründung einer Treuhandanstalt zur „Bewahrung des Volkseigentums im Interesse der Allgemeinheit“. Sie übernahm die Treuhandschaft über das Volkseigentum, das sich in Fondsinhaberschaft von Betrieben, Kombinaten und Einrichtungen befand. In unserem Falle war es durch die genannten Umstände eine Sturzgeburt. Es musste darum gehen, das Volksvermögen zusammenzuhalten und ersten bekannt gewordenen Selbstbedienungsaktivitäten einen Riegel vorzuschieben. Mit einer Verordnung vom 15. März 1990 erfolgten dann die Entflechtung der VEK und VEB und deren Umwandlung in Aktiengesellschaften bzw. GmbHs, also in Kapitalgesellschaften. Das entsprach einer formalen Privatisierung mit dem Ziel, dass diese sich am Kapitalmarkt mit Geld versorgen konnten. Der Begriff „Treuhand“ ging auf das Insistieren von Wolfgang Ullmann (Demokratie Jetzt; DJ) zurück. 5. Dann kamen die Wahlen am 18. März 1990, die von der Allianz für Deutschland gewonnen wurden. Die strebte die schnelle staatliche Einheit an und die de Maizière-Regierung begann sofort mit Hilfe Bonner Finanzbeamter, die vorgefundene Treuhand in eine Agentur zur raschen Privatisierung des Volkseigentums umzufunktionieren. Solcher Crashkurs stieß selbst bei namhaften westdeutschen Ökonomen auf Skepsis und Kritik. Doch die Übertragung der DM auf Ostdeutschland, also die Währungsunion, und die rasche Privatisierung galten für die Bundesregierung als Junktim. Die Privatisierungsagentur nahm am 1. Juli 1990 parallel mit der DM-Einführung ihre Arbeit auf unter dem ersten Präsidenten Reiner Maria Gohlke, einem früheren Bahnmanager. Unterstellt wurde sie dem Finanz- und nicht dem Wirtschaftsministerium. Das schloss strukturpolitisches Engagement aus, etwa Modernisierung zukunftsfähiger Unternehmen, Erhalt von Absatzmärkten für ostdeutsche Unternehmen, Vermeidung von Massenarbeitslosigkeit ... Der damals für die Treuhand zuständige Bonner Finanzstaatssekretär Horst Köhler (der spätere Bundespräsident) spitzte es am 21.Januar 1991 bei einer Sitzung des TH-Präsidialausschusses in Köln so zu: In der DDR-Industrie muss auch mal gestorben werden, es muss Blut fließen. Er nannte die TH-Arbeit eine „politische Veranstaltung“. Ähnlich Thilo Sarrazin bei der Vorstellung eines Treuhandbuches in Berlin. 6. Gohlke warf nach 33 Tagen wegen Meinungsverschiedenheiten mit der Bundesregierung das Handtuch. In einem späteren Treuhanduntersuchungsausschuss des Bundestages sagte er auf die Frage des Abgeordneten Schily, was aus der BRD-Wirtschaft geworden wäre, hätte man die DM über Nacht um 400 % aufgewertet, wie das nach der Währungsunion mit der Währung der DDR passiert war: Dann wäre sie in die Knie gegangen.
453 Auffanggen lassen sich dadurch bedingte Absatzrückgänge zu 4 bis 5 % durch Steigerung der Arbeitsproduktivität und durch Kostensenkung, aber nicht 400 %. Der zweite Treuhand-Präsident war der sanierungserfahrene Karsten Detlef Rohwedder. Der schätzte bei einem Vortrag in Wien den Marktwert des unter seinen Fittichen befindlichen „Salats“ auf etwa 600 Mrd. D-Mark. Ihm schwebte eine behutsame Privatisierung vor, die durchaus etliche Jahre dauern könne. In Gesprächen mit Walter Romberg, Finanzminister in der de Maizière-Regierung, schloss er einen Zehnjahreszeitraum im Falle systemrelevanter Unternehmen nicht aus. Er knüpfte da an Karl August Fritz Schiller an, der bei einem Besuch bei Hans Modrow und mir im Januar 1990 eine Skizze übergeben hatte zum Thema: „Wirtschaftsgemeinschaft DDR-BRD“ (S. 27, TH-Buch). 7 Nach Rohwedders Ermordung nahm die in Niedersachsen als Finanzministerin abgewählte Birgit Breuel den Chefposten ein. Ihr Motto: „Erst privatisieren, dann sanieren“. Sie gab westdeutschen Interessenten, darunter Glücksrittern und Spekulanten, oft ohne Vorlage von Referenzen den Vortritt beim Zugriff auf Vermögenswerte. Am 30. Dezember 1994, dem Ende ihrer Amtszeit, befanden sich davon – gemessen an der Beschäftigtenzahl und der Höhe der Investitionszusagen 5 % in ostdeutschen, 10 % in ausländischen und 85 % in Händen westdeutscher „Investoren“. Letztere entledigten sich auf diese Weise billig einer Konkurrenz und übernahmen deren Märkte und das, was diese an Forschungsleistungen auf den Reißbrettern hatten. Statt zunächst erwarteter Privatisierungserlöse hinterließ die Agentur 256 Mrd. D-Mark Schulden. Damit hatte sich eine ins Auge gefasste Entschädigung der Ex-DDR-Bürger für die mit der Währungsunion erlittenen Verluste beim Geldumtausch erledigt. Zur Hinterlassenschaft gehörten auch über zwei Millionen offizielle Arbeitslose und eine deindustrialisierte kleinteilige Wirtschaftsstruktur. Es fehlten Großbetriebe und bis heute bis auf die der Deutschen Bahn Firmenzentralen. Das ging zu Lasten von Forschung/Entwicklung sowie Export. 7. Die Treuhand steht für die größte Vernichtung von Produktivvermögen in Friedenszeiten. Ihren Hauptauftrag, „die Wettbewerbsfähigkeit möglichst vieler Unternehmen herzustellen und Arbeitsplätze zu sichern“, erfüllte sie nicht. Auch duldete sie Subventionsbetrug und andere kriminelle Machenschaften. Nicht vergessen werden darf aber, dass sie im Auftrage der Bundesregierung agierte. Auf deren Konto gehen verweigerte Übergangs- und Anpassungsfristen für Ostunternehmen, Druck aufs Privatisierungstempo, Bonuszahlungen für schleunigen Verkauf, Haftungsfreistellung des Managements selbst für grobe Fehler, die Altschuldenregelung, das investitionsbremsende Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung“ usw.
7 Interview mit Bundesfinanzminister Karl Schiller (1971–1972/SPD), Der Spiegel, 14.1.1990, Ausgabe 3/1990, Ein Aufschwung ist möglich. Siehe https://www.spiegel.de/politik/ein-aufschwungist-moeglich-a-ac016ce6-0002-0001-0000-000013497816?context=issue (letzter Zugriff 1.3.2021).
454 8. Wären andere Lösungen der Entstaatlichung des Volkseigentums möglich gewesen? JA! 9. Mehrjähriges Fortführen einiger traditioneller, zumeist eine ganze Region prägender Großunternehmen im Bundes- oder Landeseigentum (Umformtechnik Erfurt, Waggonbau Ammendorf, Chemieanlagenbau Grimma, TAKRAF VEB Schwermaschinenbau Leipzig oder Landmaschinenbau Schönebeck). Das hätte konsequente Sanierung erfordert und hätte die jeweiligen Regierungen stärker zur Rück- und Neugewinnung von Märkten im In- und Ausland in die Pflicht genommen, hätte Arbeitsplätze erhalten und viel Arbeitslosengeld und Sozialhilfe gespart. Die Jenoptik AG kann als Beispiel dafür gelten. Hervorgegangen aus dem Kombinat Carl-Zeiss Jena befand es sich nach 1990 zunächst 100-prozentig im Eigentum des Freistaates Thüringen. Seit 1998 ist sie an der Frankfurter Börse gelistet. Und anno 2002 entfielen noch 18,92 % der Anteilscheine auf den Freistaat. Jenoptik hat die marktwirtschaftliche Umstrukturierung und Neuorientierung nicht ohne Aderlass, insgesamt aber besser überstanden als andere Großunternehmen. Sie ist heute ein hochtechnologischer Leuchtturm. 10. Minderheitsbeteiligungen privater Investoren an den Geschäftsanteilen der TH, Verpachtung von Gemeineigentum an Existenzgründer, Mitarbeiterkapitalbeteiligung zu Vorzugskonditionen, Vergenossenschaftlichung waren weitere Stichpunkte, ebenso zeitweilige Fortsetzung von Kopplungsgeschäften mit Russland, also Lieferung von Maschinen gegen Erdöl. Was tun? 1.
Im Interesse der historischen Wahrheit muss unterschieden werden zwischen dem, was das Erbe der DDR ist, deren Wirtschaft in Teilen gemessen an der Wettbewerbsfähigkeit der westdeutschen Wirtschaft hinterherhinkte, und dem, was auf das Konto falscher Weichenstellungen der Bundesregierung geht und auf das Agieren der Treuhand unter deren Augen. Das ist für die Lohn- und Rentenprobleme und ihre Lösung unabdingbar. Dazu ist die vollständige und unverzügliche Öffnung der zumeist für 30 Jahre gesperrten TH-Akten und nicht erst nach und nach ab 2020 nötig.
2.
Unabgoltenes aus dem Treuhandgesetz einfordern, darunter: Herstellung der Wettbewerbsfähigkeit der ostdeutschen Wirtschaft und die in Aussichtstellung, nach Strukturanpassung der ostdeutschen Wirtschaft, die Möglichkeit des Ausgleichs von Verlusten beim Umtausch der Sparbestände zu prüfen.
3.
Bei allen aktuellen Problemen: Bei fortlaufenden Sanktionen gegen Russland, Folgen von Brexit und Trumps Zollerhöhungsdrohungen, Umstrukturierungen in der Industrie sollte stark darauf gedrungen werden, dass die ostdeutsche Wirtschaft einen Schutz verdient.
455 VW ordnet z. B. für ein Werk in Zwickau 15 Wochen Kurzarbeit an. Das Stammwerk in Wolfsburg wird verschont. Wenn der im Gespräch befindliche Umbau zu einer Fabrik für Elektroautos in Zwickau nicht funktioniert, gibt es eine Katastrophe für 8000 Beschäftigte und ihre Familien. Christa Luft im September 2020 – Widmung für Walter Siegert 8 Walter Siegert und mich trennen altersmäßig knappe 10 Jahre, aber in unseren Biografien gibt es zahlreiche Parallelen: So Studium, wissenschaftliche Assistenz und Promotion an der Berliner Hochschule für Ökonomie, Mitarbeit in Arbeitsgruppen zur Konzipierung eines Neuen Ökonomischen Systems (NÖS) der DDR in der Mitte der 1960er Jahre, gemeinsame Bekannte, die sich mit Leib und Seele der Reformierung der DDR-Wirtschaft verschrieben hatten, wie z. B. Prof. Dr. Herbert Wolf, mein späterer geschätzter Hochschulkollege. Persönlich kennenlernen konnten wir uns in der Zeit der Modrow-Regierung, die vom 17. November 1989 bis zu den Wahlen am 18. März 1990 und amtierend bis Anfang April 1990 tätig war. Eine ihrer Hauptaufgaben war die Vorbereitung einer überfälligen Wirtschaftsreform. Diese Aufgabe war im Kabinett mir übertragen worden. Zu den Schwerpunkten gehörten die Stärkung der Eigenverantwortung der Kombinate und Betriebe, die Beseitigung der sie knebelnden, Initiative bremsenden Bedingungen, darunter die hohe Nettogewinnabführung, die Kräftigung der Eigenerwirtschaftung der Mittel für die Reproduktion, eine geeignete Besteuerung usw. Walter Siegert arbeitete als Staatssekretär im Ministerium der Finanzen und zeitweilig als Minister für Finanzen in der Reformkommission mit und brachte seine reichen Erfahrungen und Vorschläge konstruktiv ein. Die Zusammenarbeit mit ihm gestaltete sich sachlich, zuverlässig und vertrauenswürdig. Walter beschreibt sich selber als „umgänglichen Typ“ ohne kommandierende Gelüste. Poltern, Wutausbrüche lagen ihm nicht. Sein Credo war: Kollegialität, Überzeugen und Vorbild sein. In diesen Eigenschaften waren wir uns – wie ich fand – sehr ähnlich. Nachdem Bundeskanzler Kohl Anfang Februar 1990 der DDR vor laufender Kamera die Einführung der D-Mark als offizielles Zahlungsmittel und die Ablösung der Mark/DDR vorgeschlagen hatte, wurde eine bilaterale Kommission zur Vorbereitung der Währungsunion gebildet. Deren kompetentes Mitglied wurde Walter Siegert. In dieser Zeit lernten er und Walter Romberg, SPD-Mitglied am Runden Tisch und seit Ende Januar 1990 Minister in der Modrow-Regierung, sich persönlich kennen und schätzen. Romberg war von Hans Modrow mit der Leitung der DDR-Verhandlungsgruppe zur Vorbereitung der Währungsunion beauftragt worden. Nach der Volkskammerwahl am 18. März 1990, die die von der Ost-CDU dominierte Allianz für Deutschland gewann, übernahm Walter Romberg in der de Maizière-Regierung das Amt des Finanzministers. Seine Bedingung war: Walter Siegert muss mit seiner DDRFinanz-Kompetenz und seiner reichen praktischen Erfahrung bei ihm FinanzstaatsDie Widmung wurde am 29.9.2020 von Christa Luft zugeleitet und zur Veröffentlichung freigegeben.
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456 sekretär werden. Er wurde es. Die beiden verstanden sich auf Anhieb gut und hatten ein vertrauensvolles Verhältnis. Das schloss ein ebensolches Verhältnis zu zwei ausgewiesenen westdeutschen Finanzfachleuten ein, die als Berater zur Unterstützung in das Ministerium delegiert worden waren. Beide haben inzwischen Zeitzeugen-Berichte geschrieben und veröffentlicht. Es handelt sich um Dr. Otto-Erich Geske 9 und Dr. Jürgen Brockhausen. 10 Mich hat Rombergs Witwe Renate auf diese Veröffentlichungen aufmerksam gemacht. Beide Verfasser berichten übereinstimmend, dass der Minister und sein Staatssekretär verlässlich, uneigennützig zusammenarbeiteten und in keinerlei damals gesponnene Intrigen verwickelt waren, die schließlich zum Rücktritt Rombergs führten. Mit der deutschen Einheit endete Walter Siegerts Zeit in der Politik. Seitdem trafen wir uns häufig im Zeitzeugen-Erzählsalon von Frau Rohnstock in Berlin, saßen dort mehrfach zusammen auf Podien und tauschten uns auch über aktuelle Geschehnisse aus. Ein gemeinsames Anliegen ist leider unerfüllt geblieben. Wir wollten dreißig Jahre nach dem Ende der ersten Nach-Wende-Regierung im Frühjahr 2020 noch einmal eine lockere Zusammenkunft damaliger Beteiligter organisieren, so sie denn interessiert wären. Ministerpräsident Hans Modrow stand dem Projekt aufgeschlossen gegenüber. Dann aber kam die traurige Nachricht von Walters plötzlichem Ableben. Sein herzlicher, optimistischer, aufgeräumter Dank für meine Glückwünsche zu seinem 90. Geburtstag und seine freudige Erwartung weiterer baldiger Begegnungen hatten einen kurz bevorstehenden Abschied nicht ahnen lassen. Ich werde Walter Siegert als ehrlichen, loyalen, zupackenden, freundlichen, positiv denkenden Menschen in guter Erinnerung behalten und ihn als Gesprächspartner vermissen, wenn es um die Potenziale und Errungenschaften der DDR-Wirtschaft geht, aber auch um deren Schwächen und Defizite.
Otto-Erich Geske (1931–2020) war u. a. Berater des DDR-Finanzministers Walter Romberg in OstBerlin, insbesondere für die Vorbereitung des Einigungsvertrages und des Aufbaus und der Finanzierung der neuen Länder und ihrer Gemeinden. In der Zeit von 1991 bis 1994 war Geske Staatssekretär im Hessischen Finanzministerium. 10 Otto-Erich Geske, Der Prozess der deutschen Wiedervereinigung. Zur Entwicklung der öffentlichen Haushalte in der DDR 1990, Eigenverlag, Bonn 2018. Ein Buchexemplar liegt Dürkop vor. 9
457 3. Regierung de Maizière (12. April – 2. Oktober 1990) Lothar de Maizière „Walter Siegert war also auch ein Mann, für den ich jederzeit meine Hand ins Feuer gelegt hätte.“
Abb. 60: Lothar de Maizière im Dialog
Lothar de Maizière wurde am 2. März 1940 in Nordhausen geboren. Abitur 1958, von 1958 bis 1962 Studium des Faches Viola an der Musikhochschule „Hanns Eisler“ in OstBerlin und von 1962 bis 1975 Orchestermusiker. In der Zeit von 1969 bis 1975 studierte er im Fernstudium Rechtswissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 1976 war er als Rechtsanwalt tätig, Aufnahme in das Kollegium der Rechtsanwälte und ab 1987 war er stellvertretender Vorsitzender des Kollegiums der Rechtsanwälte in Berlin. Lothar de Maizière war seit 1956 Mitglied der Ost-CDU. In der Zeit von 1986 bis 1990 war er Vize-Präses der Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR. Am 10. November 1989 wurde er Vorsitzender der Ost-CDU. Am 18. November 1989 trat er als stellvertretender Vorsitzender des Ministerrates und als Minister für Kirchenfragen der DDR in die Modrow-Regierung ein. Von März bis Oktober 1990 war Lothar de Maizière Mitglied der Volkskammer der DDR. Am 12. April 1990 wurde er zum Ministerpräsidenten der DDR gewählt. Am 19. April 1990 gab er seine erste Regierungserklärung ab. 11 Mitte August 1990 wurde er zusätzlich Außenminister der DDR und unterzeichnete die Zwei-plus-Vier Verträge. Ab dem 3. Oktober 1990 wurde de Maizière Bundesminister für besondere Aufgaben. Am 19. Dezember 1990 trat er als Bundesminister zurück. Ab Oktober war de Maizière auch stellvertretender Bundesvorsitzender der CDU sowie ab November 1990 auch Landesvorsitzender der CDU Brandenburg. Am 6. September 1991 gab er den stellvertretenden CDU-Vorsitz, den Landesvorsitz und andere Ehrenämter sowie sein Bundestagsmandat zurück. Am 15. Oktober 1991 schied er aus dem Deutschen Bundestag aus. De Maizière war mit Verdächtigungen konfrontiert worden, für das Ministerium der Staatssicherheit als „IM Czerny“ tätig gewesen zu sein. Seit 1991 aktiver Siehe https://www.kas.de/de/statische-inhalte-detail/-/content/regierungserklaerung-des-ministerpraesidenten-lothar-de-maiziere-abgegeben-vor-der-volkskammer-der-ddr-am-19.-april1990 (letzter Zugriff 3.5.2020).
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458 Rechtsanwalt in Berlin. In der Zeit von 2005 bis 2015 war er Vorsitzender des deutschen Lenkungsausschusses des Petersburger Dialogs. Lothar de Maizière ist Mitgründer und Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft e.V. und Vorsitzender der privaten Stiftung Denkmalschutz Berlin. Auszeichnungen u. a.: De Maizière hat eine Ehrenprofessur der berühmten „Gnesin-Musikakademie“ sowie die Ehrendoktorwürde der Universitäten Seoul (Korea) und Weliko Tarnovo (Bulgarien). Im Jahr 2010 erhielt de Maizière den höchsten zivilen Orden der russischen Föderation für ausländische Staatsbürger für Verdienste um die Wiedervereinigung Deutschlands und das Zusammenwachsen der Rechtssysteme/Anwaltschaften in Europa. Veröffentlichungen (Auswahl): Lothar de Maizière, Ich will, dass meine Kinder nicht mehr lügen müssen. Meine Geschichte der deutschen Einheit, Freiburg/Breisgau 2010; Andreas Schumann, Familie de Maizière. Eine deutsche Geschichte, Zürich 2014; Martin Sabrow (Hrsg.), Die schwierige Einheit (Helmstedter Colloquien Heft 18), Berlin 2016, S. 155 ff.; Christian Booß, Im goldenen Käfig. Zwischen SED, Staatssicherheit, Justizministerium und Mandant – die DDR-Anwälte im politischen Prozess, Göttingen 2017; 30 Jahre deutsche Einheit. Wir sind dabei gewesen, Reinbek/Hamburg 2019. Michael Gehler und Oliver Dürkop (Hrsg.), Deutsche Einigung, Reinbek/Hamburg 2021. Der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier würdigte am 21. September 2020 Lother de Maizières Verdienste zum 30. Tag der deutschen Einheit sowie nachträglich zum 80. Geburtstag: „Sie waren nicht nur dabei, Sie haben das alles mit ermöglicht. Dafür können die Menschen im wiedervereinigten Deutschland Ihnen gar nicht genug dankbar sein.“ 12 Wann und wie lernten Sie Walter Siegert kennen? 13 Walter Siegert lernte ich in der Modrow-Zeit kennen. In der Modrow-Zeit war er unter der Finanzministerin Uta Nickel Staatssekretär. Sie wurde dem Hans Modrow – so glaube ich – ein bisschen von der Leipziger Schiene aufgedrückt. Aber Nickel war schlau genug, den Siegert zum Staatssekretär zu machen. Der Siegert war schon vor Modrows-Zeiten irgendwie in Ungnade gefallen, weil er den Haushaltsentwurf gewissenhafter aufstellte, als denen das Recht war. Das war bereits im Jahr 1987. Der war nicht gedeckt, wo also viel mehr Ausgaben eingestellt als Einnahmen zu erwarten waren. Dann kriegte er den Befehl, er sollte einen gedeckten Haushalt vorlegen, wobei er sagte, das geht nicht, weil die objektive Situation keinen gedeckten Haushalt hergibt. Dann wurde er damals abgelöst, weil man über Jahre hinweg immer mehr Einnahmen behauptet hat, die nicht reinkamen. Als er bemerkte, dass man die Bilanzen schiebt, verweigerte er sich, dass es mit ihm nicht zu machen ist. Siegert merkte, dass die Führung den Reformwillen von Gorbatschow nicht aufnahm. Da gab es in der Finanzverwaltung einige SED-Leute, die nicht mehr mitspielen wollten und https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2020/09/200921-Ehrenessen-de-Maiziere.html (letzter Zugriff 20.10.2020). 13 Das Interview mit Lothar de Maizière wurde am 16.1.2020 in seiner Anwaltskanzlei in Berlin geführt. Anwesend war auch Michael Gehler. 12
459 dazu gehörte er auch. Aber er war eben der eigentliche Fachmann für Haushaltsfragen. Siegert war Staatsekretär unter Ernst Höfner. Dieser wurde dann im November 1989 durch Uta Nickel abgelöst. Sie wurde dann im Januar 1990 gestürzt, weil sie anfing, sich zu bereichern, was letztendlich totgeschwiegen wurde. Sie hatte versucht, in der Leipziger Gegend Immobilien an sich zu ziehen, zu entwickeln und zu privatisieren. Was also so nicht ging. Insofern wurde dann Siegert als geschäftsführender Finanzminister hochgezogen. Ich erinnere mich an diese Zeit, weil mir immer klar war, dass er der Einzige war, der dort wirklich fachlich auf dem Höchststand agierte. Das hat mir auch der damalige Staatssekretär und spätere Bundespräsident Horst Köhler bestätigt, dass Siegert derjenige war, den man als Fachmann ansprechen konnte. Ich habe Siegert noch immer zu irgendwelchen Erinnerungsgeschichten eingeladen. Er war für mich der Mann in der Delegation, die auch die Währungsunion und später den Einigungsvertrag verhandelte, weil Walter Romberg sich zwei Berater aus NRW holte, die ihm nach West-Interessen und nicht im DDR-Sinne berieten. Das führte dazu, dass Siegert zu mir kam, er möchte abberufen werden, weil sein Minister Romberg ihn zum Nachteil der DDR zu handeln gezwungen habe, was Siegert überhaupt nicht wollte. Ich hatte dem Romberg gesagt: „Wenn Du Finanzminister wirst, dann nur mit dem Siegert als Staatssekretär!“, weil ich wusste, dass Siegert der fähige Mann war, aber er war ehemaliges SED-Mitglied und wir standen in den Koalitionsverhandlungen mit der SPD. Es wäre nicht möglich gewesen, ein SED-Mitglied in die Regierung aufzunehmen. Deswegen wurde er auch nicht Finanzminister, sondern Staatssekretär, aber Staatssekretär mit so vielen Befugnissen, dass er eigentlich fast wie ein Minister agieren konnte. Er ist dann aus der SED – Anfang Dezember 1989 – ausgeschieden. Er war aber eben für das Mitverhandeln in den Koalitionsverhandlungen eben ein alter SED-Kader. Das wird man ja auch nicht los. Ein Stempel, sozusagen ...? Ja! Haben Sie Siegert als SED-Ideologe wahrgenommen? Nein! Er war – wie so viele – in der Modrow-Zeit und auch in der Nachfolgezeit im Apparat einfach ein Berater wie viele, die das Fach beherrschten und ihren Job erledigten, und als sie ihr Parteibuch nicht mehr brauchten, haben sie es eben weggeschmissen! Wer in der DDR was werden wollte, trat eben in die SED ein und wer in Bayern etwas werden wollte, trat eben in die CSU ein. Also, so war es nun einmal. Bei der Abwicklung der Staatlichen Versicherung der DDR gab es kritische Stimmen. Der Verkauf erfolgte nicht in einem öffentlichen Ausschreibungswettbewerb, den es in der DDR auch nicht gab, sondern der Nachfolger stand bereits sehr früh fest. Welche Erinnerungen haben Sie an diesen Prozess?
460 Wir haben mit denen verhandelt, die also die vernünftigsten Bedingungen boten. Mit der Allianz Versicherung AG waren die Verhandlungen bereits schon ziemlich weit fortgeschritten. Dann kam ein Vorschlag von Otto Graf von Lambsdorff, mit weiteren Versicherungen zu verhandeln. Ich fragte nach, worin der konkrete Vorteil bestehen sollte, es würden doch alle das gleiche anbieten wie die Allianz. Ich sagte, wir brauchen nicht die Pferde zu wechseln, dann können wir auch den Partner nehmen, mit dem wir ein halbes Jahr verhandelt haben. Abgesehen davon, dass die Allianz kein gutes Geschäft damit gemacht hat, weil sie nämlich dachte, die ganzen Büros und Grundstücke gehörten zum Firmenvermögen, was aber nicht der Fall war. Die volkseigenen Grundstücke standen quasi in Rechtsträgerschaft der Staatlichen Versicherung der DDR. Eine weitere Problematik war, dass die Allianz mit der Übernahme der Altverträge beispielsweise auch Schäden durch Hochwasser garantierte, was niemand ihnen in Flussnähe versichern würde. Dann kam im Jahr 2002 das Jahrhunderthochwasser … Ja. Die Staatliche Versicherung war da insofern anders, weil letztendlich es ein einheitliches Volkseigentum war und wenn der Schaden eintrat, muss es entweder aus dem Staatshaushalt oder von der Versicherung repariert und gezahlt werden. Es geht immer um die Befähigung zur Weiterarbeit des Betriebes. Aber sie haben dann auch die Kommunalversicherung nicht übernommen. Wir haben noch eine eigene Kommunalversicherung auf Gegenseitigkeit gegründet, weil die Allianz nicht bereit war, die Kommunalpflicht zu übernehmen. In der DDR gab es eine Anordnung über die Versicherung der staatlichen Organe und Einrichtungen über die Schäden, die durch sie verursacht werden. Das hat die Allianz nicht übernommen. Da wurde ein anderer Weg gefunden. War die Allianz Versicherungs AG Ihr Wunschpartner? Wunschpartner kann man nicht sagen. Mir war wichtig, dass bis zum Eintritt der Währungsunion das Problem Versicherung gelöst war, weil die Staatliche Versicherung der DDR-Lebensversicherungen mit einem Kapitalstock von 18 Milliarden Mark hatte. Wenn die Leute alle am nächsten Tag, am 2. Juli 1990, ihre Lebensversicherung gekündigt hätten, wäre die Staatliche Versicherung nicht in der Lage gewesen, das finanziell zu bedienen. Zumal die Staatliche Versicherung nicht eine Versicherung im westlichen Sinne war, dass sie Kapital, Aktien und Papiere besaß, sondern sie wurde wie eine Haushaltsorganisation geführt. Alles, was sie einnahm, ging an den Staatshaushalt und das, was sie zahlen musste, kriegte sie aus dem Staatshaushalt. Das heißt, wir hätten sie liquid halten müssen, um die Forderungen der Lebensversicherung der Leute abzudecken, was also garantiert nicht darstellbar gewesen wäre. Mir war wichtig, dass zum 1. Juli 1990 die Staatliche Versicherung mit ihren Verpflichtungen aus den Lebensversicherungen nicht mehr den Haushalt belastete. Das hat auch Walter gewusst und hat auch dementsprechend gehandelt.
461 Walter Siegert wurde allerdings verdächtigt! Das Problem war, dass man nach der Wiedervereinigung gegen ihn ermittelte, weil man sagte, er hätte veruntreut. Das war ein völliger Blödsinn! Zur leitenden Staatsanwältin sagte ich bzw. ich verlangte sogar von ihr, dass sie mich als erstes aufnimmt, dass sie mich anhört und mich danach befragt, ob ich etwas über Untreue wüsste. Während meiner Regierungszeit hätte ich doch meinen Amtseid verletzt, denn ich hätte tätig werden müssen, wenn ich etwas geahnt hätte, dass Walter Siegert versuchte, sich zu bereichern. Sie verweigerte sich, das aufzunehmen. Dann diktierte ich das selber ins Protokoll. Ich war als Zeuge geladen. Im Grunde wollte man von mir wissen, ob ich etwas darüber wüsste, dass Walter Siegert Untreue begangen hätte oder eben nicht. Ich glaube, das Verfahren wurde später eingestellt. Diese Versicherungsgeschichte hat Walter weitgehend eigenverantwortlich erledigt. Es wäre besser gewesen, wenn er unter einem „VierAugen-Prinzip“ gearbeitet hätte, dann hätte man später nicht solche blödsinnigen Verdächtigungen gegen ihn loslassen können. Also meine Angst war, dass wir die Lebensversicherungen hätten ausbezahlen müssen, was über den ganzen Verhandlungsphasen schwebte. Zumal die Leute das Geld haben wollten, um sich dann endlich ein West-Auto zu kaufen. Die DDR hatte jährlich rund 80 000 Fahrzeuge zugelassen, beispielsweise PKW, LKW und auch Busse. Allein in der Zeit von der Währungsunion (1. Juli) bis zur Wiedervereinigung (3. Oktober) wurden 450 000 Autos in der DDR zugelassen. Die Leute haben also wie die Verrückten die alten Schrottautos aus dem Westen gekauft bzw. den gesamten Gebrauchtwagenmarkt leer gekauft. Welche Erinnerung haben Sie bezüglich kartellrechtlicher Bedenken eines Beteiligungsmodell Allianz-Treuhand sowie auch Siegerts-Rolle? Ich wollte schon, dass Siegert in der ganzen Geschichte drinnen bleibt. Es gab keinen anderen, der so einen Durchblick hatte wie er. Letztendlich haben auch die westlichen Verhandlungspartner alle gewusst, dass Siegert der Einzige ist, der so durchsieht, und er hat im Grunde genommen auch mir zum Teil berichtet, obwohl das eigentlich Rombergs Aufgabe, sein direkter Ansprechpartner, gewesen wäre. Aber Romberg war eben – leider Gottes – als Finanzminister ungeeignet. Er war von der SPD benannt worden und hatte von Steuern keine Ahnung. Das war auch mein Krach mit ihm nachher beim Einigungsvertrag, weswegen ich ihn entlassen habe. Genau. Die SPD schied im August 1990 aus dem gemeinsamen Kabinett von CDU/SPD aus. Bitte schildern Sie uns diesen Prozess, wobei Sie freundlicherweise auf die Rolle von Siegert eingehen. Konkreter: Romberg wollte alle Steuereinnahmen, die auf dem Boden der ehemaligen DDR bezogen werden, behalten und dafür auf Zuwendung aus dem Westen, aus dem Bundeshaushalt verzichten. Das wäre eine Frage der Würde. Ich habe damals zu Walter Romberg gesagt: „100 % von nichts sind immer noch nichts! Du musst sehen, dass Du von den Verbrauchssteuern wie Tabaksteuer, Branntweinsteuer, Mineralölsteuer usw.
462 einen großen Batzen bekommst. Denn Ertragssteuern und Lohnsteuer werden insoweit kaum erzielt, weil die Betriebe einen zu geringen Gewinn erwirtschaften.“ Im Grunde genommen ist die SPD ausgeschieden, weil ich den Romberg abberufen habe, weil er beim Einigungsvertrag gegen die Interessen der ostdeutschen Länder verhandeln wollte und ich ihm gesagt habe, er muss so verhandeln, wie ich es will und wie Siegert das machen würde. Siegert war zu mir gekommen und hatte mich eben gebeten, ihn abzurufen, sein Minister würde ihn zwingen zu verhandeln beim Einheitsvertrag gegen die Interessen der DDR. Das machte er nicht mit. Er wäre jahrelang treu gewesen und habe mit Überzeugung gehandelt. Werner Skowron (CDU) war ab 15. August 1990 bis zum Tag der deutschen Einheit amtierender Minister der Finanzen und Preise in der DDR. Warum Skowron? Werner Skowron wurde dann amtierender Minister für die Restzeit. Er war CDU-Mitglied und Schatzmeister der ostdeutschen CDU, also sehr dicht bei mir angebunden und ich wollte auf gar keinen Fall, dass Walter Siegert in eine öffentliche Diskussion reingerät, wieso de Maizière noch einen ehemaligen SED-Kader bestimmt. Ich wollte Siegert für diese wichtige Aufgabe behalten. Man konnte damals Leute in der zweiten Reihe besser schützen als die, die in der ersten Reihe stehen zu haben. Insofern habe ich ihn ganz bewusst dort auch belassen. Danach wurde Siegert – nach dem Tag der dt. Einheit – eine Weile länger im Finanzministerium bis Februar 1991 als Berater behalten. Dort sollte er ihnen die Unterlagen des DDR-Ministeriums erläutern. Die konnten mit den Unterlagen, die im DDR-Ministerium erstellt wurden, nichts anfangen, weil also auch zum Teil Begrifflichkeiten unterschiedlich waren. Da war er der geeignete Mann und so quasi „Dolmetscher für die Papiere“, die dort im Hause rumlagen. Man hat ihm aber keine Verantwortung mehr übertragen. Das hat dazu geführt, um zu sagen, dann macht mal eure „Angelegenheiten“ alleine. Wie bereits angesprochen: Siegert wurde später der Prozess wegen „Verdacht Untreue“ bei der Übergabe der DDR-Versicherung an die Allianz AG gemacht. U. a. klagte die damalige Colonia Versicherung AG gegen Siegert. Das Verfahren wurde vorzeitig eingestellt. Trotzdem eine sehr schwierige und belastende Zeit für Siegert. Was ist Ihnen davon bekannt? In der Colonia-Versicherung, die gegen ihn vorging, saß Otto Graf von Lambsdorff im Aufsichtsrat. Wie gesagt: Er kam zu mir und sagte, er möchte mir ein Angebot unterbreiten, dass er ein Konsortium von mehreren Westversicherungen anstatt der Allianz die ganzen Verträge übernehmen sollte. Wo liegt der Vorteil, wenn ich die Verhandlung mit der Allianz abbreche und auf ein Konsortium eingehe, wo ich nicht einmal weiß, wer die Führerschaft in diesem Konsortium besitzt? Eindeutig: Es wurde politischer Druck gemacht. Lambsdorff hatte wohl auch versucht, mit Kohl darüber zu reden, aber das interessierte ihn nicht.
463 Das Verfahren gegen Siegert ist nicht wegen Mangel an Beweisen eingestellt worden, sondern wegen erwiesener Unschuld, was ein erheblicher Unterschied ist. Siegert regte sich wahnsinnig auf und es belastet ihn sehr. Siegert ist eine durch und durch redliche Haut, also fast ein bisschen naiv in seiner Art und Weise. Nach der Einigung – ein oder zwei Jahre später – besuchte er mich im Büro und äußerte die Bitte: „Ich möchte so gerne, dass wir uns duzen.“ Ich habe mich eigentlich mit den Staatssekretären und Ministern niemals geduzt. Mit ihm schon. Er war also auch ein Mann, für den ich jederzeit meine Hand ins Feuer gelegt hätte. Ist Siegert für Sie ein Freund während bzw. nach der gemeinsamen Politik geworden? Dafür haben wir uns zu wenig gesehen und zu wenig miteinander zu tun gehabt. Er hat ab und an mir etwas geschrieben, z. B. bei der großen Finanzkrise ab Jahr 2008 versuchte er, Hintergründe zu klären. Er ist auch eine ganze Ecke älter mit über 10 Jahren als ich. Freundschaft ist für mich die Erinnerung an die Zeit, die wir gemeinsam gestaltet haben. Es bestand aber nichts Familiäres oder aus einer Jugenderinnerung. Freundschaft besteht deshalb für mich aus viel mehr. Im Westen wäre Siegert ein braver, deutscher Beamter gewesen. Er war aber keiner, der nun die Zukunft gestaltet hätte. Eben ein Funktionär im Sinne von funktionieren. Vielen Dank. Bitte.
465 Günther Krause „Ich habe durchgesetzt, dass auch eine Sozialunion geschaffen wurde. Die war im Entwurf des BMF seinerzeit nicht vorgesehen.“
Abb. 61: Günther Krause hält einen Vortrag bei den „Europagesprächen“ in Hildesheim.
Günther Krause wurde am 13. September 1953 in Halle (Saale) geboren. Er trat im Jahr 1975 der DDR-CDU bei. Im Jahr 1984 erfolgte seine Promotion zum Dr.-Ing. und im Jahr 1987 seine Habilitation zum Dr. sc. techn. Im Jahr 1990 wurde Krause zum Honorarprofessor an der Technischen Hochschule Wismar berufen. Politische Stationen (Auswahl): In der Zeit von 1987 bis 1989 war er CDU-Kreisvorsitzender im Kreis Bad Doberan. Im Marz 1990 wurde er zum Vorsitzenden des neugegründeten Landesverbandes der CDU in Mecklenburg-Vorpommern gewählt – bis zum Rücktritt 1993. In der Zeit von Mitte April bis zum 2. Oktober 1990 war er Parlamentarischer Staatssekretär beim Ministerpräsidenten Lothar de Maizière. Für die ostdeutsche Seite war er Verhandlungsführer beim deutsch-deutschen Einigungsvertrag, der am 2. Juli 1990 abgeschlossen und am 31. August 1990 unterschrieben wurde. Nach der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 wurde er als Bundesminister für besondere Aufgaben in die von Bundeskanzler Helmut Kohl geführte Bundesregierung berufen. In der Zeit vom 18. Januar 1991 bis zum Rücktritt am 6. Mai 1993 war er Bundesminister für Verkehr. Am 17. Dezember 1992 wurde er mit der kommissarischen Leitung des Bundesministeriums für Post- und Fernmeldewesen beauftragt – bis zum 25. Januar 1993. Wann und wie lernten Sie Walter Siegert kennen? 1 Wir lernten uns im Rahmen der Neubildung der Regierung de Maizière im April 1990 kennen. Herr Staatssekretär Dr. Siegert war als Vertreter des Finanzministeriums bei den Verhandlungen zur Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion tätig und gleichzeitig stellv. Verhandlungsführer.
Das Interview wurde schriftlich geführt und am 4.9.2019 approbiert. Der Schriftverkehr liegt Dürkop vor.
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466 Bitte charakterisieren Sie Dr. Walter Siegert. Herr Dr. Siegert ist einer der vielen Vertreter in Führungspositionen, der natürlich Mitglied der SED war, aber ein hoch anständiger, sehr gebildeter und toleranter Mensch unter den komplizierten Bedingungen einer von der „Diktatur des Proletariates“ gekennzeichneten Gesellschaft. Er hat für das Wohl der Bürgerinnen und Bürger versucht zu arbeiten und nicht für seine „Partei“, von der er mit Sicherheit in den letzten Jahren großen Abstand gewonnen hatte. Ich habe Herrn Dr. Siegert von Anfang an geschätzt und das gilt natürlich bis heute! Was konnte Dr. Walter Siegert als Staatssekretär und späterer Finanzminister in der „Modrow-Regierung“ erreichen und wo existierten Grenzen? Die Zeit der „Modrow-Regierung“ kann ich nicht einschätzen, sodass ich auch die Vorzeit nicht bewerten kann. Wie sahen Sie Walter Siegerts Rolle in der Privatisierung der Staatlichen Versicherung der DDR an die Allianz AG? Die Privatisierung der Staatlichen Versicherung der DDR musste bis zum 30. Juni 1990 erfolgen. Mit Hilfe und Unterstützung von Dr. Helmut Kohl war die Allianz bereit, innerhalb von wenigen Tagen dieses Thema zu lösen. Herr Staatssekretär Dr. Siegert war federführend dabei. Welche Erinnerungen haben Sie an den Staatssekretär Dr. Walter Siegert in seinem Wirken in der „de Maizière-Regierung“? Herr Dr. Siegert war dem Ministerpräsidenten wie auch der gesamten neuen Regierung sehr loyal eingestellt. Er hatte als Verwaltungschef des DDR-Finanzministeriums eine sehr schwierige Aufgabe, die er hervorragend gemeistert hat. Auch bei seinen Kollegen im Bundesfinanzministerium (z. B. Staatssekretär Klemm) genoss Dr. Siegert höchstes Ansehen. Am 1. März 1990 beschloss der Ministerrat der DDR die Gründung der „Anstalt zur treuhänderischen Verwaltung des Volkseigentums“. Der stellvertretende MP in der DDR Peter Moreth wurde erster Chef der Treuhandanstalt. Ein Präsident aus der LDPD. Was waren die erreichten Meilensteine von Moreth? Dazu kann ich nichts sagen, weil ich zu dieser Zeit als Hochschullehrer gearbeitet habe und keinerlei politische Verantwortung in Ostberlin hatte. War für Sie die deutsch-deutsche „Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion“ aus ökonomischen Gesichtspunkten falsch? Nein, sie war richtig. Ich habe durchgesetzt, dass auch eine Sozialunion geschaffen wurde. Die war im Entwurf des BMF seinerzeit nicht vorgesehen. Im Übrigen hat den ersten Entwurf der damalige Abteilungsleiter Thilo Sarrazin erstellt.
467 Wie verfolgten Sie das Leben von Walter Siegert nach seinem politischen Aufhören bis heute? Auch nach 1990 haben sich hin und wieder unsere Wege gekreuzt. Leider haben wir es nicht durchsetzen können, eine Anerkennung für die Leistungen der Wiedervereinigung zu erreichen. Nur die Minister und der Ministerpräsident hat eine „Ehrenrente“ zugesprochen bekommen. Viele der „Arbeitspferde“ wie Walter Siegert leider nicht wie auch der Unterzeichner, obwohl ich zwei Funktionen wahrnehmen musste und dadurch keine Berufung zum Minister in der DDR-Regierung hatte. Das Kondolenzschreiben von Prof. Krause vom 7. Februar 2020 2
Mit Genehmigung und Überlassung durch die Witwe Ilse Siegert. Das Schreiben liegt Dürkop vor.
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468 Hans-Joachim Lauck „Ich habe Siegert als sachlichen, kompetenten, ehrlichen und vertrauenswürdigen Kollegen kennen sowie schätzen gelernt.“
Abb. 62: Siegert und Lauck in Berlin
Hans-Joachim Lauck wurde am 27. September 1937 in Freyburg/Unstrut geboren. Er ist gelernter Betriebsschlosser (1951–1955) sowie Ingenieur für Walzwerkwesen (1958) und Diplom-Ingenieur für Metallformung (1968). Von 1958 bis 1962 war er Assistent des Produktionsdirektors und dann Produktionsleiter im VEB Stahl- und Walzwerk Hennigsdorf. Im Jahr 1963 trat er der SED bei. Ab 1970 war Lauck Betriebsdirektor des VEB Stahl- und Walzwerkes Brandenburg und ab 1979 bis 1986 war er Generaldirektor des VEB Qualitäts- und Edelstahlkombinates Brandenburg (QEK). Im Jahr 1985 promovierte Lauck Dr.Ing. an der Bergakademie Freiberg. Er wirkte als Minister für Schwermaschinen- und Anlagenbau der DDR von 1986 bis 1989 und ab 15. Januar 1990 als Minister für Maschinenbau in der Regierung Modrow. Ab April bis Oktober 1990 war Lauck Unterabteilungsleiter für Maschinenbau im Wirtschaftsministerium in der Regierung de Maizière. Wann, wie und wo lernten Sie Siegert kennen? Bitte charakterisieren Siegert. 3 Walter Siegert lernte ich in meiner Tätigkeit als Betriebs- und Generaldirektor im Stahlund Walzwerk Brandenburg bzw. Qualitäts- und Edelstahl Kombinat kennen. Das war selten, denn mein Partner war der Stellvertreter des Ministers der Finanzen, der für die Industriefinanzierung verantwortlich war, Kurt Morgenstern. Erst mit meiner Tätigkeit als Minister für Schwermaschinen- und Anlagenbau habe ich mit Walter Siegert öfters zu tun gehabt. Sowohl in direkten Gesprächen oder bei Planverteidigungen beim Vorsitzenden der Staatlichen Plankommission, Gerhard Schürer. Ich habe Siegert als sachlichen, kompetenten, ehrlichen und vertrauenswürdigen Kollegen kennen sowie schätzen gelernt. In komplizierten Fragen hat er auch aktiv an einer Lösung mitgearbeitet. Zu Ihren detaillierten Fragen kann ich leider keine Antworten geben. In den letzten Jahren sahen wir uns bei Buchlesungen wieder. Ich kann nur Positives über Walter Siegert berichten.
Das Gespräch mit Hans-Joachim Lauck fand am 25.9.2018 in Freyburg statt. Anwesend war auch Svetlana Egorova. Das Gesamtgespräch publiziert in Deutsche Einigung 1989/1990. Zeitzeugen aus Ost und West im Gespräch, Reinbek 2021.
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469 4. Experten der Treuhandanstalt und Wirtschaft Peter Breitenstein „Der Erwartungsdruck der Ostdeutschen, vor allem nach Freiheit, Wohlstand und DM war so groß, dass dies keine DDR-Regierung hätte länger aushalten können.“
Abb. 63: Peter Breitenstein in seinem Arbeitszimmer in Bonn.
Peter Breitenstein wurde am 24. April 1941 in Karlsruhe geboren und ist verheiratet. Er absolvierte ein Studium der Volkswirtschaftslehre und Jura an den Universitäten Heidelberg und Würzburg und promovierte zum Dr. rer. pol. Tätigkeiten waren u. a. wissenschaftlicher Assistent, Dozent, Hochschullehrer an der Universität Würzburg und FHS für Verwaltung Berlin. Ab 1976 war Breitenstein im Bundesministerium der Finanzen (Beteiligungsverwaltung) tätig. Stationen und Tätigkeiten: 1982 Büro des Vorstandsvorsitzenden des Saarberg-Konzerns, Saarbrücken 1988 mehrwöchiger Beratungsauftrag in China – Institut zur Erneuerung der Wirtschaft beim Parteivorsitzenden – über Führung, Verwaltung, Kontrolle und Privatisierung staatlicher Unternehmen 1990 Berater des DDR-Finanzministers für Fragen der volkseigenen Wirtschaft und Treuhandanstalt (THA) 1991–1994 zuständig für Rechts- und Fachaufsicht über die THA (Privatisierung, Sanierung und Vertragsmanagement); Vorsitzender des Kredit- und Bürgschaftsausschusses des Bundes für die THA
470 1994
Sonderbevollmächtigter der THA/Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben (BvS) 13.1.1995–31.12.1997 Vorstand der BvS mit den Vorstandbereichen Großchemie, Liquidation, ökologische Altlasten und Reprivatisierung 1998–1999 Geschäftsführer Chemiepark Gesellschaft Bitterfeld 2000–2006 Geschäftsführer von zwei Immobilienunternehmen der BvS 2006–2007 Geschäftsführer Gästehaus Petersberg GmbH Breitenstein weist eine umfangreiche über 35-jährige Aufsichts- und Beiratserfahrung als Mitglied, stellvertretender Vorsitzender und Vorsitzender in Industrie, Anlagenbau, Immobilienwirtschaft und Forschung von mittelständischen bis montan-mitbestimmten Unternehmen auf. Er ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirates der BVÖD (Bundesverband öffentlicher Dienstleistungen/Deutsche Sektion der CEEP). Publikation u. a. Umstrukturierung der ostdeutschen Großchemie, Hrsg.: Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben, Berlin 1997. Erzählen Sie bitte über Ihre schulische, wissenschaftliche sowie berufliche Ausbildung und den Stationen Ihrer Tätigkeiten. Ferner auch davon, wie Sie sich den neuen Herausforderungen in der DDR stellten. 4 Ich bin 1941 in Karlsruhe geboren, absolvierte die Schule in Karlsruhe und Bayern. Nach dem Abitur Studium der VWL und Jura in Würzburg und Heidelberg. In Würzburg Promotion am Institut für Wirtschaftspolitik bei Prof. Ohm. Der Titel der Dissertation lautet: „Staatliche administrierte Preise. Staatliche Preisadministration, Inflation und Konjunktur in der BRD von 1950 bis 1969“. Bis 1972 wissenschaftlicher Assistent am Institut für Wirtschaftspolitik und Dozent an der FHS Würzburg-Schweinfurt. Danach habe ich in Berlin die erste Fachhochschule für Verwaltung mit aufgebaut. Ab 1976 Bundesministerium der Finanzen (BMF) in Bonn und zwar in der sog. Beteiligungsverwaltung des Bundes. Ich hatte also immer mit öffentlichen und staatlichen Unternehmen, insbesondere mit den Industriekonzernen des Bundes zu tun. Der Bund war bis Mitte der 1980er Jahre der größte Aktionär in der Bundesrepublik, was sehr häufig vergessen wird, gerade im Kontext dieses Interviews mit der Situation in der DDR mit einer fast 100-prozentigen staatlichen Wirtschaft. Nachdem die Mauer offen war, bin ich sehr schnell mit den Fragen der DDR-Wirtschaft konfrontiert worden. Für jemanden aus der Beteiligungsverwaltung des Bundes nicht ungewöhnlich. Im Februar 1990 kam es dann zu ersten Kontakten mit dem DDRDas Zeitzeugengespräch mit Peter Breitenstein wurde am 10.10.2018 im Privathaus in Bonn geführt. 4
471 Ministerium der Finanzen (MdF). Herr Zeißig, stellvertretender Minister, hat telefonisch angefragt, ob wir nicht bereit wären, in Bonn zwei oder drei seiner Mitarbeiter für drei oder vier Tage zu betreuen und mit ihnen zu diskutieren, wie man mit staatlichen Unternehmen in der Marktwirtschaft umgeht. Diese Kontakte, zunächst in Bonn, dann in Berlin, sind schnell zustande gekommen. Nach der letzten Volkskammerwahl am 18. März 1990 hat Bundesfinanzminister Dr. Waigel Prof. Romberg, dem DDR-Finanzminister, angeboten, wenn er Hilfe bräuchte, dann könne er ihm mehrere Beamte als Berater schicken, die ihn unterstützten. Prof. Romberg hat dann aufgrund der bereits bestehenden Kontakte angefragt, ob für die Themen Treuhandanstalt, staatliche Wirtschaft ich in das MdF kommen könne. Dabei hat auch meine Parteizugehörigkeit zur SPD eine wesentliche Rolle gespielt. So bin ich rund ein halbes Jahr bis zur Wiedervereinigung als Berater im DDR-Finanzministerium für Fragen der volkseigenen Wirtschaft und speziell der Treuhand gewesen. Danach war ich bis Mitte 1994 einer der Verantwortlichen im BMF für die Treuhandanstalt, u. a. für Fragen der Privatisierung und Sanierung sowie wechselnde Sonderthemen zuständig. Im Oktober 1994 wurde ich Sonderbevollmächtigter der Treuhandanstalt und ab Januar 1995 drei Jahre Vorstand der in Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben (BvS) umbenannten Treuhandanstalt mit den Direktoraten Abwicklung, Reprivatisierung, ökologische Altlasten und Chemie. 1998 und 1999 war ich zwei Jahre Geschäftsführer der Chemieparkgesellschaft in Bitterfeld. Die letzten sechs Jahre meines aktiven Berufslebens bis zu meiner Pensionierung war ich Geschäftsführer verschiedener Immobilienunternehmen aus dem ehemaligen Treuhandbereich. Seit 1977 bis vor 5 Jahren war ich ständig Mitglied in Aufsichtsräten von kleinen Forschungsgesellschaften bis zu montan-mitbestimmten Großunternehmen. Bis heute bin ich als Beirat in kleineren Unternehmen und beratend tätig. Ihrer Vita entnehme ich, dass Sie immer den Bereichen Finanzen und Ökonomie im Leben treu geblieben sind. Im Bereich der Finanzen würde ich nicht unbedingt sagen. Beteiligungsfragen sind nicht nur Finanz-, sondern auch Unternehmenspolitik und -steuerung wie in privaten Konzernen. Schon mit meiner Dissertation gab es einen engen Bezug zu Themen staatlichen Wirtschaftens. Das galt dann für mein ganzes Berufsleben. Während meiner Tätigkeit im BMF habe ich u. a. auch einen Lehrbuchteil über öffentliche Unternehmen geschrieben. Und Beteiligungsverwaltung ist letztlich einer Konzernverwaltung vergleichbar, Unternehmensverwaltung an der Nahtstelle zwischen Wirtschaft, Staat und Politik. Im Jahr 1989 kam es zu dramatischen Abläufen in den sog. Satellitenstaaten. In der DDR endete die SED-Herrschaft mit den Ereignissen am 9. November. Diese Zäsur wird immer mit dem Mauerfall gleichgesetzt, was aber keiner war, weil die Grenzübergänge geöffnet worden sind; die Mauer wurde in den Folgemonaten sukzessive abgetragen bzw. teilweise Stücke davon sogar verkauft. Zu diesem Zeitpunkt waren Sie noch nicht in Ost-Berlin tätig, sondern in Bonn. Wie erlebten Sie diesen 9. November?
472 Ich denke, die Monate davor mit der Situation in Prag und der Entwicklung in Ungarn haben natürlich dazu geführt, dass man dem Thema, nachdem man sich an die Mauer und die DDR als Faktum gewöhnt hatte, doch eine sehr viel größere Aufmerksamkeit gewidmet hat. Mir ging es wie den meisten. Die Überraschung war groß. Gott sei Dank war die Bundesrepublik auch nicht wirklich darauf vorbereitet. Es existierten eben keine „Wende-Ratgeber“ oder „Einheitskonzepte“ irgendwo versteckt in der Schublade, oder? Wir hatten in der Bundesrepublik über die ganze Phase ein gesamtdeutsches Ministerium. Dessen Annexe eine Menge publiziert und die DDR sehr genau beobachtet hatte. Wesentliche konzeptionelle Beiträge gab es vor allem in den 50er und Ende der 60er Jahre. Aber ich muss Ihnen sagen, alle, die dann mit der tatsächlichen Entwicklung und Situation beschäftigt waren, waren froh, dass es nicht den Plan gab. Die politischen Rahmenbedingungen waren andere. Im Oktober 1989 gab es den „Rücktritt“ von Honecker bzw. es wird spekuliert, dass es ein „Putsch“ gegen den Staatsratsvorsitzenden war. Wie erlebten Sie diesen 17./18.? Bedingt durch Gorbatschow in der UdSSR hatte sich das Klima auch in der DDR verändert. Nicht in dem Umfang, wie man danach manchmal geglaubt hat, aber doch deutlich. Der letzte Besuch von Gorbatschow in der DDR hatte schon gezeigt, dass es erhebliche Differenzen gab. Von daher war es nicht ganz überraschend, dass Honecker sich nicht mehr halten konnte und gehen musste. Nachfolger von Honecker wurde sein sog. „Kronprinz“ Egon Krenz, der aber keiner war, als er alle Ämter übernahm? Für Leute, die an der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung zwar immer interessiert waren, aber sich nicht intim mit der DDR beschäftigt hatten, war Krenz trotz seiner Kronprinzenrolle doch relativ unbekannt. Wie würden Sie Krenz´s politische Zeit, diese 50 Tage (18. Oktober bis 6. Dezember 1989) als mächtigster Mann der DDR einordnen? Wenn man die damalige Gesamtsituation betrachtet, also nicht nur die DDR, sondern die Entwicklung in der UdSSR, in Ungarn, in Polen usw., dann stand Krenz auf verlorenem Posten. Ich glaube nicht, dass selbst, wenn er es gewollt hätte, er in der Lage gewesen wäre, in seinem politischen Umfeld in Ost-Berlin weiter einen strammen Abschottungskurs oder einen Kurs mit einer schnellen Annäherung an den Westen zu verfolgen. Ich denke, die Spielräume hierfür gab es nicht. Entscheidend war, dass er durch diese Ämteranhäufung am 9. November 1989 die Macht des Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates innehatte. Er wählte nicht
473 die Option einer gewalttätigen, sondern die einer gewaltfreien Lösung. Wie ist das Krenz anzurechnen? Das ist einer der hervorzuhebenden Punkte der ganzen Entwicklung des Umbruchs, dass er ohne Gewalt über die Bühne gehen konnte und durfte. Ich hatte in meiner Zeit als Vorstand der BVS und meiner Aufsichtsratstätigkeit in Ost-Unternehmen Kontakt zu einem ehemaligen DDR-General. Danach soll es Überlegungen gegeben haben, die Nationale Volksarmee (NVA) einzusetzen. Sie meinen, es existierten Planspiele oder Überlegungen, die allerdings abgelehnt worden sind? Ja, ich schließe dies nicht aus. Sehr schnell war aber offensichtlich klar, dass militärische und polizeiliche Gewalt gegen die eigene Bevölkerung keine Option sei. Zumal, das muss man ebenfalls beachten, im Unterschied zu 1953 die UdSSR nicht zur Verfügung stand. So ist Deutschland glücklicher Weise zu einem unblutigen Umbruch gekommen. Letztlich das alleinige Verdienst der DDR. Am 28. November 1989 verkündete Kohl im Bundestag ein „10-Punkte-Programm“. Was wir wissen, ist, dass er sich nicht mit seinen politischen Partnern abgesprochen hatte. 5 Noch nicht mal mit seinem Koalitionspartner … Richtig, nämlich FDP. Wir wissen, dass er morgens den Plan nach Amerika faxte, wohlwissend, dass aufgrund der Zeitverschiebung alle noch schliefen. Wie nahmen Sie diese Kanzler-Offensive wahr? Ist für Sie Kohl der Kanzler der Einheit? Der Plan ist mit nur 10 Punkten auf den ersten Augenschein schlicht, inhaltlich aber komplex. Die zehn Punkte decken eigentlich alle Bereiche ab bis auf das Thema OderNeiße. Das war auch der Grund, warum sich die SPD der Stimme enthalten hat. Ich meine, das war ein taktisch-strategisch geschickter Schachzug. Auch wenn man in der Retrospektive das Datum ansieht, wie früh das geschehen ist. Ich meine, Kohl ist schon der Kanzler der Einheit und nicht nur der Windfall-Profiteur, der einfach in der politischen Situation die Ernte eingefahren hat, wie dies z. B. in einem neueren Buch von einem Schweizer Autor vertreten wird. Kohl habe einfach Glück gehabt. Natürlich hat er Glück gehabt, er hat aber die Chance sehr rasch, für alle überraschend, genutzt. Ich denke, er ist schon der Kanzler der Einheit.
Hinweis: Zwei Tage später (30.11.) verstarb der Vorstandssprecher der Deutschen Bank Alfred Herrhausen bei einem Bombenattentat in Bad Homburg. Verantwortlich dafür wurde die Rote Armee Fraktion (RAF) gemacht. Eine Verurteilung gab es allerdings bis heute nicht. Aufgeklärt wurde der Fall nie.
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474 Ablehnende Reaktionen gab es von Thatcher sowie von Mitterrand … Sie waren dagegen, der amerikanische Präsident Bush sen. war noch der Offenste. Bei allen war ein vereintes Deutschland politisch und wirtschaftlich wegen der damit einhergehenden vermeintlich größeren Stärke eher unerwünscht. Es war auch eine Zäsur in der Nachkriegsentwicklung. Ein weiterer Akteur griff in Ost-Berlin in das politische Tagesgeschäft mit ein: Hans Modrow war SED-Bezirkssekretär in Dresden und amtierte dort seit 1973. Im November 1989 stieg er auf die „DDR-Kommandobrücke“ auf, versucht das Ruder herumzureißen, als er am 13. November zum Ministerpräsidenten gewählt wurde. Wie nahmen Sie Modrow bis zu diesem Zeitpunkt wahr? Letztlich hat Modrow sehr viel offener in Richtung Westen und Bundesrepublik agiert als Krenz. Aber auch bei Modrow waren die eigenen Vorstellungen sicher weit weg von einer raschen Wiedervereinigung. Viel näherliegend waren die Vorstellungen der Modernisierung der Wirtschaft mit großer Unterstützung durch die BRD. Er hat dies ja auch versucht. Tituliert wurde Modrow in den westlichen Medien als „Gorbatschow der DDR“ oder als „Hoffnungsträger“. Können Sie ihn charakterisieren und einschätzen? Ich hatte eben am Ende ein Stück Öffnung gesagt, er hat viel offener agiert als Krenz. Er war der erste, der die kritische wirtschaftliche Situation, die gesamten Mängel des bisherigen planwirtschaftlichen Systems, die Verfehlung der Planziele seit Ende der 70er Jahre, die in hohem Maße marode Infrastruktur, die monetären Ungleichgewichte und außenwirtschaftliche Verschuldung offengelegt und angesprochen hat. Aber er musste natürlich gleich an dem „10-Punkte-Programm“ Kohls scheitern. Inwiefern? Die 10 Punkte mussten aus seiner Sicht viel zu weit gegangen sein. Aus dem „10Punkte-Programm“ konnte man ernsthaft kein mittel- oder gar längerfristiges Weiterleben der DDR oder einen dauerhaften Verbund, egal in welcher Form, herauslesen. Modrow stand für eine reformierte sowie demokratisierte neue DDR, eine DDR mit der Ideologie eines demokratischen Sozialismus … Ja. Ich habe dabei oft an Ota Sik gedacht, den tschechischen Ökonomen, der sehr viel früher Konzepte „eines dritten Weges“ 6 entwickelt hat. Durch die vorgezogene Volkskammer-Wahl tritt ab dem 18. März 1990 eine weitere Person in die politische Öffentlichkeit, der als Rechtsanwalt in der DDR tätige und seit dem 10. November 1989 CDU-Vorsitzende Lothar de Maizière. Er wird somit der erste Der dritte Weg: Sik ist Schöpfer der Wirtschaftsreformen des Prager Frühlings, die unter der Bezeichnung „Der dritte Weg“ bekannt wurden.
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475 und letzte freigewählte Ministerpräsident der DDR sein. Können Sie de Maizière charakterisieren? Wie schätzen Sie seine Regierungsphase von April bis Oktober 1990 ein? Es war – und ist bis heute – eine große Leistung, allein die Fülle an rechtlichen und gesetzlichen Änderungen zu bearbeiten, in die Volkskammer einzubringen, zu beraten und zu verabschieden und gleichzeitig die nicht einfachen Verhandlungen mit der übermächtigen BReg bis zur Verabschiedung des Staats- und Einigungsvertrages etc. zu führen. Ob die DDR-Regierung hart genug verhandelt hat, um die erwartbaren wirtschaftlichen Probleme zu verringern, ist von außen schwer zu beurteilen. Zu diesen drei Protagonisten Krenz, Modrow und de Maizière würde ich die Zeit nach 1989/90 gerne ansprechen: Krenz schied aus der SED/PDS aus, sein Volkskammer-Mandat legte er nieder. Danach ist er nie wieder in öffentliche Ämter gekommen. Er saß eine Haftstrafe für die Mitschuld an den Grenz-/Mauertoten ab. Seitdem verfällt er immer in eine Rechtfertigungsposition. Der Akteur Modrow blieb nach der Volkskammerzeit als Mitglied des Deutschen Bundestages, dann im Europäischen Parlament, bis heute ist er der Vorsitzende im Ältestenrat der Links-Partei. Zusammengefasst eine vorzeigbare sowie fortgeführte politische Karriere in sozialistischer Mission, u. a. unterwegs in Asien und Kuba. Im Bundestag als Minister angekommen wurde de Maizière verdächtigt, als IM „Czerni“ auffällig gewesen zu sein. Er schied aus und ist bis heute weiterhin als Rechtsanwalt in Berlin tätig. Den „Petersburger Dialog“ führte er lange Jahre als Vorsitzender an. Welchen Eindruck haben Sie von den Lebensverläufen dieser drei Protagonisten nach der Vereinigung im Jahr 1990? Zu Krenz kann ich nichts sagen. Das Thema Mauertote ist sicherlich ein ganz zentrales Thema gewesen und natürlich justiziabel. Von daher ist nachzuvollziehen, dass Herr Krenz nach dem 3. Oktober praktisch keine politische Rolle mehr gespielt hat. Die Entwicklung von Herrn Modrow ist bis heute konsequent. Er ist nach wie vor ein Mann mit einem nicht nur sozialistischen Hintergrund, sondern einem bis heute sozialistischen Verständnis. Er hat für sich und seine Partei aber einen politischen und persönlichen Weg gefunden, um in der Politik der BRD und der EU anzukommen. De Maizière war Anwalt, dann Politiker und ist wieder Anwalt geworden. Das ist nicht ungewöhnlich. Was sind die Hauptgründe für das Ende der DDR? Das ist eine schwierige Frage. Ohne die Veränderung der Welt weiter im Osten, in der UdSSR mit Gorbatschow, hätte es ein solch schnelles Ende der DDR nie geben können. In der DDR selbst war auch mit Blick auf die zehn Punkte das Agieren von Kohl und der Bundesregierung und von der Atmosphäre und Stimmung in der DDR selbst der Umbruchdrang so stark, dass es dann zum schnellen Ende kam. Dennoch hat mich die große Schnelligkeit persönlich, trotz des Drucks in der DDR, überrascht. Dies gilt auch für die meisten meiner Ansprechpartner und Diskussionspartner in Ost-Berlin. Der Erwartungsdruck der Ostdeutschen, vor allem nach Freiheit, Wohlstand und DM war so groß, dass
476 dies keine DDR-Regierung hätte länger aushalten können. Jedem war klar, es wird kommen, aber dass es bereits der 3. Oktober 1990 sein würde, war zunächst nicht kalkulierbar. Es hat sicherlich eine Rolle gespielt, dass die DM in der DDR schnell eingeführt wurde. Damit war der wirtschaftliche Druck auf eine Veränderung auch im politischen Bereich sehr rasch stark geworden. Welche Alternativen gab es? Es gab gerade aus der Opposition in der Bundesrepublik, z. B. in der SPD mit Oskar Lafontaine, andere Konzepte eines langsameren Zusammenwachsens. Inwieweit diese hätten erfolgreich sein können und valide waren, darüber können Sie viele Planspiele durchführen, das kann Ihnen heute wie auch 1990 niemand sagen. U. U. hätten diese Konzepte mit mehr Ruhe für die Entwicklung der Wirtschaft verbunden sein können. Aber ob es hätte gelingen können, nachdem die Grenzen offen waren, bezweifle ich. Von daher gab es eigentlich keine wirkliche Alternative. Es gibt viele Bücher, die sich insbesondere mit Blick auf die Treuhandanstalt mit deren vermeintlichen, sicher aber auch tatsächlichen Fehlern beschäftigen. Nur: Die Treuhandanstalt war nicht für „das Plattmachen“ der Industrie verantwortlich, wie dies gerade heute so beliebig dargestellt wird. Die Treuhand wurde zum 1. März 1990 innerhalb der Modrow-Regierung erstmalig installiert. Wie intensiv erlebten Sie diese Phase? Diese DDR-Treuhand, sie hieß etwas anders, war ein Stück „Scheinöffnung“ mit höherer Flexibilität und Freiheiten für die Unternehmen usw. Also schon eine Öffnung, aber letztlich doch eine Zementierung der Verhältnisse. Aus der Region, aus der ich komme, sagt man: „Wasch mir den Buckel, aber mach mich nicht nass!“ Meine Beurteilung basiert vor allem auf der Diskussion mit dem eingesetzten Vorstand. Ich selbst war dann sehr intensiv mit der Neufassung des Treuhandgesetzes beschäftigt. Die Strukturproblematik hat auch im Treuhandgesetz unter de Maizière eine große Rolle gespielt. Es gab letztlich nach wie vor den ehemaligen Industrieministerien vergleichbare Strukturen. Zwar waren nicht mehr die Industrieministerien getreu abgebildet, es gab im Treuhandgesetz aus dem Juni 1990 aber eine Dreistufigkeit: Die Treuhand, darunter sog. überwiegend branchenbezogene Treuhandaktiengesellschaften und darunter die Unternehmen, also die ehemaligen Kombinate und VEB als AG und GmbH. Die Treuhand-AG hat man dann nicht gegründet, ohne das Gesetz zu ändern. Sicher ein etwas ungewöhnliches Vorgehen. Es war ein ziemlich strittiger Punkt, aber ich denke, daran zeigt sich die Entwicklung ganz gut. Dahinter stand sicher die Angst im Westen, neue industrielle staatliche Dauerstrukturen entstehen zu lassen, von denen man sich wenige Jahre zuvor gerade getrennt hatte. Würden Sie der These zustimmen, dass das Modrow-Konzept mit seiner Vorstellung „Wir möchten gerne sanieren sowie den Standort erhalten“ gegenüber dem Konzept westlicher Akteure und Berater mit „Verkaufen, Übermitteln, Übertragen, Privati-
477 sieren usw., egal wie, Hauptsache, wir bekommen die aus der Angebotsbilanz hinaus“ aussichtslos konkurrierte? Oder widersprechen Sie? Der versteckte Vorwurf in dieser Form, wie von Ihnen formuliert, ist sicherlich nicht stimmig. Richtig ist, dass der Fokus auf die Sanierung in der Modrow-Fassung dominiert hat. Die Privatisierung stand nicht im Vordergrund. Sie war aber auch in der Fassung der de Maizière-Regierung nicht so zwingend angelegt, wie sie dann umgesetzt wurde. Aus dem Mai 1990 gibt es ein DDR-Papier, das sich sehr kritisch mit der Situation der gesamten Kombinate und VEB auseinandersetzt. Es wurde nach meiner Erinnerung federführend vom damaligen Wirtschaftsministerium der DDR unter Beteiligung des Finanzministeriums verfasst. In ihm wurde bereits eine Drittelung unter den Gesichtspunkten privatisierungsfähig, sanierungsnotwendig und -fähig sowie nicht sanierungsfähig erwartet. Die großen Unternehmen wurden dort im Einzelnen benannt und einsortiert. D. h., auch die de Maizière-Regierung war der Auffassung, dass nur rund ein Drittel der in Aktiengesellschaften und GmbH umgewandelten Unternehmen wettbewerbsfähig sei. Im Sommer 1990 kam es nach Einführung der DM in der DDR sehr rasch zu einer sehr kritischen Crash-Situation, die die BReg in ihrem Ausmaß doch überraschte. Lassen Sie mich das ganz persönlich schildern: Am 6. Juli, einem Freitag, kam morgens um 8 Uhr die Sekretärin von Dr. Siegert zu mir und bat mich, sofort ins Wirtschaftsministerium zu fahren, der Dienstwagen stehe vor der Tür. Ich kam dort in eine Runde leitender Vertreter des Finanz- und Wirtschaftsministeriums sowie des Finanzvorstandes der Treuhandanstalt. Man sah den Herren an, dass es größere Schwierigkeiten geben musste. Man sagte mir, es bestünde die sehr große Gefahr, dass ein Großteil der Unternehmen in der nächsten Woche die Löhne nicht mehr zahlen könnte und der Geldkreislauf bereits heute nicht mehr funktioniere. Über 5000 Unternehmen hätten bereits einen akuten hohen Liquiditätsbedarf angemeldet. Damit würde im Prinzip die gesamte DDR-Wirtschaft zusammenbrechen. Anhand der aufbereiteten Daten aus den Unternehmen war diese Beurteilung der Entwicklung fast zwingend. Ich solle deshalb dringend versuchen, mit Dr. Waigel zu telefonieren. Ich lehnte ab, da das Thema Darlehen bzw. Bürgschaften der Bundesrepublik in wochenlangen schwierigen und nicht immer störungsfreien Verhandlungen mit dem Bundesfinanzministerium ausverhandelt seien. Das BMF werde deshalb von der bisherigen Linie kaum abweichen. Ich empfahl deshalb, dass bis mittags, bevor das politische Bonn in das Wochenende gehe, MP de Maizière mit dem Bundeskanzler telefonieren müsse. Dazu müsste de Maizière mit einem kurzen Papier munitioniert werden. Der Finanzvorstand der Treuhand hat daraufhin zusammen mit mir das vorhandene 8 bis 10 Seiten lange Papier auf eineinhalb Seiten MP-fähig gemacht. Parallel wurde Dr. Holzwarth im Büro des MP unterrichtet. Herr de Maizière war nicht in Berlin, er bekam das Papier dennoch sehr schnell. Das Gespräch mit dem Bundeskanzler fand dann auch rechtzeitig statt. Nachmittags flog ich nach Bonn und landete dort in der Krisensitzung West. BRD und DDR haben dann am Samstag und Sonntag in Berlin verhandelt. Der erwartete akute Fehlbetrag betrug über 20 Mrd. DM, den die DDR-Seite nach Überprüfung aller Daten auf 15 bis
478 17 Mrd. DM als Verhandlungsbasis reduziert hat. In Bonn bestand große Unsicherheit, was die Belastbarkeit der Daten anbelangte. Die Daten wurden angezweifelt. Man kann dies nachempfinden, waren damit doch auch die eigenen Erwartungen und Planungen hinfällig. Der Ernst der Lage wurde aber allen durchaus rasch bewusst. Beide Seiten haben sich dann nach schwierigen Besprechungen am Sonntag auf insgesamt 10 Mrd. DM Soforthilfe in Form von Rückbürgschaften des Bundes für die Treuhand geeinigt. Damit konnte der Zusammenbruch verhindert werden. Bis Oktober hat die Treuhand dann zusammen über 25 Mrd. DM über Bürgschaften absichern müssen. Die Banken, konkret Deutsche Bank und Dresdner Bank, haben trotz der Bürgschaften, ohne die sie nichts gemacht hätten, rund 10 bis 11 % Zinsen verlangt. Eine für die Banken äußerst komfortable Situation. Das Verhalten der Treuhandanstalt wurde nicht unerheblich von den Erfahrungen dieses Wochenendes und der nächsten Monate bestimmt. Es war klar, dass der unkontrollierte Abfluss von Geld schnell verlangsamt und gestoppt werden musste. Als Mittel hierfür wurde die rasche Privatisierung möglichst vieler Firmen gesehen. Der Privatisierungsdruck resultierte aber auch aus der Komplexität der Sanierungen: unzureichender Stand der Technik, fehlende Marktgängigkeit vieler Erzeugnisse, verschlissene Infrastruktur, Abkehr der DDR-Bevölkerung von den eigenen Produkten, nachdem der Markt mit Westprodukten überschwemmt worden war. Also extrem komplexe Sanierungen, für die weder im Abb. 64: Breitenstein sehr nachdenklich im Osten noch im Westen hinreichend ErfahrunGespräch. gen bestanden unqualifizierte Manager verfügbar waren. Dr. Rohwedder, der Vorstand der Treuhandanstalt, hat wenige Tage vor seiner Ermordung an Ostern 1991 in einem Brief an die Mitarbeiter formuliert: „Rasche Privatisierung, entschlossene Sanierung, behutsame Stilllegung“. Natürlich gab es dabei eine Menge Einzelfehler. Ich selbst habe aus dem BMF heraus bei einzelnen Privatisierungen nicht nur Nachverhandlungen verlangt, sondern auch Untersuchungen veranlasst. Wenn sie von heute auf morgen, egal wie sie rechnen, für 8000 bis 11 000 Betriebe zuständig sind, zu denen ca. 15 000 bis 20 000 Handelsbetriebe und die Landwirtschaft mit den LPG kommen, von denen sie wenig Ahnung haben und deren Vorstände und Geschäftsführer sie nicht kennen, dann sind Fehler systemimmanent. Die Sanierung als mittlerer Teil der Rohwedderschen Linie war also am schwierigsten. Entsprechend waren die Ansätze dazu zu mutlos und zu selten. Ich hätte mir von Anfang
479 an gewünscht, Treuhand und Politik hätten sich in vielen Fällen einen nicht nur betriebswirtschaftlichen, sondern stärker strukturpolitischen Ansatz zugetraut, um regional einen hinreichenden Industriebesatz zu erhalten. Anstöße hierzu sind aber nicht ausreichend aufgenommen worden. In den Fällen, in denen dies geschehen ist, war die Treuhand durchaus erfolgreich. Nehmen Sie z. B. EKO Stahl in Eisenhüttenstadt. Das Unternehmen wurde letztlich gegen den großen Widerstand der westdeutschen Stahlindustrie saniert und in der Sanierungsphase privatisiert zu einem integrierten modernen Stahlunternehmen. Eine Voraussetzung hierfür war ein kompetentes gutes Ost-West-Management, ein durchsetzungsstarker Aufsichtsrat zusammen mit großem Rückhalt aus der Politik. Oder nehmen Sie Jenoptik. Auch die Chemiestandorte gehören letztlich dazu. Es gäbe weitere Beispiele, es hätten mehr sein können. Die gesamte Diskussion wurde auch von dem Ziel bestimmt, Ende 1994 „fertig“ zu sein und keine staatlichen Strukturen zu behalten. Für vieles, was man der Treuhand bis heute, ja heute wieder verstärkt, vorwirft, ist sie der falsche Adressat. Ein zentraler Punkt, der zunehmend vernachlässigt wird, ist der unrealistische Wechselkurs von „1:1“ und „2:1“ bei der Einführung der DM im Sommer 1990. Die Treuhandanstalt wird folglich für eine Entwicklung verantwortlich gemacht, die sie nicht zu verantworten hat. Ein rein politischer Kurs gut für Arbeitnehmer und Konsumenten und deren Spareinlagen etc., aber Gift für alle Unternehmen, die letztlich von heute auf morgen allein durch die dramatische Aufwertung nicht mehr wettbewerbsfähig sein konnten. Wir kamen von einem Schwarzmarktkurs von ca. „7:1“ und „4,5:1“ der Fachleute. Dies hätten auch westliche Unternehmen in einer offenen Wirtschaft nicht überleben können. Die Unternehmen waren nicht ertragsfähig und damit am Markt wertlos. Bei Unternehmensverkäufen zählt letztlich nur der Ertragswert, nicht die Substanz. Also vom ersten Tag an eine schwer zu überwindende Hürde für die Privatisierung oder eine Sanierung. Dies hat u. a. auch Edgar Most so vorausgesehen und später gesagt: „Die Treuhand hatte keine Chance.“ Dies ist eine zentrale Seite, die anderen sind der in großem Umfang völlig veraltete Kapitalstock, die weggebrochenen Märkte durch das Kaufverhalten und der dramatische Rückgang der Ostexporte. Die Werften? Die Werften, da müsste ich wirklich nachgucken, ob die Werften bei den „nicht-sanierbaren“ waren; ich glaube, nein. Ansonsten sind die Werften mit der Pleite des Bremer Vulkan ein ganz spezielles Thema und sicher eine misslungene Privatisierung der Treuhand und der Politik. Das im Privatisierungsvertrag mit dem Bremer Vulkan erlaubte zentrale Cash-Management hätte es nicht geben dürfen. Denn die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Vulkans waren bei Insidern, so auch bei mir, bereits bekannt. Entsprechend war ich gegen diesen Verkauf. Aber auffällig war und deshalb komme ich immer in allen Diskussionen auf dieses Papier von 1990 zurück: Am Ende ist es zu einer groben Dreiergruppierung gekommen. Ein Drittel, bei dem eine geräuschlose rasche Privatisierung
480 möglich war und ein Drittel Sanierung mit Privatisierung, d. h., die Sanierung wurde mitverkauft. Das waren dann u. a. diese berühmten „1-DM-Verkäufe“, für die die Treuhandanstalt und die Politik wahnsinnig kritisiert wurden, und ein Drittel Stilllegungen. Es war verständlich, dass niemand verstehen konnte, dass ihre Betriebe nichts wert sein sollten. Bei den Verkaufspreisen müssen aber auch die eingegangenen Arbeitsplatz- und Investitionsverpflichtungen der Käufer berücksichtigt werden, die summa summarum letztlich übererfüllt wurden. Unternehmen mit hohen Verlusten wurden auch im Westen für eine DM veräußert. Das war also keine Sondersituation „Ost“. Das wird bei der Argumentation höchstwahrscheinlich – bewusst oder unbewusst – weggelassen … So ist es. Sie können das sicherlich nachvollziehen, wenn sie die ganzen Schulden und Probleme mitübernehmen. Aus vielen Unternehmen wurde systematisch das nicht betriebsnotwendige Vermögen von der Treuhandanstalt herausgenommen. Ich denke, in manchen Fällen hätte man es besser in den Unternehmen gelassen, damit sie mehr Luft zum Atmen gehabt hätten. Auch die weitgehenden Aufsplittungen der Unternehmen waren nicht immer hilfreich. Ich bin viele Jahre später in einer Podiumsdiskussion von einem der Ministerpräsidenten eines neuen Bundeslandes kritisiert worden, weil wir z. B. die Textil- und Bekleidungsindustrie kaputt gemacht hätten. Das war regional eine beschäftigungsmäßig große Industrie. Richtig ist, es ist wenig davon übriggeblieben. Warum? Die Konkurrenz saß in Indien, in China, in Bangladesch mit extrem niedrigem Kosten- und speziell Lohnniveau. Die ehemalige DDR hat vorher – also vor dem Jahr 1989 – beim Verkauf an die westdeutschen Versandhäuser teilweise nur 20 % ihrer Kosten erlöst. Wie hätten Sie diese Betriebe sanieren wollen? Das war nicht machbar. Auch in der alten Bundesrepublik war die Textil- und Bekleidungsindustrie in Nord-Bayern und in Baden-Württemberg bis auf wenige Kerne im Hochpreissegment geschrumpft. Alles andere war abgewandert. Von daher war natürlich die Situation in einzelnen Branchen wegen des über Jahrzehnte in der DDR unterbliebenen Strukturwandels schwierig. Ein weiteres Feld und eine Stärke in der Industrie war der Maschinenbau. Ich selbst war u. a. im Aufsichtsrat bei Sket in Magdeburg, also dem Schwermaschinenbau, ein Vorzeigeunternehmen der ehemaligen DDR. Ein Unternehmen, bei dem von allen Beteiligten Fehler gemacht wurden. Im Maschinenbau bestand generell das Problem, dass bereits Anfang der 90er Jahre der westdeutsche Maschinenbau in einer relativ schwierigen Situation und nicht voll ausgelastet war. Es gab dann auch von renommierten Unternehmen im Westen, so z. B. von Maho und Trumpf, Konkurse. In dieser Situation war natürlich eine Privatisierung oder Sanierung schwierig. Mehr Zeit und Ruhe hätten das Ergebnis im Maschinenbau wahrscheinlich verbessern können. Insgesamt sehe ich aber bis heute keinen theoretischen und/oder praktischen Ansatz, der eine finanzierbare Alternative unter den bestehenden Rahmenbedingungen geboten hätte. Die Treuhanderöffnungsbilanz wies bereits in 1991 ein Minus von rd. 250 Milliar-
481 den DM aus. Für den Westen eine Horrorzahl. Damals konnte keiner ahnen, dass man in der Finanzkrise ab 2007 diese Summe fast für die Rettung einer einzigen Bank benötigen würde, und hier ging es um eine ganze Volkswirtschaft. Wir sind am Ende bei ca. 210 Milliarden DM gelandet. Die Zahlen waren ein Schock, denn das Vermögen der DDR-Wirtschaft wurde von Modrow nur wenige Monate davor mit über einer Billion Mark der DDR beziffert. Ich dachte von 600 Milliarden DM? Genau, es war umgerechnet in Deutsche Mark nämlich 600 Milliarden DM. Sogar von Dr. Rohwedder, der diese Summe einmal nannte, aber indem er offensichtlich einfach die Zahl „2:1“ umgerechnet hatte. Interessant ist, dass der Privatisierung erfahrenste Kollege im BMF unter optimistischen Annahmen bereits im Mai 1990 das DDR-Industrievermögen nur auf 120 bis 230 Mrd. DM geschätzt hat. Die Treuhandanstalt und die Bundesregierung wurden natürlich an den 600 Mrd. DM gemessen. Dr. Waigel hat Anfang 1991, er wird es mir verzeihen, den Leichtsinn begangen, bei einer Veranstaltung zu sagen, wenn ein DDR-Bürger Probleme mit der Treuhand hätte, möge er sich bitte an ihn wenden. Das Ergebnis war, dass in meinem Referat in Bonn innerhalb weniger Wochen über 2000 Zuschriften ankamen, die alle beantwortet werden mussten. Die Hauptfragen galten der Privatisierung und wann es die Anteilsscheine am Volksvermögen endlich geben würde, die das Treuhandgesetz vorsah. Besonders kritisiert wurden Verkäufe für 1 DM, mit denen das Volksvermögen verschleudert würde. Es war nicht einfach, für die Einsender zufriedenstellende Antworten zu finden. Das war ein tiefer Einblick. Wie verlor die Treuhandanstalt die 25 Milliarden DM? Die Kette ist folgende: Die Bundesregierung bürgt für die Treuhandanstalt. Die Treuhandanstalt bürgt gegenüber den Unternehmen, die Kredite und Darlehen brauchen, um weiterarbeiten, Löhne und Rechnungen anderer Unternehmen zahlen zu können. Die Unternehmen nehmen die Darlehen und Kredite bei den deutschen Banken auf; fast ausschließlich Deutsche Bank und Dresdner Bank. Verloren deshalb, weil die Unternehmen i. d. R. die Kredite nicht mehr zurückzahlen konnten. Trotz der Rückbürgschaften des Bundes waren die Zinsen, sicher zur Freude der Banken, wie schon gesagt, sehr hoch. Bedient schon, aber nicht in Zinsen und Tilgung zurückgezahlt worden? Das Geld ist folglich nicht mehr an die Treuhandanstalt zurückgeflossen. Die Banken haben die Kredite ausbezahlt. Die Kredite waren dann Teil der Bilanzen der Unternehmen als Verbindlichkeiten. Bei der Privatisierung oder Sanierung haben die natürlich voll auf den Kaufpreis durchgeschlagen. Von daher waren die letztlich weg. Es gab nirgendwo einen Crash. Die Banken sind zu ihrem Geld gekommen. Ein fiktives Beispiel: Nehmen Sie an, EKO Stahl hat „X-Millionen“ an Darlehen in dieser Phase erhalten. Die Darlehen sind zu Verbindlichkeiten von EKO Stahl geworden.
482 Spätestens beim Verkauf von EKO Stahl hat die Bilanz, d. h. die Forderungen und Verbindlichkeiten, eine Rolle für den Kaufpreis gespielt. Meistens war es bei den Verkäufen eine Voraussetzung, dass die Verbindlichkeiten vom Käufer mitübernommen werden. Das war eine vertragliche Vereinbarung bzw. Option … Es gab die unterschiedlichsten Modelle. Letztlich kommt es auf das Gleiche heraus, ob das Unternehmen vor dem Verkauf voll oder teilweise entschuldet wurde oder nicht. Das Korrektiv war dann der Kaufpreis. Zurück zur Schilderung von diesem Wochenende bzw. Ihrem bleibenden Eindruck: Das Magazin Der Spiegel berichtete über die „Gefährliche Spirale abwärts“. Sie werden wie folgt zitiert: „Per Telefax schickte Peter Breitenstein, West-Berater im Ost-Finanzministerium, einen Hilferuf (Liquiditätsprobleme der Treuhandanstalt) nach Bonn. Der Eile halber unmittelbar an die Spitze des Finanzministeriums. Angesichts der absehbaren Engpässe erwartet er ‚größere Protestaktionen‘. Breitensteins warnende Schlussfolgerung: Ich halte die Situation für sehr kritisch.“ Das ist die Situation, die Sie gerade schilderten. Im Text wird im Weiteren auf die 41 % Regelung bei der Kreditvergabe verwiesen. Zitat: „Wieder läuft Kapital in schlechte Betriebe und gute Betriebe kriegen zu wenig. Alle Liquiditätspläne gesunder Unternehmen seien jetzt Makulatur, weil niemand seine Rechnungen bezahlt. Damit setzte sich eine gefährliche Spirale abwärts in Gang.“ Das meint Edgar Most, der mittlerweile verstorben ist, weil alle Firmen untereinander zahlungsunfähig wären. Weiter im Bericht: „5500 Betriebe hätten allein für Juli 1990 Kreditwünsche von über 17 Milliarden angemeldet.“ Hat der Spiegel alles richtig wiedergegeben? 7 Ja, der Spiegel-Bericht ist richtig. In den Verhandlungen hat die BReg dann, wie bereits gesagt, insgesamt 10 Mrd. DM akzeptiert. Die Beurteilung von Herrn Most war also nicht falsch. Nur, wer wusste, welches die guten und welches die schlechten Betriebe wirklich waren. Es war eines der zentralen Themen der Anfangsphase, wie isoliert man die sog. Cashfresser. Aber was wäre geschehen, wenn man in dieser Phase die schlechten sofort zugemacht hätte? Dies war sicherlich auch keine politisch realistische Option. Wann, wo und wie lernten Sie Walter Siegert kennen? Ich habe Walter Siegert im Februar 1990 bei den ersten Kontakten zwischen der Beteiligungsverwaltung des Bundesfinanzministeriums und dem DDR-Ministerium für Finanzen zum ersten Mal in Ost-Berlin kurz gesehen, als wir zwei Tage dort waren. Ich glaube, wir waren aus dem Bundesfinanzministerium zu dritt. Engere Kontakte zwischen Herrn Dr. Siegert und mir entstanden als ich nach der Volkskammerwahl als Berater ins DDRMinisterium der Finanzen gekommen bin. Das Verhältnis zu Herrn Dr. Siegert und dem 7 Der Spiegel, 23.7.1990, Ausgabe 30/1990, S. 62–63, Gefährliche Spirale abwärts. Siehe http://ma-
gazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/13501775 (letzter Zugriff 30.12.2020).
483 für die Treuhandanstalt und die gesamte volkseigene Wirtschaft zuständigen stellvertretenden Minister Herrn Zeißig war schnell eng und zumindest aus meiner Sicht bei allen Berührungsängsten doch sehr vertrauensvoll. Für mich waren Herr Siegert und Herr Zeißig Ruhepole in dieser schwierigen Zeit. Herr Siegert hatte nicht nur die Last des ganzen Themas der staatlichen Wirtschaft, mit Privatisierung, mit Sanierung, mit der Treuhandanstalt, sondern er war auf der Finanzseite auch Verhandlungspartner des Staats- und Einigungsvertrages. Federführend war sicherlich Günther Krause, der auf der DDR-Seite die Verhandlungen mit Dr. Schäuble und den Bundesministerien in Bonn geführt hat. Dr. Siegert war, das habe ich in vielen Aussagen von Dr. Waigel feststellen können, ein geschätzter Verhandlungspartner, der wirklich in großer Ruhe die Dinge behandelte. Ich hatte immer den Eindruck, egal, wo es brennt, es bringt ihn so richtig nichts aus der Ruhe. Ich versuchte, ihn auch im Tagesgeschäft einzubinden, mit Tagesgeschäft meine ich z. B. die Kontaktversuche vieler West-Unternehmen, die auf die „Schnelle“ irgendwelche OstUnternehmen zu übernehmen versuchten nach dem Motto: „Im Osten weiß sowieso keiner Bescheid!“ Dr. Siegert reagierte gelassen und hat die „Interessenten“ i. d. R. zu mir geschickt. Privatisierungserfahrungen hatte ich aus dem Westen ja genug. Häufiger traf ich auf Herren, die ich kannte bzw. die mich aus der Bundesrepublik kannten. Herr Siegert hat sich dabei voll auf mich verlassen. Er hat Professor Romberg, solange dieser Minister war, mehrfach dazu bewogen, meine kritischen Bemerkungen zur Entwicklung in der Treuhandanstalt, zum stürmischen Vorgehen, was die Privatisierung anbelangt, ernst zu nehmen und auf der Verantwortlichkeit des Finanzministeriums zu beharren. Mit Dr. Siegert hat sich also sehr schnell eine positive sowie vertrauensvolle Zusammenarbeit entwickelt. Bitte charakterisieren Sie Siegert: In der Kennlernphase, als Sie zusammenarbeiteten sowie über die Jahre hinaus, wo Sie weiterhin private Kontakte pflegten. Die Zusammenarbeit war vom ersten Tag an gut. Dr. Siegert hat viele Vorgänge mit mir diskutiert. Es sind viele Dinge in Abstimmung mit ihm gelaufen. Er hat vor allem, wenn ich kritische Entwicklungen sah, diese aufgegriffen. Eigentlich war ich Berater für das Thema Treuhandanstalt und volkseigene Wirtschaft. Aber es gab Querschläge und kritische Entwicklungen, bei denen erkennbar war, da kümmert sich in der Hektik niemand darum. Die Volkskammer hat beispielsweise das Gesetz über die Gesamtvollstreckung verabschiedet. Also das Gesetz über die Konkursabwicklung in der DDR. Dabei war übersehen worden, dass dieses Gesetz zu einer völlig chaotischen gefährlichen Situation in der DDR-Wirtschaft und damit für die Treuhandanstalt führen kann. Die Unternehmen waren extrem verflochten. Wenn irgendwo ein Gläubiger oder eine Geschäftsführung oder ein Vorstand Konkurs beantragt hätte von den vielen tausend Unternehmen, dann hätte das wie ein Domino-Effekt in der Wirtschaft gewirkt, ohne die Möglichkeit einer Beeinflussbarkeit von außen bzw. der Treuhandanstalt oder des Finanzministeriums. Ich habe dann angestoßen, dass sehr rasch eine zweite Verord-
484 nung dazu erlassen wurde, die der Treuhandanstalt Eingriffsmöglichkeiten eröffnete. Dr. Siegert hat dies ebenso gesehen und meine Aktivitäten unterstützt. Er war SED-Mitglied und trat am ersten Parteitag 8./9. Dezember 1989 formell aus der SED aus. War Siegert für Sie ein Funktionär oder ein Ökonom? Inwiefern holten Sie sich über ihn Erkundigungen über Ihren Gesprächspartner ein, um überhaupt über seine „Sozialisierung“ und „Historie“ Bescheid zu wissen? Zunächst natürlich wenig. Aber was mich überraschte, dass sowohl Dr. Siegert wie auch Herr Zeißig sehr früh ihre gesamte Entwicklung – heute heißt das „Sozialisation“ – innerhalb der ersten Wochen dargestellt haben. Ohne Aufforderung, sondern von sich aus motiviert? Ja. Sie fanden interessant, was ich im Hochschulbereich und danach im Einzelnen gemacht hatte. Ich war für sie nicht der klassische Beamte und in keiner Phase ihr „Klassenfeind“. Ich war zwischendurch z. B. ein Jahr lang Leiter des Vorstandbüros eines großen Bundeskonzerns. Im Jahr 1988 hatte ich über die Friedrich-Ebert-Stiftung einen mehrwöchigen Beratungsauftrag in China. Ich bin relativ viel herumgekommen. Beide Herren berichteten über ihren Werdegang. Im Nachhinein stelle ich keinen Bruch fest. Nach vier Wochen tranken Herr Zeißig und ich abends in seinem Büro ein Bier zusammen; die Arbeitstage waren 12 bis 14 Stunden lang. Herr Zeißig fragte, ob ich wissen wollte, seit wann nach seiner Einschätzung die DDR große wirtschaftliche Probleme bekommen hätte. Er öffnete seinen Panzerschrank, den es in jedem Zimmer gab, holte ein riesiges Journal heraus und erläuterte mir die Zahlen. Danach war bereits die zweite Ölkrise ein ganz kritisches Datum für die DDR. Unsere Diskussion war sehr offen. Ebenso berichtete Herr Zeißig dabei, wer seiner Auffassung nach im Ministerium und speziell in seinem Umfeld „IM“ der Stasi sei, eine Information, die durchaus hilfreich war. Erlebten Sie mit Siegert auch diese Offenheit? Dr. Siegert hatte auch durch seine Beanspruchung in den deutsch-deutschen Verhandlungen nicht viel Zeit. Aber die Offenheit war genauso da. Sie sehen das daran, dass ich bis heute Kontakt zu Walter Siegert pflege. Wir haben uns auch – jetzt ist es etwas dünner geworden, das liegt sicherlich am Alter – regelmäßig in Berlin getroffen. Am Anfang mehr als in den letzten Jahren. Aber der Kontakt ist nie abgerissen, oftmals auch unter Einschluss von Professor Romberg, solange dieser noch lebte und regelmäßig fragte: „Was hätten wir anders machen können?". Dr. Siegert war der integrative Partner. Waren Sie überrascht, dass Siegert in der Modrow-Regierung nicht sofort Finanzminister wurde? Ich denke, solche Personalentscheidungen hängen von so vielem ab in jeder Art von Regierung, die Sie als Außenstehender gar nicht beurteilen können. Aus meiner Erfahrung heraus hat Siegert aber sicher die Geschäfte betrieben.
485 Gab es mit Finanzministerin Uta Nickel letztendlich keine großen Absprachen, Kontakte oder Termine? Frau Nickel war ja bereits Vergangenheit, als ich in das Ministerium der Finanzen kam. Warum wurde Siegert „nur" Staatssekretär in der de Maizière-Regierung und nicht Finanzminister? Das war wahrscheinlich seiner SED-Vergangenheit geschuldet und der Austarierung der Ministerien zwischen den Parteien. Wie geschildert war Siegert kein SED-Mitglied mehr. Der Posten des Finanzministers ging an Romberg, der seit Oktober 1989 Mitglied der SDP und ab Januar 1990 dann SPD war. Siegert ist bis heute nicht mehr in eine Partei eingetreten, obwohl es Anwerbungsversuche gab. Eine „Was-wäre-wenn-Frage“: Wäre Siegert in die SDP/SPD eingetreten, wie wären seine Chancen gewesen? Allerdings: Die SDP (Ost-SPD) wurde u. a. durch Markus Meckel am 7. Oktober gegründet und sie wollten keine SED-Mitglieder aufnehmen … Das war schwierig, ja. Nachgefragt: Wäre es förderlich gewesen, wenn Siegert in einer anderen Partei aktiv geworden wäre, beispielweise in einer Blockpartei? Ich denke, ja. Siegert war federführend bei der Privatisierung der Staatlichen Versicherung der DDR. Er verhandelte und fixierte zusammen mit Uwe Haasen und Friedrich Schäfer am 14. März 1990 den Vorvertrag. Was wissen Sie über diesen Vorgang? Der Beschluss wurde bereits am 8. März im Ministerrat der DDR veröffentlicht. Die Privatisierung der staatlichen Versicherung und die Privatisierung der Banken sind die zentralen, aber auch kritischen Ereignisse aus der Frühphase. Dr. Siegert ist wegen dieses Versicherungsvertrages im Nachhinein sehr in Kritik geraten. Ob man für die noch DDR bessere Konditionen hätte heraushandeln können, ist im Nachhinein schwierig zu beurteilen. Über was man hätte nachdenken müssen bei allen Problemen, die dieses Konstrukt beinhaltet, wäre die Vereinbarung eines belastbaren Besserungsscheins gewesen. Damit wäre Dr. Siegert vielleicht ein Stück aus der Kritik herausgekommen. Es war für beide Seiten ein Stochern im Nebel. Für die Allianz Versicherung war es ein riesiges Asset, weil sie natürlich sofort die Türen zu 17 Millionen DDR-Bürgern offen hatte. Für die DDR war es aber auch ein Stück Stabilisierung in einer politisch und wirtschaftlich sehr schwierigen Situation. Der Kundenstamm lag bei ca. 3,5 Millionen Versicherungsverträgen … Ja, aber damit gab es letztlich einen Fuß in fast jede DDR-Familie. Das ist natürlich ein ungeheures Asset gewesen. Von daher ist es schwierig, den Vertrag zu beurteilen. Was
486 die Banken-Verträge anbelangt, kann ich nur sagen, ich habe diese für nicht ausgewogen gehalten und versucht, eine Nachbesserung zu erreichen. Aber sowohl bei der Versicherung als auch bei den Banken stand die DDR unter zeitlichem Druck, eine Lösung zu finden, die die Aufrechterhaltung des Wirtschaftskreislaufs sichert. Federführend waren neben Dr. Siegert vor allem Edgar Most und dann auch Wolfram Krause, der Treuhand-Finanzvorstand aus der DDR. Der sog. Dresdner Bankvertrag konnte offengehalten werden, der Vertrag mit der Deutschen Bank nicht. Inwiefern? Ich hatte Einwände, was die Ausgewogenheit der Verträge anbelangt hat. Aber ein funktionierendes Bankensystem und der Fortbestand der Versicherungen waren zwingende Voraussetzungen für die Funktionsfähigkeit des Landes. Das hat die Entscheidung für die DDR-Verhandler nicht einfach gemacht und sie zeitlich unter Druck gesetzt. Staatssekretär Horst Köhler, der spätere Bundespräsident, konnte später die Konditionen mit dem Dresdner Bank-Vorstand etwas verbessern. Welche Erinnerungen haben Sie an Edgar Most? Edgar Most war ein in dieser Position ungewöhnlicher Mann, einer der wenigen, der auch nach der Wende Karriere gemacht hat. Bodenständig, durchsetzungsstark, gewinnend und überzeugend. Vom ersten Anschein eher BayWa-Vorstand oder Vorstand einer großen Winzergenossenschaft. Ein interessanter Mensch und ein Mann, der vieles bewegte, auch nach der Wende in seiner Funktion bei der Deutschen Bank. Er hat vieles in die Hand genommen und angestoßen und sicher damit viele Arbeitsplätze erhalten oder deren Neuschaffung ermöglicht. Gespräche mit ihm waren immer ein Gewinn. Können Sie über Siegerts Rolle bei den Bankenverträgen sprechen? Er war letztlich bis zum 3. Oktober der verantwortliche Mann im Ministerium. Bestimmend war aber Herr Most. Ohne Finanzministerium und DDR-Regierung hätten die Verträge aber nicht abgeschlossen werden können. Gegen Siegert wurde eine juristische Überprüfung bzgl. des Verdachts der „Untreue“ eingeleitet. Das stellte sich allerdings als nicht belegbar heraus. Das Verfahren bezog sich auf einen Versicherungsdeal mit der Allianz Versicherung, weil andere Versicherungen sich benachteiligt fühlten, es bei der Zusage keinen Bieterwettbewerb gab. Allerdings: In der DDR kannte man keine öffentliche Ausschreibung. Ferner hat die Allianz in Ostdeutschland einen historischen Boden. Es wurde versucht, beispielsweise bei der Bankenprivatisierung, neben der Dresdner Bank und der Deutschen Bank und den Sparkassen weitere Banken für belastbare Angebote zu gewinnen. Das ist letztlich nicht gelungen. Damit hatten es die Deutsche Bank und die Dresdner Bank relativ leicht, was sicher die Konditionen beeinflusst hat. Und klar war auch, insbesondere die Deutsche Bank war der Wunschpartner der DDR und von
487 Edgar Most. Den anderen Banken war das sicher schnell bewusst. In der Situation mussten es auch große Banken sein, von denen die Aufrechterhaltung und rasche Umgestaltung des Bankensystems erwartet werden konnte. Richtig. Beim Versicherungsdeal ist nichts passiert? Nein, das war zu früh und die Situation unübersichtlich. Und für Sie zu spät? Sie überschätzen die Rolle und die Einflussmöglichkeiten eines Beraters. Die Entscheidung ist letztlich schon vor der Volkskammerwahl gefallen. Es war deshalb ein Vorgang, der sich nach meiner Erinnerung weitgehend nur auf der DDR-Ebene abgespielt hat. Natürlich werden sich die Verantwortlichen in der BReg und bei den Banken auch bei der Bundesbank abgesichert haben. Hätten Sie gerne weitere Versicherungsunternehmen angesprochen? Nach meiner Erinnerung gab es genug Interessenten. Eigentlich ein Feld für die Einbeziehung des sog. Investmentbankings zur Entscheidungsvorbereitung. Aber für lange Prozesse bestand keine Zeit. Denn die gesamten Versicherungsverträge sollten erhalten, der bestehende Versicherungsschutz aufrechterhalten werden. Wer hat letztendlich entschieden, dass der Deal mit der Allianz Versicherung zustande kommt, zuerst mit dem Vorvertrag, nachher in der Umsetzung mit der Unterzeichnung des Hauptvertrages am 26. Juni 1990? Es erfolgte damit die Gründung zur Deutsche Versicherungs AG. Formal zunächst das DDR-Finanzministerium, aber letztlich der Ministerrat. Aber die Treiber und Akteure waren Edgar Most und bei der Versicherung sein Kollege, sein Name ist mir entfallen. Sie waren danach auch Nutznießer der Deals. Ein Bieterverfahren ist Ihnen bei der Versicherungsprivatisierung durch die Hände geglitten, bei den Banken aber durchgesetzt worden. Die Erkenntnis war, so viele Interessenten waren nicht verfügbar. Beim Versicherungsdeal waren es über 10 Interessenten … Nachgefragt zu Siegert: Worin sehen Sie Siegerts Erfolg? Bei aller möglichen Kritik, der frühe Versicherungsvertrag und die Bankenverträge haben den Übergang und die Funktionsfähigkeit des Landes gesichert. Dies war eine zentrale Voraussetzung für die gesamte weitere Entwicklung und Stabilität. Und in einer Drucksituation werden generell keine Höchstpreise erzielt. Dennoch: Versicherungsvertrag und Bankenverträge waren aus meiner Beurteilung nicht ausgewogen. Für einen entscheidenden Erfolg von Dr. Siegert halte ich auch seine Beteiligung an den Verhandlungen der Verträge zusammen mit Günther Krause mit der Bundesregierung. Und nicht zu vergessen die Aufrechterhaltung eines geordneten Ministeriums der Finanzen in dieser Übergangsphase, das entgegen anderslautenden Meinungen im Westen aus
488 meiner Sicht in einer so kritischen Phase bis zum Schluss gut funktioniert hat. Also sein Geschick nach außen in Verhandlungen, im Umgang mit seinem Ministerpräsidenten, seiner eigenen Regierung, der Treuhandanstalt, aber eben auch im Inneren. Er war sicher nicht der für die Organisation und das Personal primär Zuständige, das war ein anderer. Aber er war ein ruhender Pol im Ministerium zusammen mit Herrn Zeißig. Was war im Rahmen seiner Möglichkeiten unmöglich zu erreichen bzw. umzusetzen? Ich denke, Dr. Siegert war in dieser Phase, ich merke das heute manchmal in der Diskussion mit ihm, häufiger hin und her gerissen zwischen dem Wünschenswerten und dem Machbaren. Zum Schluss noch eine Bemerkung weg von Dr. Siegert. Ich war jede Woche in dieser Phase 1990 am Montagmorgen in Bonn in der wöchentlichen Besprechung im Bundesfinanzministerium zum Thema DDR. Ich habe ab einer bestimmten Phase gesagt: „Wir müssen aus dem DDR-Finanzministerium Mitarbeiter in das Bundesfinanzministerium übernehmen. Wir kriegen das sonst nicht hin.“ Gerade die Beteiligungsabteilung war bis auf einen Rest ausgedünnt. Sie gab es praktisch nicht mehr. Der Großteil der Beteiligungen war ja privatisiert worden. Da hat einer der Kollegen, den ich sonst geschätzt habe, erklärt, er nähme niemanden. Die könnten alle nichts. Daraufhin habe ich gesagt: „Wissen Sie, nach der Gauß´schen Normalverteilung verläuft die Kurve der Intelligenz und der Fähigkeiten in entsprechend großen Grundgesamtheiten immer gleich. Das gilt im Osten wie im Westen.“ So war es dann auch. Gerade die Beteiligungsabteilung hat viele Mitarbeiter des DDR-Finanzministeriums übernommen, die dann erfolgreiche Beamte oder Angestellte des BMF wurden. Ebenso war es für die Entwicklung sicher häufiger nicht förderlich, dass die Politik massiv darauf gedrängt hat, sich von den Ost-Führungskräften in den Unternehmen und der Treuhandanstalt rasch zu trennen, ungeachtet ihrer Kenntnisse und Netzwerke als Manager. Verehrter Herr Breitenstein, herzlichen Dank für das Gespräch und Ihre Unterstützung. Bitte. Na klar.
489 Willy Delling „Sie kannten die Marktwirtschaft, die DDR-Wirtschaft allerdings ‚nur‘ aus der BILD-Zeitung.“
Abb. 65: Karl-Marx-Stadt/DDR (1978)
Willy Delling wurde am 13. Juni 1931 in Chemnitz/Erfenschlag geboren. Er besuchte die Volksschule in Erfenschlag, danach die Wirtschaftsoberschule in Chemnitz mit Abschluss der mittleren Reife im Jahr 1948. Vorher war er in den Jahren 1945/46 Hilfsarbeiter in einer Tischlerei. In den Jahren 1948 bis 1950 schloss Delling erfolgreich eine Lehre als Industriekaufmann ab. In den Jahren 1950 bis 1951 war er bei VVB Automobilbau als Mitarbeiter Materialwirtschaft beschäftigt. In den Jahren 1951 bis 1953 absolvierte er ein Studium der Wirtschaftswissenschaft an der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft in Forst Zinna und Babelsberg. Dort schloss er erfolgreich im Jahr 1953 mit Staatsexamen „Diplomwirtschaftler“ ab. In den Jahren 1953 bis 1954 war Delling in der Handelsorganisation (HO) in der Bezirksdirektion Karl-Marx-Stadt und HO Kreisdirektion in Zschopau beschäftigt. In der Zeit von 1954 bis 1956 hatte Delling seinen Dienst bei der Grenzpolizei abgeleistet. In den Jahren 1956 bis 1969 war er im Rat des Bezirkes KarlMarx-Stadt, Abt. Ltr. „Staatliche Beteiligung“ sowie in der Zeit von 1969 bis 1976 im Wirtschaftsrat des Bezirkes Karl-Marx-Stadt als Stellv. Leiter der Abt. Planung und Ökonomie beschäftigt. In der Zeit von 1976 bis 1986 war Delling Direktor in der Akademie für sozialistische Wirtschaftsführung des Wirtschaftsrates Karl-Marx-Stadt in Jahnsbach/Erzgebirge und in der Zeit von 1987 bis 1990 wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Vorsitzenden des Wirtschaftsrates beschäftigt. In den Jahren 1990 bis 1991 wirkte Delling in der „Treuhandanstalt“ in der Außenstelle Chemnitz, Ltr. der Abt. Organisation und Verwaltung mit. Heute lebt Willy Delling in Chemnitz-Rabenstein. Sie kennen Walter Siegert seit Ihrer gemeinsamen Kinder- und Jugendzeit. Erzählen Sie uns aus Ihrem gemeinsamen Erleben. 8 Mit Walter bin ich seit Kindheit und Jugendjahren eng befreundet. In den Jahren bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges hatten wir beide eine unbeschwerte Kindheit. Unsere kleine Gemeinde im Zwönitztal (vor den Toren von Chemnitz) hatte viel zu bieten, idyllische Natur, Bauernhöfe, eine alte Ölmühle, eine große Barackenfabrik, eine alte 8
Das Interview mit Willy Delling wurde im Sommer/Herbst 2019 schriftlich geführt.
490 Weberei, alles nahe bei uns. Dort hatten wir Kinder immer etwas zu entdecken. Wir halfen beim Kühe hüten und bei der Ernte und schauten dem Schmied zu, streiften durch die Wälder, die unser Dorf einrahmen. Im Sommer gingen wir oft in den schönen Naturbad schwimmen. Im Winter, der damals in der Regel noch sehr viel Schnee brachte, fuhren wir gemeinsam Ski, bauten Schneehütten oder gingen auch mal aufs Eis unserer Zwönitz, dem kleinen Fluss in der Mitte des Tales. Wissbegierig, wie wir waren, haben wir auch oft im Fabriksaal der Plomben- und Metallwarenfabrik meines Vaters den Maschinen – in Aktion – zugeschaut. Die Erzeugnisse, das waren Plomben, also Metallsicherungen, mit denen damals Säcke, Kisten- oder Pakete, die mit Bindfaden verschnürt waren und zusätzlich gesichert wurden. Es wurde Bandeisen in die Stanzen eingeführt und die gestanzten Artikel fielen dann in Körbe. Dann erfolgte das Entgraten und Polieren in einer Metalltrommel. Es gab noch viel Handarbeit. Wir waren stolz und glücklich, wenn wir unter Aufsicht auch mal die Stanze bedienen durften. Da es keine „kriegswichtigen Artikel“ waren, wurde die kleine Fabrik mit Kriegsbeginn geschlossen. Mein Vater wurde zur Wehrmacht einberufen. Der Krieg erreichte bald auch unser Dorf. Ich erinnere mich an Einquartierungen, Truppen, die aus Polen kamen und sich für den „Feldzug“ auf Frankreich vorbereiteten. In den Garagen, bei uns und bei Siegerts, wurden Fahrzeuge untergebracht. Für uns Kinder war es noch „spannend“, das alles mitzuerleben. Aber es mehrten sich die Meldungen „vom Heldentod“ bei Nachbarn, der Sohn, der Vater, das hat uns Kinder das Grauen spüren lassen. Im Februar und März 1945 wurde unser Dorf dann bei mehreren Fliegerangriffen hart getroffen. Mehr als 60 Tote, darunter viele Frauen und Kinder. Nach dem Mai 1945 haben wir beim Aufbau im Ort geholfen. Wir arbeiteten beide dabei mit. Es ging um notdürftige Reparaturen, ich war als Helfer mit den Tischlern unterwegs, Walter mit den Zimmerleuten. In der Erntezeit standen wir 1945 nachts auf den Feldern zur „Flurwache“, um Diebstähle an Getreide, Kartoffeln und Rüben zu verhindern. Langsam erfolgte auch das Hineinwachsen in die neuen politischen Verhältnisse. Es gab im Sommer 1945 Einladungen der Antifa-Jugend, die sich im Dorf gegründet hatte. Sie wurde insbesondere von Kurt Höfer, einem Kommunisten, Interbrigadisten, der in Spanien gekämpft hatte und dann in Buchenwald im KZ inhaftiert war, unterstützt. Wir gingen dann beide verschiedene Wege der Ausbildung. Man traf sich ab und zu, auch beim Tanzvergnügen am Wochenende. Wieder enger wurde unser Tun, als wir uns im Jahr 1948 in unserer Dorfgruppe der „Freien Deutschen Jugend“ engagierten. Walter war eines der aktivsten Mitglieder der Gruppenleitung. Dann nahm unsere fast 100-junge Leute zählende FDJ-Gruppe den Wiederaufbau unseres ziemlich verkommenen Naturbades in Angriff. Walter war „Organisations- und Finanzchef“ der ganzen Sache. Es war viel Arbeit zu leisten. Wir hatten junge Handwerker aller Art dabei. Im Sommer 1949 konnte dann unser kleines Naturbad zur Freude aller Dorfleute und der Umgebung mit Bademeister, kleinem Biergarten und manchmal auch Tanz im Freien wieder genutzt werden. Durch Beruf und Studium zogen wir von Erfenschlag fort. Doch es gab genug Anlässe, uns
491 zu treffen. Wir hatten inzwischen etwa gleiche berufliche Wege und engagierten uns auch in ähnlicher Weise gesellschaftlich. Zwischen unseren Familien entwickelten sich herzliche Verbindungen, die sich über die Jahre mit all den vielseitigen Ereignissen bis heute erhalten haben. Wie würden Sie Walter Siegert charakterisieren? Wir sind uns charakterlich ähnlich, bodenständig, zu Bescheidenheit, Fleiß und Gemeinsinn erzogen, das waren auch die Grundlagen unserer langen Freundschaft und unseres gesellschaftlichen Engagements. Walter war es ein Bedürfnis, die Verbindung zu uns Freunden und seinem Heimatdorf auch nach seinem Wegzug lebendig zu halten. Im Kreis der alten Freunde haben wir gern unsere Meinungen und Erfahrungen ausgetauscht. Walter hat uns geholfen, die „Welt des Geldes und der Finanzen“ besser zu verstehen. Er hat sich nach 1990 in unserem Erfenschlager Bürgerverein insbesondere mit Beiträgen zur Heimatgeschichte engagiert. Laut Ihrer Vita arbeiteten Sie beim Rat des Bezirkes und im Wirtschaftsrat des Bezirkes Karl-Marx-Stadt viele Jahre in verschiedenen leitenden Funktionen. Bitte vermitteln Sie uns Informationen über Aufgaben und Wirkungsweise dieser Institutionen. Unser Bezirk Karl-Marx-Stadt war mit 1,9 Millionen Einwohnern der bevölkerungsreichste Bezirk der DDR. Es gab traditionell eine stark entwickelte Industriestruktur. Mitte der 1950er Jahre hatten wir im Bezirk ca. 4 600 Betriebe des Maschinen- und Fahrzeugbaus, der Metall- und Holzbearbeitung, der Textil- sowie Nahrungsgüterproduktion. Etwa 3000 davon waren kleine und mittlere private Unternehmen. Nach meinem Studium und dem Armeedienst habe ich ab 1957 in verschiedenen Aufgabengebieten des Rates des Bezirkes mit der dem Bezirk unterstellten Wirtschaft zu tun gehabt. Zur Verdeutlichung: Die großen volkseigenen Betriebe des Werkzeugmaschinen- und des Textilmaschinenbaus, der Wolle-, Baumwoll- und Strumpfindustrie waren in Vereinigungen (Holding) organisiert und Ministerien zugeordnet. Die zahlreichen kleineren und mittleren volkseigenen Betriebe mit einem bunten Sortiment von Haushaltsgeräten, Strickwaren- und Badebekleidung bis Spielwaren und Musikinstrumenten unterstanden dem Rat des Bezirkes. Betriebe der kommunalen Versorgung, wie volkseigene Großbäckereien, kommunale Dienstleister, Wäschereien und ähnliches waren den Kreisen oder den Städten zugeordnet. Der Rat des Bezirkes – wie auch die Räte der Kreise und Städte – hatten eine „wirtschaftsleitende“ Funktion gegenüber diesen Betrieben, was Aufsicht, Beratung und Kontrolle einschloss. Teile der Nettogewinne dieser Betriebe und ihre Steuern flossen in die Haushalte dieser Gebietskörperschaften. Es gab somit auch ein direktes Interesse, solide Betriebswirtschaft zu fördern. Ich war beim Rat des Bezirkes in den 1950er Jahren in der Abteilung Örtliche Industrie für die „Staatlichen Beteiligungen“ zuständig. Seit 1956 bot unser Staat mittelständischen Unternehmen an, eine staatliche Beteiligung einzugehen, das erfolgte in der Rechtsform der Kommanditgesellschaft (Staat mit seiner Einlage als
492 Kommanditist). Das förderte die betriebliche Leistungsentwicklung finanziell und ermöglichte Bauleistungen und Maschinenkäufe. Aus diesen Gründen ging die Mehrheit der potenten mittelständischen Betriebe im Bezirk eine staatliche Beteiligung ein. Es kam zu erfolgreichen Entwicklungen, wie z. B. Schüngel Chemie KG in Burkhardtsdorf, die Elektrogerätewerke Eibenstock, Strumpffabrik Wehner & Rudolf, Einsidel und andere. Es waren alles Sortimente, wo mehr Leistung und Angebot dringend notwendig war. Meine Aufgabe war es, die Unternehmer zu beraten und für eine solche Beteiligung zu gewinnen. Der Wirtschaftsrat des Bezirkes entstand Ende der 1950er Jahre. Er hatte eine sehr breite Struktur. Sie umfasste Abteilungen, die sich um die Ökonomie der bezirksunterstellten Wirtschaft kümmerten, wie Planung, Finanzen, Außenhandel sowie Fachreferate wie Lebensmittelindustrie, Metwallwaren usw. In dieser Struktur waren aber auch andere Fachaufgaben, wie bezirklicher Verkehr, Energie, Wasserwirtschaft sowie auch private Industrie und Handwerk untergebracht. Der Vorsitzende des Wirtschaftsrates und seine Stellvertreter sowie Abteilungsleiter waren damit die Entscheidungsträger für die gesamte bezirkliche Wirtschaftsentwicklung. Der Vorsitzende des Wirtschaftsrates war zugleich Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes. Im Ratskollegium wurden die tragenden Beschlüsse zum Jahresplan, zu Struktur und Investitionen gefasst. Um folgendes nicht zu vergessen: Die gewählte Volksvertretung im Bezirk, der Bezirkstag, beriet und beschloss die Jahreswirtschafts- und Haushaltspläne und bekam auch im Laufe des Jahres Berichte zur Wirtschafts- und Finanzlage, die in seinen Ausschüssen beraten wurden. Daraus ergaben sich Vorschläge und Forderungen, die je nach Möglichkeit eine Beachtung fanden. Der Wirtschaftsrat in dieser breiten Struktur wurde dann aufgelöst. In Verwirklichung des 1963er Beschlusses zum „Neuen Ökonomischen System“ (NÖS) wurden die Aufgaben des Wirtschaftsrates des Bezirkes neu festgelegt. Er war nunmehr „nur“ noch das wirtschaftsleitende Organ für die bezirksgeleitete Industrie und unterstand dem Ministerium für bezirksgeleitete Industrie und Lebensmittelindustrie. Es kam darauf an, die Entwicklung der bezirksgeleiteten Wirtschaft – sie produzierte vor allem ein breites Sortiment von Konsumgütern aller Art und war aber auch zum Teil im Außenhandel engagiert – leistungsstärker zu machen. Die Eigenständigkeit der Betriebe sollte gestärkt werden. Die Mitarbeiter des Wirtschaftsrates – in der Regel erfahrene Fachleute – sollten das unterstützen. Der Vorsitzende des Wirtschaftsrates war weiterhin auch Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes. Der Rat und auch das Bezirksparlament bekamen Informationen über Planerfüllung und Entwicklung. Anfang der 1970 Jahre wurden dann auch in der bezirksgeleiteten Industrie-Kombinate gebildet, u. a. für Maschinenbau, Elektrotechnik/Elektronik, Polygraf, Plaste und Chemie, Holzwaren, Erzgebirgische Volkskunst, Backwaren und das Kombinat Mechanisierung als Spezialist für maßgeschneiderte neue Technologien und Ausrüstungen für unsere Betriebe. Ich kann aus meiner Erfahrung berichten, dass die bezirksgeleitete Industrie in Karl-MarxStadt in den 1960er und 70er Jahren erhebliche Leistungssteigerungen bei überwiegend
493 guter Rentabilitätslage zustande gebracht hat. Unsere Schwachstelle blieben auf Dauer die begrenzten Möglichkeiten zur Erneuerung der Technik und die nicht stabile Materialund Rohstoffversorgung. Unsere Stärke waren die Improvisationskunst und die eigene Herstellung neuer technologischer Lösungen. Selbstverständlich waren die betriebsübergreifende Vermittlung von „Know-how“ und die gegenseitige Hilfe ohne Betriebsegoismus möglich. Seit 1976 bestand beim Wirtschaftsrat eine „Akademie für sozialistische Wirtschaftsführung“. Dort erfolgte die Weiterbildung leitender Mitarbeiter der Betriebe. Die Kombinatsdirektoren nahmen an Lehrgängen des Institutes des Ministeriums in Berlin teil. Das Profil der Lehrgänge bezog sich auf aktuelle Themen der Leitung und Betriebswirtschaft, der Anwendung der EDV sowie der politischen Weiterbildung. Anfang der 1990er Jahre arbeiteten Sie für die im März gegründete Treuhandanstalt. Welche Erfahrungen machten Sie in dieser Zeit in Bezug auf „Sanierung und Privatisierung“ ehemaliger volkseigener Betriebe? Entsprechend dem Ministerrats-Beschluss vom März 1990 erfolgte auch in Karl-MarxStadt im Frühjahr die Bildung einer Niederlassung der Treuhandanstalt zur Verwaltung des Volkseigentums. Dort nahm ich am 1. Mai 1990 meine Tätigkeit als „Leiter des Bereichs Organisation und Verwaltung“ auf. In dieser Funktion war ich auch bis Oktober 1990 Verantwortlicher für innere und äußere Personalangelegenheiten, d. h. ich unterbreitete Vorschläge für den Einsatz von Geschäftsführern in den neugebildeten GmbH. Bis Anfang Oktober waren in der Niederlassung Karl-Marx-Stadt ausschließlich Mitarbeiter aus Betrieben oder Einrichtungen der DDR tätig. Bei der Auswahl und dem Einsatz der Geschäftsführer waren wir sehr darauf bedacht, möglichst günstige Bedingungen für die Weiterführung der Betriebe zu schaffen. Das verkomplizierte sich nach der Währungsunion, als für viele Betriebe über Nacht die Absatzchancen und Märkte wegbrachen. Es wurden massenhaft Lebensmittel, Textilien, Haushaltsartikel usw. aus der BRD geliefert. Die stark auf Konsumgüter orientierten Betriebe hatten kaum noch Absatzchancen. Viele Betriebsleiter gerieten unter Druck, weil sie für die Arbeitslosigkeit verantwortlich gemacht wurden. Mit dem Ende der DDR änderte sich die Mitarbeiterstruktur der TH-Niederlassung bedeutsam. Es kamen viele neue Mitarbeiter aus dem „Westen“, denen Struktur und Charakter unserer Industriestruktur „böhmische Dörfer“ waren. Sie kannten die Marktwirtschaft, die DDR-Wirtschaft allerdings „nur“ aus der BILD-Zeitung. Die Einstellung erfolgte durch die Zentrale in Berlin. Der neue Leiter der Niederlassung aus NRW mit Geburtsort Thüringen war sehr darauf bedacht, die Betriebe zu erhalten. Das entsprach auch der Grundtendenz, die Detlev Karsten Rohwedder ursprünglich vertreten hatte. Die dann erfolgte Richtungsänderung hat auch der Entwicklung unserer Wirtschaft im Bezirk schlecht getan. Das konnte ich durch meine Kontakte zu vielen ehemaligen Kollegen in den Betrieben des Bezirkes mitverfolgen.
494 Bei der eher mittelständischen Industriestruktur im Bezirk interessierten sich große Unternehmen aus dem Westen kaum für unsere Betriebe. Es gab dann einige Fälle, wo sich „Geschäftemacher“ aus dem Westen – begünstigt von Mitarbeitern der NL auch von dort – in Betriebskäufen engagierten. In der Mehrheit der Betriebe versuchten die Mitarbeiter oder die ehemaligen Direktoren, eine Übernahme zu erzielen. Das Problem war die meist schwache Eigenkapitaldecke. Dazu kam die Zurückhaltung der Banken bei der Kreditvergabe an solche „Existenzgründer“. Zeitweise habe ich mit einem Kollegen, der von AUDI kam, sowie einem Juristen der THA die „neuen“ Geschäftsführer geschult. Oftmals ging es um Rechts-/Organisationsfragen. Das half den neuen „Chefs“, sich in der völlig neuen „Paragrafenwelt“ zurechtzufinden bzw. zu orientieren. Sehr positiv schätzte ich den Einsatz von Ombudsmännern in unserer NL ein. Es gab viele Unstimmigkeiten bei der Berufung von Geschäftsführern, wenn es sich um ehemalige Betriebsdirektoren handelte. Auch bei der Bildung von Betriebsräten und der Anerkennung der Betriebszugehörigkeit gab es Streitfragen. Wenn Sie auf die letzten 30 Jahre zurückblicken: Was bleibt aus der 40-jährigen DDRGeschichte für die nachfolgenden Generationen übrig? Ich beginne die Antwort mit dem zweiten Teil Ihrer Frage. Meine Kinder und Enkel haben in dieser neuen Zeit „ihren Weg finden müssen“. Das ist ihnen auch gelungen. Begleitet war das von Jobsuche, Arbeitslosigkeit und mancher Hürde bei der beruflichen Entwicklung. Die stabilen Möglichkeiten, die wir in Bezug auf Berufsentwicklung und auch Studium – mit anschließend sicherem Einsatz entsprechend der erreichten Qualifizierung – hatten, sind den jungen Leuten allenfalls aus unseren Erzählungen bekannt. Aus der DDR ist für sie – die nachfolgenden Generationen –, was ihre Lebensumstände betrifft, nichts übriggeblieben. Die neoliberale Gesellschaft hat doch eine ganz andere Arbeitswelt und erst recht andere Normen der menschlichen Beziehungen geschaffen. Was mich betrifft, so bin ich durch vorzeitige Beendigung unseres Arbeitslebens – auch aus gesundheitlichen Gründen – früher in das „Rentnerdasein“ entlassen worden, als ich mir das vorgestellt hatte. Meine Frau hatte das Glück, „gerade 60“ noch das Rentenalter zu erreichen, bevor ihre Arbeitsstelle geschlossen wurde. Wir haben den neuen Lebensabschnitt mit nützlichen Beschäftigungen ausgefüllt, mit unserem Garten, mit der Hilfe für Kinder und Enkel und auch unserer kleinen Hundezucht. Wir beklagen uns nicht. Unsere Renteneinkünfte sind so, dass wir davon gut leben können. Unsere Gesundheit – mit über 80 – ist nicht mehr die beste, aber im Randgebiet der Großstadt haben wir Zugang zu guter medizinischer Betreuung.
495 Manfred Domagk „Walter gehörte aus meiner Sicht zu den qualifiziertesten Fachleuten des Finanzwesens der DDR.“
Abb. 66: Porträt von Manfred Domagk
Manfred Domagk wurde am 13. April 1938 in Baruth/Mark Brandenburg geboren. Dort besuchte er die Grundschule und anschließend die Oberschule in Dahme. Nach dem Abitur ging er freiwillig von 1958 bis 1960 zur Nationalen Volksarmee. Anschließend folgte seine Beschäftigung in der Unterabteilung Preise beim Rat der Stadt in Leipzig als Referent und Hauptreferent, wo er für die Preisbildung im Handwerk und anderer örtlicher Betriebe verantwortlich war. In Folge wurde er im Büro der Regierungskommission für Preise des Ministeriums der Finanzen in Berlin tätig, und zwar auf dem Arbeitsgebiet der Durchführung der Industriepreisreform für die Industriebereiche Zellstoff und Papier, der Polygrafie und des Verlagswesens. Im Zuge der Bildung des Amtes für Preise beim Ministerrat der DDR wurde Domagk wissenschaftlicher Mitarbeiter des Staatssekretärs mit einem sechsjährigen Fernstudium an der Hochschule für Ökonomie in Berlin, das er mit dem Diplom-Wirtschaftler abschloss. Im Anschluss war er bei der „Zentralen Staatlichen Preiskontrolle für Investitionen“ stellvertretender Leiter. Diese Tätigkeit wurde durch ein einjähriges Studium an der „Parteihochschule Karl Marx“ sowie einen einjährigen Einsatz in der Abteilung Planung und Finanzen des ZK der SED unterbrochen. Ab 1978 erfolgte seine Berufung zum Staatssekretär des Amtes für Preise beim Ministerrat der DDR. Diese Funktion bekleidete er bis in das Jahr 1990 hinein. 1984 promovierte Domagk zum Dr. rer. oec. an der Humboldt-Universität zu Berlin, wo er über 20 Jahre Gastdozent war. Darüber hinaus war er Mitglied des Wissenschaftlichen Rates der Sektion „Staatliche Leitung der Volkswirtschaft“ an der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaften in Babelsberg.
496 Wann traten Sie in die FDJ ein und wann wurden Sie Mitglied der SED? 9 In meinem ganzen, bewussten Leben war und ist die Erhaltung des Friedens das Wichtigste. Dies hängt vor allem mit persönlichen Erlebnissen zum Ende des Zweiten Weltkrieges zusammen, bei dem meine Heimatstadt zwischen die Fronten geriet. Dabei ging unser Elternhaus am 20. April 1945 in Flammen auf, aber so, dass gerade noch Zeit genug war, mit meiner Mutter, meiner Schwester und den Großeltern zu flüchten, um im nahen Wald Schutz zu suchen. Aber nicht nur das, auch die Tage danach haben sich angesichts vieler Toter und Verwundeter tief in mein Bewusstsein eingeprägt. Mit zunehmendem Alter eines Heranwachsenden verstand ich immer besser die propagierte Losung „Nie wieder Faschismus – nie wieder Krieg“ oder den im Schulunterricht vermittelten Schwur der Häftlinge des Konzentrationslagers Buchenwald, wonach die Vernichtung des Faschismus mit seinen Wurzeln und der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit zum Ziel erklärt wurden. In Folge dessen war für mich die Mitgliedschaft in der Pionierorganisation während der Grundschulzeit und zu Beginn der 1950er Jahre der Eintritt in die FDJ an der Oberschule nicht nur eine Selbstverständlichkeit, sondern vor allem mit aktivem Handeln verbunden. So bekleidete ich u. a. die Funktion eines Gruppenratsvorsitzenden in der Pionierorganisation oder die des FDJ-Sekretärs unseres Klassenjahrganges an der Oberschule. Letztere erforderte eine Zusammenarbeit mit der FDJ-Kreisleitung Luckau, was ich einige Monate nach dem Abitur bis zum freiwilligen Dienst in der Nationalen Volksarmee nutzte, um dort zeitweilig als Instrukteur tätig zu sein. Der Beginn meiner SED-Parteizugehörigkeit war vornehmlich auf ein Ereignis zurückzuführen, das Pläne über einen militärischen Angriff auf die DDR und damit gegen den sogenannten Ostblock offenbarte. Das bewegte mich, Anfang 1960 der SED beizutreten, deren Friedenswillen, wie bereits angesprochen, Programm war. In der Partei selbst höhere Funktionen zu erstreben, lag mir fern. Dies auch deshalb, weil ich schon in jungen Jahren über bestimmte Praktiken innerhalb der Partei meine Zweifel hatte. Beispielsweise bei der Durchführung von Parteiverfahren, wenn ein Genosse seine Frau betrogen hatte, oder beim Liedtext „Die Partei, die Partei hat immer recht!“ Noch absurder empfand ich das FDJ-Aufgebot, junge Menschen als Parteimitglieder zu gewinnen. Wäre die Partei für sie attraktiv gewesen, hätte es dieser Aktivität nicht bedurft, zumal dabei meistens Personen nicht aus Überzeugung in die Partei eintraten, sondern sich vielmehr daraus irgendwelche Vorteile erhofften. Hinzu kamen in späteren Jahren die schon angesprochenen Fehler und Mängel. Ich selbst sah meine Pflicht als Parteigenosse vor allem darin, mit ganzer Kraft, Fleiß, Engagement und Gründlichkeit als Staatsfunktionär für die DDR – mein Vaterland – das Beste zu geben. Aus diesen Gründen empfand ich den würdelosen Beitritt der DDR auch als persönliche Niederlage; das Ende meiner Mitgliedschaft in der SED dagegen berührte mich nicht.
Das Interview war ein Folgegespräch mit Manfred Domagk und fand am 4.8.2020 in Berlin statt. Das Erstgespräch wurde am 13.7.2018 in Berlin geführt und in der Publikation Gehler/Dürkop, Deutsche Einigung, Reinbek 2021, veröffentlicht. 9
497 Sprechen wir über die turbulente Zeit 1989/1990: Nicht Walter Siegert, sondern Uta Nickel 10 wurde Finanzministerin in der Regierung Modrow. Wie kam es eigentlich dazu? Was wissen Sie darüber? Uta Nickel hatte ohne Zweifel durch viel Fleiß, verbunden mit entsprechender Förderung, immerhin die Funktion des Ratsmitgliedes für Finanzen in Leipzig – heute in etwa vergleichbar mit einer Ministerin einer Landesregierung erreicht. Dennoch hat uns Insidern ihre Berufung zur Finanzministerin in der Regierung Modrow überrascht. Praxis war, dass solche Kaderentscheidungen jeweils in den Fachabteilungen des ZK der SED vorbereitet wurden – in diesem Fall durch die Abteilung Planung und Finanzen. Sicher spielte auch die Besetzung der Funktion durch eine Frau eine Rolle, zumal diese in der DDR bis dato ausschließlich Männer bekleideten. Der Initiator war offensichtlich Hans Dietzel, stellvertretender Leiter der Abteilung Planung und Finanzen des ZK der SED, der zuvor viele Jahre beim Rat des Bezirkes Leipzig in verantwortungsvoller Position tätig war und U. Nickel von daher gut kannte. Obwohl ich mit ihm bis zu seinem Lebensende eng befreundet war, habe ich ihn nie daraufhin angesprochen. Dies deshalb, weil nicht Wenige in vertraulichen Gesprächen die Auffassung vertraten, dass Uta Nickel auf dem Posten einer Finanzministerin eine Fehlbesetzung sei. Aller Anfang in einer neuen Tätigkeit ist bekanntlich in der Regel nie einfach, doch selbst unter Berücksichtigung dessen zeigte sich schon nach wenigen Wochen, dass sie den Anforderungen – vor allem im Hinblick auf die sich seinerzeit täglich verändernden Wirtschafts- und finanzpolitischen Bedingungen – nicht gewachsen war. Es bedauerte daher keiner, dass U. Nickel nach kurzer Zeit wegen gegen sie eingeleiteter staatsanwaltlicher Ermittlungen ihre Funktion niederlegte. In diesem Zusammenhang gab es eine Entscheidung, die, hätte die DDR weiter existiert, politisch nicht nachvollziehbar war. Worum ging es dabei? Die Entscheidung bestand darin, den gesamten Preisapparat nach 22 Jahren als selbständiges Organ des Ministerrates erneut dem Finanzminister zu unterstellen. Bis 1966 war das auch der Fall und hatte seinen Ursprung bereits in den Befehlen der Sowjetischen Militäradministration zur Gründung und den Aufbau einer Wirtschaftsverwaltung in der sowjetisch besetzten Zone. Was war dabei das Problem? Faktum ist: Ein Finanzminister hat in erster Linie die Verantwortung dafür, einen ausgewogenen Finanzhaushalt zu gewährleisten, der Staatseinnahmen zur Deckung der staatlichen Ausgaben möglichst ohne Schulden sichert. Neben effektiven Wirtschaftsleistungen waren jedoch die Preise eines jener Instrumente, über deren entsprechende 10
Ein Zeitzeugengespräch lehnte Frau Nickel fernmündlich ab.
498 Erhöhung die Möglichkeit bestand, manche Finanzlücken zu schließen bzw. Subventionen zu vermeiden. Der Versuchung, an der „Preisschraube“ zu drehen, unterlag jeder Finanzminister, zumal auch andere Minister oftmals entsprechende Vorschläge einbrachten. Eingeschränkt wurde diese subjektive Widersprüchlichkeit durch die Bildung einer Regierungskommission für Preise und deren Büro im Jahre 1956. Zwar war auch hier der Finanzminister Vorsitzender dieser Kommission, jedoch gehörten ihr Vertreter anderer zentraler Staatsorgane an, deren Standpunkte bei der Entscheidungsfindung zu berücksichtigen waren. Hauptsächlich betraf das generelle Maßnahmen zur Qualifizierung des Preissystems mit dem Ziel, die Volkswirtschaftsplanung in ihrer Einheit von materieller und finanzieller Planung zu verbessern. Was beinhaltete die Qualifizierung des Preissystems im Wesentlichen? In Abkehr von freier Preisbildung des Kapitalismus und dem damit verbundenen „Preiskampf“ zwischen den Marktführern, unzulässigen Preisabsprachen sowie der praktizierten Lohn-Preisspirale, sollten die Preise fest in der Hand des sozialistischen Staates sein. Dabei ging es darum, in Anwendung des Wertgesetzes die Funktionen des Preises umfassender zur Wirkung zu bringen. Das betraf in erster Linie deren Messfunktion und erforderte konkret, den nationalen Aufwand im Preis als Geldausdruck des Wertes für jedes Erzeugnis bzw. jede Leistung exakt zu bestimmen. Zweitens ging es um die Stimulierungsfunktion, in der z. B. über Preiszuschläge die Produktion von Erzeugnissen mit verbesserten Gebrauchseigenschaften gefördert wurde, während Preisabschläge bei veralteten Erzeugnissen zur Anwendung kamen. Nicht zuletzt betraf es die Verteilungsfunktion, um zum Beispiel Angebot und Nachfrage über den Preis zu steuern. Wie kam es zur Gründung des Amtes für Preise beim Ministerrat der DDR? Das stand im Zusammenhang mit der Erarbeitung des „Neuen ökonomischen Systems der Planung und Leitung“. Dessen Ziel war, das Planungssystem zu qualifizieren. Das bedeutete, die Planung der Volkswirtschaft zu vereinfachen, so z. B. anstelle von 800 Bilanzen des Volkswirtschaftsplanes nur noch 240 Bilanzen zu erstellen. Zum anderen sollten die ökonomischen Kategorien Preis, Kosten, Gewinn, Kredit und Zins in der Leitungstätigkeit eine größere Rolle spielen sowie die Eigenverantwortung der Kombinate und Betriebe weiter ausgestaltet werden. In diesem Zusammenhang erhielt die Qualifizierung des Preissystems einen besonderen Stellenwert, was notwendigerweise zur Bildung eines eigenständigen, zentralen Preisapparates – losgelöst vom Finanzministerium führte. Wann war das? Das Amt für Preise beim Ministerrat der DDR wurde 1966 gebildet, stand unter Leitung eines Ministers, der zugleich dem Präsidium des Ministerrates angehörte.
499 Wie war dieses Amt strukturiert und wie viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter waren dort tätig? Das Amt für Preise war in Fachabteilungen und Außenstellen nach Industriezweigen gegliedert. Hinzu kamen Stabsabteilungen, wie z. B. die Abteilung Planung oder volkswirtschaftliche Analyse/EDV. Außerdem gab es ein Forschungsinstitut sowie die Zentrale Staatliche Preiskontrolle für Investitionen und die innere Verwaltung. Hinzu kamen die Weisungsbefugnisse gegenüber den Abteilungen Preise der Räte der Bezirke. Insgesamt waren im Amt für Preise ca. 600 Leiter und Mitarbeiter beschäftigt. Würden Sie bitte noch etwas darüber sagen, welchen Umfang die Preisarbeit umfasste? Rückblickend ist festzustellen, dass die Preisleute – so wurden wir oftmals bezeichnet – in allen Etappen der ökonomischen Entwicklung der DDR im übertragenen Sinne immer mit an erster „Front“ standen. Dies insbesondere bei der Festpreisbildung in den Jahren 1953 bis 1961, wobei es darum ging, für gleiche Erzeugnisse und Leistungen einheitliche Preise zu schaffen; bei der Industriepreisreform in den Jahren 1962 bis 1967, die mit einer Umbewertung der Grundmittel verbunden war sowie ab 1971 bei der schrittweisen Einführung der Industriepreisplanung mit ihren jährlichen Industriepreisänderungen und nicht zuletzt bei der Durchführung der Agrarpreisreform. Was die Industriepreisplanung betrifft: Sie war das Hauptinstrument zur stetigen Annäherung an den gesellschaftlich notwendigen Aufwand. Das betraf z. B. ein Preisänderungsvolumen in der Industrie bis 1986 von rd. 188 Mrd. Mark, vor allem den gestiegenen Kosten für importierte Roh- und Werkstoffe sowie für die Gewinnung einheimischer Rohstoffe geschuldet. Hinter diesem Volumen verbarg sich eine immense Arbeit auf dem Gebiet des Preisrechts. Jeder Preis musste staatlich bewilligt sein und den Abnehmern entsprechende Erzeugnisse mitgeteilt werden, um in der finanziellen und materiellen Planung entsprechend Anwendung zu finden. Dazu wurden Preisanordnungen oder Preisverordnungen bzw. andere rechtliche Dokumente erlassen. Mich interessiert auch, wie die Festlegung der Verbraucherpreise erfolgte. Die staatliche Bestätigung von Verbraucherpreisen war ständiger Schwerpunkt unserer Arbeit. Grundsätzlich galt eine strikte Beibehaltung bestehender Preise. Im Zusammenhang mit der Weiterentwicklung von Erzeugnissen hinsichtlich höherer Gebrauchseigenschaften, der Herstellung neuer Erzeugnisse bei industriellen Konsumgütern, der Nahrungsmittelwirtschaft sowie bei modischer Bekleidung u. v. a. m. nahm diese Arbeit zu. Wöchentlich tagte unter Leitung unseres Amtes der Zentrale Preisbeirat, dem leitende Wirtschaftsfunktionäre aus anderen Bereichen bzw. stellvertretende Minister angehörten, zur Festlegung entsprechender Verbraucherpreise. Insgesamt wurden auf diese Weise jährlich etwa 30 000 Preisbestätigungen vorgenommen.
500 Anzumerken sei, dass dies alles einschließlich der noch nicht erwähnten Preisregelungen für das Handwerk sowie andere Dienstleistungen erfolgte, um dem politischen Grundsatz zu entsprechen, wonach die Preise fest in der Hand des Staates zu sein hatten. Insgesamt wurde also eine erfolgreiche Arbeit geleistet, jedoch gelang es uns nicht, dass politisch bedeutende Verbraucherpreissystem generell zu reformieren und dabei die Subventionen zu beseitigen. Diese betrugen allein für Grundnahrungsmittel 1990 32 Mrd. Mark. Das bedeutete z. B. 85 Mark Subventionen bei einem Einkaufswert von 100 Mark. Unser Konzept bestand darin, die Preise generell zu erhöhen und die dabei entfallenden Subventionen durch höhere Einkommen wie Löhne, Renten, Stipendien usw. auszugleichen. Das hätte zugleich die Struktur des Einkommens verändert. Nur 57 % des Einkommens der Bevölkerung erfolgte direkt in Form von Löhnen usw. Der andere Teil, die sogenannte zweite Lohntüte, bestand aus Subventionen. Jährlich versuchten wir, dies zu ändern, und stießen dabei auf eine strikte Ablehnung unserer Vorschläge durch Erich Honecker. Er betrachtete diese Politik als soziale Errungenschaft der DDR, obwohl sie vom Volk als solche nicht mehr wahrgenommen wurde. Außerdem führte sie vielfach zum Verfüttern von Nahrungsmitteln oder einem sorglosen Umgang mit Energie, Wasser und anderen Ressourcen. Die Funktion eines Staatssekretärs möchte ich in den Mittelpunkt rücken. Er unterlag Weisungsbefugnissen, erledigte Aufgaben in seinem Wirkungskreis. Seine Grenzen waren die Anleitungs- und Kontrollfunktion mit entsprechenden Entscheidungsvollmachten. Ihm unterstanden Kader- und Rechtsabteilungen, die Öffentlichkeitsarbeit und weitere Bereiche. Sie waren der jüngste Staatssekretär der DDR und bekleideten die Funktion im Amt für Preise beim Ministerrat der DDR ab 1978. Walter Siegert wurde 1980 Staatssekretär im Ministerium der Finanzen. Somit sind Sie beide sehr gut vergleichbar. Wie sah Ihre tägliche Arbeit aus? Grundsätzlich ist festzustellen, dass der Staatssekretär zugleich 1. Stellvertreter des Ministers war. Er war damit derjenige, der den Minister in allen Belangen bei dessen Abwesenheit zu vertreten hatte – das vor allem im Ministerrat sowie im Politbüro bzw. im Sekretariat des ZK der SED bei Beratungen entsprechender Beschlussvorlagen. Außerdem betraf das auch die Teilnahme an Sitzungen im Rahmen der Tätigkeit des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe der sozialistischen Staatengemeinschaft. Das bedingte, dass ein Staatssekretär nicht nur seinen eigenen Zuständigkeitsbereich zu beherrschen hatte; vielmehr musste er über die ganze Breite der Preisarbeit informiert sein. Bei uns war das sehr vielfältig, dies vor allem im Hinblick auf die komplizierte Verbraucherpreispolitik. Ständig wurde in Führungskreisen über Verbraucherpreise diskutiert, dem einen waren sie zu niedrig, dem anderen zu hoch. Tagte der schon erwähnte Preisbeirat, gab es bei problematischen Entscheidungen stets eine Vorberatung unter Leitung unseres Ministers, um zu einem einheitlichen Standpunkt für die Entscheidungsfindung zu gelangen. Was die besondere Zusammenarbeit zwischen Minister und Staatsekretär betraf, so
501 musste sie vor allem von Vertrauen und Verlässlichkeit geprägt sein. Eine Rolle spielte dabei, ob ein Minister die jeweilige Person selbst zum Staatssekretär wollte oder ihm diese auf Vorschlag der jeweiligen Abteilung des ZK der SED vorgesetzt wurde. Wie ich von einigen Kollegen weiß, führte letzteres oftmals zu gegenseitigem Misstrauen. Vertrat z. B. ein Staatssekretär seinen Minister im Ministerrat und dessen Vorsitzender lobte bei passender Gelegenheit die sachkundigen Darlegungen, dann läuteten bei dem betreffenden Minister schon die Warnglocken, ob dies bereits ein Anzeichen für die Neubesetzung seiner Funktion sei. Wissen Sie, wie konkret das bei Ihrem Freund Walter Siegert war? Sicherlich haben Sie sich neben der Diskussion nicht nur über die Arbeit ausgetauscht, sondern auch über andere Dinge verständigt? Durch die Charaktereigenschaften Walter Siegerts, ehrlich, offen und sehr sachlich Probleme zu lösen, hat er sich, egal unter welchem Minister und Kollegen, stets hohe Anerkennung erworben. Hervorzuheben ist, dass er es in seiner Amtszeit – sei es als Chef der Staatlichen Finanzrevision oder als Staatssekretär – mit fünf Ministern und einer Ministerin zu tun hatte. Selbst unter Minister S. Böhm – ein enger Vertrauter G. Mittags – von sich überzeugt und strotzend voll Überheblichkeit, gab es eine relativ gute Zusammenarbeit. Oftmals stand Walter unter Druck, wenn z. B. im Rahmen der Finanzrevision Verstöße gegen die Finanzdisziplin aufgedeckt wurden und diese Anlass für prinzipielle Kritiken an dem betreffenden Generaldirektor durch G. Mittag geboten hätten. In solchen Fällen folgte S. Böhm dem Vorschlag Walters, solche Verstöße nicht publik zu machen. Es sei denn, sie wurden aufgrund ähnlicher Feststellungen von anderen Kontrollorganen, wie z. B. die Arbeiterund Bauerninspektion, direkt angesprochen. Was die Zusammenarbeit zwischen uns und S. Böhm betraf, so war sie nicht immer einfach, in einem Fall sogar hinterhältig. Ohne uns einzubeziehen, wurde mit Zustimmung G. Mittags die Produktion von Kaffee-Mix organisiert und mit überhöhtem Preis auf den Markt gebracht. Ursache dessen waren gestiegene Weltmarktpreise für Rohkaffee. Dieser Kaffee-Mix – hergestellt aus Bohnen und irgendwelchen Ersatzmitteln – löste großen Unmut unter der Bevölkerung aus und es hagelte, im wahrsten Sinne des Wortes, jede Menge Eingaben. Auf Weisung Honeckers wurde die ganze Sache zurückgenommen, aber wir hatten die Arbeit. Nicht zuletzt standen auch Walter und ich mitunter vor schwierigen Entscheidungen, so u. a. bei Investitionen. Wurden z. B. genehmigte Valutaaufwendungen für importierte Anlagen durch geschickte Preisverhandlungen des betreffenden Außenhandelsunternehmens unterschritten, weckte das Wünsche bei General- oder Betriebsdirektoren zum Import anderer Erzeugnisse, beispielsweise Geräte für die Betriebspolikliniken. Derartige Anliegen besprach ich mit Walter vertraulich außerhalb unserer Büros. Grundsätzlich war ich der Meinung, hier zu helfen mit der Begründung, dass der für das eigentliche Investvorhaben verbindlich vereinbarte Investitionsaufwand nicht überschritten
502 wird. Außerdem handelte es sich immer um sinnvolle Importe für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Dafür eine gesonderte Beschlussfassung durch den Ministerrat zu erwirken, hielt ich für unnötig, höchstens nochmals eine Abstimmung mit Alexander Schalck, um Bedenken durch den Außenhandel vorzubeugen. In solchen Fällen reagierte Walter stets vorsichtig und zurückhaltend, sodass ich derartige Geschäfte auf meine Kappe nahm. Der ehemalige Generaldirektor und spätere Minister Dr. Lauck vermerkte in seinen Memoiren, dass er solche Sachen mit mir besprochen habe und konstatierte: „Nun konnten alle ruhig schlafen.“ Letztendlich hat alles ohne Probleme geklappt und ich blieb unbehelligt. Wie nahmen Sie Walter Siegert wahr? War er mehr ein Akteur der Finanzen oder mehr ein Parteigenosse? Das kann man so nicht voneinander trennen. Sowohl Walter als auch ich haben grausame Erinnerungen an das Ende des Zweiten Weltkrieges. Walter wurde noch zur Heimatfront einberufen; ich flüchtete mit Mutter, Schwester und Großeltern am 20. April 1945 aus unserem brennenden Haus, dabei verstreut liegende tote und schreiende, verwundete Soldaten im Blick, Auswirkungen der Kesselschlacht um Halbe. Das war prägend für unseren Lebensweg. Als später die SED und danach die DDR entstanden und den Schwur von Buchenwald „Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg“ sowie den Aufbau einer sozialistischen Sozial-, Bildungs- und Gesundheitspolitik zum Ziel ihrer Politik erklärten, entstand mit zunehmendem Alter bei uns die Bereitschaft, sich für diesen Staat zu engagieren. Die DDR war Heimat und unser Vaterland! Insgesamt wuchs daraus die Überzeugung, sich als Parteigenosse durch Aneignung von Wissen, verbunden mit hoher Einsatzbereitschaft, für ihr Wachsen und Werden einzusetzen. Eine sachkundige, konstruktive Aufgabenerfüllung unter volkswirtschaftlichen Anforderungen stand dabei im Mittelpunkt, wobei sich Walter stets als exzellenter Kenner der politischen Ökonomie und Experte seines Faches erwies. Nur Parolen und Losungen der Partei oder allgemeine Sprüche von uns zu geben, wie das manch einer draufhatte, um als strammer Parteigenosse zu erscheinen, war unser beider Sache nicht; ebenso wie die übertriebene Huldigung des Generalsekretärs oder das Lied „Die Partei, die Partei hat immer Recht!“ Wurde von Ihnen beiden mehr Initiative im parteilichen Kontext eingefordert? Hier kann ich nur für mich sprechen. Mehr Initiative wurde von mir nie gefordert. Verschweigen will ich nicht, dass ich in der Abt. Planung und Finanzen des ZK der SED Probleme ansprach, die meines Erachtens einer Lösung bedurften, aber nicht der Politik entsprachen.
503 Was meinen Sie konkret damit? Zum Beispiel die Stationierungskosten der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland. Hierzu zählte auch die Belieferung mit subventionierten Grundnahrungsmitteln, Treibstoffen, die Nutzung von subventionierten Wohnungen oder der unreale Wechselkurs zum Rubel. Insgesamt betrug diese finanzielle Belastung der DDR 1 Mrd. Mark jährlich. Ein anderes Problem betraf den Vorschlag, kleinen Betrieben zu gestatten, die Preise für die Produktion von Konsumgütern aus örtlichen Organen selbst zu bilden und nicht staatlich festzulegen. Sprach ich solche Dinge an, erhielt ich als Antwort vom zuständigen Sektorenleiter: „Das kannst Du vergessen!“ Peter Joachim Lapp 11 schreibt zu den Kollegien: „Es handelte sich um beratende Organe des Ministers bei der Entscheidungsvorbereitung, […] zu den kollektiv zu beratenden Grundfragen gehörten Probleme der langfristigen Planung, der wissenschaftlich-technischen Entwicklung und der sozialistischen Integration. […].“ Wie wichtig waren diese Kollegien? Die Kollegien hatten vor allem für die Industrieminister ohne Zweifel ihre Berechtigung. In unserem Amt waren die Kollegiums-Sitzungen mehr eine Informationsveranstaltung über die Vervollkommnung des Preissystems. Dies deshalb, weil wir uns dabei auf die Forschungskooperation mit der Hochschule für Ökonomie und den Arbeitsergebnissen unseres eigenen Forschungsinstituts stützen konnten. Im erwähnten Buch heißt es weiter: „In der Zusammenarbeit vor allem mit der StPK (Staatliche Plankommission) kommt es immer wieder zu Reibungen, da die Staatliche Plankommission bestrebt ist, ein möglichst schnelles Wachstum der DDR-Wirtschaft zu erwirken, das Ministerium der Finanzen aber daran interessiert ist, dass dieses Wachstum zu vernünftigen Kosten erreicht wird. Der Konflikt zwischen Planern und Finanziers ist damit stets vorprogrammiert.“ 12 Einen Kommentar zu dieser Auffassung erspare ich mir aus Höflichkeit. Fakt ist, dass es sowohl der StPK als auch dem Finanzministerium stets um wirtschaftliches Wachstum bei Anwendung realer, den nationalen Aufwand widerspiegelnder Preise und entsprechender Kosten ging. Gerade deshalb waren Experten beider Institutionen Mitglieder der von mir geleiteten ständigen Arbeitsgruppe zur Durchführung jährlicher planmäßiger Industriepreisänderungen. Dabei kamen wir stets zu einer gemeinsamen Entscheidung, ohne sie wären entsprechende Beschlüsse des Ministerrates auf diesem Gebiet nie zustande gekommen. Wie nahmen Sie das „Neue Ökonomische System der Planung und Leitung“ (ÖSS) wahr? Also das wirtschaftspolitische Reformkonzept zur Modernisierung der zentralen Planwirtschaft der DDR, das ab 1963 durch eine Richtlinie des Ministerrates umgesetzt 11 12
Lapp, Der Ministerrat der DDR, Ebd., S. 64–65. Ebd., S. 146.
504 wurde. Danach modifiziert fortgesetzt und bis 1970 um das „Ökonomische System des Sozialismus“ erweitert. Das fiel alles in Ulbrichts Amtszeit. Wie haben Sie dieses Jahrzehnt erlebt? Vorausgeschickt sei, dass unser Minister, Walter Halbritter, gleichzeitig Leiter der Arbeitsgruppe für die Gestaltung des ÖSS war. Insofern verfügten wir stets über aktuelle Informationen zum Stand der Arbeit. Was das Ökonomische System selbst betraf, so war – wie schon angesprochen – seine Erarbeitung ein notwendiger Reformschritt, um die ökonomischen Gesetze des Sozialismus umfassender zur Wirkung zu bringen. Ökonomen der Staatlichen Plankommission, des Finanzministeriums, der Staatsbank bzw. aus Industrieministerien und Kombinaten sowie renommierte Wissenschaftler hielten die beabsichtigten Regelungen für einen gangbaren Weg zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität und des damit verbundenen Wirtschaftswachstums. Was im Kapitalismus der Markt mit seinem Marktmechanismus war, wollten wir nach dem Grundsatz planmäßig gestalten: So viel Plan wie möglich und so viel Markt wie nötig, obwohl sich dafür insbesondere Betriebe mit staatlicher Beteiligung bei eigenverantwortlicher Preisbildung geeignet hätten. Anstelle dessen wurden diese jedoch vollständig in volkseigene Betriebe umgewandelt. Ein entscheidender Fehler Honeckers! Weiterhin gelang es den Reformern nicht, das Prinzip der „Eigenerwirtschaftung“, d. h. die Herstellung eines wirtschaftlichen Zusammenhangs zwischen ökonomischen Resultaten und deren eigenständige Verfügung für die einfache und erweiterte Reproduktion in Betrieben und Kombinaten zu verwirklichen. Alles in allem betrachtet, hatte dies subjektive Ursachen. Den „Altkadern“ in der Parteiführung gingen die vorgeschlagenen Regelungen insgesamt zu weit; sie werteten diese vielmehr als Abkehr vom Planungssystem nach sowjetischem Muster. Außerdem hatten sie Jugoslawien vor Augen, das einen anderen Weg zum Sozialismus, einschließlich ökonomischer Regelungen, eingeschlagen hatte, was immer wieder zu Spannungen mit der Sowjetunion und anderen sozialistischen Ländern führte. Hinzu kamen neue Wissenschaftsrichtungen, wie zum Beispiel die Heuristik oder die Kybernetik. Die dazu erschienenen Veröffentlichungen stießen oft auf Unverständnis und unpassend für das Ökonomische System des Sozialismus. Entscheidend für die Abkehr vom ÖSS war dessen Ablehnung durch die Führung der Sowjetunion. Sie fühlte sich brüskiert und belehrt und darüber hinaus in ihrer Führungsrolle gegenüber allen anderen sozialistischen Ländern beschädigt. Dies vor allem nach Erscheinen des Buches „Die ökonomischen Gesetze des Sozialismus und ihre Anwendung in der DDR“, 13 das den Eindruck erweckte, den darin enthaltenen Ausführungen in der gesamten sozialistischen Staatengemeinschaft Folge zu leisten zu müssen. Der Historiker Jörg Roesler schreibt: „Es existieren unterschiedliche Auffassungen sowohl bezüglich des Umfanges und der Tiefe des innerhalb des Planungssystems Werner Kalweit, Helmut Koziolek, Herbert Wolf, Horst Steeger u. a., Politische Ökonomie des Sozialismus und ihre Anwendung in der DDR, Berlin 1969.
13
505 vollzogenen ordnungspolitischen Wandels als auch in Bezug auf die Ursachen der begrenzten Dauer der Wirksamkeit des NÖS. Überwiegend wird das endgültige Ende der Reformmaßnahmen jedoch mit dem Wandelwechsel des ersten Mannes an der Spitze der SED in Zusammenhang gebracht. Das 1964 zuerst in der Industrie und später auch in anderen Bereichen der Volkswirtschaft eingeführte Neue Ökonomische System sei ungeachtet der ihm innewohnenden, beträchtlichen Widersprüche Anfang der 1970er Jahre nicht automatisch zusammengebrochen, sondern im Zusammenhang mit dem Machtwechsel von Walter Ulbricht zu Erich Honecker abgebrochen bzw. abgeschafft worden.“ 14 Schlussfolgert Roesler richtig? Ist das konform zu Ihren Erfahrungen, Erinnerungen und Reflexionen zu damals? Letzteres kann ich eindeutig bejahen; es war gewissermaßen der Schlusspunkt. Dabei stütze ich mich auch auf ein Gespräch mit einem Mitarbeiter aus unmittelbarer Nähe Honeckers. Danach soll Breschnew während seines letzten Besuches zu Ulbrichts Zeiten bei einem gemeinsamen Jagdausflug mit Erich Honecker diesem zugesagt haben, ihn bei der Übernahme der Funktionen Ulbrichts umfassend zu unterstützen. Bedingung: Abkehr vom Ökonomischen System des Sozialismus in der DDR.
Abb. 67: Domagk in seiner Privatwohnung im Gespräch – 2020.
Was wäre gewesen, wenn dieses NÖS-System einschließlich notweniger Korrekturen fortgeführt worden wäre? Was hätte es in Bezug auf die Entwicklung gesehen der DDR gebracht? Die DDR wäre ohne Zweifel wirtschaftlich und gesellschaftlich gestärkt worden; Produktivität und Effektivität wären gestiegen. Das wiederum hätte es ermöglicht, u. a. mehr Investitionen auf den Ersatz veralteter Produktionsanlagen zu konzentrieren, dort wo möglich, solche Anlagen zu modernisieren, die Mangelwirtschaft – insbesondere bei Konsumgütern – einzuschränken, Forschungsergebnisse in Wissenschaft und Technik zügiger umzusetzen sowie nicht zuletzt die Staatsverschuldung in Grenzen zu halten.
Klaus Blessing, Staatssekretär im Ministerium für Erzbergbau, Metallurgie und Kali der DDR, äußert sich zum Neuen Ökonomischen System wie folgt: „Die häufig kolportierte Aussage, dass in der Zeit des NÖS eine besondere, positive Entwicklung des Nationaleinkommens eingetreten sei und unter Honecker ab 1971 der Absturz erfolgte, hält
14 Jörg Roesler, Deutschland-Archiv 3/2003, 36. Jahrgang 2003, Honeckers Schachzug, Essay, S. 446.
Zur Vertiefung: Jörg Roesler, Geschichte der DDR. Basiswissen Politik/Geschichte/Ökonomie, Köln 2012.
506 einer empirischen Prüfung nicht stand.“ 15 Weiter schreibt er: „Das ist aber nicht das Entscheidende. Ausschlaggebend war, dass unter Ulbricht der DDR – wie einigen anderen sozialistischen Ländern auch – eine Gesellschaftsphilosophie des Überholens ohne einzuholen oktroyiert wurde, die völlig unrealistisch war. Ich teile die Auffassung der Autoren der ersten ‚Abschlussbilanz der DDR‘, wenn sie feststellen: ‚Mit dem Neuen Ökonomischen System wurde erneut eine völlig unrealistische Losung vom ‚Überholen ohne einzuholen‘ aufgestellt, die auf ebenso fatalen wie bezeichnenden Missverständnissen Ulbrichts von naturwissenschaftlichen und ökonomischen Prozessen beruht‘. […]“ Wie sehen Sie das? 16 Ich teile diese Einschätzung mit der Ergänzung, dass es vordringlich eine populistische Losung war – im historischen Vergleich jedoch noch übertroffen – von Bundeskanzler Kohl`s schwachsinniger Vorhersage über das Entstehen „blühender Landschaften“ im Osten Deutschlands nach der sogenannten Wiedervereinigung. Davon ist bis heute nichts zu spüren. Im Gegenteil: Betrachtet man die strukturschwachen Gebiete der BRD insgesamt, so entfallen 70 % davon allein auf das Territorium der DDR mit allen damit verbundenen Nachteilen für das gesellschaftliche Leben. Ab wann war Ihnen klar, dass der neue Kurs der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ Honeckers quasi ein Gegenpendent zum NÖS war? Dem kann ich nur bedingt zustimmen. Das NÖS bzw. ÖSS bestand aus konkreten Maßnahmen zur Verbesserung der Planung und Leitung der Volkswirtschaft, während die postulierte Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik ein umfassendes, politisch richtiges Programm war. Dabei wurde eine Politik betrieben, die nicht auf der Grundlage wahrheitsgetreuer Analysen des tatsächlichen Zustandes der Volkswirtschaft und daraus abgeleiteter Notwendigkeiten beruhte. Vielmehr wurden zunehmend unrealistische Ziele auf fast allen Gebieten der gesellschaftlichen Entwicklung in den Mittelpunkt des Handelns gestellt. Ausdruck all dessen war, dass im Prinzip keine der volkswirtschaftlichen Aufgaben – insbesondere die des 5-Jahr-Planes 1986 bis 1990 – erfüllt wurden, verbunden mit nicht ausreichend steigender Arbeitsproduktivität und einem Abschmelzen der Akkumulationsrate. Dem gegenüber stand die Einlösung der dem Volk der DDR versprochenen Sozialpolitik, was insgesamt dazu führte, dass wir spätestens ab Mitte der 70er Jahre über unsere Verhältnisse lebten. Es wurden Schulden mit neuen Schulden bezahlt. Hierzu ist anzumerken: Hatten die DDR-Bürger 1989 eine Pro-Kopf-Verschuldung von umgerechnet rund 1900 Euro, so beträgt die Pro-Kopf-Verschuldung für den jetzigen BRD-Bürger 26 407 Euro. 17 Zurück zur DDR: Ihre wirtschaftliche Gesamtsituation unterstreicht letztendlich die These, wonach die Arbeitsproduktivität für den Sieg einer neuen Gesellschaftsordnung Klaus Blessing, Wer verkaufte die DDR?, 2. Auflage, Berlin 2016, S. 32. Ebd., S. 33. 17 Klaus Blessing, Die Schulden des Westens, Berlin 2010. 15 16
507 entscheidend ist; dies allerdings in vollständiger Übereinstimmung zwischen Produktion und Bedarf. Letzteres zu erwähnen, halte ich für wichtig, weil die im Kapitalismus praktizierte Wirtschaftspolitik dem Profitstreben durch Wachstum, verbunden mit Überproduktion und Verschwendung von Ressourcen, zu dienen hat. Hierfür hatte die junge Republik bereits nach ihrer Geburt schwierigste Ausgangsbedingungen zu meistern. Darunter insbesondere die Bezahlung der Reparationskosten zu 98 % für ganz Deutschland, was einen Betrag von 15 Milliarden Dollar entsprach, die Demontage des zweiten Gleises und von 2500 Industriebetrieben, die Massenflucht von etwa 2,1 Millionen DDR-Bürgern mit einem Schaden von etwa 100 Milliarden DM zu damaligen Preisen. Hinzu kam der Aufbau völlig neuer Industriestandorte, um Arbeit zu den Menschen zu bringen, die Embargopolitik des Westens, verbunden mit Dumpingpreisen sowie steigenden Militärausgaben infolge des Kalten Krieges u. v. a. m. Von anerkannten Wissenschaftlern wurden in einem Gutachten für die Bundesregierung 1989/90 die Schulden des Westens gegenüber der DDR von 1945 bis 1953 mit 72,2 Mrd. DM beziffert. Das entspricht mit Zinsen und aktuellen Preisen bis 1989 einen Betrag von 727,1 Mrd. DM. 18 Dass es dennoch der DDR gelang, innerhalb der stärksten Industrienationen der Welt den 10. Platz einzunehmen, ist Ausdruck einer großen Lebensleistung ihrer Werktätigen. Dies alles verbunden mit einer bisher nicht gekannten Sozialpolitik, einer guten, kostenlosen Kinderbetreuung, der Lösung der Wohnungsfrage als soziales Problem, dem Aufbau eines auch international geschätzten Bildungs- und Gesundheitswesens sowie einem reichen Kulturleben einschließlich Körperkultur und Sport. Demnach hatte die DDR das eigentliche Wirtschaftswunder durch fleißige Arbeit aller Werktätigen geschaffen, anders als das sogenannte Wirtschaftswunder Westdeutschlands, das zu großen Teilen auf dem Marshallplan mit seinen ökonomisch günstigen Krediten und dem Erlass von Schulden beruhte. Sie erwähnten, dass von Ihrem Amt auch Investitionsvorhaben kontrolliert wurden. Vom wem und wie erfolgte das konkret? Ausgangspunkt für den Aufbau des dafür erforderlichen speziellen Kontrollapparates war ein Auftrag der Regierung zur Kostenüberprüfung des Bauvorhabens „Grenzübergang Drewitz/Westberlin“. Dabei wurden erhebliche Verstöße sowohl beim Leistungsumfang als auch bei den kalkulierten Preisen festgestellt. Stichprobenweise Kontrollen bei weiteren Investitionsvorhaben führten zur Feststellung ähnlicher Verstöße. Daraufhin wurde im Jahr 1969 durch den Beschluss des Ministerrates die Zentrale Staatliche Preiskontrolle für Investitionen gebildet. Entsprechende Spezialisten – Ingenieurökonomen, Preisökonomen, Betriebswirtschaftler u. a. – aus den Bereichen des Bauwesens, des Maschinen- und Anlagenbaues sowie der Elektronik/ Elektrotechnik hatten die jeweiligen Minister aus ihrem Verantwortungsbereich bereit zu stellen. Letztendlich 18
Ebd.
508 entstand ein Kontrollorgan mit zunächst 50, im Laufe der Zeit rund 100 hochqualifizierten Mitarbeitern und Leitern. Ihre Tätigkeit umfasste Kontrollen von Investitionsschwerpunkten in allen Bereichen der Volkswirtschaft, aber auch Investitionen auf kulturellem Gebiet wie den Palast der Republik, das Gewandhaus in Leipzig oder die Semperoper in Dresden. Gegenstand der Prüfung waren die zwischen Investitionsauftraggebern und Investitionsauftragnehmern vor Investitionsbeginn verbindlich zu vereinbarenden Preisangeboten. In enger Zusammenarbeit mit anderen Kontrollorganen, wie z. B. die Staatsbank, das Staatliche Büro für die Begutachtung von Investitionen oder die Staatliche Finanzrevision gelang es nicht nur, den Vorbereitungsstand der Investitionen zu verbessern und überhöhte Investitionsaufwendungen zu verhindern. Vielmehr wurden auch Lösungen für eine effektive Verwendung der Investitionsmittel erarbeitet. Um nur ein Beispiel zu nennen: Bei der Errichtung des Stickstoffwerkes im VEB Düngemittelkombinat Piesteritz, dessen Hauptanlagen, einschließlich Montageleistungen, überwiegend aus dem Ausland importiert wurden, ging es um die Frage, wo und wie das ausländische Management und dessen Monteure unterzubringen seien? Anstelle der ursprünglich vorgesehenen Errichtung von Baustellen-Wohnunterkünften wurde ein in der Nähe gelegenes Erholungsobjekt des Betriebes saniert und mit gut ausgestatteten Bungalows erweitert. Nach Abzug der dort untergebrachten Arbeitskräfte stand den Werktätigen des Stickstoffwerkes eine völlig neue Erholungseinrichtung zur Verfügung; die Errichtung von gesonderten Wohnunterkünften für die Bauarbeiter wurde so vermieden. Was unsere eigentlichen monetären Kontrollergebnisse betraf, so lagen sie im Durchschnitt bei etwa 10 % des überprüften Investitionsvolumens, was einem ungerechtfertigten Investitionsaufwand von rund 900 Mio. Mark jährlich entsprach. Dabei gab es selbstverständlich große Differenzierungen. Hatten wir bisher nicht überprüfte Betriebe „auf´s Korn“ genommen, waren etwa um 30 % überhöhte Preise keine Seltenheit. Dort, wo wir ständig Präsenz zeigten, wie z. B. im Kraftwerksanlagenbau, verbesserte sich die Kostenund Preisarbeit und logischer Weise gingen damit die Preismanipulationen zurück. Anzumerken sei: Gäbe es eine solche Kontrollinstitution beim Bundesfinanzministerium, so wären die beim Flughafen BER oder beim Bahnprojekt Stuttgart praktizierten Ermittlungen des Investitionsaufwandes mit dessen nachträglichen Erhöhungen undenkbar. Was ist für Sie das Bleibende von Walter Siegert, der am 2. Februar 2020 verstarb? Wir, die mit ihm über viele Jahre beruflich, privat und freundschaftlich verbunden waren, werden ihn stets als eine von vielen geschätzten Persönlichkeiten in Erinnerung behalten. Walter gehörte aus meiner Sicht zu den qualifiziertesten Fachleuten des Finanzwesens der DDR. Er war belesen, gebildet, kulturell interessiert und theoretisch auch ein Stück weit Wissenschaftler. Sein Handeln verband er mit Zuverlässigkeit und Hilfsbereitschaft sowie einer sachlichen, offenen und ehrlichen Umgangsart, was ihm insgesamt hohe Anerkennung einbrachte. Große Verdienste erwarb er sich in der sogenannten Wendezeit, u. a. bei der Vorberei-
509 tung der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion. Sein Rat war gefragt, wenn auch nicht immer befolgt. Im Sommer 1990, vorm Ausstieg der SPD aus der Regierung von de Maizière, legte zum Beispiel Minister Walter Romberg bei seinen Entscheidungen mehr Wert auf die Meinung westdeutscher Berater als auf die kompetenten Vorschläge Walter Siegerts. Wie war Siegert in der Öffentlichkeit unterwegs? Meines Wissens überwiegend zu Beratungen der Abteilung Finanzen der Räte der Bezirke sowie der Auswertung von Kontrollergebnissen der Finanzrevision mit Generaldirektoren von Kombinaten. Hinzu kamen u. a. Vorträge an der Humboldt Universität im Rahmen der Weiterbildung von Finanzkadern. War Walter Siegert ein typischer Beamter? Abgesehen davon, dass es diese Dienstbezeichnung in der DDR nicht gab, wird heutzutage unter einem typischen Beamten mehr oder weniger ein Angestellter des Staates verstanden, der seine Arbeit buchstabengetreu im Rahmen der durch Verrechtlichung von Entscheidungsprozessen entstandenen Verantwortungslosigkeit erledigt. Dem gegenüber war die Lösung der Aufgaben des Staatsapparates durch Leiter und Mitarbeiter von Kompetenz, Sachlichkeit und hoher Einsatzbereitschaft geprägt. Das alles traf, wie schon dargelegt, auch auf Walter Siegert zu. War Walter Siegert eher ein Ulbricht- oder Honecker-Mann? Ein Honecker-Mann war er garantiert nicht! Dafür war ihm dessen Reformunwilligkeit zu sehr bewusst. Hätten Sie sich Walter Siegert im Amt für Preise vorstellen können? Zwischen Finanz- und Preisleuten gibt es zwischen den Verantwortungsbereichen Unterschiede. Die Preisleute waren zwar in ihrer Arbeit auch sehr genau, hatten aber die Möglichkeit der „subjektiven“ Entscheidung. Zum Beispiel konnten wir entscheiden, für ein neues Erzeugnis zunächst einen Einführungspreis festzulegen, um auf diese Weise den Abkauf des betreffenden Erzeugnisses zu testen. Das, so glaube ich, wäre Walter schwergefallen, zumal er bei seinen Entscheidungen stets abwägend handelte. Sein Arbeitsgebiet stand außerdem nicht so im Blickpunkt wie unseres. Dies insbesondere bei Spitzenfunktionären der Parteiführung, vor allem beim Wirtschaftssekretär G. Mittag, der stets von sich überzeugt war, auch bei den Preisen alles besser zu wissen. Vielen Dank für die beiden intensiven Gespräche und die Charakterisierung von Walter Siegert. In Gedenken an ihn, sehr gerne.
511 Karl Döring „Was machen eigentlich die politischen Akteure eines anderen Staates auf unserem Territorium? Woher nahmen sie sich das Recht dazu? Wir waren doch ein selbstständiger Staat.“
Abb. 68: Karl Döring beim Diskutieren.
Karl Döring wurde am 11. Mai 1937 in Hohenstein-Ernstthal geboren. Sein Abitur legte er an der Arbeiter-und-Bauernfakultät (ABF) in Halle (Saale) ab. Danach wurde er 1955 zum Studium der Eisenhüttenkunde nach Moskau delegiert. Mit dem dort absolvierten Abschluss als Diplom-Ingenieur begann er als Schichttechnologe im Stahl- und Walzwerk Brandenburg. Dem Ruf der Alma Mater folgend promovierte er in Moskau, setzte dann sein Promotionsthema zu Inhomogenitäten beim Stahl-Stranggießen bei seiner Arbeit im VEB Rohrkombinat Stahl- und Walzwerk Riesa praktisch um. Nach seiner Laufbahn in Riesa wurde er bis zum Produktionsdirektor des Kombinats 1972 nach Hennigsdorf ins VEB Qualitäts- und Edelstahlkombinat (QEK) delegiert. Dort arbeitete er erst für sechs Jahre als Produktionsdirektor, zuletzt dann als stellvertretender Generaldirektor. Im Jahr 1973 promovierte Döring zum Doktor der Ökonomie in Berlin-Karlshorst. Nach einem weiteren Studium an der Parteihochschule „Karl Marx“ (PHS) wurde er in der Zeit von 1979 bis 1985 ins Ministerium für Erzbergbau, Metallurgie und Kali berufen. In seine Zuständigkeit als stellvertretender Minister der DDR fallen die Bereiche Wissenschaft und Technik. Im Jahr 1985 wurde Döring als Generaldirektor des VEB Bandstahlkombinats „Hermann Matern“ in Eisenhüttenstadt eingesetzt, in Personalunion als Chef des Stammbetriebs Eisenhüttenkombinat Ost (EKO). In dieser Funktion blieb er bis 1990. Dann wurde Döring mit der Aufgabe betraut, das Kombinat in die Marktwirtschaft zu überführen und in eine Aktiengesellschaft umzuwandeln. Bis 1994 blieb er noch Vorstandsvorsitzender des EKO Stahl, bis 2000 als Geschäftsführer für Technik, bis sein Anstellungsverhältnis dort endete. Anschließend etablierte sich Karl Döring in der Privatwirtschaft und gründete sein Beratungsunternehmen „Projekt Consulting“, welches unter anderem für die Boston Consulting Group arbeitete und er im Aufsichtsrat des größten russischen Stahlkonzerns Novolipetsk Steel (als Mitglied des Board of Directors ab 2006) tätig war.
512 Heute ist er Rentner und verbringt seine Freizeit gemeinsam mit seiner Ehefrau Svetlana in Eisenhüttenstadt. Dr. Walter Siegert verstarb am 2. Februar 2020. Wie erinnern Sie sich beide an Walter Siegert? Was wird aus der Geschichte der DDR von ihm übrigbleiben? 1 Wir haben zur DDR-Zeit nur privat miteinander verkehrt. In der Zeit, als ich stellvertretender Minister war, gab es zu Walter nicht unbedingt Arbeitskontakt und auch nicht in der Zeit, als ich Generaldirektor war. Der Austausch zu politischen Ansichten, zur Beurteilung über die Vergangenheit und zur notwendigen Betrachtung der Zukunft, intensivierte sich erst nach der Wendezeit. Die Bekanntschaft ergab sich jedoch rein zufällig schon vorher: Wir waren beide als Familien in einem Erholungsheim des DDR-Ministerrates im März 1983 zur Kur in Falkenstein und wurden zufällig zusammen am Tisch platziert. Die Situation war so, dass Walter später anreiste und wir deshalb aus der SiegertFamilie zuerst Ilse kennen lernten. Man verstand sich gut. Sowohl bei Tisch als auch bei den Veranstaltungen, die man unternehmen konnte. Die Erkenntnisse, dass man um seine DDR sehr viele Sorgen hatte, kamen natürlich auf den Tisch und auch in den privaten Gesprächen spielte das eine Rolle. Auch außerhalb dieses Ferientreffens pflegten wir Kontakt und besuchten uns. Ich habe Walter immer als den Dominanteren empfunden. Erstens war er der Ältere und zweitens war er in seinem langen Staatssekretärsamt der Erfahrenere in den wirtschaftlichen Dingen der DDR. Weiterhin kam hinzu, dass ihm sehr viel daran lag, seine Meinung darzulegen, und er nicht unbedingt daran interessiert war, einen Dialog zu führen. Also Walter war ein starker Mann des Monologs und den Dialog musste man sich bei ihm erkämpfen. Aber ich empfand das als ganz normal, schließlich habe ich ihn als den Dominanteren empfunden und akzeptiert. Es war immerhin ein ständiger Gedankenaustausch, den ich von meiner Seite gewünscht und für gut empfunden habe. So, wie sich unsere Beziehung die ganzen Jahre/Jahrzehnte entwickelt hat, gehe ich davon aus, dass es auch für ihn nicht uninteressant gewesen war. Das hing vermutlich damit zusammen, dass Walter dem Grunde nach sein ganzes Leben in der oberen Verwaltung tätig war und ich bis auf die 5 bis 6 Jahre, in denen ich stellvertretender Minister war, mehr ein Mann der konkreten Abläufe war. Ich war vorher Produktionsdirektor, stellvertretender Generaldirektor und dann hier in Eisenhüttenstadt Generaldirektor. Das heißt also, ein Stück näher dran an dem, was täglich beherrscht und gemeistert werden musste. Das war für Walter interessant. Dass es für ihn schwierig war zu bewerten, wie er seinen Pflichten in völlig unterschiedlichen Systemen nachgekommen ist, das war in unseren Gesprächen immer allgegenwärtig. Die eine Seite ist die Funktion in der DDR, die bestimmt war in der Art und Weise, wie die Verwaltung aufgebaut war. Die andere Seite war schon bei Ministerpräsident Hans Modrow in den Jahren 1989/1990. Das Hineinrutschen zu de Maizière war eher der Tatsache geschuldet, dass de Maizière keine „Mannschaft“ hatte. Die Das Interview mit Karl Döring fand am 6.8.2020 in seinem Privathaus in Eisenhüttenstadt statt. Anwesend waren auch Svetlana Döring sowie Svetlana Egorova.
1
513 Zufälligkeit, wie er Ministerpräsident der DDR geworden ist, hat den Lothar de Maizière ja selbst erschreckt. Diese sehr unterschiedlichen Phasen hat Walter immer versucht, in eine Linie zu bringen. Seine Art und Weise, wie er verstanden hat, seine Arbeit zu gestalten und sich treu zu bleiben. Das ist natürlich nicht ganz einfach gewesen. Die Ausgangsbedingungen waren deutlich unterschiedlich. Ich habe es geschätzt, dass sich Walter, nachdem wir alle Pflichten hinter uns gelassen hatten, sehr intensiv mit Fragen der Vergangenheit beschäftigte, wobei er eine ganze Reihe von schriftlichen Ausarbeitungen vorgenommen hat, und es war für mich auch kein Problem, Walter anzurufen und zu bitten: „Pass mal auf, für dieses und jenes Thema wird Deine Expertise benötigt!“ „Okay, da mache ich Dir was fertig!“ Eines dieser Themen war zum Beispiel die Art und Weise, wie der transferable Rubel (Transferrubel) funktioniert hat. Das war für Wirtschaftsbeziehungen nach der Wende ein schwieriges Thema. Die Zahlungsmöglichkeit mit der über uns gekommenen Deutschen Mark war zum Beispiel in Russland mangels Valuta nicht denkbar. Er reagierte auf Bitten, selbst etwas zu Papier zu bringen und einem das zukommen zu lassen, was man benötigt. Ansonsten haben wir viele Diskussionsrunden gemeinsam geführt. Sie kennen den Kreis mit Dr. Klaus Blessing und Dr. Manfred Domagk. Einige Male im Jahr saßen wir zusammen und nahmen auch an gemeinsamen Veranstaltungen teil. Wir gingen gegenseitig zu den jeweiligen Buchvorstellungen. Walter war immer ein hellwacher Gesprächspartner und ich glaube, im Grunde seines Charakters ein tiefer Humanist. Meine Frau und ich freuten uns auch über Treffen mit der Familie. Wir haben dann die Kinder und Enkelkinder sowie Freunde von Walter, die ich wiederum nicht über Walter, sondern aus anderen Zusammenhängen kannte, kennengelernt. Insofern waren die Begegnungen zahlreich. Sie waren immer so, dass man auseinander gegangen ist und meinte: „Wir treffen uns bestimmt wieder!“ Sie haben Siegert primär als Ökonom wahrgenommen? Ja, primär als Ökonom! Wie war bei Walter Siegert die parteiliche Seite einzuordnen? Ich muss dazu nochmal sagen, dass ich in der DDR-Zeit mit Walter nur privaten Kontakt hatte. Der Kontakt ist privat entstanden, nicht aus Arbeitsbeziehungen und auf dieser privaten Seite haben wir über unsere Parteimitgliedschaft nicht vertiefend geredet. Sie war einfach gegeben. Wir sind beide langjährige Genossen. Er war ein absolut treuer Soldat seines Systems, das ist klar. Dabei heißt treuer Soldat nicht unkritischer Soldat. Er hatte tiefe Einblicke in alle Zusammenhänge und die Frage: „Was wird mit unserer DDR zukünftig geschehen?“ hat in unseren Diskussionen schon eine Rolle gespielt. Wie kritisch sah er die DDR? Können Sie Beispiele benennen? Nein, mit Beispielen kann ich da nicht aufwarten. Er war keinesfalls so kritisch, dass er die Pistole rausholen und gegen alle losrennen hätte müssen. Aber kritisch in dem Sinne,
514 dass es Veränderung im System geben muss und nicht gegen das System. Die Kritik gegen das System ist eine Erfindung der Westdeutschen. Denn alles, was in der Vorwendezeit und Wendezeit an Opposition existierte, war dafür, eine bessere DDR zu gestalten. Die Vorstellung, dass man im System unbedingt Veränderungen bringen muss, wozu es ausreichend Gedanken und Ausarbeitungen gegeben hat, die hat uns bewegt. Die Tatsache, dass wir alle die DDR stürzen wollten, besonders die Bürgerrechtler, das wurde den Ostdeutschen eingeredet. Die, die sich wirklich intensiv damit befassen, wissen, dass es eben anders war. Das heißt, die SED spielte in Ihren Gesprächen eine untergeordnete Rolle? Eine untergeordnete Rolle ist falsch, die war insofern präsent, dass das keiner Erörterung bedurfte. Dazu: Ich bin häufig nach der Wendezeit gefragt worden, wie ich denn nun von den Parteifunktionären als Generaldirektor reglementiert oder gar schikaniert worden wäre. Das ist absoluter Quatsch. Ich und mein Parteisekretär im Werk waren auf einer Ebene. Natürlich gab es unterschiedliche Auffassungen. Aber dass man sich als jemand gefühlt hätte, der jeden Tag überlegen musste, was die Partei denn gerade denkt, das ist Unsinn. Svetlana Döring: Wir haben ökonomische Fragen diskutiert, zum Beispiel die Ergebnisse von der Leipziger Messe, wenn man unzufrieden war oder neue Tendenzen gesehen hat. Politisch haben wir kaum diskutiert, denn wir waren immer einer Meinung. Sprachen Sie auch über Siegerts berufliche Tätigkeit? Ja, das war natürlich für jeden interessant. Ich erzählte, was bei mir unter dem Stuhl „brennt“, und er sprach darüber, worüber er sich geärgert hat. Darüber haben wir schon gesprochen. Das waren in der Regel dann aktuelle Ereignisse, die man gerade durchlebt hatte. Im Jahre 1990 wurde aus Ihrer Freundschaft auch ein berufliches Verhältnis. Das Bandstahlkombinat in Eisenhüttenstadt, dem Sie als Generaldirektor vorstanden, vollzog diese Umwandlung im Mai 1990. Grund dafür war das Treuhandgesetz, welches ab 1. März von der Modrow-Regierung eingeführt wurde. Für die EKO Stahl AG musste ein montan-mitbestimmter Aufsichtsrat gebildet werden und Sie baten Walter Siegert, einen Platz auf der Anteilseigner-Seite im Aufsichtsrat der Gesellschaft einzunehmen. Siegert stimmte zu und Sie waren sehr darüber erfreut, denn es lag Ihnen sehr daran, dass auch „Ost-Vertreter“ Mitglieder Ihres Aufsichtsrats waren. Bitte schildern Sie Ihre Beweggründe für Walter Siegerts Einstellung. Besonderer Ausgangspunkt war, dass ich Walter in unseren Gesprächen als einen Fachmann in allen Finanzfragen kennengelernt hatte. Bei einem technisch ausgebildeten Mann wie mir ist das eher ein Defizit. Dieses Defizit mit Walter Siegert auszugleichen, war nahe liegend.
515 Es kam mir auch darauf an, in einem Aufsichtsrat eine Situation wiederzufinden, wo es persönlich vernünftige Kontakte gab. Das war 1990 sehr schwierig zu überlegen, wer in der Arbeit mit wem am besten harmonieren wird. Ich war davon überzeugt, dass wir mit Walter an einem Strang ziehen würden und insofern war dann auch schnell sein Einverständnis da, es zu machen. Was war Siegerts Aufgabengebiet? Die gesamte Tätigkeit des Aufsichtsrates. Es gab keinen einzelnen Fokus. Ein Aufsichtsrat arbeitet nach seinem eigenen Statut. Es waren den einzelnen Fachgebieten keine Personen zugeordnet, sondern es ging immer um die Art und Weise, wie die Informationen der Gesellschaft in den Aufsichtsrat hineingehen. Wie dann die Vorbereitungsmaterialen für die Aufsichtsratssitzung sind und wie man dann in der Debatte der Aufsichtsratssitzung mit dem Vorstand zu den einzelnen Beschlüssen kam. Er war in dieser Funktion ein Allrounder, wie alle anderen auch im Aufsichtsrat. Unser Vorstandsvorsitzender war Dr. Otto Gellert, ein Wirtschaftsprüfer aus Hamburg. Die Aufsichtsratsbildung der neuen Kapitalgesellschaften oblag zuletzt der Bestätigung der Treuhandanstalt. Es gab unterschiedliche Modelle, zum Beispiel darauf zu warten, dass die Treuhandanstalt den Aufsichtsrat benennt oder eben sich selbst Partner zu suchen, mit denen man glaubte, die anstehenden Probleme lösen zu können. Ich und meine Vorstandkollegen sind den zweiten Weg gegangen, auch unter dem Hinweis von Rohwedder: „Suchen Sie sich Ihre Aufsichtsräte!“ Deshalb stellte sich für mich die Frage: „Wer kann es denn am besten sein?“ In unserem Vorstand entschieden wir uns, die Spitze der Westdeutschen Stahlindustrie in unseren Aufsichtsrat einzuladen. Dazu gehörten der Vorstandsvorsitzende der Salzgitter-AG Kurt Stähler, der Vertriebsvorstand der Hoesch Stahl AG Günter Flohr, der Chef der Krupp Stahl-AG Jürgen Harnisch sowie Bankenvertreter mit Alfons Titzrath, Vorstandsmitglied der Dresdner Bank AG, Axel von Ruederffer Vorstandsmitglied von der Commerzbank, Hans Rosentalski Generalbevollmächtigter der Deutsche Bank AG usw. Am 1. September 1990 kam es zur ersten Aufsichtsratssitzung. Wie sah Walter Siegerts Beteiligung dabei aus? Wenn Sie erwarten, dass es in dieser Aufsichtsratsarbeit eine besondere Rolle von Walter gab, dann muss ich Ihnen sagen, da finden wir nichts. Um das konkreter zu machen, habe ich insofern ein Problem, dass zudem in Aufsichtsratssitzungen nie Diskussionsprotokolle geführt wurden, sondern immer nur Beschlussprotokolle. Die habe ich zwar alle in meinem Privatarchiv, aber daraus geht eben nicht hervor, wer zu welcher Frage welchen Standpunkt vertreten hatte. Außer Walter war noch ein zweiter DDR-Ost-Vertreter dabei, das war Heiner Rubarth, der Vorstandsvorsitzende der VEM Antriebstechnik AG – ein Hauptabnehmer unserer Stahlprodukte. Natürlich war in dem Aufsichtsrat die Dominanz der westdeutschen Kollegen omnipräsent, dass die Ostseite sich gar nicht in die Führungsrolle begeben hat. Es
516 war ein neues Gremium und für uns ein völlig neuer Umgang beim Vorbereiten und Treffen von Entscheidungen. Wir hatten einen montan-mitbestimmten Aufsichtsrat. Das heißt, neben der anteilseigenen Seite saß die gleiche Anzahl von Personen, welche von der Arbeitnehmerseite nominiert wurden. Das waren vorrangig unsere eigenen Kollegen, aber nicht nur. Der stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende, der kam aus Westdeutschland. Das hatte die IG Metall für sich reklamiert. Wir waren froh, wenn wir alles so weit unter Dach und Fach hatten, dass nicht jemand besonders Krawall schlagen musste. Svetlana Döring: Es war ein Lernprozess … Karl Döring: Ja, das muss man wirklich so sagen … Die Mitgliedschaft von Walter Siegert war bis April 1991 gewährleistet, dann legte er sein Mandat nieder. Können Sie sich im Jahre 1991 noch an diese ersten Monate erinnern? War auffällig, dass Siegert Entscheidungen nicht mitgetragen hat? Solange wir diesen Aufsichtsrat hatten, waren alle Beschlüsse einstimmig, und zwar von allen Seiten. Das war ein großes Plus! In der Art und Weise, wie die Treuhandanstalt dann die Unternehmen dominierte und mit ihnen umgehen wollte, hatte es eine ganz entscheidende Bewandtnis zu sagen: „Es gibt einen Aufsichtsrat, es gibt klare Aufsichtsratsbeschlüsse und es gibt eben keine Einzelmeinungen, an denen dann andere Dinge festgemacht werden.“ Dass Walter ausgeschieden ist, hatte den Grund, dass die „neue“ Treuhandanstalt dann darauf drängte, ihre Leute unterzubringen. Anstelle von Walter kam dann ein Mann aus dem Ministerium der Finanzen von Bonn, das war zunächst ein Herr Rademacher. Walter erwähnte immer, dass Peter Breitenstein aus Bonn seinen Platz eingenommen hätte, da täuscht sich Walter leider. Warum Herr Rademacher gegen Breitenstein wiederum ausgewechselt wurde, das ist mir nicht mehr in Erinnerung. Aber dieser Versuch, in die Gremien einzugreifen, den gab es natürlich, je mehr sich die Treuhand etablierte. Was waren die Gründe für Siegerts Rückzug? Die Ansage war eindeutig. Es gab den Vorschlag, dass jemand aus dem Bonner Finanzministerium in den Aufsichtsrat von EKO Stahl gehen soll und das bezog sich auf Walters Mandat. Weder Walter noch ich haben uns dazu bereitgesehen, in einen Kampf einzusteigen. Gerne wäre er sicherlich weiter geblieben. Er hatte keinen Grund gehabt zu sagen, er käme nicht mehr. Es war eine sehr bewegte Zeit, in der vieles auf Walter eingestürmt ist. Parallel zu dieser Zeit kamen die Vorwürfe gegenüber Walter Siegert bei dem Vorgang der Privatisierung der Staatlichen Versicherung der DDR an die Allianz AG (Versicherungsgesellschaft München), die er federführend Anfang bis Mitte 1990 begleitet hatte und es um Verdächtigungen einer Bereicherung ging. Das war für Siegert eine
517 aufreibende Zeit. Gerade für jemanden, der Revisor in den Anfängen der DDR-Zeit war, kam es zu diesem Schockmoment, welcher ihn auch gesundheitlich sehr getroffen hatte. War das ein Thema zwischen Ihnen? Ja, das haben wir diskutiert. Das hatte allerdings in unserer Debatte eher keine personenbezogenen Zusammenhänge, sondern die Zusammenhänge der politischen Neuausrichtung in Deutschland. Bei wem es von früheren Führungskadern der DDR nur irgendwie ging, dem musste etwas angehängt werden. Woher irgendwelche Beweise kamen, spielte dabei keine Rolle. Mein Bekanntenkreis bestand aus dem Funktionärskreis der Wirtschaft in der DDR-Zeit. Es gibt nicht einen einzelnen unter den Kumpels, der nicht durch solche Geschichten gegangen ist. Ich habe schon in Erinnerungen, dass es Walter schwerfiel, damit umzugehen. Es traf ihn aus heiterem Himmel. Da war er in guter Gemeinschaft. Obwohl es bei ihm stärker und schärfer war als bei manch anderen, betraf es viele. Denn die, die zu kurz gekommen sind, haben dann natürlich versucht, deutlich zu machen, dass das hier nicht mit rechten Dingen zugegangen sein kann. Walter hat daran schwer getragen. Walter ist ein sehr ehrenwerter Mann gewesen und so einem Mann zu sagen: „Du bist ein krummer Hund“, das ist natürlich schwer gewesen für ihn. Wird Walter Siegert in der geschichtlichen Erinnerung für die weiteren Generationen bekannt bleiben? Jemand, der Walter enger verbunden war, und dazu zähle ich mich, der hat ein Verständnis über seine Rolle in allen seinen angenommenen Verpflichtungen. Aber, wenn Sie heute im Osten 100 Menschen fragen, wer Walter Siegert war, dann wissen das vielleicht 3 oder 4 Personen oder auch keiner. Als die friedliche Revolution 1989 begann: Wie erlebten Sie diese Zeit und was waren die konkreten Defizite der DDR-Regierung? Da würde ich gerne auf mein Buch „EKO Stahl für die DDR – Stahl für die Welt. Kombinatsdirektor und Stahlmanager“ (2015) verweisen. Übrigens: Walter war bei der Entstehung dieses Buches ein immer ansprechbarer Ratgeber und streitbarer Partner. Ich habe dieses Thema dort ausführlich aufgeschrieben und dabei bleibe ich bis heute. Ich denke, das, was ich damals definiert habe, hat sich in den Folgejahren eindeutig bestätigt. Das würde jetzt dazu führen, dass man weiter ausholen muss. Sie finden es im Buch und das ist auch meine eindeutige Position dazu. Dass die Tagesereignisse, die sich seit dem Sommer 1989 abspielten, jeweils auch unterschiedliche Reaktionen und Handlungen hervorgerufen haben, ist klar. Ich habe auch lange gewartet, bis ich mein Buch geschrieben habe, um das dann auch mit Abstand zu definieren und niederzuschreiben.
518 Wie würden Sie die drei Übergangskandidaten Egon Krenz, Hans Modrow und Lothar de Maizière bewerten und einordnen? Wissen Sie, ich zähle mich zu der Kategorie der Menschen, die sagen, das steht mir nicht zu. Ich habe nie die Verantwortung für ein ganzes Land tragen müssen und ich war an einem überschaubaren Frontabschnitt tätig. Sich dann zu erkühnen, die Männer in der außerordentlich schwierigen Zeit, in der sie Verantwortung trugen, zu beurteilen, da möchte ich lieber Abstand nehmen. Aber ich glaube, am Schwersten hatte es Lothar de Maizière. Jemand, der völlig außerhalb von politischer Erfahrung plötzlich an die Spitze kommt, das ist praktisch kaum zu handhaben. Das führte unter anderem auch dazu, dass die de Maizière-Regierung eine Regierung aus Bonn war. Nicht mit den Personen, die vorne dran standen, aber mit allen denen, die im Hintergrund gearbeitet haben. Aus westlicher Sicht wurde Hans Modrow als „Hoffnungsträger“ und „Gorbatschow des Ostens“ tituliert. War er das auch für Sie? Ich habe Hans Modrow ziemlich lange gekannt, und zwar schon aus der Zeit, als ich stellvertretender Minister war und er 1. Bezirkssekretär in Dresden ab 1973. Unser Ministerium hatte eine Reihe von Betrieben im Bezirk Dresden, einschließlich einem Sitz des Berg- und Hüttenkombinates in Freiberg. Der gesamte Zinn-Erzbergbau der DDR und die Verarbeitung und Verhüttung der Zinnerze und die dabei anfallenden anderen Begleitelemente waren in diesem Kombinat konzentriert. Das war ein wichtiges Kombinat in der DDR, denn Zinn war im RGW ein defizitäres Metall. Die Zinn-Gewinnung in der UdSSR war sehr viel komplizierter als in den Lagerstätten des Erzgebirges. Insofern war auch die UdSSR daran interessiert, dass die DDR sich nach Möglichkeit eigenversorgt und vielleicht sogar noch etwas exportieren kann. In dem Zusammenhang bin ich mehrfach in dem Kombinat gewesen. Es gehörte bei uns dazu, wenn man aus Berlin in einen Bezirk fuhr und dort in das Kombinat ging, dass man vorher das Sekretariat vom 1. Bezirkssekretär informierte. Man sagte dort Bescheid. Zweimal sagte Hans: „Da komme ich mit.“ Wir haben uns also auf diese Art und Weise kennengelernt und ich empfand Hans Modrow als jemanden, der bereit war, absolut sachlich zu diskutieren und auch zuzuhören. Ich habe andere Bezirkssekretäre kennengelernt, das war ein Graus. Da war er eine völlig andere Persönlichkeit. Er hatte die Art des „einfachen Mannes“, er hatte keine Allüren. Es gab seinerseits die Bereitschaft, sich den inhaltlichen Problemen wirklich zu stellen und zu diskutieren. Die Schwierigkeiten: „Wir brauchen Arbeitskräfte. Wie kann man die Investitionen in den Bergbau am besten organisieren? Wie sind die Bilanzen im Bezirk?“ Alles das war mit Hans einfach zu debattieren. Insofern habe ich von ihm schon den Eindruck eines sehr konkreten Machers und eines Menschen, der seine Persönlichkeit nie in den Vordergrund gerückt hat. Es gibt von Hans Modrow ein Buch: „Ich wollte ein besseres Deutschland.“ (1998). Da ist von ihm selbst dieser Zusammenhang mit seiner Rolle als möglicher Favorit für die UdSSR dargestellt. Unterm Strich gilt ja, dass der Kurs von Gorbatschow ein völliges Fiasko
519 hervorgerufen hat. Das muss man für die UdSSR in aller Klarheit sagen. In dem Zusammenhang behalte ich im Kopf, dass Honecker Recht behalten hat. Er hat es schon bald, schon 1987, auf den Satz gebracht: „Dieser Kurs führt dazu, dass der Sozialismus abgeschafft wird“. Nun ist das sehr plakativ, wie ich das sage. Natürlich gab es deutliche Defizite in der DDR, die man hätte anpacken müssen. Und natürlich gab es auf der anderen Seite mit der Gorbatschow´schen Politik die Möglichkeit, in der Welt eine Situation herbeizurufen, wo die Kriegsgefahr erstmal endgültig beseitigt wurde. Exkurs: Ich habe Gorbatschow einmal getroffen in einem kleinen Kreis 2007/2008. Ich habe die Chance genutzt, um ihn zu bitten mir ein Autogramm in sein Buch zu geben. Indem er eindeutig noch darstellt, dass der Sozialismus umgestaltet und verbessert werden muss und indem er in mehreren, deutlichen Erklärungen sagt: „Wenn jemand annimmt, dass wir den Sozialismus aufgeben werden, der irrt.“ Das sind Passagen über viele Seiten. Als ich ihn nun um ein Autogramm bat, fragte ich: „Hier steht doch etwas ganz anderes drin als das, was gemacht worden ist.“ Er nahm trotzdem seinen Füllfederhalter und hat unterschrieben. Ich achte ihn als Staatsmann, der in der sehr schwierigen Situation in der UdSSR bereit war, an die Spitze zu gehen. Aber nicht diesen Opportunismus und die Art und Weise, wie die UdSSR wirklich von Monat zu Monat in katastrophalere Situationen kam. Wir haben als Werk eigene Beziehungen zu sowjetischen Partnern gehabt. Wir haben das klar verfolgen können, als der UDSSR plötzlich die Idee kam, dass der Generaldirektor jetzt gewählt werden muss … Es ist bekannt, dass das Unternehmen, in dem Sie viele Jahre der Chef waren, enge Beziehungen zur UdSSR und später zu Russland unterhielten. Welche Zusammenhänge existierten? Der Ausgangspunkt war, dass es einen Generaldirektor im metallurgischen Kombinat in Karaganda gab und wir bezogen von dort Vormaterial für unser Kaltwalzwerk. Über viele Jahre, seit das Werk existierte. Als dieser Mann dann dort Generaldirektor wurde, gab es sehr schnell die Notwendigkeit, sich persönlich zu treffen. Er ist 10 Jahre jünger als ich und er war dann Minister für Metallurgie in der UdSSR. Sein Verständnis war: „An der Marktwirtschaft kommen wir nicht vorbei. Die Kerle in der DDR haben es schon fast hinter sich, die haben diese Umgestaltung schon alle erlebt. Karl, Du machst bei mir hier Seminare für alle meine Direktoren.“ Damit haben wir auch begonnen und dann kam er zu der Auffassung, wir drehen das ein bisschen, die sollen mal hierherkommen. Damit man vor Ort sehen kann, was haben sie denn nun in dieser Zeit veranstaltet und gemacht. Er schickte also die Generaldirektoren und sie saßen hier in Eisenhüttenstadt. Wir vereinbarten für sie einen Termin bei der Deutschen Bank in Berlin, weil es auch um erste Diskussionen ging, wie sowjetische Stahlindustrie Kredite von westlichen Bankinstituten bekommen könnte. Die Creme de la Creme der Schwerindustrie der UDSSR, alle mussten dort 2 Stunden sitzen, weil der vereinbarte Gesprächspartner Edgar Most erst einmal für Gorbatschow, der zum gleichen Zeitpunkt seinen Besuch absolvierte, da sein musste. Alle waren empört und entgeistert.
520 An welchem Zeitpunkt oder Ereignis können Sie das festmachen, dass es zu einer Einheit oder zum Beitritt für die DDR kommt? Wann war der unumkehrbare Zeitpunkt? Ich bin noch im Januar 1990 der Überzeugung gewesen, dass es eine Chance gibt, eine sozialistische Entwicklung im Osten aufrecht zu erhalten. Ich habe eine sehr positive Meinung gehabt von den Aktivitäten, die unter der Modrow-Regierung dann wirklich zügig begannen und habe das in der Januarausgabe meiner Betriebszeitung öffentlich kundgetan. Für mich war es erst zu Ende, als die Wahlvorbereitung für die Wahl begann und klar war, dass es die unfreieste Wahl sein wird, die wir je erlebt hatten. Warum? Die Dominanz der westdeutschen Parteien in dem Wahlkampf empfand ich als widerlich. Wenn ich es einmal in aller Ruhe betrachte, was machen eigentlich die politischen Akteure eines anderen Staates auf unserem Territorium? Woher nahmen sie sich das Recht dazu? Wir waren doch ein selbstständiger Staat. Sie meinen die Parteiangebote und Kooperationsphasen? Ich meine die Propaganda-Schlacht, die dann veranstaltet wurde. Der DDR-Fernsehfunk hatte nicht mal mehr einen Platz auf dem Alexanderplatz, der war zugestellt mit den Senderanstalten aus dem Westen. Und das hat den Begriff „die erste freie demokratische Wahl im Osten“ bekommen. Ein freier Wählerwille war nicht mehr denkbar. Die westliche Propaganda war intensiv und die Auseinandersetzung hatte natürlich ihre Gründe, das ist völlig klar. Ich weiß, dass meine Meinung von vielen nicht geteilt wird. Vor allen Dingen war die Prognose über den Wahlausgang schlichtweg falsch! Sie sagten eingangs, dass de Maizière selbst überrascht vom Sieg war. Er war der Spitzenkandidat für das Amt des Ministerpräsidenten für die „Allianz für Deutschland“. Andere Kandidaten wurden kurze Zeit vorher als IM enttarnt, siehe die Causa Wolfgang Schnur. Worauf führen Sie denn zurück, dass es wider aller Prognosen ein solches Resultat gab? Ich sage Ihnen, worauf ich das zurückführe. Auf die unverschämte Propaganda der führenden politischen Kräfte, die damals die CDU war in der Bundesrepublik Deutschland. Das Wahlergebnis war für mich auch überraschend. Aber mit dem Zeitpunkt war klar, jetzt sind die Würfel endgültig gefallen. Im Oktober 1989 stellte der „Schürer-Bericht“ fest, dass die DDR kurz vorm Bankrott steht. Das war sozusagen der bestätigte Sargnagel, was nachträglich aber wieder revidiert wurde, da die Auslands-Milliarden von Schalck-Golodkowski nicht eingerechnet waren. Wie argumentieren Sie dazu? Es ist ein Bericht zustande gekommen, der nicht den vollen Tatbestand reflektiert hat. Daraus ist es leicht abzuleiten, dass die DDR pleite war. Aber alle zusammen wissen wir, dass es nicht so war. Diesen Bericht halte ich für einen großen politischen Fehler von den
521 Personen, die ihn geschrieben haben. Schalck war selbst dabei. Wenn ich es richtig im Kopf habe, waren Gerhard Beil und Ernst Höfner noch dabei. Insofern war es auch für Hans Modrow zunächst eine Situation, die erstmal aufgeholt werden musste. Darauf die bald folgende Flucht von Schalck, die dann die DDR in eine völlig unklare Situation bezüglich der finanziellen Realitäten gebracht hat. Das war am 3./4. Dezember. Ein schwerer politischer Fehler. Welche Einschätzung hatten Sie denn im Herbst 1989 über das Gesamtbild der DDR und die ökonomische Lage? Es gab im Dezember eine Beratung von Hans Modrow mit den 173 Generaldirektoren. Ich habe dort einen Diskussionsbeitrag gehalten. Dort habe ich mich u. a. dazu geäußert, wie man die wirtschaftlich schwierige Situation, welche existierte, versuchen kann, in den Griff zu bekommen. Wir waren teilweise noch in einem streng definierten Planungsprozess für das Jahr 1990, was natürlich völlig Unsinn war. Wie das jetzt zu machen sei und welche Zusagen die Generaldirektoren zu geben haben, dass die Proportionen in der Volkswirtschaft weiter aufrechterhalten werden können. Das war eine schwierige Situation, für mich war es aber keine unmögliche Situation. Keine Situation, wo man sagen musste: „Jetzt ist die Wirtschaft zusammengebrochen.“ Svetlana Döring: Es wurde auch sehr viel die Politik von Günter Mittag kritisiert. Wie haben Sie die Verfahren gegen die ehemaligen Politbüro-Mitglieder, zum Beispiel Krenz, Keßler oder Schabowski in Erinnerung? Schabowski habe ich in allerschlechtester Erinnerung, aber nicht, weil gegen ihn ein Prozess gemacht wurde, sondern über die Art und Weise wie er glaubte sich verteidigen zu müssen. Dass er in nur wenigen Wochen ein geläuterter Mann ist. Ich meine, das ist eine absolut unstrittige Situation, dass das internationale Recht dazu geändert werden musste. Es musste gewährleistet werden, dass man zu neuen Gesetzesbedingungen verurteilt werden kann. Während die internationale Rechtslage vorsieht, dass man nur nach den Gesetzen der Zeit, zu der die Tat stattgefunden hat, belangt werden kann. Ich meine, Herrn Krenz zu verurteilen für die Toten an der Grenze und an der Mauer, und dann zu sagen: „Du hattest Schuld“, anstatt mal bereit zu sein, Gorbatschow in den Zeugenstand zu rufen ... Das wurde völlig abgelehnt. Alles das zeigte, es waren zusammengewürfelte Prozesse. Eine persönliche Schuld einzelner Personen an diesem Regime, das politisch absolut determiniert war, und zwar von beiden Seiten, das halte ich für ausgeschlossen. Wer hätte denn verurteilt werden müssen? Um ein Signal zu senden, hätte es meiner Meinung nach, eine Bewährung geben müssen. Aber ich bin kein Jurist.
522 Im Rückblick auf 30 Jahre deutsche Einheit: Wie sieht Ihre Bilanz für diese drei Jahrzehnte aus? Von der DDR-Industrie ist zwischen 25 bis 30 % übriggeblieben. Die Geburtenrate auf dem Gebiet der DDR fiel ins Uferlose. Die Arbeitslosenzahl erreichte unvorstellbare Höhen, selbst in Eisenhüttenstadt. Da hatten wir als EKO große Schuld daran, weil wir mit der Umgestaltung des Werkes vor großen Zwängen standen. Wir hatten 25 % Arbeitslosigkeit. Bis heute haben die ostdeutschen Eliten im gemeinsamen Staat keine Anerkennung gefunden. Es ist direkt lächerlich. Wir reden darüber, dass in Ostdeutschland die Führungsposition in allen gesellschaftlichen Bereichen in der Hand der Westdeutschen liegen. Wir reden hier nicht darüber, dass vielleicht mal ein paar Ostdeutsche in Westdeutschland in Führungspositionen gingen. Da wird jemand Verfassungsrichterin und das steht tagelang in der Zeitung. 2 Wir haben keine angeglichenen Lebensverhältnisse. Dabei gehöre ich nicht zu denjenigen, die der Meinung sind: „Solange der Durchschnittslohn im Osten nicht der Durchschnittslohn im Westen ist, ist das nicht akzeptabel.“ Das ist Unsinn. Natürlich ist die Landkarte der Lohnhöhen in Deutschland übers ganze Land unterschiedlich. Aber das Ergebnis dieser Einheit ist, dass es hier keine prosperierende Industrie gibt und dass hier nach wie vor in den fünf neuen Bundesländern keine Chance besteht, das Land aus eigener Kraft zu gestalten. Am meisten halte ich es für eine Frechheit zu erklären, dass die Treuhandarbeit ein Erfolg ist. Wenn Sie 600 Milliarden Deutsche Mark Vermögen in die Hand bekommen, das ist die gängige Zahl, die schon von Rohwedder ausging, und wenn Sie dann mit 250 Milliarden Deutsche Mark im Minus abschließen, haben Sie 850 Milliarden Deutsche Mark durchgebracht. Ich meine, da muss man ja schon entweder ein absoluter Ignorant sein, um das als Erfolg zu bezeichnen, oder jemand sein, der überhaupt nicht bereit ist, in die Zusammenhänge hinein zu sehen. Wie hätte es besser laufen sollen/müssen? Die Ausgangslage bei Rohwedder war eindeutig eine Herangehensweise einer weniger schnellen Privatisierung und einer Sanierungsphase, für die der Staat einstehen muss, für all diejenigen, bei denen zuletzt eine Chance bestand, dass sie nach dieser Sanierung ihren Platz im Markt finden. Sie sehen, was dabei herausgekommen ist. Ich frage mich nur, was ist der Maßstab eines Erfolges? Ich bringe 850 Milliarden Deutsche Mark durch, ich lasse nur ein Drittel der Industrie übrig, ich organisiere eine große Arbeitslosigkeit und stelle mich dann hin und sage: „Ich habe Erfolg gehabt.“ Wo sind die moralischen Maßstäbe der Leute, die so etwas behaupten? Ich halte das für eine Unverschämtheit. Ich habe es auf das kleine Territorium von EKO bezogen mit Birgit Breuel durchlebt, die absolut nicht bereit war, einen Gedanken aufzunehmen bzw. zu diskutieren. Wir bei der EKO haben uns gerettet, weil wir im hohen Maße Partnergeschäfte mit der UdSSR und später mit Russland betrieben haben. Barbara Borchardt (Jahrgang 1956) war u. a. Mitglied der SED in der DDR und kam später über die PDS zu den Linken. Sie ist für die Antikapitalistische Linken (AKL) tätig und seit Mai 2020 Richterin am Verfassungsgericht in Mecklenburg-Vorpommern.
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523 Das war unsere eigene Initiative, die erfolgreich war. Zu dieser Zeit hat die Bundesrepublik Deutschland schon große Mengen Öl und Gas aus der UdSSR beziehungsweise aus Russland bezogen. Daraus ein Gesamtpartnerschaftsgeschäft zu machen, sodass der Maschinenbau des Ostens auch weiter liefern kann und mit den Gegenlieferungen, die sowieso in Deutschland da sind, zu verrechnen. Das war eine Chance für eine Zeit der Sanierung. Rohwedders Politik war am Anfang eine andere. Die hätte zu wenigen Verwerfungen geführt, das ist völlig klar. Der Wandel eines Wirtschaftssystems kann nicht ohne Blessuren über die Bühne gehen. Sich aber alles gut zu reden und jede Analyse – selbst nach 30 Jahren des Anschlusses der DDR – zu verweigern, ist für mich einfach nicht zu akzeptieren. Das Interessante dabei ist, dass niemand mehr in der offiziellen Darstellung dieser friedlichen Revolution bereit ist, aus den Dokumenten des neuen Forums oder anderer Oppositionellen zu zitieren. „Was war eigentlich das Ziel dieser Menschen?“ Sie wollten zukünftig eine bessere sowie eine reformierte DDR haben. Natürlich nehme ich an, dass dabei ca. 30 bis 50 % der Menschen heute ein besseres Leben führen als früher. Für mich ist das unstrittig! Für Sie wurden nicht alle Menschen abgeholt bzw. mitgenommen …? Nein, ganz und gar nicht! Was im Übrigen auch für die alte Bundesrepublik gilt. Ich sehe Deutschland in einer schwierigen gesellschaftspolitischen Phase. Was die politischen Erfolge der AfD ebenso unterstreichen. Die Wirtschaftspolitik dieser Welt ist völlig überdehnt. Warum braucht man unbedingt die Blumen aus Peru? Die Art und Weise, wie diese Welt mit ihren Problemen zurechtkommen wird, die ist für mich nicht erkennbar. Meine Überzeugung ist, der aktuelle Kapitalismus richtet es nicht. Erfolgreichen Sozialismus gibt es weltweit aber auch nicht … Den gibt es nicht, da stimme ich Ihnen zu. Aber insofern sind wir Linken in einer defensiven Position. Wir haben auch leider auf der harten Seite nichts vorzuweisen. So ist die aktuelle Welt. Übrigens: Ich bin auch kein Mitglied mehr bei den Linken. Können Sie dieser Zeit etwas Positives abgewinnen? Es gibt eine ganze Reihe von Personen, die wirklich auch ein besseres Leben führen. Das darf man nicht negieren, das ist klar. Positiv für mich und meine Frau ist zum Beispiel ist, dass wir viel ge- und verreist sind. Das war in der DDR nur eingeschränkt möglich. Svetlana Döring: Die jungen Menschen haben mehr Möglichkeiten. Sie können studieren und ihnen steht die Welt offen, um sie zu entdecken. Vielen Dank, Prof. Döring und verehrte Svetlana Döring für dieses Gespräch und Ihre Unterstützung. Ebenso sind wir Ihnen sehr dankbar, dass Sie uns die umfangreichen Veröffentlichung Walter Siegerts für die weitere Forschung aus Ihrem Privatarchiv zur
524 Verfügung gestellt haben. Das Material wird eine entsprechende Verwendung bekommen. Dankeschön! Ich denke, das Gespräch war mal etwas anderes für Sie! Bitteschön.
525 Uwe Trostel „Das böse Erwachen kam erst, als sie sich als Arbeitslose auf der Straße wiederfanden. Die Einführung der DM hat die Festung DDR-Wirtschaft sturmreif geschossen.“
Abb. 69: Uwe Trostel erklärt seinen Standpunkt.
Lebenslauf: 1. April 1941 1947–1957 1957–1960 ab 1960 1960–1963 1968–1973 1963–1987 1987–1989 1989–1990 1990 1990–1992 1992–2004 2004–2008 bis heute
Geboren in Reichenberg Grundschule, Mittelschule Lehre Industriekaufmann Mitgliedschaften SED, FDJ, DTSB (Sektion Schach), Kulturbund, DSF, FDGB Direktstudium Industrieökonomik, Fachschule für Industrieökonomie Plauen/Vogtland Fernstudium Volkswirtschaft an der Hochschule für Ökonomie in Berlin Bezirksplankommission Magdeburg, von 1978 bis 1987 deren Vorsitzender; in dieser Funktion auch „Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes“ Staatliche Plankommission, Leiter der Zentralen Staatlichen Inspektion für Investitionen SED-Austritt, danach keine Parteimitgliedschaft mehr Kurzzeitig stellvertretender Minister Treuhandanstalt, delegiert durch Staatliche Plankommission auf der Grundlage Beschluss Modrow-Regierung Mitarbeiter eines privaten Beratungsunternehmens u. a. „Regierungsberater“ in Russland und in der Ukraine freiberuflich, u. a. Vermarktungshilfeprojekt Bundesministerium Wirtschaft verschiedene ehrenamtliche Tätigkeiten
526 Die Meinung in der Gesellschaft ist, die Planwirtschaft sei Misswirtschaft. Wie erlebten Sie die Planwirtschaft? 3 Dass dies Meinung der Gesellschaft ist, stimmt so absolut nicht. Angefangen von der Einzelfirma bis zum Großkonzern wird geplant. Die Konzerne der Marktwirtschaft verfügen über ein ausgefeiltes, detailliertes, betriebs- und volkswirtschaftlich begründetes Instrumentarium der Planung. Dies reicht vom monats- bzw. quartalsbezogenen „forecast“ bis zu wissenschaftlich-technisch fundierten Prognosen über lang- bzw. mittelfristige Pläne. Staaten wie Frankreich und Japan haben strategische Richtungen der Wirtschaft auf gesamtstaatlicher Ebene geplant und umgesetzt. Ich habe die Planwirtschaft als ein Instrument erlebt, langfristige Gesellschaftsprognosen, in deren Mittelpunkt gesamtgesellschaftliche Interessen standen, auf dem Gebiet der Wirtschaft in konkreten Zeitetappen bei gleichzeitigem Einsatz und der Verteilung materieller, personeller und finanzieller Ressourcen umzusetzen. Auf dem Gebiet der Investitionen bedeutete das beispielsweise vor allem, eine solche Steuerung des inhaltlichen und zeitlichen Einsatzes der Investitionen – möglichst konkret nach einzelnen Vorhaben – vorzunehmen, die den künftigen wissenschaftlich-technischen Erfordernissen entsprachen, ein Maximum an Zuwachs von Nationaleinkommen (vergleichbar grob mit BIP) zu gewährleisten, eine möglichst vernünftige Befriedigung der Konsumtionsanforderungen der Gesellschaft und der konkreten wirtschaftlichen Situation Rechnung zu tragen. Investitionsvorhaben, die für die gesamte Volkswirtschaft von herausragender Bedeutung waren, wurden zentral (Staatliche Plankommission und Ministerien), Vorhaben von zeitlicher Bedeutung auf der Ebene der Kombinate geplant. Im Zusammenhang mit auftretenden Problemen der Versorgung der Wirtschaft und der Bevölkerung wurde die Planung auf Druck der Partei auf zentraler Ebene immer detaillierter. Extreme Auswüchse bestanden darin, dass bestimmte Erzeugnisse nach Tagen geplant und abgerechnet wurden. Insgesamt verlor mit einer überzogenen Zentralisierung die Planung an Wirksamkeit und führte mitunter auch zu irrationalen Entscheidungen, die aber i. d. R. nicht von der Plankommission zu vertreten waren. Planwirtschaft ist also keine Misswirtschaft. In der Marktwirtschaft verfügen die Konzerne und die Mittelständler über ein ausgefeiltes System einer hochwirksamen Planwirtschaft. Auf der Ebene des Staates bestehen erhebliche Lücken. Zwar verfügt der Staat mit Hilfe der Haushaltsplanung über ein System der Planung des Aufkommens und der Verwendung finanzieller Mittel, es fehlt jedoch gravierend an der lang- und mittelfristigen Planung entscheidender struktureller wirtschaftlicher Prozesse.
Das Interview mit Uwe Trostel wurde schriftlich geführt und am 20.4.2020 für die Veröffentlichung approbiert. Nachfragen wurden am 20.8. von Trostel beantwortet. Ein TV-Interview mit Trostel ist u. a. im Archiv von DasErste.de aufrufbar, Ben Bolz, Stimmungstief im Osten: Was sagt die DDR-Wirtschaftselite? https://daserste.ndr.de/panorama/archiv/2019/Stimmungstief-im-Osten-Was-sagt-die-DDRWirtschaftselite,kombinatsdirektoren100.html (letzter Zugriff 18.12.2020). 3
527 Erfordernisse des Klimawandels, der Energieentwicklung, der Entwicklung grundlegender volkswirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklungen werden dilettantisch und appellarisch „geplant“, nicht bis zu den Akteuren heruntergebrochen und in zeitlichen Etappen fixiert. Welche Fehler sind beim Übergang der DDR-Planwirtschaft in die soziale Marktwirtschaft der Bundesrepublik gemacht worden? Darüber gibt es eine Unzahl veröffentlichte Meinungen und Standpunkte. Sie werden von den Interessen derjenigen bestimmt, die diese Meinungen veröffentlichen. Aus meiner Sicht ist dieser Übergang konsequent, folgerichtig und praktisch alternativlos verlaufen und wurde von den herrschenden politischen und wirtschaftlichen Kräften dirigiert. Die „Verlierer“ in diesem Prozess hatten im Höchstfall marginale Einflussmöglichkeiten und konnten den Prozess in keiner Weise beeinflussen. Dass im Detail eine Menge von Fehlentscheidungen, nicht genutzten Möglichkeiten, kriminellen Machenschaften usw. diesen Prozess beeinflussten, änderte nichts am letztlich eingetretenen Ergebnis. Aus meiner persönlichen Sicht war der größte Fehler beim Übergang der DDR-Planwirtschaft in die soziale Marktwirtschaft die Einführung der DM, die ohne jegliche Vorbereitung bzw. Anpassung erfolgte. Damit wurde die DDR-Wirtschaft, insbesondere die in großen Teilen gut entwickelte Industrie, von außen in einem ersten Schritt zerstört. Als ehemaliger Leiter der Inspektion für Investitionen der Staatlichen Plankommission hatten Sie einen Überblick über die Volkswirtschaft der DDR. War die DDR pleite bzw. zahlungsunfähig? Was konnten Sie bewegen oder auch nicht? Was die angebliche bankrotte DDR anbetrifft, merkwürdigerweise ziehen die Verfechter dieser Auffassung sogar den Schürer-Bericht hinzu, so gibt es einen unbestechlichen Experten, der sich in dieser Richtung mit Fachkompetenz, die niemand in Zweifel ziehen kann, äußert. Dieser unbestechliche Zeuge, nämlich die Bundesbank, bescheinigt in ihrem Bericht der DDR-Zahlungsfähigkeit bis zum letzten Tag ihrer Existenz: „Die Zahlungsbilanz der ehemaligen DDR 1975 bis 1989“, im Bericht der Bundesbank aus dem Jahre 1999. 4 Die im besagten Bericht der Bundesbank enthaltene Leistungsbilanz der DDR weist beispielsweise für den Zeitraum 1980 bis 1989 Warenexporte der DDR-Wirtschaft in Höhe von 182,1 Milliarden VM (1 VM entspricht immer 1 DM) aus; im gleichen Zeitraum wurden Waren für 185 Milliarden DM importiert. Unter Einbeziehung aller weiteren Außenhandelsaktivitäten kommt die Bundesbank zu dem Schluss, dass die Verschuldung der DDR in das NSW ganze 19,9 Milliarden DM betrug. Dass mit einer solchen Höhe der Verschuldung ein Staat pleite sein kann, entzieht sich jeglichem ökonomischen Verständnis. Übrigens soll der Bericht bereits im Jahre 1992 fertiggestellt worden sein; da er aber ein zu positives Bild über die DDR zeichnete, soll seine Vgl. https://www.bundesbank.de/de/publikationen/bundesbank/die-zahlungsbilanz-der-ehemaligen-ddr-1975-bis-1989-689284 (letzter Zugriff 20.12.2020).
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528 Veröffentlichung bis 1999 hinausgezögert worden sein. Ansonsten kann jedermann sich diesen Bericht bei der Bundesbank als PDF-Datei besorgen. Da zu seinem Verständnis aber eine ziemliche Portion volkswirtschaftlichen Wissens gehört, lesen ihn wohl viele Apologeten gar nicht erst und plappern die hohlen Phrasen des Mainstreams über die angeblich bankrotte DDR nach. Hinzu kommt, dass die Abschlussbilanz der Internationalen Bank für Wirtschaftliche Zusammenarbeit (IBWZ) in Moskau im Jahre 1990 Guthaben von umgerechnet 23,4 Milliarden DM für die DDR auswies. Die DDR hatte also überhaupt keine Auslandsschulden, denn den Schulden im Nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet (NSW) standen Guthaben in etwa gleicher Höhe mit der sozialistischen Welt (SW) gegenüber. Was meine eigene Tätigkeit sowohl als Vorsitzender der Bezirksplankommission Magdeburg als auch als Leiter der Zentralen Staatlichen Inspektion für Investitionen anbetrifft, so hatte ich vielfältige Möglichkeiten der Einflussnahme auf die lokale und gesamtstaatliche Entwicklung der Wirtschaft. Die Zentrale Staatliche Inspektion für Investitionen begutachtete jedes große Investitionsvorhaben aller Bereiche der Volkswirtschaft, bevor diese in den Plan aufgenommen werden konnten. Die Begutachtung bezog sich auf folgende Inhalte: • • •
Wissenschaftlich-technisches und technologisches Niveau Ökonomische Effektivität Sicherheiten der Realisierung
Da es sich bei der Begutachtung um hochkomplexe Prozesse handelte, wurden bei besonders wichtigen Vorhaben Experten des Finanzministeriums, des Ministeriums für Wissenschaft und Technik, der Staatsbank, von wissenschaftlichen Instituten, Universitäten, Hochschulen und Praktiker ähnlicher Unternehmen usw. in den Prozess der Begutachtung einbezogen. Nach Abschluss der Begutachtung wurde die Zustimmung zur Aufnahme des Investitionsvorhabens (durch die Staatliche Plankommission) in den Plan erteilt. Auflagen zur effizienteren Gestaltung des Vorhabens wurden ausgesprochen bzw. das Vorhaben wurde abgelehnt. Trotz dennoch auftretender Probleme bei nicht wenigen Vorhaben kann ich mit Sicherheit die Aussage treffen, dass ein Fiasko wie am Flughafen Berlin durch die Planmäßigkeit des Vorgehens bei der Vorbereitung von Investitionen völlig ausgeschlossen wäre. Die Arbeit der Zentralen Staatlichen Inspektion ist in etwa vergleichbar mit der des Bundesrechnungshofes. Aber mit einem grundsätzlichen Unterschied. Die Zentrale Staatliche Inspektion für Investitionen wurde vor dem allerersten Spatenstich wirksam. Der Bundesrechnungshof wird nach der Fertigstellung eines Vorhabens wirksam und stellt passiv, ohne dass noch entscheidende Veränderungen vorgenommen werden können, die Katastrophe fest.
529 In Magdeburg habe ich Entscheidungen zur harmonischen Entwicklung von Produktionsstrukturen, der Infrastruktur sowie der Struktur der Bevölkerung für die Ebene des Bezirkes als auch der Kreise vorbereitet und den Entscheidungsgremien (Bezirkstag, Rat des Bezirkes) vorgelegt. Welche Erinnerungen haben Sie an den ehemaligen Staatssekretär und Minister für Finanzen der DDR, Walter Siegert? Walter Siegert habe ich zu DDR-Zeit in seiner Funktion kennengelernt, jedoch nur dienstlich in wenigen Beratungen. Genauer habe ich Walter im GD-Salon bei Rohnstock nach der Wende kennengelernt. Wir führten viele persönliche Gespräche, insbesondere zu Problemen der DDR und den Ursachen des Unterganges. Er argumentierte auf hohem theoretischem Niveau und verfügte über einen reichen Erfahrungsschatz aus seiner langjährigen Praxis. Er gehörte zu jenem kleinen Kreis ehemals Verantwortlicher, der in der Lage war, Bewertungen von Entwicklungsprozessen der DDR aus gesamtvolkswirtschaftlicher Sicht vorzunehmen. Walter Siegert hatte keine Berührungsängste und war bereit, seine politischen Überzeugungen vor beliebigen Kreisen argumentativ und mit Überzeugungskraft zu vertreten. Wenn Sie die drei Übergangsakteure Egon Krenz, Hans Modrow und Lothar de Maizière bitte charakterisieren würden. Dazu fühle ich mich nur sehr bedingt in der Lage. Zu Egon Krenz: Sein Hauptverdienst war, dass die Wende unblutig verlaufen ist. Viel zu spät hatte er auf gesellschaftliche Veränderungen gedrungen. Eine zu späte Einsicht, dass das praktizierte Moskauer Modell des Sozialismus dringender Reformer bedurfte. Er hatte falsche gesellschaftliche Schwerpunktsetzung mit vertreten: Konsumideologie wie im Westen, überzogene Verteidigungsaufgaben sowie die Verkennung der Reformfähigkeit des Kapitalismus. Zu Hans Modrow: Als 1. Sekretär der Bezirksleitung Dresden hatte er einen schweren Stand. Unzufriedenheit großer Teile der Bürger und problematische Situationen im Bezirk (z. B. bei der Versorgung, Infrastruktur usw.) waren allgegenwärtig. Als Ministerpräsident vollzog er große Anstrengungen, um einen möglichst reibungslosen Übergang in die Marktwirtschaft zu sichern. Die Treuhand sollte das Volkseigentum bewahren und Bürger direkt beteiligen. In Grundfragen durch Politik der BRD und durch Druck der Straße war er nur sehr bedingt handlungsfähig. Zu Lothar de Maizière: Geistig war er völlig überfordert. Von westdeutschen Politikern wurde er über den Tisch gezogen und an die Wand gespielt. Fehlende gesellschaftliche Kenntnisse, um künftige Entwicklungen einzuschätzen. Die ehrlichen Versuche, um möglichst einen reibungslosen Übergang zu sichern, sind jedoch kläglich gescheitert. Was waren deren Erfolge, Misserfolge und was bleibt von den drei Akteuren übrig? Es bleibt von ihnen die Mitschuld an der gegenwärtigen Situation.
530 Was sind die Hauptgründe für das Ende der DDR? Und wer sind die Hauptverantwortlichen? Das Ende der DDR ist integraler Bestandteil des Endes des Moskauer Systems des Sozialismus. Die Ursache des Scheiterns liegt zuallererst in Moskau, nicht in der DDR. Ich selbst war im Verlauf von fast 10 Jahren nach der Wende als Berater in Russland und in der Ukraine tätig und war zutiefst enttäuscht über den Sozialismus, der in der Sowjetunion praktiziert und untergegangen ist. Die Ursache des Unterganges ist vielfältig und lässt sich grob nach äußeren und inneren Ursachen gliedern: 1. Äußere Ursachen: Es kann nicht geleugnet werden, dass der Kapitalismus von Anfang an alles unternommen hat, um den Sozialismus zu vernichten. Der Sozialismus barg die Gefahr in sich, das kapitalistische Weltsystem abzulösen, wogegen sich dieses natürlich mit allen Mitteln und letztlich erfolgreich wehrte. 2. Einzelursachen: Der Sozialismus entsteht in der wirtschaftlich unterentwickelten UdSSR; diese prägt jedoch entscheidend die Entwicklung in dem sozialistischen Staate (Verhinderung von Reformversuchen, NÖS DDR, Ungarn); Komplexes Instrumentarium zur wirtschaftlichen Destabilisierung, Embargo, ökonomische Erpressungen; Rüstungspolitik, besonders R. Reagan zwingt UdSSR zu Rüstungsausgaben, die diese volkswirtschaftlich nicht verkraften kann; Ökonomische Integration der sozialistischen Länder war unzureichend. 3. Innere Ursachen (DDR): Konsumtion entspricht nicht den volkswirtschaftlichen Möglichkeiten und vermindert tendenziell die Leistungsentwicklung der Wirtschaft: • Überzogener, undemokratischer Führungsanspruch der Partei • Schwindendes Vertrauen eine größere Zahl von Bürgern in die Politik von Partei und Regierung • Unzureichendes Produktivitätsniveau in der Wirtschaft; daraus resultierende Erscheinungen von Mangelwirtschaft • Fehlende wirtschaftliche Reformen und falsche Preispolitik • Nicht ausreichen entwickeltes Eigentümerbewusstsein • Überzogene Zentralisierung wirtschaftlicher Entscheidungen • Einschränkung von Bürgerrechten, Personenkult Wenn man nach Personen fragt, so wäre zuallererst das überalterte Politbüro der UdSSR zu nennen. Als nächste dann die zumeist vom Stalinismus gekennzeichneten politischen Führer anderer Länder, die nahezu ausnahmslos einen überzogenen Personenkult betrieben und von ihrer Unfehlbarkeit weitgehend überzeugt waren.
531 Die Bilanz über die Treuhandanstalt wird unterschiedlich bewertet. Wie urteilen bzw. beurteilen Sie die Bilanz der Treuhandanstalt? Dazu verweise ich auf den Bericht über die „Währungsunion und Treuhandanstalt“: 5 Seit Bestehen der Treuhandanstalt, scheinbar aber noch verstärkt im Zusammenhang mit dem 30. Jahrestag des Mauerfalls, steht die Treuhandanstalt unter scharfer Kritik hinsichtlich des Ergebnisses ihrer Tätigkeit zur Deindustrialisierung Ostdeutschlands. Eine gewisse Aktualität gewinnt diese Kritik noch durch das Erstarken der AfD in Ostdeutschland; das Ergebnis der Treuhandanstalt hat dazu zweifelsohne nicht wenig beigetragen. In den Meinungsäußerungen findet man auch eine gewisse Hilflosigkeit, denn der vom Westen dominierte Mainstream kann sich nicht so recht erklären, warum im Osten so vieles schief läuft. Da kommt natürlich ganz vieles zusammen. Eine der mir bekannten schärfsten Kritiken kommt vom „Stern“, einem Journal, was sicherlich konsequenter linker Auffassungen nicht sonderlich verdächtig ist. Hans-Ulrich Jörges legt schon den Finger auf offene Wunden und schmerzende Narben. 6 Flächendeckende Deindustrialisierung, Massenarbeitslosigkeit, Abwanderung von Millionen Menschen, Ungleichbehandlung und Missachtung der Lebensleistung der Ostdeutschen, da kommt schon eine Menge zusammen, was auch noch bis heute wirkt. Wohltuend hebt sich Herr Jörges, der Verfasser der Kolumne, auch von jenen ab, die die DDR immer noch auf Stasi, Mauer und Misswirtschaft reduzieren. Insofern kann man auch als Ostdeutscher nahezu alles unterschreiben, was Herr Jörges in der Kolumne zum Ausdruck bringt. Das ist aufrichtig, offen, trifft die Gefühle vieler Menschen im Osten und hebt sich wohltuend von der Lobhudelei politischer Kreise und des Mainstreams zu den Ergebnissen des Mauerfalls ab. Herr Jörges nimmt offensichtlich auch in Kauf, dass er sich mit dieser Kolumne nur ganz wenige Freunde in Politik und in den Machtzentralen machen wird; das ist eine Art von Mut, den leider nur wenige Journalisten von Format haben. Aber einer gewissen Kritik zu den Auffassungen Herrn Jörges kann man sich nicht enthalten. Zwar stellt er das Wüten der Treuhandanstalt in ungewohnter Schärfe und auch richtig dar; aber die Treuhandanstalt war doch weder vom Himmel gefallen noch war sie eine unabwendbare Naturkatastrophe. Ja, sie war wie ein bissiger Hund; dieser Hund hing aber an einer Leine und am anderen Ende der Leine war sein Herr; in diesem Fall die Bundesregierung und überhaupt die politische und wirtschaftliche Macht des Staates. Es hätte nur eines Winkes der Regierenden und Machthabenden bedurft und die Treuhandanstalt hätte eine ganz andere Politik durchführen müssen, eine Politik auf die Erhaltung, Sanierung und die Modernisierung der ostdeutschen Wirtschaft gerichtet. Aber genau das ist nicht geschehen. Und es durfte ja auch nicht geschehen, denn dann wären doch Dieser Bericht wurde in die Antwort zusätzlich eingepflegt. Trostel versicherte, dass er diesen nie publizierte, sondern vereinzelt nur in seinen Freundes- bzw. Bekanntenkreis weitergeleitete hatte. 6 Hans-Ulrich Jörges, Stern, 7.11.2019, Nr. 46, S. 18, Jörges-Kolumne „Ewig geteilt!“, Kassen voll. Land kaputt. 5
532 für die mächtigen Konzerne im Westen neue Konkurrenten entstanden, die ihnen Märkte und Profite streitig gemacht hätten. Übrigens musste jede Entscheidung der Treuhandanstalt vom Finanzministerium abgesegnet werden, bevor sie wirksam wurde. Die massenhaften Proteste der Ostdeutschen für die Erhaltung ihrer Arbeitsplätze in jener Zeit fanden meist vor der Treuhandanstalt statt, hätten sich aber eigentlich gegen die Regierenden in Bonn richten müssen, in deren Auftrag diese handelte. Insofern kann man sich des Eindruckes nicht ganz erwehren, dass hinter der scharfen und völlig berechtigten Kritik des Herrn Jörges an der Treuhandanstalt und vieler anderer auch ein Ablenkungsmanöver steckt. Schuld an der ganzen Misere ist also die Treuhandanstalt? Die ist längst aufgelöst, kann nicht mehr zur Verantwortung gezogen werden. Sie ist der Sündenbock und ganz alleine am angerichteten Schaden schuld?! Aber es gab doch eine Regierung, in deren Auftrag sie handelte, es gab den Bundestag, Landesregierungen usw. Sie alle hätten einschreiten können, gemacht haben sie so gut wie nichts. Dann gibt es natürlich auch jene Apologeten, die die Arbeit der THA mit dem angeblich bankrotten Staat DDR und der maroden Wirtschaft, die ja eigentlich Schrott war, nichts zustande gebracht habe und völlig konkurrenzfähig gewesen sein soll, entschuldigen. Angeblich hätte es für eine dermaßen kaputte Wirtschaft auch keine Überlebensmöglichkeiten gegeben. Konkret: War die DDR-Wirtschaft pleite? Hier sind die Fakten ganz anders. Die DDR-Wirtschaft hat aus eigener Kraft bis zum Tage der Währungsunion produziert, alle Abführungen an den Staat geleistet, Löhne in voll vereinbarter Höhe gezahlt und Rechnungen für Warenlieferungen und Leistungen pünktlich beglichen sowie vertraglich vereinbarte Lieferungen und Leistungen im Wesentlichen erbracht. Und dass, obwohl tausende Arbeitskräfte fehlten, Embargobestimmungen und viele weiter Faktoren wirkten. Schwierigkeiten und Probleme gab es natürlich zur Genüge, oftmals auch mehr als genug, aber zu ihrem großen Glück verfügte die DDR-Wirtschaft über hoch qualifiziertes Personal in Management und Produktion, welches mit höchstem Einsatz, mit Wissen, Können und Engagement, viele dieser Probleme löste. Wahrscheinlich waren wir Weltmeister im Improvisieren und im Finden ungewöhnlicher Lösungen. All das hat dazu geführt, dass bei allen Problemen, die DDR-Wirtschaft eben nicht pleite war. Mit der schlagartigen Einführung der D-Mark änderte sich natürlich vieles. Im Prinzip sollte die DDR-Wirtschaft eine Aufwertung von um bis 400 % verkraften; im Normalfall verkraftet eine kapitalistische Wirtschaft kaum eine Aufwertung von 10 %. Verbunden mit der DM-Einführung war der sofortige Wegfall der Hauptmärkte der DDRWirtschaft in Osteuropa (weder die Sowjetunion noch die anderen RGW-Staaten verfügten über konvertierbare Währungen, mit denen sie nunmehr Erzeugnisse aus der DDR bezahlen mussten), und selbst viele DDR-Bürger kauften von nun an nur noch Westprodukte. Über all die Jahre hatte die DDR-Wirtschaft Exporte in Milliarden-DM-Höhe in den Westen realisiert, auch die fielen schlagartig mit der DM-Einführung weg. Also: Die Existenzprobleme der DDR-Wirtschaft begannen nach der Einführung der D-Mark. Das zeigt sich auch daran, dass die Leistung der DDR-Wirtschaft nach und nicht vor der Vereinigung
533 unvorstellbar auf etwa 40 % ihres zu DDR-Zeit bereits erreichten Niveaus absackte. Um diese zugegebenermaßen nicht einfachen Zusammenhänge zu verstehen, braucht man ein gewisses Grundwissen über den Ablauf volkswirtschaftlicher Prozesse. Dieses Grundwissen und noch mehr sind bei Herrn Jörges zweifellos vorhanden. Umso bedauerlicher ist, dass er sich in dieser Frage auf das Niveau des Mainstreams begibt. Sicher ungewollt, das will ich ihm gern zugutehalten, erreicht er mit einer solchen Aussage das Gegenteil von dem, was er eigentlich beabsichtigte. Millionen noch lebender Zeitzeugen haben in DDR-Betrieben gearbeitet, habe zu DDR-Zeit keine Pleite ihres Betriebes erlebt, haben ihre ganze Kraft zur Lösung schwierigster Probleme erfolgreich eingesetzt, sprechen noch heute mit Stolz von „ihrem“ Betrieb. Mit Pleitebehauptungen wird die Arbeit dieser Menschen diskreditiert, gewollt oder ungewollt. Als generelle Schlussfolgerung für mich ergibt sich daraus, dass die Deindustrialisierung des Ostens in zwei aufeinanderfolgenden Stufen erfolgte, die aber inhaltlich auf das Engste verbunden waren: Stufe 1 – Die Einführung der DM zum Kurs von „1:1“ bzw. „1:2“: Mit der quasi über Nacht erfolgten Einführung der D-Mark, ohne jeglicher Möglichkeit der Vorbereitung bzw. Anpassung an diese neue Lage, stand die Wirtschaft der DDR vor einer völlig neuen, existenzvernichtenden Situation. Der aller linken Auffassungen unverdächtige damalige Chef der Bundesbank, Karl Otto Pöhl, einerseits ein Vertreter der neoliberalen Marktwirtschaft, andererseits jedoch ein ausgewiesener Experte zu volkswirtschaftlichen Problemen, äußerte sich in einem Gespräch mit Daniela Dahn wie folgt: „Würde man über Nacht in der Bundesrepublik den viel stärkeren Dollar einführen, wäre die deutsche Wirtschaft sofort ruiniert. Oder wenn Österreich die D-Mark übernehmen würde – der Schilling stand „1:7“ – wäre es sofort völlig pleite …!“ 7 Zu jener Zeit stand DM zu Dollar etwa wie „1:2“. Wirtschaftlich gesehen (offiziell gab es keinen Wechselkurs) stand die Mark der DDR zur DM West etwa wie „4,5:1“. Die Einführung der DM ist also vergleichbar mit einem Aufwertungseffekt von bis zu 400 %, eine Situation, die keine Wirtschaft dieser Welt überleben könnte. Die Folge dieses Prozesses war eine gravierende Verteuerung der Erzeugnisse der DDRWirtschaft, die ausschließlich auf diese Währungssituation zurückzuführen ist. Die DDRWirtschaft, insbesondere die Industrie, war eine exportorientierte Wirtschaft. Bis zu 60 % der wirtschaftlichen Leistung wurden ins Ausland exportiert. Hauptabnehmer waren die UdSSR und die anderen Länder des RGW. Die Exporte in diese Richtung fielen schlagartig wegen der Verteuerung der Produkte einerseits, andererseits aber auch wegen der hochkomplizierten wirtschaftlichen Lage in diesen Ländern und der damit verbundenen Devisenknappheit völlig aus. Die Exporte in das westliche Ausland (NSW) fielen gleichermaßen wegen der VerDaniela Dahn, Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute. Die Einheit – eine Abrechnung, Hamburg 2019, S. 33. 7
534 teuerung der Erzeugnisse der DDR-Wirtschaft weg. Die DDR hatte vor allem Konsumgüter (Textilien, Waschmaschinen, Möbel, Kühlschränke usw.) in den Westen verkauft, wobei besonders in den 70er und 80er der bundesdeutsche Versandhandel riesige Profite erwirtschaften konnte. 70 bis 80 % des Warenangebotes des Versandhandels stammten aus der DDR. Und schließlich verlor die DDR-Wirtschaft sogar den eigenen, den Binnenmarkt. Schon vor der Währungsunion drängten bei Missachtung aller internationaler Regeln, westdeutsche Konzerne und Schrottautos auf den Binnenmarkt. Erzeugnisse der DDR-Konsumgüterindustrie, wie Fernseher aus Staßfurt, selbst Gemüse aus dem Spreewald waren nicht mehr absetzbar bzw. gar nicht mehr im Angebot. Natürlich hatten alle jene, die mit der Losung „Kommt die DM nicht nach hier, packen wir und gehen zu ihr“ den Druck der Straße erhöhten und die der Meinung waren, alles geht so weiter im Betrieb wie bisher, nur eben wir werden dann mit DM bezahlt, keine Kenntnisse über komplizierte volkswirtschaftliche Zusammenhänge. Das böse Erwachen kam erst, als sie sich als Arbeitslose auf der Straße wiederfanden. Die Einführung der DM hat die Festung DDR-Wirtschaft sturmreif geschossen. Stufe 2 – Die Treuhandanstalt vollendet die Deindustrialisierung Ostdeutschlands: Die Treuhandanstalt hat nunmehr zwei Möglichkeiten im Umgang mit der durch die DM stark angeschlagene ostdeutsche Wirtschaft: a) Die durch die DM zerstörte Wirtschaft mühsam wiederaufzubauen; b) Die Trümmer der zerstörten Wirtschaft durch Liquidation zu beseitigen und Filetstücken das Überleben zu sichern. Sie hat sich überwiegend für b) entschieden. Allerdings muss man festhalten, dass diese Entscheidung marktwirtschaftlich korrekt, konsequent und vorhersehbar war. Lediglich die Politik hatte zu jeder Stunde die Möglichkeit des Einbegreifens und der Treuhandanstalt einen Auftrag zur Sanierung und Erhaltung zu erteilen. An einer solchen Entscheidung hatte die Politik aber keinerlei Interesse, denn mit der Sanierung der Wirtschaft im Osten wäre eine mächtige Konkurrenz für die etablierte Wirtschaft im Westen entstanden. Die Aktivitäten der Treuhandanstalt gingen von der Ausgangssituation aus, dass alle Erzeugnisse und Leistungen der ostdeutschen Wirtschaft auch in den westlichen Industriestaaten bzw. auch zunehmend in Asien erbracht wurden. Die hier vorhandenen Fertigungskapazitäten waren technologisch auf hohem Niveau und i. d. R. zwischen 60 und 80 % ausgelastet. Zudem konnten diese bei steigenden Nachfragen schnell durch entsprechende Investitionen erweitert werden. Für die westliche Industrie ergab sich auf Grund dessen, dass die Ostbetriebe infolge der Einführung der DM ihre Märkte nahezu vollständig verloren hatten, die einmalige Chance, diese Märkte zu besetzen. Ausnahmen waren im wesentliche nur solche
535 Branchen, zumeist im Dienstleistungssektor, die nur regional bedient werden konnten. Märkte von Interhotels, Warenhäusern, Banken und Versicherungen konnten nur regional bedient werden; nach diesen Branchen begann auch ein stürmischer Andrang westlicher Investoren mit der Bereitschaft, der Treuhandanstalt attraktive Angebote zu unterbreiten. Ähnliches betraf einige wenige Industriezweige, beispielsweise die Zementindustrie, Teile der chemischen Industrie u. a., die die vorhandenen Nachfragen des Marktes von den etablierten westlichen Industrien durch höhere Auslastung der bereits vorhandenen Kapazität nicht abdecken konnten. In diesen Fällen erwarben westliche Investoren die Ostbetriebe. Der Ausfall der Lieferungen ostdeutscher Konsumgüterhersteller infolge der Preiserhöhungen im Zuge der DM-Einführung sowie weiter Produktionen auch in den westlichen Industriestaaten wurde in dieser Zeit im Wesentlichen durch Produktionsverlagerungen in Billiglohnländer Osteuropas und Asiens, besonders Chinas, teilweise ausgeglichen. Die Eroberung des Marktes ehemaliger Ostbetriebe durch westliche Konzerne erfolgte also vorwiegend durch höhere Auslastung der vorhandenen Kapazität bzw. deren Erweiterung, in Fällen, wo das nicht mehr möglich war, durch Kauf ostdeutscher Betriebe, die dann zumeist auch als verlängerte Werkbank genutzt wurden. Dieser Prozess war durch eine extreme Effizienzsteigerung verbunden, da durch Kostenremanenz erhebliche Extragewinne erwirtschaftet wurden. Nahezu alle Ostbetriebe, die nicht in dieses Ablaufschema passten, wurden wegen angeblicher nicht vorhandener Konkurrenzfähigkeit liquidiert. Dabei spielte auch keine Rolle, dass eine große Zahl ostdeutscher Betriebe mit modernster Westtechnik ausgestattet war und auf hohem technologischem Niveau produzierte. Die Importe der DDR aus dem westlichen Ausland bestanden vorwiegend in modernsten Maschinen und Anlagen, die die DDR nicht selbst herstellen konnte und die auch im RGW nicht beschaffbar waren. Offensichtlich wurden selbst Technologien, die unter den Embargobestimmungen standen, mit hohem Aufwand aus dem Westen beschafft. Die immer wieder vom Mainstream geäußerte Auffassung, dass die Ostbetriebe nur Schrott waren, wird auch von dieser Seite her eindeutig widerlegt. Folgt man diesem Gedanken, dann wäre doch auch die moderne Westtechnologie Schrott gewesen. Natürlich kann auch nicht verkannt werden, dass eine bestimmte Zahl ostdeutscher Betriebe technologisch nicht den modernsten Anforderungen entsprach, was die Überlebenschancen zusätzlich erschwerte. Nach ersten fundierten Einschätzungen der Treuhandanstalt, die im späteren Verlauf aber keine wesentliche Rolle spielten, waren etwa 1/3 alle Ostbetriebe sofort konkurrenzfähig; ein weiteres Drittel hätte durch Sanierung auf einen modernen Stand gebracht werden können. Lediglich ein Drittel der Betriebe wäre mit normalen Sanierungsmaßnahmen nicht wettbewerbsfähig zu machen. Es entspricht der Logik der Marktwirtschaft, dass die Treuhandanstalt verfuhr, wie sie verfuhr. Die durchaus mögliche Anpassung der überwiegenden Teile der DDR-Wirtschaft an die neuen Bedingungen hätte Zeit und
536 (Steuer-)Geld erfordert; zudem wären Konkurrenten zu der im Westen vorhandenen Wirtschaft entstanden. Die Politik war weder bereit, die erforderlichen Steuermilliarden bereitzustellen noch mit diesen Mitteln Konkurrenten für die alteingesessene Wirtschaft zu schaffen. Insofern ist also jegliche Kritik an der Treuhandanstalt gerechtfertigt – siehe die Kolumne des Sterns und eine Unzahl andere. Wenn man aber bei dieser Kritik stehen bleibt, wenn man alles der längst aufgelösten Treuhandanstalt zuordnet, dann nimmt man – bewusst oder unbewusst, möge dahingestellt bleiben – die wahren Schuldigen aus der Verantwortung. Im Gegensatz zur Treuhandanstalt sind die oder ihre Nachfolger aber alle noch da. 30 Jahre dt. Einheit im Jahr 2020: Sehen Sie eine deutsch-deutsche Erfolgsgeschichte? Was war gut und was verlief „suboptimal“? Die Bewertung dazu hängt von der jeweiligen Person ab. Eine generelle Bewertung ist objektiv m. E. nicht möglich, dass das immer von der subjektiven Einschätzung des jeweils Betroffenen abhängt. Dazu einige Beispiele: 1.
2. 3. 4.
Millionen, die durch die Treuhandanstalt arbeitslos wurden und keine neue berufliche Tätigkeit fanden: Ergebnis katastrophal; Zerstörung der Persönlichkeit; Degradierung zum „Konsumidioten“, Entzug von Menschenrechten (z. B. Recht auf Arbeit), Vereinsamung, Mitursache für AfD und Rechtsradikalismus. Jugend: Unterschiedlich. Teilweise ohne Perspektive, Neigung zu Radikalismus. Teilweise hervorragende Entwicklungschancen und Reisemöglichkeiten. Zweitklassiges Führungspersonal in den alten Bundesländern: Hervorragende Einsatzmöglichkeiten in den NBL. Westdeutscher „Normalbürger“: Desinteresse und Unverständnis für „Undankbarkeit“ der Ostdeutschen bzw. Interesse an Entwicklung und Bildung einer möglichst objektiven Meinung.
„Suboptimal“ verläuft die Einschätzung der DDR durch einige „Historiker“ und den Mainstream. In der Befürchtung, Ergebnisse der DDR-Entwicklung könnten zu kritischen Nachfragen führen, wird die DDR auf Stasi und Schüsse an der Grenze reduziert. Bei der Masse von Bürgern, die sich ausschließlich im Mainstream informieren, fällt das auf fruchtbaren Boden und führt dazu, dass die Gegensätze zwischen Ost und West weiter konserviert werden. Herr Trostel, vielen Dank für Ihre Unterstützung. Bitte!
537 5. Lehre und Wissenschaft der DDR Horst Steeger „Das Ende der DDR 1990 bedeutete auch ein abruptes Ende der DDR-Wirtschaftswissenschaft in Lehre und Forschung.“
Abb. 70: Akademie für Staats- und Rechtswissenschaften der DDR in Potsdam Babelsberg.
Lebenslauf: 8 1932 1938–1943 1944–1946 1946–1949 1949–1952 1952–1955 1955–1958 1956 1958 1958–1964
geboren am 15. Mai in Kamsdorf (Kreis Saalfeld/ Thüringen) Volksschule Kamsdorf Aufbauschule Rudolstadt Kfm. Lehre in der Maxhütte Unterwellenborn, Abschluss: Industriekaufmann Kfm. Angestellter in der Maxhütte, kfm. Leiter des Lehrkombinates/ Leiter der Abt. Finanzplanung in der Maxhütte Studium an der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft (ASR Potsdam-Babelsberg) und der Hochschule für Finanzwirtschaft. Abschluss: Diplomwirtschaftler Assistent an der Hochschule für Ökonomie (HfÖ) Berlin-Karlshorst Trauzeuge bei der Hochzeit von den Eheleuten Siegert Promotion A zum Dr. rer. oec. Leiter der DDR-Delegation in der ständigen Kommission für ökonomische Fragen im RGW
8 Lebensdaten wurden von Steeger übermittelt sowie ergänzt aus Helmut Müller-Enbergs, Jan Wie-
lgohs, Dieter Hoffmann, Andreas Herbst, Ingrid Kirschey-Feix, (Hrsg.), Wer war wer in der DDR? Ein Lexikon ostdeutscher Biographien, 5. Auflage, Berlin 2010.
538 1959–1963 1960 1962 1962–1983 1965 ab 1972
1984–1990 1992–2000 seit 2000
Oberassistent/Dozent an der Hochschule für Ökonomie Mitgliedschaften FDJ und SED Promotion B zum Dr. habil. Direktor des Ökonomischen Forschungsinstitutes der Staatlichen Plankommission der DDR Berufung zum Professor für Rechnungswesen an der Hochschule für Ökonomie Vorsitzender des Wissenschaftlichen Rates für die Vervollkommnung des Systems der Planung u. der wirtschaftlichen Rechnungsführung sowie Mitglied des Forschungsrats beim Ministerrat der DDR Rektor der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaften der DDR in Potsdam Babelsberg Lehrtätigkeit an der IHK Potsdam sowie an Weiterbildungseinrichtungen des Landes Brandenburg Rentner
Veröffentlichungen (Auswahl): Der Kosteneffekt, das Niveau u. die Perspektiven der Kombination im Eisenhüttenwesen. Berlin 1958; Probleme der ökon. Stimulierung, Planung u. Abrechnung des wissenschaftlichen-technischen Fortschritts. Berlin 1963; Planung der Volkswirtschaft in der DDR. Berlin 1970 (Hrsg.); Lexikon der Wirtschaft. Berlin 1980 (Hrsg.). Sie haben 1952 in Potsdam Babelsberg an der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft gemeinsam mit Walter Siegert ein Ökonomie Studium begonnen. Nach dem Diplom arbeiteten Sie beide an der Hochschule für Finanzwirtschaft (bzw. Hochschule für Ökonomie). Welche Erinnerungen haben Sie an diese Zeit? 9 Das Ökonomie-Studium und die Assistentenzeit von 1952 bis 1958 zusammen mit Walter Siegert waren lehrreiche, erfolgreiche und schöne Jahre. Lehrreich, weil die genannten neuen Bildungs- und Forschungseinrichtungen der jungen DDR ein praxisorientiertes Studium ermöglichten und entscheidende Grundlagen für das spätere Berufsleben schufen. Erfolgreich, weil ich in den 6 Jahren ein Diplom als Finanzwissenschaftler und einen Doktorgrad erwerben konnte, später noch den Dr. habil. und Professorentitel. Schön war die Zeit, weil sich Freundschaften entwickelten, die bis heute eine Bereicherung des Lebens sind. Zu diesen Freundschaften zählt nunmehr über 65 Jahre die Freundschaft mit Walter Siegert und seiner lieben Frau Ilse. An der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft wurden zu unserem Studienbeginn 1952 Juristen, Verwaltungswissenschaftler, Diplomaten, Außenhändler und Finanzwissenschaftler ausgebildet. In unserem Studienjahr waren Abiturienten, zum Teil schon mit Praxiserfahrung und Praktiker ohne Abitur. Das Interview mit Horst Steeger wurde schriftlich im Februar 2019 geführt und am 7. März für diese Veröffentlichung autorisiert.
9
539 Zur letzten Gruppe gehörte ich und es war eine Chance, dass ich ohne Abitur aufgrund meiner Leistungen als Ökonom in der Maxhütte studieren konnte. Gegenwärtig, also 65 Jahre danach, wird in der BRD das Studium ohne Abitur wieder eingeführt, z. B. für Handwerksmeister. Wir hatten damals keine Handwerksmeister in der Studiengruppe, wohl aber den Oberbürgermeister der Stadt Gera, also auch einen Meister, der später nach einer Professur Staatssekretär im Amt für Preise der DDR wurde. Das Studium ohne Abitur war – für mich vor allem – schwer in den Fächern Mathematik, Sprachen, Philosophie. Andererseits hatte ich in den Studiengängen Buchführung/Kostenrechnung, Unternehmensfinanzierung und -planung, Preisbildung Vorteile durch mein Praxiswissen. Es war selbstverständlich, dass man sich im Seminar beim Erarbeiten des Stoffes gegenseitig half. So konnte bald etwa ausgeglichenes Niveau erreicht werden. Nach dem Diplom musste ich als Assistent an der Hochschule bleiben, es war der Wunsch und „Befehl“ des Rektors. Es gehörte zur „Kaderpolitik“, dass befähigte Absolventen für den Ausbau des Lehrkörpers ausgewählt wurden. Bei einem Notendurchschnitt von 1,2 (im Fach Russische Sprache erreichte ich nur eine 2) bekam ich diese Chance. Der damalige Rektor, heute 93 Jahre alt, mit dem wir uns – von Walter Siegert organisiert – jährlich treffen, meint noch immer, dass seine damalige Entscheidung, mich und auch Walter als Assistenten engagiert zu haben, wohl zutreffend war. Dass diese gemeinsame Zeit in den 1950ern ein freundschaftliches Band bis heute geknüpft hat, spricht für sich. Übrigens vor einigen Jahren fragte die Kellnerin ihren Chef: „Was sind das für nette Leute?“ Er antwortete: „Es ist die Finanzoligarchie der DDR!“ Der Mann hatte recht: ein Finanzminister, drei Staatssekretäre, zwei Bankdirektoren, mit sechs Finanzprofessoren, alle aus einer kleinen Studiengruppe, die damals 1952 in der Filmstadt Babelsberg mit Blick auf den Griebnitzsee ihre Zelte aufschlug. Zelte? Ich wohnte zusammen mit meinen Studienfreunden in der Villa von Marika Röck, Walter Siegert und seine Seminargruppe nebenan in der Villa von Brigitte Horney für 28 Mark im Monat einschließlich der Vollverpflegung. Eine Mark pro Tag, so hieß es, da hatte man wohl den Februar zugrunde gelegt. Uns sollte das recht sein! Als Assistenten blieben Walter Siegert und ich noch ein Jahr in Babelsberg. Zusammen mit unseren Frauen bewohnten wir eine Etage eines Mehrfamilienhauses, allerdings ohne Seeblick. Es war für die jungen Familien eine schöne Zeit. Meine Frau arbeitete im Sekretariat des Lehrstuhls, an dem Walter Siegert Assistent war. Wir Assistenten hatten Zeit, um an unserer Dissertation zu arbeiten, und ich hatte das finanzielle Glück, dass im Fach Rechnungswesen viele Seminare durchgeführt wurden, immerhin mit 15 Mark Vergütung je Stunde. Die Familien Siegert und Steeger trafen sich regelmäßig in der gemeinsamen Küche. Zwischen Walter aus Sachsen und meiner Frau Erika aus Thüringen kam es zu regelrechten „Küchenschlachten“ um die jeweiligen Spezialitäten, wobei Walter ein fairer Verlierer war. Im März 1958 promovierte ich zum Thema „Die Kombinatsbildung in der DDR“, eine Thematik, die später in der DDR eine zentrale Rolle in der Industriepolitik spielen sollte.
540 Unsere Wege trennten sich beruflich. Walter Siegert arbeitete ab 1960 im Ministerium der Finanzen und ich wurde 1961/62 als Direktor des Ökonomischen Forschungsinstitutes der Staatlichen Plankommission berufen. Des Öfteren trafen wir uns beim Mittagessen im Casino am Thälmannplatz (heute das Haus des Thüringischen Landtages) und fanden Zeit, uns an die zum Teil filmreifen Geschichten aus unserer Studentenzeit in Babelsberg zu erinnern. In den 1960er Jahren waren Sie Direktor des Ökonomischen Forschungsinstitutes der Staatlichen Plankommission der DDR. Später auch Vorsitzender des wissenschaftlichen Rates für Vervollkommnung des Systems der Planung und wirtschaftlichen Rechnungsführung beim Ministerrat der DDR. Können Sie uns Ihre Erfahrungen zum Verlauf der Reformbemühungen in der DDR vermitteln? Reformbemühungen gab es Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre in allen RGW-Ländern. Besonders ausgeprägt waren sie in Ungarn und der ČSSR, aber auch in der UdSSR und der DDR. Im Kern ging es darum, die Planwirtschaft, die zentralistisch und unflexibel war, durch eine stärkere Dezentralisierung ökonomischer Entscheidungen verbunden mit größerer finanzieller Selbstständigkeit der Unternehmen flexibler und effektiver zu gestalten. Im Gegensatz zu den anderen sozialistischen Ländern wurde in der DDR nicht von einer Wirtschaftsreform gesprochen. Die Parteiführung wollte keine Reform, auch aus Angst, dass der ökonomischen Reform die politische Reform folgt, was dann auch in Ungarn und der ČSSR geschehen ist. Die Ereignisse und Ergebnisse sind bekannt. Die Parteiführung beauftragte eine Arbeitsgruppe, das NÖS (Neues ökonomisches System des Sozialismus) auszuarbeiten und schrittweise einzuführen. Ich war Mitglied dieser Arbeitsgruppe, die interessanterweise am 1. Mai 1962 in Klausur geschickt wurde. Der Auftrag zum NÖS und seine Gestaltung trugen die Handschrift von Walter Ulbricht, der (wie später in der Sowjetunion behauptet wurde) als ein Klassiker des Marxismus-Leninismus (ML) in die Geschichte eingehen wollte, zumal wegen der Entmachtung Stalins „ein Platz frei“ wurde. Deshalb entbrannte der Streit zum NÖS bereits zum Begriff, weil die sowjetischen Genossen unterstellten, dass die DDR damit ein neues „Sozialismusmodell“ kreieren wollten. Es wurde kurzfristig der Begriff in den Titel „Neues ökonomisches System der Leitung und Planung“ umgewandelt, was es von Anfang im Kern auch war. Das neue Sozialismusmodell kam später in Form der „entwickelten sozialistischen Gesellschaft“ als DDR-Antwort auf die frühe Verkündung des Kommunismus in der UdSSR und anderen Ländern. Charakteristisch für das NÖS waren: a) Die Ausrichtung des Wirtschaftssystems auf die Durchsetzung des wissenschaftlichtechnischen Fortschritts, z. B. die Ökonomisierung der Forschungsinstitute, die Stimulierung neuer Erzeugnisse und Technologien, die Gestaltung eines Planteils „Neue Technik“ und die Ausrichtung der Investitionspolitik auf die neue Technik.
541 b) Die Konzentration von Forschung, Produktion und Außenhandel in Industriekombinaten, die Vereinigung branchengleicher Betriebe in Kombinaten unter direkter Einbeziehung der Forschungsinstitute und Außenhandelsbetriebe. c) Die Schaffung eines Systems von ökonomischen Hebeln, wie Gewinnbeteiligung der Betriebe, Prämienfonds-Regelungen, Bildung betrieblicher Investitionsfonds als Ergänzung zum Plan. d) Die stärkere Einbeziehung aller Eigentumsformen in den Wirtschaftskreislauf (Volkseigentum, Genossenschaften, halbstaatliche Betriebe, privates Handwerk). Durch die 1972er Verstaatlichung aller noch bestehenden privaten Betriebe ist das negiert worden! e) Die Reduzierung der Zahl der staatlichen Planvorgaben und die Stärkung der betrieblichen Planung, auch durch Planangebote von unten. Das NÖS wurde in der DDR nicht komplett eingeführt, weil es Widerstand gab, vor allem aber, weil dafür von Beginn an ein längerer Zeitraum vorgesehen war, der jedoch nicht zur Verfügung stand, da immer neue Bedenkenträger sich einmischten. Das NÖS wurde dann regelrecht „eingestampft“, spätestens nach den Ereignissen in der ČSSR 1968. Es waren politische Gründe und schließlich der Führungswechsel von Ulbricht zu Honecker. In der DDR wurde nicht mehr vom NÖS gesprochen, obwohl wichtige Elemente weitergeführt und teilweise sogar verstärkt ausgebaut wurden. Hierzu zählte die Kombinatsbildung, sogar auf regionaler Ebene in den Wirtschaftsräten der Bezirke. Nicht immer sind dabei wirklich effektivitätsfördernde Entscheidungen getroffen worden. Der letzte Schritt zur Umsetzung von NÖS-Elementen war die 1967 getroffene Entscheidung zur Einführung des „Prinzips der Eigenerwirtschaftung“ in 16 Kombinaten, darunter im Kombinat ZEISS Jena. Diese Kombinate hatten damit weitgehende Möglichkeiten, selbst über Investitionen zu entscheiden und sie zu finanzieren. Wachsende Gewinnerwirtschaftung kam dem Kombinat zu Gute und wurde nicht durch die Nettogewinnabführung abgeschöpft. Der größte Rückgriff auf die Erfahrungen des NÖS der DDR fand in der Reformbewegung in der Volksrepublik China Ende der 1970er Jahre statt. Chinesische Studiendelegationen wollten alles über das NÖS wissen. Ich war Anfang der 1980er Jahre 6 Wochen in China, um Erfahrungen über das NÖS zu vermitteln. Dabei waren Kombinatsbildung, halbstaatliche Betriebe, wirtschaftliche Rechnungsführung in Forschungsinstituten, Umgang mit zwei Währungen „vor dem Mauerbau“ am stärksten gefragt. China hatte einen längeren Atem als wir, um Neuerungen in seinem Wirtschaftssystem bis heute erfolgreich umzusetzen. Das Scheitern der DDR und der anderen sozialistischen Länder Ende der 1980er Jahre ist auch eine Folge der Reformunfähigkeit des politischen und wirtschaftlichen Systems.
542 Sie waren einige Jahre Leiter der DDR-Delegation in der Ständigen Kommission für Ökonomische Fragen des RGW in Moskau. Welche Erfahrungen haben Sie in Bezug auf die Arbeit und die Ergebnisse dieser Wirtschaftsgemeinschaft für die beteiligten Länder gemacht? Der RGW – Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe – war die Wirtschaftsgemeinschaft der sozialistischen Länder, um die wirtschaftliche und wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit der Länder effektiver zu gestalten und es war auch die Antwort auf die Gründung der EG. Der Rat selbst arbeitete auf der Grundlage von Kommissionen (branchenbezogene und aufgabenbezogene Kommissionen) mit dem Sekretariat des Rates in Moskau; bestimmend waren aber die Regierungen der sozialistischen Länder. Das wichtigste Steuerungselement war die Plankoordinierung, d. h. die Abstimmung und Verbindung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Ländern in Fünfjahres- und Jahresplänen des RGW und der einzelnen Länder. Die Ökonomische Kommission, deren DDR-Vertreter ich über 10 Jahre war, fungierte als eine Art wissenschaftliches Zentrum und hatte die Aufgabe, wissenschaftlichen Vorlauf zu ausgewählten Themen des RGW zu schaffen und den Entscheidungsgremien (den Regierungen der RGW-Länder und dem RGW-Sekretariat) Vorschläge zu unterbreiten. Die Themenliste der ökonomischen Kommission reichte von Spielregeln der Plankoordinierung, Preisbildung im RGW, Vorschläge für gemeinsame Investitionen, Währungsfragen (transferabler Rubel), Nutzeffekts-Rechnungen für internationale Spezialisierung und Kooperation bis hin zu Nationaleinkommens- und Produktivitätsvergleichen zwischen den RGW Ländern. Welchen Nutzen brachte die RGW-Mitgliedschaft der DDR? Die Zusammenarbeit im RGW brachte ökonomische und wissenschaftlich technische Vorteile für alle RGW-Länder, vor allem in der weltweiten Auseinandersetzung. Für die DDR sind folgende Vorteile/Nutzen besonders hervorzuheben: 1. Der RGW war die Basis für die Rohstoffsicherung der DDR. Das betrifft Erdöl, Steinkohle, Erdgas, Stahl, Chemische Grundstoffe, Zellstoff und andere Rohstoffe, die es in der DDR nicht bzw. nur begrenzt gab. Die Rohstoffsicherung war langfristig und erfolgte zu Weltmarktpreisen in Vereinbarungen (Plankoordinierung/Verträge). 2. Der RGW war ein sicherer Absatzmarkt für spezielle Produktionen der DDR. Vor allem für den entwickelten Maschinenbau und andere Branchen hat der RGW-Markt große Serien, effektive Produktion und Absatz zu Weltmarktpreisen, Vollbeschäftigung und Gewinn ermöglicht. 3. Die begrenzten Forschungs- und Investitionsmittel der DDR (als einer kleinen Volkswirtschaft) konnten – international und langfristig abgestimmt – effektiv eingesetzt werden. Eine Konzentration der Mittel auf DDR spezifische Produktionen konnte abgestimmt erfolgen und damit auch international wettbewerbsfähig gestaltet werden.
543 4. Für die DDR-Wirtschaft war es wichtig, die wissenschaftlichen Nachteile der Spaltung durch einen großen Markt teilweise auszugleichen und die Auswirkungen des Wirtschaftsembargos gering zu halten. 5. Der große Bedarf der RGW-Länder trug wesentlich zur Vollbeschäftigung in der DDR bei, einschließlich eines hohen Frauenbeschäftigungsgrades. Das waren auch die Grundlagen für das höchste „Bruttosozialprodukt je Einwohner“ und das höchste Konsumtionsniveau im Vergleich zu allen RGW-Ländern. 6. Der RGW war die einzige Möglichkeit, um im Wettbewerb der Systeme einigermaßen standzuhalten bzw. mitzuhalten. Diese Vorteile für die DDR gelten im Prinzip auch für die anderen RGW-Länder! Welche Defizite hatte der RGW? Der RGW hatte auch Mängel und Defizite, bedingt durch objektive und subjektive (systemimmanente) Ursachen: 1. Der RGW war ein Wirtschaftsraum von großen und kleinen Ländern und Volkswirtschaften unter einer Dominanz der Sowjetunion. Ein Wirtschaftsraum solch unterschiedlich großer Volkswirtschaften bringt objektiv Probleme bei kleinen Volkswirtschaften – faktisch Abhängigkeiten. 2. Der RGW war ein Wirtschaftsraum von industriell entwickelten und unterentwickelten Volkswirtschaften. Das erschwerte die Spezialisierung und Kooperation, vor allem im industriellen Bereich, und war ein entscheidendes Hemmnis für die internationale Zusammenarbeit. 3. Der RGW wurde durch die Sowjetunion dominiert (Rohstoffe, Wirtschaftssystem, Militärbereich) und durch die Mängel in der Wirtschaft der Sowjetunion sowie deren politische Stagnation beeinträchtigt. 4. Der Wettbewerb und „Wirtschaftskrieg“ mit dem Westen erforderte zusätzliche Kraftanstrengungen, was zu Verschuldung, Lizenzverweigerungen und immer höherer Gewichtung der Rüstungswirtschaft in der Sowjetunion führte. Mein Fazit: Der RGW als sozialistisches Modell einer internationalen Wirtschaftsorganisation ist wie der Sozialismus in den europäischen Ländern gescheitert, an Ursachen, die nicht in erster Linie im Wirtschaftssystem begründet sind. Zu den Ursachen zählen politische Defizite in der Wirtschaftspolitik und Reformfähigkeit sowie Defizite in Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, auch die Überbewertung der Rolle des staatlichen Eigentums und verpasste Chancen bei der Umsetzung von Möglichkeiten einer Vertragsgemeinschaft mit der BRD in den 1980er Jahren. Sie haben als Wirtschaftswissenschaftler in der DDR in Lehre und Forschung in führenden Funktionen gearbeitet. Seit 1984 waren Sie Rektor der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft in Potsdam Babelsberg. Wie sehen Sie die Rolle der Wirkungs-
544 möglichkeiten der Wirtschaftswissenschaft in der DDR im Vergleich zur Wirtschaftswissenschaft in der Bundesrepublik? Die Wirtschaftswissenschaft in der DDR hatte eine unterschiedliche Struktur und Unterstellung und dementsprechend auch unterschiedlichen Einfluss auf die gesellschaftliche Praxis, auf Entscheidungen und Wirkungsmöglichkeiten in der ökonomischen Entwicklung. Die Wirkungsmöglichkeiten der Wirtschaftswissenschaft waren größer, als allgemein angenommen wird. Das lag auch an der Unterstellung der Forschungsinstitute. Die Parteiinstitute (Akademie für Gesellschaftswissenschaft, Institut für sozialistische Wirtschaftsführung und Parteihochschule) waren direkt der Parteiführung unterstellt (Sekretär des ZK der SED). Ihre Forschungsergebnisse fanden vielfach direkt ihren Niederschlag in Beschlüssen der Partei und hatten damit die größten Chancen für eine praktische Nutzung. Hinzukam, dass diese Institute Weiterbildungszentren für Partei- und Wirtschaftskader waren (z. B. Generaldirektoren der Kombinate) und damit einen unmittelbaren Einfluss auf das praktische Handeln hatten. Die Ökonomischen Forschungsinstitute des Ministerrates und der Ministerien (Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft, Ökonomisches Forschungsinstitut der Staatlichen Plankommission, Finanzökonomisches Forschungsinstitut, Außenhandelsinstitut) waren direkt dem Ministerrat und den Ministerien unterstellt. Sie arbeiteten wie Grundsatzabteilungen und schufen gezielt den wissenschaftlichen Vorlauf. Die Forschungsergebnisse flossen in der Regel in Gesetze, Pläne und Regierungshandeln ein und hatten damit eine direkte Praxiswirkung. Die Forschungsarbeit war Auftragsforschung, in lang- und mittelfristigen Forschungsplänen festgelegt, und die Ergebnisse wurden vor Praxisgremien verteidigt. Die Forschungsergebnisse wurden auch in Weiterbildungszentren (Bestandteil der Institute) an Leiter und Mitarbeiter der Ministerien vermittelt. Bedenken Sie, zu den Forschungsergebnissen des Ökonomischen Forschungsinstitutes der SPK, die in der Praxis zur Anwendung kamen, gehörten z. B. 1. Wirtschaftsprognosen als Grundlage für die Ausarbeitung der Fünfjahrpläne 2. Moderne Planungsverfahren als Grundlage für die Ausarbeitung der jährlichen Planmethodiken 3. Nutzungseffektberechnungen als Grundlage für Investitions-, Forschungs- und Spezialisierungsentscheidungen 4. Optimierungsmodelle als Grundlage für EDV-Programme der Planungsorgane Für die Forschungsinstitute der anderen Staatsorgane gilt etwa der gleiche Umsetzungsmechanismus in staatliche Entscheidungen. Die ökonomischen Institute der Universitäten, Hochschulen und der Akademie der Wissenschaften lieferten vor allem Forschungsergebnisse für die Aus- und Weiterbildung, aber durch Forschungsaufträge auch Ergebnisse für die Praxis. Die Rolle der Wirtschaftswissenschaft in der DDR wurde auch gefördert durch wissenschaftliche Zeitschriften, wie z. B. die Zeitschrift Wirtschaftswissen-
545 schaft und Hochschulzeitschriften sowie durch wissenschaftliche Räte, in denen Wissenschaftler und Praktiker gemeinsame Fragen des betreffenden Kombinates, Bezirkes u. a. erörterten. Natürlich gab es auch Begrenzungen für die wirtschaftswissenschaftliche Forschung in der DDR. Dazu gehörte die starke Auftragsforschung, die zum Teil die Eigeninitiative zur Themenwahl durch die Institute begrenzte. Auch die häufig obwaltende hohe „Vertraulichkeit“ (VVS/GES), die eine breite Zugänglichkeit von Forschungsergebnissen verhinderte. Davon waren auch die Publikation sowie die internationale Zusammenarbeit betroffen. Trotz alledem hatte die wirtschaftswissenschaftliche Forschung in der DDR ein hohes Ansehen, was auch die hohe Würdigung der Forscher durch staatliche Auszeichnungen, auch Nationalpreise sowie Berufungen in Akademien, Gremien der Volkskammer und der Regierung belegt. Das Ende der DDR 1990 bedeutete auch ein abruptes Ende der DDR-Wirtschaftswissenschaft in Lehre und Forschung. Die Institute der Akademien, die Hochschule für Ökonomie, die Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Humboldt Universität und damit auch die dort lehrenden Wissenschaftler wurden 1991/92 „abgewickelt“. Sie unterlagen alle dem Generalverdacht, politisch-ideologisch für die weitere Lehre und Forschung nicht mehr tauglich zu sein. Das erfolgte ohne jede individuelle Evaluierung. Damit sind wertvolle Erfahrungen in allen Disziplinen der Wirtschaftswissenschaft bis hin zur historischen Forschung verloren gegangen. Die Fakultäten und Lehrstühle wurden mit zum Teil schon emeritiertem Personal aus der Alt-BRD besetzt und dementsprechend ist auch die Lehre verändert worden. Das ist trotz mahnender Einwände einiger westdeutscher Professoren erfolgt. Ich habe nach meiner Entlassung aus der Akademie 1990 als „freier Mitarbeiter“ im doppelten Sinne mein Fachwissen in die Weiterbildung von Mitarbeitern junger Unternehmen und anderen an Betriebswirtschaft und Rechnungsführung Interessierten in Kursen der Industrie- und Handelskammer im Land Brandenburg einbringen können. Oft wurde ich an meine Studien- und Assistentenzeit erinnert, da ich in dieser Weiterbildung kaufmännisches Grundwissen vermittelte, das ich sowohl in der Maxhütte als auch seinerzeit in meinem Studium an der Akademie und der Hochschule für Finanzwirtschaft in Potsdam Babelsberg erworben hatte. Oft führte mich der Weg in dieser Zeit auch an diesen vertrauten Orten vorbei. Herr Steeger, vielen Dank für Ihre offene sowie tiefgehende Analyse und Unterstützung. Selbstverständlich.
547 Johannes Gurtz „Der Lebensweg von Walter Siegert steht für viele seiner Generation, die schließlich die Führungselite in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft der DDR wesentlich bildeten.“
Abb. 71: Johannes Gurtz in seinem Arbeitszimmer – 2020.
Johannes Gurtz wurde 1932 in Schneeberg/Mark geboren. Aufgewachsen ist er in einer bäuerlichen Familie zusammen mit 4 Geschwistern in Ostbrandenburg. Nach 4 Jahren Dorfschule besuchte er bis Ende 1944 die Oberschule in Frankfurt/Oder. Kriegs- und Nachkriegschaos, einschließlich Evakuierung, ließen ihn erst 1952 in Beeskow das Abitur ablegen. Zum Studium der Wirtschaftswissenschaften ging er 1952 an die Humboldt-Universität zu Berlin, wo er u. a. Walter Siegert kennenlernte. Das Diplom legte er 1956 im Fachgebiet Finanzökonomie ab. In seiner Diplomarbeit befasste er sich mit bürgerlichen Steuertheorien: Assekuranz–, Äquivalenz- und Opfertheorie. Die drei ersten Berufsjahre absolvierte er in der Abt. Finanzen des Rates des Kreises Lutherstadt Wittenberg. Danach gab ihm die Humboldt-Universität die Möglichkeit, als wissenschaftlicher Assistent an die Fakultät zurückzukehren. Er promovierte 1964 zum Dr. rer. oec. und zehn Jahre später zum Doktor der Wissenschaften (Dr. sc. oec.). Im Jahr 1976 erhielt er eine Dozentur übertragen und wenige Jahre später erfolgte die Berufung zum ordentlichen Professor am Institut für Finanzwesen. Hauptinhalt seiner universitären Tätigkeit waren die finanzwissenschaftliche Lehre und Forschung. Er hatte Anteil an der Ausbildung von Tausenden Studierenden und zahlreichen Doktoranden, darunter vielen Student/innen und Aspirant/innen aus Entwicklungsländern. Seine Forschungsarbeiten fanden Eingang in eine ganze Reihe von finanzwissenschaftlichen Lehrbüchern, die er zum Teil als Einzelautor wie auch als Mitglied von Autorenkollektiven verfasst hat. Anfang der achtziger Jahre ging er als Mitglied einer Expertengruppe für ein Semester an die Universität Kabul, wo er vorrangig am Department für Wirtschaftswissenschaft Finanz- und Volkswirtschaft lehrte. Von 1986 bis 1990 war Prof. Gurtz Direktor (Dekan) der Sektion Wirtschaftswissenschaft. In dieser Zeit war er Mitglied des Beirats für Wirtschaftswissenschaft beim Ministerium für das Hoch- und Fachschulwesen der DDR und konnte sich mit den zahlreichen Erfahrungen „seiner“ Sektion in die Diskussion um die Weiterentwicklung der
548 wirtschaftswissenschaftlichen Hochschulausbildung einbringen. Im Jahr 1989 berief ihn die damalige Ministerin für Finanzen und Preise in den Wissenschaftlichen Beirat ihres Hauses. Anfang 1993 verließ Prof. Gurtz die Humboldt-Universität und vertrat über 6 Jahre (1990–1997) im Nebenamt das Lehrgebiet Finanzwissenschaft an der Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege Berlin. Parallel dazu baute er zusammen mit seinem langjährigen Kollegen Dr. Andreas Urbich und anderen Mitstreitern das Kommunale Bildungswerk e. V. Berlin auf, das sich inzwischen zu einer der bundesweit führenden Weiterbildungseinrichtungen entwickelt hat. Heute lebt und arbeitet Johannes Gurtz in Berlin. Dr. Walter Siegert – ein Förderer von Lehre und Forschung 1 Dr. Walter Siegert gehörte einer Generation an, die unter den Bedingungen des Naziregimes aufgewachsen war und erzogen wurde. Er hat den Zweiten Weltkrieg von Anbeginn bis zum Ende erlebt sowie dessen Grausamkeiten kennengelernt und überstanden. Unter den neuen Machtverhältnissen in der Nachkriegszeit wurden ihm die Augen geöffnet über die Ursachen des Krieges, über die in deutschem Namen verübten Verbrechen in der Sowjetunion sowie an Millionen von Juden und anderen unschuldigen Menschen. Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnisse und Erfahrungen wuchs die Überzeugung, dass Antifaschismus, Frieden, Völkerfreundschaft, Demokratie und Gerechtigkeit den Kompass für seinen eigenen Lebensweg bilden sollen. In der Gründung der DDR 1949 sah er ein Staatswesen, das alle seine Ideen und Ideale verkörpern würde. Mit ihm verband er alle seine Hoffnungen. Mit ihm fühlte er sich von Anfang an auf das Engste verbunden. Trotz aller Widrigkeiten blieb er ihm treu und baute auf ihm seine berufliche Existenz auf. Der Lebensweg von Walter Siegert steht für viele seiner Generation, die schließlich die Führungselite in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft der DDR wesentlich gebildet hatten. Selbst ein Zeitgenosse von Walter Siegert hatte ich oft mit ihm Gespräche über die gemeinsamen Ausgangsbedingungen unserer Lebenswege. Sein Weg führte ihn in die zentrale staatliche Verwaltung, meiner in das Hochschulwesen. Die Gemeinsamkeit unserer Startbedingungen blieb das verbindende Moment unserer langjährigen Verbundenheit. Schon Anfang der 50er Jahre kreuzten sich unsere Wege in Vorlesungen von Professor Dr. Ernst Kaemmel, ohne zu ahnen, dass wir uns später noch oft begegnen werden. Besonders eng führten uns die 60er und 70er Jahre zusammen, als wir in Arbeitsgruppen des Finanzökonomischen Forschungsinstituts (FöFi) und des Ministeriums der Finanzen (MdF) gemeinsam zu Problemen der Produktionsfondsabgabe, der Mehrwertsteuer und der Grundmittelbewertung arbeiteten. Ab 1980 stand er als Staatssekretär an der Spitze des Finanzministeriums der DDR, wodurch ihm auch Verantwortung für die Qualität der Dieser Bericht mit Einschätzungen und Charaktersierungen über Walter Siegert wurden von Johannes Gurtz alleinverantwortlich abgefasst. Die Fertigstellung und Freigabe zur Veröffentlichung erfolgten am 13.9.2020.
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549 Aus- und Weiterbildung des Personals der Finanzorgane zufiel. Ich, zu der Zeit als Hochschullehrer in leitenden Funktionen an der Sektion Wirtschaftswissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin, weiß sein diesbezügliches Wirken sehr zu schätzen. In Walter Siegert hatte die Sektion stets einen tatkräftigen Unterstützer mit viel Verständnis für die Anliegen der Hochschullehrer wie auch für die Interessen und Sorgen der Studierenden. Selbst ein wirtschaftswissenschaftliches Hochschulstudium durchlaufen und ein Promotionsverfahren erfolgreich absolviert, war er mit der Spezifik der Denkund Arbeitsweise an den Hochschulen und Universitäten bestens vertraut. Das machte ihn zu einem verständnisvollen Moderator in den nicht immer einfachen Beziehungen zwischen den Finanzorganen und unserer Sektion. Er stand dabei in einer Reihe mit anderen verständnisvollen Prominenten der Praxis wie Prof. Dr. Wolfried Stoll (Bankwesen), Prof. Dr. Werner Polze (Außenwirtschaft), Generaldirektor Günter Hein (Versicherungswesen) und Finanz-Stadtrat Walter Rubner (Magistrat von Berlin). Mit Sitz und Stimme im Rat der Sektion waren diese Persönlichkeiten willkommene Ratgeber und Unterstützer unserer Arbeit in Lehre und Forschung. Ende der 60er Jahre stand die Sektion vor einer existenziellen Frage: Ein von PolitbüroMitglied Dr. Günter Mittag vorbereiteter Beschluss der Parteiführung sah vor, die gesamte ökonomische Hochschulausbildung an der Hochschule für Ökonomie zu konzentrieren und damit unter den Einfluss von G. Mittag zu stellen. Für die Sektion hätte dies den Verlust wesentlicher Teile ihres Ausbildungs- und Forschungsprofils bedeutet und eine erhebliche Reduzierung ihres wissenschaftlichen und personellen Potenzials nach sich gezogen. Da kam uns zu Hilfe, dass sich auch in einigen Staatsorganen Widerstand gegen das Vorhaben von G. Mittag regte, und es schließlich verhindert werden konnte. Im Gegenzug wurde die Entscheidung getroffen, die gesamte Hochschulausbildung für die Finanzorgane, Banken und Versicherungen sowie für die Ausbildung der Finanzoffiziere der NVA an der Humboldt-Universität zu konzentrieren. Für die Betriebe und Kombinate sowie für die Außenwirtschaft blieb die Hochschule für Ökonomie (HfÖ) zuständig. Dieser Beschluss war ein großartiger Vertrauensbeweis unserer Praxispartner und zugleich eine gewaltige Herausforderung für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Sektion. Dabei konnte die Sektion auf nützliche Vorleistungen zurückgreifen: So hatte sie zusammen mit dem Ministerium für Nationale Verteidigung ein kombiniertes Studium für Finanzoffiziere ins Leben gerufen. In Kooperation mit den Finanzorganen waren zahlreiche Sonderformen des Studiums (Frauen-Sonderlehrgänge, Arbeiterkader-Qualifizierungen) sowie diverse Formen der Weiterbildung erfolgreich umgesetzt worden. Solche gab es auch in Kooperation mit dem Magistrat von Berlin. Darauf ließ sich gut aufbauen. Nicht unerwähnt darf die hilfreiche Unterstützung bei der Neuprofilierung durch den damaligen Ersten Prorektor der Universität, Prof. Dr. Erwin Rohde, wie auch durch die Universitätsleitung im Ganzen bleiben. Innerhalb weniger Jahre war die Zahl der Studierenden im Direkt- und Fernstudium auf über 2000 angewachsen.
550 Aus dem Finanzprofil der Sektion heraus entwickelte sich fortan eine Art und Weise der Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Praxis, wie sie bisher nicht bekannt war. So bekamen die Studienbewerber die Möglichkeit für ein einjähriges Vorpraktikum in einem der angestrebten Organe des Finanzwesens. Vertreter der Praxis wirkten bei der Auswahl der Studienbewerber und bei der Absolventenvermittlung mit. Vorlesungen und Seminare in der Fach- und Spezialausbildung wurden von kompetenten Praktikern begleitet bzw. punktuell übernommen. Die Angehörigen des Lehrkörpers wurden in regelmäßigen Kolloquien vertrauensvoll mit Entwicklungen und Problemen der zentralen staatlichen Planung bekannt gemacht. Walter Siegert war in diesem Kreis oft und besonders gern gesehen. Wenn auch nicht alle ernsten Probleme der Volkswirtschaft sowie der Finanzund Kreditpolitik zur Sprache kommen konnten, trug dieses Format wesentlich zu einer realistischen und lebendigen Lehre bei. Von 1986 bis 1990 wurde an der Sektion Wirtschaftswissenschaft ein neues und zukunftsorientiertes Studienmodell der Fachrichtung Finanzwirtschaft erprobt. Das zweistufige Modell umfasste: 1. Ein dreijähriges, vorwiegend praktisch orientiertes Studium mit dem Abschluss: „Hochschulökonom“. 2. Ein vorwiegend theoretisch angelegtes Aufbaustudium mit dem Abschluss: „Diplomökonom“. Das neue Studienmodell nahm alle bewährten Elemente der in den Vorjahren erfolgten Neuerungen in der Ausbildung auf: Das Vorpraktikum wurde verbindlich, die Integration der Praxis in die Ausbildung wurde zum Prinzip, der Anteil der fakultativen bzw. wahlweise obligatorischen Lehrveranstaltungen wurde erhöht, der wissenschaftlich-produktive Charakter des Studiums konnte ausgebaut werden. Dieses erfolgreich erprobte Modell konnte nur gelingen, weil auf der Seite unserer Praxispartner zuverlässige Persönlichkeiten wie Walter Siegert dafür sorgten, dass die Organe der Praxis ihre anspruchsvolle Rolle im Ausbildungsprozess übernommen und zuverlässig ausgeübt haben. Wir hatten nach vier Jahren mit dem erstmaligen Abschluss des zweigliedrigen Studienmodells viele Erfahrungen voraus, die mit dem Einschwenken der meisten europäischen Länder auf den Bachelor-/Master-Abschluss im Rahmen des Bologna-Prozesses erst noch gesammelt werden mussten. Dass von unseren Erfahrungen nicht Kenntnis genommen wurde, entsprach der verbreiteten Ignoranz ostdeutscher Arbeits- und Lebenserfahrungen im Prozess der Wiedervereinigung. Vor diesem Hintergrund wurde von ehemaligen Studenten/innen, Mitarbeitern/innen und Freunden der Fakultät Sektion Wirtschaftswissenschaft eine DVD-Dokumentation ins Leben gerufen, in der Zeitzeugen authentisch über ihren Bildungs- und Berufsweg in Bezug zur WiwiFak berichten. Freundlicherweise wurde das Projekt vom Kommunalen Bildungswerk e. V. (Vorstandsvorsitzender Dr. Andreas Urbich) finanziell unterstützt.
551 Walter Siegert war von Anbeginn dabei. Er hat die inzwischen auf 27 DVD-Aufzeichnungen angewachsene Reihe mit 2 eigenen Aufzeichnungen und zahlreichen Diskussionsbeiträgen bereichert. Darin reflektiert er neben seinem Bildungs- und Berufsweg in besonders beeindruckender Weise seine Erfahrungen aus den Verhandlungen zwischen den Regierungen der DDR und der BRD über den Vertrag zur deutschen Einheit. 2 Wir sind Walter Siegert posthum zutiefst dankbar, dass er uns seine historisch wertvollen Erinnerungen hinterlassen hat.
Die beiden DVDs wurden in der Reihe „Zeitzeugen, Persönlichkeiten und Freunde der WiwiFak“ produziert, die Redaktion waren: Prof. Dr. Gurtz, Dr. Sender, Dr. Andreas Urbich. Die DVD vom 8.9.2012 wurde von Siegert allein gestaltet. Die DVD vom 14.1.2012 beinhaltet eine Diskussionsrunde mit den drei Protagonisten. Dürkop liegen davon Kopien vor.
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553 6. Banken, Staatliche Versicherung und Justiz Jürgen Brockhausen „Es bleibt die Erfahrung, die wir im Westen nicht gemacht haben, das Erleben eines totalen Umbruchs.“
Abb. 72: Jürgen Brockhausen erinnert sich intensiv an die turbulente Zeit 1989/90.
Jürgen Brockhausen wurde am 14. Dezember 1936 in Berlin-Spandau geboren und ist ehemaliger Bundesbankdirektor und arbeitete als Ministerialrat a. D. dem DDR-Finanzminister Walter Romberg unter der Regierung Modrow für die Vorbereitung der Währungsunion, zu und beriet ihn während der Koalitionsverhandlungen. Als persönlicher Berater und als Beratungsleiter der Abteilung „Geld und Kredit“ folgte er ihm in das Ministerium der Finanzen. Die persönliche Beratung reichte u. a. von Verfassungs- und Organisationsfragen über wirtschaftliche und rechtliche Beurteilungen von Unternehmens- und Grundstücksproblemen bis zur Grundkonstruktion der Treuhandanstalt. Nach seiner Rückkehr nach Nordrhein-Westfalen wurde Brockhausen zunächst Geschäftsführer und danach Leiter der Handelsüberwachungsstelle der Düsseldorfer Börse. Nach seinem Ausscheiden gründete er die Brockhausen „Beratung und Compliance GmbH“, mit der er bis heute Institutionen und Firmen im Inland und Regierungsstellen im Ausland berät. Veröffentlichung: „Dr. Walter Romberg – Verpflichtung eines Christen in die Politik“. Hier beschreibt Brockhausen die Motive Rombergs, in die Politik zu gehen, und die Schwierigkeiten der Aufgabenstellung des letzten Finanzministers der DDR auf dem Weg zur Wiedervereinigung.
554 Können Sie bitte über Ihre Kindheit, Aufwachsen, Ausbildung, Studium sowie berufliche Stationen berichten? 1 Ich bin am 14. Dezember 1936 in Berlin-Spandau geboren und bis 1945 in Guben, Niederlausitz, aufgewachsen. Wir haben in dem Teil der Stadt gewohnt, der heute zu Polen gehört, direkt an der Neiße. Einen großen Teil meiner Kindheit habe ich in Lichterfelde bei Eberswalde, Oberbarnim, heute Kreis Schorfheide, verbracht. Im Februar 1945 – ich war acht Jahre alt – wurden wir aus Guben evakuiert und zogen nach Reichensachsen, einem Dorf in Nordhessen im Kreis Eschwege an der Zonengrenze. Dort war meine Mutter vor dem Krieg Lehrerin gewesen und mein Patenonkel lebte dort als evangelischer Pfarrer. In Eschwege machte ich Abitur und anschließend eine Banklehre mit dem Ziel, später zur Bundesbank zu gehen. Insoweit war ich schon von Guben her vorbelastet, wo zum Ende des Krieges ein Bruder meines Vaters die Reichsbankfiliale leitete. Nach der Lehre studierte ich in Marburg und Köln. Eine dreijährige Referendarausbildung, die eine Banklehre, ein Prädikatsexamen in Rechtswissenschaften und erweiterte Kenntnisse in Volks- und Betriebswirtschaft voraussetzte, absolvierte ich bei der Deutschen Bundesbank. Danach promovierte ich in Köln bei Professor Ermann im Institut für Bankrecht über die rechtliche Bedeutung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts. Die Arbeit wurde in einer wissenschaftlichen Reihe der Universität Köln gedruckt. Die praktische Ausbildung als Bankkaufmann und die juristische, volkswirtschaftliche und betriebswirtschaftliche Vertiefung im Studium und bei der Bundesbank waren für mein gesamtes Berufsleben prägend. Bei der Bundesbank spezialisierte ich mich im Bereich der Bankenaufsicht, nachdem ich zuvor für ein Jahr an das Bundesaufsichtsamt für Kreditwesen in Berlin abgeordnet worden war und unter der späteren Präsidentin Frau Dr. Ingeborg Bähre Auslandsinvestmentgesellschaften beaufsichtigte. Bei der Landeszentralbank in NRW, Hauptverwaltung der Deutschen Bundesbank, leitete ich die Gruppe Großbanken und Privatbanken. Von der Bundesbank wurde ich als Bundesbankdirektor an das Finanzministerium in NRW zum Aufbau der Kontrollinstanzen über die Westdeutsche Landesbank abgeordnet und später zum Land NRW versetzt. Im Wirtschaftsministerium des Landes übernahm ich die Aufsicht über die Westdeutsche Landesbank und die damals noch 180 Sparkassen in NRW. Weiterhin war ich für Grundsatzfragen des Kreditwesens, die Zusammenarbeit mit der Zentralbank und Europarechtsfragen in diesem Gesamtbereich zuständig. Später kam die Aufsicht über die Rheinisch-Westfälische Börse in Düsseldorf hinzu. Im Dezember 1989 war ich Vorsitzender des Länderausschusses für öffentlich-rechtliche Kreditinstitute und stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses für Börsenfragen. Dies war mein Aufgabenbereich zum Zeitpunkt der Abordnung in die DDR. Verbindungen zu Freunden und Verwandten in der DDR hatte meine Familie seit 1945, Kontakte zu einem Bruder meines Vaters, der Arzt in Rathenow war, hatte ich insbesondere seit meiner Abordnung nach Berlin. 1
Das Gespräch mit Jürgen Brockhausen fand am 10.10.2018 in Bonn statt.
555 Für meine Tätigkeit in der DDR war der Kontakt des Wirtschaftsministers Professor Dr. Jochimsen 2 zu Dr. Walter Romberg wesentlich. Professor Jochimsen, ein in der Bundesrepublik und Europa anerkannter Volkswirt, stammte aus Niebüll in Schleswig-Holstein und traf im Herbst 1989 Dr. Romberg aus Schwerin in Mecklenburg. Beide Norddeutschen verstanden sich auf Anhieb. Romberg erzählte Jochimsen, er sei in der ModrowRegierung Minister ohne Portefeuille, aber für Währungsfragen zuständig. Er wäre zwar Mathematiker, hätte aber bisher keine Beziehung zu dieser Materie gehabt. Jetzt suche er jemanden, der ihm auf diesem Gebiet assistieren könne. Der solle zwar Erfahrungen aus der Bundesbank haben, aber nicht in der Bundesbank beamtet sein – also eine unabhängige Person. Jochimsen hielt es darüber hinaus für sinnvoll, wenn der Kandidat, wie Romberg, der Kirche nahestehe und ein Mitglied in der Partei der beiden Minister aus Ost und West sei. Nach diesen Kriterien kam aus dem Wirtschaftsministerium NRW eigentlich nur ich für diese Aufgabe in Frage. Wann konkret? Das war 1990. Im Dezember 1989 wurde ich gefragt und entschied mich nach einer Bedenkzeit von 24 Stunden und Gesprächen mit meiner Frau, unter der Modrow-Regierung diese Aufgabe wahrzunehmen. Prof. Jochimsen bereitete mich zweieinhalb Monate intensiv vor und gab mir sein eigenes, fundiertes Wissen zur Wirtschaft der DDR weiter. Er war einer der wenigen Leute, die über Wirtschaftsdaten der DDR gut informiert waren. In dieser „Lehrzeit“ war Professor Jochimsen ganz Professor und ich sein Schüler, eine völlig andere Situation als das übliche Verhältnis zwischen Minister und Referatsleiter. Im Dezember 1989 stellte ich mich Dr. Romberg vor. Die Situation gestaltete sich im grauen Rathaus etwas schwierig. Es war ein Termin vereinbart worden, aber die Wachen in der Empfangshalle des Ministerrats der DDR ließen mich ungewöhnlich lange warten. Für meine Erfahrungen in der Bundesrepublik war es auch verwunderlich, einem Oberst gegenüber zu stehen – bei uns wäre der Leiter der Wache vielleicht ein Feldwebel gewesen. Ich erklärte ihm: „Ich warte jetzt eine dreiviertel Stunde, ich gehe jetzt raus und rauche eine Zigarette und wenn ich dann nicht vorgelassen werde, fahre ich zurück, denn die Einladung der DDR hat sich offensichtlich erledigt.“ In fünf Minuten war ich dann bei Romberg, dem nicht mitgeteilt worden war, dass ich unten wartete. Den amtierenden Vorsitzenden des Staatsrates, Dr. Modrow, lernte ich kurz nach meinem Eintreffen Ende Februar 1990 kennen. Ich wurde in sein Büro gebeten, wo er mich etwa zwei Stunden über seine eigene fachliche Ausbildung und seine Vorstellungen bezüglich der aktuellen politischen Lage unterrichtete, mit der Bitte, dies alles am folgenden Wochenende an Ministerpräsident Rau weiterzugeben. Diese Episode ist deshalb wichtig, weil mich die Regierung Modrow möglicherweise völlig falsch eingeschätzt hatte. Ich war als Fachmann geschickt worden und leitete zu diesem Zeitpunkt als Ministerialrat ein Referat. Meine Mitgliedschaft in der SPD hatte mit meiner beruflichen 2
Reimut Hinrich Hermann Jochimsen (1933–1999).
556 Tätigkeit nicht das Geringste zu tun und ich hatte über das Ministerium hinaus keinerlei Verbindung zu den politischen Spitzen des Landes oder gar des Bundes. Vorstellbar ist es, dass die DDR im umgekehrten Falle einen der Partei nahestehenden Politiker geschickt hätte, der auch eine Ahnung von Währungsfragen gehabt hätte. Vor und während des Übergangs von der Modrow-Regierung zu der Koalitionsregierung unter Lothar de Maizière führte ich lange Gespräche mit Dr. Romberg zur Lage der DDR, der mir auftrug, mir von den wesentlichen entscheidenden Personen der alten Regierung Informationen zu deren Einschätzung der wirtschaftlichen und finanziellen Situation geben zu lassen. In diesem Zusammenhang hörte ich den Namen Walter Siegert zum ersten Mal. Das war zu der Zeit, als Romberg die Wahl hatte, Finanzminister oder Sozialminister zu werden. Ursprünglich wollte Lothar de Maizière ihn als Außenminister haben, weil er, wie er schreibt, Romberg eigentlich als Finanzminister für ungeeignet hielt. Ich meine, fachlich waren die Akteure alle Laien, also im Sinne einer demokratischen Verwaltung. Bei dem Gespräch über die mögliche Übernahme des Finanzministeriums erklärte Romberg, dass er das Amt nur übernehmen werde, wenn Dr. Siegert Staatssekretär bliebe. Er könne dieses Ministerium nicht führen ohne den im Hause erfahrenen Walter Siegert. Die konkreten Hintergründe weiß ich nicht. Es bestand damals wohl die Vorstellung, dass zunächst alle früheren SED-Mitglieder aus leitenden Funktionen entfernt werden sollten, während Romberg sich dafür einsetzte, dass das Ex-SED-Mitglied Siegert bleiben müsse. Als Romberg zum Minister bestellt, aber vom Parlament noch nicht vereidigt worden war, schickte er mich zu Walter Siegert. Er wollte vor seiner Vereidigung das Gebäude seines zukünftigen Amtssitzes nicht betreten. Ich sollte mich über die Räumlichkeiten, die Einrichtung und den vorhandenen Mitarbeiterstab informieren. Als Minister ohne Portefeuille im Ministerrat war seine Unterbringung sehr bescheiden gewesen. Dort hatte auch ich mein erstes Büro. Romberg hatte einen Chauffeur und eine Sekretärin, mich als Assistenten und war natürlich bestens von der Stasi überwacht. Im „Haus der Ministerien“, dem alten Reichsluftfahrtministerium, empfing mich Dr. Walter Siegert. Mein Eindruck war durchgehend positiv. Er war höflich und zuvorkommend. Das stand im deutlichen Gegensatz zu anderen Begegnungen, in denen einem die Partner gezwungen entgegenkommend erschienen, ohne zu ahnen, dass sie es nur mit einem kleinen Fachministerialrat zu tun hatten. Dr. Siegert zeigte mir alles, was für Dr. Romberg von Wichtigkeit war und stellte mich den wesentlichen leitenden „Beamten“ des Hauses vor. Mit Dr. Romberg kam ich dann als persönlicher Berater und Beratungsleiter der Abteilung Geld und Kredit in das Haus und bezog ein erstaunlich großes Büro gegenüber dem Minister. Direkt ins Jahr 1989: Wie erlebten Sie die Anfänge dieser friedlichen Revolution von Anfang ´89 über die Mai-Wahlen, über die Fluchten, über die Demonstrationen, über die Grenzöffnung Ungarns, den Prager Botschaftsflüchtlingen bis zum 18. Oktober, als Honecker alle Ämter verlor?
557 Ich hatte zu dieser Zeit mit diesen Dingen beruflich nichts zu tun. Ich arbeitete im Wirtschaftsministerium Nordrhein-Westfalen. Ich war stark ausgelastet mit meinen Aufgaben. Ich hatte mit Aufsichtsfragen der West-LB zu tun, öffentlichen Banken, Gesetzgebung und was da alles mit verbunden war. Problemfälle im Bankenbereich waren zu bearbeiten, Bundesratsvorlagen aus meinen Fachbereichen waren nach Vorgaben der europäischen Behörden zu erstellen und mit den Kollegen aus den anderen Ländern in den Arbeitskreisen abzustimmen. Persönlich und privat war ich jedoch brennend an den in Bewegung geratenen Ereignissen in der DDR und Osteuropa interessiert. Das ging mir so wie allen, die aus den zur DDR gehörenden Teilen Deutschlands und aus den Ostgebieten stammten. Meine Familie musste nach dem Ersten Weltkrieg Westpreußen verlassen und war in die Mark Brandenburg gekommen, wo sich meine Eltern kennen gelernt hatten. Dort hatte ich sprechen gelernt und war in meiner Kindheit von Landschaft, Menschen und Traditionen geprägt worden. Ich überlegte, wie mein Vater und andere empfinden würden, wenn sie diese Ereignisse noch erlebt hätten. Wir hatten immer über die Teilung Deutschlands gesprochen und waren der Meinung, dass das dies nicht ewig sein könne. Aber mein Vater und ich hatten nicht daran geglaubt, dass wir eine Wiedervereinigung noch erleben würden. Das galt auch bis 1989 so. Dann kamen die bekannten Ereignisse in 1989, die ich über die Medien verfolgte und die ich in der Familie und mit Freunden heiß diskutierte. Erschrocken waren wir, dass gute Freunde, die allein von Westdeutschland und Westeuropa geprägt waren, völlig uninteressiert waren. Die Annäherung der beiden Staaten, die Besuche, beginnend mit Brandt, dann Helmut Schmidt drüben in der DDR und Honecker hier in der Bundesrepublik, die 1989 vorausgingen, waren für mich wichtig gewesen. Die Bahr/Brandt`sche „Idee der Annäherung“ war ein Grund, weshalb ich in die SPD eingetreten bin. Meine Vorstellung war, dass sich die beiden Staaten so aneinander annäherten, dass es später – in ferner Zukunft – nach langer Übergangszeit zu irgendeiner Form eines engeren Zusammenlebens kommen würde. Wie genau, konnte ich mir aber nicht vorstellen. Wann sind Sie in die SPD eingetreten? Vor ungefähr dreißig Jahren, als die SPD Helmut Schmidt abgeschossen hatte. Das hat mich geärgert. Damals habe ich entschieden: „Jetzt sympathisiere ich nicht nur, jetzt trete ich da ein und meckere von innen.“ Ich ging da zu dem Ortsverein, wenn ich Lust hatte und wenn ich keine Lust auf Kommunalpolitik hatte, ging ich nicht hin, fand mich aber schließlich im Vorstand des Ortsvereins wieder, ohne das geringste Interesse an einer Parteikarriere zu haben. Bitte weiter zum Jahr 1989 … Im Jahr 1989 habe ich eigentlich jeden Tag Zeitung gelesen, Radio gehört, so oft und so viel ich konnte, mit Leuten wild diskutiert, wie die Ereignisse zu bewerten waren. Jetzt
558 hatte ich das Gefühl, es ändert sich etwas. An Wiedervereinigung habe ich im Jahr 1989 nicht geglaubt. Das war übrigens auch noch nicht Anfang März 1990 in der de MaizièreRegierung erwartet worden. Zu den Demonstrationen hatte ich eine klar positive Meinung. Das mag damit zusammenhängen, dass ich kirchlich engagiert bin und mich in die Friedensbewegung der Kirche hineinversetzen konnte. Über mein Engagement in der Kirche wusste ich auch einiges über die Kirche in der DDR. Dann kam der Mauerfall, ein unvorstellbares Ereignis. Ich war allein zu Hause in Düsseldorf am Fernsehen. Meine Frau traf sich mit Freundinnen und Kolleginnen in Münster. Das war auch aus der Ferne ein umwerfendes Erlebnis. Was konnte jetzt noch weiter geschehen? Ab diesem Zeitpunkt war ich motiviert, etwas zu tun: „Was kannst du machen? Du sitzt hier und kümmerst dich um regionale Angelegenheiten, ob nun die Sparkasse in Minden mit der aus Bielefeld verbunden werden soll.“ Jetzt kam die Anfrage von Professor Dr. Jochimsen. Wie bereits geschildert: Die Regierung Modrow gestand Romberg einen Assistenten für Währungsfragen zu. Zur zeitlichen Eingliederung: Im Dezember 1989 hatte ich gegenüber Jochimsen für die Tätigkeit in Berlin zugesagt, im Januar 1990 habe ich mich Romberg im Ministerratsgebäude vorgestellt und Ende Februar bin ich nach Berlin gekommen. Als meine Vorbereitung für die Tätigkeit in der DDR begann, ging es zunächst primär um die Währungsunion. Ob zu diesem Zeitpunkt in der Bundesrepublik in diese Richtung gehende Überlegungen in der DDR bekannt waren, weiß ich nicht. Im Dezember 1989 veröffentlichte der Sachverständigenrat jedenfalls ein Gutachten, in dem festgestellt wurde, dass eine Währungsunion zu diesem Zeitraum kaum möglich sei. Erst müsse die völlig andere Bankenwelt in der DDR verändert werden. Man entwickelte die Vorstellung, dass man die Währungen nach dem Muster DM/Österreichischer Schilling in einem Zeitraum von etwa fünf bis sechs Jahren aneinander angleichen könnte. Weiter überlegten die Sachverständigen, wie im Dezember 1989 ein realistischer Umtauschkurs aussehen könne. Der Sachverständigenausschuss kam auf ungefähr „1:4,5“. Das entsprach auch der herrschenden Vorstellung von Devisenexperten. In Berlin hielt es Romberg zu meinem Glück für mich sinnvoll, nun die Vorstellungen und Einschätzungen der Fachleute in der DDR zu hören und vereinbarte für mich Termine mit zahlreichen hohen Funktionären der Modrow-Regierung, darunter Minister, Staatssekretäre und Wissenschaftler, wie z. B. Dr. Lebig, dem Leiter des Wissenschaftlichen Instituts des Finanzministeriums. So bekam ich zusätzlich zur fachlichen Vorstellung in der Bundesrepublik – es ging immer noch vordringlich um Währungsfragen – die fachlichen Ansichten in der DDR mit. In die erste Erkundungsphase fielen bereits Diskussionen um die Treuhand und Bewertungsfragen bei Privatisierungen. Hier hatte Romberg sehr früh mitgewirkt. Ich denke, ich war damals einer der ersten und bestens vorbereiteten Berater in der DDR. Zu negativen Erfahrungen: Ich wohnte in Rahnsdorf im Institut für Sozialistische Wirtschaft. Mein Zimmer war verwanzt.
559 Das war Ihnen von vorneherein schon klar, als Sie eingezogen sind, oder? Zunächst wollte ich das auch auf Hinweise nicht glauben. Ich kam aber später dazu, als die Wanzen ausgebaut wurden. Den Leiter der Hausverwaltung traf ich in dem Gebäude, in dem die Koalitionsverhandlungen zur Regierungsbildung stattfanden. Dort war auch die SED untergebracht. Ihm war die Begegnung außerordentlich peinlich. Bis zum Juni 1990 ist jeder Brief, den ich an meine Frau geschrieben habe, deutlich geöffnet worden und zwar so, dass man es sehen musste. Ich habe dann immer in die Briefe an meine Frau reingeschrieben: „PS: Schönen Gruß an die Stasi.“ In dem eben erwähnten Gespräch mit Modrow hob dieser eingangs hervor, dass ich ja persönlich nicht die Währungsverhältnisse ausnutze. Er wisse ja, dass ich eins zu eins umtauschte, was ich tatsächlich sehr bewusst offen tat. Das Telefon in meinem Zimmer funktionierte sowieso nicht. Ich hatte aus dem Westen ein Satellitentelefon mitgebracht, dessen „Leitungen“ aber meist überlastet waren. Ich habe von dort nicht telefoniert. Aber meine Frau hat mich besucht und Romberg hat mich dort zu einer Besprechung aufgesucht, die auf seinen Vorschlag nicht im Zimmer, sondern auf einem Waldspaziergang geführt wurde. Es ging in dem Gespräch darum, welches Ministerium Romberg übernehmen solle. Das Finanzministerium war mit Sicherheit die anstrengendere Aufgabe und von Natur aus mit Ärger verbunden, aber es war das einflussreichere Amt, wenn er sich für die Menschen in der DDR einsetzen wollte. Hier kam auch die Notwendigkeit ins Spiel, sich auf den erfahrenen Dr. Siegert zu stützen. Das war so auch sein persönliches Anliegen, was zu tun. Rombergs Eintritt in die Politik wurde wesentlich von den Ideen Bonhoeffers beeinflusst. Das habe ich in meiner Broschüre „Dr. Walter Romberg – Verpflichtung eines Christen in die Politik“ näher ausgeführt: „Ich habe meine Pflicht zu tun, da, wo ich hingestellt werde.“ Mit dieser Vorstellung kam er aus der evangelischen Studentenbewegung. Seine Mutter war in Mecklenburg für den Sozialbereich der Kirche zuständig. Sein Großvater war, glaube ich, Pfarrer. Sein Vater ist ganz früh verstorben. Er ist teilweise im Pfarrhaus aufgewachsen. Romberg wollte eigentlich auch nicht in die SPD. Aber er war immer in der Kirche und immer in der kirchlichen Friedensbewegung. Dort hat er auch Mazowiecki kennengelernt, den ersten Ministerpräsidenten in Polen. Dieser arbeitete zuvor für die Friedensbewegung der katholischen Kirche in Polen und Romberg für die Friedensbewegung der evangelischen Kirche in der DDR. Mazowiecki schenkte ihm als Postkarte das Bild von Picasso „Don Quijotes Kampf gegen die Windmühlen“. Das hatte Romberg auf dem Schreibtisch stehen. Pflicht ist nicht von Erfolg abhängig. Ihre Einschätzung vom 18. Oktober 1989: War es ein Rücktritt von Erich Honecker oder Putsch an Honecker? Sie erfuhren es aus den Medien, aber führten danach Gespräche mit politischen Akteuren. Ja, aber auch aus den Gesprächen mit normalen Leuten habe ich mir meine Meinung gebildet. Zuerst wurde ja Honecker gestürzt und dann kam Krenz.
560 Also für Sie ist es ein Sturz von Honecker gewesen? Ja. Natürlich ist das ein Sturz gewesen, aber noch innerhalb der Partei. Da spielte die kirchliche Bewegung überhaupt keine Rolle. Es hatte sich immer mehr gezeigt, aus meiner Sicht, dass Honecker völlig uneinsichtig war, als er Gorbatschows Ideen und Leitsätze ablehnte. Später hat der sowjetische Botschafter Kotschemassow bei einem Besuch Rombergs in meinem Beisein in der sowjetischen Botschaft über seine Aufgabe berichtet, Honecker klar zu machen, dass im Falle eines Falles die Sowjet-Armee nicht aus den Kasernen ausrücken würde. Honecker war davon ausgegangen, die sowjetische Armee würde wie früher eingreifen. Ein DDR-Regiment in Potsdam stand zu diesem Zeitpunkt mit angeworfenen Motoren bereit. Als klar war, dass das „Brudervolk“ nicht mitspielen würde, wurde der Einsatz abgesagt. So konnten die Demonstrationen weiterlaufen. Im Zentralkomitee wurde deutlich, dass Honecker die Realitäten nicht mehr einsah. Etwa gleichzeitig ist der Bericht des Planungschefs zur Wirtschafts- und Finanzlage der DDR für einen engen Kreis von Funktionären erschienen. Sie meinen von Gerhard Schürer, den sogenannten „Schürer-Bericht“? Davon habe ich eine vorläufige Fassung. Ein Ergebnis der Überlegungen war, um die Schulden der DDR kontinuierlich bedienen zu können, müsse die Verrechnungsmark (VM) eingeführt werden. Das hieß, die DM einführen! Zu wesentlichen Teilen wurde die Analyse von Mitarbeitern des Finanzministeriums erarbeitet. Für die Arbeit zu Auslandsverschuldung und -guthaben war die damalige Stellvertretende Ministerin, Frau Dr. Herta König, zuständig. Die Arbeiten wurden von der Abteilungsleiterin für Valutawirtschaft im Ost-Berliner Finanzressort, Dr. Gudrun Rauscher, geleitet. Zurück zum Übergang von Honecker zu Krenz, den ich ja nur in den Medien der Bundesrepublik verfolgt habe und mir später in der DDR darüber berichten ließ. Vielleicht wegen seiner früheren Funktionen kam mir Krenz immer etwas „jugendbewegt“ vor. Im Gegensatz zu den sehr ernst zu nehmenden anderen Funktionären wirkte er auf mich wenig überzeugend. Exkurs: Später nach 1990 führte ich im Wesentlichen im Ausland Beratungen durch, auch wieder in Kapitalmarktfragen. In der Slowakei gab es zur Zeit der Beratungen einen Ministerpräsidenten, der ebenfalls Leiter in der kommunistischen Jugendbewegung gewesen war. Er sang auch als Ministerpräsident im slowakischen Fernsehen kommunistische Jugendlieder zur Gitarre. Ich habe in ihm immer eine Kreuzung von Baldur von Schirach und Egon Krenz gesehen. Hans Modrow war ein anderes Kaliber. Er war ein sehr ernst zu nehmender Politiker, überzeugter Kommunist und Realist, der das Beste für die DDR und die Bevölkerung erreichen wollte. Nach meiner ersten Begegnung zu Beginn meiner Tätigkeit in der DDR traf ich ihn auf der Beerdigung von Walter Romberg. Da hielt er eine überzeugende Rede. Anders als Honecker nahm er sehr wohl Veränderungen wahr. Bei einem Besuch in Polen hatte er Schwierigkeiten, als Staatsratsvorsitzender der DDR von der dortigen Regierung
561 empfangen zu werden. Romberg hat dann die Verbindung zu Ministerpräsident Mazowiecki hergestellt. Realisten waren auch andere, ohne ihre Überzeugung zu verraten, wie z. B. Frau Professor Dr. Luft oder die leitenden Personen im Finanzministerium. Die wussten, es geht wirtschaftlich nicht mehr weiter. Föderationsideen kamen in die Überlegungen und der Versuch, das fehlende Geld von der Bundesrepublik zu bekommen, vorgetragen beim Besuch Modrows in Bonn. Das war am 13. Februar 1990 … Das habe ich sehr aktiv mitverfolgt, ohne zu diesem Zeitpunkt in dem Bereich Mitverantwortung zu tragen. Warum erhielten Modrow und seine Delegation diesen 15 Milliarden DM „Solidarbeitrag“ nicht? Kohl war der Meinung, diese ganze Revolution und dieser Aufstand und die Demonstrationen, das spiele eigentlich keine Rolle. Es ging immer nur um die „Bimse“. Das Geld war eben ausgegangen. Es war nicht mehr da. Russland und die DDR hatten kein Geld mehr. Da konnte man aus seiner Sicht den Russen mehr oder weniger die DDR abkaufen. Jetzt wollte er den „Sozialisten“ einschließlich der SPD keinen Zugang zu Finanzmitteln mehr geben, weil er zu dem Zeitpunkt dachte: „Ich schaffe es auch ohne deren Unterstützung.“ So habe ich das interpretiert und immer gesehen. Oder die Spekulation, die bevorstehenden Wahlen, der Betrag könnte missbraucht werden? Nein. Im März hat auch Kohl noch nicht an die Wiedervereinigung geglaubt. Das ist ganz klar. Da sind noch Vorbereitungen getroffen worden, um den Haushalt 1991 für den Staat DDR zu entwickeln. Im März hat man noch nicht mal an die Währungsunion geglaubt. Man wollte die Währungsunion vorbereiten im Sinne der Währungsannäherung „DM/Schilling“. Der Druck oder auch politische Zwang zu einer echten Währungsunion kam dann sehr plötzlich. Selbst als dann die Währungsunion im Juni kam, hat noch keiner an die Wiedervereinigung geglaubt. Es gab auf allen Feldern langfristige Überlegungen. So hat man Überlegungen angestellt, welche Rechtsstellung die Bundesbank in einer Währungsunion zweier Staaten haben könne. Die Staatsbank der DDR von ihrer anderen Aufgabenstellung her wurde als verantwortliche Stabilitätsinstitution als ungeeignet angesehen. Die in den Ausschüssen der Volkskammer im Zusammenhang mit Bankenumstellungen diskutierten Geld- und Währungsfragen waren abenteuerlich, teilweise pure Sciencefiction. Das lag nicht an den klugen Leuten und Professoren, die da diskutierten. Sie waren von der währungswissenschaftlichen Literatur des Westens abgeschnitten. Die offizielle Literatur musste der Parteilinie bzw. den Vorurteilen gegenüber westlichen Geld- und Währungsinstitutionen entsprechen. So hatte die Partei einmal versucht, Einfluss auf die Darstellung finanzieller Auslandsverpflichtungen zu nehmen. Die zu-
562 ständigen Damen im Finanzministerium mussten der Partei klar machen, dass man die Auslandsverschuldung nicht optisch dem Fünf-Jahres-Plan anpassen könne. Auslandsschulden müssten bedient werden, Guthaben verzinst werden. Die Zahlen müssten exakt stimmen und die ließen sich nicht nach außen optisch verändern. Ich bin überzeugt, es gab auch darüber hinaus Wissenschaftler, wie z. B. Frau Professor Luft, die die Zusammenhänge kannten. Allgemeiner Lehrstoff waren Währungsfragen wohl nicht. Allerdings gehört dieses Fachwissen auch im Westen nicht gerade zur Allgemeinbildung. Was halten Sie denn von der These, dass Kohl und Waigel am 13. Februar 1990 bereits wussten, wie die tatsächliche Situation der DDR war, weil Schalck-Golodkowski in der Nacht vom 3. auf den 4. Dezember von dem Osten in den Westen geflüchtet war und ein paar Wochen lang in Pullach beim BND „Gespräche“ geführt hatte. Da er nun mal die Inhalte des Schürer-Berichts kannte und darüber hinaus für „KoKo“ zuständig war, kann es nicht dahingehend sein, dass die Regierung schon Vorabinformationen hatte? Oder würden Sie das verneinen? Das glaube ich nicht. Warum nicht? Nach all dem, was ich weiß, auch von den Leuten, die ich getroffen habe aus dem Bundesfinanzministerium, was ich gelesen habe und mit Leuten besprochen habe, die mit verhandelt haben, hat zu diesem Zeitpunkt keiner gewusst, wie die wirklichen Verhältnisse der DDR waren. Die Wirtschaftslage wurde total überschätzt. Auch die Pessimisten bei uns haben die Wirtschafts- und Finanzkraft noch überschätzt. Die DDR selber war noch am realistischsten, also Leute wie Prof. Wolfgang Lebig. Aber dass z. B. die ganze Chemiebranche im Eimer war, das hat keiner gedacht. Die spätere Idee war, dass man mit dem Wissen der Wirtschaftsleute aus der DDR und deren Verbindungen zu Osteuropa die westdeutsche Industrie näher an den Absatzmarkt Osteuropa bringen könne. Was man auch im Juli und August 1990 nicht gewusst hat und was kein Mensch geahnt hat – so auch Dr. Geske –, seine Ausarbeitung liegt Ihnen vor, war, dass der Osten gleichzeitig zusammenbrechen würde. Dr. Geske beschreibt ziemlich genau, welche Vorstellung der Bund zur Zeit der Hauptauseinandersetzung, als Romberg gehen musste, zur Finanzfrage hatte. Leuten, die es wissen wollten, war klar, dass eine Riesenlücke bei einer Währungsunion und Wiedervereinigung für den Haushalt der DDR und insbesondere die Kommunen und die neu zu bildenden Länder entstehen würde. 3 Diese Lücke hat Günther Krause übrigens bestritten. Möglicher Weise hat er das sogar selbst geglaubt. Lernfähig war er weniger. Im Juli 1990 ist noch lange überlegt worden, wie man das mit der Haushaltsgestaltung weitermacht, wie man das in 1991 gestalten sollte mit Vorausschau auf das Jahr 1992, wie man die Lücken beseitigen könnten, ist diskutiert worden. Dass die Otto-Erich Geske, Der Prozess der deutschen Wiedervereinigung. Zur Entwicklung der öffentlichen Haushalte in der DDR 1990, Eigenverlag, Bonn 2018. Ein Buchexemplar liegt Dürkop vor.
3
563 Wiedervereinigung dann im Oktober 1990 kam, das hat sich frühestens Ende Juli/Anfang August 1990 herauskristallisiert. Fatal war die einsame – ich glaube noch nicht mal, dass Waigel da mitgewirkt hat – Entscheidung von Kohl zum Umrechnungskurs. Das sieht heute auch das Ausland so und will z. B. in Südkorea derartige Fehler vermeiden. Der Umtauschkurs war eine politische Idee von Kohl, um den Menschen in der DDR und zukünftigen Wählern entgegen zu kommen. Vor der Wiedervereinigung war eigentlich die CDURegierung ziemlich am Ende. Der deutschen Automobilindustrie und anderen Industriezweigen ging es schlecht. Kohls große Idee war sicher, die Wiedervereinigung zu erreichen, aber auch, die Wahl zu gewinnen. Darauf kam es ihm an. Deshalb wollte er die SPD aus der Koalition vor der Wiedervereinigung heraushaben. Er wollte allein der Held der Wiedervereinigung sein. Der Verdienst von Kohl ist ohne Frage, dass er die Chance erkannt und sich gegen den Widerstand einiger Alliierter durchgesetzt hat. Er hatte Gorbatschow auf seiner Seite sowie Bush senior. Frau Thatcher war absolut dagegen und Mitterrand war zumindest skeptisch. Mitterrand habe ich übrigens persönlich kennengelernt. Ich bin mit Romberg anlässlich einer Veranstaltung in Paris bei einem Gespräch mit Mitterrand und Édith Cresson gewesen. Nach einer Anregung von Mazowiecki sollte Frankreich die Gründung einer europäischen Universität in Frankfurt/Oder gegenüber Polen unterstützen, dass zunächst einer allein deutsch-polnischen Lösung nichts abgewinnen konnte. Walter Siegert war in der Regierung Modrow Staatssekretär … Ja und ich meine schon davor … Davor auch. Aber in der Regierung Modrow wurde er abermals Staatssekretär. Uta Nickel war die Finanzministerin. Anfang Dezember 1989 trat Siegert aus der SED aus. Inwiefern war Ihnen wichtig, als Sie Siegert kennenlernten, über die Biografie Bescheid zu wissen? Das war mir unwichtig. Wussten Sie, dass er ehemaliges SED-Mitglied war und wie gingen Sie damit um? Erstens wusste ich, dass er ehemaliges SED-Mitglied war. Sonst wäre nämlich gar nicht die Frage aufgetaucht, dass er weggehen sollte. Romberg sagte mir, er würde dem Siegert vertrauen, egal, was er vorher gewesen wäre. Ich hatte auch keine Vorbehalte. Wissen Sie, ich war eher misstrauisch gegenüber Leuten in der SED, die erzählten, sie hätten schon an der Mutterbrust gegen den Kommunismus gekämpft. Dass er aus Überzeugung ausgetreten ist, habe ich ihm abgenommen. Er war nah an den Entscheidungszentren und wusste wohl, das wird nichts mehr. Und natürlich wollte er etwas bewegen und natürlich war ihm auch sicher, dass ein Austritt für ihn nützlicher war. Aber das hat mich überhaupt nicht interessiert. Ich hatte einen Assistenten zugeordnet bekommen, der war auch in der SED gewesen. Er hatte eine Sparkassenausbildung und Finanzwissenschaften studiert. Er hätte nicht
564 studieren dürfen, ohne NVA-Dienst und ohne Parteimitglied zu sein. Der war damals eine große Hilfe und ist bis heute ein verlässlicher und treuer Freund. Frau Rauscher, stellvertretene Abteilungsleiterin war mal SED-Vorsitzende im Ministerium. Das hat mich alles nicht interessiert. Interessiert hat mich die menschliche Seite von den Leuten: Kann man denen vertrauen? Sind sie fachlich kompetent und was tun sie in dieser Situation, um der DDR zu helfen und um etwas Sinnvolles einvernehmlich zustande zubekommen? Das war mir wichtig! So habe ich auch im Ministerium Walter Siegert vertraut. Siegert wurde dann, als Frau Nickel zurücktrat, weil sie anscheinend im Amt „überfordert“ war, von Ende Januar bis Anfang April 1990 geschäftsführender Finanzminister … Frau Nickel kannte ich vom Hörensagen. Die frühere Karriere von Dr. Siegert kannte ich bei der ersten Erwähnung von Dr. Romberg noch nicht. Am 15. Februar 1990 unterschrieb Walter Siegert einen Vorvertrag zur Privatisierung der staatlichen Versicherung der DDR mit der westlichen Allianz-Versicherung AG in München. Was wissen Sie darüber? Da war ich nur am Rande fachlich involviert. Wie ist das denn konkret zustande gekommen? Die konkrete Entscheidung habe ich erst zur Kenntnis bekommen, als der Vertrag als Kabinettsbeschluss anstand. Das war später. Unter anderem ging es vorab darum, dass die westdeutsche Versicherungswirtschaft, insbesondere auch Graf von Lambsdorff, der Meinung war, dass man das Versicherungssystem der DDR aufteilen bzw. an die westdeutschen Versicherungen verteilen sollte. Mir wurde die Vorlage durch den Minister zur Mitzeichnung vorgelegt. Da stand Siegerts Zeichen schon drauf. Kabinettsbeschluss vom 8. März im Ministerrat. Und am 14. März wurde der Vorvertrag mit Uwe Haasen und Friedrich Schiefer unterzeichnet. Romberg wollte kurzfristig meine Mitzeichnung als Beratungsleiter der Geld- und Kreditabteilung. Ohne meine Mitzeichnung lege er das nicht dem Kabinett vor. Ich hatte folgende Situation zu berücksichtigen: In der DDR-Versicherung steckten viele Rentenansprüche der DDR-Bürger der verschiedensten Art. Ich kannte das Versicherungswesen in der Bundesrepublik, weil ich in Nordrhein-Westfalen meinen für Versicherungen zuständigen Kollegen zu vertreten hatte. Ich war der Überzeugung, dass in dieser Situation die Masse der kleinen und mittleren Versicherungen nicht die Kraft gehabt hätte, diese Aufgabe zu stemmen, unabhängig von zeitlich kaum absehbaren Verteilungskämpfen. Die einzige Versicherung der Bundesrepublik, die hierzu kurzfristig und finanziell bereit und verbindlich in der Lage war, das ist bis heute meine Überzeugung, war die Allianz. Deshalb habe ich mitgezeichnet, ohne im Einzelnen in die Vorverhandlungen einbezogen worden zu sein. Später habe ich aus der Allianz gehört, sie hätte aus diesem Engagement
565 einige Verluste kreiert. Allerdings seien dadurch nützliche Vertragsverbindungen zustande gekommen. Nach meiner Überzeugung hätten viele kleinere Versicherungen die Gesamtlasten nicht verkraften können. Einige große Institute waren nicht interessiert. Zeitungsberichte, die irgendwelche unlauteren Vereinbarungen vermuteten, halte ich bis heute für reine interessengesteuerte Spekulation. Inwieweit hatte Walter Siegert die Allianz als Partner gewonnen? Was war sein Einfluss? Das weiß ich nicht. Im Zweifelsfalle hat er mit mir über die Versicherungsfrage gesprochen. Ich hatte meistens mit Romberg zu tun und mit den Damen König und Rauscher in den Dingen, die mit Finanz- und Kapitalmarkt zu tun hatten. Aber es ist möglich, dass Siegert das Grundproblem mit mir und anderen durchgesprochen hat. Ich habe zwei oder drei längere Fachgespräche mit ihm in seinem Büro geführt. Ich bin aber nicht mehr sicher, wer daran von der Allianz beteiligt war. Wussten Sie zum Zeitpunkt der Unterschriftsleistung, dass es gar keine öffentliche Ausschreibung bzw. ein Bieterverfahren gegeben hatte? Nein, das wusste ich nicht. Ist Ihnen das in diesem Moment nicht eingefallen? Normalerweise wird es ausgeschrieben. Allerdings: Dieses Modell einer öffentlichen Ausschreibung gab es aber in der DDR nicht! Nein. Ich hatte weniger als eine Stunde Zeit für die Mitzeichnung. Es galt noch DDRRecht. Und in diesem Zusammenhang stand – wie in anderen Fällen auch sehr kurzfristig – die Entscheidung an, was machen wir mit den Versicherungen. Wurde Ihre Entscheidung zur Unterschrift „positiv“ beeinflusst, weil Walter Siegert bereits vorab unterschrieben hatte? Nein. Überhaupt nicht. Ich habe es nur wahrgenommen. Ich habe mich gewundert, wieso Romberg mir das vorgelegt hat. Aber Romberg war in diesen Dingen vorsichtig. Romberg war wohl der Meinung, dass dies nicht zu seinen Kernkompetenzen gehöre; aber ich, weil ich immerhin am Rande mal zuständig für Versicherungen war, in welcher Funktion auch immer. Was halten Sie davon? Ich weiß noch, dass ich ihm sagte, ich müsse mal mehrere Tage darüber nachdenken und er blockte ab: „Nein, jetzt! Heute Abend ist das im Kabinett!“ So ähnlich war die Situation: „In einer Stunde ist Ihr Zeichen darauf oder ich vertrete das nicht im Kabinett!“ Fazit: Eine der wichtigsten Entscheidungen im beruflichen Sinne ist im Nachhinein auch eine der richtigen gewesen?
566 Ich denke ja. Aber die Entscheidungen, in denen ich wirklich mitgewirkt habe und die ich getroffen habe, waren die Bankenveränderungen. Was machen wir mit den Banken? Da habe ich wirklich mitgewirkt und einiges durchsetzen können. Wie verlief das konkret ab? Es waren mehrere Interessenten da, dann wurde nachverhandelt, um den Preis nach oben zu treiben, oder? Was gab es in der DDR für Banken? Geschäftsbanken in dem Sinne gab es nicht. Es gab auch kein Kreditgeschäft. Was also machten die Banken? Aufgrund des Fünf-Jahres-Planes verteilten sie Geld an die Unternehmen, zu denen es nach dem Fünf-Jahres-Plan hingeleitet werden sollte. Da wurde keine Kreditprüfung durchgeführt. Das hatten die Bankangestellten auch nicht gelernt. Da Geld wurde planungsgerecht verteilt. Personengruppen, wie Familien, sollten möglichst zusammengefasst werden, weil zu viele Konten zu viel Arbeit bereiteten und das war für den Fünf-Jahres-Plan unwichtig. Die Einrichtungen waren für modernes Bankgeschäft ungeeignet. Ich habe mir die Filialen angesehen, z. B. in Frankfurt/Oder. Als ich im Jahr 1964 lernte, hatten wir modernere Schalterhallen als die, die ich in der DDR vorfand. Das war Vorkriegsarchitektur bzw. Vorkriegsbankengeschichte. Es gab zwei Spezialbanken, u. a. für Auslandsgeschäfte, die nach meiner Meinung bankmäßig vorbildlich arbeiteten und deren Verantwortliche, die ich kennen gelernt hatte, ihren westlichen Kollegen gegenüber gleichwertig waren. Jetzt ging es darum: Was machen wir mit den Banken? Der Sachverständigenrat hatte schon im Dezember 1989 gesagt, vor einer Währungsunion müsse man die Banken an das weltweit westliche System angleichen. Wie machen wir das? Das Einfachste für mich war – dahinter steckten jedoch jede Menge Querelen, dass die deutsche Sparkassenorganisation die Sparkassen der DDR unterstützte. Sie wissen, die Sparkassenorganisation ist sehr föderalistisch aufgebaut. Jeder Sparkassenverband übernahm einen gewissen Teil der DDR. Was nicht alle wollten. Ich saß als Vorsitzender des Bund-Länder-Arbeitskreises auch im deutschen Sparkassenausschuss, bis ich in die DDR gesandt wurde. So kannte ich die entscheidenden Leute der Organisation einschließlich der Landesbanken. Das war von Vorteil. Sie müssen sich vorstellen, wie schwierig es für Sparkassen war, eine Vielzahl guter Leute zu überzeugen, auf längere Zeit die zahlreichen Sparkassen auf dem Gebiet der DDR umzubauen und deren Mitarbeiter zu schulen. Neben den Geschäftsbanken gab es die Notenbank der DDR mit ihren Mitarbeitern, die nie vergleichbare Aufgaben der Bundesbank wahrgenommen haben. Bei ihnen lagen dagegen Teile der Verbandsarbeit. Tätigkeiten, die in der Bundesrepublik etwa der Deutsche Sparkassen-Giroverband oder der Genossenschaftsverband und der Verband des privaten Bankgewerbes wahrnehmen. Das waren Abteilungen der Staatsbank. Es musste geklärt werden: Wer übernimmt die deutsche Außenhandelsbank und andere? Wer übernimmt Filialen von wem? Es war nicht so, dass sich dort unendlich viele beworben haben, eigentlich haben sich zu wenige beworben. Die Commerzbank hat von vorn herein abgelehnt. Sie wollte ihr eigenes Filialnetz aufbauen. Das setzten sie erfolgreich um. Die Dresdener Bank fühlte sich schon von ihrem Namen her verpflichtet, sich in der DDR zu engagieren. Die Deutsche Bank
567 übernahm zwar Teile des Bankensystems, war aber zögerlich, die Wiedervereinigung anderweitig zu unterstützen. Sie berief sich darauf, eine Geschäftsbank zu sein, die nicht durch einen öffentlichen Auftrag verpflichtet werden könne, an anderen Unterstützungsmaßnahmen teilzunehmen. Dann ging es um die Bedingungen von Übernahmen. Die Bilanzen aller Kreditinstitute in der Fläche sahen unter Bonitätsgesichtspunkten der Kreditnehmer nicht gut aus. Wenn es bei der Verteilung von Finanzmitteln auf die Rückzahlung nicht ankam, war das nicht verwunderlich. Es bedeutete also im Interesse eines funktionierenden Bankensystems, in diesem neuen Teil Deutschlands ein Filialnetz aufzubauen bzw. Filialen zu übernehmen, die Leute vor Ort zu schulen, Fachleute „nach drüben“ zu versetzen, Gebäude umzubauen und Geschäfte aufzubauen, ohne die Risikolage vollständig überschauen zu können. Dazu kamen die vereinbarten Auflagen, die Bereinigung der Auslandsschulden der DDR fachlich zu unterstützen. In die schwierigen unzähligen Gespräche, Verhandlungen und notwendigen Gesetzesanpassungen haben alle engagiert und letztlich erfolgreich mitgewirkt, natürlich auch Dr. Siegert. Der Gesamtplan wurde mit Ministerpräsident Lothar de Maizière abgestimmt. Abends um 22.00 Uhr hatten Dr. Romberg und ich einen Termin und sollten de Maizière unseren Plan vortragen. Er musste einverstanden sein. Für die damaligen Verfahren war das Treffen symptomatisch: Als wir ankamen, war er noch mit dem Verteidigungsminister Rainer Eppelmann im Gespräch. Er rief uns dann trotzdem dazu und fragte mich, was ich von den Konversionsverhandlungen der DDR hielte. Rombergs Ansicht, der in diesen Fragen kompetent war, kannte er. Meine Antwort: „Herr Ministerpräsident, ich habe nicht mal ‚gedient‘. Ich habe von solchen Dingen nicht den geringsten Schimmer. Ich weiß davon überhaupt nichts!“ Da war der Berater von Eppelmann schon mal befriedigt. Als die Gespräche mit Eppelmann beendet waren, trugen wir de Maizière den „Bankenplan“ vor. Er stellte ein paar Fragen und hakte die Angelegenheit ab. Wann war das konkret? Das muss nach der Währungsunion gewesen sein. Nach dem 1. Juli 1990, also im Juli/August? Etwa in dieser Zeit. In diesem Fachbereich habe ich unbeschadet der Verantwortung und der Federführung von Dr. Siegert und Dr. Romberg wohl am wesentlichsten mitgewirkt und gestaltet.
568 Bitte Ihre Einschätzung und Charakterisierung zu Lothar de Maizière. Lothar de Maizière hat mich beeindruckt. Der war anders als die Politiker, die ich sonst kannte. Er war überzeugt, das Beste zu tun, was er konnte. Er stammte aus dem kirchlichen Umfeld, insofern war ich vorbeeinflusst, weil ich auch aus diesem Bereich seit Kindheit und Generationen stamme. Mich hat seine ArbeitsAbb. 73: Ein letztes Wiedersehen – Sommer 2019. intensität beeindruckt. Wir fuhren mal am Ministerratsgebäude vorbei, da war um 0.30 Uhr noch Licht. Da sagte der Fahrer: „Kiek mal, die Mesere arbeitet ooch noch!“ Ich habe ihn mehrfach bei anderen Gelegenheiten in größeren Kreisen erlebt und war stets beeindruckt. Er hatte einen sehr schweren Stand gegenüber Kohl. Das wurde damals schon sehr deutlich. Typisch war eine von ihm selbst geschilderte Situation mit dem Bundeswirtschaftsminister: Bei Fusionen von Firmen mit Unternehmen aus der Bundesrepublik sollte der im BGB verankerte Schutz der Arbeitnehmer ausgesetzt werden. Da hat er gesagt, er sei keine soziale Hure. Sowas würde er nicht mitmachen. Das kriege er auch nicht bei seinem Koalitionspartner durch. So etwas hat mich natürlich beeinflusst. Ich hielt ihn für absolut fair. Ich meine, er hatte nach der Wiedervereinigung kaum noch etwas zu sagen. Das ist aber meine sehr persönliche Einschätzung. Der hat alles das getan, was er konnte. So wie Romberg alles getan hatte, was er konnte. Das waren tolle Leute. Die waren aber den Schlitzohren unserer westdeutschen Politik, den hart gelernten durchsetzungsstarken Politikern, in Verhandlungen und Taktik oft nicht gewachsen. Sie waren politische Laien, ungemein engagierte Menschen, aber in der harten Politik des Westens nicht erfahren. In Währungsfragen hat Krause eine wesentliche Rolle gespielt. Im Wesentlichen ist er den Vorstellungen, die ihm aus Bonn vorgegeben wurden, gefolgt. Inwieweit de Maizière in alles eingeschaltet war, weiß ich nicht. Der ist auch von Kohl vorgeführt worden. Das fand ich beschämend. Ist de Maizière für Sie würdig in der Öffentlichkeit dargestellt worden, wie er sich in den Vereinigungsprozess einbrachte und als „Anwalt der Ostdeutschen“ engagierte? Das könnte man stärker betonen. Das gilt aber auch für Romberg oder über die sich alle lustig gemacht haben, Regine Hildebrandt. Bitte eine Charakterisierung zu Walter Siegert: Wie schätzten Sie ihn damals ein, wie erlebten Sie Siegert und wie hat er sich Ihrer Meinung nach bis heute entwickelt? Ich habe ihn außerordentlich geschätzt und tue dies bis heute. Er hielt im Ministerium den Apparat zusammen und war insoweit für den Minister eine entscheidende Hilfe. Auch das Ministerium war gerade fusioniert worden, das Amt oder Ministerium für
569 Preise war ohne weitere Funktionen in das Finanzministerium personell integriert worden. Staatssekretäre waren dann nicht mehr zum Dienst erschienen. Allein dies ist für einen Staatssekretär unter normalen Umständen eine Herausforderung. Die leitenden Mitarbeiter des nun zusammengelegten Hauses waren hochqualifizierte, arbeitssame, aber für eine Planwirtschaft ausgebildete Menschen. Die haben ihre Pflicht getan und gearbeitet bis zur Auflösung des Ministeriums ohne die Aussicht, übernommen zu werden. Die innere Leitung eines Ministeriums in dieser Situation durch Dr. Siegert war harte Arbeit. Es gab im Ministerium durchaus Eifersüchteleien wie in jedem Ministerium. Für den Minister war Dr. Siegert bis zu den Umständen seiner Ministers-Abberufung ein wesentlicher Rückhalt. In vielen Fragen waren Minister und er einer Meinung, so etwa zu den unglückseligen Formen der Privatisierung. Dr. Siegert hatte Erfahrungen im Ostblock, er kannte viele der entscheidenden Personen des alten und des nun amtierenden Regimes. Er war mal der oberste „Revisionschef“ der DDR gewesen. D. h., er war einer der fähigsten, bestausgebildetsten Männer, dem ich in meinem Zuständigkeits- und Umfeld absolut vertraute. Er hat sehr geschwärmt für seine Partner auf der anderen Seite im Bundesministerium. Das kann ich verstehen. Das haben viele getan. Romberg nicht. Für den passte vieles nicht in seine stark kirchlich geprägten Vorstellungen. Für die praktische Politik mag das hinderlich sein. Danach hat sich bis heute sogar eine Freundschaft entwickelt? Kann man das so formulieren? Ich schätze ihn bis heute. Ich habe ihn noch mehrfach bei Romberg getroffen. Also als Romberg schon im Pflegeheim war, haben wir ihn besucht. Während meiner Zeit im Ministerium war ich auch in seine Datsche eingeladen. Ich bin auch seiner Frau vorgestellt worden. Wir haben mehrere Treffen des Ministerbüros gehabt. Ich bin auch auf seinen Wunsch im Ministerium geblieben, als Romberg ging. Es waren noch Fachfragen des Kapitalmarktes zu erledigen und die Mitarbeiter aus dem Ministerbüro vor der Auflösung des Ministeriums anderweitig unterzubringen. Das ist mir überwiegend gelungen. Mit all den Leuten haben wir uns mit Dr. Siegert später mehrfach getroffen. Das schlief nach der Veröffentlichung von de Maizière über die Umstände der Abberufung Rombergs ein, lebte aber nach mehreren Telefonaten in den letzten Monaten wieder auf. Jetzt bin ich gern bereit, Dr. Walter Siegert arbeitsmäßig und menschlich zu würdigen. Worum geht es konkret? Welches Buch und welche Aussage hatten Sie belastet? Bitte übernehmen Sie aus meiner Ihnen vorliegenden Broschüre „Dr. Walter Romberg – Verpflichtung eines Christen in die Politik“, Seite 27 f. nach Ihren Gutdünken. Als Romberg mit der gesamten SPD aus der großen Koalition mit der Allianz ausgetreten ist, das war um den 20. August 1990 herum, wurde nicht Walter Siegert Finanzminister, sondern Werner Skowron. Siegert blieb Staatssekretär bis zum Tag der deutschen Einheit.
570 Der ist später Ministerialrat im Bundesfinanzministerium geworden. Anders haben sie ihn nicht eingeschätzt. Hatten Sie Kontakt zu Werner Skowron in dem Moment, in dieser Kurzphase? Ja. Ich war dann bis auf die Morgenbesprechung nicht mehr bei Ministerbesprechungen dabei. Ich bin nicht mehr in Entscheidungen eingeschaltet worden. Dr. Siegert organisierte für die letzten übrig gebliebenen West-Berater am 1. oder 2. Oktober eine Rundfahrt durch Berlin und ein Konzert. Ich leitete in alter Funktion in der Folgewoche die erste Ost-West-Bund-Länder-Konferenz der Referatsleiter für Sparkassen und öffentlichen Banken in Goslar und in der Nachbarstadt im Harz, in Wernigerode. Bitte Ihre Einschätzung für die Hauptverantwortlichen und die Hauptgründe für das Ende der DDR und die Bilanz in den 30 Jahren zum Jahrestag 2020. Die Regierung der DDR hatte die Bevölkerung nicht mehr hinter sich. Und zwar nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen – auch aus wirtschaftlichen Gründen –, weil nichts mehr funktionierte. Meine Gesprächspartner, Frau König und Frau Rauscher, haben mir berichtet: Im Grunde genommen sei die DDR schon Ende der 1980er Jahre pleite gewesen. Das hätten viele gewusst. Was nicht mehr funktionierte, konnte mir Dr. Siegert erklären. Wir hatten die Vorstellungen, in der zentral geleiteten Regierung – also nach meinen volkswirtschaftlichen und juristischen Vorstellungen – sind Entscheidungen von oben nach unten schneller und einfacher zu treffen als in der Demokratie und der Sozialen Marktwirtschaft. In der Praxis der DDR funktionierte das überhaupt nicht mehr. Die Entscheidungsstränge waren nicht mehr intakt. Einzelentscheidungen verselbständigten sich. Wenn man zu einem Ergebnis kommen wollte, musste man alte Verbindungen nutzen. Auf der anderen Seite gab es glänzende Fachleute in der DDR in vielen Bereichen, die es unter diesen Umständen schwer gehabt haben, ihre Ideen umzusetzen. Dazu kam das mangelnde Vertrauen in die Institutionen. Verbindungen im Ostblock lockerten sich. Nach Gorbatschow war Honecker eigentlich isoliert. Zu anderen Ostblockländern hatte die DDR ein miserables Verhältnis. Die Polen und die Tschechen haben der DDR nie vergeben, dass die DDR einmarschiert war. Ich habe mich damals hier im Westen bei Bankveranstaltungen mit Leuten der sowjetischen Botschaft unterhalten, die mir erzählten, wie sie als Studenten mit DDR-Leuten zusammen in Moskau waren. Sowas Schlimmes. Kein Wort hätte man sagen können, ohne dass die einen „verquatscht“ hätten. Sie müssen mal das Buch über die „Stasi-Akte Günter Grass“ lesen. Dann versteht man, warum das System nicht mehr funktionieren konnte. Hatten Sie selbst eine Stasi-Akte eingesehen bzw. einen Antrag auf Einsicht gestellt? Nein. Ich wusste, dass ich eine habe. Herr Modrow hat mich in dem oben erwähnten Gespräch auf mein (von ihm positiv bewertetes) Verhalten in der DDR angesprochen: „Ich weiß ja, dass Sie sogar Ihr Geld ‚1:1‘ umtauschen.“ Mir war natürlich klar, wenn ich für Währungsfragen zuständig war, musste ich mich an die von der DDR vorgegebene
571 Ordnung halten. Mir war klar, dass man über mich Berichte erstattet hatte. Dann habe ich später erfahren, dass mein Zimmer in Rahnsdorf verwanzt war und ich wusste, dass meine Briefe geöffnet worden waren. Inwiefern waren die Menschen die Freiheiten wie Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, Demonstrationsfreiheit, Informationsfreiheit usw. wichtig? Das spielte eine große Rolle, weil es das – wie täglich in anderen Ländern vor Augen geführt – in der DDR nicht gab. Wenn die DDR-Regierung zwei, drei, vier oder fünf Jahre zu vor eine gewisse Lockerung aller Freiheitsrechte zugelassen hätte, wäre die DDR daran nicht zerbrochen. Zu einem früheren Zeitpunkt waren vielen Freiheitsrechte wichtiger als Wiedervereinigung. Manche hatten den Traum von einer christlich-sozialistischen Demokratie, eine schöne Utopie. Wir müssen unseren Laden selber in Ordnung bringen, war eine durchaus verbreitete Ansicht. Das haben Mielke, Honecker und andere nicht verstanden. Sie hielten solche Vorstellungen für gefährlich und glaubten, sie mit Gewalt unterdrücken zu können. Nach den Ideen von Gorbatschow und den Lockerungen in anderen sozialistischen Ländern war das nicht mehr möglich Was bleibt denn jetzt fast 30 Jahre nach dem Ende der DDR für die Generation oder auch in Zukunft nachhaltig übrig? Also aus den Lehren der kurzen DDR-Geschichte? Was ich so empfunden habe, das mag aber mit meinen speziellen Erfahrungen im Umfeld Rombergs zu tun haben, waren ein unerhörter Zusammenhalt und ein Engagement füreinander, ein soziales Gefüge mit der Vorstellung, für einander einstehen zu müssen in der DDR und der ganzen Welt. Inwieweit das in den „neuen Ländern“ völlig verloren gegangen ist, weiß ich nicht. Es bleibt die Erfahrung, die wir im Westen nicht gemacht haben, das Erleben eines totalen Umbruchs. Alle Erfahrungswerte galten nicht mehr. Ganze Studiengänge waren nichts mehr wert. Diese Erfahrung war in der DDR möglicherweise stärker als in Westdeutschland zum Kriegsende im Jahr 1945. Was man versäumt hat: Ich bin in der amerikanischen Zone groß geworden. Die Amerikaner haben sofort mit einer Erziehung zur Demokratie begonnen. Sie haben mit erheblichen Mitteln die Jugendarbeit unterstützt. Und hier wurden mit der Wende auf einen Schlag alle Jugendgruppen dicht gemacht. Die NVA gab es auch nicht mehr. Was blieb den Jungs ohne Ausbildungschancen und vorstellbaren Lebensperspektiven? Denen blieb der Suff. Dann kam die Privatisierung. Ganze Familien wurden arbeitslos. In der Bundesrepublik war man der irrigen Meinung, demokratische Verfahren seien hinreichend aus dem Fernsehen bekannt. Alles andere ergebe sich aus Selbstregulierungsmaßnahmen. Ein Fehler, den andere Staaten für ihre Entwicklungen gern vermeiden möchten. Vielen Dank für das Gespräch. Ebenso.
573 Horst Kaminsky „Der Untergang der DDR hatte sowohl innere als auch äußere Ausgangspunkte.“
Abb. 74: Horst Kaminsky (rechts) mit Karl Otto Pöhl im Gespräch (1990).
Horst Kaminsky, seit 1946 Mitglied in der SED, wurde am 20. März 1927 in Markranstädt geboren und verstarb am 25. Juni 2019 in Berlin. In der Zeit von 1964 bis 1974 war er erster Stellvertretender Minister der Finanzen der DDR. Kaminsky leitete u. a. die DDRDelegation in den Bankräten der Internationalen Bank für wirtschaftliche Zusammenarbeit und der Internationalen Investitionsbank. In der Zeit vom April 1974 bis 3. Oktober 1990 war er Präsident der Staatsbank der DDR. Am 28. Februar 1990 präsentierten Kaminsky und Siegert in der Volkskammer ein Modell für ein zweistufiges Bankensystem, was aber nicht mehr umgesetzt wurde. Die Staatsbank zu einer Zentralbank umgestaltet sollte als zentrale Aufgabe die Überwachung der Währungsstabilität erledigen. Zudem war eine Senkung der steuerlichen Belastung für Handwerker und Gewerbetreibende auf 60 % und der Körperschaftssteuer auf 50 % geplant. Ein ausführliches Interview mit dem Titel „Bankenreform in der DDR, was soll sie bringen?“ erschien am 28. März 1990 in der Berliner Zeitung. 1 Schriftverkehr zwischen Horst Kaminsky und Walter Siegert vom 15. bis 19. April 2011 und vom 30. Januar 2012: 2 Lieber Walter, wieder erreichte mich ein Brief von Dir, der mich sehr beeindruckte und mir Anlass gab und noch gibt, über dies und das nachzudenken, von Dir aufgeworfene Berliner Zeitung, 28.3.1990, Jahrgang 46, Ausgabe 74, S. 3, Bankenreform in der DDR was soll sie bringen? Interview mit dem Präsidenten der Staatsbank der DDR, Horst Kaminsky. Siehe http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/ddr-presse/ergebnisanzeige/?purl=SNP2612021519900328-0-3-136-0 (letzter Zugriff 20.12.2020). 2 Ilse Siegert fand im Archiv von Walter Siegert einen persönlichen Schriftverkehr (handschriftliche Notizen) zwischen Kaminsky und Siegert, welcher von Dürkop transkribiert und hier dokumentiert wurde. Dieser Schriftverkehr kann als Vermächtnis von Kaminsky gewertet werden. Die Dokumente liegen Dürkop vor. Auf entsprechende Textkürzungen wird hingewiesen. 1
574 Themen mit meinen Erfahrungen zu vergleichen und mich anregen, bisherige Meinungen zu vertiefen und zu verbreiten. Also herzlichen Dank. Du nennst die mir übersandten Gedanken zu den Ursachen über „das Scheitern der DDR“ 3 einen Versuch und möchtest sicher meine Meinung hierzu. Also generell stimme ich den Hauptgedanken Deiner Ausführungen zu, einigen Punkten ganz besonders und intensiv, bei anderen weniger. Also, ich werde beginnen mit dem ersten mir wichtig erscheinenden Punkt. Dein erster Satz im Material lautet: „Die DDR war ein Resultat des Zweiten Weltkrieges.“ Das ist eine fundamentale Wahrheit, von der viele, sogar die entscheidenden Faktoren ihrer Existenz, ihres Werdens und Wachstums und schließlich ihres Niedergangs abgeleitet werden können und müssen. Die DDR war ein Staat, ein Völkerrechtssubjekt im Bereich der sowjetischen Herrschafts- und Einflusssphäre. Sie konnte nur existieren, wenn ihre Politik und Ideologie globalen Interessen der Sowjetunion entsprechen, eine entgegenstellende, nur nach eigenen Interessen orientierte Politik war illusionär und nicht realisierbar. So sind z. B. auch theoretische Gedankenspiele über einen „besonderen deutschen Weg zum Sozialismus“ von so hervorragenden Vertretern der Partei und der Arbeiterbewegung wie Fred Oelßner 4 und Anton Ackermann scharf attackiert und zurückgewiesen worden. So entstand im realen gesellschaftlichen Ablauf eine Form des Sozialismus, die dem sowjetischen Modell im hohen Maße entnommen wurde. Für einen deutschen Weg zum Sozialismus, zu einer neuen antikapitalistischen Gesellschaftsordnung waren in Deutschland und weiten Teilen Europas in den ersten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts die Bedingungen deutlich herangereift: -
Starke Schwächung des Kapitalismus als unmittelbare Kriegsfolge und Diskreditierung in den Augen der Bevölkerung Industrielle Revolution mit einer stark wachsenden Arbeiterklasse Hoher Waffenbesitz in den Händen der Soldaten und Arbeiter Rätesystem und erste parlamentarische Erfahrungen
Ein Sozialismus auf einer derartigen Geburtsbasis hätte anders ausgesehen (vielfältigere Eigentumsformen, flexibler, volksnaher, demokratischer, aber auch gefährdet durch Kontrakräfte). Wie wir wissen, hat Lenin auf die deutsche Revolution gehofft, er hat gewartet. Diese historische Chance wurde durch den schmählichen Verrat der deutschen Sozialdemokratie und insbesondere ihrer Führer vertan. Das sehe ich als „eine große Schuld der Deutschen“ gegenüber der hoffenden Welt! Am Ende blieb Lenin nichts anderes übrig, als die These zu begründen, dass es möglich ist, den Sozialismus in einem einzelnen Land zu errichten; und dieses Land hatte keine entwickelte Arbeiterklasse, hatte keine volksdemokratischen Grundlagen und ErSiehe S. 149 ff. in dieser Publikation. Fred Oelßner (1903–1977) war u. a. Mitglied des Politbüros der SED und Direktor des Instituts für Wirtschaftswissenschaften der Deutschen Akademie der Wissenschaften (1958–1969).
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575 fahrungen, sondern die Willkürherrschaft des Zaren und des Adels. Wenn man diesen Gedanken folgt, kann man sagen: „Der Realsozialismus in der DDR ist von Geburt an nicht auf eigener historisch gewachsener Grundlage entstanden, sondern ein Produkt der Siegermacht.“ Deshalb stimme ich Deiner These zu, dass ein großer Teil der Bevölkerung den 8. Mai 1945 nicht als Tag der Befreiung, sondern als Ende eines verlorenen Krieges empfindet. Dass dem so ist, liegt an uns Deutschen, dem Versagen der deutschen Sozialdemokratie mit dem wahnwitzigen Streben nach Weltherrschaft durch die extremsten Kräfte des deutschen Industrie- und Finanzkapitals. Und nun nochmal zum Verhältnis DDR-Sowjetunion: Es ist nicht so, dass die DDR von Anfang an ein Spielball sowjetischer Europa- und Weltpolitik war. Beide Staaten und Bevölkerungen brauchten sich gegenseitig nach dem Unheil des Krieges beim Aufbau ihrer Länder. Ich habe mehr als zwei Jahrzehnte in vielen Begegnungen mit sowjetischen Menschen in verschiedenen Landesteilen erlebt, dass die Grausamkeiten des Krieges tief in ihrer Seele eingebrannt sind. In Leningrad auf dem großen Friedhof stehen auf einer Tafel die Worte: „Nichts ist vergessen, niemand wird vergessen.“ Und ganz leise tönt aus dem Hintergrund die Melodie „Träumerei“ von Robert Schumann. Ich habe einen Blick in die russische Seele werfen können bei Bergarbeitern, Kraftfahrern, Angestellten und auch Funktionären. Sie ist im hohen Maße leidensfähig, liebt Gesang und Tanz, kann tolerant sein und teilt mit dem Freund das letzte Stück Brot, sie ist gegenüber dem Feind hart und unbarmherzig. Ich hatte die Möglichkeit, mit meiner Frau das Elternhaus von Wassili Makarowitsch Schukschin, dem russischen Dichter und Schriftsteller, 5 in Sibirien zu besuchen und fand dort unter den zugänglichen Memoarien ins Deutsche übersetzt folgende Worte: „Und was meine Mutter betrifft: Die nationalen Vorzüge der Russen überbieten oder schmälern zu wollen, liegt mir fern. Was ich jedoch erlebte, was ich von klein auf unwillkürlich zu sehen bekam, veranlasst mich zu der Feststellung: Was die russische Frau zu ertragen vermag, was sie durchgemacht hat, wird kaum jemand übertreffen können. Möge niemandem auf dieser Welt beschieden sein, dies nachzuvollziehen. Das braucht es nicht.“
Wassili Makarowitsch Schukschin (1929–1974) war u. a. Schriftsteller, Regisseur und Schauspieler. Im Jahr 1976 erhielt er postum den Leninpreis.
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576 […] 6 Was nun die Implosion, den Untergang der DDR betrifft, möchte ich meinen Standpunkt wie folgt darlegen: Der Untergang der DDR hatte sowohl innere als auch äußere Ausgangspunkte … Der innere Faktor war die Abwendung großer Teile der Bevölkerung von der Führung des Staates, der immer schneller sich abzeichnende Vertrauensverlust der führenden Kräfte, insbesondere bei jüngeren Menschen und solchen im mittleren Lebensalter, die Forderung, verkrustete innere Strukturen aufzubrechen, die Wahrheit zu sagen und die Lobhudelei ausgehend von der oberen Spitze zu beenden, Reformen im Wirtschaftsbereich vorzubereiten, die Reisefreiheit zu gewährleisten und dies alles auf friedlichem Weg und im Dialog aller gesellschaftlichen Kräfte. Es zeigte sich in dieser Situation ein erschreckendes Bild unserer Staatsführung: Völlige Unkenntnis über die reale Situation im Lande. Unfähigkeit und Unwille zu jeglichen Veränderungen, dagegen Betonung aller Dogmen, Rechthaberei und Selbstgefälligkeiten. Ich nahm an der Festveranstaltung zum 40. Jahrestag der DDR im Palast der Republik 7 teil und habe zwei Dinge in besonderer Erinnerung: Ich sah viele alte Veteranen, die für das Werden der DDR ihre Lebenskraft eingesetzt haben, viele sahen sich seit langer Zeit wieder und umarmten sich still. Das war für mich erhellend, eine stille, aber in die Tiefgehende feierliche Atmosphäre. Und dann der Auftritt von Honecker, laut und arrogant, für ihn begann die Feier mit dem VIII. Parteitag 8; die große heroische Zeit des schweren Anfangs und die vielen namenlosen Akteure und Helden hatten bei ihm keinen Platz, und dann die in den Raum geschmetterten Worte: Und was die Mauer betrifft, so wird sie in 100 Jahren noch bestehen, so lange die Ursachen noch vorhanden sind, die zu ihrer Errichtung geführt haben. 9 Ich wäre bald in den Boden versunken, so habe ich mich geschämt. Es kann also gesagt werden, die Staatsführung war nicht fähig, die DDR weiter zu führen in den schweren Wasserläufen, in die sie geraten war, sie war Ballast und Bremsblock und musste weg. Der Zeitpunkt war überreif. Ich habe ein Tagebuch des Ablaufs jener Tage geschrieben und muss feststellen, dass in den Demonstrationen, Kundgebungen, Versammlungen im Vordergrund stand: Wir wollen eine bessere DDR, wir wollen Reformen, weg mit der Führung. Es galt überall die Hauptlosung „Wir sind das Volk!“ Nirgends wurde die Forderung nach Einheit und Eintritt in die Bundesrepublik erhoben. Erst später aufgrund bestimmter äußerer Entwicklungen wurde plötzlich innerhalb weniger Stunden die Losung umgewandelt in: „Wir sind ein Volk!“ Und da begann dann offen der Todesstoß gegen die DDR. Damit komme ich zu den äußeren Faktoren des Untergangs der DDR. Zeilen vom Original wurden hier gekürzt/weggelassen. Am 7.10.1989. 8 Fand in der Zeit vom 15. bis 19. Juni 1971 in Ost-Berlin statt. Dort verkündete Honecker die „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ als neuen politischen und wirtschaftlichen Kurs des SEDRegimes. Ulbricht nahm an diesem Parteitag nicht teil. Honecker kritisierte in seinem Grundsatzreferat die Abkehr vom Ulbricht-Kurs und betonte die Abgrenzung der „sozialistischen DDR“ vom „imperialistischen Westen“. 9 Honecker sagte das bereits am 19.1.1989. 6 7
577 Das sind: 1. Die fundamentale Veränderung des Kräfteverhältnis zu Gunsten der USA, das lange Zeit existierende Gleichgewicht USA-UdSSR war zerbröckelt infolge des Wettrüstens und des damit verbundenen ökonomischen Niedergangs der UdSSR. Die USA waren es, die die Zeit für reif hielten, durch Beseitigung der DDR und Erosion der sozialistischen Systeme in Osteuropa ganz Europa ihrem Macht- und Einflussbereich zu unterwerfen und die NATAO auf ganz Europa auszudehnen bis an die unmittelbaren Grenzen der SU. Die west- und nordeuropäischen Staaten wollten das nicht! Sie waren an der Existenz von zwei deutschen Staaten als europäisches Gleichgewicht interessiert. Es musste ein erheblicher Druck ausgeübt werden (von George Bush senior insbesondere) 10 auf Margaret Thatcher 11, François Mitterrand 12 u. a., um sie in dieser Frage zumindest zu neutralisieren. 2.
Einer meiner entscheidenden äußeren Faktoren war die starke Wirtschaftskraft der Bundesrepublik mit ihrer stabilen DM. Nachdem Kohl freie Hand bekommen hatte von Bush und von Gorbatschow, konnte er verkünden: Wir geben Euch (den DDRBürgern) das Wertvollste, was wir haben, die DM und zwar nicht irgendwann, sondern sofort!
3.
Die Einwendungen von Finanz- und Währungsexperten beider deutscher Staaten gegen eine sofortige Einführung der Währungsunion wurden ignoriert, das Primat hatte die politische Entscheidung zur Einvernahme der DDR.
4.
Es muss festgehalten werden, dass letzten Endes über die DM die DDR gekauft wurde. Es gab Illusionen bei großen Teilen der Bevölkerung über den damit verbundenen Wohlstand. Größere DM-Zuwendungen wurden auch Gorbatschow und dem ungarischen Ministerpräsidenten Horn gemacht, der die ungarische-österreichische Grenze öffnete. Keine Panzerarmeen und Raketentruppen haben die DDR erobert, sondern die DM!
5.
Letzten Endes war auch der Verrat von Gorbatschow von entscheidender Bedeutung: Die Moskauer Führung hat die DDR freigegeben, hat sie geopfert, und dies war auch der Beginn für den sich folgerichtigen und quälenden Auflösungsprozess des RGW 13 und des Warschauer Pakts.
10 George H. W. Bush senior (1924–2018) war u. a. der 41. Präsident der Vereinigten Staaten (1989–
1993). 11 Margaret Thatcher (1925–2013) war u. a. Premierministerin des Vereinigten Königreichs (1979–1990). 12 François Mitterrand (1916–1996) war u. a. französischer Staatspräsident (1981–1995). 13 RGW war der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe.
578 6.
Wenn Moskau mit der immerhin noch erheblichen Militärkraft (auf dem Boden der DDR stand eine ganze Panzerarmee bereit) den Schutz der DDR offiziell verkündet hätte, wäre der schlagartige Untergang der DDR nicht erfolgt. Der Westen hätte einen Krieg im Zentrum Europas nicht riskiert. Es hätte eine lange Periode politischer Auseinandersetzungen gegeben, auf der Grundlage der Helsinki-Akte über politische Menschenrechte (Wahlen, Meinungs- und Reisefreiheit usw.). 14
7.
Schließlich muss gesagt werden, wobei hier die Bundesrepublik sehr wortkarg ist, dass der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik ein Staatsstreich war: Die Verfassung der Bundesrepublik forderte hierzu eine „gemeinsame Verfassung“. Diese hat es nie gegeben. Versuche seitens der DDR wurden ignoriert. Die Verfassung der DDR hat eine solche Möglichkeit ausgeschlossen. Sie war durch Referendum vom Volk bestätigt, sie galt auch für die Abgeordneten der Volkskammer. Ihr Beschluss zum Eintritt in die Bundesrepublik war Landesverrat und somit ungültig. Niemand hat sie dazu ermächtigt. Die Missachtung des Völkerrechts und aller internationalen Normen war möglich durch das Diktat der USA, den Verrat von Gorbatschow und Jelzin und das entschlossene Handeln von Kohl zum gegebenen Zeitpunkt.
Sowohl die inneren als auch die äußeren Faktoren wirkten zu gleicher Zeit und beeinflussten sich zum Teil. M. E. hatten aber die äußeren Faktoren das Primat. Handlungen und Fehlleistungen einzelner Politiker oder Personen (Ulbricht, Honecker, Krenz, Stoph, Schabowski u. a.) waren von begrenzter Bedeutung. Und eine deutsche Persönlichkeit von wirklich historischer Bedeutung gab es im 20. Jahrhundert m. E. nicht. An dieser Stelle möchte ich diesmal meinen Brief beenden. […] 15 Schreiben vom 30. Januar 2012: Lieber Walter, herzlichen Dank für das mir übersandte Material „Versuch einer Kurzgeschichte der Entwicklung der sogenannten Finanzkrise“ vom November 2011. Ich habe das mit großem Interesse gelesen. Der Abschnitt von Bretton-Woods, seiner Hauptsäulen und die spätere Entwicklung über systematische Auflösung und Zerstörung habe ich ja, ebenso wie Du, im Finanzapparat der DDR miterlebt und verfolgen können. Zu diesem Punkt stimme ich Deinen Ausführungen vollständig zu, möchte aber der Klarheit halber noch einen Gedanken hinzufügen. Die festen Wechselkurse gegenüber dem US-Dollar als Leitwährung waren eine der zentralen Prämissen des Systems. Die Abschaffung der Golddeckung des US-Dollars war die eine Seite. Aber eine gewisse Zeit blieben die festen Wechselkurse noch bestehen. Sie wurden im Gefolge sich schnell ändernder Wirtschaftsbeziehungen zum Hemmnis, denn jede Änderung musste durch formelle Akte der betreffenden Staaten (meist Gesetzesver14 15
1.8.1975 Zeilen vom Original wurden hier gekürzt/weggelassen.
579 öffentlichungen) dokumentiert werden. Die USA führten dann flexible Kursentwicklungen ein, floatende Kurse. Das Kursfloating wurde dann von den USA schamlos ausgenutzt durch die Expansion des Dollars weltweit zur Finanzierung militärischer Präsenz – und dann, um über eine Reihe von Jahren durch die systematische Abwertung des Dollarkurses die Dollarbestände in den anderen Ländern zum Teil dramatisch im Wert zu vermindern. Auf diesem Wege wälzte die USA ein Teil der Finanzierung des Vietnamkriegs weltweit auf andere Länder ab. Unter Ronald Reagan erfolgte dann eine schroffe Kehrtwendung. Er verkündete die Position „des starken Dollars“ und verfügte außerdem eine Kreditblockade aller amerikanischen Banken gegenüber den sozialistischen Ländern, was uns erheblichen Schaden zufügte. Lieber Walter, Du schreibst überzeugend, das heißt verständlich und mit vielen Fakten belegt, dass es von der Politik eine seit der Jahrhundertwende betriebene Deregulierung der Wirtschaft gegeben hat, die den Banken und dem Finanzkapital alles aus dem Weg räumte, was ihrer schwindelerregenden Expansion hinderlich sein könnte. Ronald Reagan, Margaret Thatcher, Gerhard Schröder und Joschka Fischer werden genannt. Deregulierung ist das wuchernde Krebsgeschwür, das alle Bereiche der Gesellschaft berührt. Du nennst die Etappen • • •
2008 Bankenkrise 2010 Staatsschuldenkrise jetzt 2011 bis 2012 Krise des europäischen Währungssystems
Welche Horrorvision steht uns noch bevor? Beim Lesen und Durchdenken dieser Entwicklungen gleiten meine Gedanken in folgende Bahn: Es reicht nicht aus, von Finanzkrise, Bankenkrise usw. zu sprechen. Wir erleben gegenwärtig eine Systemkrise des hemmungslosen und entfesselten Kapitalismus, die alle Bereiche der Gesellschaft und Lebensbereiche der Menschen berührt. Deregulierung als Hauptbegriff könnte noch untersetzt werden mit Privatisierung/Entstaatlichung und Kommerzialisierung aller Lebensbereiche des Menschen. Diese Linien entsprechen der neoliberalen Denkweise als geistiger Ausgangspol für alle Veränderungen der letzten zwei Jahrzehnte. Sie betrifft nicht nur eine Partei (FDP), sondern geht durch alle Schichten der Gesellschaft. Man muss sagen, dass dieser neoliberale Ansatz und die mit den Deregulierungsmaßnahmen bereits eingeleiteten Veränderungen schwere Schäden zu verantworten hat. Das betrifft die Zerstörung des Vertrauens der Bevölkerung zu Politik und Führungskräften in Wirtschaft und Finanzen in die Sicherheit erarbeiteten Vermögens; zur Auflösung zwischenmenschlicher Beziehungen wie Familie und Gemeinschaft. Wenn dem so ist, dass wir es mit einer Systemkrise zu tun haben, bei der die Finanzkrise ein – wenn auch sehr gewichtiger Bestandteil ist – so ergibt sich als Schlussfolgerung: Alle getroffenen und noch vorgesehenen finanziellen Teilmaßnahmen werden nur begrenzt wirken, wenn sie
580 nicht gleichzeitig auf die Korrektur von Fehlentwicklung mit gerichtet sind. 2008 gab es noch ein kurzes Auflodern derartiger Denkansätze, die aber schnell wieder versandeten. Gegenwärtig ist nicht zu erkennen, dass es weder in Deutschland noch in Frankreich und auch nicht von der Europäischen Kommission den Willen gibt, 1. 2. 3. 4.
die tragenden Banken, die international tätig sind, zu vergesellschaften. das System von Investmentbanken zu entflechten und ihre Finanzierung auf die Bedürfnisse der Wirtschaft und des Gemeinwohls auszurichten. fiktive Finanztransaktionen, die zu keiner Wertbildung führen, einzuschränken sowie spekulative Handlungen auszuschalten bzw. zu verbieten. die Bonuszahlung und Gehälter für Führungskräfte auf tatsächliche Leistung längerer Zeiträume zu reduzieren.
Das ist sicher sehr schwierig, erfordert einen längeren Zeitraum, ist mit Widerstand und Kampf verbunden. Aber, wenn hier nichts passiert, wird es für Europa, den Euro und besonders für die Bevölkerung schwere Zeiten geben. Zu dem Krisenmanagement der Bundesregierung, speziell zu Frau Merkel (z. B. Finanzmarktstabilisierungsgesetz, Euro-Rettungsschirm, Euro-Bonds, Sparkurs oder Solidarität) kann ich mich nicht äußern, da ich sie nicht verstehe und sie mich verwirren. Lieber Walter, nochmals besten Dank für Dein Material, das ich nützlich für meine Belange verwenden werde. Herzliche Grüße
Horst Kaminsky
581 Günter Ullrich „Die anhaltende Mangelwirtschaft stand im krassen Gegensatz zu den Dogmen und Parolen in Presse, Funk und Fernsehen und verschlechterte zunehmend Stimmung und Motivation.“
Abb. 75: Günter Ullrich ausführlich zur Staatlichen Versicherung der DDR.
Herr Ullrich, zur „Staatlichen Versicherung der DDR. Von der Gründung bis zur Integration in die Allianz“ ist Ihre Biografie ausführlich von den Autoren dokumentiert, wobei ich folgendes erwähnen möchte: Sie wurden am 22. Juli 1938 in Dippoldiswalde geboren. Nach dem Abitur 1956 absolvierten Sie eine Lehre zum Versicherungskaufmann. Ab dem Jahr 1958 waren Sie in verschiedenen Abteilungen und Positionen der Deutschen Versicherungs-Anstalt und ab 1969 in der Staatlichen Versicherung der DDR tätig. Ab dem Jahr 1979 wirkten Sie als Stellvertreter des Hauptdirektors und als amt. Generaldirektor in der Hauptverwaltung von Ost-Berlin vom 1. Mai 1990 bis zur Gründung der Deutschen Versicherungs AG am 26. Juni 1990. Zu diesem Zeitpunkt wurden Sie Vorstand der Deutschen Versicherungs-AG und ab 1998 leiteten Sie die Zweigniederlassung der Allianz in Leipzig. Nach 45. Berufsjahren im Versicherungswesen verabschiedeten Sie sich im Januar 2001 in die Pensionierung. Welcher Partei gehörten Sie ab wann an? 16 Ich war Mitglied der SED seit dem Eintritt 1966. Wenn man für eine bestimmte höhere Funktion in Ostdeutschland vorgesehen war und das war bei mir 1966 die Funktion eines Direktors der Kreisdirektion Großenhain, dann wurde automatisch diese Frage der Parteizugehörigkeit mit einem besprochen. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt mit dem damaligen Direktor der Bezirksdirektion Dresden einen von mir wegen seiner Führungseigenschaften und menschlichen Qualitäten hoch geschätzten Vorgesetzten in Dresden. Das war der ehemalige Minister für Arbeit und Soziales des Landes Sachsen, Walter Gäbler. 16
Das Gespräch mit Günter Ullrich fand am 21.9.2018 im Dorint Hotel Potsdam statt.
582 Gäbler war zwar kein Versicherungsfachmann, aber er war für mich eine ganz besondere Persönlichkeit. Er war anfänglich SPD-Mitglied und dann logischerweise ab dem Jahr 1946 SED-Mitglied. Er sprach mich an: „Wir haben Sie für die Funktion als Direktor vorgesehen.“ Zu diesem Zeitpunkt war ich 27 Jahre alt. Ich möchte klarstellen, dass er nicht zu mir meinte: „Das geht nur, wenn ...“, sondern er formulierte: „Wir würden es gerne sehen, wenn Sie Mitglied ‚unserer Partei‘ sein würden.“ So hieß das damals. Ich habe mich dann mit zwei oder drei Leuten beraten, denen ich im Berufsleben vertraute. Meine Eltern bezog ich mit ein, um von denen zu erfahren, dass sie als selbständige Handwerker logischerweise nicht gerade begeistert waren. Aber ansonsten waren Leute und Kollegen Mitglieder der SED, die ich gut kannte und schätzte, dass ich da keinen Grund sah, es nicht ebenfalls zu tun. Hatten Sie Parteiämter inne oder begrenzte sich diese Zugehörigkeit auf Ihre Mitgliedschaft? Ich war Mitglied und war lange Zeit von der Richtigkeit der proklamierten Werte und Ziele überzeugt. Wann und mit welchem Grund traten Sie aus der SED aus? Ich bin im Dezember 1989 ausgetreten. Es gab so eine erste kleine Welle von Rückgaben der Parteidokumente an die Kreisleitung. Das war etwa einen Monat nach Grenzöffnung. Das damit verbundene Chaos in den Führungsgremien der Partei, die Verunsicherung in den Leitungsgremien der SED in den Betrieben sowie die immer stärkeren und unüberbrückbaren Diskrepanzen zwischen Ansprüchen und Wirklichkeit waren die Hauptgründe. Erlauben Sie mir eine indiskrete Frage: Wurde eine sogenannte „Stasi-Akte“ beim MfS über Sie geführt? Stellten Sie einen Antrag auf Akteneinsicht, ob diese überhaupt vorliegt? Das habe ich nie beantragt, weil es mich nicht interessiert hat. Dass es eine Akte gibt, da bin ich mir sicher. Ich bin mit diesem Thema immer nur dann konfrontiert worden, wenn mich in den 90er Jahren Leute angesprochen haben, die mich auch verdächtigt hatten, evtl. für die Firma gearbeitet zu haben. Ausnahmslos haben diese Leute dann nach ihrer Akteneinsicht reflektiert, dass sie keine Vermerke von mir gefunden hätten. Sie haben sich dann teilweise auch bei mir entschuldigt. Andererseits hätte ich aber auch gar nicht ausschließen können, dass solche existieren. Nicht, weil ich irgendwie ein einbezogener Mitarbeiter war, sondern weil oft die Personalabteilungen Personalvermerke, wie z. B. Leistungseinschätzungen und Beurteilungen, die jeder Leiter für seine Mitarbeiter regelmäßig schriftlich für die Personalakte zu machen hatte, an die Firma weiterreichten.
583 Wie erlebten Sie am 18. Oktober 1989 den Rücktritt von Honecker? Oder war es für Sie ein Putsch an dem Staatsratsvorsitzenden? Vorab: Ich muss sagen, dass ich relativ weit weg war und dass ich gar nicht so hautnah mitbekommen habe, wie der Rücktritt im Politbüro oder im Zentralkomitee der Partei vonstattengegangen ist. Ich glaube, es war eine allgemeine Unzufriedenheit verschiedener Mitglieder aus dem Zentralkomitee mit der Sichtweise und der Führung durch E. Honecker, der bestimmte Prozesse einfach nicht sehen und begreifen wollte und sich der Wirklichkeit der Entwicklung in der DDR verschlossen hatte. Er lebte wohl in seiner Welt, wie sie nach „seinen Idealen“ sein sollte und wie sie nach seinen ursprünglichen Vorstellungen und auch den Vorstellungen des „großen Bruders“ Sowjetunion viele Jahre deklariert worden war. Die Informationen, die ihm von den verschiedenen Ministerien und Forschungsinstituten auf den Tisch organisiert wurden, trugen nach meinen Wahrnehmungen überwiegend den Charakter von Schönfärberei. Ob das die Produktivität, die Devisenknappheit, die Dienstleistungen, der Handel, der Materialmangel oder andere Fragen waren, ein Gespür für die Realität im Lande hatte er wohl längst nicht mehr. Aus diesem Grunde kann ich mir vorstellen, dass verschiedene Mitglieder des Zentralkomitees, die das realistischer sahen, weil sie teilweise auch dafür verantwortlich waren, gegen ihn geputscht haben. Wer? Am ehesten würde ich es Gerhard Schürer zugetraut haben, aber auch einigen Sekretären der Bezirksleitungen der SED auf Grund ihrer Verbindung zur Basis. Ich würde auch meinen, dass Egon Krenz als „Kronprinz“ und flexibler im Denken und Handeln glaubte, das „lecke Schiff“ noch eine Weile geradeaus steuern zu können. Aber wer sonst, da war ich wirklich zu weit weg, als dass ich interne Kenntnisse haben könnte. Krenz übernahm als Staatsratsvorsitzender, als Generalsekretär, als Vorsitzender des nationalen Verteidigungsrates, als Volkskammerabgeordneter und Politbürochef durch eine Ämterkumulierung alle Posten von Honecker. Würden Sie ihn bitte kurz charakterisieren und seine politische Zeit in den höchsten Ämtern der DDR, die fast 50 Tage andauerte, bilanzieren? Von der Person Egon Krenz war ich ebenfalls zu weit weg, um ihn sachkundig einschätzen zu können. Krenz war nach meiner Wahrnehmung ein typischer FDJ-Funktionär, der aus der Jugendbewegung hervorgegangen war und der nach dem Motto lebte und arbeitete: „Vorwärts – wir siegen! Für die ‚Entwickelte Sozialistische Gesellschaft‘!“ Bitte, ich will jetzt nicht seine intellektuellen Fähigkeiten in irgendeiner Art und Weise in Frage stellen. Die kann ich ehrlich gesagt auch überhaupt nicht beurteilen. Er war gewiss nicht so verknöchert und nicht so wirklichkeitsfremd wie Honecker. Aber er war von der Grundidee richtungsgleich und glaubte wohl, dass mit dem Elan der Jüngeren die schwere Krise des Systems überwunden werden könnte.
584 Am 9. November 1989 kommt es zur Grenzöffnung: Ein Mauerfall war es zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Diese bestand noch etliche Monate weiter. Es wurden die Grenzübergangsstellen (GÜSt) – zuallererst ab ca. 23.30 Uhr die Bornholmer Straße – von Ost nach West geöffnet. Wie erlebten Sie persönlich diesen welthistorischen Tag? Vorab folgende Anmerkung: Die Grenzöffnung und der Fall der Mauer waren für mich bisher immer identisch, selbst wenn die Entfernung der Mauer als Bauwerk später erfolgte. Dieser Tag ist für mich persönlich nicht als besonderer Höhepunkt in Erinnerung. Ich habe das mit einer gewissen Erleichterung zur Kenntnis genommen. Ich bin aber nicht unterwegs gewesen an diesem Abend, nicht zur Grenze gefahren oder nach West-Berlin oder ähnliches. Nicht, weil ich die Grenzöffnung nicht wollte, sondern weil mir der Glaube fehlte, dass das auf Dauer so funktionieren könnte. Was meinen Sie konkret? Ich hatte Zweifel, ob das Zusammengehen dieser beiden deutschen Staaten so schnell funktionieren kann. Bei diesen gewaltigen Unterschieden in der Produktivität, in der Kultur sowie in der Mentalität der Menschen. Aber unabhängig davon war wohl der wichtigste Faktor in diesem Zusammenhang, dass wir als Familie nie Verbindungen mit westlichen Bürgern hatten. Wir hatten dort keine Verwandtschaft, keine Freunde, keine Bekannten. Meine Mentalität ist ohnehin generell Zurückhaltung, nach dem Motto „Erstmal in Ruhe abwarten. Wir werden sehen, wie sich die Dinge entwickeln“. Zwei oder drei Tage später sind wir schon mit dem Fahrrad nach West-Berlin gefahren, meine Frau, unser Sohn und ich. Aber zu diesem frühen Zeitpunkt gehörten wir nicht zu den euphorischen DDR-Bürgern, die mit großer – und aus heutiger Sicht berechtigter – Begeisterung zum Grenzübergang und mit dem Trabi über die Grenze gefahren oder gelaufen sind. Nicht, weil ich dieses alte System besonders verehrt hätte, sondern weil ich glaubte, dass die folgenden Tage Klarheit darüber bringen, was Schabowski für uns alle und für ihn selbst überraschend vorgelesen hatte. Welches Datum manifestiert für Sie den ultimativen, unumkehrbaren Zeitpunkt, dass es zu einer deutschen Einheit kommen wird oder zumindest der Prozess mittlerweile bereits insoweit fortgeschritten ist, dass er nicht mehr abgewendet werden kann? Das war für mich das späte Frühjahr 1990, als für mein Verständnis Helmut Kohl zeitlichen Druck machte. Bis dahin, also etwa bis Mai, galt für mich immer noch die These „Es wird ein längeres Nebeneinander der beiden deutschen Staaten geben.“ Insofern werden sich Entwicklungen vollziehen, die die Annäherungen über drei bis fünf Jahre vielleicht mit sich bringen. Anders ausgedrückt: Ich gehörte zunächst bis Mai 1990 zu denen, wenn ich mir das rückblickend überdenke, die sagten: Den Sozialismus mit marktwirtschaftlichen Elementen zu reformieren und von den Fehlentscheidungen, die getroffen wurden, meinetwegen zur Subventionspolitik, zur Preispolitik und zu der Überwachung der Bürger, unverzüglich Abstand zu nehmen. Also die Konföderation war aus meiner Sicht bis Mai 1990 naheliegender als die Vereinigung der beiden deutschen Staaten. Ab
585 Mai ging das Tempo allerdings vehement in diese Richtung und alle Schritte, die mit dem Einigungsvertrag und der Tätigkeit von Walter Siegert im Zusammenhang stehen, sind mir dann erst bewusst geworden. Das hat auch mit unserem Konzept als Versicherung etwas zu tun. Ich war in der Hauptverwaltung der Leiter der Arbeitsgruppe, die sich mit der Umgestaltung des Versicherungswesens beschäftigt hat. Wir glaubten, es gibt nichts anderes als ein längerfristiges Joint-Venture – aus der Not heraus geboren. In erster Linie aus dem Devisenmangel, nicht aus den gesellschaftlichen Verhältnissen schlechthin. Wir hatten einfach keine Möglichkeit, z. B. Kraftfahrzeugschäden auszugleichen, die DDRFahrzeuge an westdeutschen Fahrzeugen verursachten. Wir mussten für jeden billigen Aufwand ab zehn oder zwanzig DM große Anträge stellen, die zu genehmigen waren. Dann wurden sie auch nur bedingt genehmigt zum Nachteil einiger geschädigter westdeutscher Bürger. Das war der springende Punkt, warum wir meinten, diese Notsituation mit einem starken, finanzstarken, devisenstarken Partner schnell überwinden zu müssen. Ansonsten zweifelte ich bis zum Mai/Juni oder sogar noch bis zum Einigungsvertrag noch daran, dass es ein geeintes Deutschland in so kurzer Zeit geben könnte. Am 13. November 1989 wurde Hans Modrow zum Ministerpräsidenten der DDR gewählt. Am 18. November wurde er vereidigt und verlas seine Regierungserklärung. Er stellte ein neues Ministerteam sowie Kabinett zusammen. Bitte bilanzieren Sie seine Amtszeit bis zur Übergabe an die letzte DDR-Regierung von Lothar de Maizière. Ferner charakterisieren Sie Hans Modrow. Welche Erfolge und Misserfolge würden Sie bei Modrow feststellen? Wie erlebten Sie u. a. die Umbenennung/Umgestaltung des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) in das Amt für Nationale Sicherheit (AfNS), die SED-Parteirettung im Dezember oder die erfolglose Bittstellung im Februar 1990 in Bonn, um einen „15-Millarden-Solidarbeitrag“ zu erhalten? Hans Modrow, dem ich persönlich in meinem Leben nie begegnet bin, war nach allem, was ich gelesen und gehört habe, der personifizierte Reformer des Sozialismus. Er hat damals nicht und für mein Verständnis auch bis heute nicht die Marktwirtschaft in ihrer jetzigen Prägung als sein Ziel verfolgt, sondern er glaubte m. E., dass man den Sozialismus in der bisherigen Form von seinen Schwächen und Mängeln befreien, ihn besser machen kann. Insoweit würde ich, was ich auch aus seiner Dresdener Zeit als Erster SED-Bezirkssekretär in Dresden weiß, ihm zutiefst innere Ehrlichkeit, ehrliche Überzeugung unterstellen, verbunden auch mit einer Art und Weise des Umgangs mit den Problemen und den Bürgern der DDR, der sich wohltuend von den Verhaltensmustern einiger zentraler Funktionäre, z. B. Mittag oder Honecker, abhob. Er hatte durchaus Sympathien in der ostdeutschen Bevölkerung, speziell im Raum Dresden. Man hörte ihm zu, wenn er zurückhaltend, bescheiden, aber klar in seiner inneren Grundposition – letzten Endes musste er daran scheitern – seine künftige Entwicklung des Sozialismus erläuterte. Insofern war diese Zeit meiner Ansicht nach gekennzeichnet von einem Mann der ruhigen Hand, der auch Ausschläge nach der einen oder anderen Richtung in diesen hektischen Monaten, in denen er die Verantwortung trug, vermieden hat. Ich habe ihn persönlich
586 nie getroffen. Ich weiß nur, dass er – und das ist möglicherweise auch ein Tatbestand oder ein Faktor für Walter Siegert – zu jener Generation gehört: „Einmal Ideale, immer Ideale.“ Da wird man Modrow bis zum Ende seiner Tage nicht davon abbringen. Dass das letzten Endes nicht funktionieren konnte, wird er wohl heute ähnlichsehen. Aber deswegen gibt er seine Ideale dafür nicht auf. Ab dem 12. April 1990 übernimmt der erste, aber wiederum auch letzte frei gewählte Ministerpräsident der DDR, Lothar de Maizière, die Regierungsgeschäfte. Er wurde am 18. März im Allianz-Bündnis von den Ostdeutschen gewählt. Bitte charakterisieren Sie Lothar de Maizière. Wie bilanzieren Sie seine Amtszeit bis zum Tag der deutschen Einheit im Jahr 1990? De Maizière, den ich auch persönlich nie getroffen habe, war – und auch hier greife ich nur auf meine Kenntnisse aus den Medien zurück – ein Mensch mit einem intellektuellen Vermögen, der richtig erkannte und wusste, dass es in einer sehr angespannten Lage und anspruchsvollen Zeit des Umbruchs die große Chance Ostdeutschlands war, auf den von Kohl gesteuerten Zug aufzuspringen. Er hat dabei für mein Verständnis und Gefühl seine eigene Persönlichkeit in Teilen aufgegeben und sich in gewisser Weise als Überbringer der Botschaften für Ostdeutschland verstanden. Für eine eigene Position im Sinne von „separatem ostdeutschen Weg“ oder gar Widerspruch konnte er m. E. mangels Erfahrung wenig tun. Das Hinterland, das er zu vertreten hatte, war viel zu schwach, als dass er hätte ein gleichrangiger Partner für Kohl sein können. Wenn Kohl Frau Merkel damals als „mein Mädchen“ bezeichnet hat, dann könnte ich mir vorstellen, dass er hätte sagen können „mein de Maizière“, im besten Sinne dieser Worte in dieser Zeit. Wann, wie und wodurch lernten Sie Walter Siegert kennen? Walter Siegert lernte ich Anfang der 80er Jahre bei Veranstaltungen des Ministeriums der Finanzen der DDR (MdF) mit nachgeordneten Betrieben, zu denen auch die Staatliche Versicherung der DDR (StV) gehörte, kennen. Als Stellvertreter des Generaldirektors der StV war mein unmittelbarer Ansprechpartner im Ministerium der zuständige Stellvertreter des Ministers, Helmut Sandig. Dienstliche Angelegenheiten mit dem Minister und dem Staatssekretär wurden prinzipiell durch den Generaldirektor Günter Hein wahrgenommen. Bitte charakterisieren Sie Walter Siegert. Walter Siegert besitzt fundierte Kenntnisse über Wirtschaft und Finanzen der DDR. Darüber hinaus verfügt er über ein großes Allgemeinwissen zu historischen und internationalen Entwicklungen von Politik und Wirtschaft. Siegert ist ein interessanter und interessierter Gesprächspartner mit der Fähigkeit, zuhören zu können. Er argumentiert auf der Basis eines soliden Wissens ohne Vorurteile. Siegert beschäftigt sich eingehend mit der aktuellen politischen Literatur, verarbeitet den Inhalt kritisch, bezieht eine klare Position
587 und besitzt eine stark ausgeprägte Sozialkompetenz. Für mich ist Siegert eine Vertrauensperson. Welche beruflichen sowie privaten Kontakte pflegten bzw. pflegen Sie zu Walter Siegert? Engere, berufliche Kontakte mit Siegert ergaben sich für mich erst nach Beendigung der Tätigkeit des Generaldirektors der StV zum 1. Mai 1990. Als amtierender Generaldirektor hatte ich ab diesem Zeitpunkt mehrere Gespräche mit Siegert zur Vorbereitung des Joint Ventures, u. a. auch bei Finanzminister Romberg. Nach der Gründung der Deutschen Versicherungs AG (DV) am 26. Juni hatte ich als Vorsitzender des Vorstands dienstliche Kontakte mit ihm in seiner kurzzeitigen Funktion als Mitglied des Aufsichtsrates. Private Kontakte zwischen Siegert und mir ergaben sich vor 1990 nicht. Sie entstanden erst mehr oder weniger sporadisch nach meinem Ausscheiden aus dem Beruf nach 2001. In der Regel trafen wir uns einmal jährlich, zusammen mit Dr. Uwe Haasen, dem ehemaligen Vorsitzenden des Vorstandes der Allianz, München. Als Sie Walter Siegert durch Treffen und Gespräche intensiver kennen lernten, war es Ihnen dabei wichtig, wie sein bisheriger Werdegang war? Er war wie Sie ein Mitglied in der SED und schied ebenso im Dezember 1989 aus der Partei aus. Gab es irgendwelche Erkundigungen über seine Person wegen einer potentiellen Zusammenarbeit seitens der Staatlichen Versicherung der DDR? Nein. Diese Zeit war dadurch gekennzeichnet, dass wir alle in einer Weise mit uns selbst und den Prozessen beschäftigt waren, dass wir uns auch um diese Dinge im Grunde genommen überhaupt nicht kümmerten. Da ging es nicht in erster Linie, sage ich mal, um Haltung. Obwohl es gut gewesen wäre, wenn es darum gegangen wäre. Aber es ging in erster Linie ums Überleben. Da habe ich mich mit Walter Siegert in dieser Form überhaupt nicht beschäftigt. Ich weiß nur, dass er gelegentlich wie alle Führungskräfte dieser Ebene Informationen und Berichte an das Sekretariat der Kreisverwaltung der Partei abzugeben hatte. Wahrscheinlich über seinen Verantwortungsbereich. Mit der Staatlichen Versicherung hatte das so gut wie gar nichts zu tun, weil wir einen anderen Stellvertreter des Ministers als Ansprechpartner hatten. Bei dem Übernahmeprozess von ca. 30 Millionen Versicherungsverträgen mit einem Beitragsvolumen im Jahr 1989 von 7,5 Milliarden DDR-Mark von der Staatlichen Versicherung der DDR an die Münchner Allianz Versicherung gab es keine öffentliche Ausschreibung. Weitere Mitbewerber wie beispielsweise die Colonia, Nordstern, Württembergische Feuer, R + V, Gothaer usw. hatten ebenfalls ihr Interesse bekundet. Warum ist es nicht zu einem Bieterwettbewerb über das Filetstück der Staatlichen Versicherung der DDR gekommen? Das Thema Ausschreibung ist ein Thema oder ein Begriff, den es zu DDR-Zeiten überhaupt nicht gab, weil bekanntlich kein Markt existierte. Ich habe das persönlich weder
588 gekannt, noch hätte ich das für zweckmäßig gehalten. Für mich gab es im Grunde genommen nur drei Hauptkriterien, die mir in dieser extrem kurzen Zeit wichtig waren: Erstens: Wir müssen schnell mit einem großen und finanzstarken Versicherer ins Geschäft kommen, sodass der laufende Betrieb mit umfangreicher personeller Unterstützung, moderner Technik und hoher Produktivität im Interesse der Kunden fortgesetzt werden kann und nicht ein großer Betrieb mit 160 Niederlassungen im Chaos versinkt. Täglich fielen tausende Schäden auf den Straßen, an Gebäuden oder in Haushalten, tausende Unfälle oder Abläufe und Kündigungen zu Lebensversicherungen usw. an, die weiterbearbeitet werden mussten. Zweitens: Wir konnten uns als – wenn man so will – Monopolisten überhaupt nicht vorstellen, dass diese Gesellschaft in Länder, nach Sparten oder wie auch immer gesplittet wird. Selbst wenn 5 weitere Interessenten ein „Stück vom Kuchen“ abbekommen hätten, 95 andere Marktteilnehmer wären trotzdem leer ausgegangen und unzufrieden gewesen. Drittens: Wir hielten es für nicht akzeptabel, dass 13 000 hauptberufliche Mitarbeiter in irgendeiner Weise deswegen überflüssig werden, weil man im Osten nur noch einen Vertrieb/ Verkauf organisiert und im Westen die Verarbeitung vornimmt. Das waren die drei Positionen, weswegen meine Kollegen und ich einvernehmlich mit der Arbeitnehmervertretung und unterstützt durch W. Siegert von Beginn an den Focus auf die Allianz Versicherung richteten, die bereits vor dem Zweiten Weltkrieg in Ostdeutschland sehr bekannt und erfolgreich war. Natürlich kommt die historische Seite hinzu: Die Niederlassungen Dresden und Magdeburg waren vor dem Krieg viele Jahre die erfolgreichsten deutschen Niederlassungen der Allianz. Sie hatten eigene Sportplätze und eigene Kultureinrichtungen; sie förderten Sport und Kultur. Ich habe in den 50er Jahren noch mit Leuten zusammengearbeitet, die bereits vor dem Krieg in der Allianz bzw. bis zum Kriegsende gearbeitet haben. Insofern war das Größte, was uns passieren konnte, mit dieser Gesellschaft zusammen zu kommen. Bei den Verhandlungsgesprächen, wo Sie und Walter Siegert involviert waren, waren Modrow oder de Maizière dabei bzw. zu einem späteren Zeitpunkt beteiligt? Nein. Waren bei den Verhandlungen immer die Finanzminister Uta Nickel in der ModrowRegierung bzw. Walter Romberg in der de Maizière-Regierung anwesend? Nein. Siegert war in der Phase Vorvertrag und bei den Beschlüssen des Ministerrates Gesprächspartner. Siegert war dann derjenige, welcher unter Finanzminister Romberg in der Zeit von de Maizière und Günther Krause weiterverhandelte. Die Finanzminister sind mit Sicherheit zu diesem Thema informiert worden. Bedenken Sie bitte, von denen in dieser Zeit zu bewältigenden Themen, war das ein absolutes Nebengleis, was wir da gefahren sind. Da war eine unvorstellbar große Fülle von Entscheidungen zu treffen. Es lief eben wirklich nur auf der einen Ebene ab. Ich weiß nur, dass parallel die Vorstände der Allianz, insbesondere Dr. Haasen und Dr. Schiefer, mit der Regierung in Bonn, Bundes-
589 kanzler und Finanzminister sowie mit Günther Krause mehrere Gespräche führten. Dort war ich aber nicht gegenwärtig. Das lief ohne mich ab. Bereits im Herbst ´89 erarbeiteten Sie ein Konzept einer Versicherungsreform und leisteten damit Pionierarbeit. Dieses Konzept ging dann im Spätherbst, im Dezember an Prof. Dr. Luft über, die diese Überführung des Staatsmonopols in Wirtschaftsmonopol basierend auf einem Fortbestehen der DDR verfolgte. Warum scheiterte dieses Konzept nachher in der Umsetzung? Dem würde ich widersprechen, dass das scheiterte. Der Grundzug, der ab September 1989 erarbeitet wurde, war: Wir sind nicht in der Lage, unter den gegenwärtigen Bedingungen den Geschäftsbetrieb noch für längere Zeit aufrecht zu erhalten. Das hing mit der extremen Mangelwirtschaft zusammen, beispielsweise veralteter Technik, offline Betrieb, fehlender Treibstoff für Dienst-PKW, fehlendes Büromaterial, abrissreife Gebäude, verkommene Baracken usw. Folglich mussten wir eine Lösung finden, wie wir den Betrieb stärken können, um überhaupt noch Existenz- und Arbeitsmöglichkeiten zu erhalten. Daraus entstand das Konzept des Joint-Ventures mit einem leistungsstarken Partner. Dieses Konzept ist vom Herbst 1989 bis Frühjahr 1990 stets verfeinert, verbessert und konkretisiert worden. Auch erlangte der gesamte Prozess nach Einschaltung der Allianz ab Januar 1990 ein rechtliches Fundament nach bundesdeutschem Recht sowie eine höhere Geschwindigkeit. Im Grundsatz sind jedoch unsere damaligen Vorstellungen realisiert worden. Gleichwohl ergaben sich aus der gesellschaftlichen Entwicklung und dem Einigungsvertrag zwei grundlegende, vorher nicht erkannte, Veränderungen: Einerseits war im Sommer 1990 nicht mehr die Staatliche Versicherung Partner der Allianz, sondern die inzwischen gegründete Treuhandanstalt und andererseits erforderte der anstehende Prozess der Privatisierung eine Mehrheitsbeteiligung der Allianz von 51 % an der am 26. Juni 1990 neu gegründeten Deutschen Versicherungs AG. War für Sie Walter Siegert aus dem Ministerium der Finanzen als Staatssekretär und dann als geschäftsführender Finanzminister ein Glücksgriff als Verhandlungspartner? Ja. Nach meiner Wahrnehmung kann ich heute sagen, dass Walter Siegert ein Glücksgriff war, weil Siegert wusste, welche Verantwortung die Staatliche Versicherung für die Bevölkerung der DDR zu tragen hatte und dass die Zeit drängt. Neben Kompetenz und Urteilsvermögen ist Siegert von einem ausgeprägten sozialen Bewusstsein gesteuert. Er sah seine Verantwortung m. E. gerade deshalb auch darin, etwas zwingend Notwendiges für die vielen Millionen Versicherungskunden und die 13 000 Mitarbeiter der Staatlichen Versicherung zu tun. Andererseits konnten wir mit dem Staatssekretär allein keine Entscheidungen vorbereiten, von denen nicht vorher die Parteileitung Kenntnis erhalten hatte. Da gab es einen Ersten Kreissekretär der SED, der hieß Joachim Klinke, dem trug ich das Konzept vor und er erkannte zu dem Zeitpunkt auch, dass es keine Alternative zu unseren Grundüberlegungen und zu einem Joint-Venture gab. Aber in der Argumentation auf Regierungsebene sowie im Umsetzungsprozess war Siegert für das Management
590 der Allianz und für uns der entscheidende „Macher“. Westdeutsche Manager glaubten in Gesprächen mit mir oft, die Staatliche Versicherung sei eine eigenständige Gesellschaft. Sie überschätzten unsere Eigenständigkeit und Entscheidungsmöglichkeiten gewaltig. Wir waren quasi eine Abteilung des Finanzministeriums und wurden von dort zentralistisch gelenkt und geführt. Gerade deshalb waren Engagement und Unterstützung des Staatssekretärs von besonderem Wert. Wie sieht Ihre Wahrnehmung über Walter Siegert als Staatssekretär aus? Siegert nahm ich als Staatssekretär pragmatisch und sachorientiert wahr. Ich erlebte das z. B. bei der Klärung von Problemen, Engpässen und Havarien in dem ihm unterstellten Datenverarbeitungsbetrieb der Finanzorgane. Er setzte sich mit Nachdruck, Sachkenntnis und operativem Geschick und letztlich auch Erfolg für die Belange der Nutzer und deren Kunden ein. Welche Erfolge würden Sie Walter Siegert in Ihre gemeinsame Zeit zuordnen? Siegert hat entscheidenden Anteil an der Privatisierung der Staatlichen Versicherung. Er war ab Januar/Februar 1990 unmittelbar an den konzeptionellen Überlegungen des Generaldirektors der StV, Günter Hein, beteiligt. Als amtierender Minister der Finanzen vertrat er im Ministerrat der Regierung Modrow am 8. März mit Erfolg den „Beschluss zur Umstellung der Arbeit der StV auf marktwirtschaftliche Prinzipien“. Anschließend nahm Siegert aktiv auf die Beschleunigung des Prozesses Einfluss, weil er den möglichen Zusammenbruch der StV durch die zunehmende Abwerbung von Mitarbeitern und die massenhaften Kündigungen, speziell von Lebensversicherungen (3 Millionen Verträge in ca. 9 Monaten nach Grenzöffnung), mit katastrophalen Folgen für die Versicherten befürchten musste. Siegert kam frühzeitig zu der Erkenntnis, dass eine eigenständige Sanierung der StV, wie sie die Professoren Heinrich Bader (Berlin) und Schulze (Halle) vorgeschlagen hatten, durch den Mangel an Know-how sowie finanziellen und materiellen Kapazitäten in der Kürze der Zeit unrealistisch war. Im entscheidenden Gespräch vor Vertragsunterzeichnung am 26. Juni überzeugte Siegert Minister Walter Romberg in meinem Beisein von der zwingenden Notwendigkeit eines schnellen Handelns. Ausschlaggebend dafür war in erster Linie die Verantwortung für die Erhaltung des Versicherungsschutzes praktisch für alle Bürger der DDR, aber ebenso seine soziale Verantwortung für rund 13 000 Mitarbeiter der StV. Wie nahmen Sie Siegert als Staatssekretär in der Regierung „de Maizière“ wahr? Die Rolle Siegerts als Staatssekretär habe ich konkret nur über das Projekt der Privatisierung der StV wahrgenommen. Aus Gesprächen und Veröffentlichungen jener Zeit glaube ich aber zu wissen, dass Siegert als versierter Fachmann und Ratgeber galt, der die Entwicklung des Finanzsystems der DDR im Detail kannte und dem auch die gravierenden Mängel und Schwächen (z. B. Devisensituation, überzogene Subventionspolitik, Nutzung von Geld, Kredit und Preis für eine effizientere Wirtschaft) bewusst waren.
591 Durch sein profundes Wissen über Haushalt und Finanzen der DDR galt Siegert als „gesetztes Mitglied“ der Expertenkommission für die Beitrittsverhandlungen zum Einigungsvertrag. Er hat sich u. a. auch dafür eingesetzt, bei Lebensversicherungen ein Umtauschverhältnis von „1 zu 1“ zu erreichen, was jedoch wegen der sehr hohen zusätzlichen finanziellen Belastungen abgelehnt wurde. Wie verfolgten Sie das Leben von Walter Siegert – nach seinem Ausscheiden – weiter? Siegert hat nach dem Ausscheiden aus der Politik m. W. einige Zeit für ein Bauunternehmen gearbeitet; die exakte Zeit ist mir nicht bekannt. Aus unseren Treffen und Gesprächen weiß ich, dass er nach wie vor enge Verbindungen zu Wirtschaftswissenschaftlern pflegt, Vorträge besucht, sich an Diskussionen beteiligt und eigene Ausarbeitungen anfertigt. Später kam es zu Ermittlungen der Staatsanwaltschaft gegen Sie. Der Verdacht der persönlichen Bereicherung stand im Raum. Wie erinnern Sie sich? Die Anzeige stammte von einem Herrn Edgar Kliemann. Das war ein ehemaliger Professor der Humboldt-Universität Berlin; zuvor arbeitete er in der Hauptverwaltung der Staatlichen Versicherung in der Finanzabteilung. Inhalt seiner Anzeige war, dass „die Staatliche Versicherung unter Wert verschleudert worden“ wäre. Ermittelt wurde in diesem Zusammenhang wegen Bestechlichkeit und Untreue verschiedener Verantwortlicher, auch meiner Person. Für mich entbehrte diese Untersuchung und Ermittlung jeder inhaltlichen Grundlage. Ich wusste natürlich, alleine die Auffassung reichte nicht; die Vorwürfe mussten entkräftet werden. Aber schon alleine die „Anschuldigungen“, dass ich mit einem Kugelschreiber und einem Telefon bestochen worden wäre, konnten schnell widerlegt werden. Die „hochkarätigeren Anschuldigungen“, ich hätte einen Dienstwagen erhalten und wäre von der Allianz mit einer Reise in den Schwarzwald bestochen worden, konnten wir ebenfalls schnell entkräften, weil ich die Reise nachweislich selbst bezahlt hatte. Als Dienstwagen fuhr ich immer noch den alten Lada aus DDR-Zeiten. Die Ermittlungen wurden nach relativ kurzer Zeit dazu eingestellt. Auch Siegert wurde juristisch verfolgt. Kläger war die damalige Colonia Versicherungs AG. Es existierten keine Beweise. Das Verfahren wurde eingestellt, behielt aber einen Beigeschmack für Siegert. War dieser Prozess berechtigt? Bei Siegert weiß ich gar nicht, wie die Verdächtigung im Einzelnen ausschaute. Es war bekanntlich ein Rundumschlag. Da waren mindestens 20 Leute davon betroffen. Bei Siegert hing es meiner Ansicht nach damit zusammen, dass er von der Allianz für sein Engagement für diesen „Deal“ Geld bekommen haben sollte. Das konnte allerdings nach meiner Kenntnis ebenfalls schnell entkräftet werden. Ich habe das aber nicht weiterverfolgt. Jeder hatte in dieser Zeit mit sich selbst zu tun, mit seiner Arbeit und mit seinen Anwälten. Inhaltlich und nervlich hat das aber Siegert nach meiner Wahrnehmung schon stark mitgenommen. Er war betroffen und verletzt, dass ihm überhaupt so etwas zugetraut
592 wurde, sich mit Geld bestechen zu lassen, um seine Regierungstätigkeiten zu erledigen. Es wird oft unterstellt, als wäre für Ostdeutsche Geld ein ganz entscheidender Faktor ihres Lebens gewesen. Zweifellos, ohne Geld ist das Leben schwieriger. Aber im Grunde genommen ist die ostdeutsche, historische und kulturelle Entwicklung eine andere als in Westdeutschland. Das Ost-Geld zu haben, war für viele Ostdeutsche – zumindest in meiner Umgebung – kein besonderer Vorzug. Wir konnten sowieso nicht viel dafür kaufen. Was wir brauchten, waren Lebensmittel, Kleidung, eine Reise im Inland, eine kleine Wohnung mit niedriger Miete, einen Trabant oder einen Wartburg und das war es dann auch schon. Der Spiegel berichtete im Jahr 1991, dass seitens der Staatsanwaltschaft im Vorwurf des Verschleierns gegenüber der Behörde der Staatlichen Versicherung der DDR ermittelt wurde. Es ging unter dem Begriff „Rentenfonds der PDS“ um die Summe von 750 Millionen DDR-Mark, die kurz vor der Auflösung in die Summe von 375 000 DM zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion umgewechselt wurde. Welche Erinnerungen haben Sie daran? Die Staatliche Versicherung war in ihrem Bereich Sozialversicherung u. a. auch zuständig für die Altersversorgung von Mitgliedern der technischen und wissenschaftlichen Intelligenz sowie von Parteien und Massenorganisationen. Das Zentralkomitee der SED hat im März 1990 an die Staatliche Versicherung, Sozialversicherung, zur Versorgung ihrer Mitarbeiter diesen Geldbetrag auf ein Konto bei der Staatsbank der DDR eingezahlt. Da allerdings die Gründung der Deutschen Versicherungs AG am 26. Juni den Bereich Sozialversicherung als „versicherungsfremden Bereich“ nicht mit einbezog, wäre die Überleitungsanstalt Sozialversicherung ab 1. Juli dafür zuständig gewesen. Es kam zu diesem Zeitpunkt aber zu keiner Einigung und das Konto wurde ab 1. Juli von der Deutschen Kreditbank, Nachfolgerin der Staatsbank, übernommen. Mehrere Versuche, das „Rentenkonto PDS“ der Überleitungsanstalt Sozialversicherung zu übertragen, scheiterten nach einer Reihe von Gesprächen im 2. Halbjahr 1990, u. a. auch seitens der Wirtschaftsprüfer der KPMG. Erst nach einer Entscheidung von Regierungsdirektor Kaulbach vom Bundesministerium der Finanzen vom 2. Januar 1991 und der Unabhängigen Kommission Parteivermögen am 11. Januar wurde das Konto der treuhänderischen Verwaltung übergeben und damit der ungeklärte Zustand beendet. Wie bewerten und beurteilen Sie die Arbeit der Treuhand? Über die Arbeit der Treuhand hat vor kurzem der Autor Marcus Böick in „Die Treuhand“ eine umfassende und für mich ebenso nachvollziehbare wie überzeugende Analyse vorgelegt. Als eine der ersten großen Privatisierungen ist darin auch das Joint Venture von Allianz (51 %) und Treuhand (49 %) erwähnt, welches der Treuhand unter Berücksichtigung des anteiligen Verlustausgleichs bis Ende 1991 (Übernahme der 49 % durch Allianz) insgesamt rund 1 Milliarde DM brachte. Die Zusammenarbeit mit der Treuhand erfolgte vorwiegend durch Vorstände der Allianz aus München, insbesondere mit Dr. Haasen und
593 Dr. Schiefer. Meine Eindrücke über die Zusammenarbeit mit den Herren Wolf Klinz (Vorstand Treuhand) 17 und Klaus Löscher 18 (Abteilungsleiter TA) sind ausnahmslos positiv. Sie zeigten nach eingehender Diskussion Verständnis für unsere Grundidee „Privatisierung statt Sanierung“ und erfassten schnell den sozialen Sprengstoff, der sich hinter zeitlichen Verzögerungen verbarg. Andere Privatisierungen oder Sanierungen vermag ich nicht zu beurteilen, da mir dazu die Detailkenntnisse fehlen. Was sind die Gründe für das Ende der DDR? Nach meiner Wahrnehmung waren die Gründe für das schelle Ende der DDR vornehmlich wirtschaftlicher Natur, die unüberbrückbare Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Die von der SED gesteuerte zentralistische Plan- und Kommandowirtschaft war kein taugliches Mittel, um eine flexible und innovative Wirtschaft zu gestalten. Die Folgen waren permanente Zuliefer-, Sortiments- und Qualitätsprobleme sowie eine extrem niedrige Produktivität trotz oder gerade wegen der Vollbeschäftigung. Hinzu kamen die von der Bevölkerung zunehmend wahrgenommenen Mängel/Engpässe bei hochwertigen Konsumgütern, Material der Bauwirtschaft sowie Ersatzteilen. Die anhaltende Mangelwirtschaft stand im krassen Gegensatz zu den Dogmen und Parolen in Presse, Funk und Fernsehen und verschlechterte zunehmend Stimmung und Motivation. Ein weiterer Akzent war m. E. die außenpolitischen Vorgänge (Sowjetunion „SU“!) sowie das Kontroll- und Überwachungssystem in der DDR. Der Prozess der deutschen Einheit hat für den weitaus überwiegenden Teil der ostdeutschen Bevölkerung ein deutlich höheres Lebensniveau gebracht. Die Arbeitslosenquote ist ständig gesunken und die Reise- und Meinungsfreiheit werden hochgeschätzt. Probleme sehe ich in der rapiden zunehmenden Differenzierung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse sowohl in Ost/West als auch in Ostdeutschland selbst. Eine Zunahme kritischer Stimmen, Proteste und Demonstrationen registriere ich auch auf den Politikfeldern Sicherheit, Bildung, Pflege und Integration der Zuwanderer. Verehrter Dr. Günter Ullrich, vielen Dank für das Gespräch und Ihre Unterstützung. Bitte. Viel Erfolg für Sie. Wolf Klinz war in der Zeit von 1990 bis 3. Quartal 1994 als operativer Vorstand in der Treuhandanstalt tätig. Sein Verantwortungsbereich umfasste mehrere Branchendirektorate in der Zentrale der THA. Danach war er in leitender Position in der Industrie tätig. Mehrere Jahre war er auch ehrenamtlicher Präsident der IHK Frankfurt am Main (2000–2004) sowie Abgeordneter im Europäischen Parlament (2004–2014 u. 2017–2019). 18 Klaus Löscher war u. a. Abteilungsleiter im Ministerium der Finanzen der DDR. Als Bevollmächtigter der Treuhandanstalt unterzeichnete er das Gründungsdokument der Deutschen Versicherung (DV), die anfangs noch Deutsche Versicherungs-AG DVAG hieß, mit. Siehe Hüning, Hasko, Nickel, Hildegard Maria, Frey, Michael, Grüner, Silke, Peinl, Iris, Stock, Catrin, Von der Staatlichen Versicherung der DDR unter das Dach der Allianz, in: Finanzmetropole Berlin: Strategien betrieblicher Transformation, Leske + Budrich, Opladen 1998, S. 273–297. 17
595 Werner Strasberg „Die uneingeschränkte Übernahme des Rechts der alten BRD in den neuen Bundesländern, der Austausch nahezu aller Richter und Staatsanwälte der DDR gegen Beamte aus der BRD war ein noch heute überall spürbarer ‚Kulturbruch‘.“ Abbildung 76: Werner Strasberg war jahrzehntelang beim Obersten Gericht der DDR tätig.
Werner Strasberg wurde am 9. August 1928 in Osterode/Ostpreußen (Polen) geboren. In der Zeit von 1949 bis 1951 studierte er Volkswirtschaftslehre an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er war dort auch Vizevorsitzender des Gesamtstudentenrates der Universität. Im Jahr 1951 Erkrankung an Tbc. Nach Genesung begann er 1952/53 an der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft in Potsdam-Babelsberg ein Studium der Wirtschaftswissenschaft. Im Jahr 1953 erneute Erkrankung an Tbc. Ab 1955 bis 1957 studierte Werner Strasberg Rechtswissenschaft an der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft und absolvierte das Staatsexamen mit dem Prädikat „summa cum Laude“. In der Zeit von 1957 bis 1959 war er Richter am Kreisgericht Perleberg/Brandenburg. Danach 1959 bis 1961 Direktor des Kreisgerichts Lübz/Mecklenburg. In der Zeit von 1961 bis 1963 war er Oberrichter am Bezirksgericht Schwerin. 1965 promovierte Strasberg zum Dr. jur. auf dem Gebiet des LPG-Rechts an der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft. 1963 bis 1966 war er Inspekteur am Obersten Gericht der DDR. Danach ab März 1966 bis 1974 war Strasberg Richter bzw. Oberrichter und Kollegiumsvorsitzender „Zivil-, Familien- und Arbeitsrechtsachen“ am Obersten Gericht der DDR. Im Jahr 1974 wurde er als Vizepräsident des Obersten Gerichts der DDR berufen und in der Zeit von 1974 bis 1989 juristischer Berater des Rechtsausschusses der Volkkammer. Ab 1986 war Strasberg Erster Vizepräsident des Obersten Gerichts der DDR. Im Jahr 1988 war er UNOBerichterstatter für Familienrecht in Wien. Ab 1990 war Strasberg als Rechtsanwalt in Berlin und in Plattenburg, Mark Brandenburg tätig.
596 Herr Strasberg, im Jahr 1952 begannen Sie zusammen mit Walter Siegert in Potsdam Babelsberg Ihr Studium. Welche Erinnerungen verbinden Sie mit dieser Zeit und wie lernten Sie Walter Siegert kennen? 1 Er war der Star der Ökonomie, damals 1952 an der Akademie in Babelsberg, der Elitehochschule für künftige Staatsbedienstete. Der Student Walter Siegert stand an der Wandtafel und hatte den „locus standi“ im Zusammenhang mit der Marx´schen Reproduktionstheorie zu veranschaulichen, als plötzlich Unruhe im Raum entstand. Irritiert drehte sich Walter um und sah fragend in die Runde, was mich veranlasste, ihm zuzurufen, er möge laut seinen Namen sagen, was er sofort tat. Gelächter, ich erntete einen bösen Blick. Es war der Beginn unserer langen Freundschaft! Im Umgang miteinander liebten wir einen lockeren Ton. Das Studium fiel uns nicht schwer. Ich hatte nach Entlassung aus britischer Gefangenschaft bereits drei Semester Volkswirtschaft an der Humboldt Universität hinter mir, als mich eine schwere LungenTbc erwischte. Ursachen hierfür waren der Hunger damals, schlechte Kleidung, nasskalte Hörsäle und eine kalte Bude. Schließlich hatte mich die Nationaldemokratische Partei, deren Mitglied ich war, im Jahr 1952 an die Verwaltungsakademie delegiert. Wir wohnten gut, hatten auskömmliche Stipendien, eine gepflegte Mensa, vor allem aber ausgezeichnete Lehrer. Professor Arthur Baumgarten, in der Schweizer Emigration ein renommierter Staatsrechtler, war der Präsident der Akademie. Keine indoktrinierten Pauker. Herbert Kröger, Völker- und Staatsrechtler von Rang, war ein äußerst scharfsinniger Typ, der, wie ich mich erinnere, über Wilhelm von Oranien und die juristischen Grundlagen der englischen konstitutionellen Monarchie (Bill of Rights 1659) nach Notizen auf seiner Zigarettenschachtel druckreif dozierte. Fritz Niethammer, Professor für nationales und internationales Zivilprozessrecht, vor 1933 Chef von internationalen Anwaltskanzleien, vermochte es rhetorisch brillant, den abstrakten Prozessnormen sprühendes Leben zu verleihen. Ich war begeistert und blieb es. Meine Diplomarbeit im Jahr 1955 hatte ein prozessrechtliches Thema. Inzwischen (1953) war aus der Verwaltungsakademie die finanzökonomische Fachrichtung als „Hochschule für Finanzwirtschaft“ ausgegliedert worden. Walter ging mit der neuen Hochschule nach Berlin-Kaulsdorf, ich blieb der Babelsberger Akademie treu. Wir sahen uns zwar seltener, blieben aber in Freundschaft verbunden. Mein Weg führte mich nach dem Studium zunächst als Richter nach Perleberg und dann an das Bezirksgericht Schwerin. Später, als ich nach Berlin an unser Oberstes Gericht berufen wurde, kreuzten sich unsere Wege ab und zu auch beruflich. Wie charakterisieren Sie Walter Siegert? Kongruente Sicht auf die Dinge und den Geist des Lebens ist Faszikel unserer Freundschaft seit den Babelsberger Tagen. Beide schätzen wir Offenheit und absolute Zuverlässigkeit des anderen – unabhängig von politischen Wetterlagen und persönlichen Das Interview mit Werner Strasberg (Plattenburg/Glöwen) wurde am 18.5.2019 schriftlich geführt. Die Freigabe für die Veröffentlichung gab Strasberg am 12.11.2019.
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597 Befindlichkeiten. Natürlich zeichnet uns beide Arbeitswut mit manchem Geistesblitz zur beiderseitigen Fröhlichkeit aus. Dazu eine Portion temporärer Faulheit und einen schönen Hang zu Jux und Streichen. Das sollte wohl reichen für eine – unsere – erfüllte gemeinsame Zeit. Das ist eigentlich erstaunlich, denn Walter ist ein Sachse und ich ein Preuße. Sie arbeiteten nach Ihrem Studium auf allen Ebenen der Justiz der DDR. Wie beurteilen Sie die Tätigkeit der Gerichte in der DDR sowie ihre Rechtsprechung? Seit dem Jahr 1974 war ich als Vizepräsident des Obersten Gerichts der DDR zuständig für die außerstrafrechtlichen Rechtsgebiete, vor allem das sogenannte bürgerliche Recht (Zivil-, Familien- und Arbeitsrecht), Patentrecht und internationales Privatrecht. Ab dem Jahr 1988 bekam ich noch das Verwaltungsrecht „aufgebrummt“ als Anerkennung, wie es damals hieß, die unsere Zivilrechtsprechung bei der Bevölkerung und der Wissenschaft genoss. Es ist in diesem Zusammenhang fast ein Witz, dass selbst der Bundesgerichtshof nicht umhinkam, in einer Entscheidung zum Übergangsrecht (Urteil vom 15.11.1994) von allen deutschen Gerichten zu fordern: „[...] die Auslegung und Anwendung des Zivilrechts der DDR hat unter Berücksichtigung der Rechtspraxis der ehemaligen DDR zu erfolgen, das für Altfälle fortwirkende Recht ist grundsätzlich so anzuwenden, wie es von den Gerichten der DDR ausgelegt worden wäre. […]“ Auch diese Aussage des Bundesgerichtshofes (BGH) macht im Übrigen klar, dass die derzeitige politische Narration „Unrechtsstaat“ einen deutlichen Abstand zur Realität und Vernunft aufweist. Diese Rechtsprechung ist auch nicht aufgegeben oder geändert worden. Die Praxis ist ihr in vollem Umfang gefolgt. Auch auf dem Gebiet des Verwaltungsrechts, das die staatliche Verwaltungstätigkeit regelt, zeigt eine Analyse der Rechtsprechung und des Schrifttums, dass die meisten Verwaltungsakte der DDR weiterhin als gültig angesehen wurden und andere Rechtsgebiete stark beeinflusst haben. An dieser Stelle ein Wort zur Darstellung des Obersten Gerichts der DDR (OG) in der heutigen, auch wissenschaftlichen, Literatur: Bisher habe ich kaum eine Darstellung gefunden, die dem Rechts- und Wirkungszustand des OG fehlerlos entspräche! Mal abgesehen von der überwiegend unzutreffenden, interessengeleiteten, also ideologischen Definition, sind die Beschreibungen auch formaljuristisch falsch, mitunter lächerlich. Dem OG oblag nach unserer Verfassung die Gewährleistung der Einheitlichkeit und Richtigkeit der Rechtsprechung der Gerichte, einschließlich der gesellschaftlichen Gerichte, also den Konfliktkommissionen in den Bertrieben und den Schiedskommissionen in Stadt und Land. Allein schon die Tatsache, dass es im Grund drei OG gab: das Kollegium für Zivil- und Verwaltungsrecht, davon streng getrennt das Kollegium für Strafrecht sowie das Kollegium für Militärstrafrecht, mit den entsprechenden, die Rechtsprechung ausübenden Senaten. Das scheint kaum einem Rezensenten aufgefallen zu sein. Die von der
598 Rechtsprechung abgehobene Funktion des vom Parlament gewählten Präsidenten des Obersten Gerichts unterlag dem Proporz der sogenannten Blockpolitik aller politischen Parteien. Langjähriger Präsident des OG war Heinrich Toeplitz, stellvertretender Vorsitzender der CDU in der DDR und persönlich eng verbunden mit dem Nestor der evangelischen Bischöfe Moritz Mitzenheim in Thüringen. Toeplitz, der in den dreißiger Jahren eine brillante Dissertation zum Aktienrecht verteidigt hatte, von den Nazis verfolgt und im Krieg zur Zwangsarbeit verurteilt, war ein christlich demokratischer Aktivist der ersten Stunde. Nicht selten allerdings neigte er zu linksradikalen Denkweisen, was den Umgang natürlich belastet hat. Ihm lag die Zivilrechtsprechung besonders am Herzen. Einmischung in die Rechtsprechung, von welcher Seite auch immer, duldete er nicht. Gefährlich waren Angriffe von einzelnen DDR-Rechtswissenschaftlern, aber auch Leuten im eigenen Haus – vor allem aus dem Strafrechtskollegium – wegen einer angeblich bürgerlich konservativen Zivilrechtsprechung. Als glänzender Jurist, auch auf dem Gebiet des Strafund Völkerrechts, führte Toeplitz z. B. den Prozess gegen einen Mitautor der Nazirassengesetze durch. In der folgenden internationalen Pressekonferenz sagte Toeplitz: „Ohne solche Juristen kein Eichmann!“ Toeplitz hat sich dann des Öfteren mit der Rechtsprechung in der Bundesrepublik auseinandergesetzt, z. B. hinsichtlich der nachsichtigen Behandlung der Nazirichter vom Volksgerichtshof. Dem internationalen Ansehen bundesdeutscher Gerichte war das verständlicherweise nicht zuträglich. Ein Wort zur Strafrechtsprechung des Obersten Gerichts. Nach französischem Vorbild konnten der Präsident des Obersten Gerichts und der Generalstaatsanwalt die „Kassation“ von rechtskräftigen Urteilen beantragen. Das geschah in einigen Fällen vor allem hinsichtlich falscher Urteile aus den Anfangsjahren. Die Strafurteile in Fällen von Kriegs-, Nazi-, Terror- und Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind bekanntlich auch international noch anerkannt. Auch im internationalen Raum standen sich nicht selten die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes und des OG der DDR gegenüber. So z. B. im Prozess um die Namens- und Markenrechte des volkseigenen Betriebes Carl Zeiss Jena in der Auseinandersetzung mit der „Neugründung“ Carl Zeiss Oberkochen Württemberg vor einem britischen Gericht. Am 18. Mai 1966 folgte das Oberste britische Gericht dem Urteil des Obersten Gerichts der DDR und lehnte die Anwendung der gegenteiligen BGH-Rechtsprechung explizit ab. Ein Lordrichter schrieb damals: „Die westdeutschen Gerichte scheinen eine andere Meinung von den Prinzipien des internationalen Privatrechts zu haben.“ Sie haben auch nach 1990 Ihre freundschaftlichen Beziehungen zu Walter Siegert erhalten. Welche Erinnerungen haben Sie aus dieser Zeit? Leider gab es zunächst eine Pause, denn wir hatten beide damit zu tun, neue berufliche Wege zu finden. Ich hatte im Oktober 1990 eine Anwaltskanzlei im Land Brandenburg, in der schönen Prignitz, der „Toskana des Nordens“, gegründet. Etwa im Jahr 1991 rief mich Walter an. Er war inzwischen Geschäftsführer der Berliner Dependance eines westfälischen Bauunternehmens. Es ging ihm um einen Zivilprozess seiner Firma in Leipzig. Seine
599 Anwälte aus Münster suchten einen peniblen Kenner des DDR-Grundstücksrechts und dessen Genese. Ich konnte damit selbst und natürlich gerne dienen. Wie in alten Tagen waren wir uns wieder nahe und auch unsere Frauen konnten, wie man in Berlin sagt, gut miteinander. Und auch bei weiterem Beratungsbedarf – der sich dann des Öfteren mit der Unterstützung von Freunden verband – haben wir die Gelegenheit gehabt, uns mit den „Hürden“ der Neuzeit auseinander zu setzen. In all diesen Jahren hat uns jede Stunde gemeinsamer „Weltbetrachtung“ so manche Erkenntnis und Freude gebracht. Erzählen Sie bitte von Ihrer anwaltlichen Tätigkeit. Schwerpunkt meiner anwaltlichen Tätigkeit war das Wirtschaftsrecht, z. B. Unternehmensberatung, Nachtragsliquidationen, Registersachen. Gleichwohl blieb ich auch Generalist, d. h. auf allen Rechtsgebieten für Bürger ansprechbar. Im Osten war ich gut bekannt und hatte dementsprechenden Zuspruch. Das BGB war mir nicht fremd geworden. Es galt in der DDR noch bis 1975, das Handelsgesetzbuch sogar bis 1990. Das bedeutet, dass die grundlegenden sowie gesellschaftlichen Veränderungen in der DDR, die nach der Wende wieder rückgängig gemacht wurden, mithin unter der Geltung des BGB vollzogen worden sind. Das wird im Meinungsbild der Historiker fast immer noch übersehen und zwingt zu der Fragestellung, wie viel Gegenwart im Geschichtsbild der Historiker steckt, die die Deutungshegemonie beanspruchen. Was meine Anwaltstätigkeit angeht, so möchte ich eine Erfahrung hervorheben: In der DDR konnte man für wenig Geld prozessieren, um sein Recht in Miet-, Eigentums- oder Erbangelegenheiten zu erstreiten. Wo hingegen die Situation heute so ist, dass man jenseits des Geldes letztlich Unrecht akzeptieren muss. Der Hinweis auf die Prozesskostenhilfe (Armenrecht) zieht nicht, denn die Kostenbefreiung ist nur eine einstweilige! Sie ändert auch ohnehin nichts am Wesen der Sache: der Volksfremdheit des Rechts. Das Zivilrecht der DDR hatte seine eigene ökonomische Basis und damit natürlich erhebliche Unterschiede zum Privatrecht. Dennoch wäre es die Arbeit wert gewesen und ein Gewinn für die Rechtssicherheit in den neuen Ländern, wenn man Elemente des ZGB der DDR, so wie das auch 1990 am „Runden Tisch“ im Gespräch war, übernommen hätte. Welche gesetzlichen Bestimmungen für die DDR-Bürger existierten und wie war die Auslegung? Als Anwalt bin ich bei Beratung und Vertretung von rechtssuchenden Bürgern sehr häufig einem verständnislosen Kopfschütteln begegnet, wenn es um die Erläuterung von BGB Bestimmungen ging. Beim Blick in das BGB sieht sich der Bürger vor einer labyrinthischen Struktur und einem Dickicht von Paragrafen. Ihre Anzahl ist schon gewaltig: 2 385 Paragrafen! Allein der sogenannte allgemeine Teil und das Recht der Schuldenverhältnisse (Kauf, Mieten, Darlehen, Schadensfälle u. a.) zählen 853 Paragrafen, mit jeweils mehreren Absätzen. Das Erbrecht zählt 463 Paragrafen. Hinzu kommen laufend partielle Änderungen, Ergänzungen und Streichungen. Alles das verursacht eine zunehmende Rechtsunsicherheit. Wo bleibt das von vielen Fachleuten und Gewerkschaften geforderte
600 Arbeitsgesetzbuch? Auch das Familienrecht fasert immer weiter aus. Ob Regierung oder Opposition, keine erkennbaren Schritte, um diese unhaltbaren Verhältnisse zu verändern, obwohl auch der Einigungsvertrag entsprechende Gebote enthält (siehe hier Artikel 30 Abs. 1). Rechtliche Regelungen können nur dann Streit vermeidend wirken, wenn sie von den Adressaten verstanden werden. Als Richter und dann als Anwalt habe ich täglich erfahren, was von Recht suchenden Bürgern als gerecht und angemessen angesehen wird. Das BGB war vom Deutschen Reichstag am 1. Juli 1886 beschlossen worden. Die SPD-Fraktion stimmte damals geschlossen gegen dieses Gesetz. Nach langjährigen teils heftigen Fachdiskussionen fasste im Jahr 1963 die damalige DDRRegierung den Beschluss zur Erarbeitung eines Zivilgesetzbuches (ZGB) anstelle des übernommenen BGB. Vorsitzende der dafür berufenen Kommission war die damalige Justizministerin Hilde Benjamin. Sie wollte ein Zivilgesetzbuch nach sowjetischem Vorbild erschaffen, in dem sowohl die Zivilrechtsbeziehungen der Bürger (Kauf, Miete, Eigentum) als auch der Kooperationsbeziehungen der Betriebe geregelt werden. Die Mehrheit der Kommission entschied sich jedoch dafür, dass es ein ZGB nur für die Bürger sein soll. Als einer der Väter des ZGB möchte ich hervorheben, dass diese Konzeption außerordentlich wichtig für die Rechtsstellung und das Rechtsverständnis der Bürger war, weil es nichts weniger als die Sicherung eines unantastbaren Bereichs privater Rechtsausübung gewährleistete. Nach langer Vorarbeit und öffentlicher Diskussion lag ein Gesetzbuch vor, das von Jedermann verstanden wurde. Das Zivilgesetzbuch der DDR wurde von der Volkskammer am 19. Juni 1975 in Kraft gesetzt. Mit dem Einigungsvertrag vom 30. September 1990 wurde dieses Gesetzeswerk faktisch aufgehoben. Der ehemalige Bürgerrechtler Reinhold Höppner, später auch Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, schrieb: „Das Zivilgesetzbuch der DDR wurde von den Bürgerinnen und Bürgern aktiv zur Gestaltung der Lebensbedingungen genutzt. Es stand bei vielen zu Hause im Bücherschrank.“ Das BGB mit all seinen Nebenbestimmungen bleibt dagegen ein Buch mit sieben Siegeln. Das Kleingedruckte, auch in den Verträgen des täglichen Lebens, ist schwer durchschaubar. Das ZGB wurde in der DDR zu einem Bestseller in großer Auflagenhöhe. Ausländische Fachdelegationen gaben sich im Zivilkollegium des Obersten Gerichts die Klinke in die Hand. Ich erinnere mich an das große Interesse von Fachkollegen aus Griechenland, Südkorea, Japan, Brasilien usw. Wie blicken Sie auf den Einigungsprozess vor 30 Jahren zurück? In vielen Mandantengesprächen beklagen Leute, ihr Leben werde entwertet, wenn sie sich in eine Rechtsordnung fügen müssen, die nur Experten zugänglich ist. Das höre ich auch von Bürgern, die in unserer örtlichen Schiedskommission oder in Konfliktkommissionen in ihrem Betrieb mitgewirkt und damit die Verwirklichung des Rechts im Alltag mitgestaltet haben. Die Wiedervereinigung des durch die Kriegsfolgen geteilten Deutschlands sollte kein „Anschluss“ sein, so wollte es die Bürgerbewegung in der DDR. Die uneingeschränkte
601 Übernahme des Rechts der alten BRD in den neuen Bundesländern, der Austausch nahezu aller Richter und Staatsanwälte der DDR gegen Beamte aus der BRD war ein noch heute überall spürbarer „Kulturbruch“, der bis in die Gegenwart die politische Stimmung und das Selbstwertgefühl belastet. Nicht wenige haben erlebt, wie die Formel „Rückgabe vor Entschädigung“ sie praktisch enteignet hat. Wie ist Ihre Sichtweise auf die Zukunft? Wagen Sie eine Prognose? Bedauerlicherweise ist die mit der politischen Wende von vielen erhoffte Festigung des Weltfriedens nicht Wirklichkeit geworden. Im Gegenteil, die kriegerischen Auseinandersetzungen haben zugenommen. Die atomare Bedrohung ist gewachsen. Eine kaum noch zu überblickende Zahl von Menschen aus Afrika, Mittelamerika und anderswo sind auf der Flucht. Wer denkt da angesichts dieser bedrohlichen Situation nicht an Carl Friedrich von Weizsäcker: „Die Menschheit wird nach dem Niedergang des Kommunismus das skrupelloseste und menschenverachtende System erleben, wie es die Menschheit noch jemals zuvor erlebt hat, ihr Armageddon.“ 2 Ich halte es aufgrund meiner Lebenserfahrung lieber mit Bertold Brecht: „Am Grunde der Moldau wandern die Steine. Es liegen drei Kaiser begraben in Prag. Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine – die Nacht hat zwölf Stunden, dann folgt schon der Tag.“ 3 Vielen Dank für Ihre Ausführungen. Bitteschön.
Aus seinem Buch „Der bedrohte Friede“ Armageddon, hebräisch, Evangelium des Johannes, Ort der bösen Geister. 3 Das Lied von der Moldau, ursprünglich „Es wechseln die Zeiten“, ist der postume Titel eines Gedichts von Bertolt Brecht. Es entstand im August/September 1943 im Exil in den USA und stellt das Fragment eines Moldaulieds dar. 2
603 7. Diplomatie Bruno Mahlow „Ich muss Ihnen ehrlich sagen, ich kann Ihnen generell wie menschlich die Ursachen begründen, warum die SU zerfallen war, aber bis zum Ende begreifen werde ich es trotzdem nicht.“
Abb. 77: Bruno Mahlow erinnert sich an seinen Vater.
Bruno Mahlow wurde am 27. Juni 1937 in Moskau geboren. Sein Vater ist der berühmte emigrierte KPD-Funktionärs Bruno Mahlow (1899–1964). Er kehrte 1947 mit der Familie nach Berlin zurück und besuchte die Oberschule und anschließend die Arbeiter-und-Bauern-Fakultät in Halle (Saale), an der er 1955 sein Abitur ablegte. In der Zeit von 1955 bis 1961 studierte er am Institut für Internationale Beziehungen in Moskau. Sein Studium schloss er als Diplom-Staatswissenschaftler ab. Im Jahr 1957 trat er der SED bei. In der Zeit von 1962 bis 1964 war Mahlow Mitarbeiter im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR. In der Zeit von 1964 bis 1967 war er Erster Sekretär der Botschaft der DDR in Peking. Ab 1967 war er Mitarbeiter und von August 1973 bis November 1989 stellvertretender Abteilungsleiter sowie bis Dezember 1989 als Leiter der Abteilung Internationale Beziehungen des ZK des SED tätig. Von 1974 bis 1989 war Mahlow Mitglied des Zentralvorstandes der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft sowie in der Zeit von 1985 bis 1989 stellvertretender Vorsitzender des Freundschaftskomitees DDR-China. In der Zeit von 1981 bis 1989 war er Mitglied der Außenpolitischen Kommission des Politbüros des ZK der SED. Ab 1990 war er Berater der Internationalen Kommission beim Parteivorstand der PDS. Mahlow ist Mitglied des Ältestenrates der Partei Die Linke.
604 Herr Mahlow, bitte schildern Sie uns Details über Ihr Elternhaus, Ihre Kindheit sowie Ihre wichtigen lebensbiografischen Daten. 1 Meine Eltern, Alwine (geb. Winkler) Mahlow sowie Bruno Mahlow (1899–1964), waren Kommunisten, Antifaschisten und das prägte mich natürlich bereits in meiner Kindheit. Nun muss ich dazu sagen, mein Vater war aktiver Abgeordneter der KPD in Kreuzberg. Zuvor war er sehr aktiv bei Büxenstein. Das war eine Größe in den Druckereikreisen Berlins. Dort erlebte mein Vater die revolutionären Kämpfe, die damals im Januar 1918 abliefen. Als ich soweit war, etwas zu begreifen, berichtete er mir über seine damalige Zeit. Was mich vor allen Dingen beeindruckte, er sprach über seine Arbeit im Spartakusbund und über seine Gewerkschaftsarbeit in der Grafikindustrie. Später begriff ich, dass er als Mitglied der Kommunistischen Partei und auch als Gewerkschaftsfunktionär über manche Enge eher hinwegkam, weil er sich immer mit den Arbeitern verbunden sah und nicht nur mit einem Funktionär oder Mitglied. Er musste als Farbdrucker den Kaiser auf dem Pferd sitzend auf eine Banknote setzen. Das beschrieb auch Inge von Wangenheim in einem Buch, nachdem mein Vater es ihr erzählt hatte. Aber nun kommen wir auf meine eigentliche Geburt zurück: Geboren wurde ich 1937 in Moskau. Ich bin also ein Sohn von politischen Emigranten und, was ich betonen möchte, erlebte natürlich einen Teil meiner Kindheit im Land des Großen Vaterländischen Krieges, nicht nur schlechthin als Kriegskind, sondern auch politisch geprägt über die Zeit, erst Krippe, dann Kindergarten bis hin zur Schule. Die ersten Schuljahre verlebte ich in Taschkent, das war die Hauptstadt der usbekischen Sowjetrepublik, heute Usbekistan. Da ich glaube, dass damals bereits etwaige Ansätze dafür gelegt worden waren, dass ich mich für den Osten interessierte, möchte ich noch erwähnen, ich war ein Deutscher in Moskau. Dann kam die Evakuierung über die Wolga bei den Tataren. Dann verbrachten wir hinter uns einen langen Zugweg nach Taschkent. Dort kam ich zur Schule. Wir waren über vierzig Schüler in der Klasse, eine Viel-Nationalitäten-Zusammensetzung mit Usbeken, Russen und Kirgisen. Kaum zur Schule gekommen, bekam ich die Ruhr und wer besuchte mich als erstes? Meine Klassenlehrerin Lydia Wassiljewna. Aus heutiger Sicht würde ich sagen, sie war dazu berufen, Lehrerin zu sein, sogar Pädagogin. Sehr warmherzig, überzeugend sowie selbstlos. Das war schon in der Zeit des Krieges, das möchte ich nochmals in Erinnerung abrufen. Denn in die Schule kam ich 1943. In der Zeit des Krieges spielten Kinder oftmals Kriegsspiele und da ich Bruno hieß und Deutscher war, meinten sie, ich solle einen Deutschen spielen. Das führte zu Tränen und Auseinandersetzungen, aber letzten Endes war ich im Spiel bei den Partisanen, das hatte ich doch erreicht. Als ein Deutscher, auch als Junge, in der Zeit des Vaterländischen Krieges, in der täglich Trauernachrichten kamen, in denen über Gräueltaten berichtet wurde, wurde man nun nicht gerade von allen bevorzugt behandelt. Aber ich muss sagen, vieles hängt vom ganz konkreten eigenen Erleben ab und was davon hängengeblieben ist. Ich sage das deshalb, weil später deutsche 1 Das Interview mit Bruno Mahlow fand am 24.8.2018 in Berlin statt. Anwesend auch Walter Siegert
und Svetlana Egorova.
605 Emigrantenkinder Dinge haben aufschreiben lassen und einige hatten das wiederum ganz anders erlebt. Auch Freunde von mir berichteten über die Stalin’schen Repressalien gegenüber ihren Eltern. Sie waren einige hundert Kilometer weiter von mir entfernt, hatten ein noch schwierigeres Leben. Wie war Ihre Meinung über Stalin zum damaligen Zeitpunkt? Für die damalige Zeit kann ich nur sagen, war Stalin der große Führer im Großen Vaterländischen Krieg. Mit seinem ganz normalen Bild reisten wir durch die ganze Sowjetunion. Es gab überhaupt gar keinen Zweifel an seiner Größe und an Verdiensten als Oberkommandierender. Die Lieder sang ich natürlich alle mit, die kenne ich auch heute noch. Wenn Sie wissen wollen, wie ich heute Stalin einordne, dann muss ich Ihnen dazu folgendes kurz sagen: Stalin war und bleibt eine Person in der Geschichte, eine sehr widerspruchsvolle Persönlichkeit, weil mit ihm ganze Jahrzehnte der Entwicklung der Sowjetunion verbunden sind. Was man natürlich heute völlig außer Acht lässt. Er spielte eine maßgebliche Rolle in den Jahren vor der Revolution und im Oktober 1917. Er schrieb z. B. einen Artikel: „Marxismus und die nationale Frage“, der von Lenin sehr hochgeschätzt wurde. Er war beteiligt an der Redaktion der Zeitung Prawda, an der Oktoberrevolution und er spielte eine aktive Rolle in der Zeit des Bürgerkrieges, als Leo Trotzki der oberste Chef der Roten Armee war. Lenin war es nicht möglich, bei all der Gewichtung der ihn damals umgebenden Persönlichkeiten, sich eindeutig zu äußern, wer am besten an seiner Stelle die Arbeit an der Spitze des Sowjetstaates fortsetzen solle. Er hob zwei Personen hervor, Trotzki und Stalin, wies aber bei Stalin deutlich darauf hin, es müsse jemand gefunden werden, der toleranter und umgänglicher mit seiner Macht, mit seinen Genossen umginge. Es kam zu ernsthaften Abweichungen in der Gestaltung der Macht, es kam zu Gesetzwidrigkeiten und vor allen Dingen zu tragischen Zeiten im Leben von überzeugten Kommunisten – wenn auch hier und da Andersdenkenden – und auch im Wirken von kommunistischen Parteien. Das darf man nie außer Acht lassen. Dazu gab es später, auf dem 20. Parteitag im Jahr 1956, eine entsprechende Resolution sowie eine Verurteilung des Personenkultes. An dieser Stelle müsste ich etwas dazu sagen, warum ich ein Gegner des Begriffs Stalinismus bin und auch dafür, die Widersprüchlichkeit nicht zu umgehen. Außerdem, warum ich strikt dagegen bin, eine historische Wertung vorzunehmen, die Stalin praktisch zu einem Monster macht und es denjenigen in Deutschland erleichtert, Stalin und Hitler auf eine Stufe zu stellen. Ich äußere mich zur Problematik Stalinismus auch deshalb, weil es eine Flucht vor tieferen und ernsteren Ursachen ist, eine Flucht in der Art, einer Person alles zuzuschreiben, um die Rolle anderer Faktoren, z. B. die der Volksmassen völlig auszuklammern. Ein linker Schriftsteller sagte einmal: „Es gab einen Kult um Stalin, aber Stalin hatte einen guten Koch, das war das Volk.“ Man muss das im historischen Zusammenhang sehen und sich die Frage stellen, wieso ein ganzes Volk das mitgemacht hatte, all das, was man später irgendwo aufgedeckt hatte, was zuvor nicht sehr vielen bekannt war.
606 Aus ihm aber ein „kommunistisches Monster“, einen Dämon zu machen, kann nur Sache von Feinden Russlands sein. Aber Stalin war als Staatsmann auch verantwortlich für große Leistungen der UdSSR. Das beschreibt auch Alexander Sinowjew, ein ehemaliger Dissident und Antistalinist, der viele Jahre in München verbracht hatte, dann nach Russland zurückkehrte und all seine frischen Vorstellungen über Stalin revidierte und doch, obwohl er seinerzeit verurteilt werden sollte, weil er ein Attentat auf Stalin in seinen jugendlichen Vorstellungen hatte. Es waren historische Bedingungen und ohne eine zentrale Rolle der Person in diesem, von keinen großen demokratischen Traditionen berührten Land, eine neue Gesellschaft aufzubauen. Es gab auch keine ganzheitliche Konzeption für den sozialistischen Aufbau, das wird immer wieder vergessen. Für mich bleibt die Sowjetunion mit der Oktoberrevolution Pionier des Menschheitsfortschritts, und zwar als Pionier des Aufbruchs ins gesellschaftliche Neuland, unter den damaligen konkreten Bedingungen. Es würde zu weit führen, wenn ich das alles noch ausbaue. Ich will jedoch damit verdeutlichen, es gab gesellschaftliche Verhältnisse, es gab Rückständigkeiten in der Wirtschaft und Analphabetentum. Es musste erst einmal den Menschen das Lesen und Schreiben beigebracht werden. Dass dies natürlich nicht mit den 30 bis 50 Bänden von Karl Marx zu lösen war und nicht von heute auf morgen, dass es erst zu einer vereinfachten Darstellung kommen musste, ist inzwischen auch klar. Mit anderen Worten, so verlief mein Leben von der Kindheit an sozusagen mit dem großen Vater aller Kinder bis hin zur Problematik der Auseinandersetzung mit der Gedenktafel für die Opfer des Stalinismus am Karl-Liebknecht-Haus. Auch was den Opferstein für die Opfer des Stalinismus betrifft, sagte ich zunächst: „Dazu gehört wohl Paulus und die sechste Armee“, Stalingrad. Sind das denn alle Opfer des Stalinismus? Sozialismus, Stalinismus und Sowjetunion wurde alles auf eine Stufe gestellt. Die gesamte Entwicklung der SU auf Stalinismus und Repressalien zu reduzieren, dient nicht nur der Geschichtsfälschung, sondern der weiteren Förderung eines Feindbildes Russlands, der Diskreditierung progressiver antikapitalistischer Alternativen. Dann brauchen wir uns natürlich über die Haltung zum Tag der Befreiung oder überhaupt zum Sieg über den Faschismus gar nicht mehr zu unterhalten und auch nicht über die derzeitige Reisefreiheit zu verhandeln. Also im Jahr 1947… … kehrten Sie mit Ihrer Familie nach Berlin zurück … Ja, aber ich kehrte gar nicht zurück. Ich kam mit meiner Familie in ihr Heimatland, das auch mein Heimatland werden sollte. Das darf man nicht vergessen. Ich heulte furchtbar, obwohl ich in der Wallstraße das erste Weißbrot aß. Ich muss sagen, die Bedingungen, unter denen wir in der Sowjetunion lebten, waren die Bedingungen eines schwer leidenden Hinterlandes in einem sehr harten Krieg. Als ich im damaligen Ostdeutschland oder sagen wir mal in der sowjetischen Besatzungszone dann von vielen Menschen hörte, was sie alles durchgemacht hätten, der Hunger, der „Kohlrabi-Winter“ usw., wunderte ich mich schon als Zehnjähriger ohne großes ideologisches, politisches Wissen: „Worüber
607 reden die denn?“ Sie meinten, das sei etwas Besonderes. Ich reagierte trotzdem nicht mit dem Argument, dass wir auch Brotrationen usw. hatten. Warum? Weil ich mich verband mit dem Land, das Deutschland befreit hatte, und stellte mich davor. Es war kein Tabu oder irgendeine Festlegung, nicht über schwierige Zeiten in der Sowjetunion zu reden. Es ergab sich für mich als Kind automatisch, für die Erwachsenen war es wiederum etwas anderes. Aber letzten Endes sagten sie nicht: „Aber uns ging es ja noch viel schlechter“ oder ähnliches, sondern sie stellten sich vor dieses Land. Ich sage das deshalb, weil auch heute immer wieder noch rezitiert wird „nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus“. Was aber weggelassen wird, auch von linken Kräften, ist die Hinwendung zur Freundschaft mit der Sowjetunion nach 1945. Ich spreche in diesem Punkt selbstkritisch auch über manche Linke, wenn sie heute philosophieren, wie man mit den Russen umgehen sollte. Putin macht Fehler und die Russen auch und dann werden alle auf eine Stufe gestellt, alle sind für alles verantwortlich. Dann muss ich natürlich sagen, dass das alles seine Wurzeln hat. Eins war mir von Anfang an klar und dabei bleibe ich, die DDR war ein Kind der Sowjetunion, kam auch als Kind der Sowjetunion zum Ende und war nicht vorstellbar als ein sozialistisches Land außerhalb bzw. gegen die Sowjetunion. Um es deutlicher zuzuspitzen: Ich kann diejenigen verstehen, die in bestimmten Situationen klar signalisierten: „Lieber Fehler gemeinsam mit der Sowjetunion machen, als sich gegen die Sowjetunion zu stellen, ob das jemandem gefällt oder nicht!“ Am 17. Juni 1953 waren Sie 16 Jahre jung. Wie erlebten Sie diesen Volks- bzw. Arbeiteraufstand oder wie einige formulieren – Putsch – kurz nach Stalins Tod? Zu Stalins Tod war ich schon Mitglied der Gesellschaft für Sport und Technik (GST). Das war die Gesellschaft zur Vorbereitung auf den militärischen Dienst, ansonsten gab es dort Motorsport, Skisport, Segeln usw. Ich war Politstellvertreter unserer GST-Grundorganisation an der Oberschule und zwar in einer Zeit, in der unsere Staatsbürgerkundelehrerin, Frau Mantey, dagegen war, dass wir wieder Gewehre trugen, denn wir hatten Luftgewehre. Ich komme deshalb darauf, weil ich vor Stalins Bild in meiner GST-Uniform mit Luftgewehr stand und es kamen Schüler, die mich anspuckten. Das war an der FriedrichList-Oberschule in Berlin. Weil keine Straßenbahn fuhr, ging ich dann von Niederschönhausen bis zum Haus der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft im Kastanienwäldchen, das ist heute in der Straße Unter den Linden, hinter der Wache. Ich war damals schon Mitglied der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft. Ich wunderte mich, dass viele über die Straße liefen und die Straßenbahnen nicht fuhren. Hinter dem Kastanienwäldchen erlebte ich, wie eine Reihe sowjetischer Soldaten gegen einige Brüller vorgingen. Sie riefen beispielsweise: „Pусский домой!“ 2 Ich erlebte die Diskussion bis hin zu meinem Vater, der darauf aufmerksam machte, dass es natürlich nicht gerade gut war, Reformen durchzuführen mit Erhöhung von Lohnnormen einerseits – das will ich jetzt nicht im Einzelnen aufschlüsseln – und andererseits einer Erhöhung der Preise für Kaffee 2
Russische Heimat
608 und Marmelade etc. Womit das zusammenhing, ist eine andere Frage. Wir dürfen nicht vergessen, dass natürlich deutsche Kommunisten wie Wilhelm Pieck u. a. über den Sozialismus in Deutschland nachdachten. Wohingegen für Stalin und andere ein neutrales, einheitliches Deutschland in der Art einer Weimarer Republik im Vordergrund stand. Und so wurde später dokumentiert, dass man meinte, es würde Probleme geben, die Deutschen würden von Ost nach West gehen, weil die Sowjetunion keinen Marshallplan hatte und nicht genügend Hilfe leisten konnte und das zu Problemen führen würde, was dann eintraf. Bei dem, was im Jahr 1953 stattfand, bleibe ich fest auf der Seite der Verteidigung der DDR. Ich bekam eine Urkunde von der GST für den aktiven Beitrag zur Niederschlagung des faschistischen Putsches. Dieses Geschehen einfach als faschistischen Putsch zu benennen, war aus der damaligen Zeit heraus geboren, darüber kann man heute richten. Aus heutiger Sicht betrachtet, war diese Begriffsfindung nicht unbedingt die treffendste, aber auch die Behauptung, es sei eine Volksrevolution gewesen, ist überhaupt nicht stichhaltig. Aus Gesprächen, die wir damals führten – es ging gar nicht anders, wir hatten auch nichts auf dem Papier – war für uns klar, es war eine schlechte Sache und wir standen zur DDR. Ich bekam dort auch für mein späteres Abiturzeugnis die Note „Drei“ in Chemie, weil ich weder am Unterricht teilnahm noch die Frage beantwortet hatte, dafür bekam ich gleich zwei Fünfen. Da wir dann an der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät (ABF) kein Fach Chemie mehr hatten, landete diese „Drei“ in Chemie auf meinem Abiturzeugnis. Natürlich kletterten die Kinder schon am nächsten Tag auf die Panzer der sowjetischen Soldaten. Vieles, was dann irgendwann zusammengeschrieben wurde, war damals in der DDR einfach nicht präsent. Es gab einige Zentren, aber dass es über das ganze Land hinweg als eine Volksrevolution dargestellt wurde und wie es Egon Bahr mit seinem RIAS berichtete …! Heute ist es auch für mich weder eine Volksrevolution noch ein, im ursprünglichen Sinne, faschistischer Putsch gewesen, sondern unsere Fehler wurden benutzt für eine Kampagne, die alles andere im Auge hatte, nur nicht das Gedeihen einer Deutschen Demokratischen Republik. Damit war es eine Barrikadenfrage. Aus meiner Sicht stand ich damals auf der richtigen Seite. Nach Ihrem Abitur im Jahr 1955 studierten Sie am Institut für Internationale Beziehungen in Moskau. Das war in der Zeit von 1955 bis 1961. Vermutlich kehrten Sie dann wieder zurück nach Berlin oder pendelten sie regelmäßig nach Moskau? Richtig. In der Zeit von 1955 bis 1961 war ich sechs Jahre lang Student und wir hatten Ferien, in denen wir nach Hause fuhren. In der Regel einmal im Sommer, später in höheren Kursen war es manchmal auch im Winter möglich bzw. zu besonderen Anlässen. Außerdem waren wir in den Sommerferien entweder im Ernteeinsatz oder ich arbeitete mit dem Vorschlaghammer und Bohrer im VEB Berliner Metallhütten und Halbzeugwerke. Das war sehr heilsam und sehr gut.
609 Sie traten im Jahr 1957 der SED bei. Welche Motivation ging dieser Mitgliedschaft voraus? Wir hatten eine zweijährige Kandidatenzeit und Kandidat wurde ich an der Arbeiterund-Bauern-Fakultät in Halle (Saale). Zu der Zeit war das für mich absolut selbstverständlich, ich hätte es aber bereits 1953 mit 16 Jahren werden können. Damals war ich aber neunmalklug. Warum? Ich, als FDJ-Gruppenorganisator und als Politstellvertreter der GST-Grundorganisation, erklärte die Mädels aus unserer Klasse, die Kandidatinnen der SED wurden, für unreif. Für mich war damals ein Kommunist etwas ganz Großes. Das lag natürlich an meinem Vater und an vielen anderen Personen, die mich tatsächlich erzogen hatten sowie für mich große Vorbilder waren. Mein großes Glück war, dass ich zweisprachig aufwuchs, was ich meinen Eltern zugutehalte. Somit war ich für das Studieren in russischer Sprache gut. All das ist nur eine Erklärung dafür, weshalb ich später keine großen Schwankungen vorzuweisen hatte, sondern nur, wie es scherzhaft heißt, nur im Rahmen der Generallinie. Ich muss verdeutlichen, dass ich in jeder Migrationsfrage heute mitreden würde. Es gibt so viel zu berücksichtigen: anderes Land, andere Kultur, andere Sprache und die Zeit etc. Wobei ich natürlich meine Migrationsgeschichte von damals nicht mit denen der heutigen Zeit vergleichen kann. Dennoch gibt es Dinge, die man beachten muss, auch Kompetenz. Ich hatte mich entschieden, am Institut chinesisch zu lernen. Als wir dort ankamen, war klar, fünf Mann Ost-Fakultät und zehn Mann West-Fakultät, aber welche Sprache, war nicht klar. Ich öffnete die Tür und ging zu den Sinologen. Ein paar Monate später sollte ich Burmesisch machen, wies aber darauf hin, dass ich chinesisch, diese schwierige „Hieroglyphen-Sprache“ nun bereits begonnen hatte zu erlernen und nun nicht mehr zu Burmesisch wechseln würde. Ich bin heute stolz und glücklich, dass ich so entschieden hatte, weil ab diesem Moment mein ganzes Leben geprägt war durch immerhin zwei große Länder – ohne das Deutschland hüben wie drüben unterschätzen zu wollen – mit ihrer Geschichte, ihrer Philosophie und ihren Beziehungen zueinander. Ich lernte dort so viel, dass ich mich heute viel ärmer fühlen würde ohne diese Erfahrungen mit und über China. Die Sowjetunion war für mich sozusagen gegeben, dort wurde ich hineingeboren, aber mit China musste ich mich befassen. Die ersten Bemerkungen anderer waren dann: „Wieso überhaupt China? China ist doch auch ein sozialistisches Land, im Grunde genommen ist doch alles klar.“ So waren die Vorstellungen, ich hätte lieber Indien wählen sollen, meinten einige. Niemand sah voraus, dass es wieder die chinesische Frage geben würde in der kommunistischen Bewegung. Eine chinesische Frage, die zu großen Folgen führte in der internationalen Entwicklung, in der kommenden Weltbewegung. Nach dem Studium hatten alle Absolventen aus dem Ausland einen normalen Produktionseinsatz, damit sie sich wieder an die Gepflogenheiten in der DDR anpassten und nicht hochnäsig bzw. überheblich wurden. Ich arbeitete als Packer für Wasserstoff-Glühbirnen im VEB Elektro-Apparate-Werk Berlin-Treptow (EAW). Aus dieser Zeit kann ich Ihnen etwas zum Mauerbau 1961 berichten. Bevor ich in den Produktionseinsatz kam, hatte ich
610 einen Reservisteneinsatz im Sommer 1961. Zuvor durchlief ich die normale Grundausbildung, mit Schießen und Krabbeln, dann war am 21. August nachts Alarm. Wir lagen damals im Wald. Ich war inzwischen verheiratet mit meiner Ljudmila, meiner russischen Frau von der Wolga. Sie war das einzige Mädel in unserer akademischen Gruppe, die aus drei Sprachgruppen bestand. Sehr frühzeitig war ich mit ihr befreundet und am 11. März 1961 heirateten wir in Moskau. Das war damals gar nicht so einfach, denn die Studenten sollten studieren, aber nicht heiraten. Soweit ging der Internationalismus dann leider auch wieder nicht. Es gab sogar eine Art Festlegung, erst war das Studium zu beenden und dann sollte man sehen, ob es ernsthaft sei, wenn ja, dann könne man darüber reden. Ich ging also zum Studienbeauftragten in die DDR-Botschaft in Moskau und meldete, dass ich heiraten würde. Vorher wird ein Beschluss der Landmannschaftsleitung außer Kraft gesetzt. Dort stand, dass eine Heirat im Prinzip nicht möglich war und wenn doch, dann erst ein Jahr nach Beendigung des Studiums. Dass dies von der sowjetischen Seite faktisch als ein Element des Antisowjetismus gesehen werden musste, hätte den Verantwortlichen klar sein müssen. Jedenfalls klärte der damalige Sektorleiter in der Abteilung Internationale Verbindungen, Oskar Fischer, der spätere Außenminister, die Dinge dort, sodass ich dann heiraten konnte, nachdem ich ordentlich Meldung erstattet hatte, dass ich dies tun möchte. Aufgrund meiner Biografie hatte man sicherlich gemeint: „Er wurde nun mal hier geboren und ist verbunden, die Eltern sind ordentlich“, so etwas in der Art. Das betraf später auch mehrere andere, ich war nicht der Einzige. Nicht alle Ehen hatten gehalten, aber das lag nicht an der Nationalität. Also, wir waren Reservisten, lagen im Wald und unser Kummer war groß, meine Frau noch gar nicht da, keiner wusste, was passieren würde. Während des Einsatzes wurden wir aufgeteilt auf verschiedene Kompanien, also ich als Politstellvertreter in einer Kompanie. Ich stand vor Studenten von der Technischen Universität Ilmenau und musste ständig argumentieren, wie das nun denn sei mit den Brüdern und Schwestern, dass wir doch nicht auf sie schießen könnten. Bis heute wurde all dies noch nicht einmal richtig beschrieben. Es gab kein Papier, nichts, was man hätte einfach vorlesen können. Ich versuchte also aus der Geschichte heraus deutlich zu machen, dass es ja gerade darum ging, einen Krieg zu verhindern und es gar nicht erst zu einem Schusswechsel zwischen Brüdern und Schwestern kommen sollte. Dazu hätten wir auch die Möglichkeit und die Kraft, weil die DDR ein sozialistischer Staat mit einer Politik des Friedens war. Und natürlich konnte ich aus Berliner Sicht genügend erzählen, wer die Grenzgänger seien. Bei dem Produktionseinsatz stellte ich fest, dass viele Berliner das zunächst einmal für sehr vernünftig hielten, aber nicht aus großen politischen Überzeugungen heraus. Sondern es ging in ihren Augen nicht, dass eine Reinemachefrau dort arbeitete und über den Wechselkurs „1:4“ oder „1:7“ bekam, z. B. mehr als ein Ingenieur. Auch dies ist im Übrigen bis heute nicht genau beschrieben, dass wir die DDR aufbauten bei offener Grenze, das schwächere Glied im Vergleich zur reichen Bundesrepublik. Uns wurde nichts geschenkt, wir zahlten die Reparationen. Wenn Westdeutsche uns vorwerfen, dass wir doch mit der Braunkohle eine Umweltverschmutzung betrieben, dann muss ich denen
611 sagen: „Haltet doch mal Euren Mund. Wer gab uns die Steinkohle nicht, den Brüdern und Schwestern?“ Wenn zusammenwachsen soll, was zusammengehört, dann geht das nicht ohne eine Veränderung des Weltbildes und im Umgang mit dem Osten auf der Seite der ehemaligen Bundesrepublik. Somit wird es nie eine ordentliche Einheit geben. Abgesehen davon sollte sich jeder einmal die westlichen Bundesländer anschauen, u. a. Hamburg und Bremen, Baden-Württemberg und Bayern. Für mich war absolut klar, ein Walter Ulbricht hätte in Moskau alleine nicht gereicht, um eine Mauer zu bauen. Er hatte es wirklich so gemeint, wie er es gesagt hatte: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“. Die anderen Sätze, die diesem folgten, werden weggelassen. Denn mit dem Berliner Senat wurden Verhandlungen und Gespräche geführt. Auch sei daran erinnert, dass Walter Ulbricht von der Staatsratssitzung mit Gerald Götting nach Wandlitz fuhr, dieser war Vorsitzender der CDU. Ulbricht hatte dem Staatsrat berichtet und dann zu Götting gesagt: „Chruschtschow hat uns ganz schön was eingebrockt, das wird uns lange beschäftigen.“ Ulbricht ging es um die Kontrollmaßnahmen an der Grenze, dass alles ein bisschen in Ordnung gebracht wurde, und Chruschtschow meinte dann bei der Besprechung der Warschauer Vertragsstaaten in Moskau: „Entweder wir machen etwas ganz oder gar nicht!“ Und zwar unter dem Aspekt der Sicherheit, sowohl der Sowjetunion als auch aller anderen Vertragsstaaten. Nebenbei gesagt: Nicht nur SED-Mitglieder konnten ohne Funktion mit der S-Bahn oder zu Fuß rüber, sondern sämtliche Funktionäre, einschließlich Offiziere und Soldaten der im Osten stationierten Truppenteile. Auch hier war die Entscheidung für mich eindeutig und ich wurde dann, wie bereits gesagt, Reserveoffizier der Nationalen Volksarmee. Ich nahm dann die Arbeit im Außenministerium im Sektor China auf, mit einem Gehalt von etwa 560 Mark der Deutschen Notenbank der DDR. Trotz sechsjährigem Studium begann ich „ganz unten“. Das entwickelte sich später langsam weiter. Als ich bereits im Zentralkomitee (ZK) in der Abteilung Internationale Verbindungen tätig war, monierten unsere Instrukteure, die verantwortlich für die Anleitungen bestimmter Länderbereiche waren, dass sie weniger bekamen als die außenministerialen Beamten. Die höheren Gehälter wurden zunächst im Staatsapparat genehmigt. Ich wurde und blieb dann bis zum Jahr 1964 amtierender Sektorleiter China und war auch derjenige, der den Abteilungsleiter vertrat. Gleichzeitig wurde ich Parteigruppenorganisator. Aus heutiger Sicht ist das unvorstellbar. Zur Abteilung Ost gehörten Japan, China, Kambodscha und die Mongolei. Später hatte ich dann Probleme, zwar kamen ins Außenministerium zunächst einmal einige ausgebildete Kader vom Institut in Babelsberg und Moskau. Aber dann wurden aus den Verwaltungsbehörden der DDR erfahrene Kader abgezogen. Letzten Endes stellte sich heraus, dass beispielsweise der Leiter in Frankfurt sagte: „Naja, die können wir abgeben.“ Natürlich hatten sie weder Sprach- noch Spezialkenntnisse, aber sie galten als treue Genossen. Das war nicht immer einfach und natürlich machte ich dabei auch pädagogische Fehler. Was war ich denn auch für ein Pädagoge? Im Jahr 1964 war ich gerade einmal 27 Jahre alt. Als sie mich baten, ob sie schon früher nach Hause fahren könnten, sagte ich wie selbstverständlich: „Ihr braucht mich nicht zu agitieren, natürlich könnt Ihr
612 fahren.“ Genau diesen Satz brachten sie dann gegen mich auf, weil es für sie überheblich wirkte. Das Jahr 1964 war für Sie bedeutend, Ihr Vater verstarb. Wie groß war dieser Verlust und wie tief dieser Schmerz? Der Schmerz begann bereits früher. Ich blieb in meiner Kindheit bis hinein in meine Jugend eng mit der Familie verbunden, einschließlich in der Zeit des Studiums. Ich vergaß vorhin zu erzählen, mein Vater war gelähmt und wurde in Taschkent von einem Ukrainer auf Händen getragen, die Stufen hinunter, zwei Stockwerke bis nach draußen, wenn Erdbeben in Taschkent waren. Mein Vater wurde oftmals von einer armenischen Ärztin, die dort wohnte, von seinen Krämpfen befreit. Soviel wieder zu dem Thema, wie ich den Internationalismus kennenlernte. Es tut mir leid, dass andere Menschen ganz andere Dinge erlebten, Dinge, die ich dann später auch erlebte. Aber ich hatte, wie gesagt, vom konkreten Erleben her, eine Reihe von Pluspunkten, die es mir erleichterten, eine Position zu beziehen. Bei meinem Vater entwickelte sich 1963/1964 ein schleichender Schlaganfall, so nannte es der Arzt damals. Im Grunde genommen etwas, was das Gehirn angriff, es wurde damals aber nicht als Demenz bezeichnet. Es ging dann sehr schnell, von Ende des Jahres 1963 bis zum 3. Februar 1964, als es dann passierte. Da war ich immer noch im Außenministerium und inzwischen Vater unserer ersten Tochter Lena. Gleichzeitig stand dann die Frage eines Einsatzes in Peking. Ich wurde in Abwesenheit dort zum Parteisekretär gewählt, aber nicht hauptamtlich, sondern ehrenamtlich. Dann stieg ich in meine Arbeit ein, ich war bereits 1960 schon einmal in China zum Praktikum in der politischen Abteilung. Wir hatten eine wirtschaftspolitische Abteilung in der Volkskammer, dort schrieb ich eine Arbeit zur Situation in der Metallurgie Chinas, und zwar in der Zeit des großen Sprunges und der Entwicklung von Stahlöfen. Ziel war es, überall, wo es nur irgend ging, Stahl vor Ort in jedem Dorf zu produzieren, was natürlich nicht ging. Also versuchte ich mit Hilfe eines Nachschlagewerkes, etwas Brauchbares dort zu schreiben. Es gelang mir auch, denn wir hatten dann dort einen Handelsrat, Max Friedemann zu der Zeit. Er kam aus der Metallurgie und war seinerzeit Generaldirektor des VEB Stahl- und Walzwerke Riesa. Er wunderte sich, wie ich das dort fertiggebracht hatte. Ich erwähne das deshalb, weil von der Seite meines Vaters immer daran gedacht war, dass ich Politökonomie studiere. Aber nun hatte irgendeine Kaderkommission festgelegt, dass ich Außenpolitik studiere und gesagt: „Also, dazu gehört auch die Politökonomie“, ich bräuchte mich nicht groß aufzuregen, das bekäme ich dort auch noch mit. So war ich also 1960 mit der Metallurgie beschäftigt und ab 1964 schlitterte ich so allmählich in die Zeit der sogenannten Kulturrevolution in China, ab 1965 bis 1966, als der Überfall auf meine Frau stattfand, aber das ist ein gesondertes Thema. Ich erlebte die Kulturrevolution in China als eine der größten Deformationen, die es beim sozialistischen Aufbau gab. Das würde ich jedem heute genauso sagen, der euphorisch ist, was China in den letzten Jahren erreicht hätte. Aber der Weg dorthin war kompliziert und heute wird
613 es wiederum vereinfacht. Die Chinesen beschränken sich auf die Position: Mao war zu 70 Prozent gut und zu 30 Prozent kritisch. Die Russen werden mit der gleichen Problematik bis heute nicht fertig, andere auch nicht. Weil es immer wieder auf eine Person reduziert und damit auf die Geschichte ganzer Völker geschaut wird. Das trifft auch auf das deutsche Volk zu. Adolf Hitler war es und die Verantwortung der Großväter wird völlig ausgespart. Damit kommt man nicht weiter, jedes Volk hat seine Stärken und auch seine Schwächen oder, wie Putin richtig gesagt hatte: „Bei jedem gibt es schwarze Seiten in der Geschichte“, das lehnte er für sich nicht ab, aber machte damit auch deutlich: „Liebe Deutsche, auch für Euch trifft das zu!“ Herr Mahlow, ich würde gerne von dieser Metaebene auf die persönliche Ebene zurückkehren und Sie zu Walter Siegert befragen. Wann und wie lernten Sie Siegert kennen? Wie entstand eine Art Gemeinschaft zu Siegert? Wissen Sie, Herr Dürkop, ich weiß gar nicht so genau, wann wir uns eigentlich kennenlernten. Ich fragte den Walter, inwieweit ich überhaupt sein Zeitzeuge sein kann. Wir beide haben völlig unterschiedliche Lebenswege, völlig unterschiedliAbb. 78: Walter Siegert und Bruno Mahlow zusammen beim 90. che Arbeitsbereiche. DenGeburtstag von Siegert in Berlin. noch ist es eine sehr beeindruckende Freundschaft. Wodurch zeichnet sich diese Freundschaft aus? Sie zeichnet sich dadurch aus, dass unterschiedliche Schicksale, unterschiedliche Kompetenzen, Kenntnisse und Verantwortungsbereiche bei unterschiedlichen Charakteren zu einer guten gegenseitigen Beeinflussung und Ergänzbarkeit führen und dass aus beiden zusammen sehr gut etwas organisch einheitliches Gemeinsames kommen kann. Finanzwirtschaft ist nun etwas anderes als Außenpolitik. Ich würde sagen, irgendwann in den achtziger Jahren trafen wir uns in der Sauna. Da Walter ein kommunikativer Menschentyp ist, wie Sie sicherlich auch feststellten, lernten wir uns näher kennen. Er kann scherzhaft erzählen und alles lacht. Er ist vom Charakter her in keiner Weise jemand, der alles zuspitzt. Er neigt eher zum Einlenken.
614 Ich sagte ihm damals, er sei tolerant, darauf erwiderte er, er könne auch anders, er könne auch ziemlich hart sein. Das weiß ich nicht, mit mir übte er das nicht, ich hatte mit ihm immer ein sehr verständnisvolles Verhältnis. Nun ist die Sauna kein Arbeitsforum, aber dort trafen sich Leute aus der Plankommission, vom Finanzministerium usw. Die einen waren zugeknöpft nach dem Motto, jetzt sei keine Arbeitszeit, hier ist Entspannung und alles andere gehöre hier nicht her. Andere waren wiederum an irgendetwas Bestimmtem interessiert, beispielsweise die, die auf internationaler Ebene arbeiteten, da gab es immer irgendetwas. Wir mussten uns auch abgewöhnen, nach oben zu gehen, wo die anderen Abteilungsleiter bzw. Stellvertreter zum Mittagessen waren, weil immer irgendwer aus einer anderen Abteilung kam und irgendetwas wollte, so richtig unerhört! Was hatte sie das zu interessieren? Wenn man sich aber mit gleichen Problemen auseinandersetzte und sich dann darüber verständigte, das war eine andere Sache. Aber in der Sauna war es wiederum so, dass man sich freute, dass sich jemand für eine Sache interessierte. War das eine öffentliche Sauna in Ostberlin, eine Hotelsauna? Oder wie kann ich mir das vorstellen? Das war eine Sauna, die im Regierungskrankenhaus in der Scharnhorststraße in Berlin war. Später existierten noch verschiedene andere Saunen, vor allem, nachdem es uns nun nicht mehr gab. Wir trafen uns dann zum Beispiel in Lichtenberg, hier im Römerweg. Mit der Zeit entwickelte sich daraus vor allen Dingen, nachdem es die DDR nicht mehr gab, eine fruchtbare gegenseitige Beziehung, in der jeder zunächst einmal Lesematerial aus irgendwelchen Zeitungen bzw. Zeitschriften dem anderen zur Verfügung stellte, verbunden mit Fragen und Kommentaren. Dann tauschten wir uns über Meinungen aus. Der eine oder andere hatte auch etwas geschrieben, zur Verfügung gestellt und nach der Meinung gefragt. Darüber hinaus, wenn es persönliche Fragen gab, fand ich in ihm immer einen hilfreichen, wohlwollenden, einen doch etwas älteren, erfahrenen und abwägenden Charakter, nie einen „Belehrer“ oder sogar einen „Alleswisser“. Ihre Charakterisierung trifft auf den privaten Bereich und Kontakt zu Walter Siegert zu. Gab es berufliche Kontakte zu Siegert, Überschneidungen oder regen Austausch? Nicht in der Zeit, in der es die DDR gab. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir direkten beruflichen Kontakt hatten. Wir hatten zwar den einen oder anderen Austausch, aber der kam spontan. Spezieller wurde es dann mit der Problematik Treuhand oder einzelnen Bereichen im Finanzministerium. Auch, als wir uns zu verteidigen oder einfach Stellung zu nehmen hatten zu bestimmten Dingen, die dann politisch ausgenutzt wurden. Wie nahmen Sie Siegerts Rolle als Staatssekretär der Finanzen und Preise in der Modrow-Regierung ab November 1989 bis Januar 1990 wahr? Beobachteten Sie sein Entscheidungsfeld oder waren Sie involviert? Involviert war ich nur insofern, nachdem ich bis 1973 als Instrukteur, Consultant und Sektorenleiter tätig war. Ich wurde ab 1973 Stellvertreter und unter Egon Krenz kurzzeitig
615 Leiter der Abteilung Internationale Verbindungen. Es gab zwar das Politbüro, aber die aktive Politik lag damals in den Händen der Regierung, wenn man so will. Aber Sie waren nicht im Politbüro! Nein! Der ZK-Apparat, das waren die Abteilungsleiter, Mitarbeiter, Sektorleiter usw. und ich war in einer Wahlfunktion Mitglied der Zentralen Revisionskommission. Das bereits seit April 1981 … Zuerst war ich Kandidat der Zentralen Revisionskommission und später dann Mitglied. Bis 1989 … Weder als Mitglied des ZK noch als Abteilungsleiter wollte man mich sicherlich nicht haben. Das wird alles seine Gründe gehabt haben, aber über diese heute zu spekulieren, hat wenig Sinn. Die sowjetischen Genossen werden mich als jemanden gesehen haben, der von ihnen doch etwas mehr verstand und wusste. Und meine lieben deutschen Genossen werden in mir immer einen Mann des Kremls gesehen haben oder einen Mann von Gorbatschow. Nun gab es am 7. Mai 1989 die Kommunalwahlen in der DDR, damaliger Leiter war Egon Krenz. Die Wahlbeobachter stellten fest, dass die veröffentlichten Zahlen nicht den Tatsachen entsprachen. Es gab eine Anzeige und Demonstrationen begannen auf der Straße. Inwiefern wussten Sie über Wahlfälschungen, wenn Sie in der Revision waren? Ich hatte ein anderes Gefühl bezüglich dessen, was sich bei uns in der DDR entwickelte. Warum? Ich war eher im Wirkungsbereichsausschuss der Nationalen Front in Treptow am Schmollerplatz tätig. Ich hatte natürlich Verbindungen zur Schule durch meine vier Töchter und ich hatte einen aktiven Stand in unserer Hausgemeinschaft, wir führten Gespräche. Seit dem Jahr 1975 wohnte ich immer noch im gleichen Aufgang, mit und ohne Privilegien. Als die Wahl stattgefunden hatte, mussten wir auf den Flugplatz und ich traf den Horst Dohlus, er war Sekretär der Parteiorgane und ich meinte zu ihm: „Sag mal, was machen wir denn bei den nächsten Wahlen?“ Welche Wahlen meinten Sie da? Na, genau nach diesen Kommunalwahlen, Mai 1989. „Wieso?“, fragte er dann. Ich war in unserem Wahlbüro dabei, als ausgezählt wurde und ich sah, dass alles ganz sauber ablief. Daran kann es nicht gelegen haben. Wenn irgendwo vor Ort etwas manipuliert wurde, muss es woanders passiert sein. Also Ihr Wahlkreisbüro war sauber? Ja, wie gesagt, die Frage an Horst Dohlus war völlig aus dem hohlen Bauch. Damit war
616 sozusagen meine Skepsis gegeben. Ohne, dass ich mir überhaupt vorstellte, was dort für ein Mechanismus ablief oder nicht, wer, wo, was usw. Was war denn der ausschlaggebende Punkt für diese Intuition? Die Tatsache, dass ich mich in den Meinungsunterschieden konkret persönlich besser auskannte, und zwar im eigenen Aufgang, zehn Stockwerke. Im Keller hatten wir uns versammelt und ich wurde mit Fragen gelöchert, warum jemand nicht zu seinem Bruder durfte und ähnliches. Ich musste diese Fragen irgendwie beantworten, machte auch auf das Valuta-Problem aufmerksam, dass es nicht nur eine Sicherheitsfrage war. In unserem Haus wohnte eine Frau, die in der Humboldt-Universität sämtliche Reiseanträge bearbeitete, ich wusste, dass diese sich häuften. Nachgefragt: War Ihnen am bzw. ab dem 7. Mai 1989 klar, dass diese Wahlergebnisse gefälscht waren? Das heute zu behaupten mit dem Ausdruck „war mir klar“ wäre nicht gerechtfertigt. Ich hatte Skepsis und ich konnte mir nicht vorstellen, dass das eine absichtliche, organisierte Geschichte war. Erfolgte am 18. Oktober 1989 ein Putsch an Honecker oder sein Rücktritt? Wie erlebten Sie dieses Honecker-Ende? Wie war Ihre damalige Einschätzung? Ich beschrieb das teilweise bereits in meinem Buch, das ich nach dem 7. Oktober 1989 geschrieben hatte, als Gorbatschow zu uns kam. 3 Ich machte mit einem Telegramm darauf aufmerksam, dass es nicht mehr zu halten sei, es musste etwas getan werden. Gorbatschow sollte sozusagen das Vertrauen stärken. Abgesehen davon, als ich mit Egon Krenz gemeinsam in China war, zu ihrem 1. Oktober-Feiertag, hatte ich mit ihm auf dem Gelände des Regierungs-Gästehauses darüber gesprochen, dass es mit Honecker nicht mehr ginge. Was sagte er dazu? „Ich kann doch nicht mit ihm, der nun mein Ziehvater war, so umgehen, wie es andere taten.“ Darauf sagte ich zu ihm: „Egon, es geht um das Land.“ War Krenz in diesem Moment feige bzw. mutlos? Da verlangen Sie etwas von mir, was ich schon unter Honecker vermieden hatte. Und zwar im Nachhinein das zum Ausdruck zu bringen, was vielleicht schon eine Weile vorher bei mir im Kopf war. Als seinerzeit Befragungen zu Honecker stattfanden, wer es weitermachen solle, standen auch andere Kandidaten zur Debatte.
Bruno Mahlow, Wir stehen in der Geschichte und damit in Verantwortung. Texte 2004 bis 2012, Berlin 2012.
3
617 Welche denn? Nicht unbedingt konkret, aber man interessierte sich für die Bezirkssekretäre. Ich meinte, Honecker sei kein Spezialist für die Wirtschaft, das müsse man sehen, sie sollten sich vielleicht bei den Bezirkssekretären umsehen, so in der Art. In welchem Jahr war das? Das war 1971. Dabei ging es um die Nachfolge von Ulbricht. Dann war der 8. Parteitag und dieser war aus meiner Sicht, was die personelle Frage anbetraf, etwas ganz Schlimmes. Danach mussten wir mit den Delegationen reden und überall den „Walter Ulbricht“ aus ihren Reden rausstreichen. Das ging Ihnen nahe? Ja, insofern, weil Erich Honecker nicht mein Fall war. Warum nicht? Weil mein Vater mir nach dem 20. Parteitag zwei Dinge sagte, die ich aber erst im Laufe der Zeit begriff: „Junge, verheirate dich in der Partei nicht mit den Personen, sondern diene der Sache und glaube nicht, dass es in unserer Partei niemand gibt, der nach dem Motto handeln könnte: Geh Du mal weg, lass mich mal ran …!“ Ich weiß, jeder kann sagen, so einfach wäre es ja nicht … Ja, das stimmt. Aber ich verfolgte Ulbricht zum Teil auch kritisch, wusste um seine Fehler, aber wiederum um seine strategischen Fähigkeiten, einfach aus der kurzen Zeit unter Ulbricht aus der Zeit von 1967 bis 1971. Insofern war ich darauf vorbereitet, dass das Alter nun nahte, weil die Besserwisserei ein Problem war. Erich Honecker sah ich eben nicht als solchen, aber ich konnte keinen anderen nennen. Nachgefragt: Konkret zum 18. Oktober 1989 – war das ein Rücktritt von Honecker oder ein Putsch an Honecker? Entscheidend war der Rücktritt unter Druck. Der Inhalt blieb in vielem außen vor. Ich kann nur sagen, dass meiner Meinung nach mit der Art und Weise des Rücktritts der Beginn der Selbstauflösung stattfand. Unser Mechanismus war so, dass, wenn da oben etwas gemeint wurde, dann wurde eben auch so abgestimmt. Insofern bedurfte es aus meiner Sicht keines großen Putsches. Etwas anderes war, wie es zu einer Art Arbeitsgruppe kam. Ich wurde eingeladen zu einer Sitzung des ZK, dann wurde mir gesagt, ich solle in diese Arbeitsgruppe. Wann war das konkret? Am 18. Oktober 1989. Ich sollte also dort in eine Arbeitsgruppe, die den Parteitag außerordentlich vorbereitete. Dann versammelte sich die Arbeitsgruppe, ich fragte noch, wo sie denn tagen wird. „Ja, das weiß ich jetzt nicht“, meinte der Kreissekretär aus Oranienburg, der das leitete, wobei ich seinen Namen nicht mehr weiß. Es waren
618 verschiedene Kreissekretäre, wie sie zusammenkamen, weiß ich bis heute nicht so genau. Irgendwo wurde ich jedenfalls auch benannt, angeblich noch auf der ZK-Sitzung. Wer war noch dabei? In dieser Arbeitsgruppe? Gysi usw., der erste Bezirkssekretär von Erfurt, das ist alles dokumentarisch benannt. Mit anderen Worten, sogenannte Reformer bzw. „Gorbatschow-Leute“, wie Sie wollen. Was war das Ziel der Arbeitsgruppe? Die sollten den Parteitag vorbereiten. Was war das Ergebnis der Arbeitsgruppe? Das Ergebnis war erstmal, dass eine Art Parteikonferenz gekippt und an deren Stelle ein außerordentlicher Parteitag gesetzt wurde, bei dem das Politbüro als solches gar nichts mehr zu sagen hatte, das übernahm die Arbeitsgruppe. Aber wie gesagt, ich war nicht in dieser Arbeitsgruppe und weiß deshalb nicht, was dort im Einzelnen so passierte. Das Plenum begann am 10. Oktober. Um Ihre Ausgangsfrage zu beantworten: Am 18. Oktober sah ich dort keinen Putsch an Honecker, aber die Arbeitsgruppe begann ein Eigenleben und ergänzte auch ihre personelle Zusammensetzung. Sie waren mit Egon Krenz am 1. Oktober 1989 in China, weil Honecker erkrankte, sonst hätte er diesen Besuch absolviert. War es geplant, dass Krenz dorthin reiste? Können Sie das bestätigen? Es muss gesagt werden, Egon Krenz reiste nicht als Nachfolger Honeckers nach China, sondern als Leiter der Delegation der Partei- und Staatsführung. Die aber ursprünglich Honecker wahrnehmen sollte. Wenn er ein echter Nachfolger gewesen wäre zu der Zeit, dann hätte er amtieren müssen anstelle von Honecker. Amtiert hatte aber Mittag. Obwohl Krenz als Kronprinz von Honecker gehandelt wurde. Ja, er wurde als solcher gehandelt, aber wie er selbst schreibt, ab irgendeinem Moment verlor er das Vertrauen von Honecker. Soweit kenne ich das aus seinem Buch Herbst ’89. Krenz sprach am 1. Oktober 1989 von seinem Ziehvater. Was hemmte oder blockierte Krenz aus Ihrer Sicht, es nicht zu tun? Er wollte ordentlich mit Honecker umgehen, alles mit seiner Zustimmung regeln, ohne den Druck der Verhältnisse zu beachten. Das ist alles, was ich daraus entnehmen kann. Alles andere sind Dinge, die man im Nachherein hinein transportiert. Zumal ich natürlich Egon Krenz und Hans Modrow aus heutiger Sicht in vielem anders sehe als zum damaligen Zeitpunkt, als ich sie persönlich kennenlernte.
619 Wichtig für Historiker in Zeitzeugengesprächen ist, dass wir Ihre Sichtweise und Schilderungen zum damaligen Zeitpunkt abfragen. Wenn Sie Ihre Sichtweise in den letzten dreißig Jahren verändert haben, müssen wir das benennen sowie hinzufügen. Verständlich. Egon hatte dann, mit den „gehobenen“ Delegationsmitgliedern im Flugzeug, seine Rede im ZK zur Ablösung Honeckers vorbereitet. Im Flugzeug, am 1. Oktober oder auf dem Rückflug? Nun, nicht am 1. Oktober, sondern am 2./3./4. Oktober auf dem Rückflug. Bei der Formulierung irgendwelcher Papiere war ich aber nicht dabei. Aber selbst noch im Jahr 1990 stand ich zu Egon und ich versuchte, bei den Chinesen für ihn noch eine Arbeit zu finden. Aber ich sah und sehe ihn auch heute nicht als die Person, die geeignet gewesen wäre, bei der Problemlage sowohl das Land als auch die Partei zu führen. Was konkret fehlte Krenz? Warum war er für Sie ungeeignet? Wissen und praktische Erfahrung. Bildlich gesprochen: Vom FDJ-Vorsitzenden zum Generalsekretär, da fehlte eine Funktion, die etwas mit staatlicher Verantwortung in der Wirtschaft zu tun hatte, wenigstens im Kreis oder im Bezirk. Verantwortlichkeit ist auch eine Kompetenzproblematik. Abgesehen davon, wenn man Sekretär für Sicherheitsfragen ist, aber einen Verteidigungsminister hat, der im Politbüro sitzt, ebenso einen Sicherheitssinister im Politbüro, das ist doch alles nicht ohne Probleme weiter abgelaufen. Es kam zur sogenannten Ämterkumulation bei Egon Krenz: Er wurde Staatsratsvorsitzender, Generalsekretär des ZK der SED, Chef im Politbüro, Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates und war auch Abgeordneter in der Volkskammer. Alle Ämter und Funktionen, die Honecker abgab, übernahm er komplett. War das ein Fehler? Natürlich. Warum? Die Funktionskonzentration hatte sich bereits vorher als problematisch erwiesen. Ich will mal so sagen, wenn Sie es zurückverfolgen, unter Walter Ulbricht, den man nun als Diktator hinstellt, wurde der Staatsrat geschaffen. Er war ein Verfechter – das möchte ich jetzt kühn behaupten – von einer stärkeren Trennung der Kompetenzen der Verantwortung von Parteiapparat und Regierung. Was Stalin auch war, nebenbei gesagt, das wird bloß unterschlagen. Stalin war zwar Diktator, wie man immer behauptet, aber auch er kam nicht mit allen Dingen durch. Er wollte beispielsweise Alternativwahlen. „Um Gottes Willen“, sagten dann die Gebietssekretäre, „es könnte passieren, dass Sie nicht gewählt werden.“ Und schon kamen die Dreierkommission und die Listen der zu „Feinden des Volkes“ erklärten Personen zustande. Im Staatsrat waren auch die Vertreter der Blockparteien anwesend. Es gab eine, ich nenne es mal Tendenz zur Demokratisierung und das alles im großen Haus. Ich bin, ehrlich gesagt, auch für mich und meine Arbeit heilfroh, dass ich in keiner Abteilung
620 arbeitete, die unmittelbar verantwortlich für Ministerien war. Wir waren eine Abteilung für internationale Verbindungen, unser Arbeitsgebiet war die Beziehungen zu Parteien. Die Abteilung hieß früher Außenpolitik und Internationale Beziehungen. Später wurde sie in Internationale Verbindungen umbenannt, weil zur Außenpolitik es einen Außenminister gab und sich natürlich der Generalsekretär mit der Außenpolitik befasste. Es gab einen Sekretär für internationale Fragen, das war Hermann Axen. Unter Walter Ulbricht war das alles noch etwas mit der Außenpolitik verbunden. Später waren wir dann eine Abteilung für Parteibeziehungen und für die Anleitung der Parteiarbeit im Außenministerium. Die konkrete Umsetzung erfolgte oft einvernehmlich über den jeweiligen Instrukteur in der entsprechenden Abteilung, der auch an Versammlungen teilnahm. Konkret: Machte Krenz den Chinesen eine Aufwartung? Er widersprach der Niederschlagung auf dem Tian’anmen-Platz nicht, sondern im Gegenteil, er bekundete Solidarität. So wurde es über die Medien berichtet und im Zusammenhang mit der in der DDR im Herbst ´89 stattfindenden Revolution mit der sogenannten „chinesischen Lösung“ gedroht. Waren Sie unmittelbar in China dabei bei dem Gespräch, wo es zu diesen Äußerungen von Krenz kam? Bei irgendwelchen Sachen war ich schon dabei. Aber in meinen Augen wurde die ganze Tian’anmen-Geschichte gezielt aufgebaut. Es gab Leute, die dies auch sahen und meinten, Egon hätte nicht fahren sollen, was Quatsch gewesen wäre, denn dann hätte er wirklich eine Art Bruch erzeugt. Wäre kein anderer gefahren oder sein Stellvertreter? Das war völlig ausgeschlossen, nachdem im Neuen Deutschland (ND) stand, dass es ein konterrevolutionärer Versuch war. Das kam nicht aus der Abteilung Internationale Verbindungen, unsere Einschätzung wurde nicht aufgenommen. Welche Einschätzung? Was konkret? Ich operierte im Hinterkopf ein bisschen mit dem 17. Juni 1953, d. h., es gab Unzufriedenheit und diese wurde missbraucht. Das war die Grundlinie. Und Ihre Empfehlung war, niemanden zu den Feierlichkeiten der DDR … Dazu wurden wir gar nicht erst gefragt. Aber wäre es Ihre Empfehlung gewesen, wenn Sie gefragt worden wären? Mit der Entsendung von Egon Krenz war zugleich objektiv festgelegt, dass dies dazu führen würde, dass er nicht akzeptiert würde, das wird ihm zum entscheidenden Vorwurf gemacht. Nur diejenigen, die meinten, ihm davon abzuraten, die verkannten diese Situation völlig. Wie hätte er das denn machen sollen?
621 Sie meinen, eine bewusste Rufschädigung seiner Person bzw. seiner Glaubwürdigkeit? Es hat geklappt. Auch mir bekannte Sinologen sprangen auf den Zug auf, vor einer chinesischen Lösung zu warnen, die aus meiner Sicht überhaupt nicht zur Debatte stand. Als es um die polnischen Ereignisse gegangen war, … Sie meinen das Jahr 1981? Ja, da schloss ich eine bewaffnete Lösung durch den Warschauer Vertrag, so wie in Prag beispielsweise, völlig aus. Ich sagte unserem Instrukteur damals: „Suche mal bitte in der Verfassung, ob es irgendetwas gibt, was einen Ausnahmezustand zulässt.“ Er fand natürlich nichts, weil er auch nicht interpretierbar genug an die Sache heranging, so wie es später Wojciech Jaruzelski tat. Da hatte man doch einen Ansatz gefunden und verhing einen Ausnahmezustand, der nach der polnischen Verfassung nicht einhundertprozentig zu rechtfertigen gewesen wäre, aber angesichts der politischen Lage und der Gefahr, die sich ausgemalt wurde, dass sie nicht wollten, dass die Russen dazukämen … Wie sehen Sie die Rolle von Egon Krenz am 9. November 1989? Es war kein Mauerfall, es war eine Grenzöffnung, die Grenze wurde von Osten nach Westen geöffnet und später wurde die Mauer abgetragen. Im Grunde genommen kenne ich von ihm nur, dass er den Erich Mielke angerufen und sich mit ihm verständigt hatte: „Wir können doch nicht schießen, Erich!“, worauf Mielke antwortete: „Hast Recht, min Jung!“, so Egons Erzählung. Genauso sagte Egon Krenz Ihnen das persönlich? Ja. Ich würde auch keinem vorwerfen, unter dem Aspekt, wie alles auf sowjetischer Seite ablief, einen solchen Gedanken gehabt zu haben, dies mit Schüssen lösen zu wollen. Folgendes: Aufgrund des letzten Grenztoten im Februar 1989, Chris Gueffroy, gab es Anfang April eine interne Abstimmung im Politbüro, dass bei Grenzflüchtlingen die Schusswaffe nicht mehr zum Einsatz kommen darf. Diesem stimmten u. a. Erich Honecker schriftlich und Egon Krenz fernmündlich zu, da Krenz nicht persönlich an der Sitzung teilnehmen konnte. Fritz Streletz hatte diese am 2./3. April abgefasste Erklärung mündlich an die Grenzobersten weitergeordert. In der Konsequenz gab es danach keine Grenztoten mehr, Fluchten ja, die auch verhindert wurden, es wurde aber niemand tödlich durch die Schusswaffe beim Fluchtversuch gehindert. Des Weiteren gab es den NVR-Befehl 9/89, erlassen am 13. Oktober von Honecker, bei Demonstrationen nicht die Schusswaffe anzuwenden, sich nur unter Gefahr des eigenen Lebens zu verteidigen. Dieser Befehl wurde von Egon Krenz in den NVR-Befehlen 10/89 und 11/89 nach der Honecker-Zeit übernommen. Die Einstellung von Krenz ist somit deckungsgleich mit dem von Ihnen gerade beschriebenen Telefonat, wobei Krenz meinte: „Wir können doch nicht schießen!“ und Mielke daraufhin antwortete: „Hast Recht, min Jung!“
622 Anhand der Verkettung dieser Abläufe ist das authentisch, was Sie dazu sagen und was Krenz Ihnen gegenüber äußerte. Ich gehe davon aus, dass für Krenz durch sein „Nichtstun“ bzw. „Nichthandeln“ am 9. November aus heutiger Sichtweise eine Beteiligung für die Grenzöffnung zu verbuchen ist, ob durch sein „bewusstes“ oder „unbewusstes“ Handeln. Wir stellten fest, er hatte alle hochrangigen Ämter in seiner Person vereinnahmt und somit hätte er allein darüber entscheiden können, ob ein gewaltsames Eingreifen erfolgt bzw. geschossen werden sollte oder eben nicht. Glücklicherweise kam hinzu, dass kein Grenzer durch eine Provokation oder eine Fehlinterpretation der brisanten explosiven Lage durch einen Befehl oder Kontrollverlust einfach die Nerven verloren hatte, tatsächlich die Schusswaffe gegen die DDR-Bevölkerung richtete bzw. einsetzte. Herr Mahlow, wie sehen Sie dieses Ereignis? Das ist für mich das Allererstaunlichste. Man musste sich vor einem schützen, ich merke das an Ihren Fragen. Sie müssen immer daran denken, jeder hat seinen Arbeitsbereich bzw. damit seinen Verantwortungsbereich. Dazu kommt noch ein Kenntnisbereich. Alle diese Fakten, die Sie mir jetzt nannten, kannte ich natürlich nicht. Ich war innerlich davon überzeugt, auf die eigene Bevölkerung zu schießen, dass passiert nicht, auch aufgrund der Zurückhaltung der sowjetischen Seite. Da wird nun viel herumoperiert, dass einer den anderen anrief usw., es ergab sich ein großes Durcheinander, auch auf der sowjetischen Seite, was wir nicht unterschätzen sollten. Dennoch mussten die politischen Stellvertreter gearbeitet haben, sie kamen nicht umhin, auch der ehemalige NVA-General Heinz Bilan, der jetzt über Prag schrieb, Abb. 79: Mahlow (stehend) begrüßt Fritz Streletz auf einer Buchlesung von Egon Krenz in Berlin – 11.7.2019. und andere hatten doch über die Weltlage immer wieder informieren müssen. Ich glaube, die Offiziere waren alle oder im Wesentlichen von der Gesamtsituation beeinflusst, wie sich das mit der Perestroika entwickelte, sodass es nicht zu einem Schusswechsel oder kriegsähnlichem Einsatz kam. Dazu gehörte auch die Tatsache, dass der Ernst der Situation nicht erkannt wurde, nämlich, dass es uns dann nicht mehr gäbe. Ich muss Ihnen ehrlich sagen, ich kann Ihnen generell wie menschlich die Ursachen begründen, warum die SU zerfallen war, aber bis zum Ende begreifen werde ich es trotzdem nicht. Wie konnte man eine solche Fehleinschätzung des politischen Gegners treffen und von ihm blauäugig annehmen, nach all den historischen Erfahrungen, dass Zugeständnisse gemacht und sie dann deren Freunde würden? Tut mir leid. Wir können das weiterführen, wie Sie wollen, Sie merken an mir, dass ich auch weiterdenke. Es gibt Dinge, die ich damals sagte und meine, dass ich Recht hatte, beispielsweise, als ich dem
623 sowjetischen Diplomaten zur Aufgabe der DDR sagte: „Ihr gebt damit einen Teil Eurer Souveränität hier auf diesem Kontinent ab!“ Das war auch so! Deswegen bin ich kein ausgesprochener Hardliner, aber man muss schon in der großen Politik manche Dinge auf den Punkt bringen. Zu einem weiteren Akteur: Am 13. November 1989 kam Modrow in Berlin auf die große Politikbühne. Zuvor war Modrow Erster SED-Bezirkssekretär in der Zeit von 1973 bis 1989 in Dresden. Wie sahen Sie Modrows Rolle? Wie verfolgten Sie seine Ministerpräsidentschaft, letztendlich bis dann zu den einzigen und letzten freien Wahlen im März 1990? Von den westlichen Medien wurde er immer als „Hoffnungsträger“ und „Gorbatschow des Ostens“ eingeschätzt bzw. tituliert. War diese Einschätzung richtig? Mit Hans Modrow hatte ich persönlich auch Kontakt noch zu der Zeit, als es die DDR gab. Ich sah in ihm immer einen Menschen mit Kompetenz und kritischer Vorstellung. Für mich war er einer der Vorstellbaren, der etwas Herausragenden. Allerdings ist meine subjektive Sicht nicht unbedingt deckungsgleich mit der der Genossen, die wiederum mit ihm in Dresden zusammengearbeitet hatten, von denen ich später teilweise dieses und jenes erfuhr, wie das halt so ist. Fakt ist nun einmal, dass er in eine Situation gebracht wurde bzw. hineinkam, die ohne historische Umstände nicht zu erfassen ist. Meiner Ansicht nach meisterte er diese nach bestem Wissen und Gewissen, und man kann schlecht sagen, wenn man etwas meistert, dann erreicht man etwas Besonderes – aber er ging damit um. Die Rolle der Sowjetunion war dabei für ihn eindeutig. Als mir am Telefon seine Losung mitgeteilt wurde, „Deutschland, einig Vaterland“, sagte ich aber gleich, dass ich davon nichts hielt, es sei alles zu spät bei der Vorbereitung für das Gespräch mit Gorbatschow. Aber was kam heraus? Gorbatschow war mit James Baker schon viel weiter. Genossen fühlten sich vor den Kopf gestoßen, weil sie vorher nicht informiert worden waren und nun plötzlich eine Einheitslösung vorgesetzt bekamen, in der aber der Inhalt fehlte. Ich sage das absichtlich, denn wenn man einem führenden Mann in einer Zwangssituation, der versuchte, damit umzugehen, im Nachhinein vorwirft, dass er damit auf seine Art und Weise umging, dann ist man nicht ganz objektiv. Er konnte doch gar nichts mehr machen. Was waren Modrows Erfolge und was würden Sie als Misserfolg bewerten, bezogen auf seine aktive Regierungszeit in der Zeit von November 1989 bis Anfang April 1990? Für eine Antwort auf die Frage nach Erfolgen und Misserfolgen müsste ich mich noch einmal hinsetzen und krampfhaft versuchen, die Erfolge zu erkennen. Die Erfolge runden sich darauf ab, dass kein Schusswechsel stattfand und keine Zuspitzung der politischen Situation erfolgte. Weiter kann man sagen, er ging nicht zu Boden, er war kein Lothar de Maizière, den sie von allein ausgesucht hatten, weil er klein genug war. Modrow bewahrte Haltung, er förderte auch keine Krise in irgendeiner Weise, er stellte sich auf die Realitäten ein. Werten Sie das als Erfolg oder Misserfolg.
624 Was meinen Sie, Herr Siegert? Ich würde mal so sagen, er hielt das Schiff, so gut es ging über Wasser. Er versuchte viele Ansätze, um Erfolg zu haben, errang aber letztendlich keinen. Wenn er etwas halbwegs „repariert“ hatte, kam am Ende wieder die nächste Granate und alles war über den Haufen. Ich erlebte es dort am Kabinettstisch. Wenn ich beispielsweise an den 15. Januar 1990 denke, wo die Stürmung der Stasi-Zentrale drohte, als Hans Modrow sagte: „Meine Damen und Herren, entschuldigen Sie bitte, ich muss jetzt zur Normannenstraße und mit den Leuten vor Ort reden.“ Ohne, dass ich es jetzt ausbaue, ich sah kürzlich einen hochinteressanten, objektiven Film über diesen Tag, da kam meine Erinnerung zurück und auf einen ganz kurzen Nenner gebracht, wurde in diesem sehr deutlich, wie diese Sache dort inszeniert worden war. Der damalige Chef des BND wurde befragt: „Sagen Sie mal, wieso ist denn dann plötzlich bei der Erstürmung eine nicht definierte und bis heute nicht erkennbare Truppe ganz gezielt in den Teil reingegangen, wo die Akten der HVA lagen?“ Dann stellte sich dieser Mann hin und sagte: „Also, das kann ich mir auch nicht erklären, ich weiß nicht, wer das … Also wir waren auf jeden Fall nicht daran beteiligt!“ Zuvor hatte in diesem Film kein geringerer als Werner Großmann erzählt, das war für mich auch eine neue Information, dass er früh den Oberst zum Runden Tisch geschickt hatte, der dort an diesem Tag erklären sollte, was die Stasi nun sei und was nicht. Und was tat der Mann? Er fuhr nach Westberlin und diente sich bei der dortigen BND-Stelle an. Sie verluden ihn sofort ins Flugzeug, sodass am Nachmittag bereits alles dort bekannt war, was an dem Tag in Lichtenberg stattfinden sollte. Bruno Mahlow: Also auf jeden Fall sind Erfolge seinerseits schwer zu benennen. Aber als Person ging er nicht in die Knie. Er hatte wahrscheinlich auch Schwierigkeiten, sich selbst als Person richtig einzuordnen, von seiner Entwicklung und seinem Charakter her, das kann ich mir gut vorstellen. Auf jeden Fall ist diese ganze sogenannte Wiedervereinigung kein Ruhmesblatt. Das hätte man vom Standpunkt der deutschen Geschichte her auch bedeutend feiner machen können. Wenn schon „Wandel durch Annäherung“, dann hätte man hier eine große Sache daraus machen müssen. Das heißt eine Annährung im Sinn eines Verständnisses und einer Verständigung und nicht im Sinne eines Anschlusses, der weder dem Frieden in Deutschland, in Europa und dem Rest in der Welt diente. Mit „Wandel durch Annäherung“ meinen Sie die berühmte Rede von Egon Bahr in Tutzing 1963. Jetzt zu Lothar de Maizière: Wie würden Sie seine Rolle als Ministerpräsidenten der DDR ab dem 12. April – gewählt am 18. März – bis zum 2. Oktober 1990 einordnen? Zur Erinnerung: Im August 1990 stieg die SPD aus der großen Regierung aus, de Maizière wurde Nachfolger von Markus Meckel, Außenminister der DDR. Ich sage ganz ehrlich, meine Einschätzung zu De Maizière ist ausgesprochen subjektiv. Ich werde auch Schwierigkeiten haben, diese zu objektivieren, obwohl ich weiß, dass auch russische Diplomaten sich Mühe mit ihm gaben und sagten: „Er hätte doch“ usw. Seine eigene Einschätzung, wie mit ihm umgegangen wurde und wie gedemütigt er sich
625 fühlte. Ohne den Ausdruck jemals zu gebrauchen, macht letzten Endes deutlich, er war kein aktiver DDR-Befürworter. Er war aktiv für die Einheit, konnte aber aufgrund seiner Ausgangsposition kein Aktivposten für die Interessen der DDR-Bevölkerung sein. Er hatte sich zwar bemüht, sich über die Musik und damit über die Kultur als kultiviert zu zeigen, aber es wäre zu viel von ihm verlangt gewesen, politische Festigkeit und Entschlossenheit zu offenbaren. Walter Siegert: Übrigens, das unterstütze ich übrigens komplett. Er war ein Getriebener … Bruno Mahlow: Ich sprach einige Male mit ihm, wir waren uns einig, auch darüber, dass Pjotr Andrejewitsch Abrassimow weniger ein selbständiger Botschafter in einem selbständigen Land war, als mehr in der Art als ein Gouverneur „rumhantierte“. Da kommt man auch schnell mit ihm zurecht. Er wird sicherlich auch kein ausgesprochener Russland- oder Putin-Gegner sein, das nicht. Es fällt mir schwer, auch nur irgendeine eigenständige Rolle von ihm zu erkennen. Vor allen Dingen hatte er wenig Spielraum. Walter Siegert: Er ist subjektiv, daran halte ich fest, ein ganz ehrlicher Typ und ein anständiger Kerl, aber man kann eben selbst als anständiger und gutwilliger Mensch nicht gegen die Umstände an. Wenn man sich dafür einsetzt, dass die Allianz für Deutschland gewissermaßen dieses Stück Deutschland, was DDR hieß, aus der Talsohle herauszuholen, dann hat man sich damit schon, wie Faust, dem Teufel verschrieben. Dann ist man auf Gedeih und Verderb verbunden, wie Faust auch an Mephisto gebunden war. Er erzählte mir vieles, was er gerne anders hätte machen wollen, aber ein Faktum ist, die Verhältnisse waren nicht so. Bruno Mahlow: Deswegen sagte ich, meine Meinung ist absolut subjektiv. Ich stritt mich mit Russen, die ihn aufgrund ihrer Blauäugigkeit teilweise etwas anders einordneten und ich aufgrund bestimmter Kenntnisse über Kirchgänger und über Verhaltensweisen etwas wusste. Daher versuchte ich auch gar nicht, bei denen irgendetwas Ehrliches bzw. Aufrichtiges zu finden. Da war für mich zu wenig Aufrichtigkeit. Im Jahr 2020 feiern wir zum dreißigsten Mal den Tag der deutschen Einheit. Was wünschen Sie sich, was von Ihrer damaligen DDR für diese und die nächsten Generationen als Erinnerung übrigbleiben sollte? Die Wahrheit und damit Errungenschaften der DDR auf einem Weg nach vorn, die Berücksichtigung von Lehren und Erfahrungen. Man möge sich an die Werte des Lebens erinnern, die nicht aufgeteilt werden können, sondern an Werte und Qualität des Lebens und an die Leistungen, die die DDR bei ihrem fortschrittlichen Versuch, der nicht zum Erfolg führte, doch vorzubringen hat, und aus dem man vieles entnehmen kann. Ich will schon gar nicht davon reden, dass die Beziehung des Bürgers zum Staat in der DDR
626 gepflegt wurde, deswegen existierten Hausgemeinschaften, das Sammeln von Altpapier und Rohstoffen (SERO), die Polikliniken sowie Gärtnergemeinschaften oder Anglergemeinschaften usw. Es gab ein Streben zu etwas Gemeinsamem. Es würde ganz Deutschland guttun, sich, auch unter Nutzung der Erfahrungen, die es in der Bundesrepublik bzw. in Westdeutschland gibt, wo es ebenfalls bestimmte Gemeinschaften, Institutionen, Vereine gab, …. Das heißt, all das, was dazu führt, dass man von dem allzu nackten Egoismus, bei aller Förderung der individuellen Freiheiten, nicht bei einer Beliebigkeit landet, wo kein Mensch etwas Gutes davon hat. Beliebigkeit ist kein Inbegriff dafür, sich frei und demokratisch zu fühlen. Verehrter Bruno Mahlow, verehrter Walter Siegert, vielen Dank für das Gespräch und Ihre Unterstützung zur Geschichtsforschung.
627 8. Medien, Politik und Öffentlichkeit Klaus Feldmann „Nimmt es da Wunder, dass die ‚Aktuelle Kamera‘ ein ungeliebtes Fernsehkind bei den Zuschauern war?“
Abb. 80: Porträt von Klaus Feldmann
Klaus Feldmann wurde am 24. März 1936 in Langenberg/Gera geboren und ist in Leipzig aufgewachsen. Im Jahr 1950 Abschluss der achtjährigen Grundschule. Erlernter Beruf Buchdrucker 1950 bis 1953. Von 1948 bis 1953 war er Sprecherkind beim MDR. Dadurch entdeckte er seine Liebe zum Rundfunk. In der Zeit von 1954 bis 1955 absolvierte er ein Journalistik-Studium an der Staatlichen Rundfunkschule Weimar, was für Feldmann eine Belastung war. Den Leistungsumfang von der Journalisten-Fachschule in Leipzig (3 Jahre) musste er als Pensum in Weimar in einem Jahr aufbringen. In der Zeit von 1955 bis 1957 leistete er seinen NVA-Militärdienst ab. Seit 1958 gehörten auch das DEFA-Studio für populärwissenschaftliche Filme, das Dokumentarfilmstudio und das DEFA-Synchronstudio zu seinen freiberuflichen Arbeitsplätzen. Im Jahr 1958 trat Feldmann der SED bei. In der Zeit von 1957 bis 1963 war er Nachrichtensprecher beim Deutschlandsender und in der Zeit von 1963 bis 1989 Sprecher der allabendlichen „Aktuellen Kamera“ beim Deutschen Fernsehfunk (DFF). Bis September sprach er die Nachrichten, dann verließ er zum Jahresende 1989 das Fernsehen der DDR. Ab Oktober 1990 bis 1995 war Feldmann Pressereferent beim Kraftfahrzeug-Überwachungsverein DEKRA. In der Zeit von 1995 bis 1997 war er Nachrichtenchef und Sprecher beim privaten Regionalfernsehsender „Lausitz TV“ und ab 1998 als freier Mitarbeiter des Regionalsenders Frankfurt/Oder. Danach Rentner. Feldmann ist Buchautor: „Nachrichten aus Adlershof“, Verlag Edition Ost; „Das waren die Nachrichten“ Verlag Eulenspiegel; „Ansichtssache“ Nora-Verlag und „Verhörte Hörer“ Verlag Eulenspiegel. Hörbücher: „Die Rache des kleinen Weihnachtsmannes“, „Wer lernt mir deutsch“ und „Rettet dem Dativ“. Eigene Produktionen „Kaminfeuer“ und „Alle Jahre wieder“ als Weih-
628 nachtsgeschichten. Jährlich führt er div. Lesungen durch: Das waren die Nachrichten, Verhörte Hörer, Kaminfeuer, Mattscheibe – Lachen und lachen lassen und „August“ eine Erzählung von Christa Wolf. Herr Feldmann, Sie waren fast 30 Jahre das Gesicht der DDRNachrichtensendung Aktuelle Kamera (AK). Wie erlebten Sie die Medien in diesem langen Zeitraum und im Besonderen in ihrem Wandel der Ereignisse 1989/90? 4 Was die bewusste Wahrnehmung der Medienpolitik beAbb. 81: Das Gesicht der DDR-Nachrichtensendung trifft, beschränke ich mich auf Aktuelle Kamera. die Zeit ab 1957, als ich im Rundfunk meine Sprecherlaufbahn antrat. Beschäftigt war ich beim „Deutschlandsender“, dessen Programm auf die Hörer in der Bundesrepublik ausgerichtet war. Deshalb war z. B. das Musikprogramm allen Genres mit mehr Kompositionen westdeutscher Komponisten bestückt, als es bei Radio DDR oder dem Berliner Rundfunk der Fall war. Man sollte dabei bedenken, dass für jeden Westtitel die GEMA-Gebühren in Westmark bezahlt werden mussten. Zumindest bis 1960 wurde in den Sendungen der Aspekt der Vereinigung der beiden deutschen Staaten vertreten. In den Sportnachrichten verlasen wir z. B. nicht nur die Ergebnisse der Bundesliga, sondern auch die der nachgegliederten Ligen. Auch personell war der DS mit Kennern der westdeutschen Szene bestellt. Intendanten waren z. B. der in Dortmund geborene Kurt Goldstein (1914–2007) 5 und der Münchner Heinz Geggel (1921–2000), später Leiter in der Agitationskommission des ZK der SED (1965–1989). Nachdem ich schon seit 1961 Sportsendungen moderiert und die Nachrichten der „Aktuellen Kamera“ gesprochen hatte, wechselte ich 1963 zum Fernsehen. Die Einflussnahme von außen war gering, noch herrschte der „Ministerien-Staat“ vor, als 1968 (Prager Frühling) der Parteistaat übermächtig wurde und Mitarbeiter aus dem Parteiapparat an Das Interview wurde schriftlich geführt und am 23.9.2020 zur Veröffentlichung freigegeben. Die Bilder wurden von Feldmann zur Verfügung gestellt. 5 In der DDR wurde Goldstein politischer Mitarbeiter der Westabteilung des Zentralkomitees der SED und wechselte 1956 zum Rundfunk der DDR, wo er bis zu seiner Pensionierung 1978 als Funktionär in leitender Stellung tätig war. Im Jahr 1957 kam er zum Deutschlandsender, dessen Intendant er von 1969 bis 1971 war. Nach der Umbenennung in Stimme der DDR 1971 war er bis 1978 Intendant dieses Senders. 1976 wurde Goldstein Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees und von 1982 bis 1991 Sekretär der Internationalen Föderation der Widerstandskämpfer in Wien. 4
629 verantwortliche Stellen ins Fernsehen gesetzt wurden. Auch nur Ansätze einer bisher durchaus üblichen kritischen Berichterstattung verschwanden aus den Sendungen der „AK“. Inhalte und Reihenfolge der Beiträge wurden von der Agitationskommission des ZK der SED täglich der Chefredaktion vorgegeben. Sie unterlag wie alle anderen Chefredaktionen der DDR-Medien einer einheitlichen Sprachregelung, beispielsweise während der Ereignisse um und in 1989. Wenn die Montagsdemonstrationen und darauffolgende Ereignisse überhaupt in den Sendungen oder Zeitungsnachrichten Erwähnung fanden, dann als Provokationen von westlicher Seite gelenkter Personen oder direkte völkerrechtwidrige Angriffe der BRD, wie die Aufnahme von DDR-Bürgern in den BRD-Botschaften von Prag und Warschau. Nachrichten über diese Ereignisse kamen direkt aus dem ZK und durften als sogenannte Wortlautmeldungen nicht verändert werden. Natürlich informierten sich die DDR-Bürger, wenn ein Empfang möglich war, bei ARD und ZDF, um über die Lage im Lande informiert zu sein. So war dann eben in der AK auch die Rede von medialer Einmischung in die inneren Angelegenheiten der DDR. Nimmt es da Wunder, dass die „Aktuelle Kamera“ ein ungeliebtes Fernsehkind bei den Zuschauern war? Als die Obrigkeit verstummte und die fähigen Journalisten ihren Beruf ohne Bevormundung ausüben konnten und wieder an Glaubwürdigkeit gewannen, wurden sie mit bajuwarischer Rücksichtslosigkeit abgewickelt. Vielen Dank. Ich hoffe, Sie können die Antwort verwerten. Bitte beachten Sie, dass ich ab Januar 1990 nicht mehr im Fernsehen der DDR tätig war.
631 Günther von Lojewski „Schließlich sind Journalisten nicht weniger Opportunisten als andere Menschen auch. Die laufen relativ schnell zur anderen Seite über, um das eigene Leben und Überleben zu retten. In diesen wenigen Wochen im Herbst 1989 ging das blitzartig.“
Abb. 82: Die Medien erklären und in der deutsch-deutschen Geschichte einordnen – Günther von Lojewski im Vortrag 2020.
Günther von Lojewski wurde am 11. Juni 1935 in Berlin geboren. Er ist der Sohn des Journalisten Werner von Lojewski (1907–1980), der als einer der ersten Journalisten ab 1949 aus der Bundeshauptstadt Bonn u. a. für die Hannoversche Allgemeine (HAZ) und die Westberliner Tageszeitung Der Abend berichtete und später Sprecher des CDU-Vorsitzenden Konrad Adenauer und dann des ersten Präsidenten der EWG, Walter Hallstein, war. Günther von Lojewski studierte Geschichte, Germanistik und Staatswissenschaften in Bonn und Innsbruck und promovierte zum Dr. phil. bei Professor Max Braubach (1899– 1975) an der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn zum Thema „Bayerns Weg nach Köln. Geschichte der bayerischen Bistumspolitik in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts“. Ab 1960 war Lojewski Volontär der Hannoverschen Allgemeinen und ab 1964 innenpolitischer Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Im Jahr 1969 übernahm er die Leitung der ZDF-Nachrichtenredaktion und moderierte zeitweise das heute-journal. In den 1970er Jahren wurde er Mitglied der CDU, trat später wieder aus. In der Zeit von 1977 bis 1987 war er Chef und Moderator der Report-Redaktion des Bayerischen Rundfunks. Im April 1989 erfolgte seine Wahl zum SFB-Intendanten, das Amt übte er bis 1997 aus. An der Zusammenführung und Neugestaltung der Rundfunklandschaft in Mittel- und Ostdeutschland wirkte Lojewski in den Jahren 1989 bis 1991 maßgeblich mit. Ab 1997 war er als Honorarprofessor für Mediengeschichte und -politik und Direktor des Internationalen Journalistenkollegs an der Freien Universität in Berlin sowie seit 2002 auch als Professor h. c. an der Lomonossow-Universität in Moskau tätig. Publikationen (Auswahl): Bayerns Weg nach Köln (1962); Mehr Staat – weniger Staat (1982); Wem gehört die deutsche Geschichte? (1984); Kirche und Politik (1989); Einigkeit und
632 Recht und Freiheit. Report eines deutschen Lebens (2000); Rundfunkwende. Der Umbruch des deutschen Rundfunksystems nach 1989 aus der Sicht der Akteure, gemeinsam mit Axel Zerdick (2000). Warum sind Sie Journalist geworden? Das Gen/die DNA dazu lag bereits im Blut durch Ihren Vater, Werner von Lojewski. 1 Richtig! Zunächst, weil ich die Gene meines Vaters geerbt habe. Dann, weil sich herausstellte, dass ich gut und gerne schreibe. Schließlich, weil ich im Elternhaus vielfach mit Politik in Berührung gekommen war und die mich interessierte. Wie war Ihr Verhältnis zu Ihrem Vater? War es für Sie im Leben leichter oder schwieriger, aufgrund Ihres berühmten Vaters, etwas zu erreichen bzw. Karriere zu machen? Der Zeitumstände wegen – mein Vater war im Krieg, kam schwer kriegsbeschädigt zurück, musste danach viel und hart arbeiten, um die große Familie durchzubringen –, der Zeitumstände wegen war das Verhältnis nicht sehr intensiv. Gleichwohl habe ich beruflich viel von ihm mitgenommen: Nachrichten zu schreiben und die berühmten „fünf journalistischen Ws“ 2 stets immer anzuwenden: Wer, wann, wo, was und wie? Verlässlich im Umgang mit Informationen zu sein. In jeden Gegenstand längerer Berichterstattung stets auch einen „Tropfen Herzblut“ einzubringen, d. h. auf die Befindlichkeiten betroffener Menschen Rücksicht zu nehmen. Meinem Vater verdanke ich nicht zuletzt meinen Einstieg bei der „HAZ“, wo ich das Gewerbe sechs Tage die Woche und zehn Stunden pro Tag gründlich gelernt habe. Welche Erinnerungen haben Sie von den Anfängen der Medienentstehung und von der weiteren Entwicklung in Deutschland? Diese Frage ist im Grunde in wenigen Sätzen nicht zu beantworten, zunächst folgendes vorweg: Die Geschichte des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in der Bundesrepublik erklärt sich eindeutig aus den Erfahrungen im Dritten Reich. Dazu machte ich meine eigenen Erfahrungen, weil ich später Intendant im Haus des Rundfunks in Berlin gewesen bin. Also in jenem Haus, in dem Goebbels 1933 bereits wenige Wochen nach der Machtübernahme die Reichsrundfunkgesellschaft ausgerufen und damit die föderale Entwicklung sowie den föderalen Status der Hörfunkanstalten in dem ehemaligen Deutschen Reich beendet hatte. Das sollte sich natürlich nach dem Krieg nicht wiederholen. Allerdings waren die alliierten Siegermächte ganz unterschiedlicher Ansicht, wie die Rundfunklandschaft wiederaufgebaut werden sollte. In der späteren DDR gab es eine zentrale RundDas Interview mit von Lojewski fand wegen der Corona-Pandemie am 25.11.2020 fernmündlich statt. Für die Kontaktvermittlung zum Gespräch sind wir Helmut Ertel, dem Geschäftsführer der Volkshochschule Vaterstetten – Erwachsenenbildung e.V., sehr dankbar. Eine von der Volkshochschule durchgeführte Podiumsdiskussion am 22.1.2020 u. a. mit von Lojewski ist unter https://www.youtube.com/watch?v=Gt8Vb3zGsLs aufrufbar (letzter Zugriff 28.11.2020). 2 Später kamen noch „warum?“ und „woher?“ hinzu. 1
633 funkorganisation, die übrigens anfangs im Haus des Rundfunks in West-Berlin beheimatet war, obwohl das im britischen Sektor lag und hinter einem Stacheldrahtschutzwall, der soz. die Mitarbeiter schützte, damit sie für die spätere DDR tätig werden konnten. Im Westen war es so, dass die Engländer eine sehr zentrale Organisation gegründet haben, auf der Basis einer öffentlich-rechtlichen Organisation, staatsfern, mit zwei Organen, einem Intendanten und einem mit Vertretern pluralistische Organisationen besetzen Rundfunkrat zur Kontrolle; so hat es dort zuerst den Nordwestdeutschen Rundfunk (NWDR) gegeben, der die gesamte britische Zone in einem Sender zusammengefasst hatte. In der amerikanischen Zone war der Rundfunk ebenfalls staatsfern organisiert, aber er wurde föderal organisiert, also in kleine Teile zerlegt. Es existierten später der Hessische Rundfunk (HR), der Bayerische Rundfunk (BR) und der Süddeutsche Rundfunk (SDR). Das war sehr föderal organisiert. Dem Voraus gingen Rundfunkanstalten, die von den Alliierten selbst, den Militärregierungen, geführt worden sind wie der Rundfunk im amerikanischen Sektor (RIAS) in West-Berlin. Das wurde mit der Gründung der Bundesrepublik 1949 im Rahmen des Grundgesetzes organisiert. Der Rundfunk wurde als Kultureinrichtung angesehen und oblag fortan der Hoheit der Bundesländer. Dementsprechend haben die Bundesländer später entweder eigene Rundfunkanstalten gegründet, die jedenfalls staatsfern waren, oder sie organsierten sich in Staatsverträgen mit mehreren Bundesländern wie beispielsweise der Norddeutsche Rundfunk (NDR). In diesen Rundfunkanstalten wurden durch das Gesetz Rundfunkräte eingesetzt, d. h. Aufsichtsgremien, die sich aus der Gesellschaft heraus selbst organisiert haben und in ihren Entscheidungen frei waren. Der Rundfunk wurde nicht aus Steuern finanziert, sondern aus Gebühren. In der späteren DDR war es anders, wo zu großen Teilen eine Staatsfinanzierung stattfand. Es entstand dadurch eine Staatsabhängigkeit. In regelmäßigen Abständen wird heute eine Gebühr von einem unabhängigen Gremium, der Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten (KEF), festgestellt. Der Rundfunkrat selber hat die Funktion, den Intendanten zu wählen und die Aufsicht über das Programmangebot zu führen sowie die Ausgaben zu überprüfen und wichtige Entscheidungen mit dem Intendanten abzustimmen. Der Rundfunkrat ist also fast nie in der Lage, etwas alleine zu beschließen. Er kann nur über Vorlagen des Intendanten abstimmen. Während der Intendant seinerseits diese Stellungnahmen (Entscheidungspapiere) zwar vorbereitet, aber niemals ohne die Zustimmung des Rundfunkrates vollstrecken kann. Konsequenterweise existiert hier, wie ich empfand, eine sehr kluge Machtteilung. Keiner war in der Lage, alleine zu regieren oder durchzuregieren, sondern jeder hing an dem anderen dran. So war es auch in der französischen Zone, wo es den Saarländischen Rundfunk (SR) gab, der erst am 1. Januar 1957 gegründet wurde. In Berlin gab es ab November 1953 den Sender Freies Berlin (SFB), 3 der auf der Ostseite gegenüber ein mächtiges Pendant, nämlich den Rundfunk und das Fernsehen in der DDR, hatte. 3
Sendestart ab 1.6.1954.
634 In der Bundesrepublik schloss sich Anfang der 1950er Jahre vor allen Dingen aus Kostengründen eine Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland (ARD) zusammen, damit auf diese Art und Weise das Fernsehen organisiert werden konnte. Daraus entstand das Erste Programm. Das allerdings dem damaligen Bundeskanzler Konrad Adenauer nicht nach dem Munde redete, weshalb er ein eigenes Fernsehen gründen wollte. Das versuchte er auch, scheiterte aber vor dem Bundesverfassungsgericht. 4 Daraufhin gründeten die Länder eine zweite zentrale Anstalt für die ganze Bundesrepublik, nämlich das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) mit Sitz in Mainz. 5 Wir hatten also auf diese Art und Weise zwei konkurrierende Fernsehprogramme mit ARD und dem ZDF sowie in den einzelnen Bundesländern eigene Hörfunkprogramme. Die Hörfunkprogramme vermehrten sich allmählich, das Fernsehen ebenso. Ende der 1960er Jahre kamen die ersten Dritten Programme hinzu, zunächst als Bildungsfernsehen begründet. Später entwickelten sich diese zu einem regionalen Vollprogramm. Je mehr die Technik in der Lage war, eigene Frequenzen anzubieten, was wir in der Anfangszeit überhaupt nicht gehabt haben, sind die dritten Programme – vom Bayerischen Rundfunk bis zum Norddeutschen N3-Programm – entstanden. Das fand ab Ende der 1970er Jahre statt. Wie ging parallel dazu die Entwicklung und Entstehung von Rundfunk und Fernsehen in der DDR vonstatten? In der DDR war die Entwicklung insgesamt eine ganz andere. Wie bereits angedeutet, zunächst begann der Hörfunk für Ost-Berlin und die DDR in West-Berlin im Haus des Rundfunks, weil eine andere Sendeanstalt und andere Sendetechnik überhaupt nicht zur Verfügung standen. Das war ein von der sowjetischen Armee und Besatzungsmacht eingerichtetes exterritoriales Gebiet im britischen Sektor von Berlin, nämlich in Charlottenburg. Das ging dann mit der Gründung der DDR in die Hände der DDR über und war von Anfang an ein sehr zentral geführtes Institut, das zu großen Teilen aus Steuergeldern bezahlt wurde. Somit war eine Staatsabhängigkeit gegeben. Dieser Hörfunk und das Fernsehen in Ost-Berlin bauten sich später selbst die Sendeanstalten auf, einmal in der Nalepastraße in Berlin-Oberschöneweide für den Hörfunk und zum anderen in Adlershof in Treptow-Köpenick für das Fernsehen. Dort wurden viele Programme produziert. Der Sektor, der mich insbesondere interessierte, war die Information. Die Information war so organisiert, dass zweimal in der Woche das zuständige Mitglied des Politbüros anwies, was zu melden, wie es zu melden und in welcher Länge es zu melden war. Das erfolgte dann über den Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienst (ADN), also die zentrale und ebenfalls staatliche Nachrichtenagentur, über die Aktuelle Kamera des Fernsehens sowie Das Bundesverfassungsgericht untersagte im 1. Rundfunk-Urteil vom 28. Februar 1961 das sogenannte „Adenauer-Fernsehen“ (die Deutschland-Fernsehen GmbH). Die volle Rundfunkkompetenz wurde den Ländern zugesprochen. 5 Die erste Versuchssendung strahlte das ZDF in der Nacht vom 19. auf den 20.3.1963 aus. Der offizielle Sendebeginn des ZDF war der 1.4.1963. 4
635 das Neue Deutschland (ND). Ich besitze noch einige alte Ausgaben des ND, die Zeitung des Zentralorgans der monopolistischen Partei SED. Es gab also in der DDR eine absolute, zentralgelenkte Informationspolitik. Das wirkte auf der nationalen DDR-Ebene wie auf der Bezirksebene und bis in die kleinen Zeitungen der Kreisebene hinein. Das ist für Sie unstrittig? Das ist absolut unstrittig! Das steht im Gesetz. Es ergaben sich dann einige Veränderungen, z. B. eine Zeit lang wurde der Name „DDR“ sehr bewusst politisch durchgesetzt, damit das Wort „Deutsch“ nicht vorkommen sollte. Das war auch im Zuge der Ostpolitik von Willy Brandt notwendig, wie ich einmal in einem Aufsatz aufgezeigt habe. Da durfte auf Anweisung der Partei es nur noch „DDR-Fernsehen“ und „DDR-Hörfunk“ heißen. So wurde es auch gehandhabt. Das fand zu jener Zeit statt, in der der SED-Generalsekretär selber auch die Geschichtsschreibung in der DDR maßgeblich beeinflusste, indem er die Aufträge an die Historiker vergab, welche Themen und wie zu behandeln sind. Das war die Zeit, wo die DDR Otto von Bismarck seiner Sozialgesetze wegen für sich reklamierte; wo sie die Freiheitsbewegung und die Bauernaufstände des 16. Jahrhunderts für sich reklamierte; wo sie Martin Luther für sich reklamierte. Ich ging damals auf einem Kongress der Hanns Martin Schleyer-Stiftung der Frage nach: „Wem gehört die deutsche Geschichte?“ 6 Noch einmal konkreter: Die Information wurde zweimal in der Woche von dem Mitglied des Politbüros der SED, der lange Zeit der Chefredakteur des Neuen Deutschlands war, Joachim Herrmann, direkt an die Nachrichtenagentur ADN sowie an die Hörfunk- und Fernsehredaktion sowie an das ND gegeben. Da hieß es: „Wir berichten über dies und wir berichten über jenes und wir berichten so. Aber über dies oder jenes berichten wir nicht. Haltet Euch gefälligst daran!“ Jedes Mal wurde das montags ausgegeben und einmal im Laufe der Woche wurden, wenn aktuell notwendig, Korrekturen vorgenommen. Auf diese Art und Weise war sichergestellt, dass alle Medien in der DDR dem Politbüro letztendlich gefolgt sind. Um es vorwegnehmen: Diese Anweisungen und Devise hielten noch bis in das Jahr 1989 hinein, als die große Fluchtbewegung einsetzte über Ungarn und die Tschechoslowakei: „Darüber berichten wir nicht!“ Darüber wurde in den DDR-Medien nicht berichtet. Das führte zu dem Ergebnis, dass sich die Menschen zunehmend und natürlich notwendigerweise an den West-Medien, besonders dem Fernsehen, orientierten. Das hat eine große Rolle gespielt. Die Menschen entnahmen dem West-Fernsehen, was in ihrem eigenen Staat vor sich ging. Vom eigenen DDR-Fernsehen erfuhren sie nichts. Sie sahen im WestFernsehen, wann die Züge aus Prag losfuhren, wann und wo sie durch Dresden durchfuhren. Viele versammelten sich dort und versuchten, von Brücken auf die durchfahrenden Züge aufzuspringen, um mit ihren Landsleuten in die Freiheit auszureisen. Im Berliner Reichstag fand dazu ein Kongress statt, den Professor von Lojewski initiierte sowie moderierte.
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636 Es wird an diesem Beispiel ganz deutlich, wie im Grunde töricht, ja wie kontraproduktiv die zentralistische Medienpolitik im Sinne der DDR wirkte. Sie besaß überhaupt keine Glaubwürdigkeit mehr. Markus (Mischa) Wolf, der Geheimdienstchef der DDR-Spionageabteilung HV A des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), urteilte im Nachhinein einmal: „Die eigene Medienpolitik hat unserem Land mehr geschadet als sämtliche westliche Propaganda.“ 7 Sie fügten hinzu: „Gleichwohl, ob sie sich der Partei gebeugt haben oder von ihr gebeugt wurden, die gleichgeschalteten Medien der DDR hatten die Nähe zur Realität und zu den Bürgern verloren.“ 8 Das war ja die Konsequenz. Wenn man nur im Sinne des totalitären Staatsregimes Informationen übermitteln durfte, erfüllt man nicht nur seinen journalistischen Auftrag nicht, sondern widerspricht man auch dem journalistischen Ethos. Dann ist man eben in der Tat abhängig und im Grunde ein Instrument der Politik. Wie erlebten Sie die medialen Veränderungen insbesondere in ihrem Wandel der Ereignisse 1989/90? Sie schrieben dazu: „Ein Ausbruch aus der Bevormundung der DDRMedien.“ 9 Warum passierte das in diesem November 1989 so schnell? Mich reizte, 1989 als Intendant in das eingemauerte West-Berlin zu gehen, die Chance, in die DDR, in die andere Hälfte des Deutschlands hineinzuwirken. Das war deshalb möglich, weil man in Berlin über die Mauer hinweg senden konnte. Wir hatten im Gegensatz zu allen anderen Rundfunkanstalten einen Sendemast, der nicht der Bundespost gehörte, das ergab sich aus dem Alliiertenrecht in West-Berlin. Von West-Berlin heraus, also aus der Mitte der DDR, sendeten wir mit unserem Sendemast die Programme von Hörfunk und Fernsehen und erreichten große Teile der DDR, was zu den Abläufen und Geschehnissen rund um den 9. November 1989 massiv beigetragen hat. Es existierten ein paar Streifen an der Ostseeküste und das Tal der Ahnungslosen bei Dresden, die wir leider nicht mit unseren Programmen erreichen konnten. Wir hatten also die Aufgabe – was die zentrale Rolle des Sender Freies Berlin ausmachte – zumal nach der Zeit von Willy Brandt, also in der „neuen Ost-Politik“, als wir auch in Ost-Berlin eigene Korrespondenten akkreditieren konnten, aus der DDR für die DDR sowie aus der DDR für die Bundesrepublik West zu berichten. D. h. wir nahmen auch eine Mittlerfunktion ein, indem wir den Westen über den Osten informierten und den Osten über den Westen. Somit stellten wir eine Informationsbrücke zwischen den geteilten Teilen Deutschlands her, sorgten dafür, dass die Menschen in „Ost“ und „West“ wenigstens noch ein wenig übereinander erfuhren.
Günther von Lojewski, Einigkeit und Recht und Freiheit …, Report eines deutschen Lebens, München 2000, S. 148. 8 Ebd., S. 149. 9 Ebd., S. 193. 7
637 Das war schon fast, wenn Sie so wollen, Politik. So hat sie insbesondere auch 1989 gewirkt. Grundsätzlich wirken Medien natürlich permanent. Aber so habe ich die besondere Rolle des SFB begriffen. Es gab vergebliche Anstrengungen, wo die DDR-Staatsführung alle Antennen auf den Dächern der Häuser in der DDR abgerissen hat, um zu verhindern, dass die Bürger dort die Programme aus dem Westen empfangen konnten. Das war bereits in den 1960er Jahren so, mit dem Ergebnis, dass die Menschen die Antennen schlicht unter das Dach montierten und von dort unsere Programmangebote empfingen. D. h., die Menschen wussten immer – zugespitzt von mir –, dass die Schere des Wohlstands sich permanent öffnete. Es war eben nicht so, wie es die DDR-Oberen ihrem Volk versprachen, „es geht uns besser und immer besser“, sondern die DDR-Bevölkerung sah und nahm aus den Medien wahr, dass sie hinter ihren Brüdern und Schwestern aus dem Westen auch materiell immer weiter zurückfielen. Konkret war aus jeder Fernsehsendung und jeder Hörfunkreportage zu erfahren, wie in der Bundesrepublik der Wohlstand um sich griff, das Angebot an Nahrungsmitteln sich deutlich verbesserte, die Wohnqualität zunahm und Autos mit besserer Qualität produziert wurden. Hingegen hieß es in der DDR: Es gibt keine Bananen und keine Orangen. Den Trabi musste man über Jahre hinweg vorab bestellen, bevor er ausgeliefert wurde. Dann war er aber immer noch kleiner als der Volkswagen oder ein Opel. Das bekamen die Menschen alles mit, wie unglaubwürdig und unrealistisch diese Aussagen der DDR-Führung gewesen waren. Das baute und staute sich über Jahre und Jahrzehnte auf. Das brach zum ersten Mal für kurze Zeit am 17. Juni 1953 aus und setzte sich über den Mauerbau am 13. August 1961 bis 1989 fort. Unsere elektronischen Wellen des Rundfunks waren ja anders als die gedruckten Zeitungen aus dem Westen von der DDR nicht aufzuhalten. Die DDR-Bevölkerung wusste immer, dass es ihnen eigentlich nicht so gut geht, wie es ihnen versprochen wurde, dass es denen im Westen immer, immer besser ging und ihnen selbst, wenn überhaupt, nur in einem geringen Umfang. Diese Glaubwürdigkeitslücke implodierte schlussendlich 1989 mit den neuen Reiseregelungen. Als in Ungarn der Stacheldraht nach Österreich durchgeschnitten wurde, erfuhren es die DDR-Bürger aus dem West-Fernsehen und nicht aus ihren Ost-Medien. Sie flohen zu Zigtausenden über Österreich in die Bundesrepublik, aus ihrer Ost-DDR-Heimat sind sie „in den Urlaub“ gefahren und am Ende des Tages erschienen sie als Neubürger im West-Fernsehen. Das Gleiche wiederholte sich nach der Besetzung der deutschen Botschaft in Prag, wo die Menschen nach dem Besuch von Außenminister Hans-Dietrich Genscher und seiner Delegation mit Zügen über das Territorium der DDR ausreisten. Sie erfuhren es nicht aus ihrem DDR-Programm, sondern aus der Berichterstattung der ARD und ZDF: „Wir haben heute Nacht Ihre Ausreise beschlossen …!“ Das führte zu weiteren Unruhen. Honecker wurde am 18. Oktober 1989 abgesetzt. Sein Nachfolger Egon Krenz verkündete eine neue Reiseregelung, die nur 30 Ost-Mark für Urlaubsreisen an den Plattensee in Ungarn vorsah. Die Konsequenz war, dass davon keiner reisen konnte. Daraufhin beschwerten sich Ungarn und auch Polen über ausbleibende
638 Touristen. Die Bonner Botschafter ließen das Auswärtige Amt wissen, dass die Unzufriedenheit über die DDR stetig wuchs und man auch der neuen Führung keine Chance mehr gebe. Notgedrungen nahm Krenz diese Regelung wieder zurück. Schon wieder war die Glaubwürdigkeit der Staatsführung unterminiert. Warum geschah das im November 1989 so schnell? Zum Ausbruch führte ganz sicherlich, dass die Kollegen spürten, dass ihr Staat am Ende war, und zwar innen- wie außenpolitisch, wirtschaftlich und finanziell. Zugleich merkten sie, dass sie bei ihrem Publikum zunehmend an Glaubwürdigkeit verloren haben; Schnitzler war da nur ein Fall. Schließlich sind Journalisten nicht weniger Opportunisten als andere Menschen auch. Die laufen relativ schnell zur anderen Seite über, um das eigene Leben und Überleben zu retten. In diesen wenigen Wochen im Herbst 1989 ging das blitzartig. Die Journalistengewerkschaft teilte öffentlich mit: „Wir wollen künftig Journalismus machen, wie wir ihn bei anderen auch schon beobachtet haben, also einigermaßen unabhängig und frei.“ Der Generalintendant des Fernsehens, Heinrich „Heinz“ Adameck 10 – sein Nachfolger wurde kurzweilig Hans Bentzien – gab innerhalb von 48 Stunden seiner Redaktion auf, den gesamten Charakter der Aktuellen Kamera, der Nachrichtensendung des DDR-Fernsehens, zu ändern. Die Jugendsendung Elf 99 guckte sich im November in der SED-Politbürosiedlung in Wandlitz vor Ort um, wie diese Großkopfsender lebten. 11 So gab es auf allen Ebenen relativ rasche Entwicklungen, die sich von dieser zentral geführten Propaganda und Nachrichtendiktatur abgesagt haben. Der Höhepunkt war der 4. November, als das DDR-Fernsehen über die Großdemonstration vom Alexanderplatz in Berlin erstmals live berichtete. Bereits die Wahl von Egon Krenz in der Volkskammer war live übertragen worden, obwohl es gegen alle Regeln sogar Gegenstimmen gegeben hatte. Das hatte es vorher auch nicht gegeben. Zusammengefasst: Auf allen Ebenen versuchte man, Glaubwürdigkeit zu gewinnen, zugleich der Konkurrenz aus dem Westen das Wasser abzugraben oder ihr zuvorzukommen. Dazu kam bei vielen Beteiligten ein Schuss persönlicher Opportunismus. Wie wichtig waren für die Berichterstattung in den westlichen Medien Plakate und Losungen als transportierte Botschaften? Ideenreich gestaltete Plakate mit Sprüchen und Losungen, die auf den Straßen in der DDR gerufen wurden, wie „Wir sind das Volk. Wir sind ein Volk.“ Adameck war in der Zeit von 1959 bis 1968 stellvertretender Vorsitzender des Staatlichen Rundfunkkomitees. Von 1963 bis 1989 war er Mitglied des ZK der SED und Präsident des Verbandes der Film- und Fernsehschaffenden, zugleich war er aktiv im Vorstand des Verbandes Deutscher Journalisten, dessen stellvertretender Vorsitzender er von 1967 bis 1972 war. 1968 wurde Adameck Vorsitzender des Staatlichen Komitees für Fernsehen und 1971 Mitglied der Abteilung „Agitation und Propaganda“ des Ministeriums für Staatssicherheit. Als solcher war er für die politische Ausrichtung des DDR-Fernsehens langjährig verantwortlich. Er ging 1990 in den Ruhestand. 11 Vgl. dazu https://www.mdr.de/zeitreise/stoebern/damals/waldsiedlung-wandlitz-erste-reportage100.html (letzter Zugriff 27.11.2020). 10
639 Das waren sicherlich alles Botschaften. Aber es gab neben diesen Botschaften viel mehr. Beispielsweise bedienten sich auch immer wieder Bürger aus der DDR, die ausreisen wollten, aber nicht ausreisen durften, eines Tricks: Sie liefen vor die Kameras von West-Korrespondenten, in diesem Fall des SFB, um sich mit ihrem Gesicht zu erkennen zu geben und auf diese Art und Weise vor einer Verhaftung zu schützen. Ein persönliches Erlebnis: Bei der UNO existierte eine Regel, dass Menschenrechtsverletzungen jedes Mal in der Vollversammlung angeprangert werden konnten, wenn es über 100 Beschwerden aus einem Land gab. Das habe ich damals noch bei Report München, das muss in den Jahren 1986/87 gewesen sein, öffentlich gemacht, was natürlich Menschen in der DDR im West-Fernsehen gesehen und genutzt haben. Ein Glücklicher ist mir selbst einmal begegnet. Die Sendung „Der Schwarze Kanal“ von und mit Karl-Eduard von Schnitzler, eine politisch-agitatorische Sendereihe des DDR-Fernsehen wurde in über 1500 Sendungen ausgestrahlt, größtenteils aber in der DDR-Bevölkerung weder ernst noch richtig wahrgenommen. Was bleibt von diesem Sendungsformat, von den Inhalten und den Zielen dieser Sendung übrig? Ihr Vater und Sie selbst wurden von Schnitzler u. a. auch in der Sendung angegriffen. Was übrig bleibt, ich glaube, nichts. Es ist natürlich so, dass in den besseren Zeiten der DDR Schnitzler durchaus sein Publikum hatte. Seine Methode war, dass er sich an westlichen Informationen über die DDR rieb, die er dann aus seiner Sicht zu korrigieren versuchte. Also insoweit zog er aus meinen „Report“-Sendungen immer relativ viel heraus. Das stellte ich später insbesondere fest, weil ich als Vorsitzender des Verwaltungsrates öfter im Rundfunkarchiv Ost-Berlin war. Da staunte ich, dass es im Archiv eine Kammer gab, in der u. a. Gewehre eingelagert waren, wahrscheinlich, um den letzten großen Krieg aus dem Rundfunkarchiv in Ost-Berlin heraus zu gewinnen. Aber ich erfuhr auch, wie oft Schnitzler sich aus meinen zahlreichen Sendungen in seinen Sendungen bedient hatte, bedauerlicherweise, ohne mir dafür ein Honorar zu zahlen. Fakt ist, dass seine Einschaltquote in der Schlussphase bei ungefähr drei Prozent lag, mit anderen Worten also, er wurde nicht nur lächerlich gemacht, sondern er wurde nicht mehr beachtet. Das ist im Grunde für einen Journalisten noch viel schlimmer. Aber es bleibt dabei: von Schnitzler war am Ende nicht mehr in der Lage, die Realität zu erkennen. Er verabschiedete sich mit dem letzten Wort: „Auf Wiedersehen“. Wir haben ihn allerdings danach nie wiedergesehen. Das war schlichtweg ein Realitätsverlust. Er war in seiner Ideologie, die Journalisten grundsätzlich nicht haben sollten, so verhaftet, dass er am Ende nicht nur den Glauben verloren hatte, sondern vor allen Dingen das Publikum. Ich muss Ihnen sagen, die Karriere von Schnitzler hat mich im Einzelnen wirklich überhaupt nicht interessiert. Er war ja auch sogar mal beim NWDR in Hamburg, ich glaube, dass er ein Mitarbeiter meines Vaters war, bis er aus dem NWDR in die DDR überwechselte.
640 Es gilt für mich: Alle Journalisten, die sich an irgendeine Ideologie binden oder sich ihr unterwerfen, werden schlichtweg ihrem Beruf untreu. Das ist nun mal so! Sie führten ein Gespräch mit dem Medienpapst Robert McKenzie, wobei sie meinten: „Dem Publikum, dem Gebührenzahler hatte ich präziser, schneller und mit unparteilichen Informationen zu dienen. Nutzen und Frommen Dritter, etwa der Betroffenen, konnte nicht mein Maßstab sein. 12 […] Eine Ausnahme wäre denkbar, mich aus meinen Verpflichtungen gegenüber meinem Publikum zu lösen, wenn ein Menschenleben auf dem Spiel steht. Im Fall von Krieg und Frieden, Entführung, wo ich nie die Verantwortung für die Folgen meiner journalistischen Entscheidung tragen könnte.“ 13 War das immer Ihr journalistisches Lebensmotto? Wie wichtig sind Medienskandale für Journalisten? Müssen Journalisten grundsätzlich überparteilich sein? Also parteilos? Sympathisierten Sie als Journalist mit politischen Vorbildern? Journalisten sollen grundsätzlich nicht Politik machen. 14 Ihr Auftrag ist nach meinem Verständnis, Politik zu begleiten. In dem Demokratie-Modell von Montesquieu gibt es drei Gewalten, die sich gegenseitig kontrollieren und die Journalisten stehen daneben und beobachten, wie das Zusammenspiel funktioniert, und informieren die Bevölkerung. Dieses Modell ist leider heute aus vielen Gründen nicht mehr gültig. Für mich war der Auslöser dieser Fehlentwicklung die Spiegel-Affäre im Jahr 1962, als in der Bundesrepublik die Kontrolle unter den drei Gewalten nicht mehr nahtlos und ideal funktioniert hatte. Das hatte zur Konsequenz, dass sich die Medien über die drei staatlichen Gewalten (Legislative, Exekutive und Judikative) aufgeschwungen haben. Das war danach nicht mehr rückgängig zu machen. Aber es darf nicht dazu führen, dass die Medien am Ende selbst Politik machen oder sogar machen wollen! So war es ja in der DDR gewesen, um darauf zurückzukommen, dass die Medien zu Instrumenten der Politik geworden sind. Dass Journalisten, zum Teil aus Überzeugung und zum Teil auch ohne Überzeugung, selbst Politik gestalten wollten. Das beobachten wir heute in beängstigender Weise im Internet, dass Journalisten sich mit Hasstiraden, mit Manipulation, mit Desinformation usw. äußern. Da bin ich strikt dagegen! Ich weiß allerdings, jetzt kommt die Rückseite derselben Medaille, dass nahezu mit allem, was Journalisten tun, Geschehen bewirkt wird. Ich brauche nur zu berichten, was geschehen ist, das hat allemal seine Konsequenzen. Als wir am 9. November 1989 darüber berichteten, dass Schabowski sagte „unverzüglich, …“, liefen eben die Menschen zur Mauer und guckten nach, was heißt eigentlich „unverzüglich …“. Wenn wir zwei Stunden später darüber berichteten, dass sich einige tausend Leute an verschiedenen Grenzübergängen versammelten, dann hatte das eben zur Konsequenz, dass andere sagten: „Dann gehen Einigkeit und Recht und Freiheit, Ebd., S. 109. Ebd., S. 110. 14 Von Lojewski verweist bei seiner Antwort vorweg auf veröffentlichte Aufsätze zum Thema „Die Macht der Medien“. Einmal in der wissenschaftlichen Zeitschrift „Kommunikation“ sowie in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) u. a. vor vier oder fünf Jahren. 12 13
641 wir dort auch mal eben hin ...“ Das konnte ich nicht verhindern. Was aber nicht passieren darf, ist, dass ich nur darüber berichte, was mir genehm ist, und nicht berichte, was mir unangenehm erscheint. Da habe ich für mich Zeit meines Lebens eine sehr große Grenze gezogen. 15 Mit McKenzie habe ich damals den Fall erläutert, der auf derselben Linie lag. Irgendein amerikanisches publizistisches Unternehmen – ich glaube, es war die New York Times – hatte erfahren, dass die Regierung irgendeine militärische Intervention in der Kuba-Krise erwog und möglicherweise ein Atomkrieg unmittelbar bevorstand. Sie haben davon gewusst, aber nichts darüber gemeldet, weil sie das Risiko, einen Krieg auszulösen, nicht übernehmen wollten, mit Recht. Journalismus hat mit Recht seine Grenzen, und diese Grenzen sollten Journalisten freiwillig einhalten und dafür braucht es dann auch keine DDR-Regierung, die mich anweist. Meinen Sie, dass Journalisten grundsätzlich parteilos sein müssen? Nein, das müssen sie nicht. Wenn ich das jetzt behaupten wollte, würde ich meinem eigenen Lebenslauf widersprechen. Das geht nicht. Ich habe mich daran zu halten versucht, aber festgestellt, dass das auch in der Bundesrepublik durchaus Probleme machen kann, wenn man als „Alleinunterhalter“ ohne Rückversicherung durch die Medienlandschaft geht. Es kann ja auch nicht sein, dass es nicht in irgendeiner Partei Journalisten geben soll, die trotzdem, obwohl sie in einer Partei sind, tüchtig und sehr honorig sind. In der heute-Redaktion, die ich zeitweise geleitet habe, wurde mir eines Tages ein junger Mann vorgesetzt mit wesentlich weniger Erfahrung, der zweifelsfrei und zugegebenermaßen der SPD angehörig war. Da bin ich der CDU beigetreten. Ich habe aber trotzdem diesen Kollegen später zum Programmdirektor im SFB gemacht, schlichtweg, weil er ein guter Journalist war. Er hatte einen guten Namen und stand kritisch gegenüber seiner eigenen Partei. So wie ich gelegentlich meinen Streit mit Helmut Kohl und mit F. J. Strauß gehabt habe; beide haben mich einige Mal sehr heftig angegriffen. Also meine ich, warum soll nicht jemand in einer Partei und trotzdem ein guter Journalist sein? Wann sind Sie in die CDU eingetreten? Das muss Mitte der 1970er Jahre gewesen sein. Sind Sie bis heute noch CDU-Mitglied? Ich bin es nicht mehr. Sie beschreiben in Ihrem Buch, wie es bei den Rundfunk- und Verwaltungsräten war. Es existierten SPD- und CDU/CSU-nahe „Freundeskreise“? Wie frei waren und sind diese Mediensysteme? 16 Zur Vertiefung: Hans-Hermann Hertle, Sofort, unverzüglich: Die Chronik des Mauerfalls, 3. Auflage, Berlin 2019. 16 Einigkeit und Recht und Freiheit, Ebd., S. 113. 15
642 Ich sage mal, sie sind schon ziemlich frei. Sie können das, wenn Sie wollen, am Beispiel meiner Wahl in Berlin exemplifizieren. Im März 1989, etwas überraschend, wurde der Sozialdemokrat Walter Momper zum Regierenden Bürgermeister gewählt. Dann stand in dem Jahr eine Neuwahl des Intendanten an, weil der CDU-nahe Intendant Günter Herrmann 17 abberufen worden war. Walter Momper und die SPD hatten den Glauben, sie könnten jetzt schlichtweg den Intendanten des SFB einfach durchwählen, und stellten dafür einen eigenen, sehr prominenten Parteifreund zum Kandidaten für die Wahl auf. Gewählt wurde aber ich im ersten Wahlgang. Mit anderen Worten: Der Rundfunkrat hatte sich schlichtweg nicht an das politische Votum des Regiermeisters der Stadt gehalten, sondern aus eigener Kraft beschlossen, aus welchen Gründen auch immer, sich für mich zu entscheiden. Das hatte allerdings zur Folge, dass Walter Momper mich beim Empfang in Berlin in einer unglaublichen Art und Weise vor versammelten Gästen provozierte. Das belastete dann unser Verhältnis eine Weile, allerdings nicht nachhaltig. Die Rundfunkräte sind nun einmal so heterogen besetzt, dass sie sich durchaus das Recht nehmen können, gelegentlich auch Leute zu wählen, die gänzlich unverdächtig sind: Warum sollte jemand vom Deutschen Sportbund, der in den Rundfunkrat entsandt worden ist oder ein Pfarrer von der evangelischen Kirche oder eine Frau vom Deutschen Gewerkschaftsbund, warum sollten die immer nur eine Person ihrer Couleur wählen? Warum nicht mal einen Katholiken, einen Protestanten, mal eine Frau, einen Mann? So unabhängig sind die Gremien in aller Regel dann doch. Oder es ist so wie bis heute beim ZDF: Der Intendant steht der einen Partei und sein Stellvertreter der anderen Volkspartei nahe. Üben Politiker Macht über Journalisten aus? Ein überzeugtes „Jein“. Es gibt sie, gelegentlich. Erstens: Den Fall, den wir vorhin schon einmal abgehandelt haben, wo Journalisten sich soz. aus eigener Überzeugung, aus ideologischen Gründen auch dazu hergeben, die Politik einer Partei, einer bestimmten Lobby oder einer bestimmten Person zu unterstützen. Das ist zweifelsfrei so. Es gab auch in Bonn immer wieder sog. Kreise, wo sich in ihren Überzeugungen und Gesinnungen gleichstellte, gleichgestimmte Journalisten mit Politikern trafen. Zweitens: Es gibt natürlich auch Fälle, wo Journalisten gänzlich anderer Meinung sind als diejenigen, die sie zu beeinflussen versuchen. Ich selbst kann Ihnen eine ganze Reihe von Fällen erzählen, wo Politiker versuchten, mich für ihre Politik und für ihre Interessen einzunehmen. Ich bilde mir ein, dass ich dem immer widerstanden habe, sofern ich ihnen draufgekommen bin. In einem Fall merkte ich bei einem prominenten Politiker und stellte durch meine nachfolgende Recherche fest, dass er mir etwas erzählte, was Günter Herrmann (Jahrgang 1931) war u. a. deutscher Jurist und Medienrechtler. In der Zeit von 1981 bis 1986 war Herrmann stellvertretender Intendant beim WDR. Dann wurde er 1986 zum Intendanten des Senders Freies Berlin (SFB) gewählt. Sein Intendantenvertrag wurde 1989 vorzeitig aufgelöst. Danach war er als Rechtsanwalt im Allgäu tätig.
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643 wirklich nicht stimmen konnte. Da rief ich ihn an: „Sie sollten wissen, das war zum letzten Mal, dass Sie mich eingeladen haben. Ich komme nicht mehr. Ich brauche mir von Ihnen nicht etwas erzählen zu lassen, von dem ich hinterher herauskriege, dass es nicht stimmen kann!“ Daran habe ich mich auch immer gehalten. Drittens: Es gibt den Fall auch umgekehrt, wo Journalisten nicht merken, dass sie instrumentalisiert werden. Wie weit lässt man sich von Politikern korrumpieren? Die Einen machen es mit einer Einladung zum Abendessen, wobei ich glaube, das ist zu billig, mit einem Abendessen hat mich noch nie einer korrumpieren können. Die Anderen machen es vielleicht mit einer Einladung zu einer Reise: „Ich fahre nach Süd-Amerika. Wollen Sie mich begleiten?“ Sie gehen natürlich davon aus, dass sie auf diesem Wege in das Medium des Journalisten gelangen. Viertens: Natürlich gibt es vor allen Dingen auch eine „Korruption durch Information“. Ich erzähle Ihnen einen Fall aus meinem eigenen Leben: Das führte damals, wenn Sie wollen, zum Sturz von Willy Brandt im Jahr 1972. Ich war Leiter der heute-Redaktion und bekam einen Hinweis, dass der Bundesminister Karl August Fritz Schiller 18 zurückgetreten sei, aus einer mir unverdächtigen, sehr guten Quelle, die ich bis heute niemandem verraten habe und auch Ihnen nicht verraten werde. Das meldete das ZDF an demselben Abend noch in einer Sondersendung. Mit Karl August Fritz Schiller verlor Willy Brandt damals im Bundestag seine Mehrheit für die neue Ost-Politik. Er erzwang dann anschließend Neuwahlen. In dieser besagten Nacht wurden von der SPD, von Leuten, die nicht mehr nüchtern waren, meine Frau und andere mehrfach angerufen: „Ihr Mann ist aufgrund dieser Meldung entlassen!“ Das waren Parteifreunde von Willy Brandt. Am nächsten Morgen rief mich die CDU an: „Großartig, was Sie für uns geleistet haben!“ Im November 1972 ging Willy Brandt dann in die Neuwahlen und gewann mit einem Rekordergebnis. Daraufhin sagte die SPD zu mir: „Vielen Dank, dass Sie uns zu den Neuwahlen verholfen haben!“ Die CDU verdammte mich: „Um Gottes Willen, wären wir auf den nicht hereingefallen!“ Für mich konnten Parteiinteressen kein Kriterium sein. Für mich war es wichtig, dass die Meldung gestimmt hat. Sie hat sich nach 24 Stunden auch bewahrheitet, obwohl die Bundesregierung immer wieder dementierte und meine Position im ZDF – wie mir der Chefredakteur mitteilte – höchst wackelig war. Gott sei Dank, behielt ich Recht. Mein Ziel als Journalist war ja nicht gewesen, die Mehrheit von Willy Brandt in Frage zu stellen oder Neuwahlen zum Vorteil für die CDU oder die SPD zu bewirken. Das lag überhaupt nicht in meinem Blickfeld. Mein Blickfeld war allein die Frage: Interessiert es mein Publikum, ob der Karl August Fritz Schiller zurückgetreten ist oder eben nicht? Das meldete ich und die Konsequenzen daraus haben sich dann von allein ergeben. Ein weiteres Beispiel: Es gab eine Entführung des Sohnes des Frankfurter Finanziers Bethmann. Wir wussten davon, aber die Polizei bat uns: „Bitte, darüber nichts melden. In dem Augenblick, wo die Sache bekannt wird, muss man damit rechnen, dass er von den Er war sozialdemokratischer Bundesminister für Wirtschaft und in der Zeit von 1971 bis 1972 zusätzlich Bundesminister der Finanzen.
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644 Entführern umgebracht wird.“ Selbstverständlich sammelten wir alle Informationen, aber wir gaben davon nichts heraus. Als aber die Sache bekannt geworden war, strahlten wir darüber eine große Dokumentation aus und erzählten die Geschichte von vorne bis hinten. Wir haben die polizeilichen Überlegungen und Strategien niemals gestört. Die Verantwortung oblag nicht uns. Bundeskanzler Kohl hatte ein ambivalentes Verhältnis zu den Medien und deren Vertretern. Er pflegte eine Mischung aus „Patzigkeit, Misstrauen oder auch Herablassung“ gegenüber Journalisten. Für ihn gab es nur „Freunde oder Feinde“. Freunde waren z. B. die Bild-Zeitung, ZDF und SAT.1, Feinde waren Der Spiegel, Der Stern und die ARD. 19 Wie haben Sie das gesehen? Ich habe Helmut Kohl sehr lange gekannt. Helmut Kohl war schon bei mir zu Hause, als ich schon bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung war und er noch ein kleiner Fraktionsvorsitzender im Landtag in Rheinland-Pfalz. Ich glaube, dass das, was Sie sagen, richtig ist, aber einer Ergänzung bedarf: Helmut Kohl hatte Zeit seines Lebens einen ausgesprochenen Treuekomplex. Das habe ich vielfach beobachtet. Leute, mit denen er konnte, die durften sich auch mal Fehler erlaubten, die durften ihm auch widersprechen, die durften ihm vielleicht sogar unfreundlich kommen. Das hat er ein- oder zweimal wirklich ertragen. Wenn es zum dritten Mal passierte, dann allerdings wurde er ungemütlich und hat das mit seinem Elefantengedächtnis nie mehr vergessen. Er beschloss also, er liest den Spiegel nicht mehr. Das hatte er getan und mir auch bestätigt: „Wissen Sie, Lojewski, wenn Sie dauernd nur schlecht gemacht werden, dann fangen Sie an, an sich selbst zu zweifeln, und dann können Sie nicht mehr regieren!“ Das glaubte ich Kohl. Was aber nichts daran ändert, dass Helmut Kohl mir später einmal in einer bestimmten Situation, wo ich ihm politisch heftig mit einer Sendung in die Parade gefahren war, es mir in einer größeren Versammlung heimzahlte: „Da kommt ja der Verräter!“ Das war zu Anfang seiner Regierungszeit in Bonn. Konkret ging es da um die Amnestie in Sachen Parteienfinanzierung. Er wollte die Parteienfinanzierung und damit sich selbst nachträglich amnestieren. Ich führte deswegen ein Interview mit dem gerade ausgeschiedenen Bundesverfassungsgerichtspräsidenten Ernst Benda, der klipp und klar sagte: 20 „Erstens geht das aus moralischen Gründen nicht. Zweitens geht das aus politischen Gründen nicht. Drittens geht das aus juristischen Gründen nicht. Man kann nicht im Nachhinein etwas sanktionieren, an dem man selbst beteiligt gewesen ist!“ Mit diesen drei Sätzen war die Amnestie von Helmut Kohl tot.
Der Spiegel, 16.6.2017, Helmut Kohl: Trotzdem faszinierend. Siehe https://www.spiegel.de/politik/deutschland/helmut-kohl-so-ging-er-mit-journalisten-um-a-1152588.html (letzter Zugriff 27.12.2020). 20 Ernst Benda (1925–2009) war u. a. deutscher Jurist und Politiker der CDU. In der Zeit von 1968/69 war er Bundesinnenminister und in der Zeit von 1971 bis 1983 Präsident des Bundesverfassungsgerichts. 19
645 Wie belastet war Ihr Verhältnis zu Kohl durch diesen Vorfall? Wir haben später wieder ein korrektes Verhältnis gehabt. Ich bin ihm auch persönlich noch einmal wieder vor die „Flinte“ gelaufen. Als ich 1990 um die nordostdeutsche Rundfunkanstalt (NORA) gekämpft habe, die aus dem DDR-Hörfunk und -Fernsehen hervorgehen sollte, hatte ich zu ihm noch einmal Kontakt. Da hatte er mich als CDU-Vorsitzender durchaus angehört. Wie würden Sie Kohl charakterisieren? Helmut Kohl hat nach meiner Überzeugung am 9. November 1989, als er die Sendungen des SFB von seinem Adlatus Eduard Ackermann 21 aus Bonn nach Warschau mitgeteilt bekommen hat, sofort „gerochen“, dass das seine historische Chance sein könnte. Helmut Kohl war ein Historiker und hatte Geschichte studiert. Ohne Zweifel hatte er eine absolut großartige Nase für historische Dinge und Abläufe. Ich glaube, niemand in Deutschland hätte die Wiedervereinigung so gut und so schnell mit all ihren Fehlern hinbekommen, wie Helmut Kohl es gelungen ist. Was da alles innerhalb von elf Monaten zu leisten war: Die DDR in freie Wahlen zu zwingen, anschließend in Wiedervereinigungsgespräche zu kommen, die Währungsunion vorzuziehen, mit den Siegermächten und gleichzeitig auch mit den Polen und den Tschechoslowaken zu verhandeln, das war eine historisch grandiose Leistung, die ihm nach meiner Überzeugung keiner nachgemacht hätte. Daran gibt es gar keinen Zweifel. Es ist auch alles, was er für Europa getan hat, beispielhaft, obwohl gleichfalls ebenso auch mit Fehlern behaftet. Wenn ich heute die Kritik an den „blühenden Landschaften“ höre … Wissen Sie, ich fuhr in den Jahren 1989/90/91 viel als Mitglied des Präsidiums des Deutschen Denkmalschutzes durch die DDR. Was waren Erfurt, Jena, Görlitz, Schwerin usw. für triste, traurige und kaputte Städte! Was ist heute daraus geworden? Das sollte man sich wirklich in dieser Diskussion einmal vorhalten. Michail Gorbatschow hat mir einmal gesagt: „Jawohl, das Fenster zum Orbit war nur begrenzt offen. Wenn Kohl das nicht so schnell genutzt hätte, wäre das Ganze schief gegangen.“ Eduard Schewardnadse hat sich Genscher gegenüber ähnlich geäußert. Bedenken Sie: Politik in die Zukunft hinein zu gestalten, in einem solchen kurzen Zeitraum und dabei keine Fehler zu machen, das geht überhaupt nicht. Insoweit, dass etwas möglicherweise schiefgelaufen war und ist, nehme ich gerne in Kauf dafür, dass wir die Wiedervereinigung bekommen haben. Geplant war im Jahr 1990, das DDR-Fernsehen und den DDR-Rundfunk als einheitliche Anstalt des Ostens zu bewahren. Anfang Mai 1990 wurden Teile des Programms schrittweise regionalisiert. Also Antenne Brandenburg, Sachsen-Radio, Thüringen 1, Radio
Eduard Ackermann (1928–2015) war u. a. in der Zeit von 1982 bis 1994 unter Helmut Kohl Leiter der Abteilung 5 des Bundeskanzleramts (damals Abteilung für gesellschaftliche und politische Analysen, Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeiten) und gehörte zu Kohls engsten Vertrauten.
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646 Sachsen-Anhalt usw. Also die Vorläufer der heutigen Landesprogramme. Waren Sie dafür oder dagegen? Ich möchte ausdrücklich darauf hinweisen, dass ich Ihren Satz mit „geplant war“ für falsch halte. Das war nicht geplant! Das war ein Rettungsversuch, nicht von der Regierung de Maizière, sondern ein Rettungsversuch der 14 000 Leute, die beim DDR-Fernsehen und dem DDR-Hörfunk gearbeitet haben. Es lag natürlich im politischen Interesse der neuen Regierung de Maizières, die alten sozialistischen Strukturen im Hörfunk und Fernsehen der DDR aufzulösen. Das war auch die Zeit von Hans Bentzien 22 und Manfred Klein 23. De facto war allen sehr schnell klar, als es auf die Wiedervereinigung zuging, dass das „Fenster“ nur begrenzt offen war und infolgedessen, auch auf Verlangen der Volkskammer, was heute viele wieder vergessen haben, eine Beitrittsregelung stattfinden sollte und keine Volksabstimmung und schon gar keine neue Debatte über ein neues Grundgesetz. Es würde also auf diesem Wege die föderale Ordnung des Rundfunks in ganz Deutschland geben, so wie sie in der Bundesrepublik bereits praktiziert wurde. Das war im Grunde im Frühsommer 24 für mich völlig klar. In diesem Sinne hat es dann der damalige Bonner Verhandlungsführer Wolfgang Schäuble nach einem gemeinsamen nächtlichen Hubschrauberflug in den Wiedervereinigungsvertrag hineingeschrieben. Was waren meine Motive? Erstens, dass ich die Erfahrung aus dem Dritten Reich kannte, dass sich zu viele Figuren aus dem Bereich der Nomenklatura in Bonn wiedergefunden hatten. Zweitens, dass ich nicht wollte, dass sich das bei der Wiedervereinigung zwischen Ost und West wiederholt. Drittens, dass sich soz. 14 000 Leute aus Ost-Berlin in den öffentlich-rechtlichen Massenmedien der wiedervereinigten Bundesrepublik hätten wiederfinden können. Sie waren in Information und Desinformation und Agitprop geschult und ausgewiesen. Das hielt ich politisch für absolut undenkbar und unvorstellbar. Darin gab mir Schäuble Recht. Ich hielt es auch finanziell nicht für umsetzbar, dass nach der föderalen Ordnung diese 14 000 Leute vom Fernsehen und Hörfunk, die größtenteils in Ost-Berlin beheimatet waren, vom Sender Freies Berlin hätten übernommen werden können. Mit dieser großen Anzahl an Beschäftigten wäre der SFB am nächsten Morgen pleite gewesen. Das war gar nicht zu finanzieren. Rundfunk und Fernsehen der DDR wurden demnach als gemeinschaftliche staatsunabhängige … „Einrichtung“ bis spätestens 31. Dezember 1991 weitergeführt … Innerhalb des … genannten Zeitraums war die „Einrichtung“ nach Maßgabe der föderalen Struktur Hans Bentzien (1927–2015) war Mitglied der SED und u. a. Minister für Kultur der DDR (1961– 1965). Ab 1966 war er in verschiedenen Positionen in der Medienwirtschaft tätig. Nach der Wende wurde Bentzien Generalintendant des DFF (1989–1990). 23 Genosse Manfred Klein wurde ab 9. November 1989 neuer Generalintendant beim Radio. Klein war ein Genosse aus der Hauptabteilung Nachrichten. Theaterwissenschaftler und Hörfunkdramaturg Christoph Singelnstein ersetzte im August 1990 Manfred Klein als geschäftsführenden Generalintendanten. 24 3.5.1990. 22
647 des Rundfunks durch gemeinsamen Staatsvertrag … aufzulösen oder in Anstalten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks einzelner oder mehrerer Länder überzuführen, 25 gemäß Artikel 36 des Einigungsvertrages. Damit ist definitiv klar gewesen, Hörfunk und Fernsehen der DDR als solche zu erhalten und zusammenzuführen war unmöglich. Bei den Herren Hans Bentzien und Manfred Klein sowie zigtausend Mitarbeitern galt ich fortan als eine „Persona non grata“. Für mich war es die einzig politisch akzeptable Lösung. Am 29. April 1990 nahmen Sie an einer Matinee in der Staatsoper Unter den Linden zum Thema „Kampf der Ideologien im Äther“ teil. Sie hatten vorher Henryk Goldberg in der Jungen Welt gelesen: „Können Menschen über Nacht von ihren beruflichen Erfahrungen, staatlichen Aufträgen, totalitären Gewohnheiten lassen?“ Sie diskutierten und fragten: „Wie glaubhaft kann ihre Hinwendung zu einem freiheitlichen Informationsverständnis sein und wie standhaft in kommenden, vielfältigen Anfechtungen? Können wir garantieren, dass ihre Medien integrierend und friedenstiftend wirken, und nicht nur polarisierend?“ 26 Hintergrund dessen war, es ging um die Integration von diesen Beschäftigten der DDRMedien. Für weitere Konflikte sorgte dann die Dienstanweisung Nr. 8 am 14. Februar 1991, also fast ein Jahr später, eine Fragebogen-Aktion, bei der die politische Vergangenheit und insbesondere eine mögliche Stasibeschäftigung jeden Mitarbeiters abgeklärt werden sollte. 27 Das Ergebnis von 9600 abgegebenen Fragebögen: Bei rund 200 Beschäftigten gab es früheren Kontakt zum MfS. Sie wurden fristlos gekündigt. Rund 600 Mitarbeiter sollten nicht mehr mit Leitungsaufgaben betraut werden. Bei rund 1677 Personen konnte die politische Vergangenheit nicht konkret geklärt werden. 28 Also unter diesen 14 000 Rundfunk- und Fernsehmitarbeitern war auch regelrecht Verzweiflung vorhanden. Wie schwierig war dieser Prozess der Integration dieser Mitarbeiter? Als wir 1990 auf die Möglichkeit einer Wiedervereinigung zugingen, wurde ich im SFB immer wieder von einzelnen Kolleginnen und Kollegen angesprochen. Es waren solche, Hans-Günther Merk, Abteilungsleiter für Rundfunk und Fernsehen der DDR fügte noch einen eigenen Artikel in den Vertragsentwurf zur deutschen Einigung hinzu. Siehe Einigkeit und Recht und Freiheit, Ebd., S. 218. 26 Ebd., S. 156–157. 27 Fragen u. a. nach SED-Zugehörigkeit, Parteifunktionen, Leitungstätigkeit und Stasi-Tätigkeit. 28 202 Mitarbeiter (93 beim FS) hatten Beziehungen zur Stasi; 197 Mitarbeiter (106 beim FS) sollten nicht mehr weiterbeschäftigt werden; 627 Mitarbeiter (375 beim FS) sollten nicht mehr in Leitungsfunktionen beschäftigt werden; 45 Mitarbeiter schieden aus diversen Gründen während der Aktion selbst aus. Zur Vertiefung: Ernst Dohlus, Deutschland-Archiv, 22.9.2014, In der Grauzone – Wie der Staatsrundfunk der DDR aufgelöst wurde: Menschen, Material und Programmvermögen. Siehe https://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/191086/in-der-grauzone-wieder-staatsrundfunk-der-ddr-aufgeloest-wurde-menschen-material-und-programmvermoegen (letzter Zugriff 31.12.2020). 25
648 die vormals beim Hörfunk oder Fernsehen in der DDR gearbeitet hatten und dort von Kollegen bei der Stasi verpfiffen worden waren, deshalb weggezogen oder aus der DDR ausgewiesen worden und schlussendlich beim Sender Freies Berlin gelandet waren. Dieser Personenkreis kam zu mir: „Herr Lojewski, ich möchte nicht eines Tages die Leute, denen ich mein ganzes Unheil zu verdanken habe, als Kollegen im SFB wieder begrüßen müssen.“ Zu diesen Personen gehörte bspw. auch Roland Jahn, der unter menschenunwürdigen Umständen aus der DDR ausgewiesen und beim SFB beschäftigt worden war. Ich war also vorgewarnt. Auch deshalb war ich weder bereit noch in der Lage, irgendwelche größeren Mengen von Rundfunk- und Fernsehmachern beim SFB einzustellen, allein schon aus finanziellen Gründen. Zu Beginn meiner Tätigkeit war der SFB ja massiv überschuldet. Ich hatte die Auflage von meinem Verwaltungsrat erhalten, auf jeden Fall den Etat im Laufe meiner Dienstzeit auf Plus/Minus-Null zu bringen. Das zwang mich, 20 Prozent des Personals abzubauen. Mit jedem, den ich neu aus der ehemaligen DDR eingestellt hätte, wäre diese Zahl aber bereits wieder belastet gewesen. Konkret war ich gar nicht in der Lage, eine größere Anzahl von DDR-Mitarbeitern einzustellen. Insoweit hat sich das von selbst verboten. Folgendes als Exkurs: Zu der von Ihnen angesprochenen Fragebogenaktion in der „Einrichtung“: Am 14. Oktober 1990 fanden die ersten freien Landtagswahlen statt. In den wenigen Tagen danach, als es die Ministerpräsidenten und Landtage in den neuen Bundesländern noch nicht gab, rief mich aus dem Bundeskanzleramt Staatsminister Bernd Neumann an: „Herr Lojewski, wir haben in Ost-Berlin jetzt Hörfunk und Fernsehen und keiner kümmert sich um diese. Die neuen Landesregierungen sind noch nicht gebildet. Was machen wir? Wir wollen dort einen Beauftragten des Bundeskanzlers hinsetzen. Wir brauchen das sofort und zwar, bevor sich die Landtage konstituieren. Haben Sie einen Vorschlag?“ Daraufhin rief ich Rudolf Mühlfenzl an, meinen ehemaligen Chefredakteur beim Bayerischen Rundfunk. Er besaß den großen Vorteil, dass er dort vorzeitig aufgehört hatte, um der erste Präsident der Landesmedienanstalt in Bayern zu werden. Er hatte also bereits Erfahrung im Umgang mit den öffentlich-rechtlichen wie mit den privaten Rundfunk- und Fernsehanstalten. Wenn man einen solchen Mann findet, konnte man sicher sein, dass die privaten Rundfunkanstalten nichts gegen ihn haben konnten. Hinter den privaten Rundfunkanstalten standen in überwiegender Mehrheit große Verlage. Sicher konnte man sich demnach sein, dass die Zeitungen nichts gegen ihn haben konnten. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk würde gegen seinen ehemaligen Chefredakteur ebenfalls nichts Negatives vorbringen. Gegen Mitternacht erreichte ich Mühlfenzl am Telefon. Pünktlich am nächsten Morgen erfolgte sein Rückruf: „Hier ist das alte Zirkuspferd, ich melde mich wieder zur Front!“ Das teilte ich dem Bundeskanzleramt mit. Mühlfenzl wurde daraufhin von Schäuble verpflichtet, als Chef der Einrichtung nach OstBerlin zu gehen. Nach seinem Dienstantritt trafen wir uns dann nahezu regelmäßig donnerstags am späten Abend zum Gedankenaustausch. Ich möchte dazu folgenden Fall schildern: Mühlfenzl hatte mit gutem Grund eine Dienstanweisung Nr. 1 herausgegeben, alle öffentlichen Äußerungen fänden nur mit seinem
649 Einverständnis statt. Er wollte keine Debatte mit dem Personal, wenn sich jeder öffentlich äußert und mit Interna zur Presse läuft. Diese Dienstanweisung durchbrach als erster Jörg Hildebrandt, 29 der demonstrativ nach wenigen Tagen sich über eine Zeitung darüber beschwerte, dass er seine Meinung nicht frei äußern könne. Für mich war das durchaus verständlich, er und seine Kollegen und viele andere Bürger der DDR hatten ja gerade für die Meinungs- und Pressefreiheit gekämpft. Andererseits war es für Mühlfenzl natürlich tödlich, wenn er jede einzelne Entscheidung, die er zu treffen hatte, jedes Mal in der Presse von Leuten kommentiert vorfinden musste, die betroffen sein würden, z. B. auch für den Fall einer Auflösung ihrer Anstalt. Diese Auseinandersetzung zwischen Mühlfenzl und Hildebrandt ist dann auch durch mehrere Instanzen durch die Presse gegangen. Jedenfalls war das die erste Erfahrung, die Mühlfenzl machte. Darauf bauten natürlich viele andere Entscheidungen auf. Nachgefragt: Zur Fragebogen-Aktion aus Februar 1991: Waren Sie dafür oder standen Sie für eine Generalamnestie für ehemalige Mitarbeiter aus den Medienbereichen der DDR ein? Wie war Ihre Einstellung dazu? Nach den von mir gerade beschriebenen Erfahrungen in der Sache Hildebrandt, über die Mühlfenzl und ich an unserem Donnerstagabend mehrfach gesprochen haben, habe ich ihn unterstützt. Ja! Also waren Sie Befürworter der Fragebogen-Aktion? Ja. Weil Sie Befürchtungen hatten? Genauso. Ich habe das im Einzelnen nicht verfolgt. Aber ich habe das Ergebnis damals sehr früh erfahren. Ich gehe davon aus, dass auch in einem oder anderen Fall absolut zu Recht Konsequenzen aus der Fragebogenaktion gezogen worden sind. Möglicherweise sind nicht alle Fälle erfasst worden. Sicherlich war das Verfahren aber auch zu Gunsten von vielen Mitarbeitern, die von einem Verdacht befreit worden sind. Rudolf Mühlfenzl stellte termingemäß am 31. Dezember 1991 den Sendebetrieb des Rundfunks und Fernsehens der DDR ein. Das erledigte er, der am 15. Oktober 1990 zum Rundfunkbeauftragten der neuen Bundesländer gewählt worden war, nach Artikel 36 des Deutschen Einigungsvertrages. In dieser Funktion wickelte er den deutschen Fernsehfunk sowie die Hörfunksender der DDR ab. Seine Tätigkeit war in der Bevölkerung des Beitrittsgebiets aber umstritten. Mühlfenzl wurde wahrgenommen als die Person, die auch beliebte Sender und Programme abschaltete. Als seinen größten Erfolg in dieser Stellung bezeichnete er selbst die Gründung des Mitteldeutschen Rundfunks MDR. Wie erinnern Sie sich an Rudolf Mühlfenzl (1919–2000), der Fernsehjournalist, MedienJörg Hildebrandt war der Ehemann von Regine Hildebrandt, die in der Stolpe-Regierung im Kabinett Ministerin für Arbeit und Soziales war und 2001 an Krebs verstarb.
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650 manager und Rundfunkbeauftragter war? Was ist letztendlich sein Verdienst und sein Vermächtnis? Mühlfenzl war für mich schon als Chefredakteur im Bayerischen Fernsehen ein herausragender Journalist mit herausragenden journalistischen Fähigkeiten. Er war erfahren im öffentlich-rechtlichen Rundfunk und er kannte von innen heraus die privaten Rundfunkanstalten, was ich Ihnen bereits gesagt habe. Er war absolut ein durchsetzungsfähiger und -williger Mann. Deshalb war er für diese Position der geeignetste und einzige. Innerhalb von Tagen ist er ins Amt gekommen. Man konnte mit ihm hervorragend diskutieren und auch streiten. Aber es ist nie etwas zurückgeblieben. Auf diese Art und Weise erwarb er sich schlussendlich in den neuen Bundesländern eine hohe Achtung, weil er ein absoluter Profi war. Er setzte sich sehr für die Neuordnung der Rundfunkanstalten in den neuen Bundesländern nach dem föderalen System ein und trug frühzeitig zur Einigung auf eine Drei-Länder-Rundfunkanstalt MDR bei. Leider hatte er mir nicht ebenso erfolgreich helfen können, eine zweite Rundfunkanstalt NORA, bestehend aus Sachsen-Anhalt oder Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Berlin, zu etablieren. Das wäre sicherlich eine vernünftige und gute Lösung gewesen. Wir sind politisch gescheitert. Mühlfenzl verdiente sich auch große Anerkennung dafür, dass er die Programme bis zum letzten Augenblick in Hörfunk und Fernsehen aufrechterhielt. Zum Teil sehr exzellente Musikinstitute wie das Rundfunksymphonie-Orchester und der große Kammerchor, der große Rundfunkchor in Ost-Berlin und Leipzig sowie in West-Berlin die RIAS Big Band konnten dank seines Engagements überleben. Das hat er alles mit großer Wärme betrieben. Weitestgehend waren es Ideen, Initiativen und die Durchsetzungskraft von Rudolf Mühlfenzl. Welchen von den Führungsgenossen standen Sie näher und hatten Sie Vertrauen, Respekt und spürten Glaubwürdigkeit? Ich habe mit überhaupt keinem sympathisiert. Ich habe die Akteure dazu viel zu wenig gekannt. Der Einzige, mit dem ich durchaus ab den 1970er Jahren intensiver zu tun hatte, war Erich Selbmann, 30 der damals der Chef der Aktuellen Kamera und Sohn von Fritz Selbmann war. 31 Ich habe damals sehr viel für die European Broadcasting Union (EBU) verhandelt, was das wichtige Kapitel Nachrichtenaustausch zwischen Ost und West anging und in die KSZE-Akte in Korb III. eingegangen ist. Wir waren je fünf VerhandlungsErich Selbmann (1926–2006) war u. a. In der Zeit von 1959 bis 1964 Sekretär für Agitation und Propaganda der SED-Bezirksleitung in Berlin. In der Zeit von 1963 bis 1967 war er Mitglied der Stadtverordnetenversammlung von Berlin. Von 1964 bis 1966 arbeitet er im Büro als Auslandskorrespondent in Moskau und leitete später von 1966 bis 1978 als Chefredakteur die Aktuelle Kamera. Bis November 1989 war Selbmann stellvertretender Vorsitzender des Staatlichen Komitees für Fernsehen und Leiter des Bereichs Dramatische Kunst. 31 Fritz Selbmann (1899–1975) war der Vater von Erich Selbmann. In der Zeit von 1954 bis 1958 war er Mitglied des ZK der SED. In der Zeit von 1969 bis 1975 Selbmann einer der Vizepräsidenten des Schriftstellerverbandes der DDR. 30
651 teilnehmer auf der Seite der EBU, auf der östlichen Seite war Selbmann einer von den Fünfen, mit dem ich relativ häufig zusammengekommen bin. Wir trafen uns nach der Wende gelegentlich und unterhielten uns auch über private Dinge. Aber er ist der Einzige, den ich gekannt habe. Selbmann war zu der Zeit, wo wir uns kennenlernten, in den 1970er Jahren ein reiner Funktionär seiner Partei. Übrigens kein Zweifler. Er führte entsprechend die Aktuelle Kamera im Sinne der Partei. Gleichwohl, in diesen Verhandlungen zwischen Ost und West, die im Vorfeld der KSZE mehr oder weniger im Geheimen stattgefunden haben – beispielsweise tagten wir in Mexiko, in Kairo und Helsinki –, in diesen Gesprächen sind wir immerhin so weit gekommen, dass wir in der Praxis miteinander zusammenarbeiten konnten, wenngleich wir ideologisch völlig anderer Meinung waren. Danach war es so: Die Intervision des Ostblocks und die EBU haben täglich Nachrichten ausgetauscht. Zwar gab es immer wieder Nachrichten, die auf der osteuropäischen Seite nicht zur Kenntnis genommen werden durften. Ich entsinne mich aber an die ersten Demonstrationen der Gewerkschaft Solidarność in Danzig. Diese Demonstrationen sind im polnischen Fernsehen gezeigt worden, wurden dann aber entgegen den schon bestehenden KSZE-Verträgen vom OIRT-Verband nicht im Austausch angeboten. 32 Die habe ich dann durch persönliche Beziehungen zu einem polnischen Kollegen mit einem Flugzeug der LOT, der polnischen Fluggesellschaft, direkt in den Westen ausfliegen und in den EBUAustausch einbringen können. Das alles auch hat Erich Selbmann mitgetragen, aber sicherlich wider seine Überzeugung. Was sind für Sie die Gründe für das Ende der DDR? Das Ende der DDR war sicherlich das Ergebnis einer geglückten Politik des Westens. Damit meine ich sowohl den Beginn unter Konrad Adenauer mit der sehr starken Westbindung, die nicht durchbrochen und unterlaufen werden konnte, wie auch die Ost-Politik Willy Brandts, die mit kleinen Schritten die DDR nach dem Westen geöffnet hatte. Ein weiterer Grund war sicherlich die erfolgreiche Politik der NATO, die vor allen Dingen die UdSSR finanziell und in der Rüstung zurückgeworfen hat. Sicherlich hat zum Kollaps der DDR auch ihre ideologisch gebundene, erfolgslose Wirtschafts-, Finanz- und Innenpolitik der DDR beigetragen, die die Bevölkerung nie in ihrer Mehrheit hat für sich gewinnen können. Es gab eben selten oder gar keine Bananen und Orangen, und wenn doch, dann nur in Ost-Berlin und zu Weihnachten oder in Leipzig zur Messezeit. Das hat dann eben in der Bevölkerung der DDR zur Unzufriedenheit, zur Unruhe und zu Aufbegehren geführt. Und wenn dann die eigenen Medien nichts von alledem aufgreifen, dann verliert das ganze System an Glaubwürdigkeit. Dann werden die Rufe nach Meinungs-, Presse-, Medien- und Demonstrationsfreiheit immer lauter. Diese Freiheiten existierten nicht und wurden unterdrückt. Die Medien in der DDR, von der Kreiszeitung Die Bezeichnung OIRT-Band stammt von der Rundfunk- und Fernsehorganisation Organisation Internationale de Radiodiffusion et de Télévision (OIRT), die ihren Sitz in Prag hatte. Sie galt als das „sozialistische Pendant“ zur westeuropäischen European Broadcasting Union (EBU). Es gab von der OIRT auch für den Fernsehempfang einen von der CCIR 601 abweichenden Fernsehstandard.
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652 bis zum Neuen Deutschland, im Hörfunk oder beim Fernsehen, waren von Anfang an reine Verlautbarungsinstrumente der staatstragenden Partei. Die elektronischen Medien aus dem Westen mit allen Konsequenzen und gewiss nicht geplant sind dagegen zur wichtigsten Informationsquelle für die Menschen in der DDR geworden. Können Sie die drei Übergangskandidaten Egon Krenz, Hans Modrow und Lothar de Maizière charakterisieren? Mit de Maizière habe ich viel gesprochen. Mit den beiden anderen habe ich nichts zu tun gehabt. Denen bin ich nie begegnet. Krenz hatte m. E. von seiner ganzen Herkunft her gar keine Chance, vieles anders zu machen, als es seine Vorgänger gemacht haben. Dazu war der Apparat des Politbüros und des Zentralkomitees der SED zu sehr der alten Vergangenheit verhaftet. Ich glaube auch nicht, dass er intellektuell in der Lage gewesen wäre, Glasnost oder Perestroika in der DDR einzuführen. Modrow war vielleicht guten Willens, aber zu schwach. Von de Maizière weiß man, dass er glaubte, als er am 12. April 1990 zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, dass er die DDR die nächsten vier Jahre regieren würde. Am Ende ist es ein halbes Jahr geworden. Er hat die DDR ohne große Aufstände, ohne große Revolutionen und ohne große Unruhen auf den Straßen in die Wiedervereinigung geführt. Das ist seine historische Leistung. Nebenbei: Vor der ersten Wahl zur Volkskammer, das muss im Januar/Februar gewesen sein, ritt in allen Meinungsumfragen die SPD geradezu galoppierend zum Sieg in den neuen Bundesländern. Das widersprach aber allen Beobachtungen, die ich bei meinen ersten Besuchen in der Noch-DDR gemacht habe. Meine Eindrücke in der DDR vor Ort stimmten mit diesen Vorhersagen nicht überein. Deshalb rief ich den Chef von INFAS an, das für die ARD die Meinungsumfragen erhoben hatte: „Sagen Sie bitte, wie erheben Sie eigentlich diese Umfragen?“ Er antwortete: „Wir liegen mit plus/minus 2 Prozent Abweichung immer richtig. Das machen wir wie immer. Wir machen das mit Telefonumfragen.“ Ich antwortete: „Ich wäre dankbar, wenn Sie ab sofort diese Telefonumfragen einstellen, weil Sie offenbar übersehen haben, dass in der DDR nur die Nomenklatura tatsächlich ein Telefon besaß.“ Das sah er beschämt ein. Von diesem Tage an begann die CDU mit de Maizière plötzlich in den Umfragen dramatisch aufzuholen, bis er dann am Wahltag selber tatsächlich gewonnen hat. Ein Sprung in die heutige Zeit. Sehen Sie die Medien- und Pressefreiheit heute als gefährdet an? 33 Stichwörter wären Corona-Leugner, Querdenker, Lügenpresse und FakeNews. Auch der Missbrauch von den damaligen Losungen, z. B. durch die AfD, die für sich vereinnahmt: „Wir sind ein Volk“ oder „Wir sind das Volk“. Verschwörungstheoretiker vergleichen sich sogar unzulässiger Weise mit Sophie Scholl und Anne Frank. Wie sehen Sie das? Transparenz schaffen die Angebote z. B. https://www.abgeordnetenwatch.de/ und https://www.wahl-o-mat.de/ (letzter Zugriff 1.1.2021). 33
653 Ich sehe die Pressefreiheit überhaupt nicht gefährdet. Weder die Informationsfreiheit noch die Meinungsfreiheit, beides überhaupt nicht. Aber ich sehe die Presse und die Informationen missbraucht. Das ist natürlich nicht gut. Das führe ich nicht zuletzt auf die sozialen Medien zurück, also auf das Internet, wo jedermann jede Information oder jede Desinformation, jede Manipulation oder Nicht-Manipulation einbringen kann. Je krasser das wird, desto größer wird die Gefahr, dass tatsächlich jemand darauf hereinfällt und dass sich ein Gerücht ungefiltert verselbstständigt. Bereits in meinem Abschiedsvortrag 1998 in Berlin habe ich auf diese Gefahren in der Zukunft hingewiesen. Ich glaube, dass vor allen Dingen die Sozialwissenschaften und die Kommunikationswissenschaften schlichtweg 20 Jahre lang das Problem vernachlässigt haben. Auf diese Art und Weise griffen bspw. Lösungen, wie wir sie für die Printmedien haben, nicht. Jetzt auf einmal beginnt die Diskussion darüber, ob man nicht auch für die elektronischen Medien, vor allen Dingen für das Internet, auch einen „Presserat“ installieren sollte. Wo sich jeder beschweren kann und die Medien aus eigener Kraft Kontroll- oder Korrekturgremien einführen. Wo Google, Facebook, Twitter und die anderen Social-Media-Angebote verpflichtet werden sollen, selbstkritisch zu sein und sich eigenen Kontrollen selbst zu unterwerfen. Aber das kommt jetzt reichlich spät, wenn es überhaupt kommt. Als wir in das globale und blitzschnelle Medium Internet eingestiegen sind, waren diese Entwicklungen zu befürchten. Was bleibt für Sie von der DDR-Geschichte übrig? Wie lautet Ihr Resümee? Die Rolle der Frau in der DDR war von Anfang an eine andere gewesen, als das jahrzehntelang in der Bundesrepublik der Fall gewesen ist. Durchaus hat sich das jetzt in der Emanzipationsbewegung durchgesetzt. Das würde ich unmittelbar als eine der Folgen der Wiedervereinigung ansehen. Ich sehe auch, dass manche Idee, die von Karl Marx und Friedrich Engels über den Sozialismus und den Kommunismus in ihrer Gesellschaftslehre entwickelt worden ist, was z. B. die Gleichheit der Menschen angeht und heute als „soziale Gerechtigkeit“ firmiert bei den Linken und in die SPD hinein ein Revival erlebt. Deswegen ist auch die Wiedervereinigung durchaus keine Einwegpolitik geworden, die dem Osten „übergestülpt“ worden ist. Dieses Wort „übergestülpt“, das derzeit in der linken wie auch in der rechten Szene herumgrassiert, halte ich aus juristischen und politischen Gründen für völlig misslungen, für historisch falsch, demagogisch, ja sogar für gefährlich. Für mich wird die historische Bedeutung einer friedlichen und unblutigen Wiedervereinigung in den nachfolgenden Generationen, die heute das Geschehen bestimmen, leider nicht ausreichend gewürdigt. Für die Menschen in der DDR und in der Bundesrepublik, die sicherlich dafür durchaus erhebliche finanzielle, ideelle und materielle Opfer erbringen mussten, ist diese Wiedervereinigung letztendlich geglückt. Ich meine, das sollte auch für die Generationen nach mir unverändert ein großer und glücklicher Augenblick gewesen sein.
654 Verehrter von Lojewski, vielen Dank für dieses ausführliche Gespräch. Bleiben Sie gesund. Auch Ihnen vielen Dank.
655 Frank Schumann „Die DDR halte ich unverändert für das bessere Deutschland […] Mir muss man nicht erzählen, was bei uns alles schlecht war, ich weiß das, ich habe hier schließlich 40 Jahre gelebt.“
Abb. 83: Frank Schumann – erfolgreicher Verleger für DDR-Funktionäre.
Frank Schumann wurde am 24. Oktober 1951 in Torgau geboren. Er ist Sohn des Korbmachermeisters und späteren Pfarrers Werner Schumann und seiner Frau Ilse Breitenbach. In der Zeit von 1966 bis 1970 absolvierte Schumann sein Abitur mit Berufsausbildung zum Spezialglasfacharbeiter. Im Jahr 1966 trat er der FDJ und dem FDGB bei. Im Jahr 1973 trat er der SED bei. In der Zeit von 1974 bis 1978 studierte er an der Sektion Journalistik der Leipziger Karl-Marx-Universität. In der Zeit von 1973/74 war er Volontär bei der Junge Welt (JW) und nach seinem Studium in Leipzig Geschichtsredakteur bei der JW (1978–1991). Ab 1981 war er stellvertretender und ab 1984 Abteilungsleiter Wissenschaft und Kollegiumsmitglied. Im Jahr 1988 wurde Schumann Kulturchef. Im Herbst 1989 erfolgte seine Wahl in die neue Leitung der Zeitung. Publikationen (Auszug) 34: Zieh dich warm an! Soldatenpost und Heimatbriefe aus zwei Weltkriegen. 1989; 100 Tage, die die DDR erschütterten. 1990; Der rote Graf: Heinrich Graf von Einsiedel. 1994; Von den Anfängen. Eine illustrierte Chronik der PDS 1989–1994. 1995; Letzte Aufzeichnungen. Für Margot. 2012; Margot Honecker. Zur Volksbildung – Gespräch, 2012. Warum sind Sie Journalist geworden? Wer und/oder was prägte Sie? 35 Warum stieg mein Vater, der Pfarrer, jeden Sonntag auf die Kanzel? Vermutlich habe ich ein gewisses Sendungsbewusstsein von ihm geerbt. Journalist aus der Not heraus. Die Aktuelle Publikationen unter https://www.eulenspiegel.com/verlage/edition-ost.html einsehbar (letzter Zugriff 1.12.2020). 35 Das Interview mit Frank Schumann wurde aufgrund der Corona-Pandemie schriftlich geführt. Die Approbation zur Veröffentlichung erteilte Schumann am 8.12.2020. Einige Textpassagen sowie das Foto wurden aus dem Interview mit Eva Prase von der Freie Presse aus Chemnitz entnommen. Der Bericht ist unter https://www.freiepresse.de/der-verlorene-sohn-artikel10018300 aufrufbar (letzter Zugriff 30.11.2020). 34
656 Aufnahmeprüfung bei den Theaterwissenschaftlern in Leipzig habe ich verpennt, die in Adlershof verpatzt, einen zugewiesenen Studienplatz an der TH Ilmenau nicht angetreten. Ich bewarb mich beim Volk in Erfurt, die waren arrogant und wollten mich nicht. Die Leipziger Volkszeitung bot mir eine Stelle als redaktioneller Mitarbeiter mit Aussicht auf ein Fernstudium. Die Junge Welt lud mich ein und zeigte mir die Elle, an der ich mich zu messen hätte. Alle Volontärstellen und die daran hängenden Studienplätze seien vergeben, ich hätte nur eine Chance, wenn ich besser wäre als die Nominierten. Dabei fiel ich anderen auf. Zu meiner Lektüre gehörte die einst von Ossietzky geführte Weltbühne, so etwas wie der journalistische Olymp. Während des Studiums erregte mich ein unsinniger Beitrag über Schildau und die Schildbürger. Der Ort lag um die Ecke, ich wusste es besser. Meine wütende Entgegnung trug mir die Einladung von Peter Theek ein, dem Chefredakteur des Blättchens, künftig als Autor für sie aktiv zu werden. Was ich tat. Das brachte mir Missgunst wie Aufmerksamkeit. Der Chefredakteur der Junge Welt, inzwischen mein Chef, fragte mich eines Tages, ob ich der Schumann sei, der in der Weltbühne schriebe. Was ich stolz bejahte. Kein halbes Jahr später bekam ich einen Pass und ein unbefristetes Visum: Im Jahr 1980 sollte zum 35. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus auf Wunsch von Honecker, in der Junge Welt über eine Gruppe deutscher Soldaten geschrieben werden, die sowjetische Antifa-Schulen durchlaufen hatten, hinter der Front abgesprungen waren und mit belorussischen Partisanen gegen die Okkupanten gekämpft hatten. Geführt wurden sie damals von einem Major Bejdin, der 1945 als Jugendoffizier der Sowjetischen Militäradministration Honecker protegiert hatte. Wie sich herausstellte, lebten mindestens zwei aus dieser Gruppe im Westen. Da die Geschichte nur rund war, wenn auch sie porträtiert würden, musste ich sie suchen. Niemand wusste, wo sie lebten. Der Publizist Karl Wilhelm Fricke aus Köln schreibt im „Geschichtsrevisionismus aus MfS-Perspektive. Ehemalige Stasi-Kader wollen ihre Geschichte umdeuten“ 36 u. a.: „Dass Verlagsleiter Frank Schumann bis 1989 inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit war, IM ‚Karl‘, das fügt sich ganz in dieses Bild.“ Was war Ihre Motivation zu dieser vermeintlichen IM-Tätigkeit für den Auslandsgeheimdienst? Diese Frage musste natürlich kommen. Es gibt Staaten, da sind die Menschen stolz, wenn sie vom Nachrichtendienst angesprochen werden, um etwas für ihr Land zu tun. Man fragt schließlich nicht jeden Tropf. Im Übrigen gehören Journalisten schon immer zu den bevorzugten Personengruppen. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Ich übernahm Kurierdienste, übergab Briefe oder nahm welche entgegen. Nichts Aufregendes. Manchmal wusste ich, was im Umschlag ist, manchmal nicht. Und wenn man mich erwischt hätte, konnte ich darauf vertrauen, dass mich meine Regierung austauschen Karl Wilhelm Fricke, Deutschland-Archiv, 39. Jahrgang 2006, 3/2006, S. 490–496, Geschichtsrevisionismus aus MfS-Perspektive. Ehemalige Stasi-Kader wollen ihre Geschichte umdeuten. Siehe https://web.archive.org/web/20130627050211/http://en.stiftung-hsh.de/downloads/CAT_212/DA_2006_3_490-496.pdf (letzter Zugriff 30.12.2020).
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657 würde. Anders als etwa bei den Amerikanern: Wenn man bei denen verbrannt ist, ist man erledigt und vergessen. In meiner Tätigkeit sehe ich nichts Ehrenrühriges. Die DDR halte ich unverändert für das bessere Deutschland – bei aller Unvollkommenheit, allem Ärger, allem Unmut: Mir muss man nicht erzählen, was bei uns alles schlecht war, ich weiß das, ich habe hier schließlich 40 Jahre gelebt. Ich halte es da mit Peter Hacks. Für den war selbst der schlechteste Sozialismus besser als der beste Kapitalismus. Zeigt nicht allein die Tatsache, dass Ostdeutsche noch immer existenzielle Folgen fürchten, wenn sie zu ihrer Vergangenheit stehen, wie verlogen und heuchlerisch unsere gegenwärtige Gesellschaft ist? Im Jahr 2017 feierten wir 500 Jahre Luther-Reformation. Sein trotziges wie mutiges Bekenntnis „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ vorm Reichstag zu Worms: Wer traut sich solches heute zu angesichts drohender öffentlicher Ächtung? Das sagt mehr über die Gesellschaft als über die Menschen aus. Man hat mir beispielsweise das Etikett „Stasi-Verleger“ verliehen, obgleich andere Verlage ebenfalls Autoren aus dem MfS-Bereich verlegen. Damit kann ich leben. Ich halte die Unterscheidung von Opfern und Tätern ohnehin für Quatsch. Die meisten Menschen in der DDR waren weder das eine noch das andere, sie waren Volk. Ich stelle nicht in Abrede, dass es auch Menschen gab, denen bitteres Unrecht widerfuhr – in keinem Staat der Welt herrschen paradiesische Verhältnisse –, aber ich bin entschieden dagegen, die Vergangenheit ausschließlich aus ihrer Perspektive darzustellen. Und das obendrein in einer Weise, die die Bezeichnung Indoktrination verdient. Für mich ergeben sich daraus zwei Fragen: Wem soll damit weisgemacht werden, dass in der DDR alle gelitten haben, und zweitens: warum soll man solches annehmen? Für weitere Konflikte sorgte die Dienstanweisung Nr. 8 am 14. Februar 1991, eine Fragebogen-Aktion, bei der die politische Vergangenheit und insbesondere eine mögliche Stasibeschäftigung jeden Mitarbeiters der Medien der DDR abgeklärt werden sollte. Das Ergebnis von 9600 abgegebenen Fragebögen: Bei rund 200 Beschäftigten gab es früheren Kontakt zum MfS. Sie wurden fristlos gekündigt. Rund 600 Mitarbeiter sollten nicht mehr mit Leitungsaufgaben betraut werden. Bei rund 1677 Personen konnte die politische Vergangenheit nicht konkret geklärt werden. Also unter diesen 14 000 Rundfunk- und Fernsehmitarbeitern der DDR war auch regelrecht Verzweiflung vorhanden. Wie schwierig war dieser Prozess der Integration von Mitarbeitern in die neue Westmedien? Diese Frage kann ich schwerlich aus eigenem Erleben beantworten. Ich verließ die Junge Welt 1991 und war nie wieder in einer Redaktion tätig. Aber aus der Distanz gewann ich den Eindruck, dass die Opportunisten in unserer Zunft keine Probleme in und mit den Westmedien hatten. Ich war erstaunt, wie rasch mancher und manche sich um 180 Grad zu wenden vermochten. Nachdem er resp. sie bis gestern mit Inbrunst und vorauseilendem Eifer das hohe Lied auf den Sozialismus gesungen hatte, tat er/sie es nun
658 mit der gleichen Gefallsucht auf die neue Ordnung. Und ich nahm es ihnen nicht einmal übel: Schließlich musste jeder seine Miete bezahlen, die Familie ernähren und die eigene Existenz sichern. Aber es gab auch nicht wenige Kollegen, die wie ich freiwillig gingen und sich einen anderen Job suchten, weil sie nicht gegen ihre Überzeugungen schreiben und reden konnten und wollten. Herr Schumann, Sie arbeiteten u. a. für die Junge Welt, studierten Journalistik in Leipzig, waren als Moderator beim DDR-Jugendfernsehen tätig. Nach der deutschen Vereinigung waren Sie Mitbegründer vom Verlag edition ost. Zahlreiche Bücher von und mit ehemaligen Funktionären der DDR veröffentlichten Sie in den letzten Jahrzehnten. Über 50 Jahre sind Sie mit den Massenmedien Presse, Fernsehen und Internet vertraut. Wenn Sie zurückblicken: Wie erlebten Sie diese Phasen, insbesondere im Wandel von Agitation und Propaganda in der DDR (Medienzensur), in den Zeiten des Umbruchs, der Revolution und der Ereignisse 1989/90 bis in die heutige Gegenwart? Vielleicht sollten wir uns zunächst darüber verständigen, was unter „Medienzensur“ zu verstehen ist. Ob es eine systemtypische Zensur gab oder ob nicht in der Öffentlichkeitsarbeit, egal unter welcher Fahne sie erfolgt, Mechanismen wirken, die keinen genuin politisch-propagandistischen Hintergrund haben? Und dann sollte man auch unterscheiden, von welchen Journalisten gesprochen wird, die äußeren Zwängen unterworfen sind? Reden wir über Journalisten, die ausschließlich für Nachrichten zuständig sind, für innen- oder für außenpolitische, sind Reporter gemeint oder Feuilletonisten, Sportjournalisten, Kommentatoren und Leitartikler? Das ist ein weites Feld und müsste primär vermessen werden, ehe man über Phasen der Entwicklung und Veränderung in der Zunft schwadroniert. Aber nehmen wir’s mal wörtlich und beginnen bei 1945: Natürlich gab es in allen Zonen zunächst eine Zensur, die von den Besatzungsmächten ausgeübt wurde und die diese Bezeichnung auch mit Recht trägt. Sie sorgten auf diese Weise dafür, dass die Naziideologie konsequent aus der Sprache getilgt und ihre Besatzungspolitik nicht kritisiert wurde. In jeder Zeitungs- und Rundfunkredaktion in der sowjetischen Besatzungszone zum Beispiel saß mindestens ein Offizier der Roten Armee mit dem Rotstift und strich auf der Druckfahne Stellen an, die er getilgt haben wollte. Moritz Mebel, Jahrgang 1923, 37 seit 1933 in der sowjetischen Emigration lebend, kämpfte von 1941 bis 1945 in der Roten Armee, danach war er bis März 1947 in der Sowjetischen Militäradministration tätig. In einem Interview 38 fragte ich ihn, was er in der SMAD gemacht habe. Darauf sagte er: „Ich war Zensor in Merseburg. In allen Zonen achteten die Besatzungsmächte gewissenhaft darauf, dass die vier Prinzipien gewissenhaft eingehalten wurden, auf die sie sich in Potsdam verständig hatten: Dezentralisierung, Demilitarisierung, Demokratisierung und Denazifizierung. Vornehmlich die 37 38
Am 21.4.2021 verstorben. Junge Welt, 17.2.2018.
659 Entnazifizierung und Entmilitarisierung bedeutete die Unterbindung einer entsprechenden Propaganda. Mir wurden also Manuskripte von Zeitungs- und Rundfunkredaktionen vorgelegt, die ich begutachtete. Manchmal schickte mich mein Chef auch ins Kino, um mir Filme anzusehen.“ Ob er oft den Rotstift angesetzt habe, fragte ich ihn weiter: „Ja, wenn ich die Freigabe mit meiner Unterschrift erteilte. Ich kann mich aber nicht erinnern, dass ich jemals etwas Inhaltliches hätte beanstanden müssen.“ Nachdem 1949 die DDR gegründet und die SMAD durch die Sowjetische Kontrollkommission ersetzt worden war, verschwanden auch die sowjetischen Zensoren aus den Redaktionstuben. Dann griffen jedoch andere Mechanismen. Erstens hatte jedes Medium einen Herausgeber, jede Zeitung, ob überregional oder regional, war ein Organ: einer Partei, einer Organisation, eines Verbandes. Das wurde auch in der Unterzeile ausgewiesen. Das Neue Deutschland war Organ des Zentralkomitees der SED, die Zeitungen in den Bezirken waren Organe der Bezirksleitung der SED oder der übrigen Parteien. Wochenzeitungen und andere Periodika standen ebenfalls in einer gewissen Nähe zu einer Institution. Die Freie Welt etwa war das illustrierte Sprachrohr der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft (DSF), die Illustrierte Für Dich das des Demokratischen Frauenbundes Deutschlands (DFD). Der Herausgeber des Mediums gab nicht nur seinen Namen und das Geld für die Produktion, sondern er lieferte auch die Intentionen und die inhaltliche Ausrichtung. Das Prinzip „Wer zahlt, bestimmt auch die Musik“ fand hier wie wohl überall auf der Welt in den Verlagshäusern Anwendung. Zweitens galt das Chefredakteursprinzip. Das hieß: Der an die Spitze der Redaktion vom Herausgeber berufene Mann (höchst selten eine Frau) setzte die Blattlinie durch. Der Gestaltungsrahmen wurde von zwei Faktoren bestimmt und war nicht eben sonderlich groß. Die eine Begrenzung gab der Charakter des Mediums vor (das Zentralblatt der Partei war anders verfasst als das des Jugendverbandes). Die andere setzte das intellektuelle Potential der Redaktion, insbesondere das Format des Chefredakteurs und seines Vormunds, des Herausgebers. Als Einzelleiter verantwortete er alles, was gedruckt war oder eben auch nicht. Wenn etwa eine vom Herausgeber als besonders wichtig eingestufte Meldung vergessen wurde oder aus Platzgründen keine Verwendung gefunden hatte, erfolgte mindestens ein wütender Anruf, mitunter ein schriftlicher Verweis, der aber folgenlos blieb. Damit folgte man den Vorstellungen, die Lenin 1905 in „Parteiorganisation und Parteiliteratur“ formuliert hatte: Die journalistische Tätigkeit ist „Teil der allgemeinen proletarischen Sache“, der Journalist ist „Rädchen und Schräubchen“. Lenin damals: „Jeder hat die Freiheit zu schreiben und zu reden, was ihm behagt, ohne die geringste Einschränkung. Aber jeder freie Verband (darunter die Partei) hat auch die Freiheit, solche Mitglieder davonzujagen, die das Schild der Partei benutzen, um parteiwidrige Auffassungen zu
660 predigen. Die Freiheit des Wortes und der Presse soll vollständig sein. Aber auch die Freiheit der Verbände soll vollständig sein.“ 39 Ein souveräner, selbstbewusster und von einem Herausgeber akzeptierte Chefredakteur erarbeitete sich natürlich einen größeren Spielraum als ein ängstlicher Vollstrecker und Erfüllungsgehilfe. Allerdings einte alle Mitarbeiter die Überzeugung, sonst würden sie ja nicht in einer Redaktion arbeiten, dass man, ob nun als Tages- oder als Wochenzeitung, als Rundfunk- oder Fernsehsender, eine gemeinsame Aufgabe habe. Und darin unterschied sich das Selbstverständnis des Journalismus in der DDR von jenem etwa in der Bundesrepublik. Das individuelle Sendungsbewusstsein war gesellschaftlich konnotiert. Die Rolle der Zeitung beschränkt sich jedoch nicht allein auf die Verbreitung von Ideen, nicht allein auf die politische Erziehung und die Gewinnung politischer Bundesgenossen. Die Zeitung ist nicht nur ein kollektiver Propagandist und kollektiver Agitator, sondern auch ein kollektiver Organisator. Auch das hatte Lenin bei seinen Überlegungen zur Presse in einem Beitrag 1901 in der Iskra vorgegeben („Womit beginnen“). Diese Prämissen, unter ganz anderen gesellschaftlichen Umständen formuliert, waren im Realsozialismus überholt: Das Publikum musste informiert, aufgeklärt und unterhalten werden, es musste nicht „organisiert“ (das war es schon) und auch nicht „agitiert“ werden. Es konnte ein anderer Bildungs- und Wissensstand vorausgesetzt werden als um die Jahrhundertwerde. Dennoch waren nicht nur die für die Medienpolitik in der Führung Zuständigen der Auffassung, dass diese Prinzipien unverändert galten. Zum Beispiel mussten mit Kampagnen die Massen mobilisiert (also organisiert), über politisch-ideologische Auseinandersetzungen informiert (also agitiert) und über ihre soziale Lage aufgeklärt (also propagandistisch bearbeitet) werden. Die zentralen Themen, auf die das redaktionelle Augenmerk gelenkt wurde, gab die Abteilung Agitation im Zentralkomitee der SED jeden Donnerstag den Chefredakteuren der Parteiorgane zur Kenntnis; die anderen Printmedien erhielten diese Vorgaben durch das Presseamt beim Vorsitzenden des Ministerrates. Aber auch das war keine genuine DDRErfindung: Schon vorm Ersten Weltkrieg ließ Reichskanzler von Bülow durch seinen Pressereferenten Journalisten instruieren, und seit August 1914 fanden regelmäßig Pressebesprechungen statt, bei denen Journalisten Anweisungen und Informationen erhielten. Heute heißt so etwas „Hintergrundgespräch“ und die vertrauliche Nähe und die Exklusivität der Begegnung, an der nur ausgewählte Journalisten teilnehmen dürfen, erzeugt bei ihnen ein Gefühl der Zusammengehörigkeit. Man sitzt im selben Boot und bildet eine Schicksalsgemeinschaft. Nicht anders fungierte die Zusammenkunft mit Vertretern der politischen Führung, die die Agitationskommission wöchentlich organisierte. Die dort vermittelten Botschaften wurden in der Redaktion, in der Regel am Freitag, an die Abteilungsleiter weitergegeben Nowaja Schisn, Nr. 12, 13. November 1905, Wladimir Iljitsch Lenin: Parteiorganisation und Parteiliteratur (1905), W. I. Lenin, Werke, Bd. 10, S. 29–34. Siehe https://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1905/11/literatur.htm (letzter Zugriff 31.12.2020).
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661 und diese informierten ihre Mitarbeiter. So verstand sich „der Journalist“ gleichsam als Dolmetscher, als Transmissionsriemen der politischen Führung. Dieses Selbstverständnis erklärt auch, weshalb a) kein angestellter Journalist und keine Redaktion sich als in Opposition zur herrschenden Politik stehend empfand (etwa als „vierte Gewalt“) und b) sie in der Aufklärung der unwissenden Leser und Zuhörer/Zuschauer ihre erste Aufgabe sahen. Aufklärung etwa darüber, wie was global zusammenhängt und dass man in der besten aller Welten lebte, weil dies offenkundig noch nicht allen bewusst war. Was ja noch immer praktiziert wird: Nur heißt das heute nicht mehr Propaganda und Staatsbürgerkunde, sondern die Vermittlung demokratischer und freiheitlicher Werte. Dort, wo die DDR-Wirklichkeit die vermittelten Vorstellungen konterkarierte, half man nach, indem man den Unterschied von Wesen und Erscheinung erläuterte. Das kann man Agitation nennen oder Propaganda, allerdings sollte man nicht ignorieren, dass der Einzelne wie eine Gesellschaft zur Motivation Ziele braucht. Das Versprechen einer besseren, gerechteren Welt war in den Trümmern der Nachkriegszeit eben nur ein Versprechen, weil man hungerte und noch in Ruinen hauste. Aber es war nötig, um Hoffnung und Perspektive zu geben. Die Vision eilte zwangsläufig der Wirklichkeit immer voraus. Doch je länger das Versprechen nicht eingelöst wurde und die erlebte Realität hinter den propagierten Erwartungen zurückblieb, desto unglaubwürdiger wurde die Politik und deren Widerspiegelung in den Medien. Den Verlust von Glaubwürdigkeit, den wir heute allenthalben beobachten, erlebten wir in der DDR schon in den achtziger Jahren. Damals kursierte folgender Witz, der das Problem sehr pointiert behandelte: Geht ein Mann zur Polizei und sagt, er wolle ausreisen. Dort ist er als staatstreuer Bürger bekannt, weshalb der Polizist den Kopf schüttelt, er verstehe das nicht. „Doch, doch, ich will hier raus!“ Schließlich fragt der Polizist, nachdem er seine Überredungsversuche beendet hat, wohin der Bürger denn auswandern wolle. „In die DDR“, sagt der Mann. Der fassungslose Polizist schüttelt den Kopf: „Da sind Sie doch bereits.“ „Nein“, antwortet der Antragsteller. Er wolle in jene DDR, über die jeden Tag das Neue Deutschland berichtet ... Der Glaubwürdigkeitsverlust der Medien wurzelt immer darin, dass die Lebenswirklichkeit der Medienkonsumenten nicht ausreichend, einseitig oder falsch in den Zeitungen, im Rundfunk oder im Fernsehen abgebildet wird. Und je größer dieser Widerspruch wird, desto weniger vertraut man jenen, die diese Bilder produzieren. In der DDR gab es keine Zensur. Es gab allenfalls eine Selbstzensur, deren Konditionierung vom Selbstverständnis und den Fähigkeiten des einzelnen Journalisten abhing. Dass diese Zunft sich zu allen Zeiten und unter allen Fahnen mehrheitlich opportunistisch verhielt und verhält, hat sich inzwischen wohl herumgesprochen. 40 Unlängst erschien das Buch eines ehemaligen Kollegen, der mit mir in den achtziger Jahren in der Junge Welt gearbeitet hat. Er gehörte zu jenen, deren liebster Platz zwischen Vertiefung: Junge Welt, Ausgabe 11.2.2017, Frank Schumann, Warum immer ich? Mehr als Windmacherei fürs Fahnenflattern: Über die Arbeit als Journalist in der Jungen Welt zu DDR-Zeiten und danach. Siehe https://www.jungewelt.de/loginFailed.php?ref=%2Fbeilage%2Fart%2F304891 (letzter Zugriff 8.12.2020). 40
662 den Stühlen ist, die lieber gegen als mit dem Strom schwimmen. Solchen eigenbrötlerischen Edelfedern fällt es immer schwer, mit den Wölfen zu heulen. Darum arbeitete er auch in der JW-Sportabteilung, keineswegs ein unwichtiges, aber eben kein vordergründig politisches Ressort. Dann kam die „Wende“, und der Kollege dockte bei der Süddeutschen Zeitung an. Das kam für die, die ihn kannten, keineswegs überraschend. Mit seinen journalistischen Qualitäten und mit seiner Weltsicht passte er durchaus in dieses Blatt, er war überhaupt der erste Ostjournalist, der in der Redaktion einer angesehenen westdeutschen Zeitung angestellt wurde. Nahezu die ganze Sportabteilung, in der er gearbeitet hatte, wurde von der Bild übernommen. Bei der SZ war er, mit Unterbrechungen, fast zwei Jahrzehnte beschäftigt, er bekam etliche renommierte Preise, dann warf er den Bettel und schrieb sein Buch: „Wie ich meine Zeitung verlor“. 41 Es ist die Geschichte einer Ernüchterung und Enttäuschung. Medienkritiker Stefan Niggemeier 42 im Blog „Übermedien“: „In seiner Schilderung ist die SZ ein Blatt, in dessen Redaktion man Schwierigkeiten bekommt, wenn man versucht, Artikel zu schreiben, die nicht ins sorgfältig kuratierte Bild passen. Die die übersichtliche Weltsicht stören, die Sortierung von Gut und Böse verkomplizieren.“ Auf Niggemeiers gut durchdachter und begründeter Analyse folgten etwa anderthalbhundert Kommentare im Netz. Egal, ob nun seine Bemerkung zutrifft oder nicht, dass der Autor zu Unrecht der SZ vorhalte, sie frisiere die Realität, weil sie Beiträge von ihm nicht druckte. Egal, ob Niggemeiers Urteil zuzustimmen ist oder nicht, dass der Autor zwar dafür plädiere, „die Wirklichkeit in all ihren Farben zu zeigen“ und dabei „sie selbst auf ein sehr monochromes Bild“ in seiner Darstellung reduziere. Dennoch kann ich dem ehemaligen Kollegen aus eigener Erfahrung nur beipflichten: So gewaltig unterscheiden sich die Mechanismen in den von ihm und mir erlebten Redaktionen nicht. „Ich spüre wieder solches Eingeenge und Luftabgeschnüre“, schrieb er nach Jahren journalistischer Tätigkeit für die Süddeutsche Zeitung. Und auch ich besuchte Treffen mit ehemaligen Kommilitonen und Kollegen, wie er sie im Buch beschreibt, auf denen sich mancher nachträglich zum Dissidenten und Widerstandskämpfer verklärte. „Das sind doch alles Märchen“, kommentierte er. „Wir schildern unsere Geschichte nicht so, wie sie abgelaufen ist, sondern wie wir wünschen, dass sie abgelaufen wäre.“ Mir scheint, dass Opportunismus eine Berufskrankheit unter Journalisten ist.
41 Birk Meinhardt (Jahrgang 1959) studierte an der Karl-Marx-Universität Leipzig Journalistik. Als Sportredakteur arbeitete er bei der Wochenpost, der Junge Welt, dem Tagesspiegel und der Süddeutschen Zeitung. Ab 1996 war er Reporter der Süddeutschen Zeitung. 42 Stefan Niggemeier (Jahrgang 1969) war bis März 2006 verantwortlicher Medienredakteur der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Er ist der Gründer und Herausgeber des Bildblogs sowie vom Onlineportal Übermedien. Von Oktober 2011 bis Ende Mai 2013 war er Autor des Nachrichtenmagazins Der Spiegel. Von 2014 bis Juni 2015 war Niggemeier Autor beim Online-Magazin Krautreporter.
663 Der begründete Hinweis, dass ich seit fast einem halben Jahrhundert in der einen oder in der anderen Form mit Medien zu tun habe, schützt mich davor, die journalistische Praxis in der DDR als etwas Einzigartiges und Unvergleichliches zu be- oder gar zu verurteilen. Die Mehrheit der Journalisten da wie hier lebte bzw. lebt mit der Selbstanmaßung, alles besser zu wissen und über eine höhere Moral zu verfügen als jene, über und für die sie berichten. Was sich hier als „vierte Gewalt“ geriert, die in höherem Auftrag mit Berichterstattung und öffentlicher Diskussion politische Prozesse beeinflusst und falsche Fuffziger an den Pranger stellt (wir nannten es „entlarven“), gleicht der Haltung, die viele DDR-Journalisten an die Schreibmaschine trieb: Wir wissen, wo’s langgeht, und nun nehmen wir „die da draußen“ an die Hand und zeigen ihnen, wie der Hase läuft ... Das ist keine Rechtfertigung, sondern eine Feststellung. Es gibt auch nichts, was zu denunzieren ist. Im Gegenteil. Die Ausbildung im vermeintlichen Leipziger „Roten Kloster“ – eine Etikettierung, die häufiger von West- als von Ostjournalisten benutzt wird, denn seit den siebziger Jahren wurde im Universitäts-Neubau und nicht mehr in jenem rotfarbenen, efeuumrankten Wilhelm-Wolff-Haus in der Tieckstraße gelehrt – kann ich postum nur rühmen und nicht schmähen. Die Sektion Journalistik, vormals Fakultät der Leipziger Karl-Marx-Universität bot, in vier Jahren eine solide handwerkliche wie auch profunde geistige Ausbildung mit Philosophie und Psychologie, mit Geschichte und Gesellschaftsaufbau, mit Literatur und anderen hintergründigen Zusammenhängen, die für den Beruf nützlich waren. Und nach den Prüfungen gab es ein Diplom. Heutzutage kann sich jeder Journalist nennen, es ist keine geschützte Berufsbezeichnung, was man nicht erst schmerzlich registriert, wenn irgendwelche Knallchargen in den Bundestag stürmen, „Pressepresse“ brüllen und Abgeordnete vorführen. Die Bezeichnung „Journalist“ oder „Presse“ wird wahlweise wie eine Monstranz vor sich hergetragen oder als Legitimation benutzt, gegen Recht und Anstand zu handeln. Ich entsinne mich der in den neunziger Jahren gängigen Praxis, die allerdings noch immer gelegentlich Anwendung findet, dass Kamerateams Leute aus ihrer Wohnung klingelten und ihnen Fakten aus ihrer DDR-Biografie an den Knopf knallten, sobald sie ihre Nase aus der Tür reckten. Schlossen sie stumm die Tür, galt das als Schuldeingeständnis. Gaben sie Auskunft, nahm man auch dies zum Beweis, dass sie schuldbeladen waren, denn sie sagten nicht das, was man hören wollte. Es ging und geht nicht um journalistische Recherche, sondern ums Vorführen, ums Bloßstellen mit Presseausweis, den man für ein paar Euro bei der dju 43 erwerben kann. Die Leipziger Universität hat 2017 übrigens die Journalistenausbildung eingestellt. Ich habe auch etwas gegen den Ekel, mit dem heute gegen den sogenannten „Haltungsjournalismus“ polemisiert wird. Wer keine Haltung hat, hat auch keine Meinung. Aber ich kann trösten: Jeder Journalist und jede Journalistin haben eine Haltung, selbst wenn ihm oder ihr das nicht bewusst ist oder dies mit intellektueller Schlichtheit bestritten wird. Allein schon mit der Wahl eines Themas, über das geschrieben oder über das nicht Die Deutsche Journalistinnen- und Journalisten-Union. Sie ist eine Berufsgruppe innerhalb der Fachgruppe Medien in der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di).
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664 geschrieben, es also ignoriert wird, mache ich eine Position deutlich. Was und wie ich etwas mitteile, ist von meinem subjektiven Wissen und meinen Erfahrungen determiniert. Was ich sehe, höre, lese, im Leipziger Studium der Journalistik hieß das „Allgemeine Informationsaufnahme“, geht durch meinen Kopf und bestimmt meine Sicht. Fontane sagte: Man sieht, was man weiß. Man kann diesen Blick auch ruhig Weltanschauung nennen. Auch der Journalist kann nicht zugleich in der Gesellschaft leben und frei von ihr sein. Diese Erkenntnis ist ja nicht falsch, nur weil sie von Lenin stammt. Was uns umgibt, was wir aufnehmen und verarbeiten, bewusst oder unbewusst, formt unsere Überzeugung, die wir in Texten reproduzieren. Ich glaube darum auch nicht, dass die Journalisten gegen ihre Überzeugung schrieben, als sie erst nach deren Untergang die DDR als „Unrechtsstaat“ entdeckten. Sie folgten der Politik, nicht umgekehrt. BRD-Politiker, immer mit Journalisten im Gefolge, suchten fortgesetzt um Fototermine und Gespräche bei Honecker nach, 1987 wurde er in Bonn und anderswo zum Staatsbesuch empfangen. Man stand Schlange, um mit ihm aufs Bild zu kommen. Das änderte sich schlagartig, als er nicht mehr auf dem Thron saß und er von der Politik zur Jagd freigegeben worden war. Als man sich in die Zweistaatlichkeit eingerichtet hatte, schrieb man im Westen zwar auch kritisch über den anderen deutschen Staat, und manche Medien gebrauchten das Kürzel nur mit Anführungszeichen. Aber die eingefleischten Antikommunisten in der Branche einmal ausgenommen, man berichtete selbst in der Hochzeit des Kalten Krieges mit Verstand und Haltung. 1964 – es gab noch keine Akkreditierungen für Westkorrespondenten, sie wurden nur als Reisejournalisten ins Land gelassen – fuhren Marion Gräfin Dönhoff, Rudolf Walter Leonhardt und Theo Sommer, drei Redakteure der Zeit, zwei Wochen durch die DDR. Die Dönhoff schrieb: „Eines Tages erklärte mir ein Journalist, der Die Zeit in Ostberlin regelmäßig liest, deren Standort im kapitalistischen System liegt. Auf seine Bemerkung: ‚Das dürfen Sie ja doch nicht schreiben’, hatte ich geantwortet: ‚Wir können alles schreiben, was wir nach bestem Wissen und Gewissen für richtig halten, es gibt niemanden, der uns etwas verbietet; weder der Verleger noch die Regierung machen uns Vorschriften ...‘ Angeregt durch diese Bemerkung folgte seine (marxistisch-leninistische) Analyse: Der Zeit-Verleger Dr. Bucerius war lange Jahre CDU-Mitglied, hinter ihm steht also ein Teil der Industrie. ‚Die Zeit‘, sagte er, ‚ist im Gegensatz zur Springer-Presse nicht militaristisch, darum stehen hinter ihr nicht die Chemie und die Elektroindustrie, die unter den heutigen Gegebenheiten an Kriegsindustrie und Rüstung interessiert sind, sondern die Werften und die Maschinenindustrie, denen es um weltweiten Handel geht.‘ ‚Aber es gibt keine solchen Verbindungen, ich versichere es Ihnen.‘ ‚Vielleicht heute nicht mehr. Heute hat Die Zeit ihr Eigengewicht und eine gewisse Selbständigkeit gewonnen. Aber um so weit zu kommen, da brauchten Sie jene Hilfe aus dem Hintergrund. Ich bin seit Gründung dieser Zeitung in Ihrer politischen Redaktion, ich hätte doch jene Fäden, an denen Die
665 Zeit angeblich jahrelang gehangen hat, irgendwann einmal bemerken müssen. Ich habe sie nie gespürt.‘ ‚Das ist der beste Beweis: natürlich sind solche Fäden unsichtbar‘.“ 44 Lag der Ostkollege so falsch? Waren westliche Medien und deren Mitarbeiter wirklich frei und unabhängig, gab es keine Verbindungen und „Hilfe aus dem Hintergrund“? Bestand in den Verlagen kein Bedürfnis, mit Medienmacht Gewinne zu machen? Bekanntlich wird der Profitmacherei alles unterworfen. Auch der Journalismus. Und sei es nur, dass man große Anzeigenkunden mit redaktionellen Texten nicht verschrecken darf. Für die Gegenwart lässt sich das klar belegen: Drei Familien besitzen die größten überregionalen Printmedien, die umsatzstärksten Online-Nachrichtenportale, private Fernsehsender und massentaugliche Internetseiten in Deutschland. Sie heißen Springer, Mohn (vulgo Bertelsmann-Gruppe, der auch Teile vom Spiegel gehören) und Burda. Bei solcher Medienkonzentration lässt sich schwerlich von uneingeschränktem Pluralismus und unabhängiger Berichterstattung reden. Selbst Bundespräsidenten können damit zu Fall gebracht werden. Kann sich noch jemand an Horst Köhler erinnern? Die Neue Zürcher Zeitung thematisierte am 8. Dezember 2000 erstmals die braune Vergangenheit des Spiegels, des selbsternannten „Sturmgeschützes der Demokratie“. Rudolf Augstein, seit 1947 Herausgeber und Chefredakteur, sollte den Börne-Preis für seinen Anteil am aufklärerischen Journalismus erhalten, was die NZZ kritisierte. Und sie machte dies an drei Punkten fest: 45 1. 2. 3.
Augstein selbst habe einige ranghohe Nazis aus dem unmittelbaren Umfeld von Heydrich zum Ressortleiter bzw. stellvertretenden Chefredakteur aufsteigen lassen. Augstein habe dem Pressereferenten von Goebbels einen von ihm selbst unterschriebenen Presseausweis gegeben, was dieser letztlich zu seiner Flucht nach Südamerika nutzte. Augstein habe mit seiner Spiegel-Artikelserie zum Reichstagsbrand aufgrund der Marktmacht des Spiegels die historisch widerlegte „Story vom Alleintäter Lubbe“ 46 in der Öffentlichkeit mit der Folge durchgesetzt, dass es keine Ermittlungen gegen einen für den Verfassungsschutz zuständigen Ministerialdirektor gab.
Spätestens an dieser Stelle kommt vielleicht der Hinweis auf die Bergpredigt: „Warum siehst Du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in Deinem Auge bemerkst Du nicht?“ Ich solle doch gefälligst den sozialistischen Balken geißeln, statt mich über den demokratischen Splitter zu mokieren. Marion Gräfin Dönhoff/Rudolf Walter Leonhardt/Theo Sommer, Zeit, 27.3.1964, 13/1964, Fahrt durch die DDR. Siehe https://www.zeit.de/1964/13/fahrt-durch-die-ddr (letzter Zugriff 8.12.2020). 45 Stefan Loubichi, Die „braune“ Vergangenheit des Spiegels, 30. Juni 2016. Siehe https://www.zukunft-braucht-erinnerung.de/die-braune-vergangenheit-des-spiegel/ (letzter Zugriff 1.3.2021). 46 Marinus van der Lubbe (1909–1934). 44
666 Wir schreiben das Jahr 2020. Die DDR und ihr Journalismus sind seit über dreißig Jahren tot, das ist fast so lange, wie dem Land zu existieren erlaubt war. Leichenfledderei behagt mir nicht. Für mich gibt es nur guten und schlechten Journalismus, davon gab es damals so viel oder so wenig wie heute. Und damals wie heute funktionieren die gleichen Mechanismen, greifen die gleichen Stereotype. Warum stets den alten Quark treten? Im Studium lasen wir den heute längst vergessenen Alfred Polgar. Das war ein österreichischer Jude und Journalist, den die Nazis aus Europa vertrieben. Er schrieb regelmäßig für die von Siegfried Jacobsohn 1905 gegründete Schaubühne, aus der 1913 die Weltbühne wurde, welche später Kurt Tucholsky und nach ihm Carl von Ossietzky herausgab. Die Weltbühne erschien wieder in der DDR, ins Leben gerufen von Maud von Ossietzky, der Witwe des Friedensnobelpreisträgers und Nazi-Opfers. Die Wochenschrift für Politik, Kunst, Wirtschaft galt in der DDR als der Olymp des Journalismus – bei Wikipedia als „Parteiblatt nach dem Krieg: 1945 bis 1993“. Eine Infamie, die auf Dämlichkeit und Unwissenheit gründet wie so manches, was von der „freien Enzyklopädie“ verbreitet wird. Angesichts solcher journalistischen Wurzeln fühlte ich mich geschmeichelt, als mir Weltbühnen-Chefredakteur Peter Theek als Student in Leipzig eine Mitarbeit anbot. Nach der „Wende“ ging das originäre Blatt ein, nachdem die nunmehr Verantwortlichen meinten, es müsse so laut und bunt und krawallig werden wie die Medien, die in den Osten drängten. Ich bemühte mich, inzwischen Verleger, um den Titel und verhandelte mit einem in den USA lebenden Nachfahren von Siegfried Jacobsohn, der das Titelrecht glaubte zu besitzen und daraus viel Kapital zu schlagen hoffte. Ich hatte dieses nicht und zudem nicht noch Geld übrig, die Rechtmäßigkeit des reklamierten Erbschaftsanspruchs juristisch feststellen zu lassen. Auch andere interessierten sich für das Blättchen und seinen Verlag, so etwa der Frankfurter Immobilienhai Bernd F. Lunkewitz, der inzwischen den Aufbau-Verlag, das größte Verlagshaus der DDR, gekauft hatte. In der Folge wechselte mehrmals der Eigentümer des Weltbühnen-Verlages, allerdings ohne den in den USA liegenden Titel; 2001 ließ der letzte Besitzer den Webe Verlag (WB als Kürzel von Weltbühne) diesen aus dem Handelsregister löschen. Der ehemalige Journalist der Frankfurter Rundschau Eckart Spoo gründete angesichts des Hickhacks eine Wochenzeitschrift namens Ossietzky, in Format, Aufmachung und Inhalt der Weltbühne nicht unähnlich. 2000 zog das Blättchen von Hannover nach Berlin, deren regelmäßiger Autor ich gern bin. Und auch diese Weltbühnen-Tradition ist ungebrochen: Ossietzky und seine Autoren werden von beleidigten Verschwörern und besorgten Fundamentalisten gelegentlich vor den Kadi gezerrt. Meinen nächsten Gerichtstermin wegen eines im November 2018 erschienenen Beitrages habe ich am 11. März 2021 vorm Landgericht in Frankfurt am Main. Der Kollege Polgar, sorry, wegen der etwas langen Introduktion, behauptete also zu Beginn des vorigen Jahrhunderts: „Die Menschen glauben viel leichter eine Lüge, die sie schon hundertmal gehört haben, als eine Wahrheit, die ihnen völlig neu ist.“ Und darauf bauten und bauen Journalisten zu allen Zeiten. So sind denn auch die Fragen, die sie einem oft stellen. Es geht meist um die Bestätigung des Bekannten, selbst wenn das
667 Bekannte falsch ist. Es muss doch stimmen, wenn so viele den Unsinn wiederkäuen, heißt es dann. Kein Rauch ohne Feuer ... Nun will ich doch noch mit etwas Positivem enden: Anders als in der DDR kann ich jederzeit eine Zeitung aufmachen oder einen Verlag gründen. Ich muss niemanden um eine Lizenz und um Papier bitten. Der Pferdefuß jedoch: Man braucht dazu das nötige Kleingeld fürs Papier, fürs Personal, für die Miete, für die Druckerei, für den Vertrieb. Herrscht daran Mangel, kann man sich die Wege zum Notar und zum Amtsgericht sparen. Damit endet schon die Freiheit im Kapitalismus. Übrigens: Mein Startkapital verdankte ich Erich Honecker, dem ich persönlich nie begegnet bin. Das Angebot kam über Dietmar Bartsch. Wir kannten uns aus dem Kampfgruppenzug der Junge Welt. Wir besaßen nicht einmal das Geld, um das Buch zu drucken. Ich setzte dennoch eine Pressemeldung ab, nachdem Honecker im Mai 1994 verstorben war und Margot Honecker erklärt hatte, ihr Mann habe bis zuletzt an seinen Memoiren gearbeitet: Das Buch, so meldete ich kühn, erscheine in sechs Wochen. Das letzte Manuskript der nunmehrigen Unperson wollte kein Verlag in Deutschland 1994 haben. Ich druckte es auf Pump und verkaufte das Buch in kürzester Zeit einige zehntausend Mal. Den Erfolg verdankte ich auch der Bundespressekonferenz, die mich eingeladen hatte, das Buch dort vorzustellen. Und den vielen Journalisten, die darüber berichteten. Schließlich sei der Autor, inzwischen in Chile verstorben, Staatsmann gewesen und das Buch ein zeitgeschichtliches Dokument. So sah ich das auch, deshalb hatte ich es ja gedruckt. Ich war Verleger, nicht Zensor ... Eine solche Einladung wäre heute unvorstellbar. Warum wohl? Ich möchte ein möglichst breites Spektrum an Sichten auf die DDR abbilden. Ich drucke jeden, der etwas Interessantes, Wichtiges zu Papier bringt, auch wenn ich nicht jeden Satz, jedes Urteil teile. Vor allem möchte ich aber nicht, dass in 50 oder 100 Jahren die Frage: Wer oder was war die DDR? nur mit Hilfe von Stasi-Akten und Opfer-Berichten beantwortet wird. Mit vielen unserer Bücher dokumentieren und, ja, konservieren wir O-Ton Ost. Das ist unser Beitrag zur Geschichtsschreibung. Vermutlich werden kommende Generationen die Bedeutung dieser Bücher goutieren. Mit Genugtuung registriere ich jedenfalls, dass in wissenschaftlichen Arbeiten zum Thema DDR die Zahl der Fußnoten stetig wächst, die auf uns als Quelle verweisen. Der Spruch: „Wer schreibt, der bleibt“ stimmt. Die Vorstellung der „Moabiter Notizen“ erfolgte in eben jenem Saal, in welchem Schabowski am 9. November 1989 mit seinem Versprecher die Öffnung der Grenze ausgelöst hatte. Aber das ist schon wieder ein anderes Thema. Zu Ihrem Freundes- und Bekanntenkreis zählen u. a. Egon Krenz und Hans Modrow. Wie erlebten Sie diese SED-Führungsgenossen vor, während und nach der Revolution 1989/90? Wie würden Sie diese beiden Akteure charakterisieren? Egon Krenz kenne ich fast so lange wie meine Frau, also beinahe ein halbes Jahrhundert. Allerdings würde ich lügen, behauptete ich, dass meine Zuneigung von Anbeginn zu
668 ihm von gleicher Qualität gewesen sei. Wir kamen uns erst näher, als er im Knast war. Da war er mein Genosse, den ich besuchte aus Solidarität oder christlicher Nächstenliebe, ohne Christ zu sein, aber ich kam, wie erwähnt, aus christlichem Hause. Ich bot ihm auch eine Lektoratsstelle an, als er Freigänger werden konnte. Mein Angebot wurde von der Anstalt mit der Begründung zurückgewiesen, dass dieses Gehalt eines ehemaligen Staatsratsvorsitzenden unwürdig, also zu niedrig sei. Was für eine Verlogenheit! Sie verurteilen einen Mann erst zu sechseinhalb Jahren Haft, der im Herbst ´89 in der DDR maßgeblich dafür gesorgt hatte, dass kein Mensch zu Tode gekommen und die sogenannte Revolution friedlich geblieben war. Und dann monieren sie die Höhe des ihm angebotenen Gehalts als unangemessen … Nach seiner Entlassung wurde Egon mein Autor und auch Freund, wir vertrauen uns uneingeschränkt. In der Haft ist er nicht nur älter, sondern auch reifer geworden. Nachdenklicher, selbstkritischer, ja, auch demütiger. Er besitzt nun wirklich staatsmännisches Format, ohne einen Staat zu haben. Der alte ist weg, der neue nicht seine Heimat. Er hat darum auch nie wieder ein Amt angestrebt. Aber aus der gewonnenen Reife resultiert mitunter ein überraschendes Mitleid mit aktiven Politikern, mit denen er politisch sonst nichts am Hut hat. Er fühlt mit ihnen, versteht, wie sie reagieren, und ist froh darüber, heute eine solche Verantwortung nicht mehr tragen zu müssen. Er ist absolut frei. Das ist ihm bewusst, und er genießt diese Art von Freiheit. Auf der anderen Seite leidet er bei jedem verbalen Angriff in den Medien, in Politikerreden und Filmen auf die DDR. Jede Verdrehung und Verzerrung, jede denunziatorische Halbwahrheit empfindet er als persönlichen Angriff: er ist die DDR. Die Attacken auf ihn als Person aber haben seit einigen Jahren auffällig nachgelassen. Wenn man mit ihm unterwegs ist, spürt man die Aufmerksamkeit, Neugier und durchaus Zuwendung, die er inzwischen erfährt. Zu Veranstaltungen, als es vor Corona noch welche gab, kamen oft Hunderte. Auch in Westdeutschland. Das empfand und empfindet er als Rehabilitation. Und die Fülle der Interview-Wünsche von Washington über Moskau bis Peking kann er zeitlich kaum mehr bedienen. Bei Hans Modrow, der einer anderen Generation angehört, verhält es sich ähnlich und anders. Er ist nicht minder integer und aufrecht wie Egon, aber im Unterschied zu diesem hängt er bis heute im politischen Geschirr. Als Egon als Staats- und Parteichef im Dezember 1989 demissionierte, blieb Modrow Ministerpräsident, verantwortete Gesetze, die noch heute wirken, etwa zum Bodenreformland. Er saß nach dem 3. Oktober 1990 im Bundestag, war danach Europaabgeordneter, steht bis heute dem Ältestenrat der Linkspartei vor, die aus der PDS hervorgegangen ist. Ich nenne ihn bisweilen scherzhaft den Deng Xiaoping des Ostens, denn wie der chinesische Reformer versucht Hans noch immer im Hintergrund zu wirken, anzuregen, Weichen zu stellen, Entwicklungen zu provozieren. Er ist einer der wenigen in dieser Partei, die strategisch denken und nicht nur in Legislaturperioden. Im Unterschied aber zu den Chinesen, wo das Alter und damit verbundene Erfahrungen sehr geschätzt werden, gilt das in den etablierten Parteikreisen als störend. Man hat sich eingerichtet in die Verhältnisse. Unter diesen Personen wirkt der 93-Jährige wie ein jugendlicher Revoluzzer. Im Ausland hingegen wird er als Elder
669 Statesman wahrgenommen und auch so behandelt. Die Koreaner in Nord und in Süd, die sich die Wiedervereinigung ihres Landes auf die Fahnen geschrieben haben, konsultieren ihn in Seoul und Pjöngjang, die Chinesen wollen von ihm wissen, wie das war mit dem „Großen Sprung“ und der „Kulturrevolution“, die die Entwicklung ihres Landes um Jahrzehnte zurückgeworfen hat. Immerhin war er zum ersten Mal in China 1959, seither mindestens zwei Mal mehr als Angela Merkel und mehr als doppelt so oft als Schmidt, Kohl und Schröder zusammen. So viele Male wie Henry Kissinger wird er es wohl nicht mehr schaffen. Die Chinesen holen ihn zu Kongressen und zu Konferenzen, übersetzen seine Bücher (wie eben auch die von Egon Krenz). Er referiert in Zürich wie in Moskau, nimmt teil an globalen Videokonferenzen wie an Empfängen in Botschaften in Berlin. Aktive und ehemalige Politiker suchen das Gespräch mit ihm, aber auf den Parteitagen seiner eigenen Partei muss er darum kämpfen, überhaupt ans Rednerpult gelassen zu werden ... Hans Modrow hat als erster Ostdeutscher auf Herausgabe seiner BND-Akten geklagt und auch vorm Bundesverwaltungsgericht in Leipzig Recht bekommen. Der westdeutsche BND hatte ihn seit 1956 auf dem Schirm, wie er inzwischen weiß. Der Bundesnachrichtendienst spitzelte nicht weniger als das MfS. Modrow sagt darum zu Recht: Wenn wir deutsche Geschichte objektiv beurteilen wollen, brauchen wir nicht nur die Stasi-Akten. Kurzum: Die beiden sind geradlinige Persönlichkeiten, die Geschichte schrieben und darum in die Geschichtsbücher gehören. Sie haben es mehr als verdient, mit Respekt behandelt zu werden wie jeder andere Ostdeutsche auch. Sie waren nie jene Witzfiguren und Ewiggestrige, als die sie von Journalisten in der Nachwendezeit mit Verachtung und Hohn gezeichnet wurden. Ich wurde den Verdacht nie los, dass insbesondere diese beiden die Zielscheibe für jene abgaben, die für den Frust und Unmut über eigenes Versagen eine Adresse suchten. Was sind für Sie die Gründe für das Ende der DDR? Innere wie äußere und das im Zusammenspiel. Unter den gegebenen Umständen wundere ich mich manchmal, dass wir überhaupt 41 Jahre durchgehalten haben. In die heutige Zeit: Sehen Sie die Medien- und Pressefreiheit heute als gefährdet an? Stichwörter wären Corona-Leugnern, Querdenker, Lügenpresse und Fake-News. Hinzu kommt auch der Missbrauch von den damaligen Losungen der Revolution, z. B. durch die AfD, die für sich vereinnahmt: „Wir sind ein Volk" oder „Wir sind das Volk“. Verschwörungsakteure vergleichen sich sogar unzulässiger Weise mit Sophie Scholl und Anne Frank. Wie sehen Sie das? Wir haben mit den erwähnten Einschränkungen eine Medien- und Pressefreiheit, die ich für ein hohes Gut halte und sie darum stets verteidige. Notfalls auch vor Gericht, s. o. Zweitens sehe ich auch, dass sie gefährdet ist. Weniger durch Vorschriften und Gesetze, sondern mehr durch das schleichende Gift der Gewöhnung. Das gesellschaftliche Klima verändert sich stetig durchwachsenden Nationalismus, Chauvinismus, Antisemitismus, Antikommunismus, durch die Zunahme von Intoleranz und
670 Unwissenheit. Reaktionäres Denken vergiftet zunehmend die Atmosphäre. Die Sprache und die Umgangsformen werden aggressiver, weil es zuvor das Denken geworden ist. Das aber ist das Abbild unserer Gesellschaft, die sozial immer weiter erodiert. Die genannten Erscheinungen sind ja nicht Ausdruck von Verdummung, sondern von Ohnmacht. Das kollektive Gefühl, ausgegrenzt und abgehängt zu sein, nicht wahrgenommen zu werden, in den Medien nicht stattzufinden, an den Entscheidungen nicht beteiligt zu sein, die einen selbst betreffen, entlädt sich in Ablehnung, Vertrauensentzug, in Wut und Hass, in Verschwörungsideologien, in religiösen Fundamentalismus und esoterischen Geschwurbel. Das aber ist letztlich nur Ausdruck von Unfähigkeit, die gesellschaftlichen Ursachen zu erkennen, warum das so ist, weshalb sie so behandelt werden. Frau Merkel ist doch nicht schuld, dass die Flüchtlinge nach Deutschland kamen, sondern das Elend, das die ehemaligen Kolonialmächte in der Dritten Welt anrichten. Und warum taten und tun sie das? Warum werden Kriege geführt? Wozu werden Regierungen gestürzt? Was ist der eigentliche Sinn von wirtschaftlichen Sanktionen? Das wird weder gefragt noch ergründet, ist weder Schulstoff noch Gegenstand gesellschaftlicher Aufklärung. Was für ein Wunder, Selbstkritik des Systems endet dort, wo es sich prinzipiell infrage, mithin zur Disposition stellen müsste. Stattdessen dringt diffuser Gefühlsbrei in die Öffentlichkeit, verschafft sich Gehör auf Straßen und Plätzen, fließt in dieser und jener Form auch in die Medien, denn Journalisten sind ebenfalls Teil dieser Gesellschaft und keine Übermenschen. Ihr Wissen und ihr Intellekt sind nicht besser als die ihres Publikums. Das verändert möglicherweise auf lange Sicht auch die Medien. Dagegen helfen vielleicht eine bessere Ausbildung der Journalisten und auch eine Kontrolle ihrer Arbeit in den Redaktionen, die etwa die Wirkung und Folgen von Beiträgen bedenkt. Pressefreiheit bedeutet ja nicht, jeden Unsinn uneingeschränkt zu veröffentlichen. Herr Schumann, herzlichen Dank. Bitte!
671
VIII. Quellenverzeichnisse 1. Abbildungsverzeichnis Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4 Abb. 5 Abb. 6
Walter Siegert zum 90. Geburtstag in Berlin; Copyright Dürkop Oliver Dürkop im Porträt; Copyright Dürkop Finanzminister a. D. Theo Waigel 2015; Copyright Waigel Egon Krenz bei seiner Buchpräsentation (Berlin 11.7.2019); Copyright Dürkop Kreditübersicht der DDR; Copyright https://www.bundesarchiv.de Neues Deutschland – Titelseite (Screenshot); Copyright ND Druckerei und Verlag GmbH, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin Abb. 7 Porträt Walter Siegert; Copyright Siegert Abb. 8 Walter und Ilse Siegert in Amerika (September 1990); Copyright Siegert Abb. 9 Porträt Walter Siegert – 90 Geburtstag; Copyright Dürkop Abb. 10 Kaufmannsladen 1932; Copyright Siegert Abb. 11 Porträt Ilse Siegert – 5. August 2020; Copyright Dürkop Abb. 12 Porträt Carmen Siegert; Copyright: Carmen Siegert Abb. 13 Carmen und Walter Siegert (9/2019); Copyright: Carmen Siegert Abb. 14 Bilderteil: Erinnerungen an Walter Siegert (1949–1990); Copyright: Siegert Abb. 15 1958 in Erfenschlag – Walter Siegert mit seinen Eltern; Copyright: Siegert Abb. 16 Vater und Sohn – 1957; Copyright: Siegert Abb. 17 Walter Siegert mit seinen Enkeln – Theresa (links) und Nelson – 1984; Copyright Siegert Abb. 18 Forschungsinstitut für Finanzen und Wirtschaft – Prof. Grodie (links), Walter Siegert und Bruno Klopp (rechts)¸ Copyright Siegert Abb. 19 1964 – Referent auf einer Konferenz der SED des Stadtbezirkes Berlin-Lichtenberg; Copyright Siegert Abb. 20 Tagungspause mit Bezirksleitern der Staatlichen Finanzrevision – 1968; Copyright Siegert Abb. 21 Auszeichnung der Urania – 1968; Copyright Siegert Abb. 22 NÖS-AG in Heringsdorf Bellevue – 1968; Copyright Siegert Abb. 23 Gratulation eines Finanzchefs der NVA; Copyright Siegert Abb. 24 Betriebskonferenz VEB-Datenverarbeitung des Finanzorgans; Copyright Siegert Abb. 25 65. Geburtstag von Helmut Sandig (1984); Copyright Siegert Abb. 26 RGW-Tagung 1986 in Havanna; Copyright Siegert Abb. 27 Gründung der Deutschen Versicherungs AG; Copyright Siegert Abb. 28 Handelsabkommen zwischen der DDR und Amerika; Copyright Siegert Abb. 29 Unterzeichnung vom Staatsvertrag zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion; Copyright Siegert Abb. 30 Interview mit den Finanzministern Waigel und Romberg; Copyright Siegert Abb. 31 Auf dem Weg zur deutschen Einheit; Copyright Siegert Abb. 32 Vortragsreise Washington – 1990; Copyright Siegert Abb. 33 Vortragsreise Washington – 1990; Copyright Siegert
Seite Cover vorn Cover hinten 11 43 46 137 149 209 215 218 241 413 413 414 415 415 415 416 416 416 416 417 417 418 418 418 419 419 420 420 421 421 421
672 Abb. 34 Vortragsreise Washington – 1990; Copyright Siegert Abb. 35 Walter Siegert Im Büro Unter den Linden in Berlin; Copyright Siegert Abb. 36 Der 65. Geburtstag von Lothar de Maizière; Copyright Siegert Abb. 37 Der 65. Geburtstag von Lothar de Maizière; Copyright Siegert Abb. 38 Der 65. Geburtstag von Lothar de Maizière; Copyright Siegert Abb. 39 2. Juli 2015 – 25 Jahre Währungsunion. Die Festveranstaltung der Deutschen Bundesbank im Alten Rathaus Leipzig; Copyright Siegert Abb. 40 2. Juli 2015 – 25 Jahre Währungsunion; Copyright Siegert Abb. 41 Begegnung – Walter Siegert gratuliert Hans Modrow; Copyright Dürkop Abb. 42 Podiumsdiskussion am 1. März 2019; Copyright: Juliane Pfordte von www.rohnstock-biografien.de Abb. 43 Begegnung – Egon Krenz und Walter Siegert; Copyright Dürkop Abb. 44 Zeitzeugengespräch – Oliver Dürkop und Walter Siegert; Copyright: Dürkop Abb. 45 Ausruhen vom Spaziergang; Copyright Siegert Abb. 46 Mietwohnung in der Rummelsburger Straße; Copyright Siegert Abb. 47 Pacht-Datscha in Berlin-Kaulsdorf; Copyright Siegert Abb. 48 Besuch im Berliner Tierpark 1991; Copyright Siegert Abb. 49 Gemeinsam Silvester 2000 feiern; Copyright Siegert Abb. 50 Siegert und Horst Köhler im Gespräch; Copyright: Siegert Abb. 51 Klaus Blessing und Walter Siegert; Copyright: Dürkop Abb. 52 Feier zum 90. Geburtstag von Walter Siegert in Berlin; Copyright: Uwe Siegert Abb. 53 Beerdigung und Urnenbeisetzung am 9. März 2020; Copyright: Dürkop Abb. 54 Beerdigung und Urnenbeisetzung am 9. März 2020; Copyright: Dürkop Abb. 55 Beerdigung und Urnenbeisetzung am 9. März 2020; Copyright: Dürkop Abb. 56 Hans Modrow im Büro, Berlin (8/2018); Copyright: Dürkop Abb. 57 Siegert, Luft und Modrow vor der Podiumsdiskussion; Copyright: Dürkop Abb. 58 Klaus Blessing, Buchlesung; Copyright: Klaus Blessing Abb. 59 Porträt Christa Luft; Copyright: Christa Luft Abb. 60 Lothar de Maizière im Dialog; Copyright: Dürkop Abb. 61 Günther Krause referiert in Hildesheim; Copyright: Michael Gehler Abb. 62 Walter Siegert und Hans-Joachim Lauck; Copyright: Dürkop Abb. 63 Peter Breitenstein im Gespräch; Copyright: Dürkop Abb. 64 Peter Breitenstein im Gespräch; Copyright: Dürkop Abb. 65 Karl-Marx-Stadt/DDR; Copyright: Stock-Fotografie: 1135526007/ kmn-network Abb. 66 Porträt Manfred Domagk; Copyright: Manfred Domagk Abb. 67 Manfred Domagk im Gespräch; Copyright: Dürkop Abb. 68 Karl Döring im Gespräch; Copyright: Karl Döring Abb. 69 Uwe Trostel im Gespräch; Copyright: Uwe Trostel Abb. 70 Akademie für Staats- und Rechtswissenschaften der DDR; Copyright: Ben Titze, September 2004. Abb. 71 Porträt Johannes Gurtz; Copyright: Johannes Gurtz Abb. 72 Jürgen Brockhausen im Gespräch; Copyright: Dürkop Abb. 73 Walter Siegert und Jürgen Brockhausen im Gespräch; Copyright: Siegert
421 421 422 422 422 423 423 424 424 425 425 426 426 426 426 426 427 427 427 428 428 428 429 439 447 449 457 465 468 469 478 489 495 505 511 525 537 547 553 568
673 Abb. 74 Horst Kaminsky mit Karl Otto Pöhl im Gespräch; Copyright: Horst Kaminsky Abb. 75 Günter Ullrich im Gespräch; Copyright: Dürkop Abb. 76 Buch – anlässlich des 20-jährigen Bestehens des Obersten Gerichts, 1970; Copyright: Dürkop Abb. 77 Bruno Mahlow im Gespräch; Copyright: Dürkop Abb. 78 Walter Siegert und Bruno Mahlow im Gespräch (18.5.2019); Copyright: Dürkop Abb. 79 Mahlow begrüßt Fritz Streletz – 11.7.2019; Copyright Dürkop Abb. 80 Porträt von Klaus Feldmann; Copyright: Klaus Feldmann Abb. 81 Das Gesicht der DDR-Nachrichtensendung Aktuelle Kamera; Copyright: Klaus Feldmann Abb. 82 Günther von Lojewski Vortrag; Copyright: Volkshochschule Vaterstetten e. V. Abb. 83 Porträt Frank Schumann; Copyright: Eva Prase von der Freie Presse
573 581 595 603 613 622 627 628 631 655
674 2. Literaturverzeichnis: primäre und sekundäre Literatur/Internetquellen Monographien: Ahrens, Ralf, Gegenseitige Wirtschaftshilfe? Die DDR im RGW. Strukturen und handelspolitische Strategien 1963–1976 (Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung), Köln 2000. Allertz, Robert, Ich will meine Akte: Wie westdeutsche Geheimdienste Ostdeutsche bespitzeln, Berlin 2018. Assmann, Dirk, 30 Fakten zu 30 Jahren Deutsche Einheit, Potsdam 2020. Siehe https://shop.freiheit.org/download/P2@916/295254/200813_FNF_Generation_Aufbruch_Publikation_30_Fakten_WEB-PDF_FINAL.pdf Baar, Lothar/Karlsch, Rainer/Matschke, Werner, Studien zur Wirtschaftsgeschichte, Berlin 1993. Baer, Udo, DDR-Erbe in der Seele: Erfahrungen, die bis heute nachwirken, Weinheim 2020. Bahl, Holger, Als Banker zwischen Ost und West. Zürich als Drehscheibe für deutschdeutsche Geschäfte, Zürich 2002. Bahrmann, Hannes/Links, Christoph, Finale: Das letzte Jahr der DDR, Berlin 2019. Behling, Klaus, Die Treuhand. Wie eine Behörde ein ganzes Land abschaffte, Berlin 2016. Behling, Klaus, Leben in der DDR. Bild und Heimat, Berlin 2018. Bitz, Ferdinand/Speck, Manfred, 30 Jahre Deutsche Einheit, Wir sind dabei gewesen, Reinbek 2019. Blessing, Klaus, Die Schulden des Westens, Berlin 2010. Böick, Marcus, Die Treuhand 1990–1994: Idee – Praxis – Erfahrung, (Sonderausgabe), Bonn 2018. Brockhausen, Jürgen, Dr. Walter Romberg – Verpflichtung eines Christen in die Politik: Überarbeitung eines Vortrags vom 16. April 2015 im Pfarrhaus Teltow, Düsseldorf 2019. Bullerjahn, Jens/Renzsch, Wolfgang/Wagner, Ringo (Hrsg.), Deutschland – Ländersache?! 30 Jahre deutsche Einheit und Föderalismus, Magdeburg 2020. Siehe http://library.fes.de/pdf-files/bueros/sachsen-anhalt/16825.pdf Dahn, Daniela, Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute. Die Einheit – eine Abrechnung, Hamburg 2019. De Maizière, Lothar, Ich will, dass meine Kinder nicht mehr lügen müssen, Meine Geschichte der deutschen Einheit, Freiburg im Breisgau 2012. Dehn, Dieter, Ich will hier nicht das letzte Wort: Heinz Rudolf Kunze und Egon Krenz im Gespräch, Berlin 2016. Dietrich, Gerd, Kulturgeschichte der DDR (Band I, II, III), 2. Edition, Göttingen 2019. Eggenkämper, Barbara/Modert, Gerd/Pretzlik, Stefan, Die Staatliche Versicherung der DDR. Von der Gründung bis zur Integration in die Allianz, München 2010.
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684 Lesch, Harald, 8.12.2020, ZDF-Sendung: Fake oder Fakt: Wie die Wahrheit unter die Räder kommt. Siehe https://www.zdf.de/wissen/leschs-kosmos/fake-oder-faktwie-die-wahrheit-unter-die-raeder-kommt-100.html Siedlung der DDR-Führung: Die erste Reportage aus Wandlitz. Siehe https://www.mdr.de/zeitreise/stoebern/damals/waldsiedlung-wandlitzerste-reportage100.html Willy Brandt am Rathaus Schöneberg, Berlin – 10. November 1989. Siehe https://www.berlin-mauer.de/videos/willy-brandt-am-rathaus-schoeneberg727/ Protokolle, Reden und Dokumente: Gesetz zu dem Vertrag 18. Mai 1990 über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschaftsund Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR – 25. Juni 1990. Siehe https://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?startbk=Bundesanzeiger_BGBl&start=//*%5b@attr_id=%27bgbl290s0518.pdf%27%5d#__bgbl__% 2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27bgbl290s0518.pdf%27%5D__1604397235162 Beschluss zur Gründung der Anstalt zur treuhänderischen Verwaltung des Volkseigentums (Treuhandanstalt) vom 1. März 1990. Siehe https://www.ddr89.de/texte/gesetz1.html Beschluss zur Gründung der Treuhandanstalt 1. März 1990. Siehe https://deutsche-einheit-1990.de/wp-content/uploads/DC_20_I_3_2922_0065.pdf Beschlussempfehlung und Bericht des 1. Untersuchungsausschusses nach Artikel 44 des Grundgesetzes – 27. Mai 1994. Siehe http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/12/076/1207600.pdf Beständeübersicht des Bundesarchivs und des BStU-Archivs. Siehe http://www.argus.bstu.bundesarchiv.de/Bestaendeuebersicht/index.htm?kid=59FC86CB5F9D4A8A878DCA2E34BAD592 Bohley, Bärbel: Zitatübersicht. Siehe https://baerbelbohley.de/zitate.php BStU: Die 14 Findbücher. Siehe http://www.argus.bstu.bundesarchiv.de/Bestaendeuebersicht/index.htm?kid=59FC86CB5F9D4A8A878DCA2E34BAD592 Bundeszentrale für politische Bildung: 65 Jahre Marshallplan, 5.6.2012. Siehe https://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/137605/65-jahre-marshallplan-05-06-2012 Bundeszentrale für politische Bildung: Die Wahrheit über Postfaktizität, 27.10.2017. Siehe https://www.bpb.de/apuz/258506/die-wahrheit-ueber-postfaktizitaet Die Rosenholz-Dateien. Siehe https://www.bstu.de/informationen-zur-stasi/themen/beitrag/die-rosenholz-dateien/ Die Sitzungsprotokolle des Bundestages – 21. Juni 1990. Siehe http://dipbt.bundestag.de/doc/btp/11/11217.pdf Einigungsvertrag. Siehe https://www.gesetze-im-internet.de/einigvtr/BJNR208890990.html
685 Entwurf: Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik. Arbeitsgruppe „Neue Verfassung der DDR“ des Runden Tisches Berlin, April 1990. Siehe http://www.documentarchiv.de/ddr/1990/ddr-verfassungsentwurf_rundertisch.html Finanzökonomisches Forschungsinstitut beim Ministerium der Finanzen (1964–1990). Siehe http://www.argus.bstu.bundesarchiv.de/dn100/index.htm?kid=titelblatt Gerhards, Jürgen/Neidhardt, Friedhelm, Strukturen und Funktionen moderner Öffentlichkeit Fragestellungen und Ansätze, Berlin 1990. Siehe https://bibliothek.wzb.eu/pdf/1990/iii90-101.pdf Gesetz zur Privatisierung und Reorganisation des volkseigenen Vermögens (Treuhandgesetzt) – 17. Juni 1990. Siehe https://deutsche-einheit-1990.de/wp-content/uploads/Gesetzblatt_1990_I_33_02_Treuhandgesetz.pdf Interview mit Arno Schölzel. Siehe https://www.neutrales-deutschland.de/ Kohl, Helmut: 10 Punkte Programm am 28. November 1989. Siehe https://www.chronik-der-mauer.de/material/180402/rede-von-bundeskanzler-helmut-kohl-imbundestag-10-punkte-programm-28-november-1989 Kohl, Helmut: Rede am 22.12.1989 in Dresden. Siehe https://www.lmz-bw.de/fileadmin/user_upload/Downloads/Handouts/2018-06-13-kohl-rede.pdf Kohl, Helmut: Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion 1990. Siehe https://www.helmut-kohl-kas.de/index.php?msg=553 Krause, Wolfram: Ausführungen beim Wirtschaftsausschuss der Volkskammer der DDR am 23.5.1990. Siehe https://deutsche-einheit-1990.de/wp-content/uploads/BArch-DA_1_17490.pdf Krenz, Egon: Niederschrift des Gesprächs von SED-Generalsekretär Egon Krenz und KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow in Moskau, 1. November 1989. Siehe http://www.chronik-der-mauer.de/system/files/dokument_pdf/58633_cdm-891101-krenz-gorbatschow.pdf Mählert, Ulrich, FDJ 1945–1989, Erfurt 2001. Siehe https://www.lzt-thueringen.de/files/dj.pdf Maizière, Lothar de: 19. April 1990 – Rede von Ministerpräsidenten de Maizière. Siehe https://www.kas.de/de/statische-inhalte-detail/-/content/regierungserklaerung-des-ministerpraesidenten-lothar-de-maiziere-abgegeben-vor-der-volkskammer-der-ddr-am-19.-april-1990 Meyen, Michael, SCM Studies in Communication, 0. Jg., 1/2011, Öffentlichkeit in der DDR. Siehe https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/2192-4007-2011-1-3/oeffentlichkeit-in-der-ddr-jahrgang-0-2011-heft-1?page=0 Protokoll der Verhandlungen des VIII. SED-Parteitages (15.–19.6.1971). Bd. II. Berlin 1971. Roesler, Jörg: Total verschuldet? Ökonomie Die DDR war Ende 1989 nicht bankrott, wie das der „Schürer-Bericht“ seinerzeit suggerierte (Ausgabe 38/2019). Siehe https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/total-verschuldet Schürer, Gerhard: Wie pleite war die DDR? Siehe https://www.mdr.de/zeitreise/wardie-ddr-pleite100.html
686 Schalck-Golodkowski, Alexander: Promotionsarbeit. Siehe https://www.yumpu.com/de/document/read/5183119/die-doktorarbeitvon-alexander-schalck-golodkowski Schürer, Gerhard/Beil, Gerhard/Schalck, Alexander/Höfner, Ernst/Donda, Analyse der ökonomischen Lage der DDR mit Schlussfolgerungen, Vorlage für das Politbüro des Zentralkomitees der SED, 30.10.1989. Siehe https://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/w5.grenze.1989_10_30_PB_Vorlage_Schuerers_Krisen_Analyse_BArch_DY%2030_J_IV_2_2A_3252.pdf Schürer, Gerhard/Beil, Gerhard/Schalck, Alexander/Höfner, Ernst/Donda, Arno, Analyse der ökonomischen Lage der DDR mit Schlussfolgerungen, Vorlage für das Politbüro des Zentralkomitees der SED, 30.10.1989. Siehe file:///C:/Users/OLIVER~1/AppData/Local/Temp/58553_cdm-891030analyse-oekonomische-lage.pdf Schürer, Gerhard: Die Krisenanalyse des DDR-Chefplaners. Siehe https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/die-krisenanalyse-des-ddr-chefplaners417988 Schürer, Gerhard: Persönliche Aufzeichnungen über die Sitzung des SED-Politbüros am 17. Oktober 1989. Siehe http://www.chronik-der-mauer.de/material/180976/gerhard-schuerer-persoenliche-aufzeichnungen-ueber-die-sitzung-des-sed-politbueros-am-17-oktober-1989 Schürer, Gerhard: Kontroverse zwischen Planungschef Schürer und Parteiökonom Mittag wegen der wirtschaftlichen Lage – April 1988. Siehe https://www.bstu.de/informationen-zur-stasi/themen/beitrag/kontroverse-zwischen-planungschef-schuerer-und-parteioekonomen-mittag-wegender-wirtschaftlichen-lage-1988/ Statut zur treuhänderischen Verwaltung des Volkseigentums, Beschluss des Ministerrates vom 15. März 1990. Siehe https://deutsche-einheit-1990.de/wp-content/uploads/DC_20_I_3_2935_0120.pdf Treuhandgesetz und Treuhandanstalt. Siehe http://deutsche-einheit-1990.de/ministerien/ministerium-fuer-wirtschaft/treuhandgesetz-und-treuhandanstalt/ Übersicht der DDR der Entwicklung „Forderungen und Verbindlichkeiten der DDR gegenüber Nichtsozialistischen Staaten Wirtschaftsgebiet“, Die Zahlungsbilanz der ehemaligen DDR 1975 bis 1989. Siehe https://www.bundesbank.de/resource/blob/689284/7410029db56fb56ea6ce81816f8017ee/mL/zahlungsbilanz-ddr-data.pdf Zweite Beschlussempfehlung und zweiter Teilbericht (im Anschluss an den ersten Teilbericht — Drucksache 12/3462) des 1. Untersuchungsausschusses nach Artikel 44 des Grundgesetzes – 9. Dezember 1992. Siehe http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/12/039/1203920.pdf
687 Lexika: Müller-Enbergs, Helmut, Wielgohs, Jan, Hoffmann, Dieter, Herbst, Andreas, KirscheyFeix, Ingrid (Hrsg.), Wer war wer in der DDR? Ein Lexikon ostdeutscher Biographien,5. Auflage, Berlin 2010. Statistik/Jahrbücher: Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat, Abschlussbericht der Regierungskommission, „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“, Berlin 2020. Siehe https://www.bundesregierung.de/resource/blob/974430/1825612/cbdbb1fd3b4ca0904aa796080e3854d1/202012-07-abschlussbericht-data.pdf?download=1 Finanzstatistik vom Statistischen Bundesamt, Sonderreihe mit Beiträgen für das Gebiet der ehemaligen DDR. Heft 34, DDR-Statistik, Grundlagen, Methoden und Organisation der amtlichen Statistik der DDR 1949 bis 1990, Wiesbaden 1999. Statistisches Jahrbuch 1989 der DDR. Siehe https://www.digizeitschriften.de/dms/img/?PID=PPN514402644_1989|log2&physid=phys2#navi Dissertationen: Kuhn, Katja, Wer mit der Sowjetunion verbunden ist, gehört zu den Siegern der Geschichte. Die Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft im Spannungsfeld von Moskau und Ostberlin, Dissertation 2002. Siehe https://madoc.bib.uni-mannheim.de/64/1/DSF.PDF Wissenschaftliche Arbeiten/Aufsätze: Fricke, Karl Wilhelm, Deutschland-Archiv, 39. Jahrgang 2006, 3/2006, S. 490–496, Geschichtsrevisionismus aus MfS-Perspektive. Ehemalige Stasi-Kader wollen ihre Geschichte umdeuten. Siehe https://web.archive.org/web/20130627050211/http://en.stiftunghsh.de/downloads/CAT_212/DA_2006_3_490-496.pdf Roesler, Jörg, Deutschland-Archiv 3/2003, 36. Jahrgang 2003, Honeckers Schachzug, Essay. Sabine Klose, Beamtete Staatssekretäre im Transformationsprozess: Rekrutierungsmuster in den neuen Bundesländern, Diplom-Arbeit, Bamberg 2007. Siehe https://www.uni-bamberg.de/fileadmin/uni/fakultaeten/sowi_professuren/politische_systeme/Forschung/Klose_Staatss.pdf
688 Internetquellen: Antrag auf Akteneinsicht für Privatpersonen: Jeder Mensch hat das Recht, jene Unterlagen einzusehen, die das Ministerium für Staatssicherheit über die eigene Person angelegt hat. Siehe https://www.bstu.de/akteneinsicht/privatpersonen/ Archivgut der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) und des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB). Siehe http://www.bundesarchiv.de/sedfdgb-netzwerk/ Auf dem Weg zur Deutschen Einheit Die DDR ändert ihre Verfassung – 1. Dezember 1989. Siehe https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/die-ddr-aendert-ihre-verfassung-462126 Ausführlich zur Geschichte der VEB Schwermaschinenbau-Kombinat „Ernst Thälmann“ (Kurzform: SKET). Siehe https://www.sket.de/de/unternehmen/geschichte Bundesamt für Verfassungsschutz stuft AfD-Teilorganisation „Der Flügel“ als gesichert rechtsextremistische Bestrebung ein. Pressemitteilung vom 12. März 2020. Siehe https://www.verfassungsschutz.de/de/oeffentlichkeitsarbeit/presse/pm-20200312-bfv-stuft-afd-teilorganisation-der-fluegel-als-gesichert-rechtsextremistische-bestrebung-ein Chronik der Arcelor Mittal Eisenhüttenstadt vormals EKO Stahl. Siehe https://eisenhuettenstadt.arcelormittal.com/Ueber-uns/Geschichte/Chronik/ DDR: Wir sind ein Volk. Die Entscheidung für 1. Dezember 1989. Siehe https://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschland-chronik/132308/1-dezember-1989 Der 2. Juni 1967 und die Staatssicherheit. Siehe auch https://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/68er-bewegung/52044/der-2-juni-1967-unddie-staatssicherheit?p=all Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU). Siehe https://www.demokratie-statt-diktatur.de Der bundesstaatliche Finanzausgleich. Siehe https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Standardartikel/Themen/Oeffentliche_Finanzen/Foederale_Finanzbeziehungen/Laenderfinanzausgleich/Der-BundestaatlicheFAG.pdf?__blob=publicationFile&v=3 Der Swing im innerdeutschen Handel – 1975. Siehe https://www.bundesarchiv.de/DE/Content/Virtuelle-Ausstellungen/1975-Der-Swing-Im-Innerdeutschen-Handel/1975-der-swing-im-innerdeutschen-handel.html Die Enquete-Kommissionen zur Aufarbeitung der SED-Diktatur: Die Bände, die Kommission, Mitwirkende, Resümee usw. Siehe https://enquete-online.de/ Die Überlieferung der Treuhandanstalt beim Bundesarchiv. Siehe https://www.bundesarchiv.de/DE/Content/Pressemitteilungen/treuhand-projekt.html Geschäftsordnung der Volkskammer vom 7. Oktober 1974. Siehe http://www.verfassungen.de/ddr/geschaeftsordnung-volkskammer74.htm Junkerland in Bauernhand. Siehe https://www.zeitklicks.de/ddr/zeitklicks/zeit/politik/von-der-sbz-zur-ddr/die-bodenreform/
689 Kaemmel, Ernst: Biographie. Siehe http://hicks.wiwi.hu-berlin.de/history/start.php?type=person&name=Kaemmel_Ernst Kohl, Helmut: 19. Dezember 1989 – Auf dem Weg zur Deutschen Einheit: „Mein Ziel bleibt die Einheit der Nation.“ Siehe https://www.bundesregierung.de/bregde/aktuelles/rede-kohl-dresden-433570 Komitee zum Schutz von Journalisten (CPJ). Siehe https://cpj.org/reports/2020/12/murders-journalists-more-than-doubled-killed/ Kunze, Heinz Rudolf: Biographie. Siehe https://www.heinzrudolfkunze.de/ MDR Zeitreise, 7.12.2020, Das Wunder vom Kaukasus: Wie Kohl Gorbatschow das Ja zur Einheit abrang. Siehe https://www.mdr.de/zeitreise/kohl-gorbatschow-verhandlungen-kaukasus-100.html MDR.de, Zeitreise, 8.10.2019, Wer ist das Volk? Die AfD und die Tradition der Bürgerrechtsbewegung in der DDR. Siehe https://www.mdr.de/zeitreise/afd-pegidaddr-buergerrechtsbewegung100.html Nachfolgeorganisationen der Treuhandanstalt. Siehe https://www.bundesfinanzministerium.de/Web/DE/Themen/Bundesvermoegen/Privatisierungs_und_Beteiligungspolitik/Privatisierungspolitik/Treuhand-Nachfolgeorganisationen/treuhand-nachfolgeorganisationen.html Parlamentwatch e.V., Mittelweg 12, 20148 Hamburg. Siehe https://www.abgeordnetenwatch.de/ Programmvorschau und Archiv der Hildesheimer Europagespräche seit 2006/2007. Siehe https://www.uni-hildesheim.de/fb1/institute/geschichte/erasmus-undeuropagespraeche/europa-gespraeche/ Wahl-O-Mat der BpB. Er hat sich zu einer festen Informationsgröße im Vorfeld von Wahlen etabliert. Siehe https://www.wahl-o-mat.de/ Zu Fragen der marxistisch-leninistischen Theorie und Praxis 1987. Siehe https://www.stasi-mediathek.de/medien/beschlussmitteilung-des-sed-politbueros-zu-fragen-der-marxistisch-leninistischen-theorie-und-praxis/blatt/165/ Hinweis: Ein letzter Zugriff bei den aufgeführten Weblinks erfolgte am 3. Januar 2021.
690 3. Medienspiegel Walter Siegert
Viele Siegert-Dokumente stellte Professor Karl Döring aus Eisenhüttenstadt zur Verfügung. Ein letzter Zugriff bei den aufgeführten Weblinks erfolgte am 3. Januar 2021. Siegert, Walter, Die Produktionsabgabe in der volkseigenen Bekleidungsindustrie. Eine Untersuchung der Probleme bei der Bestimmung der Produktionsabgabesätze in Verbindung mit der Preisbildung sowie einiger Fragen der Planung, Realisierung und Kontrolle der Produktionsabgabe. Hochschule für Ökonomie, Dissertation, Berlin 1961. Siegert, Walter, Berliner Zeitung (BZ), 17.8.1963, Jahrgang 19, Ausgabe 224, S. 4, Rechnen mit Grundmitteln. Umbewertung und ihr ökonomischer Nutzen. Siehe http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/ddr-presse/ergebnisanzeige/?purl=SNP26120215-19630817-0-4-38-0&highlight=Siegert%7CWalter Siegert, Walter, Wir brauchen ein hohes Tempo der Selbstkostensenkung, in: Walter Siegert und Horst Neumann, Selbstkosten senken. Grundlegende Anforderung der umfassenden Intensivierung, Blickpunkt Wirtschaft, Berlin 1989. Siegert, Walter, Neues Deutschland, 14.12.1989, Jahrgang 44, Ausgabe 294, S. 5. Die Rolle von Geld, Finanzen und Preisen in der Wirtschaftsreform. Diskussionsvorschlag einer Arbeitsgruppe des Ministeriums der Finanzen und Preise. Siehe http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/ddr-presse/ergebnisanzeige/?id=view1&highlight=Walter%20Siegert|1989&purl=SNP2532889X19891214-0-5-67-0 Siegert, Walter, 19.2.1990, Die Konzeption für die Verhandlungen mit der Regierung der BRD zur Vereinbarung einer Währungsunion und Wirtschaftsgemeinschaft der DDR. Siegert, Walter/Most, Edgar, Für Starthilfe ist gesorgt, Ministerium für Wirtschaft, Berlin 1990. Siegert, Walter, 1.1.2008, Wie funktionierte die Staatliche Finanzrevision in der DDR? Siegert, Walter, 3.11.2011, Der transferable Rubel. Siegert, Walter, 14.1.2012, Zeitzeugen, Persönlichkeiten und Freunde der WiwiFak, Podiumsdiskussion mit Dr. Gurtz, Dr. Sender, Dr. Urbich, DVD, Berlin. Siegert, Walter, 8.9.2012, Zeitzeugen, Persönlichkeiten und Freunde der WiwiFak, DVD. Siegert, Walter, 1.1.2013, Versuch einer Kurzgeschichte der Entwicklung der sogenannten Finanzkrise, Europäisches Friedensforum epf Deutsche Sektion, Zentraler Arbeitskreis der Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde e.V., Nr. 109. Siegert, Walter, 1.3.2013, Welche Rolle spielten Gewinn und Kostenkalkulation in den volkseigenen Betrieben der DDR? Siegert, Walter, 19.3.2013, Probleme, die zu falschen Darstellungen der Transferzahlungen an die neuen Bundesländer führen bzw. fehlerhafte, nicht reale Größenordnungen zur Folge haben, Zuarbeit für das Buchprojekt von Siegfried Wenzel „Was war die DDR wert?, Berlin 2013. Zawadsky, Sanna, 19.6.2013, Interview mit Lothar de Maizière und Walter Siegert, London Business School, Berlin.
691 Siegert, Walter, Staatssekretäre, Bundesstiftung Aufarbeitung, Beschreibung und Video, Berlin 2015. Siehe https://deutsche-einheit-1990.de/ministerien/ministerium-fuer-finanzen/staatssekretaere/ Siegert, Walter, 1.1.2015, Wurde der Staatshaushalt der DDR mit Schulden machen ausgeglichen? Wie steht es um die Verschuldung der DDR? 1. Auflage Mai 2006. Die Aktualisierung erfolgte 2015. Siegert, Walter, 1.12.2015, Zum subjektiven Faktor beim Aufstieg und Fall der DDR, Zuarbeit für das Buchprojekt von Klaus Blessing „Wer verkaufte die DDR?“, Berlin 2016. Siegert, Walter, 2016, Situation der DDR-Wirtschaft, Video der Bundesstiftung Aufarbeitung. Siehe https://vimeo.com/150792279 Siegert, Walter, Zum „subjektiven Faktor“ beim Aufstieg und Fall der DDR, in: Klaus Blessing, Wer verkaufte die DDR? Wie leitende Genossen den Boden für die Wende bereiteten, 2. Auflage, Berlin 2016. Siegert, Walter, 2.5.2016, Was kann heute aus der DDR-Finanzwirtschaft gelernt werden? Siegert, Walter, 1.7.2016, Wie ist der Zustand unserer Politik und Wirtschaft, wer hat wirklich das Sagen und warum keine wirkliche Alternative zu einem anderen Weg? Siegert, Walter, 21.3.2017, Preise und ihre volkswirtschaftliche Wirkung in der DDR und heute. Buchpräsentation „Jetzt reden wir weiter“. Erzählsalon u. a. mit Walter Siegert, Manfred Domagk, Rolf Sukowski und Moderation Jutta Matuschek im Café Sibylle, Berlin. Audio-Link verfügbar. http://www.kombinatsdirektoren.de/erzaehlsalon/walter-siegert-manfred-domagk-rolf-sukowski-imcafe-sibylle-2017-03-21.html Siegert, Walter, 30.10.2018, Wie verhält es sich mit den Gewinnen von Banken und Unternehmen verschiedener Eigentumsformen? Welche Aufgaben hat das Geld und wohin fließt es? Gedankenpapier für Podiumsdiskussion u. a. Walter Siegert, Arnfrid Gothe (Sparkassendirektor), Dieter Knoch, Daniela Trochowski und Werner Landwehr, Rohnstock-Salon in Berlin. Siegert, Walter, 1.3.2019, Die Entstehung der Treuhand-Anstalt und was aus ihr wurde, 1.3.2019. Podiumsdiskussion u.a. mit Walter Siegert, Christa Luft, Hans Modrow, Christa Bertag und Dieter Knoch, Rohnstock-Salon in Berlin. Die AudioAufnahme liegt Dürkop in Gänze vor. Siegert, Walter, 23.5.2019, Das Schürer-Papier und die Schulden-Lüge. War die DDR pleite? Gedankenpapier für Podiumsdiskussion u. a. mit Walter Siegert, Uwe Trostel und Jörg Roesler, Rohnstock-Salon in Berlin. Siegert, Walter/Blessing, Klaus, Berliner Zeitung (BZ), 10.9.2019, Wie sich Richard Schröder arm rechnet. Vorwort von Maritta Tkalec. Siehe https://www.berliner-zeitung.de/wirtschaft-verantwortung/gastbeitrag-zu-welt-artikel-wiesich-richard-schroeder-arm-rechnet-li.12844 bzw. http://www.klaus-blessing.de/media/blessing_siegert_illusionaer.pdf Siegert, Walter, 1.11.2019, Die DDR – ihr Wachsen und Werden sowie ihre Sorgen.
692 Personenregister A Ackermann, Anton 65, 158, 574, Ackermann, Eduard 645 Adameck, Heinrich (Heinz) 99, 638 Adenauer, Konrad 135, 150, 153, 171, 232, 235, 313, 360, 387, 631, 634, 651 Albrecht, Ernst 326 Amthor, Philipp 127 Apel, Erich 163, 164 Arndt, Ernst Moritz 132 Arndt, Otto 273 Arnold, Karl-Heinz 199 Artzt, Matthias 320 Augstein, Jakob 243 Augstein, Rudolf 665 August III, Friedrich 62 Axen, Hermann 183, 251, 264, 620 B Baade, Fritz 282 Bahl, Holger 37, 356 Bahr, Egon 204, 245, 247, 272, 356, 368, 557, 608, 624 Bähre, Ingeborg 554 Baker, James 189, 623 Bangemann, Martin 58, 59, 444 Barkley, Richard C. 67, 135, 209, 336, 419 Baumgarten, Arthur 596 Bearden, Milton 294 Bebel, August 350, 369–370 Becker, Nicolas 90, 136 Beckord, Michael 419 Behling, Klaus 56, 151 Behrens, Friedrich (Fritz) 159, 163, 348, 359 Beil, Gerhard 36, 42, 47, 48–49, 58, 134, 176, 283, 287, 288, 321–322, 434–435, 521, 686 Benary, Arne 159, 163, 348 Benda, Ernst 644 Benjamin, Hilde 600 Bentzien, Hans 99, 638, 646–647
Bergmann-Pohl, Sabine 27 Beria, Lawrenti 180 Biedenkopf, Kurt 323 Bilan, Heinz 622 Birthler, Marianne 181 Bisky, Lothar 181 Bismarck, Otto von 635 Blessing, Klaus 7, 14, 16, 104, 119, 136, 284, 336, 427, 447–448, 505, 513, 672 Bobsin, Katrin 102, 106 Bohley, Bärbel 242, 266, 296 Böhm, Siegfried 6, 28, 36, 73, 75–76, 115, 126, 133, 248, 267–269, 501 Böhme, Ibrahim (Manfred Otto) 277 Böick, Marcus 57, 592, 674 Bonhoeffer, Dietrich 277–278 Booß, Christian 458 Börne, Ludwig 665 Brandt, Willy 162, 186, 245, 247, 355, 367, 557, 635–636, 643, 684 Braubach, Max 631 Braun, Volker 166 Brecht, Bertold 133, 152, 274, 601 Bredel, Willi 152 Breitenbach, Ilse 655 Breitenstein, Peter 8, 16, 95, 119, 308, 322, 328, 330, 394, 469–488, 516, 672 Breschnew, Leonid Iljitsch 33, 39–40, 164, 169–170, 173, 251, 264, 355, 361, 366, 367, 505 Breuel, Birgit 52, 56, 327, 339, 342, 387, 453, 522 Brockhausen, Jürgen 8, 16, 86, 87, 95–96, 308, 331, 394, 553–571, 672 Broek, Hans van den 60 Bucerius, Gerd 664 Bülow, Bernhard Heinrich Martin Karl von (ab 1905 Fürst von Bülow) 660 Bush, George H. W. 192, 197, 294, 474, 563, 577
693 C Chruschtschow, Nikita Sergejewitsch 39, 157–158, 161–164, 245, 611 Churchill, Sir Winston Leonard Spencer 149–150 Clay, Lucius D. 163, 245 Clement, Wolfgang 97 Cresson, Édith 563 Cromme, Gerhard 325 D Dahn, Daniela 295, 533, 674 Delling, Willy 8, 16, 379, 489–494 Delors, Jacques 57, 59, 260, 262 Dickel, Friedrich 289–290 Diepgen, Eberhard 410 Diestel, Peter-Michael 16 Dohlus, Horst 615 Dölle, Hans-Christoph 419 Domagk, Manfred 8, 16, 87, 121, 197, 434, 448, 495–509, 513, 672 Donda, Arno 42, 176, 283 Dönhoff, Marion Gräfin 664–665, 680 Döring, Karl 8, 16, 117, 127, 323, 329, 341, 446, 511–524, 672, 678, 690 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 250 Dregger, Alfred 329 Dubcek, Alexander 30 Ducke, Karl-Heinz 191, 278 Duda, Paul 228, 235 E Ebeling, Hans-Wilhelm 201 Eberlein, Werner 179, 190, 361, 377 Ebert, Friedrich 29, 107, 170, 251, 484 Eckermann, Holger 44 Eckert, Till 107 Egorova, Svetlana 15, 216, 431, 468, 512, 604 Ehrensperger, Günter 284 Einsiedel, Heinrich Graf von 655 Eisler, Hanns 332, 457 Engels, Friedrich 67, 116, 154, 238, 350, 364, 653
Eppelmann, Rainer 16, 51, 180, 193, 201, 203–204, 237, 242, 278, 281, 291–292, 294, 351, 354, 389, 567 Eppler, Erhard 121, 257, 675 Erhard, Ludwig 150 Ewald, Georg 251 Eyskens, Mark 60 F Falin, Valentin 163 Fallersleben, Hoffmann von 332 Feldmann, Klaus 9, 16, 99, 100, 627–629, 673 Fichtner, Lothar 379–380 Fischer, Joschka 579 Fischer, Karl 74 Fischer, Oskar 196, 202, 430, 610 Flohr, Günter 515 Fontane, Heinrich Theodor 664 Frank, Anne 108, 652, 669 Fricke, Karl Wilhelm 656, 687 Friedemann, Max 612 Frisch, Max 12 G Gäbler, Walter 581–582 Gaddis, John Lewis 149, 675 Gädt, Claus 134 Gandhi, Mahatma 108 Gebhardt, Gerd 320 Geggel, Heinz 628 Gehler, Michael 15, 23, 25, 39, 40–42, 44–45, 50–51, 57–60, 86, 105, 187, 216, 302, 310, 317, 334, 430–431, 458, 496, 672, 675, 678 Geiger, Helmut 308 Geißler, Heiner 362, 680 Gellert, Otto 515 Genscher, Hans-Dietrich 58, 189, 202, 262, 384, 443, 637, 645 Gerlach, Manfred 373 Gerstenberger, Karl-Heinz 48 Geske, Otto-Erich 96, 456, 562, 675 Geulen, Reiner 90
694 Gißke, Erhardt 408 Globke, Hans 235 Goebbels, Paul Joseph 39, 234, 632, 665 Goethe, Johann Wolfgang von 67, 177, 223, 447 Gohlke, Reiner Maria 52, 321–322, 339, 452 Goldberg, Henryk 647 Goldstein, Kurt 628 Goll, Günter 74 Gorbatschow, Michail Sergejewitsch 5, 12, 39–41, 49, 57, 86, 154, 178, 181, 183– 184, 192, 197, 202, 204, 211, 256, 258– 259, 263–264, 312, 351, 357–358, 368, 376, 429–430, 432, 458, 472, 474–475, 518–519, 521, 560, 570–571, 577–578, 615–616, 623, 645, 676, 678, 685, 689 Goutrié, Christine 15 Grabley, Peter 93 Grass, Günter 570 Großmann, Werner 370, 624 Grotewohl, Otto 68, 84, 151, 360 Grünheid, Karl 82 Gurtz, Johannes 8, 16, 111, 113, 547– 551, 672 Gysi, Gregor 84, 86, 181, 193, 205, 296– 297, 299, 389, 430, 438, 618 H Haasen, Uwe 89, 399, 419, 443, 485, 564, 587–588 Häber, Herbert 178, 256, 356–357, 368, 677 Hacks, Peter 165, 166, 657 Hagen, Heinz 238 Hager, Kurt 84, 182–183, 264 Halbritter, Walter 251, 504 Haller, Gert 202, 306, 327, 387–388 Hallstein, Walter 631 Halm, Gunter 386 Harnisch, Jürgen 515 Hartmann, Günter 184 Hartmann, Richard 61, 216–217 Haussmann, Helmut 144, 308, 316, 444
Haydn, Joseph 332 Hein, Christoph 181 Hein, Günter 89, 398, 549, 586, 590 Henkel, Hans-Olaf 323 Herger, Wolfgang 44, 302 Herrmann, Günter 642 Herrmann, Joachim 182, 635 Herrnstadt, Rudolf 157 Hertle, Hans-Hermann 43, 641, 675 Herzog, Michael A. 15 Heym, Stefan 165–166, 181, 242, 274, 294–295, 377, 683 Hickel, Rudolf 282 Hildebrandt, Jörg 649 Hildebrandt, Regine 568, 649 Hitler, Adolf 39, 130, 149, 219, 351, 605, 613 Höfer, Kurt 490 Höfer, Werner 375 Höfner, Ernst 6, 42, 44, 76, 126, 176, 184, 263, 275, 283–284, 439, 459, 521, 686 Holm, Andrej 335 Holzwarth, Fritz 313, 477 Honecker, Erich 12, 14, 18, 24, 27, 29–30, 31–44, 59, 75–78, 84, 105, 112–113, 156, 165, 169, 170–171, 173, 175, 177–179, 181–182, 189, 211, 239, 241, 247, 251– 253, 255–258, 262–266, 271–273, 276, 291, 294, 321, 338, 356–358, 362, 364– 371, 374, 376, 380–381, 429, 472, 500, 505, 509, 519, 541, 556–557, 559–560, 570–571, 576, 578, 583, 585, 616–621, 637, 656, 664, 667, 675–678, 687 Honecker, Margot 84, 273, 275–276, 432, 439, 655, 667 Höppner, Reinhold 600 Horn, Guyla 180, 577 Horney, Brigitte 539 Hurd, Douglas 60 J Jacobsohn, Siegfried 666 Jäger, Harald 288 Jagoda, Bernhard 93
695 Jahn, Günter 264, 292 Jahn, Roland 105, 335, 648 Jenninger, Philipp 178, 256, 357 Jochimsen, Reimut Hinrich Hermann 555, 558 John, Friedmar 230 Jörges, Hans-Ulrich 531–533, 683 Joseph, Hans-Jürgen 292 Joswig, Heinz 65, 232 Juncker, Jean-Claude 344 K Kabwe, Basil Robam 134 Kaemmel, Ernst 65, 230, 548, 689 Kalweit, Werner 65, 164, 504, 679 Kaminsky, Horst 7, 8, 16, 36, 81–83, 135, 144, 200, 202, 303, 383, 573–580, 679– 680 Kamp, Marion van de 181, 274 Kandutsch, Jörg 133 Kant, Hermann 165–166, 287 Kant, Immanuel 223 Kauffold, Peter 93 Kennedy, John Fitzgerald (John F.) 163, 245 Keßler, Heinz 84, 179, 521 Kinkel, Klaus 91, 314 Kissinger, Henry 669 Kleiber, Günther 134, 251 Klein, Hans (Johnny) 144 Klein, Manfred 646–647 Klementa, Joachim 404–406 Klemm, Peter 11, 93–95, 312, 314–315, 352, 388, 394, 403–405, 466 Klopp, Bruno 416, 671 Knauthe, Erhard 65, 230 Kohl, Helmut 37, 39, 40–41, 45, 50–52, 55, 80–81, 92, 95, 115, 176, 178, 182–183, 185–186, 188–189, 191, 193–194, 196, 199, 200–202, 204, 242, 253, 256–257, 281–283, 285, 291–292, 303, 305, 311– 312, 316–317, 319, 331, 340, 351, 354, 357–358, 370, 376, 379, 383–385, 396, 420, 430, 451, 455, 462, 465–466, 473–
475, 506, 561–563, 568, 577–578, 584, 586, 641, 644–645, 669, 682, 685, 689 Köhler, Horst 20, 80–82, 93, 125, 135, 202, 257, 303–306, 319–320, 327, 383, 387–388, 427, 443, 452, 459, 486, 665, 672 Kohlmey, Gunther 65, 229, 359 König, Herta 199, 277, 319, 373, 560, 565, 570 Kopper, Hilmar 308 Koren, Stephan 36 Krause, Günther 7, 16, 54, 92–95, 98, 308–310, 313, 421, 423, 465–467, 483, 487, 562, 568, 588–589, 672 Krause, Wolfram 52–54, 135, 206, 216, 321–322, 329, 381–382, 386, 398, 486, 685 Krenz, Egon 5, 20, 35, 41–44, 58, 84, 86, 149, 175–176, 179, 182–185, 188, 190, 197, 239, 242, 256, 262, 264–265, 270– 272, 274, 283, 285–291, 295, 298, 302, 333, 357, 371–375, 425, 430, 432–433, 472–475, 518, 521, 529, 559–560, 578, 583, 614–616, 618–622, 637–638, 652, 667, 669, 671–672, 674, 676, 683, 685 Kröger, Herbert 596 Kroker, Herbert 178, 190 Krolikowski, Werner 182, 190, 377, 429 Kunath, Stefan 391 Kunze, Heinz Rudolf 256, 674, 689 Kupfernagel, Ernst 65, 232 Kusnezow, Jurij 354 Kwizinski, Julij Alexandrowitsch 443 L Lafontaine, Oskar 205, 312, 315–316, 357 Lamberz, Werner 251, 366 Lambsdorff, Otto Graf von 312, 460, 462, 564 Lange, Bernd-Lutz 181 Lange, Emil Alfred Fritz 274 Lange, Martin 191, 278 Langner, Erich 71
696 Lapp, Peter Joachim 26, 28, 503, 676 Lässig, Wolfram 308 Lauck, Hans-Joachim 7, 16, 446, 468, 502, 672 Lauter, Gerhard 286, 289–290 Lebig, Wolfgang 103, 137, 273, 305, 311, 314–315, 319, 382, 558, 562 Lemke, Dietrich 330, 678 Lemmnitz, Alfred 66, 275 Lenin, Wladimir Iljitsch 29, 170, 350, 574, 605, 659–660, 664, 681, 689 Leonhardt, Rudolf Walter 664–665, 680 Lesch, Harald 107, 684 Lessing, Gotthold Ephraim 223, 226 Leuschner, Bruno 66, 162, 230, 232, 676 Liberman, Jewgeny Grigorjewitsch 163 Liebknecht, Karl 225, 350, 431, 606 Liebknecht, Wilhelm 350 Liefers, Jan Josef 181 Liehmann, Paul 54, 206 Lincoln, Abraham 337 Lindner, Gabriele 444 Loch, Hans 28 Lojewski, Günther von 9, 16, 99, 101, 105, 108, 631–654, 673, 676, 683 Lojewski, Werner von 631–632 Lorenz, Siegfried 179, 264, 380 Lorenz, Werner 439 Löscher, Klaus 419, 593 Lubbe, Marinus van der 665 Ludewig, Johannes 20, 94, 125, 340 Ludwig, Jessica 15 Luft, Christa 7, 16, 52, 55, 79–80, 87, 135–136, 186, 195, 201, 216, 281, 301, 377, 382, 387, 398, 424, 433, 435, 437, 439, 441, 443, 449–456, 561–562, 589, 672, 676, 679, 691 Lunkewitz, Bernd F. 666 Luther, Martin 635, 657 M Maaßen, Martin 92, 302, 307 Mager, Rolf 263 Mahlow, Bruno 9, 16, 603–626, 673, 676
Maizière, Lothar de 6–7, 16, 20, 42, 54, 59–60, 67, 77, 80, 87, 89–92, 95–98, 116, 119, 123–124, 135, 186, 190, 209, 212, 216, 242, 260, 277, 293, 295, 301–302, 307–311, 313, 316–317, 321, 324, 331– 333, 336, 340, 352, 383, 389–390, 394– 397, 400, 403, 413, 420–422, 430, 441– 445, 450, 452–453, 455, 457–463, 465– 466, 468, 474–477, 485, 512–513, 518, 520, 529, 556, 558, 567–569, 585–586, 588, 590, 623–624, 646, 652, 672, 674, 677, 685, 690 Maizière, Thomas de 54, 95, 309, 394, 422 Maizière, Ulrich de 324 Maleuda, Günther 27 Mann, Thomas 329 Maroldt, Lorenz 81 Marx, Karl 67, 116, 154, 160, 207, 238, 350, 364, 495, 511, 596, 606, 653, 680 Maslieke, Mahmba 134 Masur, Kurt 181, 403 Matern, Hermann 156, 170, 234, 511 Mayring, Philipp 22, 677 Mazowiecki, Tadeusz 442, 559, 563 McKenzie, Robert 640–641 Mebel, Moritz 658 Meckel, Markus 84, 301, 389, 442, 624 Mecklinger, Ludwig 273 Meinhardt, Birk 662 Mekhailef, Hikmat Omar 134 Mensch, Hannelore 79, 186, 432 Merk, Hans-Günther 647 Merkel, Angela 316, 349–350, 422, 580, 586, 669–670 Meyen, Michael 104, 685 Meyer-Sebastian, Hans-Michael 406 Mielke, Erich 159, 175, 182–184, 251, 292, 294, 302, 357, 369–370, 372, 374, 571, 621, 678 Mittag, Günter 36–37, 42–43, 159, 163, 168, 170, 175, 177–178, 182, 247, 250– 251, 258, 262, 264, 268, 284, 360–361,
697 370–371, 374, 381–382, 398, 451, 501, 509, 521, 549, 585, 618 Mitterrand, François 59, 183, 187, 260– 262, 336, 376, 474, 563, 577 Mitzenheim, Moritz 598 Möbis, Harry 436–437, 444 Mock, Alois 180 Modrow, Hans 5–7, 16, 20, 39–40, 44, 45, 47–59, 79–81, 84, 86–87, 92, 99, 116, 118, 122–123, 126, 135, 175–176, 182–206, 211–212, 216, 258, 260, 264, 270–271, 276–277, 279, 281, 283, 285, 291–296, 300–306, 309, 311, 320–321, 324, 329, 331, 333, 336, 339, 373, 377, 380–390, 396, 398, 400, 424, 429–446, 450–459, 466, 468, 474–477, 481, 484, 497, 512, 514, 518, 520–521, 525, 529, 553, 555– 556, 558, 559–561, 563, 570, 585–586, 588, 590, 614, 618, 623–624, 652, 667– 669, 672, 676, 678, 691 Molotow, Wjatscheslaw Michailowitsch 23 Momper, Walter 186, 316, 642 Moreth, Peter 52, 54, 186, 206, 276, 320, 322, 339, 445, 466 Most, Edgar 104, 193, 444, 446, 479, 482, 486–487, 519, 690 Mothea, Frank 103 Mühe, Ullrich 181 Mühlfenzl, Rudolf 648–650 Müller, Heiner 181 Müller, Margarete 251 Müller, Philipp 130 Müller-Enbergs, Helmut 15, 294, 354, 537, 679, 683, 687 N Naumann, Konrad 382 Necker, Tyll 195 Neubauer, Horst 372 Neumann, Alfred 78, 179, 183, 251 Neumann, Bernd 648 Neumann, Hans 297 Neumann, Horst 103, 364
Neutsch, Erik 165–166, 676 Nick, Harry 71 Nickel, Uta 6, 20, 48, 50, 79–80, 114, 123, 126, 186, 193, 277, 279–281, 293, 432– 437, 458–459, 485, 497, 564, 588 Niemann, Mario 126, 677 Niethammer, Fritz 596 Niggemeier, Stefan 662 Noermattias, Kris 134 Nooke, Günter 323 Norden, Albert 170, 251 Nothelle, Claudia 15 O Oelßner, Fred 158–159, 574 Oeser, Ingo 58, 261 Opitz, Rolf 193, 279, 435 Oranien, Wilhelm von 596 Ossietzky, Carl von 295, 656, 666 Ossietzky, Maud von 666 Ott, Harry 197 Overhaus, Manfred 305–306 P Pelikan, Gerd 300 Pergande, Frank 127, 681 Peters, Arno 50, 282 Picasso, Pablo Ruiz 559 Pieck, Wilhelm 27, 84, 151, 238, 360, 402, 608 Piltz, Klaus 323 Platzeck, Matthias 199, 201, 205, 281, 389 Pöhl, Karl Otto 200, 312, 316, 533, 573, 673 Pohl, Wolfgang 300 Polgar, Alfred 666 Polze, Werner 36, 199, 252, 549 Pommert, Jochen 181 Poppe, Gerd 281 Poppe, Ulrike 190, 242, Portugalow, Nikolai Sergejewitsch 189 Pötzl, Norbert F. 127, 681 Pötzsch, Klaus 73, 270, 677
698 Powell, Colin Luther 357 Putin, Wladimir Wladimirowitsch 607, 613, 625 Q Quijote, Don 559
Rudorf, Dieter 91, 302, 307 Ruederffer, Axel von 515 Rühe, Volker 201 Rumpf, Willy 28, 65–66, 69, 74, 164, 231, 235–236, 267–269, 390 Ryschkow, Nikolai 195, 197
R Radomski, Aram 105 Rappe, Hermann 323 Rau, Johannes 97, 555 Rauchfuß, Wolfgang 44 Rauscher, Gudrun 560, 564–565, 570 Reagan, Ronald 178, 265, 353, 354, 357, 530, 579 Reich, Jens 181 Reiche, Steffen 84 Reichel, Käthe 181 Reinefahrt, Heinz 150 Renn, Ludwig 152 Reuter, Edzard 195 Richter, Gert 219, 679 Rietzschel, Lukas 127 Riyadh Al-Azzawi 134 Röck, Marika 539 Roesler, Jörg 504–505, 677, 685, 687 Rohde, Erwin 549 Rohnstock, Katrin 136, 403, 424, 445– 446, 529, 672, 677, 691 Rohwedder, Karsten 52, 55, 228, 308, 322–323, 327, 339, 386, 453, 478, 481, 493, 522–523 Romberg, Renate 319, 456 Romberg, Walter 6, 49, 54, 82, 86–88, 91–92, 94–97, 126, 191, 196, 199, 202, 281, 295, 301–302, 304, 306–307, 314– 319, 323, 386, 389, 394–396, 402, 420, 441–445, 453, 455–456, 459, 461–462, 471, 483–485, 509, 553, 555–571, 587– 590, 671, 674 Roosevelt, Franklin Delano 149 Rosentalski, Hans 515 Rößler, Johannes 131 Rubarth, Heiner 515
S Sabrow, Martin 105, 458, 677 Sandig, Helmut 418, 586 Sarrazin, Thilo 80, 82, 94, 125, 202, 303, 306, 443, 452, 466 Schabowski, Günter 181, 185, 274, 286– 288, 361, 375, 521, 578, 584, 640, 667 Schalck-Golodkowski, Alexander 36–37, 42–43, 45–49, 175, 183, 190, 248, 250, 252–253, 256, 283–284, 292–293, 372– 373, 434, 502, 520–521, 562, 675, 677– 678, 681, 686 Schall, Johanna 181, 274 Schäuble, Wolfgang 43, 98, 125, 189, 283, 285, 332, 373, 379, 385, 403, 421, 483, 646, 648 Schefke, Siegbert 105 Schewardnadse, Eduard 196–197, 645 Schiefer, Friedrich 89, 399, 419, 443, 564, 588, 593 Schiller, Karl August Fritz 453, 643 Schily, Otto 90, 125, 136, 452 Schinze-Gerber, Marco 37–38, 678 Schirdewan, Karl 158–159 Schlesinger, Helmut 93, 312–313, 333 Schleußer, Heinz 94 Schleyer, Hanns Martin 635 Schmidt, Helmut 178, 257, 308, 354, 356–357, 369, 557, 669 Schmidt, Max 255 Schmidt-Bleibtreu, Bruno 91, 202–203 Schmieder, Werner 6, 76, 267, 439 Schnitzler, Karl-Eduard von 100–101, 375–376, 638–639 Schnur, Wolfgang 201, 278, 520, 678 Scholl, Sophie 108, 652, 669 Schönach, Peter 379–380
699 Schönian, Valerie 126–128, 677, 681 Schorlemmer, Friedrich 180–181, 190, 242, 274, 294 Schreiber, Waltraud 19, 21, 677, 679 Schröder, Gerhard 95, 334, 579, 669 Schröder, Richard 88, 97, 104, 119, 136, 317, 396, 422, 448, 677, 691 Schroeder-Hohenwarth, Hans Hinrich 57 Schukschin, Wassili Makarowitsch 575 Schüler, Manfred 323 Schulz, Martin 440 Schumacher, Dominik 15 Schumann, Andreas 458 Schumann, Frank 9, 16, 47, 99, 106, 655– 670, 673, 677, 680–681 Schumann, Robert 575 Schumann, Werner 655 Schur, Täve 408 Schürer, Gerhard 5, 36, 41–47, 79, 176, 182, 264, 283–285, 292, 322, 367, 377, 381, 436, 468, 520, 527, 560, 562, 583, 685–686, 691 Seghers, Anna 152, 165 Seiters, Rudolf 43, 93, 175–176, 188, 190, 196, 200–201, 283, 373, 423 Selbmann, Erich 158, 650–651 Selbmann, Fritz 159, 650 Siegert, Carmen-Uta 7, 16, 67–68, 122, 129, 413, 671 Siegert, Uwe-Jens 16, 67–68, 129, 672 Sinatra, Frank 41 Sindermann, Horst 27, 76, 170, 179, 182, 184, 248, 251 Sinowjew, Alexander 606 Skowron, Werner H. 6, 91–92, 95, 97, 124, 302, 307, 314, 402–403, 419, 462, 569, 570 Sommer, Theo 664 Späth, Lothar 340 Spethmann, Dieter 341 Spira, Steffi 181 Spoo, Eckart 666 Stähler, Kurt 515
Stalin, Josef Wissarionowitsch 149–150, 153, 156, 158, 171, 233–234, 245, 530, 540, 605–608, 619 Steeger, Horst 8, 16, 164, 504, 537–545, 679 Steinke, Alvin 96 Steinmeier, Frank-Walter 458 Stockleben, Björn 15 Stoll, Wolfried 93–94, 135, 293, 311, 549 Stolpe, Manfred 180, 649 Stoph, Willi 6, 27, 32, 45, 68, 76, 79, 85, 87, 116, 133, 170, 179, 182–185, 190, 215, 251, 264, 273–274, 367, 374, 377, 381, 388, 390, 432, 439, 450, 578 Strasberg, Werner 9, 16, 595–601 Strauß, F. J. 5, 18, 35, 37–38, 47, 174, 178, 189, 252–253, 358, 641, 678 Streletz, Fritz 621–622, 673 Strittmatter, Erwin 165–166 Supranowitz, Stephan 54, 93, 321–322 Süssmuth, Rita 51, 243 T Tandler, Gerold 94 Teltschik, Horst 45, 188–189, 292, 351, 677 Thälmann, Ernst 132, 243, 540, 688 Thatcher, Margaret 183, 187, 260–261, 336, 353, 474, 563, 577, 579 Theek, Peter 656, 666 Thierse, Wolfgang 97, 334 Tietmeyer, Hans 55, 81, 92–94, 97, 312, 333, 384, 423, 678 Tissen, Kristina 15 Titzrath, Alfons 515 Toeplitz, Heinrich 292, 598 Tolstoi, Lew N. Graf 67 Töplitz, Heinrich 279–280 Trostel, Uwe 8, 16, 525–536, 672, 683, 691 Trotzki, Leo 605 Truman, Harry S. 149–150 Tschernenko, Konstantin Ustinowitsch 37, 39, 256
700 Tuchatschewski, Michail 234 Tucholsky, Kurt 666 Tung, Mao Tse 158, 365 U Uhland, Ludwig 232 Uhlmann, Wolfgang 191, 199 Ulbricht, Helga 30 Ulbricht, Walter 14, 18, 24, 27, 29–35, 69, 84, 100, 112, 151, 156–159, 161–165, 168–171, 233–235, 247, 251, 255, 264– 267, 276, 348, 360–364, 366, 380, 431, 504–506, 509, 540–541, 576, 578, 611, 617, 619–620, 675–676, 683 Ullmann, Wolfgang 53, 201, 281, 320– 322, 452 Ullrich, Günter 9, 16, 90–91, 120, 419, 581–593, 673 Urbich, Andreas 548, 550–551, 690 V Vogel, Bernhard 387 Vogel, Erhard 65, 232 Vogel, Hans-Jochen 205, 316 Vogel, Wolfgang 256 Volze, Armin 35, 38, 679 Vranitzky, Franz 336 W Wahlscheidt-Komischke, Vera 15 Waigel, Theo 3, 5, 11–12, 16, 50–51, 53, 80, 82, 94–95, 98, 125, 144, 189, 201, 277, 280, 285, 303, 305–306, 309, 314, 316– 318, 324, 327, 331, 344, 384, 387–388, 420, 423, 441, 443, 471, 477, 481, 483, 562–563, 671, 678 Wandel, Paul 275 Wassiljewna, Lydia 604 Watzek, Hans 51, 186
Wehner, Herbert 178, 256–257, 356, 368 Weigel, Helene 152 Weigel, Otto 130, 223 Weinert, Erich 152 Weißgärber, Wilhelm 134 Weizsäcker, Carl Friedrich von 356, 601 Wenzel, Siegfried 93, 151, 180, 284, 678 Wergo, Herbert 65, 131, 232 Wolf Klinz 593 Wolf, Christa 165–166, 181, 189, 274, 294, 628 Wolf, Herbert 72, 164, 455, 504 Wolf, Herbert Franz 71 Wolf, Markus (Mischa) 40, 181, 256, 636 Wolff, Friedrich 152 Wollweber, Ernst 158–159 Wonneberger, Christoph 181 Wötzel, Roland 181 Würzen, Dieter von 82, 93, 312 Wuschig, Ilona 15 X Xiaoping, Deng 365, 668 Z Zaisser, Wilhelm 157 Zeißig, Siegfried 54, 73, 195, 206, 269, 314, 320, 322, 329, 403, 471, 483–484, 488 Zerdick, Axel 632 Zetkin, Clara 350 Ziegler, Martin 191, 278 Ziller, Paul Gerhart (Gert) 64, 130, 158– 159, 229, 235 Zimmermann, Peter 181 Zuckermann, Leo 238 Zweig, Arnold 152