Walter-Kempowski-Handbuch 9783110237597, 9783110237580

Until now, literary researchers on Walter Kempowski (1929–2007) have lacked a comprehensive reference work that consider

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German Pages 427 [428] Year 2020

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Zur Einführung
1.2 Biographie
1.3 Arbeitsweisen I. Artefakte aus Erinnerungen: Das Echolot und Culpa
1.4 Arbeitsweisen II. Alter Ego
2. Werk
2.1. Deutsche Chronik
2.1.1 Im Block. Ein Haftbericht
2.1.2 Tadellöser & Wolff. Ein bürgerlicher Roman
2.1.3 Uns geht’s ja noch gold. Roman einer Familie
2.1.4 Ein Kapitel für sich. Roman
2.1.5 Aus großer Zeit. Roman
2.1.6 Schöne Aussicht. Roman
2.1.7 Herzlich willkommen. Roman
2.2 Befragungsbücher
2.2.1 Haben Sie Hitler gesehen? Deutsche Antworten
2.2.2 Immer so durchgemogelt. Erinnerungen an unsere Schulzeit
2.2.3 Haben Sie davon gewußt? Deutsche Antworten
2.3 Weitere Romane
2.3.1 Hundstage. Roman
2.3.2 Mark und Bein. Eine Episode
2.3.3 Heile Welt. Ein Roman
2.3.4 Letzte Grüße. Roman
2.3.5 Alles umsonst. Roman
2.4 Das Echolot und andere Kollektivtexte
2.4.1 Das Echolot
2.4.2 Der rote Hahn. Dresden im Februar 1945
2.4.3 Plankton. Ein kollektives Gedächtnis
2.5 Tagebücher
2.6 Kinder- und Schulbücher
2.6.1 Haumiblau. 208 Pfenniggeschichten / Alle unter einem Hut / Der Hahn im Nacken
2.6.2 Unser Herr Böckelmann
2.6.3 Kempowskis Einfache Fibel
2.6.4 Kempowskis Einfache Fibel. Übungsteil / Die 14 Ausschneidebögen
2.6.5 Herrn Böckelmanns schönste Tafelgeschichten
2.6.6 Unser Herr Böckelmann. Sein Lebenslauf. Aufgezeichnet und illustriert von Prof. Jeremias Deutelmoser, 1. Vorsitzender der Böckelmann-Gesellschaft
2.6.7 Der arme König von Opplawur. Ein Märchen
2.6.8 Weltschmerz. Kinderszenen fast zu ernst
2.7 Weitere Werke
2.7.1 Walter Kempowskis Harzreise. Erläutert
2.7.2 In Rostock
2.7.3 Mecklenburg-Vorpommern
2.7.4 Mein Rostock
2.7.5 Bloomsday ’97
2.7.6 Das 1. Album. 1981–1986
2.7.7 Uwe Johnson und Walter Kempowski: „Kaum beweisbare Ähnlichkeiten“. Der Briefwechsel
2.7.8 Langmut. Gedichte
2.7.9 Umgang mit Größen. Meine Lieblingsdichter – und andere
2.8 Hörspiele
2.8.1 Träumereien am elektrischen Kamin
2.8.2 Ausgeschlossen
2.8.3 Haben Sie Hitler gesehen?
2.8.4 Beethovens Fünfte
2.8.5 Moin Vaddr läbt – a Ballahd inne Munnohrd kinstlich med Mosseg unde Jesann von Wullar Kinnpussku
2.8.6 Führungen – Ein deutsches Denkmal
2.8.7 Alles umsonst
2.8.8 Der Krieg geht zu Ende – Chronik für Stimmen – Januar bis Mai 1945
3. Systematische Aspekte
3.1 Archiv
3.2 Das deutsche Bürgertum
3.3 Film und Fernsehen
3.4 Haus Kreienhoop
3.5 Montage/Collage
3.6 Musik
3.7 Mutter
3.8 Pädagogik
3.9 Popliteratur
3.10 Religion
3.11 Rezeption
3.12 Schuld
3.13 Sprache
3.14 Vater
3.15 Vergangenheitsbewältigung
4. Literaturverzeichnis
5. Werkregister
6. Sachregister
7. Autorenregister

Walter-Kempowski-Handbuch
 9783110237597, 9783110237580

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Walter-Kempowski-Handbuch

WalterKempowskiHandbuch herausgegeben von Carla Damiano, Andreas Grünes und Sascha Feuchert unter redaktioneller Mitarbeit von Christiane Weber im Auftrag der Kempowski-Gesellschaft e.  V.

De Gruyter

Das Handbuch-Projekt wurde großzügig von Hildegard Kempowski unterstützt.

ISBN 978-3-11-023758-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-023759-7 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-039074-2

Library of Congress Control Number: 2019948691 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Informationen sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Walter Kempowski 1995 (Foto: © Privat) Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1 Zur Einführung (Carla Damiano, Andreas Grünes, Sascha Feuchert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.2 Biographie (Dirk Hempel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 1.3 Arbeitsweisen I. Das Echolot und Culpa (Simone Neteler) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1.4 Arbeitsweisen II. Alter Ego (Alan Keele) . . . . . . . . . . . . 23

2 Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

2.1 Deutsche Chronik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2.1.1 Im Block. Ein Haftbericht (1987) (Maria Ekert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2.1.2 Tadellöser & Wolff. Ein bürgerlicher Roman (1971) (Sascha Feuchert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 2.1.3 Uns geht’s ja noch gold. Roman einer Familie (1972) (Ute Barbara Schilly) . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2.1.4 Ein Kapitel für sich. Roman (1975) (Andreas Grünes) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 2.1.5 Aus großer Zeit. Roman (1978) (Friederike Reents) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 2.1.6 Schöne Aussicht. Roman (1981) (Friederike Reents) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 2.1.7 Herzlich willkommen. Roman (1984) (Raul Calzoni) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 2.2 Befragungsbücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 2.2.1 Haben Sie Hitler gesehen? Deutsche Antworten (1973) (Andreas Grünes) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 2.2.2 Immer so durchgemogelt. Erinnerungen an unsere Schulzeit (1974) (Volker Ladenthin) . . . . . 57 2.2.3 Haben Sie davon gewußt? Deutsche Antworten (1979) (Raul Calzoni) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 2.3 Weitere Romane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 2.3.1 Hundstage. Roman (1988) (Raul Calzoni) . . . . . . 66 2.3.2 Mark und Bein. Eine Episode (1992) (Julian Tietz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 2.3.3 Heile Welt. Ein Roman (1998) (Daniel Randau) . 73 2.3.4 Letzte Grüße. Roman (2003) (Andreas Grünes) . 76 2.3.5 Alles umsonst. Roman (2006) (Carla Damiano) . 79 2.4 Das Echolot und andere Kollektivtexte. . . . . . . . . . . . . . 84 2.4.1 Das Echolot (Eckehard Czucka) . . . . . . . . . . . . . 84

VIInhaltsverzeichnis

2.4.2 Der rote Hahn. Dresden im Februar 1945 (2001) (Daniel Gilfillan) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 2.4.3 Plankton. Ein kollektives Gedächtnis (2014) (Carla Damiano) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 2.5 Tagebücher (Dirk Hempel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 2.6 Kinder- und Schulbücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 2.6.1 Haumiblau. 208 Pfenniggeschichten / Alle unter einem Hut / Der Hahn im Nacken (1973/1976/1986) (Sabine Rohde) . . . . . . . . . . . . 138 2.6.2 Unser Herr Böckelmann (1979) (Volker Ladenthin) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 2.6.3 Kempowskis Einfache Fibel (1980) (Klaus Maiwald) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 2.6.4 Kempowskis Einfache Fibel. Übungsteil / Die 14 Ausschneidebögen (1981) (Annika Hagen) . . . . . 150 2.6.5 Herrn Böckelmanns schönste Tafelgeschichten (1983) (Volker Ladenthin) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 2.6.6 Unser Herr Böckelmann. Sein Lebenslauf. Aufgezeichnet und illustriert von Prof. Jeremias Deutelmoser, 1. Vorsitzender der BöckelmannGesellschaft (1983) (Volker Ladenthin) . . . . . . . . 157 2.6.7 Der arme König von Opplawur. Ein Märchen (1994) (Andreas Grünes) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 2.6.8 Weltschmerz. Kinderszenen fast zu ernst (1995) (Hanna Ashour) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 2.7 Weitere Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 2.7.1 Walter Kempowskis Harzreise. Erläutert (1974) (Theresa Arlt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 2.7.2 In Rostock (1990) (Johanna Keller) . . . . . . . . . . . 167 2.7.3 Mecklenburg-Vorpommern (1991) (Christiane C. Weber) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 2.7.4 Mein Rostock (1994) (Andreas Grünes) . . . . . . . 171 2.7.5 Bloomsday ’97 (1997) (Daniel Gilfillan) . . . . . . . 174 2.7.6 Das 1. Album. 1981–1986 (2004) (Sascha Feuchert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 2.7.7 Uwe Johnson und Walter Kempowski: „Kaum beweisbare Ähnlichkeiten“. Der Briefwechsel (2006) (Sascha Feuchert) . . . . . 180 2.7.8 Langmut. Gedichte (2009) (Andreas Grünes) . . . 183 2.7.9 Umgang mit Größen. Meine Lieblingsdichter – und andere (2011) (Sascha Feuchert) . . . . . . . . . . 186 2.8 Hörspiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 2.8.1 Träumereien am elektrischen Kamin (1971) (Carla Damiano) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188

InhaltsverzeichnisVII

2.8.2 Ausgeschlossen (1972) (Simone Neteler) . . . . . . . 194 2.8.3 Haben Sie Hitler gesehen? (1973) (Carla Damiano) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 2.8.4 Beethovens Fünfte (1975) (Carla Damiano) . . . . 203 2.8.5 Moin Vaddr läbt – a Ballahd inne Munnohrd kinstlich med Mosseg unde Jesann von Wullar Kinnpussku (1980) (Carla Damiano) . . . . . . . . . . 207 2.8.6 Führungen – Ein deutsches Denkmal (1982) (Simone Neteler) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 2.8.7 Alles umsonst (1984) (Carla Damiano) . . . . . . . . 215 2.8.8 Der Krieg geht zu Ende  – Chronik für Stimmen – Januar bis Mai 1945 (1995) (Carla Damiano) . . . 226

3

Systematische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 3.1 Archiv (Maren Horn, Christina Möller, Sabine Wolf und Hans-Joachim Bretschneider) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 3.2 Das deutsche Bürgertum (Sabine Kyora) . . . . . . . . . . . . 245 3.3 Film und Fernsehen (Ute Seiderer) . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 3.4 Haus Kreienhoop (Dirk Hempel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 3.5 Montage/Collage (Carla Damiano) . . . . . . . . . . . . . . . . 267 3.6 Musik (Christian Baumann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 3.7 Mutter (Andreas Grünes) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 3.8 Pädagogik (Volker Ladenthin) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 3.9 Popliteratur (Andreas Pfeifer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 3.10 Religion (Gita Leber) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 3.11 Rezeption (Dirk Hempel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 3.12 Schuld (Kai Sina) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 3.13 Sprache (Hans-Werner Eroms) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 3.14 Vater (Anna Brixa) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 3.15 Vergangenheitsbewältigung (Sabine Kyora) . . . . . . . . . . 369

4 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 5 Werkregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 6 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 7 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417

1 Einleitung 1.1  Zur Einführung

Carla Damiano, Andreas Grünes, Sascha Feuchert

Als Kind wollte Walter Kempowski „Archiv werden“, und in Bautzen, im Gefängnis, erkannte er ein paar Jahre später, was er vor dem Vergessen bewahren wollte und musste: Auf dem Hof der Haftanstalt hörte er das Wispern der Inhaftierten, diesen nie schweigenden Chor der Geschichtenerzähler. Das war es, was er archivieren würde, die vielen Erzählungen und Erinnerungen, die uns zu Menschen machen und die doch immer wieder verloren zu gehen drohen. Dieses Bewahren wurde ihm bald auch zum existentiellen Anliegen in eigener Sache: Durch eine vermeintlich falsche Entscheidung als Jugendlicher – die geplante Übergabe von Frachtpapieren aus der väterlichen Reederei an den US-amerikanischen Nachrichtendienst Counter Intelligence Corps – war er in den Augen der sowjetischen Besatzungsmacht zum Spion geworden. Er wurde zur Haft in Bautzen verurteilt – und sein Bruder Robert sowie seine Mutter Grete gleich mit. Die Verhaftung und die Verurteilung bewirkten nicht nur eine biographische Zäsur, sondern bildeten auch den Ausgangspunkt für sein Leben als Schriftsteller: Er habe die Familie zerstört, glaubte Kempowski fortan, und er müsse sie nun auf dem Papier wieder aufrichten. Damit begann noch in Bautzen das umfangreichste Erinnerungsprojekt, das die deutsche Literatur wohl je gesehen hat. Zum einen (re-)konstruierte der Autor die eigene Familienhistorie in sechs Romanen, zum anderen begann er, die katastrophale Geschichte des 20. Jahrhunderts mit Hilfe der Erinnerungen buchstäblich tausender Menschen nachzuzeichnen: Es entstanden Befragungsbände, die wissen wollten, ob man Hitler gesehen habe, wie man sich in der Schule (des ‚Dritten Reichs‘) immer „so durchgemogelt“ oder ob man „davon“ gewusst habe. Und auf zehn Bände wuchs das Echolot an, jene einzigartige Collage aus Briefen, Tagebucheinträgen, Erinnerungen und Fotos aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Alles hing mit allem zusammen in diesem riesigen Œuvre – und immer wieder visualisierte Kempowski diese engen Beziehungen zwischen den Werkgruppen auch (siehe beispielhafte Abbildung unten). Walter Kempowski wurde zwar schnell ein „Erfolgsschriftsteller“ und konnte bald auf eine große und treue Leserschaft zählen, doch trotz seiner riesigen Lebensleistung blieb ihm die Anerkennung des Feuilletons und des Literaturbetriebs lange versagt. Erst kurz vor seinem Tod kam es zu einer intensiven und vor allem respektvollen Beschäftigung mit seinem Werk, die ganz wesentlich auch von jüngeren Feuilletonisten, Autoren und Literaturwissenschaftlern getragen wurde. Im besonderen Maße trug dazu die Ausstellung „Kempowskis Lebensläufe“ in der Berliner Akademie der Künste in Berlin im

2

1 Einleitung

Abbildung 1: Handschriftliche Skizze des Gesamtwerks von Walter Kempowski für Carla Damiano, 1994. Im Zentrum steht die Deutsche Chronik mit der Jahresleiste [19]00–[19]58. 1. Aus großer Zeit [Deutsche Chronik I] 2. Schöne Aussicht [Deutsche Chronik II] 3. Schule (Immer so durchgemogelt. Erinnerungen an unsere Schulzeit) [Deutsche Chronik VIII] 4. Wer will unter die Soldaten? 5. Tadellöser & Wolff [Deutsche Chronik IV] 6. Träumereien am elektrischen Kamin 7. Der Hahn im Nacken 8. Haben Sie Hitler gesehen? [Deutsche Chronik III und Hörspiel] 9. Uns geht’s ja noch gold [Deutsche Chronik V] 10. Haben Sie davon gewußt? [Deutsche Chronik VI] 11. Im Block, ein Haftbericht / Ein Kapitel für sich [Deutsche Chronik VII] 12. Moin Vadder läbt / Ausgeschlossen / Beethovens Fünfte (Hörspiele) 13. Herzlich willkommen [Deutsche Chronik IX] 14. Herr Böckelmann 15. Kempowskis Einfache Fibel 16. Hundstage / Mark und Bein 17. Echolot-Projekt 18. Biographien aus dem Archiv

1.1  Zur Einführung3

Jahr 2007 bei, die von Dirk Hempel gestaltet wurde. Sie lenkte den Fokus auf die Verbindung von Biographie und Gesamtwerk Kempowskis, wie Bundespräsident Horst Köhler in seinem Grußwort hervorhob: „Der Titel bedeutet zunächst natürlich, dass es um Walter Kempowski, um sein Leben, sein Werk, seine Sammlung, sein Archiv geht. Aber gleichzeitig ist diese Ausstellung auch ein Wunderkabinett, das uns alle anrühren und bewegen kann. […] Es gibt nichts, das zu klein, nichts, das zu banal wäre, um nicht Bedeutung zu haben, um nicht etwas erzählen zu können.“ (Köhler 2007) Zahlreiche Preise und Ehrungen erreichten Kempowski noch zu Lebzeiten, wenn auch die vielleicht wichtigste Auszeichnung der deutschen Literatur, der Büchner-Preis, ihm nicht mehr zuerkannt wurde. Zu den Würdigungen dieser letzten Tage gehörte 2007 auch die Gründung einer Kempowski-Gesellschaft. Der Autor hatte diese sogar (wenngleich halb ironisch) selbst angeregt („eine Kempowski-Gesellschaft, das wäre doch ’mal was“) und noch erleben dürfen, wie sich vor allem jüngere Kempowski-Leser in Gießen und Heidelberg zusammenschlossen. Als „kleiner Bruder“ der beiden anderen Institutionen, die der Werkpflege verpflichtet waren – des 1993 gegründeten Kempowski-Archivs in Rostock und der 2005 ins Leben gerufenen Kempowski-Stiftung Haus Kreihenhoop in Nartum –, trat dieser Verein vor allem dazu an, Schüler und Studenten für das Werk des Autors zu begeistern. Eines der Ziele der Gesellschaft war freilich von Anfang an die Erstellung eines Handbuchs, das einen Überblick über Leben und Werk Kempowskis geben und dabei eine Summe der bisherigen Forschung ziehen sollte. Es sollte dazu dienen, Lesern eine erste Orientierung zu geben, weit Auseinanderliegendes zusammenzubringen und vor allem auch neue Fragen und Untersuchungen zu initiieren. Für dieses Ziel hat der junge Verein seit fast zehn Jahren nahezu alle seine (knappen) Mittel aufgewendet und Experten aus verschiedenen Disziplinen gebeten, das gewaltige Werk Kempowskis für Laien und Kenner aufzuschlüsseln. Nach jahrelanger Arbeit ist so das vorliegende Handbuch entstanden, das die skizzierten Ziele mit drei Formen von Beiträgen zu erreichen versucht: 1. mit Biographien und Werkstattberichten; 2. mit Werkartikeln und 3. mit Querschnittsartikeln. In einem ersten Teil kommen durch eine umfassende Schilderung der Biographie und der Arbeitsweisen des Autors seine langjährigen Mitarbeiter Simone Neteler und Dirk Hempel sowie (der für die Arbeit am Echolot wichtige Impulsgeber) Alan Keele drei Zeitzeugen zu Wort, die eng mit Walter Kempowski arbeiten durften und daher einen sehr persönlichen Einblick in seine „Werkstatt“ geben können. Danach widmen sich Werkartikel den einzelnen Veröffentlichungen Kempowskis, indem sie zunächst den Inhalt skizzieren, um dann in einem zweiten Abschnitt eine kurze Analyse vorzunehmen und die Rezeption des jeweiligen Werkes zu skizzieren. Bislang in der Forschung vernachlässigte Arbeiten Kempowskis werden dabei etwas ausführlicher besprochen und kontextualisiert.

4

1 Einleitung

Im dritten Teil des vorliegenden Handbuchs sollen dann Querschnittsartikel Themen, Motive und übergeordnete Fragestellungen erörtern und damit die Werkgruppen noch einmal neu durchschreiten. Es versteht sich, dass gerade dieser dritte Teil eine Menge Leerstellen offen lassen muss und in besonderem Maße dazu dienen soll, neue Forschungen anzuregen. Die Herausgeber sind nicht nur dem Vorstand und den Mitgliedern der Kempowski-Gesellschaft e.V. zu großem Dank verpflichtet, sondern vor allem auch Christiane Weber, die den Großteil der umfangreichen redaktionellen Arbeiten übernommen und damit einen essentiellen Anteil an der Entstehung dieses Handbuches hat. Den Kollegen des Kempowski-Archivs in Rostock, der Kempowski-Stiftung Haus Kreienhoop in Nartum und ganz besonders Frau Hildegard Kempowski danken wir sehr für vielerlei Hilfen und Unterstützungen. Frau Kempowski, die leider die Publikation des Handbuchs nicht mehr erleben konnte, hat das ganze Projekt erst durch erhebliche finanzielle Zuwendungen möglich gemacht. Unser größter Dank gilt allen Beiträgern für die jahrelange konstruktive Zusammenarbeit, die vielen fachlichen Gesprächen – und die enorme Geduld in einem Herausgabeprozess, der aus vielerlei Gründen einen weitaus längeren Zeitraum als ursprünglich geplant in Anspruch genommen hat. Wir sind überaus glücklich, dass das Handbuch nun im Jahr des 90. Geburtstags von Walter Kempowski fertig gestellt werden konnte. Der Band ist unserem viel zu früh verstorbenen Freund und Kollegen Prof. Dr. Jörg Riecke (1960-2019) gewidmet, der die Kempowski-Gesellschaft fünf Jahre lang führte und sich nicht nur in dieser Zeit vehement für das Handbuch eingesetzt hat. Wir werden ihn nicht vergessen. Ypsilanti, Mainz, Gießen, im März 2019

1.2 Biographie Dirk Hempel 1  Kindheit und Jugend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2  Verhaftung und Gefängnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3  Entlassung und Studium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4  Arbeit als Schriftsteller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5  Das Echolot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6  Rezeption und Auszeichnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

5 5 6 6 8 8

Walter Kempowski stammte aus einer Rostocker Reedersfamilie, die während der nationalsozialistischen Herrschaft Distanz wahrte. In der Nachkriegszeit verurteilte ihn ein sowjetisches Militärtribunal zu 25 Jahren Haft, von denen

1.2 Biographie5

er acht Jahre im Zuchthaus Bautzen verbrachte. In der Bundesrepublik gelang ihm 1969 der Durchbruch als Schriftsteller. Bis zu seinem Tod entfaltete er ein umfangreiches, vielseitiges Werk, zu dem Romane, Tagebücher, Hörspiele und Collagen gehören. 1  Kindheit und Jugend Walter Kempowski wurde am 29. April 1929 in Rostock geboren (vgl. Hempel 2004, 23). Sein Vater war der Schiffsmakler und Reeder Karl Georg Kempowski, seine Mutter Margarethe stammte aus der Hamburger Kaufmannsfamilie Collasius. Nach der Heirat 1920 waren bereits die Geschwister Ursula (Ulla) (1922–2002) und Robert (1923–2011) geboren worden. In der ausgehenden Weltwirtschaftskrise lebte die Familie in bescheidenen Verhältnissen. 1931 musste ein Untermieter aufgenommen werden, der spätere Schriftsteller und Journalist Walter Görlitz. Auch wenn die Maklerfirma Otto Wiggers, bei der Karl Georg Kempowski Teilhaber war, nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten Anteil am beginnenden Aufschwung hatte, waren sich Margarethe und Karl Georg Kempowski aus christlichen und konservativen Motiven heraus in der Ablehnung der Nationalsozialisten einig. Diese Haltung übernahmen später auch ihre Kinder. Kempowski besuchte zwischen 1935 und 1939 die St. Georg Schule für Knaben und wechselte dann auf das Realgymnasium. Die Zerstörung Rostocks im Luftkrieg erlebte er 1942 als einschneidende Zäsur. Weil er den Dienst in der Hitlerjugend ablehnte und sich stattdessen wie sein Bruder an westlicher Jugendkultur orientierte (Jazz, Kino, Kaffeehaus), wurde er im September 1944 einer Strafeinheit zugewiesen. Am 17. Februar 1945 erhielt er die Einberufung als Luftwaffenkurier und reiste in den folgenden Wochen durch das zerstörte Land. Am 26. April 1945 fiel sein Vater, der seit 1944 als Hauptmann an der Ostfront kämpfte, auf der Frischen Nehrung. Unter sowjetischer Überwachung konnte die Firma unter der Leitung von Robert Kempowski nach Kriegsende zunächst weiterarbeiten. Walter Kempowski musste im Frühjahr 1946 aus politischen Gründen die Schule verlassen, die er nach Kriegsende wieder besucht hatte. Er arbeitete für kurze Zeit als Laufbursche eines Reformhauses und für einen Steuerberater. Im Herbst 1946 begann er eine kaufmännische Lehre in einer Rostocker Druckerei. Im folgenden Jahr beschloss die Familie, die sowjetische Besatzungszone zu verlassen, in der sie keine private und berufliche Zukunft sah. Walter Kempowski reiste im November zunächst zu Verwandten nach Hamburg; eine Lehrstelle im dortigen Rowohlt Verlag konnte er wegen einer fehlenden Zugangsgenehmigung nicht antreten. 2  Verhaftung und Gefängnis Mitte Dezember 1947 fuhr Walter Kempowski nach Wiesbaden und arbeitete als Verkäufer in einem Lebensmittellager der US-Armee, während Margarethe und Robert die Übersiedlung vorbereiteten. Am 8. März 1948 wurde Kem-

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1 Einleitung

powski bei einem Besuch in Rostock verhaftet und am 20. August zusammen mit seinem Bruder von einem sowjetischen Militärtribunal wegen angeblicher Spionage zu 25  Jahren Arbeitslager verurteilt, ihre Mutter zu zehn Jahren Strafarbeitslager im Frauengefängnis Hoheneck wegen „Nichtanzeigens von Agenten des ausländischen Nachrichtendienstes“. Die Brüder Kempowski wurden in das Zuchthaus Bautzen verlegt, wo sie die meiste Zeit auf einem Saal mit 400 anderen Gefangenen verbrachten. Seit März 1953 arbeitete Kempowski als Schreiber in der Sattlerei des Zuchthauses, im November desselben Jahres erhielt er nach einer Denunziation mehrere Wochen Einzelhaft. 1954 übernahm er die Leitung des Gefängnischors. Kempowski hat das Zuchthaus später als „meine Universität“ (Hempel 2007a, 74) bezeichnet. Diese Jahre waren das prägende Erlebnis seines Lebens, das ihn bis zu seinem Tod auch in seinen Werken immer wieder beschäftigte. 3  Entlassung und Studium Am 8. März 1956, wegen einer Amnestie vorzeitig entlassen, ging Kempowski nach Hamburg zu seiner Mutter, die zwei Jahre zuvor freigekommen war. Bereits am folgenden Tag begann er mit Notizen über die Haftzeit, außerdem mit regelmäßigen Tagebuchaufzeichnungen. Im April 1956 zog er nach Göttingen, wo er einen Abiturkurs für Spätestheimkehrer besuchte und im folgenden Jahr das Studium an der Pädagogischen Hochschule aufnahm. In diesen Jahren der ‚nachgeholten Bildung‘ begann er mit ausgedehnten Recherchen für die umfangreiche Familiengeschichte der Collasius, Hälssen, Kempowski, Nölting (Kempowski 1962), sammelte Dokumente, Aufzeichnungen sowie Fotographien und führte Zeitzeugenbefragungen durch. 1960 legte er das Erste Staatsexamen ab und heiratete die Lehrerin und Pfarrerstochter Hildegard Janssen. Gemeinsam traten sie ihre erste Stelle an der Dorfschule in Breddorf bei Zeven an. 1961 kam der Sohn Karl Friedrich, 1962 die Tochter Renate zur Welt. 1965 erfolgte der Umzug ins Lehrerhaus in Nartum. 4  Arbeit als Schriftsteller In diesen Jahren arbeitete Kempowski neben seiner Tätigkeit als Lehrer an verschiedenen Romanprojekten, u.  a. an dem von Franz Kafka inspirierten Buch Margot. 1962 lernte er durch Vermittlung des ehemaligen Bautzener Zuchthauspfarrers Karl Heinz Mund den Cheflektor des Rowohlt Verlags, Fritz J. Raddatz, kennen. Die sich anschließende produktive Zusammenarbeit dauerte bis zum Erscheinen von Kempowskis erstem Roman, dem Haftbericht Im Block, im Frühjahr 1969. Schon im Vorjahr hatte er die Arbeit an einem Roman über die Geschichte seiner Familie in der Zeit des Nationalsozialismus begonnen, der 1971 unter dem Titel Tadellöser & Wolff beim Hanser Verlag in München erschien. Im selben Jahr erhielt er den Förderpreis des Lessingpreises der Stadt Hamburg, nach dem Erscheinen des Romans Uns geht’s ja noch gold (1972a), der Fortsetzung der Familiengeschichte, den Wilhelm-Raabe-Preis

1.2 Biographie7

der Stadt Braunschweig und den Förderpreis des Andreas-Gryphius-Preises. Kempowski arbeitete an Hörspielen und Kindergeschichten (z.  B. Haumiblau, 1986a) Bis 1983 entstand als Hauptwerk die Deutsche Chronik, die die Geschichte des deutschen Bürgertums zwischen 1885 und 1960 am Beispiel von Kempowskis eigener Familie erzählt. Die Chronik besteht aus den sechs Romanen Tadellöser & Wolff, Uns geht’s ja noch gold, Ein Kapitel für sich, Aus großer Zeit, Schöne Aussicht und Herzlich willkommen sowie den drei Befragungsbänden Haben Sie Hitler gesehen?, Haben Sie davon gewußt? und Schule. Immer so durchgemogelt. Die Verfilmungen der Bücher Tadellöser & Wolff, Uns geht’s ja noch gold und Ein Kapitel für sich durch Eberhard Fechner für das Zweite Deutsche Fernsehen (1975/1979) steigerten Kempowskis Erfolg als Autor, brachten ihm aber auch den ungerechtfertigten Vorwurf der Verharmlosung von Vergangenheit ein. Seit 1975 unterrichtete Kempowski an der Mittelpunktschule Zeven, nachdem die Dorfschule in Nartum infolge von Schulreformen aufgelöst worden war. Zahlreiche Lesungen führten ihn neben dieser Tätigkeit an Universitäten und Goethe-Institute in den USA. 1977 war er Gastdozent an der Universität Essen und erhielt den Karl-Sczuka-Preis für das Hörspiel Beethovens Fünfte (1976c). Im November 1977 wechselte er zum neugegründeten Albrecht Knaus Verlag. Im Jahr 1980 wurde er als Lehrer an die Universität Oldenburg abgeordnet, wo er bis zu seiner Pensionierung 1991 Seminarveranstaltungen über Fragen der Literaturproduktion und der Pädagogik abhielt. Im April 1980 unternahm er eine ausgedehnte Lesereise durch die USA und übernahm einen Lehrauftrag an der Universität von San Diego. Im selben Jahr gründete er das „Archiv für unpublizierte Autobiographien“, in dem er fortan Tagebücher, Briefe, Lebenserinnerungen, Fotographien und andere Ego-Dokumente sammelte. Bis zum Jahr 2005 wuchs das Archiv auf 8000 Positionen und rund 700 000 Fotographien an. Seit 1981 führte Kempowski in seinem Mitte der 1970er Jahre nach eigenen Plänen gebauten Haus Kreienhoop in Nartum regelmäßig Literaturseminare durch, die sich an interessierte Laien wandten. In Zusammenarbeit mit Radio Bremen veranstaltete er 1984 erstmals „Literaturtage im Kreienhoop“, die dem literarischen Nachwuchs ein Forum boten. Auch in den folgenden Jahren erhielt er für seine Werke Auszeichnungen, etwa 1981 den Hörspielpreis der Kriegsblinden für das Hörspiel Moin Vaddr läbt, die Fritz-Reuter-Plakette der Landsmannschaft Mecklenburg im Jahr 1982 und 1983 den Johannes-Gillhoff-Preis des Kulturkreises Mecklenburg. Im Wintersemester 1983/84 unterrichtet er als Gastdozent an der Universität Hamburg, im Oktober 1986 an der Brigham-YoungUniversity in Provo/Utah, 1987 und 1988 an der deutschen Sommerschule in Portland/USA und im Juni 1988 an der Universität von Taos/USA. Mit dem Bericht Meine sieben Kinder und der Lauf der Welt von Irene Zacharias begann Kempowski 1986 die Herausgabe von Lebenserinnerungen aus seinem „Archiv für unpublizierte Autobiographien“. In den folgenden Jahren setzte er die Reihe fort mit den Büchern von Helmut Fuchs, Wer spricht von Siegen. Der Bericht über unfreiwillige Jahre in Rußland (1987), und Ray Matheny, Die

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Feuerreiter. Gefangen in fliegenden Festungen (1988). 1987 reiste er zweimal in das ehemalige West- und Ostpreußen, seine dort gemachten Erfahrungen verarbeitete er in dem Roman Mark und Bein, der 1992 erschien. Den Roman Hundstage über sein alter ego Alexander Sowtschick, angeregt durch eigene Erlebnisse im Sommer 1983, veröffentlichte er 1988, Lesungen in 90 Städten folgten. Zwei Jahre später schloss er mit Sirius. Eine Art Tagebuch (1990a) seine Aufzeichnungen des Jahres 1983 ab, die er literarisch zu einer Art Autobiographie gestaltet hatte. 5  Das Echolot Während seiner Gastdozentur an der Universität Provo, wo eine rechnergestützte Wortkonkordanz der Deutschen Chronik erarbeitet wurde, hatte Kempowski die Arbeit mit dem Computer kennen und schätzen gelernt. 1987 führte er in Nartum erste Versuche durch, Tagebuchtexte aus dem Januar 1945 zu collagieren. Bis 1993 arbeitete er dann am ersten Teil des monumentalen kollektiven Tagebuchs das Echolot, das die Monate Januar und Februar 1943 Tag für Tag aus der Sicht der Täter, Opfer, Mitläufer und Beobachter erzählt, die Schlacht von Stalingrad, das Ende der Weißen Rose und die Konferenz von Casablanca schildert. Neben der Deutschen Chronik schuf Kempowski nun sein zweites Hauptwerk, das bis 2005 um drei weitere Teile erweitert wurde: das Echolot. Fuga furiosa über den Januar und Februar 1945 (Kempowski 1999d), das Echolot. Barbarossa ’41 (2002) und das Echolot. Abgesang ’45 (2005b). Schon der erste Teil leitete 1993 einen Wandel in der Wahrnehmung des Autors Kempowski ein, der bis dahin vom kulturellen Mainstream der alten Bundesrepublik wenig beachtet worden war. Von einer der „größten Leistungen der Literatur“ (Schirrmacher 1993) im 20. Jahrhundert war die Rede. Im Jahr 1994 erhielt er den Konrad-Adenauer-Preis und wurde zum Ehrenbürger der Hansestadt Rostock ernannt, wo er ein weiteres, biographisch-museal ausgerichtetes Archiv gründete. Neben der fortgesetzten Arbeit an Echolot trieb Kempowski weitere Projekte voran, wie das neunzehnstündige Fernsehprotokoll Bloomsday ’97 (1997a), den Lehrer- und Dorfroman Heile Welt (1998), die Tagebücher Alkor. Tagebuch 1989 (2001b) und Hamit. Tagebuch 1990 (2006b), den Amerika-Roman Letzte Grüße (2003) und Alles umsonst (2006a), einen Roman über die Flucht aus Ostpreußen im Winter 1945. Das Projekt Ortslinien, ein ins Gigantische geplantes, kollektives, multimediales Tagebuch, bearbeitete er zwar über die Jahre, konnte es aber nicht vollenden. 6  Rezeption und Auszeichnungen Die Literaturkritik reagierte nun weitgehend zustimmend auf die veröffentlichten Werke und Kempowski blieb ein geschätzter Gesprächspartner und Essayist in den Medien. Seine Arbeit erhielt auch verstärkt Auszeichnungen: Uwe-Johnson-Preis (1996), Heimito-von-Doderer-Preis (2000), NicolasBorn-Preis (2002), Dedalus-Preis (2002), Ehrendoktorwürde der Universität

1.3  Arbeitsweisen I. Artefakte aus Erinnerungen: Das Echolot und Culpa9

Rostock (2002), Honorarprofessur der Universität Rostock (2003), HermannSinsheimer-Preis (2003), Ehrendoktorwürde des Juniata College, Huntingdon/ Pennsylvania (2004), Hans-Erich-Nossack-Preis (2005), Thomas-Mann-Preis (2005), Ehrenpreis des Bayerischen Ministerpräsidenten beim Internationalen Buchpreis Corine (2005), Großes Verdienstkreuz mit Stern des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland (2006), Hoffmann-von-FallerslebenPreis (2006), Kulturpreis des Landes Mecklenburg-Vorpommern (2006), Ehrenzeichen in Gold des Landkreises Rotenburg/Wümme (2006) und StahlLiteraturpreis 2006/2007 der Stahlstiftung Eisenhüttenstadt. Kempowskis 75. Geburtstag wurde im April 2004 in Rostock mit großen Feierlichkeiten begangen. Bundespräsident Johannes Rau stattete dem Kempowski-Archiv in Nartum einen offiziellen Besuch ab. Die Abschlussfeier anlässlich der Vollendung des Echolot fand 2005 in Berlin in Anwesenheit von Bundespräsident Horst Köhler statt. Um den künftigen Nachlass und den Bestand des Hauses Kreienhoop in Nartum zu sichern, gründete Kempowski im selben Jahr die Kempowski Stiftung Haus Kreienhoop. Zwei Jahre später eröffnete Bundespräsident Horst Köhler die Ausstellung „Kempowskis Lebensläufe“ in der Akademie der Künste in Berlin. Wegen seiner fortschreitenden Krebserkrankung konnte Kempowski an der Eröffnung nicht mehr teilnehmen. Er starb am 5. Oktober 2007 in Rotenburg/Wümme und wurde drei Tage später in Nartum beerdigt. Der Knaus Verlag veröffentlichte in den folgenden Jahren posthum Somnia – Tagebuch 1991 (2008a), den Bautzen-Gedichtband Langmut (2009a)‚Wenn das man gut geht‘. Aufzeichnungen und Briefe 1956–1970 (2012a) und Plankton (2014). Kempowskis Nachlass befindet sich heute im Archiv der Akademie der Künste in Berlin. In Rostock zeigt das Kempowski-Archiv vorwiegend familienbiographische Musealien. In Nartum betreibt die Stiftung Haus Kreien­hoop Teile des Wohnhauses als Museum und Ort für Kulturveranstaltungen.

1.3 Arbeitsweisen I. Artefakte aus Erinnerungen: Das Echolot und Culpa Simone Neteler „In den Sand, der aus Millionen Körnchen besteht, sind Zeichen geritzt. Die See wäscht sie fort.“ (Kempowski 2005a, 320)

Ja, es stimmt. Mehr als 20 Jahre lang bin ich die enge Mitarbeiterin von Walter Kempowski gewesen. Und bis heute werde ich nach meinen Erlebnissen in der Dichterwerkstatt gefragt. Menschen, die zum ersten Mal hören, dass ich so lange die Mitarbeiterin eines Schriftstellers gewesen bin, zeigen sich meistens

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überrascht und fragen: ‚Mitarbeiterin eines Schriftstellers? Wie wird man das? Gibt es da eine Ausbildung?‘ Andere offenbaren gleich Vorkenntnisse über den Autor: ‚Mitarbeiterin von Walter Kempowski? Der soll ja ziemlich schwierig gewesen sein…‘ Der Wissenschaftler dagegen möchte Details, er sucht das Gespräch, um Klarheit zu gewinnen, um das Cross-over von Theorie und Praxis voranzutreiben. Nur der typische Kempowski-Leser weiß in der Regel längst Bescheid. Für ihn bin ich eine Freundin, eine, auf die er beim Lesen im kempowskischen Tagebuch trifft und die quasi zur Familie gehört. Je nach Position und Kenntnis sind die Interessierten auf der Suche nach Wahrheiten, wissenschaftlichen Erkenntnissen, Erklärungen, kleinen Geheimnissen oder Nähkästchengeschichten. Entsprechend verschieden sind die Fragen, die mir von Zeit zu Zeit gestellt werden. Ich selbst finde mich schnell in einem recht unübersichtlichen Erinnerungslabyrinth wieder, wenn ich über meine Jahre mit Walter Kempowski nachdenke. Da sind die unzählig oft erzählten Geschichten, die mittlerweile zu Anekdoten geworden sind. Manches Detail ist dabei der Pointe zum Opfer gefallen, manche Ausschmückung im Lauf der Jahre hinzugekommen, weil sich die Geschichten so einfach besser erzählen lassen. Jeder Story aber wohnt ein sehnliches ‚Weißt du noch…‘ inne – und damit natürlich auch ein wahrer Kern. Neben diesem Fundus an Geschichten sind da außerdem Walter Kempowskis Tagebücher, in denen – für eine breite Leserschaft akribisch dokumentiert und aufbereitet – nachzulesen ist, was sich damals zugetragen hat, im Dichterhaus in Nartum. Es ist wie mit allen Tagebuchaufzeichnungen: Im Moment des Notierens halten sie fest, was geschieht, im Rückblick jedoch sind Gehabtes und Erlebtes durch sie als Erinnerung konserviert. Dies gilt auch für meine eigenen Tagebuchaufzeichnungen, die sich allerdings von denen des Schriftstellers in mindestens zwei wesentlichen Punkten unterscheiden: Zum einen liegen sie keinesfalls so lückenlos vor wie bei Walter Kempowski, zum anderen notierte ich nicht mit Blick auf ein interessiertes Lesepublikum, sondern – wie unzählige andere Tagebuchschreiber auch – nur für mich selbst, quasi als eine Art Gedächtnisstütze. In eben diesem Gedächtnis geblieben sind dann auch noch Erinnerungen von eher amorpher Struktur. Damit meine ich all die anderen Augenblicke! Die, die man nicht notiert hat, die aber im Kopf geblieben sind: solche, an die man häufig denkt, und andere, die erst durch einen Zufallsmoment wieder einmal in Erinnerung gerufen werden. Angesichts dieser vielschichtigen Erinnerungssedimente ist es gar nicht so einfach, wahrheitsgetreu zu berichten – selbst wenn die unumstößliche Tatsache, dass man dabei gewesen ist, etwas anderes suggerieren könnte. Dies gilt umso mehr, wenn es sich um die Entstehung eines Jahrhundertwerks, um ein Projekt wie das Echolot handelt. Eine unfassbar gigantische Idee  – und doch eine, die naheliegender nicht sein könnte: Weltgeschichte mit den Stimmen derer erzählen, die sie erlebt, erlitten, geschrieben haben. Eine Collage von Tagebucheintragungen, Briefen, Erinnerungsbildern, offiziellen Akten, Notaten! Kurz: ein kollektives Tagebuch, wie es die Unterzeile des Werks schlicht und doch so treffend benennt. Die Fakten sind heute all-

1.3  Arbeitsweisen I. Artefakte aus Erinnerungen: Das Echolot und Culpa11

seits bekannt und lesen sich wie aneinandergereihte Superlative: zehn Bände Echolot – mehr als 7000 Seiten –, unzählige Zeitzeugen, die zentrale Phasen des Zweiten Weltkriegs day by day dokumentieren: den Januar und Februar 1943 (erschienen 1993), Teile des Januar/Februar 1945 (genannt Fuga furiosa, erschienen 1999), die zweite Hälfte des Jahres 1941 (genannt Barbarossa ’41, erschienen 2002), die letzten Kriegstage 1945 (genannt Abgesang ’45, erschienen 2005). Zu den Fakten gehört auch die Begeisterung zahlreicher Vertreter der Literaturkritik, die das Werk als „eines der letzten großen literarischen Wagnisse dieses Jahrhunderts“ (Hage 1992, 156), als eine „der größten Leistungen der Literatur unseres Jahrhunderts“ (Schirrmacher 1993, o.  S.) oder als „eines der größten Leseabenteuer unserer Zeit“ (Scheck 2005) beschrieben haben. Zu den Fakten gehört aber noch eine Tatsache: mehr als 15 Jahre harte Arbeit von einem Autor und seinem Mitarbeiterteam, die sich nicht geschont und die (fast) nichts gescheut haben. Das Buch Culpa. Notizen zum „Echolot“ macht das – zumindest für die ersten vier erschienenen Bände zum Januar und Februar 1943 (vgl. Kem­ pows­ki 1993a) – transparent. Um dem Leser zu offenbaren, wie das Echolot entstanden ist, werden hier drei Erinnerungsquellen angezapft: Auszüge der Tagebücher von Walter Kempowski, die sich mit der Entstehung des Echolot beschäftigen, dazu der Erinnerungsbericht des Lektors Karl Heinz Bittel und Eintragungen aus dem Tagebuch der Mitarbeiterin – und damit meine eigenen Aufzeichnungen. Dass diese überhaupt in dem Buch erschienen sind, verdankt sich einer Tatsache, die Walter Kempowski in Culpa beschreibt. So ist unter dem 11. Februar 1992 nachzulesen, wie die Mitarbeiterin seinerzeit offenbar in Sorge darüber gewesen ist, der Autor könne in ihrem Tagebuch gelesen haben. Eine Sorge, die Bände spricht. Denn Sorgen muss man sich in so einem Fall ja vor allem dann machen, wenn man nicht so Schmeichelhaftes über den anderen notiert hat. Walter Kempowski kommentiert diese Sorge in seinen Aufzeichnungen schlicht: „Was sie da [in ihrem Tagebuch] wohl immer einträgt? Wahrscheinlich Lügengeschichten“ (Kempowski 2005a, 199). Doch der „Herr der Tagebücher“ (Hage 1992, 156), der zeit seines Lebens immer wieder andere und sich selbst befragt hat und dabei oftmals von dem Gespür für das Kuriose geleitet wurde, hat wohl geahnt, dass neben seinen eigenen Aufzeichnungen die vermeintlichen ‚Lügengeschichten‘ seiner Mitarbeiterin als ‚Seitenhiebe‘ eine unkonventionelle Perspektive auf die EcholotEntstehung eröffnen könnten. Der Erinnerungsbericht von Karl Heinz Bittel – dass der Lektor keine Tagebuchaufzeichnungen vorzuweisen hatte, wurde seinerzeit vom Autor mit einem Kopfschütteln quittiert – gibt dann die dritte Perspektive, nämlich die des Verlags in München preis. Culpa vereinigt also drei Stimmen, die von der Entstehung eines großen Werks erzählen und von dem, was über die allseits bekannten Fakten hinaus geschehen ist. In diesem dreistimmigen Kanon entsteht, einer Legierung gleich, vermeintlich Wahrheit. Abgebildete Erinnerung als Realitätenaggregat. Mit Culpa wird die Tür der Dichterwerkstatt aufgestoßen, das Innere nach außen getragen – das Buch gibt den Blick frei: Man erlebt den Autor und seine

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engsten Mitstreiter, ihre Arbeitseuphorie und die Zweifel an ihrem Tun, ihr Hadern mit sich selbst und mit den anderen, ihren Alltag neben der Arbeit, schließlich auch ihre Diskrepanzen miteinander. Dies geschieht nicht aus dem Blickwinkel eines allwissenden Erzählers, der alles sowieso schon vorher gewusst hat, sondern aus der Perspektive der real Beteiligten, die sich selbst und ihre Gegenüber in ihren Aufzeichnungen spiegeln. Culpa ist kein fiktiver Entwurf über das Entstehen eines Mammutwerks. Es ist auch kein Sachbuch, nicht im Nachhinein – also nach Erscheinen des Echolot – recherchiert und mit allen nachträglichen Erkenntnissen zusammengezimmert; auch wenn der Erinnerungsbericht von Karl Heinz Bittel im Rückblick rekonstruiert worden ist und eine Auswahl der Tagebuchaufzeichnungen getroffen werden musste. Nein, Culpa dokumentiert über weite Strecken den Arbeitsprozess im Zeitraffer scheinbar live, wenn auch zeitversetzt – als Aufzeichnung, will man ein Wort aus dem Fernsehjargon doppeldeutig bemühen. Der Leser verfolgt gleich auf den ersten Seiten von Culpa unmittelbar mit, wie Walter Kempowski am 1. Januar 1980 das „Archiv für unpublizierte Autobiographien“ in seinem Haus in Nartum gründet. Knapp zwei Jahre hat er die Idee mit sich herumgetragen. Dann ist es endlich so weit. Es ist also so wie fast immer bei Walter Kempowski: Eine Idee, die geboren ist, wird auch umgesetzt. Dabei gilt diese Maxime auch für Einfälle, die nur schwer zu verwirklichen sind. Die Idee eines Biographienarchivs im eigenen Haus gehört unbestritten dazu. Doch Walter Kempowski lässt sich nicht beirren und beginnt, per Zeitungsannonce zu forschen: „Walter Kempowski sucht Fotos, Tagebücher, Biografien…“. Und tatsächlich – die Menschen nehmen das Angebot an. Schon bald schicken sie eigene biographische Lebensberichte, die Tagebücher der Großmutter, Kalendernotizen des Vaters, Aufzeichnungen der Mutter, Liebesbriefe des entfernt verwandten und gefallenen Soldaten, das Poesiealbum der verstorbenen Nachbarin und immer wieder Fotoalben und Fotos. Durch einen ihm eigenen Blick für das Große hält sich Walter Kempowski nicht mit den Problemen auf, die solch eine Archivgründung mit sich bringen könnte, sondern fängt einfach mit dem Sammeln an. Auf diese Weise werden Realitäten geschaffen, das „Archiv für unpublizierte Autobiographien“ entwickelt sich binnen weniger Jahre zu einem einzigartigen Bestand in der Archivlandschaft der Bundesrepublik Deutschland. Heute umfasst es mehr als 8000 Positionen und Hunderttausende von Fotos, dazu mehr als 1000 Fotoalben. In der Akademie der Künste gehört das Biographienarchiv als Teil des Walter-Kempowski-Archivs seit seiner Umsiedlung von Nartum nach Berlin im Jahr 2005 zu den meistnachgefragten Beständen. Im Nachhinein mutet die Archivgründung an wie der erste (un-)bewusste Schritt in Richtung Echolot. Auch wenn es noch ein weiter Weg sein wird von der Archivgründung bis zu der ersten namentlichen Erwähnung des Großprojekts Echolot am 9. Oktober 1988 im kempowskischen Tagebuch, so ist doch eins gewiss: Ohne die vielschichtigen Archivbestände hätte das Vorhaben eines kollektiven Tagebuchs des Zweiten Weltkriegs nicht realisiert werden können. Sicherlich, es gibt die Stimmen der Prominenten und die bereits publizierten

1.3  Arbeitsweisen I. Artefakte aus Erinnerungen: Das Echolot und Culpa13

Briefanthologien und Biographien, deren Verfasserinnen und Verfasser auch Eingang finden werden in die Weiten des Echolot. Aber es sind die vielen Schicksale aus dem Kempowski-Archiv, die den breiten festen Grund liefern, auf dem das Projekt Echolot seinen sicheren Stand erlangt. Dies zeigen nicht zuletzt die unzähligen Tagebucheintragungen Walter Kempowskis zu den Archivfunden, die auch in Culpa zitiert werden, und die in ihnen mitschwingende Faszination über das Entdeckte: Heute viel eingegeben. Schreckliche Sachen über Stalingrad. – Die Briefe der Frau Kreuder erweisen sich als wahre Goldgrube. Hildegard bereitet sie vor und diktiert sie mir dann. Die Autorin hat genau gewußt, was sie mir da vermachte: Sie füllen die Lücken aus, die die Großen mit ihren Trompetenstößen lassen. Der Bildungsbetrieb in Erlangen mitten im Krieg – wunderbar. Ihr blühender Stil. (Kempowski 2005a, 147)

So notiert es der Autor am 22. Oktober 1989. Kurze Zeit später macht Walter Kempowski mir ein Angebot, welches mein Leben für immer verändern sollte. Am 5. Dezember 1989 heißt es im Tagebuch: „Habe beschlossen, Simone ab 1. Januar fest einzustellen im Hinblick auf das Großprojekt“ (Kempowski 2001b, 555). Damals war ich 23 Jahre alt, Studentin in Münster und mit Walter Kempowski seit fünf Jahren gut bekannt. Ich wusste bereits viel über das Echolot, hatte schon mehrfach Arbeiten am Manus­kript und auch im Kempowski-Archiv übernommen. Und doch konnte ich nicht im Geringsten ahnen, was mich in den nächsten Jahren erwarten sollte! Ich nahm das Angebot an und notierte Anfang des Jahres 1990, wie in Culpa zu lesen: „Jetzt ist meine Festanstellung bei Walter schon drei Tage alt – und ich fühle mich immer noch wohl“ (Kempowski 2005a, 149). Dies ist übrigens ein Satz, den der Autor von Zeit zu Zeit gern und immer lachend zitiert hat. Schon bald hat auch mich das Echolot-Fieber gepackt. So heißt es im Mai 1990 in meinem Tagebuch: „Arbeite mich gegen Nachmittag meistens in einen Rausch: Briefe, Texte, Telefon“ (Kempowski 2005a, 153). Und ebenfalls euphorisch Anfang Juni 1990: „‚Echolot‘: Wir füllen mit der Gießkanne ein Schwimmbecken, der Boden ist mehr als bedeckt. Walter nennt das Spardosen-Effekt, wenn ich ihm sage, daß ich gerne Texte eingebe“ (Kempowski 2005a, 153). Zu Anfang ist das Projekt Echolot noch durchgehend für den Zeitraum von 1943 bis 1948 konzipiert. Erst allmählich weicht diese Idee einer neuen Struktur, die die ersten vier Bände auf den Januar und Februar 1943 beschränkt und sich auch für den weiteren Zeitraum des Zweiten Weltkriegs an historisch bedeutsamen Schwerpunkten orientiert. Mit der Beschränkung auf die ersten zwei Monate des Jahres 1943 wird die Recherche fokussierter und zielorientierter. Wie schon erwähnt, sind die zahlreichen Texte aus dem Kemp­ows­ki-Archiv von Beginn an eine ‚sichere Bank‘, doch muss der gesamte Archivbestand nun noch einmal systematisch auf relevantes Material aus den ersten zwei Monaten des Jahres 1943 durchsucht werden. Zudem werden Kontakte zu Bibliotheken und anderen Archiven geknüpft und deren Bestände auf Verwertbarkeit für das Projekt geprüft. So schreibt Walter Kempowski am 20. September 1989:

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Ich dachte immer, daß es viel mehr Tagebuchveröffentlichungen gäbe. Das ist doch eigentlich sehr sonderbar, man sieht kaum etwas. Bücher, wie das von der Kardorff [Ursula von Kardorff: Berliner Aufzeichnungen 1942 bis 1945], sind Mangelware. Nun müssen wir wohl in die Bibliotheken steigen, eine unangenehme Sache. Obwohl ich doch nach Hannover gute Beziehungen habe, bin ich voll Hemmungen. Auch schlechte Erfahrungen mit Bibliotheken sind zu verbuchen. Lange Bücherlisten eingereicht, und nie wieder was davon gehört. München! (Kempowski 2005a, 144; vgl. auch Kardorff 1962)

Letztlich wird die Kontaktaufnahme mit Bibliotheken und Archiven mehr und mehr meine Aufgabe. Ich besuche beispielsweise im März 1991 das AdenauerHaus in Bonn (Ausbeute: ein einziger Brief!) und forsche im Mai 1991 im Deutschen Literaturarchiv Marbach, eine Unternehmung, die Walter Kempowski am 10. Mai 1991 mit den Worten kommentiert: „Die erste Ausbeute ist aber doch sehr beachtlich“ (Kempowski 2005a, 169). Im Juni 1991 bin ich in Berlin, im Dezember 1991 in Hamburg auf Recherchetour und erledige darüber hinaus in Nartum regelmäßig die Bestellungen bei den Bibliotheken, so zum Beispiel im März 1992. In meinem Tagebuch heißt es: Heute morgen bestellte ich weitere Literatur für das ‚Echolot‘ aus der Landesbibliothek Hannover. Die Bestellkarten müssen auf der Schreibmaschine (!) ausgefüllt werden: Umständlich! Aber ‚mit Hand‘ nehmen sie nichts mehr an, was ich als Schikane werte – und ihnen damit wahrscheinlich unrecht tue. Sie haben vermutlich nur beschlossen, keine Extrawürste mehr zu braten – für nichts und für niemanden. (Kempowski 2005a, 202)

Durch die vom damaligen Direktor des Deutschen Historischen Museums, Christoph Stölzl, im Juli 1989 angeregte Entscheidung, auch Prominenz im Echolot aufzunehmen, muss nun auch dieser Bereich seriös und gewissenhaft recherchiert werden. Übrigens ist dies eine Entscheidung, von der der Lektor Karl Heinz Bittel nicht begeistert ist. In seinem Erinnerungsbeitrag schreibt er: Ich war über diese Entwicklung nicht besonders erfreut. Immer hatte ich das Projekt im Zusammenhang einer ‚Geschichte von unten‘ gesehen oder der Oral History, auch wenn es hier nicht um mündlich tradierte, sondern geschriebene Quellen ging, jedenfalls in dem Sinn, daß vor allem die Verschollenen und Namenlosen zu Wort kommen sollten. Außerdem war klar, daß dadurch der Umfang förmlich explodieren würde und auf den Verlag erhebliche Kosten für die Abdruckrechte der prominenten Autoren zukommen würden. (Kempowski 2005a, 367)

In Nartum kümmern uns Probleme dieser Art weniger. Wir haben vielmehr damit zu tun, neben den Archivfunden nun auch Beiträge von Thomas Mann, André Gide oder Gottfried Benn in das Manuskript einzufügen. Walter Kem­ pows­ki beschäftigt sich parallel dazu mit der Form: Innerhalb der einzelnen Tage werden die Texte geordnet, neu sortiert, gekürzt, manchmal auch ‚auf Halde gelegt‘ – und das in mehreren Durchgängen, immer wieder von vorn, jahrelang. Die Realisation des Echolot ist nur möglich mit einem Computer. Wir arbeiten in der Hauptsache mit einem Olivetti ETV 260. Ein italienisches Fabri-

1.3  Arbeitsweisen I. Artefakte aus Erinnerungen: Das Echolot und Culpa15

kat. Die Datenmenge, die mit jedem Tag weiter anwächst, lässt sich schnell nicht mehr auf dem Gerät, sondern nur noch auf Disketten speichern. Es gibt Disketten für das Manuskript – alle in mehrfacher Ausführung – und solche mit bereits eingegebenen Texten, die wiederum in das Manuskript integriert werden müssen. Terabyte-Festplatten, externe Speichermedien von der Größe einer Streichholzschachtel, CD-Laufwerke, DVD-Speicherung, Datenkomprimierung – all das ist mehr oder weniger noch Zukunftsmusik. Das Speichern auf Diskette funktioniert – aber leider nicht immer… Walter Kempowski notiert zum Beispiel am 18. Februar 1991: „Es war mit den Disketten einiges wrong. Man darf sie nicht so vollknallen“ (Kempowski 2005a, 162, Hervorhebung im Original). Hat sich eine Diskette verabschiedet, ist manchmal die Arbeit von Tagen dahin. Entsprechend gehen wir mit der Zeit dazu über, Sicherungskopien von Sicherungskopien der Sicherungskopien anzufertigen. Die Originale werden sorgfältig in einem Diskettenkästchen verwahrt. Zur weiteren Absicherung werden von den bearbeiteten Echolot-Tagen in regelmäßigen Abständen Ausdrucke gemacht. Die Arbeit ist erfüllend, aber auch mühsam. Hier eine meiner Tagebuchnotizen, stellvertretend für manch andere, aus dem Sommer 1990: „Heute anstrengender Tag bei Walter: Bis 16.30 Uhr am Computer, Texte verschoben, Baustein nach Baustein, und trotzdem nicht einmal eine halbe Diskette geschafft“ (Kempowski 2005a, 155). Der Autor experimentiert währenddessen mit den Ordnungsprinzipien für die einzelnen Echolot-Tage und damit für den Gesamttext. Am 10. September 1990 heißt es: „Vom ‚Echolot‘ den 1. Januar 1943 probeweise geordnet. Ich werde allerhand streichen und dann, so ähnlich wie im ‚Sirius‘, kommentierende Fotos dazusetzen, Karten, Wohnungseinrichtung, Gebrauchsgegenstände“ (Kempowski 2005a, 155). Sukzessive arbeiten wir uns durch das Manuskript; ist ein Echolot-Tag aus dem Jahr 1943 vom Autor geordnet, bekomme ich die korrigierte Fassung, um die Textumstellungen, Streichungen und Ergänzungen einzuarbeiten. Sind wir auf diese Weise beim 28. Februar 1943 angekommen, beginnt die Arbeit von vorn. Parallel dazu läuft der Archivbetrieb weiter: Eingegangene Einsendungen müssen beantwortet und archivarisch erschlossen werden. Neu entdeckte Texte für das Echolot werden in das Manuskript eingegeben. Zudem Lesereisen, Vorträge, weitere Buchprojekte – anfangs Sirius, später Mark und Bein, Alkor… – und nicht zu vergessen: der ganz normale Nicht-Echolot-Alltag mit Telefon, Handwerkern, vollem Postkorb und TV. Der Autor plant in alle Richtungen. Schon am 8. Februar 1989 ist in seinem Tagebuch lakonisch festgehalten: „Das ‚Echolot‘ wächst sich zu einem gigantischen Monstrum aus. Es hat nur Aussicht auf Erfolg, wenn es gestützt wird durch allerhand Nebenunternehmungen: Lesungen, Hörspiele, Vorabdrucke. Seine Wirkung wird in der Ausführlichkeit liegen“ (Kempowski 2005a, 129). Diese schon früh ausgegebene Marschroute wird weiterverfolgt. Im Sommer 1991 zum Beispiel plant Walter Kempowski anlässlich eines Besuchs in Rostock szenische Lesungen in Lübeck und seiner Heimatstadt: „Ich stelle

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mir das als Podiumslesung vor mit Musik und Lichtbildern, die mit den Texten kontrastieren“ (Kempowski 2005a, 177). Ich dagegen notiere etwa zur gleichen Zeit im Tagebuch: „Mein Frustpegel stieg heute am Tage bedrohlich. Walter rast – und ich rase mit. Wenn ich ihn nicht mögen würde, wäre das alles gar nicht möglich“ (Kempowski 2005a, 177). Leider kann ich heute den genauen Grund für meinen damalig ‚bedrohlich gestiegenen Frustpegel‘ nicht mehr benennen  – im Tagebuch ist tatsächlich nichts weiter dazu verzeichnet. Doch spätere Eintragungen in seinem wie in meinem Tagebuch machen deutlich, dass es um Walter Kempowskis Stimmung in den Herbstmonaten des Jahres 1991 nicht zum Besten bestellt ist: Wutausbrüche über Handwerker, Geschimpfe wegen einer vermeintlich schlecht geplanten Lesereise, „hektische Vorbereitungen“ (Kempowski 2005a, 187) für ein Literaturseminar im November 1991 und Ärger über Besuche, die einfach nur Zeit kosten… Es liegt eine Getriebenheit, Ungeduld, ja Atemlosigkeit in und auch zwischen den Zeilen. Dann kommt der 21. Dezember 1991: Walter Kempowski erleidet einen Schlaganfall. Er kommentiert am 25. Dezember 1991 noch im Krankenhaus: Überarbeitet war ich ja eigentlich nicht, ich hatte gerade einen schonenden Arbeitsrhythmus gefunden. […] Aber Tage vorher hatte ich eine unbegründete Wut. […] Es war immer eine ‚Not‘, Hilflosigkeit, auch Überdruck. In Wahrheit wohl die Angst vor den Folgearbeiten des ‚Echolot‘. Diese 3000 Seiten. Und dann irgendetwas übersehen. […] Simone besuchte mich […]. Ich sag: ‚Mach das und das zu Haus…‘ Sie: ‚Ja, lieber Walter, wir machen alles so weiter, wie du es gemacht hast.‘ Weiße Rose muß nun in den Vordergrund gerückt werden. (Kempowski 2005a, 192  f.)

Bei mir liest sich das so: War bei Walter im Krankenhaus. Er ist schwach und trotzdem: Seine Sorge gilt einzig dem ‚Echolot‘. Er impft mir genauestens ein, was zu tun ist in puncto ‚Echolot‘. […] Ein Schlaganfall! Ob er deshalb in letzter Zeit so wütete? – – In den Schreibtisch getreten vor Wut, überhaupt dieses Hochgehen wie ein Vulkan bei der kleinsten Kleinigkeit in den letzten Monaten. Das Zusammensein mit ihm fast immer ein unberechenbarer Höllentrip… Waren das Vorboten des Schlags? Die wir nicht richtig gedeutet haben? Hildegard sagt, sie frage sich dasselbe. (Kempowski 2005a, 193)

In den Anfangswochen des Jahres 1992 kommt es zu ersten deutlicheren Unstimmigkeiten zwischen Walter Kempowski und seiner Mitarbeiterin. Grund für die erheblichen Differenzen ist eine neue Vorgehensweise, mit der der Autor vermeintliche inhaltliche Lücken im Echolot-Manuskript zu schließen gedenkt. Er notiert am 24. Januar 1992: Das Zauberwort heißt Transposition, mit dem ich mir das ermögliche, nach dem ich so lange schon tastete: der eigentliche ‚künstlerische‘ Eingriff.

1.3  Arbeitsweisen I. Artefakte aus Erinnerungen: Das Echolot und Culpa17 Die Idee kam mir heute, als ich, lang erwartet, auf die Lapplandbriefe stieß: Sie sind zwar 1944 geschrieben, aber ich fand Varietébeschreibungen, die sich sehr gut für unser ‚Echolot‘ eigneten. Sie sind herauslösbar und einfügbar, obwohl ja um Monate später erst notiert. In Lappland sah es 1943 im Januar nicht anders aus als 1944 im Januar. […] Streng sind wir lange genug gewesen, nun können wir uns, da der Bau insgesamt ‚steht‘, ans qualitative Vertiefen machen. (Kempowski 2005a, 196, Hervorhebung im Original)

Dieses Vorgehen verstößt im Hinblick auf das Echolot gegen mein Verständnis von Authentizität. Ich notiere zum Vorgehen des Transponierens entsprechend: Ehrlich gesagt: Ich halte davon nicht viel. Es paßt nicht zu dem, was ich unter dem ‚Echolot‘ bisher verstanden habe. Vor allem sehe ich eine Gefahr: Daß wir unter dieser Prämisse wahrscheinlich nie fertig werden. – Wenn wir uns unabhängig vom Datum machen, fällt doch ein entscheidendes, begrenzendes Auswahlkriterium weg… Walter nahm mir meine Bedenken übel. (Kempowski 2005a, 197)

Einerseits sind meine Einwände arbeitstechnischer Natur, da ich befürchte, dass die Recherchen möglicherweise schnell ins Uferlose abdriften, wenn wir uns bei der Suche unabhängig vom Datum machen. Andererseits möchte ich im Hinblick auf tatsächlich noch fehlende Themen – wie Anfang des Jahres 1992 zugegebenermaßen ‚Lappland 1943‘ – lieber weitersuchen, um Dokumente aus der korrekten Zeit aufzutun. Einzig bei Kondolenzbriefen scheint mir die Transposition ein legitimes Mittel der Wahl zu sein. Im Laufe meiner Arbeit am Echolot habe ich bereits zu diesem Zeitpunkt unzählige solcher Beileidsbekundungen gelesen. Sie hängen inhaltlich nicht von einem Datum ab. Die Schreiben unterscheiden sich eher in puncto Ausführlichkeit, differieren im Hinblick auf erkennbare Gottesfürchtigkeit, (versteckte) Kriegskritik oder Führerglaube bzw. -zweifel. In diesen Fällen ist das Datum tatsächlich eher zweitrangig zu bewerten. Doch Walter Kempowski zeigt sich verstimmt, als ich ihm meine Einwände erläutere. Er schreibt am 28. Januar 1992: Ich mußte den Rest meiner Energien darauf verwenden, hier im Haus die Idee der Transposition zu verteidigen. Eine unerklärliche Bockigkeit läßt sie davor scheuen, mir hier zu folgen. Als ob ich je etwas anderes getan hätte als transponiert. Erst dadurch kommt es zu Reibungen, die dem Werk guttun. Es muß doch gelingen, das ‚Echolot‘ lesbar zu machen! (Kempowski 2005a, 197, Hervorhebung im Original)

Unsere beiden Positionen stehen unvereinbar nebeneinander. Der Autor lässt mich deutlich spüren, wie unzufrieden er mit meiner Haltung ist. Ich notiere: Zwischen Walter und mir schwelt es leise vor sich hin, aktuell wegen meiner ‚Wider­worte‘ bezüglich des Transponierens. Aber: Kann ich nicht auch mal anderer Meinung sein als er? Kritik heißt doch nicht, daß ich seine Person und seine Arbeit

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nicht schätze. Aber Walter ist verärgert, das spüre ich deutlich, er hat mir abends nicht mal gute Nacht gesagt. (Kempowski 2005a, 197)

Schließlich wird die Anzahl der in dieser Form zeitlich übertragenen Texte begrenzt – und die Stimmung entspannt sich. Am 10. Februar 1992 beginnen wir engagiert mit dem vierten Korrektur-Durchgang. Immer mehr kristallisiert sich bei der Arbeit heraus, welche Schreiberinnen und Schreiber man sympathisch findet und mit welchen man einfach nicht ‚warm‘ wird. Ich notiere Anfang März 1992: „Von Sympathien für manche Autoren will, von Antipathien kann ich mich nicht freimachen“ (Kempowski 2005a, 200). Auch Walter Kempowski kennt dieses Phänomen. Er schreibt am 25. März 1993: „Mit Hildegard habe ich öfter ‚Echolot‘-Gespräche, über die einzelnen Autoren. Sympathien und Antipathien“ (Kempowski 2005a, 297). Die Nähe zu den Einsendern ist häufig emotional belastend. Trotz der Arbeit, des Zeitdrucks, trotz der unzähligen Schicksale empfindet man mehr als Mitleid mit manchem Tagebuch- oder Briefschreiber. Es ist nicht nur das, was notiert worden ist. Es ist auch das Wissen darüber, wie alles ausgegangen ist – der Krieg, aber auch das Leben des Einzelnen, der dort schreibt oder über den geschrieben wird. So notiere ich beispielsweise Mitte April 1991: „Die Kü.-Briefe kopiert. Am Kopierer stehend geheult, weil das echte Liebesbriefe sind! All das überlebt  – und dann Jahre später mit dem Auto tödlich verunglückt“ (Kempowski 2005a, 167). Auch der Autor hat mit der Intensität der Schicksale zu kämpfen. Im Oktober 2005, bei der offiziellen Übergabe des Kempowski-Archivs an die Akademie der Künste in Berlin, wird Walter Kempowski davon sprechen, all diese Schicksale durch seine Seele ‚geschleust‘ zu haben. Im Tagebuch notiert er am 23.  Januar 1993: „Ich habe doch jeden Text, jeden einzelnen, ‚verinnerlicht‘, wie man heute so sagt“ (Kempowski 2005a, 267). Zuneigung und Ablehnung gegenüber einzelnen Verfassern sind bei Autor und Mitarbeiterin durchaus unterschiedlich verteilt. Im Nachhinein zeigt sich allerdings nicht selten, dass auch die, die man nicht zu seinen Favoriten gezählt hat, im kollektiven Chor eine wichtige Stimme einnehmen und den Kanon auf ihre Weise bereichern. Außerdem machen wir eine weitere zentrale Erfahrung: Jede Stimme, die wir finden, eröffnet eine Perspektive, von der wir vorher nicht unbedingt wussten, dass sie existiert. Walter Kempowski notiert entsprechend am 28. März 1991: „Jede Entdeckung füllt eine Lücke, weil jeder Mensch anderes zu berichten weiß. Nur die Stalingradbriefe der Mütter sind alle gleich…“ (Kempowski 2005a, 166). Vielleicht auch begünstigt durch diese Erkenntnis, wächst beim Autor die Sorge, bei der Stimmenauswahl jemanden zu vergessen. Etwas desillusioniert notiert Walter Kempowski am 8. November 1991 in diesem Zusammenhang: „‚Echolot‘: Je mehr Lücken ich schließe, desto unvollständiger wird das Ganze“ (Kempowski 2005a, 185). Selbstzweifel, dem Vorhaben nicht gewachsen zu sein, und die Sorge, niemanden dafür interessieren zu können, begleiten den Arbeitsprozess über viele

1.3  Arbeitsweisen I. Artefakte aus Erinnerungen: Das Echolot und Culpa19

Jahre. Die Angst, mit dem Echolot einmal mehr verkannt zu werden, nagt immer wieder an der sensiblen Schriftstellerseele. Am 14. Mai 1989 schreibt Walter Kempowski: Sie werden mich wieder als Sammler bezeichnen. Das Besondere und Neue am ‚Echolot‘ ist, daß ich auch nationale Schöngeister und sogar kleine Nazis zu Wort kommen lassen kann. Die originelle Unterschätzung meiner ‚Chronik‘. Ein Volksschriftsteller zu sein, hat was Tragisches an sich. (Kempowski 2005a, 136)

Euphorie über das Gelungene und Zweifel liegen nah beieinander. So notiert Walter Kempowski beispielsweise am 14. Oktober 1989: „Heute habe ich viel geschafft, herangeschafft für das ‚Echolot‘ wie schon in den letzten Tagen, und doch bin ich zeitweise verzagt. Es sind ja nur Tropfen“ (Kempowski 2005a, 146). Zwei Tage später, am 16.  Oktober 1989, heißt es dagegen fast trotzig: „Mich ärgert es, wenn die Leute zum ‚Echolot‘ sagen: ‚Daß Sie sich da man nicht verlieren…‘ Das ist ja meine Sache. Warum soll ich mich nicht mal ein bißchen verlieren?“ (Kempowski 2005a, 146) Besonders in den Wochen nach dem Schlaganfall wachsen die Selbstzweifel, so steht beispielsweise am 17. Februar 1992 in Walter Kempowskis Tagebuch: „Ich habe heute zum ersten Mal das Gefühl, dem ‚Echolot‘ nicht gewachsen zu sein. Die Widerstände sind zu groß. Das, was ich gern möchte, kann ich nicht umsetzen. Und daran wird man mich und meine Arbeit messen“ (Kempowski 2005a, 199). Ich reflektiere Anfang März 1992: Nachmittags [mit Walter] Gespräch darüber, was am ‚Echolot‘ kempowskiesk sei. – Ich verstehe nicht, warum Walter diesbezüglich solche Sorge hat: Allein die Idee des gesamten Projekts ist doch schon eindeutig kempowskiesk. Und auch die Umsetzung trägt eindeutig seine Handschrift. Wer, bitte schön, hätte sonst so etwas machen wollen, machen können? Da braucht es den langen kempowskiesken Atem! Es war eine unerklärliche Angst bei Walter zu spüren. Damit meine ich nicht die vordergründige Sorge, ob das Buch sich gut verkaufen wird, sondern eine Angst, die – losgelöst vom ‚Echolot‘ – offenbar zu ihm gehört. Es scheint unter anderem diese Angst zu sein, die ihn antreibt. (Kempowski 2005a, 201)

Wir arbeiten mit aller Energie auf den ersten Abgabetermin hin. Anfang Mai 1992 soll ich den ersten Teil, den Januar 1943, beim Verlag in München abliefern. Ich arbeite täglich bis in die Nacht und kommentiere Ende März 1992: 9 1/2 Stunden am Computer gesessen, der Rücken ist wie durchgebrochen. Fühle mich alt und ausgelaugt. Abgeschlafft und matschig, genervt, abgespannt. […] Typisch Walter: Die Masse der noch einzugebenden Texte nimmt immer weiter zu, anstatt daß sie durch viele Sonderschichten allmählich schrumpft. Dagegen kann niemand arbeiten! Es gibt nun schon verschiedene Haufen, verschiedene Disketten […], außerdem Texte, die schon ausgedruckt sind, Texte, die noch nicht ausge-

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druckt sind, Texte, die noch ausgedruckt werden müssen usw. usw. Kurz: Das Chaos wächst und wächst. Mir scheint, es ist im Grunde einzig an mir, den Überblick nicht zu verlieren. Denn außer mir fühlt sich für die – in sich zusammenrutschenden – Textberge keiner wirklich verantwortlich. So oder so läuft uns die Zeit davon, denn allein das Ausdrucken eines Ms.-Tages dauert manchmal schon eine Stunde… Vom Eingeben der neuen Texte und Überarbeiten der schon vorhandenen einmal ganz abgesehen. (Kempowski 2005a, 206)

In dieser Phase hat der Autor eine neue Idee: Er experimentiert mit der sogenannten ‚Sprechspur‘, einer zweiten Spalte, in der die Zeugnisse aus den Kriegsmonaten Januar/Februar 1943 mit eigenen Tagebuchtexten kontrastiert werden. Außerdem werden versuchsweise sogenannte ‚Kontratexte‘, also Texte aus anderen Zeiten, konterkarierend eingefügt, um einen Vergangenheits- und Gegenwartsbezug herzustellen. Ich notiere Anfang April 1992: Mir ist die Einsicht gekommen, mich nicht in dieses Experiment einzumischen – bei meinem Streßpegel momentan würde ich schreien und die Türen knallen, da bin ich sicher! Außerdem spüre ich, daß er davon Abstand nehmen wird. Es scheint mir mehr die Suche nach einem neuen Zugang zu den ‚Echolot‘-Texten zu sein – nicht mehr, aber auch nicht weniger. (Kempowski 2005a, 207  f., Hervorhebung im Original)

Mein Gefühl trügt mich nicht. Die Idee von ‚Sprechspur‘ und ‚Kontratexten‘ wird der Autor im Sommer 1992 ad acta legen. Im Mai 1992 reise ich – wie verabredet – mit dem Januar 1943 im Gepäck nach München. Die Übergabe des Manuskripts gelingt allerdings erst im zweiten Anlauf, da zum ersten geplanten Termin die Fluglotsen am Hamburger Flughafen und dann auch in Bremen streiken. Ich notiere Mitte Mai 1992: „Im zweiten Anlauf hat es nun geklappt! Bin mit dem Koffer gut in München gelandet und habe Bittel einen Ordner nach dem anderen auf seinen Schreibtisch gestapelt. Der wird in den nächsten Monaten viel zu lesen haben…“ (Kempowski 2005a, 222). Karl Heinz Bittel beschreibt seine Gefühle beim Erhalt des Manuskripts in seinem Bericht: „Das Manuskript lag auf meinem Schreibtisch. Es türmte sich einen halben Meter hoch. Meine Besorgnis bei Betrachtung dieses Stapels war, daß sich das Werk über die Stalingradzeit zu meinem persönlichen Stalingrad auswachsen könnte“ (Kempowski 2005a, 370). Im Verlag hat man sich über all die Jahre dem Echolot gegenüber eher ambivalent positioniert. Einerseits wird ein Vertrag mit dem Autor geschlossen, andererseits dem Projekt jedoch von Anfang an mit Skepsis begegnet. Karl Heinz Bittel nennt die ersten Reaktionen, als er das Projekt im Jahr 1988 im Verlag vorstellt: „‚Wie viele tausend Seiten?‘ wurde gefragt  […]. ‚Und keine Zeile von Kempowski? Nur Zitate? Wer soll das kaufen?‘“ (Kempowski 2005a, 363) Auch Walter Kempowski bleiben die Zweifel seitens des Verlags nicht verborgen. Er notiert nach einem Besuch des damaligen Verlagsleiters Olaf

1.3  Arbeitsweisen I. Artefakte aus Erinnerungen: Das Echolot und Culpa21

Paeschke am 23.  August 1989: „Gestern waren Paeschke und Frau hier. Wir saßen in der Laube und tranken Kaffee mit kleinen Kuchen, die sie aus Hamburg mitbrachten. ‚Echolot‘ kein Problem. Aber: ‚Wer soll das lesen?‘ Die Frage werde ich noch oft zu hören kriegen“ (Kempowski 2005a, 140). Bei diesem Gespräch bestätigt sich offenbar das, was Walter Kempowski bereits Anfang August 1989 in seinem Tagebuch festhält: „Ich arbeitete am ‚Echolot‘, habe mir den 20. April 1945 vorgenommen, präpariere ihn heraus, um dem Verlag und anderen das Prinzip vorführen zu können. Sie haben alle keine Phantasie“ (Kempowski 2005a, 140). Möglicherweise ist es tatsächlich mangelnde Fantasie. Doch kommt sicherlich die Einschätzung hinzu, dass sich mit solch einem Projekt aus ökonomischem Blickwinkel betrachtet keine schwarzen Zahlen schreiben lassen. Auf der Buchmesse im Oktober 1990 treffen Walter Kempowski und ich einmal mehr auf Olaf Paeschke. Ich notiere: Paeschke hatte Walter und mich vom Hotel abgeholt: Alle möglichen Leute quetschten sich in das Firmenauto, nur Paeschke und ich (!) allein in einem Taxi. Schon komisch, wie er mich von Walter abdrängte und in den wartenden Wagen schob. Wir fuhren los, und nach kurzem Vorspiel kam er schnell zur Sache: Was Walter jetzt machen will, wie es um das ‚Echolot‘ steht, der Masuren-Roman [d.  i. der Arbeitstitel von Mark und Bein]? Besonders entsetzte ihn das ‚Echolot‘, das war deutlich zu merken… (Kempowski 2005a, 157  f.)

Im Laufe der Jahre wechseln die Verleger – doch die Arbeit am Echolot bleibt. Immer wieder machen die jeweils neuen Verlagsleiter ihre Antrittsbesuche bei Walter Kempowski – auch, um die Echolot-Frage zu klären. Im Jahr 1992 werden dann Entscheidungen getroffen, Karl Heinz Bittel erinnert sich: Es begann ein schier endloses Gefeilsche um die Zahl der Bände und den voraussichtlichen Ladenpreis. Ob […] der Vorstand vielleicht einen Zuschuß gibt zu dem wahnwitzigen Projekt? Mit 150.000 DM wären wir halbwegs aus dem Schneider. Das Geld wurde am Ende bewilligt, die Bandzahl auf vier festgelegt, der Subskrip­ tionspreis auf 298 DM, danach 328 DM. Erscheinen sollte das Werk zur Buchmesse 1993. Jetzt war ich am Zug. Augen zu und durch. (Kempowski 2005a, 370  f.)

Doch die Schwierigkeiten reißen nicht ab. Zum einen müssen viele ‚Nachzügler‘-Texte in das Manuskript eingearbeitet werden, parallel dazu experimentiert der Autor in Nartum immer wieder neu mit der Text- und der Bildebene. Darüber hinaus gilt es, die umfangreichen Rechtefragen an den Texten zu klären. Karl Heinz Bittel berichtet: „Der Ton zwischen Nartum und München wurde zunehmend gereizter, dann wiederum sank die Temperatur unserer Kommunikation gegen den Gefrierpunkt“ (Kempowski 2005a, 371). Zudem stellt sich heraus, dass der Olivetti und die mit ihm gespeicherten Disketten mit vielen anderen Geräten nicht kompatibel sind. Ich notiere Anfang Dezember 1992:

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Schlechte Nachrichten: Der Verlag kann unsere Disketten nicht öffnen. Von denen sollte der Satz gemacht werden, um Kosten zu sparen. Walter schimpft auf den Olivetti: Wie konnte man nur ein italienisches Fabrikat kaufen! Das sei doch logisch, daß da nichts funktioniert. – Meine Beruhigungsversuche schlugen fehl, ich steh noch im Minus wegen meiner Maulerei von vorgestern! Trotzdem bin ich mir sicher: Irgendeine Lösung wird es schon geben. Nicht durchdrehen, sondern erst mal weitermachen… (Kempowski 2005a, 246  f.)

Die angespannte Stimmung löst sich erst, als Volker Hage vom Spiegel einen Vorabdruck aus dem Echolot zum 50. Jahrestag der Stalingrad-Katastrophe ankündigt. Walter Kempowski schreibt am 10. Dezember 1992: „Volker Hage war da mit einem Fotografen wegen des ‚Spiegel‘-Artikels, der in der letzten Woche des Jahres erscheinen soll, zwei Doppelseiten. Sehr anstrengend“ (Kempowski 2005a, 247). Karl Heinz Bittel erinnert sich an den Artikel von Volker Hage als „Hoffnungsschimmer“ (Kempowski 2005a, 371). Und ich notiere Mitte Dezember 1992: Die geplante auszugsweise Veröffentlichung im ‚Spiegel‘ erreicht nun auch mich: Ausgewählte Autoren müssen informiert, ihre Erlaubnis muß eingeholt werden. Manche wollen ein Abdruckhonorar – oho! Heute war alles noch einmal zu überprüfen: Stundenlang am Telefon – irrsinnig. (Kempowski 2005a, 253)

Das Erscheinen des Artikels löst allseits große Freude aus: beim Autor in Nartum, der darin eine „Würdigung“ (Kempowski 2005a, 254) seiner Arbeit erfährt und tatsächlich empfindet, aber auch beim Verlag in München. Volker Hages bis heute oft zitierter Satz – „Vielleicht wird sich ‚Echolot‘ als eines der letzten großen literarischen Wagnisse dieses Jahrhunderts erweisen“ (Hage 1992, 156) – weckt ein gewisses Zutrauen in den bisher immer angezweifelten Erfolg des Projekts. Das Jahr 1993 hält für alle Beteiligten noch einmal viel Echolot-Arbeit bereit. Besonders das Einholen der Rechte und manch Feinarbeit am Manuskript brauchen viel Zeit und Geduld. Doch dann ist es endlich so weit: Am 8. November 1993 kommen die ersten Belegexemplare des Echolot per Post in Nartum an und Walter Kempowski notiert einen Tag später im Tagebuch: Gestern nachmittag […] öffneten wir das bleischwere Paket mit den vier Exemplaren des ‚Echolot‘ […]. Wir saßen im Pavillon bei Tee und begutachteten das Werk, dessen Gestaltung 100prozentig ist. Natürlich sind die Bände etwas groß, aber das Leinen faßt sich angenehm an, Papier gut, Fotos in Ordnung – Herz, was begehrst du mehr? Ich beendete den Nachmittag in stiller Einkehr. Ein Felle-Wegschwimmen war das, aufgehoben durch das herrliche Gefühl, mit dem nächsten ‚Echolot‘ schon auf dem Weg zu sein. (Kempowski 2005a, 360)

1.4  Arbeitsweisen II. Alter Ego23

Es ist wie immer bei Walter Kempowski: Auch nach Erscheinen des ersten Echolot gibt es keine Zeit, sich auszuruhen. Die Arbeit geht gleich und ohne Pause weiter. Die Projekte überlappen sich. Nach dem Echolot ist vor dem Echolot – um eine alte Fußballweisheit neu zu variieren. Im Rückblick betrachtet, ist es mir kaum vorstellbar, dass wir das Projekt Echolot tatsächlich verwirklicht haben. Ich erinnere mich genau an den Augenblick, als ich die ersten vier Bände zum ersten Mal gesehen habe, auch wenn mein Tagebuch – schade! – dazu keine weitere Erzählung bereithält. Es ist mir damals fast unwirklich vorgekommen, ja fremd, die Arbeit von Jahren auf einmal in Leinen gebunden vor mir zu sehen. Mit unserer Hilfe hat jede Stimme ihren Platz im Chor der vielen gefunden und kann nun gehört werden – unsere Arbeit ist geleistet; und das Echolot ist in den Erinnerungen versunken, die uns bis heute von weit her wie ein unüberhörbares Echo erreichen. Gelebtes, Gedachtes und Geschriebenes, Geliebtes und Gefürchtetes, Belachtes und Betrauertes sind aus den Tiefen des Vergessenen befreit. Erinnerungen kommen zum Vorschein – und damit unterschiedliche Wahrheiten, die zwischen den Zeilen lebendig werden und ihren Atem nicht mehr anhalten – ein neu erstandenes Universum gewesener Zeit. Einem ähnlichen Muster folgt Culpa, wenn auch nur dreistimmig. Sicherlich hätten durch die Wiedergabe weiterer Perspektiven andere Details und Wahrheiten aus den Gedächtnistiefen nach oben gespült werden können. Doch macht Culpa schon als Erinnerungsterzett deutlich, dass es auch in einer Dichterwerkstatt so ist, wie es meistens ist, wenn Menschen aus ihrem Leben berichten: Die Gedanken sind frei – und sie bleiben es auch dann, wenn wir uns erinnern, um von Erlebtem zu erzählen. Postskriptum: Das Werk Walter Kempowskis ist vielschichtig, doch immer sind es überquellende Erinnerungsspeicher, die sich als tragende Säulen erweisen. Ob in der Deutschen Chronik, in den ihr zugeordneten Befragungsbänden, im Echolot, den eigenen Tagebüchern oder in Plankton: Stets sind es Erinnerungsbilder von sich selbst und von anderen, die Walter Kempowski zusammentrug, um auf dieser Basis unterschiedlichste literarische Artefakte zu formen (vgl. auch Neteler 2014a).

1.4  Arbeitsweisen II. Alter Ego Alan Keele

Während der lebenslangen Arbeit an den verschiedenen Facetten seines riesigen Jahrhundertprojekts – seines „Sysiphus“ (Kempowski 2001b, 103, sowie Kempowski 2005a, 255), wie Kempowski die Deutsche Chronik, das Echolot und die Bibliothek der ‚unabhängigen‘ Augenzeugenbiographien (vgl. Zacha-

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rias 1986; Fuchs 1987; und Matheny 1988) nannte, – beobachtet der Schriftsteller Walter Kempowski nicht nur seine historischen Artefakte mikroskopisch genau – Bildbände, Briefe, Briefmarken, Zeitungsberichte, seine eigenen biographischen und familiären Daten  –, sondern er beobachtet gleichzeitig auch mit derselben Genauigkeit seinen eigenen Arbeitsprozess, ja, sein eigenartiges Schriftstellerleben überhaupt. Dazu Kempowski: „Mein ‚Sysiphus‘ besteht aus drei Teilen: I. Die unabhängigen Biographien […], II. Die Chronik, III. Das ‚Echolot‘. Das sind drei Komplexe, die einander bedingen und ergänzen.“ (Kempowski 2001b, 103, sowie Kempowski 2005a, 255). Die Biographien sind jeweils im Knaus-Verlag erschienen (vgl. Zacharias 1986; Fuchs 1987; und Matheny 1988). Es entstehen also bei Kempowski zwei Hauptdokumentationsstränge: eine Dokumentation der Geschichte des 20. Jahrhunderts und eine Dokumentation dieser Dokumentation, eine geschickte Beschreibung des Lebens eines gewissen deutschen Schriftstellers, welcher seine Epoche und sein eigenes Leben, auch sein Innenleben, gleichzeitig emsig dokumentiert. Die primäre Dokumentation, obwohl teils auf private und familiäre Quellen gestützt, weitet sich aus, tendiert ins Universelle, schließt am Ende noch Churchill, Stalin, Hitler und den Kalten Krieg sowie die Wende-Zeit mit ein. Doch diese Dokumentation ist belletristischer Natur. Sie ist keine trockene Faktenrezitation, sondern ein profundes Kunstereignis. Der sekundäre Dokumentationsstrang, genauer: die Selbstdokumentation und die Selbstbeobachtung, ist auch beileibe nicht prosaisch, auch keineswegs eintönig. Obwohl sie einerseits aus zum Teil relativ objektiven Tagebüchern (Sirius, Somnia, Alkor, Hamit etc.) sowie aus tagebuchähnlichen Notizen zum „Echolot“ (Culpa) besteht, setzt sie sich andererseits auch aus Subjektivem, aus Lyrischem (Langmut) oder sogar – im Falle des Hörspiels Moin Vaddr läbt  – aus Traumhaft-Fantastischem zusammen. Dazu kommen eine Reihe Romane, welche auch als eine Art Selbstdokumentation eingestuft werden können, weil sie zum einen viel Autobiographisches enthalten (vgl. etwa Heile Welt, wo Erlebnisse eines Dorfschullehrers geschildert werden, wie es Kempowski selbst war, oder Mark und Bein über die Suche nach dem Sterbeort eines Vaters auf der Frischen Nehrung, wo auch Walter Kempowskis Vater fiel) und weil sie zum anderen in mindestens zwei markanten Fällen den Schreibprozess selbst und das detaillierte Leben eines Schriftstellers behandeln, der fast genau wie Walter Kempowski lebt. Dies wird allerdings als Fiktion präsentiert und mit sehr viel Ironie aufgeladen. Es handelt sich bei diesen beiden Romanen, deren Protagonist Alexander Sowtschick heißt, um Hundstage (1988a) und Letzte Grüße (2003). Im ersten Werk lernen die Leser den liebenswürdig-neurotischen Egoisten Sowtschick kennen, dessen Name ein Wortspiel aus ‚soft‘ und ‚schick‘ ist. Am Ende des zweiten scheidet der Nörgler aus dem Leben, und zwar am 9. November 1989, als gerade Bilder vom Fall der Berliner Mauer im Fernsehen übertragen werden, in einem  – aus der Sicht des ewig Meckernden jedenfalls – etwas heruntergekommenen Hotel in New York City. In Hundstage erleben wir den (auf fast – aber nicht

1.4  Arbeitsweisen II. Alter Ego25

ganz – ausschließlich platonische Weise jungen Frauen verfallenen) Alexander Sowtschick in der eigenen Heimat, in Sassenholz/Landkreis Kreuzthal, nahe Bremen, in einem Haus, das Kempowskis Haus Kreienhoop in Nartum, auch nahe Bremen, verblüffend ähnlich sieht; z.  B. verfügen beide Häuser über einen Büchergang. In Letzte Grüße soll nun Alexander Sowtschick eine Auslandsreise antreten, während er seine Frau Marianne zum Füttern der Haustiere zurücklässt. Im Auftrag des Deutsch-Amerikanischen Instituts soll er vier Wochen lang Nordamerika  – die USA mit Abstechern nach Kanada und Mexiko – durchkreuzen und Lesungen im Rahmen der ‚Deutschen Wochen‘ halten. Das Für und Wider am Anfang des Romans bietet eine Einführung in die skurrile Mentalität Sowtschicks und in den erlebte Rede evozierenden Schreibstil Walter Kempowskis: ‚Deutsche Wochen?‘ – Alexander hatte die Einladung spontan absagen wollen: vier Wochen Amerika? Aus allem herausgerissen werden, nicht mehr im Büchergang auf- und abschreiten, nicht im Garten den Frauen zusehen, wie sie sich über das Unkraut bücken? … Einen Acht-Stunden Flug ertragen über nachtdunklem Meer, eingeklemmt zwischen Rauchern und Tempotuchmenschen, von vorn Gestank in regelmäßigen Anblasungen und von hinten endloses Gerede? Dann: ‚drüben‘ von einer Stadt in die andere vagabundieren, beleuchtete Wasserfälle, nachgebaute Einwandererhütten, Bibliotheken, eine wie die andere, schlechte Hotels! – Und Tag für Tag Rede und Antwort stehen müssen für Dinge, die man nicht zu verantworten hat! ‚Leugnen Sie auch den Holocaust?‘ Vor Leuten, die noch nie etwas von einem gehört haben, geschweige denn gelesen? ‚Warum schreiben Sie?‘ ‚Welche Position nimmt der Erzähler in Ihrer Prosa ein?‘ Nein. (Kempowski 2006g, 9)

Wir erfahren, dass Sowtschicks Arbeit an einem neuen Roman stockt, dass er von einem anderen Schriftsteller, den er beleidigt hat, angeklagt wird und dass er auch noch ein bisschen geldgierig ist: Andererseits: vier Wochen Amerika? Die täglichen Unannehmlichkeiten des Arbeitstages hinter sich lassen, der Roman kommt nicht von der Stelle, und die leidige Sache mit der Beleidigungsklage, ‚Dünnbrettbohrer‘, weshalb hatte er auch den an sich so liebenswerten Kollegen Mergenthaler aus Aschaffenburg einen Dünnbrettbohrer genannt? Vier Wochen entrückt zu sein, Gast, immerfort eingeladen zu werden zu Essen und Trinken und zusätzlich pro Lesung noch zweihundertfünfzig Dollar in die Hand gedrückt bekommen? Und: auch sonst alles gratis? Wäre es nicht eine Sünde, ein solches Angebot auszuschlagen? […] Und: Wann käme man da mal wieder hin: New York, San Francisco, Boston, Denver … – Wo lag eigentlich Denver? Ganze Kompanien deutscher Schriftsteller waren bereits drüben gewesen, Niels Pötting, Hinze aus Mölln, Kargus aus St. Peter  – sogar Ellen Butt-Prömse, eine Verfasserin von Pferde-Lyrik, und Udo Scharrenhejm, dessen Mutter aus Spanien stammte und dessen Vater Isländer war … ‚Deutsche Wochen‘, da hatte man doch als ein deutscher Romancier eine Verantwortung zu tragen. (Kempowski 2006g, 9–10)

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Es regt sich in Sowtschick also eine Art egoistischer Patriotismus. Können solche Menschen – Mutter Spanierin, Vater aus Island – tatsächlich Deutschland vertreten? Nein, er muss es sein! Und zu seiner Vaterlandsliebe gesellt sich auch ein konservativer Groll insbesondere auf DDR-Schriftsteller: Den Feuilletons war zu entnehmen, dass in Amerika vorzugsweise Dichter aus Sachsen und Thüringen zu Worte kamen. Wie es schien, wurden in den von Kapitalisten ausgehaltenen Universitäten der Vereinigten Staaten die politisch Verblendeten der linken Szene besonders geschätzt. Von denen ging für die freie Welt ein Faszinosum aus, das ein in die Jahre gekommener Schriftsteller aus dem Landkreis Kreuzthal nicht bieten konnte. Neuerdings grasten die Leute mit dem blauen Paß auch in Bayern und in Westfalen Universitäten und Buchhandlungen ab, und Preise kriegten sie die schwere Menge. (Kempowski 2006g, 13)

Außerdem fällt der Gedanke an den Eigennutz wieder in die Waagschale – und dies ausgerechnet in einer Publikation, welche Kempowskis eigene Amerikareisen spiegelt: Sämtliche Dichter männlichen und weiblichen Geschlechts, die vom deutsch-amerikanischen Institut hinübergeschickt wurden, hatten danach ein Buch über ihre Reise veröffentlicht … Auch das böte sich an, die Sache für eine abrundende Publikation auszunutzen. Warum nicht? (Kempowski 2006g, 10–11)

Wir erfahren weiter, dass Sowtschick schon einmal auf einer solchen Reise war: „Für eine Amerikareise sprach der Hinweis, der dann später der Vita würde hinzugefügt werden können: 1989 im Rahmen der ‚Deutschen Wochen‘ eine zweite ausgedehnte Studienreise nach Amerika  … Gastdozent an verschiedenen Universitäten …“. (Kempowski 2006g, 12) Zu seinen leicht erotischen Fantasien über die zweite kommen dann verwandte Erinnerungen an die erste Amerikareise: Eine Tournee durch fünfundzwanzig Städte: deutsche Kultur verbreiten, wo immer es gewünscht wird: in Washington ein Stehempfang, Lesungen vor deutschen Vereinen. Und im Mittleren Westen im Kreise properer College-Studentinnen Vorträge halten: Auf dem Rasen sitzen sie, die Sportsgeschöpfe, um ihn herum gruppiert, gut genährt und sauber, den Rock weit um sich gebreitet, und er selbst lehnt an einer Zeder, in weißem Anzug, mit weißen Schuhen, über seine Bücher hinwegsinnend, die es ihnen nahezubringen gälte. Ein Bändchen Heine-Gedichte gut sichtbar in der Rocktasche stecken haben für alle Fälle, ein Eckchen hervorzupfen das Dings, damit’s jeder sieht. Heine kann nie schaden. Heine oder Tucholsky. Kleist! (Kempowski 2006g, 12) Als er noch im Iro-Weltatlas blätterte, kam ihm eine Erinnerung an die erste Reise nach Amerika. Er stieg nach oben in sein Kabinett, in die ‚Fluchtburg‘, wie er das Zimmerchen nannte, und kramte ein Foto hervor. Eine Friedhofsmauer mit einem Mädchen darauf. Das war ‚Freddy‘. Sie war zwar nur undeutlich zu erkennen, rief aber doch eine wehe Erinnerung in ihm hervor. In Santa Barbara war er ihr begegnet, vor vielen Jahren.

1.4  Arbeitsweisen II. Alter Ego27 Um ein verschossenes Farbfoto handelte es sich, mit umgebogenen Ecken. Er klappte seine Brieftasche auf und schob es hinein in die unterste Abteilung: Direkt über seinem Herzen würde es liegen, ein Herzschrittmacher der besonderen Art. Damals hatte er sich noch an keine Wand lehnen müssen, und es hatten ihn keine grauen Tücher angeweht. (Kempowski 2006g, 14)

Diese letzten beiden Anspielungen – Wand und Tücher  – beziehen sich auf Alexanders medizinischen Zustand: Er leidet unter gelegentlichen Schwindelanfällen, ‚grauen Tüchern‘ im Sehfeld und Beschwerden, die ihm manchmal wie ein „feuriges Horn“ (Kempowski 2006g, 253) vorkommen. Die Erwähnung seiner Symptome stimmt einen ominösen Ton an und antizipiert unheilverkündend das nahende Ende Sowtschicks. Vor der Reise lässt er sich daher von einem Arzt untersuchen, doch: „Konstitutionell sei er ein ‚juveniler Greis‘, sagte [Dr.] Schmauser und machte eine diesbezügliche Notiz in seinen Akten. Diese Leute fielen eines Tages einfach um“ (Kempowski 2006g, 25). Am Ende siegen die Begeisterung und die idealistischen Projektionen seiner eigenen Fantasie über alle Bedenken: Als Alexander beim wiederholten Lesen des Briefes feststellte, dass auch ein Abstecher nach Kanada geplant war, gab es für ihn kein Halten mehr. Kanada! Mit hüfthohen Stiefeln im Wasser stehen und Lachse angeln. Er wählte die Nummer des Instituts und sagte: ‚Okay!‘ Aus vollem Herzen: ‚Okay!‘ Und seine gute Laune verfinsterte sich keinesfalls, als die Frauenstimme am anderen Ende der Leitung ihn barsch anbellte, sie habe damit nichts zu tun, er möge seine Zusage schriftlich abgeben. Im übrigen könne er sich damit Zeit lassen, viel Zeit. (Kempowski 2006g, 13–14)

Damit haben wir ein Grundparadigma des ganzen Romans vor uns: Der an sich misanthropische, schrullenhafte Sowtschick lässt sich immer wieder kurzfristig von seiner Fantasie idealistisch beflügeln. Sofort wird er aber dann von der Realität bzw. von seiner Fassung der Realität – „bellte“ ihn wirklich eine Dame im Institut „barsch an“ oder will es dem griesgrämigen Übertreiber im Kontrast zu seiner idealistischen Begeisterung nur so vorkommen? – jäh vor den Kopf gestoßen. So gesehen ist der ganze Roman eine köstliche, groteske Farce. Egal was Sowtschick tut, was er anzieht – eine lächerliche Mehrzweckjacke „mit vielen Taschen, an der allerhand Schnüre herunterhingen“ (Kempowski 2006g, 19  f.) –, was er zu sich nimmt – wie beispielsweise verdorbene Mayonnaise auf einem New Yorker Hamburger (vgl. Kempowski 2006g, 58) –, was er ergiebig wieder von sich gibt (vgl. Kempowski 2006g, 61  f.), was er an Banalem immer wieder im Fernsehen sieht  – Heckle und Scheckle, die beiden Zeichentrick-Raben  –, wo er überall auch hinkommt, sein Charlie-Chaplineskes Auftreten ist immer humorvoll – und ein bisschen peinlich zugleich, nicht zuletzt wegen Sowtschicks ausgesprochenem Minderwertigkeitsgefühl und seinem daraus resultierenden Geltungsbedürfnis. Er ist etwa besonders eifersüchtig, sogar fixiert, auf einen seiner jüngeren Kollegen, Adolph Schätzing, dem er durch all die Stationen seines Leidenswegs auf Abstand von ein paar Tagen folgt. Ausgerechnet ist es aber dieser Schätzing,

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1 Einleitung

der Sowtschick tot auf Zimmer 1115 vorfindet, als er ihn zu einem letzten Empfang für die ‚Deutschen Wochen‘ liebenswürdig-freiwillig abholen will: „Schätzing, der liebe Kollege, mit Hut auf und Stock in der Hand … schob die Menschen zur Seite, schritt über Alexander hinweg und drehte den Fernseher aus. Heckle und Scheckle verschwanden“ (Kempowski 2006g, 430). Gesetzt den Fall, Sowtschick ist eine sehr sympathische und interessante Romanfigur, ist es nicht weniger interessant zu erwägen, was Sowtschick mit Kempowski gemein hat, denn es wird behauptet, die Romanfigur Sowtschick berge den Schlüssel dazu, den Schriftsteller Walter Kempowski und sein gesamtes Œuvre erst tiefgreifend verstehen zu können. In Sowtschick legt Kempowski eine Art ironische Lebensbeichte ab, wobei er all seine Charaktereigenschaften, Ängste, Hoffnungen und Flausen zur Schau stellt – allerdings im Zerrspiegel, unter einem Vergrößerungsglas und mit sehr viel dichterischer Freiheit. Ich weiß aus persönlicher Erfahrung, inwiefern Sowtschicks Abenteuer auf (ineinandergeschobenen) Erlebnissen basieren, die Walter Kempowski selbst auf seinen verschiedenen Amerikareisen machte, die er teils im Auftrag des Goethe-Instituts unternahm. Als einer, der mit Walter Kempowski bei drei verschiedenen Gelegenheiten insgesamt mehrere Monate lang auf solchen Reisen zusammen war – zweimal Provo, einmal Portland – kann der Verfasser, gestatten: „Professor Flower“ (Kempowski 2006g, 302), Besitzer des „betagten Cadillac, gelb, dreihundertsechzig PS, ein Auto für besondere Gelegenheiten…“ (Kempowski 2006g, 303), stets zu Diensten!, persönlich attestieren, dass sehr deutliche Parallelen zwischen Walter Kempowski und seinem Alter Ego Sowtschick in Letzte Grüße existieren. Walter Kempowski machte 1976 zum ersten Mal im Auftrag des GoetheInstituts eine Amerikareise. 1980 kam er dann auf seiner zweiten Reise nach Provo, wo ich ihn zuerst kennenlernte. Ich holte ihn in meinem tatsächlich betagten gelben Cadillac  – mit Verspätung! unverzeihlich! ganz wie es im Roman heißt – vom Flughafen ab. Um diese Panne wettzumachen, lud ich ihn ein, bitte noch einmal zu kommen. Im Herbstsemester 1986 reiste er dann, diesmal mit seiner Tochter Renate, extra für zwei Monate nach Utah, um als Gastdozent an der Brigham Young University einen Kurs über die Deutsche Chronik zu geben. Während dieses sehr erfolgreichen Besuchs bei den members (Mitgliedern) der Mormonenkirche – das Wort member fand Walter Kempowski unendlich zweideutig-lustig – entdeckten wir zusammen das erstaunliche Buchmanuskript von meinem Kollegen, Universitätsprofessor Ray T. Matheny, das den späteren Bericht Die Feuerreiter: Gefangen in Fliegenden Festungen (vgl. Matheny 1988) ergab. Außerdem versuchte ich, einen sehr neugierigen Herrn Kempowski in Sachen Personal Computer etwas zu schulen. PCs waren damals eine ganz neue Sache; seinen ersten sah er bei mir auf dem Schreibtisch. Da hatte er aber schon blitzschnell eingesehen, dass mit einem solchen PC sein Traum vom Echolot nun zu erfüllen sei: die Massen seiner angesammelten Schriftstücke zu sichten und zu ordnen (daher auch die freundlich Widmung des Echolots an mich). So schrieb Kempowski am 7. November 1986 an seine Frau Hildegard:

1.4  Arbeitsweisen II. Alter Ego29 Heute morgen habe ich mich auch mit dem Computer beschäftigt, mit [Alan] Keele zusammen. Jeden Tag erklärt er mir alles, und immer vergesse ich es. Wenn man dann selbst drauf schreibt, ist alles viel einfacher. Hier steht in jedem Zimmer so ein Automat, ohne den geht es überhaupt nicht mehr. Ich werde mir von Knaus einen besorgen lassen. (Kempowski 2005a, 86–87)

Anschließend übertrug Kempowski mir und meinen Kollegen Garold und Norma Davis den Auftrag, den ersten Sowtschickroman Hundstage ins Englische zu übersetzen und zu veröffentlichen. Dog Days erschien schließlich 1991 im Camden-House-Verlag (vgl. Kempowski 1991b). Im Sommer 1987 reiste die Familie Keele nach Portland, um Walter Kempowski bei der Deutschen Sommerschule am Pazifik zu besuchen. Zusammen machten wir unter anderem einen Stadtbummel, wobei er sehr interessante Steinreliefs an den alten Häuserfassaden der Stadt fotographierte  – ein besonderes Hobby für ihn –, die sonst für andere Leute wie uns gar nicht sichtbar gewesen wären. Walter Kempowski war überhaupt ein fabelhafter Fotograf, dessen Schwarzweißfotographien von unseren sechs Kindern und von dem Ehepaar Alan und Linda Keele eine Ehrenwand in unserem Haus schmücken. Im Universitätsauto machten wir auch zusammen einen Abstecher zu dem Vulkan Mount St. Helens, der sieben Jahre früher so gewaltsam ausgebrochen war (vier Kubikkilometer Material ausgestoßen!). Vermutlich könnte jeder, der über die Jahre in Amerika Walter Kempowski auf seinen verschiedenen Reisen irgendwo persönlich erlebte, Ähnliches attestieren, nämlich, dass Letzte Grüße von ‚Wahrheit‘ der einen oder der anderen Art förmlich übersprudelt. Aber Kempowskis Dichtung an sich besteht nicht nur in dem Zusammenschieben-Auslassen-Neuordnen tatsächlichen Geschehens, sondern sie besteht auch in dem humorvollen, wehmütigen Zerrbild, die Welt durch die Augen des Alexander Sowtschick süß-sauer sehen zu dürfen. Am Ende hat also Walter Kempowski in Letzte Grüße sein eigenes Leben akribisch dokumentiert, aber wie immer verwandelt er trockene Fakten in lebendige, menschliche, schimmernde Kunst, die eine noch viel tiefere, universellere Wahrheit an den Tag bringt. Allein die Wahl des Zeitpunkts von Sowtschicks Tod, den 9. November 1989, lädt z.  B. geradezu dazu ein, in Sowtschick eine Art schrulligen bundesrepublikanischen Jedermann zu sehen, dessen kleingeistige Feindseligkeit gegenüber DDR-Bürgern den Fall der Mauer nicht überleben kann oder sollte.

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2.1  Deutsche Chronik 2.1.1  Im Block. Ein Haftbericht Maria Ekert 1 Inhaltsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2 Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33

1 Inhaltsüberblick Walter Kempowskis Erstlingswerk erscheint 1969 bei Rowohlt in Reinbek bei Hamburg. Entstanden aus Notizen über seine Haftzeit in Bautzen, ist der Haftbericht, wie er untertitelt ist, der erste Versuch des Autors, die Zeit in Gefangenschaft zu verarbeiten. Fritz Reuters Ut mine Festungstid und Dostojewskis Aufzeichnungen aus einem Totenhaus gaben zusätzliche Anregung für die Niederschrift der Hafterlebnisse. In Form von Erinnerungsbildern sind die Manuskriptseiten gestaltet und ähnlich einem Bild ist auch der endgültig veröffentlichte Text Zeugnis der Arbeit Kempowskis mit dem Zettelkasten. In diesem hatte er direkt nach seiner Entlassung in Bautzen begonnen, die Grundlagen für seine zukünftigen literarischen Werke zu sammeln. Im Block bildet die Grundlage für Kempowskis 1975 veröffentlichten Roman Ein Kapitel für sich (vgl. Kempowski 1975a), der als Teil seiner Deutschen Chronik, in der er seine Familiengeschichte literarisch verarbeitet, seine eigene Haftzeit sowie die seiner Mutter und seines Bruders thematisiert. Aufbau und Struktur des Textes sind deutlicher Spiegel von Kempowskis poetologischem Programm. Die Textblöcke bestehen nur aus einigen Zeilen und sind jeweils Bestandsaufnahmen eines Teils des Gefängnisalltags. In 14 Kapiteln werden in der Ich-Perspektive Szenen aus acht Jahren Haft dargestellt, die vor allem auch Charakterzeichnungen von Kempowskis Mithäftlingen sind und die ohne den zeitweiligen Aufenthalt in Zellen mit Hunderten von anderen Gefangenen so kaum hätten entstehen können. Der Bericht beginnt mit der Verhaftung des Erzählers in Rostock, Walter Kempowskis Geburtsstadt, im Jahr 1948. Auf Heimatbesuch aus Wiesbaden, wo er arbeitet, wird er zunächst ins Rostocker, kurz darauf ins Schweriner Untersuchungsgefängnis gebracht. Ist er zunächst in einer Einzelzelle untergebracht, teilt er sich später die Zelle mit weiteren Häftlingen. Hunger ist eines der Hauptgesprächsthemen der Gefangenen, begleitet von Fragen nach Schuld und dem Entlassungsdatum. Nach fünf Monaten in Untersuchungshaft wird der Erzähler Kempowski von russischen Offizieren vernommen und daraufhin

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wegen des Verdachts auf Spionage für den amerikanischen Sektor zu 25 Jahren Haft im Zuchthaus Bautzen verurteilt, dem größten Gefängnis der damaligen sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR. Arbeit gibt es für die Häftlinge nicht, nur diejenigen, die etwa wegen Waffenbesitz und illegalem Grenzübertritt inhaftiert sind, erhalten einen Arbeitsplatz. Der Erzähler kommt auf eine Zelle mit drei weiteren Häftlingen, die allesamt im Zweiten Weltkrieg aktiv gewesen sind. Immer wieder kommen neue Gefangene an, gleichzeitig sterben nicht wenige und werden mit dem Leichenwagen abgeholt. Bereits auf der Zelle werden spätere literarische Projekte des Autors deutlich, so lässt er den Erzähler seinen Zellengenossen fragen, ob dieser Hitler gesehen hätte. 1973 erscheint Kempowskis Befragungsband Haben Sie Hitler gesehen (vgl. Kempowski 1973a), in dem die Antworten auf diese Frage verzeichnet sind, die Kempowski vielen verschiedenen Menschen stellte. Immer wieder wird Hoffnung auf Befreiung durch die amerikanischen Alliierten laut, die jedoch nicht erfüllt wird; gleichzeitig besteht auch die Angst vor einer Verlegung nach Russland. Das erste Weihnachtsfest im Gefängnis wird mit den Mitinsassen auf der Zelle gefeiert, von einem seiner Mithäftlinge bekommt Walter Marmeladenbrote geschenkt. Im März 1949 werden 400 Häftlinge auf einen Saal verlegt. Dies gibt dem Erzähler/Autor nicht nur die Möglichkeit zu vielseitiger Beschäftigung – es werden nahezu bürgerliche Kultur- und Gesellschaftsformen etabliert –, sondern auch zu Charakterstudien, die fortan den Verlauf des Buchs bestimmen. Kurz danach wird es den Häftlingen auch erlaubt, Briefe nach Hause zu schreiben, woraufhin der Brief, den der Erzähler an seine Mutter schickt, zurückkommt und er vermuten muss, dass auch sie inhaftiert ist. Als Kempowski krank wird und mehrere Wochen im Lazarett zubringt, erhält er die Nachricht, dass seine Mutter tatsächlich wegen Mitwisserschaft zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt worden ist. 1950 wird das Bautzener Gefängnis an die Volkspolizei der DDR übergeben und die Verhältnisse lockern sich in einigen Bereich ein wenig. Es können Filme geschaut werden und Kempowski singt im Kirchenchor, der Gottesdienste gestalten kann und unter der Woche im Gefängnissaal oder in der Kirche probt. Für Walter Kempowski stellt der Chor einen zentralen Bezugspunkt im Gefängnisalltag dar, ebenso zentral werden deshalb die Beschreibungen von Proben und Musikstücken im letzten Drittel des Buchs. Kempowski wird später sogar Leiter des Chors, bis er nach einer Zeit in der Gefängnissattlerei mehrere Wochen im Lazarett verbringen muss. Im Herbst 1953 wird er wegen des Verdachts auf Aktivitäten in einer christlichen Bewegung – Anhaltspunkt dafür sind einzig drei geschriebene Zeilen auf einem Notenblatt – in Isolationshaft verlegt; erst nach mehreren Wochen darf er wieder zu den anderen Gefangenen und zum Chor zurück. Anfang 1954 beginnt die Staatssicherheit im Gefängnis mit Befragungen, woraufhin die Hoffnung auf baldige Entlassung steigt. Tatsächlich leeren sich die Zellen nach und nach, und Gefangene, die Kempowski seit Beginn seiner Haft begleiteten, werden nun entlassen. Kempowskis Mutter schreibt außer-

2.1  Deutsche Chronik33

dem aus Hamburg von ihrer Freilassung. Im Sommer 1955 erfährt Walter Kempowski, dass seine Strafe von 25 auf acht Jahre reduziert wird und er in einem halben Jahr nach Hause dürfe. Wegen psychischer Belastung muss er noch einmal ins Lazarett, bevor er auf die Entlassungszelle kommt und im März 1956 das Zuchthaus verlassen darf. Über Dresden und Wittenberge fährt er nach Hamburg, um seine Mutter aufzusuchen. 2 Analyse Walter Kempowski hatte sich mit Im Block binnen kürzester Zeit vom gerade entlassenen Häftling zu einem Autor entwickelt, der vom Publikum zwar zögerlich, von der Literaturkritik aber überwiegend positiv aufgenommen wurde. Letzteres scheint durchaus auf den engen Kontakt zum Rowohlt-Lektor Fritz J. Raddatz zurückzuführen zu sein, der ihn bei der Arbeit am Text fortlaufend unterstützte und beriet. Kempowski dachte bereits während der Haft an ein literarisches Leben und begann kurz nach der Entlassung an verschiedenen Manuskripten zu arbeiten. So entstanden auch unterschiedliche Textversuche von Im Block, die der Autor bis zur Publikation immer wieder überarbeitete. Das erste Buch sollte ein Haftbericht werden, der sich nicht an wertenden und interpretierenden Erzählpassagen aufzuhalten hatte, sondern im nüchternen Stil zeigen sollte, was geschah. Zunächst sollten collagenartige, im Tagebuchformat gehaltene Abschnitte ganz allgemein das Phänomen ‚Gefängnis‘ darstellen, ohne dabei die Erfahrungen eines Einzelschicksals besonders zu betonen (vgl. Hempel 2004, 118). Die dafür notwendige Objektivität wollte Kempowski durch die Eingliederung von Berichten anderer Bautzen-Häftlinge gewährleisten. Kempowskis Mentor Raddatz erkannte das Ausmaß, welches von der Unternehmung zu erwarten war, und bewegte Kempowski zu einer Kürzung und Neugestaltung des vorliegenden Manuskripts. Dieses sollte dann in Tagebuchform von seinem Gefängnisalltag erzählen. Da er aber im Zuchthaus kein Tagebuch führen konnte, die Form des Manuskripts dies aber hätte suggerieren müssen, entstand wiederum eine neue Fassung. Diesmal handelte es sich um eine Form des Protokolls, das ohne die Verwendung von Emotionen oder Wertungen auskommen sollte und prinzipiell der von Kempowski angestrebten poetologischen Grundkonzeption entsprach (vgl. Hempel 2004,120). Die Rezeption des Werkes fiel zwiespältig aus. In der Öffentlichkeit der Bundesrepublik stieß ein literarisches Werk, das vor dem Hintergrund der Studentenproteste, des Vietnamkriegs und der Ostpolitik der sozialliberalen Koalition nicht die gesellschaftlichen Verhältnisse im Westen kritisierte, sondern das Häftlingsdasein in einem sozialistischen Gefängnis anprangerte, gerade bei den Lesern nicht auf ungeteilte Zustimmung (vgl. Sina 2012, 67–68). Im Gegensatz dazu erkannten Teile der Literaturkritik durchaus das Potential des Buches und begründeten dies unter anderem damit, dass es „der Notwendigkeit der gesellschaftlichen Veränderung das Wort rede[t], nicht indem [es] sie predigt, sondern indem [es] sie unmittelbar zeig[t]“ (Salzinger 1969, XI).

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In Folge der Publikation wurde Walter Kempowski im Jahr 1971 der Förderpreis des Lessing-Preises der Freien und Hansestadt Hamburg verliehen, wo er neben dem Hauptpreisträger Max Horkheimer auf der Bühne stand, einem Vertreter der Frankfurter Schule und Wegbereiter der neomarxistischen Gesellschaftskritik. Somit wird deutlich, „dass die Jury bei ihrer Entscheidung offenbar keinerlei politischen Ressentiments gegen Kempowski gefolgt ist.“ (Sina 2012, 68) Dieser erste Erfolg bildete den Grundstein für die weitere schriftstellerische Karriere Kempowskis, der sein Schaffen in rasanter Geschwindigkeit fortsetzte. Wie auch zum Roman Ein Kapitel für sich, in dem ebenfalls die Haftzeit eine Rolle spielt, ist zu Walter Kempowskis Erstling nicht annähernd so viel Sekundärliteratur erschienen wie etwa zu den Erzählbänden der Deutschen Chronik oder zum Echolot (vgl. Kempowski 1993–2005).

2.1.2  Tadellöser & Wolff. Ein bürgerlicher Roman Sascha Feuchert 1 Inhaltsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 2 Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35

1 Inhaltsüberblick Der 1971 erschienene Roman Tadellöser & Wolff (im Folgenden zitiert aus Kempowski 1992b) erzählt die Geschichte der Rostocker Reederfamilie Kempowski zwischen 1938 und 1945. Vermittelt wird das Geschehen durch den Ich-Erzähler Walter, der aus zeitlicher Distanz auf die Ereignisse zurückblickt. Die Erzählung setzt ein mit einem Umzug der Familie innerhalb Rostocks. Zur Familie gehören neben Walter dessen ältere Geschwister Robert und Ulla sowie die Eltern Grete und Karl. Eine wichtige Rolle spielt auch der Däne Sven Sörensen, der im Büro der Reederei des Vaters arbeitet und sich in Ulla verliebt. Beide heiraten und verlassen schließlich Rostock, um in Kopenhagen zu leben. Bevor es so weit kommt, muss Sörensen aber noch eine brandgefährliche Situation überstehen: Weil er in einen Stadtplan von Rostock Häuser einzeichnet, die durch die Bombenangriffe zerstört wurden, wird er von der Gestapo verhaftet. Nur mit viel Geschick gelingt es Grete, seine Freilassung zu erwirken. 1941 wird der Vater, der schon im Ersten Weltkrieg gedient hatte und dort verwundet worden war, zur Wehrmacht eingezogen. Das Familienleben ändert sich danach deutlich, denn der Vater war bis dahin die zentrale Figur, um die sich alles drehte. Er ist auch für die der Familie eigenen Redewendungen und Ausdrücke wesentlich verantwortlich: ‚Tadellöser & Wolff‘ etwa, eine Verballhornung des Firmennamens der Zigarrenfabrik Loeser & Wolff, steht im

2.1  Deutsche Chronik35

Sprachgebrauch der Kempowskis für ‚ausgezeichnet‘, während ‚Miesnitzdörfer & Jensen‘ das Gegenteil bezeichnet. Die Familie hält weitgehend Abstand zum NS-Regime, versucht sich aber damit zu arrangieren. Karl war – wie in einem Nebensatz mitgeteilt wird – offenbar einmal Mitglied der SA, Walter gehört der Hitlerjugend (HJ) an. Die ‚echten‘ Nazis betrachten die Familienmitglieder allerdings mit großer Verachtung und besonders die beiden Jungen gehen eigene Wege: Robert interessiert sich sehr für die verpönte Jazz-Musik, Walter versucht sich immer öfter um den Dienst in der HJ zu drücken oder sich deren Regeln zu widersetzen. Schließlich wird er sogar in eine Strafeinheit der Hitlerjugend versetzt. Auch schulisch ist das Leben des Erzählers alles andere als einfach. Zur Nachhilfe etwa muss er in das Institut von ‚Tante Anna‘, deren Pädagogik sich offenbar in der körperlichen Züchtigung der ihr Anbefohlenen erschöpft. Gegen Ende des Krieges muss Walter als Kurier für die Wehrmacht arbeiten und dabei eine abenteuerliche Reise in das vom Krieg massiv zerstörte Berlin antreten. Kurz vor dem Einmarsch der Roten Armee gelingt es ihm aber noch, die Reichshauptstadt zu verlassen und nach Hause zurückzukehren. Dort entscheidet sich die Mutter, in Rostock zu bleiben und bis zur Rückkehr ihres Mannes und des älteren Sohnes auszuharren. Am Ende des Romans sitzen Walter und Grete auf dem Balkon und erwarten den Einzug der Sowjets, bis die ersten Schüsse in ihrer unmittelbaren Umgebung fallen. 2 Analyse Die Erzähltechnik des Romans ist besonders durch die ‚Textblöcke‘ gekennzeichnet, die den Roman in kleine Episoden zergliedern und dem Eindruck einer ‚runden‘ und damit sinnstiftenden Erzählung entgegenstehen (vgl. zur Entstehung des ästhetischen Verfahrens besonders Dierks 1981). Die Ereignisse in und um die Familie sind so schwerwiegend, dass ein ‚Durcherzählen‘ offenbar nicht möglich ist. Getragen wird der Roman dennoch auch von Ironie und Humor (vgl. allgemein zur Komik bei Kempowski Kindt 2010). Nicht zuletzt werden viele der Charaktere besonders durch ihre sprachlichen Marotten karikiert (vgl. zur satirischen Redemimesis bei Kempowski Arntzen 2010). Zentral sind aber auch die vielen intertextuellen Verweise, die zwischen Autor und Leser geradezu einen ‚intertextuellen Pakt‘ entstehen lassen (vgl. hierzu besonders Feuchert 2010 u. 2013). Durch die genaue Entschlüsselung dieser Verknüpfungen entfalten sich die Bedeutungskontexte des Romans erst richtig. Diese stehen auch einer naiven Rezeption des Romans als Verherrlichung einer kleinbürgerlichen Idylle inmitten des verbrecherischen NSRegimes deutlich entgegen. Mit Gérard Genette lassen sich drei Verfahren unterscheiden, wie sich Intertextualität – als „effektive Präsenz eines Textes in einem anderen“ (Genette 1989, 10) – auch bei Kempowski realisiert: als markiertes Zitat (zu dem auch die bloße Nennung eines Werktitels gehört), als Plagiat (d.  h. die wörtliche, aber nicht gekennzeichnete Übernahme eines Textes aus einem anderen Werk)

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oder als Anspielung (also die fragmentarische, nicht deklarierte Entlehnung, die der Leser nur erkennt und versteht, wenn ihm der Text, auf den Bezug genommen wird, bekannt ist). Besonders eindrucksvoll lassen sich das Verfahren und v.  a. die Folgen an einer Stelle illustrieren, die auf den ersten Blick unscheinbar daherkommt: Es handelt sich um die intertextuelle Vernetzung mit einer realen Zeitungsmeldung, die Auschwitz thematisiert. Es ist die einzige Stelle in Tadellöser & Wolff, an der der Ort des größten Konzentrations- und Vernichtungslagers vorkommt. Zum Kontext der Stelle: Der kleine Walter ist bei seinem Großvater de Bonsac im kriegserschütterten Hamburg zu Besuch, als dieser beim Frühstück in der Zeitung blättert und beim „Sonstigen“ hängenbleibt, jenem Teil des Blattes, der „immer die interessantesten Nachrichten“ (beide Zitate Kempowski 1992b, 308) bereithält. Von einem kleinen Jungen ist da die Rede, der in „São Paulo […] von einem wilden Bienenschwarm getötet“ wurde – „und in Auschwitz, bei Kattowitz, da habe sich auf der Straße ein blutiges Ehedrama abgespielt.“ (Kempowski 1992b, 308) Die geographische Verortung von Auschwitz, das heute wie kein zweiter Ort für das Jahrhundertverbrechen der Nationalsozialisten steht, zeigt an, wie wenig der Name dem jungen Kempowski in den Ohren geklungen hat. Für den heutigen Leser stellt sich ein „böser Widersinn“ (Mecklenburg 1977, 22) ein, der sich aus dem jetzigen kollektiven Wissen und der vergleichsweise banalen Meldung ergibt. Auf einer Karteikarte hat Kempowski vermerkt, woher die beiden faits divers stammten, die er in der erwähnten Szene zitiert. Während ihm die Meldung über die tödlichen Bienenstiche im Radio lange nach dem Krieg zugeflogen war, fand er die Nachricht aus Auschwitz im Rostocker Anzeiger vom 1. Juli 1943. Unter der Überschrift „Blutiges Ehedrama auf der Straße“ ist im Anzeiger zu lesen: In Auschwitz, bei Kattowitz, spielte sich auf offener Straße ein blutiges Ehedrama ab. Ein Mann, der mit seiner Frau in Unfrieden lebte, geriet auf dem Ring mit ihr in neuerlichen Streit. Dabei zog der ein Messer und erstach seine Frau. Der Mörder stellte sich daraufhin der Polizei. (Zitiert nach Feuchert 2010, 148  f.)

Die Ortsangabe „bei Kattowitz“ ist also keineswegs eine Erfindung Kempowskis, sondern entstammt dem Original. Fragen drängen sich auf: Warum wurde diese Meldung 1943 wohl verbreitet? Was sollte diese journalistische Inszenierung scheinbarer Normalität – auch wenn ein Mord geschieht, so wird dieser doch offenbar gesühnt – am Schauplatz des größten Menschheitsverbrechens? Noch absurder erscheint die Meldung, wenn man in der Rubrik „Kurze Tagesneuigkeiten“ weiterliest. Direkt darunter berichtet der Rostocker Anzeiger von zwei Berliner Frauen, Mutter und Tochter, die man „mit Gas vergiftet aufgefunden“ habe. „Der Grund zu der Verzweiflungstat ist vermutlich in schwerer Krankheit zu suchen.“ (nach Feuchert 2010, 149) Die Erwähnung von Auschwitz, Mord und dem Gastod zweier Menschen in diesen Kontexten erscheint mit dem heutigen Wissen ungeheuerlich – und doch ist sie in der Kombination höchstwahrscheinlich ein Zufall. Aber es ist einer jener Zufälle, die für Kempowski die Wirklichkeit und letztlich auch deren textliche Repräsentation ausmachen.

2.1  Deutsche Chronik37

Kempowskis zweiter Roman, der in der Familiengeschichte der Kempowskis chronologisch eigentlich an dritter Stelle steht, wurde in der Kritik sehr verhalten aufgenommen. Anders als seine Zeitgenossen Heinrich Böll oder Günter Grass hatte Kempowski eine uneindeutigere Art der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus gewählt und wurde dafür in der Kritik nicht geschont. Seine Werke schienen nicht wenigen auch darin unterlegen, dass sie einen Leserkreis ansprechen, dessen höchstes Lob es ist, zu behaupten, alles sei ‚genauso‘ gewesen, was das so Identifizierte mit dem Leser verbindet. ‚Genauso‘ heißt überdies, die Darstellung entspreche nicht nur dem, was als tatsächlich gilt, sie habe auch spezifisch alltägliche Züge, was wiederum der Identifizierung aufhelfe. (Arntzen 2010, 2)

Damit galten Kempowskis Romane führenden Kritikern als trivial und ihre Komplexität wurde vollends übersehen. Beim Publikum entwickelte sich Tadellöser & Wolff dagegen gleich zum Bestseller. Nach der Verfilmung für das Fernsehen durch Eberhard Fechner – die Kempowski als problematisch empfand (vgl. etwa Kempowski 2004c, 103), obwohl sie ein Millionenpublikum begeisterte – wurden die Redensarten der Figuren geradezu zum Allgemeingut und Kempowskis Bücher zu Verkaufsschlagern. Die Anerkennung im Literaturbetrieb blieb dem Autor hingegen lange versagt; erst kurz vor seinem Tod wurde er für seine künstlerischen Leistungen gefeiert. In diese umfassenden Würdigungen wurde auch der Roman Tadellöser & Wolff eingeschlossen, der 2010 sogar für die Bühne in Hamburg adaptiert wurde. 2017 legte Lars Bardram einen ausführlichen Stellenkommentar für den Roman vor, der online abrufbar ist und seitdem mehrfach aktualisiert wurde (vgl. zur aktuellen Fassung Bardram 2018).

2.1.3  Uns geht’s ja noch gold. Roman einer Familie Ute Barbara Schilly 1 Inhaltsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2 Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39

1 Inhaltsüberblick Der Roman Uns geht’s ja noch gold ist 1972 als zweites Werk nach Tadellöser & Wolff (vgl. Kempowski 1971a) in der Reihe der Deutschen Chronik erschienen. Von der inhaltlichen Chronologie her bildet Uns geht’s ja noch gold den vierten Band der ungefähr ein halbes Jahrhundert umspannenden Familienchronik und zeigt das (Er-)Leben des jugendlichen Walter sowie der Familie Kempowski in der Nachkriegs- und Besatzungszeit zwischen Mai 1945 und März 1948. Wie bereits Tadellöser & Wolff ist Uns geht’s ja noch gold gänzlich aus der Ich-Perspektive Walters erzählt. Der Roman beginnt mit einer Bestands-

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aufnahme bei Kriegsende: Walter beschreibt zunächst vom Fensterplatz der Familienwohnung aus die Situation auf der Straße, die Kapitulationsfahnen an den Häusern und die Bedrohung durch die einziehenden Russen. Im Inneren der bürgerlichen Wohnung sichtet und ordnet derweil die Mutter Wäsche und Kleidung im Schrank und vollzieht ihrerseits auf bürgerlich-hausfrauliche Art eine Bestandsaufnahme. Hier gilt das Fazit „Soweit war man ja gut durchgekommen“ (Kempowski 1975b, 9), und man gibt sich zuversichtlich: Der Hamburger Großvater lebt bei Walter und Mutter, Schwester Ulla weiß man in Dänemark in Sicherheit und Robert und der Vater würden es auch noch schaffen. Zu diesem Zeitpunkt herrscht noch die Erleichterung darüber vor, dass die Nationalsozialisten ‚weg‘ sind, „diese Muschpoke“ (Kempowski 1975b, 9): „[r]ichtiges Pack“ (Kempowski 1975b, 28). Walter spürt Freiheit, die für ihn bedeutet, sich endlich die Haare wachsen lassen zu können. Ab dem Moment, als Walter auf die Straße hinausgeht, wird zunehmend das Augenmerk auf die Realität der unmittelbaren und frühen Nachkriegszeit gelegt: Eine Collage entsteht aus Nachkriegschaos samt Hungerleiden und Überlebenskampf, Plünderungen und Grausamkeiten der russischen Besatzer, aber auch aus Erinnerungen an die vergangene bürgerliche Idylle sowie an Naziparolen, deren Absurdität nun umso deutlicher hervortritt. Im Laufe dieser neuen Zeit verschwimmen die Grenzen zwischen dem schützenden Innen der bürgerlichen Wohnung und dem Außen der Realität; es nützt nichts mehr, sich abzuschotten und die Augen und Ohren zu verschließen: Fremde werden einquartiert, immer wieder übertreten Russen die Türschwelle, nehmen Gegenstände mit oder holen die Mutter zum Putzen, bis schließlich Walter am Ende des Romans verhaftet wird. Im Umkreis der Familie kehren nach und nach Bekannte und Nachbarn zurück; der Weinhändler Cornelli erweist sich als treuer Freund der Familie, während sich Walter wieder der alten Clique anschließt. Robert kehrt schließlich aus der Kriegsgefangenschaft zurück und erhält Arbeit durch Walters Kontakte ins Arbeitsamt, wo dieser anfangs eingesetzt ist. Die Familie kann sich mit Schrebergärtnern und Hamstern sowie dem einen oder anderen Lebensmittelpaket von Ulla aus Dänemark über Wasser halten. Das wiederholt von der Mutter angeführte Motto ist das titelgebende ‚Uns geht’s ja noch gold‘. Auf gesellschaftlicher Ebene vollzieht sich allmählich auch eine Neuordnung: Der sozialistische Staat formiert sich, neue Parolen etablieren sich. Je mehr diese neue Entwicklung manifest wird, umso skeptischer und zunehmend ablehnender sieht sich die Familie Kempowski gegenüber der neuen Staatskultur, zumal sie der nun erstarkenden Arbeiterklasse nach wie vor mit Standesdünkeln begegnet. Die Mitteilung vom Tode des Vaters Anfang 1946 stürzt Walter in eine Krise. Er beginnt die Schule zu schwänzen und muss sie schließlich verlassen. Stattdessen verschiebt er Waren auf dem Schwarzmarkt, bis er nach langer Ausbildungsplatzsuche mit Hilfe des Großvaters als Druckerlehrling unterkommt. Robert arbeitet indes wieder in der väterlichen Reederei, wo er die

2.1  Deutsche Chronik39

Demontage durch die Russen abwickelt. Der Großvater stirbt Anfang 1947 an Entkräftung. Walters enger Freund Fritz Legeune, den er bei der LiberalDemokratischen Partei Deutschlands (LDP) kennengelernt hat, wandert in den Westen ab. Im November folgt ihm Walter nach Wiesbaden, im Gepäck hat er die Frachtpapiere seines Bruders über die Demontagelieferungen nach Russland. In Wiesbaden erhält Walter Arbeit in einem Sales Commissary, nachdem er dem amerikanischen Geheimdienst CIC die Frachtpapiere seines Bruders überlassen hat. Walter geht es gut in Wiesbaden, denn er kann sich endlich satt essen. Er hört von einem Bekannten, der nach Rostock reist, und Heimweh übermannt ihn. Mit einem Interzonenpass fährt Walter zurück und wird im Morgengrauen aus dem Bett heraus verhaftet. 2 Analyse In Uns geht’s ja noch gold führt Walter Kempowski das erzählerische Prinzip von Tadellöser & Wolff fort. Dazu gehört auch, dass dem erzählerischen Teil der Vorsatz „Alles frei erfunden!“ (Kempowski 1975b, 6) vorangestellt ist. Gegenüber Tadellöser & Wolff, das den Untertitel Ein bürgerlicher Roman trägt, fehlt nun das Adjektiv ‚bürgerlich‘ im Untertitel. Dies kann im Zusammenhang mit der zunehmenden Desintegration der bürgerlichen Welt sowie der Familie Kempowski selbst gesehen werden. Aus diesem Grund hatte Kempowski den Roman ursprünglich Langer Abschied nennen wollen. Die innere Strukturgebung von Uns geht’s ja noch gold erfolgt in Kapiteln: Die Unterteilung des Romans in 20 Kapitel entspricht weitgehend entweder einem jeweils neuen Zeitabschnitt, so umfasst zum Beispiel Kapitel 8 die Zeit um Ende Juli 1945 und Kapitel 10 den Oktober 1945 usw., oder markiert einen neu eintretenden Aspekt wie etwa den Umzug Walters in Ullas Mansarde (Kapitel  3), den ersten Nachkriegsgottesdienst in Rostock (Kapitel  4) oder das Treffen der Clique in Kapitel 9. Häufig korreliert beides, zum Beispiel der Jahresbeginn 1946 und die erste Post von Ulla aus Schweden sowie der einsetzende Briefverkehr mit der Verwandtschaft (Kapitel 12). Innerhalb der Kapitel erfolgt das Erzählen in den für den Stil Kempowskis so charakteristischen einzelnen Blöcken. Auch auf dieser Ebene setzt sich das Gliederungsprinzip des Werkes fort: Größere Zeit- oder Sinnabschnitte sind durch eine doppelte Leerzeile abgesetzt. Die erzählte Zeit des Romans ist nahtlos in die Deutsche Chronik eingefügt: Schließt Tadellöser & Wolff zu Kriegsende mit sich nähernden Schüssen als Zeichen des Einmarsches der Russen, wegen denen Margarethe Kempowski und Walter sich vom Balkon in die Wohnung zurückziehen, so beginnt Uns geht’s ja noch gold mit einem Überblick aus Walters Sicht, der von seinem Fensterplatz aus die Lage auf der Straße zu erfassen sucht. Dieser UmschnittTechnik entsprechend endet das Werk mit der Verhaftung Walters in der elterlichen Wohnung im März 1948, woraufhin Ein Kapitel für sich (Kempowski 1975a) zu Beginn das Ereignis der Verhaftung Walters wieder aufgreift und polyperspektivisch weitererzählt.

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Zu den ersten Lesern des Manuskripts von Uns geht’s ja noch gold gehört Uwe Johnson, der dem Text mangelnde „sprachliche Disziplin“ (zitiert nach Fahlke und Treptow 2006b, 136) attestierte. Auf seine Anregung geht auch zurück, dass der letzte Satz im Roman mit dem ersten von Im Block identisch ist. Das Erscheinen des Romans wird durch Besprechungen in allen großen, aber auch einer Vielzahl regionaler Zeitungen und Zeitschriften begleitet. Dabei steht Kempowskis erzählerisches Verfahren der Montage aus objets trouvés im Mittelpunkt. Zustimmung und Ablehnung halten sich diesbezüglich ungefähr die Waage: Auf der einen Seite werden dem Roman „glänzende Montagen“ (Piontek 1972) zugesprochen, er gilt als „Wunderwerk objektivierter Gedächtniskraft“ (Kramberg 1972) und als „neuer Realismus“ (Wapnewski 1972); Kempowski wird als „Historiograph“ (Kielinger 1972) bezeichnet. Hartmut Scheible erkennt in der Frankfurter Rundschau in der miniaturhaften Erzähltechnik eine Form, die dem Inhalt entspricht, und zwar als „Protokoll, wie die große Katastrophe in individuelle Unglücksfälle zerkleinert wurde“ (Scheible 1972). Auch Wapnewski sieht den Mehrwert der Montagetechnik Kempowskis und bezeichnet sie als sein „wirkungsvollstes Element“ (Wapnewski 1972). Zum Teil wird Uns geht’s ja noch gold sogar gegenüber Tadellöser & Wolff als „geschlossener“ (Arnold 1972) beurteilt, oder ihm wird „strengere erzählerische Ökonomie“ (Weigend-Abendroth 1972) zugeschrieben. Die Braunschweiger Zeitung nennt die Chronik gar das „hoffnungsvollste Unternehmen der 70er Jahre“ (Lex 1972). Auf der anderen Seite jedoch zählt gerade die Erzähltechnik zu den Hauptansatzpunkten für Negativkritik und wird als „ermüdende Akribie“ (o. A. 1972, 184) oder als „Masche“ (Köster 1973) verurteilt. In der Frankfurter Allgemeine heißt es: „[P]ure[s] Nachschreiben der Wirklichkeit ergibt noch keine Literatur“ (Scheffel 1972), und Bücherkommentare sieht nur ein „katastrophales Durcheinander“ (Gregor-Dellin 1972, 9). Eine weitere kritische Position etwa spricht dem Roman zwar hohen Unterhaltungswert zu, wirft dem Autor deswegen aber auch Verharmlosung der damaligen Zeit vor (u.  a. Wallmann 1972; Zivier 1972). Zum Teil wird skeptisch auf die zeitliche Begrenztheit hingewiesen, die Realia der Epoche zu verstehen. Tatsächlich aber erweist sich das Werk Kempowskis in damals ungeahntem Ausmaß als bedeutsam für heutige Schriftsteller, u.  a. für jene, die Jahrgang 1970 oder jünger sind. Bei den zeitgenössischen Rezensenten, die selbst Zeitzeugen waren, zeichnen sich zwei Tendenzen der Kritik ab, zum einen dankbare Würdigung dahingehend, dass ein Schriftsteller die frühen Nachkriegsjahre en détail dokumentiert. Zum anderen wird wiederum das Übergewicht des Humorigen gegenüber der erlebten Härte jener Epoche kritisiert. Aufgrund von Uns geht’s ja noch gold rückt die Rezeption Kempowski hauptsächlich in die Nähe von Hubert Fichte, Günter Grass – so wird Walter etwa mit Oskar Matzerath verglichen (vgl. Weigend-Abendroth 1972) – und Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen, wobei etwa die Berliner Mor-

2.1  Deutsche Chronik41

genpost Walter als Simplicissimus bezeichnet (vgl. Paul 1972). Die Kölnische Rundschau nennt Walter einen „Ostsee-Schwejk“ (Biergann 1972). Beim breiten Lesepublikum setzt Uns geht’s ja noch gold den durch Tadellöser & Wolff begründeten großen Erfolg des Autors fort und avanciert ebenfalls zum Bestseller. Der starke Anklang, den das Buch findet, ist weitgehend affirmativ und fußt auf dem Wiedererkennungseffekt. Für das Fernsehen wurde der Roman von Eberhard Fechner adaptiert und gemeinsam mit den Hafterfahrungen als Dreiteiler unter dem Titel Ein Kapitel für sich zur Jahreswende 1979/80 mit ähnlich großer Breitenwirkung wie schon die Verfilmung von Tadellöser & Wolff ausgestrahlt, so dass familieneigene Floskeln spätestens jetzt sprichwörtlich wurden (vgl. Weber 1977, 281). Die frühe und frühere literaturwissenschaftliche Forschung zu Uns geht’s ja noch gold konzentriert sich auf drei Schwerpunkte: die Montagetechnik Kempowskis, die Erzählerstimme Walters und den Chronikcharakter des Romans. Im Hinblick auf das Montageverfahren wird zum Teil auch hier eine eher kritische Sicht vertreten: Manfred Dierks spricht von „spürbare[r] Mechanik“ (Dierks 1984, 115), dem „nachlässiger[en]“ Anbringen „bewährte[r] Effekte“ (Dierks 1984, 116) und vermisst eine „stilistische Neuerung“ (Dierks 1984, 115) gegenüber Tadellöser & Wolff. Keith Bullivant bemängelt das offensichtliche Anhäufen von Bildern (vgl. Bullivant 1987). Allerdings wird den einzelnen Erzählblöckchen durchaus auch Kunstfertigkeit (vgl. Weber 1977, 278) zugesprochen. Dierks sieht darin sogar eine Korrelation mit der inhaltlichen Aussageebene, dem „Herausfallen des Ich-Erzählers aus seinen bisherigen Weltorientierungen“ (Dierks 1984, 114). Der Erzählerstimme Walters wird nun eine größere Protagonisten- bzw. Subjektrolle zugeschrieben als noch in Tadellöser & Wolff (vgl. Dierks 1984). Sylvia Schwab empfindet Walter als „Maske“, da „keine Spannung zwischen Innenerfahrung und Außenerfahrung“ (beide Zitate Schwab 1981, 62) aufgebaut würde. Doch schreiben demgegenüber Briegleb und Bullivant der erzählerischen Jugendstimme Walters das Potential zu, dem rein nostalgischen Wiedererkennen „dissonant entgegen[zu]wirken“ (Briegleb und Bullivant 1992, 339). Riley weist auf die ironische Dissonanz hin, die sich zwischen Widmung in russischer Sprache und kyrillischer Schrift einerseits („Wie schwer ist es für mich, hinaus ins Dunkle zu gehen“) und dem optimistischen Titel des Romans andererseits einstellt (vgl. Aston 2002, 45). Dietrich Weber kritisiert die Beschränktheit des jugendlichen Erzählerblicks, weil er zum einen bedeute, dass unweigerlich Lücken in der Dokumentation dort auftreten, wo sie die Erfahrungswelt des Protagonisten übersteigen, zum anderen fehle ihm das Miteinbeziehen einer Reflexionsebene (vgl. Weber 1977, 284). Dieser Aspekt ist Kempowski häufig vorgeworfen worden, jedoch geht Weber in etwas widersprüchlicher Weise über seine Kritik hinaus, indem er wiederum konzediert, dass der Autor durchaus nicht nur wiedergebe, sondern eine kritische Dimension an dem Fortbestehen problematischer bürgerlicher Muster in den Text eingewoben habe, und zwar durch „Akzentuierung des erfassten geschichtsspezifischen Materials“, nämlich „punktuell“ in den „anschaulichen Bildchen“ (Weber 1977, 284). Weber stützt

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sich hierbei auf Peter Wapnewski (1972) und weist den satirischen Charakter des Romans wie der weiteren Chronik-Bände nach. Franz Josef Görtz sucht die große Bedeutung Kempowskis theoretisch zu zementieren, indem er ihn in den Horizont von Geschichtsdefinitionen wichtiger Theoretiker wie Habermas, Gadamer, Kracauer oder Berlin stellt. Walter Kempowski betreibe die Kunst, Geschichte zu schreiben, während er die private Chronik in den größeren Zusammenhang der Zeitgeschichte einordnet (vgl. Görtz 1973). In der neueren und neuesten Forschung werden die Deutsche Chronik und ihre Teile auf religiöse Impulse zurückgeführt (vgl. Leber 2011), wie zuvor bereits punktuell bei Zimmermann-Thiel (1994) und bei Dierks (1984). So arbeitet Gita Leber eine Übereinstimmung zwischen den Romanen der Deutschen Chronik und dem Kirchenjahr heraus und ordnet Uns geht’s ja noch gold die Passionszeit zu. Bernd Kiefer geht auf Uns geht’s ja noch gold genauer ein im Rahmen seiner Untersuchung des Verhältnisses zwischen Buch und Film, Autor und Regisseur (vgl. Kiefer 2010). Sabine Kyora, Stefanie Stockhorst und Richard Aston beleuchten u.  a. den Roman in der Perspektive des Umgangs mit Vergangenheit, Erinnerung und Geschichte (vgl. Kyora 2010; Stockhorst 2010; und Aston 2002).

2.1.4  Ein Kapitel für sich. Roman Andreas Grünes 1 Inhaltsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 2 Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44

1 Inhaltsüberblick Der Roman Ein Kapitel für sich (Kempowski 1975a) ist die erneute literarische Verarbeitung der Haftzeit Walter Kempowskis nach dem 1969 erschienenen Haftbericht Im Block (Kempowski 1969) und dessen überarbeiteter Fassung von 1972 (Kempowski 1972b). Die Erfahrung der Haftzeit Walter Kempowski in Bautzen wird nun ergänzt um die Erlebnisse der ebenfalls verhafteten Familienmitglieder Robert (Bruder) und Margarethe (Mutter) sowie um Briefe der in Dänemark lebenden Schwester Ulla Kempowski. Der Roman gliedert sich in mehrere Teile, die sich nach Dirk Hempel mit dem thematischen Rahmen Verhaftung, Transport, Politische Gespräche, Ausbruch und Entlassung beschreiben lassen (vgl. Hempel 2004, 143). Jedem Teil sind als Einleitung Aussagen anderer Mitgefangener aus Bautzen vorangestellt. Der Roman ist Teil der Deutschen Chronik und stellt das narrative Bindeglied zwischen den Romanen Uns geht’s ja noch Gold (Kempowski 1972a) und Herzlich willkommen (Kempowski 1984a) dar. Somit beginnt Ein Kapitel für sich mit dem Ende des Romans Uns geht’s ja noch Gold: der Verhaftung Walter

2.1  Deutsche Chronik43

Kempowskis. Unter dem Vorwurf, Frachtbriefe in den Westen geschmuggelt zu haben und somit als Spion tätig zu sein, wird Walter verhaftet und nach Untersuchungshaft – ebenso wie sein ebenfalls arretierter Bruder Robert – wegen Spionage, antisowjetischer Hetze und illegalen Grenzübertritts zu 25 Jahren Gefängnishaft verurteilt und in das Zuchthaus Bautzen überstellt. Die Mutter, Margarethe Kempowski, die zunächst unbehelligt bleibt und aufgrund der unklaren Kommunikationslage nach dem Verbleib ihrer Kinder forscht, gerät ebenfalls in das Visier der russischen Behörden und wird schließlich auch verhaftet. Sie wird wegen Nichtanzeigens eines ausländischen Agenten zu zehn Jahren Arbeitslager verurteilt und im Februar 1949 in das russische Gefängnis in Sachsenhausen gebracht. Während die Brüder zunächst nichts vom Schicksal ihrer Mutter erfahren, bietet die gemeinsame Haftzeit in Bautzen immer wieder Gelegenheit des Zusammenseins: „Ein wahrer Glücksfall ist es zu nennen, daß wir dann im März 1949 auf einen Saal verlegt wurden […]“ (Kempowski 1975a, 151). Der Wechsel zwischen den Berichten der Söhne und der Mutter sowie den Briefen der Schwester an den in Westdeutschland lebenden Onkel Richard erzeugen Perspektivwechsel, in denen die Sorge um die anderen Familienmitglieder, aber auch das Hadern mit dem eigenen Schicksal deutlich werden: „Alle Sachen packen!: [sic] das ist ein Wort, das man nie vergißt, in seinem ganzen Leben nicht. Unruhe und Unsicherheit waren damit verbunden, ja, in gewisser Weise auch Gefahr.“ (Kempowski 1975a, 151) Gemeinsam ist den Berichten die Beschreibung einer sich entwickelnden Gefängnisgemeinschaft. Durch den Austausch der Insassen untereinander werden die unterschiedlichen Haftgründe, vor allem aber auch die Herkunft aus verschiedenen gesellschaftlichen Schichten beleuchtet: „Typen über Typen. Bassermannsche Gestalten! Ein Sammelsurium von Existenzen, das einem nie wieder unterkommt.“ (Kempowski 1975a, 159) Dabei ist die Selbstwahrnehmung der Kempowskis nicht frei von dünkelhaftem bürgerlichen Stolz: „Die Leute – kleine Leute! – sahen natürlich sofort, daß wir einer anderen Schicht zuzurechnen waren, unser Habitus und unser ganzen Auftreten“ (Kempowski 1975a, 151). Mit Übernahme der Bautzener Haftanstalt durch die Volkspolizei im Zuge der Gründung der DDR bessern sich zu Beginn der 1950er Jahre die Haftbedingungen teilweise, wenngleich sich der Gesundheitszustand sowohl von Walter als auch von seiner Mutter verschlechtert: Walter wird wegen Entkräftung ins Lazarett verlegt, Margarethe Kempowski darf aufgrund ihres Magenleidens in der Strafanstalt Hoheneck leichtere Arbeiten übernehmen. Auch wird es durch den Anstaltspfarrer, der sowohl in Bautzen als auch in Hoheneck tätig ist, ermöglicht, Nachrichten zwischen Mutter und Söhnen auszutauschen. Einem letzten Verhör Margarethe Kempowskis folgen schließlich am 16. Januar 1954 ihre Entlassung und daran anschließend ihre Ausreise nach Westdeutschland und ein Wiedersehen mit den übrigen Familienmitgliedern. Aufgrund eines allgemeinen Gnadenerlasses des DDR-Präsidenten Wilhelm Pieck werden Walter und Robert zwei Jahre später, im Frühling bzw. im Herbst 1956, vorzeitig aus der Haft erlassen.

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2 Analyse Der Roman basiert auf dem Haftbericht Im Block von 1969, berücksichtigt aber in viel höherem Maße die Aufzeichnungen, die Kempowski ab 1959 in Gesprächen mit seiner Familie anfertigte. Hinzu kommen Interviews mit ehemaligen Gefangenen aus dem Bautzener Gefängnis. Indem die anderen Familienmitglieder (außer dem bereits 1945 im Krieg gefallenen Vater Karl Kempowski) selbst zu Wort kommen, wird die aus den vorherigen Romanen Tadellöser und Wolff und Uns geht’s ja noch gold bekannte Erzählstruktur verändert. Neben Walter Kempowskis Schilderungen werden nun Berichte der Mutter und des Bruders sowie Briefe der Schwester als einzelne Kapitel zeitlich arrangiert. Dadurch ergibt sich eine polyperspektivische Erzählstruktur, die von den Berichtenden selbst betont wird: „Mein Name ist Robert Kempowski. Auch ich möchte dem Elaborate meines Bruders in aller Bescheidenheit ein paar Bemerkungen hinzufügen.“ (Kempowski 1975a, 65) Anders als in Im Block treten die Schicksale seiner Familienmitglieder gleichwertig zu Walter Kempowskis eigener Hafterfahrung hervor. Damit berücksichtigt Kempowski auch die Tonbandaufzeichnungen und Mitschriften der Erinnerungen seiner Mutter und seines Bruders, deren Bedeutung für die gesamte Deutsche Chronik nicht unterschätzt werden darf, wie Manfred Dierks bereits 1981 konstatierte: „Insbesondere aber wird der Verlauf der Vorgeschichte des Block (und implizit des Tadellöser) bestimmt durch die Informationen, die Kempowski von seiner Mutter erhält.“ (Dierks 1981, 26; vgl. auch Keele 1997) Dabei ist auch der Aspekt der Mitschuld an der Verhaftung von Margarethe und Robert Kempowski für die erneute literarische Bearbeitung von erheblicher Bedeutung: „ Ursprünglich hatte er sie [seine Familie] zu ihrer eigenen Haftzeit befragen wollen. Dies Thema war für ihn außerordentlich stark mit Schuldgefühlen besetzt, noch im Block vermag er es nicht zu bearbeiten.“ (Dierks 1981, 26) Die veränderte Erzählstruktur, vor allem aber die im Vorfeld mit ehemaligen Mitgefangenen geführten Gespräche verweisen auf ein anderes, zeitgleiches Projekt Kempowskis, die Befragungsbände: Vor jeden Teil des Romans sind Zitate anderer Häftlinge gestellt, die als thematische Rahmen die nachfolgenden Kapitel einleiten und damit auf die Befragungsmethodik der Bände Haben Sie Hitler gesehen? (1973a), Immer so durchgemogelt (1974a) und Haben Sie davon gewußt (1979b) verweisen. Die Verwendung von Zeitzeugenaussagen erhöht nicht nur die Authentizität der Berichte. Volker Ladenthin hat in seiner Untersuchung der ästhetischen Gestaltung der Befragungsbände festgestellt, dass diese nur scheinbar eine bloße Dokumentation von Interviewaussagen darstellen: „Die Texte sind ausgewählt worden, sie sind geordnet worden.“ (Ladenthin 2005, 115) Dabei wird das Fehlen einer deutenden Rahmung der Aussagen durch ihr Arrangement kompensiert. So stehen vor dem ersten Teil zur Verhaftung der Familienmitglieder Zitate zu den Verhaftungsmomenten anderer Häftlinge, die keine eindeutige Definition, sondern unterschiedliche Wahrnehmungen des Moments der Gefangennahme

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aufzeigen. Manfred Dierks hebt Kempowskis Verwendung der sich teilweise ergänzenden, teilweise widersprechenden Zeitzeugenaussagen als literarisches Stilmittel der Authentizitätskonstruktion hervor: „Denn daß Wirklichkeit nur ‚perspektivisch‘ erfasst werden kann, aus dem jeweiligen Betrachtungswinkel und entsprechend den Erfahrungen des einzelnen, weiß jedermann.“ (Dierks 1981, 124) In diese Methode der divergierenden Perspektivierungen fügen sich auch die Briefe der in Dänemark lebenden Schwester Ulla und des in Hamburg lebenden Onkels Richard ein. Während die Hafterlebnisse von Walter, Robert und Margarethe Kempowski die Innenwelt des Gefängnislebens, vor allem aber auch die Innenwelt der Erzählenden voller Angst, Frustration und Sorge schildern, stellen die Briefe von Schwester und Onkel in zweifacher Form eine Außenperspektive dar. Die Briefe heben sich in ihrer Form, aber auch in ihrem geringen Umfang deutlich von den Berichten der anderen Familienmitglieder ab, auch treten neben der Sorge um die inhaftierten Familienmitglieder zunehmend die Alltagsprobleme der westlichen Nachkriegsgesellschaft in den Vordergrund, die sich gegenüber den Hafterlebnissen geradezu banal und materialistisch ausnehmen: „Ullas Briefe aus Dänemark […] und die des Hamburger Onkels Richard […] demonstrieren in brutaler Komik, wie wenig sich die ‚Außenwelt‘ um die Inhaftierten kümmert.“ (Dierks 1981, 125)

2.1.5  Aus großer Zeit. Roman Friederike Reents 1 Inhaltsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 2 Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

1 Inhaltsüberblick Auch wenn der Roman Aus großer Zeit (1978a) als vorletzter der mehrbändigen Deutschen Chronik entstanden ist, so ist er deren „Grundbuch“, indem darin „Schauplätze vorgestellt“, der „Generationenzug formiert“ sowie „die Archetypen bürgerlichen Alltagslebens […] und bürgerlicher Weltinterpretationen vorgeführt“ (Dierks 1984, 62) werden. Die Titel gebende ‚große Zeit‘ ist die wilhelminische Ära, in der die Geschichte der wohlhabenden Rostocker Reeder-Familie Kempowski ihren Lauf nimmt (zum Titel vgl. Kempowski 1978a, 79). Im großen Stil leben Robert William und Anna Kempowski ein ausschweifendes, voneinander weitgehend unabhängiges und von den Nachbarn entsprechend kritisch beäugtes Leben. Während der früh an Syphilis erkrankte, im Rollstuhl sitzende, aber weiterhin joviale Robert William zur Erheiterung junge Mädchen zu sich kommen lässt, unterhält seine weltoffene, aber gemütskranke Frau eine Beziehung mit einem Mann vom Theater. Die Kinder Karl (Körling) und Silvia (Silbi) wachsen gleichwohl

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weitgehend behütet in dem bürgerlich-künstlerischen Umfeld auf. Dabei ist allerdings die elterliche Beziehung insbesondere zum eher schlichten Sohn von kalter Ablehnung geprägt: „,Du bist doch bloß ein Versehen…!‘“ (Kempowski 1978a, 165), lässt die Mutter ihn früh wissen; als er in den Krieg zieht, gibt sie seine Kleider weg, denn „,[d]er fällt ja doch…‘“ (Kempowski 1978a, 306; vgl. Kempowski 1981a, 260). Ein Jahr vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs verliebt sich Karl im Sommerurlaub an der Ostsee in Grethe, eines der drei Kinder der pietistisch-frommen Wandsbeker Familie de Bonsac. Erst nachdem Grethes große Liebe zu einem schneidigen Flieger nicht erwidert wird, schließt sie in einer Mischung aus Vernunft und Zuneigung die Ehe mit Karl. Während sie die Kriegsjahre in einem Hamburger Kindergarten arbeitet, ist der junge Kempowski an der Front in Flandern, wo er nicht nur seinen besten Freund verliert, sondern auch durch einen Gasangriff ein immer wieder erwähntes Hautleiden davonträgt. Die deutschnationale Euphorie des vormals selbstzufriedenen Bürgertums bricht mit dem Ende des Kriegs in sich zusammen und lässt erahnen, dass die wilhelminische Epoche vielleicht doch nicht die ‚große Zeit‘ war, für die man sie lange gehalten hatte. In der Eröffnungspassage liegt die produktionsästhetische Keimzelle des Kempowskischen Schaffens. Der Erzähler betrachtet drei Bilder von Rostock aus unterschiedlichen Zeiten, die über seinem Schreibtisch hängen: eine Radierung von 1620, einen Öldruck eines Gemäldes von 1820 und ein Foto aus dem Jahr 1885. Hiermit verweist er nicht nur auf die weit zurückreichende Geschichte seiner Heimatstadt, von der er als räumlichen Bezugspunkt des Romans nun, Ende des 19. Jahrhunderts, exemplarisch einen Faden aufnimmt, sondern er zeigt, wie aus Bildern, angereichert mit historischem Wissen und szenischer Ausgestaltung, Geschichten entstehen. Dies ist ein Verfahren, das er im zweiten Hauptstrang seines Gesamtwerkes, dem Echolot, weiterführt, indem er darin, anders als in der Chronik, den schriftlichen Zeugnissen tatsächliches Bildmaterial beigibt. Der letzte Teil Herzlich willkommen indes rahmt und beschließt die Chronik mit dem Betrachten und Schießen von Familienfotos (vgl. Schilly 2006, 60). Anders als in den nachfolgenden Bänden schildert Kempowski in Aus großer Zeit die Geschichten der beiden Ursprungsfamilien aus unterschiedlichen Perspektiven, neben der des Haupterzählers etwa die der Wirtschafterin, des Hausfreundes oder der Nachbarin. Passagenweise wirkt der Roman wie ein „verspäteter Fontane-Roman, aber mit jenen kurzen Unterabschnitten“ (Arntzen 2010, 8). Dazwischen streut der Autor immer wieder anonymisierte Originalzitate, die der Typisierung und Authentisierung des Erzählten dienen. So fügt er Schlagerzitate, Zeitungsüberschriften oder auch Werbetexte ebenso ein wie leitmotivisch eingeführte „lustige[  ] Schnäcken“ (Kempowski 1978a, 73) oder Kalauer der Familiensprache und -erlebnisse. Zu letzteren gehören beispielsweise die Begriffe „,Tadellöser und Wolff‘“ (Kempowski 1978a, 83) als Qualitätsmerkmal (vgl. Kempowski 1971a, 11), „Miesnitzdörfer & Jensen“ (Kempowski 1978a, 50) als dessen Gegenteil oder auch „Was macht meine Haut?“ (Kempowski 1978a, 12) als Erinnerung an Karls Kriegsleiden.

2.1  Deutsche Chronik47

2 Analyse Die Mischung aus Fiktion und Dokumentation sowie die protokollstilhafte Erzählweise, die weitgehend kommentarlos Miniaturen aneinanderreiht, sind von der Literaturkritik nicht durchgehend goutiert worden. Der Roman sei zwar reich an Faktenwissen und stimmigen Details, die der Autor atmosphärisch „zu einem Panorama verdichtet“, was ihm „so schnell keiner“ (Starkmann 1978, 5) nachmache. Allerdings wird ebendiese Erzählweise als „einfache  […] Masche“ kritisiert, der Autor „pfleg[e] behäbig vor sich hinzuerzählen“ (Köpke 1978, II) und sei „verliebt in seine Details, in seine Figuren ist er es nicht“ (Hildebrandt 1978, 3). Der Roman sei „blutarm“, seine Protagonisten hätten „etwas von der Eindimensionalität der Figuren eines Ausschneidebogens“ (Krättli 1978, 33). Auffallend ist der reflexhaft wirkende Vergleich mit Thomas Manns Buddenbrooks, dem Aus großer Zeit jedoch nicht standhalten könne (vgl. Köpke 1978). Offenbar hat Kem­pows­ ki im Folgeband Schöne Aussicht auf diese Kritik reagiert, indem er Karl die Buddenbrooks lesen, zugleich aber deutlich werden lässt, dass dieser den Roman anders geschrieben hätte, nämlich „aufwärts, unbedingt“: „,Verfall einer Familie?‘ – Also nee.“ (Kempowski 1981a, 96) Hinter der Beliebtheit des Autors – die sich in der Leserschaft zumal bei Tadellöser und Wolff und Uns geht’s ja noch gold gezeigt hatte – vermuten weite Teile der Kritik die außerliterarische Anschlussfähigkeit des Erzählten nach dem Motto ‚Genau so war es!‘ sowie einen „Nachholbedarf an Bürgerlichkeit“, der sich als „Sucht nach der repräsentativen Geborgenheit fester und festlicher Konventionen“ (Hildebrandt 1978, 3) Ende der 1970er Jahre manifestiert habe. Die allgemeine „Animosität gegen Kempowskis Literatur“, so Jörg Drews, resultiere vor allem aus der dem Autor unterstellten „Harmlosigkeit“ (Drews 1978, 112). Dass der Autor kein psychologischer oder „scharf reflektierender Erzähler“ sei, macht er am „Prüfstein des Buches“, dem „Zusammentreffen von Kempowskis Erzählverfahren mit dem Stoff des Ersten Weltkriegs“ (Drews 1978, 112), fest. Gerade dass der Autor nach Remarque oder Edlef Köppen aber nicht vorgibt, vom Ersten Weltkrieg erzählen zu können, beweise indes, so Hildebrandt, „seinen Geschmack als Erzähler“ (Hildebrandt 1978, 3). Während der Kritiker Drews in seiner Rezension aus dem Erscheinungsjahr an dem Roman noch allerhand auszusetzen hatte, revidiert er als Literaturwissenschaftler knapp 30 Jahre später sein Urteil und konstatiert sogar „ein Versagen der Kritik“ (Drews 2005, 51). Damit folgt er der Kritiker- wie auch der Wissenschaftsschelte Eckehard Czuckas, der den „problematisch[en]“ Umgang der Rezensenten mit Kempowskis Werk ebenso geißelt wie die „institutionelle[] Rezeptionsverweigerung“ (Czucka 2000, 59) durch die Literaturwissenschaft. Während Czucka die dargestellte „Vorbereitung“ der heiklen Zeit („Hitler-Reich, Krieg, unmittelbare Nachkriegszeit“ [Czucka 2000, 77]) und damit die Gesamtkonzeption des Zyklus’ würdigt, betont Drews nun die „inszenierte Komik“ als „wesentlichen Zug der Kempowskischen Ästhetik“ (Drews 2005, 54). Drews hebt die „Art von unendlicher Trauer, von Demut,

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von Pietät“ sowie die „religiöse und geschichtsphilosophische Dimension“ (Drews 2005, 57) hervor, die am Ende von Aus großer Zeit aufscheine. Dass es gleichwohl auch frühe literaturwissenschaftliche Würdigungen gegeben hatte, zeigt etwa Manfred Jurgensens Aufsatz ‚Die zitierte Vergangenheit‘, in dem er schon 1980 nicht nur Kempowskis „Erzählironie“ und „Sprachsensibilität“ (Jurgensen 1980, 194) hervorhob, sondern auch „den hintergründigen Biß, das geschichtskritische Bewußtsein, die gesellschaftliche Moral“ von dessen „Erinnerungssprache“ (Jurgensen 1980, 206).

2.1.6  Schöne Aussicht. Roman Friederike Reents 1 Inhaltsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 2 Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49

1 Inhaltsüberblick Der zweite Teil der Chronik, der Roman Schöne Aussicht aus dem Jahr 1981, setzt mit der auf den Ersten Weltkrieg folgenden Depressionsphase der 1920er Jahre ein, reicht bis ins Jahr 1938 und setzt damit erzählzeitlich vor dem – zehn Jahre früher entstandenen – Roman Tadellöser und Wolff (1971a) an. Im Mittelpunkt der Handlung steht nun das junge Paar Karl und Grethe, aus deren Perspektive die ersten Ehejahre vor dem Hintergrund von Inflation, Arbeitslosigkeit, Weltwirtschaftskrise und aufziehendem Nationalsozialismus erzählt werden. Auf stützende Zeugenberichte in Form eigener Kapitel (wie in Aus großer Zeit) verzichtet der Autor nun; gleichwohl bleiben den drei Teilen des Romans dokumentarisch-fiktive Zeitzeugenberichte vorangestellt. Nach dem „Versailler ‚Diktat‘“ (Kempowski 1981a, 43) beginnt das junge Paar ganz unten, wohnhaft in der Borwinstraße, einer „Arbeiterstraße“ (Kem­pows­ ki 1981a, 11) in der „Puffgegend“ (Kempowski 1981a, 13) Rostocks. Um das soziale Missverhältnis auszugleichen, flüchtet man sich in zweifelhafte, ideologiegeschichtlich interessante Politik-Stammtische aller couleur zum Zwecke der Welterklärung sowie in kulturelle Zusammenkünfte und Erlebnisse. Dabei zeigt der Roman musterhaft, „welche Rolle Bildung als bürgerliche ‚Mittelschichts‘-Institution spielt“, nämlich die der „Stabilisierung von ‚Sinn‘“ (Dierks 1984, 76  f.; vgl. auch Hempel 1999, 5  f.). Bedingt durch den Familienzuwachs, tritt neben die Bildungsfrage die Umsetzung zeitgemäßer Erziehung der drei Kinder Ulla, Robert und Walter in einer Mischung aus Montessori- und Reformpädagogik (vgl. Dierks 1984, 80  f.). Die Machtübernahme der Nationalsozialisten und der damit einhergehende wirtschaftliche Aufschwung sowie die scheinbar wiederhergestellte Ruhe und Ordnung werden begrüßt, aufkommende Vorbehalte werden rasch verdrängt

2.1  Deutsche Chronik49

und einzelne systemnonkonforme Handlungen – wie etwa die Rettung der Jüdin Rebekka – nur halbherzig getätigt, um nicht „die Familie aufs Spiel [zu] setzen“ (Kempowski 1981a, 376). Die weiterhin mehr oder minder zeitcharakteristisch arglos-bürgerliche Familie zieht sich immer mehr in ihre sichere Gegenwelt, ihr Zuhause in einer nun geräumigeren Wohnung in der Alexandrinenstraße zurück, um die zunehmend inakzeptablen Zeiterscheinungen von der schönen Aussicht ihres Erkers aus (vgl. Kempowski 1981a, 137  f.; 263–267) passiv und distanziert zu beobachten. Dort, „wo Grethe die Blumen richtet“ und „Karl mit seiner Zeitung raschelt“, sind die unangenehmen, „sonderbare[n] Geräusche“ (Kempowski 1981a, 138) von der Schlachterei nebenan nicht zu hören, was man auch als Verdrängung der NS-Gräueltaten lesen kann. Noch bietet ein selbst errichteter Wall „aus Ritualen und Resten“ dem untergehenden „Restbildungsbürgertum“ Schutz; zunehmend „seines Wesens entkleidet“ und „quasi als Zitat fort[lebend]“, beharrt dieses in Schöne Aussicht auf seiner „idealistische[n] Vorstellung von der bessernden, der humanisierenden Kraft“ (Ebel 2005, 42–44) von Bildung, zumal von Musik. 2 Analyse Weitgehend kommentarlos, manchmal ironisch und kaum wertend lässt der Erzähler auch im zweiten Band der Chronik jene gesellschaftliche Schicht am Beispiel der Familie Kempowski zu Wort kommen, die meint, sich mittels ihrer sprachlichen Eigenheiten von der Sprache der Macht abzusetzen, dabei aber die manipulative Kraft der Propaganda unterschätzt. Die fragmentierte Erinnerung dieser Jahre findet ihren Niederschlag auf Werk- sowie Satzebene, also in der kaleidoskopartigen Aneinanderreihung zahlreicher Fragmente, Szenen und Dialoge einerseits und dem mitunter fragmentarischen, elliptischen Satzbau andererseits. Leitmotive wie etwa wiederkehrende klischeehafte Sentenzen sowie Vor- und Rückbezüge schaffen Kohärenz zwischen den kurzen Abschnitten. War der Ton der Kritik gegenüber Aus großer Zeit bereits oft ablehnend, so wurde er nun scharf bis vernichtend. Kempowski sei „im Grunde kein Erzähler“, sondern vielmehr ein „Buchhalter“ und „Kleinheitskrämer“, der „sich der Historie angenommen“ hat und über keinerlei „poetische Kunstgriff[e]“ (Görtz 1981, L 2) verfüge. Der Roman leiste zwar subtil vergnügliches „Wiedererkennen“, das jedoch „ebensowenig ein historischer Wahrheitsbeweis wie ein literarisches Wertkriterium“ (Kramberg 1981, 128) sei. Peter Pawlik sieht Kempowski gar als einen „unheimliche[n] Chronist[en]“, der das „Gewölb der Erinnerung behaglich auszustaffieren und die Vergangenheit zu besonnen“ verstehe: Er „wiegt’s […] mit zärtlich versonnenem Sammlerblick und legt’s zu den übrigen Stücken: Antisemitismus, -sozialismus, -kommunismus, der herrschte, aber erträglich, ja eigentlich Gegenstand nachsichtigen Schmunzelns war und ihm ist.“ Anstatt Trauerarbeit zu leisten, fördere Kempowski „erinnernde Zufriedenheit“ (Pawlik 1981, 2). Mit dieser Form von „Erinnerungsbehaglichkeit“ könne man „keinen Roman über die Zeit des Faschismus

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schreiben“, kommentiert schließlich der Konkret- und Pardon-Autor Otto Köhler, zumindest nicht, wenn „hundert Zeilen Behaglichkeit“ nur „ein[e] Zeile Entsetzen“ (Köhler 1981, 58  f.) gegenüberstünde. Eine der wenigen wohlwollenden Kritiken würdigte Kempowski als „sanfte[n] Satiriker“, dessen „epischer Sammlerblick“ sich vor allem durch die „geradezu liebevolle Nähe zu denen, die er blossstellt“ (Mecklenburg 1981, 39), auszeichnet. Während es zum Eröffnungsband Aus großer Zeit inzwischen immerhin eine Handvoll wissenschaftlicher Abhandlungen gibt, wird Schöne Aussicht regelmäßig nur als Teil der Chronik abgehandelt. Dabei wäre eine genauere Analyse dringend erforderlich, auch um die bisherige – in Teilen sehr ablehnende – Kritik zu ergänzen.

2.1.7  Herzlich willkommen. Roman Raul Calzoni 1 Inhaltsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 2 Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52

1 Inhaltsüberblick Der Roman Herzlich willkommen erschien 1984 im Albrecht Knaus Verlag und ist der letzte Band der Deutschen Chronik, jene 1999 beim btb Verlag erstmals komplett veröffentlichte, neunbändige Sammlung von Romanen und Befragungsbüchern Walter Kempowskis. Der Titel des Werkes ist ironisch zu verstehen, weil es die schwierigen Jahre der Ansiedlung Walter Kempowskis in der BRD nach der Entlassung aus Bautzen 1956 wiedergibt. War in der Nazizeit das Bürgertum berufen, seine gesellschaftliche und politische Legitimität zu verteidigen, ist Walter – der Ich-Erzähler des Romans – auf der Suche nach der „‚Anerkennung‘ als politischer Häftling“ (Kempowski 1999b, 295) im Westdeutschland der Wirtschaftswunderzeit. Walter Kempowski und sein Bruder wurden am 8.  März 1948 mit dem Anklagevorwurf der Spionage von den sowjetischen Behörden verhaftet. Zunächst wurden sie nach Schwerin überführt und dann in Bautzen inhaftiert, wo der Besitz und die Weitergabe von Frachtbriefen zu einer Haftstrafe von 25 Jahren führte, die später aufgrund einer Amnestie auf acht Jahre reduziert wurde. Kempowski konnte die Haftanstalt aus diesen Gründen 1956 verlassen, durfte aber aus politischen Gründen nicht in seine Heimatstadt Rostock zurückkehren, stattdessen ging er zu seiner Mutter nach Hamburg. Hier hatte sich Grethe Kempowski angesiedelt, nachdem sie 1954 aus dem Strafvollzug von Hoheneck entlassen worden war, in dem sie eine 1949 verhängte Haftstrafe unter der Anklage des ‚Nichtanzeigens‘ der illegalen Geschäfte ihrer Söhne verbüßt hatte. Um die Erlebnisse des heimgekehrten Sohns entwickeln

2.1  Deutsche Chronik51

sich die vier Teile des Romans Herzlich willkommen, in denen der Leser mit den physischen und kulturellen Widrigkeiten der Freilassung Walters konfrontiert wird. Die Handlung des Romans verläuft zwischen den Jahren 1956 und 1963 und erzählt die Erlebnisse und die Erfahrungen des Ich-Erzählers, der als ironisches Alter Ego Walter Kempowskis in der Deutschen Chronik gilt. Mit einem rhetorischen Kunstgriffs, der für die Romane der Sammlung typisch ist, sollen die erzählten Fakten vom Leser als ‚frei erfunden‘ interpretiert werden, auch wenn sie in weiten Teilen auf den Erlebnissen des Autors basieren. Dergestalt gehört Herzlich willkommen zu jenem Genre von „quasi-autobiographischen Ich-Romanen, in welchen der Ich-Erzähler den Mittelpunkt der Geschichte bildet“ und in denen „die Spannung zwischen dem erlebten Ich und dem erzählenden Ich […] das Sinngefüge bestimmt“ (Stanzel 1987, 31). Bereits in der kurzen Einführung zu den 24 Kapiteln des Romans wird die Überlagerung zwischen dem Schriftsteller und dem erzählenden Ich in Herzlich willkommen deutlich. Sie führt mit einer trockenen und unpersönlichen Sprache den Handlungsort ein, nicht ohne auf die Figuren und die Handlungszeit des Romans Bezug zu nehmen. Mit dem Anliegen, den Text der Deutschen Chronik chronologisch einzufügen, eröffnet Kempowski die Erzählung seiner „realistischen Variante zu ‚Draußen vor der Tür‘“ (Kempowski 1990a, 91) mit einem Hinweis auf das Ende von Ein Kapitel für sich – jenem Roman, der in der Sammlung vor Herzlich willkommen steht –, in dem die ärmlichen Bedingungen der neuen Wohnstatt von Walters Mutter im Hamburger Bezirk Wandsbek beschrieben sind. Walters „Zurückkehren in die Stadt der Väter“ (Kempowski 1999b, 11) ist jedoch nicht so einfach, wie er es sich vorgestellt hatte, und zudem wird er auch nicht wie der verlorene Sohn empfangen. Die Verwandten, denen er einen Besuch abstattet, mögen Walter überhaupt nicht, sie bezichtigen ihn gar, am Gefängnisaufenthalt seiner Mutter Schuld zu sein. Der Protagonist aus Herzlich willkommen stellt für die Familienmitglieder jedoch auch den Anlass für eine direkte Auseinandersetzung mit den Schatten der nationalsozialistischen Vergangenheit der Kempowskis dar. In dem Moment, in dem dieser „ghost of the past“ (Riley 1997, 158) wieder in ihr Leben tritt, versuchen sie, ihn unter allen Umständen zum Schweigen zu bringen (vgl. Hempel 2004, 89). Auch Walters Schwester Ulla, seit 1943 mit dem Dänen Sven Sörensen verheiratet und in Kopenhagen wohnhaft, manifestiert im Roman dieselbe Neigung zum Schweigen und Vergessen des Vergangenen. Seit dem Beginn seines Aufenthalts 1956 in Kopenhagen, von dem das sechste Kapitel in Herzlich willkommen erzählt, enttäuscht Ulla vehement alle Erwartungen Walters, von seiner Vergangenheit erzählen zu können. Mit seiner unerwünschten Präsenz in Hamburg und Kopenhagen verkörpert Walter somit die ‚Rückkehr des Verdrängten‘ für alle Kempowskis. Das drückt sich auch über seinen Sprachgebrauch aus, wobei er – im Gegensatz zu seinen Verwandten – nicht zögert, sich explizit auf die Barbarei der Judenverfolgung und auf den Schmerz der ganzen Familie während der Nazizeit

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zu beziehen. Wie „ein moderner Sisyphus“ (Kunckel 2003, 59) streift Walter durch die norddeutsche Stadt und zeigt dabei seine schmerzvolle Last, die nicht nur seine Familie nicht sehen will, sondern auch jene Rostocker, die in der Nachkriegszeit hierher gezogen waren und sich gegenseitig dazu auffordern, Walter mit dieser Haltung abzulehnen. Besonders bedeutungsvoll erscheint in diesem Zusammenhang die Romanszene, in der seine Mitbürger sich im Hamburger Café Rose – eine Variation des ‚Zwiebelkellers‘ in der Blechtrommel von Günter Grass, der als Ort für die Exilrostocker Schmerz verursacht – „jeden ersten Mittwoch des Monats“ (Kempowski 1999b, 34) versammeln, um sich „Geschichten von vor und nach dem Zusammenbruch […], vom ‚Zusammenbruch‘, der auch ‚Umwälzung‘ genannt wurde, und von vor und nach der Währung“‘ (Kempowski 1999b, 35) zu erzählen. Wie Grass Oskar Matzerath hat auch Kempowski der Figur Walter eine naive und kindliche Haltung in Bezug auf die ihn umgebende Umwelt zugeschrieben. Kempowski selbst berichtet über den Einfluss von Günter Grass’ Blechtrommel auf Die deutsche Chronik in einem Interview, das er Manfred Durzak gab: „Ich selbst hatte ja den guten Grass zum Vorbild. Mit Hilfe dieser genialen Erfindung, dieses Oskar Matzerath, war es erstmals möglich geworden, locker über die Nazi-Zeit zu sprechen“ (Durzak 1989, 208; vgl. auch ausführlicher Fischer 1992). Wenn einerseits die Beschreibungen der Gesellschaft des Wirtschaftswunders von der typischen Ironie der Deutschen Chronik durchdrungen sind, so enthüllen sie doch andererseits auch das materialistische Substrat der BRD der 1950er Jahre. Im Gegensatz zu den Flüchtlingen aus Rostock, die Walter in Hamburg trifft, gehört er nicht zur „Generation, die unfähig ist, zu lernen“ (Erenz 1984, 89). 2 Analyse Soweit die Fiktion  – Kempowskis Realität sah anders aus. Das kann man in Kempowskis Artikel „Das Ruderboot: ein Beispiel für die Beteiligung des Unbewußten an einem literarischen Prozeß“ nachlesen, in dem es heißt: Seine „unbewusste Integration“ (Kempowski 1987a, 47) in die deutsche Gesellschaft des Wirtschaftswunders sei erst dann möglich gewesen, als er die Auseinandersetzung mit der Mutter und ihrer Haftzeit zuließ. Im Roman beschränkt sich aber die Integration Kempowskis in das soziale Gefüge der BRD der 1950er Jahre nicht nur auf die Erinnerung, auf die Wiederholung und die anschließende Aufarbeitung der Gefängnisjahre der Mutter, eine Schuld, die er wie ein Brandmal auf der Haut trug. Wie weiterhin aus dem Beitrag des Schriftstellers hervorgeht, war die Trauerarbeit am Verlust seines Vaters Karl, der 1945 kurz vor der Kapitulation Deutschlands an der Ostfront fiel, für seine Integration in die Nachkriegsgesellschaft ebenso entscheidend. Verschiedene Stellen in Herzlich willkommen enthüllen, wie heftig in jenen Jahren noch Kempowskis Schmerz über den Verlust des Vaters war. Diesem Schmerz wurde noch die Tatsache hinzugefügt, dass Kempowski in der BRD nie der Status eines politischen Häftlings zuerkannt wurde. Walter kann demnach als ein Opfer der Geschichte betrachtet werden.

2.1  Deutsche Chronik53

Die Wahrnehmung der Ereignisse verändert sich aber, wenn nicht nur die Familie, sondern auch die katholische Gemeinschaft der Casa Zwingli in Locarno zu überzeugen ist, wo Walter sich dank einer Einladung aufhalten durfte, die ihm von einem „Studentenpfarrer der Universität Hamburg“, der „zwei Einladungen an einem Tag in seinem Briefwechsel fand“ (Kempowski 1999b, 95), übermittelt wurde. Ausgerechnet in Locarno muss Walter erfahren, wie lang die Schatten der noch jungen Nazivergangenheit auch auf ihn fallen beziehungsweise wie die Schuld für die verübten Verbrechen des Naziregimes auf jedem einzelnen Deutschen lasten, der die zwölf Jahre miterlebt hat. Abgesehen von der tatsächlichen individuellen Beteiligung an Hitlers Machtregime, zählt für die katholische Gemeinschaft in Locarno nur, dass Walter aus Deutschland stammt. Die in Locarno gemachten Erfahrungen erweisen sich als funktional in der Ökonomie des Romans, als Walter die in Westdeutschland von den Alliierten angewandten Maßnahmen der Re-Education kennenlernt. Der zweite Teil von Herzlich willkommen ist folglich dem Thema der Bildung (nicht nur) von Walter in der Gesellschaft des Wiederaufbaus und des Wirtschaftswunders gewidmet. Auf erneute Vermittlung der Casa Zwingli beginnt Walter seine erste Arbeitsstelle als Lehrer auf Burg Hatzfeld. Im Ausland in die Riege der ‚Mitläufer des Naziregimes‘ gestellt, in der Familie als Täter oder Verantwortlicher für die Verhaftung der Mutter angeklagt und in der Heimat als Opfer nicht anerkannt, sucht Walter in Göttingen den Weg in die gesellschaftliche Integration über das Studium und die Neugewinnung der literarischen und kulturellen deutschen Traditionen. Im Gegensatz zur Beschreibung Hamburgs, mit der der Roman eröffnet wird, vermittelt die erste Darstellung der Universitätsstadt in Niedersachsen einen Eindruck von Ruhe; zumal erweist sich Göttingen in Herzlich willkommen als idealer Ort für einen Neuanfang. Hier beginnt Walter seine Ausbildung zum Volksschullehrer, eine Berufung, die er bereits während der Gefängnisjahre spürte, die er aber erst in einer anderen Stadt als Hamburg verwirklichen konnte, das heißt an einem Ort fern von den Familienmitgliedern und vom Vergessen der Vergangenheit. Und erst in diesem „Ersatzrostock“ (zitiert nach Hempel 2004, 91), wie Kempowski Göttingen in einem Tagebucheintrag nennt, fühlt sich der Protagonist aus Herzlich willkommen in die psychologische Ausgangssituation versetzt, um ein neues Leben anfangen zu können. Die Bildung Kempowskis in Göttingen gestaltet sich zu einer Rückkehr zur deutschen Sprache und Kultur, die dem Schriftsteller das Gefühl einer Zugehörigkeit und Identität vermitteln kann, welche ihm mit der Nicht-Anerkennung als politischer Häftling verweigert wurden. Einerseits vollendet sich hier die Ausbildung des Schriftstellers, andererseits ist es gerade in Göttingen, wo sich Kempowski über die Verlobung und spätere Heirat mit Hildegard Janssen in die Gesellschaft der jungen Bundesrepublik einfügt. Mittels der Wiedererlangung der familiären und kulturellen Stabilität, die bereits die Jugendjahre Walters in Rostock gekennzeichnet hatte, vollzieht sich die endgültige „erzwungene Heimkehr“ (Calzoni 2010, 157) Kempowskis in das Deutschland der Nachkriegszeit.

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2.2 Befragungsbücher 2.2.1  Haben Sie Hitler gesehen? Deutsche Antworten Andreas Grünes 1 Inhaltsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 2 Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

1 Inhaltsüberblick Der Befragungsband Haben Sie Hitler gesehen? Deutsche Antworten entstand zunächst im Rahmen von Kempowskis Recherchen für seinen Roman Tadellöser & Wolff, wurde aber zu einer eigenständigen Publikation, die 230 Antworten umfasst und deren erste Ausgabe 1973 erschien. Der Band versammelt anonymisierte Antworten von Frauen und Männern unterschiedlichen Alters und aus sämtlichen gesellschaftlichen Schichten, worauf die Angabe der beruflichen Tätigkeit verweist. Dabei variieren die Antworten im Umfang zwischen knappen Sätzen und Ausführungen, die mehrere Absätze umfassen. Charakteristisch für die chronologisch bzw. thematisch geordneten Antworten sind Schilderungen der Begegnung, verbunden mit persönlichen Eindrücken und Wertungen: Als Junge habe ich ihn gesehen, Kreuznach, da war ich 14 Jahre alt, 1932, da war eine große Wahlversammlung in einem großen Zelt, ich wußte noch nichts von Politik, ein kleiner Mann schrie da mächtig rum, und die zuhörten, die schrien auch. Mit dem Fahrrad bin ich da hingefahren. (Kempowski 1973a, 16)

Die durch Kempowskis harmlose Frage ausgelösten Reaktionen stellen als oral history einen besonderen Wert dar, wie Sebastian Haffner in dem an die Befragungen angeschlossenen Essay Hitler und die Deutschen hervorhebt: „Dabei kam es natürlich nicht auf das Ja oder Nein an, sondern auf den Ton der Antworten, mehr noch auf die Unter- und Zwischentöne, das scheinbare Nebenher.“ (Haffner 1973, 99) Über die persönlichen Erfahrungen verbindet Kempowski Stimmen von Gegnern, Bewunderern und Mitläufern Hitlers miteinander und entfaltet somit ein nuancenreiches Panorama des ‚Dritten Reiches‘ aus der Retrospektive. So stehen positive Wertungen Hitlers – „Mich ärgert heute noch, wenn ich irgendeine abwertende Geschichte über Hitler lese“ (Kempowski 1973a, 40  f.) – neben ablehnenden Positionen. Zahlreich sind insbesondere Erlebnisberichte, die das Unverständnis über die (eigene) Begeisterung thematisieren: „Mir ist heute noch rätselhaft, wie ein Mann einen so mitreißen konnte. Ich war 19 Jahre alt damals, Bürgersohn.“ (Kempowski 1973a, 33) Der Befragungsband erschien 1999 in einer neuen Auflage, die um ein Drittel erweitert wurde und deren Antworten im Vergleich zur Erstauflage chronologisch geordnet wurden (vgl. Kempowski 1999  f, 5). Zudem wurden

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darin Veränderungen in der Anordnung und Zuordnung der Zitate vorgenommen (vgl. Ladenthin 2005, 121), auch verarbeitete Kempowski einen Großteil der Antworten in dem gleichnamigen Hörspiel, das 1973 vom Westdeutschen Rundfunk produziert wurde. 2 Analyse Bei Erscheinen des Befragungsbands fiel die Rezeption unterschiedlich aus: Der Spiegel kritisierte, dass das ‚Dritte Reich‘ in den Antworten als „Tragödie aus Hysterie und Lethargie […] verebbt, kaum reflektiert, im Anekdotischen.“ (o. A. 1973) Horst Krüger lobte hingegen in der Zeit das Montage-Prinzip Kempowskis: „Da ist schon ein Raffinierter am Werk, einer, der mit Zitaten kreativ, ja artistisch spielt: Ein Jongleur, der mit sieben Bällen gleichzeitig spielt.“ (Krüger 1973) Auch verweist Krüger darauf, dass durch Kempowskis Befragung „ein ebenso drängendes wie unsagbares Thema der Zeit sagbar gemacht worden ist.“ (Krüger 1973) Dass Kempowskis erster Befragungsband (ein Jahr später folgte Immer so durchgemogelt und 1979 Haben Sie davon gewußt?) nach zwölf Jahren des Sammelns auch im Jahr 1973 immer noch eine gesellschaftspolitische Aktualität besaß, illustriert Sebastian Haffners Essay in besonderer Weise. Das „ungelöste Rätsel“ (Haffner 1973, 102) des Verhältnisses von Adolf Hitler und den Deutschen sei nur zu lösen, indem die ablehnende Wertung der Nachkriegszeit ausgeblendet werde: Denn die wirft ein Licht zurück auch auf die Qualität der einstigen Verfallenheit und Begeisterung, während sich vom Damaligen das Heutige schwer erklären läßt. Und da scheint mir Kempowskis Methode ein Treffer zu sein. Denn sie zwingt die Leute auf zwei Zeitebenen zu reden: Sie erzählen vom Damals, aber im Ton des Heute. (Haffner 1973, 100)

Haffner analysiert die Befragung wesentlich vor dem Hintergrund des durch die 1968er-Bewegung virulent gewordenen Generationendiskurses: „Hitler war von etwa 1942 an unsichtbar geworden, und wer heute jünger als 35 ist, kann ihn nicht mehr gesehen haben.“ (Haffner 1973, 100) Zugleich verweist Haffner aber auf die Bedeutung des Privaten in den Aussagen: „Politik war auch damals nur ein verhältnismäßig kleiner Teil des wirklichen Lebens der Menschen“ (Haffner 1973, 104). Die Antworten auf Kempowskis harmlose Frage geben somit nicht nur Eindrücke aus der Vergangenheit wieder, sondern bieten durch den Fokus der Gegenwart zugleich individuelle Erklärungsmuster für damalige Haltungen und Handlungen an: „Fabrikbesitzer, 1929. Kurz bevor die deutschen Truppen einrückten in die Tschechoslowakei, da sagte mein Vater: ‚Jetzt haben wir den Weltkrieg gewonnen.‘ Das sagte er aus einem Ehrgefühl heraus. Es war nicht umsonst gewesen, daß er im ersten Krieg gekämpft hatte.“ (Kempowski 1999  f, 158)

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Diese scheinbare, quasi-dokumentarische Darbietung von Interviewaussagen trug den Befragungsbänden zugleich die Kritik ein, dass es sich eher um zeitgeschichtliche Dokumentationen denn um Literatur handele (vgl. Ladenthin 2005, 115). Das Fehlen einer deutenden und somit auch wertenden Rahmung der kompilierten Antworten wird jedoch einerseits durch ihr Arrangement kompensiert: „Die Texte sind ausgewählt worden, sie sind geordnet worden.“ (Ladenthin 2005, 119) In den ersten Ausgaben des Bandes fungieren Ausschnitte aus den Antworten als Kategorien: „Es sind Überschriften, die Ordnungen schaffen wollen.“ (Ladenthin 2005, 120) Das Arrangement des Herausgebers negiert den dokumentarischen Charakter einer bloßen Interviewsammlung und verweist auf das Montageprinzip sowohl in den Romanen der Deutschen Chronik als auch im Echolot-Projekt: „In den Überschriften spricht jemand, der nicht mit dem Herausgeber identisch ist; der Herausgeber positioniert die Stimme aber an eine bestimmte Stelle.“ (Ladenthin 2005, 120) Andererseits wirkt die Frage  – obwohl von vielen Befragten zunächst verneint – als Katalysator eines narrativen Erinnerungsprozesses: „Die Erinnerung schart sich um den Namen. Aber dieser Name steuert nicht, was an ihm gesehen und zu ihm erinnert wurde. Er bekommt erst Bedeutung durch die Erinnerung.“ (Ladenthin 2005, 133) Das Erinnern ist nicht frei von Wertung und Positionierung des erinnernden Individuums zum Erlebten. Gerade in dem anekdotischen Charakter der Antworten entfaltet sich „eine Skala zunehmender Entdeckungen“ (Hage 1979). Als ergänzendes Pendant der Erhebung kann der Befragungsband Haben Sie davon gewußt? Deutsche Antworten angesehen werden, der 1979 erschien und als eigenständiges Werk das Bewusstsein der Verbrechen des NS-Regimes in der deutschen Bevölkerung thematisiert. Damit schließt der Band unmittelbar an die Frage „Haben Sie Hitler gesehen?“ an, fokussiert er doch auf den Umgang mit den Verbrechen des Regimes, der bereits mit der Frage nach dem Erleben des Nationalsozialismus indirekt angesprochen wurde, denn „selbst dort, wo die Antworten unvollständig und nicht korrekt sind (es gibt Fehler in der Datierung mancher Ereignisse), haften ihnen verräterische Spuren an, Spuren, die sowohl in die Vergangenheit weisen wie Zeugnis unserer Gegenwart sind.“ (Hage 1979) Als integraler Bestandteil der Deutschen Chronik erweitern die Deutschen Antworten nach Ansicht Joachim Gaucks die Familiengeschichte der Kempowskis um eine „kollektive Mentalitätsgeschichte“ (Gauck 2012, 8) der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Die Befragungsbände ergänzen die Romane nicht nur, sie konterkarieren das vermeintliche bürgerliche „Idyll im Inferno“ (Hage 2009a, 68): Der Leser meiner Romane  […] wird durch die ‚Befragungsbücher‘, wie man sie nennen könnte, eine allgemeine, ja chorische Begleitung und Erklärung an die Hand gegeben. […] In der Gegenüberstellung beider liegt die Wahrheit verborgen, ist die Antwort zu suchen auf die Frage: Wie konnte es geschehen? (Kempowski 1999  f, 6).

2.2 Befragungsbücher57

2.2.2 Immer so durchgemogelt. Erinnerungen an unsere Schulzeit Volker Ladenthin 1 Inhaltsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 2 Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58

1 Inhaltsüberblick Das 253 Seiten starke Buch Immer so durchgemogelt ist einer der drei „direkt mit […] [den] Romanen verbunden[en]“ (Kempowski 1974c, X) Befragungsbände, also jenes Genres innerhalb der Deutschen Chronik, in dem Walter Kempowski Notate eigener unsystematischer Befragungen unkommentiert präsentiert. Damit wird schon kompositorisch die Schule – neben den Vernichtungslagern und dem Nationalsozialismus – als eine der drei Wirkmächte für die deutsche Geschichte vorgestellt, die weder individuell biographisch noch wissenschaftlich-allgemein erschlossen werden sollen. Die Erstausgabe und die beiden textidentischen Nachdrucke von 1976 und 1979 beginnen mit einer Widmung und einer Vorbemerkung. Das Buch ist in 20 thematisch konzentrierte Kapitel gegliedert, die jeweils mit einer metaphorischen Überschrift wie beispielsweise „Knetgummi“ (Kempowski 1974a, 17) oder Zitaten – „Alles so schön klar“ (Kempowski 1974a, 151) – und einer Abbildung von Fotographien oder Ausschnitten aus Schulbüchern eingeleitet werden. Die Ausgabe von 1999 verzichtet auf Überschriften und Abbildungen; die Kapitel werden lediglich mit den Ziffern 1 bis 20 überschrieben. Es folgen je zwischen 20 bis 40 kurze Aussagen, die mit der Berufsangabe, die zudem das Geschlecht der befragten Person erkennen lässt, und dem Geburtsjahr der zitierten Person schließen. Die unterschiedlich langen Texte berichten über Erfahrungen in der Schule. Dabei fällt das durchweg gute Erinnerungsvermögen der Befragten auf, das ausdrücklich angesprochen wird: „Ich seh das Heft noch vor mir“ (Kempowski 1974a, 52) oder „Ich erinnere mich noch sehr genau“ (Kempowski 1974a, 55). Logische Brüche und grammatikalische Fehler werden unkommentiert mit aufgezeichnet: „Der hat uns […] das Telefonieren gelernt“ (Kempowski 1974a, 52) statt ‚gelehrt‘. Der Befragungsband korrespondiert mit dem fiktionalen Berichtsverfahren in Aus großer Zeit (Kempowski 1978a, 121) und dem die Schule thematisierenden Band Heile Welt (1998): „Er erzählte alles bis auf das ‚Eigentliche‘. Das kam nicht über seine Lippen.“ (Ebd., 272) In der Vorbemerkung von 1973 gibt Walter Kempowski an, dass die Sammlung ein „‚Bildungs‘-Fazit“ einer Generation gebe – also auf etwas allgemein Gültiges ziele und eine „Einsicht“ enthalte (Kempowski 1974a, 7). Jedoch sei dieses „Fazit“ ein „vielleicht zufälliges“, „gewiß nicht immer repräsentatives“ Ergebnis. Zudem ordnet Kempowski diese Aussagen jener „Generation“ zu, „die dabei ist, ihren Kindern eine neue Schule zu verordnen“ (Kempowski 1974a, 7). Diese Vorbemerkung ist ebenso entschieden wie indifferent, denn es werden ein Fazit beschworen

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und eine Konsequenz angesprochen, die aus der Erfahrung zu ziehen seien; jedoch erfährt der Leser in der Vorbemerkung nicht, worin dieses Allgemeine besteht und welche Konsequenzen gezogen werden sollen. 2 Analyse Schon der Paratext des Buches weist auf erste Sinndimensionen des Textes hin: Auf dem Schutzumschlag der Erstausgabe ist ein Klassenfoto abgebildet, und zwar so, dass „auf dem Buchrücken“ (vgl. Kempowski 1974a, Umschlagtext) der Schüler Walter Kempowski zu sehen ist. Der Umschlag der späteren Taschenbuchausgabe präsentiert dieses Foto dann aber so, als wäre es verkantet in ein Erinnerungsalbum eingeheftet (vgl. Kempowski 1976b) – wobei nunmehr im Buch der Hinweis fehlt, dass der Autor mit abgebildet ist. Spätere Auflagen verzichten auf diesen autobiographischen Bezug und bilden ein nicht identifizierbares Foto ab (vgl. Kempowski 1979e) bzw. verzichten ganz auf ein Foto (vgl. Kempowski 1999e). Ein nostalgischer Charakter der Erinnerungen wird in der Erst- und in der Zweitausgabe dadurch angesprochen, dass nicht nur die 20 Illustrationen, sondern auch der Text in einem Braunton gedruckt wurden, der an vergilbte Bücher erinnert: „Aus Karls Pennälerzeit hat sich ein braunes Klassenphoto erhalten“, heißt es in Aus großer Zeit (Kempowski 1978a, 73). Die Kapitelüberschriften sind in lateinischer Schreibschrift gesetzt. Das Vorsatzpapier gleicht jenem, mit dem man bis in die 1960er Jahre Schulbücher und -hefte eingebunden hat. Dadurch wird ein Album- und Erinnerungscharakter betont, auf den in den späteren Ausgaben zusehends verzichtet wird. Das Buch soll offensichtlich nicht weiterhin als „modische Nostalgie“ (Winter 1974, 186) (fehl-)gedeutet werden. Der ursprüngliche Buchtitel ist in der Erstausgabe größer und durch einen fetten Balken hervorgehoben, der Untertitel Erinnerungen an unsere Schulzeit / Gesammelt von Walter Kempowski in kleinerer Schrift daruntergesetzt, wobei Titel und Autorenname in Weiß, der Untertitel sowie die Verlagsangabe in einem vom roten Umschlag sich abhebenden und daher signifikanten Grün gedruckt wurden. Die Taschenbuchausgabe (1976b) weicht von dieser Logik deutlich ab und erweckt durch den Großdruck des Titels und des Autorennamens bei gleichzeitiger Verkleinerung des Untertitels und der Formulierung „Gesammelt von“ den Eindruck, hier läge ein vom Autor geschriebenes – und nicht ausschließlich fremde Texte versammelndes – Buch vor. Der Umstand, dass das erwähnte Foto verkantet montiert ist, scheint auf ein humoristisches Buch hinzudeuten, auf lustige Schulgeschichten wie denen der ‚Lümmel von der letzten Bank‘, einem bis in die 1970er Jahre beliebten Genre des zeitgenössischen deutschen Films und der deutschen Taschenbuchproduktion. Mit der Übernahme in den Knaus Verlag und der Einordnung des Bandes in die Reihe der Deutschen Chronik verzichtet das Layout des Titelblatts auf die Formulierung „Gesammelt von“ und ordnet das Buch so als vom Autor

2.2 Befragungsbücher59

verfasstes Werk in die Reihendisziplin ein. Schon 1974 hatte Kempowski in einem Interview betont: „Das Ganze ist doch ein Dialogroman!“ (Kempowski 1974c, X) Bei einer weiteren Neuedition wird schließlich der Titel des Buches in Schule mit dem Untertitel Immer so durchgemogelt geändert und so der repräsentative Anspruch des Buches hervorgehoben. Einerseits zeigt die Editionspraxis, dass das Buch von der autobiographischen Zufälligkeit eines persönliches Erinnerungsbandes befreit, andererseits aber als Werk des Autors Walter Kempowski angesehen werden sollte: Der „Autor hat eingegriffen“ (Kempowski 1974c, X), nicht nur durch die Auswahl von 500 (schließlich abgedruckten) aus 1000 gesammelten Notaten, sondern auch durch ca. 30 Eigenzitate, deren Urheber als ‚Beamter (1929)‘ deklariert wird und die zum Teil ihre Entsprechungen in den Romanen haben (vgl. Kempowski 1974a, 120 u. 198, mit Kempowski 1971a, 125 u. 144). Die Texte selbst bleiben in allen Auflagen unverändert. Die dokumentierten Aussagen beinhalten Widersprüchliches. Man liest eine begeisterte Erinnerung an Schule und wenig später die Bekundung der Abscheu gegenüber dieser Einrichtung. Präsentiert wird das Bekenntnis eines Bildungserlebnisses in der Schule ebenso wie die Sinnlosigkeit von Schule: „[I]ch weiß nicht mehr das allergeringste [sic!]“ (Kempowski 1974a, 223; vgl. auch 119), „Der Lehrer war großartig“ (Kempowski 1974a, 53), „Unser Klassenlehrer war ein Original“ (Kempowski 1974a, 71) und „Ich hatte immer ein schlechtes Verhältnis zu meinen Lehrern“ (Kempowski 1974a, 241). „Das war zauberhaft“ (Kempowski 1974a, 53) und „Das war ein Schock, den ich nie verwunden hab“ (Kempowski 1974a, 72). Gleich der erste Satz des Buches – „Schule, das war die schönste Zeit“ (Kempowski 1974a, 10) – konterkariert spätere Sätze folgender Art: „Für mich bedeutet die Erinnerung an die Schulzeit das Heraufrufen […] eines permanenten Angstzustandes“ (Kempowski 1974a, 16). Der Buchumschlag der dritten Edition verstärkt diese Indifferenz, bewertet doch das erste der drei auf dem Umschlag abgedruckten Zitate die Schule als schlimmstes „Erlebnis“ und als Versagen, während das dritte Zitat darauf verweist, dass man in der Schule gelernt habe, was man „im Leben auch immer angewandt“ (Kempowski 1979e) habe. Das mittlere Zitat zeigt die lächerliche Schule. Recht frühzeitig in der Textabfolge deuten zwei Formulierungen in eine Richtung, die das Buch in die Reihe der beiden anderen Befragungsbände und ihrer Poetik einordnet (vgl. Ladenthin 2005): Eine „Hausfrau“ trägt z.  B. etwas bei, hinsichtlich dessen sie gegenüber dem fragenden Autor Kempowski die Vermutung äußert, es passe nicht „in Ihr [also Kempowskis] System“ (Kempowski 1974a, 16) – so, als suggeriere die Frage, die Kempowski gestellt hat, eine bestimmte Art von Antwort und repräsentiere ein ‚System‘. Genau solch einem System will die Hausfrau nicht entsprechen. Aber gerade deshalb scheint der Text in den Band aufgenommen worden zu sein. Die Texte verweigern sich insgesamt der Einordnung in ein System und einer begrifflichen Fassung. Eine Sekretärin bekennt denn auch: „Sie können sich keinen Begriff machen!“ (Ebd., 76) Ganz offensichtlich setzt dieser Befra-

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gungsband – ebenso wie die anderen Befragungsbände – nicht schon etwas voraus, was er dann durch Befragung verifizieren oder falsifizieren möchte, sondern dokumentiert etwas, wozu es (noch) keinen Begriff gibt, was nicht ins ‚System‘ passt – ohne jedoch zufällig und beliebig zu sein. Wenn eine verallgemeinerbare Leseerfahrung nach der Lektüre zu formulieren wäre, dann jene, die mit der Widmung des Einleitungstextes korrespondieren würde, dass das Buch an die gerichtet ist, die dabei sind, „ihren Kindern eine neue Schule zu verordnen“ (Kempowski 1974a, 7). Insgesamt legen die Texte eine Auffassung nahe, dass man Schule zwar planen, aber Bildung nicht ‚verordnen‘ kann. Trotz aller Planungen lernen die Kinder – das indiziert die Summe der Zitate  – in der Schule, was sie wollen, und nicht, was man zu lernen verordnet. Obwohl sie zu denselben Zeiten in ähnlich geplante Schulen gegangen sind, tragen die Aussagen der Zeitgenossen zu keinem einheitlichen Bild von Schule bei. Dies ist in der Rezeption des Buches zwar bemerkt, aber als Nachteil gedeutet worden (vgl. beispielsweise Baier 1974), obwohl es doch die Sinndimension der Befragungsmethode – die daher auch nicht repräsentativ zu sein braucht – und der Inhalte zu erschließen hilft. Diese Autonomie der Bildung gegenüber der verordneten Schule sogar für jene Zeit nachgewiesen zu haben, in der die Schulordnung totalitär war, ist die literarische Intention und zeitlose Leistung des Buches, das die Diskussion in anderen Diskursbereichen wie Erziehungswissenschaft oder Psychologie mehr befruchten sollte, als dies bisher geschehen ist: Menschsein lässt sich faktisch nicht verordnen und nicht planen – auch nicht durch eine verschulte Gesellschaft, denn „Schule – das sind einzelne Lehrer“ (Kempowski 1974a, 240). Dass ‚Menschsein‘ auch nicht geplant werden sollte, entwickelt Walter Kempowski in seinen pädagogischen Bemerkungen. Diesem Verständnis eines Menschen, der sich allen Vereinnahmungen entzieht, entspricht die methodische Anlage des Befragungsbandes: Die einzelne Erinnerung ist wichtig, nicht ihre statistisch nachgewiesene Häufigkeit oder Exemplarizität für ein Vorausgesetztes. Jede einzelne Erinnerung entspricht einem authentischen, nicht in den Begriff aufzulösenden Menschenleben, das zu bewahren und zu achten ist. Diese Absicht zeigt sich in der Anlage des Buches, nichts vorauszusetzen als die Äußerungen der Menschen. Schon ihre Ordnung unter Begriffe wäre störend – und so fehlen diese Begriffe denn auch in der Ausgabe letzter Hand. Der Erzähler nimmt nur beim Wort, was gesagt wurde. Die Sprache ist die einzige Voraussetzung, die notwendig ist. Erst aus dieser Sinngebung erschließen sich die einzelnen Textteile in jener Interpretationsperspektive, auf die Kempowski dann ausdrücklich hingewiesen hat: Das Überraschende sei für ihn das „Bagatellhafte“ der Antworten gewesen, das aber eben nicht banal, sondern seismographisch zu bewerten sei, als „Symbolwunde“, aus der sich die gekränkte oder verletzte bürgerliche Mentalität, die er als „mein Gebiet“ bezeichnet, erschließen lasse (Kempowski 1974c, X). Damit erweitert das Buch die Perspektiven der Romane mit den familialen Protagonisten um eine ungleich größere Gruppe von Stimmen und leitet zum Echolot-Projekt über.

2.2 Befragungsbücher61

Kempowski zeigt zudem, wie Befragungen nicht zur Methode einer nur noch quantitativen Erfassung der Massengesellschaft verkümmern müssen, wie die allein auf Quantität oder Typologien rekurrierende quantitative oder qualitative Meinungsforschung es tut: Das „gestalterische […] Vorbild war die Gesprächsrunde“, der Leser solle zum – wie es in Anspielung auf Canettis sprachkritische Poetik (vgl. Canetti 1974, 47  f.) heißt – „Ohrenzeuge[n] eines großen Dialoges“ (Kempowski 1974c, X) werden. Das Gestaltungsprinzip nimmt den Einzelnen in seiner je individuellen Erinnerung ernst: Die Summe dieser einzelnen Erlebnisse verweigert sich einer begrifflichen Deutung von Wirklichkeit, hier von Schulwirklichkeit; der Einzelne ist mehr als das Ganze. Bei einer hochpolitisierten und zeitgleich auf populäre triviale Unterhaltungsmedien ausgerichteten Leseerwartung Anfang der 1970er Jahre (Schulkritik Ivan Illichs vs. „Paukerfilme“ von Franz Seitz) konnte dieses Buch nur verstören: Es bediente weder ideologische Klischees wie die Kritik an der Schule als Unterdrückungsmittel oder die Funktionalisierung der Schule als Mittel sozialer Veränderungen, noch erfüllte es humoristisch-nostalgische Erwartungen. Vielmehr durchbrach es jede dieser Rezeptionsgewohnheiten mit dokumentierten Antithesen. Jürgen P. Wallmann sieht in dem Buch zeittypisch dann zwar einen Hinweis auf die „Reformbedürftigkeit der Schule“, zu dem es „freilich der vorliegenden Sammlung nicht bedurft“ habe: Das Buch teile „keine neuen Einsichten“ (Wallmann 1974, 51) mit und rege auch nicht zu solchen an. Auch Horst Krüger bemängelt, dass aus den „beliebig“ gesammelten Zitaten „kein Bild“ entstehe und hier die Methode der „Privatbefragung“ nur eine „Anthologie der Stimmen“ ergebe, die er als „abgelegte[n] Erinnerungsstoff“ (Krüger 1974, 26) bewertet. Lothar Baier sieht zwar positiv, dass einige „Tendenzmeinungen“ dem „einzigartigen Belegmaterial“ zu entnehmen seien, dass man z.  B. erkennen könne, dass mit der zeitlichen Entfernung vom Ereignis dessen Idealisierung zunähme oder dass spätere Intellektuelle Schule eher kritisch gesehen hätten als andere Mitbürger. Insgesamt aber kritisiert er vehement die „vornehme Zurückhaltung“ Kempowskis und bemängelt, dass dieser zu wenig für den Leser „Geburtshelfer gespielt“, keine „Hinweise zur Interpretation“ und keine „Gebrauchsanweisung für die Lektüre“ mitgegeben habe: Der Band sei „leider offensichtlich vom falschen Mann herausgegeben“ (Baier 1974). Gerade die „Deutungsabstinenz“ sieht nun Ludwig Harig als die besondere Leistung des Buches an, weil sie – zusammen mit der Methode – „etwas, was die Gottvatermethode des allwissenden Romanciers nicht zustande bringt“, leiste: Reflexion, ausgelöst durch das „Wiedererkennen der eigenen Sprache“. Harig hebt die sprachliche Gestaltung des Buches hervor, die eine „Unterwerfung unter sprachliche Domestizierungsstrukturen“ ablehne. Eine weitere Bedeutungsdimension betont Harig, indem er das Buch als Gegensatz zum „schicken Hochmut der gegenwärtigen Schuldebatten“ verstanden wissen will, weil es sich einer Vereinnahmung durch den Jargon dieser Debatten widersetze: „Die

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Aussagen der Befragten sind […] unversöhnlich konträr“ (Harig 1974, 70). Diese Verweigerung durch eine dem Begriff inkommensurable Methode sei die eigentliche Leistung: „Kempowskis Buch macht deutlich, wie das Individuum […] das Bild von der Schule prägt.“ Nicht das Schulsystem, sondern „die persönliche Eigenart“ präge Rezeption von und Erinnerung an Schule. Damit sei das Buch aber eben nicht einfach empirische Dokumentation, sondern eine „Erfindung  […] von Kempowski“, der so „einen haarfeinen Riß zeigt, der zwischen Sein und Schein hindurchgeht“ (Harig 1974, 70).

2.2.3  Haben Sie davon gewußt? Deutsche Antworten Raul Calzoni 1 Inhaltsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 2 Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

1 Inhaltsüberblick Haben Sie davon gewußt? Deutsche Antworten erschien 1979 im Albrecht Knaus Verlag und ist der sechste Band der Deutschen Chronik, jener 1999 erstmals vollständig beim btb Verlag veröffentlichten, neunbändigen Sammlung von Romanen und Befragungsbüchern Walter Kempowskis. Die Frage: „Haben Sie davon gewußt?“ kann als eine banale und auf jedweden kommunikativen Kontext rückführbare Frage erscheinen. Wird sie jedoch wie von Kempowski im Deutschland der Nachkriegszeit gestellt, so gewinnt sie sowohl an investigativer als auch an inkriminierender Dimension. Die Antworten der Deutschen auf die unbequeme Frage, die zum Titel dieses Buches wird, sind jedoch gemäß den abschließenden Ausführungen von Eugon Kogon im Sinne von Kempowskis Wirkungsfeld auslegbar: die Schaffung eines Archivs von Zeugenaussagen, woraus sich unter anderem die für das Verfassen der Romane der Deutschen Chronik dienlichen Informationen schöpfen lassen. Die Idee einer Verwirklichung dieses Bandes nahm übrigens bereits während Kempowskis Haftzeit in Bautzen (1948 bis 1956) Gestalt an: „Auslösendes Moment war damals, daß die Juden wissen wollten, was wir darüber gewußt und gedacht haben“ (zit. n. Hempel 2004, 142). Während viele Befragte entschieden leugnen, von der Existenz der Konzentrationslager gewusst zu haben, so verdeutlichen die 300 im Band vorhandenen Antworten einerseits den damaligen Hang der Deutschen zur Unterordnung in der Diktatur; ein gleichgültiges Eingeständnis des Wissens über die Existenz der Vernichtungslager enthüllt die eigene passive Duldung des Nationalsozialismus mit dessen Politik des Todes. Andererseits bezeugen die Aussagen, wenn auch im Verhältnis zu den vorhergehenden Antworten in viel geringerer Zahl, die – in einigen Fällen zögerliche – Absicht, für das billigende Stillschweigen angesichts der

2.2 Befragungsbücher63

Vernichtung individuelle Verantwortung zu übernehmen, und/oder sie sind Ausdruck der Schwierigkeiten, sich den vom nationalsozialistischen Regime praktizierten Dynamiken der Gewalt zu widersetzen. 2 Analyse Als dieses Befragungsbuch mit einem Nachwort von Eugen Kogon erschien, war Walter Kempowski für seine Leser bereits zum „Chronisten des deutschen Bürgertums“ (Dierks 1984, 7) geworden. Im folgenden Jahr sollte Kempowski mit der Gründung des „Archivs für unpublizierte Biographien“ und des „Archivs für unpublizierte Photographien“ in den Räumlichkeiten seines Wohnsitzes in Nartum (vgl. auch Hempel 2001) den seit seiner Kindheit gehegten Traum verwirklichen: den Besitz eines zweifachen Archivs an Texten und Bildern, anhand dessen er einerseits seine persönlichen Kenntnisse angesichts der Wahrnehmungen der Hitlerzeit durch die Deutschen zu vertiefen und zu verifizieren vermochte, und andererseits über authentisches Material zur Abfassung seines eigenen literarischen Werkes verfügen konnte. Hinter der scheinbaren Stille des Idylls, in dem sich das Leben des „Schulmeisters“ (Neumann 1980a, 26) Kempowski abspielte, brodelte die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, die in ihrer Vielfältigkeit im Dasein des Rostocker Schriftstellers tiefe Spuren hinterlassen und in dessen „bürgerlicher Biografie“ (Hempel 2004, 48) auf dramatische Weise eine tiefe Zäsur gesetzt hatte. Die Parabel einer mit der des Schriftstellers gleichnamigen Familie, von den 1880er Jahren bis in die 1960er Jahre, wird in sechs von Kempowski zwischen 1971 und 1984 verfassten Romanen rekonstruiert und fließt in den umfangreicheren Zyklus Die deutsche Chronik ein, die auch drei sogenannte Befragungsbücher enthält. Hier hat Kempowski durch das Spannungsfeld zwischen dokumentarischen (fact) und fiktionalen (fiction) Gegebenheiten die Entwicklung des (hanseatischen) Bürgertums in der deutschen Geschichte nachvollzogen. Dabei ging es ihm um eine ‚Chorartigkeit‘ der Erinnerung, um dem Leser ein möglichst vollständiges Bild der Vergangenheit zu vermitteln. Auf ein solches chorartiges Prinzip bei dem literarischen Abriss der Vergangenheit beruft sich Kempowski selbst in seinem Vorwort zu Haben Sie davon gewußt?: „Dem Leser meiner Romane, dieser ‚deutschen Chronik‘, wird durch die ‚Befragungsbücher‘, wie man sie nennen könnte, eine allgemeinere, ja chronische Begleitung und Erklärung an die Hand gegeben“ (Kempowski 1999a, 6). Dem entspringt die zentrale Bedeutung, die der Schriftsteller der Dialektik zwischen individueller und kollektiver Wahrnehmung der historischen Ereignisse beigemessen hat. Dabei geht es um einen modus operandi, der sich die Wahrheitsfindung der Tatsachen zum Ziel setzt und welcher bei Kempowski die Frage beinhaltet, inwiefern zunächst Hitlers Machtergreifung und dann die Barbarei der Nationalsozialisten nur hatten ermöglicht werden können: „Mag er [d.  i. der Leser] die Romane für zu privat oder die ‚Befragungsbücher‘ für zu allgemein halten: In der Gegenüberstellung beider liegt die Wahrheit verborgen, ist die Antwort zu suchen auf die Frage: Wie konnte es geschehen?“

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(Kempowski 1999a, 6) Außerdem hat der Autor in einem Interview aus dem Jahr 2002 erklärt: „Meine ganze Arbeit zielt darauf ab, unsere Schuld aufzuzeigen“ (Michaelsen 2002, 31). Dies wurde durch die Rolle des „Berichterstatters“ (Calzoni 2005a, 41) über die deutsche Schuld möglich, dank der in der Nachkriegszeit vom Schriftsteller gesammelten aufgezeichneten Gespräche mit Überlebenden des Dritten Reichs. Die Ergebnisse solcher Nachforschungen sind enthalten in den drei Befragungsbüchern der Deutschen Chronik: Haben Sie Hitler gesehen? (1973a), Immer so durchgemogelt. Erinnerungen an unsere Schulzeit (1974a) und Haben Sie davon gewußt? Deutsche Antworten (1979b). Diese drei kleinen Bände demoskopischer Prägung lassen sich auch mit den Angelpunkten der Aufarbeitung der Vergangenheit und Re-Education vergleichen, wozu die deutsche Bevölkerung unmittelbar seit Beginn der Nachkriegszeit aufgerufen war: die fortbestehende Gegenwart der Figur von Hitler im kollektiven Gedächtnis der Deutschen, die pädagogischen Strategien der Indoktrinierung der Jugendlichen zur Zeit des Nationalsozialismus und – von zentraler Bedeutung für den hier besprochenen Band – die Wahrnehmung der an den in den Vernichtungslagern begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Dieses ‚politische Befragungsbuch‘ der Deutschen Chronik ist außerdem das Zeugnis und das Produkt der Zeit, in dem es geschrieben wurde. Dabei stimmt es vollkommen mit der dokumentarischen Intention überein, die Vergangenheit und die aufgetretenen nationalsozialistischen Verbrechen – parallel zur Vollziehung der drei Frankfurter ‚Auschwitzprozesse‘ in den Jahren 1963 bis 1968 sowie der drei Nachfolgeprozesse in den 1970er-Jahren – zu ‚protokollieren‘. Die Frankfurter Prozesse beeinflussten das literarische Geschehen dieser Zeit – man denke nur an Peter Weiss, der auf der Grundlage von während der Prozesse aufgezeichneten Daten sein dokumentarisches Theaterstück Die Ermittlung (1965) verfasste –, und dies sowohl vom thematischen als auch vom strukturellen Gesichtspunkt aus. Die Frankfurter Prozesse und der Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem 1961 hatten neben den in Nürnberg abgehaltenen Prozessen 1945 bis 1946 eine ausschlaggebende Rolle, um erstens der Menschheit die Augen zu öffnen für die von den Nationalsozialisten an den Juden und anderen Opfergruppen begangenen Grausamkeiten und zweitens Deutschland seine Schuld zu vergegenwärtigen. Gleichzeitig ließ der Akt der Befragung von Überlebenden und Tätern an sich die Notwendigkeit des Auffindens eines Erzählmediums zutage treten, das zu einer angemessenen Schilderung der Shoah imstande war, auch angesichts von Theodor W. Adornos berühmtem Ausspruch: „[N]ach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben“ (Adorno 1982, 30). Haben Sie davon gewußt? dürfte daher als das Ergebnis einer Reflexion über das Schreiben nach Auschwitz gedeutet werden, da Kempowski mit diesem Band auf der einen Seite die Absicht der deutschen Bevölkerung bloßstellt, die Judenverfolgung in Vergessenheit geraten zu lassen, und auf der anderen Seite die Schuldfrage in Angriff nimmt. Dabei lässt er zu, dass Letzteres sich

2.2 Befragungsbücher65

ganz von selbst durch die direkten Bezeugungen derjenigen mitteilt, die das Regime auf unterschiedlichen Ebenen stillschweigend duldeten. Auf die von Seiten der Literaturkritik oftmals gegen Kempowski erhobene Anklage, die Shoah in Tadellöser & Wolff – wenn nicht gar in toto – nicht in angemessener Form thematisiert zu haben, antwortet Haben Sie davon gewußt? Dies kann durchaus als dokumentarische Ergänzung zur Deutschen Chronik verstanden werden. Dabei handelt es sich vor allem um ein ästhetisches Experiment zur Schilderung eines ‚unsagbaren‘ Ereignisses in seinem doppeldeutigen Sinn: unaussprechlich und unerklärbar mit den Worten der Alltagssprache und gleichzeitig nicht gestehbar und nicht annehmbar (vgl. Ladenthin 2005). Die Antworten der Deutschen auf die Frage „Haben Sie davon gewußt?“ bewegen sich somit auf dem Grat zwischen dem Sagbaren und dem Unsagbaren wobei sie im Eingeständnis einer Schuld Gestalt annehmen, deren Wurzeln tief im kollektiven Unbewussten verankert sind und deren ästhetische Darstellung laut Kempowski nur über die Montage authentischer Zeugenaussagen möglich zu sein scheint (vgl. Damiano 2005b). Dieser Erzählstil hat dem Schriftsteller im Übrigen die Möglichkeit eröffnet, die individuellen Verantwortlichkeiten der Deutschen für die Judenverfolgung ohne Verhängung von Urteilen zu beweisen. Die Verantwortlichkeit wird vielmehr durch die Fokussierung auf die Alltagssprache jener zwölf Jahre dargestellt, anhand welcher das latente Substrat der Teilnahme der Befragten an dem in Erscheinung tritt, was Eugen Kogon als den „SS-Staat“ (vgl. Kogon 1946) definiert hat. Damit ist es Kempowski gelungen, die Beständigkeit der nationalsozialistischen Rhetorik in der Sprache der Nachkriegszeit durch sein Befragungsbuch hervorzuheben, worin die Geschichte nicht auf der individuellen Meinungsgrundlage nachvollzogen wird, sondern sich aus der Montage von kollektiven Diskurspraktiken ergibt (vgl. Ladenthin 2005, 21–26). Mit dem Prinzip der Montage geht auch das ambitioniertere Projekt Kempowskis einher, die Abfassung der vier kollektiven Tagebücher in zehn Bänden (Das Echolot), wobei die drei Befragungsbücher der Deutschen Chronik eine unabdingbare Voraussetzung dafür darstellen. Die Erstellung des Echolot wäre nämlich ohne Kempowskis vorherige Aufzeichnung der mit Deutschen durchgeführten Interviews in den Dokumentarbänden der Sammlung – unter Anwendung eines dialogischen und chorartigen Strukturprinzips – unmöglich gewesen. Das Echolot und die Befragungsbücher von Kempowski sind ein geeignetes Mittel, um die Überbleibsel der nationalsozialistischen Vergangenheit aus den Abgründen des kollektiven deutschen Gedächtnisses ans Licht zu bringen und diese dem wiedervereinigten Deutschland vor Augen zu halten, in der Hoffnung, dass die begangenen Gräueltaten sich in Zukunft nie mehr wiederholen mögen. Auf diese Absicht, die unter anderem in dem von Kempowski dem ersten Echolot hinzugefügten Vorwort zum Ausdruck kommt, ist gewiss auch die Abfassung von Haben Sie davon gewußt? zurückzuführen, welche sich aufgrund ihrer chorartigen Anlage auf die Wiedergabe der Antworten der Deutschen auf die Titelfrage des Bandes beschränkt. Dabei werden keine Urteile abgegeben, vielmehr wird dem Leser die Verantwortung über-

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tragen, deren Ehrlichkeit zu hinterfragen. Haben Sie davon gewußt? stellt als gleichermaßen ästhetisches wie auch ethisches Experiment Kempowskis ersten Versuch dar, Deutschland die Gräuel der Shoah durch die noch verbliebenen Stimmen derer vor Augen zu halten, die die zwölf Jahre des nationalsozialistischen Terrors erlebt haben. In diesem Text hat der Autor folglich bereits jene Rolle des Schriftführers der deutschen Schuld angenommen, welche er in seinen kollektiven Tagebüchern erneut einnehmen wird. Deren Zielsetzung ist – so steht es in der Einleitung des dritten Echolot, das dem deutschen Unternehmen Barbarossa gegen die Russen im Sommer 1944 gewidmet ist  – „[e]ine Vergegenwärtigung der Welthöllen, welche die Menschheit sich von Zeit zu Zeit bereitet, der Plagen, von denen schon in der Apokalypse die Rede ist“ (Kempowski 2002, 5).

2.3  Weitere Romane 2.3.1  Hundstage. Roman Raul Calzoni 1 Inhaltsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 2 Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66

1 Inhaltsüberblick Der Roman Hundstage erschien 1988 im Albrecht Knaus Verlag und gehört mit Mark und Bein. Eine Episode (1992a), Der arme König von Opplawur (1994a), Weltschmerz. Kinderszenen fast zu ernst (1995a), Heile Welt (1998), Letzte Grüße (2003) und Alles umsonst (2006) zu der sogenannten Zweiten Chronik Walter Kempowskis. Der Roman erzählt einen Sommer im Leben des Schriftstellers Alexander Sowtschick. Der Titel des Buchs bezieht sich auf die jährliche Periode vom 23.  Juli bis 23.  August: „Die Sonne steht um diese Zeit in der Nähe des Sirius, eines riesigen, acht Lichtjahre entfernten Fixsterns, auch ‚Hundsstern‘ genannt“ (Kempowski 1988a, 5). Während der größten Hitzewelle entwickelt sich die Entstehungsgeschichte des von Sowtschick geschriebenen Romans, dessen Protagonist – ein gewisser Gottlieb Fingerling – Schriftsteller ist und im Winter in den Bergen an einem mit „Winterreise“ betitelten Roman arbeitet, während eine Frau in den Hundstagen am Meer ein Gedicht mit dem Titel „Frost“ schreibt. 2 Analyse Schon diese knappe Zusammenfassung des Inhalts bringt die grundlegenden Gegensätze des Lebens ans Licht, von denen der Roman erzählt: „Alter und

2.3  Weitere Romane67

Jugend, Provinz und Metropole, […] Künstler und Landbevölkerung, vaterländisch und kosmopolitisch, Idylle und Grauen“ (Hempel 2004, 187). Die Binnenerzählung in Hundstage erlaubt es Kempowski, sich als ironischer Beobachter seiner Gegenwart zu erweisen, der eine vielschichtige kritische Stellung gegenüber der sozialen und kulturellen Lage Deutschlands in den 1980er Jahren einnimmt. Dementsprechend geht es im Fall der Hundstage nicht nur – wie etwa bei Thomas Manns Entstehung des Doktor Faustus – um den Roman über die Entstehung eines Romans, sondern auch um Arbeitslosigkeit, Umweltzerstörung, Antiatomkraft- und Friedensbewegung. Hundstage ist also ein ‚Endzeitroman‘, der sich mit ästhetischen und ethischen Fragen der Gegenwart auseinandersetzt und der „vom vergeblichen und doch immer neu zu beginnenden Versuch [erzählt], gegen eine zerstörerische Welt zu bestehen“ (Ladenthin 2000a, 36). Es handelt sich zudem um einen Schlüsselroman für das Verstehen des literarischen Verfahrens Kempowskis, also für „die Einrichtung eines als fiktional gekennzeichneten Ich zur Profilierung einer eigentlich behaupteten Persönlichkeit jenseits der Inszenierung“ (Sina 2012, 39). Die Hauptfigur ist demzufolge sowohl ein Beobachter, der die Wirklichkeit kritisch wahrnimmt, als auch ein Schriftsteller, der versucht, sich einen Weg im Literaturbetrieb zu ebnen. Alexander Sowtschick erinnert daher an Walter Kempowski selbst: Er ist „nur etwas älter und athletischer“ (Henschel 2009, 44) als sein Autor  – immerhin benehmen sich die beiden keinesfalls wie „typische bundesdeutsche Schriftsteller, die meist ganz anders leben, ganz anders schreiben und ganz anders denken als diese beiden Außenseiter des Literaturbetriebs“ (Köpke 1988, VB2). Aus dieser Perspektive, die von einem der ersten Rezensenten des Buchs hervorgehoben wurde, versteht man, dass der Roman eine „Satire auf den westdeutschen Literaturbetrieb der achtziger Jahre“ (Hempel 2004, 187) ist. Im Fall der Hundstage sowie der ganzen literarischen Produktion Kempowskis der 1970er und 1980er Jahre geht es um einen „Akt der Abgrenzung gegenüber einem behaupteten Mainstream der bundesrepublikanischen Gegenwartsliteratur“ (Sina 2012, 85) – einen Mainstream, der, wie Kempowski damals schrieb, als „Grass-Lenz-Böll“ bezeichnet werden kann, „als sei dies der Name eines einzigen Gesamtschriftstellers, so, als deckte die Aufzählung dieser drei Autoren die deutsche Literatur der Gegenwart ab“ (Kempowski 1979d, 41). Nichtsdestoweniger wäre der Roman nach Klaus Modick „dazu angetan, seinen Autor aus der Ecke herauszuholen, in die er sich selbst hineingeschrieben hat“ (Modick 1988, 5). Dazu zählt auch die Anspielung auf Arno Schmidt, die in den Anfangsbuchstaben des Namens Alexander Sowtschick enthalten ist und auf Kempowskis und Schmidts besonderes Verhältnis zur literarischen Szene der Nachkriegszeit verweist. „Arno Schmidt wohnte zwar nicht in meiner Nähe (bis Celle ist es von hier aus eine Stunde zu fahren), aber er war mir der Nächste, er war mein Nachbar“ (Kempowski 1979d, 41), schrieb Kempowski, als er den Einfluss der Schnappschusstechnik Schmidts auf seine literarische Verfahrensweise andeutete. Mit Bezug auf diese ästhetische Affinität zwischen Schmidt und Kempowski hat Volker Ladenthin in einer der wenigen positiven Bespre-

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chungen zu den Hundstagen geschrieben, dass es dem Autor aus Rostock „auf besondere Weise“ gelungen sei, „zumindest einmal Zeuge der Zeit zu sein, am Detail zu kleben, die Hohlwelten des Kopfes fein auszuleuchten und alles in verschärftem Sprachkonzentrat zu verabreichen“ (Ladenthin 1988, 26). Die Initialen A. S. erinnern darüber hinaus an Alexander Solschenizyn, dessen Archipel Gulag (1973) wie Kempowskis Im Block (1968) von dem sowjetischen Gefängnissystem erzählt. Diese Anspielungen hat Kempowski ans Licht gebracht, als er die Entstehung des Romans Hundstage in seinem Tagebuch Sirius – das ist nicht ganz zufällig der Stern, in dessen Nähe die Sonne während der Hundstage scheint – beschrieben hat (vgl. Kempowski 1990a, 605). Darüber hinaus hatte Kempowski beim Erzählen der Geschichte Sowtschicks das Folgende vor: „Ich müßte in dem Roman ziemlich indiskret werden“ (Kempowski 1990a, 628). Diese Äußerung kann dabei helfen, die satirischen Absichten des Autors besser zu verstehen. Einerseits, wie schon erwähnt, ist der westdeutsche Literaturbetrieb der 1980er Jahre in diesem Sinne ein wichtiges Thema des Romans, anderseits ist es aber die damalige bundesdeutsche Gesellschaft, die Kempowski mit diesem Werk ironisch kritisiert. Kempowski, wie Sowtschick, ist sich in der Tat bewusst, dass er Vergangenheit aufarbeitete, mehr oder minder ‚vergnüglich‘, und dass er es unterließ, die bürgerliche Gesellschaft mit Problemfeldern zu attackieren, ihr die Maske vom Gesicht zu reißen, wie es die meisten seiner Kollegen taten, wofür sie dann von eben dieser Gesellschaft Preise zuerkannt bekamen, einen nach dem andern. (Kempowski 1988a, 40)

Sowohl Vladimir Nabokovs Roman Lolita (1955) als auch Erich Rohmers Film Pauline am Strand (1982) enthalten Vorbilder für Sowtschick. Über diese literarischen und filmischen Vorbilder lässt Kempowski durch den Protagonisten seines Romans auch eine Kritik an der Sexualmoral im bundesrepublikanischen Deutschland der 1980er Jahre vorbringen.

2.3.2  Mark und Bein. Eine Episode Julian Tietz 1 Inhaltsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 2 Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71

1 Inhaltsüberblick In Mark und Bein begibt sich der in Hamburg lebende Journalist Jonathan Fabrizius auf eine Reise durch das ehemalige Ostpreußen, um einem Automobilkonzern bei der Vorbereitung einer Rallye zu helfen. Er wird dort nicht nur mit gesellschaftlichen Unterschieden, Klischees und Vorurteilen zwischen Deutschen und Polen konfrontiert, sondern auch mit Vergangenheitsbewälti-

2.3  Weitere Romane69

gung und der Vergangenheit an sich – sowohl bezogen auf die Gesellschaft als auch auf das Individuum. Jonathan lebt in Hamburg vom Geld seines Onkels und von gelegentlichen journalistischen Arbeiten, für das er von Magazinen und Zeitschriften beauftragt wird. Jonathan wurde 1945 in Ostpreußen geboren; die Mutter starb bei seiner Geburt und der Vater als Soldat auf der Frischen Nehrung. Den Fluchthintergrund und die familiäre Tragödie nutzt Jonathan lediglich als Leidensvorsprung vor seinen Freunden, eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und seinem persönlichen Schicksal fehlt zunächst völlig. Das ändert sich, als er das Angebot der Santubara-Werke erhält, für 5000 Mark eine Tour durch Ostpreußen zu begleiten und einen Reisebericht zu verfassen. Sind es anfangs auch das Geld und die mangelnde Bindung an seine Freundin, die Jonathan dazu bewegen, das Angebot anzunehmen, wird später der Wunsch immer stärker, etwas über die ehemaligen deutschen Gebiete im Osten im Allgemeinen und die Sterbeorte seiner Eltern im Speziellen zu erfahren. So macht er sich gemeinsam mit dem Rennfahrer Hansi Strohtmeyer und der PR-Frau Anita Winkelvoss auf die Reise: „So wollte man denn nun nach Polen fahren, das heißt, ja eigentlich nach Ostpreußen, also in ‚deutsche Lande‘“ (Kempowski 1992a, 91). Im Flugzeug nach Danzig versucht sich Jonathan verschiedene Szenarien der Flucht aus Ostpreußen vorzustellen: Mutter und Kind, die in einem Paddelboot nach Schleswig-Holstein schippern, und die großen ächzenden Dampfer, bis zum Promenadendeck beladen mit Flüchtlingen und im Mahagoni-Speisesaal über- und untereinander, Erbsensuppe und trocken Brot, mit Kopftuch die Frauen, mit Skimütze die kleinen Jungen: Jeder darf nur einen Koffer mitnehmen, Kinderwagen bitte an Land lassen. (Kempowski 1992a, 99)

Bei der Ankunft in Danzig empfinden die Mitglieder der Reisegruppe Polen und die dortige Lebensart gleichermaßen als freundlich wie auch befremdlich. Anita Winkelvoss bemerkt hier insbesondere die Diskrepanz zwischen Gastfreundschaft und historischer Grausamkeit, verknüpft dies jedoch wiederum mit vorherrschenden Klischees: „Sie rühmte es, daß sie sich hier in diesem Hotel ohne weiteres habe duschen können, und wunderte sich, daß alle Polen so freundlich sind. Zu uns Deutschen! Was wir denen angetan haben! Ein Drittel der Bevölkerung ausgerottet und alle Städte zerstört?“ (Kempowski 1992a, 145–146) Dem befremdlichen Nationalbewusstsein der polnischen Kultur steht die fehlende Auseinandersetzung mit deutscher Vergangenheit gegenüber. Jonathan besucht in Danzig zunächst die Marienkirche, um Material für ein anderes Projekt über nordische Backsteingotik zu sammeln. In diesem Zusammenhang wird ein zentrales Thema des Romans – die Auseinandersetzung mit Schuld – konkretisiert und von Jonathan mit christlichen Motiven verknüpft. Dem gegenüber steht eine Landsmannschaft, deren Mitglieder im Gegensatz zu Jonathans reflektierter Rückerinnerung lediglich in einer Ecke sitzen und überlegen, ein Lied anzustimmen.

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2 Werk

Als eine alte Frau Jonathan auf der Straße anspricht, um ihn darum zu bitten, ihr aus Deutschland Medizin für ihre kranke Tochter Maria zu schicken, lässt dieser sich zum Kaffee zu ihr nach Hause einladen. In der Begegnung mit der Kranken wird die Schuldfrage im Angesicht des Leids des Mädchens immer wieder unvermittelt aufgeworfen: „Wer hat die Schuld?“ (Kempowski 1992a,129) Jonathan nimmt schließlich das Medizinfläschchen mit, das ihm die alte Frau aufdrängt, und verspricht, die Medizin zu schicken, sobald er wieder zurück in Hamburg ist. In der Folge besucht die Reisegruppe der Santubara-Werke verschiedene Orte, die Jonathan in seinem Bericht als Reiseziele empfehlen möchte. Es handelt sich sowohl um Orte von allgemeiner historischer Relevanz als auch um mit Jonathans persönlicher Geschichte verknüpfte Orte. So wird die Marien­burg besichtigt, in der verschiedene Besucher von Jonathan beobachtet werden, unter anderem eine sozialistische Schülergruppe und eine Landsmannschaft, die sich eine Kunstausstellung mit „KZ-Darstellungen im Stile von Käthe Kollwitz“ (Kempowski 1992a, 165) ansehen: „Die Herrschaften von der Landsmannschaft suchten schnell weiterzukommen, weil einer der Ihren in Dachau gesessen hatte, der hatte das noch immer nicht überwunden. Damit hatte man ja nun nicht gerechnet, daß man hier mit so etwas konfrontiert wurde, hoffentlich flippte der nicht aus!“ (Kempowski 1992a, 166) Die Reise führt weiter durch Rosenau, dem Sterbeort von Jonathans Mutter, mit der Kirche, in deren Vorraum die Leiche seiner Mutter abgelegt und zurückgelassen wurde. Hier thematisiert der Protagonist abermals die Schuldproblematik und scheint daran zu verzweifeln: Alles umsonst! ALLES UMSONST! Und er meinte damit nicht den Tod seiner Mutter und nicht den des Vaters, der ‚ins Gras hatte beißen müssen‘, nicht die Schlafcouchen, die sein Onkel fabrizierte, sondern die Qual der Kreatur, das an den Pfahl gehenkte Fleisch, das Kalb, das er gesehen hatte, gefesselt und geknebelt, den Verschlag in der Marienburg zur Marter vorbereitet, den schlurfenden Zug der Menschen unter einem verdammenden Himmel. (Kempowski 1992a, 203–204)

Beim darauf folgenden Besuch der Wolfsschanze wird die Frage aufgeworfen, ob die Nazivergangenheit für die journalistische Rallye überhaupt interessant sei; der historische Ort wird dennoch besichtigt. Überhaupt scheint die deutsche Vergangenheit, speziell bezüglich der Verbrechen des Zweiten Weltkriegs, immer präsenter und relevanter. Dies zeigt sich auch in Jonathans Beharren auf dem Besuch im ehemaligen KZ Stutthof: „An Stutthof führte kein Weg vorbei“ (Kempowski 1992a, 221). Der Besuch fällt jedoch aus, da die Gedenkstätte geschlossen hat; Anita Winkelvoss und Hansi Strohtmeyer sind im Gegensatz zu Jonathan froh, sich die Besichtigung ersparen zu können. Der Besuch der Reisegruppe auf der Frischen Nehrung weckt in Jonathan Erinnerungen an seinen Vater, der dort zu Tode kam. Das Medizinfläschchen Marias nutzt er, um etwas Sand vom Sterbeort des Vaters einzusammeln. Den Plan, dem Mädchen Medizin aus Hamburg zu schicken, verwirft er, hat er doch auch bereits die Adresse der Familie verloren. Am Ende kommt es zu

2.3  Weitere Romane71

einer imaginierten Begegnung, in der Jonathan sich den verstorbenen Vater vorstellt: „,Es war mein Sohn, der nach mir gesucht hat‘, flüsterte er seinen Kameraden zu, und die sagten es weiter: ‚Sein Sohn hat nach ihm gesucht‘“ (Kempowski 1992a, 232). 2 Analyse Kempowskis Roman Mark und Bein erschien Ende Februar 1992 und bildet unter anderem mit den Sowtschick-Romanen – Hundstage und Letzte Grüße – und dem Roman Alles umsonst die ‚Zweite Chronik‘. Diese stellt neben der Deutschen Chronik und den pädagogischen Büchern Kempowskis eine ‚dritte Schicht‘ seines Werkes dar. Persönliche, autobiographische Themen sind weniger handlungstragend und dienen hier eher als Ausgangspunkt, um größere, teils die gesamte deutsche Bevölkerung betreffende Fragen und Problematiken anzusprechen (vgl. Hempel 2004, 204). Bei Erscheinen war das Werk wenig erfolgreich – sowohl bei der Leserschaft als auch in Kritikerkreisen. Dies ist möglicherweise auf die unzeitgemäße Darstellung Polens zurückzuführen als „ein spätsozialistisches Polen der achtziger Jahre, das es nach dem politischen Umbruch im Osten Europas so nicht mehr gab“ (Kempowski 1992a, 203). Die Reise nach Polen hat einen Realbezug: Kempowski war 1987 die gleiche Strecke gefahren, über Danzig und die Ma­rien­ burg nach Masuren bis an die Grenze zur Sowjetunion. Er war an Succase vorbeigekommen, wo einst der Schneider Kempowski in seinem Vorlaubenhaus Kinder unterrichtete, und hatte am Strand der Frischen Nehrung das Grab seines Vaters gesucht. (Kempowski 1992a, 202)

Auch zu Einzelheiten gibt es reale Entsprechungen. So existiert tatsächlich ein Fläschchen, in dem Kempowski Sand vom Sterbeort des Vaters mitgenommen hat. Kempowski verfasste außerdem – wie es der Protagonist Jonathan Fabrizius beabsichtigt – einen Artikel über nordische Backsteinkirchen (vgl. Kempowski 1990, 74–80), den er in einem Bordmagazin der Lufthansa publizierte. Die Kernthematiken in Mark und Bein sind Motive der Grausamkeit, die Suche nach dem Vater, die Darstellung von Diskrepanzen und Vorurteilen zwischen Deutschland und Polen und damit verbunden natürlich das Zusammenkommen von deutscher, polnischer und persönlicher Vergangenheit des Protagonisten; außerdem werden vielfältige religiöse Bezugsfelder eröffnet. All diese Themen sind verknüpft mit der leitmotivischen Frage nach Schuld. Im Zuge dessen wird im Roman sehr deutlich auf den Tenor der ‚Zweiten Chronik‘ und im weiteren Sinne auch des Gesamtwerks verwiesen – die Schuldfrage. Durch das direkte Einbinden und Ansprechen dieses gesamtwerklichen Kontexts steht Mark und Bein vor allem in einer Reihe mit dem Roman Alles umsonst (vgl. Kempowski 2006a), der die zum Ende aufkeimende Erkenntnis Jonathans  – „Alles umsonst“ (Kempowski 1992, 203)  – im Titel aufgreift. Während die Flucht aus Ostpreußen in Mark und Bein retrospektiv durch

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2 Werk

Rückerinnerung wachgerufen wird, wird sie in Alles umsonst ohne zeitliche Versetzung geschildert. Kempowski überlegte auch, sein Gesamtwerk mit dieser häufig in seinen Werken auftauchenden Floskel zu betiteln, wodurch das Gesamtwerk als eine mögliche Antwort auf die Schuldfrage gelten könnte. Die Suche nach dem Vater als zentrales Thema wird nicht nur in Mark und Bein, sondern auch im Hörspiel Moin Vaddr läbt aufgegriffen. Wie im Roman vermag hier eine direkte Kommunikation und Begegnung nicht stattzufinden und beide motivischen Schilderungen verbleiben in einem hypothetischen Raum. Die literaturwissenschaftliche Forschung hat sich bislang wenig mit Mark und Bein befasst. Der Literaturwissenschaftler Marek Jaroszewski unterzieht den Roman in einem Aufsatz von 1998 einer kritischen Würdigung und untersucht die Darstellung des Polenbildes bei Kempowski. Es wird vor allem betont, wie Kempowski neben der bewussten Abbildung von Klischees auch negative Erscheinungen wie Antisemitismus, Trunksucht und Prostitution registriert (vgl. Jaroszewski 1998, 241 u. 247). Es wird ebenfalls auf die Vergangenheitsbezogenheit der deutsch-polnischen Wechselbeziehungen eingegangen und diesbezüglich vor allem auf die Bedeutung der Folgen des deutsch-polnischen Antagonismus im Roman verwiesen. Die Theologin Gita Leber untersucht intertextuelle Bezüge bzw. ‚Sitz im Leben‘-Arrangements, die Entstehungssituation des Textes sowie seine Funktion. Es geht um die Darstellung der Mehrschichtigkeit des Werkes Walter Kempowskis, die Rekonstruktion von religiösen Formen und Motiven und die Feststellung einer intentio operis. In der Arbeit wird dem Roman Mark und Bein ein Kapitel gewidmet und er wird in Kontext gesetzt mit dem zweiten Fluchtroman Kempowskis, Alles umsonst (vgl. Leber 2011). Ein Ansatz ist hier zum Beispiel das Verständnis von Mark und Bein als Prolog im Gegensatz zu Alles umsonst als Epilog des Gesamtwerks. Der Literaturwissenschaftler Julian Tietz widmet sich in einem Artikel von 2011 dem Schuldkomplex als eine der Kernthematiken Kempowskis vor dem Hintergrund des stets präsenten Motivs der Grausamkeit im Roman Mark und Bein. Grausamkeit wird als Symptom der nicht zu beantwortenden Schuldfrage, Rückerinnung und Vergangenheitsbewahrung sowie als Instrument der Bewältigung kenntlich gemacht. Die vollendete Suche nach der eigenen Vergangenheit wird als mögliche neue Perspektive auf die Schuldfrage beschrieben (vgl. Tietz 2011a, 74). Tietz untersucht außerdem Bibelbezüge in Mark und Bein im Rahmen seiner Masterarbeit In was für Missetaten sind wir geraten? Schuld und Religion bei Walter Kempowski (vgl. Tietz 2011b).

2.3  Weitere Romane73

2.3.3  Heile Welt. Ein Roman Daniel Randau 1 Inhaltsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 2 Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74

1 Inhaltsüberblick Im April 1961 beginnt der Protagonist Matthias Jänicke seine Tätigkeit als Dorfschullehrer im niedersächsischen Dorf Klein-Wense in der Sassenholzer Börde. Die Romanhandlung beschreibt in Abschnitten und unterbrochen von mehreren Zeitsprüngen und -raffungen Jänickes erstes Jahr in diesem Beruf. Für den Dreißigjährigen ist dies bereits „Lebensstart Nummer 3“ (Kempowski 1998, 47), der sich ebenfalls als Fehlstart herausstellt: Da er dem Schulrat bei dessen Visite keinen lebenswirklichen Unterricht, sondern eine vorher minutiös durchgeplante Stunde präsentiert und sein Kollege Stichnoth aus dem Nachbarort diesen Betrug verrät, flieht Jänicke am Ende des Romans aus Klein-Wense, um sich der angekündigten Rache des Schulrats zu entziehen. Obwohl er sich bereits einen Tag später zur Umkehr entschließt, bleibt sein endgültiges Schicksal ungeklärt, das Ende des Romans offen. Fünf Jahre nach Erscheinen von Heile Welt gefiel es Kempowski, das Rätselspiel um Jänicke noch weiter zu treiben, indem er ihn  – oder zumindest jemanden, auf den seine Beschreibung haargenau passt – in Letzte Grüße als Posaune blasenden, nach wie vor unverheirateten Lehrer aus Deutschland wieder erscheinen lässt, der in den USA zehn Jahre lang in einer Dorfschule unterrichtet hat: „Irgendeinen Kummer gehabt, deshalb oft nachdenklich und dann ja auch abgereist ganz plötzlich“ (Kempowski 2003, 171). Ebenso ungeklärt wie der weitere Verlauf seiner Zukunft ist Jänickes konkrete Vergangenheit. Lediglich seine Herkunft aus der „Ostzone“ (Kempowski 1998, 11) findet mehrfach Erwähnung, ebenso wie eine dort verbüßte mehrjährige Haftstrafe und eine gescheiterte Beziehung, die Jänicke kurz vor seiner Fahrt nach Klein-Wense beendet. Die Obskurität dieser Vergangenheit fügt sich zu Jänickes Vorhaben, an seinem neuen Arbeitsplatz sein altes Ich zu vergessen und sich neu zu erfinden. Er muss allerdings feststellen, dass in Klein-Wense die Vergangenheit überall präsent wird: Das Verhältnis der einzelnen Bauernfamilien zur nationalsozialistischen Vergangenheit des Ortes ist allgegenwärtiges Gesprächsthema, ohne dass dabei die Geschichte tatsächlich vollständig ausgelotet würde. Zentral wird dieses Thema durch die Figur Ellinor von Kallroy, die Tochter des berühmten Kunstmalers Ernst Werner von Kallroy, die zusammen mit ihrer Tante vom Nachlass des im KZ ermordeten Künstlers zehrt und in dessen Schicksal – wie fast das halbe Dorf – schuldhaft verstrickt ist. Jänickes erotisches Interesse an Ellinor bleibt Episode, ebenso wie auch seine Versuche, die Vergangenheit der Künstlerfamilie zu rekonstruieren, keinen umfassenden Erfolg zeitigen.

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2 Werk

2 Analyse Jänickes Erlebnisse im ersten Berufsjahr variieren das Thema von Neubeginn und Vergangenheit in unterschiedlichen Erscheinungsformen, denen das Scheitern von vornherein zugeschrieben ist: Ohne Besinnung auf die Ursprünge und die vergangenen Fehler kann kein Neubeginn glücken, aber ohne sich der Altlasten zu entledigen wird aus jeder neuen Richtung ein stetig kreisender Rückweg. Die Ereignisse der Handlung sind alltäglich und fügen sich nicht zu einem kausal verknüpften Plot; die personale Erzählweise verwendet fast ebenso viel Raum auf die Darstellung von Jänickes Innenwelt wie auf die bisweilen sehr detailliert ausfallende Schilderung der asyndetischen Ereignisse. Jänicke bleibt im Mikrokosmos seines Dorfes ein passiver Beobachter, der in den gewachsenen Strukturen seiner Mitmenschen keinen festen Platz finden kann. Schmauch, sein Amtsvorgänger mit 30 Dienstjahren, wird ihm beständig als Vergleichsinstanz vorgehalten, der er weder entsprechen kann noch will. Seine pädagogischen Ambitionen stoßen bei den Eltern seiner Schüler auf wenig Gegenliebe, da diese alles außer Rechnen für Zeitverschwendung halten und bemängeln, dass Jänickes Rechenfähigkeiten schon hinter denen der älteren Dorfschüler zurückbleiben. Der Kosmos von Kempowskis Lehrertypen teilt sich in „zwei Arten von Lehrern […], Kindergartentanten und Rattenfänger“ (Neumann 1980a, 7), und unterscheidet so die pädagogischen Ansätze, die Kinder entweder zu locken und anzuführen oder sie selbst die Richtung vorgeben zu lassen, die der Unterricht einschlagen soll. Jänicke gesellt sich an die Seite des in Schöne Aussicht (Kempowski 1981a) beschriebenen Lehrer Jonas, dem die Fähigkeit, die Kinder zu führen, gänzlich abgeht und der Zuflucht in Phrasen der Reformpädagogik sucht. In Jänickes Fall ist dies das „freischaffende Lernen in offener Behaustheit“ (Kempowski 1998, 10); ein Slogan, der auch das Doppelthema aus Vergangenheit und Zukunft per Oxymoron wieder aufgreift. Der Betrug am Schulrat durch die ausgefeilte Unterrichtsvorbereitung ist auch ein Betrug an dem pädagogischen Ideal, dem Kempowski sich als Schulmeister verschrieben hatte und das er seine Figuren Jonas und Jänicke erproben lässt. Diese Proben zeigen oft genug die Unzulänglichkeiten der an einem Ideal ausgerichteten Methoden: In seiner Passivität neigt Jänicke zur Selbstreflexion und -kritik und zweifelt daher selbst häufiger an Sinn und Nutzen seiner didaktischen Bemühungen, die immer wieder nur noch dazu dienen, dass die Zeit herumgeht. Weiterhin ist Jänicke dem Repertoire der biographisch gefärbten Kempowski-Figuren zuzuordnen. Heile Welt beginnt mit einem Zitat aus Tadellöser & Wolff, der bekannten Versicherung „Alles frei erfunden!“ (Kempowski 1971a, 6; sowie Kempowski 1998, 4) und stützt sich ebenso wie die Bände der Deutschen Chronik auf Passagen aus Kempowskis Biographie und seiner Lehrtätigkeit in Breddorf von 1960 bis 1965. Passend dazu gehört auch ein weiteres von Kempowskis Alter Egos zum Personal von Heile Welt: der „Thomas Mann des Landkreises“ (Kempowski 1998, 310) Alexander Sowtschick. Im Verhalten sind dieser und Jänicke freilich sehr verschieden – so fragt sich Jänicke beim

2.3  Weitere Romane75

Passieren von Sowtschicks Grundstück: „was gibt es denn hier aufzuschreiben?“ (Kempowski 1998, 310)  –, dennoch bieten sich beide als ergiebiges Material für eine charakterliche Analyse mit geteilten Vorzeichen an. Bemerkenswert ist in dieser Hinsicht die Tatsache, dass Jänicke in nahezu pathologischem Ausmaß von Angst beherrscht wird: Schon vor Beginn seiner neuen Tätigkeit fürchtet er sich davor, den Ansprüchen des Berufs nicht gewachsen zu sein, und hat Horrorvisionen von unfolgsamen Kindern. Die Vorgesetzten sind Personifikationen einer Macht, die ihn zu entlarven droht oder die wegen eines unbedachten Worts seine Karriere beenden kann. Der erste Anblick der Moorlandschaft seiner neuen Heimat evoziert sofort die Vision eines tödlichen Unfalls. Selbst von den Dorfbewohnern gehen Bedrohungen aus, in die Jänicke sich hineinsteigert, etwa wenn er befürchtet, dass sie ihn wegen irgendeines Fehlverhaltens im Falle einer Brandkatastrophe die Hilfe verweigern könnten, oder wenn er für einen Schulausflug in den Wald den Weg ums Dorf herum wählt, um nicht von den Bäuerinnen ertappt zu werden. Dieser Angst gegenüber steht die Erleichterung, wann immer Jänicke feststellen kann, dass er Unterrichtszeit irgendwie herumgekriegt hat, dass wieder Zeit vergangen ist. Hier kristallisiert sich ein Blick in die Innenwelt eines Mannes heraus, der immer noch in der Mentalität eines Gefangenen verhaftet ist: ängstlich und anbiedernd den Vorgesetzten gegenüber, die Macht über die eigene Existenz haben; gleichzeitig darauf bedacht, sie zu übervorteilen; ständig von der Angst besessen, bei irgendeinem Regelverstoß ertappt oder verraten zu werden, und immer froh, wenn durch irgendeine Kurzweil die verhängte Frist der Haftstrafe wieder um ein größeres Pensum als gedacht vergangen ist. Häftling-Lehrer-Schulanfänger ist die Dreierrolle, die Jänicke zu spielen hat, und die Ängstlichkeiten der ersten und letzten Position greifen dabei auf die Hauptposition über und versehen sie mit einem Trauma, das unverarbeitet aus der Vergangenheit hereinbricht, trotz aller Bemühungen, mit eben dieser endgültig abzuschließen: „Hier hat sich einer seine Bewältigung für später aufgehoben“ (Brand 2006, 84) – erst in Langmut (Kempowski 2009a) wird diese Bewältigung vollständig. Die feuilletonistische Rezeption von Heile Welt war wenig wohlwollend; Peter Brand nennt sie „einen Tiefpunkt in der literaturkritischen Rezeption des Werkes von Kempowski“ (Brand 2006, 84). Sein Aufsatz fasst diese Verrisse nicht nur zusammen, sondern beweist auch deren Kurzsichtigkeit. Ferner stellt Brand Heile Welt in die Nachfolge der Deutschen Chronik und arbeitet die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus als „das zentrale Thema des Autors“ (Brand 2006, 83) auch in diesem Roman heraus. Besonderes Augenmerk wird dabei auf die Methode Kempowskis gelegt, durch Detailreichtum und Personalvielfalt Ambivalenz und historische Akkuratesse zu erzeugen. Kenntnisreicher als die Verrisse des Feuilletons fällt Volker Ladenthins Kurzkritik des Romans aus, die nicht nur das Doppelmotiv „Vergessen und Erinnern, […] Zeitgebundenheit und Überzeitlichkeit“ (Ladenthin 1998, 169) pointiert aufdeckt, sondern darüber hinaus den Roman als Satire erkennt, die „der Alltagssprache das falsche Bewusstsein ablauscht“ (Ladenthin 1998, 169).

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In seiner Einführung ins Werk Kempowskis etabliert Ladenthin Kempowskis ‚Zweite Chronik‘ (vgl. Ladenthin 2000a, 34), die sich (u.  a.) aus den Bänden Hundstage, Mark und Bein, Heile Welt und Letzte Grüße zusammensetzt. Er betont die Zusammenhänge zwischen diesen Romanen nicht nur auf der Ortsund Figurenebene, sondern auch durch die durchgängige Verwendung diverser Leitmotive sowie die Kempowski’sche Methode, Welterschließung über das Mittel des Sprachgebrauchs zu betreiben. In seinen Ausführungen zu Heile Welt werden die von Ladenthin bereits etablierten Motive des Romans detailliert ausgeleuchtet und um die Ebene der Dingsymbolik vermehrt. Verblüffend sind dabei Ladenthins pointierte Ausführungen zu Jänickes Kegelkugelsammlung, der Ladenthin auf einleuchtende Weise zentrale Dingsymbolik zuweist.

2.3.4  Letzte Grüße. Roman Andreas Grünes 1 Inhaltsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 2 Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77

1 Inhaltsüberblick In seinem 2003 erschienen Roman Letzte Grüße schildert Walter Kempowski die Lesereise des Schriftstellers Alexander Sowtschick durch die Vereinigten Staaten im Herbst 1989. Im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Deutsche Wochen“ ist er von einem deutsch-amerikanischen Institut zu einer vierwöchigen Lesereise eingeladen. Trotz anfänglicher Zweifel willigt Sowtschick ein, auch um einer Schreibblockade und einer drohenden Beleidigungsklage eines Schriftstellerkollegen zu entfliehen. Die Lesereise – beginnend und endend in New York – entwirft ein Panorama der amerikanischen Gesellschaft der 1980er Jahre, sie führt Sowtschick von der Ostküste durch germanistische Seminare, Amish-Dörfer, Disneyworld, Mormonentempel und Mexiko bis an den Pazifik und wieder zurück nach New York. Die Darstellung des Verhältnisses von Deutschen und Amerikanern spielt dabei ironisch mit Klischees und Stereotypen, da Sowtschicks Selbstwahrnehmung als Vertreter der deutschen Kultur immer wieder an der amerikanischen Borniertheit abprallt – während er sich stattdessen fragen lassen muss, ob er Mitglied der SS gewesen sei. Aber auch Sowtschicks Treffen mit den Vertretern der Auslandsgermanistik geraten zu absurd-komödiantischen Episoden, etwa wenn er nach seinem ersten Hamburger in New York eine Lebensmittelvergiftung erleidet, ihn Gastgeber vergessen oder eine Archivarin der Yale University beim amourösen Tête-à-Tête die Echtheit seiner Zähne überprüft. In Orlando drängt ihn eine Lehrerin dazu, ihren übergewichtigen Sohn zu einer Tour durch Disneyland mitzunehmen, was aufgrund der

2.3  Weitere Romane77

ungezügelten Esslust des Jungen in einer schlimmen Emesis endet. Die Reise gewährt tiefe Einblicke in die empfindliche, leicht zu kränkende Persönlichkeit Alexander Sowtschicks. Damit werden zugleich auch satirische Betrachtungen ins Innenleben des Literaturbetriebs eröffnet, bei denen meist Alexander Sowtschick selbst im Mittelpunkt steht – oszilliert sein schriftstellerisches Wirken doch zwischen selbstgefälliger Eitelkeit, sehnsüchtiger Hoffnung auf Anerkennung und beleidigter Jammerei, wenn die erwartete Achtung ausbleibt: Für eine Amerikareise sprach der Hinweis, der dann später der Vita würde hinzugefügt werden können: ‚1989 im Rahmen der ‚Deutschen Wochen‘ eine zweite ausgedehnte Studienreise nach Amerika… Gastdozent an verschiedenen Universitäten…‘ Die Einladung hatte unverschämt lange auf sich warten lassen, das war nicht zu leugnen.“ (Kempowski 2003, 12)

Die Eitelkeiten des Literaturbetriebs zeigen sich am deutlichsten in der einseitigen Rivalität mit dem jungen Autor und DDR-Exilanten Adolf Schätzing, der mit seinen kritischen Arbeiten nicht nur im Zentrum der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit steht, sondern Sowtschick auf der Lesereise wortwörtlich immer einen Schritt voraus ist. Die Begeisterung für Schätzing fällt zusammen mit den Bürgerprotesten in der DDR, im Fernsehen wird von den Montagsdemos berichtet. So endet die Reise Sowtschicks schließlich mit dem Mauerfall – in doppelter Hinsicht: In seinem New Yorker Hotelzimmer sieht er die Menschenmassen auf der Berliner Mauer. Kurz darauf stirbt Alexander Sowtschick, und es ist ausgerechnet der junge Autor Schätzing, der am Ende über die Leiche Sowtschicks hinweg den Fernseher abstellt. 2 Analyse Der Roman wurde nach seiner Veröffentlichung von der Literaturkritik sehr positiv aufgenommen. Burkhard Spinnen bezeichnete das Werk als „die launig-(bitter)böse Abrechnung eines populären Autors mit den Niederungen des Betriebs und dem Quisquilantentum der Autorenschaft.“ (Spinnen 2003, 10). Volker Ladenthin urteilte im Rheinischen Merkur, dass der Roman „sechs gelungene Romane in einem“ (Ladenthin 2003) enthalte, und Volker Hage betonte im Spiegel, Kempowski habe mit Sowtschick „ein bemerkenswert kritisches Selbstporträt gezeichnet, aber zugleich – man unterschätze seinen bösen und genauen Blick nicht – eben auch die Ignoranz derer glossiert, die ihm skeptisch gegenüber stehen.“ (Hage 2004a, 190) Die Figur des Alexander Sowtschick hatte Kempowski bereits in seinem Roman Hundstage auftreten lassen und damit das schon in der Deutschen Chronik verwendete Vexierspiel aus Biographie und Fiktion bei der Darstellung der Familiengeschichte auf die Ebene eines zeitgenössischen Alter Egos ausgeweitet: „Schon jetzt ist sicher, daß man mich mit dem Herrn Sowtschick verwechseln wird. Daß wird wieder endlose Fragereien geben.“ (Kempowski 1990a, 629) Tatsächlich sind die Parallelen zwischen Walter Kempowski und Alexander Sowtschick bereits in Hundstage offenkundig: Das Anwesen von

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Sowtschick im niedersächsischen Sassenholz ist eine Kopie des Hauses Kreienhoop in Nartum, dem Wohnsitz Kempowskis – inklusive Büchergang. Vor allem aber in der Persönlichkeitsstruktur Sowtschicks ist unschwer das Alter Ego Walter Kempowskis zu erkennen, wie Burkhard Spinnen urteilt. „Alle sagten: Das ist er selbst! Warum heißt er so anders, das hat er doch sonst nicht gemacht? Viele fanden ihn nicht mehr so sympathisch; manche lobten immerhin, dass einer so viel von sich preisgebe.“ (Spinnen 2003, 10) Auch Friedmar Apel verwies in seiner Rezension auf die Analogien von Autor und Figur: „Er ähnelt allerdings auch dem selbstironischen Virtuosen des kleinkarierten Ressentiments, als der sich Walter Kempowski in dem Tagebuch ‚Alkor‘ (1989) zeigte. So überläßt der Autor seinem Alter ego nun auch den Schwanengesang des Romanciers.“ (Apel 2004, o.  S.) Der Roman Letzte Grüße potenziert das Geflecht aus Identität und Fiktion, indem er insbesondere auf reale Erlebnisse rekurriert. In den Jahren 1986 bis 1988 war Kempowski mehrfach als Gastdozent an amerikanischen Universitäten gewesen, wo er auch den Computer als adäquates Instrument für das Echolot-Projekt erkennt (vgl. Hempel 2004, 196). So ähneln sich nicht nur die Reisestationen von Kempowski und Sowtschick, sondern auch die im Roman auftretenden Figuren weisen Bezüge zu zeitgenössischen Autorinnen und Autoren auf, wie Peter Brand analysiert (vgl. Brand 2005, 249). Dass es sich jedoch um keinen Schlüsselroman handelt, wird deutlich, indem Kempowski die Selbstreferenzen auf sein eigenes Werk ausdehnt: Mit der Erwähnung des Schriftstellers Jonathan Fabrizius tritt eine Figur aus dem Roman Mark und Bein auf (vgl. Kempowski 2003, 299), die Fotographie eines Dorfschullehrers verweist auf Matthias Jänicke aus Heile Welt (vgl. Kempowski 2003, 171). Statt einen autobiographischen Schlüsselroman zu schreiben, verwendet Kempowski somit auch hier sein Collage-Prinzip: „Das, was nun folgt, ist eben keine Autobiographie, sondern Literatur in einem viel engeren Sinne: konstruiert, arrangiert, montiert, fiktionalisiert“ (Feuchert 2010, 141). Peter Brand interpretiert, dass die Selbstzitate und Referenzen primär einer Verbindung der Werke Kempowskis dienen: „Die späteren Romane und Bücher ab ungefähr 1986 sollen in einer ähnlichen Weise in einen Zusammenhang gestellt werden wie die Bücher der Deutschen Chronik“ (Brand 2005, 255). Das titelgebende Sinnbild des Abschieds durchzieht leitmotivisch den Roman, immer wieder gehen Sowtschicks Eifersüchteleien und Kränkungen über in Passagen der Melancholie und Trauer und erschaffen in Kontrast zu den satirischen und komödiantischen Elementen einen am Ende „zu Herzen gehenden Totentanz.“ (Seibt 2004, 14) Bereits bei den Reisevorbereitungen wird das Ableben Sowtschicks antizipiert, wenn ihm ein Freund empfiehlt, sich vor der Reise noch um seinen Nachlass zu kümmern: „Das Testament machen, und das hatte man ja schon immer vorgehabt, die Einladung nach Amerika war nur der letzte Anstoß.“ (Kempowski 2003, 20) Tatsächlich überlebt Alexander Sowtschick die Reise nicht, das immer wieder vor seinen Augen auftretende „gezackte Horn“ (Kempowski 2003, 253) wird zum Menetekel, an dessen Ende Sowtschicks Tod steht: „Komisch, dachte er, die Augen selbst

2.3  Weitere Romane79

sagen: Es ist genug.“ (Kempowski 2003, 429) Mit Sowtschicks Tod fällt die Epochenwende des Mauerfalls zusammen, es ist der 9. November 1989, als er in seinem New Yorker Hotelzimmer stirbt: „Sowtschick aber überlebt die alte BRD und die alte DDR nicht um einen Tag, weil er einer ist, der in ihnen und ihren Scheinwidersprüchen noch weitgehend aufgeht.“ (Spinnen 2003, 11) Bereits in Hundstage war Sowtschick mit Ende und Abschied konfrontiert gewesen. Der Refrain „Out! Out! Und vorbei!“ (Kempowski 1988a, 37) aus einer Aufzeichnung des Rock-Palastes wird zum wiederkehrenden Menetekel, das auf das unumstößliche Faktum von Sowtschicks Alter verweist und dem Schriftsteller trotz aller Anstrengungen eine zweite Jugend verwehrt. In Letzte Grüße kehrt der Refrain am Ende leicht verändert wieder, zunächst noch auf den Mauerfall verweisend, dann aber unumstößlich Sowtschicks Tod manifestierend: „Out! Out und vorbei! Out! Out und vergessen…“ (Kempowski 2003, 429).

2.3.5  Alles umsonst. Roman Carla Damiano 1 Inhaltsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 2 Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81

1 Inhaltsüberblick Alles Umsonst erschien 2006 und ist Kempowskis letzter Roman. Im Zentrum des Geschehens steht das Schicksal der Gutsfamilie von Globig vor dem Hintergrund der Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen im Kriegswinter 1945. Als Gegenentwurf zur alteingesessenen Familie von Globig, die nicht wahrhaben will, dass das idyllische Leben auf ihrem Gut Georgenhof bald zu Ende gehen wird, dient die Bevölkerung im nahen Mitkau, einer Modellsiedlung der Nationalsozialisten, die in den dreißiger Jahren entstand und von „kleine[n] Leute[n]“ (Kempowski 2006a, 25) bewohnt wird. Vorsteher der Siedlung ist der aufstiegsorientierte Drygalski, der Oberwart des Gauheimstättenwerks Mitkau. Er hat in der Weltwirtschaftskrise alles verloren und konnte mit Hilfe der Nazis, deren Ideologie er sich verschrieben hat, eine erfolgreiche zweite Karriere hinlegen. Beide Figurengruppen – Drygalski und die Bewohner Mitkaus sowie die von Globigs – gehen ihren Alltagsgeschäften nach, so, als ob der Kanonendonner der Front nicht immer näher rückte. Dabei ist die Gefahr sowohl durch die zunehmende Zahl der allgegenwärtigen Flüchtlingtrecks als auch die nahende Rote Armee geradezu greifbar. Doch Drygalski verbietet den Mitkauern, zumindest am Anfang des Romans, sich den Flüchtlingen anzuschließen. Katharina von Globig, die Frau des abwesenden Gutsherrn Eberhard von Globig, wird sowohl als „verträumte Schönheit mit blauen Augen“ (Kempow-

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2 Werk

ski 2006a, 11) als auch als „ratlos“ (Kempowski 2006a, 25) geschildert. Sie ist – wie die meisten Charaktere dieses Romans – voller Widersprüche. Einerseits zieht sie sich am liebsten in ihre Räume zurück, hört heimlich die BBC, genießt moderne Kunst und schaut ab und zu bei den Fremdarbeitern im Waldschlösschen vorbei. Die andere Seite ihres Wesens wird an zwei Geheimnissen deutlich, die ihr zum Verhängnis werden sollen. Sie hat mit dem Bürgermeister Mitkaus, Lothar Sarkander, dem Mann „mit den Schmissen auf der Wange und dem steifen Bein“ (Kempowski 2006a, 96), eine Affäre gehabt, von der nur in Andeutungen erzählt wird und aus der ihre verstorbene Tochter Effie hervorgegangen ist. Das zweite, gefährlichere Geheimnis besteht darin, dass Katharina einen Juden versteckt gehalten hat – nicht, weil sie eine besondere Sympathie für Juden empfindet, sondern weil sie dem Dorfpastor seine Bitte nicht abschlagen wollte. Eberhard von Globig ist im Roman nur indirekt anwesend, er leistet seinen Militärdienst in Italien als Sonderführer und Fachmann, der „half […], die Versorgung der deutschen Bevölkerung aufrechtzuerhalten, [und zwar durch] die Ausschöpfung des östlichen Wirtschaftsraums zugunsten des Großdeutschen Reiches.“ (Kempowski 2006a, 31) Er erfährt von seinem Kommandeur von dem versteckten Juden, stellt sich aber trotzdem vor, wie er nach dem Krieg, „wenn alles ausgestanden war […], das Gut wieder in Schuß bringen [wird] und Schwamm drüber.  – Diese Judensache? Auch darüber würde Gras wachsen.“ (Kempowski 2006a, 308  f.) Den Gutsbetrieb aufrecht hält das Tantchen, eine Verwandte, die aus Schlesien vertrieben worden ist. Sie wird als „ein ältliches Fräulein, sehnig, mit Warze am Kinn“ (Kempowski 2006a, 25) geschildert, das Hitlerporträt steht neben ihrem Schreibtisch (vgl. Kempowski 2006a, 64). Der zwölfjährige Sohn Peter bleibt die einzige positive Figur des Romans, weil er schlicht zu jung und zu naiv ist, um an den Verbrechen des ‚Dritten Reiches‘ beteiligt zu sein. Er wird beschrieben als „still wie die Mutter und ernst wie der Vater“ (Kempowski 2006a, 11), doch dass seine Haare blond sind, „machte alles wett.“ (Kempowski 2006a, 13) Voller Entdeckergeist beschäftigt sich Peter hauptsächlich mit einem Mikroskop, das ihm sein Lehrer, Studienrat Dr. Wagner, zur Verfügung gestellt hat. Er erhält als einziger die Chance, die spätere unvermeidliche Flucht zu überleben. Zum (möglichen) Retter wird ihm ein Mensch, von dem man es am wenigsten erwartet hätte: Obwohl Drygalski auch noch auf dem Flüchtlingstreck für die strenge Einhaltung der Disziplin und den Glauben an den Endsieg sorgt, tritt er schließlich selbstlos seinen Platz auf dem vermeintlich letzten Rettungsschiff an Peter ab. Ob Peter damit überleben kann oder ob er möglicherweise gerade an Bord eines solchen Schiffes umkommen wird, bleibt offen. Die Handlung des Romans wird bis zur eigenen Flucht neben der Familie von Globig vor allem von den Flüchtlingen getragen, die auf dem Georgenhof Zuflucht suchen oder dort von den Behörden einquartiert werden. Es ist nicht zuletzt dieses Gemisch aus überzeugten Nazis und Mitläufern, das den historischen Charakter des Romans unterstreicht (vgl. Taberner 2009, 207). Doch auch die Dorfbewohner spielen eine wichtige Rolle und tragen zum Zeitkolorit bei: Der Studienrat Dr. Wagner zum Beispiel schaut täglich vorbei

2.3  Weitere Romane81

und kümmert sich um die intellektuelle Weiterbildung des Sohnes Peter nicht nur, weil die Schule wegen des kalten Winters geschlossen ist, sondern auch, weil ihm die dicken Wurstbrote in der Anwesenheit der schönen Katharina besonders gut schmecken. Zu den anderen Besuchern des Gutes zählen der vermeintliche Nationalökonom Schünemann, der die von Globigs bestiehlt, wegen eines weiteren Diebstahls im Gefängnis landet und schließlich auf einem Todesmarsch mit KZ-Häftlingen und anderen Gefangenen endet. Auch Katharina wird dieses Schicksal erleiden. Eine Nazi-Geigerin dagegen sorgt für die Unterhaltung der Truppen; ein aus Düsseldorf stammender Maler reist „schon seit Monaten durch die deutsche Provinz“ und zeichnet „‚das Stehengebliebene.‘“ (Kempowski 2006a, 124) Hinzu treten u.  a. ein Baron und seine von ihm erniedrigte Ehefrau sowie ein Museumsdirektor, der inmitten des chaotischen Trecks noch versucht, wertvolles Kulturgut zu retten – „Gemälde, Urkunden, Folianten“ (Kempowski 2006a, 374) –, ehe er samt Kulturgut zu Grunde geht. Auch die Zwangsarbeiterinnen Vera und Sonja aus der Ukraine und der Pole Wladimir ziehen auf dem Flüchtlingstreck mit und finden letztendlich einen schrecklichen Tod. 2 Analyse Alles Umsonst ist der Kulminationspunkt von Kempowskis jahrzehntelanger Beschäftigung mit dem Thema Flucht und Vertreibung. Sein Interesse an diesem Thema reicht sogar in seine Haftzeit zurück, wie ein Tagebucheintrag aus dem Jahr 1980 zeigt, wo er es eines der „Jahrhundert-Ereignisse“ nennt, die er sich während seiner Haftzeit „herausgepickt“ (Kempowski 1980i, o.  S.) habe. Allerdings war nicht er es, der dafür die Anerkennung der Kritik erntete, sondern Günter Grass, der 2002 mit seiner Novelle Im Krebsgang als der deutsche Schriftsteller gewürdigt wurde, der sich endlich mit dem Tabu-Thema befasse. Kempowski fühlte sich deswegen sehr verletzt, zurückgesetzt und ausgegrenzt: „‚Ich hatte gehofft, das große Thema von Flucht und Vertreibung den Deutschen zurückgegeben zu haben. Die aber wollten es im harten O-Ton nicht annehmen. Nun aber hat es ihnen ihr Nobelpreisträger verpackt präsentiert.“ (Mangold 2002) Ähnlich erging es ihm, als vier Jahre später Alles umsonst erschien: Erneut stand Grass im Mittelpunkt der medialen Aufmerksamkeit und nicht Kempowskis Roman – dieses Mal beherrschte Grass mit seiner Enthüllung, dass er gegen Ende 1944 bis zum Kriegsende in der Waffen-SS gedient hatte, die Medien. Eine Tatsache, die dem Publikum bis dahin verschwiegen worden war. Was aber wohl ebenso zum öffentlichen Konflikt zwischen Kempowski und Grass geführt hat, war der Umstand, dass Grass in einem Spiegel-Artikel anlässlich seines 75.  Geburtstags angeblich behauptete, Kempowski gehöre zu „,den Rechten.‘“ (Sina 2012, 86) Kai Sina wiederlegt diese Behauptung und argumentiert, diese Lesart sei ein von Kempowski „kalkuliertes Missverständnis“ (Sina 2012, 86) zwischen ihm und Grass. Die Tatsache, dass Kempowski Grass’ Äußerung aus dem Kontext herausgenommen hat und als Beleidigung verstehen wollte, unterstützt Sinas

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2 Werk

These über Kempowski und sein Gesamtwerk, nämlich dass Kempowskis „zur Liturgie gehobenes Gesamtwerk“ als kunstreligiöses Sühnewerk funktioniere, „um die Schuld der Deutschen [zu] sühnen und die Risse im Gemäuer der Geschichte [zu] heilen“. (Sina 2012, 253  f.) Durch sein kalkuliertes Missverständnis erhöhe sich Kempowski selbst zum „Mönch, Märtyrer und Stellvertreter“ (Sina 2012, 254) der Deutschen. Sascha Feuchert schildert die Anfangsrezeption seitens der Rezensenten als zögerlich und skizziert das „Medienspektakel“ (Feuchert 2007, 9) um Grass, in das Kempowski miteinbezogen wurde: einerseits wegen des Zufalls, dass Kempowskis Alles umsonst zu der Zeit erschien, als Grass mit seiner SS-Vergangenheit an die Öffentlichkeit ging, und andererseits, weil Kempowski mehrfach von Journalisten nach Grass’ Situation gefragt wurde. Feuchert weist auf Kempowskis „resignativen Ton“ (Feuchert 2007, 9) Grass gegenüber und seine neuerliche Enttäuschung hin. Er zitiert Kempowski zum Titel seines Romans Alles umsonst: „‚Manchmal denke ich, daß er als Leitsatz über den Jahren meiner Arbeit steht‘“ (Feuchert 2007, 9). Die „fehlende Resonanz“ (Feuchert 2007, 10), so fasst Feuchert die Kritik zusammen, liege nicht nur an der Diskussion der Person Grass, sondern an dem Inhalt des Romans, an der Tatsache, dass Kempowski mit dem NS-Thema unzureichend oder „unspektakulär“ umgehe. So habe Wolfgang Schneider Kempowskis „‚Parlando-Ton‘“ als unzureichend kritisiert (Schneider 2006), während Ulrich Baron mit dem Ausdruck „‚Kammerspielformat‘“ (Baron 2006) die Form des Werkes bemängelt, wobei Feuchert dem ein Zitat Kempowskis entgegenhält, er wolle keine ‚„Bewältigungsliteratur‘“ (Fahlke und Treptow 2006b, 10) liefern. Feuchert lenkt daher den Fokus auf den Inhalt des Romans, auf „die Interdependenz von Schuld und Verhängnis.“ (Feuchert 2007, 10) Auch wenn es am Anfang so scheine, dass etwa die von Globigs ihr idyllisches Leben auf dem Lande noch genießen können und dass die vorbeiziehenden Flüchtlinge sie darum beneiden, gehen doch alle Figuren im Roman demselben Schicksal entgegen: „Sie tanzen auf dem Vulkan einen behäbigen Walzer des Alltags, alle haben dabei ihre je eigenen, zutiefst menschlichen Abgründe.“ (Feuchert 2007, 10) Ob Täter, Mitläufer oder vermeintliche Opfer, Kempowskis Charaktere teilen alle den schweren Schicksalsschlag, den sich die Deutschen selbst versetzt haben. Ausgenommen scheint zunächst nur, wie oben erwähnt, der junge Peter zu bleiben, und dies durch eine (möglicherweise) großherzige Geste des Antagonisten. Seit dem Erscheinen von einigen Werken Kempowskis in englischer Übersetzung genießt Kempowskis Œuvre eine breitere internationale Aufmerksamkeit und Anerkennung. Katharina Berger geht von der Voraussetzung aus, dass die deutsche Literatur seit der Wende 1989 im Allgemeinen eher Empathie mit den Beteiligten der NS-Kriegsgeneration zeigt, anstatt ein moralisierendes Urteil zu fällen, wie in der Literatur der Flakhelfer- und 68er-Generationen (vgl. Berger 2011). Sie situiert Kempowskis Alles umsonst zwischen anderen deutschen Gegenwartsautoren wie etwa Marcel Beyer, Ulla Hahn, Tanja Dückers und Thomas Medicus, deren Werke das Alltagsleben während der NS-Zeit eher einfühlend schildern. Diese Werke zeigten, so Berger:

2.3  Weitere Romane83 greater empathy with the wartime generation. Often, this means taking ‚ordinary Germans‘ as their subject and occasionally blurring the boundaries between victim and perpetrator. This shift towards a more open and inclusive, and less politicised view of the Nazi past in post-unification Germany has occurred, at least in part, as a result of the dissolution, or questioning, of the left-liberal consensus more widely, which some felt had institutionalised a form of ‚political correctness‘. (Berger 2011, 212)

Zudem würden diese neueren Werke zu epischer Form tendieren und von traditionellen, altbewährten literarischen Formen Gebrauch machen (vgl. Berger 2011, 212). Das Problem mit der Rückkehr zur traditionellen Erzählform sei, dass es die Frage aufwerfe, wie man das Leiden der Deutschen darstellen könne, ohne den Holocaust zu relativieren und/oder die Deutschen als Opfer darzustellen. Certainly the return to conventional narrative forms presents a particular dilemma, creating an inevitable tension between some of the key qualities of fiction – subjectivity, identification with individual characters, and coherent story-telling – the requirements of historical objectivity, or at least a balance. (Berger 2011, 212)

Berger meint, in Alles umsonst gelinge es Kempowski, die traditionellen Formen des Romans wieder aufzugreifen, aber mit Distanz: „This allows the text to indulge in the qualities conventionally associated with narrative fiction  – coherence and chronology  – while sustaining a framework that, on the whole, avoids an uncritical representation of German victimhood.“ (Berger 2011, 214) Berger unterstützt ihre These überzeugend durch eine genaue Untersuchung von Kempowskis stilistischen Mitteln. Stuart Taberner geht in seiner Analyse der Frage nach, ob es in der deutschen Gegenwartsliteratur überhaupt noch Grenzen gibt für die Empathie mit deutschen Opfern im Zweiten Weltkrieg (vgl. Taberner 2009). Er untersucht drei Romane, darunter Kempowskis Alles umsonst. Die Kern-Problematik des Romans sieht er darin, dass der zwölfjährige Peter als ein „‚absolute victim‘“ betrachtet werden kann. Aber anstatt einfach festzustellen – wie dies in manchen anderen literarischen Untersuchungen geschieht –, dass literarische Darstellungen, die die Deutschen als Opfer zeigen, geschichtlich verantwortungslos sind, vertritt Taberner die These, dass es sich lohne, literarische Texte der Gegenwart, die von der NS-Vergangenheit handeln, als Teil einer „refreshingly honest debate on collective memory“ (Taberner 2009, 206) zu betrachten. Er meint, ausgehend vom „universal narrative“, in dem die Menschen an die historischen Zeitumstände gebunden sind, könne man sich überlegen, inwiefern das Handeln der Figuren im jeweils historischen Kontext ‚nachvollziehbar‘ wäre und welches Vorgehen trotz der historischen Situation ethisch oder moralisch falsch bliebe. Bei Kempowskis Roman kommt Taberner zu dem Schluss, dass es keine klare Linie zu ziehen gäbe, da keine Figur eindimensional gezeichnet sei, auch Drygalski nicht; es gäbe auch „no clear victims and no clear perpetrators, only successive generations of intimately intertwined individuals who inflict suffering (or suffer themselves), depending on which group

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2 Werk

they happen to belong to at any given time.“ (Taberner 2009, 209) Ob man in diesem Roman Täter oder Opfer ist, sei nur eine Frage der Zeit. Abschließend stellt Taberner fest: „In this text, motives are complex, outcomes unpredictable, and clear-cut judgements impossible. All that literary fiction can achieve, it seems, is to tell the stories of those ordinary Germans caught up in world history with sympathy and a degree of understanding.“ (Taberner 2009, 209) Dies kann als Umschreibung der Intention von Kempowskis letztem Roman betrachtet werden, wenngleich der Titel des Romans Alles umsonst nahelegt, dass Kempowski ahnte, dass dies kaum erreichbar ist (vgl. Sina 2012, 253).

2.4  Das Echolot und andere Kollektivtexte 2.4.1  Das Echolot Eckehard Czucka 1  Literaturgeschichtliche Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . 2  Werk und Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3  Autorintentionen und Rezeptionsstrategien – Literarisches und Textwissenschaftliches . . . . . . . . . . . . 4  Schluss und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1  Literaturgeschichtliche Einordnung Den Titel Das Echolot trägt ein zehnbändiges Werk Walter Kempowskis, das in vier Teile (Kempowski 1993a; 1999d; 2002; u. 2005b) unterteilt ist und 7502 Seiten umfasst. Zu dem Echolot-Komplex sind auch eine Darstellung des 20. Juli 1944 zu rechnen (vgl. Kempowski 2004b; vgl. auch Erenz 2004), die 2004 als Zeitungsbeitrag erschien, sowie die Zusammenfassung von Tagebuchnotizen zur Entstehung des Echolots (vgl. Kempowski 2005a). Dieser Umfang sprengt alle Dimensionen literarischer Werke im 20. Jahrhundert und erinnert eher an barocke Romane wie die Römische Octavia des Anton Ulrich von Braunschweig mit rund 7000 Druckseiten (vgl. Gelzer 2004): „der roman macht ahn die ewigkeit gedencken, den er nimbt kein endt“ – das schrieb Liselotte von der Pfalz am 23. September 1706 in einem Brief an Sophie von Hannover. Vergleichbare Tendenzen zum Labyrinthischen („Der Roman ist die Epopöe eines Zeitalters, für das die extensive Totalität des Lebens nicht mehr sinnfällig gegeben ist.“) und die „Gesinnung zur Totalität“ (Lukács 1963, 47), wie Georg Lukács das Enzyklopädische als Gegenstand des Romans benannt hat, zeigen etwa die panoramatischen Gesellschafts- und Zeitromane (vgl. Wölfel 1993, Bd. 14, 304) des 19. Jahrhunderts. Dazu gehören z.  B. Honoré de Balzacs Comédie Humaine (1829–1854) in 40 Bänden oder Émile Zolas zwanzigbändiger Rougon-Macquart-Zyklus (1871–1893); der Untertitel von Zolas Zyklus Histoire naturelle et sociale d’une famille sous le

2.4  Das Echolot und andere Kollektivtexte85

Second Empire hebt die Trennung von Literatur und Wissenschaft auf, indem „die Gleichgesetzlichkeit von Geschichte, Natur- und Gesellschaftsentwicklung konstatiert“ wird (Borchmeyer 1980, 172). Im frühen 20. Jahrhundert unternahm es Marcel Proust mit seinem acht Bücher umfassenden Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (geschrieben 1908/09 bis 1922 und zwischen 1913 und 1927 erschienen; vgl. Proust 1988), dem Diskontinuum der Erinnerung in seinen Verästelungen nachzugehen. Die großen deutschen Romane des frühen 20. Jahrhunderts, wie Thomas Manns Buddenbrooks (1901), Franz Kafkas Der Prozess (1914/15, erschienen 1925), Hermann Brochs Trilogie Die Schlafwandler (1928–1932) und schließlich Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften (1930), sind – trotz ihres jeweils bemerkenswerten Umfangs – weit entfernt von der Monumentalität des Echolots. Allein Musils Werk hat, rechnet man die 11 000 Seiten Entwürfe zum Mann ohne Eigenschaften mit ein, einen ähnlichen Umfang. Unter den Zeitgenossen Kempowskis erreicht lediglich Uwe Johnson mit den Jahrestagen (1970–1983), einem Roman in vier Lieferungen, noch einen Textumfang von ca. 1700 Seiten. Doch widerspricht Kempowski einem solchen Vergleich in seinem Tagebuch am 2.  September 1993: „Frau Schönberger meint, am meisten Ähnlichkeit habe das ‚Echolot‘ noch mit Johnsons ‚Jahrestagen‘. Das kann ich nun nicht finden. Das ‚Echo‘ [sic!] sei absolut solitär“. (Kempowski 2005a, 343) Während in der Römischen Octavia rund 1800 Personen namentlich erwähnt sind, rechnet Kempowski selbst für das Echolot mit über 800 verschiedenen Autoren (vgl. Kempowski 2005a, 334). Das sind deutlich mehr als in Johnsons Jahrestagen, einem der figurenreichsten Texte der deutschen Romanliteratur des 20. Jahrhunderts, für den – in einer nach dem Vorbild Fernand Lottes’ Dictionnaire biographique des personnages fictifs de La comédie humaine (1952) verfahrenden Übersicht – 581 Personen nachgewiesen sind (vgl. Literaturlexikon online o.  J. a). Dagegen werden für Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz nur ca. 100 handelnde Figuren gezählt (vgl. Literaturlexikon online o.  J. b). Als Sammlung dokumentarischer Texte verzichtet das Echolot durchgängig auf Erzählsignale wie Erzählerfigur und episches Präteritum (vgl. Müller 2009, 170–171). Zwar sind die zitierten Texte selbst oft narrativ (Briefe etc.), das Konstrukt Echolot ist aber keine Narration, denn Kempowski „hat nicht auf die Organisation, wohl aber auf die narrative Organisation der Dokumente und Überreste in Schrift und Bild vollständig verzichtet.“ (Müller 2009, 167). Deshalb lässt sich eine Handlung nicht zusammenfassend wiedergeben, und jeder Versuch einer Inhaltsangabe müsste scheitern. Es stellen sich die Fragen, wie diese quantitative, aber auch qualitative Fülle zu bewältigen ist und wie sich eine informative Ordnung als Lese(r)orientierung entwickeln lässt. Eine erste Annäherung erfolgt über Beschreibungen der Textgestalt und der Publikationshistorie und wird durch eine Diskussion der Rezeption von 1993 bis heute ergänzt. Hieraus ergibt sich eine Orientierung über bisher vollzogene Annäherungen an das Werk. In einem nächsten Schritt werden Autorintentionen und bisher nicht angewendete Rezeptionsstrategien erörtert, die mögliche weitere Zugänge zum Echolot modellieren.

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2 Werk

2  Werk und Rezeption 2.1  Beschreibungen: Textgestalt und Publikation Unter den Titel Das Echolot stellt Walter Kempowski seine Darstellung des Zweiten Weltkriegs, die ausschnittsweise die Zeit vom 21.  Juni 1941, dem Beginn des Russland-Feldzuges, bis zum 8./9. Mai 1945, dem Ende des Kriegs durch die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht am 7./8. Mai 1945, umfasst. Doch schon die Beschreibung des Echolots als publiziertes Œuvre sieht sich vor Probleme gestellt. Der Titel des gesamten Werks ist zugleich Titel des zuerst entstandenen und veröffentlichten Teils. Diese Doppeldeutigkeit macht es notwendig, zwischen dem gesamten Werk, das hier als Echolot bezeichnet wird, und dem vierbändigen Teilwerk mit dem Rückentitel Echolot. 1. 1. 1943 […] – […] 28. 2. 1943 (im Folgenden Echolot. Januar und Februar 1943) zu unterscheiden. Der Verlag präsentiert unter der Bezeichnung „Das Echolot-Projekt“ ein zehnbändiges Werk, dessen vier Teile in chronologischer Reihenfolge vorgestellt werden: Barbarossa: erster Teil des Echolot-Projekts (vgl. Kempowski 2002); Echolot. Januar und Februar 1943: zweiter Teil des Echolot-Projekts (vgl. Kempowski 1993a); Fuga furiosa: dritter Teil des Echolot-Projekts (vgl. Kempowski 1999d); Abgesang: vierter Teil des Echolot-Projekts (vgl. Kempowski 2005b). Damit wird eine Lektüre in der chronologischen Abfolge der historischen Ereignisse nahegelegt. In einer solchen chronologischen Anordnung zeigt sich die folgende Abfolge und Verteilung der Ereignisse: Titel

Zeitraum

Ereignisse

Das Echolot Barbarossa ’41 (= B)

1941 21.6.  – 30.6.  1.7.  –  8.7.   7.12. – 31.12.

Beginn des Russlandfeldzugs Beginn des Holocaust

Das Echolot I – IV (= E)

1943 1.1. -28.2.

Stalingrad „Weiße Rose“ (Sophie und Hans Scholl)

Das Echolot Fuga furiosa I – IV (= F)

1945 12.1.- 14.2.

Beginn der russischen Offensive Flucht/Vertreibung Versenkung der ,Gustloff‘ Bombardierung Dresdens

Das Echolot Abgesang ’45 (= A)

20.4.1945 25.4.1945 30.4.1945 8./9.5.1945 Epilog

Hitlers Geburtstag Zusammentreffen der russischen und amerikanischen Truppen bei Torgau Eroberung Berlins Kriegsende

2.4  Das Echolot und andere Kollektivtexte87

Als historische Darstellung des Zweiten Weltkriegs ist das Echolot aufgrund der selektiven Schwerpunkte wenigstens unvollständig, wenn nicht sogar defizitär. In der Chronologie fehlen der Kriegsbeginn mit dem Angriff auf Polen, die beiden ersten Kriegsjahre mit dem Norwegen- und Frankreichfeldzug sowie die Luftschlacht um England. Ferner wird das Kriegsjahr 1943 vom 1. März bis 31. Dezember nicht behandelt. Das Jahr 1944 ist allein in einer Textzusammenstellung zum 20. Juli 1944 behandelt, die als Zeitungsartikel zum 60. Jahrestag des Hitler-Attentats 2004 erschien (vgl. Kempowski 2004b). Zwar gab es Überlegungen zu einem „Echo ’44“: In einer Notiz vom 9. Juli 1993 werden die Teile „I. Hamburgangriff“ und „II. Invasion und 20. Juli“ erwähnt (Kempowski 2005a, 329). Doch wurde dieser Plan verworfen. Eine Lücke klafft schließlich zwischen Februar und April 1945. Geographisch betrachtet fokussiert das Echolot die Vorgänge an der Ostfront, dagegen bleibt das Geschehen auf anderen Kriegsschauplätzen bis auf Erwähnungen ausgeblendet. Diese Engführung entspricht durchaus der Absicht, den Themenkomplexen ‚Stalingrad‘ und ‚Auschwitz‘ ein besonderes Gewicht zu geben: Wenn ich jedes Thema ausloten wollte, liefe das auf eine Nivellierung der Tiefe heraus. Wie die Rillen einer Schallplatte. Ich strebe die Horizontale an, ich möchte diese Wegstrecke vermessen: 1. Januar bis 28. Februar 1943, und sonst nichts. Die Vorstellung der Alten, dass die Erde eine Scheibe sei. (Kempowski 2005a, 267, Hervorhebung im Original)

Entgegen einer heute als üblich zu unterstellenden Lektüre in chronologischer Reihe war die erste Rezeption des Echolots naturgemäß an die Abfolge des Erscheinens gebunden: Nach dem Thema ‚Stalingrad 1943‘ in Echolot. Januar und Februar 1943 geht es 1999 um Flucht und Vertreibung Anfang 1945 in Fuga furiosa, nachdem die Rote Armee in das Reichsgebiet eingedrungen war. 2002 richtet sich in Barbarossa der Blick zurück auf den Anfang des Russlandfeldzugs 1941, und von dort spannt sich 2005 mit Abgesang der Bogen zum Kriegsende 1945. Der Blick auf das Darstellungsverfahren Kempowskis entdeckt ein Wechselspiel zwischen der Chronologie der Ereignisse und der Chronologie der Entstehung. Die vier Teile des Echolots entstehen über einen Zeitraum von zwölf Jahren; zuerst die beiden jeweils vierbändigen Abteilungen, die im Abstand von sechs Jahren erscheinen, dann einbändig Barbarossa vier Jahre später, nach weiteren drei Jahren der Schlussband Abgesang. Die Veränderungen der Konzeption sind schon an sehr äußerlichen Modifikationen zu erkennen wie dem abnehmenden Umfang, den Unterschieden der behandelten Zeiträume sowie dem Wechsel von zeitlicher Kontinuität zu Diskontinuität, die sich von Barbarossa zu Abgesang auch noch verstärkt. In der entstehungsgeschichtlichen Abfolge gewinnt die Darstellung, Auswahl und An- wie Einordnung, vor allem aber die Reihenfolge einen Primat gegenüber der Chronologie des Ereignisses ‚Zweiter Weltkrieg‘. Die Bewegung der Darstellung geht aus von dem als Wendepunkt begriffenen Stalingrad 1943, behandelt dann den Einmarsch der Roten Armee und die darauffolgende Flucht und Vertreibung

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2 Werk

1945, die räumlich als eine Gegenbewegung zu der kriegerischen Expansion nach Osten zu verstehen ist. Von hier aus, dem Anfang des Endes, richtet der Autor den Blick zurück auf den Anfang des Ganzen: den Beginn des Russlandfeldzugs, der so etwas wie das Ende des Kriegsbeginns im Osten und Westen mit den siegreichen ‚Blitzfeldzügen‘ (Polen, Frankreich, Norwegen) war. Von diesem Anfangspunkt aus springt die Darstellung auf das Kriegsende. Erst mit diesem Schluss löst der Autor seine Vorstellung ein, „Zentrum des ‚Echolot‘ muss sein das Jahr 1945, der Schlund des Trichters, auf den alles zudringt!“ (Kempowski 2005a, 129) Im Verlauf der Entstehung wechseln die behandelten Zeiträume und die Zahl der Seiten. So umfasst Echolot. Januar und Februar 59 Tage, Fuga furiosa 34 Tage, Barbarossa 18 und 25 – insgesamt 43 – Tage und Abgesang 4 Tage. In Echolot. Januar und Februar 1943 und Fuga furiosa werden tageweise zwei Monate bzw. sechs Wochen zusammenhängend behandelt. Diese Kontinuität wird aufgegeben in Barbarossa, wo zwei Perioden von 18 und 25 Tagen rekonstruiert werden. Die erste Periode von 18 Tagen ist im Inhaltsverzeichnis gegliedert von „Sonnabend, 21. Juni 1941 bis Montag, 30. Juni 1941“ und „Dienstag, 1. Juli 1941 bis Dienstag, 8. Juli 1941“, ohne dass jedoch diese Gruppierung im Text markiert ist (vgl. Kempowski 2002). Im letzten Band Abgesang schließlich reduziert sich die Diskontinuität zu einer Punktualität von vier Tagen, wobei der letzte Berichtszeitraum den 8. und 9. Mai 1945 zusammenfasst. Diese Unterschiede der Zeiträume schlagen sich jedoch nicht bruchlos in den Umfängen nieder: Barbarossa 703 Seiten; Echolot. Januar und Februar 2984 Seiten; Fuga furiosa 3365 Seiten; Abgesang 451 Seiten. Setzt man diese quantitativen Beobachtungen in Relation zueinander, ergibt sich ein erster Eindruck von einer erzählerischen Regie. Die beiden vierbändigen Teile als Zentrum des Echolots verpflichten sich auf eine strenge Kontinuität. Jedoch verwendet Echolot. Januar und Februar 1943 auf 59 Tage 2984 Seiten, so dass pro Tag durchschnittlich 50,5 Seiten zur Verfügung stehen, während für die in Fuga furiosa verhandelten 34 Tage 3365 Seiten benötigt werden, also durchschnittlich pro Tag 99 Seiten. Das ist beinahe eine Verdopplung des Umfangs der einzelnen Tageskapitel, eine Intensivierung, die geradezu sinnlich erfahrbar wird, und eine erzählerische Zeitdehnung, die das Fluchtgeschehen als thematischen Schwerpunkt bekräftigt. Mit dem die Chronologie eröffnenden, einbändigen Teil Barbarossa wird die Kontinuität des Zeitverlaufs zugunsten einer zeitlichen Diskontinuität aufgegeben. Jetzt werden zwei auseinanderliegende Zeiträume des Jahres 1942 behandelt: 18 Tage am Beginn des Russlandfeldzugs (‚Unternehmen Barbarossa‘) und der Beginn des Holocausts. Nachdem schon am 30. November 1941 mehr als 15 000 Bewohner des Rigaer Ghettos erschossen worden waren, wurden am 8. und 9. Dezember 1941  – mit dem 7.  Dezember setzt dieser Band des Echolots ein  – weitere 12 500 Menschen erschossen; am 12.  Dezember 1941 verkündete Hitler

2.4  Das Echolot und andere Kollektivtexte89

den in Berlin zusammengerufenen Reichs- und Gauleitern der NSDAP den Beschluss zur Judenvernichtung, die auf der Wannseekonferenz am 20. Januar 1942 organisatorisch vorbereitet wurde. Die Diskontinuität ist verbunden mit einer Zeitraffung, indem nur noch 16 Seiten pro Tag aufgewendet werden, so dass bei einem Gesamtumfang von 703 Seiten dieser Band etwa ein Viertel oder gar nur ein Fünftel der beiden entstehungsgeschichtlich vorausgehenden Teile Echolot. Januar und Februar 1943 und Fuga furiosa ausmacht. Im chronologisch wie entstehungsgeschichtlich letzten Band Abgesang konzentriert sich die Darstellung auf vier Zeitpunkte: drei einzelne Tage und einen Doppeltag zum Kriegsschluss, den 8./9. Mai 1945. Es sind dies ‚Schlüsseltage‘ am Ende des ‚Dritten Reichs‘ und des Krieges: Hitlers letzter Geburtstag am 20. April, das Zusammentreffen der amerikanischen und russischen Truppen an der Elbe am 25. April, der Suizid Hitlers am 30. April und schließlich das Kriegsende am 8. Mai 1945 zusammen mit dem ersten Nachkriegstag. Mit der punktuellen Konzentration auf diese vier Tage geht eine neue Intensivierung einher: Die fünf Tage (in vier Kapiteln) werden auf 451 Seiten dargestellt, so dass durchschnittlich 112 Seiten pro Tag in Anspruch genommen werden. Das bedeutet eine extreme Zeitdehnung, also eine Verlangsamung des Erzähltempos. Damit ergibt sich folgendes Bild: Von Barbarossa bis Abgesang nimmt der Umfang, der für einen einzelnen Tag zur Verfügung steht, kontinuierlich zu; den meisten Raum nehmen dabei die Tage des Jahres 1945 ein. Damit realisiert Kempowski den Vorsatz, das Jahr 1945 zum „Schlund des Trichters, auf den alles zudringt“ zu machen, auf zweifache Weise: quantitativ, da sich genau die Hälfte der Bände diesem Jahr widmen, und qualitativ, indem sich stetig die Intensität der Darstellung steigert. Auf diese Weise wird der Leser unausweichlich zu einer doppelten Dekonstruktion gezwungen: Lässt er sich auf die Chronologie und ihren Fortgang ein, so erlebt er zeitliche Kontinuität als Sonderfall – in Echolot. Januar und Februar 1943 und Fuga furiosa – und eine zunehmende Intensivierung der Darstellung bei gleichzeitigem Wechsel zwischen Dehnung und Raffung. Zugleich machen viele Details darauf aufmerksam, dass die Entstehung nicht an der Folge des Dargestellten orientiert sein kann und dass der Umgang mit dem Material auktorial wirkt, denn er zeichnet sich aus durch Unvollständigkeit, offenbare Gewichtung und Auswahl, Wechsel der Darstellungsprinzipien sowie offenkundigen Verzicht auf die Darstellung von Kausalität. 2.2 Kalendarium als Strukturelement – vertikale und horizontale Ordnungen als Klammern Das Kalendarium als Ordnungsprinzip beschreibt Kempowski nach der Fertigstellung von Echolot. Januar und Februar 1943: 12. 8. 1993 Das Horizontale: Wiederkehr eingeführter Personen Das Vertikale: die dialogische Anordnung

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Die Klammer: Hitler und Auschwitz Die Zwischentexte als überlappende, zusammenfassende oder erläuternde Geschehnisse Die beiden Illustrationsprinzipien. (Kempowski 2005a, 336)

Wenige Wochen später notiert er weiter: „Bewegung durch das Fortschreiten der Kleinbiographien (die Horizontale)“ (Kempowski 2005a, 343). Diese produktionstechnischen Überlegungen sind analytisch und interpretativ zu überprüfen (vgl. dazu Arntzen 2000). 2.2.1  Vertikale Organisation Für alle zehn Bände des Echolots ist der Kalendertag die strukturierende Einheit, wenn man so will: je ein Kapitel. Die Kapitel haben mit dem Aufbau eines Tages eine vertikale Struktur (zur horizontalen und vertikalen Ordnung vgl. Damiano 2005a), die im Grundgerüst gleich bleibt, auch wenn sich in den verschiedenen Werkphasen (von Echolot. Januar und Februar 1943 zu Fuga furiosa zu Barbarossa zu Abgesang) Details ändern. Für Echolot. Januar und Februar 1943 lässt sich folgender Aufbau eines Tageskapitels festhalten: Unter einer zwischen waagerechten Strichen eingeschlossenen Datumszeile – beginnend mit „Freitag, 1. Januar 1943“ – stehen mehrere Mottos in immer gleicher Reihenfolge. Auf die Herrnhuter Losung (vom Tage) folgt ein Zitat aus dem Tagebuch des Reinhold Georg Quaatz, der „die Zeitereignisse mit Zitaten“ (Kempowski 1993a, Bd. 4, 705) kommentiert. Die auf den Grafen Zinzendorf zurückgehende Tagesparole als Teil pietistischer Rituale der Herrnhuter Brüdergemeinde fand in der evangelischen Kirche eine weite Verbreitung seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Bismarck) und besonders im Zweiten Weltkrieg (Karl Barth) (vgl. Renkewitz 1960). Reinhold Georg Quaatz (1876–1953) war von 1920 bis 1933 Mitglied des Reichstags für die Deutschnationale Volkspartei und unterstützte Hugenbergs Annäherung an die NSDAP. 1933 wurde er wegen seiner jüdischen Mutter aller öffentlichen Ämter enthoben (vgl. Weiß 2003). Den Abschluss jedes Tageskapitels bildet zumeist eine Zeitungsschlagzeile aus dem Rostocker Anzeiger (vgl. Kempowski 2005a, 345). Der anschließende Textteil beginnt an jedem Tag mit der Notiz von Theodor Morell, dem Arzt Hitlers, über dessen Befinden und Behandlung. Das Ende bildet immer der Eintrag aus dem Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, das Danuta Czech für die Jahre 1939 bis 1945 führte (vgl. Czech 1989). Diese beiden feststehenden Textteile bilden eine Klammer, die die vielfältigen, dazwischen gestellten Zeugnisse zusammenhält: Wichtig für die Gliederung der Materialmenge ist überdies, dass die jeweils zu einem Tag zusammengestellten Zitate in einer gewissen Ordnung, in einer Art halbstarrer Anordnung hintereinandergesetzt sind […], woraus sich auch für den Lesevorgang eine Rhythmisierung, eine Mischung aus der Ahnung von Erwartbarem und dann wieder Unvermutetem ergibt. (Drews 1994, 228–229).

2.4  Das Echolot und andere Kollektivtexte91

In Fuga furiosa wird das Datum in der Kopfzeile eingerahmt links durch die Angaben der verflossenen Tage seit Beginn des Krieges und rechts mit der Zahl der Tage bis zum Kriegsende. Diese Angaben fehlen noch in Echolot. Januar und Februar 1943, werden aber in Barbarossa und Abgesang beibehalten. Die editorische Notiz in Fuga furiosa (Kempowski 1999d, Bd. 4, 837), Barbarossa (Kempowski 2002, 705) und Abgesang (Kempowski 2005b, 455) dazu lautet: „In der Datumszeile zum Beginn der einzelnen Tage ist links nach dem < die Zahl der Tage angegeben, die seit dem Kriegsbeginn vergangen sind, rechts von dem Zeichen > die Zahl der Tage, die bis zum Kriegsende verbleiben.“ Manchmal ist ein weiterer kurzer Eintrag vorangestellt. Das Ende bilden oftmals Such-, Vermissten- oder Todesanzeigen aus einer deutschen, englischen (London Times) oder amerikanischen (New York Times) Zeitung. Auch die strenge Tageseinteilung wird dadurch aufgehoben, dass der 13. und 14. Februar 1945 (vgl. Kempowski 1999d, Bd. 4, 667) in einem Kapitel behandelt werden. Der finstere Höhepunkt und das monumentale Schlusskapitel der Fuga furiosa ist die 120 Seiten umfassende minutiöse Darstellung der verheerenden Luftangriffe auf das mit Flüchtlingen überfüllte Dresden am 13. und 14. Februar 1945. Das furiose Arrangement dieser zwei Tage, die Kempowski abweichend vom übrigen Echolot zu einem einzigen untrennbaren Abschnitt zusammengefasst hat, nimmt schon heute eine Sonderstellung in der Literaturgeschichte ein. Die beispiellose Vielfalt der Notizen und Perspektiven umfasst die Menschen in den Bombenkellern ebenso wie die deutschen Nachtjagdpiloten oder die Bombenschützen in den Maschinen der Royal Air Force, die in mehreren Angriffswellen jener Aufgabe nachkommen, die der Einsatzbefehl auch darin sieht, ‚den Russen, wenn sie einmarschieren, zu zeigen, was das Bomberkommando tun kann‘ (Hage 2005a, 74–75).

Das Ende von Fuga furiosa bildet der Text der Beschlüsse von Jalta. Barbarossa führt erstmals eine formale Gliederung der Tageskapitel ein, die auch in Abgesang beibehalten wird: Ein Asterisk (*) markiert Themen und Perspektivwechsel innerhalb der Tageskapitel. Die Herrnhuter Losungen werden als Motto vorangestellt. Es folgt ein variabler Einstieg, während zugleich der Abschluss der Tageskapitel formalisiert ist, indem – bis auf wenige Ausnahmen – Notizen zur Judenverfolgung am Ende stehen: der Eintrag vom Tage aus Czechs Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager AuschwitzBirkenau, dem eine Notiz aus dem Tagebuch des Adam Czerniaków folgt, der seit 1939 Vorsitzender des Warschauer Judenrats gewesen war und aus dem Ghetto berichtete (vgl. Czerniaków 1986). Diese Akzentuierung kommentiert Kempowski so: „29. 9. 1989 Die KZ-Sachen an den Schluß jeden Tages stellen. Das hatte ich schon vorgehabt, es war mir entfallen.“ (Kempowski 2005a, 145) Die Schlussklammer wird gebildet von Texten deutscher Schlager der Nazi-Zeit (vgl. die wohl auch am Echolot orientierte Filmdokumentation Axer und Benze 2003); aus diesem Fundus stammt auch das Motto für den Epilog März 1943 (vgl. Kempowski 1993a, Bd. 4, 667). Als Motto in Abgesang treten die Herrnhuter Losungen und ein tagesaktuelles Zitat der Daily German Lesson aus der amerikanischen Truppenzeitung

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Stars and Stripes an den Anfang. Am Ende von jedem dieser vier Tage stehen Frühlingsgedichte von Hölderlin, ausgewählt aus den Scardanelli-Gedichten. 2.2.2  Texte in der Klammer Eine Notwendigkeit für diese rigide Rahmung der Tageskapitel ergibt sich aus der offensichtlichen Diffusität des versammelten Materials, das prima vista keine Textsorte auszuschließen scheint und sich so gewohnten Rezeptionsmustern verweigert. Auf der Basis von Echolot. Januar und Februar 1943 lässt sich der Textfundus so beschreiben: Die Textauswahl bezieht so gut wie alles Erreichbare ein: Offizielle Verlautbarungen der NS-Führung, deren informelle Texte, Briefe und Tagebucheintragungen der ‚Volksgenossen‘, formelle und private Äußerungen von Repräsentanten des geistigen Lebens, regimekritischen und regimetreuen gleichermaßen, dokumentarische Gebrauchstextsorten wie Theaterzettel und Programmankündigungen, schließlich, als Folie, vergleichbare Äußerungen aus dem Ausland, auch hier wieder von (wenigen) Anhängern des deutschen Regimes und Angehörigen der wirklich freien Welt. (Eroms 1996, 96–97, vgl. auch Raddatz 1993 u. Drews 1994)

Ein wenig detaillierter, aber immer noch impressionistisch ist zu sagen: Es handelt sich um Texte wie Führerbefehle, Verhaftungs- und Abschiebeverfügungen des Reichssicherheitshauptamts, Adjutanten-Protokolle, Tagebucheintragungen von Rommel in Afrika, Funksprüche aus Stalingrad, Feldpostbriefe, Goebbels’ Rede im Sportpalast, Briefe und Aufzeichnungen der Geschwister Scholl in München, Tagebuchsequenzen von Goebbels, Bertolt Brecht, Ernst Jünger, Thomas Mann oder Victor Klemperer u.  a., Notate von Max Beckmann, Klaus Mann, Ernst Jünger, Günther Weisenborn in der Todeszelle oder Sven Hedin u.  v.  a.  m. Darüber und über die Funktion der (insgesamt 14) Valéry-Zitate schreibt Moritz Baßler (vgl. Baßler 2010). Aber auch Veranstaltungskalender aus den Münchner Neuesten Nachrichten, der Berliner Morgenpost und der Frankfurter Zeitung, ein Reichsbahnfahrplan, ein Umlaufplan für Züge zum Transport in die Konzentrationslager, Klassenbucheintragungen, Geburtsregister von Krankenhäusern und Begräbnislisten jüdischer Friedhöfe finden sich. Kempowski begründet die Aufnahme solcher diskontinuierlichen Alltagstexte: „Ich möchte diese Angaben als Zwischentext dem ‚Echo‘ beifügen, weil man sich vielleicht falsche Vorstellungen macht von dem damals noch tadellos funktionierenden Verkehr – Schlafwagen, Speisewagen u.s.w.“ (Kempowski 2005a, 276; vgl. auch 345). Dagegen äußert Fritz J. Raddatz Unverständnis: „Auch ein elf Seiten langer Auszug aus dem Kursbuch der Deutschen Reichsbahn hat wohl mehr mit Walter Kempowskis spinösem Sammeltick zu tun als mit Geschichte“ (Raddatz 1993: 77). Texte aus dem Englischen, Italienischen und Russischen werden in Übersetzungen präsentiert. Zu Beginn der Arbeit an Echolot. Januar und Februar 1943 war allerdings noch geplant, „[f]remdsprachige Texte, englische und französische mindestens, […] fremdsprachig“ (Kempowski 2005a, 136) zu lassen.

2.4  Das Echolot und andere Kollektivtexte93

In der Analyse eines Tages haben Christoph Nickenig für den 17. Januar 1943 und Helmut Arntzen für den 31. Januar 1943, den Tag der Kapitulation der 6. Armee, Strukturen und Intentionen der Textkompilationen aufgezeigt (vgl. Nickenig 1996,199–202; sowie Arntzen 2000, 97–106; vgl. auch Müller 2009,171). Während Nickenig eher auf Widersprüchliches verweist, das Kontrastierung als kompositorisches Verfahren belegt, hebt Arntzen auf Tatsachenrede als defizitäres Sprechen ab. Nickenig verweist auf die Briefe der Uta Kreuder an ihre Mutter, in denen sie über Gewichtsprobleme schreibt, denen ein Brief des KZ-Häftlings Haulot folgt, der die Erfahrung des Hungers thematisiert (vgl. Kempowski 1993a, Bd. 2, 93). Nickenig und Arntzen machen auch auf Kreuders Bericht vom Umgang mit Todesnachrichten von der Front aufmerksam (vgl. Nickenig 1996, 202; sowie Arntzen 2000, 96). Sabine Kyora gewinnt vergleichbare Einsichten in dieses Kontrastverfahren als Gegenüberstellung von Tätern und Opfern an den Figuren Tilgner und Teich (vgl. Kyora 2005, 158–160; sowie Nickenig 1996, 196). 2.2.3  Horizontale Verweise Die horizontale Gliederung ist durch die strikte kalendarische Anordnung und Abfolge vorgegeben. Die Chronologie ist – wie oben beschrieben – brüchig und lückenhaft; zweimal werden zwei Tage in einem Kapitel behandelt: der 13./14. Februar 1945 (Luftangriff auf Dresden) und der 8./9. Mai 1945 (Kapitulation/Kriegsende). In Fuga furiosa, Abgesang und Barbarossa wird eine Zeitleiste in der Datumszeile benutzt, die die Tage des Krieges von seinem Beginn bis zu seinem Ende zählen. Durch das Echolot lassen sich Bezüge herstellen, wenn man auf das Auftauchen gleicher Autoren schaut, deren Beiträge durch das Register zu finden sind. Arntzen hat am Beispiel der Briefe von Hans Lilje, die er in seiner Zeit als Generalsekretär des Lutherischen Weltkonvents schrieb, sowie von Ute Kreuder, damals Studentin in Erlangen, den Erkenntnisgewinn einer solchen Lektüre paradigmatisch gezeigt, in dem er auf das Redensartlich-Phrasenhafte verweist, das beiden Briefschreibern eigen ist (vgl. Arntzen 2000, 93–95). Nachdrücklich wird auf zu entdeckende Kontraste hingewiesen. In der Zusammenstellung der Zitate von Teich, Graf, Scholl, Hartnagel und Mannheimer liest Kyora die Geschichte einer Generation, die zwischen 1918 und 1923 geboren wurde, erkennt aber auch einzelnen Textteilen eigene Qualitäten zu, etwa als Anekdote wie dem Eintrag Maltzans (vgl. Kyora 2005, 167; sowie Kempowski 1993a, Bd. 1, 27  f. u. 169). Das wesentliche Rezeptionsmuster, das all den bisher mitgeteilten Beobachtungen zugrunde liegt, nennt Nickenig mit entwaffnender Offenheit: „Die zitierten Äußerungen sind wahllos aus dem Textkorpus herausgegriffen“ (Nickenig 1996, 193). Dabei ist von einem absichtsvoll ausgelegten Verweisungssystem auszugehen, das – so die Intention des Arrangeurs – bei der Lektüre entdeckt werden soll. Abwechselnd spricht Kempowski von „Teppich“ und „Zopf“:

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Zwischen ‚Echo ’43‘ und ‚Echo ’45‘ ausgespannt wie eine Lianenbrücke, dünn und schwankend, die zusammengeflochtenen Lebenslinien von sieben Menschen, ‚Zopf‘ genannt, von Menschen, die aus dem E 43 kommen und im E 45 aufgehen oder verschwinden, deren Spur sich verliert. Und in diesem Zopf aus vielen Strängen wie die Noppen eines Schafwollteppichs einzelne Verdickungen, die großen drei Themen: Hamburg 1943, Invasion 1944 und der 20. Juli; darüber hin, gleichmütig die sieben ‚Flechten‘ des Zopfes. (Kempowski 2005a, 341)

Drei dieser Personen lassen sich mit Hilfe der Register identifizieren: Bonhoeffer (hingerichtet am 9. April 1945), Moehring (gefallen am 17. März 1945) und Schmiedeknecht (Anfang April 1945 erschossen). Hier sind noch Entdeckungen zu erwarten. 2.3 Rezeption Der bis heute bestimmende Eindruck von Echolot als Ganzem wie von seinen Teilen orientiert sich an der Aufnahme, die der erste Band Echolot. Januar und Februar 1943 bei seinem Erscheinen 1993 fand. (Inzwischen sind folgende Bibliographien zu Kempowskis Werk im Internet erreichbar: Kempowski-Gesellschaft o.  J.; sowie Kempowski-Stiftung o.  J.; vgl. auch Dierks 2001. Für alle Bibliographien gilt, dass sie weder vollständig noch aktuell sind. Eine knappe, nicht-detaillierte Übersicht über die Bestände im Archiv der Akademie der Künste Berlin findet sich in Archiv der Akademie der Künste o.  J.) Eine erste Welle der Rezeption fand in Rezensionen statt. Die Frage, ob Echolot. Januar und Februar 1943 Literatur sei, hatte sich eigentlich schon Ende 1992 geklärt, als Volker Hage noch vor Erscheinen des Bandes, gleichsam in einer Art preview-Rezension, befand: Vielleicht wird sich ‚Echolot‘ als eines der letzten großen literarischen Wagnisse dieses Jahrhunderts erweisen: eine kollektive Alltagschronik und -collage, gegen die sich einst die Folianten eines Arno Schmidt wie Broschüren ausnehmen könnten. Menschliche Komödie im O-Ton. (Hage 1992, 156)

Nach dem Erscheinen von Echolot. Januar und Februar 1943 besprach Frank Schirrmacher in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 13.  November 1993 das Buch euphorisch zustimmend (vgl. Schirrmacher 1993); weitere Rezensionen erschienen in allen großen deutschen Zeitungen (vgl. etwa Kinzer 1994; Raddatz 1993; eine umfangreiche Dokumentation der Rezensionen in Zeitungen bis 2008 findet sich bei Dierks 2001). Sehr schnell begann auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Echolot. Schon 1994 wird Echolot. Januar und Februar 1943 zum Gegenstand in drei Aufsätzen: Jörg Drews (1994) gibt einen durch Details ergänzten Überblick zur Konzeption und verweist auf Walter Benjamins Passagen-Werk sowie Peter Weiss’ Ästhetik des Widerstands als denkbare Referenzobjekte. Im selben Jahr erschien der Aufsatz von Stefanie Carp (1994), die Alexander Kluges Schlachtbeschreibungen mit Echolot. Januar und Februar 1943 vergleicht (vgl. auch Carp 1995; sowie Nickenig 1996). Kempowski schätzte

2.4  Das Echolot und andere Kollektivtexte95

Kluge, den er einmal in seinem Tagebuch erwähnt: „Der Vergleich mit Kluge trifft zu und gefällt mir“ (Kempowski 2005a, 159–160). In der wissenschaftlichen Analyse wird jedoch Differentes akzentuiert. Gemessen an den Darstellungen von Stalingrad bei Theodor Plivier und Kluge, die als „historisch“ und „ideologieanalytisch“ (Carp 1994, 61) eingeschätzt werden, erscheine die Sammlung Kempowskis als „banal“ und „langweilig“, als eine „Collage“, die „der Harmlosigkeit anheim gegeben“ sei. (Carp 1994, 61) Carp vermisst eine „literarische und kritische Strategie“, die es erlaube, „das Authentische zu kondensieren“ und „Beliebigkeit“ zu vermeiden. Die konstatierte „Harmlosigkeit“ wird als „literarisch und ideologisch beabsichtigt“ (Carp 1994, 63) verstanden. Noch schärfer urteilt Frauke Meyer-Gosau, die es „zynisch“ findet, dass „[a]us Kempowskis Kriegswelt […] sich das Entsetzen […] endgültig entfernt“ (Meyer-Gosau 1994, 101) habe. Angesichts des 1995 schon sichtbaren Erfolgs von Echolot. Januar und Februar 1943 verweist Christian Meier auf früher erschienene Sammlungen von Soldatenbriefen wie von Hans Walter Bähr (1952) oder von Reinhold Sterz und Ortwin Buchbender (1982), denen er größere Spannung und „etwas Vermächtnishaftes“ (Meier 1995, 1130) zubilligt. Dagegen erscheine Echolot. Januar und Februar 1943 „eher frustrierend“, so dass „man […] es nur in kleinen Portionen zu sich nehmen“ (Meier 1995, 1131) könne. Zwar räumt er ein, dass „Mikrohistorie“ als Verfahren der Geschichtsschreibung anerkannt sei, verweist aber darauf, dass das, was „im Geheimen“ (Meier 1995, 1131) geschehen sei, eben auch und vor allem Auschwitz, dabei nicht angemessen berücksichtigt werden könne. Den Erfolg von Echolot. Januar und Februar 1943 führt Meier auf die Ausblendung des ‚Zivilisationsbruchs‘ durch Auschwitz zurück, die es ermögliche, „dass die Quantität des Nichtverständlichen zur Qualität des Nicht-Verstehens umzuschlagen“ (Meier 1995, 1132) drohe (vgl. auch die Überlegungen in Kempowski 2005a, 333). Die auf Dan Diner (Diner 1988) rückführbare Kategorie ‚Zivilisationsbruch‘ setzt Klaus Köhler (Köhler 2009) in seiner Kritik am Echolot unter Verweis auf Auschwitz als unhintergehbare Kategorie, die rigorose moralische Verurteilungen erlaubt. Passagen aus der Figurenrede, die bei Kempowski zumeist aus zitierten Floskeln, Redewendungen und Klischees besteht, werden einer als ‚tatsächlich‘ verstandenen Realität gegenübergestellt. Die Differenz zwischen dem Sprechen ihrer Figuren und der ‚Realität‘ wird Kempowski (und anderen Autoren) als Apologie des beschriebenen Grauens vorgehalten. Besonders irritierend an Köhlers Untersuchung ist, dass NS-Termini (wie ‚Volksgemeinschaft‘) ohne distanzierende Auszeichnung verwendet werden. 1996 unternimmt Hans-Werner Eroms eine Textuntersuchung, die sich freistellt von der Erörterung der historischen Ereignisse und Echolot. Januar und Februar 1943 als Korpus für eine Untersuchung zum „Zeitstil der vierziger Jahre“ benutzt (vgl. Eroms 1996, 96–97). Neben Distanzierung und Kritik benennt er Merkmale von „Verdrängung des schuldhaften Aspekts in der sprachlichen Auseinandersetzung mit den Zeitereignissen“, die „aber […] wiederum ein die Zeugnisse insgesamt kennzeichnendes Faktum“ (Eroms 1996, 107) seien.

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Nickenig untersucht in seiner Dissertation das Bild des Zweiten Weltkriegs im Roman (vgl. Nickenig 1996, 199–202). Den Schwerpunkt setzt die Arbeit auf die Darstellung von Stalingrad bei Plivier, Kluge und Kempowski als die „Geschichte eines Traumas“ (Nickenig 1996, 101). Nach gründlichen Analysen der Kompositionsprinzipien von Echolot. Januar und Februar 1943, der Herausstellung der „Kontrast-Mittel“ (Nickenig 1996, 191) und „[s]trukturelle[r] Konstanten“ (Nickenig 1996, 202) akzentuiert die Arbeit erzähltheoretische Unterschiede zwischen Tagebuch und Autobiographie. Nickenig kritisiert nachdrücklich, dass Kempowski die Quellen nach Kriterien geordnet habe, die nicht offengelegt seien, so dass das Ergebnis „beliebig und redundant“ werde und der „Erkenntniswer[t] seiner Fundstücke“ (Nickenig 1996, 211) beeinträchtigt sei. In einem Exkurs zur Oral History, der von den Interviews ausgeht, die Studs Terkel (1989) mit 49 amerikanischen Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs geführt hat, konfrontiert er Kempowskis Verfahren mit Darstellungen, in denen seiner Ansicht nach eine Unterscheidung von erlebendem und erzählendem Subjekt möglich sei. In einem Aufsatz, der Schlinks Vorleser, Meyers Flughunde und Echolot. Januar und Februar 1943 in eine Reihe stellt, entwickelt Wolfgang Struck an ausgewählten Zitaten und Zitatkomplexen „Textarchitekturen“ (Struck 2005; vgl. auch Struck 1998). Im Widerspruch zu Carp hebt er als Leistung von Echolot. Januar und Februar 1943 hervor, dass es kenntlich machen könne, wie „Harmlosigkeit in Grauen“ (Struck 1998, 134) umschlage und „Privatheit nur schwer noch als Flucht in die Harmlosigkeit durchgehen“ (Struck 1998, 135) könne, so dass die Durchlässigkeit einer solchen postulierten Grenzziehung deutlich werde. Arntzen schließt 2000 in seiner Untersuchung Echolot. Januar und Februar 1943 an die Romane der Deutschen Chronik an, weil er in dem EcholotProjekt die Fortsetzung von Kempowskis ‚Romanen aus Redensarten‘ erkennt. In dieser Perspektive erscheint Echolot. Januar und Februar 1943 als „Sprachmaterial-Sammlung“ zu „Stalingrad“, an der die Tatsachenrede als „eine manipulierbare, instrumentelle Sprache“ (Arntzen 2000, 91–92) in beredte Sprachlosigkeit umschlage. Harro Müller vergleicht 2009 Echolot. Januar und Februar 1943 mit Pliviers und Kluges Stalingrad-Romanen in der Perspektive des Historischen Romans, den er von Mann und Musil her bestimmt. Echolot. Januar und Februar 1943 realisiere „den radikalen Traum Walter Benjamins von einer nicht-narrativen Geschichte ohne metageschichtliche Einschübe“ (Müller 2009, 173). Der zweite Teil des Echolots, Fuga furiosa, wurde bei seinem Erscheinen 1999 zuerst von Raddatz rezensiert, dessen Urteil „überladen“ lautet. Eine weitere, knappe Besprechung von Claus Philipp akzentuiert den Umfang als Lesebehinderung, ordnet Fuga furiosa in Werkzusammenhänge (von Deutsche Chronik bis Ortslinien) ein und liefert in einem anhängenden Interview mit Kempowski Einsichten in die Intention und den Entstehungsprozess (vgl. Philipp 1999). Eine referierend-informative Übersicht liefert Marcel Spivak in französischer Sprache (vgl. Spivak 2001).

2.4  Das Echolot und andere Kollektivtexte97

Beachtung fand Kempowskis Band Der rote Hahn (vgl. Kempowski 2001a), in dem die Bombardierung Dresdens 1945, die den Schlusspunkt von Fuga furiosa (mit dem Doppeltag 13./14. Februar) bildet, in einem weitergefassten Zusammenhang dargestellt wird (vgl. auch frühe Hinweise auf die Bedeutung dieses Themas bei Philipp 1999). Marcel Atze (2002) arbeitet vor allem thematische Verknüpfungen heraus, verweist auf Nossacks Der Untergang und widerspricht mit Hinweis auf die Zahl der von Kempowski beigebrachten Dokumentationen der von W. G. Sebald in Luftkrieg und Literatur (1997) geäußerten These von einem „zeitgenössische[n] Überlieferungsdefizit“. Volker Hage verortet in einem Spiegel-Artikel (Hage 2003b, 54–59) und einem Tagungsbeitrag (Hage 2005a) Kempowskis Beiträge zum Thema Luftkrieg. Für Barbarossa erschienen 2002 zehn Rezensionen in deutschen und schweizerischen Zeitungen (vgl. Drews 2002; Ebel 2002a; Ebel 2002b; Fries 2002; Mosebach 2002; Oberembt 2002; Reinhardt 2002; Rühle 2002; Warner 2002; Weidermann 2002), die im Wesentlichen thematische Aspekte hervorhoben. 2005 sind für Abgesang 32 Besprechungen in Zeitungen zu verzeichnen (vgl. Baron 2005a; Eger 2005; Fries 2005; Hintermeier 2005; Kastberger 2005; Lüdke 2005; Mayer 2005; Müller 2005; Philipp 2005; Radisch 2005; Seibt 2005; Scheller 2005; Stumm 2005; Werner 2005; Worthmann 2005) sowie ein Radiobeitrag (vgl. Köhler 2005) und eine Internetpublikation (vgl. Hillmann 2005). Viele dieser Beiträge rezensieren zugleich Kempowskis parallel erschienenes Culpa. Notizen zum Echolot. Auch die neun Zeitungsrezensionen, die bei Gelegenheit der Vollendung des Echolots das Projekt als Ganzes in den Blick nehmen (vgl. Blom 2005; Hage 2005b; Klein 2005; Medicus 2005; Papst 2005; Reemtsma 2005; Rudolph 2005; Schneider 2005), beziehen sich zu einem großen Teil auf Culpa. Nur wenige wissenschaftliche Beiträge aus dem Jahr 2005 beschäftigen sich mit Abgesang. Christoph Cornelißen versucht, aus der Perspektive des in Abgesang dargestellten Endes – der Ereignisse wie der Darstellung – das Echolot in eine Relation zur Historiographie zu setzen (vgl. Cornelißen 2005). Wolfgang Emmerich vergleicht Schiffsuntergänge 1945 bei Uwe Johnson, Walter Kempowski, Günter Grass, Tanja Dückers und Stefan Chwin und fokussiert damit einen Aspekt des Kriegsendes 1945 (vgl. Emmerich 2005; genannt seien noch Calzoni 2008; Franzen 2005; Reinhardt 2005; u. Zimmermann-Thiel 1994). Das Echolot als Gesamtprojekt wird nur in wenigen Arbeiten behandelt. 2005 nimmt Ulrich Baron den Abschluss des Echolots zum Anlass, die Diskussion über den Textstatus aufzugreifen und dem Echolot literarische Qualität abzusprechen. Er klassifiziert es als „Dokumentation“, als „ein Monument der Mikro-Historiografie“(Baron 2005b, 26), indem er die Autorschaft Kempowskis mit einem Diktum des Tadellöser & Wolff-Regisseurs Fechner filmtechnisch charakterisiert: „Man sieht mich nicht, man hört mich nicht, ich bin der Schnitt“ (Baron 2005b, 26; vgl. auch Raddatz 1993). Dem Verfahren der Montage (1983 notierte Kempowski: „Was unter Collage zu verstehen. Montage die Tätigkeit, Collage das Ergebnis“ [Kempowski 2005a, 59]) als Sichtbarmachung von Evidenzen widmet sich grundlegend die Dissertation von

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Carla Damiano, in der sie sorgfältig den Elementen und Verfahren des Collagierens am Beispiel Echolot. Januar und Februar 1943 nachgeht (vgl. Damiano 2005a). 2010 wurden von Eckehard Czucka in einem Aufsatz die Dekonstruktionen als Momente postmodernen Erzählens erörtert (vgl. Czucka 2010). Bei Carp, Meyer-Gosau und Meier findet sich sehr früh ein Argumentationsmuster, das in der Rezeption Kempowskis eine wesentliche Rolle spielt: Man weiß offenbar schon im Vorhinein, was der Krieg war und wie es war, und vor allem ist festgelegt, was auf welche Weise dazu zu sagen ist. Kriegsgeschichtliche Untersuchungen, wie beispielsweise Hannes Heers Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941–1944 von 1995, in dessen Umkreis etwa der Aufsatz Carps gehört, verstehen durchaus das Echolot als Gegenprojekt, von dem es sich abzugrenzen gilt. Ähnliches gilt für sozialgeschichtliche Ansätze einer Literaturgeschichte als Tatsachengeschichte, die „die soziale und kulturelle Dimension des Krieges“ (Schröder 1992, 1) nicht berücksichtigt findet und in narrativen Interviews versuchen, „den zweiten Weltkrieg aus dem Blickwinkel derer zu betrachten, die am direktesten und massenhaftesten von ihm betroffen waren: aus der Sicht des ‚einfachen‘ Soldaten“ (Schröder 1992, 2). Wie die „Erinnerungsliteratur zum Dritten Reich“ (Seiler 1994, 203, 204, 209, 216) zu sein hat, legt Seiler sehr genau fest, und auch, dass Dichtung Verdichtung ist, wenn er über Echolot schreibt: Zwar zeigt diese Zusammenstellung von Selbstzeugnissen aus dem Kriegswinter 1943 durchaus eine gewisse Gestaltung, doch das Ergebnis mit seinen 3000 Seiten noch der Literatur zuzurechnen, gar eine der bedeutendsten Literaturleistungen unseres Jahrhunderts darin zu sehen [gemeint ist Schirrmacher 1993, Anm. des Verfassers], ist abwegig. Die Leistung von Literatur war es einmal und wird es auch bleiben, uns die Welt exemplarisch zu zeigen, ‚Dichtung‘ auch im Sinne von ‚Verdichtung‘ zu sein, und das ist bei solchen Umfängen einfach nicht mehr gegeben. Wenn Kempowski inzwischen ein weiteres solches Werk zum Kriegsende 1945 angekündigt hat und Spötter bereits witzeln, danach müsse es unbedingt eine vierzigbändige Sammlung von Stasi-Akten sein [gemeint ist Willms 1993, Anm. des Verfassers], so sieht man auch, worauf diese Mammutproduktion hinausläuft. Letztlich handelt es sich dabei um eine Erscheinung der Überflußgesellschaft. Unter der Voraussetzung eines Überflußes an Zeit und Geld (350 Mark!) wird dem Leser hier ein Überfluß an Material dargeboten, und wenn es mit seiner Zeit dann doch vielleicht nicht so weit her ist, macht das auch nichts. Man müsse gar nicht alles lesen, haben selbst die Bewunderer der Echolot-Sammlung eingeräumt, ohne indessen zu bemerken, wie total sie deren Werkcharakter damit infrage stellt [sic!]. (Seiler 1994, 206–207).

3 Autorintentionen und Rezeptionsstrategien – Literarisches und Textwissenschaftliches Kempowski verrät die Literatur an das Authentische. Das Problem ist, dass der halberfrorene Soldat vor Stalingrad wahrscheinlich viel schlechter schreibt als jemand, der nicht dabei war. (Dieckmann 2009, 135)

2.4  Das Echolot und andere Kollektivtexte99

Die Rezeptions- und Forschungsgeschichte hat sich weitgehend um inhaltliche und thematische Bezüge bemüht. Dabei konzentrierte sich der Blick vornehmlich auf den jeweils gerade erschienenen Teil, während der Zusammenhang Echolot eher nicht in die Betrachtung einbezogen wurde und wird. Angesichts der Fülle möglicher Beziehungen sind es nur wenige Verknüpfungen, die die Aufmerksamkeit auf sich zogen. Weder wird die bisherige Rezeption der von Kempowski intendierten Komposition (Stichwörter: Bildprinzip, dialogische Anordnung, Funktion der Fotos und Bilder, Rhythmisierung, Sprechspur, Transposition, Zopf, Zeitsprung, Zwischentexte) gerecht, noch werden Zusammenhänge diskutiert, die sich erst einer aufmerksamen, intensiv-kursorischen Lektüre erschließen. Ob solche Beziehungsgeflechte überhaupt an der Druckfassung zu entdecken sind oder sich vollständig nicht doch nur in einer digitalen Fassung erschließen lassen, bleibt zu überlegen. 3.1 Archiv und Edition – Dekonstruktionen „Statt eines Vorworts“ (Kempowski 1993a, Bd. 1, 7) – so die Überschrift – spricht Kempowski von einer Erfahrung, die strenggenommen zu seiner Biographie gehört und außerhalb des behandelten Zeitraums 1941 bis 1945 angesiedelt ist: An einem Winterabend des Jahres 1950 wurde ich in Bautzen über den Gefängnishof geführt, und da hörte ich ein eigenartiges Summen. Der Polizist sagte: ‚Das sind Ihre Kameraden in den Zellen, die erzählen sich was.‘ Ich begriff in diesem Augenblick, dass aus dem Gefängnis nun schon seit Jahren ein babylonischer Chorus ausgesendet wurde, ohne dass ihn jemand wahrgenommen oder gar entschlüsselt hätte, und es wurde mir bewußt, dass ich der einzige Zuhörer war: ein kleiner Häftling und zwar für knappe zwei Minuten. (Kempowski 1993a, Bd. 1, 7)

Diesen Eindruck verknüpft er mit einem weiteren Erlebnis: Jahre später, als ich in Göttingen studierte, sah ich einen Haufen Fotos und Briefe auf der Straße liegen, die Menschen traten darauf: es war die letzte Hinterlassenschaft eines gefallenen Soldaten, Fotos aus Rußland und Briefe an seine Braut. Das gab mir einen Stich, und ich sammelte die Sachen ein. (Kempowski 1993a, Bd. 1, 7)

Auch wenn Kempowski es an dieser Stelle nicht explizit sagt, entsteht erst aus der Verknüpfung dieser beiden Anstöße das Projekt des Echolots. Der eine Impuls liegt in der Wahrnehmung dessen, was hier der ‚babylonische Chorus‘ aus dem Gefängnis genannt wird. Der andere ist die Erkenntnis, dass Schriftstücke und Fotos die Materialisierung eines sinnlich anderen, aber durchaus vergleichbaren ‚eigenartigen Summens‘ sind, das er akustisch zuvor in Bautzen wahrgenommen hatte. Der Transfer, den er in Göttingen leistet, liegt darin, dass das, was er 1950 in Bautzen in einem ersten Schritt ‚begriff‘ und was ihm in einem zweiten dann ‚bewusst‘ wurde, sich in eine Aktion umsetzt: ‚Ich sammelte die Sachen ein‘. So stellt sich für Kempowski in der Retrospektive der Anstoß für das dar, was er später in dem Archiv realisierte. Konkret bedeu-

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tete dies die Beschaffung und Archivierung schriftlicher wie gegenständlicher Dokumente. Schon seit 1978, in einem engen Arbeitszusammenhang mit der Deutschen Chronik, entsteht der „Gedanke, ein Archiv für ungedruckte Biographien aufzumachen“ (Kempowski 2005a, 7). Dass Kempowski einen großen Teil seiner Funde aufgrund von Anzeigen in der Rubrik Clou-Markt der Wochenzeitung Die Zeit fand, in der auch ausgestopfte Papageien und Raubdrucke von Arno Schmidts Zettels Traum angeboten wurden, ist seinerzeit viel und oftmals hämisch besprochen worden (vgl. Schirrmacher 1993). Die Wahrnehmung der Archivalien ist bis in die Konzeption des Echolots hinein aber bestimmt von der Kategorie, die beim ersten Aufmerken herangezogen wurde: dem Summen. Diese Vorstellung blieb für die Arbeit am Echolot bis zum Abschluss leitend. Kempowski notiert am 19. Oktober 2000 in sein Tagebuch: „Ich begann mit dem Einsammeln der Schicksale schon in Bautzen, das Belauschen der Gespräche, das Geraune, nicht erst seit dem schon geschilderten Gang über den Hof, seit damals aber zielbewußt“ (Kempowski 2000). In dieser lautmalerischen Kennzeichnung steckt das Programm einer umfassenden, vollständigen und methodischen Dekonstruktion. Zwar gibt es durchaus auch Zitate, deren Verfasser mit ‚Unbekannt‘ angegeben sind, wie beispielsweise ‚Unbekannte. Eine Frau aus Lenzen bei Elbing‘, ‚aus dem Zuchthaus Cottbus‘, ‚aus dem Frauenzuchthaus Waldheim/Sachsen‘ usf.; in Fuga furiosa geschieht dies etwa 13 Mal. Doch sind die meisten Zitate aus umfassenderen Texten, die in biographischen Zusammenhängen stehen und aus denen nun Teile herausgenommen und in das neue chronologische Raster eingefügt werden. Aber es gibt auch Fälle der Anonymisierung. In einer editorischen Notiz, die jedem der vier Echolot-Teile voran- oder nachgestellt ist, nennt Kempowski die Regeln seiner Bearbeitung: Die Texte, die ich für Das Echolot auswählte, wurden in den meisten Fällen nicht gekürzt. Allerdings waren Streichungen aus Gründen des Umfangs nicht zu vermeiden. Auslassungen am Anfang oder am Ende eines in sich geschlossenen Textes habe ich in der Regel nicht angezeigt. Hingegen habe ich Streichungen innerhalb eines Textes durch […] kenntlich gemacht. Eigentümlichkeiten oder Unbeholfenheiten in Stil, Orthographie und Zeichensetzung wurden beibehalten, um die Authentizität der Dokumente zu wahren. Hingegen wurden offensichtliche Verschreibungen korrigiert. (Kempowski 1993a, Bd. 1, 4, Hervorhebung von Czucka)

Diese Vorgehensweise ist für einen Editor sehr gewagt und editionswissenschaftlich gesehen nicht akzeptabel. Kryptisch ist die nächste Einschränkung: „Es war nicht immer möglich, die Texte exakt einem Tag zuzuordnen. Waren Entstehungsdatum oder -ort nicht genau zu bestimmen, dann wurde der Ort in der Kopfzeile in runde Klammern gesetzt“ (Kempowski 1993a, Bd. 1, 4). Schwierigkeiten bei der Terminierung und Lokalisierung von Texten sind ein dauerndes Problem für Editoren und nur allzu erklärlich, wenn man an die Wege der Tradierung denkt, die viele der Texte zurückgelegt haben. Da aber nur Zweifel der Ortszuschreibung markiert werden, ergibt sich auf dem Wege des Umkehrschlusses, dass die Datierungen, also die Wiedergabe eines Text-

2.4  Das Echolot und andere Kollektivtexte101

stücks innerhalb eines bestimmten Tages, keineswegs verbürgt ist. Dieses stillschweigende Verschieben von Texten auf der Zeitleiste ist ein auktoriales Verfahren, das in den Dienst einer Darstellungsintention genommen wird, denn Kempowski hat die „Texte zu einem Dialog formiert“ (Kempowski 1993a, Bd.  1, 7). Diese Korrespondenz ursprünglich nicht zusammengehöriger, oftmals sogar disparater Texte – betrachtet man Schreiber, Leser, Umstände, Textsorten – ist die Leistung des ‚Collageurs‘, der in der Bezeichnung ‚Dialog‘ durchaus literarische Gattungsansprüche stellt. Dies schließt nicht aus, dass dieser auctor von seinem Werk aufgesogen wird: Diese Arbeit rief in mir die unterschiedlichsten Gefühle wach: Verständnis und Verachtung, Ekel und Trauer. Zum Schluß, als ich den großen Chor beisammen hatte und das Ganze auf mich wirken ließ, stand ich plötzlich unter ihnen, und es überwog das, was wir mit dem Wort ‚Liebe‘ nur unzulänglich bezeichnen können. Wie sollte es denn auch anders sein? (Kempowski 1993a, Bd. 1, 7)

Dass die Authentizität jedoch ein fragiles Konstrukt ist, wird auch dadurch deutlich, dass die Auswahl schon auf einer von Zufällen abhängigen Basis ruht. Ein Beispiel dafür sind die Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Adenauer-Briefen (vgl. Kempowski 2005a, 315). Die Texterstellung zeigt ebenfalls aleatorische Züge: Die Streichungen folgten oft dem Gebot des Tages. Wenn am 7. April besonders viel zu tippen war, strich man eben. Auch wechselte die Aufmerksamkeit. Bei Großlieferanten war man eher geneigt, einen Absatz hinauszuwerfen als beispielsweise bei Adenauer, von dem man mir zwei Briefe zuteilte. (Kempowski 2005a, 321–322)

Das Ergebnis verändert selbst für den Produzenten offenbar die Wahrnehmung der Einzelteile: Was als je einzelner Text je andere Reaktionen zwischen Ablehnung und Empathie hervorzurufen vermag (vgl. für eine Vielzahl dieser Einschätzungen Kempowski 2005a, passim), kann, zum ‚Chor‘ arrangiert, so etwas wie ‚Liebe‘ auslösen. Spätestens hier fällt auch auf, dass natürlich die Auswahl der Texte, ihre Abfolge und Zuordnung, thematische und inhaltliche Entsprechungen wie Brüche, die dialogisierenden Bezüge über Orte und Zeiten hinweg, inszeniert sind. Die Authentizität jedes einzelnen Textes wird durch die Aufnahme in die Sammlung im Zitat bewahrt und zugleich in der Einordnung aufgehoben. Das wird besonders deutlich bei den Zitaten aus publizierten Quellen, deren Verfasser – in der Regel jedenfalls – aus politischen, wissenschaftlichen oder kulturellen Kontexten bekannt sind, seien sie berühmt oder populär oder berüchtigt. Durch die Montage im Echolot werden Hierarchien und Abstufungen, bestehende Zuordnungen und Abgrenzungen, Divergenzen und Konvergenzen aufgehoben. Alle Texte stehen nebeneinander, das Neben- und vor allem das Nacheinander ist ohne jede Rangfolge, es ist rein sequentiell. Alle, auch die bekannten Verfasser, tragen gleichermaßen zum ‚Summen‘ bei, werden zu einem Teil des Geraunes und des Gemurmels gemacht, das sich zu dem ‚babylonischen Chorus‘ zusammenfügt. Um die Metapher des Chores und

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seines Summens aufzunehmen: Auch die bekannten und berühmten Beiträger haben keine Solistenrollen. Insofern sind Zitate aus dem „Kreis der Intellektuellen“ (Kyora 2005, 161), zu denen die 60 Beiträge Hans Falladas ebenso zählen wie die 50 Notate von Thomas Mann oder die 45 von Hans Blunck, nicht aussagefähiger oder (be)deutungsvoller als jedes andere Textelement (vgl. Philipp 1999). Einzige gemeinsame Voraussetzung ist die Schriftlichkeit der Zeugnisse, die mit ihrer Dauerhaftigkeit immer auch schon eine gewisse reflexive Distanz zu den berichteten Ereignissen voraussetzt. Das von ihnen ausgelöste „unendliche Gewimmel“, das „es vorher in der Geschichte nicht gegeben“ (Kempowski in Philipp 1999) hatte, ist die räumliche Entsprechung zu dem Gemurmel, dem Raunen und Geraune, „das in seiner Summe immer gleich ist“ (Kempowski 2005a, 279; vgl. auch 128 u. 280). 3.2  Paratexte – Vorworte und Mottos 3.2.1 Vorworte Den beiden einbändigen Teilen des Echolots, die die chronologische Folge eröffnen und beschließen, stellt Kempowski Vorworte voran, die zu einem wesentlichen Teil wortgleich sind. Er nennt drei Gemälde, deren Betrachtung er als „Einleitung“ verstehen will, „bevor wir uns also eine Zeitlang unter die toten Seelen mischen“ (Kempowski 2002, 5): Zunächst der ‚Turmbau zu Babel‘ von Breughel, jene Darstellung des konisch zulaufenden Turms, der vielbögig aufeinandergesetzten Spirale, die sich in die Wolken hineinschraubt und zu Gott hinauf drängt, jener Turm, den Menschen bauten, um dem Allmächtigen gleich zu sein, den sie aber auch aus Sehnsucht aufrichteten, möglichst schon vor der Zeit zu ihm zu gelangen und sich in seinem Schoß zu bergen. Der Babylonische Turm stürzte ein, wir wissen es, und die Verwirrung, die sein Fall mit sich brachte, dauert an. Das zweite Bild war die ‚Alexanderschlacht‘ von Albrecht Altdorfer, jenes bekannte Gemälde, auf dem Tausende von Kriegern auszumachen sind, die einander umbringen. Menschen ohne Namen, Todgeweihte, längst vermodert und vergessen, und doch Männer, die Frau und Kind zu Hause sitzen hatten, deren Keime wir als Nachkommen in uns tragen. Das dritte Bild war die ‚Übergabe von Breda‘ des Spaniers Velázquez. Auf diesem Bild steht ein Sieger einem Besiegten gegenüber. Der siegreiche Feldherr hat dem Unterlegenen, der ihm demütig die Schlüssel der Stadt übergibt, nicht den Fuß in den Nacken gesetzt, sondern er neigt sich ihm gütig zu, ja, er hebt den sich beugenden Unterlegenen auf! Dieses Bild wurde vor 360 Jahren gemalt, und bis heute wurde seine Botschaft nicht eingelöst. (Kempowski 2002, 3; vgl. auch Kempowski 2005b, 3)

Bemerkenswert ist, dass diese Bilder nicht beigegeben worden sind, obwohl doch gerade die eingefügten Fotos aus dem Archiv ein gewichtiges Element der Darstellung sind und deren Auswahl und Anordnung lange erwogen wurden (vgl. Kempowski 2005a, passim). Die Verweise im Vorwort setzen ganz auf das beschreibende Wort, mit dem die Semantik der Bilder auf die Intention

2.4  Das Echolot und andere Kollektivtexte103

des Echolots bezogen wird. An diesen drei Bildern fokussiert Kempowski drei Aspekte: Babylon als Ursache des Krieges, Massenhaftigkeit und Namenlosigkeit als dessen Wirkung und eine Utopie des Friedens als Figuration von Zuwendung. Babylon steht mit seinem Turm als Symbol technischer Machbarkeit und deren Umschlag in Destruktion des humanum, der Sprache, und damit ihres Verlusts. Babylon ist in der Perspektive des Echolots die Ursache dafür, dass Sprechen nur mehr Summen ist. Auf Altdorfers Alexanderschlacht ist – anders als auf dem berühmten gleichnamigen Mosaik – Alexander gerade nicht zu sehen, sondern es erscheinen nur Massen, die zu einem Reptil, einem Heerwurm verschmelzen. Diese beiden hier aufgerufenen Bilder akzentuieren das Kollektive des Tagebuchs und geben verschiedene Aspekte des Massenhaften, dessen Äußerungen nur als Geraune, Gesumme, Gewisper zu vernehmen sind. Nach den zwei Darstellungen des Summens wird ein Bild beschrieben, das in monofokaler Beschränkung auf das abgebildete Ereignis die Begegnung zweier Personen zeigt. Der Ausschnitt rückt das Zusammentreffen von Sieger und Besiegtem in einer ‚Geste der Humanität‘ (Schilling 1988) vor die kriegerischen Aktionen, die nur im Hintergrund schemenhaft sichtbar sind (vgl. Hofmann 2001, 990). Insofern sind die beiden Gemälde zum Thema Krieg – Altdorfers Alexanderschlacht und Velásquez’ Übergabe von Breda – antithetisch. Mit den beiden Vorworten (in drei Bänden) setzt Kempowski zwei Eckpunkte seines Programms: In den Bildbeschreibungen in Barbarossa und Abgesang erscheint eine Struktur des Themas, nämlich Krieg, und in der Wendung ‚eigenartiges Summen des babylonischen Chors‘ gibt er eine erlebnisbasierte Bestimmung seines Materials, das aus gesammelten Zeugnissen eines entindividualisierten Sprechens besteht. 3.2.2 Motto/Gemurmel Der Gebrauch der Mottos für die Tageskapitel ist im Echolot ausgesprochen konsequent und signifikant variationsreich. Das Motto als Paratext fällt in die Kompetenz der Textinstanz und sein Setzen ist ein literarischer Akt. Mögliche Funktionen eines Mottos liegen darin, den Text oder den Titel zu kommentieren und zu verdeutlichen, aber auch ein Signal für Kultur, ein Losungswort für Intellektualität zu geben (vgl. Genette 1989, 151–153 u. 156). Die Mottos treten also in ein intertextuelles Verhältnis zu Titel und Text und können zwischen beiden vermitteln. Die Herrnhuter Losungen stehen allen im Echolot behandelten Tagen voran und bilden so eine feste Größe des zitierten Sprechens. Die kurzen Bibeltexte aus dem Alten und Neuen Testament kontrastieren die Alltagsdiskurse des Krieges: Als Motto stehen sie nicht nur über dem Text, sondern befinden sich außerhalb der Texte, in denen ein ‚Gotteswort‘ keinen Platz findet. Die Verwendung als Motto tangiert aber auch die Herrnhuter Losungen. ‚Motto‘ wird als Leit- bzw. Wahlspruch verstanden, ist etymologisch vom mittellateinischen muctum, muttum, mutum, motum in der Bedeutung ‚murmeln‘ abgeleitet und nur semantisch vom altfranzösischen

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mot, das den gleichen Ursprung hat, beeinflusst (vgl. Niermeyer 1954, 707; sowie Pfeifer o.  J.). Darüber hinaus gehören Losung und Motto – wie auch Code, Devise, Maxime, Parole, Schibboleth, Schlachtruf, Slogan, Symbol etc. – zu demselben Bedeutungsfeld, in dem differentiae specificae die jeweils andere Nominaldefinition bestimmen. Die Mottos bilden also nicht das Gegenteil des Gemurmels, Geraunes und Stimmgewirrs, von dem Kempowski mit Blick auf seine Textauswahl in den Tageskapiteln spricht, sondern sind (nur noch) eine andere Art des Murmelns. Daran wäre noch einmal die These Herrmann-Trentepohls zu überprüfen, dass die Losungen „ein Spannungsfeld [markieren], in das nach pietistischer Auffassung der Mensch hineingestellt ist: nämlich in ein Leben, das einerseits von schicksalhaften Kräften geprägt ist, andererseits aber auch der individuellen Gestaltung fähig erscheint“ (Trentepohl 2006, 92). Denn die Herrnhuter Losungen teilen sich den herausgehobenen Platz mit Zeitungsschlagzeilen (in Echolot. Januar und Februar 1943), Wendungen aus dem zeitgenössischen Repertoire nationalsozialistischer Redensarten (in Fuga furiosa), dem Radebrechen der Alltagsredewendungen aus der Daily German Lesson in der amerikanischen Truppenzeitung Stars and Stripes (in Abgesang) und orientieren sich an Texten deutscher Schlager der Nazi-Zeit, die den Kapitelabschluss bilden (in Barbarossa). 3.2.3  Gedichte als das andere Sprechen Die dargestellte unausweichliche, totale Sprachproblematik perspektiviert Kempowski auf die einzig mögliche Lösung durch eingefügte Gedichte. In Echolot. Januar und Februar 1943 folgt der lyrische Text Diejenigen, die im kalten Schweiß… (1940) von Hermann Broch unmittelbar auf den eine Seite umfassenden Text „Statt eines Vorworts“ (Kempowski 1993a, Bd. 1, 7) und nimmt dessen Thema des ‚eigenartigen Summens‘ auf und facettiert es. Dem „Recht zu singen“ „in fürchterlich neuer Sprache, / in der kein Wort dem andern / mehr ähnelt“ (Kempowski 1993a, Bd. 1, 7) stehen de facto das Schweigen der Opfer – also derjenigen, „die im kalten Schweiß der Hinrichtung / täglich, nächtlich erbleichten“ (Kempowski 1993a, Bd. 1, 7) – und die vom Schicksal verstopften Ohren gegenüber. Die Drohung des letzten Verses „Wehe, wenn einer spricht“ (Kempowski 1993a, Bd. 1, 7) ist das letzte Wort vor der beginnenden ‚Echolotung‘ in Kempowskis kollektivem Tagebuch (zur Platzierung eines Mottos vgl. Genette 1989, 145). Bei der Datierung dieses Gedichts folgt Kempowski offensichtlich der 1975 veröffentlichten Werkausgabe Brochs (vgl. Broch 1975, 195). Irritierenderweise findet sich neuerdings bei Google Books der Hinweis auf eine frühere Veröffentlichung des Gedichts (in Broch 1931). Der Dokumentenlieferdienst subito-doc kennt diese Ausgabe, kann jedoch keinen Bestand in Deutschland nachweisen. Gestützt werden die Vorbehalte gegen die Datierung auch durch die vorsichtige Formulierung bei Arntzen (2000, 93 [Anm. 18]), wo es heißt, dass es ein Gedicht sei, „das nach Kempowski um 1940 geschrieben wurde“. In jedem Fall würde eine verlässliche Datierung nicht ohne Einfluss auf das Verständnis bleiben.

2.4  Das Echolot und andere Kollektivtexte105

Fuga furiosa bleibt ohne Vorwort und hat mit Eduard Mörikes Um Mitternacht einen Text als Motto (vgl. Kempowski 1999d, Bd. 1, 3), in dessen exponiert Idyllischem Widerständiges verborgen ist. Um Mitternacht Gelassen stieg die Nacht ans Land, Lehnt träumend an der Berge Wand, Ihr Auge sieht die goldne Waage nun Der Zeit in gleichen Schalen stille ruhn;    Und kecker rauschen die Quellen hervor,    Sie singen der Mutter, der Nacht, ins Ohr   Vom Tage,    Vom heute gewesenen Tage. Das uralt alte Schlummerlied, Sie achtet’s nicht, sie ist es müd; Ihr klingt des Himmels Bläue süßer noch, Der flüchtgen Stunden gleichgeschwungnes Joch.    Doch immer behalten die Quellen das Wort,    Es singen die Wasser im Schlafe noch fort   Vom Tage,    Vom heute gewesenen Tage.    (Mörike 1967, 749)

Die Eigenschaften der Nacht („gelassen“, „träumend“) sind auch Ausdruck einer Missachtung des Rauschens, Singens und Klingens der Quelle. Dieses subjektlose Sprechen bildet zum ‚Geraune‘ des Chors aus dem Vorwort zu Echolot. Januar und Februar 1943 das tertium comparationis. Selbst wenn der Adressat dieses ‚uralt alten Schlummerliedes‘ es nicht mehr hört – oder hören will („Sie achtet’s nicht, sie ist es müd“) –, so wird weitergesprochen, auch als Rauschen und Murmeln: „Doch immer behalten die Quellen das Wort, / Es singen die Wasser im Schlafe noch fort“. Barbarossa sind Verse von Gottfried Benn vorangestellt (vgl. Kempowski 2002, 7): Dann gliederten sich die Laute, erst war nur Chaos und Schrei, fremde Sprachen, uralte, vergangene Stimmen dabei. Die eine sagte: gelitten, die zweite sagte: geweint, die dritte: keine Bitten nützen, der Gott verneint. (Benn 1960, 433–434)

Es handelt sich um die ersten beiden (von insgesamt acht) Strophen eines Gedichts ohne Titel. Die erste Veränderung besteht darin, dass in dem Zitat die

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Anführungszeichen, die den Text als Rede des lyrischen Ichs ausweisen, getilgt sind. Die zweite besteht in der Kürzung, durch die vier weitere Stimmen wegfallen und damit auch ein existentialistisch-nihilistisch-atheistischer Duktus, der für das ganze Gedicht anzusetzen ist. In den als Motto gesetzten beiden Strophen wird eine Ausgangssituation entworfen, deren relativer Anfang „Dann“ mit dem Beginn des Berichts zusammenfällt, der nicht der historische Kriegsanfang ist, aber der als der Beginn dessen exponiert wird, was 1945 im „Schlund des Trichters, auf den alles zudringt“, sein Ende findet. Abgesang ist Ludwig Uhlands Frühlingsglaube vorangesetzt, bei dem der Bezug zur erzählten Zeit wie die Allusion auf die Situation offensichtlich sind: „Es blüht das fernste, tiefste Tal“ (Kempowski 2005b, 5). Zweifach wird in jeder Strophe die Wende aufgerufen: Frühlingsglaube Die linden Lüfte sind erwacht, Sie säuseln und weben Tag und Nacht, Sie schaffen an allen Enden. O frischer Duft, o neuer Klang! Nun, armes Herze, sei nicht bang! Nun muß sich alles, alles wenden. Die Welt wird schöner mit jedem Tag, Man weiß nicht, was noch werden mag, Das Blühen will nicht enden. Es blüht das fernste, tiefste Tal: Nun, armes Herz, vergiß der Qual! Nun muß sich alles, alles wenden. (Uhland 1980, Bd. 1, 31)

Auf dieses Wenden reagiert der Text von Abgesang erzählerisch in der Zusammenfassung der beiden Tage des 8. und 9. Mai 1945 in einem Tageskapitel, das ein ‚noch immer‘ und ein ‚nicht mehr‘ des Krieges in der Darstellung zusammenzwingt. Es ist nicht zu übersehen, dass in den Paratexten weniger auf theoretisch-begriffliche Weise, sondern eher narrativ wie heranzitierend die Darstellungsintention sich mitlaufend formuliert. Besondere Beachtung verdienen die vier Hölderlin-Texte, die die Tageskapitel in Abgesang beschließen, denn sie sind dezidiert nicht mehr intentional auf das dargestellte Vergangene gerichtet, sondern verweisen prospektiv auf ein kommendes Neues. Der Frühling Wenn neu das Licht der Erde sich gezeiget, Von Frühlingsregen glänzt das grüne Tal und munter Der Blüten Weiß am hellen Strom hinunter, Nachdem ein heitrer Tag zu Menschen sich geneiget.

2.4  Das Echolot und andere Kollektivtexte107 Die Sichtbarkeit gewinnt von hellen Unterschieden, Der Frühlingshimmel weilt mit seinem Frieden, Dass ungestört der Mensch des Jahres Reiz betrachtet, Und auf Vollkommenheit des Lebens achtet.   Mit Untertänigkeit   Scardanelli.    d. 15 März   1842.    (Hölderlin 1946–1962, Bd. 2, 300) Der Frühling Der Mensch vergißt die Sorgen aus dem Geiste, Der Frühling aber blüht, und prächtig ist das meiste, Das grüne Feld ist herrlich ausgebreitet, Da glänzend schön der Bach hinuntergleitet. Die Berge stehn bedecket mit den Bäumen, Und herrlich ist die Luft in offnen Räumen, Das weite Tal ist in der Welt gedehnet Und Turm und Haus an Hügeln angelehnet.   Mit Untertänigkeit   Scardanelli.    (Hölderlin 1946–1962, Bd. 2, 295)

Der Frühling Wenn aus der Tiefe kommt der Frühling in das Leben, Es wundert sich der Mensch, und neue Worte streben Aus Geistigkeit, die Freude kehret wieder Und festlich machen sich Gesang und Lieder. Das Leben findet sich aus Harmonie der Zeiten, Dass immerdar den Sinn Natur und Geist geleiten, Und die Vollkommenheit ist Eines in dem Geiste, So findet vieles sich, und aus Natur das meiste.   Mit Untertänigkeit   Scardanelli.    d. 24 Mai   1758.    (Hölderlin 1946–1962, Bd. 2, 311)

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Der Frühling Die Sonne glänzt, es blühen die Gefilde, Die Tage kommen blütenreich und milde, Der Abend blüht hinzu, und helle Tage gehen Vom Himmel abwärts, wo die Tag entstehen. Das Jahr erscheint mit seinen Zeiten Wie eine Pracht, wo Feste sich verbreiten, Der Menschen Tätigkeit beginnt mit neuem Ziele, So sind die Zeichen in der Welt, der Wunder viele.   Mit Untertänigkeit    d. 24 April   Scardanelli.   1839.    (Hölderlin 1946–1962, Bd. 2, 293)

Hölderlins Spätwerk umfasst in der KSA (vgl. Hölderlin 1946–1962) 44 Gedichte, darunter tragen neun den Titel Frühling; bis auf zwei sind alle mit „Scardanelli“ unterschrieben, nur eines von ihnen trägt kein Datum neben der Unterschrift. Da Hölderlin durchaus auch eine nationalsozialistische Rezeption hatte (vgl. z.  B. Fahnensprüche. Zusammengestellt im Amt für Erziehung und Ausbildung des Reichsarbeitsdienstes für die weibliche Jugend. Leipzig 1940), scheint die Namengebung „Scardanelli“ interpretativ durchaus belastbar zu sein. Das Datum „24 Mai 1758“ liegt 28 Jahre vor Hölderlins Geburtsjahr und ist rätselvoll-fiktiv (vgl. Oelmann 1996, 200–212, hier bes. 202 u. 207). Eben diesen Text setzt Kempowski an den Schluss des 30.  April 1945. Die vier Gedichte sind zweistrophig mit jeweils vier jambischen Versen und im Paarreim gehalten. Sie thematisieren Frühling als Identität von Mensch und Natur (vgl. etwa Koopmann 1990; sowie Oelmann 1996, 210). Zwei der Gedichte (zum 25. April und 8./9.Mai 1945) bestehen aus Aussagesätzen, die beiden anderen (zum 20. April und 30. April) zeigen eine ‚wenn – dann‘-Struktur, die nicht implikativ-konditional ist, sondern eher gleichzeitig-koinzident zu sein scheint (vgl. Koopmann 1990). Doch haben – wie mit Verweis auf Adorno zu sagen ist  – Scardanellis „Jahreszeiten  […] keinen Mitteilungscharakter mehr, sie sind ohne soziale Funktion, ohne die Fähigkeit, Kontakt mit der Umwelt herzustellen“ (Schusky 1986,73). Dem entspricht die Ichlosigkeit, der „eine bleibende, doch unpersönlich gewordene Gegenwart“ (Pöggeler, zit. n. Lübbe-Grothues 2004, 296) korrespondiert. Eine Figur namens Scardanelli verfasst auf Aufforderung Gedichte beim Blick aus dem Fenster seines Turms, es sind gleichsam „Fenstergedichte“ (Oelmann 1996, 202–203 u. 212). Die Gedichte benennen „ohne Variation, Entwicklung und Abstraktion“ (Schusky 1986, 76). Wenn die bislang dem Echolot einmontierten Gedichte die einzigen Texte sind, die nicht dem Gemurmel zugehörig sind, dann sind die Hölderlin-Gedichte außerhalb des Gemurmels die einzigen Texte, die einen hoff-

2.4  Das Echolot und andere Kollektivtexte109

nungsvollen Ausblick gewähren. Sein Thema Frühling in Variationen verheißt Hoffnung, Aufbruch, aber: Es spricht ein aus der bürgerlichen Gesellschaft Verstoßener. Es ist ein anderes, neues Sprechen, kein Summen, Gemurmel oder Gerausche mehr. Es ist ver-rückt, nicht im Sinne eines Krankheitsdokuments, sondern herausgerückt aus der Zeit und aus der Welt (Blick aus dem Fenster) (vgl. Oelmann 1996, 206). Was sich einem solchen Blick dartut, ist „Schönheit apocalyptica“ (Chargaff 1985, 40). 3.3  Titelmetaphern und ihre Folgen 3.3.1 Titelmetapher Echolot Unter dem Datum 6. Mai 1993, also einige Wochen vor dem Abfassen des Vorworts und wenige Monate vor Erscheinen des ersten Teils von Echolot, notiert Kempowski: „Echolot: Im Physikbuch nachsehen“ (Kempowski 2005a, 309). Diese Selbstaufforderung zu einer Vergewisserung ist einigermaßen verwunderlich angesichts des Umstands, dass der Titel seit 1988 feststand (vgl. für die erste Erwähnung des Titels im Tagebuch am 9. Oktober 1988: Kempowski 2005a, 124). Im Vorwort ist diesem Kenn- und Titelwort des ersten Teils, das zum Obertitel des gesamten Unternehmens wurde, ein Absatz, der letzte, gewidmet: DAS ECHOLOT gehört jenen, die geduldig den Stimmen lauschen, die in der Stratosphäre stehen. Das Zuhören kann es möglich machen, dass wir endlich ins reine kommen miteinander. Wer eine Formel für den Krebsgang der Menschheit sucht – mit dem Echolot holt er sie aus der Tiefe. Die alten Geschichten ergeben – zusammengerüttelt – das Zauberwort, mit dem wir unsere Epoche bezeichnen und versiegeln könnten. Nartum, 18. Juli 1993 Walter Kempowski (Kempowski 1993a, Bd. 1, 7, Hervorhebung im Original)

Die an dieser Stelle nur sehr knapp entwickelte Vorstellung des ‚Echolots“ kapriziert sich wesentlich auf den Aspekt des Echos, dem zu lauschen und zuzuhören ist. Rezipiert worden ist an diesem Abschnitt vor allem die Wendung vom ‚Krebsgang‘, den Günter Grass mit seiner Novelle Im Krebsgang aufgenommen hat. Mit der Formel übernimmt Grass zugleich auch sein Thema aus dem Echolot, nämlich die Versenkung des mit mehreren tausend Flüchtlingen besetzten Schiffs Wilhelm Gustloff am 30. Januar 1945 (vgl. ausführlich dazu Emmerich 2005, 298 u. 303–310; sowie Kempowski 2005a, 315). Hinsichtlich des metaphorischen Potentials von Echolot bleibt Kempowski eher reserviert. „[M]it dem Echolot holt er sie [= die Formel für den Krebsgang der Menschheit] aus der Tiefe“ ist eigentlich der einzige Verweis auf die Funktion dieses Geräts. Überlegungen zum Titel sind in Rezensionen wie in der Forschungsliteratur bisher eher im Vorläufigen oder Beliebigen geblieben. So schrieb Der Spiegel aus Anlass eines ersten Vorabdrucks 1992: „Der Arbeits-

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titel ‚Echolot‘ ist der Seefahrt entliehen. Dort bezeichnet das Wort ein Gerät, das Schallwellen aussendet und empfängt. Mit ihnen wird die Beschaffenheit des Untergrundes abgetastet  – und das unter der Oberfläche Versteckte in Umrissen greifbar“ (Hage 1992, 156). Das ist so knapp wie richtig, sagt aber nichts über die Bedeutung und Funktion dieses Titelworts für den Text aus (vgl. Nickenig 1996, 186). Nun ist die Vorstellung, mit Schall Tiefen oder Untiefen auszumessen, durchaus leicht und auch sinnfällig übertragbar. Der Begriff ‚Echolot‘ hat durchaus metaphorisches Potential. So befindet Raddatz in einer Rezension zu Martin Walsers Roman Meßmers Gedanken im März 1985: „Ein Buch wie ein Echolot. Was da heraufdringt aus verschütteten Tiefen, klingt allerdings grollend, düster, verzagt auch“ (Raddatz 1985; vgl. auch Kluge 1991). Auch sonst attestiert Raddatz Walsers Buch Merkmale, die ceteris paribus auch auf Kempowskis Echolot zutreffen können: Walser hat hier etwas geschrieben, das sich allen Genre-Bezeichnungen entzieht: Mischung aus Tage- oder Nachtbuch, Sudelbuch, Notizbuch  – und Brechtschen Notaten. Es sind Produkte einer gedanklichen Griffelkunst, die – mit ganz wenigen Ausnahmen – auf jegliches erzählerisches Element verzichtet, auskommt ohne Personal, ohne Fabel, ohne Handlung“ (Raddatz 1985)

Für die 1980er und 1990er Jahre des 20. Jahrhunderts sind drei weitere literarische Publikationen mit demselben Titel nachweisbar: 1982 veröffentlichte Gertrud Fussenegger einen gleichnamigen Essayband, unter gleichem Titel erschien 1990 ein Gedichtband von Christel Breier sowie 1991 ein Tagebuch von Friedrich Kabermann (vgl. Breier 1990; Fussenegger 1982; Kabermann 1991). Diese relative Häufung zeigt eine Virulenz oder wenigstens eine gewisse Popularität der Vorstellung und die Leistungsfähigkeit der Metapher. Eher ein Kuriosum stellt ein Lied aus dem Genre der Volksmusik von 1990 dar: Das Echolot vom Königssee (vgl. Meurer 1990). Ein neuerer Nachweis für die Produktivität der Metapher findet sich bei Ziebritzki (2001). In der Summe ist festzuhalten, dass in den drei Echolot-Texten vor Kempowski der metaphorische Gebrauch eher partiell bleibt, wesentlich thematisiert wird nur die Vorstellung, dass Tiefen ausgeforscht und ausgelotet werden. Bekannt geworden war dem Verlag Albrecht Knaus kurz vor dem Erscheinen von Kempowskis Werk wohl nur die Übereinstimmung mit Kabermanns Werk. Am 30. März 1993 gelang es dem Verlag, die Rechte an dem Titel zu bekommen (vgl. Kempowski 2005a, 298–299), der dann gemäß der getroffenen Vereinbarung ‚Das‘ Echolot heißen musste. Kempowskis Echolot hat sich als anregend erwiesen, sowohl thematisch als auch methodisch, und eine nennenswerte Zahl von Publikationen stimuliert und beeinflusst. Exemplarisch für viele andere seien hier nur der von Matthias Steinbach herausgegebene Band Mobilmachung 1914. Ein literarisches Echolot (Steinbach 2014) sowie die von Lisbeth Exner und Herbert Kapfer herausgegebene Verborgene Chronik 1914 (vgl. Exner und Kapfner 2014) genannt, die das Verfahren von Kempowskis Echolot auf den Ersten Weltkrieg anwenden.

2.4  Das Echolot und andere Kollektivtexte111

Bemerkenswert ist, dass die einzige Erwähnung des Titels in dem schon zitierten Vorwort verbunden ist mit einer Übertragung an den Leser: „DAS ECHOLOT gehört jenen, die geduldig den Stimmen lauschen“. Das Buch erhält den Status eines Geräts, mit dessen Hilfe das ‚Summen‘ als Echo zu hören und zu vermessen, einzuordnen und zu ordnen ist. Doch die Echolot-Metapher reicht viel weiter, als Kempowski das in der Vorrede ausführt. Der Bezug auf ein technisches Gerät und das Verfahren der Sonographie enthält in einer akribischen begrifflichen und zugleich metaphorischen Genauigkeit eine Leseanweisung für die vorliegende Rekonstruktion. Am Ende des 20. Jahrhunderts ist das Echolot ein bildgebendes Verfahren, also eine Technik, die einen Schall aussendet, sein Echo wieder auffängt und die empfangenen Signale in Bilder verwandeln kann. In dem Verständnis für das technische Prozedere liegt ein Schlüssel für das Literarische und seine Faktur (vgl. Damiano 2004, 426 u. 429  ff.). Die Bilder eines Echolots sind, wenn sogenannte Rohdaten ankommen, eher schemenhaft undeutlich. Sie werden durch Analyse der Bilddaten – durch Interpretation, wenn man so will – in eine genaue räumliche Abbildung umgesetzt, in der Fachsprache und mit Manfred Siegel von der Herstellerfirma Atlas Electronic (Bremen) formuliert: in eine hochauflösende dreidimensionale Darstellung verwandelt. Diese technische Verfahrensbeschreibung kann als Allegorie der gewünschten und geforderten Lektüre gelesen werden. Das Textkonvolut des Echolots liefert auf den ersten Blick ein umrisshaftes, unscharfes, unrealistisch eingefärbtes Bild von einem Etwas, das nur schwer zu bestimmen ist. Darin ist es vergleichbar den aufgefangenen Sonar-Echos. Der Leser aber, der aus dem komponierten Chaos, aus den zu chronologischer Reihung destruierten biographischen Dokumenten durch seine Lektüre diese ‚Rohdaten‘ miteinander verknüpft, kann ein plastisches Bild der Epoche gewinnen. Ein erstes, einfaches Verfahren besteht darin, Zusammengehöriges zusammenzustellen und dadurch Biographien zu rekonstruieren, einzelne Briefe als Stücke in Dialogen zu entdecken, Ereignisketten wieder herzustellen, den ‚Zopf‘ offenzulegen. Eine avanciertere Lektüre wird Schilderungen gleicher Sachverhalte entdecken, jeweils von verschiedenen Seiten beschrieben: die Rede von Goebbels im Sportpalast, die von unterschiedlichen Standpunkten aus besprochen wird (vgl. Nickenig 1996, 207–208), Erlebnisse auf dem Vormarsch versus Erlebnisse auf dem Rückzug, Bomberpiloten versus Bunkerinsassen, Vertreibende versus Vertriebene und wie Positionen in dem universellen Grauen sonst zu rekonstruieren sind. Er wird also, ganz in Kempowskis Sinne, ‚die alten Geschichten‘ zusammenrütteln. Um den Preis der Dekonstruktion des je und je Authentischen gewinnt das Echolot der Lektüre eine Rekonstruktion, es rekonstruiert ein Grauen, das mit dem Namen Zweiter Weltkrieg bislang bezeichnet, aber noch nicht ausgesprochen war. 3.3.2  Fuga furiosa Der Zusatztitel zum zweiten Teil des Echolots, Fuga furiosa, verlangt nicht nur nach einer Übersetzung (ital., etwa: „wütende, rasende Flucht“), sondern

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fordert anscheinend auch manche Leser auf, die musikalische Konnotation von fuga (ital.: „Fuge“) als Metapher zu verstehen. Hage verkehrt Eigentliches und Uneigentliches, stellt die Konnotation vor die Denotation: „Fuga furiosa: das verweist nicht nur auf das musikalische Prinzip der Anordnung der Einzelteile, sondern auch auf einen der inhaltlichen Schwerpunkte dieses EcholotKomplexes, in der Bedeutung ‚fürchterliche Flucht‘ nämlich“ (Hage 2005a, 74, Hervorhebung von Czucka). Das gleiche Verfahren findet sich bei Dierks: Die Vernichtung Dresdens ist das finale Thema des Echo-Chors […]. [D]er Untertitel des zweiten ‚Echolot‘, ‚Fuga furiosa‘, erhält nun seine mehrfache Bedeutung: Bachs ‚Kunst der Fuge‘ entnommen, spielt er an auf die zerschlagenen deutschen Armeen in ihrer ‚wilden Flucht‘ (‚fuga furiosa‘ wörtlich) und zugleich auf die Kompositionsform des mehrstimmigen Satzes, in dem ein und dasselbe Thema von unterschiedlichen Stimmen gebracht wird. Eine dritte Bedeutung aber wird verschwiegen. Kempowski lässt Thomas Manns Roman ‚Doktor Faustus‘ anklingen, dessen Held, der Komponist Adrian Leverkühn, (allerdings hochfacettiert) Deutschlands Schicksal im Faschismus symbolisiert und der am Ende, vor dem eigenen Untergang, mit Anklang an Bach eine Musik darüber schreibt: die symphonische Kantate ‚Dr. Fausti Weheklag‘. Deren musikalische Kernwirkung ist das Echo. Thomas Mann sieht diese Echo-Wirkung zusammen mit der komplex erfahrenen Krise der europäischen Kultur: Erst im Natur-Echo auf den eigenen Klagelaut erfährt der Mensch, dass er noch natürlich ist – womöglich aber zu spät. […] Aber es nimmt immerhin sein Kernmotiv Echo auf und spielt darauf an – mit ‚Das Echolot. Fuga furiosa‘. […] Wer nicht schreiben und keine Kantaten singen kann, hat im ‚Echolot‘ keine Stimme. (Dierks 2008, o.  S.)

Dierks präfiguriert sein Verständnis, wenn er das historische Ereignis der Bombardierung Dresdens als ‚finales Thema‘ re-formuliert und mit einem Wortspiel ins Musikalische umdeutet als ‚Echo-Chor‘. Seiner Argumentation ist entgegenzuhalten, dass wohl nicht Bachs Kunst der Fuge auf die Flucht der deutschen Armee – und nicht nur auf die der Soldaten, denn auch die Flucht der Zivilbevölkerung vor der Roten Armee ist Thema  – anspielt, sondern höchstens umgekehrt. Der artifiziellen Überleitung auf Manns Leverkühn und dessen ‚symphonische Kantate‘ „Dr. Fausti Weheklag“‘ mag man zustimmen können, aber muss doch festhalten, dass es von dort keinen intertextuellen Bezug zurück zum Echolot gibt. Bei Kempowski selbst gibt es keine solchen Überlegungen. Zwar notiert er am 25. Juli 1993: „E 45-Manuskript müßte wie eine Partitur gearbeitet werden, bei E 43 hatte ich schon damit begonnen, da war ich noch zu unsicher, wußte nicht wo’s hinauslaufen sollte“ (Kempowski 2005a, 333). Er notiert aber auch am 8. September 1993, nur wenige Tage später: Das erste, was Ebel sagte: ‚Viele Wiederholungen?‘ Wiederholungen? Keine einzige. Eine Wiederholung im musikalischen Sinne: gibt’s nicht im ‚Echolot‘. Wer hier Wiederholungen findet, dem fehlt das rechte Organ für die so wichtigen Abweichungen, die erst die Wirklichkeit erfaßbar machen.

2.4  Das Echolot und andere Kollektivtexte113 Variationen gibt es, so wie der Schütze erst rechts vorbei, dann links vorbei und dann trifft. Das Treffen ergibt sich von selber. Das ‚Eingabeln‘, wie die Artilleristen sagen. (Kempowski 2005a, 346)

Aufs Ganze gesehen hat Kempowski selbst unzweifelhaft fuga im eigentlichen Wortsinn als ‚Flucht‘ verstanden, so schreibt er am 13.  März 1993: „E 45 in Beziehung setzen zu anderem ‚fliehen‘. Nicht nur Bosnien und Somalia, sondern auch die Flucht der Deutschen dreimal im Jahr nach Mallorca. Auch sie fliehen vor ihrem Schicksal, doch, anders als 1945, sie können ihm nicht entrinnen“ (Kempowski 2005a, 293). Am 25. September 1993 schreibt er für Fuga furiosa vom „Hin- und Herschwappen von Menschenmassen im Osten und Westen“ (Kempowski 2005a, 351). Barbarossa nimmt den militärischen Decknamen auf, unter dem der Angriff auf die Sowjetunion geplant und ab dem 22. Juni 1941 durchgeführt wurde. Abgesang wird als Bezeichnung für das letzte Werk genommen; jeder musikalische Hintersinn ist erschwert mit Blick auf die Vierteiligkeit von Echolot, denn im Meistersang bezeichnet ‚Absang‘ den dritten, schließenden Teil nach zwei Aufgesängen/Stollen. 4  Schluss und Ausblick 4.1 Digitalisierung In seinem Tagebuch resümiert Kempowski am 20. April 1993 unter der Überschrift „Das Echolot – ein Schlussbericht“ (Kempowski 2005a, 303) die Entwicklung seines Schreibens und notiert: „Die dritte Qualität war dann 1988 die Anschaffung des PC, in den ziemlich sofort die Fremdtexte eingegeben wurden. Dies ist die Geburtsstunde des ‚Echolot‘“ (Kempowski 2005a, 303). Dabei ist der Computereinsatz mehr als nur die Nutzung eines digitalen Aufschreibesystems als Ersatz für eine konventionelle Schreibmaschine und die Zettelkästen. Dies stellt schon 2001 Markus Krajewski in einem Aufsatz fest, der am Beispiel von Echolot. Januar und Februar 1943 nach „(Un)Tiefen elektronischer Textarchive“ fragt und „zu Status und Produktionsbedingungen digitaler Literatur“ Auskünfte gibt, die bis heute singulär geblieben sind, obwohl sie weitreichende Perspektiven für die weitere Rezeption eröffnen. Er stellt hinsichtlich der „Leseanforderungen strukturelle Ähnlichkeit“ zwischen Echolot. Januar und Februar 1943 und einem Hypertext fest und fragt, „inwieweit das Echolot trotz seiner scheinbar konventionellen und unaufregenden Form als ein Text anzusehen ist, dem der Status digitale Literatur nahezu zwangsläufig zukommen muß“ (Krajewski 2001,144). Krajewski definiert die Arbeit an Echolot. Januar und Februar 1943 als ein „weitverzweigte[s], automatisierte[s] Buchstabeneinlese- und Textverschiebungs-Projekt“ (Krajewski 2001, 143), das nur auf der Basis eines „digitalisierten Textarchivs“ (Krajewski 2001, 145) die Zusammenfügung von Texten möglich macht. Kempowski beschrieb in einem Interview den Vorgang so:

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Es gibt einen Mitarbeiter, mit dem ich das Material sichte und bespreche. Wir haben da einen Simultancomputer, ich sitze links, er rechts, und wenn es ans Collagieren geht, dann sage ich ihm, wie ich das haben möchte. Und dann sehen wir uns das neu an. Immer wieder. Es dauert ungefähr 14 Tage, bis ein Echolot-Tag so steht, wie ich ihn haben möchte. (Krajewski 2001, 144; vgl. auch Philipp 1999)

Diesen Übergang des Textfundus aus einer analogen in eine digitale Form wertet Krajewski als einen „qualitativen Statuswechsel des Materials“ (Krajewski 2001, 144), das erst in diesem verwandelten Zustand handhabbar zu sein scheine. Das Ergebnis, also die gedruckte Form von Echolot, sei zwar einerseits ein Arrangement des Arrangeurs Kempowski, der die Textbausteine neu und anders gereiht hat. Zugleich aber bleibe es ein „disparater Textkorpus“, der dem Leser weitere und bislang nicht realisierte Verknüpfungsleistungen abverlange „und damit eine Datenbank gleichsam im Rohformat“ (Krajewski 2001, 145; vgl. auch Baßler 2010, 22) darstelle. Diese ist – technisch betrachtet – die Grundlage für einen erweiterten, vom Leser selbst bestimmten Zugang zum und Durchgang durch den Text des Echolots. Technische Fragen der Datenorganisation wie ‚flatfiles‘ oder ‚relationale Verknüpfungen‘ hält Krajewski für nicht entscheidend (vgl. Krajewski 2001, 145). Ziel einer solchen datenbankbasierten Textpräsentation könne es sein, da stimmt Krajewski der Feststellung von Koch-Schwarzer zu, durch die Durchbrechung der Chronologie (in der parallelen Anhäufung zeitgleicher Dokumente) den Leser zum ‚intellektuellen Zappen‘ zu animieren, ihn zu bewegen, im Lesen gedankliche Nebenwege zu legen, abzudriften, selbst vom Alltag des Kriegsgeschehens, Assoziationen zu ermöglichen, assoziatives Denken gar zu schulen. (Koch-Schwarzer o. J. o.  S.)

Für entscheidend hält Krajewski jedoch, dass eine Datenbank das Potential von Verschaltbarkeit, die vorgegebene Schnittstelle eines jeden Textbruchstücks, die unterschiedlichste Anschlussmöglichkeiten für nachfolgende Textabschnitte ebenso wie für Datenbankabfragen bereithält. Die digitale Datenbank ist die unabdingbare Organisationsstruktur, das flüchtige Durchgangsstadium für Buchstabenmengen, durch das sich die Literatur im Status der Digitalität konfiguriert. (Krajewski 2001, 145)

Ein Modell für eine solche Digitalisierung des Echolots kann die Ausgabe der Schriften von Karl Kraus (herausgegeben von Christian Wagenknecht) (vgl. Kraus 2007) sein, die gedruckt im Suhrkamp Verlag erschienen ist. Die digitale Fassung gibt den Text und die Abbildungen der Druckausgaben wieder und enthält eine wortgenaue Seitenkonkordanz. Das technische Verfahren wird so beschrieben: Die Werke von Karl Kraus wurden zur schnellen Übersicht in einer Datenbank zusammengefasst, die sich unter dem Menüpunkt ‚Tabellen‘ befindet. Die Tabelleneinträge sind mit den Textseiten verknüpft, sodass die Textseite zum Werk wechselt, wenn man in der Tabelle einen Eintrag auswählt. Der gesamte Werkbestand lässt

2.4  Das Echolot und andere Kollektivtexte115 sich nach Titel, Gattung und Erscheinungsjahr durch Klicken auf den jeweiligen Spaltennamen sortieren. Wenn ein Text von Karl Kraus in der Zeitschrift ‚Die Fackel‘ veröffentlicht wurde, findet sich in der Spalte ‚Nachweis‘ die jeweilige Nummer und Seitenangabe verzeichnet. (Kraus 2007, 3)

Gleichfalls digitalisiert liegt der Fotomechanische Nachdruck der Fackel von Karl Kraus vor, die von 1968 bis 1976 gedruckt erschien (vgl. Kraus 1968– 1976). Die Digitalisierung erlaubt es über die Funktionen der Edition der Schriften hinaus auch, das vollständige Faksimile der Fackel mit den in einer Datenbank abgelegten Texten zu verknüpfen. Die Datenbank ermöglicht es, den gesamten Datenbestand nach Autoren, Titeln, Fackel-Nummern, Jahrgängen und Datierungen sortieren zu lassen. Auf diese Weise lassen sich beispielsweise alle aufgenommenen Werke eines Autors untereinander anzeigen oder alle Beiträge chronologisch anordnen. Über die Auswahl „Tabelle filtern“ im Kontextmenü der rechten Maustaste können die Tabelleneinträge nach bestimmten Inhalten durchsucht werden. (Kraus 2002, S. 451.)

Zu nennen sind als mögliche Orientierungen für eine Digitalisierung des Echolots noch die Online-Ausgabe der Fackel (vgl. Kraus o.  J.) sowie – als offenbar schlechtes Beispiel – die Digitalisierung auf CD-ROM, die 2002 erschien und später auch von der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft vertrieben wurde (vgl. Kraus 2002; sowie dazu die umfassende Kritik von Weigel 2007). Von der digitalen Musil-Ausgabe gibt es seit 2013 eine verbesserte zweite Ausgabe. Dies mag die Möglichkeiten einer Digitalisierung des Echolots anzeigen, aber auch die dringende Notwendigkeit einer solchen Edition deutlich machen. 4.2 „Zermischung“ Schon sehr früh während der zwölfjährigen Arbeit am Echolot, die 1988 begonnen hatte, vermerkt Kempowski am 31. Mai 1991: In der Nacht habe ich noch drei Themen für den Foto-Zeitsprung angerissen, das fast Automatische der Ideenankunft und -realisation langweilt mich. Ein wirklich großer Gedanke fehlt. Alles ist noch auf dem ‚Niveau du Barbier‘ angesiedelt. Man müßte, wenn alles fertig ist, die ganze Geschichte durch den Reißwolf jagen, der nach ständig wechselnden Prinzipien die einzelnen Sätze austauschen würde. Das Ganze wäre dann zwar unlesbar, käme dem jedoch, was ich beabsichtige, näher. (Kempowski 2005a, 173, Hervorhebung von Czucka)

Was auf den ersten Blick nur wie eine totale Destruktion aussieht, steht bei näherer Betrachtung im Kontrast zu dem Fehlen des ‚großen Gedankens‘. Die Tätigkeit des Reißwolfs steht dem ‚Automatischen der Ideenankunft und -realisation‘ gegenüber. Das Ergebnis der Zerlegungsaktion ‚unlesbar‘ unterscheidet sich aber in nichts grundsätzlich von der erwarteten Rezeption für das fertige Werk: Ebel ist der Meinung, niemand könne das Echolot durchlesen. Das ist natürlich eine deprimierende Einschätzung (vgl. Kempowski 2005a, 347).

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Diese Vermutung wurde auch verschiedentlich in Rezensionen geäußert. Dagegen wappnete sich Kempowski schon früh: „Wenn’s keiner ganz liest, das ist doch nicht schlimm. Beim gelegentlichen Hineinschauen wird immer das Ganze sichtbar“ (Kempowski 2005a, 298). Und: „Warum schreib ich das alles auf? Weil es keinen Menschen interessiert“ (Kempowski 2005a, 305). Gleichwohl erwartete Kempowski Reaktionen und registrierte deren Ausbleiben: „Wenn sie wüßte, wie sehr ich danach giere, etwas ‚zurückzubekommen‘. Ein Echo des Echolots. […] – Meine erste Leserin läßt mich ziemlich hängen“ (Kempowski 2005a, 267). Doch sieht er auch, dass der Gegenstand des Echolots sowie dessen Darstellung spezifische Rezeptionsbehinderungen aufbauen, und gibt einen ersten, aber umso nachdrücklicheren Hinweis auf die Selbstreferenzialität des Werks: „Ich möchte zum ‚Echolot‘ eine Musik komponieren, auf Endlosband. Sie würde das Raunen der Vielen, das in seiner Summe immer gleich ist, durch ein Immergleiches einschienen. Das ‚Echolot‘ ist sein eigenes Echo“ (Kempowski 2005a, 279, Hervorhebung von Czucka). Die Idee des ‚Reißwolfes‘ geht auf eine Erfahrung zurück, die Kempowski 1992 mit einer von ihm sogenannten Computer-Zermischung der ersten Seite des Tadellöser & Wolff (vgl. Kempowski 1971a) machte und die ihn zu der Überlegung führt: Man „müßte es [auch] mit dem ‚Echolot‘ versuchen“ (Kempowski 2005a, 232–233). Dies schließt an eine frühere Erfahrung mit einer ‚Zermischung‘ eines anderen seiner Texte an, der Konkordanz zur Deutschen Chronik (vgl. Kempowski 1994d). Am 21. April 1993 notiert er: Mir kam die Idee, die Konkordanz zur ‚Deutschen Chronik‘ abzuschreiben. Bisher ist sie noch nie ‚gelesen‘ worden. Aus den jeweiligen Zeilen, aufeinanderfolgend, sind leicht Sätze oder besser, Aussagen, zu formulieren. Da die Konkordanz den Büchern folgt, gibt das den Abschriften eine deutliche Struktur einer historischen Abfolge. Was entsteht, ist ein Konzentrat der ‚Chronik‘, also gerade das, was ich haben wollte. Gefängniszeit mischt sich mit Kaiserzeit, Krieg und Nachkrieg. Ich las Hildegard ein Stück vor, und sie sagte: ‚Das hört sich an wie ein Gedicht.‘ Ich werde diesen Text morgen probeweise neben einige Seiten des ‚Echolot‘ stellen. Linke Spalte dann den Zeitungsfotos von heute vorbehalten. Es wird nicht klappen. (Kempowski 2005a, 305)

Mit der Herstellung solcher erweiterter word processings setzte Kempowski sich sehr konkret, an Verfahren orientiert und zielgerichtet, auseinander: Die ‚vierte Qualität‘ hat sich leider nicht verwirklichen lassen, die ‚Sprechspur‘, eine Parallele zum Text durch meine eigenen Tagebücher. Wahrscheinlich wäre die Lösung am besten gewesen, die ‚Deutsche Chronik‘ von einem Computer sätzeweise (von Punkt zu Punkt) zu zerschlagen und zu vermischen und die dann nebenher laufen zu lassen.* Aber: warum einfach, wenn es schwierig geht? *Neuerdings mit einem neuen Projekt ‚Allzeit‘ wieder aufgegriffen; es handelt sich um die computergestützte Neuanordnung von Sätzen aus den Romanen der ‚Deutschen Chronik‘ nach dem Zufallsprinzip. (Kempowski 2005a, 304)

2.4  Das Echolot und andere Kollektivtexte117

Doch hält sich in Kempowskis Überlegungen ein destruktiver Grundzug gegenüber dem eigenen Werk in Verbindung mit einer gewissen, nicht zu übersehenden Gleichgültigkeit durch: „Ich hätte die Jahre auch mixen können, einfach sagen: Zeitsprung. […] Die ‚Chronik‘ in durchgekautem Zustand – das ist es. Da läuft einer neben dem Radfahrer her und ruft ihm was zu“ (Kempowski 2005a, 319–320). Die Verbindung von gigantischem Opus  – „13.  5. 1993 Hildegard meint, ich hätte die Gigantomanie. Da ist was dran“ (Kempowski 2005a, 311) –, der Nichtigkeit des dargestellten ‚Gemurmels‘ und der Vollendung der Darstellung zu einem Gesamtwerk – Kempowski nennt das Echolot die „Versorgungsleitun[g]“ (Kempowski 2005a, 312) – schließen an Kempowskis Reflexionen an seine beruflichen Anfänge an: Erst jetzt, nachdem ‚alles‘ fertig ist, habe ich die Idee, in der ‚Allzeit‘ eine absurde Eindickung zu brauen. Logisch wäre es, die jeweils ungraden Nummern dieses Gebildes aus einer Eindickung der ‚Chronik‘ vorzunehmen. Damit wäre dann die Harmonie hergestellt. Ich werde von Timmer nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung Seiten festlegen lassen aus dem ‚Echo‘, aus denen ich dann mit dem Würfel Zeilen auswähle. Nicht Wahrscheinlichkeit, sondern dieses Kontrollprinzip, das an Werkstoren praktiziert wird. Vielleicht ist das alles auch nur der Schulmeister, der seinen Tafeltext überwischt. (Kempowski 2005a, 312, Hervorhebung von Czucka)

4.3  Walter Kempowski über das Echolot „[…] ‚Echolot‘ (ich verspreche mich dauernd, sag immer ‚Episkop‘).“ (Kempowski 2005a, 132, 135) „Dies ‚Echolot‘ ist eine ziemlich fragwürdige Sache. Alle werden sagen: Das hätte er man lieber lassen sollen. Oder: Das hätten die Historiker besser gemacht. Hätten sie eben nicht! Die kommen dann mit Anmerkungen und Quellen und Verweisen. Wir wollen ein besseres Buch ‚machen‘ (muß man hier schon sagen).“ (Kempowski 2005a, 145) „20. 12. 1991 Die Zurichtung der ‚Echolot‘-Texte hat etwas von einem Dominospiel an sich.“ (Kempowski 2005a, 192) „Das ‚Echolot‘ als Kreisabschnitt (Sehne).“ (Kempowski 2005a, 230) „19. 10. 1992 ‚Echolot‘: Die träge Rotation der Erdkugel.“ (Kempowski 2005a, 235) „24. 10. 1992 […] ‚Echolot‘, das ist die Kurskorrektur, die uns der Wahrheit ein Stück näherbringt.“ (Kempowski 2005a, 235) „24. 10. 1992 […] In ‚Echolot 1945‘ rollt die Kugel in ihr Loch.“ (Kempowski 2005a, 235)

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„Das ‚Echolot‘ kann auch als Bahn über eine Scheibe gesehen werden. Es liegt über dem Umfeld, ohne das es nicht gesehen werden kann. Wie ein Laserstrahl durch eine Schneeflockenlandschaft.“ (Kempowski 2005a, 253) „Natürlich könnte ich mich mit ‚Echolot ’43‘ noch Jahre beschäftigen. Aber diese Jahre habe ich nicht mehr. In der Mondphasenuhr der Weltgeschichte wandert die Nazizeit ab ins Dunkel. Da gleißt anderes auf. Soll denn Stalingrad zum nostalgischen Refugium werden? – Wir müssen das jetzt anstoßen. Einen Monat noch durchhalten.“ (Kempowski 2005a, 273) „[Klaus Barbie-Film von Ophüls] Ein ähnliches Monstrum wie das ‚Echolot‘. Ein Unding.“ (Kempowski 2005a, 209) „Ich sah im Fernsehen einen Bericht über Channel 4, die Sensibilität dieser Leute – was ist dagegen mein Monstrum?“ (Kempowski 2005a, 319) „[…] meine Gedanken nicht im Griff: Übersicht verloren, total. Das ‚Echolot‘-Monstrum (Hochhaus) mit Tiefgarage.“ (Kempowski 2005a, 293) „[…] Gegenüber E 45 fahre ich mit E 43 auf einer Schmalspurbahn, immer geradeaus. Das Prinzip der Collage geht über ‚da nach links, da nach rechts!‘ nicht hinaus. Die Unfähigkeit, die ‚Sprechspur‘ durchzusetzen: damit ist das Werk mißglückt oder (das wäre die Rettung) man dreht es später durch die ‚Zöpfe‘ und E 45 ‚um‘. Die Ebene, die man durchmißt, um sich der Stadt zu nähern.“ (Kempowski 2005a, 293) „Das ‚Echolot‘ reißt mich hin und her. Mal denke ich: Was soll’s, eine Anthologie, weiter nichts. Dann sehe ich das feine Gespinst, die Fülle, den Reichtum.“ (Kempowski 2005a, 295) „2. 6. 1993. Es ist keine Anthologie, da wären Streichungen bedenkenswert, es ist eine Inszenierung, ohne Eingriffe des Regisseurs nicht zu verwirklichen. Unterschied zur Anthologie: Die Autoren kommen ja immer wieder vor, und ich streiche ja nicht nur bei den Prominenten. Syberberg in seinem Hitlerfilm, der hat’s doch auch von überallher genommen, ohne jedesmal eine Quelle anzugeben. Ich machte heute früh Bittel den Unterschied zwischen Anthologie und ‚Echo‘ klar. Das ‚Echolot‘ – man möchte doch auch mal gelobt werden.“ (Kempowski 2005a, 322) „27. 3. 1993. Natürlich könnte ich das ‚Echolot‘ ‚ausholzen‘, etwa ein Drittel herausstreichen, aber darunter würde das Geflecht leiden. Man muß das Echolot mehr als Enzyklopädie sehen. Wenn’s keiner ganz liest, das ist doch nicht schlimm. Beim gelegentlichen Hineinschauen wird immer das Ganze sichtbar, eben der ‚Teppich‘. Ausdünnen geht nicht. Grade das scheinbar Entbehrliche gibt dem Ganzen die Fasson. Ich kann mir schon denken, wie die Kritiker damit umgehen, sie werden die Bonbons zitieren. […] Vielleicht hat Hage recht? – Die nichtssagenden Texte sind die aussagekräftigsten. Das Nichts aussagend.“ (Kempowski 2005a, 298)

2.4  Das Echolot und andere Kollektivtexte119 „Wie oft habe ich all die Fotos in der Hand gehabt, ehe ich kapierte, wozu ich sie sammelte. Das waren lebendige Menschen. Das kommt wie ein Algenteppich angeschwommen.“ (Kempowski 2005a, 345) „Das Fragmentarische wird vielleicht zur Tugend erklärt, wenn sie sehen, was ich da alles angeschleppt habe.“ (Kempowski 2005a, 300) „Trotz des enormen Umfangs ist hier etwas Kleinzelliges, Miniaturhaftes entstanden, es ist ein Weltall voll belebter Sterne auf schwarzem Hintergrund.“ (Kempowski 2005a, 306) „Vielleicht ist das alles auch nur der Schulmeister, der seinen Tafeltext überwischt.“ (Kempowski 2005a, 312) „In der Nacht las ich noch ein wenig im ‚Echo‘ (30. Januar). Das ist eine erstaunlich reichhaltige Sammlung, etwas ungeschlacht, man hätte es eleganter machen können, aber das zu tun widerstrebte mir. Die Schicksale der Menschen sind nicht elegant. Die Göring-Rede zum 30. Januar. – Du lieber Gott! Die Themen der einzelnen Tage wechseln unmerklich, das dreht sich wie die Weltkugel.“ (Kempowski 2005a, 315) „Ich habe draußen zwei Tage gelesen und war zunächst hingerissen von der Fülle und der Farbigkeit sowie der Dramatik, dieser langsam sich drehende Geschehensglobus.  […] Die ‚Chronik‘ in durchgekautem Zustand das ist es. Da läuft einer neben dem Radfahrer her und ruft ihm was zu. Man kann nicht behaupten, ich hätte nicht Kurs gehalten. Ich weiß bloß nicht so recht, warum ich das alles so gemacht habe. Es hat sich halt so ergeben. Ich habe das Material gefunden, gesucht und gefunden, es lag wie Koks, Eierbriketts und Steinkohle nebeneinander. Ich hab’s gemischt. Aber hab ich es auch entzündet? Tut das nicht der Leser? In den Sand, der aus Millionen Körnchen besteht, sind Zeichen geritzt. Die See wäscht sie fort.“ (Kempowski 2005a, 319  f.) „Ich stehe jetzt wieder mit der Gießkanne am leeren Schwimmbecken. Daß ich das ‚Echo ’45‘ vollenden werde, steht außer Zweifel. Alles muß jetzt darauf konzentriert werden. Es ist auch eine Versöhnung der Oral History mit der sogenannten ‚offiziellen‘ oder ‚wissenschaftlichen‘ Geschichte.“ (Kempowski 2005a, 354) „Ich habe übrigens den Eindruck, daß sich das Manuskript trotz aller Zusätze ‚verschlankt‘ hat.  […] Mich freut die zielgerichtete Organisation des ‚Echo‘, die ganz genau, auf den Tag, sich konzentriert. Interessant auch in mir, mein Wille, es so durchzusetzen, wie ich mir’s gedacht hatte. Karten und Übersichten wollen wir nicht. Wie heißt es? Wir lassen die Seele sprechen.“ (Kempowski 2005a, 287) „19. 2. 1993. Ich möchte zum ‚Echolot‘ eine Musik komponieren, auf Endlosband. Sie würde das Raunen der Vielen, das in seiner Summe immer gleich ist, durch ein Immergleiches einschienen. Das ‚Echolot‘ ist sein eigenes Echo.“ (Kempowski 2005a, 279)

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2.4.2  Der rote Hahn. Dresden im Februar 1945 Daniel Gilfillan 1 Inhaltsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 2 Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121

1 Inhaltsüberblick Walter Kempowskis im Jahre 2001 erschienener Band Der rote Hahn. Dresden im Februar 1945 (vgl. Kempowski 2001a) ist Teil des Echolots, ein umfangreiches Archivierungsunterfangen, das eine Vielzahl an Textquellen zusammenführt, um eine interstitielle Serie von sich überschneidenden Zeitgeschichten zu schaffen, die wichtige Ereignisse und Zeiträume der nationalsozialistischen Geschichte Deutschlands festhalten soll. Was Der rote Hahn von den anderen vier Bänden der Echolot-Serie unterscheidet, ist sein gründlicherer Blick auf die Ereignisse, die zur Bombardierung der Stadt Dresden von Dienstag, 13. Februar, bis Donnerstag, 15. Februar 1945, führten und auf diesen Zeitraum folgten. Im Vorwort zu diesem Band weist Kempowski sogar ganz klar auf die Verbindung zwischen den Ereignissen in Dresden und dem Material hin, das die Wintermonate von Mitte Januar bis Mitte Februar 1945 nachzeichnet und den zweiten Teil des Echolot aus dem Jahr 1999 darstellt: In meiner letzten Publikation, dem ‚Echolot 1945‘, der ‚Fuga furiosa‘, habe ich bereits alles erreichbare Material über die schrecklichen Ereignisse vom Februar 1945 ausgebreitet. Ich stellte es in einen größeren Zusammenhang und versuchte damit deutlich zu machen, was mit dem Satz ‚Wer Wind sät, wird Sturm ernten‘ gemeint ist. Und nun noch einmal Dresden? (Kempowski 2001a, 5)

Die Frage, die Kempowski hier stellt, weist in Richtung zweier verschiedener, jedoch eng miteinander verbundener Fragestellungen: erstens in Richtung der allumfassenden und sich stets verändernden Rolle des Kontextuellen, das Kempowskis Arbeitsweise als Chronist durch die Echolot-Bände begleitet und lenkt, und zweitens in Richtung einer präziseren und feiner eingestellten Linse, die er verwendet, um sein Material für Der rote Hahn zu sammeln. Indem er versucht, eine Antwort darauf zu geben, ob ein weiteres Buch, das sich Dresden widmet, notwendig ist, bietet Kempowski ein fesselndes Beispiel der kontextuellen und bedingten Natur von Geschichte. Gleichzeitig gelingt es ihm, die Erinnerungspolitik und die Opferkultur der Nachwendezeit deutlich hervorzuheben. Er verbindet seine Sachkenntnis als gewandter Archivar, das günstigere kreative Klima, das ein geschichtlicher Rückblick ermöglicht, und das Potenzial eines Kulturtopographen miteinander und begibt sich dadurch auf einen raumzeitlichen Kurs durch die vielfältige Landschaft, die die persönlichen, historischen, politischen und militärischen Diskurse, die die Luftangriffe auf Dresden kennzeichnen, umfasst. Wie auch die anderen Teile des Echolot-Pro-

2.4  Das Echolot und andere Kollektivtexte121

jekts besteht Der rote Hahn aus einer scheinbar chaotischen Montage von Exzerpten persönlicher Tagebücher, Briefen, taktischen Ansagen und Militärberichten, wie auch von Texten, die zum Gedenken an die Angriffe an Jahrestagen verfasst wurden – eine Mischung von politisierten offiziellen Versionen und Augenzeugenberichten. Aus dem scheinbaren Chaos entstehen Muster, die sich aus der Struktur des Aufbaus ergeben, die die Platzierung der Textausschnitte bestimmt. Die Platzierung richtet sich nach der Tageszeit, auf die die Quellen sich beziehen. Während es sich bei einem großen Teil des Materials dieses Bandes um wiederverwendete Texte aus dem Band Echolot 1945: Fuga furiosa (vgl. Kempowski 1999d) handelt, kann Kempowski durch die verfeinerte Reichweite von Der rote Hahn die Zahl und Art der Quellen erweitern, die er einbringen kann, um die vielfältige politische und menschliche Natur dieses Ereignisses zu erfassen. Der teleskopartige Effekt dieser Arbeitsweise vereint die hochgradig und unerträglich persönlichen Details jener, die im Feuersturm gefangen waren und überlebten. Gleichzeitig aber werden diese Details sowohl im größeren historischen Kontext der Stadt Dresden, das als Mekka für kulturelles, intellektuelles und künstlerisches Streben steht, als auch im breiten militärischen und politischen Kontext des Zweiten Weltkriegs platziert. Indem Kempowski im Montagestil arbeitet und die Textexzerpte vertikal entlang der genauen historischen Zeitpunkte und horizontal anhand der persönlichen, augenblicksbezogenen Erlebnisse positioniert, sind Der rote Hahn und die anderen Bände des Echolot-Projekts derart fesselnd für den Leser. Dadurch, dass der Handlungsstrang der Texte auf diese Weise angelegt ist, beginnt der Leser, die Relevanz der Momente aus dem Jahre 1945 in der längeren geschichtlichen Zeitschiene zu suchen, die den Raum und Ort Dresden ausmachen. Gleichzeitig wird die Aufmerksamkeit aber auch auf die Vergänglichkeit derselben Geschichte gelenkt. 2 Analyse Die kritische Evaluierung von Kempowskis Der rote Hahn in der Sekundärliteratur beschäftigt sich vorwiegend – und das zu Recht – mit anderen deutschen Erzählungen, die sich auf den Luftkrieg über Deutschland gegen Ende des Zweiten Weltkriegs konzentrieren. Dieses Vorgehen widmet sich den Facetten der Debatte über die Deutschen als Opfer, derer sich Autoren wie W. G. Sebald und Günter Grass angenommen haben, und versucht, die Launen eines Krieges zu verstehen, und zwar auf nuanciertere Weise mehr in Bezug auf das allgemeine menschliche Leiden als in einem schablonenhaften, ideologischen Freund-Feind-Jargon (vgl. Sebald 1999; u. Grass 2002). An dieser Stelle müssen Stefan Jaegers Aufsatz „Infinite Closures: Narrative(s) of Bombing in Historiography and Literature on the Borderline between Fact and Fiction“ (2006) und Raul Calzonis Abhandlung „Chasms of Silence: The Luftkrieg in German Literature from a Reunification Perspective“ (2009) erwähnt werden. Jaeger untersucht Kempowskis Buch im Kontext von drei weiteren Erzäh-

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lungen über die Bombardierung deutscher Städte während des Kriegs – zwei Historiographien (Jörg Friedrichs Der Brand von 2002 und Sven Lindqvists A History of Bombing aus dem Jahr 2001) und dem Roman Spione von Marcel Beyer (2000). Zentraler Punkt dieser Untersuchung war die Frage, ob Erzählungen über den Luftkrieg ein geschichtliches und historiographisches Verlangen nach einem Abschluss stillen können oder nicht. Er schreibt: „[T]he air war is de-materialized and de-localized; it consists of gaps, blind spots, and ambiguities. No narrative can describe the losses and the blind spots in the psyches of the war victims and the difference in the experience of the bombed cities after the bombing.“ (Jaeger 2006, 68) Für Jaeger bieten Kempowskis Der rote Hahn und die Werke von Friedrich, Lindqvist und Beyer keine Lösung für dieses Verlangen nach Abschluss, sondern offerieren vielmehr eine Reihe von experimentellen Erzählmöglichkeiten „to deal with the necessary tension between openness and closure“ (Jaeger 2006, 68). Dies wird hervorgerufen durch die sich ändernden Perspektiven und mehrfachen Wissenslücken, die durch die angemessene Darstellung der Ereignisse und der Erfahrungen eines Luftkriegs entstehen. In seiner Auseinandersetzung mit Kempowskis Text nähert sich Jaeger dem entscheidenden Punkt einer textlichen/archivarischen Dokumentation: dem Wunsch, zu verstehen, „how a historical text can overcome the impossibility of an epic narrative through montage and fragmentation“ (Jaeger 2006, 75). Indem er Kempowskis Montage- und Zersplitterungstechnik beleuchtet, betont Jaeger auch, wie Kempowski chronologische und synchronische Zeit dazu benutzt und vermischt, um die Möglichkeit eines Abschlusses zu finden, um zu erschüttern und um zu erschaffen, was er als „a new textual world“ (Jaeger 2006, 76) bezeichnet: Without his explicitly stated structures and narrative trajectories, his blending of different time levels, and his fragmentation, his book would remain a collection of sources. Without assuming an overall perspective, the reader obtains the material and is forced to perceive textual gaps to establish a perspective of his or her own. These gaps created by Kempowski’s narrative technique reflect upon the historical gaps, which occur because the air war can never be fully explained or understood in retrospect. (Jaeger 2006, 76)

Jaegers Einblicke sind breit rezipiert worden und weisen auf die Bedeutung von Kempowskis experimenteller Erzählstruktur hin, um die multi-perspektivische Natur der Luftkriegserfahrung aufzuzeichnen und sich gleichzeitig in das Gedächtnis der Leser zu brennen. Er will damit erreichen, dass sich die Leser herausgefordert fühlen, jenseits der Grenzen einer objektiveren Auffassung von Geschichte zu blicken. Raul Calzoni analysiert Kempowskis Band ebenfalls in einem breiteren Kontext. Die Beziehung zwischen Kempowski und Sebald wird von Calzoni auch im Detail in seinem Einzelwerk Walter Kempowski, W. G. Sebald e i tabù della memoria collettiva tedesca, das 2005 in Italien erschienen ist, betrachtet. Das organisatorische Prinzip für Calzonis Studie aus dem Jahr 2009 entsteht im Zusammenspiel mit Sebalds Kritik aus dem Jahr 1999, die sich mit der

2.4  Das Echolot und andere Kollektivtexte123

deutschen Nachkriegsliteratur beschäftigt und deren angeblichen Vermeiden, sich mit den Alliiertenangriffen auf deutsche Städte auseinanderzusetzen. Dies wiederum entfachte ein Interesse der Nachwendezeit an Facetten der deutschen Geschichte, die bis dahin im kollektiven und kulturellen Gedächtnis unbeachtet geblieben waren. Calzoni untersucht, basierend auf Sebalds Kritik, neun weitere Autoren, die sich mit dem Thema der Luftangriffe auf deutsche Städte beschäftigen. Die Untersuchung umfasst eine Zeitspanne, die von Gerd Ledigs Roman Vergeltung von 1956 bis zu der von Kempowski herausgegebenen Darstellung Die Feuerreiter, die die Erinnerungen des amerikanischen Piloten Ray Matheny nach seinem Absturz nach einem Angriff auf Kiel wiedergibt, ins Jahr 1988 reicht (vgl. Ledig 1999; u. Matheny 1988). Calzonis Untersuchung fokussiert Sebalds Analyse von Erich Nossack, Alexander Kluge, Heinrich Böll und Hubert Fichte und weist in diesen Texten Aspekte einer lebhaften Auseinandersetzung mit der deutschen Erfahrung von Leid während des Krieges nach. Die detaillierte Lektüre dieser zusätzlichen Texte stellt nicht nur Sebalds Argument, dass es in der deutschen Nachkriegsliteratur an einer kontinuierlichen Repräsentation des deutschen Leids während der Luftangriffe fehlt, in Frage, sondern weist auch auf die Relevanz hin, diese Fragestellung aus dem Blickwinkel der Nachwendezeit erneut zu untersuchen. Indem er intensiv auf den Wunsch nach Wiedervereinigung eingeht, um genauer und effektiver die deutsche Vergangenheit durchzuarbeiten, die gleichzeitig für die Momente deutschen Leidens steht, lenkt Calzoni den Blick auf das, was als nächste Stufe eines ausdrücklich deutschen Konzepts einer Vergangenheitsbewältigung gelten könnte. Kempowski erscheint bei Calzoni als Autor, der den ideologischen und ästhetischen Wechsel von einer geteilten deutschen Nation zum vereinten Deutschland überbrückt, indem er seine Art der Darstellung der Luftangriffe einer deutlichen Veränderung zugunsten des Publikums der Nachwendezeit unterzieht. Hier zitiert Calzoni Kempowskis neunbändige, stark autobiographische Serie Die deutsche Chronik (veröffentlicht zwischen 1971 und 1984) als Überlegungen zu einer ironischeren und naiveren Auseinandersetzung mit der Kriegsvergangenheit. Dieser Stil steht für eine Herangehensweise, wie sie vor 1990 typisch war, während Kempowskis Echolot-Sammlung, einschließlich Der rote Hahn, sich einen objektiveren Reportagestil aneignet, den Calzoni besonders mit den Ansätzen Helmut Heissenbüttels (vgl. Heissenbüttel 1970) und seiner Arbeit mit dokumentarischen Romanen verbindet. Walter Benjamin zitierend, schreibt Calzoni: The literary representation of the Second World War provided by Kempowski with the ‚Echolot-project‘ lays the foundation of the cognitive process of history, that prismatic perspective of the past which, as Walter Benjamin suggested, makes it possible to reconstruct ‚in the analysis of the single fleeting moment a crystal of the whole event‘ (Calzoni 2009, 271, Hervorhebung im Original; vgl. auch Benjamin 1982a).

Kempowskis Sammlung von Tagebüchern, Briefen, Fotographien und archivarischem Material, aus dem die Echolot-Serie besteht, stellt für Calzoni eine

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mehrwertige Antwort auf den Wunsch der Nachwendezeit dar, die Frage nach dem deutschen Leiden während des Zweiten Weltkriegs gründlicher zu untersuchen. Wenn die kritische Evaluierung von Der rote Hahn. Dresden im Februar 1945 auch etwas dünn erscheinen mag, so veranschaulichen sowohl Jaeger als auch Calzoni die Wichtigkeit dieses Werks im Hinblick darauf, ein größeres Verständnis für die Debatte zu gewinnen, die sich um Sebalds Kritik der deutschen Nachkriegsliteratur und seiner Darstellung des deutschen Kriegsleids, besonders im Zusammenhang mit den alliierten Angriffen auf deutsche Städte, entwickelt hatte. Der rote Hahn dient als faszinierendes Beispiel für die Art von dokumentarischer Herangehensweise, die nötig ist, um die deutsche Nachkriegsliteratur ins Gleichgewicht zu bringen, die zögerte, die Deutschen auch als Opfer anzuerkennen. Gleichzeitig aber lenkt Der rote Hahn die Aufmerksamkeit auch auf den Wert und Nutzen, den Leser herauszufordern, sich mit der Komplexität der Wechselbeziehungen, die sich durch genau diese Fragestellung ergeben, auseinanderzusetzen.

2.4.3  Plankton. Ein kollektives Gedächtnis Carla Damiano 1 Inhaltsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 2 Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128

1 Inhaltsüberblick Walter Kempowskis Rolle als außergewöhnlicher Sammler, Archivar und Retter der deutschen Stimmen ist schon oft anerkannt worden. Man weiß inzwischen, dass er die Geschichten der Deutschen gesammelt und aufbewahrt hat mit dem Ziel, sie ihnen wiederzugeben. Das in mehrfacher Hinsicht Merkwürdige an seiner über Jahre hinweg zusammengetragenen Sammlung ist aber, dass sie viele stories enthält, die von ihren Besitzern ‚weggeworfen‘ worden waren, die also die deutsche Bevölkerung gar nicht mehr hatte hören wollen. Die Geschichten wären ohne die Aufnahme in die Sammlung nie ernst- oder auch nur wahrgenommen worden, es sei denn, man wäre selbst der intendierte Adressat gewesen. Kempowski war immer ein bereitwilliger Empfänger vieler solcher Geschichten, er hat sie erbeten und gesammelt, wann und wo immer er konnte. Gemeinsam formen die von ihm zusammengetragenen Geschichten ein Gesamtbild, ein kollektives Gedächtnis, dessen Ganzes mehr ist als die Summe seiner Einzelteile. Es stellt sich jedoch auch heraus, dass es oft die kleinsten, manchmal auch die zunächst unwichtig erscheinenden Erzählschnipsel der Sammlung sind, die die Keimzellen für Kempowskis literarische Texte bilden. Plankton. Ein kollektives Gedächtnis (vgl. Kempowski 2014) präsentiert genau solche Mini-

2.4  Das Echolot und andere Kollektivtexte125

Storys. Das Werk wurde 2014 posthum von Walter Kempowskis langjähriger Mitarbeiterin Simone Neteler herausgegeben. Es ist das Ergebnis der Sammelarbeit von kleinen Äußerungen, die bis auf die 1950er Jahre zurückgehen. Mit Kempowskis eigenen Worten gesprochen, sind sie „Belanglosigkeiten im Sinne der modernen Menschheit. Aber voll Gemüt und Blut und Leben.“ (Kempowski 2001b, 105) Plankton verbindet in Kempowskis Werk Vergangenes mit Gegenwärtigem und manche Themen sind sogar zeitlos. In der 2006 gehaltenen „Dankrede anlässlich der Entgegennahme des Hoffmann-von-Fallersleben-Preises“ legte Kempowski damals schon dar, inwiefern sein Gebrauch des Wortes „Plankton“ auf seine literarischen Motive hinweist. Von der Lexikondefinition ausgehend, verknüpft er die ‚Schöpfung‘ der kleinen Organismen mit der literarischen Schöpfung: ‚Plankton‘ leitet sich ab vom griechischen ‚planktos‘ = ‚umherirrend‘, und definiert sich laut Lexikon als ‚Lebensgemeinschaft im Wasser frei lebender Tiere, Pflanzen und Mikroorganismen, die infolge geringer oder fehlender Eigenbewegung von Strömungen fortgeführt werden können‘. – ‚Plankton‘ – so weiter das Lexikon – ‚dient als Sauerstofflieferant und als Nahrung.‘ (Kempowski 2006k, 3)

Diese biologische Definition impliziert zwar zunächst die Passivität des Objekts, verweist aber gleichzeitig auf etwas neu Entstehendes, auf Schöpfung eben. Um im Bild zu bleiben, könnte man hinzufügen, dass diese kleinen Organismen genau wie die kleinen Geschichten Kempowskis sowohl auf Immer-DaGewesenes als auch auf Neuentstehendes hindeuten. Sie sind für Kempowski sowohl biologisch als auch literarisch das Wesentliche, die treibende Kraft, aus der seine Literatur wächst, um dann mit vielem Anderen verbunden zu werden. Die in rötliches Leinen gebundene Erstausgabe von Plankton gehört ganz offensichtlich in die Reihe der ebenfalls roten Echolot-Bände. Das Wort „kollektiv“ im Untertitel, das auf die Vielfältigkeit der Stimmen in dem Werk hindeutet, verbindet es ebenfalls inhaltlich mit dem Echolot. ‚Plankton‘ in Kempowskis Verständnis bedeutet „Erinnerungskristalle“ (Kempowski 2006k, 3), die er zum Anfang seiner Haftzeit im Bautzener Gefängnis in den 1950er Jahren zu sammeln begonnen hatte: In Bautzen also nahm meine rege Sammlertätigkeit […] ihren Anfang. Ich begann mit dem Einsammeln von Schicksalen, dem Belauschen von Gesprächen. Es kristallisierte sich die literarische Form heraus, die mich bis heute beschäftigt. Wie soll ich sie bezeichnen? Zunächst kam ich auf den Begriff des ‚View‘ und dann schließlich auf den des ‚Plankton‘. (Kempowski 2006k, 3)

Kempowski hat immer gelauscht – ob über den Zaun, unterwegs im Zug, auf den Straßen, auf Reisen, bei Literaturseminaren oder bei Besuchen – und fing dann auch mit der aktiven Befragung aller möglichen Menschen an, darunter auch viele, denen er nur zufällig begegnete. Er „horchte [sie] nach Plankton aus und ergatterte einige Kostbarkeiten“ (Kempowski 2001b, 387), oder, wie er es auch immer wieder gern formulierte, er habe „nach Plankton gefischt“ (Kempowski 2001b, 216). Seine Fragen waren nicht beliebig, sondern gingen

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auf bestimmte Themen ein. Die in Plankton beim ersten Hinschauen eher belanglos erscheinenden Antworten handeln z.  B. von Erinnerungen an den ersten Schultag, von Lieblingsschlagern, von einer Reiseerinnerung, vom Essen, von einem Gedicht, von dem, was man als Glück bezeichnen würde, oder aber von einem Gegenstand wie einem Möbelstück oder einer Brücke. Dazwischen wird, wie in anderen Werken, auch von Grausamkeiten berichtet, z.  B. von Konzentrationslagern, und vom Ersten und Zweiten Weltkrieg, vom Mauerfall oder ob man Hitler persönlich gesehen habe. Die Anordnung der Antworten in Plankton scheint tatsächlich beliebig zu sein, denn es gibt keine Gruppierung nach Themen wie in den Befragungsbänden, keine Daten oder chronologische Reihenfolge wie im Echolot und auch überhaupt keine Sequenzierung. Die Reihenfolge unterliegt vielmehr dem Zufallsprinzip. Die Erzähler bleiben manchmal namenlos und es werden von ihnen lediglich  – wie in den Befragungsbänden – Beruf und Geburtsdatum mitgeteilt, soweit diese Informationen Kempowski zur Verfügung standen. Kempowskis Fragen selbst werden in Plankton nicht wiedergegeben, sondern nur das „Reizwort“ (Kempowski 2014, 9), also das Kernwort der Frage, das jeweils am Anfang eines Eintrags steht. Repräsentative Themen sind unter anderem Glück, frühes Erlebnis, Reise, KZ, Brücke, Gedicht, Graffiti und DDR. Die Länge der Repliken reicht von einer Zeile bis zu etwa einer Dreiviertelseite. Wie in anderen Werken Kempowskis sind in Plankton Fotographien aus seiner umfangreichen Sammlung hinzugefügt, deren Zahl im Vergleich zu anderen Werken aber eher gering ist. Das Besondere an den in Plankton einbezogenen Fotographien ist jedoch erstens, dass sie ganzseitig erscheinen; zweitens, dass jede Fotographie eine Menschenmenge zeigt; drittens, und das ist das Ungewöhnlichste an dieser Auswahl, dass auf jedem Foto das Gesicht einer einzelnen Person mit einem Kreis hervorgehoben und am Rand der Fotographie vergrößert dargestellt wird. Eine weitere Besonderheit von Plankton ist die Tatsache, dass das Werk an sich noch nicht abgeschlossen ist und auch niemals abgeschlossen sein wird, denn auf der Website www.kempowskiplankton.de existiert eine Onlineversion, in der jeder ein Teil des Projekts werden kann, indem er oder sie bei bis zu acht Themen oder ‚Reizwörtern‘ eigene Antworten geben kann. Man hat sogar die Möglichkeit, sein eigenes Buch herunterzuladen. Dies gehöre zu Kempowskis Vision der „Befreiung der Literatur“ und deute auf seine Vorstellung der „Überführung der Literatur in eine andere Dimension [hin], die erst mit neuen technischen Möglichkeiten zu erreichen ist.“ (Kempowski 2006b, 52) Genau die Schaffung einer solchen Website, auf der jeder die Möglichkeit hat, sich in die Geschichte Kempowskis einzuschreiben, bestätigt seine Vision für die Literatur. Was seine Idee visionär mache, so die Herausgeberin Simone Neteler, ist, dass die Idee aus einer Zeit stamme, in der das Internet solche Möglichkeiten noch nicht geboten habe (vgl. Mischke 2014). Folgender Ausschnitt veranschaulicht Kempowskis Kernmethodik in Plankton:

2.4  Das Echolot und andere Kollektivtexte127 Ein Mann, 1966 Brücke | Solange ich denken kann, sind wir jeden Sommer auf denselben Campingplatz gefahren, in Dänemark. Jahr für Jahr. Und um da hinzukommen mußte man eine ziemlich tiefe Schlucht überqueren, es führte eine Holzbrücke darüber, die hatte spitze Pfeiler, und die waren knallrot gestrichen. Kräftige Bohlen. Lehrer, 1925 KZ | Ich bin SS-Mann gewesen, und trotzdem hab’ ich nie ein KZ gesehen. Ich hatte einen Funktruppführer, der ist Totenkopf-Führer gewesen. Der muß was davon gewußt haben, aber selbst von dem hab’ ich nichts gehört. 1943 muß es gewesen sein, da hatten wir eine Party, und da war eine Vierteljüdin. Der hab’ ich wortreich erklärt, daß es zwar nicht schön sei, was sie mit den Juden machen, daß die unterdrückt werden und so weiter, aber sie müsse doch einsehen, wenn ein ganzes Volk das tut oder das will, dann muß die betreffende Minderheit darunter leiden und das aushalten. Man merkte gar nicht, wie unmenschlich man war. Eine Frau Geräusch [ein Tonband wird vorgespielt mit dem Geräusch fließenden Wassers] | Regenrinne. Regenfaß, nasses Laub. Gießkanne aus Blech. Großer Garten – kahle Bäume. Tropfen an den Ästen. Kalte Hände. Laufende Nase. Tempotaschentücher. Graue Wolken. Gräser mit Spinnweben. […] Redakteur Mauerfall | Ich saß auf einem Kartographen-Kongreß in Berlin, im Archiv der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, und hörte mir einen Festvortrag an über das Thema: ‚Der Globus von Bayern‘. Draußen verschoben sich alle Menschen Europas, und ich mußte mir das anhören. (Kempowski 2014, 740  f., Hervorhebung im Original)

Genauso wie beim Echolot und bei den Befragungsbänden muss der Leser die Aussagekraft mancher Antworten selbst abwägen und wird in dieser Hinsicht zu einem aktiven Teilnehmer an dem Gesagten. Zwar sind manche Themen tatsächlich belanglos, aber sie haben trotzdem einen gewissen Augenblickswert und Reiz, da der Leser sich vielleicht selbst fragt, wie er auf das eine oder andere ‚Reizwort‘ reagieren würde. In seinem Tagebuch Alkor (vgl. Kempowski 2001b), in dem Kempowski das Jahr 1989 protokolliert, kommt das Wort „Plankton“ 35-mal vor. Das Thema beschäftigte ihn also sehr zu dieser Zeit. Diese häufigen Erwähnungen erhellen sowohl den Eifer, mit dem er das Sammelprojekt betrieb, als auch seine Überzeugung, dass diese Erinnerungspartikel von wesentlicher kultureller und literarischer Bedeutung sind. Die Art und Weise, wie er seine Sammelaktivität in Alkor ausdrückt, ist gleichzeitig ein Zeichen dafür, dass solche Erinnerungspartikel als wesentlicher Bestandteil seines Gesamtwerks verstanden werden müssen. Dort heißt es: „Im Literatur-Seminar war ich hinter ‚Plankton‘ her“ (Kempowski 2001b, 9); „[n]ach Kebab und Teigröllchen beim Türken […]. Plankton gefischt, das rettete den Tag“ (Kempowski 2001b, 5); „[i]ch erhaschte etwas Plankton“ (Kempowski 2001b, 381); „[e]twas Plankton eingesammelt“; „[i]ch horchte ihn nach Plankton aus und ergatterte einige Kostbarkeiten.“ (Kem-

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2 Werk

powski 2001b, 387) Es gelingt ihm aber nicht immer, ‚Plankton zu fischen‘, wie folgende Beispiele zeigen: „Morgens kamen 15 Schüler aus Zeven und schwiegen mich drei Stunden lang an. Plankton war ihnen nicht zu entlocken“ (Kempowski 2001b, 43). Aber selbst in diesen Momenten versucht Kempowski noch, seinem Lesepublikum weiterhin zu veranschaulichen, in welch hohem Maße man im Alltag ständig von solchen Geschichten umgeben ist, selbst wenn man nur zufälliger – oder sogar ‚unwilliger‘ – Mithörer ist: Sie fahren mit der Straßenbahn und hören ein Gespräch mit an, das unmittelbar vor oder hinter Ihnen geführt wird; Sie können also gar nicht anders als mithören, vielleicht sogar unwillig, aber es nützt nichts: Wie oberflächlich und flüchtig das Gespräch sein mag, es wird in Ihnen ein Bild erzeugen, dem Sie sich nicht mehr entziehen können; Sie werden einige Bilder dagegenhalten, werden assoziieren … und so weiter. (Kempowski 2006k, o.  S.)

Der Terminus ‚Plankton‘ allein deutet darauf hin, dass das Werk die unterste Ebene in der Struktur des Gesamtwerks Kempowskis einnimmt. Bildlich wie inhaltlich gehört das Werk – samt der kleinen Textpartikel der im Internet (noch nicht) geschriebenen Einträge – auf die unterste Ebene seines Schaffens. Kempowski hat im Laufe der Jahrzehnte in verschiedenen Stadien und Varianten immer wieder durch Tabellen zu zeigen versucht, wie seine Werke ineinander verwoben und miteinander verzahnt sind. Solche Tabellen zeigen Plankton immer ganz unten als Fundament. Als „literarisches“ Werk liefert Plankton nicht nur dem Echolot sowie den Befragungsbänden das allerkleinste „Summen“ (Kempowski 1993a, Bd. 1, 7) und „Wispern [der] Tausenden von Toten“ (Bühler Begegnungen 2003, o.  S.), sondern es rettet auch die Stimmen seiner Gegenwart, die sonst von der Gefahr zu verschwinden bedroht wären. Tatsächlich aber durchdringen die 2014 in Plankton erschienenen oder so ‚geretteten‘ Erzählpartikel das Gesamtwerk Kempowskis und fungieren immer wieder als Keimzellen für seine Kreativität. Plankton ist also nicht nur das Fundament, auch nicht nur der Kitt, der das Gesamtwerk verbindet und zusammenhält, sondern die kleinen Plankton-Teilchen durchdringen und besiedeln manche Werke vollkommen. So wird Plankton die reinste Form des Zitierens. 2 Analyse Durch seine strukturelle Verwandtschaft mit dem Echolot und den Befragungsbänden ist es leicht, Plankton in das Gesamtwerk Kempowskis einzuordnen. Da sich Plankton um vermeintlich Belangloses dreht und dazu auch noch nach dem Zufallsprinzip geordnet ist, hat es ebenfalls eine gewisse Verwandtschaft mit Kempowskis experimentellem Werk Bloomsday ’97 (vgl. Kempowski 1997a), das James Joyce gewidmet ist und dessen Inhalt aus der Transkription eines 24 Stunden langen Fernsehzappens besteht, die hin und wieder unterbrochen wird durch Fotographien aus Kempowskis Archiv.

2.4  Das Echolot und andere Kollektivtexte129

Plankton ist in mancher Hinsicht ein fast so radikales Werk wie Bloomsday ’97, doch hatte es trotz seiner unkonventionellen Form keine große Schockwirkung mehr auf die Rezensenten, da diese schon längst mit Kempowskis Stil und seinen Themen vertraut waren. Die literaturkritische Auseinandersetzung ist deswegen durchaus positiv ausgefallen, doch nicht jeder Kritiker war bereit, das Werk überhaupt als Literatur anzuerkennen, geschweige denn als große Literatur. Für Lutz Hagestedt ist es selbstverständlich, dass Plankton ein gelungenes Werk ist, weshalb er auf die Gattungsfrage in seiner Rezension gar nicht erst eingeht. Hagestedt konzentriert sich stattdessen auf Einzelheiten wie die Definition von ‚Plankton‘, die er mit Hilfe Kempowskis präzisiert. Plankton seien die prägenden Erfahrungen, die ein Leben ausmachen und die sich mit wenigen Worten beschreiben lassen. Hagestedt betont auch die Vielfältigkeit und Disparatheit der Themen, da sich mitten im Trivialen eine Spannbreite ergebe, die von Grauen bis hin zu Humor reiche. Vom ersten Befragungsband Haben Sie Hitler gesehen? ausgehend, erläutert Hagestedt die Art und Weise, wie Kempowski begann, seine Befragungskunst zu entwickeln und zu verfeinern. Dies hatte zur Folge, so Hagestedt, dass die Befragten ganz unbefangen waren, woraus man schließen könne, dass sie offene und ehrliche Antworten gegeben hätten. Zu den Fotographien führt Hagestedt aus, dass die Person, deren Gesicht isoliert und herausgehoben wird, genauso anonym bleibe wie die Menschen in den Texten. Dies unterstreiche das Konzept des Bandes, [d]enn die Antworten der Befragten sind zugleich anonymisiert und individualisiert. Man erfährt etwa, dass ein Bankkaufmann, Jahrgang 1934, die ständigen Überlieferungen im Zweiten Weltkrieg als besonders bedrohlich und ‚demoralisierend‘ wahrgenommen hat. Doch sein Name und seine Identität bleiben uns verborgen. Und so ist es auch mit jenen, die vor dem Niederwald-Denkmal bei Rüdesheim am Rhein stehen, oder jenen, die auf einem Schiffsdeck, auf einer Promenade, beim Karneval und während einer Massenkundgebung im zerstörten Nachkriegsdeutschland aufgenommen worden sind. (Hagestedt 2016, o.  S.)

Volker Hage, der schon immer sowohl für Kempowskis Sammeltätigkeit als auch für sein literarisches Schaffen empfänglich war, nennt Kempowski einen „Visionär“ und Plankton ein „faszinierendes Experiment“ (Hage 2014, 110). Hage bezeichnet die Tausende von Stimmen als „bunt gemischte Minigeschichten“ (Hage 2014, 111) und zeigt durch eine Rückschau auf die größten literarischen Erfolge Kempowskis die Herkunft des posthum erschienenen Werks des „experimentfreudigen Autors“ (Hage 2014, 111). Hage endet seine Rezension mit der Feststellung, dass „mit all sein[em] Tun […] sich der Autor als Texthersteller und Arrangeur endgültig überflüssig macht.“ (Hage 2014, 111) In dem Feld der ersten Rezensionen kam natürlich die zu erwartende Fragestellung, ob Plankton überhaupt Literatur sein kann. So schreibt etwa Edo Reents:

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So ‚wichtig‘ das auch sein mag – irgendwann kann man es dann doch nicht mehr hören, dass der und der Hitler da und da gesehen oder gehört hat und dabei wahnsinnig oder eben überhaupt nicht beeindruckend fand und dass praktisch jeder die Nachricht vom Mauerfall erst gar nicht glauben konnte. Was soll man groß sagen? (Reents 2014, o.  S.)

Reents gesteht Kempowskis Schaffen doch etwas Visionäres zu: In der Tat lassen sich, zumal im digitalen Zeitalter mit seinem noch fragmentierteren Bewusstsein und den ganz anderen Mitmach-Möglichkeiten des Schreibens, Argumente nennen, wenn man Kempowski als Visionär ins Spiel bringt: ‚Plankton‘ wäre dann ein durchaus beeindruckendes Zeugnis von Schwarmintelligenz. Aber von ‚Literatur‘ sollte man nur in dem Sinne sprechen, dass damit (auch) die Gesamtheit von Schrifttum gemeint sein kann. (Reents 2014, o.  S.)

Reents stellt die Frage, ob Plankton große Literatur sei und beantwortet diese selbst mit nein; er gesteht ihm aber gleichzeitig zu, dass es mindestens die „Voraussetzung“ dafür habe. Dies passt zu Kempowskis eigener Metaphorik, dass seine Plankton-Teilchen die Einzeller sind, aus denen die Literatur erwächst. Reents fügt abschließend hinzu, Kempowski habe seine Maxime des demokratischen Prinzips eingelöst, da sich jeder online in das Projekt einschreiben könne. Michael Rutschky verfolgt einen anderen Ansatz. Zuerst stellt er einen Vergleich mit Echolot an und überlegt, warum er beim Lesen des Werks „angenehm überrascht“ worden sei und sich in die Geschichten immer weiter vertiefen wollte. Er schließt daraus, „dass das, was Kempowski bezeugt, […] der unbedingte Wille der Menschheit zum Weiterreden, zur Fortsetzung der Kommunikation“ (Rutschky 2014, o.  S.) sei. Rutschky stellt fest, es entstünde eine Collage dadurch, dass Kempowski „systematisch die Unterschiede zwischen oben und unten, zwischen Haupt- und Nebenpersonen ignoriere“, wodurch starke Gefühle hervorgebracht werden. Rutschky geht anschließend auf die Unterschiede zwischen Echolot und Plankton ein. Im Gegensatz zu Echolot sei im Letzteren keine Sequenzierung zu erkennen, denn Plankton unterliege dem Prinzip eines „Zufallsgenerator[s]“, wie es auch die Herausgeberin Simone Neteler formuliert hat. Er sieht darin eine Ähnlichkeit mit der „AvantgardeMusik der Fünfziger“. Auf Rutschky wirkt Plankton wie ein „dekonstruktivistisches Wimmelbild“, in dem er sich gern verloren habe. Dies lässt ihn seine Plankton-Analyse auf den Begriff des „Narrativs“ stützen: „Das Narrativ organisiert als Erzählschema Material verschiedener Art und Herkunft zu einer Geschichte, die Anfang und Ende und einen mehr oder minder ausführlichen Mittelteil aufweist, der die Erklärungen enthält, die aus der Erzählung insgesamt eine Erklärung machen.“ (Rutschky 2014, o.  S.) Echolot habe durch die Chronologisierung einen Anfang und ein Ende, während sich Plankton gegen das Konzept des Narrativs wende. Rutschky meint, dass Kempowski zunehmend interessiert habe, „wie man das organisierende Narrativ verlassen und das Erzählmaterial schier präsentieren könne.“ (Rutschky 2014, o.  S.) Mit

2.5 Tagebücher131

Plankton folge Kempowski seinem „experimentell[en] Impuls“ noch weiter. Rutschky endet seine Diskussion mit der Anregung, weitere Forschungen zu solch experimentellen Werken Kempowskis zu unternehmen. Er diskutiert hingegen nicht die Frage, ob Plankton Literatur ist, sondern ordnet es direkt in das anglo-amerikanische Genre der creative nonfiction ein. Um einem Werk wie Plankton gerecht zu werden, müsse man sich, so Rutschky, „poetologischen Fragen der Erzählprosa wieder direkt und offensiv  […] widmen.“ (Rutschky 2014, o.  S.) Kempowskis literarischer Ansatz in Plankton ist weder ihm noch der literarischen Welt neu. Dirk Hempel etwa hat schon 2005 Kempowskis literarischen Prozess in den Befragungsbänden beschrieben: „Im Gegensatz zur dichterischen Rede handelt es sich bei den Statements der Befragungsbände um faktuale Erzählung, um eine nicht-dichterische, authentische Rede realer Erzähler von realen Ereignissen.“ (Hempel 2005, 26, Hervorhebung im Original) Dies wiederum ist genau der Stoff für creative nonfiction, deren Genrecharakteristika Lee Gutkind mit dem Motto „True stories, well told“ präzise erfasst: ‚[C]reative nonfiction‘ precisely describes what the form is all about. The word ‚creative‘ refers simply to the use of literary craft in presenting nonfiction – that is, factually accurate prose about real people and events – in a compelling, vivid manner. To put it another way, creative nonfiction writers do not make things up; they make ideas and information that already exist more interesting and often more accessible. (Gutkind 2008, 12)

Dieser Definition nach könnte man Kempowskis Archiv in seiner Gesamtheit als ein Werk der creative nonfiction betrachten und einzelne Werke wie Plankton, die nur aus Zitaten bestehen, als wesentliche Teile eines großen Ganzen bezeichnen. Um noch einmal Simone Neteler zu zitieren: In Plankton offenbart sich Kempowskis Hochachtung vor den flüchtigen Gedächtnisbildern am deutlichsten, denn „im Urquell der kollektiven Erinnerung löst sich schriftstellerisches Tun auf, und es entsteht fast wie von selbst ein literarisches Kunstwerk – unverfälscht und echt.“ (Neteler 2014b, 6)

2.5 Tagebücher Dirk Hempel

Das Tagebuch nimmt im Gesamtwerk des Autors, Arrangeurs und Archivars Walter Kempowski eine bedeutende Stellung ein. Er selbst hat über 50 Jahre lang Tagebuch geführt, eigene Diarien publiziert, im Echolot Aufzeichnungen anderer Verfasser collagiert und Hunderte Tagebücher von Unbekannten im „Archiv der unpublizierten Autobiographien“ gesammelt. Überliefert sind rund 200 eigene handschriftliche Tagebuchbände aus den Jahren 1947/48 sowie 1956 bis 2007, die sich in seinem Nachlass in der Akademie der Künste

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in Berlin befinden. Noch zu Lebzeiten veröffentlichte Kempowski überarbeitete Aufzeichnungen in Sirius. Eine Art Tagebuch (1990a), Alkor. Tagebuch 1989 (2001b) und Hamit. Tagebuch 1990 (2006b). Posthum erschienen Somnia. Tagebuch 1991 (2008a) und ‚Wenn das man gut geht‘. Aufzeichnungen 1956– 1971 (2012a). Die Gesamtheit der Tagebücher stellt ein drittes Hauptwerk neben den Romanen und Befragungsbänden der Deutschen Chronik und dem kollektiven Tagebuch Echolot dar. Kempowskis Tagebücher bilden den persönlichsten Teil seiner literarischen Hinterlassenschaften, sie sind Laboratorium des Werks und Spiegel des Lebens. Sie zeigen ihn als Meister der Selbstbeobachtung, der streng und zuweilen selbstironisch mit sich ins Gericht geht, und der Selbstinszenierung (vgl. Plöschberger 2005). Kempowski erweist sich dabei auch als Autor, der deutliche Worte über den Literaturbetrieb, Ereignisse und Personen der aktuellen Politik sowie der gesellschaftlichen Entwicklung findet. In den Tagebüchern hielt er die Geschehnisse des Tages fest, reflektierte Vergangenheit und fixierte Planungen einzelner Werke sowie des Gesamtwerks. Kempowski führte bereits in Kindheit und Jugend Tagebuch. Erhalten sind allerdings nur zwei Notizkalender aus den Jahren 1946/47, in denen sich auch die Flucht in den Westen im Herbst 1947, die Ankunft bei den Verwandten in Hamburg und die Arbeit in einer Labour Company der US-Army in Wiesbaden dokumentiert finden. Der Rest ist in Kriegs- und Nachkriegszeit verlorengegangen. Im Zuchthaus Bautzen konnte er zwischen 1948 und 1956 kaum schriftliche Aufzeichnungen machen. Die Notizen auf kleinen, geheim gehaltenen Zetteln konnte er bei seiner Entlassung 1956 nicht mit hinausnehmen. In späteren Jahren notierte Kempowski zumeist mehrmals täglich Beobachtungen und Gedanken, rekapitulierte am frühen Morgen den vergangenen Tag und sammelte sich für die anstehenden Arbeiten, zog mittags eine Zwischenbilanz, kommentierte erste Ereignisse und Nachrichten. Am späten Abend überdachte er dann das Erlebte, hielt Reaktionen auf Geschehnisse oder Besucher fest. So wuchs das Tagebuchwerk über die Jahre zu einem umfangreichen Werkbestandteil: Das Jahr 1992 etwa umfasst 1000 Seiten handschriftliche Aufzeichnungen. Die Gesamtheit der Tagebücher besteht aus mehreren zehntausend Seiten. Die Materialität der Tagebücher symbolisiert die historische Dimension dieses Werkteils: Der Abreißkalender der Jahre 1946/47 besteht aus braunem Nachkriegspapier, mit Bleistift beschrieben, der heute zum Teil verblasst oder verwischt ist. Die großen Hefte, die nach der Entlassung 1956 begonnen wurden, haben einen festen Einband, und Linien geben dem Orientierung suchenden Studenten Halt. Die kleinen Tagebücher der 1960er Jahre mit blauem Plastikeinband sind meist schmal und die Aufzeichnungen werden spärlicher, weil zu vieles anstand: die Familie, die Arbeit als Dorfschulmeister, die literarischen Experimente. Seit den 1990er Jahren ließ Kempowski sich dann beim Buchbinder edle Tagebücher anfertigen mit ausgewähltem, farbigem Leinen für den Einband, das Papier leicht getönt, dazu Lesebändchen und Tasche für Zettel.

2.5 Tagebücher133

Bevor Kempowski das Tagebuch mit Notizen füllte, klebte er seit dieser Zeit Fotos aus Zeitungen und Zeitschriften, vorzugsweise dem Spiegel, ein. Das Verfahren und dessen Hintergrund beschreibt Kempowski folgendermaßen: Ich sammle Bilder und Fotos aus Zeitungen, die mich in irgendeiner Weise ansprechen bzw. anmuten, und klebe sie in die leeren Tagebücher ein. Manchmal zwei Bilder auf einer Doppelseite. Bilder, die irgend etwas miteinander zu tun haben, einander widersprechen oder ergänzen. Bilder, die Fragen stellen und Fragen beantworten (zitiert nach Plöschberger 2006, 33).

Zu den eigentlichen Tagebüchern treten dann noch kleinformatige Reisetagebücher, anfangs einfacheren Zuschnitts, später dann in Leder gebunden. Die Aufzeichnungen nahm Kempowski in der Regel mit Kugelschreiber vor, selten mit Füllfederhalter. Kempowskis Tagebuch erweist sich als Spiegel der Biographie, als literarische Werkstattschau und als Bericht eines scharf beobachtenden Zeitzeugen. Am Anfang steht das Erlebnis der Freiheit nach acht Jahren Haft, die ersten Tage bei seiner Mutter in Hamburg, die Besuche bei Verwandten, erste Reisen nach Lindau an den Bodensee und nach Dänemark zu seiner Schwester Ulla. Der Versuch, sich im ‚freien‘ Westen zu orientieren, steht an erster Stelle in diesen Aufzeichnungen, daneben findet sich aber auch die Sorge um die berufliche Zukunft des Schulabbrechers. Die Beobachtung seiner selbst beginnt gleich auf den ersten Seiten der Aufzeichnungen im März 1956 (vgl. Hempel 2012, 11). Das Tagebuch erfüllt dabei eine therapeutische Funktion: Kempowski reflektiert vor allem seine geistige und seine geistliche Situation, sinniert nach dem traumatischen Hafterlebnis über sein Verhältnis zur Religion und zu Gott. Geradezu manisch rekapituliert er die Jahre im Zuchthaus Bautzen, hält Ereignisse, Namen und Daten akribisch fest, bevor sie vergessen werden. Hier findet sich die erste Materialsammlung des späteren Schriftstellers für den Debütroman, den Haftbericht Im Block (1969). Diese Sammlung setzte er bald auf Karteikarten fort, die er in Zettelkästen organisiert. Die Aufzeichnungen sind geprägt vom Studium an der Pädagogischen Hochschule in Göttingen. Planmäßig ging der verspätete Student die nachzuholende Bildung an, wie die Tagebücher zeigen: Die Lektüre der Weltliteratur, politische, philosophische, theologische, historische Werke, Konzertbesuche und Rundfunkübertragungen finden Erwähnung. Auch der politische Beobachter, geschult durch Nazizeit und Haft in der DDR, erweist sich als wachsam; Kempowski verfolgte die Diskussionen um die Wiederbewaffnung in der Bundesrepublik ebenso wie den Aufstand in Ungarn 1956. Die Tagebücher in den Jahren nach dem Staatsexamen 1960 fallen wesentlich dünner aus: Berufsalltag und Familiengründung ließen dem jungen Lehrer kaum Zeit für Notizen. Daneben traten nun auch literarische Experimente und die Arbeit an verschiedenen Romanen. Dennoch sind die wesentlichen biographischen Stationen erfasst: Hochzeit in Rotenburg, Dienstantritt als Lehrer

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in Breddorf, Geburt der zwei Kinder und Umzug ins Schulhaus von Nartum im Jahre 1965. Auch der weite Weg zum Schriftsteller seit der Entlassung 1956 zeichnet sich in diesen frühen Tagebüchern ab. Denn neben den Aufzeichnungen zum Hafterlebnis notierte Walter Kempowski von Anfang an Erinnerungen an seine Kindheit in Rostock, an seinen Vater, den Schiffsmakler und Reeder Karl Georg, der in den letzten Kriegstagen auf der Frischen Nehrung fiel, und an seine Mutter Margarethe, die aus einer angesehenen Hamburger Kaufmannsfamilie stammte, an seinen Bruder Robert, der noch einige Monate länger im Zuchthaus Bautzen eingesperrt blieb, und an seine einige Jahre ältere Schwester Ulla, die seit ihrer Heirat mit einem Dänen 1943 in Kopenhagen lebte. Walter Kempowski erinnerte sich an die Großeltern und andere Verwandte, an Schulerlebnisse und Rostocker Ereignisse in der Nazizeit. Die Reminiszenzen, die er Ende der 1950er Jahre im Tagebuch notierte, kreisen immer wieder um das Leben der Familie, ihre Eigenheiten und Sprache. Das Tagebuch wird zum Laboratorium, zur Brutkammer des späteren Werks. Man kann bei der Lektüre nachvollziehen, wie Kempowski den Weg zum Schriftsteller tastend einschlägt, der 1969 und 1971 mit seinen ersten beiden Werken genau diese Themen, die er 13  Jahre im Tagebuch und zunehmend dann auch im literarischen Experiment verfolgt hatte, zur Grundlage seines Werks macht: im Zuchthausbericht Im Block (1969) und in dem autobiographischen Familienroman Tadellöser & Wolff (1971a). Auch auf die grundlegende Frage nach dem Ausgangspunkt und der Motivation, Schriftsteller zu werden, finden sich Antworten im Tagebuch: Es ging um Schuld und um Anerkennung. Die eigene Schuld an der Zerstörung der bürgerlichen Existenz in Rostock durch die Weitergabe der sowjetischen Frachtpapiere an die Amerikaner und den Versuch, als politischer Häftling in der Bundesrepublik anerkannt zu werden, was ihm ein Hamburger Amtsgericht verwehrte. „Ich habe die Familie zerstört, nun suche ich sie auf Papier wieder aufzubauen“ (Kempowski 2012a, 269), schrieb Kempowski im Januar 1960 in sein Tagebuch, und setzte fort: „So wäre dann also mein Bemühen um die Biographie ein sublimiertes Schuldgefühl“ (Kempowski 2012a, 271). Dieses Grundbedürfnis – Wiedergutmachung von Schuld und Ringen um Anerkennung – prägte Walter Kempowski und seine Werke bis zuletzt. Die späten Tagebücher künden davon. „Die Schuld wird abgetragen, mit jedem Buch ein wenig mehr, und verblaßt allmählich“ (Hempel 2007a, 250), so Kempowski am Ende seines Lebens. Kempowski veröffentlichte zu Lebzeiten drei Tagebuchbände: Sirius. Eine Art Tagebuch (1990a), Alkor. Tagebuch 1989 (2001b) und Hamit. Tagebuch 1990 (2006b). Das posthum erschienene Somnia. Tagebuch 1991 (2008a) konnte er noch zur Publikation vorbereiten. Außerdem gehört zu den veröffentlichten Diarien das Werkstatttagebuch Notizen zum Bloomsday ’97 (Kempowski 1997b). Dabei handelt es sich um Aufzeichnungen im Juni 1997, die der Knaus Verlag im Vorfeld der Veröffentlichung des Fernsehprotokolls Bloomsday ’97 (Kempowski 1997a) in einer Broschüre verbreitete. Weiter ist

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das umfangreiche Werktagebuch Culpa. Notizen zum „Echolot“ zum Tagebuchwerk zu zählen, das im Jahr 2005 zum Abschluss des Echolot-Projekts erschien und die Entstehung des ersten Teils des kollektiven Tagebuchs schildert (vgl. Kempowski 2005a). Die Einträge reichen von 1978 bis 1993. Dazu treten noch Auszüge aus dem Tagebuch 2001 (Kempowski 2006c), 30 Seiten, die in einem Kempowski gewidmeten Sammelband von Text + Kritik abgedruckt sind und das Jahr um den 11. September 2001 in den Blick nehmen. Bei diesen veröffentlichten Tagebüchern handelt es sich um Aufzeichnungen, die Kempowski in unterschiedlichem Maße überarbeitet hat, sowohl sprachlich als auch inhaltlich durch Streichungen, Ergänzungen und Glättungen. Sirius etwa erfuhr eine literarische Gestaltung durch das gezielte Aufgreifen und Verstärken bestimmter Themen: erstens als Autobiographie durch wiederholt eingestreute Erinnerungen und Fotographien aus der Familiengeschichte; zweitens als nachgereichte, ähnliche Erlebnisse berichtende Vorlage für den Roman Hundstage (vgl. Kempowski 1988a) und schließlich drittens als Werkstattbericht über die Arbeit an dem Roman Herzlich willkommen, der 1984 die Deutsche Chronik abschloss. Sirius zeigt Kempowski auch in den anderen Facetten seiner Existenz, als Pädagoge an der Universität Oldenburg und bei den Literaturseminaren in Nartum sowie als Archivar von Tagebüchern fremder Menschen. Aus deren Aufzeichnungen fügte er Passagen in sein Tagebuch ein, das er auf diese Weise und durch die Zugabe von kommentierenden, eigenen Tagebuchtexten aus dem Jahr 1990 in eine komplexe Collage verwandelte. Durch diese Art der Überarbeitung entstand aus dem Originaltagebuch ein eigenständiges literarisches Werk, von Kempowski durch den Untertitel Eine Art Tagebuch angedeutet (vgl. Kempowski 1990a). Auch in den folgenden veröffentlichten Tagebüchern wandte Kempowski das Verfahren der Überarbeitung an, wenn auch weniger stark ausgeprägt. So ist jedes dieser Tagebücher bestimmten Themen gewidmet, die im Mittelpunkt stehen und leitmotivisch wiederkehrend behandelt werden. Alkor schildert in erster Linie die politischen Entwicklungen des Jahres 1989 mit dem Höhepunkt des Mauerfalls am 9. November, den Kempowski am Radiogerät und dann am Fernseher verfolgte und im Tagebuch minutiös protokollierte. In Hamit – in der Mundart des Erzgebirges für ‚Heimat‘ – ist das titelgebende Thema geschildert: die Rückkehr in die Heimatstadt Rostock zu Besuchen und Lesungen im Jahr 1990, außerdem eine Reise zum Zuchthaus Bautzen. „Heimat können wir abhaken“ (Kempowski 2006b, 416), heißt es am Ende des Buches: „Geblieben ist das Heimweh“ (Kempowski 2006b, 416). Das Tagebuch Somnia, posthum erschienen im Frühjahr 2008, verfolgt den Prozess der Wiedervereinigung weiter, zeigt die Arbeit am Echolot und die Reaktionen auf das Buch Mark und Bein. Es endet am 21. Dezember 1991 mit dem Schlaganfall, den Walter Kempowski an diesem Tag erlitt, und der auf ein anderes Ereignis vorausweist: In das Tagebuch des Jahres 1991 sind Bemerkungen aus dem Jahr 2007 eingestreut, aus seinem letzten Lebensjahr also. Sie handeln noch von der Arbeit an einem allerletzten, unveröffentlichten Roman (Kleine

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Liebe zu Trompeten), dessen Manuskript sich als Fragment im Walter-Kempowski-Archiv der Akademie der Künste in Berlin befindet, von der erreichten Abrundung des Werks, aber auch vom Verfall der Kräfte des schwerkranken Autors. Bei den 2012 unter dem Titel Wenn das man gut geht herausgegebenen Aufzeichnungen Kempowskis aus den Jahren 1956 bis 1971 handelt es sich hingegen um eine Edition der Originaltagebücher. Die Auswahlausgabe verfolgt den langen Weg vom entlassenen Häftling zum Schriftsteller, sie handelt dabei von den schwierigen Anfängen in Hamburg und Göttingen und den ersten literarischen Versuchen neben der Tätigkeit als Dorflehrer. Neben den Tagebüchern stützt sie sich in den Jahren der flüchtigen Aufzeichnungen auch auf Gäste- und Notizbücher und gibt Auszüge aus ausgewählten Briefwechseln etwa mit dem Lektor Fritz J. Raddatz und dem Künstler Klaus Beck wieder. Kempowski hat einen Großteil der Texte noch zu Lebzeiten geprüft und dabei nur an wenigen Stellen sprachliche Korrekturen, aber keine inhaltliche Gestaltung vorgenommen. Die veröffentlichten wie die unveröffentlichten Tagebücher nehmen im Gesamtwerk neben der Deutschen Chronik und dem Echolot eine wichtige Stellung ein. Inhaltlich und formal bieten sie Hinweise auf die Beziehungen der einzelnen Werkteile untereinander. Die frühen Tagebücher etwa enthalten gleichermaßen persönliche Aufzeichnungen  – zur Jugend während des Nationalsozialismus und zur Haft in Bautzen – wie literarische Versuche zu diesen Themen der ersten Romane, außerdem Collagenversuche von Fremdtexten aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Im Medium des Tagebuchs ist vorbereitet und zusammengeführt, was das spätere Werk konstituieren wird: die Selbstzeugnisse des Echolots und die literarisch gestaltete Familiengeschichte. So werden in Sirius das eigene Leben und Werk gespiegelt. Der literarischen Gestaltung der Familiengeschichte in der abgeschlossenen Deutschen Chronik gibt Kempowski die autobiographische Darstellung der Fakten bei, in der auch die Fotographien der Protagonisten eine große Bedeutung haben. Subjektive und kollektive Erinnerung, die eigene Geschichte und die Geschichten der anderen, gespeist aus Tausenden von Dokumenten, sind in Walter Kempowskis Werk auf vielfältige Weise miteinander verbunden. Historisches Dokument und literarische Gestaltung gehen dabei eine enge Verbindung ein, die zuweilen die Grenzen zwischen Fakten und Fiktion verschwinden lässt. Das ist ein konstituierendes Element für Kempowskis Arbeitsweise, für sein gesamtes Werk. In den Tagebüchern wird deutlich, dass es Kempowski von Anfang an um die eigene Biographie und gleichzeitig um die politischen Ereignisse und gesellschaftlichen Strukturen ging. Das begründete und bedingte seine Arbeitsweise, sein gesamtes Werk, das kennzeichnet in besonderem Maße die Deutsche Chronik und das Echolot sowie den Umgang mit Tagebüchern, den eigenen und denen der anderen. Frühe unveröffentlichte Collagenversuche aus den 1960er Jahren zum Haftbericht belegen das, auch die aus den 1960er Jahren stammende, äußerst umfangreiche Sammlung von Familienberichten zur

2.5 Tagebücher137

Geschichte der Kempowskis in Rostock, die als Materialbasis für die Romane der Deutschen Chronik diente. Die eigenen Aufzeichnungen und Erinnerungen sind hier bereits durchsetzt mit Aufzeichnungen anderer, zur Nazizeit und zur Haft. Deshalb kam Walter Kempowski folgerichtig nach dem Sammeln der eigenen Familienaufzeichnungen (Tagebücher, Briefe, Erinnerungen, Fotographien) zum Sammeln und Bewahren der Aufzeichnungen anderer Menschen. Aus der Beschäftigung mit dem eigenen Schicksal, das er in den eigenen Tagebüchern aufzeichnete, folgte das Interesse am Schicksal der anderen. So entstanden zuerst das Tagebucharchiv in Nartum (seit 2007 im Archiv der Akademie der Künste Berlin), aus dem Walter Kempowski in den 1980er Jahren auch Texte herausgab, und am Ende dann das Echolot, die umfassende, aus Tausenden von Tagebüchern und anderen Aufzeichnungen gewöhnlicher und prominenter Menschen arrangierte Monumentalcollage. Auch der Zusammenhang der Werkteile untereinander wird in den Büchern selbst augenfällig. So hat Kempowski etwa untergründige Verbindungslinien zwischen den drei Hauptwerken angelegt: Das erste Echolot behandelt das Jahr 1943, genauer den Januar und Februar 1943, das Ende der Schlacht von Stalingrad. Eigene Erinnerungen Walter Kempowskis an 1943 sind an mehreren Stellen in das Tagebuch Sirius eingeflossen, besonders an Stalingrad und an die Bombardierung Hamburgs im Juli 1943. In Tadellöser & Wolff hatte er diese Erinnerungen bereits 1971 literarisch gestaltet, auch die Hochzeit seiner Schwester Ulla im Mai 1943, die ein Foto im Echolot abbildet. Und so gibt es weitere Überschneidungen zwischen den Hauptwerken, etwa die Aufzeichnungen aus dem Tagebuch-Archiv, die Kempowski in die veröffentlichten eigenen Tagebücher aufnahm, das Werktagebuch Culpa, das nur dem Echolot gewidmet ist, die Beschreibung der Geschichte der Eltern und Großeltern in Sirius, die bereits in den Romanen der Deutschen Chronik literarisch bearbeitet worden war, überhaupt das ‚deutsche‘ Thema der veröffentlichten Tagebücher der Jahre 1989 bis 1991, wie Echolot und Deutsche Chronik ebenfalls Themen der deutschen Geschichte behandeln. Strukturelle und inhaltliche Verbindungslinien zeigen auch die Foto-Collagen in den späten Originaltagebüchern und das Fernsehprotokoll Bloomsday ’97, das sich als Bestandsaufnahme und ‚Tiefensonde‘ auf der Grenze zwischen den Tagebüchern und Echolot bewegt. Wenn die Deutsche Chronik als eine Art subjektives, dichterisches Pendant zum mehr objektiven, dokumentarischen Echolot verstanden werden kann, bieten die Tagebücher den Kommentar zu beidem, als erklärendes und sinnstiftendes Medium des eigenen Werks sowie des Lebens.

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2.6  Kinder- und Schulbücher 2.6.1 Haumiblau. 208 Pfenniggeschichten / Alle unter einem Hut / Der Hahn im Nacken Sabine Rohde 1 Inhaltsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 2 Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139

1 Inhaltsüberblick Mit dem Titel Haumiblau. 208 Pfenniggeschichten für Kinder erscheint 1986 im C. Bertelsmann Verlag München ein überarbeiteter Band, der Kempowskis bisher veröffentlichte Minigeschichten vereint. Bereits im Impressum ist erwähnt, dass „ein großer Teil der Geschichten“ (Kempowski 1986a, o.  S.) schon 1973 und 1976 in zwei Bänden erschienen ist. Bei Haumiblau handelt es sich also um eine Zusammenfassung der beiden Minigeschichten-Bände Der Hahn im Nacken (vgl. Kempowski 1973b) und Alle unter einem Hut (vgl. Kempowski 1976a); bis auf wenige Ausnahmen werden alle Geschichten in Haumiblau wieder veröffentlicht. 1973 erscheint im Rowohlt-Verlag Der Hahn im Nacken. Minigeschichten mit Bildern von Friedrich Kohlsaat. In insgesamt 40 winzigen Geschichten werden Alltagssituationen ‚in Kindermund‘ erzählt. Hauptfiguren sind dabei die Kinder Renate und Oswald sowie Vater und Mutter. In der Nachfolge erschien 1976 im Bayreuther Loewes-Verlag Alle unter einem Hut. Über 170 witzige und amüsante Alltags-Miniminigeschichten in Großdruckschrift mit Illustrationen von Anne Bous. Es ist die Erweiterung von Der Hahn im Nacken. Minigeschichten. Auch hier werden in den knappen Geschichten Alltagssituationen erzählt, Hauptfiguren sind ebenfalls die Kinder Renate und Oswald sowie Vater und Mutter. Dabei gibt – wie im folgenden Beispiel – jeweils eine Überschrift das Thema an: Kaninchen Oswald hat Kaninchen: Drei weiße und zwei schwarze. Oswald will noch ein Kaninchen haben. Mutter sagt: ‚Dann zieh ich aber aus!‘ Vater ist das egal. (Kempowski 1976a, 36)

In den Geschichten erleben die Kinder typische Szenen, meist sind diese als Dialoge zwischen den Geschwistern, mit den Eltern, ihrem Lehrer oder den Verwandten gestaltet. Die Episoden spielen zuhause, in der Schule, an unbestimmten Orten, kurz: einfach im Leben der Familie.

2.6  Kinder- und Schulbücher139

Die Geschichten spiegeln auch Erfahrungen des Lehrers Kempowski wider. Es sind „Erlebnisse seiner Schülerinnen und Schüler in einer Mittelpunktschule“ (Kempowski 1976a, Klappentext). Es handelt sich bei ihnen um eine Auswahl der so genannten Tafelgeschichten, die der Autor noch im Unterricht notierte und gebrauchsfertig machte. Sie haben ihren Ursprung also tatsächlich in seinem eigenen Unterricht. Statt dogmatisch dem Lehrplan zu folgen, bezog Kempowski die Befindlichkeiten und Interessen der Schulkinder mit in seinen Unterricht ein. Er selbst formulierte seine Überlegungen so: „Ich habe mir […] morgens immer zuerst die Kinder angesehen, bevor ich irgendwelchen ‚Unterrichtsstoff‘ auf sie losliess [sic!], habe herauszufinden versucht, was sie bewegt und darauf meinen Unterricht aufgebaut.“ (Kempowski 1990a, 192) Seine davon motivierte morgendliche Frage „Was gibt’s Neues?“ brachte die Kinder dazu, kleine Begebenheiten, Anekdoten oder Neuigkeiten aus ihrem Alltagsleben zu erzählen. Dies gab Kempowski wiederum die Möglichkeit, seinen Unterricht entsprechend interessengeleitet zu gestalten (vgl. Neumann 1980a, 48). Gleichzeitig machte Kempowski sich Notizen zu den Erzählungen und schrieb sie manchmal wörtlich mit. Direkt im Anschluss oder sogar noch in der gleichen Unterrichtsstunde nutzte er bereits die Aufzeichnungen und gab sie „als Lesetext an der Tafel zurück“ (Hempel 2014, 157). Die Identifikation der Kinder mit dem Unterrichtsstoff konnte nicht größer sein: „Das ist ja unsere Geschichte“ (Neumann 1980a, 42), erkannten sie sich selbst wieder. Mit Der Hahn im Nacken veröffentlichte Kempowski dann erstmals eine kleine Sammlung der Tafelgeschichten. Hempel merkt an, diese sei „eine Auswahl, die ein Pendant zu den Befragungsbänden der ‚Chronik‘ darstellt“ (Hempel 2014, 157). 2 Analyse In zwei wissenschaftlichen Arbeiten von Ladenthin und Lehnemann wird der Sammelband Haumiblau besprochen: Die Minigeschichten werden einmal mit dem jeweiligen Original und dann mit den Tafelgeschichten in Unser Herr Böckelmann (vgl. Kempowski 1979a) verglichen. Der Band Alle unter einem Hut wird zum Vergleich von Volker Ladenthin dazu herangezogen, in den veränderten Fassungen einiger Geschichten im Sammelband Haumiblau eine (neue) poetische Intention Kempowskis aufzuspüren (vgl. Ladenthin 2010, 307–318). Er hinterfragt beispielsweise, ob Kempowski die Vater-Mutter-Rollen tauscht, um „Geschlechtergerechtigkeit […] zu schildern“ (Ladenthin 2010, 309), warum er bestimmte regional gefärbte durch hochsprachliche Wörter ersetzt oder wie er etwa durch einen geänderten Zeilenumbruch mehr Spannung oder weniger Entlarvung erzeugt (vgl. Ladenthin 2010, 310–313). Insgesamt kommt Ladenthin zu dem Schluss, dass in der ursprünglichen Sammlung bei einigen Geschichten durch Inhalt und formale Aspekte noch relativ viel Auslegung vorgegeben war. Die überarbeitete Fassung sei jedoch bewusst kontrastärmer und der Leser müsse sich

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somit intensiver mit den Geschichten befassen, um dann selbst die gedanklichen ‚Stolpersteine‘ zu erkennen (vgl. Ladenthin 2010, 316). Widar Lehnemann widmet in seiner Arbeit über „Kempowskis Einfache Fibel“ (vgl. Lehnemann 2000) Haumiblau ebenfalls ein Kapitel. Hier befasst er sich speziell mit solchen Geschichten, die aus dem Schulbereich stammen, und analysiert die Übereinstimmungen und Unterschiede im Vergleich zu den Fibeltexten auf inhaltlicher und struktureller Ebene. Er zeigt auch kurz die Herkunft bestimmter Formulierungen innerhalb von Unser Herr Böckelmann auf. Dass Kempowski im Fibeltext Veränderungen bzw. Erweiterungen der jeweiligen Textstruktur aus Haumiblau vorgenommen hat, begründet Lehnemann schließlich u.  a. mit der unterschiedlichen Reife der kindlichen Leser (vgl. Lehnemann 2000, 146).

2.6.2  Unser Herr Böckelmann Volker Ladenthin 1 Inhaltsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 2 Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

1 Inhaltsüberblick Das in besonderem Format gestaltete und bebilderte Buch enthält kurze Anekdoten, die von einer nicht genannten Figur über einen Grundschullehrer namens Ernst Böckelmann erzählt werden. Es sind alltägliche Begebenheiten aus der Grundschule einer ländlichen Gemeinde, irgendwann in den 1970er Jahren, einer Zeit mit Fernsehen (vgl. Kempowski 1979a, 40 u. 64) und Audi 100 (vgl. Kempowski 1979a, 22), Bundeswehr und Olympiade (vgl. Kempowski 1979a, 83). Verfasst sind alle Geschichten aus einer kindlichen Perspektive, die zuweilen Hintergründe benennt, oft aber Vorgänge nur beschreibt, ohne den Sinn oder den – oft pädagogischen – Hintersinn zu verstehen. Die lose Sammlung der Geschichten beginnt mit einem Montag und endet mit der Mitteilung des Todes von Herrn Böckelmann und einem Tafelanschrieb über „[d]ie Seele“ (Kempowski 1979a, 96). Das Personal besteht aus dem Titelhelden, dem an einem 12. November geborenen, verheirateten, älteren Grundschullehrer Böckelmann, der kurz vor seiner vorzeitigen Pensionierung steht. Die fiktionalen biographischen Daten Böckelmanns wurden in einer (Schein-)Biographie 1983 nachgetragen (vgl. Kempowski 1983a). Weitere Figuren sind die junge Kollegin Antje Peters und die Schülerinnen und Schüler: der Klassenprimus Engelbert Krummbiel; das „hübsch[e] Mädchen“ (Kempowski 1979a, 17–19) Christel Neumann, das – in der Fiktion – später Böckelmanns schönste Tafelgeschichten herausgeben wird; der „arme Erich“, ein „traurige[r] Fall“, zugleich aber „ein besonderer Mensch“ (alle Zitate

2.6  Kinder- und Schulbücher141

Kempowski 1979a, 43), da er stark autistische Züge hat. Weniger genau geschildert sind die kleine, etwas dickliche Fleischerstochter Gerda Karsten und Andrea, die „wundervoll schreiben“ (Kempowski 1979a, 49) kann, und weitere Kinder (z.  B. drei Jungs mit dem gleichen Namen Andreas). Die Haltung Böckelmanns lässt sich aus seinem Seufzer „Immer diese neuen Moden“ (Kempowski 1979a, 87) weitgehend entnehmen: Ihn zeichnet eine personal gestaltete Pädagogik aus und weniger das Vertrauen auf ich-neutrale methodische Hantierungen. Im Wesentlichen gründet seine Unterrichtskunst in einem besonderen pädagogischen Bezug auf ideenreich gestaltete, personale Verbindlichkeiten. Aus diesem Beziehungsgeflecht entwickelt der Grundschullehrer dann einen sachhaltigen Unterricht. Man würde das Buch aber unterschätzen, wenn man es lediglich als humorvolle Anekdotensammlung über einen angeblich unzeitgemäß gewordenen Pädagogen läse. 2 Analyse Der Reiz des Buches besteht darin, dass die kindliche Perspektive Vorgänge naiv beschreibt und das Beschriebene kaum deutet. So wird dem Leser sehr viel Raum zur kompetenten (erwachsenen, kategorialen) Interpretation gelassen: „Herr Böckelmann ist lieb und streng zu gleicher Zeit, das kann man nicht erklären“ (Kempowski 1979a, 69). Der Leser muss einen neuen Blick auf den Text entwickeln und versuchen, das Implizierte herauszufinden: Die raffinierte Hintergründigkeit bei einer humorvollen, zuweilen lustigen oder kauzigen Vordergründigkeit wird vielleicht helfen, den Erfolg des Buches zu erklären. Dabei stehen inhaltlich pädagogische Themen im Vordergrund, etwa das Missverhältnis zwischen einer auf Instruktionslehre und Normierung ausgerichteten pädagogischen Wissenschaft einerseits und der personalen Vieldeutigkeit, Verbindlichkeit und (wohlverstandenen) Wirkungslosigkeit konkreten pädagogischen Handelns andererseits. Böckelmann achtet seine Schülerinnen und Schüler als Personen, bei denen er nichts „bewirken“ (Kempowski 1979a, 60) möchte, die er aber gleichwohl zum Weltverstehen anregen will. Dabei wird das Zukunftsparadox aller teleologischen Pädagogik von dem kindlichen Personal in schlichten Worten zutreffend beschrieben – ein Paradox, das auch eine noch so raffinierte bildungspolitische Prognostik nicht lösen kann: „‚Ich werde Wissenschaftler‘, sagt Engelbert Bumsfiedel, ‚aber die Wissenschaft, die ich betreiben will, die gibt’s noch gar nicht‘“ (Kempowski 1979a, 18). Wie aber betreibt man Pädagogik, wenn der Zweck, dem sie dienen soll, unbekannt ist? Die vielen Hinweise auf Böckelmanns Leben hinter seiner Rolle als Lehrer, der genussvolle und zugleich mit schlechtem Gewissen behaftete Versuch der Schülerinnen und Schüler, dieses Leben zu erkunden, verweist direkt auf ein anderes Problem: Eine auf Verfahren und Planbarkeit konzentrierte Schulpädagogik beachtet die Bedingtheiten der konkreten personalen Bezüge nur als zu vernachlässigende oder gar störende Größe, während sie – wie das Buch zeigt – im Berufsalltag das Zentrum pädagogischen Agierens sind. Dazu gehören auch

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körperliche und seelische Zustände wie Unlust und Müdigkeit, Mangel an Geduld und persönliche Aversionen oder Verbindlichkeiten, die eben doch alle zwischenmenschlichen Beziehungen, also auch den pädagogischen Bezug, entscheidend gestalten (vgl. Kempowski 1979a, 27 u. 39). Die Geschichten betonen Eigenheit und Differenz der Figuren, eine Kategorie, die in der Bildungsplanung nur als Abweichung von der Norm statistisch verwaltet wird. Im Schulalltag jedoch muss Böckelmann es umdrehen und vom Sonderfall als übliche Erfahrung ausgehen – ohne die Besonderheit als zu erwartende Variation einer eigentlich geltenden Norm schönzureden: „Der arme Erich ist ein trauriger Fall. Der ist irgendwie anders“ (Kempowski 1979a, 43). Die Traurigkeit dieser Besonderheit ist für Böckelmann und seine Klasse die Grunderfahrung, nicht die Verwaltung der Andersartigkeit in den Euphemismen der Bürokratie. Einen großen Reiz gewinnt das Buch aus der Demontage der großen Begriffe der Zeitgeschichte, indem diese kindlich unbedacht verwandt werden: „Unser Lehrer ist ein großer Künstler. Er kann mit beiden Ohren verschieden wackeln…“ (Kempowski 1979a, 15). Letztendlich wird der Begriff der Pädagogik einer Prüfung unterzogen. Damit ist eine Haltung aus dem Befragungsband Immer so durchgemogelt wieder aufgenommen, nämlich die Skepsis dem gegenüber, was Schule, was Pädagogik überhaupt ‚bewirken‘ kann. So verweist etwa die Demontage der hehren Begriffe durch das einfältige Schülerreferat jenes lernpsychologische Axiom in die Schranken, das behauptet, man könne alle Kinder alles jederzeit in dosierbarer und messbarer Komplexität lehren. Die Geschichten belegen das Gegenteil: Der Lerner konstituiert seinen Gegenstand so, wie er es aus seinem individuellen Verstehenshorizont kann und will. Zugleich zeigen die Geschichten, dass Kinder sehr viel mehr lernen, als der Lehrende beabsichtigt. Dies wird immer dann erfahrbar, wenn der kindliche Erzähler in den Geschichten behutsam seine komplexen Deutungen hinter taktvollen Äußerungen versteckt, wenn er verklausuliert ausdrückt, was den Konventionen nach nicht erwünscht ist, aber doch gesagt werden soll (vgl. Kempowski 1979a, 25). Ein weiteres Thema in diesem Buch ist die in der schulpädagogischen Ausbildungsliteratur oft ignorierte emotionale oder gar sexuelle Dimension der schulischen Alltagswelt – auch im Hinblick auf den Lehrer. Das Buch bricht das Tabu der Unaussprechlichkeit dieser Themen, indem es die Betroffenen selbst reden lässt und so Aussagen und Gedanken zulässt, die als geschmacklos, sexistisch oder sogar kriminell gelten (vgl. Kempowski 1979a, 12–13). Deutlich wird dadurch auch, dass Böckelmann eben nicht als der idealisierte konservative Landschullehrer gemeint sein kann, als den viele Kritiker ihn gedeutet sehen wollen, sondern ein „Anti-Lehrer, ein Fossil“ (Kempowski 1979c, 60) ist, ein in sich widersprüchlicher und zerrissener Charakter, „eingezwängt“ (Kempowski 1979c, 60) in einem (Schulverwaltungs-)System, das von den Akteuren das Paradox individualisierter Standardisierungen verlangt: „Dafür werde ich bezahlt“ (Kempowski 1979a, 23).

2.6  Kinder- und Schulbücher143

Auch innerhalb des Gesamtwerks Kempowskis, dessen intendierter architektonischer Charakter zusehends erforscht wird (vgl. Kempowski 1981b, 199–205), kommt den Böckelmanngeschichten eine gewichtige Rolle zu. Zuerst einmal finden sich einfache Werkkommentare in dem Buch, so z.  B. der Hinweis, dass Herr Böckelmann „Lesebuchgeschichten […] nicht [mag], die sind ihm zu albern“ (Kempowski 1979a, 66). Genau dies führt dazu, dass er eigene Geschichten erfindet, ‚Tafelgeschichten‘, von denen einige in diesem Buch abgedruckt sind, die dann aber zu einem eigenen Lesebuch werden (vgl. Kempowski 1983b). Die Interferenzen zwischen dem Böckelmann-Buch und dem Befragungsband Immer so durchgemogelt drängen sich auf, müssten nun aber material untersucht werden. Den zahlreichen Schulerzählungen in fast allen seinen Romanen wird eine weitere Erzählung als Kinderbuch hinzugefügt, so dass auch diese Gattung eine eigene Gestalt bekommt (vgl. Monn 2012, 2–22). Grundsätzlich betrachtet führt das Buch das Konzept einer konsequent perspektivischen Konstitution von Bedeutung und Welt, wie sie von Beginn an in Tadellöser & Wolff angelegt und theoretisch postuliert wurde – „Ich bin nicht der Mittelpunkt der Romane“ (Hage und Kempowski 1972, 348; vgl. auch Kempowski und Johnson 2006b) –, in einer Raffinesse und sprachlichen Konsequenz weiter, die sich in den früheren Texten erst noch vorsichtig gezeigt hatte (vgl. Blomqvist 2009). Der Erzähler wird zu einer restringierten, kategorielosen und gerade dadurch aufklärenden Rollenfigur. Er wird zu einer Stimme im Chor anderer Stimmen, die erst in ihrer Gesamtheit Bedeutung bekommen. Dabei wird jenes aus der Romantik bekannte Verfahren virtuos weitergeführt, eine ‚ver-rückte‘ Perspektive, eine verzerrte Wahrnehmungsform zu wählen, dergestalt, dass durch sie etwas dem konventionellen Blick Verstelltes reflektiert wird, das sich dann als das Eigentliche erweist. Das Buch zielt demnach mehr und anderes an, als ausschließlich subversive Reflexion pädagogischer Praxis, um so ein Beitrag zur wissenschaftlichen Pädagogik zu sein. Es führt bewährte Verfahren literarischen Schreibens zeitgemäß fort, und es lotet Möglichkeiten der Wirklichkeitskonstitution aus: Wie kann etwas an Wirklichkeit bedeutsam zur Sprache kommen, wenn empirische Wissenschaften ihre Deutungshoheit behaupten und scheinbar unantastbar werden? Was geht an möglicher Wirklichkeit verloren, wenn als Welterkenntnis nur das zugelassen ist, was von der Wissenschaft belegt wird? Die Kinder aus diesen Geschichten können das nicht ‚erklären‘ (Kempowski 1979a, 69), aber sie erzählen davon. Die Selbstreferentialität empirischer und quantifizierender Wissenschaft nicht nur skeptisch zu betrachten, sondern nachvollziehbar zu durchbrechen und dabei – wissenschaftlich nicht zu kategorisierende – Bedeutsamkeiten aufzuzeigen, ist die Eigenheit des Buches, welche die Diskussion über die richtige Pädagogik, die richtige Wissenschaft überdauert. Es konstituiert Literatur als Gegensatz. Die ersten zahlreichen Reaktionen auf das Buch lassen sich zum einen in jene unterteilen, die den Protagonisten Böckelmann als idealisierte Darstellung

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eines Lehrers, als „Idealpädagogen“ (Kramberg 1979, 132) deuten und dann – je nach eigener Position – bewerten. Zum anderen gibt es dann noch jene, die ihn als eine „sehr komplexe Persönlichkeit“ mit „abgründiger Phantasie“ (Jansen 1979, 36) sehen, so dass es sich verbietet, die satirische Anlage des Buches durch den Hinweis auf Humor oder Nostalgie zu entschärfen oder in Kategorien zu überführen. Jürgen Osterloh setzt – im Rückgriff auf Überlegungen Hentigs (1981) – die Figur Böckelmanns und die Absicht seiner Schilderung explizit in Bezug zu elaborierten pädagogischen und soziologischen Theorien vom Lehrer (vgl. Osterloh 1989). In dieser Kontrastierung arbeitet er einerseits die Begrenztheit jener wissenschaftlichen Ansätze heraus, die den Lehrer ausschließlich als „Funktionsträger“ (Osterloh 1989, 201) verstehen, und zeigt andererseits jene – von der empirischen oder verfahrenstheoretisch orientierten Wissenschaft nicht erfassten – Dimensionen auf, die vom Lehrer als Person immer mitgestaltet werden müssen (vgl. Osterloh 1989, 203). Xavier Monn bettet seine Analyse in eine umfassende Darstellung des Lehrerbildes bei Walter Kempowski ein. Letztlich schließt er sich Kempowskis Selbstbewertung an, der „Böckelmann“ sei eine „traurige Geschichte“ und ein „Abschiedsbuch von der Schule“ (Kempowski 2009, o.  S.). Das Buch sei ein „Zeugnis der Resignation“ (Kempowski 1990a, 524), [t]raurig deshalb, weil Herr Böckelmann am Ende der Geschichte und kurz vor seiner Pensionierung stirbt. Böckelmanns Tod und Kempowskis Aussagen deuten darauf hin, dass er mit dieser Geschichte sowohl seinen Abschied vom Schuldienst als auch von einem bestimmten Lehrertyp literarisch verarbeitet […]. Für die Lehrperson Böckelmann – und wohl auch für den Lehrer Kempowski – ist kein Platz mehr in der Schullandschaft um 1980 (Monn 2012, 21).

Eine reizvolle Forschungsperspektive könnte künftig darin liegen, am Beispiel von Unser Herr Böckelmann Kinderliteratur als Modus der sukzessiven Einführung in die sprachliche Welterfassung zu verstehen und aus diesem poetologischen Gedanken heraus eine authentische Ästhetik des Kinderbuchs zu entwerfen.

2.6  Kinder- und Schulbücher145

2.6.3  Kempowskis Einfache Fibel Klaus Maiwald 1 Inhaltsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 2 Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146

1 Inhaltsüberblick Kempowskis Einfache Fibel erschien mit Illustrationen von Manfred Limmroth 1980 beim Braunschweiger Verlag Westermann. Ergänzt wurde sie neben einem Lehrerband (vgl. Kempowski 1981c) durch einen Übungsteil (vgl. Kempowski 1981d) und Die 14 Ausschneidebögen (vgl. Kempowski 1981e) zum Nachbasteln der Fibel-Welt. Seit 1993 gab es mehrere Ausgaben der Fibel bei Bertelsmann (München), zuletzt 2002. Eine Fibel ist ein Lehrwerk für das Lesen und Schreiben im muttersprachlichen Anfangsunterricht. Je nach didaktischer Konzeption sind Fibeln ‚synthetisch‘, wenn sie Buchstaben und Silben zu Wörtern und Sätzen fügen, oder ‚analytisch‘, wenn sie umgekehrt aus größeren Sinneinheiten kleinere ausgliedern. Seit den 1980er Jahren geriet das kleinteilige und eng geführte FibelLernen generell in die Kritik; heute gelten vor allem synthetische Fibeln für die Differenzierung und Individualisierung im Schriftspracherwerb durchaus als sinnvoll. Kempowskis Einfache Fibel von 1980 geht nach dem analytisch-ganzheitlichen Prinzip vor. Der Leselehrgang beginnt mit den Namen Renate und Willi sowie mit Wörtern für zu Hause und auch in einem Klassenzimmer naheliegende Dinge: Schrank, Fenster, Heizung, Tür (vgl. Kempowski 1980a, 3–5). Erst nach der Erarbeitung eines kleinen Wortschatzes werden Einzelbuchstaben eingeführt, jedoch stets im Zusammenhang mit Wörtern und Texten, in denen sie gehäuft auftreten. Kempowski hat die Ganzwortmethode im Lehrerband, in diversen Tagebucheinträgen und in einem Vortrag von 1987 über Lesenlernen – trotz aller Methoden. Ein Exkurs über Fibeln (Kempowski 1987b; vgl. auch Lehnemann 2000, 112–120) begründet: Auf einfache, weil anschauliche Weise könnten die Kinder mit der Ganzwortmethode die Schrift erlernen; eine Fibel solle „ein richtiges Buch, kein Zurichtungsinstrument“ (Lehnemann 2002, 114) für bloße Lesetechnik sein. Neben der Verpflichtung auf eine didaktisch-methodische Konzeption erfüllt Kempowskis Einfache Fibel weitere Merkmale der Textsorte: Sie hat einen hohen Bildanteil, den der Karikaturist, Kabarett-Texter, Zeichner, Maler und Kinderbuchautor Manfred Limmroth beisteuerte. Gezeigt wird eine klassische Familie mit Vater, Mutter, Kindern; Oma und Opa, auf die als phonologisches Minimalpaar keine Fibel verzichten kann, wohnen im eigenen Haus. Die Progression der Szenen spiegelt den jahreszeitlichen Lauf des Schuljahres vom herbstlichen Nebel bis zum letzten Schultag im Sommer wider. Die kindliche Erfahrungswelt steht dabei immer im Zentrum, zu sehen sind positiv

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Abb. 1: Analytisches Prinzip (und bürgerliches Ambiente) in Kempowskis Einfache Fibel (4–5)

besetzte und auch lustige Situationen beim Spielen, bei Ausflügen oder mit Haustieren – nur am Rande taucht die Schule auf. Probleme werden darüber nicht ausgespart, sowohl aus dem kindlichen Nahbereich (Zahnweh, kalte Heizung) als auch aus dem gesellschaftlichen Umfeld: Schon 1980 sind Öl und Benzin knapp, Verkehr und Müll wirken bedrohlich. Der Textanteil schreitet von einfachen Wörtern und Sätzen über zusehends längere Reime, Geschichten und Märchen zu einer abschließenden Doppelseite mit Schildern, Plakaten und Kleinanzeigen, wobei sich realistische, komische und phantastische Texte mischen. So verwandelt sich die Fibel von einem Lernbuch „langsam in ein Lesebuch“ (Lehrerband, zitiert nach Lehnemann 2000, 118). 2 Analyse Kempowskis Einfache Fibel kann erstens als lesepädagogisches Lernmittel, zweitens als biographisch-psychologisches Dokument und drittens im Kontext des literarischen Werkes rezipiert werden. Dass Kempowskis Einfache Fibel keine Zulassung als Lernmittel erhielt (vgl. Lehnemann 2000, 119; Hempel 2004, 166), verwundert wenig: Unzeitgemäß führt sie eine kleinbürgerliche Kernfamilie im Reihenhaus mit traditioneller Rollenverteilung und – zumindest vordergründig – eine recht idyllische Welt vor. Zudem galt die Ganzheitsmethode bei der Veröffentlichung des Lehrwerks

2.6  Kinder- und Schulbücher147

Abb. 2 u. Abb. 3: Nachbildung des eigenen Unterrichts in Kempowskis Einfache Fibel (vgl. Neumann 1980a, 32 [Ausschnitt]; u. Kempowski 1980a, 25)

als überholt, und das Fibel-Lernen geriet generell in die Kritik. Darüber hinaus ist aus Michael Neumanns Fotodokumentation Kempowski der Schulmeister (1980) ersichtlich, dass die Einfache Fibel sehr stark Kempowskis eigenen Unterricht nachbildete (Abb. 2 u. 3). Fotos zeigen, wie Schüler Kärtchen mit den Wörtern Heizung, Tisch oder Wasser an entsprechenden Gegenständen im Klassenzimmer anbringen oder wie Türme aufgerichtet bzw. an die Tafel gezeichnet werden (vgl. Neumann 1980a, 20  f., 32–35). Dieselben Wörter werden auch zu Beginn der Fibel eingeführt, ebenso gibt es dort für den Buchstaben T/t einen Turmbau (vgl. Kempowski 1980a, 25). Von der Tafel seines Klassenzimmers übernommen hat Kempowski auch die Geschichte von der Dame mit den drei Dackeln (vgl. Neumann 1980a, 53; Kempowski 1980a, 68). Da mit einer Zulassung als Lehrwerk kaum zu rechnen war und Kempowski sich bereits 1981 aus dem Schuldienst beurlauben ließ, ist seine Einfache Fibel nicht nur als lesepädagogische Konzeption, sondern auch als biographisch-psychologisches Dokument zu sehen. Einmal drückt sich darin das Selbstverständnis eines (selbsterklärten) ‚Dorfschullehrers‘ aus, welcher stark von reformpädagogischen Ideen geprägt war und den tiefgreifenden Bildungsreformen der 1970er Jahre sehr skeptisch gegenüberstand (vgl. zusammenfassend Hempel 2004, Kap. 6 u. 7). Weil ihm gängige Lese-Lernmethoden nicht kindgemäß schienen, arbeitete Kempowski eben ohne oder mit einer eigenen Fibel; weil er sich die Gesellschaftskritik der ‚68er‘ nicht zu eigen machte, führte er ein intaktes bürgerliches Familienleben vor. In einem weitergehenden

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psychologischen Sinn drückt sich auch in der Fibel Kempowskis lebenslanges Bestreben aus, Verlorenes wieder herzustellen, Flüchtiges festzuhalten und Bleibendes zu schaffen. Die begleitenden Ausschneidebögen (vgl. Kempowski 1981e) sind hierfür symptomatisch: Mehr noch als reformpädagogisch erwünschter Anschaulichkeit entsprechen sie dem Menschen, der seine verlorene Heimatstadt Rostock im Papiermodell nachbaute (vgl. Hempel 2004, 163). Kempowski selbst ebenso wie die Kempowski-Forschung haben verschiedentlich die Kontinuitäten zwischen dem Lehrer und dem Literaten hervorgehoben (vgl. Damiano 2005b, 184; Hempel 2005, 31; Henschel 2009, 152; Hansel 2010), so dass auch die Einfache Fibel als Teil des literarischen Werks aufzufassen ist. Naheliegend ist hier einmal der Kontext verschiedener literarischer „Spiegelungen des Schulmeisters“ (Lehnemann 2000, 146–148): Herrn Böckelmanns schönste Tafelgeschichten (vgl. Kempowski 1983b) sind eine Art Fortsetzungslesebuch zur Fibel, die Pfenniggeschichten in Haumiblau (vgl. 1986a) zeigen auffällige Parallelen zu den Fibel-Texten, in den Romanen der Deutschen Chronik tauchen diverse Lehrer auf, die nach der Ganzwortmethode arbeiten, und in dem späten Roman Heile Welt (1998) ließ Kempowski die von den Reformen der 1970er Jahre noch unberührte – deswegen aber keineswegs idyllische – Dorfschule wieder auferstehen. In einem weitergehenden Sinn kann die Einfache Fibel als Mikrokosmos der Gedankenwelt und des literarischen Programms ihres Autors gelesen werden (vgl. Maiwald 2010). Nicht nur führt sie, wie bereits das Wohnzimmer (Abb. 1) zeigt, eine gut bürgerliche Familie vor, auch ist sie durchzogen von unterschwelliger Fortschrittskritik und sanfter Nostalgie: Im Wohnzimmer stehen Modelle von Segelschiffen, ein altes Bauernhaus verfällt zwischen Neubauten am Autobahnkreuz, wiederholt klingt die Textsorte Märchen an (vgl. Kempowski 1980a, 80, 90  f., 100, 102  f.). Typisch für Kempowski gibt es Brüche in einer vordergründig heilen Welt; bereits in die Wohnzimmeransicht hat sich ein heruntergefallener Bilderrahmen geschlichen. Daneben gibt es in der Fibel-Welt erheiternden und befreienden Unsinn – wie „Vom Dach / in den Bach / das macht wach“ (Kempowski 1980a, 77) –, insbesondere in den Schildern, Plakaten und Kleinanzeigen, die das Buch abschließen. (Abb. 4) Genauso wie Kempowskis Romane verströmt die Einfache Fibel einen Hauch lakonischer Ironie und zarter Groteske; genauso wie in den Romanen tun sich Risse in einer scheinbaren Behaglichkeit auf; genauso wie in den Romanen gibt es einen explizit kommentarfreien, implizit gleichwohl differenzierenden Blick. An alte Zeiten wird erinnert, ohne sie zu verklären, und die Gegenwart wird weder bejubelt noch denunziert. Genauso wie in den Romanen sind Menschen und Dinge nicht einseitig schwarz oder weiß gezeichnet, sondern in Zwischentönen und mit feiner Dialektik:

2.6  Kinder- und Schulbücher149

Abb. 4: Erheiternder und befreiender Unsinn zum Abschluss von Kempowskis Einfache Fibel (Kempowski 1980a, 109 [Ausschnitt])

Es gibt gute, und es gibt böse Nachbarn. Böse Nachbarn stellen das Fernsehen zu laut an, sie laufen einfach durch unseren Garten und sagen nicht guten Tag. Gute Nachbarn lächeln, wenn man sie sieht. Sie passen auf die Kinder auf und leihen einem auch mal einen Löffel Essig, wenn man gerade keinen Essig hat. Wir selbst sind auch gute und böse Nachbarn, je nachdem. (Kempowski 1980a, 98)

Traditionelle Bürgerlichkeit, die Spannung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die Brüche in einer scheinbaren Idylle, der Zug ins Ironische und Groteske, das wertungsfreie Zeigen – all diese Aspekte, die Kempowskis literarisches Werk prägen, kommen auch in der Einfachen Fibel zum Vorschein (vgl. Maiwald 2010, 343). Kempowski war stets ein „Beobachter, der mittels der

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Literatur eine historische Zeit abbildet, bestimmte Verhältnisse zeigt, Denken und Handeln des Bürgertums vorführt“ (Hempel 2004, 131) und sich dabei immer wieder der eigenen Biographie versichert. So besehen ist auch Kempowskis Einfache Fibel ein kleines Rädchen in dem großen Werk, das der Schriftsteller ein Leben lang betrieben hat.

2.6.4 Kempowskis Einfache Fibel. Übungsteil / Die 14 Ausschneidebögen Annika Hagen 1 Inhaltsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 2 Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151

1 Inhaltsüberblick Kempowskis Einfache Fibel ist ein für Erstklässler an deutschen Grundschulen konzipierter Leselehrgang, der 1980 im Westermann Verlag erschienen ist. Ein Jahr später brachte der Verlag drei Begleitwerke heraus: einen Lehrerband (vgl. Kempowski 1981c), der methodisch-didaktische Erläuterungen und konkrete Hinweise zum Umgang mit der Fibel enthält, ein Übungsteil genanntes Arbeitsheft für Schüler mit Aufgaben (vgl. Kempowski 1981d), die eng an den Fibelinhalt angelehnt sind, sowie Die 14 Ausschneidebögen (vgl. Kempowski 1981e). Bei dem Übungsteil und den 14 Ausschneidebögen handelt es sich um auf festen Karton gedruckte Figuren und Gegenstände, die zum Ausmalen, Ausschneiden und Zusammenbauen entworfen wurden. Alle drei Publikationen sind von dem Grafiker Manfred Limmroth illustriert worden, wodurch ein Wiedererkennungseffekt zwischen der Fibel und den Übungsmaterialien entsteht. Kempowskis Einfache Fibel folgt der Methode des analytischen Leseverfahrens. Bei dieser Leselernmethode werden Wortbilder ganzheitlich erfasst, im Gegensatz zum synthetischen Ansatz der Buchstabier- oder Lautiermethode. Begonnen wird mit kurzen Sätzen, in denen die Hauptpersonen des Leselehrgangs vorgestellt werden: „das ist Renate“ und „das ist Willi“ (Kempowski 1980a, 3). Darauf folgen einfache Begriffe aus dem schulischen und häuslichen Umfeld sowie einfache Fragewörter. Erst nachdem ein Grundwortschatz an ganzheitlichen Wortbildern aufgebaut ist, werden schrittweise die einzelnen Buchstaben eingeführt. Im Mittelpunkt der meisten Fibeltexte stehen die Geschwister Willi und Renate sowie deren Eltern, Großeltern und Haustiere. Die Erfahrungen und Erlebnisse aus der Lebenswelt dieser Familie füllen den Inhalt der ersten zwei Drittel des Buches. Danach folgen zunehmend andere Textsorten und -inhalte. Orientiert am zeitlichen Verlauf eines Schuljahrs werden dementsprechend Jahreszeiten, Feiertage und Ferienzeiten

2.6  Kinder- und Schulbücher151

thematisiert. Die Lesetexte werden stetig länger und komplexer und lassen die Einfache Fibel allmählich zu einem Lesebuch werden. Der Übungsteil unterstützt die Leselernmethode der Fibel, indem auf die Erlebnisse von Willi und Renate rekurriert wird und diese zu Lektionen erweitert werden. Die aus der Fibel bekannten Ereignisse, verbunden mit den gleichen Wortbildern und Illustrationen von Manfred Limmroth, bilden den Ausgangspunkt der Übungsaufgaben, bleiben jedoch nicht auf bloße Reproduktion beschränkt. Der Übungsteil ist trotz der Bezugnahme auf die Fibel auf Interaktion und Transfer ausgelegt. So lauten die Aufgaben zu „Akkustische und optische Differenzierung O o“: „1 Wörter lesen, ordnen und aufkleben; R O ergänzen bzw. ganze Wörter schreiben[,] 2 Akustische Übung: Gegenstände mit und ohne O o erkennen“ (Kempowski 1981d, 21). Auch die Ausschneidebögen sind auf eine kreative Lerninteraktion ausgerichtet, die über spielerische Bastelei hinausgeht: „In der Mitte gibt es einen vorgefertigten Kasten, in den man z.  B. ausgeschnittene Bilder, selbstgefertigte Wortkarten u.  dgl. bis zu einer Größe von DIN A5 im Querformat hineinstellen und aufbewahren kann.“ (Kempowski 1981e, o.  S.) Entsprechend zur Fibel ist auch jede Seite des Übungsbands von einem farbigen Rahmen umgeben und bildet eine abgeschlossene thematische Lerneinheit. Wenn sich eine Seite einem bestimmten Buchstaben widmet, so ist dieser als Majuskel und Minuskel rechts oben abgebildet. Links daneben befinden sich Lernwörter mit den entsprechenden Buchstaben, die ausgeschnitten und eingeklebt werden sollen. Werden die Textinhalte des Leselehrgangs in der Fibel zunehmend tiefgründiger und bieten sie Gesprächs- und Schreibanlässe, finden sich auch zunehmend komplexere Aufgaben und Inhalte im Übungsteil. In lakonischer Knappheit und ironischer Gegenüberstellung werden in der Fibel alltägliche, aber auch moralische Probleme angerissen, die unaufgelöst bleiben und deshalb einen hohen Aufforderungscharakter besitzen. Sie laden durch Reproduktion und Transfer im Übungsteil zum Weitererzählen, zur Nachahmung, Reflexion oder Diskussion ein und entsprechen damit dem Prinzip des schülerorientierten, situationsbezogenen Unterrichts der Reformpädagogik, dem Kempowski zeitlebens folgte. 2 Analyse Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Übungteil fand bisher nur im Kontext der Einfachen Fibel statt. Widmar Lehnemann liefert eine ausführliche Bestandsaufnahme der Einfachen Fibel und stellt ihren Inhalt, die Schriftspracherwerbs-Methode und den didaktischen Unterbau dar (vgl. Lehnemann 2000). Dabei bezieht er sich einerseits auf Erläuterungen aus dem Lehrerband, andererseits verweist er auf Zitate Kempowskis, vor allem auf Passagen aus dem Tagebuch Sirius (vgl. Kempowski 1990a) und aus Kempowskis pädagogischem Vortrag am Georg-Eckert-Institut mit dem Titel Lesen lernen – trotz aller Methoden. Ein Exkurs über Fibeln (vgl. Lehnemann 2000, 112–120).

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Daneben hebt Lehnemann die signifikanten Verbindungen zu Herrn Böckelmanns schönste Tafelgeschichten (vgl. Kempowski 1983b) hervor, die sich auf Situationen aus der Fibel oder auf bestimmte Fibeltexte beziehen. Die Einfachheit der Fibel sieht er sowohl in der Methode und im Aufbau als auch in der inhaltlichen Dimension begründet, die sich in einer geordneten Wirklichkeit abspielt und dabei Zeitkritisches ausklammert. Michael Neumann hingegen portraitiert Kempowskis Lehrerdasein in dem Fotoband Kempowski der Schulmeister. Ein Schuljahr lang begleitete er ihn bei seiner Arbeit an der Mittelpunktschule in Zeven. Kempowski lehrte zu diesem Zeitpunkt ohne Fibel, da ihm keine geeignet genug erschien, den Schülern zu helfen, den Schritt der Abstraktion zu bewältigen, der beim Lesen- und Schreiben-Lernen notwendig ist (vgl. Neumann 1980a, 20). Neumanns Dokumentation des Unterrichts belegt, dass einige der Morgenkreis- und Tafelgeschichten in nahezu unveränderter Form in die Einfache Fibel aufgenommen wurden. Auch Klaus Maiwald knüpft zunächst an den biographisch-pädagogischen Hintergrund von Kempowskis Einfacher Fibel an. Er legt die Charakteristika des Lernmediums dar und betrachtet die Einfache Fibel im Kontext der Didaktik um 1980. Dass die Einfache Fibel keine Zulassung als Lehrmittel erhielt, begründet Maiwald mit der idyllisch dargestellten Fibelwelt, die nicht mehr zeitgemäß erschien, und vor allem mit der Ganzheitsmethode Kempowskis, die um 1980 definitiv überholt war (vgl. Maiwald 2010, 339). Neumanns Dokumentation legt nahe, wie sehr Kempowskis Fibel seinen eigenen Unterricht nachbildet. Deshalb findet Maiwald „die Vermutung nicht abwegig, dass es Kempowski weniger um ein marktfähiges Lernmittel und die Verbreitung lesepädagogischer Ideale zu tun war, als darum, von seiner Arbeit etwas Bleibendes zu hinterlassen“ (Maiwald 2010, 340).

2.6.5  Herrn Böckelmanns schönste Tafelgeschichten Volker Ladenthin 1 Inhaltsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 2 Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153

1 Inhaltsüberblick In Walter Kempowskis Anekdotenband Unser Herr Böckelmann berichtet ein ungenannter Erzähler, dass der Lehrer Böckelmann „kleine Geschichten an die Tafel“ (Kempowski 1979a, 14) schrieb. 1983 erschienen dann Herrn Böckelmanns schönste Tafelgeschichten im gleichen Buchformat 30 × 18 cm wie der Vorläufer und „wiederum illustriert von Roswitha Quadflieg“ (Kempowski 1983b, 3). Der Band beinhaltet auf 135 Seiten kurze Geschichten, die nicht historisch oder systematisch, sondern wie die ältesten überlieferten Schulbü-

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cher „nach dem ABC geordnet“ (Kempowski 1983b, 3) sind. Als für die Publikation verantwortliche Person zeichnet jene fiktive Christel Neumann, die schon in Unser Herr Böckelmann als Lieblingsschülerin desselben beschrieben wurde und diesen nun in einer untitulierten Einführung als „unser[en] Lehrer“ bezeichnet, der schon „so lange tot“ (Kempowski 1983b, 5) sei. Sie berichtet von Klassentreffen, in denen man des Lehrers gedenke, seine Geschichten vorläse und Anekdoten austausche (vgl. Kempowski 1983b, 5). Das Buch, das in zwei Ausgaben (eine davon mit Goldprägung) publiziert wurde, besteht aus 25 Kapiteln, die jeweils von einer zumeist vierteiligen und zweispaltigen Tafel eingeleitet werden, in deren linker Spalte der jeweilige Buchstabe in zumeist vier unterschiedlichen Schrifttypen zu sehen ist. Rechts daneben sind Bleistiftzeichnungen abgebildet, die sich auf einige der folgenden Geschichten beziehen. Bei den Texten handelt es sich um kleine Prosastücke, die man sich als schulischen Tafelanschrieb ebenso vorstellen kann wie als Lesebuchgeschichten. Solche und ähnliche Geschichten wurden früher in den Grundschulen diktiert oder an die Wandtafel geschrieben und dann von den Schülern in die eigenen Hefte übertragen (vgl. die Fotographien samt Schülermitschriften bei Neumann 1980a, 45 u. 53); sie dienten der formalen Schreib- und Leseübung (vgl. Kempowski 1987b). Die Geschichten beziehen sich auf kindliche Erlebenswelten und thematisieren zivilisatorische Alltäglichkeiten (Ampel), Lebensformen (Besuch, Einkaufen), Berufe (Architekt, Bademeister), Natur (Fische, Jahreszeiten), Geographie (Fluss), Sensationen und Spektakel (Boxen), politische Sachverhalte (Bundeskanzler, Demonstration), sozio-ökonomische Fragen (Gastarbeiter), Eigenschaften (Mut), kulturspezifische Themen (Advent), aber auch Grundkategorien (Tod, Idee). Es gibt zudem einige kleine Texte, die nicht in die bisherigen Kategorien zu integrieren sind, die sich problemlos in Grundschullehrplänen wiederfinden ließen, so beispielweise die Geschichten „Die altmodische Familie“, „Die moderne Familie“, „Böse Frauen“, „Die hübsche Frau“, „Die ärgerliche (und schlimme, traurige) Geschichte“, „Gott sei Dank“, „Der Idiot“, „Das schöne Mädchen“, „Der alte (berühmte, böse, kluge) Mann“ oder „Ute“. Mit „Die Woche“ ist auch ein Gedicht mit abgedruckt (vgl. Kempowski 1983b, 126). Zuweilen gibt es Geschichten, die ironisch den Vorgang des Tafelanschriebs selbst oder den Autor – nicht aber die Person Böckelmann – thematisieren, wie die Geschichte „Kempowski“ (Kempowski 1983b, 64). 2 Analyse Die Texte scheinen unendlich variationsreich; sie entsprechen aber durchgängig bekannten pädagogischen Prinzipien von Unterrichtsgestaltung: dem Prinzip der Anschaulichkeit, d.  h. sie knüpfen an die kognitiv-emotionale Disposition der (kindlichen) Leser an; sie sind sachhaltig, wobei der angesprochene Sachverhalt aber nicht immer der der Überschrift ist; sie erweitern das spezifische Thema ins Allgemeine (Exemplarizität); sie enthalten immer eine Problematisierung; sie initiieren die Frage nach der Bedeutsamkeit des Themas für den

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kindlichen Leser (Konzentration). Alle Tafelanschriebe sind im Hinblick auf die letztlich von J. F. Herbart stammenden Formalstufen (vgl. Kempowski 2008, 245: „große Linien“) gestaltet  – allerdings keineswegs formal, starr oder in dieser Reihenfolge (vgl. Kempowski 2008a, 245; vgl. auch Rekus und Mikhail 2013). Insgesamt entsprechen die Geschichten vielen Anforderungen der von der Reformpädagogik geprägten Medientheorie, z.  B. der „Herstellung eigener Lehrmittel als Ausdruck erzieherischer Autarkie“ (Dierks 1984, 47; vgl. hierzu die Abbildungen der selbst erstellten Materialien bei Neumann 1980a, 80). Dies wird von Kempowski an anderer Stelle notiert, wenn etwa über Herrn Böckelmann gesagt wird, dass er „Lesebuchgeschichten […] nicht [mag], die sind ihm zu albern“ (Kempowski 1979a, 66). Für den erwachsenen Leser hat der Aspekt der Problematisierung sicherlich die größte Bedeutung. Sie erfolgt häufig in Form von Fragen, nicht selten aber auch durch eine scheinbar neutrale Information, die erst der Leser mit einer früheren Information in Verbindung bringen muss, um auf ein Problem zu stoßen: „Fernsehen. […] Am besten ist, jeder hat seinen eigenen Apparat. Das ist aber eine teurere Angelegenheit.“ (Kempowski 1983b, 35) Das Problem des Sozialgefälles im Mediengebrauch bleibt unausgesprochen, aber reflektierbar. Schließlich gibt es Geschichten, die von der Überschrift her auf andere Geschichten Bezug nehmen und so den Sachverhalt problematisieren: „Die altmodische Familie“ – „Die moderne Familie“ (vgl. dazu auch ausführlich Lehnemann 2000). Die Geschichten lassen sich mindestens aus drei vom Autor deutlich gesetzten Bedeutungsperspektiven interpretieren: Zum einen sind es tatsächlich kleine Texte für den (Grund-)Schulalltag. Geschichten in einer einfachen Sprache, aus der kindlichen Erfahrungswelt in stets weiterführender, bildender Absicht: Die Geschichten informieren, sie üben ins Lesen und Schreiben ein – sie fordern aber zudem zum Bedenken des Gelernten auf, zum Weiterführen des Gedankens, zum Bedenken der Konsequenzen und zum Problematisieren. Insofern sind es genuin pädagogische Geschichten und können aus dieser Perspektive fachwissenschaftlich bewertet werden. Dass allein ihr Vorhandensein eine Herausforderung an die institutionalisierte Pädagogik darstellt, dass sie daher von sich aus gegen den pädagogischen Mainstream der 1970er Jahre geschrieben sind, hatte Kempowski selbst so gesehen: „Ich habe es gewagt, nach eigenem Gusto zu unterrichten: ohne Fibel! Das war früher durchaus üblich. Heute ruft das schon die Schulbehörde auf den Plan“ (Kempowski 1979c, 65). Pädagogisch bedeutsam sind die Geschichten, weil die Leser aus der Perspektive einer erahnten, aber nie selbst eingreifenden, erfahrenen Person Sachverhalte in einer sprachlichen Gestalt präsentiert bekommen, die innehalten, stutzen, staunen und verwundern lässt oder Irritation auslöst. Die Geschichten stellen weder nur dar noch kommentieren sie, sondern sie fordern zum ergänzenden Verstehen und zur Bewertung heraus. Erst in dieser problematisierenden Verarbeitung durch den (kindlichen) Leser gewinnen sie ihre intendierte schulpädagogische und bildende Bedeutung. Sie sind eine Einführung in das Philosophieren mit Kindern.

2.6  Kinder- und Schulbücher155

In einer zweiten Dimension erschließen sich die Tafelgeschichten dem erwachsenen Leser auf eine zusätzliche Art, weil er schnell erkennt, dass sich diese einfachen Geschichten in epochaltypische und damit über den kindlichen Erfahrungshorizont hinausgehende Fragestellungen einmischen. Die Tafelgeschichten versuchen, lebensrelevante Fragestellungen zu finden, die ebenso grundsätzlich-fundamental wie unmittelbar-erfahrungsgesättigt sind. Insofern ist dieses Buch nicht einfach eine launige Geschichtensammlung, sondern es gerät zu einer Enzyklopädie der Moderne, in der der Verfasser unter dem Zwang des Alphabets jene Themen aufgreift, die für die moderne menschliche Existenz bedeutsam sind. Die fundamentalen Problematisierungen erfolgen aber nicht aus einem vorab geklärten System, sondern werden in den Themen aufgespürt: „Die Seele steckt in uns wie ein kleiner Mensch. […] [K]einer hat sie gesehen.“ (Kempowski 1983b, 102) Die Gewissheit der ersten Aussage und die Selbstverständlichkeit, mit der im Alltag von ‚Seele‘ gesprochen wird, werden in ihrer Wörtlichkeit problematisiert. Die abschließende Behauptung ist ebenso schlicht wie grundsätzlich: Wieso kann sich menschliches Selbstverständnis durch etwas (massiv) konstituieren, was man nicht sehen bzw. nachweisen kann? Antwort: „Keiner weiß es…“ (Kempowski 1983b, 102). Dem erwachsenen Leser werden verzwickte Geschichten vorgestellt, wobei die Problematisierungen nicht nur überraschen, sondern die Sachverhalte aus Anthropologie, Kultur, Zivilisation, Alltag, Lebensformen, Berufen, Natur, Geographie, Öffentlichkeit, Politik, Ökonomie und Gesellschaft in Frage stellen. Sie formulieren ausgehend von einem einfachen Sachverhalt Fragen existenzieller oder grundsätzlicher Art. Diese Geschichten wären demnach inhaltlich-philosophisch, aber auch literarisch zu deuten; Letzteres als Frage der Beschreibung des Unbeschreibbaren  – nämlich der Frage nach Sinn in einer sinnlosen, d.  h. nach-metaphysischen Welt. Damit korrespondiert dieser Band und sein Gestaltungsprinzip komplementär mit dem genealogischen Gestaltungsprinzip der Deutschen Chronik und der ‚Zweiten Chronik‘: hier die (alphabetisch-systematische) Ordnung der Welt – die aber nicht einer sachlichen oder weltanschaulichen Ordnung entspricht (vgl. Lehnemann 2000, 122) –, dort die genetisch-historische Erklärung der Gegenwart als Gewordene. Die dritte Bedeutungsdimension ist die Adressierung an bewährte Kempowski-Leser, denen hier ein indirekter Kommentar zur schriftstellerischen Arbeit und zu vielen, von Walter Kempowski immer wieder gestellten Fragen signalisiert wird: Nicht nur eine Geschichte über den Schriftsteller Kempowski (vgl. Kempowski 1983b, 64), sondern auch jene Geschichten über Ansichtspostkarten, Fernsehen, das Gehirn, Hoffnung, den „berühmten Mann“ (Kempowski 1983b, 73), Lehrer oder Zeitungen erschließen sich durch die Kenntnis anderer Werke Kempowskis. Hierzu gehört auch das Versteckspiel des Vorwortes, in dem der Name Neumann einmal an einen Lehrer Walter Kempowskis namens Neumann (vgl. Kempowski 1990a, 64 u. 267) erinnert, und dann an Michael Neumann, der Kempowski bei seiner Arbeit als Dorfschullehrer porträtierte (vgl. Neumann 1980a). Die Themen stellen

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sich als Vorstufen oder Kommentare dar, als heimliche Beiträge zu einem von den vielen Lesern damals erwarteten Selbstporträt – freilich nicht derart, dass Kempowski sich hier beschriebe, sondern derart, dass er sich ‚indirekt direkt‘ äußert. Die Aussagen über Herrn Böckelmann scheinen dann als Aussagen über Walter Kempowski zu deuten zu sein  – nur wie? Aufschlussreich sind für diese Dimension jene Begriffe, die ausdrücklich Befindlichkeiten beschreiben, wie „Glück“ (vgl. Kempowski 1983b, 46), „Hoffnung“ (vgl. Kempowski 1983b, 53), „Mut“ (vgl. Kempowski 1983b, 78), „Ohnmacht“ (vgl. Kempowski 1983b, 85), „Qualen“ (vgl. Kempowski 1983b, 91), „Schande“ (vgl. Kempowski 1983b, 97), „Wünsche“ (vgl. Kempowski 1983b, 127) und ‚Wut‘; merkwürdigerweise fehlt das Lemma ‚Liebe‘. Die Auswahl wirkt wie eine fiktionale Stellungnahme zum Selbstporträt in einer anderen Person. In interpretatorischer Hinsicht sind die Umformulierungen der Geschichten „Gehirn“ (Kempowski 1983b, 43), „Die Hochzeit“ (Kempowski 1983b, 52) und „Leuchtturm“ (Kempowski 1983b, 70), die schon in Unser Herr Böckelmann (vgl. Kempowski 1979a) abgedruckt waren, noch zu entdecken. Diese beschriebene Mischung aus naiv-raffinierter Schreibweise, fiktionaler Authentizität und maskiertem Selbst-Porträt sowie die gelungene Doppeladressierung an Kinder und Erwachsene verschaffte dem Buch eine Leserschaft, die über den ersten Adressatenkreis der Grundschüler hinausging und auf wohlwollende Kritiken traf. Albert von Schirnding betont in seiner Rezension, die den Hinweis auf das historische Vorbild von Amos Comenius’ Orbis sensualium pictus gibt, den ordnungsstiftenden Charakter der Geschichten, die aus einer einheitlichen Weltsicht, in deren Mitte der Lehrer Böckelmann sitze, geschrieben seien. Es werde eine Welt geschildert, die „nicht ganz aus den Fugen geraten“ (Schirnding 1983, 10) sei. Einen „Reiz“ der Geschichten sieht er im „Anachronismus“ und im Reflexion anregenden Umgang mit „Sprachregelungen“: „Mit den Wörtern geht die Erfahrung verloren“ (Schirnding 1983, 10). Eine pädagogisch wohlfundierte Klärung der bildungstheoretischen und medienpädagogischen Voraussetzungen, die das Verständnis der Tafelgeschichten leiten müssen, ist frühzeitig und behutsam von Walter Dierks vorgenommen worden: Er zeigt die biographischen Verknüpfungen Kempowskis mit einer Medientheorie „im Horizont der Reformpädagogik“ (Dierks 1984, 47) auf. Er nennt die entsprechenden Autoren und Theoreme und beschreibt Durchführung sowie Darstellungsprinzip: „Der so angelegte Aneignungsvorgang besteht so aus der selbständigen Erarbeitung von Form und Inhalt des ohne Kommentar präsentierten Wirklichkeitspartikels“ (Dierks 1984, 49) bzw. seiner sprachlichen Gestaltung. Die Rezeption der Texte in der grundschulpädagogischen Literatur ist noch nicht erforscht; es deutet sich aber eine positive Aufnahme an, die den Geschichten attestiert, „in besonderer Weise geeignet“ zu sein, „Kinder zu ermutigen, ihren subjektiven Gedanken mit ihren Wörtern eine eigene individuelle Text-Gestalt zu geben“ (Krawitz 1996, 327–328).

2.6  Kinder- und Schulbücher157

In einer umfassenden und vergleichenden Analyse stellt Widar Lehnemann den Bezug zu anderen Fibeltexten Kempowskis her und zeigt in textgenauen Detailanalysen die pädagogische Struktur dieser „allgemein für ‚Leser‘“ (Lehnemann 2000, 124) bestimmten Geschichten. Ihre Bedeutung liege darin, „Selbstverständliches in Frage zu stellen und Bekanntes unter neuen Aspekten zu sehen“ (Lehnemann 2000, 122–123).

2.6.6 Unser Herr Böckelmann. Sein Lebenslauf. Aufgezeichnet und illustriert von Prof. Jeremias Deutelmoser, 1. Vorsitzender der Böckelmann-Gesellschaft Volker Ladenthin 1 Inhaltsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 2 Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158

1 Inhaltsüberblick Die als „PR-Maßnahme“ (Kempowski 1990a, 140) geplante Schrift, immerhin mit einer ISBN-Nummer versehen und 1983 für die Schutzgebühr von 2,– DM (= etwa 1,– €) im Buchhandel zu erwerben, erweckt den Eindruck, eine systematisch-biographische Ergänzung zu den beiden BöckelmannBüchern Unser Herr Böckelmann (vgl. Kempowski 1979a) und Herrn Böckelmanns schönste Tafelgeschichten (vgl. Kempowski 1983b) zu sein. Sie enthält eine in bemühter wissenschaftlicher Sprache verfasste Biographie des in den beiden Büchern genannten Lehrers Ernst Böckelmann mitsamt 17 Fotographien und drei Faksimiles von Schülerbriefen. Das Leben Böckelmanns erweist sich als exemplarische Biographie eines im Jahre 1911 geborenen Deutschen der Mittel- oder Kleinbürgerschicht mit Matrosenanzug, halbakademischer Ausbildung am Lehrerseminar Oldenburg, früher Heirat, Landschullehrertätigkeit, NSDAP-Mitgliedschaft  – ab 1936, also dem Zeitpunkt der von ihm geschätzten Olympischen Spiele –, Militärzeit und Kriegsgefangenschaft bis 1948 und bescheidenem Wohlstand nach 1950. Im Text werden zudem die Lebensgeschichten von drei Schülern aus dem ersten Böckelmann-Buch (Christel Neumann, Engelbert Krumbiel und der ‚arme Erich‘) kurz erwähnt. Der Verfasser berichtet von einer überaus positiven Resonanz auf die Böckelmann-Bücher; zum Beleg werden drei (fehlerhafte) Kinderbriefe faksimiliert abgedruckt.

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2 Analyse Der Titel der kleinen Schrift verweist auf ein literarisches Genre, das in Deutschland am prominentesten durch Thomas Manns Roman Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde (1947) oder Hermann Hesses Glasperlenspiel. Versuch einer Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht samt Knechts hinterlassenen Schriften (1943) vertreten ist: die „fiktive Biographie“ (Kempowski 1990a, 149). Vergleichbar sind der exemplarische Anspruch, die ironische Inszenierung einer wissenschaftlichen Erzählweise und deren Desavouierung durch den ungelenken und dadurch wiederum komisch wirkenden Stil. Der Deutelmoser-Text ist illustriert. Bereits das Titelfoto offenbart den Geist der Illustration, denn die Abbildung ist schräg, „wie in einem Fotoalbum“ (Kempowski 2005a, 281), einmontiert  – vergleichbar jener Abbildung auf dem Umschlag der ersten Taschenbuchausgabe von Immer so durchgemogelt. Erinnerungen an unsere Schulzeit (vgl. Kempowski 1976b) – und signalisiert humorvolle Distanz. Da Böckelmann eine fiktive Person ist, kann es keine Fotos von ihm geben. Daher sind in dem Band neutrale Fotos von Häusern, Inneneinrichtungen usw. und solche Fotos abgedruckt, auf denen kaum eine Person zu erkennen ist: Die „Bebilderung“ (Kempowski 2005a, 280) erweckt den Eindruck von Authentizität, die sich aber unmittelbar ebenfalls als Fiktion entpuppt. Ebenso ist ein Professor Deutelmoser historisch nicht nachzuweisen. Doch der kleine „Scherz“ (Kempowski 1990a, 140), den sich Walter Kempowski mit seiner Leserschaft zu leisten scheint, ist mehr als dies. Es beginnt mit dem geschilderten Missverhältnis von Foto und Text, da erfahrbar wird, dass sich zu jeder Biographie passende Fotos finden lassen, die zugleich illustrativ erhellend wie nichtssagend sind: Jeder hat ein solches Geburtshaus in solchen Kleinstädten gesehen, jeder solche Jungen in solchen Matrosenanzügen, jeder solch eine Dorfschule, solch ein Foto aus der Militärzeit, solch ein Klassenfoto, solch ein Behelfsheim, solch ein Foto des „ersten (eigenen) Autos“ (Kempowski 1983a, o.  S., Hervorhebung im Original) oder eines Hundes. Die ausgewählten und den Schreibvorgang auslösenden Fotos sind biographisch falsch und zugleich Ikonen des 20. Jahrhunderts und können, obwohl ihre Referenz fiktiv ist, als exempla mundi interpretiert werden (vgl. Kempowski 1990a, 140). Ihre „Beschriftung“ ist die „Direktive“ (Benjamin 1963, 24) an den Leser und die „Zündschnur“, die „den kritischen Funken an das Bildgemenge heranführt“ (Benjamin 1972, 505): Schaue, stutze und vergleiche! (Zu grundsätzlichen Fragen der Bebilderung und Beschriftung und zu Benjamins Theorie vgl. Kempowski 2005a, 248–368). Zudem gibt der berichtende Text Antwort auf die Frage, warum diese Biographie sich im Umfang nicht mit jenen Inszenierungen von Thomas Mann und Hermann Hesse messen lässt: Fast nichts ist von dieser Durchschnittsbiographie eines Dorfschullehrers geblieben. Schon das Geburtshaus Böckelmanns sei „leider vor zwei Jahren im Zuge einer veränderten FernstraßenFührung abgerissen“ (Kempowski 1983a, o.  S.; vgl. nahezu identisch auch

2.6  Kinder- und Schulbücher159

Kempowski 1998, 366) worden; die „Klassenbücher, aus denen man sicher manches über die Pädagogik dieses begeisternden Schulmannes hätte lernen können, wurden leider bei Kriegsende von den Engländern verbrannt“; „leider wurde der gesamte Böckelmann-Nachlaß von unverständigen Erben auf den Sperrmüll geworfen“ (Kempowski 1983a, o.  S.). Bevölkerung, Verwaltung, Besatzung/Befreiung – sowohl die Eliten wie die breite Masse – haben in der Aufarbeitung der Vergangenheit versagt. Aber noch scheint nicht alles verloren: Die Schulhefte mit „schöne[n] Geschichten“ (Kempowski 1983a) haben sich erhalten, die Böckelmann an die Tafel zu schreiben liebte. Allerdings nur durch „einen glücklichen Zufall“. Deutelmoser ruft zu Sachstiftungen auf, um die „Bemühungen um ein Böckelmann-Archiv“ (Kempowski 1983a), die vom Schuldezernat als „nützlich“ (Kempowski 1983a) bewertet werden, zu unterstützen: Das Archiv könnte in einem „leerstehenden Torfschuppen“ (Kempowski 1983a) untergebracht werden. Der kleine Text nimmt das Grundthema von Walter Kempowski auf: den Verlust der Erinnerung, den mutwilligen Verzicht auf Erinnerung, den stümperhaften und letztlich unverantwortlichen Umgang mit Vergangenheit durch „unverständige Erben“‘ und lächerlich gewordene Wissenschaft. Weder die (konservativen) Eliten noch die (zu emanzipierenden) Massen bewahren Dokumente des Geschehens auf, sondern opfern sie zeithaften Vorteilen – und können daher bald nicht mehr verstehen, wie alles gekommen ist: Sie sind ‚unverständig‘. Sie sind im tiefsten Sinne nicht mehr gebildet, weil sie weder aus der Geschichte noch aus dem Geschehen oder aus den Dokumenten zu lernen gewillt sind: Das alte „Schulgebäude wird heute von fröhlichen jungen Menschen bewohnt…“ (Kempowski 1983a). Freilich war auch schon Böckelmann nicht mehr in dem Sinn gebildet, dass er verständig mit dem umging, was die Kultur für ihn bereithielt: Er war zwar „aufgeweckt“ und „witzig“, aber der „Grundstock zu seiner umfassenden Bildung“ (Kempowski 1983a) war Unterricht im Mundharmonikaspiel und am Schifferklavier. Er besuchte das Gymnasium „mit gutem Erfolg“ (Kempowski 1983a), insbesondere aber werden seine sportlichen Interessen erwähnt. Die „leise Melancholie“ Böckelmanns rühre daher, dass er im „zweiten Lehrerexamen“, das er wiederholen musste, „über ein Bild von Schwind sprach und dazu ein Bild von Ludwig Richter aufgehängt hatte“ (Kempowski 1983a). Hier wiederholen sich Motive aus der Pädagogik Kempowskis: die grundlegende Unwilligkeit zur Bildung und zum Lernen, die auch Böckelmann die NSDAP in ihrer Grauenhaftigkeit verkennen ließ, was „bekanntlich“ auch auf „einen Bundeskanzler, ja einen Bundespräsidenten“ (Kempowski 1983a) zutreffe. Gerade die Elite im 20. Jahrhundert hat versagt. Sie ist bis heute bildungsfern und lernunfähig in „unserer Bundesrepublik“ (Kempowski 1983a). Das betrifft auch den Verfasser des Lebenslaufs, den nicht promovierten Professor Deutelmoser. Er weiß so gar nicht, was er da schreibt. Seine Phrasen und Sprachmuster, die sich stets in dieser Gattung von Texten finden, und der in Lächerlichkeit umschlagende Gattungsjargon belegen auch bei ihm ein

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Unverständnis für das, was er überliefert. Seine Phrasenhaftigkeit, seine Unbedachtheit, sein Unverstand aber sind für den Leser die Chance, zu verstehen, was falsch lief. Im Dezember 1989 stellte Walter Kempowski fest: „Das kleine BöckelmannHeft, die Bildbiographie, ist sehr hübsch geworden. Es hat aber noch niemand auf den Scherz reagiert. Ich fürchte, sie denken, das ist die authentische Biographie des leibhaftigen Herrn Böckelmann.“ (Kempowski 1990a, 597)

2.6.7  Der arme König von Opplawur. Ein Märchen Andreas Grünes 1 Inhaltsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 2 Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160

1 Inhaltsüberblick Walter Kempowskis Der arme König von Opplawur. Ein Märchen erzählt – eingebettet in eine Rahmenhandlung – die Geschichte des verarmten Königs Holthusen. Unschuldig durch die Spielsucht seines Bruders in Not geraten, lebt der König mit Tochter und einigen getreuen Bediensteten auf dem letzten noch in seinem Besitz verbliebenen Schloss Opplawur. Während der König in seiner wachsenden Frustration seine Mitmenschen verflucht, gelingt es dem spielsüchtigen Bruder – Schneußel von Gnatter –, sich vom Straßenmusiker zu einer großbürgerlichen Existenz emporzuarbeiten und schließlich alle verlorenen Besitztümer zurückzukaufen. Illustriert wird das Märchen durch Zeichnungen von Renate Kempowski, der Tochter Walter Kempowskis. 2 Analyse Kempowskis Der arme König von Opplawur lässt sich augenscheinlich in der traditionellen Handlungsstruktur des europäischen Volksmärchens verorten. So definiert Max Lüthi: „Die Ausgangslage ist gekennzeichnet durch einen Mangel oder eine Notlage […], deren Bewältigung alsdann dargestellt wird“ (Lüthi 1962, 28). Bei Kempowski ist es ein verarmter König, der von Hunger geplagt in einem ruinösen und langsam im Morast versinkenden Schloss wohnt. Als Gegenbild wird der schlechte Bruder Schneußel gezeigt, der – „im Typ ein bißchen Harald Juhnke“ (Kempowski 1994a, 7) – vom heruntergekommenen Spieler zum Neureichen wird. Hinzu tritt eine Rahmenerzählung, in der ein Mädchen namens Lucie als Adressatin des Märchenerzählers die Handlung kommentiert und unterbricht. Grundsätzlich ist das Märchen von einer humoristischen Perspektivierung und einem ironischen Erzählstil geprägt. Dazu tragen vor allem kuriose Neo-

2.6  Kinder- und Schulbücher161

logismen und lautmalerische Wortspiele bei, die sich jedoch stellenweise an kindliche Kalauer und Scatologismen annähern: „[A]bends ließ er sich von Muhme Waterloo Schindelkäse mit Schundelbrot auftischen: Davon kam es, daß die sonderbarsten Geräusche von ihm ausgingen, Tag und Nacht“ (Kempowski 1994a, 13). Besonderen Witz gewinnt die Handlung durch humorige Betrachtungen der deutschen Gegenwartskultur. So liegt das Schloss von Opplawur „drei Meilen hinter der Tagesschau“ (Kempowski 1994a, 10). Tatsächlich bewegt sich Der arme König von Opplawur zwischen Kinderbuch und Gesellschaftssatire. Obwohl sich die Handlung deutlich an Märchenelementen orientiert, sind die Referenzen auf die Bundesrepublik der 1990er Jahre offenkundig. Die an zu häufigen Sonnenbädern verstorbene Königin, der an Harald Juhnke gemahnende Königsbruder, der schließlich in die SPD eintritt, oder Opa Pup-pup, der „früher mal Mitglied der Partei“ (Kempowski 1994a, 17) war – die satirischen Seitenhiebe Kempowskis sind zahlreich und heben die Märchenstruktur stellenweise fast gänzlich auf. So stellt sich die Frage, ob für das ‚Märchen‘ auch jener pädagogische Lehrimpuls angenommen werden kann, den Volker Ladenthin in einer Untersuchung von weiteren Kindergeschichten Kempowskis feststellt: „Die Geschichten knüpfen an, lassen stutzen – und verbinden so das Noch-nicht-Gewusste mit dem zu Erkennenden. Sie fordern zu jener Bewegung auf, die man gemeinhin Denken, Erkennen oder Lernen nennt“ (Ladenthin 2010, 316). Tatsächlich scheinen in Der arme König von Opplawur die erkennbaren Intentionen streckenweise zu komplex, um von Kindern wirklich verstanden zu werden: „Tunnelchen war unterdes als Quotentante in die Politik gegangen, wo sie ein Gesetz nach dem anderen einbrachte, im Hinblick auf Stadtstreicher und kleine Grundbesitzer und so weiter und so weiter“ (Kempowski 1994a, 27). Die Verknüpfung von Kindermärchen und Gegenwartskritik schafft in diesen Textstellen jedoch nicht nur „kleine Schwellen, über die der Leser stolpern soll“ (Ladenthin 2010, 316), sondern bildet teilweise sperrige Hürden, die das Verstehen zumindest für kindliche Leser erschweren dürften. Lösen lässt sich der Widerspruch von Märchen und Gesellschaftssatire, indem die Geschichte Der arme König von Opplawur als Märchensatire verstanden wird. Im Gegensatz zu den Werken Ludwig Tiecks oder E. T. A. Hoffmanns ist das Märchen bei Kempowski nicht (nur) Instrument, sondern Objekt der Satire. Kempowski benutzt das Motiv der ‚verkehrten Welt‘, um die Textgattung des Märchens zu persiflieren und zugleich gegenwartsbezogener zu machen: So ist der König ein armer Mann, der unterernährt in einem baufälligen Schloss wohnen muss, während der ursprüngliche Schuft der Geschichte durch eine bürgerliche Karriere zum Retter wird und das verlorene Hab und Gut von der „Treuhandstelle Ost“ (Kempowski 1994a, 28) zurückkaufen kann. Auch dass die übergewichtige Prinzessin Pröckelchen mit ihrem voluminösen Körper zwei Mäuse plattdrückt und am Ende einen unattraktiven Schlagersänger heiratet, konterkariert die gängigen Märchentopoi. Wenn der Erzähler schließlich noch seinen Lesern empfiehlt, das soeben gehörte Werk bei Knaus zu kaufen, und sich Gedanken über die Rezension durch andere

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Literaten macht – „Was meint ihr, Kinder, was Hans-Joachim Grass wohl zu diesem Märchen sagen wird?“ (Kempowski 1994a, 37) –, ist die Märchensatire endgültig in der Wirklichkeit von Walter Kempowski angekommen.

2.6.8  Weltschmerz. Kinderszenen fast zu ernst Hanna Ashour 1 Inhaltsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 2 Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162

1 Inhaltsüberblick In Weltschmerz. Kinderszenen fast zu ernst lässt Walter Kempowski den Leser in die Kindheitserinnerungen von Sigmund eintauchen, einem Jungen, der in den 1930er Jahren in einer norddeutschen Kleinstadt aufwächst. In über hundert kurzen – mal vier Seiten, mal nur wenige Zeilen umfassenden – Prosaminiaturen werden die Erinnerungen des Protagonisten schlaglichtartig heraufbeschworen und lassen Episoden dieser Kindheit lebendig werden. In der Er-Form erzählt, beginnt die erste Szene mit der Geburt des Protagonisten, bevor in den darauffolgenden die frühen, prägenden Kindheitserinnerungen an die Wohnsituation der Familie oder signifikante Begegnungen in der Nachbarschaft beschrieben werden. Im weiteren Verlauf der Kapitel wird neben dem Schlittschuhlaufen mit Freunden oder Ausflügen aufs Land auch das Marschieren von SA-Männern durch die Straßen und das laute Rufen des Hitler-Grußes erinnert. Unterbrochen werden die eindringlichen Rekonstruktionen in unregelmäßigen Abständen durch Beschreibungen verschiedener Spielzeuge, die für den heranwachsenden Sigmund seinerzeit bedeutsam waren – zum Beispiel eine Dampfmaschine oder ein Holzkreisel. In kursiver Schrift gehalten, setzen sich diese von den anderen Miniaturen ab und stehen für sich. Der Band der Kinderszenen endet mit „ein[em] Wunschtraum“ (Kempowski 1995a, 151), in dem der alte Sigmund im Geiste ein Modell für eine Orgel konstruiert, wie er es sich als Kind gewünscht hätte. 2 Analyse Im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm wird der Begriff „Weltschmerz“ unter anderem definiert als Ausdruck einer „wehmütigen Stimmung“ und emotionalen „Zerrissenheit“ (Trier Center for Digital Humanities o.  J., o.  S.). Damit versetzt Kempowski den Rezipienten schon beim Lesen des Titels in eine melancholische Grundstimmung, welche auf paratextueller Ebene nochmals durch den Untertitel verstärkt wird. Denn der Musikliebhaber Kempowski verweist mit Kinderszenen fast zu ernst auf das Stück Fast zu ernst der Klavier-

2.6  Kinder- und Schulbücher163

komposition Kinderszenen von Robert Schumann. Der Komponist selbst hatte zu diesem Klavierzyklus erläutert, dass dieser nicht, wie der Titel vermuten lassen könnte, für Kinder geschrieben wurde, sondern vielmehr die „Rückspiegelung eines Älteren für Ältere“ sei. Auch auf Kempowskis Kinderszenen trifft diese Charakterisierung zu. Immer wieder finden sich in den Erinnerungstexten Hinweise darauf, dass das ‚alte Kind‘ auf die Erlebnisse zurückblickt, die stellvertretend für eine Art kollektive Vergangenheit von Gleichaltrigen stehen können. Dies wird zum Beispiel im Kapitel „Das wurde“ deutlich, wenn es heißt: Wenn Sigmund später daran dachte, dann sah er sehr wohl die Kolonne vorübermarschieren […]. Und er hörte das Lied, das sie sangen, und sah sich selbst in der Karre sitzen […]. Wenn er also tatsächlich einmal daran dachte, in späteren Jahren, am Schreibtisch, mit Blick auf das gegenüberliegende Haus, in dem eine Versicherung ihr Büro hatte, dann sah er sich die Faust heben und ‚Heil Moskau!‘ rufen, denn so war es ja erzählt worden wieder und wieder. Aber war es denn wirklich so gewesen? (Kempowski 1995a, 14)

Die ausgewählte Textstelle zeigt zum einen, dass hier die Perspektive des älteren Sigmund herangeholt wird, der nicht für Kinder erzählt, denn die voraussetzungslosen Verweise auf die Nazi-Zeit, die der Erzähler anstellt, würden von einem jungen Leser nicht sicher eingeordnet werden können. Zum anderen wird auf einer Metaebene das Erinnern selbst thematisiert und die Rekonstruktion des Geschehenen in Frage gestellt. Dies geschieht auf eine Art, als wollte der Erzähler deutlich machen, dass er sich stets über die Tatsache im Klaren ist, dass Erinnerungen nicht einfach wie beim Blättern in einem Fotoalbum abgerufen werden können, sondern „flüchtig und anfällig für Verformung“ (Welzer 2005, 53) sind. Die Weltschmerz-Stimmung, die im Titel angekündigt wird, wird in dem gleichnamigen Kapitel im ersten Drittel des Buches explizit wieder aufgegriffen. Hier macht Sigmund beim Blick aus dem Fenster auf eine schwarze Wetterwand die Erfahrung, plötzlich in Tränen auszubrechen, da „er sein ganzes Leben begriff, von Anfang bis Ende: und daß es davor kein Entrinnen gibt“ (Kempowski 1995a, 32). „Das ist der Weltschmerz“ (Kempowski 1995a, 32), macht die Mutter ihn schließlich mit dem bis dahin unbekannten Gefühl vertraut. Wenn bei all den Erzählungen zwar die Erinnerungen eines Kindes namens Sigmund Korbach geschildert werden, so sind doch die autobiographischen Bezüge zur Kindheit des in Rostock aufgewachsenen Autors in den Erzählungen unverkennbar. Den mit Kempowskis Werken vertrauten Leser lässt zum Beispiel das Gefühl nicht los, dass es sich bei der Beschreibung der akribischen Pflege des Briefmarkenalbums des kleinen Sigmunds um eine frühe Form der archivarischen Sammelleidenschaft handelt, die später das Schaffen des Autors prägen sollte. In Hinblick auf die Chronik-Chronologie Kempowskis wäre das 1995 erschienene Werk – nimmt man es denn als autobiographisches Romanzeugnis – vor Tadellöser und Wolff (1971a) einzuordnen; der Verarbeitung seiner

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Rostocker Kindheit und Jugend in Romanform. Mit Weltschmerz. Kinderszenen fast zu ernst hat der Autor ein Werk geschaffen, in dem – mit einer gewissen Altersmelancholie behaftet – Erlebnisse einer Kindheit zur Zeit des Nationalsozialismus porträtiert werden, ohne dabei wie sonst genaue Daten, Symbole oder Fakten zu benennen bzw. zu beschreiben. Die Erzählkunst liegt dabei darin  – der ‚Schnappschuss-Technik‘ Arno Schmidts nicht unähnlich –, Momentaufnahmen zu erzeugen, die erst in ihrer Gesamtheit die Biographie einer Kindheit vor dem inneren Auge sichtbar werden lassen. Trotz dieser literarischen Leistung und Besonderheit fand das Werk nur wenig Beachtung.

2.7  Weitere Werke 2.7.1  Walter Kempowskis Harzreise. Erläutert Theresa Arlt 1 Inhaltsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 2 Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165

1 Inhaltsüberblick Die 1974 im Carl Hanser Verlag erschienene Broschüre Walter Kempowskis Harzreise. Erläutert wurde unter Kempowskis Mitarbeit (vgl. Blume 2004, 115) und einem Vorwort vom Verlag als Ergänzung zum neunten Kapitel des autobiographischen Romans Tadellöser & Wolff (1971a) herausgegeben. Dieses Kapitel ist im Erläuterungsband in Textausschnitte gegliedert, die durch Quellenpassagen unterbrochen werden. Als Grundlage fungieren Walter Kempowskis eigene Erinnerungen, seine transkribierten Tonbandaufnahmen aus Gesprächen mit Familienangehörigen (mit seiner Mutter Margarethe oder seinem Bruder Robert) und Freunden sowie Reproduktionen von Fotographien aus dem Besitz der Familie Kempowski (vgl. Dierks 1981, 26  f. u. 123). Die Rahmenhandlung bildet die Urlaubsreise der Familie Kempowski, bestehend aus Mutter und Vater sowie Walter und seinen älteren Geschwistern Ulla und Robert, kurz vor Kriegsausbruch 1939. Im Selketal, in „Sophienbad“ (= Alexisbad) (vgl. Kempowski 1974b, 5), hat Vater Kempowski eine preiswerte Pension des Reichsverbandes deutscher Offiziere aufgetan. Die während der Zugfahrt entwickelten Hoffnungen auf Berge und schöne Landschaften werden jedoch kurz nach der Ankunft enttäuscht. Das ursprünglich ersehnte Feriendomizil entpuppt sich weniger als Urlaubsidyll denn als Ort der Ereignislosigkeit. Die Berichterstattung des Erzählers erfolgt aus der Ich-Perspektive des zehnjährigen Walters, dessen kindliche Aufmerksamkeit vor allem auf scheinbar triviale Alltäglichkeiten gerichtet ist. Sein Interesse gilt dem Interieur

2.7  Weitere Werke165

der Pension und dem Beobachten der überwiegend älteren Gäste sowie vereinzelten Kinderspielen. Sowohl Walter als auch seine Schwester schließen Bekanntschaften mit den Kindern der Gäste, ihre Eltern kommen in Kontakt mit einer Leutnantsfamilie aus Königsberg. Lediglich ein gemeinsamer Ausflug in die nähere Umgebung nach Wernigerode vereint alle Familienmitglieder. Während Ulla großes Interesse an einem unbekannten Urlauber entwickelt, verharrt Robert weitestgehend in distanzierter Beo­ bachterhaltung. Doch alsbald spitzt sich die politische Lage zu und Familie Kempowski beschließt, es den anderen Gästen gleichzutun, und verlässt vorzeitig das Urlaubsdomizil. 2 Analyse Bereits der Titel der Broschüre Walter Kempowskis Harzreise. Erläutert rekurriert auf das Harz-Motiv in der literarischen Tradition von Johann Wolfgang von Goethe und Heinrich Heine. Ein direkter intertextueller Bezug zu Heinrich Heines Die Harzreise (1824/26) wird über das Zitat der ersten beiden Strophen des Gedichts Bergidyll (Heine 1887, 41–42) hergestellt. Diese sind dem als „Reiseproviant“ betitelten Vorwort des Erläuterungsbandes vor­angestellt und benennen das im 19. Jahrhundert durch Heine demaskierte bürgerliche Idyll einer deutschen Ideallandschaft. Auf diesem literarischen Erbe und den damit verbundenen Assoziationen aufbauend, entwickelt Kempowski eine Demontage der eigenen bürgerlichen Gesellschaft seines Jahrhunderts kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Der Erläuterungsband Kempowskis Harzreise legt die Montage- und Collagetechnik des Autors offen. Die sogenannten Quellen zu den Auszügen aus Tadellöser & Wolff erscheinen in Form von direkten oder indirekten Zitaten, oftmals kommentiert von einem auktorialen Erzähler. Zusätzlich werden die Textausschnitte in der Art von Beweismaterial mit Reproduktionen von Fotographien aus dem Privatbesitz der Familie Kempowski dokumentarisch verbunden. In den Kommentarpassagen werden überwiegend Margarethe und Robert Kempowski direkt zitiert: Mutter Kempowski erinnert sich: ‚Wir aßen so am Katzentisch, weil wir die Kinder hatten. Die andern aßen an einem großen Tisch, und wir hatten im Erker so’n runden Tisch, da saßen wir mit den Kindern. Das war uns sehr angenehm, daß man nicht dazwischensaß… Dann war da eine Dame, die Leiterin, die saß oben an der Spitze, die hatte denn am Tisch ’ne Glocke, dann wurde bedient, ‚serviert‘, alles nach Rang und Würden.‘ (Kempowski 1974b, 20)

Diese Erinnerung untermauert noch einmal die gesellschaftliche Rangordnung, die gleichsam auf die Tischordnung in der Urlaubspension übertragen wird. Ebenso erinnert sich Robert: „Robert K.: ‚Und dann kein Mensch am Bahnhof. Das war wider die Natur. Während der Leutnant Meyer oder wie der hieß… Der war ja auch aktiv, der wurde abgeholt‘“ (Kempowski 1974b, 18). Den kleineren Anteil der Kommentare bilden die Zitate: „Walter Kempowski bestätigt: Die Szene mit dem vermeintlichen Spion ist ‚erfunden‘. Die einzige Person, die auf der Familien-Harzreise ‚wirklich‘ ins Abteil kam, war

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Tante Silbi, die schneite in Magdeburg unversehens ins Abteil“ (Kempowski 1974b, 11). An dieser Stelle dient der Kommentar der Unterscheidung von fiktivem Sachverhalt und der authentischen Erinnerung des Autors. Ungeklärt bleiben jeweils Ort, Zeit und Interviewpartner der Primärquellen. Direkte und indirekte Zitate werden meist eingeleitet von einem auktorialen Erzähler, der lediglich als Verfasser des Vorworts mit Carl Hanser Verlag (vgl. Kempowski 1974b, 6) benannt wird. Dessen Funktion besteht in der Rahmung und Wertung der Erläuterungen: „Jedes Detail ist belegbar. Natürlich sagt Vater Kempowski: ‚Das kann ja heiter werden‘ – zitierte er doch oft das NietzscheGedicht ‚Heiterkeit, güldne komm…‘ […] Mutters schöne Geschichte verkniff sich der Autor“ (Kempowski 1974b, 10). Es ist davon auszugehen, dass Walter Kempowski dem Verfasser bzw. Herausgeber des Erläuterungsbandes in Gesprächen ergänzende Informationen über die Genese des neunten Kapitels zur Verfügung stellte sowie Tondokumente und fotographisches Material übermittelte. Konterkariert wird das private Bildmaterial von anonymisierenden Bildunterschriften, wie „Walter K., Elke, der kleine Bruder, Lili“ (Kempowski 1974b, 26). Dagegen fungieren zitierte Textpassagen als Bilduntertitel, z.  B. „‚On the persian market‘. Cello, Geige und Klavier“ (Kempowski 1974b, 29), das dazugehörige Foto zeigt ein Musiker-Trio unter aufgespannter Markise vor dem Vestibül eines Kurhauses. In diesem Kontext erhält es einen eher illustrativen denn dokumentarischen Charakter, da lediglich anhand der Reproduktion der Fotographie nicht sicher nachweisbar ist, ob es sich tatsächlich um den von Peter Blume angeführten „Nachweis für das Zitieren eines Realitätspartikels aus einem Foto heraus“ (Blume 2004, 118) handelt. Ebenso taucht die Werbebotschaft „Veredeln Sie Ihre Photos durch Vergrössern“ (Kempowski 1974b, 31) im Hintergrund einer reproduzierten Fotographie gleichsam als zitiertes Wirklichkeitspartikel in Kempowskis Roman auf. Der Autor verwendet lediglich die Form des Singulars: „Veredeln Sie Ihr Photo durch Vergrössern“ (Kempowski 1974b, 31). Somit erfährt der Werbeslogan eine Literarisierung und das private Foto erhält Nachweischarakter. Die beigegebenen Interviews verweisen auf Original-Tondokumente, deren exakte Herkunft, Aufnahmezeit, Aufnahmeort und Interviewpartner für den Leser allerdings nicht transparent gemacht werden. Die Kommentare werden insgesamt durch keinerlei Belege verifiziert. Die Annahme, dass es sich bei den Quelltexten der Broschüre dennoch um authentische Tondokumente handelt, stützt lediglich Peter Blume (vgl. Blume 2004, 116; basierend auf Dierks 1981). Dieser widmet sich ausführlich dem Erläuterungsband Kempowskis in seiner Studie Fiktion und Weltwissen (vgl. Blume 2004, 92–137). Peter Blume sieht die Broschüre als ein Beispiel für sein Modell des niedrigsten Konventionalisierungsgrades nichtfiktionaler Texte. Für ihn bestehen keinerlei Zweifel an der Authentizität der zitierten und beigegebenen Quellen (vgl. Blume 2004, 116). Wohingegen für Herbert Blume die Frage nach der Historizität oder Fiktionalität der Personen und Begebenheiten in Kempowskis Erläuterungsband bzw. dessen Harzkapitel keineswegs restlos geklärt ist (vgl. Blume 2008, 283). Auch im zu erläuternden Teil der Broschüre, dem neunten Kapitel, lassen sich Belege für das Changieren

2.7  Weitere Werke167

zwischen Fiktion und Fakten finden; so verbirgt sich hinter dem Zielort der Reise „Sophienbad“ der Stadtteil Alexisbad von Harzgerode (vgl. Kempowski 1974b, 5, 18, 46). Durch den Zusatz Erläutert im Broschürentitel wird eine bestimmte Erwartungshaltung evoziert: Der Leser erwartet einen Text der Sekundärliteratur mit Interpretationsansatz, was die Auflösung von Primärquellen, Verweisen bzw. Literaturhinweisen bedeuten würde. Keiner dieser Punkte wird jedoch tatsächlich erfüllt, lediglich Kempowskis eigene Romane werden punktuell zu seiner Harzreise in Beziehung gesetzt (vgl. Kempowski 1974b, 23). Auf diese Weise wird mit den Erwartungen der Leser gespielt. Die Annahme, dass es sich eher um einen ausgewählten Adressatenkreis handelt, wird überdies durch die Widmung „Den Freunden des Hauses zum Jahreswechsel 1974/75“ (Kempowski 1974b, 1) unterstützt. Verstärkt wird der Eindruck zudem durch den fehlenden Namen eines Herausgebers oder Verfassers, der später in den Kommentaren als Erzähler in Erscheinung tritt. Damit wird die Gattung der Interpretationslektüre ad absurdum geführt, vielmehr scheinen die Kommentare in Verbindung mit den Textauszügen aus dem neunten Kapitel von Tadellöser & Wolff zu einem neuen literarischen Werk zu werden. Geht man von einer Mitautorschaft Kempowskis aus, so darf man annehmen, dass auch hier das bewusste Changieren zwischen Fiktion und Faktizität intendiert ist. Einerseits legt er sein literarisches Verfahren offen, andererseits lässt sich auch seine Vorgehensweise in der Broschüre mit dem Schlagwort ‚Inszenierte Naivität’ (vgl. Fischer 1992, 271) kennzeichnen. Kempowski entscheidet sich bewusst dafür, das Weltgeschehen aus der Perspektive der Familie zu schildern, dabei beschränkt sich der Erfahrungshorizont des Erzählers meist auf die kindlichen Erlebnisse der Figur des Schülers Walter. Gezielt polarisiert der Autor zwischen trivialem Alltagsleben einer Familie und der sich tatsächlich ereignenden politischen Wirklichkeit, die bisweilen durch Einzelereignisse das Leben der Protagonisten tangieren.

2.7.2  In Rostock Johanna Keller 1 Inhaltsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 2 Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168

1 Inhaltsüberblick Der Bildband In Rostock, erschienen in der Reihe Ganz persönlich in Zusammenarbeit mit dem ZDF, zeigt ein „ungeschöntes Bild“ (Kempowski 1990b, 5) der Stadt Rostock direkt nach der Wende. Er umfasst circa 35 Farbaufnahmen der Stadt Rostock von Erhard Pansegrau und wird ergänzt um Erläuterungen, Erinnerungen sowie Beschreibungen von Walter Kempowski, die 1990 in der

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2 Werk

Hansestadt aufgenommen und gesammelt wurden (vgl. Kempowski 1990b, 5). Die Reise nach Rostock führt Walter Kempowski und seine Begleiter in die Vergangenheit sowie in dessen Kindheit zurück und lässt somit die vergangene Stadt und seine Familie durch die Erinnerungen wieder aufleben. 2 Analyse In seinem Tagebuch Hamit aus dem Jahr 1990 zitiert Kempowski den Gefangenenchor aus Verdis Nabucco: „Heimat, theure Heimat, dir nur allein gilt all mein Sehnen, all mein Sein: Theure Heimat mein!“ (Kempowski 2006b, 7) Immer wieder drehen sich Kempowskis Tagebucheinträge und Romane um seine Heimatstadt Rostock, die er unfreiwillig aufgrund seiner Inhaftierung durch die Sowjets 1948 verlassen musste. Nach einem letzten Besuch im Jahr 1975 konnte er die Hansestadt erst wieder nach der Wende besuchen, was ihn erneut mit seiner Vergangenheit konfrontierte. Er beschreibt und analysiert diese Erinnerungen und Eindrücke gleich mehrfach, unter anderem in seinem Tagebuch Hamit, und stellt seinen Rostockdarstellungen aus dem Roman Tadellöser & Wolff in dem Band Mein Rostock (vgl. Kempowski 1994b) Anekdoten, Reiseberichte und Erinnerungen anderer Autoren gegenüber. Auch in dem hier vorgestellten Bildband kommt es immer wieder zu einem Abgleichen von Vergangenheit und Gegenwart, zu einer Konfrontation von autobiographischen Kindheitserinnerungen und städtischer Realität kurz nach der Wende. In dem Band wird der Kontrast zwischen „grandioser Silhouette“ und einer „lädierten Stadt“ (Kempowski 1990b, 11) mehr als deutlich, idyllische Kindheitserinnerungen treffen häufig nicht nur symbolisch auf radikale Veränderungen und verfallene Gebäude. Kempowski verweist selbst darauf, dass ihm alles „vertraut war […] und doch sehr fremd“ (Kempowski 1990b, 11). Sein Leben in der Stadt liegt zu diesem Zeitpunkt über 40 Jahre zurück, ein Zeitraum, der die Verarbeitung und Aufarbeitung seiner Erinnerungen forderte und die literarische Auseinandersetzung mit seiner Kindheit ermöglichte. Kempowski beschreibt seinen Zustand wie folgt: „Die fast ausschließliche Beschäftigung mit der Rekonstruktion von Vergangenem, von Heimat, die uns ja nur dann fordert, wenn wir sie nicht mehr haben, entfremdete mich den Realitäten“ (Kempowski 1990b, 6). In Rostock wird Kem­pows­ki der Prozess der Erinnerungsverfälschung bewusst. Die Stadt evoziert häufig keine Bilder mehr aus seiner Kindheit, sondern Szenen und Figuren aus dem Film Tadellöser & Wolff, der 1975 von Eberhard Fechner produziert wurde (vgl. Kempowski 1990b, 36). Auch ein großer Teil der Romane seiner Deutschen Chronik spielen natürlich in seiner Heimatstadt, von der Walter Kempowski über die Jahre ein Bild in seinem Herzen trägt, „das mit Rostock nicht mehr viel zu tun hatte“ (Kempowski 1990b, 6). Das ändert aber an der prinzipiellen Bedeutsamkeit der Stadt nichts:

2.7  Weitere Werke169 Jede Stadt hat ihre besondere Bedeutung für den einzelnen, ja beinahe hätte ich gesagt: jede Stadt ist wie ein Mensch, und die Summe der Menschen, die in einer Stadt wohnen, objektiviert sich zu so etwas wie eine Art Super-Person. So ist für mich alles ein Erinnerungsträger: Häuser, Denkmäler, Abzeichen, Uniformen. (Linder 1974, 52–53)

Durch die Ich-Perspektive nimmt Kempowski die Leser mit auf seine Reise in die Vergangenheit und seine Kindheit. Gleichzeitig macht die Montage von Text und Bild die Sehnsucht Kempowskis deutlich und holt ihn in die Gegenwart zurück. Beides ergänzt sich und zeigt melancholische Einblicke wie auch die Realität nach der Wiedervereinigung, „die abkühlend, ernüchternd, entmelancholisierend wirkt“ (Kempowski 1990b, 36). Kempowskis Heimatstadt Rostock kann man als Ausgangspunkt für seine schriftstellerischen Tätigkeiten ansehen. Die Stadt wird zum Modell, Kempowski nimmt den ‚Erinnerungsträger‘ Rostock als Basis seiner Romane. Durch die Rückkehr an seinen Heimatort kann er den Kreis schließen und den inneren Konflikt seines Lebens – zumindest vorläufig – auflösen (vgl. Kempowski 1990b, 42).

2.7.3  Mecklenburg-Vorpommern Christiane C. Weber 1 Inhaltsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 2 Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170

1 Inhaltsüberblick Das Gemeinschaftswerk des Fotografen Fritz Dressler und der drei Schriftsteller Walter Kempowski, Jürgen Borchert und Otto Emersleben stellt das Bundesland Mecklenburg-Vorpommern vor. Das Buch erschien in der „Edition der deutschen Länder“, die sowohl die alten als auch die neuen Bundesländer präsentiert. Ganzseitige Farbfotografien und Texte zur Historie des Landes stehen neben der Beschreibung kultureller Aspekte wie Schifffahrt, Plattdeutsch, Theater- und Musikleben. So entfaltet sich ein umfassendes Bild von Landschaft, Geschichte und Kultur an der Ostsee, das historisches Wissen ebenso wie aktuelle Freizeithinweise vermittelt. Kempowskis vier Seiten umfassender Text Immer eine Gurke mehr ist dem Buchprojekt vorangestellt und besteht aus einem kurzen neuen Teil und einem Auszug aus Tadellöser & Wolff, der jedoch als solcher nicht markiert ist. Der Text ist mit vier historischen Schwarz-Weiß-Fotografien bebildert, welche die Marienkirche, den Neuen Markt sowie das Rathaus und das Steintor in Rostock um die Jahrhundertwende zeigen.

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2 Werk

2 Analyse Essayartig beschreibt Kempowski – der gebürtige Rostocker – zunächst Mecklenburg und Vorpommern liebevoll und anekdotenreich. Dabei macht er sich einen großen Zeitraum zunutze und nimmt Bezug auf den Dreißigjährigen Krieg, das Rostock seiner Kindheit, aber auch auf die beim Erscheinen des Buches noch aktuellen Montagsdemonstrationen und die darauffolgende Wiedervereinigung. Die gewöhnlichen Menschen stehen im Fokus seiner Betrachtungen: Das Wesen der Einwohner mache aus, dass sie „wortkarg“ sowie „humorvoll“ seien und es verstanden hätten, sich auch unter dem SED-Regime „so gut es ging […], doch ihre Würde bewahrend“ (Kempowski 1991a, 9), einzurichten. Ihre Gutmütigkeit spiegelt sich in der kleinen Episode – auf die bereits der Titel rekurriert –, dass man von einem Mecklenburger immer 101 Gurken bekommen würde, wenn man nach 100 verlange. Kempowski nutzt diese Geschichten, um die Züge der Menschen zu verdeutlichen. An anderer Stelle präsentiert er „Typen“ (ebd., 12), um skurrile Rostocker seiner Kindheit zu porträtieren. Kempowski nimmt nach den einführenden Worten den Leser mit auf einen kurzen Rundgang durch Rostock: Er erinnert sich an die Sonntagsspaziergänge mit seinem Vater und dem Bruder und schildert kurzweilig verschiedene Eindrücke davon en miniature. Nicht nur von einzelnen Bauwerken wie Brunnen oder Kirchen, die „verhunzt“ (ebd., 10) gebaut worden seien, berichtet er dabei, sondern auch von Gesprächen des Vaters mit Seemännern, von Skat spielenden Alten, von Platzkonzerten fragwürdiger Qualität  – kurz: vom Alltag und vom Gewöhnlichen an einem Sonntagnachmittag. Dieses Panorama ist assoziativ und ungefiltert angeordnet, denn Kempowski ahmt literarisch nach, wie während eines Spaziergangs die (kindliche) Aufmerksamkeit von einer Sache zur anderen wandert. Kurze Sätze mit wechselnden Blickwinkeln folgen rasant aufeinander: „Väter mit Kleinkindern auf den Schultern. Der Stabsmusiker hinkte. Er schnauzte die Zuhörer an, wenn sie drängten. Ouvertüre zur Diebischen Elster“ (ebd., 12). Es ist kein nostalgisch verklärender Text, denn Kempowski spricht beispielsweise auch von nach Männerurin stinkenden Ecken in Rostock. Der Heimatbezug hingegen entsteht unter anderem dadurch, dass der Text mit plattdeutschen Erinnerungsfetzen gespickt ist wie beispielsweise „Un ick har doch dat Aß speelen möst …“ (ebd., 11). Das Rostock der 1930er Jahre dient auch als Kulisse für die Beschreibung der Eltern: Ist der Vater weltmännisch und selbstbewusst selbst an einem Sonntag als Kaufmann aktiv, wartet die Mutter mit dem Braten zu Hause, um die Familie am Tisch zu vereinen. Bei dem vierseitigen Text handelt es sich nicht um einen eigenständigen Essay, sondern zu großen Teilen um Auszüge aus Tadellöser & Wolff (vgl. Kempowski 1971a). Wortgleich ist hier der Spaziergang mit dem Vater, also das gesamte dritte Kapitel des Buchs, wiedergegeben. Kempowski stellt den

2.7  Weitere Werke171

Passagen allerdings die Reflexionen über das Wesen der Mecklenburger voran. Die Erinnerungen sollen dabei zum Erkenntnisgewinn dienen: „Ich werde wieder einmal hinüberfahren und sie [= die Menschen von der Ostseeküste] mir genauer ansehen – oder mich erinnern, zum Beispiel an die sonntäglichen Spaziergänge mit meinem Vater …“ (Kempowski 1991a, 9). Das Buch stieß auf ein großes Interesse, wie die regelmäßigen Wiederauflagen zeigen: 1991 und 1994 im Bucher Verlag sowie 1992 und 1996 im Bertelsmann-Club. Die aktuellste Version erschien überarbeitet 2004 erneut im Bucher Verlag.

2.7.4  Mein Rostock Andreas Grünes 1 Inhaltsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 2 Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171

1 Inhaltsüberblick Der Sammelband Mein Rostock, herausgegeben von Walter Kempowski und Heimo Schwilk, verbindet Passagen aus den Werken Kempowskis mit Auszügen aus anderen literarischen Texten, historischen Quellen, journalistischen Reportagen, Reiseberichten und Kochrezepten. So erweitert der Band Kempowskis Methode der intertextuellen Montage auf das editionsphilologische Feld der Kompilation: Angeordnet unter Rubriken wie „Annäherungen“, „Festliches und Geselliges“, „Denk- und Merkwürdiges“ oder „Orte“, entfacht die Textsammlung ein kulturhistorisches Panorama der Geburtsstadt Kempowskis, das von der Hanse- bis in die Nachwendezeit reicht. 2 Analyse „Dieses Jahr wird uns ein Wiedersehen mit der Heimat bringen“ (Kempowski 2006b, 7), schrieb Walter Kempowski am Neujahrstag 1990 in sein Tagebuch. Die verlorene Heimat Kempowskis ist vor allem Rostock, der geographische Fluchtpunkt seiner Deutschen Chronik, an dem die zentralen Leitmotive Heimat, Verlust und Erinnerung wie in einem Schmelztiegel zusammengeraten und miteinander agieren: „Immer bin ich in Rostock gewesen, auch in den Jahren der Trennung. Ich habe diese Stadt vor und zurück beschrieben, Fotos gesammelt, ja, ich bin sogar so weit gegangen, sie in Papier nachzubauen“ (Kempowski 2006b, 7). So ist es kein Zufall, dass der 1994 erschienene Sammelband Mein Rostock im Wesentlichen Auszüge aus den Romanen Aus großer Zeit, Tadellöser & Wolff und Uns geht’s ja noch gold enthält, die das Rostock aus Kempowskis Kinder- und Jugendtagen lebendig werden lassen.

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2 Werk

Zugleich wählt der Band nicht die Perspektive verklärter Nostalgie, wie der einleitende Bericht Mit Walter Kempowski durch Rostock von Heimo Schwilk verdeutlich: „Einfach war die Rückkehr nach Rostock nicht für Walter Kempowski“ (Kempowski 1994b, 16). Der geschilderte Spaziergang durch Rostock – die erweiterte Fassung eines Beitrags für Die Zeit – verläuft zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Erinnerung und Verschwundenem. Die unter der Rubrik „Annäherungen“ versammelten Texte dienen jedoch nicht nur der Einleitung, sondern zeigen auch die Schwierigkeiten der Heimkehr nach der langen Zeit der Trennung: „Ich kenne dich“ (Kempowski 1994b, 63), rufen die Dachreiter der Rostocker Jakobskirche dem heimkehrenden Protagonisten aus Heinrich Wolfgang Seidels Der Vogel Tolidan zu. Doch die abschließende Verheißung des Humanisten Ulrich von Hutten – „Mir ist, als sei zur Heimat ich gekommen“ (Kempowski 1994b, 68) – erfüllt sich nicht jedem Rückkehrer. „Seltsam, wie fremd mir alles ist. Kein Mensch will mich kennen“ (Kempowski 1994b, 55), resigniert der Heimkehrende in Curt Goetz’ Wiedersehen mit Rostock. Die Rückkehr in die Heimat bleibt ambivalent, birgt sie doch nicht nur die Chance des Wiedererkennens und Wiederfindens, sondern auch die Gefahr der manifesten Unumkehrbarkeit des biographischen Bruchs: An der Etagentür stand groß und deutlich: MÄNNER. Die in der Nachbarschaft liegende Brausefabrik hatte ein Klo aus unserer Wohnung gemacht. Warum auch nicht? Nichts dagegen zu sagen, im Gegenteil! So etwas wirkt abkühlend, entmelancholisierend. (Kempowski 1994b, 26)

Kempowskis „trotzige Erinnerungsarbeit“ (Kempowski 1994b, 20) weist jedoch stets über die eigene Biographie hinaus: Die in „Bilder“, dem ersten Beitrag Kempowskis im Sammelband, beschriebenen Darstellungen von Rostock – eine Radierung von 1620, ein Gemälde von 1820 und eine Fotographie von 1885 – stehen leitmotivisch für das großflächige Panorama, das Mein Rostock durch die Kompilation und das Arrangement der einzelnen Texte entwirft. Ausgehend von Ekphrasen imaginiert Kempowski die Entwicklung der Stadt von der Frühen Neuzeit bis in die Moderne mit ihren geographischen, historischen, sozialen und kulturellen Veränderungen. Damit gibt er jenen zeitlichen Rahmen vor, den auch die versammelten Texte umschreiben. Durch die unterschiedlichen Schilderungen kombinieren sich historische Innen- und Außenansichten auf das Leben in Rostock. Der Durchreisende Wilhelm von Humboldt etwa urteilt: „Sehr großen und ernstlichen Eifer für die Literatur habe ich bei den Herrn in Rostock nicht bemerkt; mehr einen lustigen und gesellschaftlichen Ton“ (Kempowski 1994b, 127). Dieser spiegelt sich unter anderem in Berichten regionaler Literaten, etwa Theodor Jakobs oder Franz bei der Wieden, über den Rostocker Pfingstmarkt, Eislaufen auf der Warnow oder strickende Theaterbesucher. Insbesondere sind es aber Kempowskis eigene Texte, die mit ihren Betrachtungen über und Erinnerungen an Rostock den Band durchweben und dabei Bezüge zu den anderen Beiträgen herstellen. So wird etwa die aus Tadellöser & Wolff entnommene Passage In

2.7  Weitere Werke173

der Marienkirche (Kempowski 1994b, 185–190) durch Sagen von der Marienkirche oder auch Ludwig Bechsteins Bemerkungen zur Bedeutung der Zahl Sieben in Rostock erweitert. Neben der Erinnerung an und der Rückkehr in die Heimat ist auch der Vorgang des Heimatverlusts  – durch Flucht, Vertreibung oder Auswanderung – ein zentrales Thema des Bands. Dies gilt zunächst für Kempowskis eigene Biographie, findet sich aber auch in anderen Texten wieder. So etwa in Flucht aus Rostock, einer aus der Autobiographie von Carl Schurz entnommenen Passage. Rostock wird zur letzten Station des einstigen Revolutionärs von 1848 und späteren US-Bürgerkriegsgenerals Schurz, nachdem dieser den Republikaner Johann Gottfried Kinkel in einer spektakulären Aktion aus dem Gefängnis in Spandau befreit hat. Amerika als Ziel deutscher Emigranten greifen auch die Reportagen „Rostock in Kanada“ von Bert C. Biehl und „Rosto(c)ks in Amerika“ von Winfried J. Schulte auf. Dabei bleibt auch für den ehemaligen Bautzener Häftling Kempowski das Verlassen der Heimat als Neuanfang eine immer noch virulente Erfahrung, wie der Besuch von Rostock und Warnemünde zeigt: „Auch der mit graugrüner Tarnfarbe gestrichene DDR-Wachturm grüßt die Fähren, die nach Dänemark auslaufen. ‚Das muss die DDR-Leute bis zum Wahnsinn getrieben haben, immer die Fähre raus und sie durften nicht rüberfahren und nur mal glotzen.‘“ (Kempowski 1994b, 31) Auch den DDR-Alltag spart der Sammelband nicht aus. So berichtet Karl F. Schippmann in „Sie werden platziert“ retrospektiv über die Absurdität eines Besuchs in einer ‚öffentlichen‘ Gaststätte. Besonderes Augenmerk legt der Band aber auf die Wendezeit. Der Beitrag „Abschied vom Schattendasein der Anpassung“, eine Predigt, die Joachim Gauck in Rostock anlässlich des Kirchentags 1988 hielt, repräsentiert deutlich den Geist der Aufbruchsstimmung in der DDR, der schließlich zum Untergang des SED-Regimes führte: „Nehmen wir Abschied, Freunde, vom Schattendasein, das wir leben in den Tarnanzügen der Anpassung“ (Kempowski 1994b, 108). Der Band Mein Rostock ist somit letztlich mehr als ein literarischer Reiseführer: Seine mannigfaltigen Beiträge ermöglichen eine polyperspektivische Fokussierung auf jene Stadt, die als Sinnbild der Heimat, des Verlusts und der Erinnerung einen wesentlichen Topos im Kempowskischen Œuvre bildet. Den Rezipienten bietet sich somit nicht nur die literarische Rekonstruktion des Rostocks aus Kempowskis Romanen, sondern auch – ähnlich einem editorischen Quellenapparat – die Möglichkeit des Querlesens und des Vergleichens von weiteren Sichtweisen auf Rostock.

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2 Werk

2.7.5  Bloomsday ’97 Daniel Gilfillan 1 Inhaltsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 2 Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175

1 Inhaltsüberblick Vom 16. bis 17.  Juni des Jahres 1997 produzierte Walter Kempowski ein Journal mit dem Titel Bloomsday ’97. Das Buch ist das Protokoll eines Fernsehtages, den Kempowski selbst im weiteren Sinne gestaltet und miterlebt hat: In den 19  Stunden der zugrundeliegenden Fernsehproduktion waren seine Hilfsmittel hauptsächlich die fernsehtechnische Ausstattung, wie sie bei manch einer Familie anzutreffen war (Kabelfernsehen, Fernbedienung, Videorekorder und ein bequemes Sofa sowie Ton- und Videoaufnahmegeräte, mit denen das Happening aufgenommen wurde). Der Inhalt des Diariums sind diese 19 Stunden, die auf 37 Kanälen im Fernsehen von Kempowski und seinen Mitarbeitern gesehen und gehört wurden. Das daraus resultierende Buch leistet jedoch mehr als eine Transkription aus dem audiovisuellen ins schriftliche Medium, da es 80 Fotos von Kindern aus dem Jahr 1904 und andere intertextuelle Anspielungen auf James Joyces Ulysses beinhaltet: Bereits das Datum ist eine Reminiszenz an den 16. Juni 1904, den Joyce für seinen Roman wählte. Durch die Kombination verschiedener medialer Quellen macht dieses experimentelle Tagebuch auf die Problematik eines kulturellen Gedächtnisses in einer technologisierten Medienkultur aufmerksam, in der sich die Archivierungspraxis persönlicher bzw. kultureller Erlebnisse weg von den analogen Mitteln der Fotographie und hin zu den gesendeten und daher Bewusstseinsströme darstellenden Möglichkeiten des Fernsehens geändert hat. Was Kempowski im Endeffekt durch Bloomsday’97 erreicht hat, ist die Produktion eines Kunstexperiments, das das Fernsehen als unkritisches und unmittelbares Medium der informationellen und nicht wissensbasierten Archivierung betrachtet. Als Resultat dieses Experimentierens bietet die 19-stündige Odyssee im Medium Fernsehen ein zufälliges, mit der Fernbedienung durchgeführtes Durchsuchen von 37 Kanälen auf Deutsch, Französisch, Spanisch, Italienisch und Englisch. Jeder Abschnitt des Buches beginnt zur vollen Stunde mit einem kurzen Absatz über Stephen Dedalus und Leopold Bloom zu genau derselben Tageszeit, in der diese beiden Charaktere in Joyces Roman dargestellt werden. Zusätzlich gibt es einen kurzen, zweiseitigen Anhang von Eigennamen, Orten, Geschehnissen, Krankheiten, Produkten usw., die im Verlauf der 19 Stunden genannt werden, sowie ein Verzeichnis von einigen Figuren, Geschehnissen und gesellschaftlichen Belangen, die durch die Funkwellen im Juni 1997 geflossen sind, unter anderem Michael Jackson, der EU-Gipfel, AIDS, Rechtsradikale und beziehungsloser Sex. Die kompletten 19 Stunden des Bloomsday-Projekts wurden sowohl mit einem Videorekorder als auch mit einem Tonbandgerät aufgezeichnet, und auf

2.7  Weitere Werke175

Grundlage dieser zwei zwischengeschalteten audiovisuellen Archive wandelten Kempowski und seine Assistenten das Geschehen in Schrift um, wobei sie die Namen von TV-Show-Charakteren und Nachrichten-Moderatoren entfernten, jedoch die geschlechts- und generationsbedingten Eigenschaften der Stimmen im Text festhielten. So wurden zum Beispiel in der gesamten Transkription die Abkürzungen „m. S.“ und „w. S.“ verwendet, um „männliche Stimme“ und „weibliche Stimme“ zu notieren, während die Bezeichnungen „Jungenst.“ und „Mädchenst.“ eingesetzt wurden, um die Stimmen von Jungen und Mädchen zu kennzeichnen (vgl. beispielsweise Kempowski 1997a, 125– 126). Da zwischen den Stimmen von Erwachsenen und Kindern unterschieden wird, weist Kempowski eindeutig auf die offensichtlichen Unterschiede innerhalb des Fernsehprogramms für die jeweiligen Altersgruppen hin. Wenn man dies nun in Zusammenhang mit den im Buch verstreuten Kinderfotographien betrachtet, wird eine feine Verbindung zwischen der Welt von Kindern aus dem Jahre 1904 und der von Kindern aus dem Jahre 1997 deutlich. Wie diese Bilder zeigen, war das Leben für die Kinder 1904 scheinbar viel einfacher: Sie spielen im Garten, werden mit ihrem Lieblingsspielzeug und -musikinstrument gezeigt und tragen ihre beste Sonntagskleidung. Auf jedem Bild sind sie ruhig und aufmerksam, eventuell auch fasziniert von der Kamera. Die Bilder suggerieren eine Unschuld, die bald durch einen Überfluss an Apparaten und Netzwerken verloren gehen sollte. Diese Kinder wurden noch nicht abgelenkt von Informationen, die in den bürgerlichen Haushalt in Form von Radio, Film oder Fernsehen eindringen. Kempowskis ‚Surfen‘ durch die Fernsehkanäle, das um 8:00 Uhr morgens am 16. Juni 1997 beginnt und Punkt 3:00 Uhr morgens am 17. Juni 1997 endet, repräsentiert eine mögliche Iteration, einen möglichen Weg durch das reichhaltige, aber auch oft geschmacklose Programm, welches für das Fernsehpublikum produziert wird. 2 Analyse Wenn die kritische Rezeption von Walter Kempowskis Bloomsday ’97 auch eher dürftig gewesen ist, so stellen die experimentelle Art, wie der Band entstanden ist, sowie Kempowskis durchgehender Montageansatz bei der Zusammenstellung seiner Arbeit und das intermediale In-Beziehung-Setzen von Erzählung, Fotographie und televisuellen Formen die Kernmethoden dar, die in der Sekundärliteratur in den Mittelpunkt gestellt wurden. In seinem im Jahr 2003 erschienenen Aufsatz liefert Dirk Hempel eine biobibliographische und deskriptive Erläuterung des Projekts. Er verbindet es mit Kempowskis Roman Hundstage aus dem Jahr 1988 und mit der Entwicklung der Figur Sowtschick, einem Schriftsteller, der in ähnlicher Weise vom Fernsehen fasziniert ist. Zudem stellt Hempel eine Verbindung zum vierbändigen Das Echolot: Fuga furiosa-Projekt her, an dem Kempowski zu diesem Zeitpunkt noch arbeitete. Indem er diese als miteinander verflochtene Projekte betrachtet, macht Hempel Aspekte von Kempowskis Methode bei der Zusammenstellung und seiner Archivarbeit sichtbar, wodurch Querverbindungen aufgedeckt werden.

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Anstatt jedoch diese Querverbindungen genauer zu beleuchten, widmet sich Hempel einer gründlichen Untersuchung der verschiedenen Ephemera, die sich durch das 19-stündige Fernsehschauen und die Publikation eines Buches darüber ansammelten. Dazu zählen das transkribierte Protokoll der Audioaufnahme, das Video, das den Prozess dokumentiert, Einträge aus Kempowskis eigenen Tagebüchern, Interviews, die auf die Veröffentlichung des Buches folgten, usw. Indem Hempel eine genaue Analyse der Kritiken zu diesem Band anfügt, bietet sein Aufsatz einen direkten Kontext für das Verständnis von Natur und Grund des Bloomsday-Projekts. Die Rezeption bewegt sich allgemein zwischen der Anerkennung einer Faszination für die medialen und informativen Technologien, die das neue Millennium mit sich brachte, und der Bewertung als unerwarteter und misslungener Versuch, genau diese Aspekte miteinander zu verbinden. Indem er die Buchrezeption genau durchleuchtet, legt Hempel den Fokus dieses Ansatzes fest, nämlich Kempowskis Versuch, ein triviales Transkript von über 19 Stunden langem Hin- und Herspringen zwischen Fernsehkanälen in etwas Schönes zu verwandeln, das es wert ist, veröffentlicht zu werden: Ein Happening hat stattgefunden am 16. Juni 1997 in Nartum, ein Event. Mit Beuys könnte man Kempowski vielleicht als Künstler bezeichnen und das Experiment als Kunst. Im Ergebnis aber, im Buch, findet eine Verwandlung nicht statt. Der triviale Fernsehtext bleibt unbearbeitet trivial. Minus mal minus ergab – minus (Hempel 2003, 172).

Obwohl Hempel zum Schluss kommt, dass Kempowskis Band einen absoluten Misserfolg insofern darstellt, als ihm eine erlösende Transformation des Trivialen in etwas ästhetisch Schönes nicht gelinge, so sieht er die Rolle der künstlerischen Darbietung doch positiver und trägt Ansätze einer möglicherweise produktiven kritischen Würdigung des Werkes vor. Leider ist dies jedoch ein Weg, der nicht weiterverfolgt wurde, vielleicht weil Kempowskis Werk nur in Hinblick auf literarische Modelle gesehen wurde und nicht in Bezug auf die Performance selbst und das Netzwerk an Beziehungen, die sich im Moment der Entstehung ergeben. Allerdings bietet Kempowskis Werk darüber hinaus zum einen Gelegenheit, durch das Wechselspiel von Text, televisuellem Klang/Bild, Fotographie und künstlerischer Performance die Rolle und Bedeutung von Textualität zu untersuchen. Zum anderen könnte so auch der Frage nachgegangen werden, auf welche Weise Konzepte wie Erinnerung durch die intermedialen Verbindungen zwischen der Familienfotographie und den Informationsräumen der TV-Ausstrahlung verändert werden. Bloomsday ’97 kann also durchaus als Medienexperiment verstanden werden (vgl. Gilfillan 2005), sowohl als ein Entstehungsprozess durch eine Performance als auch als Kritik an einem Übermaß an Information, wodurch Kempowski die gleichzeitige Einschränkung und das unglaubliche Potential des Modus Text zu verstehen sucht. Wenn Kempowskis Vorhaben, das gerade entstehende Produkt in Form von transkribiertem/ archiviertem Text festzuhalten, im Kontext des intermedialen Zwischenspiels

2.7  Weitere Werke177

zwischen den verschiedenen Ausführungsarten innerhalb des Projekts (visuell, textuell, haptisch) tatsächlich aufgeht, verweist es zugleich auf die Prägung des Textuellen durch das Intermediale (vgl. Gilfillan 2010). Somit ist die Feststellung, dass das Projekt als reine Kritik an der Fernsehkultur zu lesen ist, zu relativieren. Hingegen wäre der Fokus auf die Art und Weise zu legen, wie Bloomsday ’97 die Aufmerksamkeit auf ein von verschiedenen Medien beeinflusstes Gedächtnis lenkt, auf eine kognitive Archivierungspolitik, die diese Erinnerungen in sinnvolle Informationseinheiten verwandelt. Geht man der Frage nach, wie Kempowski Fotographien von Kindern aus dem Jahr 1904 verwendet und sie seinen transkribierten Ergebnissen aus dem Hin- und Herschalten zwischen den Fernsehkanälen gegenüberstellt, dann zeigt sich, wie diese Fotographien von ihrem eigentlichen Raum und ihrer eigentlichen Zeit losgelöst werden. Sie werden aus ihrem Entstehungskontext gerissen und verlieren die Aura der persönlichen Erinnerung, die sie ursprünglich genossen haben, und werden von einer Schicht Anonymität überlagert. Die raumzeitliche Entfernung von ihrem Ursprungspunkt im Jahre 1904 zwingt sie durch eine Reihe von medialen Filtern, von denen jeder einzelne eine zusätzliche Schicht an persönlicher Identität und Erinnerung entfernt und sie dabei als informationelle Nebenprodukte verwendbar macht. Indem das Bloomsday ’97-Projekt auf diesen Bedeutungsverlust von Fotographien – durch das Aufheben der ursprünglichen Erinnerungsfunktion und Abgleiten in die Anonymität – hinweist, zeichnet es auch einen Generalisierungsvorgang nach, bei dem Erinnerung (Wissen und Erfahrung) zu Information wird, die ihrer Bedeutung beraubt worden ist und ohne Gedächtnis auskommen muss.

2.7.6  Das 1. Album. 1981–1986 Sascha Feuchert 1 Inhaltsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 2 Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178

1 Inhaltsüberblick Walter Kempowski war nie ohne Notizbuch unterwegs  – immer wieder befragte er Menschen, bat sie um Erinnerungen, kurze Schriftproben, kleine Zeichnungen oder gar Autogramme. ‚Plankton fischen‘ nannte er diese Art des Sammelns von Stimmen und Geschichten. Unter den unzähligen so entstandenen Notaten ragen die Poesiealben heraus, für die Kempowski „Prominente jeder Couleur“, die „crème de la crème“, die „Schönen, die Reichen, Künstler, Politiker“ (Kempowski 2004c, 5) um eine Unterschrift, ein Selbstporträt und um einen Leitspruch bat. Dazu nutzte der Autor jede sich bietende Gelegenheit: „Auf Empfängen sprach ich die Herrschaften an, im Zug, auf Flughäfen,

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bei uns zu Hause oder fern der Heimat.“ (Kempowski 2004c, 5) Das verlief nicht immer ohne Peinlichkeiten: Volker Braun wollte es auch nicht tun, geradezu höhnisch stieß er mich zurück, im Güstrower Schloß tat er das, in dem wir zu Johnsons Ehren zusammengekommen waren, und er sah sich um, was die anderen wohl dazu sagten, daß er das ablehnt! Man hob die Gläser und rief: ‚Soweit kommt das noch!‘ (Kempowski 2004c, 5)

Knapp 100 Prominente haben sich in Kempowskis erstem Album verewigt, das sich zwischen 1981 und 1986 füllte. Es ist das einzige, das bislang publiziert wurde. Überraschend ist, dass Kempowski dafür mit dem linksorientierten Stroemfeld-Verlag in Frankfurt kooperierte, obwohl er auch in diesem Buch nicht mit Seitenhieben auf (vermeintlich) linke Autoren, Journalisten und Politiker sparte. Zu den faksimilierten Einträgen stellte Kempowski nämlich – bisweilen äußerst bissige – Kommentare, die schildern, unter welchen Umständen es zu den Unterschriften und Widmungen gekommen war und wie er zu den jeweiligen Personen damals oder zum Zeitpunkt des Kommentars stand. Dazu zitierte er nicht selten aus zeitgenössischen Tagebucheinträgen. Ihre Komik beziehen diese Randbemerkungen aber aus dem zeitlichen Abstand, denn 2004 konnte Kempowski mit einiger Gelassenheit und einer gehörigen Brise Sarkasmus v.  a. auf den Literaturbetrieb der 1980er Jahre blicken. 999 Exemplare der ersten Auflage wurden nummeriert und von Kempowski signiert. Nicht zuletzt daran ist zu erkennen, dass das 1. Album eher für Kempowski-Fans und Sammler gedacht war. Ein großes Publikum hat dieser Band denn auch nicht gefunden, obwohl er anlässlich des 75. Geburtstags des Autors veröffentlicht wurde. 2 Analyse Unterschätzen sollte man den Band dennoch nicht, denn an ihm ist einiges abzulesen. Man erkennt deutlich, wie sehr sich Kempowskis Rolle und Position zwischen 1981 und 2003/2004 – dem Zeitpunkt der Kommentare – im Literaturbetrieb gewandelt hat. Als endlich weithin anerkannter Autor blickt Kempowski amüsiert-irritiert auf sein jüngeres Selbst zurück, das im Umgang mit den Größen seiner Zeit in den 1980er Jahren noch sehr gehemmt wirkt und die eine oder andere – oft auch nur eingebildete – Demütigung ertragen muss. Dabei war Kempowski schon Anfang der 1980er Jahre ein überaus erfolgreicher Autor, dessen Romane auch nach den – von ihm kritisch gesehenen Verfilmungen – zu großen Bestsellern geworden waren. Dieser kommerzielle Erfolg machte ihn aber in den Augen mancher ebenso verdächtig wie seine angebliche Verharmlosung des ‚Dritten Reichs‘. Sowohl der junge als auch der alte Kempowski empfinden und beschreiben diese Vorbehalte deutlich, vielleicht sogar übertrieben deutlich, denn immer wieder scheint der Autor auch zu empfindlich zu sein, wenn er sich etwa durch Gerüchte verunsichern lässt. Über Thomas Brasch etwa schreibt er in einem Kommentar: „‚Mit Kempowski setze ich mich nicht an einen Tisch‘, soll er gesagt haben.

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Warum wollte er das nicht? Diese Frage bewegt mich über seinen Tod hinaus.“ (Kempowski 2004c, 21) So werden auch die Zeilen, die er über Lothar-Günther Buchheim im 1. Album schreibt, ein wenig zum Selbstporträt: „Und immer lauerte er, ob er irgendetwas übelnehmen kann.“ (Kempowski 2004c, 47) Von anderen Autoren dagegen grenzt sich Kempowski – zumindest 2004 – bewusst ab, denn sie sitzen, wie etwa Gerhard Zwerenz, für ihn „im anderen Boot“ (Kempowski 2004c, 113). Das 1. Album zeichnet sich darüber hinaus auch durch den ganz eigenen Kempowskischen Humor aus, der v.  a. von seinen skurrilen Einfällen zu den Porträtierten lebt: „Ich würde gerne mal Schiebkarre mit ihr [d.  i. Ulla Hahn] spielen, am Strand von Warnemünde, aber dafür müsste ich sechzig Jahre jünger sein.“ (Kempowski 2004c, 33) Seine genauen Beobachtungen machen auch vor Modesünden nicht Halt: „Bei der Verleihung des Niedersachsenpreises trug er [d.  i. Guntram Vesper] nach damaliger Mode weiße Socken, das zu tun hätte ich mich nicht getraut.“ (Kempowski 2004c,35) Immer wieder setzt Kempowski virtuos die aus Tadellöser & Wolff bekannte Technik ein, Figuren bzw. Personen durch indirekte Zitate zu karikieren: Adolf Muschg „reichte mir seinen Arm, ich soll mal fühlen, daß er hohes Fieber hat und trotzdem hier auftritt.“ (Kempowski 2004c, 17) Natürlich sind es auch die vielen Respektlosigkeiten, die zur Komik beitragen, zumal sie häufig hyperbolisch abgefedert werden. Zur Lyrik Erich Frieds etwa schreibt Kempowski, dass man ja nicht sagen dürfe, dass Frieds „Gedichte unerträglich sind. Wenn man es doch tut, kriegt man einen Punkt in Flensburg.“ (Kempowski 2004c,147) Zur Werkgenese erfährt man in dem liebevoll gestalteten Band ebenfalls einiges. So etwa, dass Hans Jürgen Fröhlichs Roman Im Garten der Gefühle Kempowski zu den Hundstagen anregte oder dass er Philip Rosenthal, den Porzellan-Fabrikanten, im selben Roman „auf Seite 20 verewigt“ (Kempowski 2004c, 97) habe. Im Feuilleton fand der Band nur wenig Beachtung. Dennoch wurde er im Zuge der Berichterstattung zum 75.  Geburtstag des Autors immer wieder auch in den großen Blättern wohlwollend erwähnt. Neben den Kommentaren Kempowskis, die Burkhard Müller in der Süddeutschen Zeitung als „knapp, banal, witzig“ (Müller 2004, 16) bezeichnet, war es besonders die Tatsache, dass das Buch „ausgerechnet im Stroemfeld Verlag unter dem Roten Stern erschein[t]“ (Apel 2004, o.  S.), die des Öfteren überrascht und durchaus anerkennend bemerkt wurde. Ausführlichere Forschungsarbeiten zu den Poesiealben – vor allem auch zu den noch nicht publizierten – fehlen dagegen momentan noch. Sie könnten sich lohnen, auch wenn Kempowskis Kommentare bei den restlichen fehlen. Dafür aber hat man die umfangreichen Tagebücher als Quellen.

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2.7.7 Uwe Johnson und Walter Kempowski: „Kaum beweisbare Ähnlichkeiten“. Der Briefwechsel Sascha Feuchert 1 Inhaltsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 2 Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181

1 Inhaltsüberblick Der Band enthält den knapp 60 Schriftstücke umfassenden Briefwechsel der beiden Mecklenburger Autoren Walter Kempowski und Uwe Johnson, der sich zwischen 1971 und 1983 entfaltete. Den Auftakt für die Korrespondenz machte Johnson mit einem Telegramm, offenbar unmittelbar nach der Lektüre von Kempowskis Roman Tadellöser & Wolff. Johnson fragte darin Kempowski nach der Bedeutung der beiden Ausdrücke „Ocki-Arbeit“ und „iben“. Dem kurzen Fernschreiben schickte Johnson auch noch einen längeren Brief hinterher, der ihn als genauen und begeisterten Leser Kempowskis zeigt. Kempowski  – damals noch am Anfang seiner Karriere  – beeilte sich, den bereits berühmten Johnson zunächst anzurufen und die vermeintlich dringlichen Fragen zu beantworten, ehe auch er einen ausführlicheren Brief nachsandte. Die beiden Herausgeber des Briefwechsels Eberhard Fahlke und Gesine Treptow weisen zu Recht auf die inszenierte Dringlichkeit durch Johnson hin und vermuten dahinter einen „verkappte[n] Glückwunsch zur Publikation von Tadellöser & Wolff. Einfach spontan und von Herzen zum Buch zu gratulieren, ist Johnson nicht möglich.“ (Fahlke und Treptow 2006a, 130; Hervorhebung im Original). Kempowski war durch die offensichtliche Anerkennung des „große[n] Bruders“ (Kempowski und Johnson 2006, 54) geschmeichelt und ließ sich auf einen intensiveren Briefwechsel ein. Fahlke und Treptow teilen diesen in drei Abschnitte ein: Von 1971 bis 1973 ist der erste intensive briefliche Austausch zu verzeichnen […]. Die Briefe drehen sich um Mecklenburg und die wechselseitige Lektüre ihrer Bücher. Es entfaltet sich eine Art Werkstattgespräch […]. Atmosphärisches und Persönliches wird ausgespart. […] Ganze drei Schriftstücke werden im zweiten Abschnitt, der Zeit von 1974 bis 1979, noch gewechselt. Das liegt vor allem an den Lebensumständen Johnsons. […] Im letzten Abschnitt, der Zeit zwischen 1979 und 1983, intensiviert sich der Briefwechsel und erreicht eine ähnliche Frequenz wie in den ersten Jahren. […] Jetzt erscheinen, vor allem in den Briefen Johnsons, kleine literarische Miniaturen, liebevolle Schilderungen von Alltagsangelegenheiten, berührende, auch persönlich gehaltene Botschaften aus Sheerness. Kempowski legt seinen Briefen Fotografien bei, die ebenfalls Geschichten, auch vertrauliche, erzählen, und bemüht sich, Johnson nach Nartum zu locken. (Fahlke und Treptow 2006a, 132  f.).

Mit letzterem Ansinnen scheiterte Kempowski auf ganzer Linie, auch weil Johnson vermutete, Kempowski verlange es nach einem „Heim-Vorteil“

2.7  Weitere Werke181

(Kempowski und Johnson 2006, 117). In der Tat drängt sich dieser Eindruck auf, denn obgleich es bereits im Mai 1971 zu einem ersten und offenbar auch gelungenen Treffen kam, gab Kempowski wiederholt zu verstehen, dass er „immer etwas ‚Schiß‘“ vor dem anderen habe, denn Johnson habe „so etwas Strenges an sich, das mir zwar vertraut ist, aber mir den Mund verschließt.“ (Kempowski und Johnson 2006, 82) Öfter haftet Kempowskis Briefen gar etwas Unterwürfiges an; er giert geradezu nach der Anerkennung Johnsons. Nach dessen Tod deutete Kempowski die Beziehung freilich um: 1995 wird er bei der Verleihung des Uwe-Johnson-Preises an ihn sagen, Johnson habe „nicht zu den ihm angenehmen Menschen“ (Fahlke und Treptow 2006a, 129) gehört. „Um dessen Freundschaft habe er sich nicht gerissen. ‚Er war verschlossen, wortkarg, mürrisch, auch unduldsam. Wenn ihn etwas störte, wurde er grob, saugrob. Es war nicht gut Kirschen essen mit ihm, wie man so sagt.‘“ (Fahlke und Treptow 2006a, 129) In dieser öffentlich vorgetragenen, wenig schmeichelhaften Charakterisierung mag nachgewirkt haben, was Kempowski möglicherweise als Liebesentzug empfunden hatte: 1972 hatte Johnson nämlich „als strenger Lektor am Typoskript von Uns geht’s ja noch gold“ (Fahlke und Treptow 2006a, 133, Hervorhebung im Original) gewirkt. Seine zum Teil harsche Kritik fasste Johnson mit den Worten zusammen: „Der Brief läuft hinaus auf das Ende, das Sie geahnt haben werden: Solange das Buch in diesem Zustand ist, sollte dem Verfasser von einer Veröffentlichung abgeraten werden. Er kann seine Sache besser, als hier zu sehen ist.“ (Kempowski und Johnson 2006, 58  f.) 2 Analyse Für die Kempowski-Forschung ist es gerade dieser Austausch über Kempowskis dritten Roman Uns geht’s ja noch gold, der von größtem Interesse ist. Denn obgleich Kempowski sichtbar gekränkt und verletzt war, nahm er doch einige der Kritikpunkte Johnsons ernst und änderte den Text, der eigentlich schon kurz vor der Publikation stand, an mehreren Stellen. Gut gefiel ihm etwa Johnsons Vorschlag, Uns geht’s ja noch gold mit den gleichen Worten enden zu lassen, mit denen der drei Jahre zuvor publizierte Haftbericht Im Block beginnt. Auch mit Kürzungen zeigte sich Kempowski einverstanden, vor allem solchen, die dem Leser einen erklärenden Rückblick auf Ereignisse aus Tadellöser & Wolff geben sollten. Nicht zuletzt durch Johnsons Hilfe erkannte er, dass diese nicht nötig waren. Dagegen verteidigte Kempowski vehement, dass sein Protagonist und Alter Ego Walter auch in diesem Roman wieder nur eine begrenzte Sicht auf die Dinge erhielt. Johnson hatte diese Subjektivität stark kritisiert: Unangenehmer ist mir der Eindruck, es habe das Erzählprinzip der Zeitzeugenschaft Ihnen diesmal weniger gut angeschlagen […]. Ihre beiden ersten Bücher haben, jedes für sich, eine Epoche hergestellt und bezogen von daher einen guten Teil ihres Rechts: aus der Situation der Gefangenschaft, einer Kindheit unter Hitler. Das scheint mir

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in Ihrer Darstellung des Nachkriegs weniger gut erreicht, besonders für die westdeutsche Szene. Das könnte einmal daran liegen, dass der Erzähler sich nun vielleicht nicht mehr ausschließlich beschränken sollte auf den Erfahrungsrahmen dessen, von dem er erzählt: das handelnde Subjekt kann für seine Handlungen hier nicht durch die Rolle des Opfers entschuldigt werden. Weiterhin, die Wirklichkeit Ihres Rostock nach dem Kriege hat eine Menge mehr Löcher als die in ‚T&W‘. (Kempowski und Johnson 2006, 58)

Kempowski war durch diese Kritik vermutlich so getroffen, weil sie einen Grundton aufnahm, der auch bei der öffentlichen Diskussion von Tadellöser & Wolff eine gewisse Rolle gespielt hatte. Schon bei diesem zweiten Roman Kempowskis hatten ihm Rezensenten vorgeworfen, sein vermeintlich naiver Erzähler würde mit seiner begrenzten Sicht nur die beschauliche, kleinbürgerliche (Schein-)Idylle schildern, die auch noch während des Nationalsozialismus eine ganze Weile fortbestehen konnte, während das Grauen des Nazi-Regimes nahezu völlig ausgeblendet und damit verharmlost werde. Entsprechend klar wies Kempowski Johnsons Vorwurf zurück: „Ich teile Ihre Ansicht nicht, daß der Erzähler aus dem Rahmen seines eigenen Erlebnisses heraustreten sollte. Wenn er es täte, entstünde wieder so ein Vollständigkeitsroman, wie wir sie in der ‚Bewältigungsliteratur‘ häufiger finden.“ (Kempowski und Johnson 2006, 64) Darauf reagierte nun Jonson seinerseits pikiert, „empfindet er doch das Besondere seiner Geste verkannt.“ (Fahlke und Treptow 2006a, 137) Kempowski gingen auch Johnsons stilistische Monita noch lange nach. So bekannte er im November 1980 ihm gegenüber sogar, dass er es bedauere, nicht mehr von Johnsons Änderungen berücksichtigt zu haben. Die ‚Kempowski-Welle‘, die kurz vor seinem Tod für eine bis dahin nicht gekannte Wertschätzung des Autors sorgte und v.  a. von jüngeren Feuilletonisten ausgelöst wurde, sicherte dem schmalen Briefwechsel eine breite Rezeption in der Literaturkritik. Während etwa Alexander Cammann in der taz von der „nordische[n] Sprödigkeit und amüsiert-unbeholfene[n] Herzlichkeit“ (Cammann 2006, o.  S.) der beiden Briefeschreiber schwärmte, betonte Ernst Osterkamp in der FAZ die nicht zuletzt durch den Briefwechsel deutlich hervortretenden Ähnlichkeiten der beiden Autoren, die sich vor allem in der „Erinnerung als eine[r] Hauptfunktion des Erzählens“ (Osterkamp 2006, 50) zeige. Kempowskis treuer publizistischer und literaturwissenschaftlicher Wegbegleiter Jörg Drews nannte den Briefwechsel in der Süddeutschen Zeitung ein „Memorial der Menschlichkeit in all ihrer Fragilität“ (Drews 2006b, V3/14).

2.7  Weitere Werke183

2.7.8  Langmut. Gedichte Andreas Grünes 1 Inhaltsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 2 Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183

1 Inhaltsüberblick Walter Kempowskis Langmut. Gedichte erschien 2009 posthum und versammelt 77 Gedichte, die Kempowskis Hafterfahrung behandeln. Trotz Analogien zu den bereits in Im Block und Ein Kapitel für sich beschriebenen Hafterlebnissen fehlen in „Langmut“ unmittelbare Bezüge zur Haft. Stattdessen thematisieren die Texte unter dem Rubrum „Langmut“ nicht nur dem Titel synonyme Eigenschaften wie Ausdauer, Hoffnung und Zuversicht, sondern vor allem konträre Empfindungen wie Angst, Verzweiflung und Einsamkeit. Kempowski richtet den Fokus nach innen, dabei fällt die Vermeidung eines lyrischen Ichs zugunsten einer Verwendung der zweiten Person Singular im Stile eines soliloquiums auf: „Bist du dein eigenes Bild? / Sitzt einer da und malt dich? / Sollst dein Brot brechen / oder den Krug ansetzen?“ (Kempowski 2009a, 17) Dieser innere Monolog in den Gedichten dient der Darstellung des Wiederstreits von Hoffnung und Verzweiflung: „Sind sie noch da? / Es schabt, es kratzt. / Kein Wispern! / Ein Wischen. / Wo? / Horcht er dort oben, / ob du dich rührst?“ (Kempowski 2009a, 35; vgl. auch Hagestedt 2010b, 166). Der Selbstreflexion dienen Szenen, Erinnerungspassagen und vor allem Fragen, die nicht nur das eigene Handeln in Zweifel ziehen, sondern eine grundlegende Unsicherheit über die weitere Existenz manifestieren: „Hattest du es geahnt? / Warst du gewarnt? / Saßen nicht Vögel auf den Ästen? / Grubst du dir denn kein Loch? / Alles Bitten umsonst.“ (Kempowski 2009a, 26). Dieser Innenperspektive fehlen aber Referenzen auf konkrete biographische Stationen, wie sie sich in Kempowskis Tagebuchaufzeichnungen finden: „Die ‚kummervollen Nächte‘, als ich mir darüber klar wurde, daß ich gar nichts war, nichts hatte, immer älter wurde, kein Abitur, keine Lehre, nichts.“ (Hempel 2004, 74) Stattdessen werden Sinnbilder wie entfernte Geräusche, sich verschließende Architektur und die Dichotomie von Farbe und Dunkelheit als Allegorien eines Geflechts aus Isolation, Verzweiflung und Hoffnung auf Erlösung benutzt. Hinzu treten biblisch-religiöse Konnotationen und kulturelle Referenzen (Piranesi, Rapunzel), die eine motivische Aufladung der Szenen und Passagen evozieren. 2 Analyse Der Anteil lyrischer Arbeiten im Gesamtwerk Walter Kempowskis ist überschaubar geblieben, wenngleich das Montage-Konzept seiner Romane und des Echolots durchaus semantische Dichte und sprachliche Ökonomie aufweist

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und mit Referenzen zu Gedichten, Sprichwörtern und Liedern zahlreiche Versund Reimformen integriert. Doch obgleich Walter Kempowski sich während seiner Haftzeit in Bautzen intensiv mit Lyrik beschäftigte und dort auch einige Gedichte verfasste (vgl. Hempel 2004, 76  f.), ist Langmut sein einziger Gedichtband geblieben. Trotz dieser ersten lyrischen Arbeiten während des Gefängnisaufenthalts fand eine tatsächlich lyrische Auseinandersetzung mit der Haft in Bautzen – im Gegensatz zur intensiven epischen Beschäftigung – erst sehr viel später statt. Zu einer erneuten Beschäftigung mit der Haftzeit wenige Jahre vor seinem Tod äußerte sich Kempowski im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung im April 2004: „Auf einmal pochte das Unbewusste an die Tür und sagte: Lieber Freund, du denkst es zwar, aber es ist noch lange nicht vorbei.“ (Winkler 2004, VIII) Friedmar Apel wies in seiner Rezension des Bandes auf die Besonderheit einer Auseinandersetzung in Versform hin: „Die erneute Überwindung zur Erinnerungsarbeit erschloss ihm zu seiner eigenen Überraschung eine lyrische Stimme, die an Rilkes Dinggedichte anklingt.“ (Apel 2009) Kempowski arbeitete zwischen Juni und Dezember 2003 an mehreren Fassungen der Langmut-Texte, deren vorläufige Endfassungen er schließlich bei Lesungen erstmals der Öffentlichkeit vortrug (vgl. Brand 2005, 248). Diese Existenz des Gedichtbands und auch der Titel Langmut waren bereits 2004 bekannt, ebenso die Bedingungen für die Veröffentlichung: „Die Gedichte sind alle gesetzt und auch schon auf Band gelesen, aber veröffentlicht werden dürfen sie erst nach seinem Tod.“ (Winkler 2004, VIII). Eine erneute Auseinandersetzung mit der Haftzeit in Bautzen hatte Kempowski bereits in seinem Tagebuch von 1989 angedeutet: „Ich habe tatsächlich in den letzten Jahren den ‚Block IV‘ verfaßt, eine Angelegenheit für postume Zwecke.“ (Kempowski 2001b, 138) Wenngleich offen bleibt, welche Texte Kempowski nach Im Block, Ausgeschlossen und Ein Kapitel für sich damit meint, wird doch deutlich, dass eine postume Publikation für ihn grundlegend für die abschließenden Auseinandersetzungen mit der Haft in Bautzen war. Dies zeigt sich nicht nur im Titel Langmut, der als der „unverzichtbare Schlussstein von Walter Kempowskis Lebenswerk“ (Seibt 2009, 16) gleichermaßen auch Resümee seines gesamten Lebens ist: „Langmut hat er wahrlich als Häftling, als Grundschullehrer, als Schriftsteller und Sammler, als Ehemann und öffentliche Person bewiesen.“ (Apel 2009) Ein Grund für die bewusste Verschiebung einer Veröffentlichung des bereits fertiggestellten Gedichtbandes (und des von Kempowski selbst eingelesenen Hörbuchs) könnte in der unbeschönigten Darstellung von Isolation, Angst und Verzweiflung liegen, die auf die ironischen Brechungen der Romane verzichtet: „Streckst Du den Arm hinaus / mit gespreizten Fingern, / da ist nichts zu greifen!“ (Kempowski 2009a, 37). Einsamkeit und Isolation werden insbesondere durch trennende Raumelemente wie Türen, Wände und Stäbe, aber auch durch die wahrzunehmenden Geräusche der Welt außerhalb von Riegeln und Mauern deutlich: „Läuft einer über das Dach? / Bricht durch das Gebüsch? / Wartet niemand / mit einem Licht? / Kein Zeichen gilt dir.“ (Kempowski 2009a, 61). Wie stark die Wirkung der Gefängnisarchitektur ist,

2.7  Weitere Werke185

zeigt das Gedicht „Piranesi“, das eines der wenigen im Band ist, das einen Titel trägt. In Anspielung auf die Carceri des Kupferstechers und Architekturtheoretikers Giovanni Battista Piranesi assoziiert das Gedicht die Atmosphäre altertümlicher Verließe und Kerker. Zwar hängen keine Ketten herab, doch in seiner Architektur ist auch dieses Gefängnis analog zu Piranesis Skizzen ein verschlossenes Labyrinth, das keinen Ausweg aus dem Haftalltag bietet: „Unter den Halbbogen / auf eisernen Treppen / hinauf – hinunter.“ (Kempowski 2009a, 16) Friedmar Apel geht in seiner Rezension noch weiter und stellt eine Verbindung zwischen der Form und dem Inhalt der Gedichte her: „Die kurzen Gedichte in Langmut ergreifen durch die Schlichtheit eines elementaren Vokabulars, das der Begrenztheit des Sichtbaren in der Haft entspricht.“ (Apel 2009). Dafür spricht, dass auch die poetischen Bilder und literarischen Assoziationen nur geringen Trost bieten und keine Erlösung bringen: „Rapunzel, dein Zopf / und das blaue Licht im Brunnen. / Keine Säulen, die du auseinanderstemmst, / und keine Kammern aus Blei, aus denen du / fliehst. Ein weißes Zimmer / und der gescheuerte Tisch.“ (Kempowski 2009a, 53). Die Figuren aus den Märchen – Rapunzel und der Soldat in Das blaue Licht – werden durch wundersame Fügung aus ihrer Gefangenschaft befreit, der gottgeweihte Held Simson des Alten Testaments reißt nach seiner Gefangenschaft tausende Philister mit in den Tod und der Protagonist aus Edgar Allen Poes Erzählung Die Grube und das Pendel wird schließlich von der französischen Armee aus seinen Qualen in der metallenen Kammer befreit. Dem Gegenüber des Selbstgesprächs bleibt ein derartiges Ende verwehrt, der Topos aus Gefangenschaft und Befreiung bzw. Erlösung wird je unterbrochen: Ein weißes (Kranken?-) Zimmer und ein gescheuerter Tisch assoziieren sterile Kargheit und behindern eine phantastische Ausmalung der eigenen Gefangenschaft. Stattdessen bleibt in der Einsamkeit nur der Rückbezug auf sich selbst: „Nein, keine Spinne als Kamerad, / kein Wettsingen mit gelben Vögeln. / Die Furchen der Stirn, / ein Knacken der Finger.“ (Kempowski 2009a, 33) Das Selbstgespräch der Gedichte dient jedoch nicht nur dem Klagen über das eigene Schicksal. Zugleich spiegelt die Verwendung der zweiten Person Singular auch die zeitliche Distanz zwischen Erlebnis und Beschreibung wider: Es ist die Selbstreflexion des älteren Schriftstellers Kempowski, der auf sein eigenes Ich in der Haft blickt. So steht am Ende des Gedichtbandes auch ein Ende des Reigens von Klagen, Verzweifeln und Hoffen: „Stunde des Abschieds, da winkte dir keine Hand. / Auf dem Hof hallten Bretter, / und aus dem Schornstein stieg Rauch. / Stunde des Abschieds – / weiß hing ein Tuch aus der Wand. / Könntest du Schritte zählen, es wären die Schritte zurück.“ (Kempowski 2009a, 82) Die Innenperspektive wechselt schließlich in eine Außenperspektive: Die Schritte, die symbolisch für die Welt außerhalb von Türen, Mauern und Stäbe waren, sind nun die eigenen Schritte – der Gefangene ist befreit, die Schritte führen zurück in das eigene Leben.

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2 Werk

2.7.9 Umgang mit Größen. Meine Lieblingsdichter – und andere Sascha Feuchert 1 Inhaltsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 2 Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187

1 Inhaltsüberblick Der Band Umgang mit Größen. Meine Lieblingsdichter – und andere (Kempowski 2011) versammelt kurze Dichterporträts, die Kempowski zwischen 1997 und 1999 als Auftragsarbeit für die Welt am Sonntag verfasste. Die Auswahl für die Kolumnen ist nicht ganz klar, wie auch Kempowskis langjähriger Lektor Karl Heinz Bittel in seinem Vorwort festhält: Wonach bemißt sich Größe? Nach der Höhe der Auflagen? Nach der Anzahl der Preise? Nach der internationalen Verbreitung, dem weltweiten Ruhm? Neben den Klassikern früherer Jahrhunderte (zum Beispiel Sterne, Goethe, Flaubert) und der Moderne (Proust, Kafka, Joyce) finden sich in dieser Sammlung auch Auflagenkönige der Unterhaltungsliteratur wie etwa Karl May, Edgar Wallace, Agatha Christie und, ja – Simmel und Konsalik. (Kempowski 2011, 10)

Viele der Texte geben lediglich literaturhistorisch (Allzu-)Bekanntes wieder, zeichnen sich aber auch durch Kempowskis Ironie und Sarkasmus aus oder leben von seiner zur Schau gestellten „ästhetische[n] und politische[n] Reizbarkeit“ (Kempowski 2011, 10). Interessant für die Kempowski-Forschung sind indes jene Miniaturen, in denen Kempowski eine poetologische Nähe zu den Porträtierten beschreibt oder andeutet. So ist natürlich der Absatz über Walter Benjamins PassagenWerk (vgl. Kempowski 2011, 27) als deutliche Referenz zum Echolot ebenso auffällig wie das Lob für Albert Camus’ „Eiseskälte“ (Kempowski 2011, 45), die als Stilideal hervorgehoben wird. Auch wenn nicht nur Alfred Döblins „späte Romane […] wenig herausfordernd“ (Kempowski 2011, 72) auf Kempowski wirkten, sah er doch auch eine Verwandtschaft zu seinem Schreiben: „Berührungspunkte zwischen meinem eigenen Ton und Döblin ergeben sich nur in der Montagetechnik, die auch diesen Roman [Berlin Alexanderplatz] heraushebt. Das objektiv Gegebene ‚aufkleben‘ und ‚die Ränder verwischen‘ lassen, hat Thomas Mann das einmal genannt.“ (Kempowski 2011, 73) In stilistischer Hinsicht ist auch John Dos Passos für Kempowski von Bedeutung: Manhatten Transfer etwa „ist eines der Bücher, die ich immer wieder zur Hand nahm, weil mich die Art der Collage interessierte und vor allem seine Blöckchentechnik, die berühmte Leerzeile.“ (Kempowski 2011, 78) Offensichtlich ist zudem „die Affinität“ zu Dostojewski,

2.7  Weitere Werke187 weil er nämlich auch so lange gesessen hat, in Sibirien […]. Sein Buch ‚Aufzeichnungen aus einem Totenhaus‘, die literarische Verarbeitung der Gefängniserfahrung, hat mich bei meiner Arbeit an dem Roman ‚Im Block‘ sehr beschäftigt, besonders, wie er die Schwierigkeit meistert, eine Zeit zu beschreiben, in der sich nichts ereignet. (Kempowski 2011, 79)

Auch die empfundene Verwandtschaft zu den poetischen Realisten dürfte nicht überraschen (vgl. Feuchert 2013). Allerdings bezieht sie sich im Porträt von Theodor Fontane neben dem Stechlin, dessen Lektüre Kempowski „Lesebehagen schenkte“ (Kempowski 2011, 90), vor allem auf die Wanderungen durch die Mark Brandenburg, „eine literarische Großunternehmung, die mich bei meiner Arbeit am ‚Echolot‘ bestärkt hat. Dankenswerterweise kommt ja ein Vorfahr von mir in den ‚Wanderungen‘ vor, der Pastor Collasius in Protzen.“ (Kempowski 2011, 90) Selbst aus den kritischen bis ablehnenden Porträts lassen sich Rückschlüsse auf das Selbstverständnis von Kempowski ziehen. Seine Abneigung gegen Heinrich Böll ist weithin bekannt, und so verwundert auch Kempowskis Urteil über dessen Werk nicht: „Die Frage ist nur, ob es für Böll noch generationenlang Leser geben wird. Ich fürchte nicht […]. Schöne Titel haben seine Bücher, die sich leider auch dazu eignen, ihn lächerlich zu machen“ (Kempowski 2011, 40). Kempowskis Urteil über Lion Feuchtwanger fällt besonders bissig aus, nicht zuletzt, weil er dessen „Lügenbericht über die Sowjetunion“ (Kempowski 2011, 84; gemeint ist Moskau 1937: Ein Reisebericht für meine Freunde) nicht entschuldigen kann. Aber auch ästhetisch lehnt er ihn völlig ab: Er war ein Schriftsteller, der es verstand, sogenannte brisante Stoffe in ‚Fügte er hinzu‘-Prosa zu verwandeln, und zwar so geschickt, daß Leser in aller Welt gierig zu diesen Leichtgewichten griffen. […] Ich habe kein einziges seiner Bücher mit Gewinn lesen können. Weder seine Zeitromane noch die historischen oder die Satiren gegen den Nationalsozialismus. Die Wurst, mit der er nach dem Schinken schmiß, war immerfort deutlich. Und wer ihn zu laut rühmt in unserer bundesdeutschen Literaturkritik, ist mir verdächtig. (Kempowski 2011, 86)

Seitenhiebe gelten immer auch der frühen deutschen Nachkriegsliteratur, besonders der Gruppe 47. Für deren ästhetisches Programm macht Kempowski v.  a. Hemingway verantwortlich: „Eine ganze Generation von Schriftstellern wurde durch ihn ruiniert, verfiel in Short-Story-Manie und journalistischen Tonfall. In unseren Schulen wurden beileibe nicht länger ‚antiquierte‘ Novellen und Erzählungen gelesen, Stakkatostil und die Wiedergabe von Fakten galten als fortschrittlich.“ (Kempowski 2011, 118) 2 Analyse In den Feuilletons fand der Band mit den Dichterporträts keine allzu große Beachtung, wenn doch, dann wurde er freundlich besprochen. Kai Sina etwa hob in der FAZ als besonderen Vorzug der Texte hervor:

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So zerstäubt die ‚Größe‘ in diesen Schilderungen unversehens; auch die Allergrößten sind nur Mängelwesen, denen sich ‚unsereiner‘ getrost zurechnen darf – und heißt er auch ‚bloß Walter‘. Die Verkleinerung der Größten dient Kempowski offenbar zur Schmälerung seiner eigenen Angst, der Kleinste zu sein – ein Prinzip, das durchaus an den Scheinriesen aus ‚Jim Knopf‘ erinnert, der nur aus der Ferne seine Riesenhaftigkeit entfaltet: Genau wie Jim bei Michael Ende können wir Leser mit Kempowski lernen, ‚nie wieder‘ vor irgendwem ‚Angst zu haben‘, bevor man ihn nicht ‚aus der Nähe‘ betrachtet hat. (Sina 2011, 7)

2.8 Hörspiele 2.8.1  Träumereien am elektrischen Kamin Carla Damiano 1 Inhaltsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 2 Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189

1 Inhaltsübersicht Walter Kempowskis Hörspiel Träumereien am elektrischen Kamin wurde am 31. 12. 1971 vom Norddeutschen Rundfunk erstmals gesendet, also am letzten Tag des Jahres, in dem Kempowskis Roman Tadellöser & Wolff im Hanser Verlag erschien. Der Erzählstoff des Hörspiels basiert auf dem des Romans; der Schauplatz ist Rostock 1939–1945. Es ist deshalb denkbar, dass der eine oder andere damalige Hörer bereits mit der Story vertraut war, weil er den Roman gelesen hatte. Das Hörspiel vergegenwärtigt dem Hörer in vielen kurzen Episoden das Leben der Rostocker Bürgerfamilie Kempowski während der Kriegsjahre, wobei im Verlauf der knapp 43 Minuten die Kriegsrealität zunehmend in alle Bereiche des täglichen Lebens eingreift, darunter auch in den Schulalltag, in den Kinobesuch und in den Musikgenuss. Im Gegensatz dazu gewinnen die Sprachmarotten der Familie Kempowski an Geltung, weil sie den Alltag und somit auch den Hörer aufheitern. So hört man den aufgeregten Vater Karl sagen: „Das ist mir völlig Piepenhagen!“/„Scheiße mit Reiße!“, wogegen Bruder Robert andere Sprüche des Vaters nachahmt: „Tadellöser & Wolff“/„Miesnitzdörfer und Jenssen“ und mit den „Swing Boys“ zusammen von „Pisspott-Schnitt und HJ“ nichts wissen will. Die Sprüche der Mutter klingen dagegen eher positiv, besorgt oder sanft: „Kinder, wie isses nun bloß möglich?“ Bei den Kempowskis ist jedoch nicht alles im Lot, auch wenn die unsentimentale – oder gar saloppe – Erzählweise es vordergründig so erscheinen lässt. Es ist Krieg, und jeder wird aufgefordert, seinen Dienst für das Vaterland zu leisten. An der Heimatfront in Rostock gehören bald Fliegeralarm, Bombardierungen, Luftschutzkeller und Lebensmittel-Rationierung zum Alltag. Unter den Schuljungen wird statt Briefmarkensammeln nun das Sammeln von

2.8 Hörspiele189

Bombensplittern, Gewehrkugeln, und abgeschossenen Flugzeugteilen Mode: „,Was‘?  […] du hast noch keinen Bombensplitter? Mensch wir gehen zum Schlosser, der sägt uns den durch und da kriegst du die Hälfte.‘“ Oder: „,Hast du ’nen sowjetischen über? Den könnte ich noch gebrauchen.‘“ Dass aber die Musik für die Familie auch in den Kriegsjahren eine große Rolle spielt, wird im gesamten Hörspiel durchgängig hervorgehoben, und zwar durch jeweils kurze Passagen aus ernster Musik, Jazz und der damals bekannten Schlagermusik. So behagte dem sich erinnernden Erzähler Walter Kempowski das wunderbare Klavierspiel des Vaters, wenn der Erzähler abends im Bett lag und lauschte; den Eltern war jeder Konzertbesuch ein Genuss und Diskussionsthema  – „Bruckner ist im Kommen“; und Bruder Robert und seine Freunde kannten alle erdenklichen Jazznummern und sangen sie voller Begeisterung mit; selbst Schwester Ulla hörte gern Musik, nämlich die damals gängigen Schlager. Das Allerschlimmste jedenfalls steht der Familie noch bevor: Vom Vater, der sich freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet hatte, kommt gegen Ende des Hörspiels schließlich keine Nachricht mehr. 2 Analyse Träumereien am elektrischen Kamin fand in der Kempowski-Forschung bisher nahezu keine Resonanz, obwohl sich das Werk sowohl thematisch wie formal nahtlos in Kempowskis Gesamtwerk einfügt. Aber eben weil der Roman und das Hörspiel sich des gleichen Tadellöser & Wolff-Erzählstoffs bedienen und überdies zeitlich relativ nah erschienen sind, sollte berücksichtigt werden, inwiefern die veränderte Übertragung des gleichen Materials in die Hörspielform den Rezipienten zu einer schärferen Sicht des Erzählten verhelfen mag, denn in die neue Form verwandelt, wird die Geschichte der Kempowskis (und der Deutschen) viel kompakter darstellbar als im Roman. Hier geht es nicht um eine formale Analyse des Hörspiels an sich, doch drängen sich im Zusammenhang mit diesen Überlegungen folgende Fragen auf: Was sind die dem Hörspiel inhärenten Eigenschaften, die Kempowski sich zu eigen machte, um vor allem seine Hauptthemen fokussierter und klarer herauszukristallisieren, als es im Roman möglich war? Durch welche dem Genre Hörspiel inhärenten Eigenschaften konnte Kempowski die Vater-Figur im engeren Sinne in den Vordergrund stellen? Der beschränkte Erzählraum des Hörspiels führte logischerweise zu Auslassungen, was dann noch weitere Fragen aufwirft, nämlich: Was lässt Kempowski im Hörspiel aus? Und ebenso wichtig: Was hebt er stattdessen hervor? Kempowski war sich selbstverständlich der Wichtigkeit solcher Überlegungen bewusst, denn er wiederholte oft die Formel: „Form ist der höchste Inhalt“. Es ist also offensichtlich, dass er mit den beiden 1971 erschienenen Werken, dem Hörspiel Träumereien am elektrischen Kamin und dem Roman Tadellöser & Wolff, ein Form-Experiment durchführen wollte. Es muss aber auch erwähnt werden, dass für eine vollständige Formstudie zusätzlich die 1975 erschienene Tadellöser & Wolff-Verfilmung von Eberhard Fechner einbezogen werden müsste. Obwohl hier lediglich Roman und Hörspiel diskutiert

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werden, sind dennoch folgende Notizen Kempowskis zur Formfrage von allgemeinem Interesse. Diese Notizen hat Kempowski 1980 in Vorbereitung auf ein Seminar mit dem Titel „Suche nach dem Vater“ niedergeschrieben: „Wenn man den Roman [Tadellöser & Wolff] und das Hörspiel [Träumereien am elektrischen Kamin] als zwei Ergebnisse ansieht, in denen die Erlebnisse Form gefunden haben, so ist der Film von Fechner Nr. 3 […].“ (Kempowski 1980h). In den Notizen macht Kempowski sich Gedanken über die formalen Möglichkeiten und Grenzen der Genres Roman und Film, indem er Fechners filmische Umsetzung des letzten Kempowski-Familienurlaubs im Harz hinterfragt: a. Film u.d. Harzreise b. Was hat er [Fechner] ausgelassen? c. Was hat er sich nicht entgehen lassen? d. Was weicht ab? (Ebd).

Ob Roman, Hörspiel oder Film, jede Form bot Kempowski andere Möglichkeiten. In diesem Sinne Kempowskis soll anhand der beiden im Gesamtœuvre oft ineinander verwobenen Themen ‚Musik‘ und ‚Vater‘ dargestellt werden, inwiefern durch die Musik als wichtiges Merkmal des Hörspiels Träumereien Kempowskis Vater-Figur lebensechter und klarer charakterisiert wird. Zu Beginn des Hörspiels gibt der Ich-Erzähler (also Walter Kempowski, der selbst diese Rolle übernimmt) bekannt: „Musik spielte eine große Rolle“. Es wird im Laufe der Geschichte klar, dass das abendliche Klavierspiel des Vaters zum Wohlbefinden der Familie beiträgt; besonders prägt sich dies ins Gedächtnis des jüngsten Kindes Walter ein, das abends von seinem Bett aus das Spiel des Vaters belauscht. Gleich zu Beginn des Hörspiels spielt der Vater ein Klavierstück des russisch-jüdischen Komponisten Anton Rubinstein, das dann von den Begleitkommentaren des Ich-Erzählers überlagert wird: „Ja, diese Melodie von Rubinstein, in F, die spielte mein Vater immer, und er spielte sie gut. Man konnte sie nicht oft genug hören.“ Nach einleitenden Worten des Erzählers, mit der Musik im Hintergrund, hört man die barsch klingende Stimme des Vaters, womit dessen Charaktereigenschaften bereits angedeutet werden: „In F, was heißt hier F? Dur oder Moll, F!“ Dennoch fühlt der Hörer diese Behaglichkeit und Geborgenheit des jungen Walter, denn der Vater spielt abends zu Hause Klavier, ist also noch daheim und nicht im Krieg. Der Sohn weiß das abendliche Ritual des Vaters zu schätzen: „Ein langer Korridor führte vom Wohnzimmer zu meinem Schlafzimmer, Schiffsbilder an den Wänden und Truhen. Ich lag im Bett und lauschte […].“ Für den Vater aber ging es nicht allein um die Musik als Genuss, denn es wird weiter berichtet, dass er auch „zum Abreagieren“ spielte; er ärgere sich, zum Beispiel, weil der Krieg „ohne ihn“ begonnen hat, oder weil im Geschäft nicht alles so läuft, wie er es gern hätte: „Scheiße mit Reiße“. Weil er Freimaurer war und deswegen nicht eingezogen wurde, diktiert ihm sein Pflichtgefühl, sich freiwillig zum Dienst zu melden, denn der Vater liebt seine Heimat: „Right or wrong my country“. Während das Klavierspiel des Vaters im Hintergrund noch zu hören ist, erzählt Walter Weiteres über

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seinen Vater. Auf diese Weise werden die Themen ‚Vater‘ und ‚Musik‘ gleich am Anfang miteinander verbunden und hervorgehoben. Man könnte meinen, die Vater-Musik-Beziehung funktioniere ähnlich wie in dem sinfonischen KinderMärchen von Sergei Prokofiev: Peter und der Wolf (Op. 67), worin bestimmte musikalische Themen und Instrumente die verschiedenen Charaktere darstellen: Wird ein Thema von einem bestimmten Instrument eingeleitet, so tritt eine bestimmte Figur auf. So hört man im Hintergrund die charakteristische ‚Vatermusik‘, wenn vom Vater die Rede ist. Ein breiteres Umfeld, in dem die Themen ‚Vater‘ und ‚Musik‘ im Hörspiel in Zusammenhang gebracht werden, ist das bürgerliche Gesellschaftsleben der Familie. Die Kempowskis etwa haben Konzert- und Theaterabonnements. Sie nehmen außerdem regelmäßig an privaten Kulturabenden im Bekanntenkreis teil. Auch hier steht der Vater im Mittelpunkt. Es wird von den HausmusikAbenden bei Krölls erzählt, wo es sowohl um Musik als auch um Literatur geht. Man kennt eine ähnliche Szene aus dem Roman Tadellöser & Wolff, doch ist sie im Hörspiel stark gekürzt. Hier wird klar, dass sich diese Gesellschaft öfter trifft und dass der Vater musikalisch so lange dazu beiträgt, bis er von dem Gastgeber kritisiert wird: „‚Das ist natürlich wieder alles falsch‘, hatte der Herr Kröll mal gesagt. Da hatte sich mein Vater noch so aufgeregt […]. Nun war ein für alle Mal Schluß. Aus und vorbei.“ Daraufhin erfährt der Hörer die Reaktion des Vaters: „Wieso ‚natürlich‘, wieso ‚wieder‘, und ‚alles‘?“ Weil er nicht mehr vorspielen will, versucht er es mit dem Vorlesen, bis er auch das aufgibt, weil seine Frau sich über ihn lustig macht. Während der Ich-Erzähler von einem solchen Abend berichtet, bekommt man im Hintergrund eine Reihe von musikalischen Themen-Schnipseln zu hören, die für die damaligen bürgerlichen Kreise repräsentativ sein sollen; zum Beispiel wird erwähnt, dass die BrucknerSinfonien „gerad im Kommen“ waren. Man hört auch die Beethoven-Sonate Nr. 8 in c-Moll („Pathétique“) und anderes mehr. Es wird nebenher angedeutet, dass solche kulturellen Veranstaltungen für die Teilnehmer in einer Art Betäubung endete: Hinterher ging man durch das nächtliche Rostock. […] Das tat man ja auch nach den gemeinsamen Konzertbesuchen, man war ja abonniert. Und in der Theaterklause einen heben. Und dann sich gegenseitig nach Hause bringen, und da auch noch einen heben. Dabei vergaß man dann die üblen Vorzeichen und betäubte sich.

Was diese „üblen Vorzeichen“ betrifft, so steht die Musik auf andere Art und Weise mitten im Zentrum, und damit wieder auch die Vater-Figur. Es wird zum Beispiel von der Neuanschaffung des Familienradios erzählt: „Einen Radioapparat in Stromlinienform hatte man sich nach langem Zögern gekauft.“ Aber angeblich nicht der Politik wegen. „Die Goebbels-Schnauze, nee! Das war nix, die quäkte immer so.“ Man hört das Knistern und Krächzen bei dem Versuch einen Sender einzustellen. Es geht also der Familie wohl hauptsächlich um die Musik. Jeder hat seine eigenen musikalischen Vorlieben, aber solange der Vater im Haus ist, hat er das Sagen. Bruder Robert zum Beispiel „stellte vorzugsweise das verbotene Radio Cairo an“, was dem Vater überhaupt nicht

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gefällt: „Abdrehen die Scheiße.“ Schwester Ulla bevorzugt leichtere Musik wie z.  B. aktuelle Filmmusik: „Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern“ von Heinz Rühmann gesungen, oder Emmi Goedel-Dreising und ein Kinderchor, was den Vater auch ärgert: „Dieser Mist, entsetzliches Gedudel!“ Stattdessen hat Vater Kempowski seine eigenen speziellen Vorlieben, zu denen die von Heinz Goedecke moderierten „Wunschkonzerte für die deutsche Wehrmacht“ zählen, die nicht nur im Reich, sondern auch in den besetzten Gebieten gesendet wurden. Der Vater studiert vorher die Radiozeitung und setzt sich rechtzeitig zum Anhören hin. „Wehe, es kommt ein Telefonanruf.“ Mutter Kempowski ist natürlich auch in den meisten Szenen dabei, in denen es um die Vater-Figur und die Musik geht, aber eher im Hintergrund. Sie ist die Betreuerin der Familie, die trotz des zunehmenden Chaos die Familienordnung halten will: „Man bittet, man fleht  […]“. Sie betet aber auch und hofft dadurch, dass das Gute sich doch noch durchsetzen wird. Doch an einem gemütlichen Familienabend ums Radio herum macht die Mutter klar, dass sie die Wirklichkeit und den Ernst der politischen Lage deutlich wahrnimmt, denn die Musik bringt sie auf folgende Gedanken: All das Schöne, diese Musik. So international. So über alle Grenzen. Nichts vom Völkerhaß. O ich könnte die großen so mit den Köpfen gegeneinander knallen, hier wieder Krieg zu machen. Dass die Menschen nicht im Frieden leben können. Zum Verzweifeln! Wenn ich zu bestimmen hätte, dann müssten die Großen in ’n Boxring gehen und das selbst ausfechten. Und da würd’ ich zugucken. Nee nee nee. Wie isses nun bloß möglich?

Solche Worte der Mutter (wie auch der vorherige Kommentar des Vaters: „Goebbels-Schnauze“) sind Belege dafür, dass diese „typisch“ deutsche Familie über die aktuelle politische Lage sehr gut informiert ist. Die „üblen Vorzeichen“ zeigen sich auch in der Musik als pures propagandistisches Werkzeug der Nazis, das den Alltag zunehmend begleitet. Denn die Musik diente im Radio nicht nur zur Aufheiterung der deutschen Truppen, sondern erfüllte ab 1940 weitere propagandistische Ziele, zum Beispiel durch die zentralisierte Wochenschau, die im Kino zwischen dem Kulturfilm und dem Hauptfilm gezeigt wurde. Darüber wird im Hörspiel auch berichtet, und zwar immer im Zusammenhang mit einzelnen musikalischen Stücken, von denen während des Erzählens Auszüge zu hören sind. Solange es Siege zu melden gibt, gibt es in der Wochenschau Fanfaren zu hören, denn sie sorgten „für die rechte Haltung“: Der Ich-Erzähler erläutert: „So was gab’s in den Wochenschauen zu hören. Wenn die deutschen Truppen durch Paris zogen. Wenn die Fahnen aufgezogen wurden, auf den Eifelturm, oder auf der Akropolis, oder in Afrika  […]“. Die Coda der sinfonischen Dichtung von Franz Liszt, Les Préludes, eigne sich besonders als Untermalung für Siegesmeldungen. Der Ich-Erzähler kommentiert: „Das war doch was, diese Pauken, so kräftig. Die gaben Siegeszuversicht.“ In all diesen Situationen im Hörspiel sorgt die Musik für die richtige Stimmung; sie prägt die Darstellung des Zeitgeistes und charakterisiert die einzelnen Figuren, besonders die des Vaters.

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Der Wendepunkt des Hörspiels wird durch folgende Worte des Ich-Erzählers eingeleitet: „Aber es änderten sich die Zeiten. Die da drüben hatten auch Flugzeuge […]“. Diese Flugzeuge werfen nicht nur Bomben, sondern auch Flugblätter, die Bilder von toten deutschen Soldaten zeigen: „auf’n Haufen geschmissen unter Schnee in Russland.“ Es wird dann viel vom Luftschutzkeller erzählt. Die Mutter ist inzwischen Luftschutz-Wart geworden. Das Kino scheint die einzige kulturelle Zuflucht zu sein, denn der Hörer erfährt sehr viel von damals aktuellen Filmen und von der Filmmusik in Auszügen. Doch wenn an dieser Stelle von der Musik die Rede ist, ist der Vater natürlich nicht dabei, denn er ist im militärischen Einsatz. Als er aber 1944 doch noch auf Urlaub kommt  – es werden vom Ich-Erzähler Andeutungen gemacht, dass es auch sein letzter Urlaub sein wird  –, ist er jetzt ein ganz anderer Mensch. Es wird auch zu verstehen gegeben, dass die Kriegssituation für die Deutschen sich verschlechtert hat: „Die Swing Boys waren schon alle gefallen, in Stalingrad oder Smolensk oder Normandie.“ Wichtiger noch für die Handlung ist, dass der Vater jetzt ohne musikalische Begleitung auftritt: „Unruhig saß er im Sessel […]. Ich musste ihm den Schulbericht abstatten und vorführen, was ich in der Klavierstunde gelernt hatte, aber er hörte nicht mehr richtig zu. Die Behaglichkeit war verflogen.“ Es ist der Familie und den Deutschen jetzt wohl klar, dass es für Deutschland der Anfang vom Ende ist. Der Vater muss wieder fort, aber vorher ist noch viel zu erledigen: „Eine große Kiste wurde gepackt […]. Und die Liste ‚Mein Hab und mein Gut‘ ausfüllen und beglaubigen lassen für eventuelle Entschädigungsansprüche an das Reich […]. ‚Scheiße mit Reiße! Was ist das überhaupt für ’ne Scheiße‘“? Der Ich-Erzähler zeigt ebenfalls einen Stimmungsumschwung: „So schöne Jahre waren das gewesen und dann der Nazi-Kram. Nein, das machte keinen Spaß mehr. Widerlich. Der Hitler, dieser Mann, der war ja wahnsinnig, mit dem ganzen Weltkrieg anzufangen. […] Es war ja alles so unerquicklich und so wenig schön.“ Es ist auffallend, dass die Szenen des letzten Urlaubs ohne viel Musik erzählt werden: „Mein Vater rührte das Klavier nur noch selten an. Unruhig strich er durch die Wohnung, alles noch mal ansehen. […] Ein einziges Mal spielte er, ich weiß es noch wie heute. […] Und wieder lag ich hinten und lauschte.“ Der Kreis schließt sich also. In der Handlung bleibt bis dahin ungewiss, ob der Vater überleben wird. Der rückblickende Ich-Erzähler weiß es aber und macht es bekannt: „wir sahen uns nie wieder. Er blieb draußen, wie man damals sagte […].“ Die Musik verrät es aber vielsagender: erstens, weil der Vater das Klavier „nur noch selten an[rührte]“, und zweitens durch den Auszug des ersten Satzes der 6. Sinfonie Peter Tschaikowskis in h-Moll, op. 75 („Pathétique“), der ganz zum Schluss kommt. Wer den Tadellöser & Wolff-Film gesehen hat, dem mag sich diese Melodie eingeprägt haben. Der Ich-Erzähler schließt mit den Worten: „Und diese Stelle da, dieses Thema, ‚Jahre des Lebens, alles vergebens. Wann werden wir uns einmal wiedersehen?‘ Das sang er so mit […] und wir sahen uns nie wieder. Er blieb draußen, wie man damals sagte. Wann werden wir uns einmal wiedersehen?“ Die Musik

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bleibt zunächst im Hintergrund, wenn der Ich-Erzähler diese Worte spricht, doch dann schwillt sie laut hörbar an und hört mitten im Thema an der Stelle auf, an der im Refrain des Vaters das Wort „Wann?“ steht – an der Stelle also, an der man mitsingen würde: „Jahre des Lebens, alles vergebens. Wann…?“ Der Ich-Erzähler spricht dann die allerletzten Worte des Hörspiels aus der Gegenwart und endet mit seiner historischen Wahrheit: „Ja, so war das damals.“ Wenn man im Hörspiel Träumereien die Themen ‚Musik‘ und ‚Vater‘ betrachtete zieht, darf man deren Bedeutung für das Private nicht übersehen, denn die Musik dient in diesem Hörspiel für Kempowski in erster Linie einem sehr persönlichen Zweck, nämlich der Suche nach dem Vater, da zur Anziehungskraft und Emotionalität der Musik auch deren ungemeine Kraft, starke Erinnerungen wachzurufen, gehört. Dies allein schon könnte die Vater-Figur in Träumereien lebensechter wirken lassen. Auch in anderen Kempowski-Werken hat das Thema ‚Vater‘ zentrale Bedeutung, so im bereits genannten Roman Tadellöser & Wolff, aber auch im Hörspiel Moin Vaddr läbt, worin es um eine andere Art von Vater-Beschwörung geht, oder im Roman Mark und Bein. Im Laufe seiner schriftstellerischen Karriere bestätigte Kempowski die Bedeutung des Themas an vielen Stellen – so auch in den 80er Jahren vor einem amerikanischen Publikum auf Englisch: „My own father did not return; a loss which I am still trying to come to terms with today. The search for my father, whom I lost so early in my youth, determines all my work, it is the propelling principle of all my work.“ (Kempowski 1994  f).

2.8.2  Ausgeschlossen Simone Neteler 1 Inhaltsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 2 Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195

1 Inhaltsüberblick „Einmal achtzehn sind achtzehn. Zweimal achtzehn sind sechsunddreißig.“ (Kempowski 1972c) Mit diesen Sätzen beginnt Walter Kempowskis Hörspiel Ausgeschlossen. Bevor eine in sich versunkene Männerstimme diese Kopfrechenaufgaben vor sich hin spricht, sind verhallende Schritte, schließende Eisentüren, geschobene metallene Türriegel, Chorgesang und ein leises Pochen an Zimmerwänden – eine der Verständigungsmethoden unter Gefangenen – zu hören. Es ist diese Geräuschkulisse, die schon in den ersten Sekunden des Hörspiels das Geschehen eindeutig in einem verschlossenen Raum verortet. Eingeschlossen und damit vom Leben ausgeschlossen sein – das ist das Thema, dem sich das knapp 40-minütige Hörspiel widmet. Die Assoziation zu einem

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Leben hinter Gittern, zu Gefängnis, zu Unfreiheit und Eingesperrtsein stellt sich somit sofort ein. Ausgeschlossen wurde 1972 vom NDR gesendet, wo bereits ein Jahr zuvor, am Silvesterabend des Jahres 1971, das Hörspiel Träumereien am elektrischen Kamin (Kempowski 1971b) übertragen worden war. Trotz des späteren Sendetermins bezeichnet Walter Kempowski Ausgeschlossen als sein erstes Hörspiel. So notiert er im Verzeichnis meines persönlichen Archivs unter der Nummer 103: „Hörspiel ‚Ausgeschlossen‘, Ms. Dies ist mein erstes Hörspiel, ich verwertete Block-Material und probierte das mir unbekannte Medium aus.“ (Kempowski o.  J. j, o.  S.) Der Einordnung als erstes Hörspiel ist dabei offenbar die schriftstellerische Arbeit zugrunde gelegt, nicht die Produktion bzw. das Sendedatum. Ausgeschlossen basiert  – wie Walter Kempowskis Romanerstling Im Block – auf Erinnerungen an die Haftzeit in Bautzen, wo der Autor von 1948 bis 1956 wegen angeblicher Spionage einsaß. Das Hörspiel wirkt wie ein Destillat der in Im Block geschilderten Erlebnisse. 2 Analyse Die Montage von verschiedenen Männerstimmen, kombiniert mit einer multimedialen Geräuschkulisse von rasselnden Schlüsselbünden, dem Gurren von Tauben, zuschlagenden Zellentüren, Chorgesang und lautstarken Befehlen von Wachposten, spiegelt die drei Haftsituationen wider, die Walter Kem­pows­ ki als Gefangener im ‚Gelben Elend‘ – wie das Zuchthaus in Bautzen wegen seiner gelben Klinkermauern auch genannt wird  – mit zahllosen anderen Insassen erlebte: die Einzelhaft, das Einsitzen in einer Drei-Mann-Zelle und schließlich das Miteinander von Hunderten von Gefangenen in einem Gefängnissaal (vgl. Dierks 1984, 52). So spricht zu Anfang immer wieder eine Person mit sich selbst. Im zweiten Teil lassen sich die Stimmen von drei Personen ausmachen, die im Manuskript als ein Westfale, ein Greis und ein Berliner ausgewiesen werden. Im dritten Teil gibt es mehrere Stimmen, deren unzusammenhängende Erzählpassagen durcheinandergesprochen werden und dabei von einem anhaltenden Gemurmel untermalt sind (vgl. Kempowski o.  J. k; dort heißt es in einer vorangestellten Regieanweisung zu Teil drei im Hinblick auf die Hintergrundgeräusche: „400 Menschen sprechen, also eine Art Kaffeehausgeräusch. Das Gemurmel wird von einzelnen lauteren Rufen unterbrochen  […].“) Eingeschoben wird im dritten Teil außerdem der Monolog eines Anstaltspfarrers, der von seiner Arbeit erschöpft und überfordert scheint. Im vierten und fünften Teil wiederholen sich zunächst die Stimmen von Teil zwei und dann die erste vom Beginn des Hörspiels. Die einzelnen Sätze und Gesprächsfetzen muten in ihrer Gesamtheit surreal an. Es gibt keinen durch das Geschehen leitenden Erzähler, keinen erkennbar gewichtigen Protagonisten, kurz: keinerlei Orientierung für den Zuhörer. Im Grunde gibt es keine nachvollziehbare Handlung, versammelt sind vielmehr zahllose einzelne Erinnerungsbilder, die – teilweise wiederkehrend – von den verschiedenen Erzählern abgespult werden (zur Bedeutung von erzählter

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Erinnerung im Werk Walter Kempowskis vgl. Neteler 2014a). So wird als eine Art Gedächtnistraining das Einmaleins rekapituliert oder laut darüber nachgedacht, wie es zu der eigenen Verhaftung gekommen ist: „…wenn ich nun hinten rausgelaufen wär!“ (Kempowski 1972c). Auch erinnertes Wissen taucht auf: „Afrika – geht das nicht in Südamerika rein? Oder geht Südamerika in Afrika rein? Afrika – ich hab immer gesagt: wie’n Totenkopf von der Seite.“ (Kempowski 1972c) Aber auch anderes Allgemeingut wie Liedtexte oder Gedichte werden zitiert, so z.  B. die Zeile „Der Mensch lebt nur einmal und dann nicht mehr…“ aus dem Volkslied Tirol, du bist mein Heimatland oder „Fließe, fließe, lieber Fluß“ aus Goethes Gedicht An den Mond. Sogar Filmsequenzen werden erzählt: „Die weiße Schwadron, kennt ihr den Film? Und die Suppe kam in einer gemeinsamen Schüssel, in so einer Waschschüssel, und wer am heißesten essen konnte, der kriegte das meiste ab.“ (Kempowski 1972c; gemeint ist der Film Die weiße Schwadron [Italien 1936]) Die Eingesperrten sprechen beharrlich von dem, was sie erlebt haben, unablässig rinnt der Fluss von Geschichten und Bildern, von Gehabtem und Verlorenem, von Geliebtem und Gehasstem an den Zuhörerinnen und Zuhörern vorbei. Erinnerung reiht sich an Erinnerung – wie ein Gedankenmeer, aus dem nur ab und an ein vager Blick in die Zukunft auftaucht: „Die werden schön bescheuert aus der Wäsche gucken, wenn wir rauskommen.“ (Kem­pows­ ki 1972c) Das Sprechen der Gefangenen wird zum Selbstzweck, die Kommunikation dient nicht mehr dazu, ein in sich schlüssiges Gespräch zu führen, sondern einzig der existenziellen Bestätigung: Wer redet, der lebt! Wer erzählt, überlebt – zumindest in seinen erinnerten Geschichten. Besonders deutlich wird der Selbstzweck des Sprechens bei dem ‚Stricker‘, einer der zentraleren Figuren des Hörspiels, die bereits in Im Block als Jonni auftrat und demnach eine intertextuelle Referenz darstellt. Wiederkehrend rekapituliert der ‚Stricker‘ die Geschichte des Strickens und beschreibt unablässig sein Tun, um so vermeintlich der Monotonie des Gefängnisalltags zu entgehen. Es ist dieses Sich-Mitteilen-Wollen und -Müssen der Inhaftierten, das Walter Kempowski Jahrzehnte später im Vorwort des Echolot beschreibt: An einem Winterabend des Jahres 1950 wurde ich in Bautzen über den Gefängnishof geführt, und da hörte ich ein eigenartiges Summen. Der Polizist sagte: ‚Das sind Ihre Kameraden in den Zellen, die erzählen sich was.‘ Ich begriff in diesem Augenblick, daß aus dem Gefängnis nun schon seit Jahren ein babylonischer Chorus ausgesendet wurde, ohne daß ihn jemand wahrgenommen oder gar entschlüsselt hätte, und es wurde mir bewußt, daß ich der einzige Zuhörer war: ein kleiner Häftling und zwar für knappe zwei Minuten. (Kempowski 1993a, 7)

In diesem Zusammenhang stellt auch die Klage des Seelsorgers eine Schlüsselszene dar. In ihr spiegelt sich die einzige Außensicht auf das erinnernde Erzählen der Häftlinge. Doch diese Perspektive ist nicht getragen von Fürsorge, Verständnis und aufrichtiger Anteilnahme gegenüber den anvertrauten Schicksalen, sondern eher von Eile, Stress und manchem Zweifel an der Unschuld der

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einzelnen Insassen. Die Hoffnung auf Gnade, auf Versöhnung und Verstehen scheint damit vergebens. Von besonderer Bedeutung ist während des gesamten Hörspiels die multimediale Geräuschkulisse im Hintergrund. Manfred Dierks merkt dazu an: Mit der ihm hier zur Verfügung stehenden Stereo-Technik hat Kempowski dann auch versucht, das abstruseste Erlebnis seiner Haftjahre akustisch noch einmal zu inszenieren: Das Leben im Vierhundert-Mann-Saal, in dem die Rede des einzelnen vor der summenden ‚Mauer‘ der Rede aller anderen geführt wird und ständig Gefahr läuft, von ihr aufgeschluckt zu werden. Diese Szenerie ist später einer der Höhepunkte des Fernsehfilms zu ‚Ein Kapitel für sich‘ geworden. Sie macht besonders deutlich, wieviel an sinnlicher Erfahrung von den Romanen ausgeschlossen werden mußte. (Dierks 1984, 52)

Dank des eingesetzten Stereoeffekts gelingt eine atmosphärische Inszenierung der erzählenden Stimmen, untermalt von anhaltendem Gemurmel anderer Häftlinge und den bereits erwähnten Außengeräuschen sowie dem Chorgesang. Dieser Gesang eines Männerchors, der immer wieder ein- und ausgeblendet wird, stellt einen weiteren Querverweis zur Biographie Kempowskis dar, der im Zuchthaus Bautzen einige Zeit den Gefängnischor leitete. Die im Hörspiel verwendete Aufnahme stammt aus Walter Kem­pows­kis privatem Fundus, wie er unter Position 104a im Verzeichnis meines persönlichen Archivs erläutert: Tonband mit einer Aufnahme des Bautzener Gefangenenchors, die ich anläßlich eines Treffens der ehemaligen Choristen machte. Hierfür kaufte ich mir extra ein Tonbandgerät, das mir dann später sehr zugute kam. […] Diese Aufnahme wurde von [dem Hörspielregisseur Fritz] Schröder-Jahn bei der Produktion des Hörspiels verwendet […]. (Kempowski o.  J. j, o.  S.)

Auch wenn die Hörspiele Walter Kempowskis literaturwissenschaftlich bisher nicht ausführlich untersucht worden sind, stellen sie doch einen nicht unbedeutenden Teil im vielschichtigen Werk des Autors dar. Ausgeschlossen kann dabei als ein Schlüsselwerk des frühen Schaffens angesehen werden. Nach dem Roman Im Block wählt Walter Kempowski mit dem Genre des Hörspiels eine andere Erzählform, um die Erlebnisse der Inhaftierung erneut literarisch zu verarbeiten und die Isolation politischer Häftlinge künstlerisch abzubilden. Das Sujet der Haftzeit zieht sich – das ist allgemein bekannt – wie ein roter Faden durch Walter Kempowskis Werk (vgl. z.  B. Kempowski 1975a; 2009a; sowie o.  J. c). Das Hörspiel Ausgeschlossen macht in diesem Zyklus das Trauma hörbar, das nicht nur thematisch prägend gewesen ist, sondern als pulsierende Antriebsfeder das literarische Schaffen Walter Kempowskis unaufhörlich begleitet hat.

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2.8.3  Haben Sie Hitler gesehen? Carla Damiano 1 Inhaltsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 2 Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199

1 Inhaltsüberblick Haben Sie Hitler gesehen? ist das dritte Hörspiel nach Träumereien am elektrischen Kamin (1971b) und Ausgeschlossen (1972c), das Kempowski vollendete. Die erste Ausstrahlung erfolgte 1973 im Westdeutschen Rundfunk (WDR) unter der Regie von Hans Gerd Krogmann. Das Hörspiel beginnt mit einem musikalischen Refrain, der anfängt, aufhört und wieder von vorne beginnt. Wer mit der deutschen Kinokultur Ende der 1930er Jahre vertraut ist, erkennt anhand der Töne den Refrain des Liedes Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern, das 1939 durch Heinz Rühmann in der Filmkomödie Paradies der Junggesellen berühmt wurde. Der äußerst erfolgreiche Schlager […] wurde in der Zeit des Kriegsanfangs 1939 mit hohem propagandistischen Aufwand gezielt in die deutsche Medienöffentlichkeit eingegeben […]. Damals verbanden sich seine Botschaften in besonderer Weise mit der Lebenssituation im Krieg und sicherten ihm dadurch eine enorme Popularität. Dies entstand aber nicht von ungefähr, sondern sie wurde planmäßig hergestellt. (Ritzel 2015, 143)

Es war die Refrainzeile „Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern“, die sich in den Köpfen der Deutschen festsetzte, und sie gehöre heute noch zum „kollektiven Sprachrepertoire“ (Ritzel 2015, 143) der Deutschen. Die Anfangsstimmung des Hörspiels schlägt jedoch rasch um, denn den einleitenden Tönen folgt direkt ein Zitat aus dem 1967 von Alexander und Margarethe Mitscherlich veröffentlichten Essayband Die Unfähigkeit zu trauern. In Anlehnung an die Psychoanalyse untersucht das Forscherpaar darin die verdrängte und nicht aufgearbeitete NS-Vergangenheit in West-Deutschland. Das Zitat schafft die Grundlage für den Rest des Hörspiels: „Die obrigkeitsstaatliche Tradition und der Anschein der Rechtsstaatlichkeit machen es den Bürgern schwer, das faschistische Regime als Unrechtsstaat zu verstehen. Staat, Nation und starker Mann werden in eins gesetzt.“ (Mitscherlich und Mitscherlich 1967, zitiert nach Kempowski 1973c) Auf das Zitat folgt eine Frauenstimme: Nein, ich habe Hitler nicht gesehen. Aber es tut mir leid, ich hätte ihn gern gesehen. Es hat doch was für sich, berühmte Leute zu sehen. Als normaler Mensch hat man den Eindruck, dass man nichts ausrichtet, und dann einen zu sehen, der die Möglichkeit hat, ja, in die Geschicke der Menschen einzugreifen, so wie zum Beispiel das Mittelmeer zu sehen, auf dem Odysseus gefahren ist. Etwas gesehen zu haben, was wichtig ist. Das bringt einen zum Nachdenken, einen Einstieg zu bekommen für das Nachdenken, das meine ich. (Kempowski 1973c)

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Dann folgt eine Reihe von Männerstimmen, die sich zum Teil überlappen, zum Beispiel: „Nein, ich habe Hitler nicht gesehen, ich war immer an der Front.“ / „Er hat ja bald Geburtstag, am zwanzigsten April. Komisch, dass man das nicht vergisst.“ / „ Ich war damals enttäuscht. Man dachte an einen braungebrannten sportlichen Menschen und er hatte eine rosige Gesichtsfarbe. Es blieb der Eindruck, dass man gar keine Führergestalt vor sich hatte, nicht mal braun gebrannt.“ / „Fast frauliche Gesichtszüge. Rosig im Gesicht, wie ein Marzipanschweinchen. Die Mütze sehr tief ins Gesicht gezogen. Seine Augen waren nicht zu sehen.“ / „Wie ein kleiner verkaterter Anstreicher.“ (Kempowski 1973c). 2 Analyse Mit diesen und weiteren Zitaten interviewter Deutscher werden die Parameter des Hörspiels abgesteckt: Optimismus und Begeisterung auf der einen Seite, Verzweiflung und Verschweigen auf der anderen. Auch wenn als Antwort auf die Frage, ob sie Hitler einmal gesehen hätten, zunächst ein direktes „Nein“ zu hören war, ließen sich die Befragten doch meistens zu mehr bewegen, wenn sie merkten, dass sie in Kempowski einen unvoreingenommenen Zuhörer vor sich hatten. Die eingestreuten Mitscherlich-Zitate dienen dazu, die Antworten der Deutschen um eine weitere Perspektive zu bereichern, indem die Schuld der Deutschen als ‚psychische Krankheit‘ kontextualisiert wird: „Die Abwehr kollektiv zu verantwortender Schuld, sei es die Schuld der Handlung oder die Schuld der Duldung, hat ihre Spuren im Charakter hinterlassen“ (Kempowski 1973c). Die ‚deutschen Antworten‘ im Hörspiel  – darunter sind auch einige von Österreichern – stammen aus dem ersten Befragungsband Kempowskis, der unter demselben Titel – Haben Sie Hitler gesehen? – parallel zum Hörspiel erschien (vgl. Kempowski 1793c; sowie 1994  f). Sowohl das Buch als auch das Hörspiel enthalten die Antworten auf Kempowskis vermeintlich naiv gestellte Frage an seine Mitbürgerinnen und Mitbürger, die er über ein Jahrzehnt hinweg gesammelt hat. Nicht alle Zitate im Hörspiel haben die gleiche Länge wie im Buch; manche wurden gekürzt oder sind mit anderen Stimmen übereinandergelegt zu hören. Dass manchmal mehrere Stimmen simultan zu hören sind, schafft den Eindruck, als wollten mehr Menschen über Hitler sprechen, als es Zeit und Gelegenheit erlauben. Der Spiegel bietet 1973 beim Erscheinen des gedruckten Buchs einen Einblick in Kempowskis Befragungsmethode: Solche Erinnerungen gaben seit 1961 rund 500 Bundesbürger dem Schriftsteller Walter Kempowski […] zu Protokoll. Auf Partys, bei Maskenbällen und in Reisezügen […], auf Kölns Rheinpromenade und bei Leseabenden in der Provinz hat der Autor Förster und Hausfrauen, Neurologen und Kunstmaler, Maschinenschlosser und Apotheker scheinbar naiv gefragt: ‚Haben Sie Hitler gesehen?‘ (o. A. 1973, o.  S.)

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Ursprünglich wollte Kempowski nur zusätzliches Material für seinen Roman Tadellöser & Wolff (1971a) sammeln, weil er fürchtete, dass dieser zu einseitig und nicht repräsentativ genug sei. Daher befindet sich das Rohmaterial für die Befragungsbände im Materialkorpus für die Deutsche Chronik (vgl. Die ‚Roten Bände‘, Materialsammlung für die Deutsche Chronik. WKA, Signatur 358–398). Den Fokus auf seine eigene Familie nannte er die „Inzüchtigkeit eines Tuns.“ (Kempowski 1994  f, o.  S.) In einem Gespräch mit Carla Damiano erklärte Kempowski, wie seine Befragungen begonnen haben: Und während ich nämlich auf dem Lande wohnte […], da kam ein Bauer, der war damals vielleicht fünfzig […]. Nur kam er mir uralt vor. Und da habe ich ihn gefragt: ‚Sagen Sie mal, haben Sie Adolf Hitler gesehen, mal?‘ Da hat er mir erzählt. Das war im Jahre ’61 ehedem ich ein Buch schrieb. Dann hat er mir erzählt, ich habe gesammelt […] in einer Schachtel diese ganzen Eindrücke von Hitler, wo ich selbst keinen Ton gesagt habe. Also, ich habe praktisch die Bilder […], die Geschichten aus dem Volk zu mir herangezogen. (Kempowski 1994  f, o.  S.)

Dirk Hempel erläutert, dass Kempowskis Idee für eine Hitler-Biographie aus Sicht seiner Mitmenschen bereits aus dem Januar 1960 stammt: „Die erste Antwort hatte er im September 1960 erhalten, von einem Bauern in Breddorf, über den Gartenzaun hinweg“ (Hempel 2004, 140). Laut Hempel habe Kempowski auch andere gebeten, ihm bei seiner Umfrage zu helfen. Dass es ein genialer und wichtiger Einfall war, gerade diese Frage an die Deutschen zu stellen, sah auch Volker Hage so, nachdem er nach seinem ersten Besuch bei Kempowski die Frage an seiner eigenen Familie ausprobiert hatte: „Ich war skeptisch, als Kempowski auch um meine Mitarbeit bat – doch schon die drei Stimmen, die ich aus meiner Familie zusammen- und beitrug, machten mir klar, dass diese schlichte Frage bei den Betroffenen Unglaubliches in Gang setzte.“ (Hage 1997, 179) Hempel beschreibt ebenfalls die literarische Notwendigkeit der Befragungen: Der Befragungsband ist Teil der Deutschen Chronik, als ein demoskopisches Element, eine kollektive Erweiterung der subjektiven Romanebene. Für Kempowski war die Wiedergabe der Erfahrungen auch ein demokratisches Prinzip. Er betrieb Oral history, freilich ohne die übliche wissenschaftliche Absicherung, noch bevor diese Methode sich in Deutschland durchsetzte. (Hempel 2004, 141; vgl. auch Hempel 2009, bes. 116  f.)

Kempowskis Art der Befragung funktionierte. In der Rezension schrieb der Spiegel: „Fast alle Befragten – Nazis, Mitläufer, Anti-Nazis – […]“ hatten zwischen 1921 und 1945 den „geliebten und gehaßten Mann […] einmal erlebt: als Dämon, als enttäuschenden Kleinbürger, als entrückte gottähnliche Figur, als Todbringer “ (o. A. 1973, 125). Nur zweimal soll Kempowski eine Antwort verweigert worden sein. Die aus Kempowskis Frage resultierenden Antworten muss man als durchaus gelungen betrachten, wenn man bedenkt, dass er Anfang der 1960er Jahre mit den Befragungen begann, in dem Jahrzehnt also, in dem das ganze

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Ausmaß der nationalsozialistischen Verbrechen und die Grausamkeit des KZSystems weltweit durch den Prozess gegen Adolf Eichmann (1961) und die darauffolgenden Frankfurter Auschwitzprozesse (1963–1965) an die Öffentlichkeit gelangten. Dass die Generationen, die alt genug waren, sich an die Hitlerzeit zu erinnern, nach 1945 geschwiegen haben, ist allgemein bekannt und wurde in Folge der Mitscherlich-Studien auch öffentlich verankert. In dem Hörspiel Haben Sie Hitler gesehen? macht Kempowski von all diesen Punkten Gebrauch. Dass er mindestens einen Teil seiner Mitbürger und Mitbürgerinnen in dieser Zeit auf geschickte Art und Weise dazu gebracht hat, sich überhaupt zum Thema Hitler zu äußern und dabei ihre Einstellung zu offenbaren, war eine große Herausforderung. Die Größe dieses Tabubruchs, den Kempowski wagte, beschreibt Joachim Gauck im Vorwort der Neuausgabe der Befragungsbände: Reue und innere Krise blieben in den fünfziger und sechziger Jahren nicht nur bei jenen aus, die Verbrechen begangen hatten oder sie noch im Nachhinein als Pflichterfüllung rechtfertigten. Es schwiegen und verdrängten auch jene, die die Auseinandersetzung mit der eigenen Verstrickung und ihrem schlechten Gewissen fürchteten. Vielleicht hatten sie als mittelständische Unternehmen einen jüdischen Betrieb unter Wert übernommen, als Offizier eine jüdische Familie ausgewiesen, hatten Hilfe verweigert, jemanden denunziert oder ‚Untermenschen‘ verächtlich behandelt. Es schwiegen sogar jene, die als Individuen schuldlos waren, aber auch von allem nichts hatten wissen wollen. (Gauck 2012, 6)

Die im Hörspiel im Vergleich zum Buch zusätzlichen Zitate aus der Mitscherlich-Studie bewirken einen gewissen Ausgleich der Antworten der Befragten. Wie der Chor in einer antiken Tragödie fungieren sie als Mahnung an den Zuhörer, dass hinter dem Gesagten möglicherweise Tieferes steckt, als das, was im Berichteten zugegeben wird. Die Zitate bieten somit dem Zuhörer eine gewisse Interpretationshilfe. Das Hörspiel Haben Sie Hitler gesehen? unterscheidet sich von der gedruckten Version darüber hinaus noch durch einen dritten Erzählstrang: Kempowski fügt Stimmen von Jugendlichen hinzu, die auf Grund ihres Alters nicht an den Geschehnissen beteiligt waren und somit auch keine Schuld auf sich geladen haben. Die Anwesenheit der Nachkriegsgeneration im Hörspiel hinterfragt auf einer weiteren Ebene die Geschehnisse und Verbrechen ihrer Vorfahren während der Kriegszeit. Die Äußerungen der Jugendlichen weisen oft das Wort „vielleicht“ auf. Sie versuchen sich zu erklären, wie es ihre Vorfahren zuließen, dass Hitler an die Macht kam und sie in der Folge dazu brachte, seine Hassund Ausrottungspläne durchzuführen. Die Präsenz der Jugendlichen diente Kempowski vielleicht auch als Symbol dafür, dass die Verantwortung und die Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte auf die nachfolgenden Generationen übertragen werden muss. Gleich zu Beginn des Hörspiels versteht der Zuhörer, dass es mit der Frage, ob jemand Hitler gesehen oder nicht gesehen habe, um mehr geht als banale Erinnerungen oder das generelle Erinnerungsvermögen der Zeitzeugengene-

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ration. Vielmehr soll hier thematisiert werden, was im Kollektivbewusstsein seither verdrängt wurde. Wo der gedruckte Befragungsband Haben Sie Hitler gesehen? eher den Anschein reiner Oral History macht, weil er nur aus Antworten besteht, die die Haltung der Deutschen den Hitler-Jahren gegenüber bezeugen, spiegelt das Hörspiel noch mehr die Debatten und Konflikte der 1960er Jahre, indem es auch die Ursachen und Wirkungen der Hitler-Jahre durch das Hinzufügen der Mitscherlich-Zitate hinterfragt. Damit werden schließlich auch die Ursachen des Generationenkonflikts und der Proteste der 1960er Jahre gegen die Elterngeneration behandelt. Dementsprechend führt Joachim Gauck im Vorwort der Neuausgabe der beiden Befragungsbände aus: Zusammenmontiert geben diese Antworten einen Einblick in das Bewusstsein der Nachkriegsdeutschen Hitler gegenüber. Manche von ihnen hatten Hitler nur als Kind erlebt; andere dagegen gehörten offensichtlich zu denjenigen, die Hitler jubelnd an die Macht gebracht hatten: Das Spektrum reicht von unverhohlener Bewunderung bis zu den Versuchen, sich selbst und anderen das Desinteresse an Hitlers Person und Politik zu beweisen. (Gauck 2012, 6)

Im Gegensatz zu den Befragten im Buch, unter deren Worten ihr Geburtsdatum und der Beruf stehen, ist der Zuhörer beim Hörspiel nur auf das Gesagte angewiesen und kann deswegen im Normalfall nur erahnen, welche Rolle diese Zeitzeugen während des Zweiten Weltkriegs eingenommen haben. Nur wer das Buch kennt und weiß, wo die entsprechenden Zitate zu finden sind, kann die Aussagen den Personen zuordnen. Haben Sie Hitler gesehen? stellt das wichtigste Frühwerk Kempowskis dar. Inzwischen ist eine überarbeitete und erweiterte Ausgabe der Buchversion von Haben Sie Hitler gesehen? (vgl. Kempowski 1999  f) und eine Sammelausgabe mit den beiden Bänden Haben Sie Hitler gesehen? und Haben Sie davon gewusst? (vgl. Kempowski 2012b) erschienen. Kempowski erzählt in der editorischen Notiz der Ausgabe von 1999, er habe die Texte „um etwa ein Drittel“ (Kempowski 2012b, 14) erweitert. Dabei beinhalten die neueren gedruckten Ausgaben weder die Mitscherlich-Zitate noch die Stimmen der Jugendlichen (vgl. Kempowski 1999a u. 2012b). Das Hörspiel Haben Sie Hitler gesehen? bleibt also einzigartig: Durch die zusätzlichen Zitate aus der Mitscherlich-Studie und durch die Stimmen der Jugendlichen ergibt sich im Zusammenspiel mit den Antworten der Deutschen ein weitreichender Spiegel der Zeit.

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2.8.4  Beethovens Fünfte Carla Damiano 1 Inhaltsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 2 Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204

1 Inhaltsüberblick Walter Kempowskis Hörspiel Beethovens Fünfte (vgl. Kempowski 1976c; sowie 1982a) ist ein Beitrag zur Erinnerungskultur, wofür er 1976 den KarlSczuka-Preis für Radiokunst erhielt. Seine Prämisse ist dabei, dass Beethovens „5. Sinfonie“ verlorengegangen ist und nun Ton für Ton aus der Erinnerung rekonstruiert werden soll. Zu diesem Zweck lässt Kempowski unterschiedliche Menschen aus dem Gedächtnis die berühmte Symphonie in ein Mikrofon vorsingen und darüber hinaus auch noch „Anekdoten und musiktheoretische Details erzählen“ („NDR-Hörspielprogramm 1993/1“, zitiert nach Vowinckel 1995, 227). Das „Vorwort“ zum Hörspiel in dem Begleitheft zur Publikation macht diese Absicht des Autors deutlich. Er erläutert darin, er habe sich im Vorfeld folgende Frage gestellt: [W]ie wird es sein, wenn ein katastrophales Ereignis, ein Atomschlag beispielsweise, über uns hereingebrochen ist, wenn die letzten Überlebenden in einem Bunker sitzen und sich den nun pulverisierten kulturellen Reichtum in Erinnerung rufen, den sie einst besaßen, den sie aber nicht so recht zu schätzen wußten. Vielleicht würden sie in ihrem Elend – wie jene Häftlinge in Bautzen – auch einmal an die sogenannte ‚Schicksalssymphonie‘ denken, die 5. Symphonie von Beethoven also, und vielleicht würden sie versuchen, sie, so gut es eben geht, zu rekonstruieren. (Kempowski 1982a, 67)

Zu Beginn des Hörspiels erklingt von verschiedenen männlichen und weiblichen Stimmen das (zum Teil auch falsch oder verzerrt) wiedergegebene Anfangsmotiv: „da da da daaa, da da da daaa“. Im Laufe des Stücks fallen die Misstöne weg und Kempowski verdankt es nur zwei offensichtlich echten Musikkennern – einem Mann und einer Frau –, dass er alle Hauptmotive der drei Sinfonie-Sätze in der richtigen Reihenfolge zusammensetzen kann. Die Mehrzahl der Befragten schafft mindestens das Anfangsmotiv – obwohl einige überhaupt keine Ahnung von Beethoven zu haben scheinen. Den Reiz des Stücks macht das Aneinanderreihen, Überlagern und Wiederholen der Zwischenkommentare und Anekdoten der verschiedenen Stimmen im Wechsel mit den musikalischen Abschnitten aus. Im Begleitheft stellt Kempowski eine einseitige handgeschriebene Skizze vor, in der die rekonstruierte Partitur mitsamt den Anekdoten und musiktheoretischen Details der interviewten Personen eingezeichnet und um seine eigenen Kommentare ergänzt ist. (Vgl. Kempowski 1982a, 9–39) Der Hörer ahnt zu Beginn, dass die meisten Befragten tatsächlich nur die Anfangsnoten wiedergeben können, obwohl diese Sinfonie ein hochgeschätztes Kulturgut der Deutschen ist. Aber sobald die Teilnehmer sich an biographische

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Details aus dem Leben Beethovens erinnern, Anekdoten aus ihrem eigenen Leben erzählen, die sie mit der Sinfonie assoziieren, oder auch diesbezüglich Historisches oder Erlebtes aus dem Zweiten Weltkrieg in Erinnerung rufen, wird verdeutlicht, dass Beethovens Fünfte vielleicht doch als mehr als nur ein vergnügliches, kulturhistorisches Experiment zu betrachten ist. 2 Analyse Die in diesem Werk benutzte Methode ähnelt jener, die Kempowski bereits in den Befragungsbänden einsetzte. „Befragungsbände“ oder auch „Befragungsbücher“ nannte Kempowski die drei Werke, deren Inhalte lediglich aus einer montierten Sammlung von Antworten auf seine Fragen bestehen und die als flankierendes Material der Deutschen Chronik dienen sollten. Er gruppiert seine Fragen zuerst um ein bestimmtes Thema, bevor er verschiedene Personen dazu befragt, was sie über das Thema wissen. Die Antworten werden dann von ihm zu einer sinnstiftenden Collage/Montage arrangiert. Kempowski erläutert im folgenden Zitat sein ganz ähnliches Vorgehen bei Beethovens Fünfte: Ich stellte also ein Tonbandgerät in mein Arbeitszimmer, installierte ein Mikrophon, und wenn ein Besucher zu mir kam, dann fragte ich ihn unvermittelt: ‚Kennen Sie eigentlich die V. Symphonie von Beethoven?‘ Und dann bat ich ihn, mir ein Thema oder ein Motiv daraus ins Mikrophon zu singen. Dies tat fast jeder bereitwillig, wenn auch mit unterschiedlichem Ergebnis. Nach und nach wurde mein Tonvorrat größer, und schließlich hatte ich die wichtigsten Themen und Motive der Symphonie beisammen. (Kempowski 1982a, 67)

Diese etwas spontane Vorgehensweise habe überdies dazu geführt, dass die Menschen zwischendurch ‚zwanglos‘ auch über andere Aspekte aus dem Leben Beethovens erzählten (vgl. Kempowski 1982a, 67  f.). Beethovens Fünfte fügt sich also, wie jedes andere Hörspiel Kempowskis (vgl. u.  a. Kempowski 1971b; 1972c; 1973c; 1980b; 1982c; 1984b sowie die schriftliche Veröffentlichung von Beethovens Fünfte und Moin Vaddr läbt: Kempowski 1982a), nahtlos in das Gesamtbild seines Œuvres ein. Zeitlich lässt sich das Hörspiel in die Mitte der Arbeit an der Deutschen Chronik einordnen. Die Spannbreite der behandelten Hauptthemen – Verlust und Rekonstruktion – reicht von seinem Erstlingsroman Im Block bis zur Krönung seines Œuvres, dem Echolot, und sogar bis zu seinem letzten Roman Alles umsonst. Die Inspiration zu einem Erinnerungsprojekt wie Beethovens Fünfte geht – wie Kempowski schon in dem vorhergehenden Zitat andeutet  – auf seine achtjährige Haftzeit zurück. Kempowski war von 1948 bis 1956 wegen angeblicher Spionage im Gefängnis Bautzen inhaftiert. Dieses Erlebnis wurde der Antrieb seines schriftstellerischen Lebens. Als Häftling sei man „von der Außenwelt abgeschnitten“ (Kempowski 1982a, 67) und ohne Zugang zu Nachrichten, Lesematerial usw. Etliche Szenen in den Romanen Im Block und Ein Kapitel für sich schildern zum Beispiel, wie sich die Häftlinge mit Gedächtnisübungen die Zeit vertreiben; ein solcher Informationsaustausch dient dem

2.8 Hörspiele205

jungen (fiktiven) Kempowski sogar als eine Art Ersatzausbildung (vgl. Hempel 2009, 109–124). Besonders erhellend diesbezüglich ist das Interview zwischen Kempowski und Siegfried Lenz, in dem Kempowski detailliert über seinen Zeitvertreib im Gefängnis – darunter auch der Einzelhaft – erzählt (vgl. Lenz 1982, 128–138). Doch das ausschlaggebende Moment, das Kempowski dazu gebracht haben soll, die Geschichten seiner Mitmenschen überhaupt aufbewahren zu wollen, soll dasjenige sein, von dem er im „Vorwort“ zum ersten Echolot-Band spricht: Als Häftling ging er über den Gefängnishof in Bautzen und hörte das „Summen“ der Stimmen der anderen Häftlinge aus den Fenstern des Gefängnisgebäudes. Ein Wachmann sagte zu ihm: „Das sind Ihre Kameraden, die erzählen sich was.“ (Kempowski 1993a, Bd. 1, 7) Dieser Schilderung nach geht es für Kempowski von diesem Augenblick an darum, den Wert solcher Momente ‚schätzen‘ zu lernen. Im „Vorwort“ zu Beethovens Fünfte betont er, dass es sich dabei um das genaue ‚Hinhören‘ auf solche Geschichten handele, die entweder aus historischen Gründen oder als Kulturgut der Nachwelt erhalten werden sollten: Schön wäre es, wenn die Mühsal der fiktiv Eingesperrten und Übriggebliebenen, dem Atomtod Entronnenen, die wir nun stereophon miterleben können, uns dazu brächte, den Vorrat an Schallplatten, der griffbereit in unserm [sic] Schrank steht, mit mehr Dankbarkeit, mit größerer Aufmerksamkeit zu benutzen. Wer sich die Bemühungen der Rekonstruktion, wer sich das Hörspiel bis zu Ende angehört hat, sollte sich vielleicht anschließend wieder einmal die V. Symphonie von Beethoven auf den Plattenteller legen: und ganz genau hinhören. (Kempowski 1982a, 68)

Vermutlich hat Kempowski das „Vorwort“ zum Hörspiel zur Zeit der Publikation 1982 verfasst, obwohl das Stück selbst auf das Jahr 1975 zurückgeht. So sind sich der Text des „Vorworts“ und die Kernbotschaft des Echolot-„Vorworts“ verblüffend ähnlich, wie folgende Beispiele aus dem Letzteren zeigen: „Wir sollten den Alten den Mund nicht zuhalten, wenn sie uns etwas erzählen wollen“, „[w]ir müssen uns bücken und aufheben, was nicht vergessen werden darf“ oder „[s]eit langem bin ich besessen von der Aufgabe zu retten, was zu retten ist.“ (Kempowski 1993a, Bd. 1, 7) Es liegt nahe, dass das fast zwanzig Jahre früher entstandene BeethovenHörspiel als eine Art Wegbereiter für das Echolot fungiert, obwohl die im Echolot-„Vorwort“ beschriebene Szene auf die fünfziger Jahre zurückgeht. Trotzdem deutet die Materiallage darauf hin, dass Kempowski sich schon lange zuvor mit dieser Art Aufsammeln, Befragen und ‚Hinhören‘ beschäftigt hat. Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis in den fünfziger Jahren konnte er endlich die ‚Geschichten‘ in Form von Erzähltem, Fotographien, Briefen, Tagebüchern und sogar Befragungen sammeln. Zudem ging es Kempowski dabei um etwas ganz Persönliches, denn seine Biographie ist durch den Verlust geprägt: Seine Freiheit, seine Jugend, seine Familie und schließlich auch seine Heimat hat er verloren. So wird sein Leben nach der Gefängnishaft selbst eine Art Rekonstruktion von alldem, was einst verlorenging. Auch Beethovens Fünfte weist eine Thematik der Rekonstruktion auf: Dirk Hempel konstatiert

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zum einen eine Ähnlichkeit zwischen Kempowskis Hörspielen und DokuDramen, und betont zum anderen, dass Beethovens Fünfte „um die gleichen Themen wie die ‚Deutsche Chronik‘ und Echolot kreist, um die dunkelste Epoche der deutschen Geschichte und um die Geschichte der eigenen Familie.“ (Hempel 2005, 28, Hervorhebung im Original) Antje Vowinckel hat die bisher einzige wissenschaftliche Arbeit über Beethovens Fünfte vorgelegt, aber statt der von Hempel vorgeschlagenen Thematik untersucht sie im Rahmen des ‚Neuen Hörspiels‘ unter anderem „O-Ton-Collagen aus nicht-öffentlichen Äußerungen“ (Vowinckel 1995, 158–281, hier bes. 207–227) am Beispiel von Kempowskis Beethovens Fünfte, Paul Wührs Preislied (1971) und Mauricio Kagels Hörspiel – ein Aufnahmezustand (1969). Wühr und Kagel werden in die Kategorie „Collage als psychologisches Protokoll“ eingeordnet, denn ihre O-Ton-Collagen ähneln, so die Autorin, einer freudianischen oder lediglich „allgemein therapeutischen Sitzung“ (Vowinckel 1995, 226). Sie stellt heraus, dass es bei Kempowskis Hörspiel lediglich um „Imitationen“ eines schon entstandenen Werkes und nicht um eine neuentstandene Montage gehe, deren einzelne Teile einen neuen Zusammenhang formen; beide seien nicht miteinander gleichzusetzen. Daher stünden die Äußerungen der Beteiligten bei Kempowski „in einer ganz anderen ‚Messlatte‘ zur Kunst“ und verlangten deshalb von vornherein eine neue interpretative „Hörweise“ (Vowinckel 1995, 227). Mit dieser Forderung endet Vowinckels Diskussion über die Form des Hörspiels. Sie fokussiert stattdessen auf die zwei Gegenpole, die Beethovens Fünfte entlarve: Kulturgut im Gegensatz zu Dilettantismus. Es sei eine gewisse Ehrfurcht zu erkennen, wenn die Beteiligten die „5. Sinfonie“ Beethovens singen oder darüber erzählen. Dies deute auf die Ironie hin, dass sich der Umfang der Beethoven-Kenntnisse bei den meisten auf ‚da-da-dadaa‘ beschränke und dass manche möglicherweise nicht einmal wüssten, aus welcher Beethoven-Sinfonie das Motiv stamme (vgl. Vowinckel 1995, 227). Auf dieser Weise werde deutlich, was Kempowski durch seine Collage tatsächlich erreiche: die Hervorhebung des Widerspruchs zwischen Schlagworten wie ‚Kulturgut‘ und dem, was man tatsächlich selbst noch damit verbinden kann. Vowinckel folgert daraus, dass es „ketzerisch [sei], dass ein ganzes Volk ‚dada-da-daaa‘ als höchstes Kulturgut empfindet“ (Vowinckel 1995, 227). Kempowski dagegen betont im „Vorwort“, dass Beethovens Fünfte mit der Aufbewahrung – oder eher dem ‚Wiederfinden‘ durch die Rekonstruktion – eines verlorengegangenen, ‚wertvollen‘ Kulturguts zu tun hat, dessen Wert man erst dann zu schätzen lernt, wenn es bereits verloren ist. Im „Vorwort“ warnt er, dass genaues Hinhören allein nicht befähige, ein verlorenes Gut zu schätzen. Kempowski führt als Beispiel seine eigene Haftzeit und eine fiktive, von der Natur oder von Menschenhand herbeigeführte Katastrophe als Anlass an, den wahren Wert eines Kulturguts erneut schätzen zu lernen. Mit dem Verweis auf seine Haftzeit bietet Kempowski selbst einen Beleg für die These Hempels, dass Beethovens Fünfte die gleichen Inhalte wie die Deutsche Chronik und das Echolot thematisieren. Dies gelte vor allem, da der Titel der 5. Sinfonie „Schicksalssinfonie“ laute und Beethoven die ersten Takte des ersten Satzes

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mit den Worten umschrieb: „So pocht das Schicksal an die Pforte“ (Kempowski 1982a).

2.8.5 Moin Vaddr läbt – a Ballahd inne Munnohrd kinstlich med Mosseg unde Jesann von Wullar Kinnpussku Carla Damiano 1 Inhaltsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 2 Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210

1 Inhaltsüberblick Die Suche nach dem im Krieg verstorbenen Vater ist eine allgegenwärtige Thematik in Kempowskis Œuvre, wie er selbst 1989 in einem Interview erläuterte: Alle meine Romane, die ich geschrieben habe, drehen sich im Grunde genommen um meinen Vater. Aber einen Traum, den ich häufig wieder träume, ist dieser, dass ich denke, er lebt doch irgendwo unerkannt, unerkannt, weil er sich schämt. Wohnt in einer Kellerwohnung, überlebt also. Ein Bein ist ab. Nun sitzt er da, möchte gerne zu uns, aber er kann es nicht aus irgendwelchen Gründen, die ich nicht kenne. Dieser Gedanke, der macht mich immer traurig, ich träume ihn häufig […]. Nun stelle ich mir vor, wie er denn da sitzt und wie er uns beobachtet, von fern. Wir können nicht zu ihm, auch wenn wir das wüßten, und er kann nicht zu uns. (Kempowski 1989, o.  S.; vgl. zu dem Traum auch Kempowski 1990a, 115, 206, 217, 372 u. bes. 174  f.)

Das Hörspiel Moin Vaddr läbt (vgl. Kempowski 1980b) thematisiert diesen Traum und beschreibt nicht nur das individuelle Bedürfnis Kempowskis, um den eigenen Vater trauern zu wollen, sondern auch dieselbe Problematik auf nationaler bzw. kollektiver Ebene, nämlich dass Deutschland nicht um all die im Krieg verlorenen Väter trauern durfte (vgl. Mitscherlich und Mitscherlich 1967). Für Jörg Drews ist das Hörspiel Moin Vaddr läbt daher eine geheimnisvolle, verdrehte und verschämte Klage um den toten Vater, ein Eingeständnis auch der Schuld, den Vater zu schnell vergessen zu haben, ein Kratzen an der Kruste […], die bei Kempowski die Wunde des Verlustes des Vaters bedeckt und von der her die epische Restitution seiner Zeit, seiner Familie und des Glücks mit ihm, also: eben das Werk Kempowskis zu denken ist. (Drews 1989, 17).

Das Hörspiel wurde 1978 geschrieben, 1980 vom Hessischen Rundfunk zum ersten Mal gesendet, 1981 mit dem höchsten deutschen Preis für Hörspiele, dem Hörspielpreis der Kriegsblinden, ausgezeichnet und 1982 von Albrecht Knaus zusammen mit dem Hörspiel Beethovens Fünfte auf Audiokassette veröffentlicht (vgl. Kempowski 1982a). Kempowski selbst bezeichnet das Hörspiel als eine „Klage“ (Kempowski 1989, o.  S.): Der Klagende ist der aukto-

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riale Erzähler, der Sohn – also Wullar Kinnpussku alias Walter Kempowski –, der seinen Vater zu früh verloren hat und über dessen Verlust er nicht trauern darf. Weil er nicht um ihn trauern darf, findet die ganze Geschichte in diesem Hörspiel in einer distanzierten, von ihm imaginierten Traumwelt statt. Dabei enthalten die Lieder und das Zwischenspiel Andeutungen auf eine märchenhafte Urzeit, in der der Mensch keinen Grund hatte, sich zu fürchten, und in der er nicht auf die Hilfe von anderen angewiesen war. Das Anfangslied (Lidd) des Stückes führt in diese Traumwelt ein und macht deutlich, dass diese Geschichte nur im Kopf des Erzählers stattfindet und dass die Welt, die er sich vorstellt, weit entfernt ist: Ub kurz, ub long, ub Freud, ub Dong, ub Lieb, ub Hoß, äch denk merr wos. Duss Denke ab’r iss aßu so anners, alswi merr hott gedach: duss Star’m unde och d’r liwwe Dot ho’m mirr’s jatzt beigebrach. Äch hobb jehott in meine Kopp a waite, waite Raise. (Kempowski 1982a, 73)

Der Kern des Hörspiels ist, dass der Sohn seinen Vater ins Leben zurück imaginiert. Er sieht ihn wie durch eine Kristallkugel in einem bunkerartigen Keller leben. Der Sohn weiß, was der Vater macht und was er denkt, denn es ist seine eigene Fantasie, die er vor seinen Augen abspielt. Doch was er nicht weiß, ist die Handlung der Geschichte, an der der gespenstige Vater ewig lang in dem Keller ‚sticken‘ muss: „[U]nde wirr kunn nicha wiss’n / wuvunn ße ward handelen.“ (Kempowski 1982a, 90) Das Auffälligste an Moin Vaddr läbt ist seine sprachliche Gestalt, denn das Hörspiel handelt nicht nur von der Suche nach dem eigenen Vater, sondern auch, auf gesellschaftlicher Ebene, von der Aussöhnung mit der deutschen Vergangenheit. Damit befand sich Kempowski in der schwierigen Lage, als Individuum und als Deutscher, angesichts der nationalen Verbrechen, des Holocaust und der dafür empfundenen Scham, seine persönliche Trauerarbeit sprachlich auszudrücken. In der Sprache der Täter war dies nicht möglich, weil – wie Kempowski es im vorherigen Zitat formulierte – ihm die deutsche Sprache nicht dazu ‚taugte‘. Die Lösung war eine von ihm mehr oder weniger erfundene Sprache. Die „Geheimsprache“ (Kempowski 1982a, 94) ähnele der, die er und sein Bruder Robert im Gefängnis entwickelten, um miteinander zu kommunizieren, ohne dass andere sie verstanden (vgl. Damiano 2010). Jörg Drews erhellt den Grund für diese Sprachmischung:

2.8 Hörspiele209 Und von diesem Vater, der da noch im ‚Keller‘ des Bewußtseins seines Sohnes lebt, ist in einem Gemisch aus Sprachen die Rede, die mit dem Zweiten Weltkrieg, die mit der Ermordung des europäischen Judentums und der Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten untergegangen sind: Ostpreußisch, Schlesisch, Pommersch, Jiddisch. (Drews 1989, 17)

Kempowski meinte, er habe seine Klage „eben mit einer mehr dem Jiddisch sich annähernden Sprachstruktur geschrieben“ und dass seine „Kunstsprache“ dem Jiddischen insgesamt nachempfunden sei. Es sei also eine aus dem Ghetto sich entwickelnde Sprache, „die sich eben für die Darstellung des Leidens besonders eignet.“ (Kempowski 1982c, o.  S.) In der auf Tonband aufgenommenen Diskussion des Hörspiels Moin Vaddr läbt vergleicht Jörg Drews Kempowskis Lösung für sein „ganz spezifisches literarisches Problem“ (Kempowski et al. o.  J., o.  S.) mit anderen erfundenen Sprachen und führt James Joyces’ Finnegan’s Wake sowie manche Gedichte Ernst Jandls an. Es sei das Privileg der Schriftsteller, behaupten zu können: „Ich für mich konnte es nicht anders ausdrücken“ (Kempowski et al. o.  J., o.  S.), was dann in der Folge respektiert werden müsste. Drews fügt hinzu, Kempowski sei ein sehr positiver Ausweg aus einer bestimmten Sprachnot [gelungen], nämlich wie klage ich als Deutscher über einen Verlust eines Deutschen, also eines deutschen Soldaten, eines deutschen Familienvaters usw., ohne dass das innerhalb der eigenen Sprache zu einer Art Selbstbereicherung wird? Wie beziehe ich in die Klage um den toten Vater die Schuld unseres Volkes ein, am jüdischen Volk? (Kempowski et al. o.  J., o.  S.)

Im Hörspiel spielt sich die Szenenfolge wie folgt ab: Auf das einleitende Anfangslied, das den Hörer/Leser auf die Reise vorbereitet, folgt das Vorspiel (Vurspill), in dem ein Mann (Mahn) und eine Frau (Fruè) darüber nachdenken, was sie im Leben alles verloren haben. Der Mann gibt noch zu, dass er als Kind einen Ball verloren habe, den er hätte zurückholen können, nur habe er dies aus lauter Angst nicht getan. Diese Szene stimmt auf das Zentralthema des Verlusts ein. Aber der Hinweis, dass man ein Ergebnis hätte ändern können, wenn man nicht zu feige gewesen wäre, prägt sich dem Zuhörer ein. Danach beginnt die erste der vier kurzen vignettenartigen Szenen, welche die Kerngeschichte des Hörspiels, die Geschichte des Vaters, behandeln. Sie werden vom Ich-Erzähler in der Rolle des Sohnes gesprochen: Moin Vaddr läbt. Han is nich dot. Han säda inne Kelle und stickt e scheens Deckche. Blomme sin da uff unde Fegelche, abr meestens Blomme. (Kempowski 1982a, 76)

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2 Werk

Der Vater wird zwar durch den Sohn ins Leben beschworen, aber er bleibt allein für ihn sichtbar: Der Vater lebt, aber er lebt auch wieder nicht. Dieser Vater ist vom Krieg nicht unversehrt zurückgekommen: „Han hat verlure sin een Been. / Hadd’r kene Pruthese. / Han hupft um und rum.“ (Kempowski 1982a, 76) Der Sohn sieht ihn in einem Keller an einer Geschichte auf einem Deckchen sticken, das auch Blumen- und Vogelmotive aufweist. Solche Anspielungen auf die Natur kommen nicht nur am Anfang vor, sondern ziehen sich durch das ganze Hörspiel. Den Grund und den Inhalt seiner Geschichte erfahren die Zuhörer aber nicht. Die andere Beschäftigung des Vaters ist es, am Kellerfenster zu sitzen in der Hoffnung, dass jemand vorbeikommt, den er kennt: „Sin Fru viellucht, / […] Ud’r sine Soehne; / ab’r han weeß ja nich, / wie se dun aßsähne.“ (Kempowski 1982a, 76) Im Hörpiel endet die Szenenfolge mit dem Nachspiel (Nachspill) und der Darstellung einer noch intakten, glücklichen Familie, zu der die äußerst freundliche und verständnisvolle Mutter ebenso zählt wie die fröhlich lärmenden Kinder, die zu spielen aufhören sollen, da das Essen bereitsteht und weil „[d]’Vaddr […] ja uch scho da“ ist (Kempowski 1982a, 92). Diese letzte Szene spiegelt die Sehnsucht nach einer heilen Familienwelt wider. Sechs kurze Lieder (Lidd) sind über das Hörspiel verteilt und folgen immer auf einen längeren Abschnitt, eine Szene oder das Zwischenspiel. Das schon erwähnte Anfangslied, das gleichzeitig auch als Schlußlied (vgl. Kempowski 1982a, 92) dient, gibt den Ton an und erinnert melancholisch daran, dass diese Reise nur im Kopf des Erzählers stattfindet. 2 Analyse Dass Moin Vaddr läbt 1981 mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden ausgezeichnet worden ist, darf als Anerkennung der Bedeutung des Stückes gewertet werden. Jörg Drews, der Moin Vaddr läbt zu seinen vier Lieblingswerken Kempowskis zählt, sieht die Besonderheit des Hörspiels in der Verbindung zu Kempowskis realem Vater: Denn es ist ja sein eigener toter Vater, den er sich ins Leben zurückphantasiert, oder besser in eine Art Limbus, eine Vorhölle zwischen Leben und Tod; der untote Alte ist noch unter Menschen […], er vegetiert in einem Souterrain-Raum, vor dessen Lichtschacht schon die nächste, von der Vätergeneration schon weit entfernte Generation, fröhlich lärmt. (Drews 1989, 17)

Drews verbindet die in diesem Werk angedeutete persönliche Schuld Walter Kempowskis mit der kollektiven Schuld der Deutschen und weist darauf hin, dass weder die Kriegsgeneration noch die darauffolgenden Generationen um den eigenen Verlust trauern durften. Dafür gäbe es zwei Gründe: Zum einen müsse der Sohn, also Kempowski selbst, sich mit den Verbrechen der Vätergeneration auseinandersetzen. Zum anderen trage der Sohn aber selbst die Schuld daran, seinen Vater zu früh vergessen bzw. verdrängt zu haben. Der Sohn habe mit anderen Worten die persönliche Trauer angesichts der Massen-

2.8 Hörspiele211

morde unterdrückt und ist dabei dem Beispiel der ganzen deutschen Nation gefolgt. Bis auf Drews’ kurze Analyse gibt es in der Kempowski-Forschung bis dato wenig Wissenschaftliches über das Hörspiel. Die 2010 von Carla Damiano erschienenen Artikel unter dem Titel „Die Aufführung der Vaterfigur in Walter Kempowskis Hörspiel Moin Vaddr läbt“ gehen von der Intertextualität des Gesamtwerks aus und legen den Schwerpunkt auf die Inszenierung des Hörspiel-Vaters im Vergleich mit der ebenfalls imaginären Vaterfigur in einer kurzen Szene des 1992 erschienenen Romans Mark und Bein (vgl. Damiano 2010; erstmals Damiano 1998; vgl. auch die Überarbeitung Damiano 2005a, 85–122, bes. 91–99). In Mark und Bein reist der Protagonist, der Hamburger Journalist Jonathan Fabrizius, aus geschäftlichen Gründen nach Ostpreußen. Dieser Landstrich steht ihm fern, obgleich sein Vater auf der Frischen Nehrung gefallen ist. Gegen Ende dieser Episode, so der Untertitel des Buches, sucht Fabrizius genau jenen Strandabschnitt auf, wo sein Vater, ein Leutnant der Wehrmacht, von einer britischen Bombe getroffen wurde. Der Tod des Vaters ist nicht der Hauptgrund seiner Reise ins heutige Polen und eigentlich will er die Stelle nicht besuchen: „[W]arum die alten Geschichten wieder aufrühren? […] [W]ar es nicht schon viel zu spät?“ (Kempowski 1992, 225) Doch Jonathan nutzt die Gelegenheit, seine eigene Herkunft und die Vergangenheit des Vaters zu erkunden. Denn diese Vergangenheit ist eben nicht vergangen, und zusammen mit dem eigenen Vater sind viele Väter gefallen. Der idyllisch gelegene Strand kann nicht vergessen machen, dass alle, die hier einmal standen, für eine falsche Idee sterben mussten. Jonathan Fabrizius steht demnach stellvertretend für viele Söhne, die ihre Väter im Krieg verloren haben. Und an diesem Ort seines größten Verlusts beschwört er sie alle herauf und erweckt dadurch Augenblicke der Vergangenheit wieder zum Leben: Er schickte seinen Blick bis zu den Rauchfahnen am Horizont, und wenn dieser Blick etwas Materielles gewesen wäre, eine Taube vielleicht, dann hätte er zurückkommen können als ein Echo. Alle Blicke, von dieser Stelle ausgesandt, hätten in diesem Augenblick zurückkommen können, das Fernglassuchen des Vaters – ob die Transporter nicht bald kommen – Dänemark. (Kempowski 1992a, 230)

Aber Jonathans Blick sieht mehr, wie eine andere aufschlussreiche Stelle dieses Romans, die unmittelbar darauf folgt, zeigt: Die Fischer beugten sich über ihre Boote, die Vögel flogen davon, und der DeutscheWehrmacht-Leutnant konnte zurücksinken in den warmen Schlamm, aus dem er aufgerufen worden war. ‚Es war mein Sohn, der nach mir gesucht hat‘, flüsterte er seinen Kameraden zu, und die sagten es weiter: ‚Sein Sohn hat nach ihm gesucht.‘ (Kempowski 1992a, 230  f.)

Kempowski lässt, so Damiano, in beiden Werken die Alten unmündig auftreten und versucht aufzuzeigen, was diese in dem Jahrzehnt zwischen dem Erscheinen der beiden Werke gelernt haben. In Moin Vaddr läbt wird der

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2 Werk

eigene Vater in der Fantasie des Sohnes in einen bunkerartigen Keller verbannt. Es scheint in der Tat eine Verbannung zu sein, denn dem Vater wird durch die Fantasie des Sohnes eine Aufgabe erteilt: Er muss bis in alle Ewigkeit an einer langen Geschichte sticken, deren Gegenstand die Zuhörer nie erfahren werden, obwohl diese vielleicht etwas über sich selbst lernen könnten. Das Kollektiv der Zuhörer darf als die deutsche Nachkriegsgeneration verstanden werden. In Mark und Bein wird die Vaterfigur aus demselben Boden heraufbeschworen, auf dem er gestorben ist. Dadurch aber, dass der Sohn den Vater in den Schlamm zurücksinken lässt, demonstriert er, dass er sich mit diesem Teil seiner Vergangenheit versöhnt hat (vgl. Damiano 2010, 100). Der Vater ‚sinkt‘ also befriedigt zurück und der Sohn, nicht minder zufrieden, hakt diesen Besuch ab und setzt seine Reise fort. Dass der Protagonist ursprünglich nicht vorhatte, den Todesort seines Vaters aufzusuchen, sich aber von seinem Mitreisenden doch dazu überreden ließ, zeigt, dass er die direkte Konfrontation mit dem Tod des Vaters bewältigt hat. Damiano kommt zu dem Schluss, dass eine Sache beim Namen zu nennen sowohl ein Zeichen des Anerkennens als auch ein öffentliches Bekenntnis ist. Der in den Keller verbannte Vater in Moin Vaddr läbt kommt nie wirklich an die Öffentlichkeit, weil er unsichtbar bleibt; zudem kann er sich nicht aussprechen, weil er keinen Kommunikationspartner findet. Die Kluft zwischen Vater und Sohn kann deswegen nicht überbrückt werden. Und was nützt eine lange Geschichte, an der der Vater stickt, wenn keiner sie jemals lesen wird? Die Vaterfigur in Mark und Bein hingegen wird heraufbeschworen und hat seine Kameraden, die bezeugen können, dass sein Sohn nach ihm gesucht hat. Der Sohn hat also den ersten Schritt zur Versöhnung, vielleicht auch zur Vergebung der Vergehen des Vaters gemacht. Hier handelt es sich trotzdem nicht um eine Schlussstrichmentalität in dem Sinne, dass die Verbrechen des Vaters und der Vätergeneration verziehen werden: Die Neugier des Sohns ist befriedigt und er ist bereit, den nächsten Schritt zu tun, damit er um den Tod seines Vaters trauern darf. Dies ist nicht gleichzusetzen mit dem Vergessen einer Schuld, sondern kann im Sinne des Vorwortes verstanden werden, dass dem ersten Echolot-Band vorangestellt ist, in dem sich Kempowski selbst zur Generation seiner Väter bekennt: Zum Schluß, als ich den großen Chor beisammen hatte und das Ganze auf mich wirken ließ, stand ich plötzlich unter ihnen, und es überwog das, was wir mit dem Wort ‚Liebe‘ nur unzulänglich bezeichnen können. Wie sollte es denn auch anders sein? (Kempowski 1993a, Bd. 1, 7; vgl. auch Damiano 2010, 100  f.; u. Damiano 2005a, 91  ff.)

Abschließend soll noch einmal zur Analyse von Jörg Drews zurückgekehrt werden. Er betont, dass in Moin Vaddr läbt Kempowski zum ersten Mal nicht vor den inneren Dämonen fliehe, sondern hinschaue; in diesem Werk habe er es erreicht, sie ‚Gestalt und Sprache‘ annehmen zu lassen (vgl. Drews 1989, 18). Dabei war es nicht nur sein Vater, sondern eine ganze Generation von Vätern, die konfrontiert werden musste. Moin Vaddr läbt markiert daher einen

2.8 Hörspiele213

entscheidenden Wendepunkt in Kempowskis Gesamtwerk und stellt ein lohnendes Objekt für eine weitere, vertiefte wissenschaftliche Analyse dar.

2.8.6  Führungen – Ein deutsches Denkmal Simone Neteler 1 Inhaltsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 2 Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214

1 Inhaltsüberblick Was Menschen einander antun – diesen Untertitel notierte Walter Kempowski, unter anderem in einem Tagebucheintrag vom 28. Juni 1981, zunächst für sein Hörspiel Führungen (vgl. Kempowski 1982c). Als das Werk schließlich im Jahr 1983 veröffentlicht wurde, war diese Zeile dem eher kryptischen Zusatz Ein deutsches Denkmal gewichen. Dass beide Untertitel gleichsam passend erscheinen, wird sich im Folgenden zeigen (vgl. Kempowski o.  J. o, o.  S.). Die mehr als 40 Minuten lange Originalton-Collage entstand mit Unterstützung des Hessischen Rundfunks (HR), der das Hörspiel später auch produzierte. Christoph Buggert, damaliger Leiter der Hörspielabteilung, erinnert sich noch gut an die Zusammenarbeit: Wenn irgendjemand ein Gehör für Spezialsprachen des Alltags hatte, dann war es Walter Kempowski. Er notierte seine Funde auf Zetteln, auf der Hinterseite von Rechnungen, gerne auch auf Tonband. Als er in einem unserer Gespräche von den zahllosen Führungen schwärmte, die tagtäglich ablaufen – in Museen, in Burgen oder Schlössern, in Weinkellern oder an Orten des Schreckens –, da war ich ganz Ohr. Wie das kollektive Bewusstsein mit der Geschichte unseres Landes umgeht, so meinte er, das ließe sich anhand dieser Zeugnisse auf eine unverbrauchte Weise abbilden. Leider reichte seine Zeit nicht, um persönlich auf Forschungsreise zu gehen. Wir stellten daher mehrere Teams zusammen, die in allen Regionen Deutschlands auf gut Glück solche Führungen aufzeichneten. Es bedurfte aber des ironisch geschärften Instinkts von Walter Kempowski, um all die geheimen Entstellungen, die Stilblüten und unfreiwilligen Entgleisungen herauszufiltern – und anschließend zu der Hörcollage Führungen zusammenzufügen. (Christoph Buggert in einer E-Mail an Simone Neteler im Februar 2016)

Buggert skizziert in seiner Erinnerung an die Zusammenarbeit mit Walter Kempowski zugleich die Arbeitsweise des Autors: Gleichzeitig war Walter Kempowski jemand, der äußerst ökonomisch mit der Zeit umging. Nachdem das Arbeitsergebnis normale Hörspiellänge erreicht hatte, sah er es als vollkommen überflüssig an, das noch nicht verwendete Tonmaterial überhaupt durchzuhören. Mindestens die Hälfte der gut hundert Stunden Originalton

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wartet noch heute auf die Wiederentdeckung  – wahrscheinlich in irgendeinem Karton des gigantischen Walter-Kempowski-Archivs. (Christoph Buggert in einer E-Mail an Simone Neteler im Februar 2016)

Entstanden ist ein Hörspiel, das aus miteinander collagierten O-Tönen verschiedener Führungen durch Burgen, Schlösser und Museen besteht. Verwendet wurden Mitschnitte, die unter anderem im Schloss Nymphenburg, auf der Amalienburg, der Marksburg und auch in der Regensburger Fragstatt – einer Art mittelalterlicher Folterkammer, die in den Gewölben des Alten Rathauses erhalten geblieben ist – aufgezeichnet worden waren. Klirrende Schlüssel, sich öffnende oder schließende knarzende Türen, Laufgeräusche, Gemurmel, Räuspern, Lachen und Akklamationen des Publikums bilden die Geräuschkulisse für die faktualen Erzählungen und Angaben der Führerinnen und Führer. Stilepochen wie Barock, Rokoko, Klassizismus oder die Romantik, aber auch das Mittelalter bilden die zeitlichen Hintergründe für die zahlreichen Fakten, Beschreibungen, Auskünfte und Anekdoten. Walter Kempowski beschreibt in einem Tagebucheintrag vom 18. Dezember 1981 unter der Überschrift „Das Hörspiel. Schlußbericht“ seine Vorgehensweise: „Wichtig war die Trennung in Ober- und Unterwelt, Luxus und Leiden.“ (Kempowski o.  J. p, o.  S.) Entsprechend werden Bauwerke, Wandzeichnungen, Möbel, Gärten, Gebräuche und Sitten der Vergangenheit kenntnisreich erläutert. Doch auch Folterwerkzeuge und Hinrichtungsmethoden sowie Begriffe wie Lochgefängnis und Henkersmahlzeit kommen zur Sprache. Diese Flut von kaum mehr zuordenbaren historischen Einzelheiten wird achtmal ergänzt durch – teilweise leicht gekürzte – Zitate aus der biblischen Offenbarung (unter anderem Offenbarung 1,8 und 6,14–17), etwas holprig vorgetragen von einem Kind, das das, was es vorliest, hörbar nur bedingt versteht. Diese zweite Ebene, die noch verstärkt wird durch die Zahlenmystik, in der die Zahl Acht für den Neuanfang steht, bricht die Ausführungen des mehrstimmigen Chors der Führerinnen und Führer in etwas Apokalyptisches. 2 Analyse Die bunten und kenntnisreichen Erzählungen in den einzelnen Führungen beschreiben einerseits all das, was aus zahllosen Jahrhunderten bis heute überdauert hat und deshalb als ‚Kulturgut‘ besondere Beachtung erhält. Andererseits bewegen sich die so hervorgehobenen Objekte zwischen Ästhetik und Grauen, offenbaren sie doch nicht nur die Schönheit, die der Mensch schon immer in der Lage war zu erschaffen, sondern auch die Brutalität, zu der er fähig ist. Walter Kempowski beschreibt in einer Manuskriptfassung aus dem Jahr 1977 den Sinn des Hörspiels Führungen:

2.8 Hörspiele215 Sinn der Sache: einerseits ein synthetisches Kulturdenkmal herzustellen, Dummheit des Kultur-Touristenbetriebes zu entlarven, andererseits es den Kultur-Überdrüssigen mal zu zeigen, was da ist, und wie wenig man sich des abendländischen Überflusses an Kulturgütern bewußt ist. (Kempowski 1977, o.  S., Hervorhebung im Original)

Das, was ist, sind die Objekte und die Interpretationen dazu. Die ausgestellten Dinge sind übrig geblieben – stumme Zeugen von Zeiten und Generationen, die längst vergangen sind. Es ist ihre Gegenständlichkeit und gleichsam unser Ringen um ihre Bedeutung, weshalb wir sie erst neugierig und staunend betrachten, um dann im Erzählen darüber die Erinnerung an Verlorenes wachzuhalten. Indem es den Zwiespalt zwischen Bewahren und Vergessen spiegelt und sich dabei gleichzeitig einer tatsächlichen Realität bedient, wird das Hörspiel Führungen selbst zu einem frei erfundenen eigenen Denkmal. Es erschafft sich in doppeltem Sinne aus dem, ‚was da ist‘, und besteht insofern als künstlerischer Ausdruck fort. Dass der Zusammenschnitt der einzelnen O-Töne aus den unterschiedlichen Führungen im Miteinander teilweise groteske Züge entwickelt, ist ein für Walter Kempowski typischer – und den Fan sicherlich erfreuender – Nebeneffekt. Auch wenn das Hörspiel zu den unbekannteren Werken des Autors zählt, sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass sich in ihm einmal mehr die markante Arbeitsweise Walter Kempowskis offenbart, oder wie es der Autor selbst am 16. Februar 1994 in seinem Tagebuch notierte: „Führungen + Beeth. V. sind deutlich Vorstufen zum Echolot. Aus Statements ein neues Ganzes herstellen.“ (Kempowski 1994  f, o.  S.)

2.8.7  Alles umsonst Carla Damiano 1 Inhaltsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 2 Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221

1 Inhaltsüberblick Das Hörspiel Alles umsonst (vgl. Kempowski 1984b) ist chronologisch das siebte Hörspiel Kempowskis. Es wurde vom Hessischen Rundfunk und vom Westdeutschen Rundfunk produziert und 1984 veröffentlicht. Horst Vollmer führte Regie, Peter Zwetkoff komponierte die Musik und die beiden Sprecher sind Marie Wimmer und Ernst Jacobi. Der Kinderchor Fellbach unter der Leitung von Alfons Schirle singt einige Lieder, weitere musikalische Begleitung bietet ExVoCo Stuttgart. Die Texte der vom Kinderchor gesungenen Lieder lenken inhaltlich von dem ab, was im Rest des Hörspiels im Zentrum steht. Hingegen stehen die übrige Musik sowie die Hintergrundgeräusche im Einklang mit Themen und Handlung des Hörspiels.

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Die folgende Analyse wird deutlich machen, dass Alles umsonst eine noch nicht völlig anerkannte, integrale Rolle im Gesamtwerk Kempowskis spielt, denn das Hörspiel setzt sich mit Themen auseinander, die in Kempowskis eigenem Leben zu erkennen sind und sich auch durch sein Gesamtwerk ziehen. Parallel zum Thema der Aufarbeitung seiner persönlichen Schuld gegenüber seiner Familie zieht sich durch Kempowskis Werk die Auseinandersetzung mit der kollektiven Schuld an Weltkrieg und Holocaust. Allgemein wird Alles umsonst als „Gegenstück“ (Hempel 2004, 153) oder „Pendant“ (Hördat, die Hörspieldatenbank o.  J., o.  S.) zu Kempowskis preisgekröntem Hörspiel Moin Vaddr läbt (vgl. Kempowski 1980b; vgl. auch Kempowski 1982a) gesehen; in der Tat lassen sich viele Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Hörspielen finden. Inhaltlich ist das Hörspiel Alles umsonst mit Kempowskis erstem, unveröffentlicht gebliebenem Romanversuch Margot (vgl. Kempowski o.  J.) sowie mit seinem letzten vollendeten Roman Alles umsonst (vgl. Kempowski 2006a) verbunden. Somit ergibt sich eine Verbindung über die ganze Spannbreite des Gesamtwerks und des schriftstellerischen Lebens von Kempowski. Im Hörspiel Alles umsonst wird der Hörer zuerst mit einem eigenartigen Erlebnis konfrontiert, das mit Kempowskis Erstlingsroman Im Block (vgl. Kempowski 1969) und dessen Umarbeitung unter dem Titel Ein Kapitel für sich (vgl. Kempowski 1975a) in engem Zusammenhang steht. Das Verbindende in diesen drei Werken ist Kempowskis Versuch, sich mit seinem Hafterlebnis zu versöhnen. Das Spezifische des Hörspiels ist allerdings Kempowskis abstrakte Haftdarstellung durch (alb)traumähnliche Schilderungen, wodurch seine Bilder und Erlebnisse etwas Groteskes erhalten. Darüber hinaus werden auch seine Schuldgefühle gegenüber der Mutter aufgearbeitet. Als Mutter eines mutmaßlichen Spions und vermeintliche Mitwisserin wurde sie verhaftet und verurteilt; erst nach fünf Jahren durfte sie nach einer Amnestie das Gefängnis verlassen. Eben weil sie ihm in Wirklichkeit alles verziehen hatte, fühlte sich Kempowski wohl gezwungen, in diesem Hörspiel eine Bestrafung für sich selbst zu imaginieren. Die Mutterfigur hat dagegen eigene Schuldgefühle zu bewältigen, weil sie, so Kempowski, dieses Kind zur Welt gebracht habe. Statt um eine Auseinandersetzung mit der Vätergeneration geht es in diesem Hörspiel also um die „Klärung des Mutterbildes“ (ARD Hörspieldatenbank o.  J., o.  S.). Jedoch ist dies nur ein Thema unter vielen. Formal besteht das Hörspiel aus einem Briefwechsel zwischen einer Mutter und ihrem Sohn. Doch liegt streng genommen kein Briefwechsel vor, da die zwei namenlosen Ich-Figuren aneinander vorbei zu schreiben scheinen. Der Sohn verfasst seine Briefe in einer labyrinthartigen Stadt, die zugleich als eine Art Strafanstalt zu dienen scheint. Die Mutter aber schreibt ihm „am Tisch [ihr]er Kindheit sitzend“ (Kempowski 1984b, o.  S., hier und im Folgenden Transkription durch C.D. nach der Hörfassung). Die Stimmungsschwankungen von Sohn und Mutter, die ihm von Schreckensszenen einer vorangegangenen Zeit berichtet, reichen von „erhaben[er] Feierlichkeit“ (Kempowski 1984b) bis zur Verzweiflung über grausame, kafkaeske Geschehnisse. Zu

2.8 Hörspiele217

Beginn des Hörspiels ist der Sohn gerade in der Stadt angekommen und er berichtet seiner Mutter einerseits, was ihm dort geschieht, und andererseits lässt er auch Reflexionen über sein Leben und Handeln einfließen. Der Hörer erfährt indes nie, welche Straftat der Sohn begangen haben soll. Seine ersten Zeilen an die Mutter lauten: Liebe Mutter! Nun bin ich angekommen. Es sind eine Menge Menschen hier. Aus allen Himmelsrichtungen stammen sie, aus allen Kreisen der Bevölkerung. Raue Leute sind es, mit Stricken um den Leib und mit Kerlsfäusten. Aber auch Leute mit ‚Nimm-mich-mit‘-Gesichtern. Ich halte mich in allem sehr zurück. Meistens stehe ich am Fenster und sehe ein wenig hinaus. (Kempowski 1984b)

Die Mutter teilt dem Sohn mit, dass sie seine Briefe erhalte und der Reihe nach lese. Dies erfährt der Hörer allerdings erst gegen Ende des Hörspiels, denn vorher ist ihrer Seite der Korrespondenz nicht zu entnehmen, ob es überhaupt eine beiderseitige Kommunikation gibt. Aus den Briefen des Sohnes geht im Gegenzug nicht hervor, ob er die Briefe der Mutter erhält. Das Hörspiel besteht also aus zwei Erzählsträngen, die abwechselnd eine je eigene, im Laufe des Hörspiels immer wieder unterbrochene Schilderung von Geschehnissen liefern, die aber beide – in den Briefen des Sohnes ebenso wie in denen der Mutter – im Endeffekt auf ein dem Sohn drohendes, schreckliches Ende hindeuten. Der Sohn scheint sich am Anfang in einem zellenartigen Zimmer zu befinden, in dem er eingesperrt, dann aber auch wieder nicht eingesperrt zu sein scheint. Er steht gerne am Fenster und denkt in aller Ruhe über sein Leben nach: Wie kommt es, dass ich als Kind nie daran dachte, in die Wolken zu gucken, mich niemals ins Gras warf und hinaufblickte in die unendliche Tiefe? Nun, liebe Mutter, ist das meine tägliche Freude. Am Fenster stehe ich und sehe hinaus, die Berge und Felder dort in der Ferne und die Wolken darüber, still drohend und lockend. (Kempowski 1984b)

Die ersten Worte der Mutter stehen in krassem Gegensatz zur idyllischen Landschaft, die der Sohn meint, von seinem Fenster aus zu sehen. Die Worte der Mutter klingen drohend und unbarmherzig: Lieber Sohn, Du hättest die Finger davon lassen sollen. Man muss sich stets im Zaum zu halten wissen, muss sich zurückhalten, muss in der Reihe bleiben. Und man muss immer wissen, was man tut. Wer das vergisst, der wird es büßen. Nun musst du die Sache auslöffeln, bis auf den Grund. Nun hilft dir keiner. (Kempowski 1984b)

Außer diesem wiederholten Vorwurf bieten die Briefe der Mutter überwiegend detaillierte Schreckensszenen, von denen man erst am Ende des Hörspiels erfährt, was sie bezwecken. Am Anfang macht der heiter gestimmte Sohn hingegen den Eindruck, die Stadt böte ihm eine neue abenteuerliche Erfahrung, durch die er kuriose und erfreuliche Entdeckungen machen kann: „Wie eine

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Spirale windet sich die Stadt in die Höhe. Das ist schön; steigen und steigen, den Hut in der Hand ins weite Tal blicken.“ (Kempowski 1984b) Doch dann erfährt der Hörer, dass diese Straße an einer Mauer endet und die „Paläste“ auf der anderen Seite nicht betreten werden dürfen, da dort der „Meister“, der „Kommandant“, der „für [sie] sorge“, wohnt. (Kempowski 1984b) Es herrscht auch ein Sprechverbot, damit mit den Menschen an der Mauer nicht kommuniziert wird. Der Meister ist unnahbar: Nein, wir sehen ihn nicht, den Meister, der immer da ist und alles weiß. […] Ab und zu wird gerufen ‚Einschluss‘, dann schwingen die Räder aus, die Flügel der Mühlen stehen still, und das Wasser tritt aus den Rinnen und fließt den Hang hinab. Türen und Fenster werden geschlossen, und ein jeder wirft sich nieder. (Kempowski 1984b)

Diese merkwürdige Stadt hat auch eine Unterstadt, die ganz ähnlich aufgebaut ist. Der Sohn berichtet: Die Unterstadt ist ein Labyrinth von verschachtelten Gassen, in dem niemand sich auskennt. Die Menschen, die man fragt, schütteln stumm den Kopf. Sie schütteln stumm den Kopf, wenn man sie fragt oder wenn man sie grüßt. ‚Grüße uns nicht, Freund‘, so scheinen sie zu sprechen. ‚Grüße uns nicht und frage uns nicht, geh still deiner Wege.‘ […] Du gehst dahin und schlägst den Blick nieder und niemand denkt, er soll sich verbrüdern. (Kempowski 1984b)

Man müsse sich, so der Sohn weiter, in der Unterstadt gut auskennen und sich an die Regeln halten: „Ein Gruß kann Schlimmes bedeuten in dieser Stadt. Und eine Frage kann Schreckliches anrichten.“ (Kempowski 1984b) Allerdings finden sich dort auch „wunderliche Überraschungen“; für einsame Menschen gibt es zum Beispiel „eine Stube, deren Wände sich dem Körper weich anschmiegen“. Dazu zählen auch leichtherzigere, skurrile Dinge wie eine „Kussmaschine“ und eine wohl von Wolfgang Borchert inspirierte „Orgel mit lebenden Menschen, die aus Kabinen kommen.“ (Kempowski 1984b) Ebenso berichtet er von merkwürdigen, grotesken Dingen in der Unterstadt, etwa davon, dass der Kommandant ein Tanzritual durchführt, bei dem er von klatschenden Menschen umgeben ist, zu denen auch der Sohn gehört: Du solltest sehen, wie er sich, die Arme in die Seite gestemmt, zu unserem Rhythmus, der eigentlich der seine ist, dreht und wendet. […] [D]er Kommandant mit seinem königlichen Lachen misst die Schritte, Runde um Runde. […] Wenn wir alle wissen, dass es so weit ist […], wird ihm ein Huhn zugeworfen […]. Plötzlich [zerreißt] er das und aus dem Hals des Huhnes pulst ein Blutstrahl und wir, der Reihe nach, empfangen den Blutstrahl in unsere Münder. (Kempowski 1984b)

Die Briefe der Mutter berichten hauptsächlich von zwei grauenvollen Szenen, in denen Menschen gefoltert und hingerichtet werden, und von den Umstehenden, die alles beobachten oder sogar an der „Feierlichkeit“ dieser Stunden teilnehmen und den Schrecken zelebrieren. Die Schreckensszenen finden vor einer Kulisse von „sauberen Dörfern“ und einer pastoralen Landschaft statt. Die Mutter schildert nüchtern und detailliert zwei Vorfälle, die sie mit eigenen

2.8 Hörspiele219

Augen gesehen haben will. Der erste betrifft eine Gruppe KZ-ähnlicher Gefangener, die unter Peitschenhieben eine schwerbeladene Karre schieben müssen: Vor Jahren sah ich einen Zug extremster Leute. Auch sie hatten versucht, sich selbst zu helfen. Nur schlug man sie mit langen Lederpeitschen. Die Schnüre waren geflochten und mit Knoten versehen, sie verfingen sich in den Beinen dieser Leute, die sich dahin schleppten und keuchten. Einige hatte man angeschirrt, ein großer urtümlicher Wagen, Klotzwagen aus Eichenholz mit massiven Holzrädern und mit Steinen beladen, die Bremsen angezogen. Man hatte sie angeschirrt und zwang sie, die Wagen zu ziehen. Sie stemmten sich keuchend in den Boden. Das Blut schoss ihnen aus dem Mund. […] Ein feiner Schleier des Gesangs lag über den verregneten Feldern. (Kempowski 1984b)

Die Szene erreicht ihren Höhepunkt in der Verteilung von Brot an die gequälten und erniedrigten Menschen: „Diese Stunde, mein Sohn, vor Jahren erlebt, dieses Bild der knurrenden, lauter und lauter knurrenden, zum Brot hin rutschenden Menschen, in der nassen Erde hinüberfallend, ist nicht leicht hinabzutun.“ (Kempowski 1984b) Dies ist das erste Indiz der Mutter, dass sie vor Jahren Augenzeugin eines solchen Geschehnisses geworden ist. So schrecklich die Szene sein mag, noch eindringlicher und erschütternder ist für den Hörer vielleicht die nüchterne Erzählweise der Mutter und die Art, in der sie die Menschen weiter beschreibt, die anschauen wollen, wie die Gefangenen mit ihren grauen Kappen und kahl geschorenen Köpfen gefoltert werden: „Jenseits des Dammes drängten bunte Menschen in hellen Kleidern an den Wassergraben heran. Stadtmenschen, die das sehen wollten. Lachende Stadtmenschen. Blond mit Sonnenbrille und Grammophon. Frauen in roten Röcken, Männer in gelben Jacken.“ Diese Menschen sind keineswegs passive Beobachter: „[S]ie drohten den aus dem Dreck sich aufraffenden Männern mit der Faust, warfen mit Steinen nach ihnen  […]. Sie riefen: ‚Ihr seid schuld!‘“ Die Mutter versichert dem Sohn in ihrem Brief, sie habe weder zu den „grauen“ noch zu den „bunten“ Menschen gehört. Aber sie erinnert ihn daran, zu welcher Gruppe er gehöre: „Ich sah dich schon kleben im Dreck, sah dich Wasser schlürfen aus der Pfütze und hörte dich singen […]. Ich wusste es, du gehörst zu denen.“ (Kempowski 1984b) Der zweite Vorfall, von dem die Mutter berichtet, handelt von einer an Kafka erinnernden Foltermaschine (vgl. Kafka 1994). Das Folterinstrument besteht aus Röhren, die quer durch den „Röhrberg“ (Kempowski 1984b) gepresst werden. Dem Opfer – auch als „Wurmmensch“ oder „Maulwurf“ bezeichnet – werden die Arme an die Seite gepresst, um dann mit dem Kopf voran in eines dieser Rohre gezwungen zu werden. Der Mensch kann sich nur mit den Zehen langsam vorwärts schieben, bis er am anderen Ende des Rohres ankommt. Mit großen Feierlichkeiten wird der Mann dort erwartet und empfangen. Doch dann geschieht das Grässliche: „Der Kopf des Mannes, rot und naß mit Schweiß, erscheint in dem Apparat, der vor der Röhre steht.“ Er sieht hinab in das Tal, sieht die „sauberen Dörfer“:

220

2 Werk

Dieser Mann sieht das alles. Er sieht es ein letztes Mal und er hört auch die Abendglocken aus den sauberen Dörfern und er sieht den Frieden. Und er atmet und er weint. Dann bettet er den Kopf auf eine Ledermanschette und schon zieht einer der beiden Männer […] am Seilzug des Apparats, und das Beil saust herab und schlägt den Kopf vom Rumpf. (Kempowski 1984b)

An dieser Stelle wandelt sich die erzählende und bis zu diesem Zeitpunkt nur beobachtende Mutter zur miterlebenden Figur: „Ich höre noch die Mädchen aufjauchzen und ich rieche noch den würzigen Geruch der Matten. Und ich spüre noch den kühlen Hauch des Abendwindes an meiner Stirn.“ (Kempowski 1984b) Wie beim Sohn vorher erfährt der Hörer auch hier nichts über das vermeintliche Verbrechen des Opfers. Um dieses Geschehen herum wird stattdessen mit anschaulichen Details von zelebrierenden Menschen erzählt, denn die Hinrichtung ist Teil eines Rituals. Manche nehmen an den Feierlichkeiten mit Musik und Tanzen teil, andere sind mit Körben voller Wein und Brot zum Picknicken gekommen. In beiden Bestrafungsszenen meint die Mutter, dass dies auch dem Sohn bevorstehe. Der Sohn hingegen erzählt eine eigene Schreckensgeschichte. Ähnlich wie bei Kafka, wo der Hinrichtungsapparat dem Verurteilten sein Urteil immer tiefer in die Haut schreibt, schildert der Sohn eine seiner Entdeckungen – eine tretmühlenartige Exekutionsmaschine, die gleichzeitig eine Beichtmaschine ist: „Wenn der Gong ertönt in der Gruft, dann legst du dich auf eine Ruhestatt und wirst angeschnallt. Ausgestreckt liegst du da. Und dann spricht es in dir. Und die Worte kommen aus dem Mund, lange Geschichten, die nie jemand hört“. Diese Geschichten kommen auf eine Walze, die „abgespült und weggetragen“ wird. Zum geeigneten Zeitpunkt wird man dann gerufen: Eines Tages wird dir gesagt: ‚Komm mit‘. Du wirst in den Keller geführt, über dessen Tür die Worte stehen ‚Es ist alles umsonst‘. Es wird gerufen: ‚Bitte‘, und man reicht dir die Hand. Über Rollen gespannt läuft das breite Band. Man hilft dir auf dieses Band und es sieht so aus, als wollte man dich zum Tanz führen. […] Und auf dem Band ist zu lesen, was du in der Gruft gesprochen hast, die Bilder darauf, die du nicht malen konntest. Und die Musik ist zu hören, die immer nur deine Musik war. Wenn das Band zu Ende geht, weißt du, dann wird dir ein Hebel die Beine wegschlagen. Du gerätst zwischen die Walzen und wirst zerquetscht. Es ist alles umsonst. Mutter, ich weiß das nun, und ich weiß es gewiss. (Kempowski 1984b)

Diesen Worten folgt im Hörspiel ein langes, schauderhaftes, knirschendes Geräusch. Nach dem letzten Kinderlied und den abschließenden Gongschlägen ist das Hörspiel zu Ende. Ob der Sohn tatsächlich auf diese oder eine von der Mutter beschriebenen Weise hingerichtet wird, bleibt ungewiss, muss aber vermutet werden.

2.8 Hörspiele221

2 Analyse Alles umsonst wurde bisher von der Literaturwissenschaft völlig ignoriert. Dies liegt sicher daran, dass das Werk erst seit 2007 im Walter Kempowski Archiv in der Berliner Akademie der Künste der Öffentlichkeit dauerhaft zur Verfügung steht. Die mangelnde Bekanntheit des Hörspiels darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es zur zentralen Thematik des Gesamtwerks Kempowskis gehört. Das Hörspiel bietet Einblicke sowohl in die frühesten Schaffensphasen Kempowskis als auch in seine stilistische Entwicklung. Die intertextuelle Verbindung zwischen dem Hörspiel und anderen Werken Kempowskis wurde bereits in Zusammenhang mit den zwei frühen Romanen Im Block und Ein Kapitel für sich deutlich gemacht. Jedoch zeigt das Hörspiel eine noch weitaus größere Nähe zu dem dreiteiligen Romanversuch Margot (vgl. Kempowski o.  J. q). Auszüge daraus sind in Kempowskis frühen Tagebüchern zu finden, die von Dirk Hempel herausgegeben worden sind (vgl. Kempowski 2012a). Die Gemeinsamkeiten zwischen dem Frühwerk und dem Hörspiel sind in der Tat so groß, dass Hempels Zusammenfassung von Margot auch als allgemeine Einleitung zu Stil und Thematik des Hörspiels dienen könnte: Kempowski, der sich zuweilen vor erneuter Verhaftung fürchtete und von Alpträumen heimgesucht wurde, notierte diese grotesken Bilder auf Zettel. Daraus erwuchs ein literarisches Gebilde, ein Roman in Briefen eines Ich-Erzählers an seine Mutter, geschrieben aus einer fremden Stadt, wo er sich unfreiwillig aufhält, eine Art Gefängnismodell also. Kempowski wählte den Titel ‚Margot‘ (Mar-Gott)  – eine Transzendierung des Hafterlebnisses und der Versuch, sich davon zu befreien. (Hempel 2004, 110  f.)

Schon durch Margot hatte Kempowski in Fritz J. Raddatz 1962 einen Betreuer und Mentor gefunden, von dem und durch den er die ersten Rückmeldungen für seine schriftstellerische Tätigkeit erhielt. Raddatz war damals Cheflektor und stellvertretender Verlagsleiter bei Rowohlt (vgl. Hempel 2004, 112; sowie Kempowski 2012a, 338). Obwohl sich herausstellte, dass Margot zur Veröffentlichung stilistisch noch zu unreif war, fühlte sich Kempowski letztlich dadurch ermutigt, dass Raddatz selbst – und durch ihn mehrere Mitglieder der Gruppe 47 – seinem Manuskript teilweise Positives abgewinnen konnten (vgl. Hempel 2004, 112  ff.). Kempowski hat Margot, was Stil und Thematik betrifft, vermutlich auch deshalb 1984 im Hörspiel Alles umsonst wieder aufgegriffen. Auch Trauer und verletzte Eitelkeit mögen die Gründe dafür sein, dass er einen zweiten Anlauf unternahm und den Stoff erneut im Hörspiel verarbeitete. In seinen Tagebüchern ist zu lesen, wie verletzt er war, dass Margot nicht zur Veröffentlichung angenommen worden war. Das Material ließ sich im neuen Hörspiel aber gut ‚recyceln‘. Beide Werke teilen fast identische Anfangszeilen und auch viele weitere Szenen und Schilderungen sind ähnlich. In beiden Werken fällt es schwer, einen klaren Handlungsablauf oder eine eindeutige Botschaft auszumachen. Die vom Sohn vorgetragenen, fantasie-

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2 Werk

vollen und expressionistisch geprägten Schilderungen der kleinen, unzusammenhängenden Episoden wirken auf den Hörer verwirrend, verstörend und beunruhigend. Man kann Fritz J. Raddatz’ Reaktion nachempfinden, die er mit Bezug auf Margot am 11. September 1962 in einem Brief an Kempowski so formulierte: „Im Augenblick, so will es mir scheinen, verliere ich mich etwas in Ihrem Labyrinth, sehe nicht ganz, wohin oder wohinaus es führen soll, und bin, wie gesagt, gelegentlich ratlos.“ (Kempowski 2012a, 378  f.) Die Ratlosigkeit des Lektors erklärt sich wohl dadurch, dass Kempowski sich bei der Suche nach seiner eigenen literarischen Stimme damals noch zu sehr an seine Vorbilder angelehnt hat. Außer Kafka nennt Dirk Hempel zwei weitere Künstler, deren Werke als frühe Inspiration für die Metaphorik der traumhaften und grotesken Atmosphäre Margots – und dementsprechend auch des Hörspiels Alles umsonst – dienten: die „Unterweltphantasien Giovanni Battista Piranesis“ und die „dunkel-rätselhaften Visionen“ des Expressionisten und Symbolisten Alfred Kubin. (Hempel 2004, 112) Auch von seinem ehemaligen Mitgefangenen in Bautzen, dem späteren Künstler Klaus Beck, mit dem Kempowski jahrelang in Kontakt stand, empfing er Impulse und Inspiration (vgl. Kempowski 2012a, 381  f.). Natürlich kommt in der tieferen Hörspielthematik auch noch die Stimme der Mutter dazu und mit ihr die Schuldfrage. Kempowski äußerte sich zu diesem Thema in einem Werkstattgespräch mit dem Hörspiel-Regisseur: Jede Mutter ist schuld daran, daß ihr Kind auf der Welt ist, also auch die Schmerzen, die das Kind in der Welt erleidet, gehen auf das Konto der Mutter. Irgendwann, ob bewußt oder unbewußt, wird das Kind sich dafür rächen, es fügt seinerseits der Mutter Schmerzen zu. Um ihre alte Schuld zu tilgen, wird die Mutter vorschnell verzeihen – nicht ahnend, daß sie das Kind […] dadurch endgültig in den Haß treiben kann. (ARD Hörspieldatenbank o.  J.)

Diese Worte Kempowskis schaffen einen vertieften Zugang zur Mutter- und Schuldthematik des Hörspiels. Die auf Tatsachen beruhenden Haftszenen der Mutter fiktionalisiert Kempowski zum Beispiel schon in dem Roman Ein Kapitel für sich. Nachdem beide Söhne längst verhaftet sind, wird die Mutter wegen angeblicher Mitwisserschaft von der Polizei abgeholt: „Diss iss ’ne schöne Tasse Tee. Diss iss ’ne schöne Tasse Tee. Du hier eingesperrt, womöglich noch als Spion, und hast dich nie um Politik gekümmert. Diss iss ’ne schöne Tasse Tee.“ (Kempowski 1984b) Kempowskis in Wirklichkeit tiefsitzendes Schuldgefühl, dass er die Familie durch eigenes Handeln zerstört hat, wird auch aus dem folgenden Tagebucheintrag von 1957 deutlich und erhellt seine damalige psychische Lage: Die Last meiner Schuld macht mich unfrei und unfroh, weil mein Reuegefühl, so lange herbeigebetet, sich langsam und verstärkt einstellt. Meine Vergangenheit empfinde ich, wie auch meine Gegenwart, als so ungewöhnlich, daß es eben nicht zu einer Reue kam. Eine nicht glaubhafte Wirklichkeit, nun liebe ich meine Mutter sehr viel mehr, als es früher möglich war, und wenn ich schon das Vergangene nicht glauben kann, so steht mir doch ihr Bild vor Augen, daß ich bereuen muß. Ich

2.8 Hörspiele223 glaube, ich ertrüge nicht, eine Fotografie von ihr auf meinem Tisch stehen zu haben. (Kempowski 2012a, 91)

Die Schuld- und Reuegefühle dem Bruder gegenüber sitzen ebenfalls tief. Diesbezüglich ist 1958 in Kempowskis Tagebuch zu lesen: Jedesmal wenn Mutter mir von ihm und seinen Schwierigkeiten erzählt, fühle ich mich schuldig. Ich bin schuld, daß er keine Frau bekommt, daß er beruflich keine Chancen mehr hat, daß er sich unglücklich fühlt. Und alles nur, weil ich 14 Tage meines Lebens wie ein Idiot gehandelt habe, ohne jede Vernunft, wie ein Schlafwandler, und meine damalige idiotische Konsequenz, das einzige Mal, wo ich vielleicht wirklich konsequent handelte, hat das alles ausgelöst. (Kempowski 2012a, 195  f.)

Mit der persönlichen Schuld als Ausgangspunkt des Hörspiels  – vor allem gegenüber der Mutter – überträgt Kempowski das Thema Schuld auch auf die nationale Ebene. Es wird dadurch deutlich, dass das Hörspiel ein Zahnrad in Kempowskis literarischer Verarbeitung der Naziherrschaft ist. Der schon erwähnte Roman Alles umsonst bietet solch einen über die Familiengeschichte hinausgehenden breiteren Kontext, dessen Thematik sich auch mit der des Hörspiels überschneidet. Im Roman wird ein vor den Russen fliehendes, nicht reuevolles deutsches Volk am Ende des Krieges 1945 geschildert, das zwar schlussendlich die Folgen seines Handelns erfährt, aber trotz der sicheren Todesgefahr sich nicht weigert, den Hitlergruß zu machen. Dieses als stur geschilderte Volk im Roman wäre zu vergleichen mit den ‚bunten Menschen‘ im Hörspiel, die an den grausamen Folterszenen als Beobachter, Feiernde oder handelnde Personen teilnehmen – es ist das gleiche Volk, das den Opfern zuruft: „Ihr seid schuld!“ (Kempowski 1984b, o.  S.) Ein anderes Werk, das mit dem Hörspiel Alles umsonst unbedingt in Zusammenhang gebracht werden sollte, ist der 1992 erschienene Roman Mark und Bein, der übrigens ebenfalls von der Literaturwissenschaft als wichtiger Bestandteil von Kempowskis’ Gesamtwerk bisher weitgehend vernachlässigt wurde. Auch in diesem Roman findet man zahlreiche Bezüge zu dem Hörspiel. Behandelt werden zum Beispiel Themen wie deutsche Schuld, Flucht und Vertreibung, Vergewaltigungen durch russische Soldaten, Gräueltaten im Krieg, ein Besuch im Führerbunker Wolfsschanze, persönlicher Verlust usw. In dem Roman wird der Hauptfigur Jonathan Fabrizius auf einer Reise nach Polen immer bewusster, wie stark das Land noch von deutscher Kultur und deutscher Schuld geprägt ist. „Wer hat die Schuld“? ist eine wiederkehrende Frage an verschiedenen Punkten der Handlung. Eine der ergreifendsten Passagen im Roman findet sich, nachdem Jonathan die Stelle besucht hat, an der seine Mutter bei seiner Geburt „draufgegangen“ (Kempowski 1992, 21) ist. In der folgenden Szene ist er wegen des Todes seiner Mutter von Gefühlen völlig überwältigt, was in ihm auch ein Bild des Vaters erweckt:

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2 Werk

[Jonathan] fasste sich am Kopf und konnte sich gerade noch ins Auto retten, einen jungen Leutnant in Reithosen sah er vor sich, einen ‚Deutsche-Wehrmacht-Leutnant‘, mit silbernem Verwundetenabzeichen. Er sah ihn am Strand der Nehrung stehen, mit dem Feldstecher die See absuchen – ‚Wann kommen sie uns holen?‘ – und hinter ihm klapperten die Flüchtlingstrecks von Osten nach Westen und von Westen nach Osten. Jonathan schlug mit der Faust auf die Lehne, und es hämmerte in seinem Gehirn: Alles umsonst! ALLES UMSONST! Und er meinte damit nicht den Tod seiner Mutter und nicht den des Vaters, der ‚ins Gras hatte beißen müssen‘, nicht die Schlafcouchen, die sein Onkel fabrizierte, sondern die Qual der Kreatur, das an den Pfahl gehenkte Fleisch, das Kalb, das er gesehen hatte, gefesselt und geknebelt, den Verschlag in der Marienburg zur Marter vorbereitet, den schlurfenden Zug der Menschen unter einem verdammenden Himmel. Es ist alles umsonst! dachte er immer und immer wieder. Und: Wer hat die Schuld? (Kempowski 1992, 203  f., Hervorhebung im Original)

Man sieht an diesen wenigen Beispielen, wie sehr das Hörspiel Alles umsonst thematisch in das Gesamtwerk Kempowskis integriert ist. Im Hörspiel ist jedes Detail scharf konturiert, aber dies verschafft dem Hörer trotz allem keinen klaren Überblick über die Umgebung des Sohns, seine Lage oder darüber wie er dorthin gekommen ist. Auch über sein mutmaßliches Verbrechen erfährt man nichts. In dem Werkstattgespräch mit Horst Vollmer über das Hörspiel meint Kempowski, die „rosa Sicht“ des Sohnes sei eine Art Schutz vor der Wahrheit und vor der Golem-Welt, in der er sich befindet und die er anscheinend nicht verstehen kann; ähnele der Simplicissimus-Naivität mitten in der extremsten Gefahr. Diese Verfremdung sei aus der Not heraus entstanden und beschütze ihn vor der Wahrheit seines Schicksals. Die Briefe der Mutter berichten von der ihm bevorstehenden Gefahr, aber weil er die Briefe nicht erhalte, bleibe er vor der Wahrheit geschützt. Seine Albtraumgeschichte sei trotzdem die sublimierte Strafe, die er sich selbst erteilt. In dem Gespräch erklärt Kempowski weiter, dass seine Mutter ihm die Haftzeit nie vorgeworfen habe. Ohne ein Wort habe sie ihm alles verziehen, deshalb, so behauptet er, „konstruiere [ich] Schimpfe, um mich nicht mehr bedanken zu müssen.“ (ARD Hörspieldatenbank o.  J.) Laut Kempowski ist das Hörspiel also eine Art Selbstgeißelung. Es wäre aber auch eine Parallele zu ziehen zwischen dem nichts ahnen könnenden oder wollenden, naiven Sohn im Hörspiel, der zu Boden schaut, wenn der Meister auftritt, mit denjenigen Deutschen, die im Zweiten Weltkrieg lieber zu Boden schauten, um nichts wissen zu müssen, oder  – noch schlimmer – grölend dem Unrecht und Schrecken zusahen. Im Hörspiel haben die Handlungen des Sohnes Folgen, seine Naivität im Sinne eines Parzivals oder Simplicissimus’ ist keine Entschuldigung für Übeltaten. In dem Hörspiel gibt es deutliche Hinweise auf die Art und Weise, wie Kempowski langsam aber sicher seine tiefsitzenden persönlichen Verletzungen und seine Schuld literarisch aufarbeitet, bis er sich im Anschluss den Verbrechen der Deutschen zuwendet. Die totalitäre Gesellschaft, die beide Charaktere im Hörspiel schildern, erinnert an die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten. Bezeichnend ist auch, dass die Schrecken sich vor den Augen der durchschnittlichen Menschen abspielen, die in „sauberen Dörfern“ leben und sich

2.8 Hörspiele225

fein anziehen, um sich die „verdienten“ Bestrafungen der Tier-Menschen anzusehen. (Kempowski 1984, o.  S.) Alles umsonst  – diese Worte werden bei Kempowski als Titel für zwei Werke verwendet und erscheinen sowohl in den Tagebüchern als auch in verschiedenen anderen Teilen seines Gesamtwerks. Es ist kein Zufall, dass die Wendung für Kempowski besondere Bedeutung hat, wie folgende Äußerung von ihm selbst beweist. In dem Werkstattgespräch mit dem Regisseur des Hörspiels erläutert er, dass ihm Alles umsonst als Titel für das Hörspiel damals eigentlich zu kostbar gewesen sei, er wollte ihn lieber für ein späteres, wichtigeres Werk aufbewahren. (ARD Hörspieldatenbank o.  J.) Ob mit dem 2006 erschienenen Roman Alles umsonst das ‚spätere, wichtigere‘ Werk gemeint war, oder ob Kempowski ihn lieber für einen Roman wie Mark und Bein hatte aufbewahren wollen, bleibt ungewiss. Allerdings muss man sich fragen, was Kempowski durch die häufige Wiederholung der Wendung „Alles umsonst“ in seinem Gesamtwerk eigentlich beabsichtigte. Eben dieser Frage geht Kai Sina in Sühnewerk und Opferleben. Kunstreligion bei Walter Kempowski (2012) nach, in dem er „Alles umsonst“ als Schlüsselwort des Gesamtwerks Kempowskis überzeugend herausarbeitet. Sina findet den Ursprung der Formel in Martin Luthers Kirchenlied „Aus tiefer Not schrei ich zu Dir“ (vgl. Sina 2012, 253). Die Studie fußt auf der Prämisse, dass die Religion eine zentrale Rolle in Kempowskis Gesamtwerk spielt. Die von Kempowski immer wieder verwendete Formel „Alles umsonst“ erinnere daran, dass das, was Kempowski durch sein literarisches Tun zu erreichen versuchte  – nämlich die literarische Verarbeitung der deutschen Geschichte  –, letztlich unmöglich ist. Die Formel bringe das ironische Verhältnis von Anspruch und Möglichkeit der Kunst und des Künstlers auf den Punkt (vgl. Sina 2012, 252). Ausgangspunkt für Sinas These ist eine 2003 von Kempowski gezeichnete Skizze des Gesamtwerks, auf der die verschiedenen Werk-Gruppierungen in der Form eines Kreuzes angeordnet sind. Unter der kreuzförmigen Abbildung steht die von Kempowski geschriebene Bezeichnung „Improperien“ (vgl. Sina 2012, 12). Sina sieht darin einen Beweis einerseits dafür, dass Kempowski sein Werk auf die Religion bezieht, und andererseits dafür, „dass dem Werk als liturgischem Text offenbar eine religiöse Funktion zugewiesen wird.“ (Sina 2012, 13) Sina fährt fort: Diese beiden Beobachtungen  – einerseits die Bezugnahme der Literatur auf die Religion und andererseits eine damit verbundene Funktionalisierung der Literatur im Sinne der Religion – deuten in ihrem Zusammenspiel auf einen kunstreligiösen Modus des Gesamtentwurfs. Anders gesagt: Der Autor versteht sein Kunstwerk als Liturgie – und damit als religiöse Praxis. (Sina 2012, 13, Hervorhebung im Original)

Was die Nachwirkungen der nicht bewältigten deutschen Vergangenheit für das deutsche Volk betrifft, weist Sina auf Kempowskis Übereinstimmung mit der Mitscherlich-Studie von1967 hin, in der aus psychoanalytischer Perspektive zu zeigen versucht wurde, inwiefern die NS-Vergangenheit in WestDeutschland verdrängt und unaufgearbeitet blieb (vgl. Mitscherlich und Mit-

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2 Werk

scherlich 1967). Interessanterweise hat Kempowski – was seine Auffassung in noch engeren Zusammenhang mit den Ergebnissen der Mitscherlichs stellt – in seinem Hörspiel Haben Sie Hitler gesehen? (vgl. Kempowski 1973c) ganze Passagen der Studie wörtlich zitiert. Kempowski sei sich, so Sina, mit den Mitscherlichs einig, dass es unmöglich sei, Krieg und Massenmord zu bewältigen. Doch was die Gedenkveranstaltungen und das Gedenken an die Gefallenen und Ermordeten betreffe, kündige Kempowski die Übereinstimmung mit den Mitscherlichs in dem entscheidenden Punkt auf, dass ein „gottloses Gedenken“ (Kempowski 1990a, 471; vgl. auch Sina 2012, 14) per se sinnlos sei. Sina zitiert in diesem Zusammenhang Kempowskis Tagebucheintrag vom 6. Oktober 1983, in dem er sich zum Thema Gedenkveranstaltungen äußert: „Nun werden wir Zeuge von kitschigen Mahnminuten“ (Kempowski 1990a, 471). Sechs Jahre später schreibt Kempowski folgenden Kommentar nieder: „Tragisch ist es, daß […] die Deutschen ihre Bindung zu Gott, diesem trigonometrischen Punkt, verlieren, der allein helfen könnte beim Bewältigen des nicht zu Bewältigenden“ (Kempowski 2001b, 498; vgl. auch Sina 2012, 14). Diesbezüglich sei Kempowskis „Alles umsonst“, so Sina weiter, eine „beharrlich verwendete Formel, die alle Heilungshoffnungen und -bestrebungen der Welt durch die Kunst unterläuft.“ (Sina 2012, 14) Kempowski versuche dadurch zu sagen, dass nicht der heilige Künstler, sondern allein Gott den Sündern Erbarmen verheiße. Deswegen geraten beide in eine unauflösbare Spannung zueinander: Es ist alles umsonst (vgl. Sina 2012, 33).

2.8.8 Der Krieg geht zu Ende – Chronik für Stimmen – Januar bis Mai 1945 Carla Damiano 1 Inhaltsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 2 Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229

1 Inhaltsüberblick Der Hörtext ist eine Litanei der Verdammten. Am schaurigsten klingt sie in jenen Passagen, in denen dem Schrecken des Kriegsalltags Momente von geradezu grotesker Behaglichkeit abgetrotzt werden: ‚Ein Mädchen und ein Gläschen Wein kurieren alle Not, und wenn du nicht mehr küsst und trinkst, dann bist du morgen tot.‘ Rundherum in diesem Frühjahr ’45: Leichenberge, zerstörte Städte, Menschen auf der Flucht. (Plöschberger 2005b, o.  S.)

Der Krieg geht zu Ende (vgl. 1995b) in der Bearbeitung von Walter Adler wurde Kempowskis letztes Hörspiel. Es ist eine Zeitmontage aus Stimmen, die aus Tagebucheintragungen, Briefen und sonstigen Hinterlassenschaften zitieren, die Kempowski über Jahrzehnte gesammelt hat und die seit 2007 im Wal-

2.8 Hörspiele227

ter-Kempowski-Archiv der Akademie der Künste in Berlin aufbewahrt werden. Durch die 125 Sprecher und Sprecherinnen der 1100 Figuren (vgl. Adler 2016) wird der Zuhörer in die letzten Monate des Zweiten Weltkriegs versetzt. Der Hörspielregisseur Walter Adler beschreibt den Herstellungsprozess: Zusammen mit dem Dramaturg Manfred Hess bin ich nach Nartum gefahren und habe von Walter Kempowski erbeten, sein Archiv sozusagen ‚plündern‘ zu dürfen. Das hat er genehmigt. Wir haben damals 16 komplette Leitzordner [plus Tagebücher in Buch- und Heftform] kopiert und mitgenommen. Ich habe das gesamte Material gelesen und entschieden, was wir aufnehmen. […] Wichtig war mir, dass wir viel mehr Material aufnehmen, als wir senden konnten. Ich wollte, dass die Schauspieler nicht wissen, was gesendet wird, damit nicht alles gleichermaßen ‚wichtig‘ gesprochen wird. […] Ich bin mit dem Assistenten Christoph Müller durch Deutschland gefahren, und habe mit einem mobilen Aufnahmegerät von 125 Schauspielern [in Berlin, Hamburg, Köln, München und Frankfurt] die Texte lesen lassen. Anschliessend [sic] haben wir über viele Monate in Frankfurt im Sender das aufgenommene Material noch einmal gesichtet und zu der am Ende gesendeten Fassung montiert. (Adler 2016, o.  S.)

Der Anlass des Hörspiels war der 50. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs. Das Projekt wurde initiiert von Christoph Buggert, dem damaligen Leiter der Hörspielabteilung des Hessischen Rundfunks, und Walter Adler übernahm die Produktion und führte Regie. In Der Krieg geht zu Ende kommen vor allem anonyme Zeitgenossen zu Wort, welche über die letzten fünf Monate des Zweiten Weltkriegs von ihren persönlichen Erlebnissen Zeugnis ablegen – ein Verfahren, das aus Echolot bekannt ist. In der Tat sind die Stimmen eine Auswahl derer, die auch im Echolot nachzulesen sind, sie berichten von allen Kriegsfronten. Der Rezensent Wolfgang Schneider bezeichnet in diesem Zusammenhang das Zitat „Tod und Elend, wohin man blickt und hört“ (Kempowski 1995b, o.  S.) als Leitmotiv des Stücks, was auch an Andreas Gryphius’ Schilderungen der Sinnlosigkeit und grauenhaften Folgen des Dreißigjährigen Kriegs erinnert: Deutschland ist ein Totenhaus. Die Städte liegen unter Bombenteppichen, auf Todesmärschen sterben noch Tausende von KZ-Häftlingen. Die desorganisierten Kolonnen der Wehrmacht und die endlosen Flüchtlingstrecks werden von Tieffliegern zusammengeschossen. In der Ostsee laufen überfüllte Flüchtlingsschiffe auf Minen. (Schneider 2015, o.  S.)

Doris Plöschberger ergänzt: „Stimme reiht sich an Stimme, und die gut neunstündige Rede suggeriert den Eindruck einer Endlosschleife von Leid und Schuld.“ (Plöschberger 2005b, o.  S.) Diese Wiederholungen treten im Laufe des Hörspiels immer stärker in den Vordergrund: Weil die Sprecher zum größten Teil nicht identifizierbar sind und das Material des Hörspiels nicht tagebuchartig nach dem Datum geordnet ist, scheinen sich die Stimmen in einem nicht enden wollenden Albtraum zu befinden. Selbst die Zeit kann nur als ‚irgendwann‘ gegen Ende des Zweiten Weltkriegs eingegrenzt werden.

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2 Werk

Die inhaltliche Bandbreite des Erzählten reicht vom Unmenschlichsten auf der einen Seite bis hin zu Banalitäten des Alltags auf der anderen Seite. Dabei weist das Erzählte auch keine klare thematische Abfolge auf. So werden am Anfang relativ häufig aus dem Auschwitz-Protokoll der polnischen Historikerin Danuta Czech die täglichen Zahlen der in Auschwitz Ermordeten zitiert. Dazwischen erzählt eine deutsche Mutter, wie sie ihre fünf Kinder eins nach dem anderen im eisigen Wasser der Ostsee verliert, nachdem ihr Flüchtlingsschiff von Treibbomben getroffen wurde. Es wird darüber hinaus von Kälte, Hunger, Lebensmittelknappheit und Plünderungen erzählt; eine Frau schildert, wie sie mehrfach vergewaltigt wurde. Häftlingstrecks, Todesmärsche und Brandbomben werden häufig erwähnt. Unterbrochen werden diese Passagen etwa vom Bericht einer Kinderstimme, dass die Schule ausfällt, oder von einer jungen Frau, die ein ‚ordentliches deutsches Mädel‘ bleiben und eine genauso glückliche Ehe führen möchte wie ihre Eltern. Dieser Mischung aus menschlichem Leid und Alltagsbelanglosigkeiten wird eine weitere Perspektive gegenübergestellt, wenn einerseits detailliert von pseudomedizinischen Experimenten mit Häftlingen in Auschwitz berichtet wird und andererseits – was im Hörspiel allerdings selten vorkommt – die Berliner Reichskanzlei mitteilt, das der Führer bei guter Gesundheit sei. Zum Mangel an räumlicher und zeitlicher Struktur passt auch, dass Ursache und Wirkung der historischen Geschehnisse im Hörspiel – ebenso wie im Echolot – nicht nacheinander chronologisch sortiert, sondern nebeneinander arrangiert auftreten. Die Zusammenarbeit zwischen Kempowski und Adler hatte eine Vorgeschichte: Man kann in dem Tagebuch Culpa nachweisen, dass Kempowski schon länger ein Hörspiel aus dem Echolot-Stoff geplant hatte. Bereits 1989 stand er mit dem Leiter der Hörspielabteilung des Hessischen Rundfunks, Christoph Buggert, in Kontakt (vgl. dazu Kempowski 2005a: die Einträge vom 11. Februar 1989, 14. Dezember 1991, 24. April1992 und 11. Juni 1992). Noch vor Erscheinen des ersten Echolot-Bandes im Herbst 1993 initiierte Christoph Buggert 1992 ein Projekt zum 50. Jahrestag der „Schlacht von Stalingrad“. Kempowski schreibt darüber am 24. April 1992 in Culpa: „Buggert ist interessiert daran, aus den ersten Januartagen ein Hörspiel über Stalingrad zu machen. Ich bot ihm das schon im Herbst an.“ (Kempowski 2005a, 23) Walter Adler nahm 1992 eine erste Auswahl von Texten aus Kempowskis Archiv vor, die zuerst nur die Zeitspanne zwischen Januar und Februar 1943 umfasste; also dieselben zwei Monate, die in Band 1 des Echolots (vgl. Kempowski 1993a) behandelt werden. Adler arrangierte die Texte zunächst zu einem Hörspiel mit dem Titel Stalingrad, das im Januar 1993 – noch vor dem Erscheinen von Echolot. Ein kollektives Tagebuch. Januar und Februar 1943 im November desselben Jahres – im Hessischen Rundfunk ausgestrahlt wurde. Im Februar 1993 wurde es von der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste als „Hörspiel des Monats“ ausgezeichnet (vgl. Deutsche Akademie der Darstellenden Künste 1993). Auf Wunsch Adlers wurde Der Krieg geht zu Ende wesentlich länger als Stalingrad. Das Hörspiel wurde am 7. Mai 1995 anlässlich des 50. Jahrestags des Kriegsendes als Co-Produktion

2.8 Hörspiele229

des Hessischen Rundfunks, des Bayerischen Rundfunks, des Südwestfunks und des Norddeutschen Rundfunks gesendet (vgl. Kesting 2014). Die an der Produktion beteiligten Dramaturgen der verschiedenen Sender koordinierten die simultanen Sendungen. Im Hessischen Rundfunk betrug die Sendezeit 16 Stunden, andere Sender hatten kürzere Sendezeiten reserviert (vgl. Adler 2016). Auch dem Hörspiel Der Krieg geht zu Ende wurde im Mai 1995 der Preis für das „Hörspiel des Monats“ von der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste verliehen (vgl. Deutsche Akademie der Darstellenden Künste 1995). Die Erlebnisse während dieses Co-Unternehmens sind zum Teil in Kempowskis Tagebuch Culpa nachzulesen, welches die Entstehung des Echolot – wozu auch das Hörspiel Der Krieg geht zu Ende im weitesten Sinne gehört – aus allen Blickwinkeln verfolgt (vgl. Kempowski 2005a). 2 Analyse Der Krieg geht zu Ende ist seit der ersten Ausstrahlung von der Kritik durchaus positiv aufgenommen worden. 2008 schreibt Gregor Schiegl anlässlich der Veröffentlichung des Stückes als Hörbuch: Kempowski hat den Blick geweitet – auf alle. Das ist beunruhigend, das ist empörend und möglicherweise die beste Möglichkeit, ein um Begreifen ringendes Erinnern zu bewahren. ‚Der Krieg geht zu Ende‘ ist ein erschütterndes Dokument, ein eindrucksvolles Kunstwerk und ein tönendes Stück Erinnerung und ein Plädoyer für die Menschlichkeit. (Schiegl 2008, o.  S.)

Zwar begegnet Schiegl dem Stück im Allgemeinen positiv, doch deutet er auf einige potenziell problematische Züge hin, zum Beispiel darauf, dass die neun Stunden Laufzeit der CD-Version „ein veritables Stück Arbeit“ (Schiegl 2008, o.  S.) für den Rezipienten erfordern. Er schränkt seine Meinung dann aber wieder ein mit der Feststellung, die Länge sei notwendig, denn sonst wäre Kempowskis Werk nur ein „weiteres Stück gut Gemeintes“ (Schiegl 2008, o.  S.) geworden. Auch weist Schiegl auf die Chronologie hin und meint, es werde so manches zusammengeführt, was nicht zusammenpasse, aber eben doch zusammengehöre. Als Beispiel zitiert er aus dem Hörspieltext: „Blumen wachsen im Krieg, und einfache Bürger freuen sich auf Frikadellen, während ein paar Kilometer weiter Juden vergast werden.“ (Schiegl 2008, o.  S.) Schiegl meint, dass die Auswahl und die Kombination der Texte  […] Spannungen und Gegensätze [erzeugen], oft absurd und erschütternd in ihren Brüchen. Diese virtuose Kunstfertigkeit ist es auch, die dieses Werk über ihre dokumentarische Natur erhebt und selbst zu einer literarischen Kunstform macht. (Schiegl 2008, o.  S.)

Doris Plöschberger sieht Der Krieg geht zu Ende ebenfalls eher positiv, nur besteht ihre Kritik – oder vielmehr ihre Frage – darin, ob Walter Adler das Stück hätte anders gestalten können, um Kempowskis „ursprüngliche Inten-

230

2 Werk

tion“ (Plöschberger 2005b, o.  S.) des Echolot-Materials erreichen zu können. Diese Intention fasst Kempowski selbst am 31. April 1991 in seinem Tagebuch Culpa folgendermaßen zusammen: „Man müßte, wenn alles fertig ist, die ganze Geschichte durch eine Art Reißwolf jagen, der nach ständig wechselnden Prinzipien die einzelnen Sätze austauschen würde. Das Ganze wäre dann zwar unlesbar, käme dem jedoch, was ich beabsichtigte, näher.“ (Kempowski 2005a, 173) Kempowskis Äußerungen knüpfen an die Metaphorik an, mit der sein Echolot-Vorhaben oft beschrieben wird: Es gehe ihm um einen „Chor der Stimmen“, ein „Gemurmel“, ein „Gewisper“, „ein babylonisches Gemurmel“ wie er es im oft zitierten Vorwort des ersten Bandes des Echolot ausdrückt (vgl. Kempowski 1993a, Bd. 1, 7). Adler hätte diese Bildhaftigkeit im Hörspiel verwirklichen können, so Plöschberger, wenn er „Überblendungen und Überlagerungen nicht nur auf die wenigen Passagen beschränkt [hätte], in denen deutsche Synchronsprecher gemeinsam mit englischen und russischen O-Tönen zu hören sind.“ (Plöschberger 2005b, o.  S.) Dafür hätte Adler aber ein „mutigeres Regiekonzept“ (Plöschberger 2005b, o.  S.) verfolgen müssen. Sowohl Plöschberger als auch Schiegl zitieren aus dem im Begleitheft des Hörbuchs abgedruckten Interview mit Kempowski, in dem er den Hörtext von Der Krieg geht zu Ende als eine Art buddhistisches Gebet kennzeichnet, das nicht gesprochen wird, „um für sich etwas zu haben, sondern um etwas zu bannen“ (Plöschberger 2005b, o.  S.). Hinter dem ‚Gebannten‘ stehen die alles entscheidenden Fragen Kempowskis, denen er zeit seines Lebens nachgegangen ist: Wie konnte der Krieg geführt und wie konnten all die Verbrechen begangen werden? Schiegl meint, „es wäre zu viel des Lobes zu behaupten, dieses gigantische Projekt gäbe eine Antwort auf die Frage nach dem Warum.“ Den „törichten Anspruch“, den Krieg zu erklären, habe Kempowski nie gehabt. Was Kempowskis ‚Gebanntes‘ liefern kann, so Schiegl weiter, ist „ein eindrucksvolles Kunstwerk und ein tönendes Stück Erinnerung und Plädoyer für die Menschlichkeit.“ (Schiegl 2008, o.  S.) Das breite Spektrum von Stimmen, das dem Leser aus Echolot bekannt ist, wird im Hörspiel überwiegend auf die Namenlosen der Geschichte reduziert: Zu hören sind mit Ausnahme weniger bekannter Persönlichkeiten aus Politik und Kultur die vielen unbekannten und bei keiner anderen Gelegenheit vernehmbaren Zeugen der Ereignisse zwischen Jahresbeginn und der Kapitulation am 8./9. Mai 1945: die Soldaten und Zivilisten, Täter und Opfer, Toten und Überlebenden, genau jene, deren Bericht und Erinnerungen auch im ‚Echolot‘ nachzulesen sind (vgl. Plöschberger 2005b, o.  S.).

In der Audioform jedoch werden dieselben Geschichten durch ihre Performanz „intensiver“ (Plöschberger 2005b, o.  S.) als die in gedruckter Form erschienenen (vgl. auch Damiano 2014). Durch das Vorlesen und die Verkörperung durch menschliche Stimmen erscheint das Erzählte nicht mehr wie verblasste Bilder aus einer fernen Zeit und von einem fernen Ort, sondern durch die auditive Wiederbelebung wirken die Geschichten wie im Hier und Jetzt verankert. Gregor Schiegl meint, die Stimmen „bedrängen den Hörer, flehend,

2.8 Hörspiele231

wo es keine Rettung gibt, schneidig, wo die Nerven flattern. Da ist nichts sprachlich korrigiert, moralisch frisiert, appetitlich arrangiert.“ (Schiegl 2008, o.  S.) Obwohl das Dramatische in Kempowskis Hörspiel nicht durch Musik oder sonstige Geräusche verstärkt wird, sorgen die nüchternen, gedämpften Stimmen für „chronologisch geordnete Konfusion: hier Hoffnung, da Verzweiflung, manchmal auch beides“ (Schiegl 2008, o.  S.). Schiegl nennt das Unspektakuläre ein „Drama ohne Theatralik, doch mit sublimer Dramatik.“ (Schiegl 2008, o.  S.) Diese Dramatik wird durch das Nebeneinander der Stimmen erzeugt. Das Hörspiel Der Krieg geht zu Ende passt zu Kempowskis lebenslangem Bemühen, den Namenlosen der Geschichte ein Forum zu schaffen, auf dem sie eine Stimme erhalten. Was den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust betrifft, ist es für Kempowski umso wichtiger, diese sonst verlorenen Geschichten und Empfindungen aufzubewahren. Die Wirkung ist jedoch eine völlig andere, als wenn die Geschichtswissenschaft sich der Erinnerungen angenommen hätte: „Geschichtsschreibung erzählt auch das Grässliche im geordneten Rückblick. In diesem grandiosen Hörspiel dagegen ist das ‚gurgelnde Chaos‘ des Jahres nachzuempfinden. Geschichte als Mahlwerk der Individuen“ (Schneider 2015, o.  S.). Die anonymen Zeitzeugen in diesem Hörspiel sowie im Echolot und seinem Archiv sollten die Gelegenheit haben, zu Wort zu kommen, um ihre Geschichten erzählen zu können, die aus vielen alltäglichen Einzelheiten entstehen. Kempowski nannte solche Geschichten „Plankton“ (Hempel 2005, 33), was seine ehemalige Mitarbeiterin Simone Neteler ganz in Kempowskis Sinne im Vorwort zum gleichnamigen Werk wie folgt definiert: Plankton ist mit dem bloßen Auge kaum sichtbar. Und doch verbirgt sich hinter diesem griechischen Wort eine äußerst artenreiche Lebenswelt unter Wasser. […] Walter Kempowski wählte den Titel ‚Plankton‘ […] aus Überzeugung. Versammelt hier sind ‚Erinnerungskristalle‘ von Menschen, die der Autor im Laufe von nahezu 50 Jahren bis zu seinem Tod 2007 befragen konnte nach Kindheitserlebnissen, nach Erinnerungen an die Eltern, die Großeltern, nach Kriegserfahrungen, Nachkriegszeit, Wiederaufbau und Mauerfall […]. Diese Interviews nannte Walter Kempowski ‚Plankton fischen‘ und meinte damit nichts Anderes, als Erinnerungsbilder im Gespräch abzufragen und wie literarisches Strandgut aufzusammeln. (Neteler 2014b, 5)

Der Krieg geht zu Ende besteht aus solchem „Strandgut“. Kempowski hat die Geschichten aus dem Gedächtnis seiner Zeitgenossen herausgefischt oder aber im wahrsten Sinne des Wortes aufgelesen und in seinem Archiv und seinen literarischen Werken für die Nachwelt festgehalten.

3  Systematische Aspekte

3.1 Archiv Maren Horn, Christina Möller, Sabine Wolf 1  Wurzeln und Ursprünge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2  Biographischer Anlass . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Archivar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4  Das Walter-Kempowski-Archiv der Akademie der Künste, Berlin

. . . .

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„Ich will Archiv werden“ (Kempowski 1990a, 159) – als Zehnjähriger habe Walter Kempowski diesen Berufswunsch geäußert, so überliefert er es selbst. Da war ich etwa zehn Jahre alt, und mein Vater stand mit mir vor der Universität und begrüßte einen Regimentskameraden. Der war es, der mich fragte, was ich werden wolle. Und da sagte ich das eben. […] Büromaterialien haben mich immer fasziniert. Ein sauber angespitzter Bleistift, ein Füllfederhalter mit goldener Feder, Ordner, Vorordner, Notizbücher jeder Art und Karteien. (Hage 2009a, 96)

Der hier aufscheinende Archivbegriff umfasst in seiner elliptischen Verkürzung gleich zwei Teilbedeutungen: Zum einen wird als Archiv im Allgemeinen eine Einrichtung zur Aufbewahrung von Archivgut bezeichnet, deren vorrangige Aufgabe in der Sicherung, Erschließung, Bewahrung und Bereitstellung der archivierten Unterlagen für die öffentliche Nutzung besteht. Zum anderen kann unter einem Archiv im engeren Sinne die Gesamtheit von archivierten Unterlagen einer juristischen oder einer natürlichen Person verstanden werden (vgl. Hanf und Wolf 1992). Walter Kempowski ‚wurde‘ Archiv, wurde zu einer Institution, die Zeugnisse des bürgerlichen Lebens der Deutschen im 20. Jahrhundert aufnahm, katalogisierte und die Materialien für eigene und fremde Forschungs- und Literarisierungsabsichten zur Verfügung stellte. Die Hinterlassenschaften seines Lebens, Schreibens, Sammelns und Archivierens werden institutionell an drei Hauptstandorten betreut: im Walter-KempowskiArchiv der Akademie der Künste, Berlin, im Kempowski-Archiv Rostock. Ein bürgerliches Haus e.V. sowie von der Kempowski-Stiftung Haus Kreienhoop, Nartum. 1  Wurzeln und Ursprünge Der für ein Kind recht ungewöhnliche Berufswunsch mag durch das großväterliche Reedereikontor mitgeprägt worden sein. In Frachtbriefen und der Buchhaltung der Rostocker Firma Otto Wiggers Schiffsmakler, seit 1903 im Besitz der Familie Kempowski, fing sich die Welt wie in einem Brennglas. Vorbildhafte Eindrücke gewann der Knabe jedoch sicher auch durch das Enga-

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3  Systematische Aspekte

gement seines Vaters Karl Kempowski und seines Lehrers Johannes Gosselck im Plattdeutschen Verein in Rostock. Angeregt durch den Volkskundler und Sprachforscher Richard Wossidlo, sammelten die Vereinsmitglieder kulturgeschichtliche Zeugnisse aus dem niederdeutschen Raum und richteten dafür ein Heimatmuseum ein. Gosselck, dem Walter Kempowski später in seinem Roman Tadellöser & Wolff (1971a) ein liebevolles Denkmal setzte, arbeitete darüber hinaus am Mecklenburgischen Wörterbuch von Wossidlo und Teuchert mit, einem Unternehmen, das nur auf der Basis eines riesigen Archivschatzes zustande gebracht werden konnte. Die Methode der Sammlung und Strukturierung erhobener Daten und Funde mittels Zetteln mag Kempowski daher von Kindheit an vertraut gewesen sein. Belegt ist, dass er bereits als Schüler Lektürelisten führte und gesehene Kinofilme auf Karteikarten verzeichnete (vgl. Hempel 2004, 38). 2  Biographischer Anlass Kempowskis Entwicklung zum Schriftsteller ging Hand in Hand mit dem Aufbau seines Archivs, ja war geradezu bedingt dadurch. Die Zäsur in seiner Biographie – die Inhaftierung von 1948 bis 1956 – und das damit verbundene Herausgeworfensein aus den bürgerlichen Lebenszusammenhängen und der familiären Geborgenheit prägten ihm eine Verlusterfahrung ein, die sein weiteres Leben bestimmte. Getrieben von der Absicht, Verlorenes wieder zu beschaffen oder zu rekonstruieren, begann er sein Werk. Dabei ging er zweigleisig vor. Zum einen versuchte er, die erreichbaren materiellen Quellen zusammenzutragen: Familiäre Erinnerungsstücke, Gegenstände, Briefe, Ahnentafeln u.  v.  a. stellten ihm Verwandte zur Verfügung, Spielzeuge, die er besessen, und Bücher, die in der Bibliothek seiner Eltern standen, kaufte er nach. Zum andern tat er die menschlichen Quellen durch systematische Befragungen auf: Ostern 1959 begann ich bei Kaffee, Kuchen und Zigaretten Mutters Erzählungen – sanft gelenkt – wie ein Wilder mitzuschmieren. Die Schmierzettel übertrug ich dann später in Göttingen auf Schreibmaschinenschrift. Später setzte ich dann das Tonbandgerät ein, wodurch es mir gelang, den größten Teil der eigentlichen Lebensbeschreibung wortwörtlich festzuhalten. (Kempowski 1960a, 1048)

Erinnerungen seiner Mutter, anderer Verwandter und Weggenossen an die länger zurückreichende und jüngste Familiengeschichte, an Krieg und Haft, füllten schließlich 20 Tonbänder und 39 Transkriptbände  – Quellen, die Walter Kempowski, vergleichbar mit den Wossidloschen Feldforschungen, selbst erhoben hatte. Sein Interesse für autobiographische Dokumente ging bald über die eigene Familiengeschichte hinaus: Damals ließ ich Verwandte und Bekannte aus ihrem Leben erzählen und sah ganze Stöße von Tagebüchern, Briefen und Akten durch. Was da zutage trat an erlebter Zeitgeschichte, war so individuell und ungewöhnlich, dass es mich geradezu süchtig machte. Schon bald begann ich also, ganz unabhängig von meinen Arbeiten, nach originären Selbstzeugnissen zu suchen. (Kempowski in Zacharias 1986, 269)

3.1 Archiv235

3 Archivar Bereits mit dem ‚Einfangen‘ familiärer Stimmen Ende der 1950er Jahre musste eine Systematisierung verbunden werden, in einer Weise, die assoziativen, springenden, ganz und gar subjektiven und unsystematischen Erinnerungsströme zusammenzustellen, zu strukturieren und zu archivieren. Walter Kempowski wählte den Zettelkasten, ein offenes und flexibles System, das sich für ihn als ideal erweisen sollte. Nach unterschiedlichsten Aspekten konnten Einfälle, Erlebnisse, Erzähltes, Daten und Fakten geordnet und zugänglich gemacht werden: nach Sukzession, chronologisch, geographisch, biographisch, thematisch, nach Sujets, Kategorien oder Projekten – alles war möglich, auch parallele Katalogisierungen, die mit Verweisen ineinander verschränkt wurden. Zum einen speicherte Kempowski in seinem „Zettel-Imperium“ (Lenz 1982, 118) eigene Gedanken und Gedanken-Bilder sowie originäre Zeugnisse, Aussagen, Sprüche etc.; zum andern bediente er sich des Zettelkastens als Verzeichnis von Materialien, deren inhaltliche Erschließung mittels Schlagworten etc. möglich war. Ist die erstgenannte Methode eine ins Künstlerische hineinreichende Form der Sammlung von Ideen, der Bändigung von Stoffen und der Materialisierung von Phantasie, so nähert sich Kempowski bei der zweitgenannten Arbeitsweise dem wissenschaftlichen Arbeiten an. Wie der Historiker oder Philologe seine Quellen verfügbar halten muss, so auch der spätere Echolot-Arrangeur Walter Kempowski. Seine selbstgewählte Mission, ein Archiv des deutschen Bürgertums aufzubauen, findet hier ihre methodische Entsprechung. Ohne seine Erschließung würde das Material lediglich einen undurchdringlichen, nicht nutzbaren Papier- und Fotographienberg darstellen. Ein Archiv seines Lebens legte Walter Kempowski konsequenterweise mit seinen Tagebüchern an. Parallel zum Lauf der Zeit hielt er regelmäßig Begebenheiten fest, Begegnungen, Aktivitäten, kurz: alles, was ihm widerfuhr und was ihn bewegte. Dem nachmaligen Leser eröffnen sich Lebens-, Gedanken- und Gefühlswelten des Schreibers, und er kann dessen Entwicklung zum Schriftsteller nachvollziehen (vgl. die Tagebücher Kempowski 1990a, 2001b, 2006b, 2008a sowie 2012a). Wie die angelegten Materialsammlungen zur Familien-, Alltags- und Gesellschaftsgeschichte das literarische Schaffen Kempowskis bedingten, so bildeten auch seine Tagebücher einen Kern seines Schreibens: „Ein Schriftsteller, der kein Tagebuch schreibt, ist irgendwie schief gewickelt, mit dem stimmt was nicht“ (Kempowski 1994e, 14). In den Aufzeichnungen aus den 1980er Jahren spielt der Aufbau des Biographien-Archivs eine große Rolle, bis sich schließlich das Echolot-Projekt aus dem Archiv herauskristallisierte (vgl. v.  a. Kempowski 2005a). An einer bedeutsamen Stelle in seinen fiktionalen Werken hat Walter Kempowski das ‚Archiv‘ aufgehoben. Gegen Ende des Romans Uns geht’s ja noch gold, als die Familie Kempowski sich nach dem Einmarsch der sowjetischen Besatzungsmacht in Rostock neu orientieren muss, die Entscheidung zum Gehen oder Bleiben auf Messers Schneide steht und die leichtsinnigen Aktionen der jugendlichen Hauptfigur eine Katastrophe anbahnen, da beginnt

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3  Systematische Aspekte

Bruder Robert „in alten Papieren zu kramen und die Chronik der Firma zu schreiben, fürs Archiv“ (Kempowski 1978d, 308). Der Verfasser hat hier eine Szenerie entworfen, in der zwischen Unordnung und Ungewissheit einzig die Rückbesinnung auf die Geschichte und deren Dokumentierung Halt zu geben versprechen. Zugleich bildet die Chronik für das Archiv ein Scharnier in die Zukunft und einen Ausblick auf das fruchtbare spätere Wirken des Verfassers. 4  Das Walter-Kempowski-Archiv der Akademie der Künste, Berlin „Ich selbst hätte das alles in Nartum nicht mehr regieren können.“ (Kempowski 2006h, o.  S.)

Zur Frage der späteren, dauerhaften Unterbringung seines Archivs äußerte sich Walter Kempowski im Januar 1980: „Als ich schon einige Bücher geschrieben hatte, und als sich das Archiv bedrohlich vergrößerte, tastete ich vorsichtig nach Interessenten, die sich dieses noch ungemünzten Schatzes annehmen könnten“ (Kempowski 1980e, o.  S.). Damals bezog sich die Überlegung des Schriftstellers nur auf das persönliche, d.  h. literarische Archiv. Die Gründung seines „Archivs der unpublizierten Autobiographien und Alltagsfotografien“ stand im selben Jahr erst noch bevor. In den sich anschließenden arbeitsintensiven Jahren als Schriftsteller, Pädagoge und Archivar wuchs der gesamte Bestand auf mehrere hundert Regalmeter an, so dass er ab 2000 in einem eigens errichteten Anbau des Hauses Kreienhoop, dem Nartumer Wohnhaus des Schriftstellers, beherbergt werden musste. Mit den eigenen und den erworbenen Unterlagen ging Kempowski äußerst sorgsam um. Indem er sie ordnete, verzeichnete und sachgemäß aufbewahrte, sorgte er für ihre Erhaltung und machte sie für sich und andere Nutzer handhabbar. Nach reiflichen Überlegungen zu einem geeigneten Standort für sein gesamtes Archiv bekundete Walter Kempowski am 25. Oktober 2005 auf einer Pressekonferenz die Absicht, seinen Vorlass der Akademie der Künste in Berlin zu übereignen. Schon 1996 vertraute er der Akademie sein literarisches Archiv als Depositum an und händigte dem Literaturarchiv sukzessive bis 2007 weitere Unterlagen aus. Aus Publikationsgründen in Nartum verbliebene Archivalien folgten 2010. Das Biographien- und Fotoarchiv gelangten Ende 2005/Anfang 2006 nach Berlin, wo es am 24. Januar 2006 zur Vertragsunterzeichnung über die Errichtung des Walter-Kempowski-Archivs kam. Der zuständigen Archivarin teilte der Schriftsteller bald darauf begeistert mit: „Haben Sie heute in der F.A.Z. gelesen: ‚Das sich rasant vermehrende Archiv der Akademie…‘ Das sind wir!“ (Kempowski 2006i, o.  S.; vgl. auch Kilb 2006) Mit dem etwa 600 laufende Meter umfassenden Nachlass steht „der Öffentlichkeit ein gigantischer Erfahrungsspeicher zur Erforschung von Kempowskis Werk, seines Lebens und der Geschichte der Deutschen zur Verfügung“ (Trautwein 2007, 9). Angesichts der Materialmenge scheint die Dreiteilung des Archivs in literarisches, Biographien- und Fotoarchiv gerechtfertigt. Streng

3.1 Archiv237

archivwissenschaftlich gesehen muss es jedoch als Einheit, d.  h. als ein aus Kempowskis Provenienz gespeistes Archiv betrachtet werden. Es entspricht der Grundstruktur literarischer Nachlässe, die im Wesentlichen folgende Gruppen enthalten: Werkmanuskripte, Arbeitsmaterial, Korrespondenz, biographische Unterlagen, Fotographien, Sammlungen und Erinnerungsstücke sowie audiovisuelles Material. Dem Arbeitsmaterial als Grundlage für literarische Projekte wird im Allgemeinen weniger Aufmerksamkeit geschenkt, als dies beim Kempowski-Archiv der Fall ist. Hier liegt die Besonderheit in dessen inhaltlicher und mengenmäßiger Dimension in Form biographischer Selbstzeugnisse Dritter. Sie dienten dem Schriftsteller als Materialfundus für eigene Werke und wurden durch die Jahrzehnte währende Sammeltätigkeit Kempowskis zu eigenständigen, zeithistorisch bedeutsamen Teil-Archiven. Die Unterscheidung nach Farben geht dabei zurück auf Walter Kempowskis mit Standort-Signaturen versehene farbige Etiketten, mit denen er die Ordner und Kartonagen kennzeichnete. Mit dem Tod Walter Kempowskis am 5. Oktober 2007 ist sein Archiv abgeschlossen, der Bestand definiert. Entscheidendes Bestandsbildungskriterium ist der Überlieferungszusammenhang mit seinem Leben und Schaffen. Daher werden Anfragen zur Übernahme von lebensgeschichtlichen Materialien Dritter von der Akademie der Künste nunmehr an andere, eher historisch sammelnde Archive weiterverwiesen. 4.1  Das literarische Archiv (auch „Grünes Archiv“) Das literarische Archiv Walter Kempowskis im Umfang von ca. 125 laufenden Metern spiegelt aufgrund seiner nahezu vollständigen Überlieferung alle Schaffensphasen des Autors wider – von der Beschäftigung mit der Familiengeschichte seit der Haftentlassung aus dem Zuchthaus Bautzen 1956, über die bis 1984 dauernde Arbeit an den Romanen und Befragungsbänden der Deutschen Chronik, an den Romanen der ‚Zweiten Chronik‘ und an den literarischen Tagebüchern 1988 bis 2007, an der zehn Bände umfassenden Echolot-Collage, deren letzter Band 2005 erschien, bis hin zur Beschäftigung mit dem multimedialen Projekt Ortslinien. Zum Archiv gehören die von Kempowski zur Rekonstruktion der Familiengeschichte gesammelten Dokumente, Fotographien, Briefe und Lebensberichte, aus denen etliche Materialien in Familienchroniken, u.  a. in die sogenannten Roten Bände, eingehen und als Fundament für die Romane der Deutschen Chronik dienen. In diesem Kontext stehen sowohl Materialsammlungen zur Heimatstadt Rostock als auch sorgfältig archivierte Unterlagen zur Gefängnishaft. Aus der Haft entlassen, beschäftigte sich Kempowski intensiv mit der Geschichte seiner Familie, sammelte Dokumente, Fotographien sowie Gegenstände, führte Interviews und legte ein erstes Familien-Archiv an. Er stellte die Familiengeschichte der Collasius, Hälssen, Kempowski, Nölting zusammen, die bis ins 16. Jahrhundert zurückreicht. Als er sie 1996 beendete, lagen fünf Bände mit mehr als 500 Seiten vor. Die Materialsammlung der sogenannten

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3  Systematische Aspekte

Roten Bände setzte er noch bis Anfang der siebziger Jahre fort. Sie umfasst heute 39 Bände mit insgesamt 2799 Seiten. Den Kernbestand bilden die Werkmanuskripte: Romanmanuskripte mit vorausgehenden Arbeitsmaterialien, Entwürfen, Skizzen und umfangreichen Zettelfassungen. Letztere existieren in geringer Zahl in Karteikästen, teilweise als Sammlung loser Blätter oder als kleinere, nummerierte Einheiten von gehefteten Seiten. Zumeist sind sie auf Schreibpapier aufgeklebt und in Ringordnern abgeheftet. Die eigentlichen Manuskriptfassungen mit mehreren Korrekturgängen werden durch Druckfahnen mit Korrekturen und Druckexemplare ergänzt, darunter Leseexemplare mit Anmerkungen des Autors. Erwähnenswert sind durchschossene Buchexemplare, d.  h. Erstausgaben, die Kempowski vom Buchbinder mit Leerseiten durchschießen ließ, um darauf Notizen zu Quellen, Entstehung und Zusammenhängen festzuhalten. Überliefert sind Vorarbeiten und Fassungen zu Im Block. Ein Haftbericht, vollständige Manuskripte zu Romanen der Deutschen Chronik und dazugehöriger Werke (Aus großer Zeit, Schöne Aussicht, Haben Sie Hitler gesehen?, Tadellöser & Wolff, Uns geht’s ja noch gold, Haben Sie davon gewußt?, Ein Kapitel für sich, Immer so durchgemogelt. Erinnerungen an unsere Schulzeit, Herzlich willkommen), Manuskripte zu den Romanen Hundstage, Heile Welt, Mark und Bein. Eine Episode, Letzte Grüße und Alles umsonst sowie Text- und Tonfassungen von Hörspielen und des Video-Protokolls Bloomsday ’97. ‚Kleinere Manuskripte‘ wie Aufsätze, Reden oder Vorträge sind in Vielzahl und meist in verschiedenen genetischen Stufen, von Zettelentwürfen bis hin zu Druckbelegen, vorhanden. Ferner enthält das Archiv die Manuskripte zu Kempowskis veröffentlichten Tagebüchern, in denen er detailliert über die jeweiligen Lebensabschnitte berichtet: Sirius. Eine Art Tagebuch, Alkor. Tagebuch 1989, Culpa. Notizen zum „Echolot“, Hamit. Tagebuch 1990, Somnia. Tagebuch 1991. Neben dem großen Prosawerk sind die wenigen lyrischen Arbeiten erwähnenswert, darunter die Sammlung Langmut, deren Gedichte – in den letzten Lebensjahren Kempowskis verfasst  – sich mit der Haftzeit in Bautzen befassen. Zu den etwa 19 laufenden Regalmetern mit Fassungen zum Echolot bemerkt Kempowski: „Die grotesken Manuskriptmassen. Das ist schon wundervoll“ (Kempowski 2005a, 316). In den Vorfassungen finden sich ursprüngliche Textgrundlagen, aus denen Kempowski die endgültige Auswahl filterte und anschließend collagierte. Einige Fassungen bezeichnete er als ‚Archivfassungen‘ und meinte damit die Zusammenstellung von Beiträgen aus seinem Biographienarchiv, die durch genaue Quellenangaben den Rückbezug auf die Selbstzeugnisse ermöglichen. Erhalten sind Fassungen zu Das Echolot. Ein kollektives Tagebuch, Das Echolot. Fuga furiosa. Ein kollektives Tagebuch Winter 1945, Das Echolot. Barbarossa ’41. Ein kollektives Tagebuch, Das Echolot. Abgesang ’45. Ein kollektives Tagebuch und Der rote Hahn. Dresden im Februar 1945.

3.1 Archiv239

Unterlagen zum multimedialen Ortslinien-Projekt sind ebenso vorhanden wie der dazugehörige Computer Walter Kempowskis, so dass auch die originäre digitale Fassung gesichert und damit für die Zukunft bewahrt wird. Den literarischen Bestand ergänzen Materialien aus dem pädagogischen Wirkungsbereich, u.  a. Arbeiten zur Lehrerprüfung, Schüleraufsätze, Unterrichtsvorbereitungen, Fibelentwürfe und -materialien sowie pädagogische Vorträge. In ebenso reicher Zahl finden sich Unterlagen zu den von Kempowski im Haus Kreienhoop veranstalteten 44 Literaturseminaren sowie zu diversen Sommerclubs und Schriftstellertreffen. Kempowski hinterlässt etwa 214 mit besonderer Sorgfalt geführte Tagebücher. Sie datieren ab August 1957. Zunächst verwendete er Hefte, später leinengebundene Bände. Ab den 1990er Jahren wurde ihm zunehmend zur Gewohnheit, vor den täglichen Eintragungen, an beliebigen Stellen der Leerseiten Abbildungen aus Zeitschriften einzukleben. Die unterschiedlichen Bildmotive stehen in keinem direkten Zusammenhang zu den später hinzugekommenen Aufzeichnungen. Biographische Unterlagen, eingeschlossen ein dokumentarisch wertvoller Fotobestand, sind wichtige Belege für Lebensumstände und -stationen des Autors, ebenso geschäftliche Unterlagen zu rechtlichen und finanziellen Angelegenheiten. Der Korrespondenzbestand vereint vor allem an den Autor gerichtete Briefe von Schriftstellerkollegen und anderen Persönlichkeiten, von Familienangehörigen, Bekannten und Lesern. Von Kempowski selbst verfasste Briefe liegen in geringerer Zahl vor. Wichtige Korrespondenzpartner sind Arnulf Baring, Horst Bienek, Wolf Biermann, Hark Bohm, Manfred Dierks, Jörg Drews, Eugen Egner, Eberhard Fechner, Hans J. Fröhlich, Ralph Giordano, Max Goldt, Durs Grünbein, Volker Hage, Ulla Hahn, Geno Hartlaub, Elke Heidenreich, Falko Hennig, Gerhard Henschel, Jo Jastram, Uwe Johnson, Bernd Kauffmann, Paul Kersten, Jürgen Kolbe, Lew Kopelew, Sarah Kirsch, Michael Krüger, Günter Kunert, Siegfried Lenz, Erich Loest, Hans Mayer, Klaus Modick, Adolf Muschg, Gerhard Neumann, Oskar Pastior, Elisabeth Plessen, Fritz J. Raddatz, Jan Philipp Reemtsma, Peter Rühmkorf, Ulrich Schacht, Heimo Schwilk, Benjamin von Stuckrad-Barre, Hans Jürgen Syberberg, Peter Turrini, Guntram Vesper und Dieter Wellershoff. Die literarische Entwicklung des Autors beleuchtet die institutionelle Korrespondenz, hierunter mit Redaktionen und Verlagen, wobei die Verlage Rowohlt, Carl Hanser und Albrecht Knaus hervorzuheben sind. Die Korrespondenz mit Einsendern von Selbstzeugnissen für das Biographien- und Fotoarchiv ist durch die Sammeltätigkeit des Schriftstellers erhalten und deshalb auch im literarischen Archiv verankert. Film- und Tonmitschnitte, die Aspekte der Rezeption vermitteln, auf die Biographie des Autors Bezug nehmen und dessen öffentliches Auftreten veranschaulichen, sind im Archiv vielfach vertreten, gleichfalls Materialsammlungen und Manuskripte anderer Urheber.

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3  Systematische Aspekte

Mit den ersten Materialien übergab Walter Kempowski 1996 dem Literaturarchiv der Akademie das von ihm bis 1989 angelegte ‚Verzeichnis meines persönlichen Archivs‘ mit 746 Positionen, dazu ein ergänzendes ‚Alphabetisches Verzeichnis‘. Diese Findmittel eröffneten sofort den Zugang und die Benutzung durch die interessierte Öffentlichkeit. Die seit damals in der Verantwortung des Literaturarchivs der Akademie stehende Übersicht wuchs bis heute auf über 1400 Einheiten an. Umfangreiche Materialgruppen, darunter Sammlungen publizistischer Texte, ein Kalenderprojekt, Unterlagen zur Familiengeschichte, Korrespondenz zum Biografienarchiv, Tage- und Notizbücher sowie Fotos (Porträts) sind mit etwa 2500 Verzeichnungseinheiten bereits in der Datenbank erfasst. Die Angaben zu audiovisuellen Medien, etwa 300 Einheiten, finden sich in der Datenbank des Medienarchivs. Eine bereits angelegte Sammlung zum Walter-Kempowski-Archiv vereint auf Leben und Werk bezogene Dokumente aus anderer Provenienz. Erwähnt sei, dass ursprünglich überlieferte Übersichtstafeln zu Werkzusammenhängen oder zur Genese einzelner Werke sowie museale Gegenstände – Erinnerungsstücke, die im Zusammenhang mit der Deutschen Chronik stehen – an das Rostocker Walter-Kempowski-Archiv. Ein bürgerliches Haus e.V. abgegeben wurden. 4.2 Das „Archiv der unpublizierten Autobiographien und Alltagsfotografien“ 4.2.1 Das „Archiv der unpublizierten Autobiographien“ (auch „Blaues Archiv“, „Biographienarchiv“, „Bioarchiv“) 1980 war ein in mehrfacher Hinsicht bedeutungsvolles Jahr für den 50jährigen Kempowski. Mit der Berufung zum Lehrbeauftragten für Fragen der Literaturproduktion an die Universität Oldenburg konnte er, nach dem Ausscheiden aus dem Schuldienst, seine Berufung zum Lehren und zur Schriftstellerei verbinden. Parallel zur beruflichen Veränderung erfuhr sein literarisches Schaffen eine neue Akzentuierung, die einherging mit der Gründung des „Archivs für unpublizierte Autobiographien und Alltagsfotografien“. (Vgl. Horn und Möller 2007/2008) Bereits am 14.  März 1978, so berichtet er später in Culpa. Notizen zum „Echolot“ (Kempowski 2005, 7), notierte Kempowski im Tagebuch: „Gedanke, ein Archiv für ungedruckte Biographien aufzumachen.“ Die Intention dafür ging zurück auf die Jahre des Neubeginns nach der Haft, auf die Bemühungen, individuelle und kollektive Geschichte zu rekonstruieren: [A]ls ich in Göttingen studierte, sah ich einen Haufen Fotos und Briefe auf der Straße liegen, die Menschen traten darauf: es war die letzte Hinterlassenschaft eines gefallenen Soldaten, Fotos aus Rußland und Briefe an seine Braut. Das gab mir einen Stich, und ich sammelte die Sachen ein. (Kempowski 1993a, Bd. 1, 7)

3.1 Archiv241

Kempowski gab Suchanzeigen in Zeitungen auf, streifte über Flohmärkte und warb bei Lesungen und Fernsehauftritten um Unterstützung seines Projekts. Der Schriftsteller wagte damit den Schritt von der werkbezogenen Sammlung von Arbeitsmaterial zum Aufbau eines Archivs, das sich durch den bewussten Verzicht auf jegliche inhaltliche Auswahlkriterien auszeichnete und so seinem Werk neue Impulse verlieh und zugleich ein nicht unbeträchtliches Maß an Arbeitszeit forderte. Bandbreite und Vielzahl des Materials, aus dem sich Kempowskis Biographien- und Fotoarchiv konstituiert, eröffnen einen Horizont individueller Erfahrungen vor dem Hintergrund geschichtlicher Ereignisse und spiegeln das „Leben und Leiden dieser sogenannten Normalmenschen“ (Kempowski o.  J. g, o.  S.) wider. Autoren dieser Dokumente sind Menschen aus allen sozialen Schichten. Von Einzelstücken abgesehen, erstreckt sich die Sammlung zeitlich auf das gesamte 19. und 20. Jahrhundert. Die beiden Weltkriege und deren Folgen, einschließlich Flucht und Vertreibung von Millionen, bilden den Schwerpunkt der Überlieferung; ein Panorama der Irrwege des vergangenen Jahrhunderts blättert sich auf. Umfang und Gestalt der über 8100 Materialsendungen -–385 laufende Meter variieren vom Einzelblatt über Briefkonvolute bis hin zu kompletten Nachlässen mit allen Papieren, Notizen und Fotographien, die sich im Laufe eines Lebens anhäufen. Dominierende Komplexe sind Tagebücher und Autobiographien, Briefe und als Sondergruppe Feldpostbriefe, persönliche Unterlagen mit Ausweisen, Urkunden, Testamente, Zeugnisse, Kalender, Notizbücher, Poesiealben sowie Unterlagen zur Familienforschung, zu Finanzen und zu juristischen Angelegenheiten. Die Papiere von Lehrern und Schülern  – darunter Klassenbücher, Schulchroniken und Festschriften – verweisen auf den mit Leib und Seele dem Lehrerberuf verpflichteten Schriftsteller. Sachthematische Konvolute zu Parteien, Organisationen, zu Kirchen, Religionsgemeinschaften, zu Kunst, Kultur und Sport sowie zur Alltagsgeschichte – z.  B. Warenhaus- und Spielzeugkataloge oder Stadt- und Firmengeschichten – sind ebenso Bestandteil wie über 2000 Bücher und Zeitschriften mit biographischen und historischen Inhalten. Mit welcher Sorgfalt, Hingabe und Ernsthaftigkeit Kempowski sich den eingesandten Schätzen widmet, veranschaulichen beispielhaft die häufig über Jahre geführte Korrespondenz mit den Einsendern sowie Kempowskis knappe handschriftliche Anmerkungen (bzw. die seiner Mitarbeiter) zu Inhalt und Qualität der Schriften: ‚[A]lles ganz schlicht geschrieben, gerade deshalb sehr eindringlich und anrührend‘, ‚alles interessant und detailreich geschrieben‘, ‚alles recht kurz und episodenhaft, schlecht datiert, Kern umfaßt offenbar die Jahre 1939/1940‘, ‚alles sehr offen und detailliert, ein außergewöhnlich dichtes Zeit- und Persönlichkeitsbild‘, ‚alles sehr traurig, aber auch etwas wirr‘, ‚alles ziemlich durcheinander und unlesbar‘, ‚Besonderheit‘, ‚die Einsenderin war 1941 14 Jahre alt, ihre Schwester 16‘, ‚Die Geschichte ist romanhaft, nicht alles ist wahr, einiges fiktiv‘. (Kempowski o.  J. h, o.  S.)

Verknüpft sind die Vermerke oft mit Hinweisen zur Eignung für Echolot – abgekürzt mit E  –: „Amüsant geschrieben! Nicht für E 2, evtl. ’44“, „E 2

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3  Systematische Aspekte

eingegeben Dez. 95“, „E 2 erl.“, „Bei Verwendung Namen ändern“, „E 2 erl., diese Einsendungen enthalten manche Kostbarkeiten“ oder „Echo 2, Rest angefordert“ (Kempowski o.  J. h, o.  S.). Biographien- und Fotoarchiv sind eng miteinander verflochten. Fotoalben werden im Sinne Kempowskis als gestaltete Biographien, Einzelfotos als Speicher einer Art „Volks-Bio“ (Kempowski 1988b, o.  S.) erkennbar. Als Findmittel bei Recherchen dient u.  a. eine Kartei, die eine Kombination aus Namens-, Orts-, Einsender- und Schlagwortindex ist. Sie führt den Benutzer nicht nur zum Ziel einer konkreten Recherche, sie eröffnet ihm über mögliche Um- und Abwege neue Sichten und provoziert weiterführende Fragen. Die Schlagworte, die auch historische Ereignisse verzeichnen, sind Abbild des speziellen Interesses des Autors Kempowski an seinem Arbeitsmaterial in verschiedenen Schaffensperioden. Diese sind oft auch unorthodoxe Begriffe wie „Alpenklub“, „Bärenfell“, „Entjungferung“, „Fliegende Blätter“, „Gefahren (des Alltags)“, „Gehorsam (beim Militär)“, „Kinderkriegen“, „Nackedei“, „Odol“, „Schlange stehen“, „Spuren suchen“. Sie erlauben, mit Kempowskis Blick auf die „Muster“ zu schauen, „die sich aus den Lebenslinien bilden und [sich] sonderbarerweise großartig zusammenfügen“ (Kempowski 2006b, 46). In der Akademie der Künste wurde der Zettelkatalog in eine Datenbank überführt, so dass neben dem konventionellen und authentischen, von Walter Kempowski erarbeiteten Findmittel nunmehr auch die Vorteile elektronischer Recherche und Vernetzung zum Tragen kommen. Öffentliche Archive bieten solchen Alltagszeugnissen naturgemäß nur in Ausnahmefällen Raum, obwohl insbesondere für Historiker, Volkskundler, Soziologen, Psychologen, Philosophen sowie Erziehungs- und Literaturwissenschaftler derartige Quellen wertvolle Ergänzung und Korrektiv sein können gegenüber der allgemeinen Geschichtsschreibung in ihrer Tendenz zur Abstrahierung von vielfach namenlos bleibenden Einzelschicksalen. Walter Kempowskis universal angelegte Sammlung befördert nachhaltig den Versuch, ein vollständigeres Bild des Vergangenen zu beschreiben, sie verkleinert die Lücke in der hierzu notwendigen Materialbasis. Kempowskis Erfahrungen mit den Dokumenten individuellen Lebens können jedem aufgeklärten Bürger in der heutigen, bis zum Bersten mit Informationen gefüllten Gesellschaft Anregung sein, sich mit der „Geschichte von unten“ (Kempowski o.  J. n, o.  S.) zu beschäftigen: [A]ls Leser dieser Biografien reagiere ich genauso, wie ich hoffe, daß es die Leser meiner Romane tun: ich freue mich, wenn ich auf genaue Reproduktionen von Wirklichkeit stoße. Sie läßt mich die Zeit geradezu schmecken. Und es ärgert mich, wenn der anonyme Schreiber mir die Fakten vorenthält […]. In der erzählenden Prosa, und um so etwas handelt es sich bei Biografien, will man nicht belehrt sein. (Kempowski o.  J. n, o.  S.)

Kempowski war nicht nur eifriger Sammler und Leser von biographischem Material, er regte auch die Publikation einer „Bio-Reihe“ (Kempowski 2005a, 89) an, für die er aus dem Biographienarchiv Lebenserinnerungen auswählte.

3.1 Archiv243

Durch deren Veröffentlichung bleiben sie nicht mehr lediglich Arbeitsmaterial des Schriftstellers, sondern sind nunmehr als selbständige literarische Werke einem breiten Publikum zugänglich. Als „Obergaden“ (Kempowski 2001b, 297) – Fenster, Durchbrüche in der Fassade – bezeichnet Kempowski diese Bücher im Gesamtgebäude seines Werks (vgl. z.  B. Zacharias 1986; Matheny 1988 u.  a.). Mit ihnen schafft er – den Blick stets auf sein Gesamtwerk gerichtet – eine Verbindungslinie zu den Romanen der Deutschen Chronik, denn „bei aller Individualität“ haben die Lebenserinnerungen „exemplarischen Charakter“ (Kempowski 2005a, 90) und flankieren damit zeitgeschichtlich die Deutsche Chronik. Die historische, lebensgeschichtliche Sammlung Kempowskis ist ein untrennbarer Teil seines Archivs und damit Teil seines literarischen Nachlasses. Er hat die ihm dargebrachten Schicksale aufgenommen und daraus für seine Romane sowie für die dokumentarischen Collagen geschöpft. 4.2.2 „Archiv der Alltagsfotografien“ (auch „Gelbes Archiv“, „Fotoarchiv“) Seit 1980 bat Walter Kempowski in Zeitungsinseraten nicht nur um Zusendung von Tagebüchern, Briefen oder Autobiographien sondern auch um Überlassung von Fotos, so z.  B. „Privatfotos 1900–1950 (Familie, Urlaub, Arbeit Porträts …) […]“ (Kempowski 1980g) Die positive Resonanz führte zum stetigen Anwachsen der Fotosammlung, vor allem durch Einsendungen, die Kempowski vorwiegend aus der Bundesrepublik Deutschland erreichten. Erst nach der politischen Wende 1989 gelangten Konvolute aus der ehemaligen DDR zu ihm. Ergänzend zu den Einsendungen erwarb Kempowski Fotos auf Auktionen und Flohmärkten. Mit personeller Unterstützung katalogisierte er systematisch die zahlreichen Einsendungen, erfasste Hintergrundinformationen in eigens entworfenen Formularen und erledigte anfallende Korrespondenz. Das Fotoarchiv umfasst weit über 300 000 fotographische Objekte, die einerseits eigenständige Informationsträger, andererseits kongeniale Ergänzung zum Biographienarchiv sind. Im Archiv der Akademie der Künste füllt das Fotoarchiv 90 Regalmeter mit 1415 Fotoalben, 724 teils sehr umfangreichen Konvoluten mit fotographischen Abzügen und diversen Dia-, Negativund Glasplattennegativsammlungen sowie Sammlungen von Ansichtskarten. Ergänzt wird der Bestand durch Tagebücher, Briefe, persönliche Unterlagen und Publikationen zur Fotographie. Die ältesten Fotographien des Bestandes datieren 1850. Im Wesentlichen spiegelt das Fotoarchiv die Epochen Deutsches Kaiserreich seit den 1870er Jahren, Erster Weltkrieg, Weimarer Republik, Nationalsozialismus, Zweiter Weltkrieg, Nachkriegszeit mit Gründung beider deutscher Staaten und Vereintes Deutschland ab 1990 wider. Die größte Überlieferungsdichte besteht für den Zeitraum von etwa 1900 bis 1945. Auf Grund unterschiedlicher Provenienzen der Fotographien ergibt sich für die Sammlung eine breite Vielfalt von

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3  Systematische Aspekte

Themen und Perspektiven. Schwerpunkte sind Porträts und Gruppenfotos von Personen, Abbildungen vom Kriegsgeschehen, vom gesellschaft­lichen Leben und von Alltag, Verkehr und Technik, Natur, Städten und Landschaften. Regional beziehen sich die Abbildungen vor allem auf Deutschland innerhalb der jeweiligen historischen Grenzen, wobei Aufnahmen aus Norddeutschland mit Nord- und Ostseeküste und aus dem süddeutschen Raum mit Ober- und Niederbayern besonders häufig vertreten sind. Private Aufnahmen vom Kriegsgeschehen beider Weltkriege lassen sich entsprechenden Regionen Europas zuordnen. Beliebte Urlaubsziele der Deutschen finden ihren Niederschlag in zahlreichen Fotos aus Österreich, Schweiz, Italien und Spanien; mit Zunahme der Fernreisen auch Fotos aus Südamerika, dem Orient und Südostasien. Die Alltagsaufnahmen repräsentieren meist die sogenannte Mittelschicht bei weltlichen und kirchlichen Festen, Familienfeiern, Jubiläen, Ausflügen etc. Die Überlieferung von Fotographien aus dem Arbeitskontext ist eher rar: „Unter den vielen Fotos meines Archivs finden sich nur wenige aus den Fabrikhallen. Sowas wurde nicht fotografiert. Die schmutzigen Finger klebt man sich nicht gern ins Album.“ (Kempowski 1980c, 36) Den Kernbereich des Archivs bilden die von Walter Kempowski thematisch und chronologisch angelegten Sammlungen, die seinen speziellen Interessen entsprechen. Aus Alben und Konvoluten fotographischer Abzüge wählte er etwa 11500 Fotos aus, die er im Laufe der Zeit akribisch archivierte: Er fixierte sie auf Karton, beschriftete und ordnete sie nach bestimmten Kriterien. Chronologisch geordnete Fotos gliederte Kempowski in mehrere Zeitabschnitte von 1850 bis 1950, thematisch sortierte folgen seinem Schlagwortsystem. Einen Großteil verwahrte er in Karteikästen, die beispielsweise betitelt sind: „Alte – Fahrrad“, „Familie – Hotel“, „Hunde – Mexiko“, „Militarismus – Rügen“, „SA – Sport“, „Schule“, „Städte“, „SS – Zwillinge“, „1. Weltkrieg“, „2. Weltkrieg“. Unter den beiden letztgenannten Schlagworten finden sich die umfangreichsten themenbezogenen Sammlungen. Große Aufmerksamkeit widmete Kempowski auch den Personenfotos, für die er Kriterien wie „Kinder“, „Jugendliche“, „Kommunion und Konfirmation“, „Studenten“, „Backfische“, „Junge Frauen“, „Alte Frauen“, „Porträts männlich“, „Porträts weiblich“, Brautpaare, „Ehepaare“, „Familien und Gruppen“, „Straßenfotos“, „Landleben“, „Prominenz“, „Hüte“, „Uniformen“ oder „Bärte und Frisuren“ vergab. Erwähnenswert sind Fotoserien von Familien oder Einzelpersonen, die in einer zum Teil jahrzehntelangen lückenlosen Überlieferung ganze Lebensgeschichten erzählen, im Sinne von Kempowski, der in Einzelfotos eine Art „Volks-Bio“ erkannte. Bereits 1983 resümierte er: „Das Bildarchiv […] muß gepflegt werden. Bisher taten wir die Einsendungen in braune Tüten, das war aber auch alles. Nun habe ich die vielen Tüten durchgesehen, Bild für Bild. Die Sachkartei hat sich erheblich erweitert. Die Jahrgangskartei macht den Eindruck eines riesigen Fotoalbums, alles verschmilzt zu einem großen Ganzen, zu dem Familienalbum der Deutschen.“ ((Kempowski 2005, 58)

3.2  Das deutsche Bürgertum245

Mit dem Bestand, insbesondere mit den von ihm aufgearbeiteten Fotos, hütete Kempowski einen Bildfundus, den er – ebenso wie Unterlagen aus dem Biographienarchiv – auch als Arbeitsmaterial für sein literarisches Werk nutzte. Nunmehr stehen die Fotographien im Archiv der Akademie der Künste interessierten Nutzern als Quellen für Forschungen zur Verfügung. Die Datenbank zum vollständig erschlossenen Fotoarchiv umfasst 2550 Verzeichnungseinheiten. Etwa 1200 Digitalisate dienen einerseits der Sicherung der Quellen, andererseits veranschaulichen die an die Datensätze angebundenen Abbildungen die Vielfalt des Bestandes. Das Walter-Kempowski-Archiv gehört seit seiner Übernahme nach Berlin zu den am meisten genutzten Beständen im Archiv der Akademie der Künste. Die den Autor im Jahre 1980 bewegende Frage, ob er „denn überhaupt je die Muße haben [werde], aus all dem angehäuften Archivmaterial etwas Bleibendes herauszuarbeiten“ (Kempowski 1980j), kann man heute mit Fug und Recht mit Ja beantworten.

3.2  Das deutsche Bürgertum Sabine Kyora 1  Familiengeschichte als Geschichte des deutschen Bürgertums . . . 246 2  Bürgerliche Romane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 3  Kempowskis Inszenierung von bürgerlicher Autorschaft . . . . . 252

Bürgertum und Bürgerlichkeit standen bei der Rezeption von Kempowskis Werk früh im Fokus. So gilt Kempowski seit den ersten Bänden der Deutschen Chronik als Chronist des deutschen Bürgertums. Sieht man genauer auf literaturkritische und literaturwissenschaftliche Einordnungen von Kempowskis Werk, dann begegnet man der Beschäftigung mit Bürgerlichkeit auf mindestens drei Ebenen. Zunächst werden die Familienromane ab Tadellöser & Wolff (1971a) als Geschichte einer dezidiert bürgerlichen Familie verstanden und das Schicksal der (fiktiven) Familie Kempowski als Beispiel für den Niedergang des deutschen Bürgertums im 20. Jahrhundert gesehen. Die zweite Ebene, auf der Bürgerlichkeit bei Kempowski erwähnt wird, ist die Romanform: Der Untertitel von Tadellöser & Wolff lautet Ein bürgerlicher Roman. Dabei wird dieser Untertitel von den Interpreten zumeist auf den Inhalt bezogen. Zu fragen wäre allerdings auch, inwiefern er sich auf die Ästhetik des Textes beziehen lässt, was in dieser Formulierung durchaus möglich wäre. Schließlich wird Kempowskis Inszenierung von Autorschaft auch in seinen Tagebüchern vielfach als Auftreten eines bildungsbürgerlich geprägten Autors verstanden. Nicht ohne Grund nennt Dirk Hempel sein Buch Walter Kempowski. Eine bürgerliche Biographie (Hempel 2004). In diese Inszenierung von bildungsbürgerlicher Autorschaft lassen sich die Romane um Alexander

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3  Systematische Aspekte

Sowtschick einfügen: Auch Hundstage (1988) und Letzte Grüße (2003) zeigen einen Autor, der in der Geschichte der Bürgerlichkeit seinen Platz finden kann. So hält Edo Reents Sowtschick für einen „sehr verspätete[n] Bildungsbürger“ (Reents 2004, 31). 1  Familiengeschichte als Geschichte des deutschen Bürgertums Kempowski selbst hat seine Geschichte der fiktiven Familie Kempowski zwischen 1900 und 1960 als Darstellung, Niedergang und Restauration von bürgerlichem Lebensstil verstanden (vgl. Hage 2009b, 34  f.). Er erzählt in seinen Familienromanen das Leben von drei Generationen der Kempowskis bzw. der de Bonsacs. Im ersten Teil der Familiengeschichte stehen zunächst Robert William und Anna Kempowski, die Eltern von Karl Kempowski, sowie Wilhelm und Martha de Bonsac, die Eltern seiner späteren Frau Grethe, im Mittelpunkt. Aus großer Zeit (1978a) schildert die Ereignisse zwischen 1900 und 1918. Zeitzeugenaussagen und Erzählerbericht sind zusammenmontiert, um einen multiperspektivischen Blick auf die Familienverhältnisse zu werfen. Wollte man Kempowskis Charakteristik dieser Großvätergeneration des Ich-Erzählers in den Bänden ab Tadellöser & Wolff sozialhistorisch verorten, dann kennzeichnet man sie am ehesten als Angehörige des Wirtschaftsbürgertums; allerdings sind die Lebensverhältnisse noch deutlich vom alten Mittelstand der städtischen Kaufleute beeinflusst. Von ‚altem Mittelstand‘ kann man insofern reden, als die städtischen Kaufleute schon in der Frühen Neuzeit zu ihm gezählt wurden, während das Wirtschaftsbürgertum sich erst mit der zunehmenden Industrialisierung im 19.  Jahrhundert entwickelte. Beide Formen des Bürgertums sind durch die ökonomische Selbstständigkeit geprägt. Fabrikunternehmer, die z.  B. zum Wirtschaftsbürgertum gehören, haben jedoch eine größere Zahl von Arbeitern und Angestellten sowie die entsprechenden Maschinen, während sowohl die Kempowskis als auch die de Bonsacs nur einige Angestellte im Comptoir beschäftigen. Beide Familien gehören auch nicht zu den Honoratioren, die städtische Ämter übernehmen (vgl. Schäfer 2009, 81–92). In beiden Familien wird aber das ökonomische, soziale und kulturelle Kapital angesammelt, das für die Etablierung im Bürgertum nötig ist. Soziales Kapital meint hier mit Bourdieu ein dauerhaftes Netz „von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens“ (Bourdieu 1983, 190, Hervorhebung im Original). Privat wie geschäftlich muss also der Umgang mit den ‚richtigen‘ Leuten gepflegt werden. Unter kulturellem Kapital versteht Bourdieu dagegen körpergebundene und inkorporierte Bildung, die vor allem Zeit kostet, von der Familie gesteuert und finanziert wird (vgl. Bourdieu 1983, 186  f.). Dazu gehört im Bürgertum die höhere Schulbildung, aber etwa auch das entsprechende höfliche Benehmen und der Umgang mit kulturellen Gütern, also beispielsweise Literatur und Musik. Durch die Inkorporierung von kulturellem Kapital entsteht nach Bourdieu der typische Habitus einer Gesellschaftsschicht.

3.2  Das deutsche Bürgertum247

Robert William Kempowski verdankt seine Reederei, die aus zwei Dampfschiffen besteht, vor allem der Mitgift seiner Frau Anna, die aus ‚guter‘ Rostocker Familie stammt, während er als Zugezogener nicht dasselbe soziale Ansehen genießt. Im öffentlichen Auftreten der Kempowskis und in der Schilderung der privaten Verhältnisse tauchen allerdings eine Reihe typisch bürgerlicher Kennzeichen auf. Sie lassen sich z.  B. in den Formen der Repräsentation erkennen: So wohnen die Kempowskis in einem eigenen Haus in einem bürgerlichen Viertel, das auch den entsprechenden Salon zum Empfang von Gästen besitzt. Das Interieur entspricht den Vorstellungen von gediegener bürgerlicher Ausstattung; außerdem gibt es genügend Hausangestellte. Anna Kempowski legt Wert auf ihre Kleidung, auch auf gutes Essen und Trinken wird geachtet. Im Haus der Kempowskis finden immer wieder Feste statt und Anna Kempowski empfängt die ‚passenden‘ Damen zum Kaffee. Die Familie entspricht mit zwei Kindern, der nicht arbeitenden Ehefrau und dem Mann als Ernährer den Normen der bürgerlichen Familie; politisch ist man national-konservativ, die Rituale der Religion werden befolgt und der Umgang mit Literatur und Musik gehört zum Alltag (vgl. Stockhorst 2010, besonders 432–440; zur Musik als Teil des kulturellen Kapitals im Bürgertum vgl. Ebel 2005). Allerdings werden den Kempowskis ebenfalls eine ganze Reihe von Abweichungen vom bürgerlichen Habitus zugeschrieben, die zum Teil auch von den Zeitzeugen benannt werden. So bemängelt die Nachbarin die zu häufig stattfindenden Feste und das demonstrative Vorführen des Reichtums, das in ihren Augen den bürgerlichen Werten der Mäßigung und Nüchternheit widerspricht. Das Aus- und Eingehen von Schauspielern und Sängern wird ebenfalls als ungewöhnlich wahrgenommen. Außerdem wird deutlich, dass weder Robert noch Anna Kempowski die eheliche Treue ernst nehmen, wobei der Bruch der Norm durch Annas ‚Hausfreunde‘ extremer ist, weil hier nicht nur das Verständnis der Familie, sondern auch die bürgerlichen Geschlechterrollen unterlaufen werden. Schließlich verkörpert Anna auch nicht das bürgerliche Ideal der liebevollen Mutter, denn ihrem Sohn teilt sie mit, er sei nur ein „Versehen“ (Kempowski 1978a, 43). Darüber hinaus kümmert sie sich nicht groß um die Entwicklung ihrer Kinder. Bei aller Stilisierung der Figuren als bürgerlich sind also doch deutlich idiosynkratische Züge erkennbar. Diese lassen einerseits individuelle Eigenschaften sichtbar werden, andererseits unterlaufen sie bürgerliche Normen, die dadurch ein Stück weit relativiert werden. Einschränkungen der Bürgerlichkeit zeigen sich also im Bereich des sozialen (z.  B. Ehebruch) und kulturellen (z.  B. zu viele Feste mit Schauspielern) Kapitals. Zum kulturellen Kapital gehören auch sprachliche Formen: Während bei den de Bonsacs Hochdeutsch gesprochen wird, ist die von Robert William Kempowski wiedergegebene direkte Rede auf Plattdeutsch. Seine Frau Anna spricht dagegen ebenfalls Hochdeutsch. In einem der Zitate vor dem Beginn des ersten Teils von Aus großer Zeit wird zudem darauf hingewiesen, dass Plattdeutsch um 1900 die für alle sozialen Gruppen gängige Umgangsspra-

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3  Systematische Aspekte

che in Rostock war. Robert William Kempowski spricht denn auch mit allen Platt, macht also keine Unterschiede je nach der sozialen Zugehörigkeit seines Gegenübers. So entsteht ein Kontrast zwischen dem bürgerlichen Hochdeutsch und der ‚Volkssprache‘ Platt. Für viele der wiedergegebenen Redeanteile gilt darüber hinaus, dass sie zur Wiederholung tendieren, also Redemuster darstellen, die zumeist die sprechende Figur kennzeichnen, etwa wenn Kempowski immer dasselbe nach dem Essen sagt, wenn es ihm geschmeckt hat. Diese ritualisierten Formulierungen zeigen also etwas von der Konstanz des individuellen Charakters, aber auch den Habitus des bürgerlichen Hausherrn, der das Essen nicht kocht oder plant, sondern beurteilt (vgl. zu den bürgerlichen Redeweisen Fischer 1992, 271–294). Die zweite Generation der Kempowskis spielt in Schöne Aussicht (1981a) und in Tadellöser & Wolff (1971a) die Hauptrolle. Schöne Aussicht beginnt nach dem Ersten Weltkrieg mit der Familiengründung von Karl Kempowski und Grethe de Bonsac, Tadellöser & Wolff endet mit dem Einmarsch der Russen in Rostock und der Ungewissheit über das Schicksal von Karl Kempowski und seinem Sohn Robert. Karl tritt 1918 in die Firma des Vaters ein und ist dort tätig, bis er sich zu Beginn des Zweiten Weltkriegs freiwillig zur Wehrmacht meldet. Grethe hat als Kindergärtnerin vor der Ehe in Hamburg gearbeitet, nach der Heirat übernimmt sie die Aufgaben der bürgerlichen Ehefrau und Mutter innerhalb des Haushalts. An den Lebensverhältnissen des jungen Ehepaars nach 1918 – dargestellt in Schöne Aussicht – lassen sich zunächst die Auswirkungen des Kriegsendes und der Republik auf die bürgerlichen Lebensverhältnisse erkennen. In der Wohnungsnot nach dem Krieg bekommen die Kempowskis nur eine kleine Wohnung in einem Viertel, das hauptsächlich von Arbeitern bewohnt wird. Auch die Firma des Vaters, der am Krieg verdient hat, läuft nicht mehr gut, so dass der repräsentative Lebensstil stark eingeschränkt wird. Insofern entspricht die Darstellung dem in der Forschung immer wieder konstatierten Niedergang des deutschen Bürgertums im 20. Jahrhundert: Die Kempowskis verlieren ökonomisches und soziales Kapital, eine Entwicklung, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg noch einmal verschärfen wird. Davon scheinbar unbeeinflusst bleiben bürgerliche Normen und Werte, auch fast durchgehend die politische Einstellung, die aus dem Elternhaus übernommen wird (vgl. zu den ‚feinen Unterschieden‘ nach Bourdieu in dieser Generation Fischer 1992, 276–280). Durch den Wechsel zum Ich-Erzähler in Tadellöser & Wolff ändert sich der Blick auf die Kempowskis und die Familienverhältnisse, weil die bürgerlichen Gewohnheiten jetzt aus größerer Nähe geschildert werden und so auch eine gewisse Exzentrizität von Karl und Grethe erkennbar wird, die jedoch nicht wie bei den Eltern von Karl Kempowski einen expliziten Normbruch bedeutet. Diese Exzentrizität zeigt sich am ehesten an selbst erfundenen Redeweisen und Ritualen, die auf der Grundlage von bürgerlichen Lebensformen einen eigenen Mikrokosmos der Familie begründen. So hat Robert, der ältere Sohn, z.  B. morgens ‚Fensterwache‘: Er muss für seinen Vater vor dem Frühstück am Fenster nach einem jungen Mädchen Ausschau halten, das der Vater dann,

3.2  Das deutsche Bürgertum249

wenn er ihn herbeigerufen hat, ansieht: „Nun konnte ihm keine alte Frau mehr den Tag verderben.“ (Kempowski 1978b, 12) Darüber hinaus steht in den Bänden Schöne Aussicht und Tadellöser & Wolff auch das Verhältnis zum Nationalsozialismus im Mittelpunkt. Die Kempowskis ebenso wie die bürgerlichen Familien in ihrem Umfeld werden gezwungen, auf den zunehmenden Erfolg der Nationalsozialisten zu reagieren. Sie verhalten sich durchaus zustimmend und hoffen, dass es mit Hitler ‚aufwärts geht‘, auch die Kriegserfolge werden zunächst mit Bewunderung kommentiert. Karl Kempowski bemüht sich sogar darum, wieder in die Reichswehr aufgenommen zu werden, um am Krieg teilnehmen zu können. Durch die Einbettung des Nationalsozialismus in die Darstellung des bürgerlichen Alltags ist es in den Rezensionen und z.  T. auch in literaturwissenschaftlichen Analysen zu Auseinandersetzungen darüber gekommen, ob der Anteil des Bürgertums am Nationalsozialismus vor allem durch die Erzählperspektive Kempowskis, die nicht wertet und nicht kommentiert, verharmlost wird. Kempowski hat diesen Vorwurf immer zurückgewiesen und darauf aufmerksam gemacht, dass gerade die Konfrontation von bürgerlichem, gelegentlich ‚idyllischem‘ Alltag mit nationalsozialistischen Verbrechen das Grauenhafte des Nationalsozialismus erkennbar werden lässt. Die dritte Generation der Kempowskis, Walter und seine Geschwister Ulla und Robert, werden im Rahmen dieses bürgerlichen Lebensstils erzogen. Höhere Bildung, also das Gymnasium, und die passenden Freizeitvergnügen im Tennis- und Segelclub gehören zum Alltag der Geschwister. Die vermittelten Normen und Werte etwa bezogen auf Sexualität sind ebenfalls als bürgerlich zu charakterisieren (vgl. Alfs und Rabes 1982, 9–36). So warnt z.  B. Grethe Kempowski ihren Sohn vor „schlechten Frauen, die wollen da unten denn so machen“ (Kempowski 1978b, 437). Während die Schwester Ulla einen ‚passenden‘ Schiffsmakler heiratet – die Hochzeit kann nur wegen des Krieges nicht ganz „standesgemäß“ (Kempowski 1978b, 291) abgehalten werden –, geht nach dem Krieg durch die Inhaftierung von Robert, Walter und Grethe sowie die anschließende Übersiedlung in die BRD das soziale und das ökonomische Kapital der Familie fast vollständig verloren. Die Darstellung der Haft in Ein Kapitel für sich (1975a) bzw. Im Block (1969) zeigt aber auch den Wunsch, zumindest das kulturelle Kapital  – etwa die Teilhabe an kulturellen Traditionen des Bürgertums – zu bewahren. Diese Bewahrung gehört zur Überlebensstrategie während der Haftzeit. Dagegen ist Grethes Familie in Hamburg, also die de Bonsacs, die nach der Haft zur sozialen Integration beitragen könnte, dazu nur begrenzt bereit; ökonomisch leben die Kempowskis von Witwenrente und Haftentschädigung. Das heißt auch, dass die Repräsentationsformen, die den bürgerlichen Lebensstil kennzeichnen, zunächst unerreichbar sind. Gleichwohl kann man in Herzlich Willkommen sowohl bei Grethes Bemühungen um die Wohnungseinrichtung als auch bei dem Umgang mit Kulturgütern (Bücher, Konzertbesuch) erkennen, dass dieser Lebensstil angestrebt wird. Die Darstellung des Ich-Erzählers legt nahe, dass die Kempowskis verspätet etwas nachholen, was insgesamt

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3  Systematische Aspekte

eine Tendenz in der BRD der 1950er Jahre ist (vgl. z.  B. zum Einrichtungsstil und zu den Konventionen des ‚guten Tons‘ Kleßmann 1988, 50–56). Die Restauration von Bürgerlichkeit wird besonders an Grethes Familie erkennbar, die sich 1956, als Walter aus der Haft entlassen wird, in den neuen politischen Verhältnissen eingerichtet hat und im Wesentlichen zum Vorkriegsleben zurückgekehrt ist. Soweit sie von den Bombenschäden nicht betroffen ist, kann man den Eindruck gewinnen, dass der bürgerliche Lebensstil in ungebrochener Kontinuität seit der Kaiserzeit fortbesteht. Wohnverhältnisse und Interieurs bleiben dieselben, die Werte und Normen scheinen ungebrochen, nur der familiäre Zusammenhang, wie er in Aus großer Zeit dargestellt wurde, scheint deutlich gelockert. Die Kontinuität der Normen wird z.  B. erkennbar, als Walter nach seiner Haftentlassung zunächst nicht weiß, was er beruflich machen will, und eine Zeit lang ‚untätig‘ ist. Sowohl seine Mutter als auch die Verwandten verlangen aber sofortige Arbeit, entweder als Gang zu den zuständigen Ämtern oder als Einstieg in die berufliche Karriere, ohne die Desorientierung nach der Haftentlassung als besondere Situation anzuerkennen. Setzt man die in Herzlich Willkommen geschilderte Nachkriegssituation in Bezug zu sozialgeschichtlichen Beschreibungen des Bürgertums nach 1945, so findet sich dort der Hinweis, dass das Bürgertum möglicherweise nicht mehr als Klasse, die sich eindeutig nach oben und unten abgrenzt, zu fassen ist, dass Bürgerlichkeit aber als Set von Normen und Lebensstilen nach 1945 in der BRD durchaus weiter Bestand hat (vgl. Schäfer 2009, 219–235). Am deutlich­ sten sind diese Kontinuitäten im Bereich des Bildungsbürgertums erkennbar. Diese Diagnose lässt sich auch auf die Figurencharakteristik in Herzlich Willkommen übertragen, etwa auf die Wirtsleute von Walter in Göttingen. Genau diese Gruppe ist es auch, in die Walter versucht sich einzuordnen: Durch sein Lehrer-Studium und die Verlobung mit einer Pfarrerstochter erwirbt er das kulturelle und soziale Kapital, um (wieder) dazugehören zu können. Möglich ist das auch, weil die Normen und Werte, die Gewohnheiten und die Redeweisen seines Elternhauses hier integrierbar sind: Wir führten beide unser Fahrrad, sie rechts, ich links, und der Gesprächsstoff ging uns nie aus, das plätscherte so dahin: Ob mir das nicht auch so geht, daß … fragte sie, und ich kramte in meinen Familienstories herum und hielt sie gegen ihre Stories, und daß paßte. Mein Vater war zwar kein Pastor gewesen, wie ihrer, aber in der Mittagszeit hatte sie sich auch nicht mucksen dürfen. Beide Väter hatten Militärmärsche gepfiffen […], und die Mutter: ‚Zieh Dir ja was Warmes unter, Kind.‘ Alles war zu verstehen und alles war vertraut, so daß man meinte, man kennt den andern schon ewig. (Kempowski 1984a, 279  f.)

Die gemeinsame bürgerliche Kindheit stiftet also die bürgerliche Ehe, aus dem bürgerlichen Habitus der Eltern entsteht die Identität der Kinder. Hier ist sehr deutlich die Restauration des bürgerlichen Lebensstils in den 1950er Jahren zu erkennen, die Kempowski im Interview mit Volker Hage auch ausdrücklich als Ziel seiner Darstellung erwähnt (vgl. Hage und Kempowski 1972, 35). Für

3.2  Das deutsche Bürgertum251

Kempowski sind diese restaurativen Tendenzen darüber hinaus ein Zeichen für die mangelnde Auseinandersetzung des Bürgertums mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. 2  Bürgerliche Romane Tadellöser & Wolf heißt im Untertitel Ein bürgerlicher Roman, ein Zusatz, der in der Sekundärliteratur zumeist auf den Inhalt bezogen wird. Bürgerlich wäre der Roman dann vor allem, weil eine bürgerliche Familie in seinem Mittelpunkt steht. Man kann allerdings auch erörtern, inwiefern es einen Zusammenhang zwischen literarischer Form und Bürgertum geben könnte. Literaturgeschichtlich ist der Roman seit seinen Anfängen im England des 17.  Jahrhunderts insofern bürgerlich, als es seine Figuren auch sind. Und anders als in der Tragödie des 17. Jahrhunderts können diese bürgerlichen Figuren mit ihrem Leben zu Hauptfiguren werden. Genauso gilt das auch noch für Kem­pows­kis bürgerliche Romane. Nun könnte man das Adjektiv ‚bürgerlich‘ innerhalb der deutschsprachigen Literaturgeschichte – auch zeitlich näherliegend – ebenfalls auf den bürgerlichen Realismus des 19. Jahrhunderts beziehen (vgl. Feuchert 2013). Auffällig ist dabei vor allem eine gewisse Verwandtschaft der Kem­pows­kischen Familienromane mit den Romanen Fontanes, weil beide Autoren ihre Figuren und deren Klassenzugehörigkeit über ihre Redeweisen kennzeichnen. Die Erzähler bleiben dabei Beobachter, die weniger über ihre Figuren wissen, als diese über sich selbst. Fontanes Darstellung von Tischgesprächen und von bestimmten eingeschliffenen Redewendungen etwa in Frau Jenny Treibel (1893) machen die Normen und Werte der Figuren sichtbar, die in der Regel von ihrem sozialen Status abhängig sind. Man kann Kempowskis Romane als eine Fortsetzung dieses Verfahren verstehen, wobei vor allem bei Tadellöser & Wolff darüber hinaus eine Reduktion zu konstatieren ist. Der Erzähler schildert anders als bei Fontane nur wenig die äußeren Lebensumstände seiner Figuren, vielmehr lässt er diese durch die Gespräche erst erkennbar werden. So archiviert er nicht nur den bürgerlichen Lebensstil, sondern auch dessen Sprachmuster. Als zweiter Vertreter des bürgerlichen Romans wird im Zusammenhang mit Kempowski – außerhalb des bürgerlichen Realismus – häufiger Thomas Mann genannt. So wird Manns Roman Buddenbrooks. Verfall einer Familie (1901) mit Kempowskis Deutscher Chronik verglichen. Im Interview mit Volker Hage spricht Kempowski selbst von den Parallelen und den Unterschieden: „Von den ‚Buddenbrooks‘ sind ja gewisse Parallelen zum ‚Tadellöser‘ zu ziehen. Ich kenne den Roman natürlich sehr gut, ich habe ihn bestimmt vier- oder fünfmal gelesen. Der große Unterschied ist, daß Thomas Mann sehr viel kommentiert und ich überhaupt nicht.“ (Hage und Kempowski 1972, 29) Neben diesem das Geschehen nicht kommentierenden Erzähler unterscheidet auch der Einsatz von Montagen Kempowskis Erzählverfahren von dem Manns – das ist natürlich gleichermaßen auch ein Unterschied zu Fontanes Erzählweise. Einzelne Verse, Liederfragmente und Werbung werden in allen

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3  Systematische Aspekte

Bänden der Familienromane in den Erzählvorgang integriert. Dadurch öffnet sich die Erzählweise des bürgerlichen Romans Kempowskischer Prägung den Konstruktionsverfahren, die in der Avantgarde der 1910er Jahre entwickelt wurden und z.  B. in den Romanen von Alfred Döblin in den 1920er Jahren zu finden sind. 3  Kempowskis Inszenierung von bürgerlicher Autorschaft In dem bereits zitierten Interview mit Volker Hage anlässlich des Erscheinens von Tadellöser & Wolff benennt Kempowski sein Vorhaben  – „ich wollte zeigen, wie die bürgerliche Gesellschaft sich restauriert“ (Hage und Kempowski 1972, 35) – und begründet das Ende der Familiengeschichte in den 1960er Jahren: Das Auftreten der Hippies, damals um 1963, erscheint mir als neuer Aspekt: die Wohnkommunen, die angebliche oder auch wirkliche Friedfertigkeit, die Verachtung alles Bürgerlichen, der Kleidung, des Berufes – was von mir als wünschenswerte Reaktion auf die Etablierung bejaht wird. Aber ich selbst bin ja kein Hippie. Leider! muß ich sagen. Ich kann mich nicht mehr lösen, ich bin dazu zu alt. Das muß ein anderer schildern […]. (Hage und Kempowski 1972, 35  f.)

Kempowski verbindet hier also sein Sujet, die Restauration von Bürgerlichkeit nach 1945, mit seinem Habitus: Da er sich von seiner bürgerlichen Prägung nicht lösen kann, kann er auch nur über bürgerliche Figuren schreiben. In den Interviews und Rezensionen spiegelt sich diese Selbsteinschätzung durch die Kennzeichnung von Kempowski als bürgerlichem Autor. Kempowski nimmt diese Positionierung durchaus auf und stellt sich z.  B. als „Bürgersohn aus guten Verhältnissen“ dar, der „im Knast“ (Hage 2009a, 72) landet. Sicher ist diese Verbindung ein Teil von Kempowskis Inszenierung seiner Form von Autorschaft, die auch in seinen Tagebüchern deutlich wird. Darüber hinaus ist bei den Darstellungen von Schriftstellerfiguren im Werk ebenfalls die Verbindung von Autorschaft und bürgerlichem Lebensstil konstitutiv. So ist Alexander Sowtschick, der Protagonist in Hundstage (1988) und in Letzte Grüße (2003), ein Schriftsteller, der deutlich bildungsbürgerliche Züge trägt, allerdings in einer Welt lebt, die nicht mehr von der Restauration des Bürgertums geprägt ist. Deswegen blickt er mit einem gewissen Befremden auf seine Umgebung, die ständig gegen seine Vorstellungen von ‚richtigem‘ Benehmen und ‚richtiger‘ Bildung verstößt. Die bildungsbürgerlichen Züge bilden dabei eine Parallele zu den Familienromanen der Deutschen Chronik: Sowtschick spielt Klavier, legt Wert auf seine Bücher, aber auch auf sein eigenes Haus; sogar eine Hausangestellte gibt es, seine Frau ist für den Haushalt zuständig, er hat die Aufgabe, regelmäßig an seinem neuen Werk zu schreiben. Gleichzeitig sind deutliche Erosionserscheinungen zu bemerken: Seine Frau fährt alleine in Urlaub, die Hausangestellte kommt nicht, Sowtschick schaut Fernsehen und guckt den weiblichen Teenagern des Dorfes hinterher – eine Leidenschaft, die er mit Robert William Kempowski teilt –, statt zu schreiben. Ein ‚Hippie‘

3.2  Das deutsche Bürgertum253

ist er sicher nicht, das Unterlaufen der bürgerlichen Konventionen wird aber deutlich. Sowtschicks bildungsbürgerliche Neigungen werden zudem durch die Liebe zu seinem Anwesen konterkariert. Damit unterläuft Kempowskis Protagonist nicht nur bildungsbürgerliche Muster, sondern auch das Konzept autonomer Autorschaft, die im Bildungsbürgertum hochgehalten wird. Die Leidenschaft für ökonomischen Erfolg ist nach Bourdieu gerade kein Merkmal des autonomen Autors, dieser begnügt sich mit dem symbolischen Kapital, das im innovativen Werk liegt, und legitimiert sich genau dadurch (vgl. Bourdieu 2001, 198–205). Sowtschick sind dagegen sein ökonomischer Erfolg und dessen angenehme Auswirkungen ausgesprochen wichtig. Zusätzlich wird der Bruch mit der bildungsbürgerlichen Rolle unterstrichen durch den ironischen Ton des Erzählers, etwa wenn er davon berichtet, wie Sowtschick versucht, seinem indischen Koch die ‚abendländische Kultur‘ nahe zu bringen. Sowtschicks Vorhaben scheitert grandios: Der Inder lehnt die klassische Musik als barbarisch ab, lobt dafür aber Hitler als Feldherrn (vgl. Kempowski 1988, 112–115). Kempowskis Tagebücher – Sirius (1990a), Alkor (2001b), Hamit (2006b) und Somnia (2008a) – nehmen diese gebrochene Form der Bürgerlichkeit auf und erzählen ähnlich ironisch vom Alltag des bürgerlichen Schriftstellers seit den späten 1980er Jahren. So schildert Kempowski seine Abendbeschäftigung während eines seiner Literaturseminare: „Am Abend kredenzte mir Hildegard einen heißen Kakao, ich nahm ihn bei ihr im Pavillon und sorgte dafür, daß sie es mitkriegten, die Leute-Gäste: Die wohltuende Liebe meiner Frau sollten sie besichtigen. Das ist gut fürs sogenannte Image“ (Kempowski 2001b, 13). Die Inszenierung des Schriftstellers als bürgerlicher Ehemann und maßvoller Mensch – Kakao als abendliches Getränk statt Alkohol – wird hier bewusst den Lesern vorgeführt und das ‚Image‘ Kempowskis als bürgerlicher Autor bestätigt. Das deutsche Bürgertum spielt also bei Kempowski eine vielfältige Rolle: Es dominiert als Sujet die Deutsche Chronik, stellt Kempowskis Werk in einen literaturgeschichtlichen Zusammenhang und lässt sich von den Autorschaftskonzepten in den Romanen und Tagebüchern kaum trennen. Während das bürgerliche Alltagsleben vor allem in seinem Verhältnis zur Zeitgeschichte in der Deutschen Chronik dargestellt wird, werfen die Romane um Sowtschick und Kempowskis Tagebücher einen Blick auf die Gegenwart. Sie erzählen von den Erosionen bürgerlichen Lebens und bürgerlicher Autorschaft in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Die spezifischen Bezüge zwischen ökonomischem, sozialem und kulturellem Kapital kennzeichnen dabei sowohl die Familie Kempowski in den Romanen der Deutschen Chronik als auch die Schriftstellerfiguren. Letztere verbinden bürgerliche Züge mit einem Verständnis von Autorschaft, das bildungsbürgerlich geprägt und an der Autonomieästhetik orientiert ist, in der Akzentuierung des ökonomischen Kapitals allerdings auch hier Konventionen unterläuft.

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3  Systematische Aspekte

3.3  Film und Fernsehen Ute Seiderer 1  Das Private ist auch das Allgemeine . . . . . . . . . . . . . . . . 2  Kempowski und Fechner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3  Filmsprache und Romansprache . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Historizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5  Wiedererkennung und Identifikation . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Verfilmungen von Walter Kempowskis Romanen Tadellöser & Wolff, Uns geht’s ja noch gold, Ein Kapitel für sich sowie des Haftberichts Im Block verliehen dem Autor im deutschsprachigen Raum in den 1970er Jahren einen größeren Bekanntheitsgrad. Ein Teil der Deutschen Chronik Kempowskis wurde in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre von dem Schauspieler, Dokumentarund Fernsehfilmer und mehrfachen Grimme-Preisträger Eberhard Fechner im Auftrag des ZDF für das Fernsehen konzipiert und realisiert. Zu einer Zeit, in der das deutsche Fernsehen bereits Massenmedium war, jedoch seine öffentlich-rechtlichen Sender sich noch stark dem Bildungsanspruch der Anfangszeit verpflichtet sahen, erreichten die Kriegs- und Nachkriegsinhalte, um die es bei Walter Kempowskis Œuvre vorrangig geht, eine breitere Öffentlichkeit. Fechner setzte sie mit der unbeirrten Langsamkeit des gründlichen Erzählens in Szene (vgl. auch Barbian/Ružicka 2018), und zwar sowohl, was das dramaturgische Narrativ, als auch, was den Einsatz von Technik betrifft. Abgesehen davon, dass Tadellöser & Wolff in eine Rahmenhandlung eingebettet ist, in der der Ich-Erzähler Walter Kempowski als Mittvierziger die Geschichte seiner Familie in Form einer großen, mehrfach unterbrochenen Rückblende erzählt, finden keine schnellen Schnitte statt, die den Zuschauer von einer Szene in die nächste ‚jagen‘. Es gibt zudem keine Vorgriffe, keine Tricks oder Spezialeffekte, um die Aufmerksamkeit zu bannen, sondern ruhiges, unaufgeregtes, kontinuierlich-chronologisches Erzählen, durchsetzt von dokumentarischem Material (auf der Bild- wie auf der Tonebene), begleitet von einer männlichen Erzählerstimme, die das Geschehen kommentiert, Zeitsprünge überbrückt und wertneutrale Zusammenfassungen liefert. Im Kontext des Erzählflusses wechselt auch das Figurenarsenal dieser Filme selten: Die Darsteller der großbürgerlichen Reederfamilie Kempowski, um deren Schicksal es zur Zeit des Zweiten Weltkriegs und der Jahre danach geht, repräsentieren in den Fernsehfolgen des Zweiteilers Tadellöser & Wolff (Fechner 1975) und des Dreiteilers Ein Kapitel für sich (Fechner 1979) Kontinuität und Vertrautheit für den Zuschauer. Der Erzähler (Ernst Jacobi), der sowohl aus dem Off zu hören ist als auch bei der Vorstellung von Familienund Stadtporträts als alter ego Kempowskis im Bild erscheint, steht einerseits für Konstanz und Vertrautheit, andererseits für Distanz zum Geschehen, da die Filmdramaturgie durch seine Einblendungen immer wieder Zäsuren erfährt. An der einen oder anderen Stelle treten Nebendarsteller auf; im Wesentlichen jedoch bleibt die Handlungsstruktur auf den Kern der Familie konzentriert:

3.3  Film und Fernsehen255

eine starke, autoritäre Vaterfigur (Karl Lieffen), eine naiv wirkende, manchmal zweckoptimistisch eingestellte, manchmal melancholische Mutter (Edda Seipel), zwei Brüder, die sich charakterlich und beruflich heterogen entwickeln (Martin Kollewe und Michael Poliza/Stephan Schwartz für Walter Kempowski als Kind und Jugendlicher/Erwachsener; Martin Semmelrogge/Jens Weisser als Bruder Robert), die Tochter (Gabriele Michel), die sich nach Dänemark verheiratet (Sven Sörensen als Schwager), die strenge Tante Anna (Helga Feddersen), Eduard Cornelli, ein Freund des Hauses (Klaus Höhne), und die beiden zu Beginn der Handlung noch lebenden Großväter (Hans Mahnke und Ernst von Klipstein), die für den Aufstieg der Rostocker Familiensippe in großbürgerliche Verhältnisse durch Handel und wirtschaftliches Geschick noch vor dem Ersten Weltkrieg Pate stehen. Kempowskis Elternhaus kann – auch aus der Perspektive der Filme  – als ein konservativ-deutschnationales bezeichnet werden, in dem Einzelpersonen, wie die Mutter, manchmal eine kritische Haltung gegenüber dem NS-Regime einnehmen. Erwin Leiser sprach in diesem Zusammenhang von einer „gutbürgerlichen Familie“ mit „unpolitischer Grundhaltung“ (Leiser 1979, 191). 1  Das Private ist auch das Allgemeine Die Wahl der privaten Perspektive, die Kempowski bei der Zeichnung seiner Figuren und ihrer Einzelschicksale in den Wirren der Jahre 1939 bis 1948 einnimmt, wurde von Fechner beibehalten und macht den Zuschauer zum Augenzeugen einer ganz ‚alltäglichen‘ Realität, wie sie sich im privaten Raum (dem Wohnraum der Familie), aber auch im öffentlichen Raum und dem unmittelbaren sozialen Umfeld (Straße, Nachbarschaften, Schule der Kinder, Freundschaften der heranwachsenden Jugendlichen, Musikvorlieben und Kinobesuche, Wanderungen und Ausflüge) manifestiert. Kempowskis Chronik des deutschen Bildungsbürgertums, aus heutiger Perspektive von musealem Wert, da diese Form der gehobenen Mittelschicht allmählich im Schwinden begriffen ist, wird also paradigmatisch anhand seiner eigenen Herkunftsfamilie reflektiert. Ähnlich wie der deutsche Autorenfilmer Edgar Reitz in seiner Heimat-Trilogie (vgl. Reitz 1982–2004; sowie Reitz 2013) die Frage nach Zugehörigkeit und Angehörigkeit im nationalen wie im individuellen Sinn anhand der eigenen Biographie vorgeführt hat, sind auch in Fechners Verfilmungen biographische Antworten stellvertretend für ein kollektives Zeit- und Gesellschaftswissen gesetzt. Es wird dabei selten vom eigenen Erfahren abstrahiert oder das Schicksal weiterer, z.  B. jüdischer Familienverbände in ähnlichen wirtschaftlichen Verhältnissen in den Blick genommen. Auch andere gesellschaftliche Schichten werden nur am Rande berücksichtigt oder lediglich als szenographische Hintergrundfolie z.  B. in Wirts- oder Kaffeehausszenen skizziert. Gemäß dem Gestaltungsprinzip Eberhard Fechners  – „Der Künstler soll nicht richten, sondern leidenschaftsloser Zeuge sein“ (Fechner 2005) – präsentieren sich die meist im Studio Hamburg realisierten Fernsehfilme auf den ersten Blick als unspektakulär.

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3  Systematische Aspekte

Bei genauerer Betrachtung zeigt sich die Raffinesse des filmischen Handwerks Eberhard Fechners darin, dass in minutiösen Detailstudien einzelner Sequenzen eine ausgeklügelte Collagetechnik aus Interviews, dokumentarischem Bild- bzw. Fotomaterial und nachgestellten historischen Szenen vorliegt, die den Zuschauer sowohl in den Bann des Spielablaufs zieht als auch mithilfe von Erläuterungen und Unterweisungen historische Aufklärung betreibt. Besonders im ersten Drittel des Zweiteilers Tadellöser & Wolff, in dem der Erzähler häufig eingesetzt wird, kommt der intermediale Ansatz Fechners zur Geltung. Erinnerung wird dort über die Verflechtung von Fotographien – gelbstichiges Bildmaterial mit geriffelten Rändern – und Objekten, in einzelnen Zeitungsausschnitten, einem Schiffsmodell, einem architektonischen Modell der Stadt Rostock aus der Zeit von vor dem Krieg in verkleinertem Maßstab und in audiovisuellem Dokumentationsmaterial rekonstruiert. Im Übergang vom Foto zum bewegten Bild in schwarz-weiß beginnt die Geschichte der Vergangenheit zwischen 1939 und 1945 (vgl. Kiefer 2010, 266–267); durch den Einsatz von Realien verdichten sich, so Simone Emmelius, die visuellen Eindrücke zu einer „linearen filmischen Handlung“ (Emmelius 1996, 265–266). Dieser Zusammenschnitt unterschiedlichster historischer Dokumente verleiht den Filmen den Status einer kollektiven Erinnerung: Hier wird nicht nur der Werdegang einer Familie erzählt, sondern das Schicksal einer ganzen Nation transparent. Die privaten Fotoalben und Familiengeschichten sowie die individuelle Erinnerung von Ereignissen werden durch die mediale Präsentation zu einer Sammlung öffentlicher Objekte, zu Materialien, die im kulturellen Erinnerungsprozess den Charakter der Allgemeingültigkeit erhalten. Die persönliche Erinnerung wird zur öffentlichen Erinnerung, die private Sphäre zur Sphäre der kollektiven Information. Die Trennung von privatem Haushalt und öffentlich-politischem Raum (vgl. Arendt 1960) verliert sich zusehends in der medialen Vermittlung– eine damals aufkommende Entwicklung des Fernsehens, wie sie heute auf allen privaten Kanälen, vor allem in den Serien der Scripted Reality, kulminiert, jedoch unter gänzlich anderem Vorzeichen. Während Privatheit im heutigen Fernsehen den Charakter einer exaltierten Inszenierung von Intimität hat – hier hat sich Richard Sennetts Prognose von der Tyrannei der Intimität bestätigt – entwickelten sich Fechners „filmische Erzählungen“ (Netenjakob 1989, S.  136–137) vor einem anderen Hintergrund: In den 1970er Jahren, in denen viele mehrteilige Literaturverfilmungen zu großen Publikumserfolgen wurden, deren ,Autoren‘ sich gegen die Ästhetik des journalistischen Fernsehspiels positionierten, aber auch gegen die als historisch reaktionär geltenden ZDF-Dokumentarspiele (vgl. Schumacher 2018, S. 72), konnte sich die Idee von der Literatur „als Realitätsausschnitt einer vergangenen Epoche“ (Hickethier 1980, S. 212) etablieren. Dies kam Fechners Interesse an Kempowskis Familienchronik als Abfolge von Momentaufnahmen (André Bazin) und konkreten privaten Augenblicken des Lebens entgegen, um sie in seiner ihm eigenen und charakteristischen, neorealistisch anmutenden Erzählstruktur zu verfilmen, ohne die dargestellten Zustände und Personen zu bewerten.

3.3  Film und Fernsehen257

2  Kempowski und Fechner Im Unterschied zur literarischen Vorlage setzt sich in den Filmen der Lehr­cha­rakt­ er der Regie-Handschrift durch, der das Exempel zum Statut erhebt. Während in den Romanen die schrecklichsten Ereignisse mit stoischer Gelassenheit und manchmal fast heiterem Gleichmut erzählt werden, pointieren die Filme das Geschehene durch direkte Visualität (Mimik, Gestik, Habitus) und erwirken so eine unmittelbarere Form von Empathie beim Zuschauer. Nun gehört dies zwar zu den grundlegenden Merkmalen der visuellen Medien, und gerade bei Literaturverfilmungen handelt es sich um kein außergewöhnliches Phänomen, doch wird dies bei Fechners erzählerischem Narrativ besonders deutlich. Wie in einem Interview Johannes Hanekes mit Walter Kempowski (vgl. Haneke 2005) zum Ausdruck kommt, sah sich Kempowski selbst eher als einen leichtfüßigen, dem Ungefähren und Fragmentarischen verbundenen Zeitgenossen, während Fechner das Material mit akribischer Genauigkeit von Anfang bis Ende chronologisch abgearbeitet habe und seine Aufgabe, so Kempowski im Wortlaut, mit der Schwere eines „Panzerwagens […] durchzog“ (Haneke 2005). An anderer Stelle erwähnt Kempowski in diesem Interview, dass er sich – nach dem Tode Fechners im Jahr 1992 – auch hätte vorstellen können, dass Regisseure wie z.  B. Christoph Schlingensief, der für die Lust am Experiment und an kreativen Neuerungen bekannt war, seine Romane hätten verfilmen können. Vielleicht wollte Kempowski damit andeuten, dass ihm die hundertprozentig werkgetreue Verfilmung im Sinne der genauen Textwiedergabe nicht unbedingt wichtig war. Gleichwohl räumt er in dem Interview ein, dass es auch bei Fechner Szenen gegeben habe, die unabhängig von der literarischen Vorlage entstanden sind, wie z.  B. ein Tischgespräch im Hause Kempowski, für das er – als Autor – noch nachträglich einen Monolog für die Vaterfigur nachliefern musste, oder auch einige wenige szenische Neuerfindungen, die im Roman nicht vorkommen. Das Drehbuch sei jedoch immer in Absprache mit dem Autor entstanden. Im Anschluss an eine dreiwöchige Leseprobe mit je zehnstündigen Sitzungen, also intensiver Vorarbeit (vgl. Schwartz 1979, 169), wurde streng chronologisch gedreht. Auf die Nachfragen Hanekes zur konkreten Rollengestaltung äußert Kempowski, dass die Figur des Vaters womöglich ein wenig überzeichnet war, aber um etwas deutlich zu machen, „müsse man es ja überzeichnen, sonst wird’s langweilig“ (Haneke 2005). Die etwas naive Darstellung der Mutter sei ihm nicht aufgestoßen, und grundsätzlich würde er bei einer nochmaligen Verfilmung nichts anders haben wollen. Die Besetzung der Rollen hätte von Anfang an seiner Wunschvorstellung entsprochen. Kempowski lobt den facettenreichen Realismus Fechners: „[D]ie Figuren waren geschliffen durch und durch“ (Haneke 2005). Fechners äußerst präzise Figurendarstellung käme Kempowskis eigenem Bemühen um die Figuren, das er einmal als ein „Herausholen mit dem Teleobjektiv“ (Schilly 2006, 69) bezeichnet hatte, entgegen. Selbst eine literarische Vorlage benutze Fechner so, „als sei sie Realität“ (zitiert nach Ungureit 1979, 19). Kiefer zufolge leisten Fechners

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3  Systematische Aspekte

Verfilmungen sprachlich kaum Eigenes, da die Drehbücher sich extrem nah an der literarischen Vorlage orientieren – fast der ganze Dialog des Films ist „wörtlich literarischer Kempowski“ (Kiefer 2010, 268). Für den Roman sei es Kempowski wichtig gewesen, viele Stellen nur anzudeuten, so dass der Leser „seine eigenen Erinnerungen dazutun kann“ (Haneke 2005). Kempowski setzt damit beim Leser nicht nur die Kompetenz des bloßen Textverständnisses voraus, sondern auch die Rekonstruktion von Vergangenheit aus persönlichem Erleben – wodurch klar wird, dass sich seine avisierte Leserschaft vor allem aus Altersgenossen rekrutiert. Ein jüngerer Leser, der diese historische Periode nicht mehr aus eigenem Erinnern oder nur aus der Erzählung seiner Eltern oder Großeltern kennt, wird Kempowskis Texte mit geringerem Gewinn lesen. Dies trifft jedoch nicht für den Filmbetrachter zu, dem sich der Stoff nicht lückenhaft, sondern gestrafft und komprimiert darbietet. Vor allem aus diesem Grund leisten Fechners Verfilmungen einen wichtigen Beitrag zum Nachleben Kempowskis. Zwar erklären sie den Autor nicht, man könnte aber sagen, dass sie ihn ergänzen. Anne Bohnenkamp hat dafür den Terminus der „Übersetzung“ vorgeschlagen, nicht im Sinne einer Transformation, sondern als „Antwort, Echo oder Fortsetzung“, die das Original „weiterführen und weiter ‚spielen‘ will“ (Bohnenkamp 2005, 26). Diese ergänzende Perspektive Fechners entsteht vor allem durch zwei filmische Stilelemente: den Einsatz der Audioebene (Musik, Stimmen aus dem Off, historische Töne aus dem Radio u.  a., kurz: Fechners Spiel mit dem On und Off) sowie den Einsatz der Plansequenz, d.  h. der langen, ungeschnittenen Kameraeinstellung als narrative Einheit, als „kleine Erzählung in der großen. Fechner fragmentiert nicht“ (Kiefer 2010, 269; zu speziellen filmischen Mitteln Fechners, wie z.  B. den Cliff Hanger zwischen dem ersten und zweiten Teil von Ein Kapitel für sich, vgl. Kiefer 2010, 272). Durch Fechners Gestaltungsfreiheit auf der auditiven und visuellen Ebene erhält Kempowskis fragmentarischer und episodenhafter Erzählstil eine abgerundete Perspektive. Die ästhetische Grundhaltung der beiden fast gleichaltrigen Chronisten deutscher bürgerlicher Geschichte des 20. Jahrhunderts, die Bernd Kiefer als medienhistorische „Wahlverwandtschaft“ bezeichnet, weist neben der scharfen Beobachtungsgabe weitere Ähnlichkeiten auf, besonders „die Tendenz zur Chronik, die Wahl des Blickwinkels der Figuren, die Konstruktion von Dialogen über Raum und Zeit hinweg, die Funktion der subjektiven Zeugenschaft und schließlich beider Zurückhaltung, was Kommentare und Wertungen angeht“ (Kiefer 2010, 265). 3  Filmsprache und Romansprache Die Poetik des Kleinteiligen, die Kempowskis Texte bestimmt, bringt per se schon etwas Filmisches mit: Kempowski schreibt mit Klammern und Parenthesen, mit Auslassungspunkten und viel wörtlicher Rede, mit Gedankenstrichen, direkter Rede im Dialekt wie „Iss dat noog?“ (Kempowski 2009c, 139), Abkürzungen, Kindersprache und Sprüchen wie „Wer fällt vom Pferde, wenn es furzt? / Das ist des Kaisers Unterurzt“ (Kempowski 2009c, 139) – all dies

3.3  Film und Fernsehen259

sind Elemente der vorwiegend gesprochenen Sprache, die bereits nach visueller Umsetzung drängen. Gedankeneinschübe in Klammern, die hin und wieder eine auktoriale Perspektive aufscheinen lassen („O Gott, sind wir das?“, Kempowski 2009c, 106), und zwar aus der Sicht dessen, der gerade erzählt – was in den Romanen immer wieder wechselt: Es gibt keinen durchgängig einheitlichen Erzähler –, die manchmal aber auch wie Bühnenanweisungen gelesen werden können („Bartels schüttelte den Kopf“, Kempowski 2009c, 50; „Das Papier strammte sich da“, Kempowski 2009c, 136), verdeutlichen diese Tendenz. Daneben finden sich Gedankensprünge, Perspektivwechsel – wenn eine Sache von unterschiedlichen Figuren betrachtet wird  –, abrupte Situationswechsel und Kurzreime, die einander ablösen und lediglich durch Zeilenumbruch oder kürzere wie längere Absätze voneinander getrennt sind. Der fast durchgehend im Präteritum verfasste Erzähltext der Romane, der durch das Präsens der direkten Rede immer wieder unterbrochen wird, eignet sich also besonders für eine filmische Adaption; weniger eignen sich dagegen die inneren Monologe, die häufig im Konjunktiv verfasst sind, z.  B.: „Alle hätten ‚nein‘ sagen sollen. Mangel an sogenannter Zivilcourage. […] Ein Volk von Ja-Sagern“ (Kempowski 2008b, 156  f.). Zudem betont Kempowskis „Schreiben in Blöckchen“, seine „NotizenMontage“, wie Manfred Dierks (Dierks 1984, 97  f.) sie nennt, das Episodische und den Zitatcharakter der Redeanteile (vgl. Kyora 2010, 298). Der geradlinige Stil, der kommentarfreie Realismus und die trockene, doch nicht feindselige Ironie (vgl. Maiwald 2010, 333) kommen dadurch noch stärker zur Geltung. Aus der Summe der partikularen Stimmen entsteht jedoch mehr als deren Addition, nämlich „ein Kollektiv, dem in letzter Konsequenz der Rezipient angehört“ (Pontzen 2010, 358). Für die Filme ist ein ähnliches Gestaltungsmuster erkennbar: Mehr noch als im Zweiteiler Tadellöser & Wolff drängt sich im Dreiteiler Ein Kapitel für sich durch die inhaltliche Verschränkung mehrerer Romanvorlagen die Gleichzeitigkeit als Organisationsprinzip auf: Wenn Kempowski im Roman bereits „multiperspektivisch in Textsegmenten Margarethe, Walter und Robert Kem­powski erzählen lässt und Briefe von Schwester Ulla und Onkel Robert einbaut“ (Kie­fer 2010, 270–271), so wird das Material bei Fechner zusätzlich mit Ausschnitten aus Kempowskis Haftbericht Im Block unterlegt. Es sind insgesamt vier Personen, aus deren Perspektiven vom Zusammenbruch und „dem langsamen Wiedererwachen sozialen Lebens zwischen Trümmern“ (Fechner 1979, 40–41), von der Teilung des Landes in vier Besatzungszonen und der späteren Aufteilung in zwei selbständige Staaten berichtet wird. Fechner betonte die Notwendigkeit der Straffung und schärferen Akzentuierung des Stoffes im Drehbuch gegenüber den Romanvorlagen, und dass diese Komprimierung auch häufiger wechselnde Schauplätze erforderte. Der Handlungsablauf in Ein Kapitel für sich folgt also einem weniger ruhigen Duktus als in Tadellöser & Wolff. Zudem veränderte die notwendige Auswahl „aus der Fülle der im Buch berichteten Erlebnisse“ die „Gewichte von Inhalt, Form und Ausdruck“; das Buch übernahm lediglich die Funktion der „Mutterschaft“ (Fechner 1979, 40–41). Grundsätzlich habe,

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3  Systematische Aspekte

wie auch schon bei Tadellöser & Wolff, Fechners eigene Erinnerung an die Kriegs- und Nachkriegszeit als Auswahlkriterium gedient; es handelt sich also um eine Auswahl, „die ich ja nur nach subjektiven Maßstäben treffen konnte“ (Fechner 1979, 36). Der Vergleich zwischen Drehbuch oder Post-ShootingScript und den Romanvorlagen wäre hier sicherlich aufschlussreich und stellt ein Desiderat der bisherigen Forschung zu Kempowski dar. Kempowskis Interesse an Simultanität ist auch für seine grundsätzliche Begeisterung für Film und Fernsehen belegt (vgl. Hempel 2004, 119  f.). Neben seiner Vorliebe für Robert Altmans Film Short Cuts (1993), der vielleicht auch Einfluss auf seinen Schreibstil genommen hat, nahm er sich für das Werk Bloomsday ’97 (Kempowski 1997a), dem Tagesablauf des Protagonisten Bloom aus James Joyce Ulysses (1922) entsprechend, eine Verschriftlichung des Fernsehprogramms vom 16. Juni 1997 vor. Diese Archivierungsarbeit (vgl. Gilfillan 2010, 153) begann mit dem ZDF-Morgenmagazin um 8 Uhr und wurde bis zu den Übertragungen um 3 Uhr früh des Folgetages durchgeführt. Kempowski und seine Mitarbeiter zappten dabei auf zwei Geräten mit der Fernbedienung zwischen 37 Fernseh- und Rundfunkstationen im zyklischen Wechsel hin und her und zeichneten dies über Videorecorder und Tonband­ gerät auf (vgl. Kempowski 1997a, 395; sowie Bloomsday ’97). Das oft nur Angedeutete und Unvollständige gesprochener Sprache als transkribierter Dialog im Zweispaltensystem, auf fast 400 Seiten und zwischen zwei Buchdeckel gesetzt, kommt letztlich dem nahe, was dem Buch als Motto vorangestellt ist: Es handelt sich um ein Textkonglomerat „… in dieser geschwätzigen, allumfassenden, mischmaschigen Chronik“ (Kempowski 1997a, 5; vgl. auch, für das Zitat, Joyce 1975, 595). 4 Historizität Die Zeitzeugenschaft Kempowskis kann grundsätzlich als Quelle seines historiographischen Ansatzes und als ein verlässliches Stück Erinnerungskultur gesehen werden, da der Autor täglich und minutiös im Schreibprozess „die Erinnerung wach gehalten“ hat; die „Nazizeit“ blieb dementsprechend „frisch“ (Haneke 2005) in seiner Erinnerung. An dem Roman Tadellöser & Wolff hat Kempowski nach eigener Aussage in den Jahren 1956 bis 1971 gearbeitet. Insgesamt hat er 8000 Tagebücher gesammelt und mit nicht weniger als 100.000 persönlichen Fotos versehen (vgl. Haneke 2005). In seinem Bemühen, „ganz nah an die Zeit des Krieges heranzukommen“ (Kyora 2010, 303), grenzt sich Kempowski damit deutlich von den Strategien seiner Zeitgenossen wie beispielsweise Edgar Reitz ab, dem er überdies vorwirft, nicht gründlich genug für seine Heimat-Filme recherchiert und viele Detailfehler begangen zu haben (vgl. Kyora 2010, 303). Kempowski wurde in diesem Zusammenhang auch als „mnemotechnisches Genie“ (Kramberg 1972, zitiert nach Kyora 2010, 299) bezeichnet. Die Frage der Fiktionalität, die bei der Rekonstruktion von Vergangenheit nicht nur für Historiographen, sondern besonders auch für Literaten eine entscheidende Frage auf der Suche nach dem ‚Wahrheitsbegriff‘

3.3  Film und Fernsehen261

ist, verschränkt sich immer mit der Intentionalität des Geschriebenen: Wenn Familiengeschichte als Zeitgeschichte vorgeführt wird, unterliegt sie im doppelten Sinne der Gefahr der Subjektivierung – einerseits durch das persönliche Erleben des Vergangenen, andererseits durch die subjektive Transformation des Erlebten in Sprache. Allein die Auswahl der zu erzählenden Episoden und Anekdoten ist im Rekonstruktionsprozess perspektivbildend. Relativierungen, die sich bisweilen durch das Nebeneinander von Meinungen und Äußerungen im Collageprinzip Kempowskis ergeben – wie z.  B. durch Tagebucheintragungen junger Soldaten mit antisemitischen Gedanken, die neben Gedanken von Widerständlern stehen –, können dabei als Gefahr angesehen werden. Dieses Nebeneinander, wiederum dem Prinzip der Gleichzeitigkeit folgend, sorgt jedoch für Vergleichspunkte, die ein mentales Gesamtbild ergeben. Kyora sieht die Nähe zur Historiographie dadurch gegeben, dass „Kempowski ja Dokumente sammelt und nichts erfindet“ (Kyora 2010, 304). Fechner konnte außerdem ein breites Spektrum an Erfahrungswissen aus den Erzählungen anderer deutscher Familien beisteuern. An die sechzig Lebensberichte wertete er in seinem Berufsleben aus und verarbeitete sie künstlerisch. Dabei wählte er nach dem Zufallsprinzip Interviewpartner aus, indem er ihm unbekannte Personen aufsuchte und sie nach ihren Lebensumständen und -erfahrungen befragte. Die „schwer erforschliche Normalität“ war es, der er „beharrlich und kontinuierlich immer wieder nachspürt[e]“ (vgl. Netenjakob 1989, 16, 105, 228; Fechner 2005) Interviews und Porträts, die in seine Fernsehfilme von Nachrede auf Clara Heydebreck (1969, NDR) bis zu den Comedian Harmonists (1977, NDR) eingegangen sind, schärften sein Bewusstsein für den Zusammenhang von Zeitgeschichte und privatem Leben, wenngleich sich kaum einer seiner Porträtierten „zeitlebens um Politik gekümmert“ (Fechner 1979, 31–32) hat. Die Härte der Ereignisse des 20. Jahrhunderts machte die Deutschen nolens volens zu politischen Wesen, denn ihre Biographien waren allesamt geprägt von den Wirren der Nachkriegsjahre in den 1920er Jahren, von der Inflation, der Arbeitslosigkeit und den Folgen der nationalsozialistischen Politik mit Bombennächten, Flucht, Emigration oder wirtschaftlichem Zusammenbruch. Selbst die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, die für viele nur aus Hunger, Kälte und Nahrungssorge bestand, musste das politische Bewusstsein prägen. Das private Dasein war von zeitgeschichtlichen Entwicklungen und gesellschaftlichen Zwängen bestimmt (vgl. Fechner 1979, 31–32). Die Möglichkeit, dabei dennoch einen Rückzug ins Private vornehmen zu können, was sicherlich als wohltuender Luxus empfunden worden sein mag, wird oft unterschätzt. Insofern liegt bei einem Erinnerungsdiskurs aus dem gleichsam geschützten, privaten Raum, wie dies bei Kempowski der Fall war, eine innere Distanzierung vor, welche die Beteiligten leicht als „Logenbewohner der Geschichte“ (Kiefer 2010, 270) erscheinen lässt. Filmisch zeigt sich dies in der letzten Einstellung des ersten Teils von Tadellöser & Wolff, in der sich – es ist der 1. Mai 1945, an dem die russischen Soldaten in Rostock einmarschierten – die Familie Kempowski mit den Worten der Mutter „Ich glaub’, wir gehen ’rein“ vom Balkon zurückzieht, in der also gezeigt wird, wie

262

3  Systematische Aspekte

der „Kern deutscher Innerlichkeit“, so Kiefer, „in seiner politischen Dimension manifest [wird]: Man will schon jetzt nicht dabeigewesen sein“ (Kiefer 2010, 270). Dass die Redewendung ‚Uns geht’s ja noch gold‘ nicht nur einen Zustand beleuchtet, sondern vielmehr eine Perspektive, wird hier deutlich. Dessen ungeachtet ist Kempowskis literarisierte Familiengeschichte als bürgerlicher Erinnerungsort durch die Verfilmung Fechners anerkanntermaßen zu einem „Panorama der deutschen Mentalitäten des 20. Jahrhunderts“ (Hickethier 1998, 456) geworden. Ganz im Sinne der Vergangenheitsbewältigung der 1970er Jahre, bei der es – im Unterschied zu der moralisch aufgeladenen Bewältigung in den 1960er Jahren – eher darum ging, den Opferdiskurs in einen Täterdiskurs zu transformieren oder ihn zu relativieren (wozu in der literarischen Vorlage die indirekte Rede, Zitate, Fragen und selbstreflexive Überlegungen des Ich-Erzählers beitragen), ist der erinnerungspolitische Diskurs Kempowskis wie Fechners dem Bemühen geschuldet, kulturelle Topographie aus einem distanzierten Blickwinkel entstehen zu lassen, der dem Charakter der Sammlung nahekommt. Der Forderung Kempowskis, seine Romane als „Archivführer“ (Feuchert 2010, 140) zu lesen, entspricht die Verschränkung von Erinnerungsräumen einer Familie mit den Informationsräumen des öffentlichen Fernsehens und weist zugleich entscheidende Aspekte der Intermedialität einer ‚modernen‘ Erinnerungskultur auf: Der Gegenwartsstandpunkt, von dem die Retrospektive ausgeht – „Das war ich. Lang ist’s her. Die Familie Kempowski“ (Fechner 2005), wie es in der ersten Sequenz des Films Tadellöser & Wolff heißt –, wird mit medialen Markern in Form von Realien (Fotographien, Zeitungsausschnitte etc.) abgesteckt. Die ‚Realität‘ der filmischen Darstellung und damit ihr Anspruch auf Historizität erweist sich – wie bei der literarischen Vorlage – als „Kippfigur von Unmittelbarkeit und Rückblick“ (Pontzen 2010, 357). Wenn Alexandra Pontzen Kempowskis Spätwerk unter dem Zeichen der Selbsthistorisierung sieht (vgl. Pontzen 2010, 347), so lässt sich ergänzen, dass dies auch für Fechners Verfilmungen gilt: Retrospektiv betrachtet werden diese Filme zum Medium einer Suche nach der verlorenen Zeit (vgl. Kiefer 2010, 267). In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre war das öffentliche Fernsehen bereits zu einem Medium geworden, das ein Millionenpublikum erreichte. Die Privatsender steckten jedoch noch in den Anfängen, d.  h. es lag noch keine derartige Ausdifferenzierung der Kanäle vor wie heute, so dass der tägliche Gesprächsstoff über das am Vortag Gesehene zum allgemeinen Tagesdiskurs gehörte. Der Verlust der gemeinschaftlichen Sehgewohnheiten und die Zerstreuung der Inhalte zeigen sich in diesem Fall deckungsgleich mit dem Einbruch des Trägermediums: Das Ende des deutschen Bildungsbürgertums (aus historischer Perspektive) geht einher mit dem Ende des bürgerlichen Fernsehens – ein historisches Ereignis im doppelten Sinne. 5  Wiedererkennung und Identifikation Filmerinnerungen und persönliche Erinnerungen verschränken sich oft wechselseitig. Im Roman Tadellöser & Wolff wird durch die wiederholte Refle-

3.3  Film und Fernsehen263

xion kanonischer filmischer Werke mit Blick auf den jeweiligen historischen Kontext der Film als Genre in den Rang historischer ‚Wahrheit‘ erhoben; er wird zumindest, wenn nicht zur Quelle, so doch wenigstens zu einem historischen Ereignis. Die Bedeutung des Kinos für junge Menschen im Deutschland der Nazizeit ist bekannt; dies spiegelt sich auch bei Kempowski wider, wo es heißt: „Wir sahen jeden Film“ (Kempowski 2008b, 92, Hervorhebung im Original). In den 1930er Jahren sahen die Jugendlichen amerikanische Produktionen mit Laurel und Hardy, d.  h. die anarchistischen Dick- und Doof-Filme; Kempowski berichtet, dass beim Großvater das Geld für den Kinobesuch erbettelt werden musste (vgl. Kempowski 2009c, 25  ff.). Später sahen die Brüder deutsche Filme: „Im Kino ‚Reitet für Deutschland‘ mußten die Anfangszeiten geändert werden wegen der langen Wochenschauen. Kriegsgeschehen aus aller Welt“ (Kempowski 2009c, 126; vgl. auch Kempowski 2009c, 151 u. 330–334) oder „Ist es nicht großartig, was wir Deutschen für Filme haben?“ (Kempowski 2009c, 336; vgl. auch Kempowski 2009c, 337  f., 352 u.  a.). Die Filme, an die sich der junge Walter Kempowski in seiner Haftzeit in Bautzen erinnert, „bilden den Fundus des Geschichtenerzählens“ (Kiefer 2010, 261–262; vgl. auch Kempowski 2008b, 339  f. u.  a.); sie dienen auch als Zeitmarker: „Wo waren Sie am 23. September 1947?“ – „Im Kino.“ (Kempowski 2008b, 347) Die eigene Erinnerung wird an filmischen Erinnerungsstrategien gemessen: „In einem anderen Film Hitler als wildes Tier mit Krallen in einem Käfig. Den hatte man anders in Erinnerung“ (Kempowski 2008b, 92). Bilder der Vernichtung, die im besonderen Maße den unzweifelbaren Zeugnischarakter des Visuellen enthalten, rufen dabei tiefere Erinnerungen hervor als andere. „Ich spüre, wie es mir hilft, sich die Kempowski-Sprache anzueignen“ (Schwartz 1979, 170), äußerte sich damals der Schauspieler Stephan Schwartz zu den Dreharbeiten und benannte damit den spezifisch Kempowskischen Vergangenheitsbezug, zu dem er  – als Vertreter der jüngeren Generation  – zunächst wenig Affinität aufwies. Ursache dafür könnte u.  a. sein, dass der Zuschauer mit „bewusst politisch-ästhetische[r] Unzeitgemäßheit“ (Kiefer 2010, 267) angesprochen wird. Denn im Vergleich zu Fechner haben die deutschen Autorenfilmer wie Volker Schlöndorff, Alexander Kluge oder Rainer Werner Fassbinder damals, selbst wenn sie bürgerliche Vergangenheitsthemen aufarbeiteten, „dezidiert keine bürgerlichen Filme“ (Kiefer 2010, 267, Hervorhebung im Original) produziert. Welchen Vorteil konnte also Fechners/ Kempowskis Filmästhetik haben? Fechner beantwortet diese Frage dahingehend, dass über die Spiegelung des Lebens derer, die die Leidtragenden waren, das Band der Identifizierung stärker ist: „Gerade die Darstellung durchschnittlicher Schicksale, denen der meisten Zuschauer vergleichbar, gibt diesen über den Weg der Identifizierung die Möglichkeit zur Anteilnahme und zu Einsichten in gesellschaftliche Zusammenhänge“ (Fechner 1979, 33). Gerade die „vermeintliche Unbedeutendheit“ führe dazu, so argumentiert er weiter, „daß jene Lebensberichte für den normalen Zuschauer bedeutsam werden konnten, beachtenswert, lehrreich“ (Fechner 1979, 33). Das kollektive Sprechen derer, die mit vielen vergleichbar

264

3  Systematische Aspekte

waren, erweist sich bei der Konstruktion von Vergangenheit als paradigmatisch. Bei Familie Kempowski handele es sich „um eine ganz normale, mit vielen in diesem Land vergleichbare Familie“ (Fechner 1979, 34). Die Wahl der Hauptdarsteller, damals bereits bekannte Gesichter aus dem Unterhaltungsfernsehen – Karl Lieffen war z.  B. als Komiker in Nick Knattertons Abenteuer von 1958 oder als kalauernder Polizist in der Serie Dem Täter auf der Spur in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren bekannt geworden (vgl. Kiefer 2010, 267  f.) –, trug ihr Übriges dazu bei, diesen Diskurs der Glaubhaftigkeit vom ‚Kerl von nebenan‘ als Stellvertreter einer breiten Schicht zu unterstützen. Daneben wird die Rolle des Bürgertums im Nationalsozialismus mit ihrem verstockten, muffigen Schichtenbewusstsein (vgl. Scheffel 1971) offengelegt. Die „Unbeweglichkeit dieser Familie, und mithin der gesamten bürgerlichen Klasse“, so Schumacher, „hebt Fechners Inszenierung wiederholt in langen, anhaltenden Kameraeinstellungen hervor. Die Folge ist zumindest eine Abwesenheit von Pathos […]“ (Schumacher 2018, S. 74). In diesem Zusammenhang wird auch die allgemeine deutsche Nachkriegs-Unfähigkeit zu trauern, wie sie von Alexander und Margarete Mitscherlich attestiert wurde (vgl. Kiefer 2010, 271), evident. Es geht ja noch gold. Es steht außer Frage, dass in dem Dreiteiler Ein Kapitel für sich die schrittweise Auflösung der bürgerlichen Existenz einer Familie geschildert wird; doch ändert dies nichts an der Tatsache, dass es sich hierbei, filmisch wie literarisch, um die Konstitution von Gemeinschaft aus ihrer Imagination handelt. Nicht nur durch die Praktik der täglichen Einübung kultureller Erinnerungsarbeit hat sich Kempowski zum Nationalschriftsteller (vgl. Pontzen 2010, 356–358) empor geschrieben, sondern Wiedererkennung und Identifikation funktionieren bei Kempowski wie bei Fechner für den Zuschauer durch die Hinwendung von der lokalen Privatheit zur Inszenierung des Privaten in der Öffentlichkeit. Gilfillan verweist in diesem Zusammenhang auf Michel de Certeaus L’Invention du Quotidien (vgl. Gilfillan 2010, 155). Die imaginierte Gemeinschaftsbildung, die daraus entsteht, erfolgt über den Anspruch der Authentizität mit rezeptionssteuernder Funktion. Um hier noch einmal den Regisseur sprechen zu lassen, der sich dabei auf André Bazin und Egon Monk bezieht: Realistische Fernsehspiele bilden die Wirklichkeit ab, und zwar sollten sie sie so abbilden, daß die Wirklichkeit erkennbar bleibt. Dies ist der Zugang für die Millionen Fernsehzuschauer, aber sie zeigen die in der Wirklichkeit verborgenen Zusammenhänge mit, die nämlich sind in der Wirklichkeit selbst nicht erkennbar (Fechner 1979, 35).

Die Nachkriegszeit betrachtete Fechner aus der Perspektive des Jahres 1979 als terra incognita; er bedauerte den Mangel an (nicht nur filmischer) Aufarbeitung der deutschen Geschichte nach 1945, vor allem aber auch der Auflösung des Bürgertums in der DDR. Insofern sah er seine Aufgabe darin, „durch die Personalisierung zeitgeschichtlicher Abläufe […] das Interesse der Zuschauer an diesem historischen Stoff zu wecken, ohne dabei die politischen Fakten selbst zu trivialisieren“ (Fechner 1979, 40). Zur besten Sendezeit ausgestrahlt

3.4  Haus Kreienhoop265

(vgl. dazu Kiefer 2010, 264) und mit Begeisterung aufgenommen, haben beide Künstler mit ihren Artefakten ihr erstrebtes Ziel erreicht: Kempowski die Einschreibung in die Nachwelt (vgl. Schöttker 2008, 28–34) und Fechner die Konstruktion von Archivierung und lebendiger Erinnerung mit filmischen Mitteln.

3.4  Haus Kreienhoop Dirk Hempel

Walter Kempowskis Haus Kreienhoop in Nartum, vom Autor selbst geplant als Kloster, Seminargebäude und Museum, ist Teil des Gesamtwerks. 1974 im Urzustand eingeweiht, hat Kempowski es über die Jahre erweitert und umgebaut. Heute beherbergt es ein Museum zu Leben und Werk des Autors und dient der Stiftung Haus Kreienhoop als Veranstaltungsort für Lesungen, Konzerte und Seminare (vgl. Kempowski 1979g; Kempowski 1979h; Hempel 2001; Hempel 2010; Henschel 2009; Matuschek 2010). Anfang der 1970er Jahre begann Kempowski mit Planungen für den Bau eines Hauses am Rand von Nartum, wo er bis dahin mit seiner Familie die Lehrerwohnung in der Dorfschule bewohnt hatte. Erste Überlegungen für einen späteren Hausbau datieren noch aus dem Zuchthaus Bautzen, in dem Kempowski zwischen 1948 und 1956 wegen angeblicher Spionage inhaftiert gewesen war. Haus Kreienhoop plante Kempowski zusammen mit dem Architekten Christian Krauss, den er aus Göttinger Studienzeiten kannte, auf Zuwachs, in Abhängigkeit von der Entwicklung seiner Autorenhonorare. Baubeginn war 1973, die Einweihung wurde im August 1974 gefeiert. In diesem ersten Bauabschnitt entstand das zweigeschossige Wohnhaus mit tief heruntergezogenem Spitzdach und waagerecht verbrettertem Giebel. Die große Halle diente als gemeinsamer Aufenthaltsraum der Familie. Daran schlossen sich zwei Wohnzimmer an: das mit Biedermeiermöbeln eingerichtete ‚Damenzimmer‘ und die sogenannte Omastube, ein Zitat bürgerlicher Behaglichkeit aus der Zeit des Wilhelminismus. Sie wurden an der Außenseite durch einen flachen Holzvorbau miteinander verbunden, in dem die Bibliothek untergebracht war, eine Reminiszenz an Warnemünder Sommervillen und ihre Veranden. In den oberen Stockwerken befanden sich die Räume der Familie, Schlafzimmer und Kinderzimmer. Im späteren Archivraum im ersten Stock wurde 1975 die Anfangsszene von Eberhard Fechners Tadellöser & WolffVerfilmung gedreht. 1976 wurde vom Büchergang aus eine verglaste Veranda als Sommerwohnraum in den Garten hinausgebaut. Drei Jahre später entstand dann in einem weiteren Bauabschnitt das hintere Haus, ein Flachdachbau aus Holz und Glas. Das Gebäude entwickelte sich zu einer Mischung aus Niedersachsenhaus und modernem Bungalow. Auch auf der östlichen Seite entstand ein verglaster Gang, wodurch in der Mitte zwischen Haupthaus und Bungalow ein Innenhof gebildet wurde. Der westliche Gang erweiterte sich zum Bücher-

266

3  Systematische Aspekte

gang, in dem heute rund 10 000 Bücher und die Video-Sammlung historischer Spielfilme aufbewahrt werden. In dem Roman Hundstage ist diese Bibliothek geschildert: „Der Büchergang war zweiundzwanzig Meter lang, Sowtschick maß ihn immer wieder aus, er freute sich, daß in der Architekturzeitschrift gestanden hatte: ‚Minutenlang geht man hier an Büchern vorüber‘“ (Kempowski 1988a, 11). Der Bungalow besteht im Wesentlichen aus einem langgestreckten Saal mit Fensterfront Richtung Norden. 1983 kam dann östlich des Saals der fünf Meter hohe, rundgemauerte Turm hinzu, als Gegenstück diagonal zum Teepavillon. Im Jahr 2000 schließlich wurden im vorderen, östlichen Bereich Räume angebaut, die bis zur Abgabe an die Akademie der Künste 2006 das „Archiv für unpublizierte Autobiographien“ sowie eine umfangreiche Sammlung von Alltagsfotographien beherbergten. Sie liegen am sogenannten Archivgang, der den Kreuzgang um das Haus schließt und zum Eingang des Hauses zurückführt. Kempowski orientierte sich an mittelalterlicher Klosterarchitektur mit Kreuzgang, Innenhof, Kapitelsaal und Kapelle, als er das Haus plante. Der Kreuzgang von Haus Kreienhoop symbolisiert eine Lebensform, in der Kempowski zum Mönch in seinem modernen Klaustrum wurde. Der Büchergang und die Archive enthielten Voraussetzung und Ergebnis seiner Arbeit als Autor, der verbindende ‚Kapitelsaal‘ diente den Seminaren, dem Lehren und Lernen um Literatur herum. Über einen Zeitraum von drei Jahrzehnten wuchs das Haus wie das schriftstellerische Werk des Autors. Es verfügt heute über eine Wohn-, Arbeits- und Veranstaltungsfläche von gut 700 Quadratmetern. Das parkartige Grundstück mit einer 150 Meter langen Allee, einem Rundlauf, der dem Bautzener Hofgang nachempfunden ist, mit Wald und Schafweide hat eine Ausdehnung von mehr als 3000 Quadratmetern. Eine halbkreisförmige Auffahrt führt auf einen kiesbestreuten Platz. Hier stehen zwei Rotdornbäume, eine ortsübliche Gepflogenheit aus den 1920er Jahren, aber auch Erinnerung an die Bepflanzung des Gefängnishofs in Bautzen. Neben dem Archivbau befindet sich ein Nutzgarten mit Hühnerstall und ‚Obsthof‘. Der Park ist mit Skulpturen ausgestattet, menschlichen Gestalten in Holz und Stein sowie Figuren aus der griechischen Mythologie. An der Allee steht der Grabstein der Großmutter Anna Kempowski sowie zwei Büsten des Bildhauers Manfred Sihle-Wissel, die den Komponisten Berthold Goldschmidt und den befreundeten Kollegen Günther Kunert ehren. Das Haus diente Kempowski und seiner Familie zum Wohnen, dem Schriftsteller zum Arbeiten, dem Pädagogen für Literaturseminare, Sommerclubs und Autorentreffen. In manche Werke ist es eingegangen (Hundstage, Sirius), andere hat es inspiriert (Bloomsday ’97). Es stellte schon zu Lebzeiten des Autors Requisiten der Romane aus und versammelte im Archiv die Tagebücher, Briefe und Fotographien, die die Voraussetzung für das Entstehen des Echolots bildeten. Auf diese Weise symbolisiert es Kempowskis künstlerischpädagogisches Programm, ist es selbst zu einem Teil seines literarischen Werks geworden: „Das Haus ist nicht modern, es weist nur einige moderne Acces-

3.5 Montage/Collage267

soirs auf, und doch ist es zeitgemäß, weil es ganz meiner Arbeit und meinem Denken entspricht. Es ist wie eine Schädeldecke“, hat Kempowski gesagt, und: „Das Zentrum bin ich selbst, aber wo liegt das Zentrum in mir? – Es heißt Schuld und ist nicht darstellbar. So ist das Haus eine Fluchtburg, Gefängnis und Festung zugleich, die mir verhilft, das Sühnewerk zu vollenden.“ (Hempel 2010) Diese quasireligiöse Selbsteinschätzung zielte auf die Hauptwerke der Deutschen Chronik und das kollektive Tagebuchprojekt Echolot. Seit Kempowskis Tod im Oktober 2007 wird das Haus von einer Stiftung als Literaturmuseum und kulturelle Veranstaltungs- und Begegnungsstätte betrieben. In der Sekundärliteratur aber auch von Kempowski selbst wurde es mehrfach thematisiert (vgl. Kempowski 1979h; Hempel 2001; Matuschek 2010).

3.5 Montage/Collage Carla Damiano 1  Erst einmal das Sammeln… . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 2  Der Weg zur Montage/Collage als Kunst- und Ausdrucksform . . 272 3  Warum ‚Collage‘ bei Kempowski? . . . . . . . . . . . . . . . . 275

Die Begriffe Montage und Collage sind scheinbar austauschbar, zumindest was Walter Kempowskis Schreibverfahren betrifft. Inwiefern die beiden Termini zu unterscheiden wären, steht jedoch nicht im Mittelpunkt dieses Beitrags. Hier soll vielmehr der Frage nachgegangen werden, wie Kempowski an die lange Tradition des Zitats in der Literatur anknüpfte und daraus seine eigene Technik des literarischen Schaffens zu entwickeln begann: Wie das Wundern der Ansatz zur Beschreibung unserer Welt sein kann, so ist auch die Konstatierung des Immergleichen  – über das man sich allerdings wundern müsste, um es zum bewegenden Schreibmotiv werden zu lassen – ein Rezept, das taugt, eine Knastbeschreibung zustande zu bringen. Und ausgerechnet diese Einstellung bewegte mich, als ich, wieder in Freiheit, begann, meine offenbar verlorenen Jahre per Beschreibung zurückzugewinnen. Ich tat dies, nachdem andere Formen sich untauglich erwiesen, mittels einer Collage. (Kempowski 1983d, 5)

Das Montieren und Zusammensetzen verschiedener Textpartikel unterschiedlicher Herkunft – Kempowski nannte diese Texte ‚Fremdstatements‘, da sie im Gegensatz zu ‚Eigenstatements‘ bzw. von ihm selbst verfassten Texten nicht von ihm stammten (vgl. Kempowski 1994  f) – mit Fotographien und anderen Kulturgütern, etwa in der Form von Liedtexten oder Gedichten, haben ihn zu einem der bedeutendsten Schriftsteller der Nachkriegsgeneration gemacht (vgl. Hage 1981; Hage 1984; zur Bedeutung der Technik des Montierens und Zusammensetzens vgl. auch Meyer 1961). Seine Schaffensmethode verlangte

268

3  Systematische Aspekte

eine Vielfalt an Materialien aus anderen, nicht nur den eigenen Quellen, so dass er sich schon am Anfang seiner Karriere dem Sammeln von ‚Fremdmaterialien‘ verschiedenster Herkunft widmete, ganz gleich, ob sie in schriftlicher oder bildlicher Form oder als Audioquelle auf Tonband vorlagen. Kempowski beschreibt den für ihn besonderen „Reiz“ (Kempowski 1983d, 2) und legt einige Aspekte, die der Technik der Collage inhärent sind, dar, wie zum Beispiel gleichzeitiges Zitieren, anachronistisches oder zufälliges Zusammentreffen verschiedener sozialer Personenkreise (vgl. Kempowski 1983d, 2). Weil er sich aber auch darüber bewusst war, dass die Kritiker sich in der Bezeichnung seiner Romane entweder als Montage oder als Collage nicht einig waren, versuchte er in dem 1983 geschriebenen Essay unter dem Titel Collage eine eindeutige Trennlinie zu ziehen: Gelegentlich werden meine Romane von der Kritik als Collagen bezeichnet, wohl auch als Montagen, was vermutlich dasselbe meint. […] Bei näherer Betrachtung jedoch fällt die berühmt gewordene Leerzeile auf, in Tadellöser & Wolff; dem Kundigen ist sie schon im Block begegnet, nun ist die Leerzeile ja noch kein Indiz für Collage. Sie weist eher auf eine Montage hin […]. Aus dem Phänomen der Leerzeilen jedoch auf Collage-Technik zu schließen, das ist vorschnell geurteilt. Während das Wort Montage lediglich darauf hinweist, daß hier verschiedene Versatzstücke – egal aus welcher Quelle  – zusammengefahren wurden (eben aus Zetteln entstandene Texteinheiten), so greift das Wort Collage doch weiter. Bei Collage denken wir nicht zu Unrecht an Bilder von Max Ernst oder Schwitters, in denen autonome Stücke zusammengesetzt werden und dann eine Spannung erzeugen durch das Nebeneinander von anscheinend Unvereinbarem. Eine Collage läßt sich montieren, eine Montage jedoch nicht collagieren. (Kempowski 1983d, 1, Hervorhebung im Original)

Obwohl es Kempowski in dieser kurzen Überlegung ebenfalls nicht gelingt, eine eindeutige Trennlinie zwischen Montage und Collage zu ziehen, kam er trotzdem zu der Überzeugung, dass eine Collage mehr Möglichkeiten biete als eine Montage. Die von der Collage „erzeugte Spannung“ (Kempowski 1983d, 1), wie er es nannte, resultiere aus dem Zusammentreffen unähnlicher Elemente; zumindest aus Sicht des Künstlers könne dies als ein beabsichtigter Endeffekt des Werkes verstanden werden. Eine andere mögliche Interpretation, diesmal aus Sicht der Rezipienten, wäre, dass eine solche Zusammensetzung ganz andere Spannungen erzeugt oder Resultate erzielt, als die vom Künstler beabsichtigten oder vorhergesehenen. Interessant an Kempowskis Gedankengang ist auch, dass er sowohl den Roman Im Block mit seinen ‚Schlagerfetzen‘ als auch Tadellöser & Wolff – mit dessen Einbeziehung der vielen, jedem seiner Generation bekannten bürgerlichen Kulturgüter aus dem Alltagsleben – als Collagen bezeichnet. An einer anderen Stelle des Essays weist er jedoch auch darauf hin, dass das Wort Collage an sich nicht unbedingt als Kennzeichnung seiner frühen Romane genüge. Vielmehr gäbe es verschiedene Grade von Collagen, auf die er durch feine Differenzierungen im sprachlichen Ausdruck hindeute, wie zum Beispiel „eine Art“ oder „eine andere Spezies“ (Kempowski 1983d, 6) der Collage, was letztlich möglicherweise auch Montage zu nennen wäre.

3.5 Montage/Collage269

Trotzdem lässt Kempowski den Leser des Essays unzweifelhaft wissen  – darauf weist bereits der deutliche Titel hin –, dass er den Terminus Collage bevorzugt, obwohl er zugibt, dass der Begriff nicht auf jedes seiner Werke zutrifft. Darüber hinaus hat die wissenschaftliche Auseinandersetzung gezeigt, dass die Unterscheidung der Begriffe produktive Interpretationsprozesse befördert (vgl. Damiano 1998; sowie die Neubearbeitung Damiano 2005a, dort vor allem Kapitel 2; des Weiteren Damiano 2004 u. 2005b; sowie Pereira 2010). Jörg Drews hat 1993 die terminologischen Meinungsunterschiede der Kritiker auf den Punkt gebracht. Er bevorzugt den Ausdruck Montage in seiner Rezension der ersten vier Echolot-Bände: Walter Kempowski […] realisiert etwas, wovon Walter Benjamin in den dreißiger Jahren träumte. Kempowski erfüllt das Vermächtnis dessen, der sein Buch über die ‚Pariser Passagen‘ zumindest auf einer gewissen Stufe der Konzeption sich als pure Montage von Zitaten dachte, die so sprechend zu arrangieren seien, daß ein AutorKommentar überflüssig würde. (Drews 1993, I)

Zu den zeitgenössischen Autoren, mit deren Werken Kempowski stilistische Gemeinsamkeiten aufweist, zählen Arno Schmidt (Zettels Traum, 1970), Uwe Johnson (Jahrestage, 1970–1983), Alexander Kluge (Schlachtbeschreibung, 1964) und Peter Weiss (Die Ermittlung, 1965). Auch zum amerikanischen Schriftsteller John Dos Passos will er eine gewisse Affinität gehabt haben (vgl. Kempowski 1990a, 264). Aber bis zum Erscheinen der ersten Echolot-Bände war Kempowski in seiner bis dato fast 25-jährigen Karriere als Preisträger und Bestsellerautor in Deutschland weit entfernt davon, seine erste reine Montage von Zitaten zu bieten. Erst das Echolot führte die verblüffte Kritik dazu zuzugeben, dass Kempowski etwas Originelles, ja vielleicht Bedeutendes geschaffen habe, was der Nachkriegsliteratur viel zu bieten hätte. Laut der Kritiker erreichte Kempowski den Höhepunkt seiner Collage-Technik in Form sowie im Stil in den ersten vier – und dann auch in allen darauffolgenden – Echolot-Bänden. Das Verfahren – zunächst des Sammelns und Aufbewahrens, gefolgt vom Zusammensetzen und Montieren der fremden Materialien in seine literarischen Werke  – wurde anfangs von manchen Kritikern eher als Schwäche angesehen, als Mangel an Fantasie oder schriftstellerischen Fähigkeiten (vgl. Drewitz 1973, 171  f.). Raul Calzoni weist hingegen darauf hin, dass Norbert Mecklenburg zu den ersten Kritikern gehört, die verstanden hätten, dass die montierten ‚literarischen Fotographien‘ in Wirklichkeit zuverlässige Beweisstücke der deutschen Vergangenheit sind. Mecklenburg habe also die historische Beweiskraft von Kempowskis frühen Texten verstanden (vgl. Calzoni 2005, 115): Kempowskis Arbeitsweise ist das Sammeln und Ordnen. Seine Erinnerungsfragmente setzt er wie Mosaiksteinchen zusammen. Literarische Fotoalben entstehen, die, überscharf im Detail, Bild an Bildchen reihen. Dabei werden die bloßen Fakten durch Anekdoten, Verse, Schlager, Witze, Redensarten angereichert. So erscheint

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3  Systematische Aspekte

individuelle Lebensgeschichte als Montage aus kollektiven Normen, Sprachmustern, Bewußtseinsformen und Verhaltensweisen. Es wird letztlich keine Autobiographie erzählt, sondern eine Lebensform inventarisiert: ihr Name ist Bourgeoisie. (Mecklenburg 1977, 16)

1  Erst einmal das Sammeln… Das Sammeln von Briefen, Fotographien, Tonbandmitschnitten von Interviews, Tagebüchern und dergleichen schuf die Basis für Kempowskis riesiges Zitiervorhaben. Das Sammeln war es also, das seine Karriere sowohl als Schriftsteller als auch als Lehrer prägte. Dass das Collage-Verfahren von Kempowski auch als pädagogische Technik angewendet worden ist, wurde sowohl von Kempowski als auch von anderen Arbeiten bereits herausgestellt. (vgl. auch Damiano 2005b). Vor allem aber resultierten aus den Sammlungstätigkeiten zwei wesentliche Meilensteine im gesamten Schaffen des Autors: das Walter Kempowski Archiv und das Echolot. Insbesondere diese beiden Arbeiten bewirkten eine Anerkennung der Leistungen Walter Kempowskis, die weit über die Anerkennung für das rein literarische Schaffen hinausging. Wenngleich Mecklenburg Kempowskis literarisches Wirken in den 1970ern lediglich mit dem Portrait der ‚Bourgeoisie‘ gleichsetzt, so sieht Bundespräsident Horst Köhler dreißig Jahre später in Kempowskis Aktivitäten des Aufbewahrens und Sammelns den Inbegriff von Kultur: Das Vergangene sammeln, bewahren und für die Gegenwart zum Sprechen bringen: Vielleicht ist das, so ganz schlicht und kurzgefasst, das Signum seines Lebenswerkes. Aber ist das nicht auch eine mögliche Definition von Kultur überhaupt? Hat Kultur nicht elementar damit zu tun, das Vergangene aufzubewahren, die Geschichte lebendig zu erhalten und atmen zu hören? (Köhler 2007, o.  S.)

Köhler ging sogar so weit, Kempowski einen Volksdichter zu nennen, ähnlich der Gebrüder Grimm, und damit den anderen großen Sammlern der deutschen Sprache und Kulturgeschichte gleichzustellen. Diese Würdigung nahm auch die früheren Worte eines anderen Bundespräsidenten auf, nämlich die von Johannes Rau bei seinem Besuch in Nartum anlässlich Kempowskis 75. Geburtstag. Das Hamburger Abendblatt berichtete: „Damit würdigte Rau einen Autor, der etwa mit dem mehrbändigen kollektiven Tagebuch ‚Echolot‘ den Deutschen ‚ein einzigartiges Dokument ihrer Hoffnungen und Irrtümer, ihrer Sehnsüchte und ihres Versagens‘ geschenkt habe.“ (o. A. 2004, 7) Dies gelang – so Franz Josef Görtz – dank seiner „Sammlerwut“ (Görtz 1973, 245) und seinem Drang, sich die verschiedensten Geschichten anzuhören und sie dann für die deutschen Leser wiederzugeben. Unter seinen zeitgenössischen Schriftstellerkollegen war Kempowski nicht der Einzige, der frühzeitig ein Verständnis dafür entwickelte, dass die Geschichten aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs und dem Holocaust erst einmal gerettet und gesammelt werden mussten. Wo manche eher länger mit dem ‚Wie‘ haben kämpfen müssen, hat Kempowski eine Form aufgegriffen, die vieles

3.5 Montage/Collage271

sowohl mit der Vorkriegszeit und der Moderne als auch mit der Dokumentarliteratur der 1960er Jahre gemein hatte. Raul Calzoni sieht in Kempowskis Methode sogar eine innovative Möglichkeit, dem Diktum Adornos –‚Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben ist barbarisch‘– entgegenzuwirken, denn Kempowski habe nicht ‚nach Auschwitz‘ geschrieben, sondern seine wiedergegebenen Geschichten entständen und sprächen aus der Katastrophe selbst, das heißt, sie ergeben ein Protokoll der Realität, das der Katastrophe entspricht (vgl. Calzoni 2005a, 17). Dass Kulturgut der Vergangenheit verlorengeht, wenn man sich nicht die Mühe macht, es aufzubewahren, wurde Kempowski schon früh bewusst, wie seine inzwischen wohl meist zitierten Worte aus dem Text „Statt eines Vorworts“ des ersten Echolot-Bandes belegen (vgl. Kempowski 1993a, Bd. 1, 7). Dieses Bewusstsein des ehemaligen Häftlings zeigt nicht nur der Ausdruck des „babylonischen Chorus“ (Kempowski 1993a, Bd.  1, 7)  – gemeint ist das Stimmendurcheinander in den Bautzener Gefängniszellen, wo Kempowski zwischen 1948 und 1956 wegen angeblicher Spionage inhaftiert war –, sondern auch der Bericht eines Erlebnisses, das er in Göttingen erlebte: Jahre später, als ich in Göttingen studierte, sah ich einen Haufen Fotos und Briefe auf der Straße liegen, die Menschen traten darauf: es war die letzte Hinterlassenschaft eines gefallenen Soldaten, Fotos aus Rußland und Briefe an seine Braut. Das gab mir einen Stich, und ich sammelte die Sachen ein. (Kempowski 1993a, Bd. 1, 7)

Er fühlte sich dazu berufen, die Zeugnisse und Hinterlassenschaften anderer einzusammeln. Ebenso wichtig ist es, dass er an dieser Stelle demonstrativ als Handelnder, als Sammler und Zeuge zugleich auftritt. In den wenigen Worten des Vorworts zeigt Kempowski dem Leser, so Holger Helbig, „seine Wandlung vom Zeugen der Gegenwart zum Bewahrer der Vergangenheit.“ (Helbig 1999, 208  f.) Kempowski berichtet im Vorwort in der ersten Person Singular davon, wie er seinen Plan verwirklichte: „Ich hörte; ich sammelte ein; ich bin besessen von der Aufgabe zu retten; ich habe aufgesammelt; ich habe gesichtet und geordnet; ich habe zu einem Dialog formiert.“ (Kempowski 1993a, Bd. 1, 7) Die Reihe der Tätigkeiten beginnt zwar mit dem Sammeln, geht dann aber deutlich darüber hinaus (vgl. Helbig 1999, bes. 208  f.). Das ‚Ich‘ verwandelt sich in ‚Wir‘, in einen Appell an den Leser, sich an der Aufgabe des Bewahrens zu beteiligen: „Wir sollten den Alten nicht den Mund zuhalten; wir können aufnehmen und entschlüsseln; wir dürfen nicht verzichten; wir könnten ins Reine kommen.“ (Kempowski 1993a, Bd. 1, 7; vgl. auch Damiano 2005a, 147–152) Laut Helbig bezieht sich das „ins Reine kommen“ speziell auf Kempowskis Generation – die Täter-Generation. Ansonsten könnte man das „Wir“ auch den Lesern späterer Generationen zuweisen, die sich durch das Hören bzw. das Lesen der von Kempowski gesammelten Stimmen beauftragt fühlen sollen, die Geschichten weiterzuerzählen, damit Kempowskis ursprünglicher Zeugnisakt – und damit auch der Zeugnisakt derjenigen, um deren Texte und Fotografien es sich handelt – fortgesetzt wird. Die Diskussion über Kempowskis Selbst-Schilderung als handelnder Zeuge in dem Text „Statt eines Vor-

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3  Systematische Aspekte

worts“ wird ausführlich von Carla Damiano behandelt. Damiano verbindet Kempowskis Selbstbild als Zeuge und seinen Appell an den Leser, den Geschichten zuzuhören, um sie danach aufzubewahren, mit dem Phänomen der öffentlichen Lesungen aus dem Echolot (vgl. Damiano 2014). Es ist weiterhin sowohl aus dem Lebenslauf (vgl. Hempel 2004) und der erst seit 2007 allgemein zugänglichen Hinterlassenschaft des Autors als auch aus dessen 2012 von Dirk Hempel veröffentlichten frühen Tagebüchern bekannt geworden (vgl. Kempowski 2012, bes. 239–241, 244–245 u. 251), dass Kempowski kurz nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis mit dem Sammeln der Materialien begann, die einmal die Basis für die Romane der Deutschen Chronik ergeben sollten. Kempowski hatte schon 1957 in seinem Tagebuch die Idee zu einer ‚Familienchronik‘ erwähnt und Ostern 1959 bei Kaffee und Kuchen damit begonnen, die Erzählungen seiner Mutter mitzuschreiben. In der Folge erweiterte er den Kreis der Befragten so lange, bis er schließlich mit seinen Recherchen zufrieden war (vgl. Hempel 2004, 101  f.). Hempel belegt aber auch, dass Kempowski das Sammeln der Stimmen eigentlich schon 1950 als Gefangener in Bautzen begann (vgl. Hempel 2005, 22). Ferner erstellte der Autor mit Hilfe von Skizzen einen sich im Laufe der Jahre immer weiter entwickelnden Gesamtplan, in den jedes einzelne seiner Werke eingeordnet werden sollte (vgl. Hempel 2005, 33). Aber irgendwann wurde ihm selbst der erweiterte Blickwinkel der Familie zu eng (vgl. Hage 2009a, 9). Bereits 1972 erzählte Kempowski Volker Hage, er habe vor, ‚Fremde‘ zu befragen: „Kempowski [hatte] schon eine fixe Idee im Kopf. Er beabsichtige, […] Zeitzeugen eine einzige Frage zu stellen: ‚Haben Sie Hitler gesehen?‘ Aus den Antworten wollte er ein Buch zusammenstellen.“ (Hage 2009a, 12) Aus der einen Frage wurden schließlich drei, und aus denen entstanden die drei Befragungsbände (vgl. Kempowski 1973a; 1974a; u. 1979b), welche die Deutsche Chronik flankieren. Darüber hinaus sind die drei Befragungsbände auch deshalb wichtig, weil sie die drei Hauptthemen behandeln, die sich durch Kempowskis gesamtes Œuvre hindurch ziehen: Hitler, Konzentrationslager und Schule (vgl. Kempowski 1994  f, o.  S.). Kempowski plante also schon sehr früh, über seine Familiengeschichte hinaus ein repräsentatives Bild der deutschen Gesellschaft vor und nach 1945 zu liefern. Um dies zu erreichen, brauchte er die nötigen ‚Fremdmaterialien‘. 2  Der Weg zur Montage/Collage als Kunst- und Ausdrucksform Allgemein wurde lange angenommen, dass Kempowskis Interesse an dem Collage-Verfahren und dem Einbeziehen fremder Materialien auf die Zeit seiner Haft in Bautzen und den dortigen ‚babylonischen Chor der Stimmen‘ zurückgehe. Aus dem schon erwähnten Collage-Essay von 1983 wird aber ersichtlich, dass Kempowski selbst sein Interesse bis in seine Jugend zurückverfolgt. Er beschreibt im Essay eine Bildercollage in Form einer „Liebesgeschichte“ (Kempowski 1983d, 1), die er in einem Monatsheft gesehen habe und die aus zwei Kinokarten, zwei Kaffeegedecken, einer Blumenrechnung und dergleichen samt der Heiratsanzeige bestand. Dies habe ihn damals schon beein-

3.5 Montage/Collage273

druckt und ihn veranlasst, mit der Collage-Form zu experimentieren: „Ich schnitt nämlich aus Filmprospekten und Illustrierten Filmschauspieler und Jazz-Größen aus und beklebte damit die Wände, und zwar alle Wände meiner Dachkammer.“ (Kempowski 1983d, 1) Dies beschreibt er als seine erste Übung mit der Collage-Technik, und er dankt seiner Mutter, dass sie diese Tätigkeit duldete. Diese Technik habe eine starke Wirkung auf ihn gehabt, und schon zu diesem Zeitpunkt habe er die Möglichkeiten eines solchen Verfahrens erkannt: „Dies hat mich damals sehr beschäftigt und ich weiß noch wie heute, dass ich ebenfalls Zeugnisse dieser Art zu sammeln begann“ (Kempowski 1983d, 1). Es dauerte aber trotzdem noch einige Jahrzehnte, ehe Kempowski es zur Meisterschaft in diesem literarischen Verfahren brachte. Der Grundlage eines solchen Verfahrens war er sich aber schon damals bewusst: Man brauchte Materialien! Als 1969 sein Erstling Im Block erschien, worin Kempowski von seinen Erlebnissen als Häftling in Bautzen berichtet, war darin noch keines der Zeugnisse von ‚Fremden‘ aufgenommen, ebenso wenig wie in den zwei darauffolgenden Romanen Tadellöser & Wolff (1971a) und Uns geht’s ja noch gold (1972a). Man findet in den Werken lediglich Geschichten von Kempowski, d.  h. Geschichten, die aus eingeblendeten Interviews mit Familienmitgliedern und deren Freundes- und Bekanntenkreis entstanden sind, zusammen mit Schilderungen, die er durch sein eidetisches Gedächtnis rekonstruierte. Die Erzählperspektive in diesen frühen Werken wurde also nicht durch das Einbeziehen ‚fremder‘ Stimmen geändert. Doch die Aufarbeitung seiner eigenen Erinnerungen zeigte ihm die „Inzüchtigkeit [s]eines Tuns“ (Kempowski 1994  f, o.  S.). Er sprach von seinem Misstrauen gegenüber dem Prinzip der Eigenbefragung, weil es ihm schien, als nähme er seine subjektiven Erinnerungen zu wichtig. Er habe auch den Verdacht gehegt, dass seine Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg vielleicht nicht repräsentativ seien und demnach nicht der Wahrheit entsprächen (vgl. Kempowski 1994  f, o.  S.). Deshalb wollte er Im Block noch einmal schreiben. Das gesammelte Material aus Geschriebenem und Erzähltem sollte diesem Zweck dienen. In der Umschreibung von Im Block aus dem Jahre 1975 unter dem Titel Ein Kapitel für sich hat Kempowski versucht, diesem Misstrauen entgegenzuwirken, indem er sich der Collage-/ Montagetechnik bediente, einer Technik also, die er in den dazwischenliegenden Befragungsbänden mit ‚Fremdstatements‘ eingeführt und verfeinert hatte. Hempel erklärt, wie dieses Vorgehen in das frühe Werk hineinpasst: „Im Gegensatz zur dichterischen Rede handelt es sich bei den Statements der Befragungsbände um faktuale Erzählung, um eine nicht-dichterische, authentische Rede realer Erzähler von realen Ereignissen.“ (Hempel 2005, 26) In den Romanen gibt es aber auch das Umgekehrte, wenn faktuale durch fiktionale Rede ersetzt wird. Laut Hempel stellte Kempowski „in Ein Kapitel für sich und dem 1978 erschienenen Aus großer Zeit dem eigentlichen Erzähler [die folgenden Figuren] an die Seite: Verwandte, Nachbarn, Freunde, Angestellte usw., die über die Roman-Kempowskis aus ihrer Sicht berichten.“ (Hempel 2005, 26, Hervorhebung im Original) Die Befragungsbände sind wohl Kempowskis erste reine Zitatmontagen in literarischer Form und verbinden sich mit seinen

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3  Systematische Aspekte

frühen fiktionalen Werken Im Block (1969), Tadellöser & Wolff (1971a) und Uns geht’s ja noch gold (1972a) zu einer Einheit. Durch die Befragungsbände lässt Kempowski auch das Kollektiv zu Wort kommen, so dass neben dem Privaten auch ein multiperspektivisches Bild der Zeit entsteht. Aber ‚Fremdstatements‘ als wesentlicher Bestandteil eines fiktionalen Ganzen werden zum ersten Mal in Ein Kapitel für sich (1975a) eingesetzt, und drei Jahre später zeigt der Roman Aus großer Zeit (1978a), mit welch literarischem Können Kempowski dieses Stilmittel einsetzen konnte. Das Experimentieren mit Zitatmontagen in den frühen 1970er und 1980er Jahren war nicht auf den wachsenden Roman-Zyklus der Deutschen Chronik beschränkt. Kempowski montierte auch Hörspiele aus Fragmenten von Interviews mit ‚Fremden‘, aus gesammelten sound bites, die aus Gesprächen oder Musik stammten, oder aber schließlich aus einer Mischung von Inszenierungen, basierend auf fiktiven und tatsächlichen Ereignissen seines Lebens (vgl. die Hörspiele Kempowski 1971b; 1972c; 1973c; 1975c; 1980b; 1984b; 1993c; 1995b; sowie Beethovens Fünfte u. Moin Vaddr läbt in gedruckter Form: Kempowski 1982a; u. 1982b). Mit der Publikation seines ersten persönlichen Tagebuchs Sirius (1990a) führte er das Montage/Collage-Verfahren bis in die 1990er Jahre fort; sein zweites Tagebuch Alkor (2001b) führt den Leser ins neue Jahrtausend. Dazwischen liegen die monumentalen Tagebücher des Echolots. Doris Plöschberger schildert am Beispiel von Sirius und Alkor, wie das collageartige Strukturprinzip der persönlichen Tagebücher Kempowskis auch zum Gefüge des Echolots – und damit des Gesamtwerks – passt: So unmittelbar dem Augenblick verhaftet der einzelne Eintrag dann auch sein mag, so sehr wird der einzelne Tag im Gesamten zum Arrangement, in dem die heterogene Fülle aus Schlagzeilen, Träumen, Notizen zum Dorfroman, TV-Kommentaren, Lektüre- und Musikhinweisen zur lebhaft bunten und doch ausgewogenen Collage sich zusammenfügt. Wir kennen dieses Verfahren aus dem anderen, noch viel größeren und monumentaleren Tagebuchprojekt Echolot. Auch dort begreift sich Kempowski als Arrangeur und sieht seine Aufgabe darin, die Stimmen der von ihm gesammelten Menschen in einen Dialog eintreten zu lassen, so dass sich die modulierte Individualität in Sirius und Alkor als eine Art komplementäre Ergänzung zum Kollektiv der Stimmen im Echolot begreifen lässt. (Plöschberger 2005a, 200)

Der Unterschied zwischen der ‚modulierten Individualität‘ der zusammengefügten persönlichen Tagebücher Kempowskis und dem ‚zusammengefügten‘ kollektiven Tagebuch Echolot ist also vielleicht doch nicht so groß, wie man meinen könnte, denn Kempowski setzte seine Subjektivität in dem Text „Statt eines Vorworts“ durch, indem er derjenige ist, der im Gefängnis den Stimmen zuerst einmal zuhört und dann später die Geschichten aufhebt (vgl. Kempowski 1993a, Bd. 1, 7). Weil Kempowski sich in der Rolle eines Chorleiters schildert – eine Position, die er selbst eine Zeit lang im Gefängnischor in Bautzen innehatte (vgl. Rehfeld 2010, 376  ff.) –, darf man annehmen, dass auch der Chor der Stimmen des Echolots von ihm geleitet und gesteuert wird. Diese Metapher mag nahelegen, dass der Unterschied zwischen der Stimme

3.5 Montage/Collage275

des Individuums Walter Kempowski und des von Kempowski ausgesuchten Kollektivs der gesammelten Stimmen im Echolot nicht allzu groß ist. Doch noch einmal zurück zum Zitat, in dem Plöschberger auf wesentliche Begriffe in Kempowskis persönlichen Tagebüchern hinweist, die auch für die anderen Zitat-Collagen Kempowskis gelten, nämlich: Arrangement, Arrangeur, Collage, Dialog der Stimmen usw. Stilistisch passen sich die persönlichen Tagebücher dem Echolot an. Aber das Strukturprinzip des multiperspektivischen Erzählens, bei dem viele Stimmen simultan zu Wort kommen und miteinander in einen Dialog treten, führt bis zum Beginn des Zitierens in Kempowskis Werk zurück, also zu den Befragungsbänden und den frühen Radiohörspielen, die zwar gesendet, aber nicht als Tonträger veröffentlicht wurden. Dies hat Kempowski selbst bestätigt: „Ich habe Das Echolot in meiner Chronik schon etwas vorbereitet. In der Chronik gibt es drei Bände mit Interviews und Statements  […]. Ich habe das  […] demokratische Prinzip der Einbeziehung von Volksmeinung also schon in der Chronik bedacht.“ (Kempowski 1993d, o.  S., Hervorhebung im Original) Hempel erläutert, dass Kempowskis künstlerische Verfahrensweise spätestens 1975 völlig entwickelt gewesen war und zählt folgende Aspekte dafür auf: „autobiographische Erzählweise, Collagetechnik, Erweiterung der fiktionalen Literatur durch Aufnahme von Fremderzählern.“ (Hempel 2004, 153) Kempowski selbst sieht in Aus großer Zeit (1978a) die Krönung dieses Verfahrens in den Frühwerken (vgl. Kempowski 1983d, 6). Einige Indizien im Briefwechsel zwischen Kempowski und Uwe Johnson aus den frühen 1970er Jahren deuten darauf hin, dass Kempowski, trotz seines frühen und langfristigen Interesses am Collage-Verfahren, ein solch künstlerisches Experiment eventuell erst gewagt hat, nachdem ihn Johnson dazu ermutigt hatte (vgl. Kempowski und Johnson 2006; Damiano 2013). 3  Warum ‚Collage‘ bei Kempowski? Wie oben skizziert wurde, kann man im Nachhinein verfolgen, wie Kempowski zu seiner hochentwickelten Collage-Technik gelangt ist. Schon 1983 dachte Kempowski gründlich darüber nach, warum gerade dieses Verfahren das richtige für ihn sei. Es ist allgemein bekannt, dass die treibende Kraft hinter seinem Schreiben in seiner Haftzeit begründet liegt. Er wollte die so verlorenen Jahre, seine Jugend, seine Familie und schließlich seine Heimat durch das Schreiben wieder zurückgewinnen. Aber wie sollte er diesen inneren Drang zu Papier bringen? Seine ursprüngliche Vorstellung war eine Collage aus parallelen Gefängniserlebnissen als eine Art Solidaritätsbekundung, durch die er sich gleichzeitig mit seinen eigenen Gefängniserlebnissen auseinandersetzen könnte. Doch dieser Ansatz war zum Scheitern verurteilt: Der Lebenslängliche: wovon soll er erzählen? Alle zwei Jahre ein Ausbruch, alle vier Jahre ein Selbstmord – das ist nicht besonders Seiten füllend. Die Beschreibung der Gitter? Die Klage über den täglichen Fraß? – Der Nichts-ahnende Ahnungslose, der dies unternimmt: ein Buch über die Aneinanderreihung von nichtigen Ereignissen schreiben zu wollen, der muß scheitern. (Kempowski 1983d, 4)

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3  Systematische Aspekte

„Parallel-Erlebnisse“ blieben seiner Ansicht nach genau das, was er durch die von ihm gefundene Formel zu verstehen lernte: „Gitter plus Gitter gleich Gitter“ (Kempowski 1983d, 6). Es wurde ihm daher bewusst, dass er auf diese Art und Weise „das Einmalige im Allgemeinen“ (Kempowski 1983d, 5) nicht werde herausfinden können. Daher war es nur konsequent, dass er seinen Erstling Im Block eben ohne die Parallel-Erlebnisse schrieb. Um dem Leser den Text schmackhafter zu machen, fügte er jedoch die „in den Text eingeblendeten Schlagerfetzen“ (Kempowski 1983d, 5) bei, die der Leser auch beim flüchtigen Lesen identifizieren würde. Er nannte das ein leicht zu erkennendes ‚Stil-Element‘, das dem Lesenden Freude bereiten sollte (vgl. Kempowski 1983d, 5) Sogar er selbst habe Gefallen an der ‚Einblendung‘ der Schlagerfetzen gefunden und deswegen wolle er dieses Verfahren für die restlichen Romane der Chronik beibehalten. Zusammenfassend kann man sagen, dass der erste Grund, warum Kempowski das Stil-Element des Collagierens gewählt hat, einfach die Unterhaltung für seine Leser war. Was das Collage-/Montage-Verfahren betrifft, hat Kempowski zwischen Im Block und Aus großer Zeit viel dazugelernt. Seine frühe Schaffensphase, eine fast jahrzehntelange Lernkurve, gipfelte in Aus großer Zeit. An diesem Roman hat Kempowski gezeigt, dass das Collage-Verfahren ein praktisches Stilmittel sein kann. In Aus großer Zeit war Kempowski zum ersten Mal mit der Aufgabe konfrontiert, eine Epoche beschreiben zu müssen, die er selbst nicht erlebt hatte. Das Collage-Verfahren diente ihm dazu, den Lesern eine weitreichendere Perspektive bieten zu können. Seinen Ansatz zu dieser neuartigen Herausforderung teilt er in drei Vorgehensweisen auf: 1. Vervielfachung des Autors; 2. Beibehaltung der Schlager und Gedichtzitate; 3. Sammlung von Statements (vgl. Kempowski 1983d, 5). Er erklärt auch, wie eine solche Mischung aus Eigenstatements und Fremd­ statements funktioniere: Ich meinte damit dem Leser deutlicher als mit meiner Biographie klar gemacht zu haben, dass die Meinungsäußerungen der vielen dem Erfundenen des Autors zur authentischen Abrundung des Gesamtbildes zuzuordnen seien. Wie wenn man zwei Kämme mit ihren Zinken ineinander schieben kann, so lassen sich […] die beiden Prinzipien meiner Buchveröffentlichungen, die des Romans und die des Befragungsbuches, ineinander schieben. (Kempowski 1983d, 9)

Kempowski schrieb nach 1983 in diesem Muster weiter, so dass sich die Technik des Ineinanderschiebens – oder ‚Verzinkens‘ – auf das Gesamtwerk bezieht, inklusive des Walter Kempowski Archivs. Oder mit den oben zitierten Worten Plöschbergers ausgedrückt: Jedes Werk Kempowskis soll als „komplementäre Ergänzung zum Kollektiv“ (Plöschberger 2005a, 200) verstanden werden. Demnach könnte man behaupten, dass das Gesamtwerk selbst wie eine Art Collage funktioniert.

3.6 Musik277

3.6 Musik Christian Baumann

Welche Bedeutung die Musik für ihn hatte, formuliert Walter Kempowski wenige Monate vor seinem Tod so: „Das Einzige, was mich am Tod wirklich traurig macht, ist, dass man als Toter keine Musik mehr hören kann“ (Lopez 2007, 41). Dieses Bekenntnis ist für den aufmerksamen Leser Kempowskis nicht unbedingt eine Überraschung, denn als Motiv kann man es auch in seinem Werk finden. Im Roman Letzte Grüße etwa steht Mozarts Jagdsonate (KV 576) beispielsweise zunächst als Metapher für die Tapferkeit, die man in anstrengenden Lebenssituationen braucht; am Ende ist sie aber aus dem „Jaulen der Straße“ nicht mehr herauszuhören: „Nein. Wie mit dem Radiergummi wurden alle Geräusche gleichgemacht“ (Kempowski 2003, 410). Kurze Zeit nach dem Ersterben der Musik ist der Held des Romans ebenfalls tot. Übrigens ist diese Klaviersonate das letzte Werk Mozarts aus dieser Gattung. Vielleicht ein Zufall, aber es passt zum Titel Letzte Grüße. Es sei hervorgehoben, dass es in diesem Artikel zwar auch um den sozialen Kontext der Musik geht, die Kempowski in seinen Werken zitiert, wesentlicher ist aber die Person hinter diesen Werken. Dabei ist es nützlich, sich der Herkunft des Wortes Person zu erinnern: Zunächst steht persona für die Maske oder auch die Rolle eines Schauspielers; das Verb personare ist aber mit ‚widerhallen‘ oder ‚ertönen‘ zu übersetzen. Man kann sich also fragen, welche Musik in Kempowski lebendig war. Es gibt nur zwei Werke, die sich schon im Titel auf Musik beziehen. Das ist zum einen Weltschmerz. Kinderszenen fast zu ernst und zum anderen das Hörspiel Beethovens Fünfte. Bei Weltschmerz könnte man wirklich etwas hören, wenn man Klavier spielen kann, denn dem Text sind die Noten der ersten Takte einer Komposition für Klavier von Robert Schumann vorangestellt. Diese eben trägt den Titel Fast zu ernst und gehört zu den 13 Kinderszenen. Es ist ein filigranes, melancholisches Stück, das perfekt zu der literarischen Produktion passt, der es vorangestellt ist. In Beethovens Fünfte wendet sich Kempowski an die Freunde und Verehrer der Musik. Sein Anliegen betrifft die Pflege der Erinnerung: Was man gehört hat, soll man nach Möglichkeit bewahren. Ebenso wie ein gelernter Text kann die Erinnerung an Musik bedeutungsvoll werden. Die Häftlinge im ‚Gelben Elend‘, wie das Zuchthaus Bautzen, in dem Kempowski acht Jahre verbrachte, im Volksmund hieß, haben Faust I aufgeführt, obwohl ihnen der gedruckte Text nicht vorlag. Nach diesem Modell hat Kempowski sein Hörspiel Beethovens Fünfte komponiert. Er hat die Sinfonie aus Erinnerungsfragmenten seiner Besucher zusammengesetzt und so einer virtuellen Nachwelt erhalten, der die Partitur abhanden gekommen ist. Im Vorwort zu diesem Hörspiel ermahnt er sein Publikum, den „Vorrat an Schallplatten, der griffbereit in unserem Schrank steht, mit mehr Dankbarkeit, mit größerer Aufmerksamkeit zu benützen“ (Kempowski 1982a, 68). Schließlich heißt es noch: „Und ganz genau hinhören“ (Kempowski 1982a, 68).

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3  Systematische Aspekte

Man kann diesen Appell auf die Musikzitate in Kempowskis Werk anwenden und sich ihnen mit besonderer Aufmerksamkeit zuwenden. Im Folgenden sollen vorwiegend die autobiographisch gefärbten Werke (von Im Block bis zu Herzlich willkommen) anhand solcher Zitate betrachtet werden, um herauszulesen, wieviel Musik sie enthalten und was diese Musik wohl bedeuten könnte. Es geht dabei nicht um Kempowskis Ironisierung der bildungsbürgerlichen Musizierpraxis; diese ist an anderer Stelle bereits dargestellt worden (vgl. Ebel 2005). Kempowskis Erstling Im Block enthält mehr als 90 Musikzitate; in der Erstfassung aus dem Jahr 1969 finden sich 94 solcher Zitate, in der Neuauflage von 1987 sind einige davon nicht mehr enthalten. Oft sind es nur die Titel musikalischer Werke – die „Fimfte“ (Kempowski 1969, 68), leicht berlinerisch verfärbt, ist auch dabei – oder die Namen zahlreicher Komponisten von Bach über Chopin bis Pepping. Der Marsch Gruß an Kiel erscheint im Zusammenhang mit dem „Scheißhausminister“ (Kempowski 1987c, 103), einem ehemaligen Militärmusiker, dem Kempowski im Gefängnis eine Zeit lang als Gehilfe zugeteilt war. Das ist kein Zufall, sondern das Indiz einer Aversion gegen dieses Stück, das auch in Tadellöser & Wolff vorkommt, wo der junge Walter, der sich mit Klaviermusik von Robert Schumann produzieren soll, gegen genau diesen Marsch keine Chance hat (vgl. Kempowski 1971a, 120). Die offen geäußerte Abneigung gegen ein Musikstück ist nicht häufig, fällt aber bei dem Weihnachtslied Hohe Nacht der klaren Sterne besonders deutlich auf. Kempowski handelt sich den Zorn eines gewaltbereiten Mithäftlings ein, als er es mit den Worten „Deutsche Weihnacht“ (Kempowski 1987c, 134) kommentiert und es damit als Nazilied kennzeichnet. Text und Musik stammen von Hans Baumann (1914–1988), dessen „gesamte lyrische Produktion“ den „Erwartungen der Nazis voll entsprach“ (Kempowski 2006b, 337). Dass ihm die Werke Baumanns während seines Studiums noch einmal vorgesetzt werden, hat Kempowski besonders erbost, und er hat sich auf eigene Weise dagegen zur Wehr gesetzt: „Mit herben Holzschnitten verziert sind sie [die Werke] in geselligen Liederbüchern abgedruckt, die wir noch 1957 auf der Pädagogischen Hochschule in Göttingen benutzen mußten (Wobei ich, wenn es sich machen ließ, extra falsch sang.)“. (Kempowski 2006b, 337; ebenso in Kempowski 1984a, 220) Letztes Musikzitat in Kempowskis Erstlingswerk ist ein vermeintlich froher Satz aus einem Tiroler Heimatlied: „Die Schwalben ziehn daher, / sie ziehn wohl übers Meer!“ (Kempowski 1987c, 312). Es klingt wie Freude über die endlich anstehende Entlassung aus der Haft; im Liedtext folgt dann freilich die Aussage: „Der Mensch lebt einmal nur / und dann nicht mehr, nicht mehr“ (Seemann 1929). Kempowski schreibt diese Zeile jedoch nicht hin und verschweigt so dem Leser den wesentlichen Teil seiner Empfindungen. Dies wird vielleicht verständlich, wenn man die Vorgeschichte von Im Block kennt, wie sie in der von Dirk Hempel verfassten Biographie beschrieben wird. Der Weg bis zum druckfertigen Manuskript kann hier nicht erläutert werden; wesentlich aber war, dass Kempowski dabei zu der für ihn typischen Erzählweise

3.6 Musik279

fand: Er „sah von der Aufzählung der Leiden ab und versuchte sich an einem distanzierten, emotionslosen Text“ (Hempel 2007a, 120). Ein Haftbericht ganz ohne Emotionen der Häftlinge ist allerdings schwer vorstellbar. Man kann sie verschweigen und dem Leser das Nachempfinden überlassen. Der Liedtext hilft bei der Enttarnung einer versteckten Emotion: Nach acht Jahren Zuchthaus kann es keinen fröhlichen Neubeginn geben, sondern es überwiegen die Beklemmung und das Grübeln darüber, was nun wohl aus diesem Leben werden soll. Das Schwalbenlied wird auch in Ein Kapitel für sich zitiert. Der Sänger dort ist aber voller Seelenruhe, wodurch das Lied viel verliert von seinem Hintersinn, den es in anderem Zusammenhang bekommen kann (vgl. Kempowski 1975a, 83). In Ein Kapitel für sich, einer umgearbeiteten Fassung von Im Block, sprechen die Mitglieder der Familie Kempowski den Leser nicht mehr anonym an, sondern als „Die Mutter“, „Robert“ – gemeint ist der ältere Bruder Walter Kempowskis – und „Walter“, die auf je eigene Weise von ihren Zuchthausaufenthalten berichten. Ergänzt werden die Berichte durch Briefe der Verwandten aus Hamburg und Kopenhagen, die sich vom Leben in einem Zuchthaus der DDR natürlich keine Vorstellung machen können, so dass die Brieftexte teilweise beinahe zynisch klingen. Der von Im Block her bekannte ‚Scheißhausminister‘ ist auch Robert im Gedächtnis geblieben. Diesmal pfeift jener aber keinen Marsch, sondern ahmt Trompetensignale nach, die er als ehemaliger Militärmusiker beherrscht, die aber die inhaftierten Brüder Kempowski sicher nicht bewundert haben (vgl. Kempowski 1975a,158). Robert wird als profunder Kenner des amerikanischen Jazz der 20er und 30er Jahre des letzten Jahrhunderts vorgestellt (vgl. Kempowski 1975a, 202–203). Seine Schallplattensammlung wird später in Sirius sozusagen archiviert – auf dem Stand von 1943. Der junge Walter Kempowski war mit dieser Musik durchaus vertraut, Kempowski schreibt aber 1983, dass er sie „inzwischen auch nicht mehr hören“ (Kempowski 1990a, 419) kann. In der Summe wird in Ein Kapitel für sich weniger Musik zitiert als in Im Block. Eines der Zitate führt aber ein Motiv vor, das auch in späteren Werken Kempowskis erscheint: die perfekte Wiedergabe von Musik durch das personifizierte Böse. Helm Feghelm, der Ritterkreuzträger und unbelehrbare Nationalsozialist, berichtet von grauenhaften Details des Russlandfeldzugs, um sich gleich darauf einem besonders sentimentalen Passus des Wolgalieds aus Lehars Operette Der Zarewitsch zuzuwenden: „Du hast im Himmel viel Englein bei dir…“ (Kempowski 1975, 79). Dabei kommt es Kempowski weniger auf die Interpretation per se an – zwar ist die Beziehung zwischen verstümmelten Toten und himmlischen Engeln bereits frivol genug –, sondern wesentlicher ist ihm die musikalische Qualität. So schreibt er: „Das konnte Helm auf feinste Art pfeifen.“ (Kempowski 1975, 79) Auf den Haftbericht Im Block folgte nach nur zwei Jahren Ein bürgerlicher Roman, so der von Kempowski gewählte Untertitel von Tadellöser & Wolff. Die in diesem Werk zitierte Musik hat den jungen Kempowski wesentlich geprägt. Seine Musikerziehung begann, wie im bürgerlichen Milieu üblich,

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3  Systematische Aspekte

mit der Klavierstunde und dem Musikunterricht in der höheren Schule. Hinzu kamen die völkischen Lieder, die im Jungvolk und in der Hitlerjugend gesungen wurden, sowie Musik, die beim sonntäglichen Platzkonzert aufgeführt oder im Rundfunk – „Graetz“ (Kempowski 1971a, 25) war der Name des Radioempfängers – gesendet wurde (vgl. Kempowski 1971a, 21). Als Kontrapunkt hierzu muss die Vorliebe des älteren Bruders für amerikanischen Swing und Jazz erwähnt werden. Wesentlicher war jedoch vermutlich das Klavierspiel des Vaters auf dem so oft zitierten Flügel der Familie, der sozusagen das musikalische Zentrum der Kempowskischen Wohnung war (vgl. Ebel 2005). Diese erste Einführung Kempowskis in die Musik hatte zwei Fortsetzungen, die erste und wesentlichere fand im Zuchthaus Bautzen statt. Da dort in einem großen Saal 300 Gefangene zusammengelegt worden waren, ließ sich ein – auch kultureller – Austausch zwischen ihnen nicht verbieten. Kempowski belegte zunächst einen Harmonielehre-Kurs bei einem „erzgebirglerischen“ (Kempowski 1987c, 190) Kantor. Nur wenige Teilnehmer hielten durch. Kempowski schreibt: „Ich gehörte zu den letzten. Irgendwann war es soweit, ich setzte ein kleines Abendlied zu vier Stimmen, es klang himmlisch“ (Kempowski 1987c, 190). Auch Detlef Nahmmacher, ein Mithäftling aus Rostock, lernte von dem Kantor, einen mehrstimmigen Chorsatz zu schreiben. Nahmmacher ist später Musikpädagoge geworden, er war aber schon in Bautzen mehrere Jahre lang Leiter des im November 1950 gegründeten Kirchenchors (vgl. Nahmmacher 1994, 94–96). Als er Anfang 1954 entlassen wurde, folgte ihm Kempowski nach und wurde „Kommandoleiter Kirchenchor“ (Hempel 2007a, 83). Hierfür musste er sich in die Struktur mehrstimmiger Chorwerke von Palestrina bis Distler einarbeiten. Wie weit ihn das in seiner musikalischen Bildung gebracht hat, dafür gibt es einen eindrucksvollen Beleg: Während des Studiums in Göttingen hatte er eine Begegnung mit dem Musikwissenschaftler Dr. Alfred Dürr (1918–2011), der insbesondere durch seine Arbeiten zu den Kantaten Johann Sebastian Bachs bekannt geworden ist. Dürr war von Kempowskis Kenntnissen „derart beeindruckt, dass er ihn überreden wollte, Musikwissenschaften zu studieren“ (Ebel 2005, 45). Die zweite Fortsetzung seiner musikalischen Erziehung war der Unterricht an der Pädagogischen Hochschule in Göttingen, dessen Substanz mit dem zitierten Passus aus Hamit schon charakterisiert wurde. Tadellöser & Wolff ist ein Buch über den Zweiten Weltkrieg, welcher der eigentliche Protagonist dieses Romans ist. Die Familie Kempowski agiert dabei in einem fröhlich anmutenden Vorspiel zur Tragödie des eigenen Untergangs. Der Krieg kostet den Vater das Leben – er fällt noch im April 1945 –, und drei Familienmitglieder werden in der Nachkriegszeit zu insgesamt 60 Jahren Zuchthaus oder Arbeitslager verurteilt. Dies alles ist nicht Gegenstand der Romanhandlung; allerdings wird erzählt, dass ein Familienmitglied, die Schwester Walter Kempowskis, durch eine Heirat nach Dänemark aus der Geschichte sozusagen aussteigen und auf diese Weise dem deutschen Nachkriegselend entkommen kann. Das erste Musikzitat in Tadellöser & Wolff – „Wie sie so sanft ruhn, alle die Toten…“ –erfordert einen Exkurs in das Zeitalter der Empfindsamkeit, aus

3.6 Musik281

dem sowohl der Text als auch die Melodie des Liedes stammen. Die ursprüngliche Fassung des Textes muss in einiger Ausführlichkeit reproduziert werden, damit seine Struktur deutlich wird. So heißt es: „Wie sie so sanft ruhn, alle, die Seligen, / Zu deren Wohnplatz jetzt meine Seele schleicht / Wie sie so sanft ruhn, in die Gräber / Tief zur Verwesung hineingesenket!“ (Stockmann 1779, 214). Es handelt sich um eine alkäische Strophe mit der Silbenfolge 11–11–9–10, wie sie erstmals von Friedrich Gottlieb Klopstock in der deutschen Literatur verwendet wurde. Klopstock wurde auch als Verfasser vermutet, jedenfalls von H. W. Longfellow (1807–1882), dem amerikanischen Dichter, der den Text ins Englische übertragen hat. Das ist aber falsch: Der Autor des Liedtextes hieß August Cornelius Stockmann (1751–1821), der sein aus fünf Strophen bestehendes Werk unter dem Titel Der Gottesacker im Leipziger Musenalmanach auf das Jahr 1780 veröffentlichte (vgl. Stockmann 1779, 214). Stockmann war eigentlich Jurist, außerdem gehörte er der „Loge Minerva zu den drei Palmen“ an (vgl. Förster 2005). Sein Lied wurde ungewöhnlich populär, nachdem es der Pastor Friedrich Burchard Beneken (1760–1818) vertont hatte. Die Komposition war Bestandteil einer Sammlung, die 1787 unter dem Titel Lieder und Gesänge für fühlende Seelen erschien (vgl. Beneken 1787). Das Lied verbreitete sich in zahlreichen Textvarianten; es wurde bei offiziellen Totenfeiern gesungen und fand auch Eingang in die Gesangbücher beider christlicher Konfessionen (vgl. Hoffmann 1913). Kempowski hat dieses Lied im Rahmen eines Gottesdienstes im Zuchthaus Bautzen kennengelernt. Eine von Detlef Nahmmacher als Manuskript verwahrte Kirchen-Chronik dokumentiert die in den Gottesdiensten aufgeführten Chorwerke und Lieder. Für den Totensonntag des Jahres 1952 hatte die ‚Gemeinde‘, also die zum Gottesdienst erschienenen Häftlinge, das Lied Wie sie so sanft ruhn zu singen. Es stand im Gesangbuch der evangelisch-lutherischen Landeskirche Sachsen in einer Textfassung von Samuel David Roller (1779–1850). Rollers Text entspricht in der ersten Zeile dem Stockmannschen Original und hätte von Kempowski in Tadellöser & Wolff auch so übernommen werden können; Kempowski zitiert den Liedanfang aber gerade nicht wörtlich, sondern aus den „Seligen“ werden bei ihm schlicht „die Toten“. Bei der Einführung des Liedzitats schreibt Kempowski: Am Abend kam mein Vater aus dem Geschäft. Er trug Knickerbocker in Pfeffer und Salz. Seinen Teichhut hängte er singend auf einen der roten Garderobenhaken. Wie sie so sanft ruhn, alle die Toten… Das war das Logenlied, wie meine Mutter es nannte. (Kempowski 1971a, 9)

Dass Kempowskis Mutter von einem Logenlied spricht, hat sicher weniger mit dem Freimaurer Stockmann, dem Autor des von Beneken vertonten Gedichts, zu tun, als viel eher mit dem Freimaurertum ihres Ehemanns Karl Georg Kempowski. Möglicherweise diente es den Logen, denen Kempowskis Vater angehörte, als Trauermusik. Seiner musikalischen Struktur nach ist es kein Choral, sondern ein Lied mit einer sehr eingängigen Melodie. Sogar der Vater

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3  Systematische Aspekte

konnte es singen, der ja, nach dem Zeugnis seiner Frau, zwar schön Klavier spielte, aber nicht einmal einen einfachen Choral singen konnte (vgl. Kempowski 1971a, 86). Karl Georg Kempowski wurde im Dezember 1920 zum Lehrling in die Lübecker Loge „Zum Füllhorn“ aufgenommen, später dort zum Gesellen und schließlich zum Meister befördert. Der Wechsel zur „Rostocker Vereinten Loge zu den drei Sternen, Tempel der Wahrheit und Prometheus“ erfolgte 1924 (persönliche Mitteilung von Herrn Eberhard Fischer, Rostock, und Auskunft des Großsekretariats der Großen Landesloge der Freimaurer von Deutschland e. V.). Warum haftet dem Vater gerade dieses Lied an? Es wird fünfmal zitiert: einmal beim Tode des Großvaters, dann taucht es aber immer wieder zusammen mit dem Vater auf. Nicht nur in der Musik, auch in der Literaturwissenschaft ist dergleichen ein Leitmotiv, welches hier den Untergang der bürgerlichen Familie Kempowski, repräsentiert durch das Familienoberhaupt, begleitet. Neben dieser vielleicht historisch zu nennenden Dimension gibt es eine weitere, sehr persönliche Deutung. Kempowski übernimmt nicht den Ausdruck ‚die Seligen‘, sondern bei ihm heißt es eher nüchtern: „Wie sie so sanft ruhn, alle die Toten“. Nicht immer aber ruhen sie sanft, sondern mitunter kehren sie zurück, wenn auch nur im Traum. In dem Hörspiel Moin Vaddr läbt irren die schuldbeladenen Väter der vorausgegangenen Generation in einer grauenvollen Welt von Bunkern und Kellern umher und erhoffen Vergebung von ihren Söhnen. Das Totenlied ist auch eine Klage über den verlorenen Vater, „dessen Liebe ich nicht empfangen, und dem ich meine Liebe nicht zeigen konnte“ (Kempowski 1982a, 94). Die Anfänge des Kempowskischen Klavierspiels waren nicht frei von den Qualen, die jeder Klavierschüler durchmacht, wenn er nicht geübt hat. Fast zu ernst, der Titel aus den Kinderszenen von Schumann, gibt dann wohl auch eher die Stimmung an, mit der der junge Kempowski zur Klavierstunde geht, als dass es um die Interpretation dieser Komposition ginge. Das Stück Der Dichter spricht, das dann im Unterricht behandelt wird, ist das letzte der Kinderszenen, und man kann natürlich darüber spekulieren, ob an diesem Stück der Klavierschüler Kempowski scheitert oder ob es eher eine Metapher dafür ist, dass in diesem Lebensabschnitt der Dichter zwar noch nicht sprechen kann, er aber später umso eindringlicher zu seinen Lesern sprechen wird (vgl. Kempowski 1971a, Kap. 14). Die Klavierstunden fielen später den vom Vater geforderten Nachhilfestunden bei Frau Anna Kröger zum Opfer, dazu zwei Nachmittage für die Hitlerjugend. Es blieb keine Zeit mehr für Schumann oder für die Chants sans parole, in denen er, nach Mutter Kempowski, „gerade so schön in Gang“ (Kempowski 1971a, 200) gewesen war. Der Komponist dieser Stücke ist nicht angegeben, und man denkt zunächst an Tschaikowski – möglicherweise an sein Opus 2, Nr. 3 –, der einige seiner frühen Klavierstücke so bezeichnet hat. Für einen Klavierschüler aus dem Reiche des so oft erwähnten Schumann wären aber die Lieder ohne Worte von Felix Mendelssohn Bartholdy viel wichtiger gewesen, und vielleicht war der französische Titel eine Tarnung, um die verbotene

3.6 Musik283

Musik des Juden Mendelssohn doch studieren zu können. Im letzten Kapitel von Tadellöser & Wolff wird deutlich, dass die zunächst so ungeliebten Klavierstunden in Kempowski die Grundlagen zum selbstständigen Musizieren gelegt haben: In den letzten Kriegstagen, nach einer glücklich überstandenen Reise nach Berlin, setzt er sich an den Flügel und begibt sich „in Mozarts Reich. Alle Stücke mal wieder durchspielen.“ (Kempowski 1971a, 388) Auch später spielte Kempowski gern Klavier, auch vor Publikum, wobei die Auswahl der Stücke nicht ohne Hintersinn getroffen wurde. Denn vor den Teilnehmern eines seiner Literaturseminare Volkslieder und schließlich sogar das Deutschlandlied vorzutragen, war natürlich ein Test, und prompt kam die Reaktion eines jüngeren Zuhörers mit den Worten: „So was kann man doch heute [1983] nicht mehr machen…“ (Kempowski 1990a, 20). Aus Tadellöser & Wolff ist noch eine Begegnung des jungen Kempowski mit der Orgel der Rostocker Marienkirche nachzutragen. Es soll ihm mit dieser Kirche nicht so gehen wie mit der schon zerstörten Jacobikirche, die er nie von innen gesehen hatte, weshalb er sich vom Turmdiener die Schlüssel geben lässt. Drinnen übt der Organist Bachs oft gespielte Toccata und Fuge d-moll. Später trifft Kempowski den Organisten, der ihm das Ständchen von Heykens spielt, möglicherweise auf seinen Wunsch. Die Komposition ist ein Stück Salonmusik, für eine Kirchenorgel eigentlich gänzlich ungeeignet. Für Kempowski ist sie aber von besonderer Bedeutung, denn sie kommt in seinen Werken mehrfach vor (zuletzt in Kempowski 2006a, 49). Im Schlusskapitel von Weltschmerz taucht das Modell einer Orgel auf, in der durch eine Art Uhrwerk mit kleinen Blasebälgen eine Musik erzeugt wird, „eine einfache Melodie, die jeder gern hört und nie wieder vergisst“ (Kempowski 1995, 151). Hier meint man, das Ständchen von Heykens zu hören, auch wenn es gar nicht zitiert wird. Jonny Heykens (1884–1945) war ein niederländischer Komponist, dessen Ständchen, op. 21, oft im Rundfunk gesendet wurde. Die Nachkriegszeit bis 1948 war für den jungen Kempowski nicht reich an bleibenden musikalischen Eindrücken. In Uns geht’s ja noch gold wird zwar ein 9-Mann-Orchester vorgestellt – „Die hatten sich in der Kriegsgefangenschaft getroffen“ (Kempowski 1972a, 193) –, das in einem Tanzsaal die ganze Nacht hindurch vor dem mehr oder weniger alkoholisierten Publikum spielt. Auch amerikanische Musik aus dem Rundfunk oder der Sales Commissary in Wiesbaden wird erwähnt (vgl. Kempowski 1972a, 355). Das sind aber eher Randnotizen. Erst am Ende dieses Romans bekommt die Musik dramaturgisch eine Schlüsselrolle. Kempowski möchte noch einmal nach Rostock fahren. Zu den Motiven dieser Reise gehört die Sehnsucht nach guter Musik: „Und mal wieder schön Klavier spielen…“ (Kempowski 1972a, 362). Auch seine Mutter setzt sich ans Klavier, was sie während ihrer Ehe, entmutigt von den Kommentaren ihres Mannes, aufgegeben hatte. Sie spielt aus Schumanns Kinderszenen Glückes genug (vgl. Kempowski 1972a, 370). Das ist der Abgesang auf die bürgerliche Existenz der Familie Kempowski in Rostock; denn was folgt, sind Verhaftung, Verurteilung und Zuchthaus, literarisch behandelt in Im Block und Ein Kapitel für sich.

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3  Systematische Aspekte

Kempowskis Neuanfang nach der Haftzeit in Bautzen ist Gegenstand von Herzlich willkommen. Zu den vielen Dingen, die nun wieder zugänglich sind, gehört auch der bürgerliche Musikbetrieb. Als ihm bald nach der Ankunft in Hamburg eine Karte für eine Aufführung von Bachs Matthäuspassion geschenkt wird, löst das aber keine Begeisterung aus, sondern er fragt sich: „Das sich anhören, in strahlendem Licht von strahlenden Stimmen, unter Bürgern, die ein Abonnement auf so etwas haben?“ (Kempowski 1984a, 21) Kempowskis Formulierung erinnert an die „Bildungskonsumenten“ (Adorno 1975, 20) in Adornos Musiksoziologie, zu denen Kempowski schon deshalb nicht gezählt werden kann, weil er selbst oft und hingebungsvoll musiziert hat, insbesondere dann, wenn es um eine schwierige Lebenssituation ging. Herzlich willkommen enthält eine solch schwierige Episode, die mit seiner Berufswahl zu tun hat. Auf einem Schloss der Weser-Renaissance, Burg Hatzfeld, wird er mit der Aufgabe konfrontiert, als Erzieher zu arbeiten. Er schildert eine Einrichtung, in der „Knast und Schule zusammenkamen“ (Hempel 2007a, 97). Die dort praktizierte Pädagogik ist allerdings von seinen Idealen so weit entfernt, dass er bald aufgibt. Immerhin hat er Zugang zu einem Harmonium in der Schlosskapelle, und wie in einem Nachklang zum Leitmotiv aus Tadellöser & Wolff spielt er Wie sie so sanft ruhn, alle die Toten. Die Noten werden ihm zugeschickt mit dem Vermerk „Musik ist eine Trösterin“ (Kempowski 1984a, 160). Er kommentiert den Satz etwas spöttisch und ist von dessen Inhalt offenbar nicht überzeugt; allerdings beurteilt der Pädagoge Kempowski später den ‚armen Erich‘ in Unser Herr Böckelmann in genau diesem Sinne. Dieser Junge macht nie Schularbeiten, er stammt aus einem Milieu, in dem er dazu auch gar nicht angehalten wird, und man spürt, dass der ‚arme Erich‘ es wohl im Leben sehr schwer haben wird. Bei den Zeugnissen hat er es „mit den Fünfen“ (Kempowski 1979, 84). Dennoch fördert der grundgütige Herr Böckelmann dieses Kind so gut er kann, und „In Musik kriegt der arme Erich eine Zwei“ (Kempowski 1979, 84). Das Wort ‚Musik‘ kommt in diesem Buch nur einmal und an genau dieser Stelle vor; es ist schwer, davon nicht berührt zu werden. Zurück zu Herzlich willkommen: Kempowskis zurückhaltendes Urteil über die im Abonnement aufgeführte Matthäuspassion betrifft natürlich nicht den Komponisten; in einem späteren Kapitel erscheint Johann Sebastian Bach in ganz anderem und sehr persönlichem Zusammenhang (vgl. Kempowski 1984a, 165–169). Der Erzähler Kempowski beschreibt eine flüchtige Beziehung zur Frau des Pfarrers, der ihn nach Burg Hatzfeld vermittelt hatte. Er musizierte im Pfarrhaus mit ihr; sie hatten sich dazu das Lied Willst Du Dein Herz mir schenken, so fang es heimlich an ausgesucht und spielten es immer wieder. Die Geschichte setzte sich auf der Orgelempore der benachbarten Kirche fort, wo sie sich dann in den Armen lagen, ohne dass diese Affäre eine Fortsetzung gefunden hätte. Zu Johann Sebastian Bach und dessen Biographie lassen sich hier gleich zwei Bezüge herstellen. Bei dem Lied handelt es sich um die Aria di Giovannini aus dem Notenbüchlein für Anna Magdalena, Bachs zweiter Ehefrau. Die Komposition firmiert unter BWV 518, ist aber wahrscheinlich nicht von Bach, sondern von Guiseppe Giovannini, über den allerdings kaum

3.6 Musik285

etwas bekannt ist – man weiß nur, dass er 1782 gestorben ist, wobei selbst der Vorname unsicher ist (vgl. Finscher 2002, 1005  f.). Auch die Szene auf der Orgelempore kann man auf Bach beziehen. In Arnstadt wurde dem jungen Bach vorgeworfen, dass er „ohnlängst eine frembde Jungfer auf das Chor biethen und musiciren lassen“ (Wolff 2000, 98) habe. Nach dem Bach-Biographen Spitta habe es sich bei der jungen Dame um Maria Barbara gehandelt, die später Bachs erste Ehefrau wurde (vgl. Wolff 2000, 98). „In Göttingen schien die Sonne“ (Kempowski 1984a, 189), so beginnt Kempowski in Herzlich willkommen die Schilderung seines Studienortes. Die Schatten der Vergangenheit waren jedoch im Göttingen des Jahres 1956 durchaus noch zu bemerken. Kempowski hat dies in einen musikalischen Kontext gebracht und dazu ein Kirchenlied zitiert, das nach einer Predigt des Landesbischofs vor Studierenden in der Jakobikirche gesungen wurde: „Zeuch an die Macht, du Arm des Herrn, / wohlauf und hilf uns streiten. / Noch hilfst du deinem Volke gern, / wie du getan vor Zeiten…“ (Kempowski 1984a, 198). Kempowski beißt sich an dem „Noch“ fest, und er hat gute Gründe dafür: Ihm war wohl bewusst, dass dieser vorher unbekannte Choral aus der Schweiz seit 1919 als Kampflied gegen die junge parlamentarische Republik missbraucht worden war und mittelbar dem Aufstieg der Nazis gedient hatte (vgl. Prolingheuer 1987). Im Ausklang dieser Übersicht muss der Lieblingskomponist Kempowskis, Gustav Mahler, hervorgehoben werden. Das Bekenntnis zu Mahler findet sich im Fragebogen des Magazins der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (Kempowski 1981  f). Mahlers erste Komposition, die er mit zwanzig schreibt, heißt Das klagende Lied. Der Titel klingt wie ein Lebensmotto, und Mahler entwickelt sich „zu dem großen Leidverkünder“ (Blaukopf 1980, 134), als den ihn Herta Blaukopf (1924–2005) charakterisiert hat. Kempowski war auch Leidverkünder. Der Titel seines Spätwerks Alles umsonst entstammt dem Choral Aus tiefer Not schrei ich zu dir von Martin Luther. Die Not dominiert in diesem Roman und Kempowski eröffnet das Schlusskapitel noch einmal mit dem Choraltext Es ist viel Not vorhanden von Johann Eccard (1533–1611) (vgl. Kempowski 2006a, 376). In dem Inferno der Flucht aus Ostpreußen sterben nahezu alle vorgestellten Figuren des Romans, nur der zwölfjährige Peter hat eine Überlebenschance. Die Musik wird einer Geigerin anvertraut, die in einem besonderen Kapitel vorgestellt wird. Sie spielt auf einem schon ramponierten Instrument „Geradezu überirdisch schön“ (Kempowski 2006a, 335). Als Mensch ist sie jedoch ein Scheusal, fest verankert in der nationalsozialistischen Ideologie, dabei ein „wildes Früchtchen“ (Kempowski 2006a, 303), das außerdem noch schamlos lügt. Die Musik, die auch ihre Musik war, erklingt am Ende aus einem Haus mit verschlossener Tür. Damit wird diese Kunst unabhängig von den Personen, durch die sie erzeugt wird, und erhält etwas, das die Zeit der Not und Plagen überdauert. Es schließt sich der Kreis zum eingangs erwähnten Wort des sterbenskranken Kempowski: Wenn man nach dem Tode auch keine Musik mehr hören kann, bleibt doch die Gewissheit ihrer Unvergänglichkeit.

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3  Systematische Aspekte

Das klingt tröstlich, hilft aber nicht, wenn der Einzelne, der mit Hingabe Musik gemacht hat, erkennen muss, dass die Spuren seiner Anstrengungen verloren gegangen sind. Wenige der veröffentlichten Tagebucheintragungen sind so bewegend wie jene, die sich auf Kempowskis Besuch in Bautzen im Jahre 1990 beziehen. Auf der Suche nach seinen Noten sowie den Handschriften, die im Altar und in der Orgel der Anstaltskirche versteckt waren, findet sich nichts mehr: „Die Notenblätter wären eine unverdiente Seligkeit gewesen. Es sind keine Spuren mehr davon wahrzunehmen, Musik ist wie buntes Gas, das verweht. Und nichts ist zu beweisen“ (Kempowski 2006b, 163).

3.7 Mutter Andreas Grünes 1  Biographie und literarische Inszenierung . . . . . . . . . . . . . 288 2 Schuld und Zeugenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292

Im Februar 1954, einen Monat, nachdem Margarethe Kempowski aus der Haft im Frauengefängnis Hoheneck entlassen wurde, fand in der Evangelischen Akademie in Hofgeismar eine Tagung mit dem Titel Die Familie ohne Vater statt. Der im Krieg gefallene Vater, so das Fazit der Tagung, sei eine unheilbare Wunde; doch zugleich trete die Mutter in einem „wunderbaren Opfergang“ (Evangelische Akademie von Kurhessen-Waldeck 1954, 2) an die Stelle des Vaters. „Alles muss ich nun alleine tragen“ (Kempowski 1946, 728), schrieb Margarethe Kempowski im Januar 1946 an ihre Tochter Ulla in Dänemark. Durch den Tod von Karl Kempowski im April 1945 teilte die Familie Kempowski zunächst das Schicksal von Millionen anderer Mütter und Kinder in der Nachkriegszeit, die durch den Zweiten Weltkrieg, Kriegsgefangenschaft und Vertreibung ihre Ehemänner und Väter verloren hatten: „Ein Viertel aller Kinder wächst heute ohne Vater auf“ (Heilfurth 1951, 25), konstatierten die Friedewalder Beiträge zur sozialen Frage im Jahr 1951. Die vaterlose Generation in der Nachkriegszeit ist keine singuläre Situation, sondern ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, wodurch die Tagung die gravierenden Folgen des Verlusts schichtenübergreifend aufzeigt: „Erziehung ohne Vater – auf ihr lastet das Alleinsein der Mutter, oftmals eine Ziellosigkeit ihres Daseins, häufig auch eine übermäßig starke Bindung an das Kind“ (Schimansky 1954,13). Im Fall der Familie Kempowski wird der Verlust des Vaters – gefallen auf der Frischen Nehrung kurz vor Kriegsende (vgl. Kempowski 1972a, 192  f.) – jedoch noch erheblich potenziert durch die Verhaftung von Walter und Robert Kempowski wegen Spionage sowie von Margarethe Kempowski aufgrund von Mitwisserschaft. Die Verurteilung und Haftzeit der Familienmitglieder ist eine weitaus drastischere Zäsur als der Verlust des Vaters, weil sie die durch

3.7 Mutter287

NS-Terror und Weltkrieg gerettete bürgerliche Existenz der Familie nahezu auslöscht und die von Margarethe Kempowski mit zähem Optimismus vorgetragene Nachkriegsdevise „Uns geht’s ja noch gold“ letztlich ad absurdum führt. Von der wohlbehüteten Kindheit Walter Kempowskis in der Rostocker Reederfamilie bleiben nach der Haftzeit nur noch wenige Habseligkeiten und Erinnerungen, wie die Beschreibung des Besuchs der ehemaligen Wohnung in den 1990er Jahren zeigt: „An der Etagentür stand groß und deutlich: MÄNNER. Die in der Nachbarschaft liegende Brausefabrik hatte ein Klo aus unserer Wohnung gemacht“ (Schwilk 1994, 20). Insbesondere vor dem Hintergrund der Verhaftung von Margarethe Kempowski – ausgelöst durch das Geständnis ihres eigenen Sohnes – ist nicht nur nach den Folgen dieses biographischen Wendepunkts, sondern auch nach dem Verhältnis von Mutter und Sohn und der bürgerlichen Identität zu fragen. Wenngleich die durch Verlust des Vaters als unvollständig wahrgenommene Familie in der Nachkriegszeit zur „Norm einer Familienstruktur“ (Radebold 2009, 52) wurde, so schuf die Haft für die Angehörigen de facto eine räumliche Auflösung der Familie Kempowski, die zudem mit dem Makel der Strafe behaftet war. Mit dieser räumlichen Auflösung geht auch der temporäre Verlust der familiären Identität einher, an dessen Ende jedoch nicht nur ein Wiedersehen nach der Entlassung aus der Haft steht, sondern mit der Arbeit an der Deutschen Chronik eine literarische Rekonstruktion der Familienidentität einsetzt. Wie essentiell der Impetus der Schuld und Wiedergutmachung für das Œuvre Kempowskis – im Besonderen für die Deutsche Chronik – ist, lässt sich mit Jörg Drews formulieren: „[A]lso hat gewiss sein [d.  i. Kempowski] vielfältiges und rastloses, wie getriebenes Schreiben etwas von Kompensation und Restitution des Verschuldeten und des Verlorenen“ (Drews 2006a, 44). Bereits Manfred Dierks verwies in den 1980er Jahren auf die Rolle ambivalenter Verflechtung von Schuldgefühl und Zeugenschaft, welche die literarische Figur und die reale Person Margarethe Kempowski für das Werk ihres Sohnes besitzt: Insbesondere aber wird der Verlauf der Vorgeschichte des Block (und implizit des Tadellöser) bestimmt durch die Informationen, die Kempowski von seiner Mutter erhält. Ursprünglich hatte er sie zu ihrer eigenen Haftzeit befragen wollen. Dies Thema war für ihn außerordentlich stark mit Schuldgefühlen besetzt, noch im Block vermag er es nicht zu bearbeiten […]. So läßt es Kempowski zu, daß die Mutter in ihren Berichten sich bald ihren früheren Lebensphasen zuwendet. (Dierks 1981, 26)

Aus dieser ambivalenten Ausgangssituation, zugleich Grundlage und Gegenstand literarischer Verarbeitung zu sein, ergibt sich, dass die Behandlung von Margarethe Kempowski nicht monoperspektivisch, sondern in Kombination differenter Analyseebenen erfolgen muss: Sowohl die reale Person und ihre verbürgte Biographie, zugleich aber auch deren Vermittlung in der literarische Inszenierung von Margarethe Kempowski innerhalb der Deutschen Chronik und schließlich die Funktion der Mutter für das Werk Walter Kempowskis müssen beachtet werden, um ein vollständiges Bild abzugeben.

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3  Systematische Aspekte

1  Biographie und literarische Inszenierung Der dem Roman Tadellöser & Wolff vorangestellte Leitsatz „Alles frei erfunden!“ (Kempowski 1971a, 6) ist nicht nur ironische Distanzierung von den in der Deutschen Chronik vermittelten Inhalten, sondern, wie Sascha Feuchert betont, zugleich eine klare Absage an den autobiographischen Pakt: „Das, was nun folgt, ist eben keine Autobiographie, sondern Literatur in einem viel engeren Sinne: konstruiert, arrangiert, montiert, fiktionalisiert“ (Feuchert 2010, 141). Das Leitmotiv von Montage und Collage ist die zentrale Methodik von Kempowskis Œuvre, das sich von der Deutschen Chronik über das Echolot bis hin zum posthum erschienenen Plankton erstreckt (vgl. Damiano 2005a). So beinhaltet die Deutsche Chronik eine „raffinierte, überaus leistungsfähige und dabei signifikant quellengestützte Authentizitätsillusion“ (Stockhorst 2010, 431), wobei die „literarisierte Familiengeschichte“ (Stockhorst 2010, 438) sich nicht nur als fiktionalisierte Historie, sondern ebenso auch durch „grundsätzliche Faktentreue“ (Stockhorst 2010, 430) auszeichnet. Das gilt insbesondere für die dargestellten Familienmitglieder. Anna Margarethe Kempowski wurde 1898 als drittes Kind der Hamburger Kaufmannsfamilie Collasius geboren und wuchs in einem protestantisch geprägten Umfeld auf, das auf einer arrivierten Herkunft hanseatischen Bürgertums beruhte. Obwohl die Herleitung des Namens aus dem Hugenottischen eine Legende ist (vgl. Niedersächsisches Staatstheater Hannover 2009, 87) und sich der Name Collasius lediglich einer Latinisierung des ursprünglichen Namens Kohlhase im 17. Jahrhundert verdankt, weist gerade die Familiengeschichte der Collasius eine starke protestantische Prägung auf: Bis ins 19. Jahrhundert hinein sind Margarethes Vorfahren im Wesentlichen Pastoren in der Mark Brandenburg, in Mecklenburg und Vorpommern (vgl. Hempel 2004, 21). Der Erfolg der vom Großvater gegründeten Tuchhandlung verschafft der Familie Collasius einen gehobenen Lebensstil, der nicht zuletzt im Kauf der Villa in Wandsbek aus dem Erlös eines einzigen Jahres deutlich wird (vgl. Niedersächsisches Staatstheater Hannover 2009, 93). Zugleich zeichnet sich die Familie, insbesondere Margarethes Vater August Wilhelm, durch Sparsamkeit und Bescheidenheit im Sinne protestantischer Arbeitsmoral aus (vgl. Niedersächsisches Staatstheater Hannover 2009, 97  f.). So wird Margarethes Kindheit von ihr selbst zwar als abgesichert, aber auch als entsagungsvoll beschrieben: „Geordnete Verhältnisse und alles hatte seinen Schick gehabt. Andererseits weltfremd bis zum geht nicht mehr: Was kannte man denn vom Leben, als man das Elternhaus verließ“ (Kempowski 1999c, 213). Gegenüber den Geschwistern fühlte sich Margarethe benachteiligt: „Hertha ist in England gewesen, in Pension, alles herrlich und in Freuden, und Richard in Hongkong. Und ich? Jedes Jahr nach Süderhaff. Nicht mal auf Helgoland bin ich gewesen, als Hamburgerin!“ (Kempowski 1999c, 214) Doch obwohl sich die Familie Collasius durch eine „protestantisch motivierte Askese, Selbstdisziplin und eine durch die christliche Ethik begründete

3.7 Mutter289

Funktionsaufteilung der Aufgaben des Vaters und der Mutter“ (Allert 1998, 104) auszeichnet, wird Margarethe bei ihrer Berufsausbildung zur Kindergärtnerin am Fröbelseminar unterstützt. Wenn auch diese Entscheidung kein Novum mehr in der wilhelminischen Gesellschaft darstellt, so ist sie keineswegs eine Selbstverständlichkeit in der bürgerlichen Identität einer Kaufmannsfamilie (vgl. zur Rolle der Frau im Bürgertum Budde 2000). In der Sommerfrische 1913 an der Ostsee lernt Margarethe Collasius den Reedersohn Karl Kempowski kennen, verliebt sich jedoch kurz darauf in August Cords und schreibt ihm während des Ersten Weltkriegs Liebesbriefe, während Karl Kempowski lediglich Strümpfe und Bonbons erhält (vgl. Hempel 2004, 19). Erst nachdem Cords ihre Avancen ablehnt, wendet sich Margarethe wieder Karl Kempowski zu. Die beiden verloben sich 1917, was bei den Angehörigen nur auf begrenzte Zustimmung stößt; zu unterschiedlich sind Familienmentalität und bürgerliche Identitätskonzepte. Dirk Hempel beschreibt die Diskrepanzen treffend: Die exaltierten und verschwenderischen Kempowskis, die aus den westpreußischen Sümpfen am Frischen Haff emporgestiegen waren zu den Höhen Rostocker Bürgerlichkeit, und die sich über Jahrhunderte vornehm, anständig und christlich haltende Familie Collasius: ein größerer Gegensatz ist schwer vorstellbar. (Hempel 2004, 23)

Diese Ablehnung beschreibt auch Tilmann Allert: „Von seiner [d.  i. Karl Kempowski] Mutter Anna, der eine in festem christlichen Glauben und heiterer Frömmigkeit erzogene Schwiegertochter aus betuchten Hamburger Kreisen eine ständige moralische Provokation bedeutet, wird der Hochzeitswunsch berichtet: ‚Ich wünsch euch alles Schlechte‘“. (Allert 1998, 103) Die Differenzen unterschiedlicher Mentalitätsprägungen zeigen sich auch in der Ehe: auf der einen Seite Karl Kempowski, geprägt durch die Hysterie seiner Mutter und den Sarkasmus seines Vaters, introvertiert und skurril, durch die Hautverletzung im Ersten Weltkrieg zusätzlich gezeichnet. Walter Kempowski beschrieb sein Verhältnis zum Vater folgendermaßen: „Zwischen uns war immer eine gewisse Peinlichkeit. Wir vermieden es, allein zusammen zu sein. Ein stiller, stark gehemmter Mann. Seine Wunderlichkeiten hatte er wohl zum Selbstschutz zusammengerafft“ (Kempowski 1990a, 209; ähnlich äußerte sich auch Walter Kempowskis Schwester Ulla, vgl. Kempowski 1990a, 113). Auf der anderen Seite stand Margarethe Kempowski, gefühlsbetont, engagiert und mit einer „heiteren Frömmigkeit“ (Allert 1998, 103) aufgewachsen, die die im Fröbelseminar erlernte Reformpädagogik nun in der Erziehung der eigenen Kinder anwenden kann: „Gretes Güte und Zuwendungsbereitschaft verhält sich komplementär zu Karls selbst auferlegter Härte und seiner steifen und stets etwas täppischen Abgrenzung gegen emotionale Regression“ (Kempowski 1990a, 108). Im Wesentlichen präzisiert Tilmann Allert mit dieser Analyse Kempowskis eigene Aussagen: „My father was a shipsowner and my mother was always friendly…“ (Kempowski 1999c, 23). Der Vater wird über die gesellschaftliche Stellung, die Mutter hingegen durch ihre emotionale Bildung zu ihrem Kind charakterisiert: „[I]n the evening she stood at the

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3  Systematische Aspekte

Fußende of my bed and said: ‚And now put your nose into the pillow‘“ (Kempowski 1999c, 23). Damit wird in der Familie das tradierte Rollenschema von Mutter und Vater aus der wilhelminischen Ära gelebt, jedoch ohne starke Spannungen zu entwickeln: „Differenzen wurden durch die allgemeine sanguinische Stimmung, durch Floskeln, Witze, ritualisierte Verhaltensweisen geglättet“ (Hempel 2004, 19). Insbesondere die gemeinsam eingenommenen Mahlzeiten und die Tischgespräche werden zum Inbegriff familiärer Verbundenheit – „Das Frühstück war immer sehr harmonisch“ (Kempowski 1978b, 12) – und bilden das Substrat von ritualisierten Formen jovialer, zitatbeladener Konversationen, die charakteristisch für den Collagenstil der Deutschen Chronik sind. Wesentlicher Kern der Identität einer bürgerlichen Familie ist neben der beruflichen und gesellschaftlichen Stellung die Rezeption von und Partizipation an der Kultur: „Lektüre, Konzertabonnement und Hausmusik sowie Teilnahme an einem privaten, geselligen Kreis, in dem philosophische und literarische Fragen erörtert wurden, beeinflußten auch die Kinder“ (Hempel 2004, 33). Insbesondere Literatur und klassische Musik bilden zentrale Instrumente bürgerlicher Distinktion; der Flügel, der die Familie bis zu seiner Konfiszierung durch die sowjetischen Behörden bei mehreren Wohnungsumzügen begleitet, ist ebenso Ausdruck eines bildungsbürgerlichen Selbstverständnisses wie die Sammlung kanonisierter Literatur im Bücherschrank (vgl. Kempowski 1978b, 30): „Den Flügel holten sie auch. Die Beine abgeschraubt und runtergewuchtet das Ding. […] Die Hauswartsfrau stand daneben und sagte: ‚Gott sei Dank. Nun hört endlich das Geklimper auf‘“ (Kempowski 1999c, 63). Sowohl in der aktiven als auch passiven Beschäftigung mit Musik kann jedoch nicht nur gesellschaftliche Unität, sondern auch individuelle Distanz zum Ausdruck gebracht werden, wie Martin Ebel ausführt: „Musik erlaubt die Abgrenzung auf Zeit von allem Banalen, aber auch Unangenehmen und Bedrohlichen der Gegenwart, sie bildet ein Reich, eine Gegenwelt“ (Ebel 2005, 42; vgl. auch Stockhorst 2010, 435). Diese ablenkende, enthusiasmierende Funktion der Musik wird nicht nur am Choralspielenden Karl Kempowski oder der Schumanns Glückes genug interpretierenden Margarethe – nach der Rückkehr Walters aus Wiesbaden und kurz vor seiner Verhaftung – deutlich. Sie zeigt sich auch in der Begeisterung von Robert Kempowski (und später auch von Walter) für die zeitgenössische Jazzmusik, die zwar zunächst als Mode höherer Jugendschichten in den 1930 Jahren dem soziokulturellen Umfeld – „Segelclub, Reitstunden und Klavierunterricht“ (Hempel 2004, 32)  – entspricht, dann aber immer stärker eine bewusste Gegenbewegung zur nationalsozialistischen Jugenderziehung darstellt (vgl. Hempel 2004, 49  f.). Wenngleich die Gründung des geheimen Clubs der „Rostocker Swing Band Boys“ durch Robert Kempowski und andere sowie die Fortführung des Clubs durch Walter Kempowski nur bedingt einen antifaschistischen Kern zu besitzen scheinen und mit Jazzplatten und dem Kleidungstil der englischen Oberschicht eher durch eine westliche Konsumorientierung charakterisiert sind, war die Zugehörigkeit zur ‚SwingJugend‘ keineswegs unpolitisch oder ungefährlich: So wurden die Swing-

3.7 Mutter291

Gruppen von den NS-Behörden wie andere Jugendkulturen als Gefährdung der staatlichen Erziehung im nationalsozialistischen Sinne gesehen, da sie – wenn auch ohne ein festes Programm – den NS-Staat und seine Strukturen ablehnten. So zeigt etwa das massive Vorgehen der Sicherheitsbehörden gegen die Flottbecker Swing-Gruppe, die sich zu Kriegsbeginn aus dem Hamburger Sportclub gebildet hatte und von der im Herbst 1940 über 60 Jugendliche verhaftet wurden, wie restriktiv die NS-Führung auch gegen tendenziell unpolitische Gruppierungen vorging (vgl. Klönne 2003, 252–258). Das Zusammenwirken von Kulturprotestantismus und Bildungsbürgertum erzeugte weder bei Margarethe noch bei Karl Kempowski eine nachhaltige Ablehnung des NS-Regimes: „Politische Orientierung noch aus der Kaiserzeit beziehend, mit Begriffen wie Kultur und Bildung imprägniert, hatte sie [d.  i. die bürgerliche Gesellschaft] der zivilisatorischen Bedrohung durch die Diktatur nichts entgegenzusetzen. Man fand sich ab, richtetet sich ein in der neuen Zeit“ (Hempel 2007d, 67). Karls nationalkonservative Haltung ist stellvertretend für weite Teile der deutschen Bevölkerung, die aus Ablehnung der Weimarer Republik – „Nicht: schwarz-rot-senf. Diese politischen Versammlungen immer“ (Kempowski 1978b, 472) – und aus konservativem Patriotismus dem Nationalsozialismus zunächst befürwortend gegenüberstanden, dann aber unter dem Eindruck des NS-Terrors und der unmittelbaren Kriegserfahrung, aber auch aus bürgerlicher Distinktion in eine innere Opposition gelangten. Zu einer offenen Ablehnung des NS-Regimes kommt es weder bei Karl noch bei Margarethe Kempowski. Vor diesem Hintergrund muss auch die Aussage Hempels, das Ehepaar Kempowski habe insbesondere in den Kriegsjahren der Bekennenden Kirche nahegestanden (vgl. Hempel 2004, 30), relativierend betrachtet werden. In der Elterndarstellung der Deutschen Chronik finden sich keine Passagen, die bekundete Positionen der Bekennenden Kirche, etwa die in der Pfingst-Denkschrift von 1936 geäußerte Ablehnung der NS-Rassenpolitik, tatsächlich reflektieren. Offenkundige Gräueltaten des NS-Regimes werden nur sotto voce geäußert – nicht zuletzt aus Selbstschutz: Dann dämpfte man die Stimme und schaute sich um. Im Nachbarrevier habe man KZ-Häftlinge arbeiten sehen. ‚Fahren Sie schnell weiter‘, habe der SS-Mann gesagt. Die hätten böse ausgesehen. Schlimm. ‚Konzertlager‘, wurde gesagt, und: ‚Das rächt sich‘. Aber bloß den Mund halten – ‚Junge, hörst du?‘ – Herr Hitler müsse es ja wissen. (Kempowski 1978b, 190)

Wenngleich die Formulierung „Herr Hitler“ eine Negation des ‚Führer‘-Status und Reduzierung auf ein bürgerliches Niveau ausdrückt, bleibt die Distanzierung ohne Konsequenz: „Hinter der scheinbaren Harmlosigkeit bürgerlicher Existenz scheint das Versagen einer ganzen sozialen Schicht auf“ (Hempel 2007d, 67). Auch aus der inneren Frömmigkeit Margarethes entwickelt sich kein direkt geäußerter Widerstand, wohl aber bleiben ihre aus dem christlichen Selbstverständnis resultierende Güte und Hilfsbereitschaft auch in Kriegszeiten beste-

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3  Systematische Aspekte

hen, wie es sich im Engagement für den Untermieter und späteren Schwiegersohn Ib Kai-Nielsen nach dessen Verhaftung zeigt: „Die Dänen lieben nun mal ihren König und alles, was damit zusammenhängt. Glühend! So wie wir unseren Führer […]“ (Kempowski 1971a, 197), erklärt Margarethe vor einem Gestapobeamten und offenbart ein Weltbild voll Anstand und Mitgefühl, gleichzeitig mit entlarvender Naivität (vgl. Allert 1998, 122). Auch hier zeigt sich ein einfaches Nationalverständnis, das eine Gleichwertigkeit von Völkern impliziert, was einer unbewussten Ablehnung der NS-Rassenlehre nahekommt. Margarethes am Ende von Tadellöser & Wolff stehender Ausruf „Ich sage: den Krieg haben wir gewonnen! Die Kirche und die guten Kräfte!“ (Kempowski 1978b, 475) ist als Distinktion zum Nationalsozialismus gemeint, bleibt aber zugleich ein Euphemismus und manifestiert letztlich nur die Unfähigkeit, sich mit der Dimension des ‚Dritten Reichs‘ und der eigenen Partizipation auseinanderzusetzen. Auch der damit verbundene Optimismus wird enttäuscht: Die Nachricht vom Tod Karl Kempowskis lässt Margarethe das Schicksal von Millionen anderer Kriegswitwen teilen. Neben den existenziellen Nöten der Nachkriegszeit in der sowjetischen Besatzungszone wird das Leben für Margarethe zudem durch die Sorge um ihren zunehmend pflegebedürftigen Vater und die abwesenden Kinder erschwert: Ulla in Dänemark, Robert in der Reederei und Walter, der zunächst keine Ausbildung findet und schließlich eine sich als fatal erweisende Tätigkeit bei der US-Army im Westen annimmt. Das Leben Margarethe Kempowskis ist prototypisch für die Situation der Witwen im Nachkriegsdeutschland: „Man muß doch immer alleine entscheiden. Und das drückt in den stillen Stunden“ (Naumann 1954, 5). Die Verhaftung Walters und Roberts wegen Spionage und schließlich auch von Margarethe stellt die gravierendste Zäsur der Familiengeschichte dar, weil sie nicht nur die bürgerliche Welt endgültig zusammenbrechen lässt, sondern auch das Verhältnis zwischen der Mutter und den Söhnen nachhaltig beeinträchtigt: „Die Jungen waren verurteilt worden. Es war, als ob mir die Beine zu Bleiklumpen würden. Nun waren sie also erledigt. Verurteilt! Wer weiß zu wieviel Jahren. Die würde ich wohl nie wiedersehen“ (Kempowski 1999c, 63). Wenige Tage später wird Margarethe selbst von den sowjetischen Behörden vorgeladen und verhört – aufgrund des erpressten Geständnisses ihres Sohns Walter: „Ich hab immer bloß gesagt: ‚Ich bin ne Hausfrau und interessier mich nicht für Politik. Und was meine Söhne gemacht haben, geht mich nichts an“ (Kempowski 1999c, 92). Die während des NS-Regimes erprobte bürgerliche Distanzierung wirkt jedoch nicht: Im Januar 1949 wird Margarethe Kempowski wegen Nichtanzeigens von Spionagetätigkeiten zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. 2 Schuld und Zeugenschaft Wie schwer die Schuld, die engsten Angehörigen durch die Übermittlung der Frachtbriefe an den amerikanischen Geheimdienst CIC ins Unglück gestürzt

3.7 Mutter293

zu haben, auf Walter Kempowski lastete, demonstriert wohl am eindrücklichsten sein Selbstmordversuch in der Untersuchungshaft im März 1948: „Diese Schuld ist es, die er nicht aushält. Er hat die Familie zerstört und jetzt auch noch seine Mutter den Russen preisgegeben, die Folgen kann er sich ausmalen“ (Hempel 2004, 7). Ob Walter Kempowskis Aussage vor den sowjetischen Behörden jedoch als der alleinige Grund für die Verhaftung seiner Mutter gilt, ist nicht vollständig belegt. So äußerte sich der Autor in einem Interview mit dem Stern folgendermaßen: „Sie [d.  i. Margarethe Kempowski] erzählte mir dann auch, dass sie von einem Nachbarn denunziert worden sei! Das war für mich ein Schock, denn mit dem Kerl hatte ich auf einer Zelle gesessen. Wozu die Russen dann überhaupt noch meine Aussage brauchten, ist mir ein Rätsel.“ (Michaelsen 2002, o.  S.) Wenngleich Walter Kempowski vom Schicksal seiner Mutter erst spät erfährt (vgl. Kempowski 1999c, 211) – seinen Bruder Robert trifft er bereits in der Haft wieder –, so findet sich frühzeitig der Moment der Reue als Impetus des späteren Schaffens: „Ein Opferleben führen, stellvertretend leiden“ (Kempowski 1999c, 21). Obwohl das Epitheton des ‚stellvertretenden Leidens‘ eine nicht geringe Relativierung des eigenen Schuldbekenntnisses darstellt (vgl. zur Bedeutung der Schuldthematik für das Werk Kempowskis Sina 2012) und auch die sedative Funktion dieser Imaginationen nicht unterschätzt werden darf (vgl. Hempel 2004, 8), so enthalten auch diese Fantasien durchaus eine – poetisch gerahmte  – Referenz der eigenen Situation: „Als Polarforscher im Ewigen Eis. Wissen, daß man nicht mehr weiterkann. Mit schwarzgefrorenen Fingern, letzte Zeilen schreiben. Seine eigene Frau mit ‚Witwe‘ anreden. ‚Liebe Witwe‘ statt ‚liebe Frau‘. Liebe Mutter“ (Kempowski 1999c, 21, Hervorhebung des Verfassers). In die kindliche Abenteuerphantastik mischt sich subtil die eigene Isolation; die Mutter bleibt der Fixpunkt von existenziellen Ängsten, Geborgenheitssehnsüchten und Schuldgefühlen: „Daß durch meine Schuld nicht nur ich, sondern auch meine Mutter und mein Bruder ins Gefängnis kamen, ist das Schlimmste, was mir widerfahren ist“ (Kempowski in Ankowitsch 2001, 24). So ist auch nach der Haftentlassung das Verhältnis von Walter Kempowski zu seiner Mutter belastet. Nicht aufgrund offener Vorwürfe seiner Mutter, sondern vielmehr aus Kempowskis inhärenten Schuldgefühlen und vor allem durch die Erfahrungen der Haftzeit: Seine Mutter machte es ihm zwar leicht, war freundlich und herzlich wie früher. Aber er war immer noch in Bautzen, die Jahre waren nicht so einfach abzuschütteln. Er wollte seine Geschichte mitteilen, aber seiner Mutter konnte er sie nicht erzählen. Sie hatte Ähnliches erlebt, und er fühlte sich dafür verantwortlich (Hempel 2004, 89).

Das schuldbeladene Hemmnis, im engsten Familienkreis die Erlebnisse der Haftzeit zu verarbeiten, fördert die literarische Verarbeitung der Geschehnisse; Pläne dazu erarbeitet Walter Kempowski bereits unmittelbar nach der Haftentlassung (vgl. Dierks 1981, 24). Erst Ende der 1950er Jahre konkretisiert sich jedoch das Vorhaben eines ‚Buchs über Bautzen‘, das nicht nur einer

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3  Systematische Aspekte

Auseinandersetzung mit dem eigenen Schicksal dient. In die Zeit der beginnenden literarischen Umsetzung fällt auch das Scheitern seines Antrags auf Häftlingsunterstützung vor dem Landesverwaltungsgericht Hamburg, das ihm eine nach sowjetischen Militärrecht plausible Verurteilung bescheinigt: „Die größte Enttäuschung meines Lebens war die Ablehnung meines Antrags auf Anerkennung in Hamburg. […] Daß ich daraus letztlich Kraft zog für meinen Beruf, das ist eine ganz andere Sache“ (Kempowski 1994, o.  S.), schreibt er am 12. November 1994 in sein Tagebuch. Doch es ist nicht nur das Bemühen um gesellschaftliche Reputation, sondern auch die Bestrebung um ideelle (und materielle) Kompensation, welche den literarischen Schaffensprozess intentional begleiten (vgl. Hempel 2004, 106). Manfred Dierks hat dargelegt, wie sich aus den Planungen für ein Buch über die Haftzeit subkutan die Genese einer Familienchronik entwickelt: Das Thema ‚Haft‘ bleibt nach Ausweis der Tagebücher zwar durchgängig und intensiv, es existiert ja ein erster Werkplan aus eben dem Jahr 1959, auch werden weiterhin Informationen dazu gesammelt. Doch es wird überdeckt von dem neuen Projekt, das machbar war, ohne den eigentlichen schriftstellerischen Ehrgeiz zu berühren, und in das doch gut ein Teil der psychischen Grundspannung abfließen konnte. (Dierks 1981, 27)

Eine exponierte Stellung bei der Rekonstruktion der eigenen Vergangenheit und Familiengeschichte kommt dabei Margarethe Kempowski zu. Ihre biographischen Schilderungen bilden – neben Interviews mit Verwandten – nicht nur den Grundstock der Familiengeschichte der Collasius, Hälssen, Kempowski, Nölting, die Walter Kempowski 1961 seiner Familie präsentiert (vgl. Dierks 1981, 28). Sondern zugleich liegen in den Erinnerungen der Mutter – neben Kempowskis eigenen Erlebnissen – die wesentlichen Ressourcen der Deutschen Chronik. Wie umfassend Margarethe Kempowski für die Deutsche Chronik ist, zeigt auch ihr Anteil an den 45 gebundenen Einheiten mit Rohmaterial zu dem Gesamtwerk (vgl. Kempowski 1960a). Die Erinnerungen der Mutter, von Kempowski aufgezeichnet und mit weiteren Zeugnissen angereichert, umfassen insgesamt zwanzig Bände: Ostern 1959 begann ich bei Kaffee, Kuchen und Zigaretten Mutters Erzählungen – sanft gelenkt – wie ein Wilder zu schmieren. Die Schmierzettel übertrug ich dann später in Göttingen auf Schreibmaschinenschrift. Später setzte ich dann das Tonbandgerät ein, wodurch es mir gelang, den größten Teil der eigentlichen Lebensbeschreibungen wortwörtlich festzuhalten. (Kempowski 1960a, 1048)

Die Parenthese „sanft gelenkt“ ist von zentraler Bedeutung, weil sie bezogen auf die Tonbandinterviews den Ansatz der Collage- und Montagetechnik bei Kempowski zeigen: „Dieses Ausgangsmaterial ist aber nicht nur Rohstoff, der durch den Dichter verarbeitet bzw. veredelt worden wäre, es hat, wie alle Archivalien und Fundstücke,  […] einen eigenen Kontext“ (Feuchert 2010, 142). Dabei ist wesentlich, dass sich nach Aleida Assmann biographische Gedächtnisse nicht per se auslagern lassen, „diese können Erinnerungspro-

3.7 Mutter295

zesse nur im Verbund mit anderen Gedächtnissen anstoßen und abstützen“ (Assmann 1999b, 21). Die Interviews sind  – wie alle akribisch von Kempowski gesammelten Archivalien – in ihrer literarisierenden Verwendung Gegenstand eines intertextuellen Remediatisierungsprozesses (vgl. Jäger 2004), der sich nicht nur auf eine inhaltliche Transkription beschränkt: „So läßt es Kempowski zu, daß die Mutter in ihren Berichten sich bald ihren früheren Lebensphasen zuwendet. Sie diktiert ab 1957 und bald auf Tonband, das dann Erzählführung, Intonation und die vielen alltagssprachlichen Wendungen im Originalton festhält“ (Dierks 1981, 26). Stefanie Stockhorst weist ebenso wie Alan Keele (1997), Manfred Dierks (1981, 25–29) und Franz Josef Görtz (1973) darauf hin, dass zwischen den mündlichen Berichten der Mutter und ihrer Verarbeitung im Œuvre Kempowskis zunächst große Kongruenzen bestehen, sich dann aber sukzessive eine Ablösung von den „höchst subjektiven Quellen“ (Stockhorst 2010, 423) vollzieht (vgl. auch Stockhorst 2010, 430). Gerade im sprachlichen Duktus wird der Einfluss oral tradierter Remediatisierung von Erinnerungen der Mutter – „Kind, wie isses nu bloß möglich“ (Kempowski 1971a, 149) – und anderer Familienmitglieder deutlich, wenngleich mit Tilmann Allert kritisch konstatiert werden muss: „Das Familiengespräch erscheint in seiner literarischen Fassung in Gestalt kollagierter Dialogsequenzen, die ohne übergreifende situative Kontextuierung, aber auch ohne Deutung innerer Zustände der Sprecher, dem Druck der äußeren Realität entgegengehalten werden“ (Allert 1998, 130). Dass insbesondere die geschickte Authentizitätsillusion der Familiengespräche nicht nur eine „Ansammlung sich ständig wiederholender Sprach- und Denkklischees“ (Butzer 2001, 113) darstellt, evoziert die Collagetechnik: „Es geht nicht darum, Zitate so exakt wie möglich einzubauen, sondern sie funktionsgemäß zu verwenden und auch so zu verstehen“ (Feuchert 2010, 145). Dieses Vorgehen zeigt sich nicht nur in der intertextuellen Montage von Literatur und Musik, sondern insbesondere auch in der Verwendung der literarisierten Zeugenschaft der eigenen Familienmitglieder. Vor allem in der narrativen Konzentration auf „bürgerliche Gemeinplätze“ (Stockhorst 2010, 433) wie Inventar, Kleidung oder Ernährung verbirgt sich nicht nur die Darstellung bürgerlicher Distinktion im Alltag des ‚Dritten Reichs‘, sondern auch eine wohlkalkulierte Brechung: „[D]iese Harmlosigkeit neben dem Grauenhaften ist ja viel schlimmer, als wenn ich jetzt nur das Grauenhafte beschreibe. Gerade die Idylle bringt den Leser ja dazu, nach dem Grauenhaften zu fragen“ (Hage und Kempowski 1972, 344). So kontrastiert Kempowski in Ein Kapitel für sich die Aussage seiner Mutter vor den sowjetischen Behörden, nur Hausfrau zu sein und keinerlei politische Kenntnisse zu besitzen, wenige Seiten später mit deren Empfindung beim Anblick der dunklen Gefängnisdusche: „‚O Gott‘, dachte ich, ‚hier vergasen sie dich noch‘“ (Kempowski 1999c, 95, Hervorhebung des Verfassers). Die Verbindung existenzieller Bedrohung mit dem Mordwerkzeug des Holocaust ist nicht zufällig. Dabei stellt sich die titulative Frage des zweiten

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3  Systematische Aspekte

Befragungsbands Haben Sie davon gewußt? (1979b) nicht zwangsläufig, sind doch die Verbrechen des NS-Regimes durch die Aufklärung der alliierten Besatzer allgemein bekannt. Stattdessen entlarvt Kempowski mit dieser Passage den apolitischen, naiven Habitus als Selbstschutz, in dem ein Nichtwissen-wollen aus einem Nicht-verstehen-können resultiert, wie Margarethes Bemerkung zum deutschen Überfall auf Polen verdeutlicht: „‚Daß die Menschen nicht in Frieden leben können‘, sagte meine Mutter. Die Großen sollten in den Boxring gehen und die Sache selbst austragen, da würde se aber zukucken [sic!]“ (Kempowski 1978b, 92). Die Betrachtung von Kempowskis Œuvre zeigt, dass die Auseinandersetzung mit dem Vater thematisch einen anderen Stellenwert besitzt als die Abbildung der Mutter. Die Verarbeitung des abwesenden Vaters im Hörspiel Moin Vaddr läbt oder im Roman Mark und Bein ist analog zu den Erfahrungen der Kriegsgeneration, die in der Untersuchung Söhne ohne Väter skizziert wurde: „Der Verlust des Vaters ist ein brutaler Einschnitt, der den Sohn, das Kind, lebenslang begleitet – und beschädigt! Das Nicht-fragen-können bleibt das Drama, die Falle für Selbstquälerei, für Selbsttäuschung, für verwirrende Phantasien“ (Schulz et al. 2005, 8). Im Gegensatz dazu gestaltet sich das Verhältnis der männlichen Kriegskinder zu ihren Müttern geradezu diametral, und durch den Verlust des Vaters stellt sich nicht nur eine doppelte Rollenfunktion für die Mutter ein: Zu diesem engen, teilweise symbiotischen Bündnis zwischen Mutter und Sohn trugen auch das gemeinsame Erleben und Überleben von vielfältigen Gefahren und Schrecken in der Endphase des Krieges und in der direkten Nachkriegszeit bei. Die Söhne erfuhren sich zusätzlich als Retter und Beschützer ihrer Mütter. (Radebold 2005, 135)

Vor diesem entwicklungspsychologischen, generationshistorischen Hintergrund kann durchaus ein Ansatz für die divergente Thematisierung  – insbesondere in Bezug auf die ambivalente Haltung gegenüber dem NS-Regime – der Eltern im Werk Walter Kempowskis gesehen werden: „My father was a Shipsowner and my mother was always friendly…“ (Kempowski 1999c, 23). Der abwesende Karl Kempowski wird zum Gegenstand der rekonstruierten Geschichte der durch Krieg, Tod und Verlust von Besitz und Reputation nachhaltig veränderten Familienstruktur; Margarethe Kempowski hingegen wird ein wesentlicher Fixpunkt in Walter Kempowskis Aspirationen, die verlorene Familienidentität in literarisierter Form zu remedieren.

3.8 Pädagogik297

3.8 Pädagogik Volker Ladenthin 1  Biographische Daten und Darstellungen . . . . . . . . . . . . . 2 Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Pädagogik Walter Kempowskis . . . . . . . . . . . . . . . . 4  Darstellungen und Würdigungen . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Unter den vielen Schulszenen aus den Romanen Walter Kempowskis (vgl. Monn 2012, 5) findet sich folgende Anekdote in dem Lehrerporträt Unser Herr Böckelmann: „Andrea kann wundervoll schreiben. ‚Mädchen, wie schreibst du schön‘, sagt Herr Böckelmann. ‚Weißt du auch, wieso du das kannst? Weil ich es dir beigebracht habe‘“ (Kempowski 1979a, 49). In einem Interview bekennt Walter Kempowski 1974: Ich hätte als Lehrer am meisten Glück, wenn die Kinder mich einfach vergäßen. Als guter Lehrer möchte ich nur wie ein Katalysator wirken und niemandem meinen Stempel aufdrücken. Ich kann meinen Schülern doch nicht ein Leben vorleben, das sie so ja gar nicht nachvollziehen können. Diese sogenannten starken Lehrer sind doch ungeheuerlich (Kempowski 1974c, X).

Mit diesen beiden Zitaten lässt sich in zweifacher Hinsicht die spezifische Schwierigkeit aufzeigen, die Pädagogik Walter Kempowskis zu rekonstruieren. Zum einen ist da die Frage nach dem Genre der Texte, die man als Quellen zur Beantwortung der Frage nutzt: Kann der literarische Text mit dem Interview kontrastiert werden? Literarische Texte dürften nicht aus diskursiven Gründen geschrieben sein – und sollten daher auch nicht oder nur behutsam diskursiv ausgelegt werden. Probleme der Rollenprosa, der Differenz zwischen Autor, Erzähler und Figurenrede wären zu bedenken und es ließe sich fragen, ob man dem (kindlichen) Erzähler die korrekte Wiedergabe von Äußerungen zutrauen kann. Zum anderen lassen sich auch in den diskursiven Texten Kempowskis unschwer Positionen finden, die sich wie die beiden zitierten Passagen zu widersprechen scheinen: In einem Gespräch mit Siegfried Lenz resümiert Kempowski beispielsweise, dass Kinder „im Grunde fertige Menschen sind“ (Lenz 1982, 143). Es ist das Bild vom Kind als Keimling, wie es etwa Montessori oder Ellen Key ausgedrückt haben: „Das ist fast ein pädagogisches Bekenntnis und ein Programm“ (Lenz 1982, 144). Wenig später heißt es: „Wir können die Kinder nicht so lassen, wie sie sind. Wir müssen auch auf das achtgeben, was sie sein können“ (Lenz 1982, 146, Hervorhebung im Original). Sieht man beide Zitate als Widerspruch oder lässt sich ein zwar nicht formulierter, aber vorausgesetzter Gedanke herausarbeiten? In letzterem Fall etwa jener der in der Pädagogik oft formulierten Paradoxie zwischen einer Pädagogik, die gleichzeitig Wachsen-Lassen und Führen-Wollen sein muss (vgl. Litt 1927)?

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3  Systematische Aspekte

1  Biographische Daten und Darstellungen Walter Kempowski hat in vielerlei Zusammenhängen als Pädagoge gearbeitet, hierfür spezifisches Wissen erworben und sowohl Wissen wie eigene Tätigkeit reflektiert (vgl. für die folgenden Ausführungen die Darstellungen und Quellennachweise in Hempel 2007a). So war er als Chorleiter im Zuchthaus tätig (vgl. Kempowski 1959) und hat in Göttingen das Lehramt studiert, wozu das Fach Pädagogik gehörte. Er hat, nach dem üblichen Referendariat, von 1960 bis 1979 zuerst als Volks-, dann als Grundschullehrer gearbeitet (vgl. die ausführliche Dokumentation in Neumann 1980a) und ab 1961 seinen Part der Elternrolle für zwei Kinder ausgefüllt (vgl. Kempowski 1981g; und Kempowski 1987d). Kempowski war von 1980 bis 1991 als Lehrbeauftragter für Fragen der Literaturproduktion an der Universität Oldenburg tätig, ab 1981 Veranstalter von Literaturseminaren in seinem Haus in Nartum sowie Fibel- und Kinderbuchautor (vgl. z.  B. Knaus 1989; Ladenthin 1984; sowie Neumann 1980b). Pädagogische Äußerungen von Kempowski können also nicht nur auf theoretische Kenntnisse, sondern auch auf umfangreiche Erfahrungen in sehr unterschiedlichen pädagogischen Berufen zurückgreifen. Diese biographischen Daten haben jedoch auch dazu verleitet, Walter Kempowski mit den  – sprachlich altertümelnden und in der Amtssprache nicht gebräuchlichen – Begriffen „Schulmeister“ (Naegele 1980, 36) oder „Dorfschulmeister“ (Plog-Handke 1980, 110) zu belegen. Diese spöttelnde Begrifflichkeit färbt auch viele der Berichte ein, so als zieme sich ein pädagogischer Beruf – gar der des Lehrers auf dem Lande – nicht für moderne Schriftsteller. 2 Quellen 2.1  Pädagogische Schriften Pädagogisches Denken hat sich bei Walter Kempowski in zahlreichen explizit argumentativen oder sogar wissenschaftlichen Texten niedergeschlagen. Zuerst geschah dies in seiner Examensarbeit für die Erste Staatsprüfung für das Lehramt 1959 in Göttingen, die er mit Pädagogische Arbeit im Zuchthaus. Ein Erfahrungsbericht betitelte (vgl. Kempowski 1959). Hier entwickelt Kempowski einerseits pädagogische Kategorien, andererseits deutet er das Zuchthaus als Erziehungsinstitution analog zum Jugendgerichtsgesetz von 1923, nach dem in der deutschen Rechtsprechung der Grundsatz ‚Erziehung vor Strafe‘ gilt. Zudem klingt die Idee an, den Mikrokosmos Zuchthaus als Parabel für die Gesellschaft zu verstehen, so dass die Erziehung im Zuchthaus den Bildungsgang des Menschen in nuce spiegeln kann. Von den vielen pädagogischen Aufsätzen, bei denen es sich stets um Auftragsarbeiten handelte, sind diejenigen über die „Deutsche Schule“ (Kempowski 1980c, 33), über „Erfahrungen mit der Landschule“ (Kempowski o.  J. f, 10), aber auch über kleinere Themen wie ‚Verkehrskindergärten‘ (vgl. Knaus 1989, 54–56) hervorzuheben. In Interviews mit Walter Kempowski finden

3.8 Pädagogik299

sich ebenfalls zahlreiche Bemerkungen zu aktuellen pädagogischen Themen oder grundsätzlichen Fragen, so zum Beispiel zum Wandel der Lehrerrolle (vgl. Kempowski 1979c). Grundlegend ist ein langes Interview mit Siegfried Lenz (1982), in dem Walter Kempowski seine pädagogischen Ansichten im Gespräch entfaltet und diese in Beziehung zur Literatur setzt. Den oft launischen oder aktuellen Notaten in den veröffentlichten Tagebüchern sind ebenfalls pädagogische Reflexionen in zunächst erstaunlicher Uneinheitlichkeit zu entnehmen: „Wahrscheinlich ‚geht‘ Pädagogik überhaupt nicht“ (Kempowski 1990a, 524) oder „Ich bin eigentlich Pädagoge“ (Damiano 2005b, 175). All diesen Arbeiten eigen ist ihr anlassbezogener Charakter, die Form der Reaktion –„Sicher ist es so, obgleich…“ (Kempowski 1979c, 63) – sowie eine gewisse provokative Absicht –„Sie mögen sich mokieren, aber es ist nun einmal so…“ (Kempowski 1979c, 62)  – oder zumindest der Versuch, den Erwartungshorizont einer festgezurrten öffentlichen Meinung anzusprechen und aufzubrechen. Diese Äußerungen sind daher stets im Kontext ihres Entstehens, der gestellten Fragen und Anlässe, des Mediums und der Zeit und immer auch als Reaktion und sogar pädagogische Inszenierungen zu interpretieren. Die Besonderheit aller diskursiven Texte Kempowskis seit 1970 ist, dass keiner dieser Texte aus einer Darstellungsabsicht oder politisch-pädagogischen Intention heraus entstanden ist, sondern immer eine provozierte Reaktion ist. 2.2  Pädagogische Medien Walter Kempowski hatte sich schon zu Studienzeiten, besonders aber in seiner Lehrerzeit damit beschäftigt, selbst Unterrichtsmedien herzustellen: einfache Unterrichtsmaterialien sowie Lernspiele  – die erfolglos Verlagen angeboten wurden (vgl. Kempowski 1990a, 524) – und Texte für den Unterricht. Seit Ellen Keys Invektive gegen (überpädagogisierte) Kinder- und besonders Schulbücher gehörte die Erstellung solcher Materialien zum Kernbestand aller reformpädagogischen Konzepte. Neumanns (1980a) Beschreibung des Schulalltags dokumentiert solche Versuche Kempowskis, zeigt Tafelanschriebe, Arbeitskarten und sogenannte Mischhefte (vgl. Kempowski 1980c). Von besonderer Bedeutung sind Kempowskis Einfache Fibel (1980a) mit einem eigenen Übungsteil (1981d) und Herrn Böckelmanns schönste Tafelgeschichten (1983b). Diese Texte sind tatsächlich zuallererst als pädagogisch intendierte Arbeitsmittel angefertigt worden  – „In sechs Sätzen kommen bestimmt zwanzig Wörter mit pf vor“ (Kempowski 1979a, 9) – und können als solche bewertet werden. Ihrer literarischen Deutung ist eine solche diskursive Analyse nicht hinderlich  – im Gegenteil: Sie überwindet die in der Fachdidaktik gelegentlich postulierte Trennung von Sprachbetrachtung und Literaturanalyse von Kompetenzförderung und Inhaltsanalyse (vgl. die satirische Darstellung in Kempowski 1984a, 308–309). Dieser von der Sprache her betrachtet unsinnigen Trennung war seit den 1960er Jahren pädagogische Dysfunktionalität attestiert worden, was zu der Forderung führte, Sprachund Literaturunterricht, Form und Inhalt nunmehr zu integrieren. So sind die

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3  Systematische Aspekte

Arbeitsmaterialien Kempowskis, gerade weil sie sich konsequent dem Schriftspracherwerb, dem Lesenlernen und der Grammatik zuwenden (vgl. die Liste der zu lernenden Buchstaben am unteren Seitenrand der Einfachen Fibel), dies aber in sprachlich bedeutsamen Zusammenhängen durchführen, Belege dafür, wie die Identität von Form und Inhalt, Sprachunterricht und Literaturunterricht gewahrt bleiben kann. Sicherlich lernt derjenige besser (oder sogar nur) Sprache, der sich für den Inhalt des zu Lernenden interessiert; ohne Inhalte gäbe es keine Grammatik. Kempowskis pädagogische Materialien versuchen also das Kunststück, einerseits durch Inhalte in die ‚formale‘ Seite der Sprache (Orthographie, Grammatik, Wortkunde) und andererseits durch Formen in Inhalte einzuführen. Die Kinderbücher Walter Kempowskis stellen  – wie alle Kinderbücher  – eine theoretisch nicht leicht zu fassende Mischform von pädagogischen und literarischen Ansprüchen dar. Weder sind Kinderbücher auf sachliche oder moralische Belehrung zu reduzieren, noch kämen sie ohne pädagogische Reflexion aus. Weder können sie schon den kompetenten erwachsenen Leser voraussetzen, noch werden sie ohne literarische Bedeutsamkeit und ohne literarischen Anspruch sein. Ein möglicher Zugang zu dieser grundsätzlichen Problematik lässt sich in dem Versuch Walter Kempowskis finden, das Sprechen-, Lesen- und Schreibenlernen als Paradigma für Welterfassung überhaupt zu nehmen –„‚Ihr könnt doch schon alles!‘ / Ja, das ist wahr!/ Die Kinder können schon alle Buchstaben“ (Kempowski 1980a, 88) –, so dass die Literarizität auch der Kinderbücher Kempowskis in jenem Verfahren liegt, das Kempowskis literarische Texte insgesamt charakterisiert (vgl. Damiano 2005b): Von alltäglichen Spracherfahrungen ausgehend werden diese Spracherfahrung problematisiert. So beispielsweise im folgenden Zitat: „Falsche Sprache // Mutter sagt: ‚Oswald, tritt dir die / Füße ab!‘/ Oswald sagt: ‚Die Füße? Du meinst / wohl: Tritt dir die Schuhe ab!‘/ Renate sagt: ‚Dann gehen doch die / Schuhe kaputt‘“ (Kempowski 1976a, 118). Die Kinderbücher wären dann Objektivationen einer Pädagogik, die im Entdecken und Problematisieren von Sprachlichem ihren letzten Grund hätte. Zugleich wären sie aber auch Beispiele eines Literaturverständnisses, das das durchgängig falsche Bewusstsein jedweder Konvention als Ursache der epochalen Katastrophen in der Sprache aufspürt (vgl. Ladenthin 2010). Kempowskis Ziel war, als Lehrer die Kinder und als Schriftsteller die Leser „hinter die Dinge schauen zu lassen, plötzlich, durch irgendeine kleine nachdenkliche Wendung“ (Kempowski 1975a, 384). 2.3  Literarische Arbeiten In der Deutschen Chronik kommt es in allen Bänden zur Erwähnung von als pädagogisch zu bezeichnenden Kontexten (vgl. Hage 2009a, 66). Päda­ gogische Kontexte stehen in den Romanen Im Block, Ein Kapitel für sich, Herzlich willkommen und Heile Welt sowie ihren Korrespondenzromanen im Zentrum.

3.8 Pädagogik301

Obwohl es nahe liegt, auch die nicht-diskursiv intendierten Text Kempowskis als Ausgestaltung seiner Pädagogik zu lesen, als Kommentar zur Pädagogik oder als deren szenische Darstellung, muss die Gattungsintention berücksichtigt werden. Kempowskis Romane sind durchweg Rollenprosa, Zitat und indirekte Rede. Einzelanalysen müssten zumindest voraussetzen, dass es in den literarischen Texten nicht um die Darstellung von Meinungen, um die Konkretion von (pädagogischer) Theorie geht. Sondern die Theorie geht den Texten voraus oder es ist eine Theorie aus den Texten zu abstrahieren. Umgekehrt hat Walter Kempowski die Deutsche Chronik insgesamt als Analyse eines pädagogischen Versagens gedeutet, das darin begründet ist, dass die Gesellschaft „das Wesentliche, was sie eigentlich aus der Katastrophe lernen müßte, vergißt“ (Hage und Kempowski 1972, 346, Hervorhebung im Original). So ist grundsätzlich zu fragen, ob nicht „der Ansatz der Chronik […] ein pädagogischer“ (Kempowski zitiert nach Damiano 2005b, 179) ist. Bildung – als Leitbegriff der Pädagogik – würde dann als letzter, existenzieller Modus des Umgangs mit der eigenen Geschichte verstanden werden – wie umgekehrt der Anstoß zu dieser Reflexion in pädagogischer Motivlage gründet, die um die fundamentale und nicht zu unterlaufende Bedeutung des Lernens als einzige Möglichkeit der Selbstbesinnung weiß. 3. Die Pädagogik Walter Kempowskis 3.1  Struktur und Themen der Pädagogik Walter Kempowskis All den pädagogischen Äußerungen eigen ist  – wie bereits aufgezeigt  – ihr anlassbezogener Charakter; viele Positionen entstehen aus der Dynamik einer aktuellen lebensweltlichen Situation mit ihren konkreten Anlässen. Sie sind von einem besonderen Temperament in einer sich entwickelnden Interaktion geäußert worden und hätten in einer anderen Situation mit dem gleichen Anspruch auf Geltung anders geäußert werden können. Die Besonderheit der auslösenden Situation und der personalen Konstellation – etwa der jeweiligen Rolle Kempowskis als Student, Lehrer, Hochschuldozent, Landesbeamter oder freier Schriftsteller – muss also mit bedacht werden. So ist sein Bekenntnis zur ‚Kleinen Grundschule‘ (vgl. Kempowski o.  J. f) mitnichten als allgemeine Schultheorie aufzufassen, sondern als Kommentar zu einem konkreten Vorhaben der damaligen niedersächsischen Landesregierung. Schließlich reagieren drittens fast alle Texte Kempowskis auf Anlässe, seien es direkte Äußerungen, zu denen sie sich in Position setzten, seien es unterstellte Positionen einer imaginierten öffentlichen Meinung. Kempowski reagiert immer in Opposition zu einem von ihm vorausgesetzten ‚Zeitgeist‘: „Schule schwänzen – Antwort auf die Beton-Pädagogik“ (Kempowski 1986b, 3). Nicht nur im Literarischen, sondern auch im Theoretischen positioniert sich Walter Kempowski dabei durchgehend in der Haltung des Widersetzens. Seine Sätze sind Gegen-Sätze, Wider-Spruch – mit der interpretatorisch bedeutsamen Konsequenz, dass erst These und Antithese zusammengenommen der

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3  Systematische Aspekte

Grundhaltung Kempowskis näher kommen. Die eingangs zitierte Inschutznahme der Kinder ist so als Reaktion auf eine Lernziel- und Konditionierungspädagogik, wie sie z.  B. in den frühen 1960ern propagiert wurde, zu verstehen, während sich das Bekenntnis, dass man Kinder nicht so lassen könne, wie sie sind, sich gegen eine Auffassung der antiautoritären Erziehung Ende der 1960er Jahre wendet. So verstanden, formuliert Kempowski zwei Thesen gegen aktuelle, sich aber widersprechende Positionen, so dass seine Position durch den Versuch gefunden werden muss, den gemeinsamen Nenner dieser beiden – oberflächlich betrachtet – gegensätzlichen Thesen herauszuarbeiten. Unter Voraussetzung dieser drei Besonderheiten (keine Systematik; Anlassbezogenheit; durchgängige Antithetik zu unterstellten Positionen) kann folgende Struktur des pädagogischen Denkens hinter den Äußerungen beschrieben werden: Walter Kempowski verweist oft auf Autoren und Texte der pädagogischen Geschichte, zumeist aus dem Bereich der Reformpädagogik, wie Friedrich Fröbel, dessen Theorie der Kugel zum Leitmotiv in Heile Welt wird, Herman Lietz, Berthold Otto, Adolf Reichwein, Peter Petersen, Heinrich Heise usw. Aber auch hier ist zu fragen, ob die expliziten Referenzen nicht eher eine satirische Funktion haben, dergestalt, dass der angeblich ‚informierten Öffentlichkeit‘ allein durch die Namensnennung Unkenntnis und Vergessen schmerzlich vor Augen geführt werden soll: Er „las  […] all das, was von den jüngeren Lehrern heute wohl keiner mehr kennt“ (Kempowski o.  J. f, 16). Kempowski legt geradezu die Unvollkommenheit der jeweils gerade aktuellen und stets mit geschichtsvergessenem Absolutheitsanspruch auftretenden pädagogischen Moden offen, indem er auf bedeutsame, aber offensichtlich vergessene Pädagogen verweist. Kempowski erwähnt solche Autoren nicht, weil sie für ihn Bezugsautoren wären – so ist in seinem Lesebuch kein Text eines Pädagogen abgedruckt (vgl. Kempowski 1980d) –, sondern weil aktuelle Positionen ohne Kenntnis der historischen Erfahrungen formuliert werden. Selbst in der Grundfrage nach der Notwendig- und Begründbarkeit von Pädagogik zeigt sich diese Struktur: Diese ganze Pädagogik war ein einziger Reinfall. Die von einzelnen ausgedachten Theorien können immer nur einzelne betreffen. Und sie sind an den jeweiligen Pädagogen gebunden. […] Es gibt ein paar große Linien in der Pädagogik, die beherzigenswert sind, aber deswegen brauchte man doch nicht so ein Gedöns zu machen. Pädagogen brauchen gar nicht viel zu wissen, aber sie müssen Humor haben und Kinder lieben. (Kempowski 2008a, 245)

Anschließend folgt ein Zitat Herders, in dem er den „verständigen“ Umgang mit jungen Menschen als „einzige“ (Kempowski 2008a, 245) Methode propagiert. Diese Position scheint nun explizit zu sein und sich der Position einer Antipädagogik anzunähern  – aber sie beinhaltet immerhin das Bekenntnis zu einer zugleich anlassbezogenen wie prinzipiengesteuerten pädagogischen Reflexion. Zudem wird diese Reflexion eingeleitet mit der Beschreibung des augenblicklichen Gemütszustands: „Zerfahren, explosiv.“ (Kempowski

3.8 Pädagogik303

2008a, 245) Vorausgegangen war ein Tag, wie der Leser dieser Sätze anschließend erfährt, in dem es zu Konflikten mit Studenten gekommen war: „Da soll er erst mal Pestalozzi lesen“ – jedoch nicht als Vorbild, sondern als Beispiel für einen Autor, der sich „komisch ausdrückt“ (Kempowski 2008a, 245). Zugleich – und als erneute Gegenthese – sieht sich Kempowski wieder in der Rolle des rettenden und bewahrenden Widersachers: „Es gilt doch, aus den Theorien unserer Vorgänger das Brauchbare herauszulösen, zu ‚retten‘. Und da läßt sich vieles von diesen alten Herren, von deren Leben ich nichts Näheres weiß, en bloc übernehmen.“ Aber dann unmittelbar die erneute Wendung: „Zum Teil sehr wunderlich“ (Kempowski 2008a, 245). Zwar erhellen und erschließen die Rückgriffe auf die pädagogischen Referenzautoren manche vielleicht ansonsten kryptisch erscheinenden Positionen oder sogar Schreibverfahren. Nie aber lässt sich die Position Kempowskis schlüssig und bruchlos aus einem Bezugstext oder wenigen Bezugstexten ableiten: Kempowskis Pädagogik ist „nichts ganz, und nichts alleine“ (Hansel 2010, 201). Aber sie hat eine beschreibbare Struktur. Pädagogik ist weder (leblose) Geschichte, noch Weltanschauung, noch Technik  – diese allen Texten zugrunde liegende Negation lässt sich trotz der oberflächlichen Disparatheit der Äußerungen als Ausgangspunkt des pädagogischen Denkens Kempowskis bestimmen. Daraus lässt sich als Position erschließen, dass Pädagogik für Walter Kempowski erstens ein System von Prinzipien (‚großen Linien‘) ist und zweitens eine Haltung, die sich im Umgang konstituiert und sich nur handelnd bewährt. Grundidee ist das autonome Subjekt, das sich aus sich selbst schafft, dies aber nicht ohne die Hilfe eines anderen vollziehen kann. Dieses Grundparadox ist das Fundament des gesamten pädagogischen Denkens von Walter Kempowski. Es führt dazu, populäre, aber einseitige Auflösungen dieses Paradoxons durch inszenierte Gegenthesen zu entkräften. Dieses Paradox bestimmt aus Kempowskis Sicht auch den Habitus des Pädagogen, der aber nicht zwingend Lehrer sein muss (vgl. Damiano 2005b, 175). Die inzwischen zahlreichen Studien zur Analyse seines Lehrerbildes (vgl. Hentig 1981; Monn 2012; sowie Winkler 2002) zeigen, dass für Kempowski der personale und pädagogische Bezug konstitutiv ist, der durch institutionstheoretische oder verfahrenstheoretische Rollenzuschreibungen gar nicht erfasst werden kann (vgl. Osterloh 1989). Pädagogik ist für Kempowski demnach kein Verfahrenswissen im Zuge jenes Professionsverständnisses, das behauptet, jedes beliebige Wissen könne von jeder richtig instruierten Person jedem beliebigen Kind neutral und messbar ‚vermittelt‘ werden (satirische Darstellung in Kempowski 1984a, 285) und Wissenschaft habe die Aufgabe, dieses Verfahrenswissen zu erforschen und zu optimieren. Keineswegs leugnet Kempowski die erlernbare Könnerschaft und das handwerkliche Wissen von Pädagogen (vgl. z.  B. Kempowski o.  J. f, 14), aber beides ist gebunden an ein Grundverhältnis zwischen Erwachsenem und Kind: „Wenn der Lehrer seine Kinder nicht mehr lieben kann, aus innerer Not oder aus Zwängen der Bürokratie, dann ist alles verloren, nicht nur, was die

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3  Systematische Aspekte

Bildung angeht, sondern auch, was unsere Zukunft betrifft“ (Kempowski 1979 c, 2). Bildung wird hier als Grundverhältnis des Menschen zur Welt (Totalität: „alles“) verstanden, dessen Gefährdung daher die gesamte Entwicklung der Geschichte betrifft. Das erzieherische Grundverhältnis ist ‚verstehend‘ in dem Sinne, dass es prinzipiell von der Integrität und der Autonomie der anderen Persönlichkeit ausgeht, die voraussetzungslos zu akzeptieren und dann zu verstehen ist. Erst danach kann pädagogische Intervention beginnen  – freilich nach den Eigenheiten des Anderen, nicht nach den vorab festgelegten Regeln des Pädagogen: „Dann erstmal erforschen, was sie schon wissen, davon ausgehen […]. Und dann allmählich ‚Gas geben‘“(Kempowski 1975a, 384). Zwischen Erzieher und Zögling entsteht so eine spezifisch pädagogische Beziehung, der so genannte und von dem in Göttingen lehrenden Hermann Nohl dann theoretisch entfaltete ‚Pädagogische Bezug‘ (vgl. Nohl 2002, 169). Diese besondere Beziehung ist durch die Gleichwertigkeit von Erzieher und Zögling, die „naturgegeben[e] Überlegenheit“ (Kempowski 1979c 62) des Erziehers über den Zögling sowie durch ein fürsorglich-unterstützendes Verhältnis, das sich selbst überflüssig zu machen sucht, bestimmt. Das pädagogische Verhältnis ist also nicht von einer bereits vorliegenden Gestaltungsvorschrift – etwa aus der Psychologie oder anderen Instruktionsoder Verfahrenswissenschaften – regulierbar, sondern geht je aktuell von der faktischen Andersartigkeit des Anderen aus, die zu verstehen sei. Aus diesem Verständnis des Anderen heraus entwickelt dann der Lehrende seine nur auf diese Persönlichkeit und nur in dieser Situation passende Vorgehensweise: „Und ohne daß die Kinder es merkten, fing er diese Erzählung auf und drehte sie zur Sachkunde um“, er „[g]riff also irgendeins, die Kinder bewegendes Thema auf und machte was draus“ (Kempowski o.  J. f, 14). Soweit es Beschreibungen gibt (vgl. Neumann 1980a), soweit Kempowski es selbst berichtet (vgl. (Kempowski o.  J. f) und soweit seine Kinderbücher als pädagogische Installationen zu deuten sind, hat Kempowski hier die Theorie des Fruchtbaren Moments im Bildungsprozeß von Friedrich Copei appliziert (vgl. Copei 1960). Walter Kempowski kannte diesen zuerst 1930 erschienenen Klassiker der Volksschullehrerausbildung seit 1957 und betonte auch später immer wieder seine Aktualität (vgl. Kempowski 1990a, 288). Friedrich Copei war von einer Grunderfahrung ausgegangen, dass für ein bildendes Lernen der Lernende als leiblich-sinnlich-geistige Person angesprochen werden müsse. Lernen komme nur dann aus eigenem Willen, wenn man den Lernenden mit seiner Lebenswelt so konfrontiert, dass sie frag-würdig wird. Anlässlich einer Dissonanz beginnen die Lernenden – ihrem bisherigen Weltverständnis nach –, nach der Ursache der Auffälligkeit zu fragen und nach Erklärungen zu suchen – und durchbrechen es so. Dieses kurze Stutzen, diese Störung von Erwartungen und Gewohnheiten sei der ‚fruchtbare Moment‘, der das (schöpferische) Lernen auslöse. Lernen ist dann kein mühsames Repetieren, sondern ein Akt der willentlichen Erkundung, die von einer Dissonanz ausgelöst wurde. Zu fragen ist, ob nicht Walter Kempowskis Gesamtwerk bis hin zum Echolot nach der Methode des fruchtbaren Augenblicks funktioniert. Manfred

3.8 Pädagogik305

Dierks hat dieses Verfahren als einer der ersten Interpreten schon 1984 herausgearbeitet und vom „Blöckchen-Prinzip“ gesprochen, das die „assoziative Mitarbeit des Lesers“ (Dierks 1984, 38) erfordere. Dies entspricht dem, was Kempowski die „konstruktive Phantasie“ (Lenz 1982, 137) nennt. Literatur als fruchtbarer Augenblick, als ‚Fraglich-werden‘, als Augenblick des Stutzens, Staunens und Erkennens. Carla Damiano konnte mit zahlreichen Textstellen und Selbstaussagen Kempowskis belegen, dass die Collage-Technik dieser Theorie entspricht und somit „der ‚einheitliche Begriff‘ ist, der seine Tätigkeit als Lehrer und als Schriftsteller durchdringt“ (Damiano 2005b, 184–185). Pädagogische Methodik ist also für Kempowski kein Arsenal von Techniken, sondern die aus der Haltung des Lehrenden hervorgebrachte Kunst, zu entdecken, wie der Lernende für die Welt und die Welt für den Lernenden zu erschließen sind. Insofern kann es auch keinen vorgefertigten Lehrplan geben  – wohl aber einen kulturellen Hintergrund, der von den Schülern ereignisbezogen erschlossen wird. Ein solches Verhältnis bedarf besonderer Medien, die so gestaltet sind, dass sie dem paradoxen Grundverhältnis einer Aufforderung zur Selbsttätigkeit nicht widersprechen. Die Medien transportieren in diesem pädagogischen Verständnis mithin nicht vorgefertigte Inhalte. Es sind vielmehr durchgehend Arbeitsmedien, die im Lernprozess erstellt werden: Die Tafelgeschichten, deren Genese durch die beiden Bücher über den Lehrer Böckelmann (vgl. Kempowski 1983 a, b u.c) sowie durch Neumanns Schulbericht nachzuvollziehen ist, sind ein Beispiel hierfür. Sie thematisieren Inhalte in einer Form, dass sie in der Aneignung problematisiert bzw. in der Problematisierung neu und selbständig gedacht werden. Selbst pädagogische Sachverhalte können so für Kinder zu Lernanlässen werden: „Es heißt, daß man in die Schule gehen muß, um was zu lernen. Das stimmt sicher, aber manchmal sitzen wir in der Schule auch nur so herum“ (Kempowski 1983b, 100). Die Paradoxie einer Institution, die durch die Verwaltung des Lernens eben dieses Lernen verhindert, wird hier in kindlicher Sprache formuliert. Ebenso wird das Lesen am Ende als etwas gewertet, das zum Verhindern des Lesens beiträgt: „Aber wir haben lesen gelernt, und das ist gut, denn sonst nützt uns die Fernsehzeitung nichts.“ (Kempowski 1983b, 100) Sämtliche Geschichten in den Kinderbüchern sind nach eben diesem Verfahren aufgebaut. Grundlegend ist schließlich Kempowskis kritische, fast schon skeptische Haltung gegenüber allen institutionalisierten Formen von Bildung: „Es ist die Institution Schule, die Institutionalisierung von Pädagogik, die den größten Schaden anrichtet“ (Kempowski 1979c, 61). Im Hintergrund stehen hier die seit Ellen Key formulierte reformpädagogische Schulkritik und speziell die Idee der ‚entscholastisierten Schule‘ von Kempowskis akademischem Lehrer Heinrich Heise (1960; vgl. auch Hempel 2007a, 97), Schule kann zwar geplant, Bildung aber nicht verordnet werden. Die genannten Merkmale – die Paradoxie des ‚Führen und Wachsenlassens‘, das personale Verständnis des Lehrers im ‚pädagogischen Bezug‘, die Methodik des ‚fruchtbaren Moments‘ sowie die zum entdeckenden Lernen auffordernden Medien und die Institutionskritik – charakterisieren die Grundstruktur der Pädagogik Kempowskis.

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3  Systematische Aspekte

3.2  Die Pädagogik im Verhältnis zur Ästhetik Sobald ein Autor einem bürgerlichen Beruf zuzuordnen ist, wird diese Zuordnung zu einer Stereotype, die gelegentlich den Zugang zum Werk herstellt, aber ebenso oft auch verstellt. Neben dem Stereotyp des Sammlers und Archivars ist es bei Kempowski das Stereotyp des ‚Schulmeisters‘, die sein öffentliches Image und seine Rezeption bestimmt haben. Sicherlich hat Walter Kempowski mit diesem Stereotyp kokettiert  – so heißt es im Werbetext zu Kempowskis Einfacher Fibel, er sei „im zweiten Hauptberuf Landlehrer“ (Neumann 1980a,134) – oder bewusst provoziert: „Für mich ist es im Grunde dasselbe, ob ich jetzt Bücher schreibe, also Erwachsenen was erzähle, oder ob ich Kindern ein Märchen erzähle oder ihnen eine Sache klarmache, sagen wir die Wasserpumpe“ (Kempowski 1979c, 61). Carla Damiano konnte an zahlreichen literarischen Texten diese Haltung nachweisen, so dass sie zu dem Schluss kommt: „Kempowski, der Schriftsteller, ist sich als Landschullehrer treu geblieben“ (Damiano 2005b, 171). 3.3  Walter Kempowskis Pädagogik im literarischen Werk Nahezu alle literarischen Texte Kempowskis thematisieren pädagogische Szenen, Situationen, Probleme, Personen oder Institutionen. Allerdings sind diese Darstellungen weder als Konkretion einer vorgängigen Theorie aufzufassen oder an einer solchen ‚richtigen‘ Theorie zu messen, noch wäre aus der Darstellung Kempowskis Pädagogik zu abstrahieren. Vielmehr legt es die Komposition der Deutschen Chronik nahe, die pädagogischen Institutionen in ihrer funktionalen Bedeutung gleichgewichtig neben Auschwitz und die Person Hitlers zu stellen – als Macht, die die Identität der Deutschen im 20. Jahrhundert verordnet und verwaltet hat. Die Thematisierung des Pädagogischen in den Romanen wäre dann als Beispiel zu lesen für das grundsätzliche Verhältnis und für den epochalen Bezug der Deutschen zu sich selbst. Auch oder gerade am Pädagogischen ließe sich aufzeigen, was sich an jedem Beispiel eines katastrophalen Jahrhunderts in Deutschland zeigen lassen müsste: die Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Kempowski schreibt dabei der Lernunfähigkeit die Hauptursache am katastrophalen Geschichtsverlauf, der durch ‚Mark und Bein‘ gehenden ‚uferlosen‘ Grausamkeit (vgl. Kempowski 1992a, 74; sowie Ladenthin 1992) zu – also einem pädagogischen Versagen. Durch eine „Ausstellung als Kunstwerk“, die Dialogisierung des „Entlegenen“, durch eine „Collage“ könne man human, aufklärend und pädagogisch tätig werden: „Damit sich Unrecht und Grausamkeit nie wiederholt in dieser Welt“ (Kempowski 1992a, 85). Der Montage/Collage des gesamten literarischen Werks wird hier insgesamt eine pädagogische Letztabsicht zugeordnet – bis hin zum hier indirekt thematisierten Echolot-Projekt. Der erste Roman Im Block ist daher nicht nur im Hinblick auf die pädagogischen Szenen und Gespräche sowie die inkriminierte Zuchthauspädagogik zu lesen, sondern als Beginn einer Beschreibung und Analyse des Bildungsgangs

3.8 Pädagogik307

schlechthin. Im Block –und später dann Ein Kapitel für sich  – variiert das Muster des Bildungsromans. Sein situatives Arrangement ermöglicht es dem Autor, einen paradigmatisch oder sogar anthropologisch gemeinten Bildungsgang darzustellen, der buchstäblich von nichts anderem als der nackten Existenz in der „Urzelle“ (Kempowski 1975a, 385) ausgeht: „Nix sprechen, […] nix Fensterkucken.“ / „Die Zelle war völlig leer.“ (Kempowski 1972, 8–9) „Ich mußte mich ausziehen […]. Ich stand […] allein“ (Kempowski 1975a, 14). In einzelnen Schritten kann nun aufgezeigt werden, wie die einsame Existenz langsam in Weltvollzug, Weltverständnis und Weltreflexion hineingerät oder hineingeführt wird: Was ist angesichts dieser radikalen Isolation bei gleichzeitiger Zwangseingliederung in ein Kollektiv wirklich wichtig? Die beiden ‚Zuchthaus-Romane‘ versuchen, auf diese bildungstheoretische Frage anlässlich der in ihr gestalteten Extremsituation eine Antwort zu geben – es sind insofern nicht nur Bildungs-, sondern auch Bildungsgangromane. Die Bildungsgeschichte beginnt mit der elementaren Sicherung des Lebens und der Entdeckung des Ichs, der Sprache und der Schrift als den für die Bildung grundlegenden Kategorien: Er schabte „Schlemmkreide von der Wand, machte einen Brei davon und schmierte den auf den Schüsselboden. ‚Hier, kuckt mal! Darauf kann man schreiben!‘“ (Kempowski 1975a, 37) „Ich verbrachte ganze Tage damit, ‚Kempowski‘ zu schreiben.“ (Kempowski 1975a, 54) Der Bildungsprozess endet mit der Imagination des Letzten, dem „mystischen Dunkel“ (Kempowski 1975a, 385). Er schließt in einem kleinen, in sich geschlossenen Abschnitt, der den erzwungenen Bildungsgang, den der Häftling Kempowski durchlaufen und reflektiert hat, nun noch einmal in einen humanen Bildungsgang umdenkt, jenen, den Kempowski als „Lehrer auf dem Lande“ (Kempowski 1975a, 384–385) nunmehr gestalten soll. Dieses zugleich hoffnungsfrohe und in seinem Scheitern allerdings schon jetzt erkennbare Projekt im Schlussbild des Romans, aus Erfahrungen zu lernen und das in der Inhumanität Erworbene nun human und geschichtlich zu gestalten, wird im Anschlussroman explizit seines illusionären Charakters überführt. Verbalisierte Ein Kapitel für sich zugleich Hoffnung wie Scheitern, die Utopie der Bildung in der Negation ihrer institutionalisierten Gestaltung, so schildert Herzlich willkommen, wie der Institutionalisierung von Bildungsprozessen ihr Scheitern eingeboren ist: „Es ist die Institution Schule, die Institutionalisierung von Pädagogik, die den größten Schaden anrichtet“ (Kempowski 1979c, 65). Das Buch enthält zudem Passagen über Heimpädagogik und hilflose Helfer in dieser besonderen Form der Pädagogik, und es entfaltet eine Satire der universitären Ausbildung. Statt der theoretischen Reflexion herrscht dort Schweigen: „Was Didaktik anging – die verstehe sich ja von selbst“ (Kempowski 1984a, 308). Der Roman bewegt sich im Innersten falscher Theoriebildung und zeigt die falsche Artikulation der falschen Theorien, wie die Aufzählung modischer Schlagwörter demonstriert: die ideologisch begründete Selbsttäuschung („Das […] Chaos […] stimmte dann allerdings selbst den Professor ratlos“ [Kempowski 1975a, 309]), die Arroganz der Selbstvergessenheit

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3  Systematische Aspekte

der akademisch Lehrenden („Rattenfänger“ [Kempowski 1975a, 140]), die falsche Art der Lehre („Vergällung“ [Kempowski 1975a, 308]) und die falsche Ausbildung derjenigen, die für die Weitergabe in Zukunft verantwortlich sein werden. All dies wird immer wieder in einer grundsätzlich falschen, weil ihrer selbst gar nicht bewussten Sprache artikuliert (vgl. Kempowski 1975a, 284– 285). Hoffnung mag hier allein in der Renitenz der Objekte dieses falschen pädagogischen Bemühens gründen: „Ich ließ das alles von mir abprallen“ (Kempowski 1975a, 308). Dies weist Kempowski in dem Befragungsband Immer so durchgemogelt dann umfassend nach: Verweigerung und Mogelei werden zu hilflosen Fluchtpunkten vor einer epochalen ‚Beton-Pädagogik‘ (vgl. Kempowski 1986b). Die Spieglung dieser Ansätze gelingt dann in Letzte Grüße, dem schon vom Titel her Antwortroman auf Herzlich willkommen. Hier ist es die zur Ideologie (vgl. Kempowski 2003, 205) oder ‚Geschaftlhuberei‘ verkommene akademische Lehre  – Kempowski spricht etwa von einem „Sklavenmarkt“ (Kempowski 2003, 229) –, die ihren Auftrag gar nicht wahrnehmen kann, das „Bewußtsein von deutscher Kultur“ weiterzugeben: „Für jeden etwas enthielten“ die Bücher des Protagonisten, sagt ein Vertreter der „wissenschaftlichen Crème“ (Kempowski 2003, 188) in seinem Einführungsvortrag. Der Erzähler resümiert daraufhin: „Auch dieser Mann hatte offenbar den Verlagsprospekt zu Rate gezogen“ (Kempowski 2003, 195). Hier ist die Rede von postmoderner Beliebigkeit und Ökonomisierung der Forschung. Die nächste formale Stufe der Ausbildung beinhaltet der Roman Heile Welt aus der ‚Zweiten Chronik‘: Er schildert die Erlebnisse des Lehramtsanwärters Matthias Jänicke und damit die zweite, stets als entscheidend bewertete Ausbildungsphase des Lehrerberufs. Doch die Probleme der sprachlichen Selbsttäuschung perpetuieren sich nicht nur dadurch, dass immer noch Pädagogen, die in NS-Institutionen sozialisiert worden waren, ihre völkische Ideologie praktizierten: Ein hagerer Lehrer hielt einen Vortrag, den „er noch aus seiner Seminarzeit im Schubfach liegen hatte“ (Kempowski 1998, 230). Nach der Selbsttäuschung wird die Vortäuschung, die pädagogische, sprachlich aufgerüstete Schaumschlägerei (vgl. Kempowski 1998, 233; sowie zur Präsentation einer Musterstunde, die nur aus Täuschung besteht, Monn 2012, 9–11), zum entscheidenden Merkmal einer sich selbst desavouierenden Pädagogik: „Ja, in der Schulreform und den vielen Experimenten, da kommt ja keiner mehr zur Ruhe. Schule ist heute oft schlimmer als bei Kaiser Wilhelm“ (Kempowski 1979c, 63  f). Einen Schulmeister der wilhelminischen Zeit schildert das Kapitel „Ein Lehrer“ in dem Roman Alles umsonst. Dieser Lehrer stammt aus der sprachlosen Zeit, in der Sprechen mit Gewalt zum Verstummen gebracht wurde: „Der Schulmeister sah seine Frau an: Wie er das aushalten soll, wenn hier so viel gequatscht wird am Tisch! Ob ihm das mal einer sagen [!] kann? Jugend hat das Maul zu halten, so war es doch von alters her. Wenn er als Kind den Mund aufgemacht hätte bei Tisch, hätte er vom Vater gleich eine an’n Ballon gekriegt“ (Kempowski 2006a, 247).

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Pädagogisch bedeutsam sind die Schulkapitel aus den Romanen, die immer neue Fehlformen pädagogischen Handelns sowie das Auseinanderklaffen von Anspruch und Durchführung aufarbeiten. Stets sind es Sprachohnmacht und Lernunfähigkeit – was das gleiche ist –, die die Katastrophen herbeiführen. Für die ‚große‘ wilhelminische Zeit mit ihrem Untertanengeist ist dies geronnen in dem Satz: „Murmelnd und leiernd wird repetiert“ (Kempowski 1978a, 75) – und zwar beim „Sprachexerzieren“ (Kempowski 1978a, 78). Es ging auch hier, wie in der Weimarer Republik, darum, „in den kindlichen Gehirnen ein für allemal Ordnung anzurichten“ (Kempowski 1981a, 151)  – eine zutreffende Fehlleistung im Verb des Satzes über das, was Pädagogik anrichten kann (vgl. ausführlich Monn 2012). Nicht nur Karl Kraus fiel zu Hitler „nichts mehr ein“; den Lehrern geht es ähnlich: „Lausejungen seien das, […] da finde ich ja keine Worte!‘“ (Kempowski 1971a, 124) Danach wird es nicht besser: „‚Tja, meine Herren, man muß auf seiner Sprache spielen wie auf einem Instrument.‘ […] Sie gehe in ihrem Beruf auf und unter, hieß es“ (Kempowski 1981a, 202–203). Nicht nur die falsche Präposition, ein funktionales Sprachverständnis und ein unfreiwillig wahrer Kalauer – hier wird der ‚Untergang‘ der Nachkriegspädagogik in der späteren DDR in seinen Gründen erkundet: „Wir könnten hier inzwischen unser demokratisches Bewußtsein festigen…“ (Kempowski 1981a, 201). In den pädagogischen Kontext gehören auch die Kinderszenen aus Weltschmerz, besonders der Eintrag „Schule“ (Kempowski 1995, 65–66). Unter Kempowskis grundlegendem Postulat, die ‚deutsche Katastrophe‘ deshalb als Bildungskatastrophe zu verstehen, weil man vergessen habe, was man „eigentlich aus der Katastrophe lernen müßte“ (Hage und Kempowski 1972, 346), gerät auch das Echolot-Projekt in den bereits in Mark und Bein angekündigten pädagogischen Blickwinkel: „Ich möchte blos wissen, was wir verbrochen haben, das wir dieses ganze Elend so grausam durchkosten müssen“ (Kempowski 1993a, Bd.  1, 668). Diesen Bildungswunsch äußert ein Soldat namens Hermann am 15. Januar 1943 vor Stalingrad. Mit dem Echolot gibt der Pädagoge Kempowski eine Antwort auf diese Frage – freilich eine literarische, den Erkenntnisvorgang reflektierende Antwort, die der Leser zudem selbst formulieren muss. Wäre es anders, unterläge er jenem Autoritätsgefüge, das Teil der Katastrophe ist. Der Pädagoge antwortet auf eine historische Frage im Medium der Literatur, weil an den letzten Grund des uferlosen ‚Elends‘ nicht anders als im Rückgriff auf das Letzte, die Sprache nämlich, zu gelangen ist. Die besondere Bedeutung der Sprache in diesem Verhängnis hat Helmut Arntzen (1998) in seiner exemplarischen Analyse aufgezeigt. Dem Bildungsmedium Fernsehen ist die Arbeit Bloomsday ’97 gewidmet. Es scheint, als habe Kempowski aus der Erfahrung seiner feuilletonistischen Fernsehkritik – von Juli 1985 bis September 1985 schrieb er Artikel für Die Zeit – die Konsequenz gezogen, dass man das Fernsehen nur noch durch sich selbst widerlegen, dass man das Medium nur durchs Selbstzitat destruieren kann. So wie es Karl Kraus mit dem Medium Zeitung begonnen hatte:

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3  Systematische Aspekte

Das Fernsehen hebe sich auf, indem es sende, es bildet nicht, es bildet nicht mal ab. Angesichts dieser wenigen, aber exemplarischen Hinweise mag deutlich werden, dass das Pädagogische in den Romanen Kempowskis nicht eines unter vielen Themen ist, sondern als ein fundamentales Thema verstanden werden muss. Die Texte arbeiten den epochalen Anspruch durch, den die Pädagogik im ‚Jahrhundert des Kindes‘ (Ellen Key) erhoben hat, von den Theorien angefangen und ausdifferenziert (reflektiert in den Professoren in Herzlich willkommen) bis in die alltägliche Unterrichtspraxis (reflektiert in den Erinnerungen in Immer so durchgemogelt). Sie zeigen Macht und Ohnmacht jenes anthropologischen und sozialen Konzepts, von dem man sich Emanzipation und Gerechtigkeit versprochen hatte. Dieses Konzept wird erfahrbar als jenes, das genau das zu verhindern hilft, wozu man es benötigte. Diese Auffassung nicht zu behaupten, sondern im Detail aufzuzeigen, in die einzelne Sprachbewegung aufzulösen, ist eine Aufgabe, die Walter Kempowski der Literatur zuschreibt: Diese Aufgabe kann auch nur von der Literatur gelöst werden, weil sie erstens nicht Teil und Modus dessen ist, was sie kritisiert, und weil sie sich zweitens auf nichts einlässt als auf das, was gesprochen und geschrieben wird. Sie wird zur vorbegrifflichen Prüfung aller Begriffe, auch und gerade des Begriffs der Pädagogik. 4  Darstellungen und Würdigungen Nach einer ersten Phase von gönnerhaften oder mit „Hohn“ (Kempowski 2003, 205) verfassten journalistischen Würdigungen des Pädagogen Kempowski setzte 1980 mit dem Buch Kempowski der Schulmeister von Michael Neumann die erste umfassende und ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Pädagogen Kempowski und seiner Pädagogik ein. Das reich bebilderte Buch schildert den aktiven Pädagogen Kempowski, beschreibt und interpretiert Arbeitsweisen, Abläufe und Einstellungen. 1984 gibt Manfred Dierks in einem eigenen Kapitel seiner Gesamtdarstellung eine erste und zugleich kenntnisreiche wie verständnisvolle und impulsgebende Analyse der Pädagogik Kempowskis. Ausgehend von der „Kontrastwirkung“ (Dierks 1984, 44), die Kempowski mit seinen Statements zu erreichen suche, stellt er die wesentlichen disziplingeschichtlichen Bezüge und Positionen dar: Kempowskis Ausbildung im „Horizont“ (Dierks 1984, 47) der Göttinger Reformpädagogik mit den Akzenten Arbeitsschule, Charaktererziehung, Einheitsschule, natürlicher (Gesamt-)Unterricht, Copeis Theorie des fruchtbaren Moments, die Ablehnung formaler Autoritäten (vgl. Dierks 1984, 46) und „kalter Technologie“ (Dierks 1984, 44). Er wertet die Kinderbücher als Texte „aus der pädagogischen Praxis“ und sieht den Zusammenhang der Literatur- und Pädagogikbegriffe in „Kempowskis Verhältnis zur Sprache“ und in der Art der „Darstellung von ‚Wirklichkeit‘“ (Dierks 1984, 45). Im Detail arbeitet Dierks das Darstellungsverfahren Kempowskis heraus und fasst zusammen: „Der […] Aneignungsvorgang besteht aus der selbstän-

3.8 Pädagogik311

digen Erarbeitung von Form und Inhalt des ohne Kommentar präsentierten Wirklichkeitspartikels.“ Dieses Verfahren habe Kempowski dann auf „seine literarische Arbeit übertragen“ (Dierks 1984, 49). Schon erste Bibliographien widmen sich den Analysen des ‚Pädagogen‘ Walter Kempowski (vgl. beispielsweise Knaus 1989, 74–75). Helmut Arntzen hat 1998 die Arbeiten Kempowskis als Darstellung des sprachlich verfehlten Lernprozesses betrachtet und dabei die Spezifika von Literatur und Pädagogik, aber auch ihre Vermittlungsmöglichkeiten reflektiert. Kempowski beschreibe im Sprachversagen der Gesellschaft den Prozess „negativer Bildung“ (Arntzen 1998, 81–96), die für die Jahrhundertkatastrophe ursächlich sei. Eine Untersuchung, die nicht nur die Inhalte der Texte, sondern auch ihre sprachlichen Verfahren bis ins Detail analysiert und sich zudem auf zahlreiche, bisher unpublizierte Gespräche mit Walter Kempowski berufen kann, hat Carla Damiano (2005b) vorgelegt. In ihrer Studie erhellt sie Motivlage, Ziele und Verfahren, erläutert literaturwissenschaftlich hochreflektiert das Pädagogische aus der Perspektive des Literarischen und umgekehrt das Literarische aus pädagogischer Perspektive. Dass Kempowski Chorleiter in Bautzen war, bezeichnet Gerhard Henschel als „erste Bewährungsprobe seines pädagogischen Talents“ (Henschel 2009, 130), das Kempowski in der Folgezeit auf einen reformpädagogischen Kurs bringt, um in Anlehnung an Copei und Kerschensteiners Arbeitsschule die Selbsttätigkeit der Schüler in den Fokus zu stellen, die Kinder als „Erzähler ihrer Lebenswelt“ (Henschel 2009, 143) in den Unterricht hineinzuholen und ihrer Aufnahmefähigkeit Rechnung zu tragen. Das gelte auch für die literarischen Werke Kempowskis. Diese hätten „bislang noch jeden Wechsel der Bücherherbstmoden gut überstanden“  – und zwar auf Grund der „Fähigkeit ihres Verfassers, in die Leserschaft hineinzuhorchen wie in eine unruhige Grundschulklasse“ (Henschel 2009, 152). In seinen 2010 veröffentlichten Reflexionen stellt der Rostocker Erziehungswissenschaftler Toni Hansel die Frage, inwiefern Walter Kempowski ein Pädagoge sei. Nach biographischen Erläuterungen (vgl. Hansel 2010, 189– 191, 194–195) sieht er Kempowskis Konzept im „Geist der Reformpädagogik“ (Hansel 2010, 192) verfasst, stellt die Bezüge zur Bildungsphilosophie des 20. Jahrhunderts her und arbeitet einzelne inhaltliche Motive heraus, wie Kempowskis Verteidigung der kleinen Landschule, das Projekt einer Entschulung von Schule, die didaktischen Konzepte des Gesamtunterrichts, der Ganzheitsmethode und grundsätzlich seine Haltung gegen den euphemistischen „common sense“ (Hansel 2010, 200). Xavier Monn bindet in einer umfassenden Analyse – ihm liegen die Tagebücher vor, die früheren Autoren nicht bekannt waren – drei Lehrerbilder an die Biographie Kempowskis und leitet so eine neue Sichtung und Bewertung ein. Auch er weist darauf hin, wie zentral das Thema Pädagogik im Selbstverständnis des Autors war. Kai Sina versucht mit dem Kapitel über die Pädagogik (vgl. Sina 2012, 91–98) in seiner Gesamtwürdigung der ‚Kunstreligion‘ Kempowskis den Nach-

312

3  Systematische Aspekte

weis, dass die Pädagogik Kempowskis „als ein gegenmodernes Programm [zu] verstehen“ (Sina 2012, 95) sei: Sie sei geprägt von Ganzheitsvorstellungen, von der Idee „identitärer Einheiten“ (Sina 2012, 93), einer „romantischen Idealisierung“ von Kindheit und einer „idealistischen Vorstellung vom Kind“ (Sina 2012, 92). Die zahlreichen Hinweise auf den Begriff des ‚pädagogischen Eros‘, wie Kempowski ihn sowohl in dem Roman Hundstage als auch in Unser Herr Böckelmann thematisiert hat, spricht Sina an, verzichtet dann aber in seiner Publikation doch auf eine nähere Untersuchung „dieses […] prekären Aspekts“ (Sina 2012, 98). Eine künftige und wichtige Forschungsperspektive könnte die Beantwortung der Frage sein, ob und inwiefern es Walter Kempowski gelungen ist, die ‚Sprachverwirrung‘ und die durch sie ausgelöste ‚Bildungskatastrophe‘ als Ursache der uferlosen Grausamkeiten im 20. Jahrhundert bloßzulegen.

3.9 Popliteratur Andreas Pfeifer 1  Der „Vater der Popliteraten“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2  Das Genre Popliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3  Oberfläche und Archiv – Merkmale der ‚Neuen Deutschen Pop literatur‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4  Walter Kempowski als Oberflächensammler und Archivist . . . . 5 Kempowskis Tadellöser & Wolff und die Popliteratur – Rezeptionslinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

312 313 314 316 319

1  Der „Vater der Popliteraten“? Im Frühjahr 2004 hatten die deutschsprachigen Feuilletonredaktionen innerhalb weniger Wochen gleich zwei wichtige Schriftstellerjubiläen zu bewältigen: Mitte März feierte Christa Wolf ihren 75. Geburtstag, Ende April erreichte ihr Kollege Walter Kempowski schließlich ebenfalls dieses Alter. Sowohl Wolf als auch Kempowski erfuhren aus diesem Anlass ausführliche Würdigungen. Unter den Texten, die sich speziell mit Kempowskis Leben und Werk auseinandersetzten, war auch ein Beitrag des Journalisten und Literaturkritikers Volker Hage, der im Nachrichtenmagazin Der Spiegel veröffentlicht wurde (vgl. Hage 2004a). In das Zentrum seiner Ausführungen stellte Hage die Beobachtung, dass das Kempowski’sche Werk derzeit von vielen jüngeren Schriftstellerinnen und Schriftstellern wiederentdeckt und gefeiert werde. Somit könne von einer Art ‚Kempowski-Renaissance‘ die Rede sein. Diese Diagnose veranlasste Hage schlussendlich, Kempowski den Titel „Vater der Popliteraten“ (Hage 2004a, 190) zu verleihen. Mögliche Verbindungen zwischen Walter Kempowski und dem Genre Popliteratur sind bislang noch nicht eingehender untersucht worden (vgl. Pfeifer

3.9 Popliteratur313

2011). Die Relevanz des Themas deutet sich indessen immer wieder an, etwa im Rahmen des großen Walter Kempowski-Symposiums, das 2009 an der Universität Rostock stattfand. Die Frage nach möglichen Verbindungen zwischen Kempowski und der Popliteratur ist nach wie vor relevant. Zum einen, weil dadurch neue Perspektiven auf das Werk des Nartumer Schriftstellers eröffnet werden können, zum anderen, weil dadurch auch ein Beitrag dazu geleistet wird, den Begriff ‚Popliteratur‘ konkreter zu fassen und ihn stärker in eine literaturgeschichtliche Perspektive zu rücken. 2  Das Genre Popliteratur Wenn im Folgenden Kempowskis Verhältnis zur Popliteratur untersucht wird, geht es vorrangig um einen Vergleich mit der ‚Neuen Deutschen Popliteratur‘. Die Literaturgeschichte lässt diese Strömung meist mit dem Jahr 1995 beginnen, in dem Christian Kracht mit seinem Roman Faserland reüssierte. An Krachts Erfolg konnte Benjamin von Stuckrad-Barre drei Jahre später mit Soloalbum anknüpfen (vgl. Degler und Paulokat 2008, 8–9 u. 25–27). In den folgenden Jahren kam es zu einer regelrechten „Hausse des Pop“ (Schäfer 2003, 7). Zu Beginn des 21.  Jahrhunderts schwächte sich das Phänomen wieder ab, zumal auch die betroffenen Autorinnen und Autoren sich nun selbst verstärkt von der Etikettierung ‚Popliteratur‘ bzw. ‚Popliterat‘ distanzierten (vgl. Seiler 2006, 16). Dieser Wandel ist erklärungsbedürftig. Eine naheliegende historische Zäsur, die in diesem Kontext immer wieder bemüht wird, ist der 11. September 2001. Nach den Terroranschlägen von New York und Washington entdeckten viele Kritiker in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur eine „neue Ernsthaftigkeit“ (Zschirnt 2003, 16). Eine entsprechende Tendenz glaubte man auch in den Werken führender Popliteraten ausfindig machen zu können, so etwa in Deutsches Theater von Benjamin von StuckradBarre (2001b) oder in Christian Krachts Roman 1979 aus dem Jahr 2001. Als beispielhaft für die positive Aufnahme von Deutsches Theater kann Kirstin Schneiders Rezension im Onlineportal des Nachrichtenmagazins Der Spiegel gelten (vgl. Schneider 2001, o.  S.). In der Diskussion um Christian Krachts 1979 weist Sascha Seiler zu Recht darauf hin, dass 1979 keineswegs als konsequenter ‚Abgesang‘ auf die Popliteratur zu verstehen ist (vgl. Seiler 2006, 286  ff.). Seitdem wird in den Feuilletons immer wieder über das vermeintliche ‚Ende der Popliteratur‘ diskutiert. Während ihrer Hochphase um die Jahrtausendwende waren die Popliteraten Gegenstand heftiger Kontroversen, setzten ihre Texte sich doch auf eine Art und Weise mit Themen der jugendlichen Lebenswelt auseinander, die zuvor als ‚trivial‘ und ‚literaturunwürdig‘ gegolten hatte. Dazu gehörte insbesondere die affirmative Öffnung gegenüber Phänomenen der Alltags- und Massenkultur, die sich vor allem in der exzessiven Nennung von Markennamen und in der Verwendung von Jugendsprache und Slang-Ausdrücken manifestierte. Hinzu kam die Tatsache, dass in vielen Pop-Romanen ein ostentatives Desinteresse an der deutschen Vergangenheit und an politischen Fragen allgemein

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3  Systematische Aspekte

zur Schau gestellt wurde (vgl. Degler und Paulokat 2008, 10–12 u. 25–27). In den Feuilleton-Redaktionen stieß die Popliteratur auf harsche Ablehnung. Dort wertete man die fraglichen Romane zur oberflächlichen und ästhetisch minderwertigen „Dandy-Literatur“ (Schäfer 2003, 10) ab. Andere Beobachter unterstellten den Popliteraten sogar eine gedankliche Nähe zum Faschismus (vgl. Schäfer 2003, 10). Derartige Negativurteile dominierten jahrelang die Betrachtung des Genres. Seit gut einem Jahrzehnt ist nun die literaturwissenschaftliche Aufarbeitung des Phänomens im Gange. 3 Oberfläche und Archiv – Merkmale der ‚Neuen Deutschen Popliteratur‘ Die Texte der ‚Neuen Deutschen Popliteratur‘ eint die Hinwendung zu Phänomenen der Gegenwartskultur, die über Verfahren des Zitierens, Protokollierens, Kopierens und Inventarisierens schriftlich fixiert und somit archiviert werden (vgl. Schumacher 2003, 13). Mit der Hinwendung zur Gegenwart vollzieht die Popliteratur zugleich eine Hinwendung zu deren Oberflächen. Unter dem Begriff ‚Oberfläche‘ lassen sich alle Erscheinungsformen der Alltags- und Massenkultur zusammenfassen: Marken- und Produktbezeichnungen fallen ebenso darunter wie Song- und Werbetexte oder typische Haltungen, Stile und Sprechweisen einer bestimmten Epoche. Folglich kann Popliteratur auch als ‚Literatur der Oberfläche‘ charakterisiert werden, ohne dabei zwangsläufig oberflächlich zu sein. Die Haltung, die Popliteratur gegenüber den Oberflächen einnimmt, ist zunächst affirmativ in dem Sinne, dass diese überhaupt als ‚literaturwürdig‘ erachtet und zum Gegenstand ästhetischer Schaffensprozesse gemacht werden. Eine vordergründige Kritik oder Kommentierung der Oberflächenphänomene findet nicht statt. Davon abgesehen verschließt sich Popliteratur auch der Vorstellung, unter den Oberflächen läge ein tieferer Sinn verborgen, der mittels hermeneutischer Verfahren freizulegen wäre. Stattdessen beschränken sich die fraglichen Texte zunächst auf die detailgenaue Abbildung der Alltags- und Massenkultur, die sie in Form von Oberflächenbeschreibungen aufnehmen. Die Künstlichkeit, die für die moderne Alltagswelt charakteristisch ist, wird in der literarischen Abbildung potenziert (vgl. Schumacher 2003, 33–35). Mit der gesteigerten Darstellung von Künstlichkeit ist zugleich die Voraussetzung für eine Distanzierung und ein Nachdenken über das Dargestellte gegeben. Auf diesem Weg lassen sich viele Texte der Popliteratur schließlich auch als Versuch einer „Entlarvung gegenwärtiger Zustände“ (Schumacher 2003, 34) lesen. Die erste und bis heute maßgebliche Auseinandersetzung mit der ‚Neuen Deutschen Popliteratur‘ legte 2002 Moritz Baßler vor, der für eine Neubewertung des bis dato arg gescholtenen Genres eintrat (vgl. Baßler 2002). Die Affinität der Popliteratur zu Oberflächen verstand Baßler nicht länger als Mangel, sondern als „Phänomen eigenen Rechts“ (Baßler 2002, 15). In seiner Argumentation bezog Baßler sich u.  a. auf die Thesen des Philosophen und Kunstkritikers Boris Groys, der einige Jahre zuvor seinen Versuch einer Kultur-

3.9 Popliteratur315

ökonomie vorgelegt hatte (vgl. Groys 2004). Innerhalb dieser Kulturökonomie sind die Begriffe ‚kulturelles Archiv‘ und ‚profaner Raum‘ zentral. Groys – und damit auch Baßlers – Archivbegriff steht diametral zum Verständnis Michel Foucaults: Das kulturelle Archiv definiert Groys nicht im Foucaultschen Sinne als „Gesetz dessen, was gesagt werden kann“ (Foucault 1990, 186; zu Groys’ Archivbegriff vgl. auch Baßler o.  J.), sondern als jene „Summe aller Texte, die eine Kultur als Dokumente ihrer eigenen Vergangenheit oder als Zeugnis ihrer beibehaltenen Identität bewahrt hat“ (Foucault 1990, 186), die Foucault ausdrücklich nicht unter den Archivbegriff fassen wollte (vgl. Groys 2004, 179). Groys zufolge ist das kulturelle Gedächtnis hierarchisch organisiert. In seiner materialisierten Form besteht es aus Archiven (z.  B. Bibliotheken oder Museen), die wiederum von Institutionen kontrolliert werden, die ihrerseits hierarchisch gegliedert und für die Unversehrtheit des kulturellen Gedächtnisses verantwortlich sind (vgl. Groys 2004, 55). Demgegenüber setzt der ‚profane Raum‘ sich aus all jenen Dingen zusammen, die außerhalb der Archive bleiben, weil sie von den verantwortlichen Institutionen als wertlos, uninteressant, nicht repräsentativ und damit nicht überlieferungswürdig betrachtet werden. Aufgrund der Tatsache, dass die Inhalte des ‚profanen Raums‘ nicht gesondert aufbewahrt werden, gehen sie mit der Zeit verloren (vgl. Groys 2004, 56). Folgt man Groys, sind das ‚kulturelle Archiv‘ und der ‚profane Raum‘ allerdings keine statischen Einheiten, vielmehr unterliegen sie einem stetigen Wandel: Die Institutionen, die für den Erhalt des kulturellen Gedächtnisses verantwortlich sind, wählen ständig neue relevante Kulturmuster für ihre Archive aus, während gleichzeitig solche Muster entfernt werden, die als veraltet gelten oder irrelevant geworden sind. Als unerschöpfliches Reservoir für potentiell neue kulturelle Werte erfüllt der ‚profane Raum‘ somit einen wichtigen Zweck. Im Rahmen des beschriebenen Tauschvorgangs werden Dinge, die zuvor als primitiv und vulgär galten, aufgewertet und in die kulturellen Archive aufgenommen, während Elemente des ‚Wahren und Schönen‘ eine Abwertung erfahren (vgl. Groys 2004, 55). Diese ‚Umwertung der Werte‘ ist laut Groys die allgemeinste Form der Innovation, der Ursprung des Neuen in der Kultur (vgl. Groys 2004, 14). In diesen Austauschprozess ordnete Moritz Baßler die Popliteratur folgendermaßen ein: Wenn das Neue, mit Boris Groys, als Ergebnis einer Tauschhandlung zwischen anerkannter Kultur und der Welt des Profanen zustande kommt, dann ist Pop, als Medium des Neuen, zuallererst eine Archivierungs- und Re-Kanonisierungsmaschine. (Baßler 2002, 46)

Baßler zufolge erfasst Popliteratur als ‚Archivierungsmaschine‘ die Paradigmen der zeitgenössischen (Populär-)Kultur, die sie einerseits als kulturelle Fundstücke aufnimmt, andererseits nach vorgefundenen Mustern aber auch selbst generiert (vgl. Baßler 2002, 95–96). Konkret kommt dieser ‚neue Archivismus‘ etwa im Erstellen von Listen und Katalogen zum Ausdruck. Dieses Verfahren ist für die Popliteratur ebenso typisch wie die Vorliebe für Markennamen und das permanente name-dropping.

316

3  Systematische Aspekte

4  Walter Kempowski als Oberflächensammler und Archivist Das Sammeln, literarische Aufnehmen und Archivieren von Oberflächen bildet im Werk Walter Kempowskis ebenfalls eine Konstante. Der Begriff ‚sammeln‘ verlangt in diesem Zusammenhang eine gesonderte Bemerkung. Kempowski selbst kennzeichnete seine literarische Recherchearbeit zwar als ‚sammeln‘, die Bezeichnung ‚Sammler‘ allerdings lehnte er vehement ab: Am wenigsten trifft der Begriff ‚Sammler‘ zu, denn ich bin ja kein Urmensch, der sich meinetwegen von Schnecken oder Beeren ernähren würde. Ich sammle, aber ich bin kein Sammler: Das ist ein großer Unterschied. Das ist der gleiche Unterschied wie der zwischen einem Trinker und jemandem, der etwas trinkt. Sammler sind meistens irgendwie krankhaft veranlagte Menschen: Wenn sie bereits 3000 Kinderrasseln haben und irgendwo noch eine angeboten wird, die sie nicht haben, dann müssen sie die unbedingt auch noch haben. Vielleicht wären sie dann sogar bereit, einen Mord zu begehen, um an diese Rassel zu kommen. Das ist bei mir nicht der Fall. (Lehner 2001, 3)

Ein archivalisches Interesse war bei dem Schriftsteller offensichtlich schon in früher Kindheit gegeben: Bereits als kleiner Junge soll Kempowski die Titel von Büchern und Filmen, die ihn gerade beeindruckten, auf Karteikarten vermerkt und in Zettelkästen abgelegt haben (vgl. Hempel 2007a, 38). Berühmt wurde in diesem Zusammenhang vor allem eine Episode, die Kempowski später an seinen langjährigen Mitarbeiter und Biographen Dirk Hempel weitergab: Ich stand mit meinem Vater vor dem Universitätsgebäude. Er unterhielt sich mit Reeder Cords, der ihm die Vorzüge einer Gasheizung anpries. Dann fragte er mich, was ich denn mal werden wolle, und ich antwortete: Archiv! Da war ich zehn Jahre alt (Hempel 2007a, 38).

Eine neue und psychologisch überlebenswichtige Bedeutung kam der Betrachtung von Oberflächen während Kempowskis achtjähriger Haft in Bautzen zu (vgl. Hempel 2007d, 58). Für Kempowski war diese Zeit vor allem geprägt von den Schikanen seiner Bewacher, von der Eintönigkeit des Zellenlebens und nicht zuletzt von der Tatsache, dass die Häftlinge vollständig von der Außenwelt isoliert wurden. Vor allem plagten Kempowski im Zuchthaus immer wieder Selbstvorwürfe, durch sein Handeln die Inhaftierung seiner Mutter und seines Bruders herbeigeführt zu haben. Davon abgesehen muss den Reederssohn auch die Aussicht, Bautzen erst als Vierundvierzigjähriger wieder verlassen zu können, an den Rand der Verzweiflung getrieben haben (vgl. Hempel 2007a, 80). Einen Ausweg aus dieser Situation konnte Kempowski zum einen finden, indem er die begrenzten Ablenkungen nutzte, die ihm der Häftlingsalltag bot, zum anderen, indem er sich immer wieder an seine unbeschwerte Kindheit im Rostock der Vorkriegszeit erinnerte: Meine Eltern waren nette Leute und so ist es selbstverständlich, dass man sich daran oft und gerne zurück erinnert. Das habe ich auch im Zuchthaus so gemacht: Oft,

3.9 Popliteratur317 wenn wir verzweifelt waren – mein Bruder saß ja mit mir in der gleichen Zelle –, haben wir uns von früher erzählt. Diese Sehnsucht nach der Heimat ist mir eigentlich bis heute geblieben: d.  h. selbstverständlich nach der eigenen Heimat, nach der eigenen Vergangenheit (Lehner 2001, 1).

Der Begriff ‚Heimat‘ war für die Brüder Kempowski in erster Linie natürlich mit konkreten Personen, Begebenheiten und Orten verbunden. Darüber hinaus konnte man das Familienleben aber auch durch die Rückbesinnung auf Oberflächen des Alltagslebens, z.  B. Kinofilme, Markennamen oder Schallplattentitel, wiederauferstehen lassen. Während der Haft hatte Kempowski natürlich keine Möglichkeit, die zahlreichen Oberflächen, die er im Gespräch mit seinem Bruder heraufbeschworen hatte, schriftlich festzuhalten und somit literarisch zu archivieren. Erst nach der Entlassung fand er mit der Literatur das ideale Speichermedium, um diese Erinnerungen aufzuheben. Konkret verfolgte Kempowski zwei Projekte: Zum einen beabsichtigte er, seine Hafterlebnisse in Form eines Romans zu verarbeiten, zum anderen plante er die Abfassung einer Familiengeschichte, die dazu dienen sollte, die Familie Kempowski „auf Papier wieder aufzubauen“ (zitiert nach Hempel 2004, 106). Im Rahmen seiner Familienrecherchen hielt Kempowski zunächst die Lebenserinnerungen seiner Mutter auf Tonband fest. Anschließend wurden die Interviews auf die übrige Verwandtschaft, Freunde der Familie und Geschäftspartner des Vaters ausgedehnt. Darüber hinaus betrieb Kempowski weitere aufwendige Nachforschungen, in die auch Archive, Suchdienste und Meldebehörden einbezogen wurden (vgl. Hempel 2004, 102). Auf diesem Weg entstand die Familiengeschichte der Collasius, Hälsen, Kempowski, Nölting, die Kempowski schon 1961 seiner Verwandtschaft vorlegen konnte (vgl. Dierks 1981, 28). Diese ‚Vorchronik‘ sollte sich später als wichtige Grundlage für das eigentliche literarische Werk und als unbewusste Vorarbeit zu Tadellöser & Wolff erweisen (vgl. Dierks 1981, 91). Das Thema Familie lies den Schriftsteller in der Folgezeit nicht mehr los: Nahezu zeitgleich mit der Abgabe der Chronik ist in Kempowskis Tagebüchern erstmals die Idee nachzuweisen, das Schicksal seiner Familie in Romanform darzustellen (vgl. Hempel 2004, 128). Aus diesem Grund wurde das Familienarchiv fortgeführt, bis es Anfang der 1970er Jahre schließlich 48 Bände mit annähernd 2800 Seiten umfasste (vgl. Hempel 2004, 105). Neben schriftlich fixierten Oberflächen umfasste Kempowskis Materialsammlung auch reale Objekte: Beispielsweise rekonstruierte er die Bibliothek seiner Eltern und erwarb auch jene Bücher neu, die er selbst als Kind gelesen hatte. Zudem trat Kempowski als Sammler von Rostock-Devotionalien und ‚Mecklenburgica‘ aller Art auf. Das Sammeln und Archivieren von Büchern, Karten und Abbildungen zur Geschichte Mecklenburgs verband Walter Kempowski mit seinem Landsmann und Schriftstellerkollegen Uwe Johnson. Bei aller Unterschiedlichkeit einte die beiden Autoren das Bestreben, die Geschichte Mecklenburgs in ihren Werken literarisch zu archivieren (vgl. Kempowski und Johnson 2006b, 130  f.). Zu diesen Requisiten gehörten Alltagsobjekte wie eine Zigarrenkiste der Firma Loeser und Wolff oder die Schellackplatten, die Walter

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3  Systematische Aspekte

und Robert Kempowski als Mitglieder der „Rostocker Swing Band Boys“ (RSBB) gehört hatten (vgl. Hempel 2007d, 67; eine Liste der Schallplatten, die Robert Kempowski besessen hatte, findet sich bei Kempowski 2006d, 420  f.). Das auf diese Weise zusammengetragene Material hat in großer Zahl Eingang in die Deutsche Chronik, insbesondere in den Roman Tadellöser & Wolff (Kempowski 1971a), gefunden, der somit auch als ‚Roman der Oberflächen‘  – keinesfalls aber als oberflächlicher Roman!  – bezeichnet werden kann. Mit großer Präzision und Ausführlichkeit rekonstruierte und archivierte Kempowski dort Inhalte des ‚profanen Raums‘ der späten 1930er und frühen 1940er Jahre. Damit nahm er zentrale Verfahren der Popliteratur der 1990er Jahre vorweg. In Tadellöser & Wolff findet sich eine große Zahl von Oberflächen, darunter Marken- und Produktbezeichnungen wie „Kaiserborax“ (Kempowski 2006e, 78), Film- und Musiktitel, Zeitungsschlagzeilen wie etwa „Exeter mit schwerer Wirkung bombardiert!“ (Kempowski 2006e, 160), die Namen populärer UFA-Schauspieler und Swing-Musiker, Briefmarkenaufdrucke wie „DFUTSCHES REICH“ (Kempowski 2006e, 378), Schlagwörter aus der Werbung – „Seid verwöhnt, raucht Welp-Zigarren!“ (Kempowski 2006e, 84) – und der NS-Propaganda – „Halt Dir den Spiegel vors Gesicht, bist du’s oder bist du’s nicht“ (Kempowski 2006e, 381) – oder zeittypische Redewendungen, darunter das berühmte Familienidiom der Kempowskis und andere ‚Schnäcke‘ aus dem Rostock der Vorkriegszeit. Diese Oberflächen werden zum einen zwischen die für Kempowski typischen Textblöcke collagiert  – dann meist als längere Liedzitate –, zum anderen sind sie aber auch innerhalb der einzelnen Blöcke zu finden. Dadurch entsteht eine Art ‚Hypertext‘, der hochgradig mit medienreferentiellen Oberflächen durchsetzt ist. Mit der Einbeziehung von Oberflächen lässt sich zugleich die Vielzahl von intertextuellen und intermedialen Verweisen erklären, die für Tadellöser & Wolff ebenso kennzeichnend sind wie für viele Romane der ‚Neuen Deutschen Popliteratur‘. Wie in der Popliteratur unterbleibt auch in Kempowskis Tadellöser & Wolff eine explizite Analyse der beschriebenen Zeitumstände und der dazugehörigen Oberflächen. Das Rostocker Alltagsleben während der NS-Zeit wird konsequent aus der Perspektive eines Jugendlichen dargestellt, der zum Ende der Handlung etwa sechzehn Jahre alt ist. Eine Kommentierung des porträtierten Milieus von einer Position, die außerhalb der Erfahrungswelt des Ich-Erzählers liegt, findet nicht statt. So bleibt es auch im Falle von Tadellöser & Wolff dem Leser überlassen, sich mit den dargestellten Oberflächen auseinanderzusetzen und daraus eigene Schlüsse zu ziehen. Das bedeutet freilich nicht, dass Walter Kempowski sich jeder Wertung der NS-Zeit enthält. Seine Sicht auf die Ereignisse wird nicht durch direkte Kommentare, sondern im Arrangement der einzelnen Oberflächen greifbar. Dass Walter Kempowski versuchte, die Handlung seines Romans über die Zusammenstellung seines Materials zu kommentieren, zeigt u.  a. die scheinbar zufällige Erwähnung der Kleinstadt Auschwitz in Tadellöser & Wolff. Sie steht absichtlich vor der Schilderung der schweren Luftangriffe, die Hamburg im Sommer 1943 trafen (vgl. Feuchert und Pfeifer 2008).

3.9 Popliteratur319

5 Kempowskis Tadellöser & Wolff und die Popliteratur – Rezeptionslinien Walter Kempowskis Roman Tadellöser & Wolff könnte man also zusammenfassend als ‚Auseinandersetzung mit Oberflächen‘ kennzeichnen. Eine gesonderte Betrachtung verdient die Art und Weise, wie diese Literatur vom Leser rezipiert wird: Sofern es sich um Leser handelt, die die dargestellte Epoche aus eigenem Erleben kennen, ist die Lektüre von einem nostalgischen Wiedererkennen der einzelnen Oberflächen gekennzeichnet. Mit diesem Wiedererkennen geht meist die freudige Einsicht einher, dass viele Detailerinnerungen, die man zuvor für privat und individuell hielt, mit Gleichaltrigen geteilt werden können. Dieser ‚Genauso war es!‘-Effekt ist typisch für die Rezeption von Popliteratur – auch bei Tadellöser & Wolff kam er zum Tragen (vgl. Alfs und Rabes 1982, 7). Seine Ursache hat dieser Effekt in der gemeinsamen Mediensozialisation der Betroffenen und der industriellen Massenproduktion, die einheitliche Geschmacks- und Konsumwelten geschaffen haben (vgl. Degler und Paulokat 2008, 64). Durch die Lektüre können die Leser sich darüber verständigen, was als typisch und identitätsstiftend für ihre Generation erinnert werden soll. Diese Kommunikationsprozesse sind wichtig für die Herausbildung eines eigenen Selbstbildes und für die Abgrenzung gegenüber der Elterngeneration (vgl. Degler und Paulokat 2008, 64). Leser, die die fragliche Zeit nicht selbst erlebt haben, rezipieren Popliteratur auf eine andere Art und Weise. Für Nicht-Betroffene sind die Oberflächen gleichsam ‚blind‘ und nicht ohne weiteres zu entziffern. Dieses ‚Verblassen der Oberflächen‘ wird den Leser irritieren und im Zweifelsfall veranlassen, Herkunft und Bedeutung einzelner Partikel nachzuvollziehen. An die Stelle des ‚Genauso war es!‘-Effekts tritt mit wachsendem zeitlichen Abstand ein ‚Was war das?‘-Effekt. Die Recherchen, die von unbekannten Oberflächen ausgehen können, werden nicht zuletzt die Vermutung vorantreiben, dass die verschiedenen Bezeichnungen, Namen und Zitate auf tiefere Sinnzusammenhänge verweisen, die für das Verständnis des jeweiligen Textes konstitutiv sind. Dass einzelne Oberflächen tatsächlich weitere Bedeutungsebenen eröffnen, wurde für Tadellöser &Wolff schon mehrfach nachgewiesen. Genannt seien in diesem Zusammenhang etwa das ‚Logenlied‘ („Wie so sanft ruhn, alle die Toten…“ [Kempowski 2006e, 10]), das im Roman mehrmals zitiert wird und das den Tod des Vaters andeutet, oder die Erwähnung des Science-FictionAutors Kurd Laßwitz, die auf Hitlers Angriffskrieg gegen die Sowjetunion verweist (vgl. Kempowski 2006e, 245). Ob sich nun hinter jeder Oberfläche, der potentiell eine Bedeutung zugeschrieben werden kann, eine Art ‚semantische Bombe‘ – so der von Wolfgang Struck geprägte Begriff (vgl. Feuchert 2010, 144) – verbirgt, die Walter Kempowski bewusst in seinem Roman platziert hat und deren Auffindung er vom Leser erwartet, ist fraglich und muss jeweils am Einzelfall diskutiert werden (vgl. Feuchert 2010, 143–145). In jedem Fall wird durch das Nachvollziehen der Oberflächen eine tiefere Auseinandersetzung mit der porträtierten Epoche initiiert. Die Achtung und genaue Betrachtung der Oberflächen ist in jedem Falle geboten, weil sich dahinter ungeahnte Tiefen

320

3  Systematische Aspekte

und Abgründe verbergen. Das gilt sowohl für die Werke Walter Kempowskis als auch für die Popliteratur.

3.10 Religion Gita Leber 1  Persönliche Frömmigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 2 Religion im Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 3  Prolog und Epilog des Romanwerks . . . . . . . . . . . . . . 330

1  Persönliche Frömmigkeit Walter Kempowski wurde am 23. Juni 1929, am 4. Sonntag nach Trinitatis, in seinem Elternhaus in Rostock durch Pfarrer Isenberg (,Eisenberg‘) (Kempowski 2006j, o.  S.) getauft. Diesem Geschehen geht Kempowski in seinem 76. Lebensjahr in der Bearbeitung seiner Autobiographie nach und kommt zu einer Lebensbilanz: „Es war ein Zeugnis für die Großartigkeit der Schöpfung“ (zitiert nach Leber 2011, 318). Von seiner Großmutter Collasius wurde zur Taufe ein Zettel mit einem Bibelspruch geschickt, den sie Walter auf den Weg mitgab: „Ich jage nach dem vorgesteckten Ziel.“ Kempowski kommentiert diesen Spruch in seinen Memoiren: „Und ich jage immer noch! Und diese Memoiren sind vielleicht auch als ein Protokoll der Konsequenz zu verstehen, mit der ich das tat“ (Leber 2011, 318  f.). Der zitierte Spruch ist ein Ausschnitt aus Phil. 3,14. Der ganze Spruch lautet: „[U]nd jage nach dem vorgesteckten Ziel, dem Siegespreis der himmlischen Berufung Gottes in Jesus Christus.“ (Alle Bibelzitate folgen der Ausgabe Evangelische Kirche in Deutschland 1985.) In seinem Lebensrückblick sucht er nach dem Auftrag, besser, nach der Berufung, die ihm schon ‚an der Wiege gesungen‘ war: ein Leben zu führen, in dem Religion eine konstitutive Rolle spielt. In der Bearbeitung seiner Autobiographie zitiert Kempowski auch die Bekanntgabe seiner Taufe im Hamburger Johannes-Kapellen-Boten am 28. Juli 1929, zu der ein Wort aus Hebr. 13,9 gesetzt wurde: „Es ist ein köstlich Ding, dass das Herz fest werde, welches geschieht durch Gnade.“ (Kempowski 2006j, o.  S.) In seiner Kindheit erlebte Kempowski eine stark pietistisch bis frömmlerische religiöse Erziehung durch die Mutter. Wenn er in Interviews beschreibt, wie er wegen der freien Gebete der Mutter weinte, dann zeugt dieses Phänomen von einer Ergriffenheit durch die religiösen Rituale, die sich mit der Mutter verbinden. Die Perikopen des 4. Sonntags nach Trinitatis, des Taufsonntags, die für den religiösen wie den sozialen Bereich mit reaktiven Entsprechungen rechnen (vgl. Josuttis 2004, 106), weisen besonders resonante Strukturen auf: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist“; „Gebt, so wird euch gegeben“; „Mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch wieder

3.10 Religion321

messen“ (Lk 6,36–38; vgl. ausführlicher Leber 2011, 323). Die Texte seines Taufsonntags sind in Kempowski inskribierte Orientierungsmuster, die sich in die gesamte Lebensdeutung und Lebensführung hinein nachweisen lassen. Dem Pastor Isenberg hat Kempowski nach seiner Haftentlassung seine große Schuld, die er glaubte, durch den Verrat an seiner Mutter und deren Verhaftung auf sich geladen zu haben, gebeichtet – „[a]ber geholfen hat es nicht“ (zitiert nach Leber 2011, 318). Wie sehr Kempowski mit dieser Äußerung von der Grundeinsicht geleitet war, dass religiöse Lebensdeutung immer nur in einem steten Suchen und Finden zu erlangen und von Ahnung und Gewissheit geprägt ist, leuchtet in dem vielfältigen Themengeflecht von theologischen Deutungsvorgängen, die in seinem Romanwerk und seiner Lyrik die jeweilige Erzählinstanz vornimmt, immer wieder auf. Während seiner Haftzeit fand Walter Kempowski durch seine aktive Teilhabe an den Gefängnisgottesdiensten, später sogar als Chorleiter des Gefangenenchors, inneren Halt. Der Chor prägte mit seiner Musik sowohl die protestantischen Gottesdienste als auch die römisch- katholischen Messen. Motetten, Kantaten, Choräle und Messen wurden musiziert, und Kempowski komponierte sogar eigens Stücke für die liturgischen Feiern. Die Begegnung mit dem Gefängnisseelsorger, der der Evangelischen Michaelsbruderschaft angehörte und den Chor förderte und Noten sowie Papier zum Kopieren der Noten ins Gefängnis brachte, dessen Predigten und die Gespräche mit ihm förderten allmählich Kempowskis Haltung, nicht weiter mit seinem Schicksal zu hadern. Die Fülle geistlicher und liturgischer Chormusik prägte den Häftling. Am Ende seiner Haftzeit, wieder in Freiheit, konnte er dankbar – Gott gegenüber – von der Gnade sprechen, überlebt zu haben und bewahrt worden zu sein; mehr noch, die Inhaftierung als solche empfand er als Gnade. So schrieb er in seiner Examensarbeit vom September 1959: „Die Haft erschien mir […] als eine große Gnade, die mich verpflichtete. Diese Verpflichtung, dessen war ich gewiss, hatte ich eines Tages einzulösen“ (zitiert nach Dierks 1981, 30). Die tiefe Prägung durch geistliche Musik und die ihr zu Grunde liegenden biblischen und theologischen Texte, die Beschäftigung mit der Bibel selbst sowie die Begegnung mit jenem Pfarrer haben Kempowskis Leben entscheidend beeinflusst. Über dreißig Jahre hat Kempowski mit ehemaligen Mithäftlingen und interessierten Frauen zu Beginn des Advents in seinem Haus geistliche Lieder gesungen und musiziert. Er war, wie seine Tagebücher und Mitteilungen seiner Familie sowie seine Lehrertätigkeit bestätigen, von den Rhythmen des Kirchenjahrs geprägt und lebte nach diesem Zeitgepräge häusliche Traditionen. Die geistige Nähe zur kirchlichen Tradition und zu manchen ihrer Vertreter evoziert auch die Frage nach seiner Kirchenmitgliedschaft. Durch seine Taufe war Kempowski Mitglied in der Evangelisch-Lutherischen Mecklenburgischen Landeskirche, aus der er 1982 austrat, mutmaßlich aus Gründen seiner Institutionskritik an der verfassten Evangelischen Kirche (vgl. Leber 2011, 340– 345; sowie Sina 2012, 103–107). 2007, kurz vor seinem Tod, trat er wieder in die Evangelische Kirche ein.

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3  Systematische Aspekte

Nahezu zehn Jahre vor seinem Tod äußerte Kempowski den Wunsch, im Falle seines Todes evangelisch bestattet zu werden. Obgleich er kein Kirchenmitglied mehr war, war es ihm wichtig, christlich begraben zu werden. Gespräche über Religion zwischen ihm und der Pastorin Gita Leber, die er zu sich gebeten hatte, fanden nicht statt. Doch ein letzter Brief Walter Kempowskis an die Pastorin vom 29. März 2007 gibt Auskunft darüber, wie Kempowski seinem bevorstehenden, nahen Tod entgegen sah und was ihm Hoffnung und Trost bot: Der zentrale Gedanke, hilfreich, wie alles was von innen kommt, erhellend und nun auch sinngebend, ist wohl der an die Heimat. Ich wollt’, dass ich daheime wär und aller Welt Trost entbehr – oder wie heißt der Choral? Rostock wurde mir aus verschiedenen Gründen zu einer Art Jerusalem. Die Stadtmauer rundherum mit ihren Toren, die großen alten Kirchen, die Klöster, die Altstadt mit den Giebelhäusern, ja die Warnow, die an der Stadt vorüberfloss. An diese Heimat denke ich fast täglich, und meine ganze Lebensarbeit dreht sich um dieses, mein Jerusalem, denn irgendwo suchte ich in ihr Zuflucht vor Schule und Nazis. Und ich fand sie in der Marienkirche, bei dem blinden Jahn, dem Organisten, der mir aus Freundlichkeit Stunden gab. Tief hineinführend also in ein anderes Jerusalem, die Kirchenmusik von Johann Sebastian Bach. Die Stunden dort oben an der riesigen Orgel, das gütige Wesen dieses Weltmönchs – die Musik Bachs, der Blick in ein Unermeßliches, in seiner Jenseitigkeit trotzdem Diesseitigen, in Bruchstücken wahrgenommen und deshalb nur noch eindrücklicher, die wie ein geordneter Strom von Trümmern zu mir hinfloß. Verstärkt wurde die Liebe zu dieser Stadt, zu diesem Jerusalem, durch die Lehrer, durch den Vater, die mich in meiner Heimatliebe bestätigten. Sie wurde ‚autorisiert‘, und das alles sank 1942 in Trümmer. Ein Teil der Stadt blieb erhalten, aber ich fühlte mich ausgewiesen und – verstört durch etwas, was früher meine Freude gewesen war und nun entstellt frühere Gefühle verhöhnte. – Das ganze Leben war, wenn ich es heute überschaue, ein einziger Versuch der Rückkehr in die goldene Stadt. Meine Arbeit im Kirchenchor, meine Bücher, die Sammlungen, die Bilder, ja das kleine Stadtmodell, das ich aus Papier herstellte. Alles wurde mit einer kräfteverzehrenden Energie verfolgt, die nur zu erklären ist durch das, was man Auftrag nennen könnte. Schon bei meinem Schlaganfall hatte ich das Gefühl, entlassen zu sein: Jetzt bist du erlöst, jetzt brauchst du nicht mehr zu suchen, jetzt bist du ‚daheim‘. Und das ist es, was mir heute den letzten Weg so leicht macht, ja mich mit Freude erfüllt: die Gewissheit, mich nun auf dem Weg in die Heimat zu befinden. Der Welt Trost nicht mehr entbehr. Die Kugel rollt in ihr Loch. Ich bin angekommen, ich bin wieder zu Haus. […] Die Johannes-Offenbarung etwa, ein Leben zwischen A und O, getrieben von Sehnsucht, angetrieben von Schuld, die mir weise auferlegt wurde. Die Kirchenmusik unserer großen Visionäre, die Gemälde und Bildwerke des 15. Jahrhunderts, ja, die etwas fragwürdigen alten Zeichnungen aus der Kinderbibel vom lieben Gott tauchen dann als Lichtbilder in meinem Erinnerungskasten wieder auf. Aber sie bleiben Chiffren, Hilfsmittel, sie verdecken das, was ich mir nicht vorzustellen getraute. Die Gestalt des Ewigen. Es bleibt das Bewusstsein, von Ihm geführt worden zu sein, denn alles, was ich erlebte, hat seinen logischen Platz, wie im Rechenheft eine algebraische Formel – so geht alles auf. Und das kann kein Zufall sein. Und dass von meinem Werk in irgendeiner Form auch Segen ausgeht, kann nur darauf zurückzuführen sein, dass es unter dem Zeichen

3.10 Religion323 der Gnade entstand. Die Umwandlung des Leides in höchstes Glück (Kempowski 2007, o.  S.)

Rostock ist das Ziel seiner Träume und eine Metapher für das ‚himmlische Jerusalem‘, aber im Angesicht des Todes wird das biblische ‚himmlische Jerusalem‘ zum eigentlichen Zielort eines christlich verankerten Lebens. Am 6.  Oktober 2007 verstarb Walter Kempowski im Krankenhaus in Rothenburg/Wümme. Die Pastorin erfüllte seinen Wunsch und hielt die Predigt zu seiner Beerdigung in Haus Kreienhoop. Über seinem Leichnam las sie die Worte zur Aussegnung, die er auch seinen Figuren in seinem letzten Roman Alles umsonst als Trost in auswegloser Situation beigegeben hat, die Worte des Chorals von Heinrich von Laufenberg (1430) aus dem Evangelischen Gesangbuch: „Ich wollt, dass ich daheime wär und aller Welte Trost entbehr“ (Heinrich von Laufenberg, zitiert nach Evangelische Kirche in Hessen und Nassau 1994, Lied 517). „Ich sterbe doch gerne“ (Stuckrad-Barre 2007, o.  S.), sagt Kempowski in einem Spiegel-Interview. In einem Fernsehinterview antwortet er auf die Frage, wie er das gemeint habe, mit Zitaten aus Bachs Matthäus-Passion – Am Abend da es kühle war – und aus der Bach-Kantate Wer weiß, wie nahe mir mein Ende (BWV 27): Walter Kempowski: ‚,Mach’s nur mit meinem Ende gut!‘. Doch eher: ‚Am Abend, als es kühle war‘ – Das Langsame. Das kann man sich nur wünschen. ‚Herr, mach’s mit meinem Ende gut.‘‘ Paul Kersten: ‚Sie haben auf keinen Fall jetzt mit einem Gott zu hadern?‘ Walter Kempowski: ‚Hadern, nein. Er hat mich immer gut behandelt.‘ (Kersten 2007, o.  S.)

In dieser späten Auskunft über sein Gottesbild, angesichts seiner Krankheit, ist Kempowski nicht der Gott Anklagende. Wenn eine Klage erhoben wird, dann ist es die Klage Christi selbst, die Kempowski intoniert. Im Alter von 78 Jahren zu sterben, vor der Erfahrung, mehrfach in früher und später Jugend dem Tode nahe gewesen zu sein, weckt in Kempowski Dankbarkeit dem rettenden Gott gegenüber. Seine Darstellung dessen, was ihn tröstet, in Form seiner mit Vorsicht zu interpretierenden Selbstaussagen in Interviews und durch die aufgeschlagenen Notenbücher auf seinem Flügel, in denen er Choräle noch in seiner letzten Lebensphase bearbeitet hat, um sie ‚aufzuhellen‘, sind Zeugnisse einer protestantischen ars moriendi. Nach Martin Luther bedeutet diese: Rechtfertigung allein aus Gnade kennen und sie im Glauben anwenden. Schriften auch anderer Reformatoren betonen die Sündenerkenntnis als Teil der ars moriendi und der evangelischen Buße, nämlich den Glauben an Gottes Barmherzigkeit durch Christus (vgl. Leber 2011, 371). Bach’sche Choräle spiele er morgens und abends und manchmal singe er auch den Text „und dann fange ich meist an zu weinen“ (Stuckrad-Barre 2007,

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3  Systematische Aspekte

o.  S.). Auch seine Rührung versteckt er nicht, sondern zeigt auch in dieser Haltung das Ewig-Menschliche, das Angerührt-Sein von Trost im Angesicht erschütternder (vorausgeahnter) Abschiedsmomente. Wie stark auch das Zitat aus der Matthäus-Passion mit Kempowskis Rostocker Marienkirche, seiner „Gebärmutter“ (Kempowski 1992a, 27; vgl. dazu Leber 2011, 115), verwoben ist, zeigt eine Studie zur Kanzel der Marienkirche. Heinrich Müller, im 17. Jahrhundert Professor für Theologie an der Universität Rostock, Superintendent in Rostock und Pastor an St. Marien, ließ seine Predigten in Andachtsbüchern drucken. Diese Predigtbände sind Vorlagen für Picander, den Textdichter der Oratorien Johann Sebastian Bachs, der „zum Teil in wörtlicher Anlehnung“ (Nath o.  J., 22) die Texte übernommen hat. Predigten Heinrich Müllers finden sich im Nachlass Johann Sebastian Bachs (vgl. Nath o.  J., 22). Die öffentliche Inszenierung seines Sterbens ist in stringenter Kohärenz zu seinem literarischen Werk zu sehen. Kempowski zeigt eine Passionsgeschichte, die die negativen Leidenserfahrungen im Psychischen wie im Physischen in die positive Gottesbeziehung integriert. Wie die Passionspredigt, die die Leidensgeschichte Jesu erzählt und im Rhythmus des Kirchenjahrs wiederkehrend Leidensarbeit vollzieht, so verdichtet sich in Kempowskis Darstellung der Sterblichkeit des Menschen – in Verbindung mit dem von ihm empfundenen Trost durch Bibeltexte und durch die Kirchenmusik –, was im Kreuz Christi symbolisiert ist. Obwohl das Kreuz zum Symbol für Leid und Sterben wird, bildet es ein transitorisches Phänomen, weil die Passionsgeschichte in den Kontext der Heilsgeschichte eingebettet ist. Insofern kann auch das öffentliche Sprechen und Sich-Zeigen in der letzten Lebensphase Kempowskis als Passionspredigt verstanden werden. Bei seinem Schlaganfall gegen Ende des Jahr 1991 hatte Walter Kempowski das Gefühl, ‚entlassen‘ zu sein: „Jetzt brauchst du nicht mehr zu suchen, jetzt bist du ‚daheim‘“. Diese Suche nach Gott, nach einem Daheim im Ewigen spiegelt sich in seinem Romanwerk und durchzieht dieses wie ein roter Faden. So stellt Kempowski dem Roman Aus großer Zeit programmatisch das biblische Motto voran: „So ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen.“ (Jer 29,13) Ein zweiter Roman der Deutschen Chronik erhält ebenfalls ein alttestamentliches Zitat als Leitwort. Es ist der Roman Ein Kapitel für sich, wo es heißt: „Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu dir.“ (Ps 42,2) Der gefangene Walter wird als Mensch ausgewiesen, der seine Zuflucht bei Gott sucht und seinen Überlebenskampf in tiefer Not in erster Linie mit der Hinwendung zu Gott zu bewältigen sucht. Der Titel seines letzten Romans Alles umsonst ist ein Zitat aus dem Choral Aus tiefer Not (vgl. Evangelische Kirche in Hessen und Nassau 1994, Lied 299,2), der sich aus dem Römerbrief (Röm 3,18) herleitet, einer Stelle, die Martin Luther zu seiner reformatorischen Erkenntnis sola gratia führte. So schließt sich auch der Lebenskreis Kempowskis. Er glaubte lange Jahre, seine Lebenszeit sei auf 72 Jahre bemessen. Insofern können die ihm darüber

3.10 Religion325

hinaus geschenkten sechs Lebensjahre von ihm nur als gnädige Zuwendung Gottes gedeutet werden, als ‚Spiegelung Gottes‘ in seinem Leben. Dadurch wurde es ihm möglich, sein Werk nahezu zu vollenden. „Es bleibt das Bewusstsein, von ihm geführt worden zu sein“, schreibt er an die Pastorin. In seinem Brief an die Pastorin zitiert er aus der Johannes-Offenbarung: „Ich bin das A und das O“ und deutet sein „Leben zwischen A und O“. Typographisch ist das O wie das von ihm genannte Loch. „Die Kugel rollt in ihr Loch. Ich bin angekommen, ich bin wieder zu Haus.“ 2 Religion im Werk In der jüngsten Forschung liegen zwei Veröffentlichungen vor, die Religion im Werk Walter Kempowskis zum Gegenstand haben. Die im April 2011 erschienene Analyse von Gita Leber untersucht das Romanwerk auf theologische Bezüge und protestantische Traditionsbestände, die integraler Bestandteil von Kempowskis Literatur und seiner biographischen Selbstinszenierungen geworden sind, so die Hauptthese (vgl. Leber 2011). Die im August 2012 erschienene Studie von Kai Sina, die das Gesamtwerk Kempowskis in Betracht nimmt, vertritt einen kunstreligiösen Ansatz (vgl. Sina 2010). 2.1  ‚Die Improperien‘ Der kunstreligiöse Ansatz setzt mit der Bezeichnung ein, die Kempowski seinem Gesamtwerk zuschreibt: ‚Die Improperien‘. Dadurch bezieht Kempowski selbst sein Werk, das er als ein in sich geschlossenes betrachtet, eindeutig auf die Religion. Die Improperien gehören in die Karfreitagsliturgie der katholischen Tradition. Somit erhält das Gesamtwerk eine liturgische Funktion: Das Werk selbst wird zum Gottesdienst erhoben, in dem der Priester und die Gemeinde den Gekreuzigten und das Volk ‚repräsentieren‘. „Die Bezeichnung des literarischen Werkes als ‚Improperien‘ deutet also die Liturgie, den Akt der Rezeption in einen sakralen Ritus um – und die Erlösung vom Nicht-Bewältigbaren ist ihr unermesslicher Lohn“ (Sina 2010, 407). „Eben diese beiden Beobachtungen deuten in ihrem Zusammenspiel auf einen umfassenden kunstreligiösen Anspruch“ (Sina 2010, 405). Die Urgeschichte von Kempowskis schriftstellerischer Arbeit ist die Haftzeit in Bautzen. Hier entwickelt er die Vorstellung seiner Haft als ein „Opferleben“ und als „stellvertretendes Leiden“ (Kempowski 1975a, 21). Kempowski verdichtet diese Erfahrung mit dem Titelvorschlag für ein „Buch über Bautzen […] Titel auch: Der Vertreter“ (Hempel 2007b, 27, Hervorhebung im Original; vgl. auch Sina 2012, 47  f.). In einem Interview mit Cherry Duyns unterscheidet Kempowski die biblische Vorstellung der Erbsünde von der historischen Schuld: Diese Unterscheidung zwischen einer unhintergehbaren Erbschuld, die zu ‚akzeptieren‘ sei, und einer historischen Schuld, die ‚abzutragen‘ sein müsse, impliziert

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3  Systematische Aspekte

nun die Erhöhung des Häftlings zum christomorphen Stellvertreter: Ebenso wie der Gekreuzigte die menschliche Schuld trägt, übernimmt der Häftling mit seinem ‚Opferleben‘ die deutsche Schuld, eine homologe Beziehung, die sich zuspitzt in einem kurzen Tagebucheintrag aus dem Jahr 1959, der Manfred Dierks zur Publikation überlassen wurde: ‚Identifizieren mit Christus‘, so beschreibt Kempowski sein in der Haft errichtetes Selbstbild drei Jahre nach seiner Entlassung. (Sina 2010, 411)

Auch als „Mönch“ (Duyns 1991, o.  S.) versucht Kempowski seine Haftzeit als imaginiertes klösterliches Leben zu überstehen. Zu diesem Leben gehörte die Lektüre des Neuen Testaments, der Apokryphen und theologischer Literatur. Insbesondere das Singen in der Anstaltskirche und die Leitung des Gefangenenchores werden Kempowski zu einer Erfahrung von klösterlicher Gemeinschaft, die in der Kreuzesnachfolge steht. Es wird daraus geschlossen: „Geschildert wird damit also eine Umdeutung nicht nur vom Häftling zum Mönch, sondern darin zum Kreuzesnachfolger, zum alter Christus“ (Sina 2010, 414, Hervorhebung im Original; vgl. auch Sina 2012, 57). Über die Funktion des Wohnhauses Kempowskis, das dieser als Gefängnis und Kloster konzipiert, heißt es bei Kai Sina: „Die Inszenierung der schriftstellerischen Arbeit als ‚Gottesdienst‘ und Stilisierung des literarischen Werks zum liturgischen Text sowie ihre Herleitung aus der biografischen Legende setzen sich in der Gestaltung des ‚Dichterhauses‘ konsequent fort“ (Sina 2010, 418; vgl. auch Leber 2011, 295–316). Kempowski beschreibt sein Haus in Alkor wie folgt: „So ist das Haus Fluchtburg, Gefängnis zugleich, eine Festung, die mir verhilft, das Sühnewerk zu vollenden“ (Kempowski 2001b, 401). Die Untersuchung verweist weiter auf Kempowskis Werkplan, von dem er selbst auch in Alkor spricht: „Ein verordnetes Lebenswerk lastet auf mir“ (Kempowski 2001b, 152). Diesen Werkplan will Kempowski, laut seiner Tagebuchnotiz in Somnia, schon 1971 entworfen haben (vgl. Kempowski 2008a, 170). Schließlich betont Kai Sina die von Kempowski behauptete Singularität seines monumentalen Werks; dies geschieht mit Blick auf das Echolot und damit sowohl auf das „exklusive Selbstbild“ (Sina 2010, 418) Kempowskis als auch auf das Aufgezehrt-Sein durch die Bürde des Werkschaffens, von der sich Kempowski erst durch den Tod erlöst sieht (vgl. Sina 2010, 418–420). Kai Sina folgert: „Hier vollendet sich ein teleologischer Lebensentwurf: Der Vertreter, der aus dem Gefängnis kam, der Häftling, der Mönch und Autor hat seine Pflicht getan, das Werk ist vollbracht – und nun darf er gehen“ (Sina 2010, 420, Hervorhebung im Original; vgl. auch Sina 2012, 64  f.). 2.2  Sühnewerk und Opferleben In Sühnewerk und Opferleben (vgl. Sina 2012) wird zudem auch Kempowskis notorisches ‚Sich-ausgegrenzt-Fühlen‘ auf das „Martyrium einer kunstreligiösen Figur des Dritten“ (Sina 2012, 88) bezogen. „Vor allem Kempowskis hartnäckig hervorgehobener Gegenmodernismus begründet ein konservativkulturkritisches Verhältnis zur Gesellschaft, zur Lebenswelt und zur Religion,

3.10 Religion327

auf deren defizitären Zustand der Anspruch auf Heilung durch den Künstler und die Kunst reagiert.“ (Sina 2012, 88) Zum Gegenmodernismus gehört auch das Konzept des Landschulmeisters, den Kempowski als Lehrer verkörpert. In diesem Schulmeisterdasein sieht Kai Sina die Stilisierung „zum Heilsbringer“ (Sina 2012, 95), weil Kempowski seine Lehre im Anklang an die Ich-bin-Worte Jesu als „der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Joh. 14,6) beschreibt und die Kinder in seinen „Sommerclubs“ als „Erlöste“ (Sina 2012, 96) bezeichnet. Es wird daraus gefolgert: „In dieser Wortwahl (eines Gurus) zeichnet sich eine merkwürdige Überschneidung mit der für Kempowski problematischen Frage des Künstlerkultes ab“ (Sina 2012, 96). So attestiert die Studie Kempowski eine „Überhöhung des Pädagogen zum Erlöser“ (Sina 2012, 97). Sie zeichnet ebenfalls nach, wie heftig und häufig Kempowski den Traditionsverlust in der römisch-katholischen ebenso wie in der protestantischen Kirche in unterschiedlichen Medien kritisiert. Deshalb, so die These, „läuft alles darauf hinaus, dass die Kunst nun leisten soll, wozu die Kirche nicht imstande ist: Die kritische Abwertung der Kirche geht einher mit der religiösen Aufwertung der Kunst als Mittel zur Versöhnung der Gegenwart mit der Vergangenheit – und, damit verbunden, zur Erlösung von ‚dieser ewigen Täterschaft‘, die ‚quält‘“ (Sina 2012, 107, Hervorhebung im Original). Die Zurückhaltung einer Bewertung der Figuren durch den Autor respektive durch die Erzählinstanz sei der Anerkennung des Menschen als allgemein verwerflich und der Sünde unterlegen geschuldet. Daraus wird eine Mitleidshaltung des Autors hergeleitet, die schließlich Gut und Böse in den Zeitläuften vereinigt und eine allgemeine Versöhnung erzielen will. „In der Bezugnahme auf eben dieses religiöse Programm und in der Funktionalisierung der Literatur im Sinne dieses religiösen Programms erweist sich die genuin kunstreligiöse Dimension der Kempowski’schen Poetik“ (Sina 2012, 136). Insbesondere für die Anlage eines Archivs, unter Heranziehung der poetologischen Selbstauskünfte – „Ich entscheide über Tod und ewiges Leben“ (Kempowski 2005a, 315) – und dem Mitleidsbegriff, wird eine „totenkultische Archivpraxis“ (Sina 2012, 142) und schließlich eine „Apotheose“ (Sina 2012, 141) zum „Archiv- und Autorgott“ (Sina 2012, 145) angenommen. Die Aussage seinem Biographen gegenüber – „Der christliche Erlösertod war mir allerdings immer unverständlich. Ich fühle mich durch die Leiden Christi nicht erlöst“ (Hempel 2007a, 244)  – wird dahingehend interpretiert, dass Kempowski sich selbst an die Stelle Christi setzt und als Erlöser der Menschen in und durch sein Werk fungiert (vgl. Sina 2012, 111, 136, 252). Mit dem Echolot verfolgt Kempowski, so die These, eine Vereinigung von Opfern und Tätern, die beide Seiten unter der religiösen Anthropologie – „Wir sind allesamt Sünder“ (Röm  3,23)  – gleich macht. Damit „erhebt“ Kempowski im Rahmen seiner poetologischen Selbstauskünfte sein Echolot „in den Stand eines Versöhnungswerks“ (Sina 2012, 148, Hervorhebung im Original). Der Verzicht auf Wertungen in der Deutschen Chronik ist ebenso wie das Prinzip der Stimmenvielfalt im Echolot der Überzeugung geschuldet, dass nicht dem Menschen,

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3  Systematische Aspekte

sondern einzig und allein dem heute noch fernen Gott – ‚bis er wiederkommt‘ – der letzte Richterspruch und die Umsetzung vollständiger Universalität zusteht“ (Sina 2012, 164, Hervorhebung im Original).

Auf der Grundlage der Poetik ist Kempowski eine Demutshaltung zu attestieren, die durch „ein Sich-Fügen in den heilsgeschichtlichen Plan“ (Sina 2012, 165) gekennzeichnet sei. Allerdings: Der kunstreligiöse Anspruch einer Heilung der Welt und die religiöse Überzeugung, dass es eine wahre Universalität nur bei Gott geben kann, geraten vor diesem Hintergrund in eine für Kempowski charakteristische Spannung, die grundlegende Folgen für die Konzeption des Werks hat und Fluchtpunkt meiner Werkanalyse sein wird (Sina 2012, 165).

Die Aussage „Alles umsonst“, die sich durch die Deutsche Chronik hindurch zieht und die dem letzten zu Kempowskis Lebzeiten veröffentlichten Roman den Titel gibt, ist aus Martin Luthers Choral Aus tiefer Not schrei ich zu dir entnommen. Sie kann dann, vor der Folie des angenommenen kunstreligiösen Anspruchs Kempowskis, nur noch als dessen „Kränkung“ (Sina 2012, 254) verstanden werden. 2.3  Die Spiegelung Gottes Die Spiegelung Gottes (vgl. Leber 2011) ist ein Titel, den Kempowski nach seiner Krebsdiagnose im November 2006 der Verfasserin für das theologische Dissertationsprojekt vorgeschlagen hat. Kempowski legte also selbst die Fährte zur theologischen Betrachtung seines Romanwerks (vgl. das abgedruckte Autograph in Leber 2011, 6). Der erste Arbeitsschritt der Untersuchung widmet sich in konsequenter Textarbeit dem Romanwerk, das intertextuelle Bezüge zu der Frage analysiert, welcher Gott und in welcher Weise Gott im Romanwerk gespiegelt wird (vgl. Leber 2011, 27). Der zweite Untersuchungsteil geht dann noch einen Schritt weiter, indem er die ganze Thesenreihe zum Romanwerk im Rahmen eines erweiterten Textbegriffs anwendet und überprüft. Als Text werden nun auch das Leben und das Haus des Schriftstellers verstanden. Die Durchleuchtung der Mehrschichtigkeit des Kempowskischen Romanwerks rekonstruiert Formen und Motive, die deren religiöse Dimensionen demnach als Teil der intentio operis offen legt. Das religiöse Zeichenrepertoire, das dem Text zum Teil sehr versteckt zugrunde liegt, beinhaltet biblische Textbezüge, sakrale Räume, liturgische, insbesondere kirchenmusikalische Motive, religiöse Figuren, theologische Reflexionsfiguren und repräsentatives kirchliches Personal. Die Studie legt dar, nach welchen Mustern die intertextuellen religiösen Bezüge bearbeitet sind und dass sie in einem Höchstmaß Inhalt und Form prägend für Werk und Leben der Autorenfigur sind. Die Inszenierung seines Hauses (vgl. Hempel 2001) und die Inszenierungen in seinem Haus, einschließlich der Selbstinszenierung der Person und

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der Biographie, schließlich auch des (nicht versteckten) Sterbens können als ein eindrückliches Kunstwerk in den Blick kommen, bei dem Religion eine schlechthin konstitutive Rolle spielt. Kunst wird nicht Religion(sersatz), sondern Religion wird über alle Ebenen der Gestaltung hinweg und in unterschiedlichen Medien zum künstlerischen Gestaltungsprinzip. Da die religiösen Inskriptionen (vgl. Leber 2011, 317–340) den innersten Wesenskern der Person des Autors betreffen, werden sie deshalb mit tiefem Ernst und mit überzeugter Bestimmtheit für die Dauer seines Lebens als Auftrag verstanden, wie das Leben zu führen sei (vgl. Leber 2011, 376). Diese Lebensführung ist im Sinne einer devotio moderna zu betrachten. Diese erklärt, der Mensch diene Gott, sofern er sein Leben und seine Arbeit als göttliche Berufung versteht und entsprechend gestaltet (vgl. Leber 2011, 355  f.). Eine Lebenshaltung im Sinne der imitatio Christi, die in der devotio moderna angelegt ist, durchzieht das gesamte Romanwerk Kempowskis. „Imitatio Christi im Sinne Kempowskis lässt sich so beschreiben, dass er das Christus-Bild als überliefertes biblischtheologisches betrachtet und erfährt, wie dieser Christus den Menschen nahe ist in allem Leid und Glück“ (Leber 2011, 356–357). Im Leiden Christi sieht Kempowski das Leid der gesamten Kreatur gespiegelt. Die Analyse – insbesondere unter dem Modell ‚Inszenierung der Autorenfigur als Pastor‘ (Leber 2011, 175  ff.) – zeigt, dass die Rezeption des Werks als ‚Kunstreligion‘ auf keinen Fall in einem verengten Sinne als Konzept des Künstlerkults gelesen werden kann. Kempowski geht es einzig um das zu Vermittelnde  – und der Vermittler von Erlösung ist Gott bzw. Christus selbst. Seine Texte weisen auf Christus hin, sind also nicht selbst „Heilige Schrift“ (Leber 2011, 377). Sie können als kontextualisierte biblisch-christliche Ethik gelesen werden. Kempowski leistet mit seinem Romanwerk einen bedeutenden Beitrag zur narrativen christlichen Ethik. Seine Texte wirken durch ihre epideiktische Argumentation. Durch die Kontrastmethode werden die Lesenden zum Vergleich zwischen den Größen ‚Göttliche Weisung‘ und dem erzählten aufgerufenen Gegenstand menschlichen Handelns (indirekt) aufgefordert. Die Entscheidung des Menschen für die Seite Gottes ist für Kempowski die konkrete handlungsbezogene Negation der inhumanen Zeichen der Zeit sowie die Negation der Zerstörung von gewachsenen lebensdienlichen Traditionen (vgl. Leber 2011, 382). „Identifizieren mit Christus“ (ebd., 25), notiert Kempowski in sein Werktagebuch im Zusammenhang mit einer Orientierung in tiefer Not. Deshalb wird am Anfang der Untersuchung gefragt, welche biographischen Ereignisse die religiöse Deutung evozieren. Die aufgezeigten Schwellensituationen machen plausibel, dass die religiös-christliche Lebensdeutung in einem Erfahrungskontext steht, in dem das Leben nach Deutung ‚schreit‘, in Todesnähe und im Glück eines Neuanfangs (vgl. Leber 2011, 14). Das Romanwerk erzählt den Weg des Schriftstellers und seiner Figuren als einen Wechselprozess zwischen Verlieren, Suchen und Finden und VerlorenSein, Gesucht- und Gefunden-Werden. In allen menschlichen Erfahrungen des Gefunden-Werdens und des Angenommen-Seins wird Gott gespiegelt als der

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3  Systematische Aspekte

Leben-Schenkende, Rettende und Versöhnende. Der Leitgedanke des Romanwerks ist die Aufforderung an die Figuren und an die Lesenden, Gott zu suchen. Die Suche nach Gott ist das Gegenteil von Kriegsführung und Kriegsverherrlichung. Das ist Kempowskis klares Ausgangsbekenntnis, das er als Motto seinem in der Chronologie des Erzählten ersten Roman Aus großer Zeit voranstellt: „So ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen“ (Jer 29,13). Von diesem Motto ausgehend, entfaltet der Autor Szenen, in denen er selbst kirchliches Sprechen und Handeln dem Wort Gottes kontrastierend gegenüberstellt (vgl. Kempowski 1978a, 315  ff.). Kempowskis Romane sind Kirchen auf Papier, Dankeskirchen für erfahrene Rettung und Gnade Gottes (vgl. Leber 2011, 17  ff.). Das zeigt sich sowohl in der Analyse der Texte auf der Inhaltsebene als auch auf der Ebene ihrer Struktur. So beginnt beispielsweise Herzlich willkommen mit Ostern: Die Haftentlassung der Figur Walter wird als Auferstehungserfahrung erzählt. Der gesamte Roman hat vier Teile, die den vier Adventssonntagen entsprechen. Und: Es sind genau 24 Kapitel, die wiederum mit den 24 Adventskalendertüren gleichgesetzt werden können. Tatsächlich endet der Roman in der erzählten Zeit bei Advent und Weihnachten, mit der Erwartung des Retters Christus. Kurz vor Weihnachten kommt auch Robert frei und kehrt nach Hause zurück, was einer Erfahrung von Rettung gleichkommt. So spiegelt sich der rettende Gott der Gnade in den großen und selbst in kleinsten Strukturen und in Textblöcken des Romanwerks. Alle Leidenden werden im gesamten Romanwerk mit Christus identifiziert. Das religiöse Lebensdeutungsmodell gründet weiter auf der Imitation von Glaubenszeugen und der Adaption kirchlicher Tradition oder darin, dass in existentiellen Krisen sakrale Räume imaginiert werden. Diese Möglichkeiten dienen der Überlebensstrategie in tiefer Not. In seinen ersten Wochen in der Einzelzelle mühte sich Walter Kempowski beispielsweise in Ein Kapitel für sich, sein Schicksal als das eines selbstgewählten zu denken, und projiziert seine Eingeschlossenheit und seine Qual auf die Situation der Mönche und ihre Exerzitien. Dadurch stellt er eine erdachte Autonomie her, die ihm hilft, seine Situation anzunehmen. In kirchlicher Tradition bewegt sich Kempowski weiter in der Setzung: „Wer war Erasmus von Rotterdam? Wer Hieronymus im Gehäus?“ (Kempowski 1975a, 16; vgl. auch 382) Auch die Beantwortung dieser Fragen gehört zu Walters Überlebenstraining. Im Stehkarzer singt er das Ave verum (vgl. Kempowski 1975a, 383). In Analogie zum biblisch-theologischen Verständnis des Gedenkens intendiert Kempowski durch seine Erinnerungskultur die Initiierung eines Lernprozesses, der sich konkret mit der Erinnerung an Gottes Heilstaten verknüpft (vgl. Leber 2011, 353). 3  Prolog und Epilog des Romanwerks Mark und Bein ist, nach Gita Lebers These, der Prolog des Romanwerks. Der Roman erzählt, wie der Protagonist immer tiefer zu seinen Lebenswurzeln dringt. Er ist auf der Suche nach seinen Eltern, die er durch die Folgen des

3.10 Religion331

Zweiten Weltkriegs verloren hat. An dieser Geschichte entfaltet Kempowski sein großes Lebensthema: die Suche nach den und nach dem Verlorenen  – gegen das Vergessen. Dem Roman ist das Titel gebende Zitat vorangestellt: „Das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer denn kein zweischneidig Schwert, und dringt durch, bis dass es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens“ (Hebr. 4,12). Im biblischen Kontext des Hebräer-Zitats wird die ‚Verstockung‘ des Gottesvolks thematisiert, wie sie Kempowski durchgängig in den folgenden zwei Leitmotiven aufnimmt: „Höre Israel, du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst“ (5. Mos 6,5; 3. Mos 19,18; Lk 10,27) und „Sie haben Mose und die Propheten“ (Lk 16,29) als Kontrast zum Abfall von Gottes Wort im Romanwerk. Im Hebräerbrief 4,13 wird Gott als der Sehende vorgestellt. ‚Sehen‘ wird bei Kempowski zum zentralen Motiv, das die Menschen auszeichnet, die auf die Seite Gottes gestellt werden. Eingebettet ist die Paränese des Hebräerbrief-Zitats in ein Christus-Bekenntnis: „Weil wir denn einen großen Hohenpriester haben, Jesus, den Sohn Gottes, der die Himmel durchschritten hat, so lasst uns festhalten an dem Bekenntnis“ (Hebr 4,14). Im gesamten Werkschaffen Kempowskis geht es um dieses Christusbekenntnis als ein Eintreten für Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Friede als christlich-ethische Weisung. Der göttliche Hohepriester im Hebräer-Brief ist zugleich auch der menschliche Hohepriester, der die Menschen verstehen kann und mit ihnen leidet. „Er kann mitfühlen mit denen, die unwissend sind und irren, weil er auch selber Schwachheit an sich trägt. Darum muss er wie für das Volk, so auch für sich selbst opfern für die Sünden“ (Hebr  5,2  f.). Von dieser Stelle aus wird das Identifizieren mit Christus verstanden, sowohl im Sinne der stellvertretenden Sühne, als die Kempowski seinen Schreibprozess versteht, als auch im Hinblick auf das Mitleiden: das Leben in der Nachfolge Christi, nicht als Christus. Alles umsonst ist der Epilog zum Romanwerk: Der Mensch ist angewiesen auf Gottes Gnade und Gunst. Hatte sich die Figur Sowtschick in Letzte Grüße als Autor schon verabschiedet, so bleibt jetzt ein wirklich letzter Gruß mit einem Epilog für das Gesamtwerk. Mit diesem Roman hat Kempowski die Deutung des Arbeitens aus der Selbstinszenierung als ‚Pastor‘ am literarischen Gesamtwerk belegt und gefestigt: Es gilt, an Gottes Wort festzuhalten gemäß dem ‚Höre Israel‘, und in allem Tun bleibt, auf die Gnade Gottes zu hoffen. Die Figur des zwölfjährigen Peter wird am Ende von Alles umsonst in ein Rettungsschiff aufgenommen. Er ist heimatlos geworden, aber er hat die Katastrophe zunächst überlebt; die Aufnahme in das Rettungsschiff wird transparent für die Gnade Gottes. Der Roman Mark und Bein ist als Prolog zum Romanwerk angelegt. Hier geht es darum: Einer fährt zurück an den Ort seiner Geschichte in Ostpreußen, wo sein Leben und Schicksal als ‚Heimatloser‘, als ‚Verlorener‘ seinen Anfang nahm. Der Epilog erzählt, wie alles begann: Ein kleiner Junger wird heimatlos. Der „eliptoide Kreislauf des Guten und Bösen“ (Kempowski 1992a, 116) öffnet und schließt sich, und alles beginnt von Neuem.

332

3  Systematische Aspekte

Der Verweis auf ‚Gottes Gnad’ und Gunst‘ beschließt das gesamte Romanwerk, wodurch die Hoffnung auf die Rechtfertigung des Sünders durch den gnädigen Gott aufgezeigt wird. So wird der Akzent deutlich auf das ChristusGeschehen gelegt. Die biblischen Mottos und die Titel der beiden Romane (Prolog und Epilog) können als verdichtete Summe theologischer Reflexionen über die in den Romanen entfalteten großen Lebensfragen und Lebensthemen  – Schuld und Vergebung, Buße und Reue, Rettung als Gnade und folgende Dankbarkeit, Christus als Trost in tiefer Not und Nachfolge als imitatio Christi – gelesen werden, als Predigten des „Pastors Walter Kempowski“ (Kempowski 1992a, 175  ff.), als der er sich (auch) inszenierte. Der biblische Prätext und die davon abgeleiteten theologischen Traditionen respektive die kulturellen Transformationen der jüdisch-christlichen Lebensdeutungen bilden den Schlüssel für das Zeichensystem, das die Romane Kempowskis kompositorisch und inhaltlich durchzieht.

3.11 Rezeption Dirk Hempel

Mit Im Block (1969) und Tadellöser & Wolff (1971a) Anfang der 1970er Jahre zunächst weitgehend als sprachmoderner Autor anerkannt, galt Walter Kempowski am Ende des Jahrzehnts in weiten Teilen der linksliberal geprägten kulturellen Öffentlichkeit als Unterhaltungsautor mit Tendenzen zur Verharmlosung der Ereignisse im ‚Dritten Reich‘. Erst nach 1989, nach dem Ende der politischen Ost-West-Konfrontation und dem Rückgang ideologisch-polemischer Auseinandersetzungen im kulturellen Feld, erhielt Kempowskis Werk eine größere Anerkennung, die erneut die künstlerische Qualität seiner Werke hervorhob. Kempowskis erste Romane Im Block und vor allem Tadellöser & Wolff wurden von der Literaturkritik freundlich bis teilweise enthusiastisch aufgenommen. In der Welt am Sonntag hieß es: „Die Banalität des Bösen enthüllt sich in der Sprache, in Sprachpartikeln, oft wiederholten Redensarten und Witzchen“ (Tank 1971, o.  S.). Die Frankfurter Rundschau meinte: „Realität ist bei Kempowski nur noch bruchstückhaft zusammengesetzt: Erinnerungstrümmer, auf Karteikarten festgehalten“, „minutiöser kann das Leben einer gutbürgerlichen Familie in den Jahren 1939 bis 1945 kaum wiedergegeben werden“ (Scheible 1971, VI). Die Frankfurter Allgemeine Zeitung urteilte: „So genau hat das noch niemand beschrieben. Selbst Günter Grass nicht und auch nicht Siegfried Lenz  […] und die vielen anderen, die versucht haben, Familie und Jugend in Deutschlands großer Zeit darzustellen. An Detailtreue, Detailfreude, Detailbesessenheit übertrifft Kempowski alle“ (Scheffel 1971, 1 L). Vergleiche wurden angestellt mit den Bühnenprotokollen Carl Sternheims, dem Familienlexikon Natalia Ginzburgs, dem bürgerlichen Panorama

3.11 Rezeption333

Fontanes und den Buddenbrooks. Kempowskis Bestandsaufnahme der Nazizeit, so hieß es sogar, falle „wesentlich radikaler aus“ (Scheible 1971, VI) als etwa diejenige Thomas Manns in Doktor Faustus. Dabei reichte die Zustimmung über alle politischen Lager. Der Spiegel lobte das „ironische Zitat“, die „listigen Konjunktive“ (Becker 1971, 179). Selbst in der marxistisch orientierten Zeitschrift konkret wurde Kempowskis Beobachtungsfähigkeit hervorgehoben, „sein Ohr für falsche Töne“, sein „sanfter, zäher Sarkasmus“, sein „instinktives Gefühl für gesellschaftliche Wertigkeit“, sein „fein verteilter, unwillkürlicher Materialismus. Denn eben dieser Materialismus ist es, der den kritischen Realismus dieses Romans erst konstituiert“ (Fuchs 1971, 58). Die politische Intention des Autors wurde durchaus von allen erkannt und anerkannt. Die Kritiker schrieben von der „raffiniert unscheinbare[n] Chronik vom Leben und Sterben der Bürgerlichkeit“ (Ross 1971, LIT 9), von einem „scheinbar radikal unpolitischen Buch“ (Scheible 1971, VI), vom ideologischen Charakter des „Unideologischen“ (ebd.), von der Bloßstellung des „deutschen Spießers“ sowie seiner politischen Ideologie „mittels Sprachkritik“ (Becker 1971, 179) und sie hoben die „Deutungsabstinenz“ (Becker 1971, 179) positiv hervor. So galt Kempowski der Literaturkritik Anfang der 1970er Jahre für eine kurze Zeit als gesellschaftskritischer, experimenteller und moderner Autor. Gut zehn Jahre später jedoch findet sich davon in den Kritiken der Romane der Deutschen Chronik kaum etwas wieder. Das gilt auch für die akademische Sekundärliteratur. Dabei hatte Kempowski das mit Tadellöser & Wolff etablierte Erzählmuster sowohl inhaltlich als auch literarästhetisch kaum verändert. Kritische Untertöne deuteten sich allerdings schon in den ersten Besprechungen von Tadellöser & Wolff an, etwa in der Süddeutschen Zeitung, die eine Gefahr sah, dass sich der Stil gegen den Stoff und die Absicht des Autors durchsetze und diese umkehre: „Aus kritischer Beschwörung wird Erinnerungsseligkeit, ein Fest des gerührten Wiedererkennens“ (Blöcker 1971, o.  S.). In Uns geht’s ja noch gold (1972a) schien die Frankfurter Rundschau bereits eine Beschönigung der Nazizeit zu wittern: „Wiederholung der Realität in der Vorstellung bereitet Lust: das ist das Prinzip der Kunst, ihr nur schwer tilgbares affirmatives Moment“ (Scheible 1972, XI). Der Ansatz dieser Kritik wirkte zuerst im politisierten Intellektuellenmilieu, wie Michael Rutschky später als Zeitzeuge darstellte: „Seinerzeit, in den siebziger Jahren, habe ich Kempowski zu lesen vermieden. ‚Ein bürgerlicher Roman‘ hieß ‚Tadellöser & Wolff‘ damals noch im Untertitel, und mir schien das Buch die Nostalgie, eine grassierende Erinnerungsseligkeit betreffend das Dritte Reich zu bedienen mit seinen zahllosen Zitaten und Details“ (Rutschky 2003, 130). Mit diesen Vorbehalten und ihren rezeptionsgeschichtlichen relevanten Folgen stand Rutschky damals nicht allein (vgl. weitere Statements und Erinnerungen von Zeitzeugen bei Hempel 2007a, 148  ff. u. 213). Befördert wurde Kempowskis Außenseiterstellung in einer Zeit, da sich prominente Autoren für den Wahlkampf der SPD engagierten und junge Dichter

334

3  Systematische Aspekte

für die DKP ‚Stadtteilarbeit‘ leisteten (vgl. Reinhold 1982, 434–445, bes. 442), einerseits dadurch, dass er sich als ‚Liberaler‘ bezeichnete, den Kanzlerkandidaten der CDU des Jahres 1976, Helmut Kohl, für das Zeit-Magazin interviewte und sich weiterhin öffentlich gegen die DDR äußerte, in der er als Staatsfeind galt. Andererseits war es der Erfolg seiner Romane beim durchschnittlichen Lesepublikum, der ihn zusätzlich in Verruf brachte. Daran waren auch die Verfilmungen von Tadellöser & Wolff, Uns geht’s ja noch gold und Ein Kapitel für sich (1975/1979) durch Eberhard Fechner beteiligt. Der Film trug zwar zur Steigerung von Kempowskis Bekanntheit zur Popularität bei, aber Kempowskis diffizile Zeit- und Gesellschaftskritik mittels Erzähltechnik und Sprache gab der Film nicht adäquat wieder. Besonders nachteilig wirkte sich die Einführung einer erwachsenen Erzählerfigur im Tadellöser & WolffFilm aus, die sich sentimental an ihre Jugend im ‚Dritten Reich‘ erinnerte. Dadurch unterlief sie die eingeschränkte Perspektive des jugendlichen IchErzählers der Romanvorlage, die das Fehlen bestimmter, namentlich politischer Themen bedingt hatte. Der Sendetermin im Mai 1975 markiert einen Scheidepunkt in der Kempowski-Rezeption: Hier ein großer Teil Leser (oder auch nur Zuschauer), die dem Missverständnis eines vermeintlichen Wiedererkennens aufsaßen, einer ‚Genau so war es‘-Reaktion (vgl. Alfs und Rabes 1982), die die literatursoziologisch und rezeptionsanalytisch orientierte Forschung beschrieben hat, dort ein Teil der professionellen Kritik, die fortan den Film für das Buch nahm, über den Walter Jens in seiner Fernsehkritik in der Zeit geurteilt hatte, er zeige nur das sich mit dem Nationalsozialismus arrangierende Bürgertum, zeige aber nicht die Folgen dieser Verbindung. Von den Verbrechen der Nationalsozialisten, von Konzentrationslagern und Millionen Toten sei nicht die Rede (vgl. Momos [d.  i. Walter Jens] 1975, 24). Eine politisch ‚korrekte‘ Deutung, die nachträgliche moralische Bewertung der Vergangenheit, wie sie Christa Wolf fast zeitgleich in Kindheitsmuster exemplarisch vorgeführt hatte (vgl. Wolf 1976), fand man bei Kempowski nicht. Der Tenor bestimmte für viele Jahre einen großen Teil der öffentlichen Bewertung von Kempowskis Werken in den linksliberalen Jahren der Bundesrepublik und darüber hinaus. Sie findet sich vorwiegend in den Medien und Bildungsinstitutionen, auch wenn etwa Volker Hage schon 1982 den Vorwurf der Verharmlosung der Nazizeit bei Kempowski abgewehrt hatte: „So einfach ist es nicht. Wer genau liest, findet auch die Schatten, neben denen bürgerliche Behaglichkeit unbekümmert blüht und die sie manchmal selbst wirft“ (Hage 1982, 178). Auch Jörg Drews wies 1989 noch einmal darauf hin, „daß man Kempowski viel abgründiger und böser lesen muß, als dies meist geschieht, daß das Banale wie das Niedliche bei ihm immer hoch ambivalent auftauchen und gar nicht so harmlos dastehen, sondern eher grauenhaft wirken, und dies oft durch die täuschende Harmlosigkeit des Tons“ (Drews 1989, 13). In der Literaturwissenschaft fanden Kempowskis Werke wenig Beachtung, wie ein Blick in die Bibliographie der deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft zeigt (vgl. BDSL-online o.  J.). Für den Zeitraum 1985 bis 2012 finden

3.11 Rezeption335

sich 169 Einträge zu Kempowski – davon 32 bis 1995 –, hingegen gibt es zu Martin Walser 637, zu Peter Handke 1078, zu Christa Wolf 1304 und zu Günter Grass 1521 Einträge. Die Auseinandersetzung mit Kempowskis Werk reichte von marxistischer Fundamentalkritik (vgl. Mecklenburg 1977) bis hin zu Gesamtdarstellungen zur Gegenwartsliteratur, in denen Kempowski seit den 1970er Jahren gewöhnlich nur am Rande vorkam (vgl. Mattenklott und Pickerodt 1985; Delabar 1993; Delabar 1997; sowie Rötzer 1992). Eckehard Czucka stellte jedenfalls 2000 fest, dass „die akademische Abteilung für Gegenwartsliteratur die Rezeptionsverweigerung, die sie dem Autor Kempowski und seinem Werk angedeihen läßt, fast schon perfekt systematisiert hat“ (Czucka 2000, 57). Bis heute gehört Kempowski nicht zum Kanon der akademischen Lehre im Fach Neuere deutsche Literaturwissenschaft, von vereinzelten Lehrveranstaltungen seit den späten 1990er Jahren etwa an den Universitäten von Frankfurt a.  M., Kiel, Hamburg und Gießen abgesehen. Dissertationen und andere Qualifikationsarbeiten, Tagungen und Sammelbände bleiben weiterhin die Ausnahme (vgl. die Dissertationen Sina 2012; Leber 2011; Blomqvist 2009; und Calzoni 2005a; die Sammelbände Ladenthin 2000b; Damiano et al. 2005; Arnold 2006; und Hagestedt 2010a). Mit dem Verschwinden der ideologischen Konfrontationen im bundesdeutschen Kulturbetrieb seit 1989 änderte sich der Tenor der KempowskiRezeption in der Literaturkritik erneut. Exemplarisch dafür ist die überwiegend positive Reaktion auf das Erscheinen des ersten Teils von Echolot zu sehen, das etwa Frank Schirrmacher in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung im Herbst 1993 als „eine der größten Leistungen der Literatur unseres Jahrhunderts“ (Schirrmacher 1993, o.  S.) feierte. Das Echolot wurde auch im Ausland beachtet wie selten ein Werk der deutschen Gegenwartsliteratur (vgl. Kinzer 1994). Der Rezeptionsschub verstärkte sich nach den weiteren EcholotLieferungen 1999 und 2002 noch einmal. Einen Beitrag dazu lieferte auch die Beschäftigung einer jüngeren Autorengeneration mit Kempowski, allen voran Gerhard Henschel und Max Goldt, später auch Benjamin von Stuckrad-Barre, die sein Werk einem neuen Publikum erschlossen. Die Literaturkritik erkannte wieder verstärkt, wie schon zu Beginn der 1970er Jahre, die künstlerische Qualität der Werke Kempowskis an. In der Frankfurter Rundschau wurden nun vorsichtig „nachhaltige Wahrnehmungsdefizite“ eingeräumt: „Es sieht so aus, als sei Walter Kempowski […] bislang mißverstanden worden“ (Schütte 1994, ZB 3). Nach dem Tod des Autors ging das Interesse der Literaturkritik zurück, es blieb aber weiterhin ungebrochen, wie die Rezensionen der posthum erschienenen Werke zeigen. Die Kempowski-Stiftung Haus Kreienhoop sowie die Kempowski-Gesellschaft haben sich die Beförderung der Rezeption zum Ziel gesetzt, das sie durch Tagungen, Lesungen, Seminare und Publikationen zu erreichen versuchen.

336

3  Systematische Aspekte

3.12 Schuld Kai Sina 1 Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 2  Ebenen des Schuldbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 3 Poetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341

Der Begriff der ‚Schuld‘ ist für das literarische Selbstverständnis Walter Kempowskis von entscheidender Bedeutung; ausgehend von ihm lassen sich zentrale Aspekte seiner Autorschaft, seiner Poetik und seines Werks systematisch rekonstruieren. Dieser gewichtigen Stellung entsprechend handelt es sich um einen der zentralen Topoi im Kontext sowohl der publizistischen als auch der wissenschaftlichen Wahrnehmung dieses Autors. In biographisch-psychologisierender und damit per se reduktionistischer Zielrichtung wird Kempowski in diesem Zusammenhang bisweilen ein lebenslang andauernder „Schuldkomplex“ (Hempel 2001, 119) unterstellt. Angesprochen ist damit ein Problem, das der Autor selbst immer wieder und über einen langen Zeitraum hinweg als Grundlage seines literarischen Schaffens beschrieben hat (vgl. Sina 2012, 47–65). Kempowskis idiosynkratisch-synkretistischer Schuldbegriff umfasst unterschiedliche Facetten, die im Folgenden einzeln und in ihrem funktionalen Zusammenhang umrissen werden sollen. Bei dieser Rekonstruktion sind drei Dimensionen von einander zu unterscheiden: die individuell-biographische Schuld an der ‚Zerstörung‘ der eigenen Familie im Zuge der Festnahme und Inhaftierung nicht nur der eigenen Person, sondern zudem auch des Bruders und der Mutter; die kollektiv-historische Schuld der Deutschen (insbesondere des Bürgertums) in der Zeit des Nationalsozialismus; sowie die anthropologisch-religiöse Schuld des Menschen als solchem. Vorwegnehmend ist allerdings ein Vorbehalt zu formulieren: Aussagen zur hier verhandelten Frage können notwendigerweise nur vorläufiger Natur sein, solange die archivarische Erschließung und philologische Auswertung des äußerst umfangreichen Nachlasses – vor allem der darin bewahrten Tagebücher und Briefe  – nicht abgeschlossen sind (vgl. aus archivarischer Sicht zum Kempowski-Archiv Horn 2014; sowie zum komplexen Verhältnis von nachgelassenem und veröffentlichtem Material bei Kempowski Böttcher und Sina 2014, 11–17). Der vorliegende Text erfüllt daher weniger die Funktion einer Kanonisierung gesicherter Forschungsergebnisse. Stattdessen will er eine resümierende Zusammenführung des bisherigen Forschungstands vornehmen, um so eine Grundlage für die weitere wissenschaftliche Diskussion zu schaffen.

3.12 Schuld337

1 Quellen Kempowski äußert sich zur Schuldfrage in Bezug auf seine eigene Biographie, die deutsche Vergangenheit und das Mensch-Sein im Allgemeinen beständig und in verschiedensten Zusammenhängen. Daher lassen sich an dieser Stelle auch keine einzelnen Referenztexte anführen, sondern lediglich drei verschiedene Text- und Mediensorten konturieren, in denen sich aussagekräftige Äußerungen zum Thema finden: Zu nennen sind in diesem Zusammenhang erstens Kempowskis auto- und familienbiographische Romane, vor allem über die Haftzeit (Im Block, 1969; überarbeitete und illustrierte Fassung 1987c; sowie Ein Kapitel für sich, 1975a) und über die ersten Jahre nach seiner Freilassung aus dem Gefängnis Bautzen (Herzlich Willkommen, 1984). Hinzu kommen die expliziten oder impliziten, kürzeren oder eingehenderen literarischen Reflexionen zur Frage nach der Schuld der Deutschen zwischen 1933 und 1945 in jenen Romanen, deren Handlungen in der NS-Zeit sowie in der Nachkriegszeit angesiedelt sind (v.  a. Tadellöser & Wolff, 1971; Uns geht’s ja noch gold, 1972a; Mark und Bein, 1992a; Alles umsonst, 2006a). Es finden sich entsprechende Äußerungen zweitens in unterschiedlichen publizistischen Foren, sei dies im Dokumentarfilm Schuld als Schatten (vgl. Duyns 1991) oder in Interviews und Gesprächen, die im Folgenden zumindest ausschnitthaft Berücksichtigung finden. Zuletzt sind in diesem Zusammenhang drittens jene paratextuelle Elemente im Werk Kempowskis zu nennen, die der Kommentierung seiner literarischen Texte (und mithin der werkpolitischen Lenkung des Leser- und Forscherblicks [vgl. Böttcher 2014]) dienen sollen. So finden sich nicht nur in den veröffentlichten Tagebüchern immer wieder entsprechende Aussagen – im Falle der entstehungsgeschichtlichen Notizen zum Echolot wird hierauf sogar mit dem Titel Culpa hingewiesen (vgl. Kempowski 2005a) –, sondern auch in den jeweils kurzen Vorreden zu den Einzellieferungen des Echolot (1993–2005). In der Forschung, in der systematische Überlegungen zu diesem Themenkomplex immer noch die Ausnahme sind, finden sämtliche dieser drei Facetten Erwähnung. An dieser Stelle seien drei Deutungsansätze resümiert: 1. Hempel begreift die Schuld an der Inhaftierung der Mutter als psychischen Dreh- und Angelpunkt von Kempowskis Autorschaft und Werk (vgl. Hempel 2007a, 7 u. 250). Zugleich bezieht er sich in seiner Darstellung auf jenen kollektiven Aspekt der Schuldfrage und betont in diesem Zusammenhang die spezifisch literarische Produktivität der Schuldfixierung. Hempel spricht mit Blick auf Kempowski von einer „große[n] Entschuldungsarbeit, die seine ‚Deutsche Chronik‘ mit den Befragungsbänden  […] sowie das ‚Echolot‘ motiviert“ (Hempel 2007a, 70) habe. 2. Henschel vollzieht die bei Hempel entwickelte Differenzierung des Schuldbegriffs nach, indem er zum einen Kempowskis Übertragung der individuellen Verantwortung an der familiären Katastrophe auf die kollektive Ebene des „deutsche[n] Bürgertum[s]“ (Henschel 2009, 162, vgl. auch 155–177) hervorhebt und zum anderen – ebenfalls wie schon

338

3  Systematische Aspekte

Hempel, aber mit stärkerem Nachdruck  – auf eine religiöse ‚Überhöhung‘ hinweist. Offen bleibt allerdings, ob es sich hierbei um eine Art temporäre psychische Gegenreaktion auf die Erniedrigung der Hafterfahrung handelt, wie schon Dirks (1981, 21–23) konstatiert hat, oder aber um ein konstantes Selbstdeutungsprinzip nicht nur des jugendlichen Häftlings, sondern auch noch des späteren Autors Kempowski. 3. An diesem letztgenannten Punkt schließlich  – der Religion  – setzt Lebers Auseinandersetzung mit der Frage nach „Schuld und Leid, Rechtfertigung und Vergebung“ (Leber 2011, 199) an. Vor dem Hintergrund der komplexen Mehrschichtigkeit des Problems erscheint die Festlegung auf eine religiös-theologische Deutungsperspektive allerdings zu eindimensional. So klar sich aus der bisherigen Forschung der Schuldbegriff bei Kempowski in seiner semantischen Differenziertheit offenbart – also: individuell-biographisch, kollektiv-historisch, anthropologisch-religiös –, so wenig geklärt scheint die Frage, in welchem Gewichtungs- und Funktionsverhältnis die unterschiedlichen Akzentuierungen der Schuldfrage zueinander stehen. Hierzu im Folgenden. 2  Ebenen des Schuldbegriffs 2.1  Individuell-biographische Schuld Dass er durch sein Handeln die eigene Familie ‚zerstört‘ und dadurch eine lebenslang anhaltende Schuld auf sich geladen habe – zu dieser Selbstwahrnehmung seiner (vermeintlichen) Spionagetätigkeit für die amerikanischen Alliierten in den frühen Nachkriegsjahren und der daraus folgenden Inhaftierung nicht nur seiner eigenen Person, sondern auch des Bruders und der Mutter bekennt sich Kempowski beharrlich. Entsprechende Aussagen finden sich erstmals in frühen Tagebuchaufzeichnungen, später dann in den autobiographischen Romanen über die Haftzeit und die ersten Jahre nach der Haft sowie in vielen Gesprächen und Interviews. Ganz in diesem Sinne stellt Kempowski im Rahmen eines Pressegesprächs noch im Jahr 2001 fest: „Daß durch meine Schuld nicht nur ich, sondern auch meine Mutter und mein Bruder ins Gefängnis kamen, ist das Schlimmste, das mir widerfahren ist“ (Ankowitsch 2001). Anzumerken ist in diesem Zusammenhang allerdings, dass die Frage nach Kempowskis tatsächlicher  – also objektiv nachweisbarer  – Schuld an der Inhaftierung der Familienmitglieder durchaus umstritten ist. Kempowski selbst hat in diesem Sinne angemerkt: „Sie [die Mutter] erzählte mir dann auch, dass sie von einem Nachbarn denunziert worden sei! Das war für mich ein Schock, denn mit dem Kerl hatte ich auf einer Zelle gesessen. Wozu die Russen dann überhaupt noch meine Aussage brauchten, ist mir ein Rätsel“ (Michaelsen 2002, o.  S.). Im Sinne einer ‚biographischen Legende‘ (vgl. zu diesem Kontext grundlegend Tomaševskij 2000) führt Kempowski die schon früh einsetzenden Bemühungen um die eigene Familienbiographie, die später dann in die Arbeit

3.12 Schuld339

an den Familienromanen der Deutschen Chronik münden, auf die von ihm empfundene Verantwortung an der ‚Zerstörung‘ der eigenen Familie zurück. Die persönliche Schuld erscheint in dieser Darstellung als Ausgangs- und Kernpunkt seiner Romanpoetik im Ganzen: „Ich habe die Familie zerstört, nun suche ich sie auf Papier wieder aufzubauen“, heißt es im Tagebuch im Januar 1960 (Kempowski 2012, 269), und weiter im Modus der psychoanalytischen Plausibilisierung: „So wäre dann also mein Bemühen um die Biographie ein sublimiertes Schuldgefühl. Daher dieser alles verzehrende Eifer!“ (Kempowski 2012, 271) 2.2  Kollektiv-historische Schuld Vehementer noch als auf die individuell-biographische Schuld bezieht sich Kempowski in seinen Selbstkommentaren auf die kollektive Schuld der Deutschen in der Zeit des Nationalsozialismus. Dabei versteigt er sich immer wieder zu der Vorstellung, mit seiner Haft eine Schuldübernahme vollzogen zu haben. Bautzen steht in Kempowskis biographischer Erzählung für eine „selbstauferlegte Buße zur Sühne der Ungerechtigkeiten und der unglaublichen Verbrechen, die begangen worden sind“ (Duyns 1991). Auch wenn Kem­powski diese Überhöhung psychologisch reflektiert und dadurch rationalisiert – als eine sinngebende Überlebensstrategie, um in der Haft „gesund zu bleiben“ (Duyns 1991) –, wird sie doch zugleich ungebrochen aufrechterhalten, und zwar weit über die Haftzeit hinaus. Noch knapp drei Monate vor seinem Tod gibt Kempowski in einem Interview mit Blick auf Bautzen zu Protokoll: „Aber man muss bedenken, welche schreckliche Schuld die Deutschen auf sich geladen haben. Und die muss ja auch irgendjemand tragen. […] Ich habe stellvertretend gebüßt“ (Teuwsen 2007, 24). Diese selbstzugewiesene Position eines Stellvertreters – für seinen Roman Im Block erwägt Kempowski zeitweise den Arbeitstitel Der Vertreter  – nimmt unverkennbar religiöse Züge an. Die Haft wird in diesem Verständnis zur ‚Klosterzeit‘ und der Häftling zu einer Art monastischem Kreuzesnachfolger. Ebenso wie der Gekreuzigte mit seinem Leiden und Sterben die Schuld der Menschheit zu tragen hat, will der Häftling mit seinem „Opferleben“ (Kempowski 1975a, 21) die historische Schuld der Deutschen auf sich nehmen. Diese homologe Beziehung spitzt sich in einem kurzen Tagebucheintrag aus dem Jahr 1959 zu: „Identifizieren mit Christus“ (zitiert nach Dierks 1981, 21). In seinen postum veröffentlichten Haftgedichten findet sich dieses Selbstbild in versifizierter Form erneut, wodurch sich die bemerkenswerte Konstanz des christologischen Deutungsmusters abzeichnet: „Sohn warst du und Vater zugleich“ (Kempowski 2009a, 29). Auch in Bezug auf die historische Schuld der Deutschen sowie seine damit verbundene Stellvertreterstellung verknüpft Kempowski Leben und Werk aufs Engste: Wenn der Autor seine literarische Tätigkeit als „Sühneopfer“ (Kempowski 2009a, 53) bezeichnet, so wird damit insinuiert, dass sich in seiner dichterischen Arbeit fortsetze, was in der Haft begonnen wurde. Diesem

340

3  Systematische Aspekte

Opfergedanken entsprechend inszeniert Kempowski sein Schriftstellerdasein als einen Zustand der physischen und psychischen Aufzehrung, wie sie ähnlich bei selbsterklärten Vorbildautoren wie Thomas Mann (mit Blick auf Doktor Faustus) oder Arno Schmidt (in Bezug auf Zettels Traum) zu finden ist. Von Beginn an – mit erster und dann bald zunehmender medialer Präsenz – gibt sich Kempowski als ein Autor, dem sein Werk Unermessliches abverlangt: „1978/1979 müßte alles ausgestanden sein“ (Hage 2009b, 36), prognostiziert er in einem Interview schon 1972. Dabei hat sich Kempowski seine Aufgabe nicht ausgesucht; er hält beständig daran fest, ein ihm „verordnetes Lebenswerk“ (Kempowski 2001b, 152) zu erfüllen. Dem ‚Lebenswerk‘ ist aber keinesfalls nur die schriftstellerische, sondern die gesamte Existenz gewidmet, wodurch Kempowskis Selbstdarstellung einen Passionscharakter erhält: „Schreiben [ist] mein einziger Lebenszweck. Erst wenn ich gesagt habe, was ich sagen muß, kann ich aufhören“ (Linder 1974, 58). Auch die Gewissheit, der Einzige zu sein, der sich vollständig in den Dienst der Schuldübernahme stellt, kommt von Beginn an zum Ausdruck: „Ich muß ja die Chronik schreiben. Wer soll es denn sonst tun?“ (Hüttner und Will 1978, 104) Jahrzehnte später und in Bezug auf das Echolot kommt dieses Selbstbild noch entschiedener zum Ausdruck: „Das, was ich jetzt mache, hat noch nie ein Mensch vor mir unternommen“ (Kempowski 2005a, 348). Dass Kempowski die Arbeit an seinem Werk bisweilen in drastischer Zuspitzung als ein Martyrium erscheinen lässt und sein Sterben in späten Interviews als Vollendung eines großen Werkplans ausstellt, erscheint vor diesem Hintergrund nur konsequent. 2.3  Anthropologisch-religiöse Schuld Die Bedeutung der historisch-kollektiven Schuld für Kempowskis Autorschafts- und Werkverständnis darf ihrerseits nicht verabsolutiert werden, denn sie steht in einem engen Bezugsverhältnis zum religiösen Konzept der Erbschuld. An einer Stelle seines zweiten Haftromans Ein Kapitel für sich beschreibt der Ich-Erzähler die Essensausgabe im Gefängnis so: „Hinein ins Gewühl – das Geschiebe und Gestoße … Stimmengewirr aus jeder Richtung: Der babylonische Turm“ (Kempowski 1975a, 353). Der Bezug auf die babylonische Sprachverwirrung bringt neben der deutschen die menschliche Schuld an sich ins Spiel, die nach den alttestamentlichen Unheilsgeschichten benannt wird: „[D]enn das Trachten des Menschen ist böse von Jugend an“ (Gen 8,21). Aus dieser nun dezidiert religiös-metaphysischen Perspektive leitet sich für Kempowski überhaupt erst die Sühnbarkeit der historisch-kollektiven Schuld der Deutschen ab. Diesem Ansatz, den er im Rahmen eines in Bautzen filmisch aufgezeichneten Monologs umreißt, kommt eine Schlüsselstellung zu:

3.12 Schuld341 Die Schuldfrage [ist] für einen als Deutschen [natürlich] immer da […]. Aber mich hat das damals unglaublich gequält, weil ich […] nicht glauben konnte, dass Deutschland nun ein Land sein sollte, wo es besonders schlechte Menschen gäbe. […] Und da muss man doch irgendeine Möglichkeit haben, das abzutragen […]. Schuld kann doch nicht noch in tausend Jahren immer noch … ich meine: die Erbschuld, dass Menschen an sich böse sind, das ist ja zu akzeptieren. Aber jetzt dies Spezielle muss doch irgendwann einmal gesühnt werden. (Duyns 1991)

Die hier vollzogene Unterscheidung einer Erbschuld, die „zu akzeptieren“ sei, und der deutschen Schuld, die „gesühnt“ werden müsse (und könne), ist für Kempowskis Schuldverständnis sowie seine selbstzugewiesene Stellvertreterstellung als Häftling und Autor von entscheidender Bedeutung. Aus ihr ergibt sich ein für die Selbstdeutung des Autors grundlegendes Spannungsverhältnis, das zwei Tendenzen umfasst: einerseits die kunstreligiöse Überzeugung, die deutsche Schuld mit einem eigenen Werk möglicherweise irgendwann und irgendwie abtragen zu können; und andererseits die religiöse Gewissheit, dass der Mensch immer schon mit Schuld beladen ist, insofern alle Schuldabnahme notwendigerweise bloß vorläufiger Natur sein kann, „so lange, bis er [d.  i. der abwesende Gott] wiederkommt, oder so lange, bis er sich uns wieder zuwendet“ (Schmolze und Mierau 1979, 650; zum Spannungsverhältnis von Kunstreligion und Religion vgl. Sina 2012, 252–254). Vor dem Hintergrund dieser genuin religiösen Dimension des Schuldkonzepts ist zudem Kempowskis Mitleidsbegriff zu verstehen, der sich in seinen poetologischen Selbstaussagen immer wieder und über die gesamte Dauer seines Schriftstellerlebens findet: Die Schuldigkeit des Menschen schlechthin erscheint in dieser Perspektive als das „erbarmungswürdige Menschliche […], das uns allen gemeinsam ist“ (Hage 2009b, 31). Die ideologische Brisanz dieser von Barmherzigkeit getragenen und auf Versöhnung zielenden Perspektive liegt mit Bezug auf die deutsche NS-Vergangenheit – auch für Kempowski – auf der Hand und wird daher von ihm selbst ausdrücklich und offensiv durch eine kritisch-aufklärerische Perspektive ergänzt (vgl. Sina 2012, 137– 140, sowie 200  f.). 3 Poetik Sämtliche der hier nachgezeichneten drei Facetten des Schuldbegriffs bei Kempowski zeitigen spezifische Folgen für die Konzeption und die Ausgestaltung seines literarischen Werks. In Bezug auf die individuell-biographische Dimension gibt der Autor die Lesart mit dem oben zitierten Diktum bereits vor: Die Arbeit an den Romanen der Familienchronik erscheint als ein literarischer ‚Wiederaufbau‘ der in der Realität ‚zerstörten‘ Familienwelt. Der Titel der noch während der Studienzeit in Göttingen angefertigten Skizze Der Restaurator könne entsprechend, so Kempowski, „über mein ganzes Schreiben gesetzt werden“ (Kempowski 1979  f, 230). In dieser „Kompensationsanstrengung“ (Dierks 1981, 23) erkennt Dierks eine der wichtigen psychologischen Grund-

342

3  Systematische Aspekte

lagen für Kempowskis künstlerische Produktivität. Der naheliegende Versuch, aus dieser biographischen und mithin sehr eng eingestellten Perspektive eine Gesamtdeutung der Deutschen Chronik ableiten zu wollen, muss aber scheitern. Kempowski selbst hebt in diesem Sinne hervor: Eine „Variante des Allgemeinen“ werde anhand der „Familienkonstellation“ (Kempowski 2005a, 31) geschildert, die Romane seien „an eine Familie, nicht an meine Familie gebunden. Sie hat doch den Namen Kempowski behalten, aber ich bin nur von ihr ausgegangen“ (Schneider 1981, 108, Hervorhebung im Original). Nicht zuletzt reagiert Kempowski mit dieser Extension des Referenzrahmens auf ein öffentliches Meinungsszenario, in dem gerade der persönlichprivate Zuschnitt seiner Familienromane kritisiert worden ist (vgl. Sina 2012, 73–78). Blickt man entsprechend dieses Verallgemeinerungsanspruchs von der Ebene der kollektiv-historischen Schuld auf Kempowskis Werk, so ergeben sich daraus weitreichendere Interpretationsmöglichkeiten. In den Fokus rückt hier auf den ersten Blick die nüchtern-analytische Darstellung einer als idealtypisch konzipierten bürgerlichen Familie in Zeiten der Diktatur, einschließlich ihrer Vorgeschichte in der Kaiserzeit und Weimarer Republik (Aus großer Zeit, 1978a; Schöne Aussicht, 1981) sowie ihrem Weiterleben in den späten 1940er und 1950er Jahren (Uns geht’s ja noch gold, 1972a; Herzlich Willkommen, 1984). Darüber hinaus trägt die Einbindung der vielstimmigen Befragungsbände in den Werkzusammenhang der Deutschen Chronik einer kollektiven Aussageabsicht Rechnung (vgl. Kempowski 1973a; 1979b; und 1974a). Das Echolot schließlich macht sich diesen Fokus gänzlich zu eigen und markiert dies auch explizit durch seinen Untertitel: Ein kollektives Tagebuch. Zudem betont Kempowski in Bezug auf sein Werk ausdrücklich dessen Sühnefunktion: Sei dies in den kritisch-aufklärerisch akzentuierten Befragungsbänden, in denen ausgesprochen werden soll, was im kollektiven Bewusstsein bislang verdrängt wurde (hier rekurriert Kempowski auf den psychoanalytischen Ansatz der talking cure); sei dies im Echolot im Sinne eines romantischen „Zauberwort[s]“ und einer allumfassenden „Liebe“, die sich den Lesern im Zuge der Lektüre offenbaren und ihnen eine endgültige Aufhebung der historischen Schuldverhaftung und, mit ihr verbunden, eines kollektivpsychologischen Deformationszustandes ermöglichen sollen (Kempowski 1993a, Bd. 1, 7). Der Begriff der ‚Liebe‘ weist schließlich auf die poetische Produktivität der religiös-anthropologischen Dimension des Kempowskischen Schuldkonzepts hin, erweist er sich doch gerade in seinem allumfassenden Inklusionsanspruch als genuin christlich kodifiziert: Im Echolot führt dies zu einem gleichberechtigten Nebeneinander von ‚Guten‘ und ‚Bösen‘. Kempowski begründet diesen Ansatz mit dem Rekurs auf eine grundlegende Ambivalenz, die zum MenschSein an sich gehöre, ganz im Sinne einer anthropologischen Konstante: „Den Guten, die auch immer ein wenig böse sind, und den Bösen, die auch von einer Mutter geboren wurden, habe ich zugehört, und ich habe ihre Texte zu einem Dialog formiert“ (Kempowski 1993a, Bd.  1, 7). Deutlich erkennbar

3.12 Schuld343

weist diese poetologische Formulierung zurück auf Kempowskis Überzeugung einer allgemeinen Schuldhaftigkeit der Menschen, woraus ein entsprechender Mitleidsbegriff resultiert: Weil die Menschen als Menschen immer schon den Makel der Unzulänglichkeit teilen, sind Mitleid, Liebe und Vergebung im Miteinander auf Erden unerlässlich. In anderer und weniger expliziter Hinsicht zeitigt diese Grundhaltung Auswirkungen auf die narrative Gestaltung der Deutschen Chronik. Wichtig erscheint in diesem Zusammenhang, dass der Autor in seinen literarischen Texten jegliche ausdrückliche Bewertung der handelnden Figuren durch eine auktoriale Instanz unterlässt. Dies ist einer der zentralen Topoi der Kempowski-Rezeption: K[empowski] verzichtet auf jegliche Einordnung seines dargestellten Lebens in übergeordnete historische, politische oder psychologische Sinnzusammenhänge. Er protokolliert die vergangenen Ereignisse in voneinander unabhängigen, knappen Sequenzen und löst so die eigene Biographie in heterogene Realitätspartikel auf (Fischer et al. 2009, 362).

Der fast programmatisch anmutende Verzicht auf auktoriale Wertungen in den Romanen der Familienchronik beruht auf einer grundlegenden Skepsis des Autors. Danach befragt, warum er sich einer Bewertung des Dargestellten enthalte, antwortet Kempowski mit einer moralischen Rückfrage: „Denn welcher Mensch kann von sich aus sagen, dieser Weg ist richtig? Das kann nicht stimmen, das ist nicht nur heikel, sondern sogar verwerflich“ (Schmolze und Mierau 1979, 649). Anstatt also irgendeinen weltanschaulichen Standpunkt zum Maßstab des Be- oder Verurteilens der Figuren zu erheben, hält sich der Autor erklärterweise zurück. Die auch an dieser Stelle greifbare Verallgemeinerung („welcher Mensch“) legt nahe, diese Skepsis und Zurückhaltung auf die anthropologische Konstante der Schuldhaftigkeit zurückzuführen: Die Einsicht, dass allen Menschen – und damit eben auch dem Autor – das Ungenügen anhaftet, dass Gut und Böse im Mensch-Sein eine Einheit bilden, verbietet jede abgehobene Bewertung des Einen durch den Anderen in moralischer Hinsicht („verwerflich“). Die Grundhaltung des Mitleids mündet damit – in Entsprechung zum „erbarmungswürdigen Menschlichen“ (Hage 2009b, 31), von dem Kempowski spricht – in einen Akt der Barmherzigkeit, der in diesem Fall als ein NichtErheben des Autors über die Figuren und die Geschichte, als literarische Anerkennung des Menschen in seiner Unvollkommenheit zu verstehen ist. Kaum verdeckt wird damit das Modell einer allgemeinen Versöhnung zum Ausdruck gebracht. Unter dem Vorzeichen der Unzulänglichkeit des menschlichen Wesens und einem sich daraus herleitenden universellen Mitleid werden Gute und Böse in Vergangenheit und Gegenwart als Einheit konzipiert. In diesem Ansatz ist Kempowski einer genuin religiösen Ethik verpflichtet, wie er sie bei Hanns Lilje hat kennenlernen können, dessen Monographie über Martin Luther sich in der Nachlassbibliothek in Haus Kreienhoop findet:

344

3  Systematische Aspekte

Demnach resultiert das Gebot der Liebe aus der „Unzulänglichkeit des Menschen“, durch die er „ständig der Vergebung bedarf“ und daher auch selbst „Nachsicht“ und „Vergebung“ gegenüber seinem Mitmenschen üben solle (Lilje 1965, 122). Kempowski versteht sein Sühnewerk in diesem Sinne als ein umfassendes Versöhnungswerk, womit er sich in die Nähe des von ihm bewunderten Ernst Jünger und dessen Schrift Der Friede (1945) bringt: Hier wie dort wird nämlich „[v]on den historischen Rollen als Täter und Opfer […] eine Menschheit abstrahiert, ein kollektiver Sprachkörper, der eine schicksalhafte Erfahrung, den Krieg teilt. Aus historisch Verschiedenen werden aneinander schicksalsmäßig Verbundene“ (Penke 2014, 129, Hervorhebung im Original). Dass sich Kempowski genau wie Jünger den Vorwurf einer relativistischen Geschichtsdeutung eingehandelt hat, erscheint vor diesem Hintergrund fast unvermeidlich. Eben darin besteht das Risiko seiner innovativen Geschichtspoetik, die gleichermaßen von Liebe und Skepsis getragen ist.

3.13 Sprache Hans-Werner Eroms 1  Mikrostrukturelle Stilistika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 2  Makrostrukturelle Stilistika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 3  Andere Werkgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353

Walter Kempowskis Werk lässt sich mit einem Zugriff, der von der Fokussierung auf die Sprachform getragen ist, als im höchsten Maße eigenständig und einheitlich verstehen. Zwar scheint auf den ersten Blick in seinen Romanen die Verwendung von eher der Alltags- und Umgangssprache angenähertem Sprechen der Figuren zu dominieren. Die Missdeutungen des Kempowskischen Werkes in der literarischen Kritik sind freilich vielfach dargestellt worden (vgl. dazu Henschel 2009, 19–75). Es gibt tatsächlich so gut wie keine sprachreflektierenden Partien des Autors. Vor allem, wenn man die gleich nach dem Erscheinen von Tadellöser & Wolff auch von der Leserschaft aufgenommenen Redeweisen und stereotypen Floskeln wie „ansage mir frisch“ oder „Gutmannsdörfer“ betrachtet, scheint hier ein bloßes Abbild aktueller oder zeittypischer Sprechweisen vorzuliegen. Im Vergleich mit der hochstilisierten Schreibweise etwa von Günter Grass oder Martin Walser erweckt Walter Kempowskis Stil den Anschein von großer Direktheit und ungebrochener Natürlichkeit. Eine solche unreflektierte Sichtweise würde aber vollkommen verkennen, dass die stilistische Einschätzung der Schreibweise eines Schriftstellers zunächst einmal die Basis für die Bewertung zu etablieren hat, dann die verwendeten Mittel genauer analysieren und in das Gesamtgefüge des Werkes einordnen muss (vgl. Eroms 2014, 134  f.). Sodann ist das gefundene Ergebnis auf den Inhalt des Werkes zu beziehen. „Die Form ist der höchste Inhalt“ (Damiano 2005b,

3.13 Sprache345

176), hat Kempowski im Gespräch mit Carla Damiano gesagt. So darf davon ausgegangen werden, dass Kempowskis Sprache und Stil von einem bewussten Gestaltungswillen geprägt ist, der die direkten und auf den ersten Blick ungefilterten Sprechweisen der Figuren in den Werken gerade in diesen Stilzügen in eine Darstellungsweise einordnet, die den einzelnen Stilelementen ihren Platz in einem Gesamt zuweist, das von hohem Sprachbewusstsein getragen ist. In der Tat ist Kempowskis Sprache und Stil trotz einer auch von ihm selbst thematisierten Entwicklung durch große Einheitlichkeit gekennzeichnet. In einem Interview von 1972 sagt Walter Kempowski: „Die stilistischen Mittel werden sich sicher ändern; die ändern sich von Buch zu Buch, von Thema zu Thema“ (zitiert nach Hage 2011, 37). Aus den in Wenn das man gut geht! (vgl. Kempowski 2012a) abgedruckten Selbstzeugnissen lässt sich gut erkennen, wie sich Kempowskis Schreibweise allmählich festigt. Dieses Werk aus dem Nachlass dokumentiert auch, dass Kempowski seine sprachlichen und darstellerischen Mittel durchgehend reflektiert und Anregungen sowie Vorschläge seiner Kritiker bereitwillig aufgenommen hat, insbesondere die zu seinen ersten Romanentwürfen verfassten Gutachten von Hans Magnus Enzensberger und Peter Rühmkorf und von seinem Freund Klaus Beck, dem Bildhauer (vgl. Kempowski 2012a, 344–347, 417  f. u. 428). Stilistisch gesehen müssen sich sprachliche Elemente im mikrostrukturellen Bereich und analoge Mittel in makrostruktureller Hinsicht entsprechen, wenn einem Werk ein hoher Rang zukommen soll. Das ist bei Kempowski vollkommen gegeben, und zwar in zweifacher Hinsicht. Einerseits sind die analytisch aufzudeckenden sprachlichen Mittel, die er verwendet, auf einer primären Ebene verknüpft mit dem, was sein Werk in seiner Intention kennzeichnet. Andererseits lässt sich das Gesamtwerk stufenweise von einem einheitlichen Gestaltungsprinzip her verstehen. Die Basis-Mittel sind grammatisch relevante Phänomene wie die Verwendung bestimmter Satz- und Verbmodi. Sie verweisen darauf, dass diese Mittel nicht arbiträr eingesetzt werden oder einfach den Gebrauch in gewöhnlichen Sprachsituationen abbilden, sondern dass sie bewusst und konsequent die Grundintention Kempowskis betreffen. Sie sind die mikrostrukturellen sprachlichen Mittel des Werkes, um die einer Grundintention unterworfene präzise Abbildung des 20.  Jahrhunderts auf allen Ebenen vorzunehmen, diese Wiedergabe zu koordinieren und der Leserschaft zur Auseinandersetzung zuzuführen. Dazu setzt Kempowski das Instrumentarium einer spezifischen Fragetechnik, eines raffinierten Modusgebrauchs und einer charakteristischen individuellen Sprechhaltung seiner personalen Szenerie ein. Deutet diese Gleichheit bereits auf einen Ostinato-Ton der sprachlichen Mittel seines Werkes, so wird diese Beobachtung auf der makrostrukturellen Ebene bestätigt durch die Tatsache, dass sich das Gesamtwerk als ein einheitliches Vorgehen zu erkennen gibt. Was sich durchaus als Montage/ Collage erfassen lässt, ist mehr als ein bloßes Zusammenstellen von Wirklichkeitselementen. Es ist die vom Autor vorgenommene strikte Einordnung des Gesammelten und Gefundenen in eine Gesamtstruktur, die der Leserschaft zur Bewertung angeboten wird.

346

3  Systematische Aspekte

1  Mikrostrukturelle Stilistika 1.1  Fragen und Fragesätze Mikrostrukturell zeigt sich dieses einheitliche Gestaltungsprinzip auffällig in der Verwendung der Satzmodi. Insbesondere sind es die Fragesatztypen, die Kempowski virtuos variiert und zur Pointierung seiner Aussagen einsetzt. Er verwendet nicht nur die beiden Grundtypen – die Entscheidungs- und Ergänzungsfragen –, sondern auch eine Reihe von zum Teil sehr ausgefeilten Spezialformen (vgl. für eine genauere quantitative und qualitative Auswertung Eroms 2002). Kempowski setzt in seinen Romanen so gut wie alle Fragetypen ein, kombiniert sie miteinander und schiebt indirekte und direkte Formen in- und übereinander. Für die Bewertung dieser in der deutschen Gegenwartsliteratur einmaligen Methode ist es wichtig, nach ihrer Funktion im Werk zu fragen. Sind es Strukturen, die bei Zitaten die direkten Fragen der Handlungsfiguren wiedergeben, also reale Belege? Oder beziehen sie sich auf die Autor-Erzähler-Leser-Kommunikation? Zwar lässt sich häufig eine Entscheidung treffen, in vielen Fällen aber bleiben Quelle und Adressatenschaft offen. Zudem findet sich bei Kempowski nun eine weitere Schichtung, nämlich eine, bei der ganze Abschnitte durch solche Techniken als ‚in Frage stehend‘, ja als ‚fraglich‘ gekennzeichnet werden. Dies führt zu der Überlegung, ob das Befragen, das bei Kempowski eine ganze Werkgruppe kennzeichnet (vgl. Ladenthin 2005, der die Kunstform dieser Werkgruppe herausarbeitet), nicht ein grundsätzliches Mittel ist, um damit nicht nur Autor und Leserschaft in direkte Beziehung zu setzen, sondern mehr noch, um eine Grundhaltung zu bezeichnen, die alles wieder und wieder befragt, die hartnäckig nachfragt und keine Ruhe gibt, bis die letzte Frage beantwortet ist (vgl. zur Fragethematik Hempel 2004, 21). Für Kempowski ist das bohrende Fragen bekanntlich zur Lebenshaltung geworden. Die unablässigen Fragen der Figuren in seinen Werken entsprechen also seiner Grundhaltung als Autor und als Person. Dabei wird auffällig: Zunächst einmal werden die unablässig aufgeworfenen Fragen so gut wie nie beantwortet. Die Figuren stehen bei Kempowski überhaupt in den seltensten Fällen im Dialog. So bleiben auch die mit Fragen benannten Probleme als Fragen im Raume stehen. Kempowski entlässt seine Leser nicht mit fertigen Antworten, sondern stets mit offenen Fragen. Die Fragetechnik deutet sich bereits in seinem ersten Roman Im Block an, wenn sich etwa der Erzähler fragt: „Würde man hier später einmal eine Bronzetafel zur Erinnerung an meine Leidenszeit anbringen?“ (Kempowski 2004a, 7) Sie ist voll ausgebildet in Tadellöser & Wolff und kulminiert in seinem letzten Roman Alles umsonst. Dabei reihen sich in Tadellöser & Wolff oder in Uns geht’s ja noch gold Fragesituationen eher additiv an, wobei allerdings die Zielrichtung dieser Fragen nicht unbedingt auf die zitierte Figur zentriert ist: „Ob die sich wohl nachts trafen? Im Keller oder auf dem Dachboden? Pläne schmieden, wie Deutschland zu retten ist? ‚O daß uns doch ein neuer

3.13 Sprache347

Schill entstehen möge‘? Vielleicht eine Landsknechtstrommel aufstellen und aus Trotz nicht rauchen.“ (Kempowski 1972a, 153) In Alles umsonst münden die Frageketten in die Markierung grundsätzlicher Tatbestände oder auswegloser Situationen: „Winkte er ihm noch? War nun alles gut?“ (Kempowski 2006a, 381) Mit dieser Entscheidungsfrage schließt der Roman. Am Ende steht also eine Frage, die, wie die vielen hundert anderen in dem Buch, nicht beantwortet wird und nicht beantwortet werden kann (vgl. Feuchert 2007). Fragen beschließen auch andere Werke: So endet Mark und Bein mit der indirekten Frage „Was das nun wieder zu bedeuten hatte?“ (Kem­pows­ ki 1992a, 237) Und Heile Welt schließt nach einer längeren Fragekette mit der Vergewisserungsfrage: „Den Kopf würden sie ihm schon nicht abreißen, schließlich herrschte über einen Sünder, der Buße tut, mehr Freude im Himmelreich als über neunundneunzig Gerechte – so hieß es doch?“ (Kempowski 1998, 479) Auch hier wird die Vergewisserungsfrage verbunden mit einer noch grundsätzlicheren Vergewisserungsmöglichkeit, dem Bezug auf den Bibeltext. Es ist ein Beleg für die subtile und alles andere als direkte Ausdrucksweise, die Kempowskis Werk kennzeichnet. 1.2  Verbmodus: Indikativ und Konjunktiv In literarischen Texten ist der verbale Modus für die Konstellation Autor – (fiktiver) Erzähler  – Handlungspersonal  – Leserschaft von herausragender Bedeutung. Mit der Variation der im Deutschen besonders reichhaltigen Mittel lässt sich das Beziehungsgefüge zwischen Verfasser, Roman und den Adressaten maßgeblich steuern. Kempowski nutzt diese Möglichkeiten virtuos und zumeist intuitiv. In einer Tagebucheintragung vom 27. Oktober 1969 heißt es: „Zur Lesung mußte ich auch ‚Block‘ noch mal durchgehen, würde vieles anders machen. Im ganzen aber richtig. Konjunktiv-Unsicherheiten“ (Kempowski 2012a, 588). Er reflektiert allerdings über die stilistischen Leistungen des Konjunktivs im Vergleich mit der direkten Rede, was zeigt, dass er die Mittel bewusst einsetzt (vgl. Hage 2011, 36). Denn seine Handhabung der verbalen Modi ist souverän und trägt entscheidend dazu bei, dem Erzählten den Stempel des absolut Authentischen aufzudrücken. Kempowski hat ein spezifisches Mischungsverhältnis entwickelt, mit dem er die an die verbalen Modi gebundenen grammatischen Kategorien so steuert, dass er mit der neutralen Berichtsversion, für die der Indikativ die verbindliche Form ist, der distanzierenden Konjunktiv I-Form, die die Wahrheitsgarantie vom Sprecher weg auf eine dritte Person verschiebt, und der hypothetischen und irrealen Markierung mit dem Konjunktiv II eine variable Konstellation schafft, die zwischen Autor bzw. Erzähler, den Handlungspersonen und der Leserschaft ein hoch differenziertes Beziehungsgeflecht erzeugt. Dazu treten zwei weitere Mechanismen des Referierens: die zitierte direkte Rede und der Bericht aus der Perspektive einer Handlungsfigur, ohne dass ein Referatssignal gegeben wird. Diese Formenverschränkung findet sich in den Romanen der Deutschen Chronik in so gut wie allen Teilen. Einige Beispiele mögen das beleuchten:

348

3  Systematische Aspekte

Sie wisse noch, wie mein Vater in grünen Knickerbockern beim Familientag erschienen wär, weil meine Mutter den Frack nicht eingepackt hatte. Gott, wie sei er wütend gewesen! Die arme Grethe. – Das habe aber auch ausgesehen: alle im Frack, nur mein Vater im Wanderanzug. ‚Ein origineller Kauz Dein Vater‘. ‚Das ist natürlich wieder alles falsch‘ und ‚iben‘. Was heißt das eigentlich, ‚iben‘? (Kempowski 1972a, 327).

Hier wird zunächst normgerecht im Konjunktiv I eine Äußerung angeführt („wisse“), die dann in den Konjunktiv II übergeht und die gewöhnliche sprechsprachliche Form, auch mit der Elision des ‚-e‘ verwendet („wär“), schließlich den Indikativ setzt („eingepackt hatte“) und dadurch das Erzählte unmittelbarer darstellt, als wenn der Gebrauch des Konjunktivs I durchgehalten worden wäre. Das weiter Berichtete wird sodann wieder mit dem Konjunktiv I angeführt, es folgt ein Zitat, das, wie bei Kempowski sehr häufig, ohne Verbum dicendi angeführt wird und dadurch das Berichtete ebenfalls unmittelbarer wiedergibt. Im Zitat findet sich ein eingelagertes Zitat, in dem eine Redeweise des Vaters angeführt wird. Trotz dieser höchst komplexen Wiedergabeformen wirkt das Erzählte einfach und echt. In späteren Werken wendet Kempowski den unmittelbaren Übergang vom Konjunktiv in den Indikativ noch häufiger an, verbunden mit der direkten Wiedergabe von Gesprochenem, wie in Letzte Grüße: Nicht lange saß er so da, da kam ein Beamter, tippte ihn an und sagte: Schlafen, das geht nicht, das darf er hier nicht, das ist verboten. Sowtschick holte den Reiseplan aus der Tasche und zeigte es dem Mann schwarz auf weiß: Er komme aus Deutschland, heiße Alexander Sowtschick und sei eingeladen von der Universität Philadelphia, und er warte darauf, daß man ihn abholt, aber es ist noch niemand gekommen. – Er warte schon seit einer Stunde… Ja, da konnte der Beamte auch nichts machen. Schlafen jedenfalls, das ginge nicht, das könne er hier in der Halle nicht machen. (Kempowski 2003, 113  f.)

Hier wechseln die Erzählperspektiven nicht nur zwischen den H ­ andlungsfiguren, sondern auch in Bezug auf die auktoriale Instanz, und zwar derart, dass eine völlig organische und suggestive Vermittlung der Szene hervorgerufen wird. Die nahtlosen Übergänge zwischen den Modusformen werden dazu noch verbunden mit anderen Verkürzungen: „Mit zwei Fingern griff sie ihm in den Mund, ob seine Zähne echt sind oder ob er eine Prothese trägt“ (Kempowski 2003, 199) oder „Endlich stieß er auf einen Wachmann, der ihn anleuchtete, wo er herkommt und was er hier zu suchen hat“ (Kempowski 2003, 200). Durch die Auslassung eines Redeeinführungsverbs wie ‚sagte‘ oder ‚fragte‘ wirkt die berichtete Tätigkeit direkter und unverblümter. Dadurch ist es ein mikrostrukturelles sprachliches Mittel, das zur Identifizierung des Lesers mit der sich ständig ungerecht behandelt fühlenden Hauptfigur Alexander Sowtschik beiträgt.

3.13 Sprache349

1.3  Schibboleths, Sprechstereotype Der Erfolg von Kempowskis Deutscher Chronik beruht auch auf der leitmotivischen Verwendung von stereotypen Redeweisen, die die Figuren unverwechselbar kennzeichnen. Das betrifft bereits die im Titel der ersten beiden Romane Tadellöser & Wolff und Uns geht’s ja noch gold angeführten Zitate. Mit den Aussprüchen und Redensarten, die die Figuren verwenden, werden diese nicht nur in ihren Eigenarten gekennzeichnet, sondern es sind auch gleichzeitig Formen, die ein zeittypisches Kolorit und damit Authentizitätssignale geben. Redeweisen wie ‚Wie isses nun bloß möglich‘, ‚darauf habe ich so einen Jiper‘, ‚Wohlaufgemerkt nun also‘, ‚daß einem das Blut unter den Fingernägeln hervorsprützt‘, ‚jija, jija‘ oder ‚Gut dem Dinge‘ werden über die Romangrenzen hinweg aufgenommen und sind damit auch intertextuelle Signale. Auch dieselben Figuren tauchen in verschiedenen Werken auf (vgl. dazu u.  a. Ladenthin 2000a, 34; Brand 2005; Eroms 2011, 134; sowie Hage 2011, 69). Schließlich finden sich auch Wörter und Begriffe, die sich durch das ganze Werk ziehen und Kempowskis zentrale Thesen bündeln. Es sei hier nur auf den Begriff der Schuld verwiesen, der in zahlreichen Werken Verwendung findet. Weil diese Leitmotivtechnik trotz aller Wiederholung dosiert eingesetzt wird und man als Leser auf ihre Anführung wartet, nutzt sie sich nicht ab, sondern stabilisiert im Gegenteil die Lektüre. Mit ihrer zeitgebundenen Form trägt sie darüber hinaus dazu bei, das Berichtete insgesamt zu verifizieren und die aus heutiger Sicht ‚politisch inkorrekt‘ erscheinenden Ausdrucksweisen als authentisch zu markieren, wie überhaupt in Kempowskis Werken keinerlei sprachliche Beschönigungen zu finden sind. Die Handlungsfiguren werden nicht aus einer rechtfertigenden Perspektive im Nachhinein gezeichnet, sondern verhalten sich in ihrem jeweiligen Zeitschnitt glaubwürdig. Das gilt selbstverständlich auch für die Figuren, die dem nationalsozialistischen Regime nahestehen: Dann paßte er [d.  i. Onkel Richard, der im Führerhauptquartier tätig ist] einen Moment ab, wo der Bräutigam nicht in der Nähe stand und flüsterte: demnächst gehe es wieder aufwärts. Er wisse das aus absolut sicherer Quelle. Die ganze Kraft des Reiches werde konzentriert, um noch in diesem Jahr die Entscheidung zu erzwingen. Ein einziger gewaltiger Schlag. Tausende von Panzern. Im Osten. Die Welt werde erzittern. (Kempowski 1971a, 290)

Mit dem nächsten Beispiel lassen sich die Stilzüge der Deutschen Chronik zusammenfassend belegen. Es wird eine längere Episode wiedergegeben, in der sich Walters Schwester mit einem Dänen verlobt hat. Der Autor nimmt hier vordergründig die auktoriale Erzählerperspektive ein. Aber vor allem zitiert er, denn sein Bestreben ist es, die abgebildete Zeitstrecke authentisch zu belegen. Die Figuren sind in diesem Roman über ihre Handlungen und mit ihren Zitaten besonders einheitlich gezeichnet. Sie entwickeln sich kaum, ihre Sprechweise ist immer gleich. Erzähler- und Figurenperspektive gehen ineinander über; insbesondere der Konjunktivgebrauch ist dafür aufschlussreich:

350

3  Systematische Aspekte

Nun kämmte sich meine Schwester eine Entwarnungsfrisur (alles nach oben!) und belegte in der Uni Dänisch. […] An das viele Dankesagen müsse sie sich erst gewöhnen. Aber das komme schon noch. […] Die Dänen wären nicht nachtragend. Die wären nett und freundlich und zuvorkommend. Ein gutartiges Volk. Sie gingen in einen Lichtbildervortrag über die dänische Landschaft. Hünengräber in der Heide. Eigentlich genau wie in Deutschland. Aber doch wieder ganz anders. Ob es stimme, daß es in Gedser gar keinen richtigen Strand gebe? Woas? Keinen Strand? Strand in rauhen Mengen! Ostsee, Nordsee, alles was man will. Dänemark sei das Land mit dem meisten Strand. Auch Berge gäb es in Dänemark, das sei weitgehend unbekannt. Mehr so Hügel. Aber ganz schöne Dinger. […] Beim Vortrag trafen sie sich mit verschiedenen Ausländern, die noch in der Stadt waren. […] Die Portugiesen hatten gerade abreisen müssen. Schade, auch so gebildete Leute. So kunstverständig. Und so einen ulkigen Hund! Zum Schießen! […] Die Deutschen seien wirklich widerlich, sagte Ulla. ‚Ein ekelhaftes Volk.‘ Wie die sich so vordrängten. Merkten gar nicht, daß sie störten. […] Fielen in andere Länder ein, achteten fremde Sitten nicht, zerstörten die Kultur, aber Kuchen essen, das wollten sie. Schon dieser Gang. So strambulstrig. Sie habe einen Obergefreiten beobachtet, also, das hätte sie uns gegönnt. ‚Nicht, Sven?‘ Arm im Gipsverband und den Gefrierfleischorden. […] Die Muténs hätten einen Sketch aufgeführt. Die Frau als Frau Lundal, die aus dem Lehrbuch für schwedische Sprache. […] Und denn kriegte die Frau es noch hin, daß er ihr beim Abtrocknen hilft. […] Sörensen wurde auf deutsche Weihnacht vorbereitet. Die sei was ganz Besonderes. So heimelig und tief. Da könne er mal das Gute an unserm deutschen Vaterland erleben, das Wertvolle. Und Ulla solle später dann dafür sorgen, daß auch ein wenig davon mit nach Dänemark komme. Das könne sich da denn ja verbreiten, könne ausstrahlen, künden. In alle Welt. (Kempowski 1971a, 270–274)

Dieses ausführliche Zitat enthält so ziemlich alle Eigenheiten der Kem­pows­ kischen Schreibweise. Es wird deutlich, dass hier die Zeit der 1940er Jahre wiedergegeben werden soll, und zwar in der Form von Facetten, Episoden und Situationsschilderungen. Das Zeitkolorit wird durch Quasizitate aus genau der Zeit vermittelt („alles nach oben“, „so heimelig und tief“, „Gefrierfleischorden“). Die Episode wird hauptsächlich aus der Perspektive Ullas berichtet. Es wechseln Redewiedergaben mit dem Konjunktiv I („An das viele Dankesagen müsse sie sich erst gewöhnen. Aber das komme schon noch“), aber auch mit dem Konjunktiv II („Die Dänen wären nicht nachtragend. Die wären nett und freundlich und zuvorkommend“). Bisweilen geht auch hier der Konjunktiv gleitend in den Indikativ über („Ob es stimme, daß es in Gedser gar keinen richtigen Strand gebe? Woas? Keinen Strand? Strand in rauhen Mengen! Ostsee, Nordsee, alles was man will“). In dieser Passage wird ein ganzes Gespräch wiedergegeben, mit Rede, Frage, Gegenrede. Sodann werden Zitate aus Ullas Bericht angeführt; entweder als vollständige Sätze in direkter Rede, in der z.  T. norddeutsches Sprachkolorit eingearbeitet ist („und denn“), oder

3.13 Sprache351

durch Zitatbrocken wie „Schade, auch so gebildete Leute. So kunstverständig. Und so einen ulkigen Hund! Zum Schießen!“ Es gibt hier keinerlei Beschönigungen oder Kaschierungen. So sind die kritischen Äußerungen über die Deutschen nicht als ‚politisch korrekte‘ Einsprengsel vermittelt, sondern gehören in das Gesamtspektrum der Sprachhaltung in den 1940er Jahren. Erst vor dieser Folie sind die Auslassungen der Mutter mit ihrer Ansicht über Ullas Aufgaben in Dänemark ebenfalls authentisch. 2  Makrostrukturelle Stilistika Die Musterung der hauptsächlichen sprachlichen Mittel, die Walter Kempowskis Werk kennzeichnen, hat gezeigt, dass trotz der erkennbaren und vom Autor selber bemerkten Entwicklung das Werk von großer Einheitlichkeit ist. Wenn sich schon die Einzelzüge auf den Inhalt hin gesehen als adäquat und kohärent deuten lassen, so ist zu vermuten, dass sich auch in makrostruktureller Hinsicht Werkübergreifendes erkennen lässt. Es ist daher der Nachweis zu führen, dass sich die einzelnen Formen, die der isolierten Betrachtung unterworfen und punktuell auf Gestaltungsprinzipien bezogen werden, in ihrer Gesamtheit zu einem geschlossenen Ganzen vereinigen. Der Zugang zu Kempowskis Werk wird meist mit der Etikettierung als Collage- oder Montagetechnik geführt. Zweifellos stellt sich Kempowski in diese Tradition, die spätestens mit Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz etabliert ist und sich auch in anderen poetischen Gattungen findet, etwa in der Lyrik Gottfried Benns. Hier wird mit der Verbindung von heterogenen Texten und Textelementen Wirklichkeit abgebildet und gedeutet. Doch damit werden die große Einheitlichkeit des Gesamtwerks von Walter Kempowski und sein Gestaltungswille noch nicht ausreichend erfasst. Es liegt dem Gesamtwerk ein vom Autor unablässig thematisiertes Bemühen zugrunde, die Welt sprachlich so zu erfassen, dass sie sowohl in ihrer Vielgestaltigkeit als auch gerade in ihrer Gleichförmigkeit abgebildet wird. Die Vielschichtigkeit der Welt offenbart sich in der Gebrochenheit, der Skurrilität, der Idiosynkrasie der Figuren und in deren unterschiedlicher Sprachhaltung zur Genüge. Setzt man bei den kleinsten Bausteinen dieser Darstellungstechnik an, dann zeigt sich die Bruchstückhaftigkeit an den sogenannten unvollständigen Sätzen, den ständigen Fragen und Nachfragen, die auf das ‚Fragliche‘ der Handlungen der Figuren verweisen, oder an den Marotten, die sie sprachlich und in ihrem Verhalten kennzeichnet. Stufenweise aufsteigend sind in den Textcollagen die Syntagmen und die Sätze, sodann die Abschnitte, danach die Gesamttexte, die zu Büchern zusammengefast sind, immer Bruchstücke dargestellter Wirklichkeit. Sie umfassen dabei entweder atomare, elementare Ereignisse bzw. Facetten oder größere Komplexe. Aber eine solche Zusammenfassung und Zusammenschau der einzelnen Teile in den Büchern und Werkgruppen wird der Gestaltungsabsicht des Autors immer noch nicht gerecht. Kempowski hat vielfach darauf hingewiesen, dass er sein Schaffen zwar als aus vielen Facetten bestehend auffasst,

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3  Systematische Aspekte

aber als Gesamtœuvre intendiert hat: „Meine Romane sind Großformen, in denen eine Ballung von Kleinformen aufgeht. […] Die einzelnen Textblöckchen, die Zellen, sind recht bewußt konstruiert“ (zitiert nach Hage 2011, 36). So ordnen sich konsequenterweise die Werke und die Werkgruppen mit ihren je spezifischen Darstellungsabsichten auch zu einem opus magnum zusammen, bei dem die einzelnen Gruppen und Einzelglieder als größere oder kleinere, immer aber als im Prinzip gleichartige und gleichberechtigte Teile des Gesamten erscheinen. Alle gehorchen den gleichen Darstellungsprinzipien und erst in der Zusammenschau wird deutlich, dass die Mikroelemente den Makroelementen entsprechen und sich konsequent von unten nach oben vereinigen. Eine solche Darstellungsweise lässt sich als ‚fraktales Bauprinzip‘ bezeichnen. Fraktale Gestaltung, bekannt durch Darstellungsprinzipien der Mathematik, der Physik oder der Geographie, lässt sich auch in den Kultur- und Geisteswissenschaften erfolgreich anwenden. Insbesondere in der Kunst wird von fraktaler Bauweise vermehrt Gebrauch gemacht. Es sei nur an die Graphiken des ungarischen Malers Victor Vasarely erinnert. Für die Erfassung poetischer Bauprinzipien sind fraktale Deutungen erfolgreich für die Lyrik angewendet worden (vgl. Birken und Coon 2008). In der Lyrik, etwa in Sonetten, sind gleichartige Aussagen vers-, strophen- und gesamttextbezogen häufig anzutreffen. Aber auch in der Prosa lässt sich dieser Gestaltungswille aufzeigen (vgl. Fix 2011; u. Eroms 2014). Das Werk von Walter Kempowski ist dafür ein Musterfall. Einerseits ist Fraktalität bei ihm auch in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes zu begreifen: Die abgebildete Wirklichkeit wird in Teile zerlegt und in ihren atomaren Bestandteilen gezeigt. Aus seinem Nachlass sei die folgende Tagebuchstelle vom 15. Dezember 1963 angeführt: Ich will alle meine erzählenden Bautzen-Manuskripte in kleine Pillen zerlegen, auseinanderzerren, als Elemente benutzen.  […] Dazu Gutachten, Briefe, Biographie und Briefe meiner Mutter, Glossen, Zeitungsmeldungen. […] Alles das wird zerlegt in ‚Elemente‘, in einem großen Zettelkasten gespeichert und dann neu zusammengesetzt. (Kempowski 2012a, 430)

Dieses Gestaltungsprinzip bezieht sich auch ganz folgerichtig auf die vom Kleinsten bis zum Größten fortschreitende Ausformung seines Gesamtwerks. Schon in Tadellöser & Wolff fällt als Erstes ins Auge, dass Kempowski das, was er erzählt, in Fragmenten und Momentaufnahmen wiedergibt. Dafür ein Beispiel: Bei Sonne saßen wir auf dem Balkon. Gartenmöbel waren nicht vorhanden, wir trugen Stühle hinaus. (‚Das Wetter ist hier auszuhalten, liebe Mutter. Das gehört sich auch so, oder findest du nicht?‘) Sich im Fenster spiegeln, Haar sitzt gut. Zeiss-Umbral, Nivea-Creme und Gott sei Dank eine Armband-Uhr, von Robert geerbt. Verkehrtrumdrehen, Uhr nach innen, Verschluß nach außen. Schade, daß man keine Münze hatte oder so etwas. (Kempowski 1971a, 355)

3.13 Sprache353

Beobachtungssplitter werden hier zu einer kohärenten Szene zusammengeschlossen. Die sprachlichen Bausteine sind teilweise im ursprünglichen Sinne fraktal, denn es sind vielfach nur nominale Nennungen, keine vollständigen Sätze. Diese begegnen dem Leser zwar auch, erscheinen aber nur durch den Bezug auf die sich herauskristallisierende Situation miteinander verbunden. Dabei sind es die Zitate realer Gespräche als Einschübe, wie in dem obigen Beispiel, die Kempowski mit Kommentaren der Handlungsfiguren verbindet. Der ganze Roman besteht aus Hunderten solcher Miniaturen. Trotzdem schließt er sich zu einem kohärenten und konsequent gestalteten Abbild der Lebensweise einer deutschen bürgerlichen Familie der 1930er Jahre zusammen. Die Kohärenzlinien sind einerseits die Konstanz der Figuren, die in ihren sprachlichen Idiosynkrasien unverändert bleiben, andererseits der Bezug auf den in den Facetten immer deutlicher werdenden Zeithorizont. Vor allem liegen sie aber in der fraktalen Gestaltungsweise selbst: Die Leserschaft erfasst die dargestellte Wirklichkeit brockenweise. Die kleinsten ermittelbaren Elemente setzen sich stufenweise bis zu den größten im Prinzip gleichartig fort. Das ist bei Kempowski in allen seinen Werken der Fall. Dies gilt, wie gezeigt, bereits für die untersatzmäßigen Strukturen, die häufig fragmentarisch sind. Die Sätze, die sie enthalten, schließen sich zu Blöcken zusammen. Diese bilden in ihrer Gesamtheit das jeweilige Werk. Die Werke lassen sich zu Werkgruppen zusammenfassen, diese ergeben schließlich das Gesamtwerk. Wenn die mikrostrukturelle Analyse für die Syntagmen erkennen lässt, dass die Abbildung der Welt in ihrer Diversität vorgenommen wird, lässt sich das so auf die nächstgrößeren Einheiten übertragen: Die Blöcke geben Facetten der Erfassung von Momenten wieder, die Werke geben, nach Themen geordnet, einen Ausschnitt aus der Welterfassung und über die Gruppen bildet das Gesamtwerk das Gewirr, in dem wir leben, gesamthaft ab. Besonders deutlich wird dies in Kempowskis Tagebüchern, die eine sehr pessimistische Weltsicht offenbaren. 3  Andere Werkgruppen Im Gesamtœuvre Walter Kempowskis nehmen die Tagebücher, Textsammlungen und -collagen einen herausragenden Platz ein (vgl. zu den sprachlichen Prinzipien in Walter Kempowskis Tagebüchern Eroms 2009). Vor allem die Textsammlungen sind, was die darin dokumentierten Sprachformen betrifft, für die Beurteilung des Gesamtwerks von großer Bedeutung. Denn in ihnen finden sich völlig unstilisierte Protokolle der zeittypischen Sprachformen und sie ermöglichen damit den direkten Vergleich mit der Sprechweise der Romanfiguren. Aber es ist nicht die Konfrontation von solchen Sprechweisen, die für die Beurteilung des Werks am wichtigsten ist. Es sind die offensichtlichen Konvergenzen, die auf diese Weise gezeigt werden: Die Figuren sprechen und schreiben in individuellen Eigenarten, die vom Liebenswerten bis zum Skurrilen reichen; zwischen den realen und fiktionalen Texten bestehen gleitende Übergänge. Alles wird vom Autor gleichermaßen ernstgenommen. Erst die Gesamtheit, das Reale und das als real Stilisierte, repräsentiert die Sprache des

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3  Systematische Aspekte

20. Jahrhunderts. In den Befragungsbüchern kommt die heutige Sprechweise der Menschen, auch in der Rückbesinnung auf vergangene Zeitabschnitte, zum Ausdruck. In Bloomsday ’97 (vgl. Kempowski 1997a) wird ein minimaler Zeitschnitt angelegt, der die Sprechweisen vermittelt, wie sie beim ‚Zappen‘ durch die Fernsehkanäle an einem einzigen Tag dem Zuschauer entgegentreten. Es ergibt sich zwangsläufig der Eindruck des Chaotischen, des Verstörenden und Ungeordneten. Dennoch sind die protokollierten Redeweisen rational, denn in ihrer Gesamtschau vermitteln sie die Ausdrucksbedürfnisse der Menschen. Was in Bloomsday ’97 für einen einzigen, willkürlich herausgegriffenen Tag exemplarisch erfasst wird, wird in Kempowskis Echolot-Projekt für eine Kulminationsepoche des 20. Jahrhunderts festgehalten. Mit seinem monumentalen Echolot-Projekt liegt für die Beurteilung der Sprache der 1940er Jahre ein einzigartiges Vergleichskorpus vor, mit dem nicht nur ein linguistisch aussagekräftiger, synchroner Zeitschnitt für diese Epoche gegeben ist, sondern auch das Gesamtwerk Kempowskis, insbesondere die in den Romanen vorgefundene Sprachhaltung der Figuren, vergleichend beurteilt werden kann. Kempowski hat, bezogen auf die Deutsche Chronik, das Projekt folgendermaßen charakterisiert: „Das ‚Echolot‘ ist eine Art Parallelunternehmen, gewissermaßen der zweite Rumpf des Katamarans“ (zitiert nach Hage 2011, 100). Die Parallelität dieser Sammlung mit seinen anderen Werken wird auch durch die Tatsache zum Ausdruck gebracht, dass hier neben den Tagbuchbänden des Autors ein kollektives Tagebuch – wie es im Untertitel heißt – vorliegt. Kempowskis Textauswahl umfasst das gesamte Spektrum schriftlicher Verlautbarungen: Amtliche Texte von NS-Dienststellen sowie deren informeller Schriftverkehr, Briefe und Tagebuchnotizen einfacher Menschen, ebenso die Äußerungen der oppositionellen geistigen Elite, aber auch regimetreuer Schriftsteller, Dokumente aus dem alltäglichen Leben, wie Plakate und Aushänge, dazu, als Vergleich, thematisch ähnliche Äußerungen aus dem Ausland, darunter einiger weniger Parteigänger des NS-Regimes, vor allem aber Texte, in denen sich das Leid spiegelt, das das nationalsozialistische System über die Welt gebracht hat. Trotz der Heterogenität des Materials und trotz der durch die offizielle Propaganda zurückgedrängten Möglichkeiten spontaner Äußerungen ergibt sich hier insgesamt der Eindruck einer großen Einheitlichkeit, indem die sprachliche Auseinandersetzung mit einer kollektiven Katastrophe, gemeint sind die Ereignisse um den Stalingrad-Komplex, in seiner Unfassbarkeit abgebildet wird. Alle hierher gehörigen sprachlichen Zeugnisse sind mit Euphemismen, Hüllwörtern und durch die Propaganda vorgegebenen Ausdrucksweisen durchsetzt und zeigen damit Mechanismen der sprachlichen Verdrängung (vgl. Arntzen 2000). Insbesondere der Ausdruck ‚Helden‘ und seine vielfältigen Komposita wie Heldentum, Heldenkampf oder Heldentod belegen die Ambivalenz solcher propagandageprägten Ausdrücke: Einerseits wird die offizielle Sprachregelung aufgenommen, andererseits gibt es auch Ironisierungen und andere Formen der Distanzierung. Neben hochpathetischen Formulierungen finden sich ebenfalls groteske und drastische.

3.14 Vater355

Insgesamt ergibt sich aus den Hunderten von Kempowski zusammengetragenen Äußerungen für die Bewertung der Sprache dieser Zeit das Bild einer größtenteils rückwärtsgewandten, z.  T. angepassten und die Propaganda übernehmenden Sprachhaltung. Auf dieser Folie sind die in Kempowskis Romanen begegnenden Sprechformen wohltuend individuelle Ausdrucksweisen, gerade auch, wenn sie damit jeweils personentypische Marotten signalisieren: Sie sind die Sprechweisen von Menschen, die ihre Eigenart bewahrt haben. Sie manifestieren besonders die Welt, wie sie Kempowski in seinen Werken abbildet.

3.14 Vater Anna Brixa

„Seit dem Tag, an dem wir die [Todesn]achricht erhielten, […] bin ich auf der Suche nach meinem Vater. Ich möchte ein langes Gespräch mit ihm führen, ein Gespräch, das vermutlich, wäre er am Leben geblieben, nie geführt worden wäre“ (Kempowski 1975d, 1), heißt es in Walter Kempowskis unveröffentlichtem Manuskript Mein Vater und Hitler. Der Titel legt nahe, dass es in diesem Gespräch nicht nur um Vater und Sohn, um eine zu früh beendete Beziehung und um jenen schmerzhaften Bruch gehen würde, der den Beginn des Verfalls der bürgerlichen Reedersfamilie Kempowski aus Rostock einläuten sollte, sondern ebenso um eine historische Kontextualisierung des Geschehenen und um die Schnittstelle zwischen privater und kollektiver Geschichte. Der Dialog mit dem Vater, der im Wesentlichen ein Monolog ist und Quellen, Fakten und Außenansichten mit einbezieht, erstreckt sich über das gesamte Œuvre und ist nur schwerlich isoliert zu betrachten. Er zählt zu den Faktoren, die Walter Kempowskis Wirken nachhaltig bestimmten. Doch längst nicht immer verlief dieses Gespräch störungsfrei. So beschreibt Kempowski in Sirius einen Traum, in dem er mit seinem Vater kommunizierte: Ich erzählte ihm, wer noch alles lebt von seinen Bekannten, und berichtete von mei­nen Buchplänen. Die Szenerie wechselte, das Gespräch fand auf einmal am Telefon statt, und mittendrin wurden wir getrennt. Ich rief noch ein paarmal: Hallo? – nichts zu machen. (Kempowski 1990a, 139)

Im realen Leben riss die Verbindung durch den plötzlichen Tod Karl Georg Kempowskis ab, der im April 1945 Opfer eines sowjetischen Fliegerangriffs wurde. Was für den Schüler Walter Kempowski eine enorme Erschütterung seiner bis dato – trotz des Krieges und seiner negativen Erfahrungen mit und in der Hitlerjugend – behüteten Lebenswelt und den ersten Bruch seiner Biographie darstellte, fungierte für den Autor als eine der grundlegenden Schreibmotivationen, ohne die sich sein gewaltiges Werk nicht denken ließe. In den Jahrzehnten seines Schaffens weitete er den Dialog mit dem Vater durch Prosa,

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3  Systematische Aspekte

Lyrik, Hörspiele und schließlich das Echolot-Projekt zu einem gewaltigen Stimmenmeer internationaler Perspektiven aus, das in Vergangenheit und Zukunft deutet. Betrachtet man das Gesamtwerk im Kontext dieser Kontaktsuche und einer bewussten Inszenierung von Autor- wie Vaterfigur, so ist es auch als ein Werk der Trauerarbeit und Vergangenheitsbewältigung zu verstehen. Dieser Prozess geht mit für Kempowskis Persönlichkeit und Schaffen prägenden Begleitumständen wie Bedrückungsgefühlen, Angstzuständen, depressiven Verstimmungen, Wutanfällen und Schlafstörungen einher. Was während der Haftzeit als überlebenswichtige geistige Beschäftigung begann, das eidetische Erinnern nämlich an die vorherige bürgerliche Welt, führte zum Entstehen des Erstlingswerks Im Block und bildete die Grundlage für Kempowskis präzise Beschreibung jeder noch so (scheinbar) alltäglichen Kleinigkeit, die insbesondere die Romane der Deutschen Chronik charakterisiert und einen erheblichen Teil seines Publikumserfolgs ausmacht. Eine analytische Hürde bildet – sowohl bei der Untersuchung der Romanwerke als auch der sie ergänzenden Materialien – die klare Trennung zwischen der literarischen und der realen Familie Kempowski. Ähnliches gilt für die Bestimmung des erzählenden Ichs und damit für die Intention, mit der die im Werk eng miteinander verflochtenen Vater-Sohn-Referenzen untersucht werden sollen: Welchen Vater sucht das erste, welchen die folgenden Tagebücher? Wie wird hier ein Vater gesucht – und zu welchem Zweck? […] Welches Ich, möchte man weiterfragen, sucht wessen Vater? Der Schriftsteller Walter Kempowski den Schiffsmakler und Reeder Karl Georg Kempowski? Der Erzähler Walter Kempowski Segmente für ein Romanprojekt, in dem der ‚Wunsch, das Grab des Vaters zu suchen‘ sich ‚allmählich verstärkt‘? Ein am 29. April 1929 geborener Sohn ganz einfach nur seinen am 26. April 1945 zu Tode gekommenen Vater? (Berbig 2010, 374)

Auch die Abgrenzung zu Szenen aus Eberhard Fechners populären Fernsehfilmen, die die sich mit der eigenen Erinnerung durchmischen und eine Rückschau überblenden, fiel selbst dem Autor stellenweise schwer. So heißt es in Hamit über Kempowskis erste Rückkehr in die ehemalige Rostocker Wohnung: Wir standen also in der alten Wohnung. Ich hatte Mühe, mich zu konzentrieren, nicht wegen der Menschen, die hier herumliefen, sondern weil sich Fechners Film dazwischenschob. Wenn ich versuchte, mich an die Möbel zu erinnern, dann waren es die Möbel der Filmrequisite, und wenn ich versuchte, den Vater zu sehen, kam Karl Lieffen ins Bild: Pape ist mir piepe, ich pupe auf Pape. (Kempowski 2006b, 30)

Beschäftigt man sich vor dem Hintergrund des Vaterverlusts mit im Kontext der Psychoanalyse beschriebenen Trauerphasen, so ergibt sich eine Parallele zu den Schaffensphasen Walter Kempowskis, in welchen die Beschäftigung mit dem Tod des Vaters eine zentrale Rolle spielt. Nach dem Modell von Verena

3.14 Vater357

Kast wird die erste dieser Trauerphasen von einem Nicht-wahrhaben-Wollen des erlittenen Verlusts geprägt: „Der Trauernde ist unter dem einen starken Gefühl ‚erstarrt‘“ (Kast 2013, 70). Auch von den Mitgliedern der Familie Kem­pows­ki, insbesondere den Söhnen Walter und Robert, wird die Todesnachricht zunächst nicht vollständig akzeptiert. Der fixe Gedanke, der Vater könne doch noch leben, schützt in einer Art Schockstarre vor dem zu erahnenden Schmerz und erschwert die Trauerarbeit. Deren Begleitumstände jedoch sind im Alltagsleben des späteren Autors bereits präsent: „Über Monate konnte ich überhaupt nichts machen. Meine arme Mutter hat gehamstert und gearbeitet und ich hörte sie, wenn sie nach Hause kam von ihren Touren, aber ich half ihr nicht. Ich war wie gelähmt“ (Kempowski 1990b, 39).

In seinen ersten Prosawerken beschreibt Kempowski das alltägliche Familienleben so, wie es ihm seine Erinnerungen nahelegen: aus einer kindlichen Perspektive heraus (Tadellöser & Wolff), sich also thematisch mit einer Zeit beschäftigend, die er selbst miterlebt hatte und in der die Familie – zumindest äußerlich  – noch weitgehend intakt war. Durch die überaus erfolgreichen Verfilmungen Eberhard Fechners fanden Kempowski-typische Familienszenen, Phrasen und geflügelte Worte wie ‚Klare Sache, und damit hopp!‘ Eingang in die Umgangssprache vieler deutscher Familien; bisweilen wurde ein regelrechter Kempowski-Kult ausgelöst. Archivmaterial und Tagebücher des Autors lassen jedoch vermuten, dass deutliche Unterschiede zwischen dem realen Vater und dem hier dargestellten Vaterbild bestanden – etwa im Hinblick auf den vergleichsweise liberalen Erziehungsstil im Elternhaus des Autors. Walter Kempowskis Auseinandersetzung mit diesem Vaterbild zielt vor allem auf die Beantwortung offener Fragen ab, also auf einen Prozess der nachträglichen Verständigung mit dem nunmehr unerreichbaren Gesprächspartner: Ich hätte ihn nicht gefragt: ‚Warum hast du nicht Widerstand geleistet?‘ Ich hätte ihn nicht gefragt: ‚Warum hast du dich als 41jähriger Mann bei Kriegsbeginn freiwillig gemeldet, obwohl du dich mit Leichtigkeit hättest uk. stellen lassen können.‘ Ich hätte von ihm wissen wollen, was er sich bei all dem gedacht hat. Oder, warum er sich möglicherweise nichts gedacht hat. (Kempowski 1975d, 1, Hervorhebung im Original)

Die Reaktionen der Familie auf die Todesnachricht in Tadellöser & Wolff zählen zu den bewegendsten Stellen des Romans; überhaupt fällt auf, dass Kempowskis Prosa in den Passagen, die den Vater thematisieren, trotz ihrer scheinbaren Nebensächlichkeit besonders wortgewaltig und überzeugend wird. Die fiktive Figur des Familienfreunds Cornelli – als das genaue Gegenteil von Karl Georg Kempowski angelegt – gleicht die Leerstelle des väterlichen Beraters (und durch ihre freundlich-mahnenden Kommentare vielleicht gar die vom Autor nachträglich in Frage gestellte Haltung der Familie Kempowski)

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3  Systematische Aspekte

stellenweise aus. Im realen Leben fungieren die Lehrer Märtin, der „Halbgott“, und Gosselck, „der ewige Vater“ (Hempel 2007a, 44), zeitweilig als richtungsweisende Vaterfiguren. Die Familie Kempowski hatte sich – und das sowohl in der realen als auch der Romanwelt – trotz des Wissens um die fatalen Intentionen und Handlungen der Bewegung mit dem Nationalsozialismus arrangiert und ihre gewohnten Alltagsrituale aufrechterhalten. „Eventuell doch aufkommendes Nachdenken konnte durch Gemütlichkeit zerstreut werden. Sei ruhig, bleibe ruhig mein Kind, durch dürre Blätter säuselt der Wind“ (Kempowski 1975d, o.  S.), kommentiert Kempowski dies in Anlehnung an Goethes Erlkönig. Nach dem Tod des Vater versagen die altbekannten Floskeln ihren Dienst, doch im Alltag wird weiter an einer bürgerlichen Fassade festgehalten, die über individuelle Bedürfnisse gestellt wird und damit eine Trauer partiell unmöglich macht. Martin Ebel beschreibt die Leere dieser Phrasen als Vorgriff auf den nahenden Zusammenbruch: „Bevor das Bildungsbürgertum in der deutschen Katastrophe untergeht, ist es bereits seines Wesens entkleidet, es besteht nur noch aus Ritualen und Resten, lebt quasi als Zitat fort“ (Ebel 2005, 44). Das in vielen Fällen angestrebte Vergessen traumatischer Erfahrungen schließt ein Verschweigen und Verdrängen des Erlebten konsequent mit ein. Nach seinen stark autobiographisch geprägten ersten Romanen tastet sich Kempowski in der Zeit zurück und beschreibt in Aus großer Zeit und Schöne Aussicht erstmals eine Epoche, die er nicht selbst erlebt hatte. Auch dies geschieht im Dienste der Erinnerung an den Vater: An der Hochschule in Oldenburg […] habe ich die Studenten unter der Devise ‚Die Suche nach dem Vater‘ mit meinem Werk vertraut gemacht. Ich habe meinen Vater, da er früh weggegangen ist, nicht richtig kennengelernt und habe die Diskussion mit ihm gesucht. Ich habe diese Diskussion durchgespielt, indem ich sein Leben nachzeichnete. (Schneider 1981, 100)

Die auf Recherchen und Oral History – Zeitzeugengespräche mit Mitgliedern und Weggefährten der Familie Kempowski – gestützten Berichte dienen nicht nur dem Einfühlen in die Zeit, in der sein Vater sozialisiert wurde, sondern gleichermaßen der Suche nach den Ursachen für dessen Entwicklung und spätere Überzeugungen. Denn Karl Georg lernte in der Schule nicht nur Das Lied vom braven Mann, sondern auch Geschichtszahlen vorwärts wie rückwärts herunterzurattern (vgl. Kempowski 1975  f, 10). Für eventuell aufkommendes Nachdenken blieb nicht viel Raum. Aus großer Zeit solle zeigen, so Kempowski 1975, „wie die Generation unserer Väter durch Geschichtsunterricht und Erziehung geradezu aufbereitet wurde für das Nazi-Regime“ (Kempowski 1975  f, 10). Im dritten seiner Befragungsbände, Immer so durchgemogelt. Geschichten aus unserer Schulzeit, geht er dieser Einflussnahme der Pädagogik genauer nach. Für das Kind und den jungen Mann Karl Georg Kempowski erweisen sich nicht nur die Zeit, sondern auch die familiäre Situation als belastend, worauf seine eigene Familie

3.14 Vater359

später viele seiner Eigentümlichkeiten zurückführt. So kommentiert Grethe Kempowski im Roman Tadellöser & Wolff: Er war ja wahnsinnig gesund, aber die Haut und all das, das kam bestimmt von seinem verrückten Elternhaus. Da solle man wohl vogelig werden. Die eigene Mutter ihm hohnlachend ins Gesicht gesagt: Er wär ein Versehen. Aber nun war er ja mal da. Im ersten Krieg alle seine Anzüge und Mäntel verschenkt, als er im Felde war. ‚Der fällt ja doch.‘ (Kempowski 1971a, 474)

Sein Sohn will die späteren Verhaltensweisen des Vaters nicht entschuldigen und auch nicht erklären; auf mildernde Umstände plädieren aber, und auch hier sie innerhalb der Zeitläufte kontextualisieren – das möchte er schon. Als Erwachsener holt Kempowski nicht nur ein Gespräch nach, das vermutlich nie geführt worden wäre, sondern das wegen seines damaligen Alters auch nur schwerlich in dieser Form hätte geführt werden können. „Sie haben nie ernsthaft miteinander geredet“, fasst Dirk Hempel die Beziehung zusammen. „Er gehört zur ‚vaterlosen Generation‘, die früh schon ohne positive Autorität und Identifikationsmöglichkeit auskommen mußte, aber auch ohne Objekt des Protestes und des Aufbegehrens“ (Hempel 2007a, 29). Ein plötzliches Aufbegehren sowie andere aufbrechende Emotionen wie Wut, Zorn, Angstgefühle und Ruhelosigkeit prägen laut Kast die zweite Trauer­phase. Ein weiteres Merkmal ist die Suche nach einem Schuldigen  – wovon auch die eigene Person nicht ausgespart bleibt (vgl. Kast 2013, 73). Kempowski ist sich dessen durchaus bewusst: Mit „[h]in und wieder ein Wutausbruch … ich weiß schon, woher er kommt. Was die Ursachen dieses Ausbruchs sind“ (Voß und Kempowski 2003, o.  S.), beantwortet er Fragen danach, wie er mit dem Tod des Vaters umgehe und ob ihn die ständige Auseinandersetzung mit den düsteren Seiten der deutschen Vergangenheit verändert habe. In diesen Bereich lassen sich sowohl emotionale Überreaktionen als auch die Beschäftigung mit dem Thema Schuld in Haben Sie Hitler gesehen? und Haben Sie davon gewusst? einordnen. „Vater war zeitweilig auch in Baranowitsche. Immer denke ich: Er hat davon gewußt“ (Kempowski 1990a, 616), notiert Kempowski in Sirius, nachdem er einen Augenzeugenbericht über die Ermordung der dortigen jüdischen Ghettobewohner gelesen hat. Die Frage danach, wie viel die Eltern in der NS-Zeit hätten wissen können oder müssen, wird in Kempowskis Gesamtwerk wieder und wieder gestellt. An einem möglichen Nicht-wissen-wollen und damit auch an der von Alexander und Margarethe Mitscherlich beschriebenen Unfähigkeit zu trauern (1967), am schmalen Grat also zwischen Anschuldigungen und Akzeptanz der elterlichen Verhaltensweisen während der NS-Zeit, tragen Kempowski und seine Altersgenossen bisweilen schwer. Bis heute ist der Bruch im Verhältnis der Generationen, der um 1968 in der Studentenbewegung gipfelte, ein zentraler Bezugspunkt deutscher Nachkriegsgeschichte. Walter Kempowski lehnte zwar die Auswüchse der Studentenbewegung vehement ab; doch auch

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eine unideologische Auseinandersetzung mit den Standpunkten seines Vaters war ihm unmöglich. Wohl auch deshalb kommt dem Umgang mit der NSVergangenheit ein so prominenter Status innerhalb seines Werks zu. Denn die gelebte Praxis des (liberalen) Bürgertums hatte zur Verzweiflung vieler, darunter auch des Rückschau betreibenden Kempowski, die größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte nicht verhindern können. „Eins vielleicht: Daß andere Leute über die Nazizeit geschrieben haben, ist für mich kein Grund, es zu lassen. Für meine Generation wird dieses Thema nie erledigt sein“ (Kempowski o.  J. d, o.  S.) antwortet er, sichtlich gekränkt aber auch angriffslustig, Verleger Ledig-Rowohlt auf die Ablehnung von Tadellöser & Wolff. Zentraler Bezugspunkt seiner Erinnerungsprosa bleibt der in diesem Kontext auf mehreren Ebenen erlittene, die persönliche wie professionelle Entwicklung maßgeblich beeinflussende Verlust: Für mich ist eben das große Verlusterlebnis, nämlich, den Vater zu einer Zeit verloren zu haben, wo man ihn dringend braucht, die Heimat verloren zu haben, ohne darin fest geworden zu sein, und sie so verloren zu haben, dass ich auch niemals mehr zurück kann und mich ihrer vergewissern kann. Das waren Verlusterlebnisse, die mich angespornt haben, etwas wiederherzustellen, was man verloren hat. Die große deutsche Literatur der Nachkriegszeit lebt ja zum Beispiel vom Verlust. (Kempowski o.  J. m, o.  S.)

Dass diese monumentale und prägende Erfahrung nicht nur ihn persönlich, sondern eine ganze Generation betraf – und zwar nicht nur wegen der vielen Toten des Zweiten Weltkriegs, sondern ebenso aufgrund einer grundsätzlichen Schädigung und Desillusionierung derer, die zurückgekehrt waren  –, diese Erfahrung machte Kempowski auch während seiner Inhaftierung in Bautzen. Den persönlichen Verlust des Vaters erweitert er hier auf das Versagen einer höhergestellten, der jüngeren Generation die so notwendige Orientierung verwehrendenVaterinstanz: Die Diskussion mit den Vätern fand eigentlich nicht statt. Als ich dann später ins Zuchthaus kam, war die Generation der Väter auch vorhanden, und wir haben sie dort in einem sehr beschädigten Zustand vorgefunden. Ich habe mich immer gesehnt, so nach einer Vaterfigur. Ein Mann, wissen Sie, der mir als 18-Jährigem in irgendeiner Weise ein Halt sein konnte und ich habe leider nur Menschen gesehen, die ihr Brot zerkrümelten und über sonst was sprachen und sich eben leider gar nicht um die Jugend kümmerten. (Kempowski 1999j o.  S.)

Walter Kempowski selbst sieht sich in der Verantwortung, diffus wahrgenommene Schuldgefühle und mögliche weiße Flecken in der Familienbiographie zu thematisieren und zu kontextualisieren. Doch er ahnt, dass ein großer Teil dieser Auseinandersetzung sich nicht einfach greifen lässt und im Unbewussten eine ganz eigene Dynamik entfaltet. Wie sich dieses ‚Unbewusste‘ in seine Texte eingeschlichen habe (vgl. Solms 1987, 7), illustriert Kempowski anhand einiger Ruderbootpassagen in Herzlich willkommen. Auffallend ist die Tatsache, dass Erinnerungen an den Vater im Gesamtwerk immer wieder

3.14 Vater361

mit den Themengebieten Wasser, Schiffe bzw. Boote und ferne, unerreichbare Ufer verknüpft werden. Für den jungen Protagonisten des Romans, der sich nach der Haftentlassung darum bemüht, in seinem neuen Leben in der Bundesrepublik Fuß zu fassen, dreht sich immer noch Vieles um die verlorene Orientierungsfigur des Vaters. So kommen ihm während eines Schäferstündchens am Lago Maggiore beim Betrachten der dümpelnden Boote die Gedanken: „Du wirst hinüberrudern müssen trotz aller Gefahren […]. Du wirst es tun müssen, genauso wie dein Vater es getan hat – ‚Beide Maschinen volle Kraft voraus‘! – und zwar ‚frohgemut‘, obwohl es für ihn eine Fahrt mit Charon wurde“ (Kempowski 1987a, 55). Der See, den dieser Protagonist vor Augen hat, ist schwarz. Dies, so argumentiert Kempowski, habe er in seinem Text nicht bewusst angelegt. Aber es könne bedeuten, dass der genannte Ruderer mit aller Kraft über den schwarzen See zu anderen, vielleicht düsteren Ufern aufbricht. Daß er dies übrigens rückwärts tut, wie es den Ruderern eigen ist, und wie jenen Schiffen im Locarnoer Hafen, mag ein zusätzlicher Hinweis auf das sein, was uns gut tut oder täte: Tradition und Geschichte mit einzubeziehen als eine Navigationshilfe. (Kempowski 1987a, 56)

Dieses Bild des Rückwärtsruderns durch die Zeitläufte, wobei der Blick nach vorn gerichtet bleibt, beschreibt treffend Walter Kempowskis navigierende Bemühungen um eine Sinnstiftung für Gegenwart und Zukunft, die der Vergangenheit entspringt. Anders als Walter Benjamins Engel der Geschichte blickt Kempowski jedoch nicht in die Vergangenheit, wobei ihn der Sturm des Fortschritts in die Zukunft treibt – vielmehr nutzt er die Vergangenheit als sinnstiftende Konstante für die Gestaltung von Gegenwart und Zukunft. Eine der Begleiterscheinung dieses Heraufbeschwörens von Vergangenheit ist es, dem Vater nahe zu sein. Das Wasser fungiert hier als verbindendes Element zwischen dem schreibenden Sohn und dem erschriebenen Vaterbild. Gleichzeitig aber auch als das Element, das sie trennt, denn sie stehen an unterschiedlichen Ufern. Karl Georg hält womöglich Ausschau nach einem Schiff, das seine Rettung bedeuten kann, und Walter begreift die gefährliche Anziehungskraft des Flusses Lethe  – dem Fluss des Vergessens. Zeit seines Lebens kämpft er gegen dessen gurgelnde Verlockung an – mithilfe einer effektiven Taktik, die Harald Weinrich unter Bezugnahme auf Thomas Bernhard als „Aufschreiben, um auszulöschen“ (Weinrich 1997, 250) bezeichnet und die ihre Vollendung im Echolot findet. Den „Segen der Väter“ begreift Kempowski auch dahingehend, aus tradierter Erfahrung klug zu werden: in meinem ganzen Leben werde ich mir nie ein Schiff anschaffen, nicht einmal ein Ruderboot und auch kein Paddelboot. Man kann Segen erfahren, indem man etwas mitbekommt, man kann ihn aber auch wirksam machen, indem man sich von bestimmten Sachen fernhält. (Kempowski 1978c, 43)

362

3  Systematische Aspekte

Dieser halbironische Kommentar kann wohl weniger als grundlegende Scheu vor dem Maritimen als vielmehr als eine Distanzierung von Dingen verstanden werden, mit denen die Väter einmal schlechte Erfahrungen gemacht haben und von denen man sich besser fernhält. Was durchaus nicht ausschließt, dass man etwas ‚mitbekommen‘ hat, dem es sich lohnt, nachzugehen. „Der Tod meines Vaters ist der Grund, weshalb ich überhaupt schreibe, weil ich zu ergründen versuche, warum das passiert ist“ (Kempowski o.  J. e, o.  S.), so äußerte sich Walter Kempowski 1980 im Kontext seiner szenischen Dichtung Moin Vaddr läbt – a Ballahd inne Munnohrd kinstlich med Mosseg unde Jesann von Wullar Kinnpussku (vgl. Kempowski 1980b). Bei Moin Vaddr läbt handelt es sich um ein Erzählgedicht, welches der Autor im Untertitel als Ballade charakterisiert. Erst durch den Umstand, dass es von Peter Zwetkoff vertont wurde und somit einen Medienwechsel erfuhr, wurde das Stück zum Hörspiel. Dieses ist als bedeutender Wendepunkt in der Auseinandersetzung mit dem Vater zu sehen, da sich hier erstmals lang unterdrückte Emotionen Bahn brachen und in einer höchst ungewöhnlichen Form, durch das Anstimmen eines Trauergesangs in einer Kunstsprache nämlich, freigesetzt wurden: Ich […] schrieb praktisch in einem einzigen Zug das ganze Hörspiel herunter, wie unter einem Diktat mich an meinen Vater erinnernd und an einen Traum, in dem ich ihn in einem Keller stehen sah, und mich ganz unwillkürlich der Sprache bedienend, die allein zu taugen schien, die verbotene Klage über den Tod dieses Menschen zu transportieren, die Trauer aufnehmend und die Klage: Die Geheimsprache jener Zeit, des Ghettos, in dem auch ich mich befunden hatte. (Kempowski 1982a, 94)

Den Begriff des Ghettos auf seine eigene Lebenswirklichkeit anzuwenden, mag vermessen oder gar verstörend wirken. Mit „jener Zeit“ bezieht sich Kempowski auf die Jahre seiner Inhaftierung in Bautzen, wo er zur privaten Verständigung mit seinem Bruder eine an das Jiddische angelehnte Geheimsprache entwickelt hatte. Diese einerseits fremdartig-verschwörerisch klingenden, andererseits aber sehr zugänglichen und intimen Sprachpartikel hat Jörg Drews als „Ostpreußisch, Schlesisch, Pommersch, Jiddisch“ (Drews 1989, 17) identifiziert. Hier dient die Kunstsprache der Formulierung dessen, was anders nicht zu fassen ist: eine „geheimnisvolle, verdrehte und verschämte Klage um den toten Vater, ein Eingeständnis auch der Schuld, den Vater zu schnell vergessen zu haben“ (Drews 1989, 17). Es handelt sich dabei um die Klage um ein deutsches Opfer, von dem noch nicht einmal rückhaltlos geklärt werden kann, ob es nicht auch Täter war. In einem Keller, bei dem sich die Parallele zum Unbewussten des Sohnes quasi aufdrängt, hüpft der verschollene Vater auf einem Bein herum; das andere hat er verloren, dennoch benötigt er keine Prothese. Auch ist er in der Lage, sein Verlies für Ausflüge selbständig zu verlassen. Wahrgenommen werden kann er nur von der Instanz des Erzählers sowie dem (todesmythologisch besetzten) Lenker eines Pferdegespanns. Dieser sieht ihn aus einem Tunnel heraustreten und erwägt, zu halten – fährt dann aber doch weiter seines Weges, was durch

3.14 Vater363

den Erzähler zustimmend kommentiert wird mit „unde’ch jlobb’s war arecht“. (Kempowski 1982a, 82) Zwar ist die Hauptaussage des Stücks die Botschaft „Moin Vaddr läbt. Han is nich dot“ (Kempowski 1982a, 76), doch die glückliche Wendung, die den Vater langfristig aus seinen Katakomben in die Geborgenheit des Familienkreises zurückführen könnte, bleibt aus. Im Keller bestickt er ein langes Deckchen mit Blumenmustern und schreibt Briefe, die leer sind; er kommuniziert also ohne Empfänger, genauso wie der Autor Kempowski. Dieser kann keine Worte finden, um das erlittene, vielleicht auch das begangene Unglück zu beschreiben. Handelte der Vater in Notwehr und ging er nur deshalb „in de weitu weitu Wild / ßu schisse de Lait dot / wu wulln a-ussa aschissena dut?“ (Kempowski 1982a, 90) Zwar ist nicht gesagt, dass seine Söhne ihn absichtlich verstoßen würden – nein, im Gegenteil: „Wunn d’Sähne kähm d’s Wägs / se würd’n sogn: / Kumm Older, kumm med. […] Abr’s kummt koina“ (Kempowski 1982a, 82). Wie so oft im Werk Kempowskis läuft auch hier die familiäre Kommunikation ins Leere. Doch wird der Vater nicht absichtlich „in einen Keller verbannt und um seine Sprache gebracht“ (Damiano 2010, 98), sondern viel eher entsteht der Eindruck, er würde dort freiwillig Buße tun und es aus Schuldgefühlen heraus nicht wagen, zu seiner Familie zurückzukehren. Denn sonst müsste er ja nicht, käme einer, den er kennt, das Deckchen mit den Blumen darauf vor sein Gesicht halten (vgl. Kempowski 1982a, 76). Am Ende des Hörspiels kommt es dennoch zu einem Happy End: Die Mutter ruft ihre spielenden Kinder mit weicher Stimme zum Essen hinein, denn „[d]’r Vaddr isse ja uch scho da“ (Kempowski 1982a, 92). Genauso wie sein Pendant Alles Umsonst. Dialog mit der Mutter von 1984 hat Moin Vaddr läbt bisher nur wenig wissenschaftliche Beachtung erfahren; beide Hörspiele fungieren als Schlüsseltexte für das Gesamtwerk. Nie wieder hat Walter Kempowski die Trauer um das Verlorene so nah an sich herangelassen und ihr literarische Gestalt verliehen wie in dieser Hommage an seine Eltern. Insofern ist zu diskutieren, ob wirklich „keine direkte Kommunikation zwischen den Generationen möglich [und k]eine der Vaterfiguren [in Moin Vaddr läbt und Mark und Bein] fähig [ist], mit dem Sohn zu kommunizieren“ (Damiano 2010, 89). Denn natürlich handelt es sich hier um eine Kommunikation zwischen Jetzt und Jenseits, und natürlich ersetzt dieser inszenierte Dialog nicht die Aussprache des Autors mit dem gefallenen Vater. Doch die Vaterfigur im Œuvre äußert sich dennoch, sowohl in direkter als auch in indirekter Rede  – und ebenso durch ihre Handlungen, auch ihr Nicht-Handeln, ihre äußere Gestalt und ihre Lebensweise. Mit diesem Vaterbild kommuniziert der Autor Walter Kempowski sogar in zweierlei Hinsicht: in einem inneren und einem äußeren Dialog, der seine Leserschaft mit einer vom Privaten losgelösten Vaterfigur konfrontiert. Ein solches inneres Zwiegespräch ist von großer Bedeutung für diese Trauerphase, denn es erlaubt zunächst, den Verlorenen wiederzufinden, mit ihm in Kontakt zu treten und sich daraufhin erfolgreich von ihm zu trennen (vgl. Kast 2013, 78–79).

364

3  Systematische Aspekte

Wie viel Kempowski diese intime Totenklage bedeutete, zeigt die folgende, in Sirius beschriebene Begebenheit: Heute früh hab’ ich mich erst mal gründlich verfahren (Waltershof-Brücke), dann hatte ich in Poppenbüttel eine Lesung, auch vor Schülern. Als ich da ankam, wurde in der Aula vor durcheinanderredenden Schülern gerade mein kostbares Hörspiel Moin Vaddr läbt abgespielt – sehr peinlich. Ich unterband das sofort. Ich wäre wohl sehr hochmütig, wurde ich gefragt, daß ich ihnen nicht erlaubte, das Hörspiel zu hören? (Kempowski 1990a, 231)

In der dritten Trauerphase, nach Verena Kast die „Phase des Suchens und Sich-Trennens“ (Kast 2013, 76), wird der Verlorene bewusst oder unbewusst gesucht; Zorn und Schuldgefühle der vorangegangenen Etappe leiten diese Suche ein. Eine solche nimmt Kempowski nach langem Zögern 1987 mit einer Reise nach Polen und der darauffolgenden Entstehung von Mark und Bein auf. Etwa zeitgleich beginnt auch die Arbeit an der Herausgabe der Tagebücher, die einen tiefen Einblick in das Innenleben des Autors und seine Träume gewähren – und in denen der Vater noch immer äußerst präsent ist. Kempowski schwankt zwischen seinem Wunsch, mit diesem Vater in einem positiven Sinne abzuschließen und der Weigerung, die irrationale Hoffnung aufzugeben, er könne doch noch leben. Dann selbst wenn er den Aufenthaltsort ‚Jenseits‘ akzeptierte, könnte der Vater doch auch dort noch existieren? So jedenfalls scheint es Kempowski im Traum, als er diesen bittet, ihm bei einer Formulierung zu helfen: „Mein Vater ist unwillig, daß ich ihn mit so was behellige. Offenbar möchte er im ‚Jenseits‘ nicht gestört werden. (Er lebt also noch)“ (Kempowski 1990a, 372). Kast bezeichnet Träume als „Wegweiser bei der Trauerarbeit“ (Kast 2013, 65) und stellt im Rahmen ihrer Untersuchung zwölf Variationen von Träumen vor, in denen Tote im Bewusstsein der Trauernden wiederauferstehen. Auch bei Kempowski wird der Dialog zwischen Vater und Sohn auf diese Weise aufrechterhalten, wobei er davon überzeugt ist, dass der Vater noch ein Anliegen oder eine Botschaft an die Lebenden hat. So auch in Somnia: „Heiße Tränen über meinen Vater vergossen, der, wie es heißt, noch lange in Westdeutschland gelebt hat, ohne daß ich davon wußte. – Er ist also immer noch nicht ins Nirwana entschwunden. Er will noch was von uns.“ (Kempowski 2008a, 103) Oder will oder will ‚man‘ im Gegenteil noch etwas von ihm? Ihn finden oder zumindest konkreter als bisher suchen? „Vaters Tod noch unerfüllt“ (Kempowski 2008a, 456) ist einer der Gründe, weshalb er an Mark und Bein arbeitet. Diese Episode – so der Untertitel – eine Reise an den Todesort des Vaters, textlich flankiert von Trauerweiden und der Auseinandersetzung mit menschlicher Grausamkeit, hat er seinem Bruder Robert gewidmet. Ein weiterer Tagebucheintrag gibt näheren Aufschluss über die Beziehung zum Vater und spiegelt Kempowskis Eindruck wider, dieser habe die Familie im Stich gelassen:

3.14 Vater365 Zwischen uns war immer eine gewisse Peinlichkeit. Wir vermieden es, allein zusammen zu sein. Ein stiller, stark gehemmter Mann. Seine Wunderlichkeiten hatte er wohl zum Selbstschutz zusammengerafft. Der Eindruck, daß er sich am Ende seines Lebens ‚verdrückt‘ hat. (Kempowski 1990a, 209)

Auch Hempel thematisiert in seiner Biographie die Vermutung, der Vater sei vorsätzlich aus dem Leben geschieden Kempowski vermutet, daß sein Vater den Tod gesucht hat – er soll nachts vor dem Bunker eine Zigarette geraucht haben, was Tiefflieger aufmerksam machte – weil er die Rückkehr ins bürgerliche Leben fürchtete, ohne den Halt der Uniform, den Status des Hauptmanns. (Hempel 2007a, 30)

Diesem Verdacht können jedoch durch die Aussagen eines späteren Mitgefangenen Kempowskis sowie eines mit Karl Georg Kempowski befreundeten Hauptmanns gegenübergestellt werden, aus denen hervorgeht, dass der besagte sowjetische Tiefflieger durch ein Kochfeuer angelockt worden war (vgl. Kempowski o.  J. l). Weiter soll der Vater seinen Bunker nachts nicht etwa zum Rauchen, sondern um ‚Wasser abzuschlagen‘ verlassen haben und somit in einer äußerst misslichen Stellung vom Tod überrascht worden sein. Es ist nachvollziehbar, dass Kempowski sich den sterbenden Vater lieber als einen aufrechten, vielleicht seine letzte Zigarette mit bewusstem Genuss rauchenden Mann vorgestellt hat – der zwar eine für die Familie folgenreiche und schmerzvolle Entscheidung trifft, aber doch sein Leben immerhin selbstbestimmt aus der Hand gibt. Jonathan Fabrizius, der Protagonist aus Mark und Bein, besucht auf das sanfte Drängen seines Fahrers hin den Ort, an dem der Vater getötet wurde, und leistet somit Trauerarbeit – selbst „wollte [er zwar] da nicht hin, aber er wurde nicht gefragt“ (Kempowski 1992, 226). Walter Kempowski dagegen wendete sich erst fünf Jahre nach Erscheinen seiner Episode an die Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen Deutschen Wehrmacht in Berlin, um die genaue Grablage seines Vaters ausfindig zu machen (vgl. Kempowski 1996b). Selbst während der Manuskriptarbeit an Mark und Bein war er noch unentschlossen, ob er den Sterbeort des Vaters und damit den Besuch von Jonathan Fabrizius auf der Frischen Nehrung überhaupt erzählen solle: „M/B: Heute tippte ich das 15. Kapitel ab, Rosenau, wir haben jetzt über die Flaggen 106 Seiten. Ich glaube nicht, daß das Buch noch die Vater-Passage trägt. Ich denke, ich mache das nicht“ (Kempowski 2008a, 257).

Dieses Zögern, sich der schmerzhaften Rückschau zu stellen, wird von Jonathan Fabrizius mit einer gehörigen Portion Sarkasmus überspielt – und doch bei passender Gelegenheit kalkuliert eingesetzt: „[E]r komme sich auch so ein bißchen vor wie Strandgut… Und er spielte seinen Leidensvorsprung aus: Den Vater habe es auf der Frischen Nehrung erwischt, und

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3  Systematische Aspekte

die Mutter sei bei seiner Geburt draufgegangen. Treck, eisiger Wind usw.“ (Kempowski 1992, 32)

Während der Sohn sich selbst als ein unruhig dahindümpelndes Stück Strandgut wahrnimmt, hin und her gespült von den Gezeiten, wird der Vater in Mark und Bein ein weiteres Mal mit fließendem Wasser, die Mutter dagegen mit Schiffen attribuiert (vgl. Kempowski 1992, 29). Hinter dem auf der Nehrung stehenden Vater, der mit dem Feldstecher nach rettenden Schiffen Ausschau hält, „klapperten die Flüchtlingstrecks von Osten nach Westen und von Westen nach Osten“ (Kempowski 1992, 204) und Jonathan sieht sich sowohl mit der Essenz des Kempowskischen Œuvres als auch mit einer brennenden Grundfrage konfrontiert: „Alles umsonst! ALLES UMSONST! […] Es ist alles umsonst! dachte er immer und immer wieder. Und: Wer hat Schuld?“ (Kempowski 1992, 204, Hervorhebung im Original) Diese Frage kann nicht befriedigend beantwortet werden, und es liegt sowohl in ihrer Natur als auch in Kempowskis pädagogischer Grundhaltung als Autor, dass sie offen bleibt. Und dennoch wird eine mögliche Auflösung angedeutet. „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein“ (Kempowski 1992, 232), spricht Jonathan wie der Prophet Jesaja; diese Worte an den Vater implizieren sowohl Erlösung als auch ein Vergeben potenzieller Schuld. Somit sind sie auch ein Stück Trauerarbeit und Vergangenheitsbewältigung des Autors, der in seinem Werk stellvertretend Buße tut, um die Familie von einer diffusen Schuld zu befreien und Versöhnung zu erwirken. Erfolgreich abgeschlossen ist der Prozess des Trauerns nach Kast damit, dass der Verlust des geliebten Menschen zunehmend akzeptiert und dieser durch den Trauernden „als eine Art innere[r] Begleiter erlebt“ wird (Kast 2013, 81). Diese Entwicklung lässt sich im Übergang zur vierten Trauerphase verorten, mit der ein neuer Selbst- und Weltbezug einsetzt (vgl. Kast 2013, 81). Hierdurch ergeben sich neue Rollenbilder, Möglichkeiten und Handlungsspielräume. In Kempowskis Werkgeschichte lässt sich diese Phase mit der Herkules-Aufgabe des Echolot-Projekts in Bezug setzen – des langwierigen Einsatzes eines exakten Messgeräts, das er in die Tiefen und Untiefen historisch belasteter Gewässer und Bewusstseinsströme hinabgleiten lässt und das einen Gipfelpunkt der Multiperspektivität sowie die Rück- und Vorschau in den Zeitläuften ermöglicht. Die Gleichzeitigkeit vielfach unterschiedlicher Erlebnisse und Perspektiven hatte Kempowski in Mark und Bein, dem Kai Sina zutreffend eine „metafiktionale Kommentarfunktion für das Echolot“ (Sina 2012, 217) zuspricht, als kollektiven Erinnerungseffekt charakterisiert: Alle Blicke, von dieser Stelle ausgesandt, hätten in diesem Augenblick zurückkommen können, das Fernglassuchen des Vaters – ob die Transporter nicht bald kommen – Dänemark! – die Hoffnungsblicke der Flüchtlinge, die Verzweiflung der Juden – ja die Gleichgültigkeit der Vorkriegsdamen, die sich mit Nivea einrieben und die Segelboote beobachteten, wie sie sich auf die Seite legen… Alle Gleichgültigkeiten wären zurückgekommen, alle Hoffnungen, alle Verzweiflungen – als ein Windstoß von verblaßten Bildern. (Kempowski 1992, 231)

3.14 Vater367

Den Toten durch die Offenlegung ihrer Erfahrungen einen Platz in der Erinnerungskultur zu sichern, gleichzeitig mit dem enormen Epos Schuld abzubauen und Versöhnung zu erwirken  – die Parallele zu einer erfolgreichen Trauerarbeit um den Vater, seine Integration in die Lebenswelt des Sohnes als innerer Begleiter liegt nahe. Das Motiv der Totenruhe wird zudem wiederholt mit dem Auftreten des Vaters verknüpft, so auch in der Einführung der Figur in Tadellöser & Wolff: „Am Abend kam mein Vater aus dem Geschäft. Er trug Knickerbocker in Pfeffer und Salz. Seinen Teichhut hängte er singend auf einen der roten Garderobenhaken. Wie so sanft ruhn, alle die Toten… Das war das Logenlied, wie meine Mutter es nannte“ (Kempowski 1971a, 474).

Damit die Toten aber „so sanft ruhn“ können, ist es erforderlich, sie vorher noch einmal zum Leben zu erwecken und ihre Geschichten und Erfahrungen für die Gegenwart nutzbar zu machen. Gleichzeitig ist es dieser Prozess der Vergegenwärtigung, der einen Umgang mit der Trauer erst ermöglicht. Selbst in Spätwerken wie Letzte Grüße – in dem die Roman-Protagonisten Alexander Sowtschick, Jonathan Fabrizius (Mark und Bein) und Matthias Jänicke (Heile Welt) zusammengeführt werden  –, dem Fluchtroman Alles Umsonst und Kempowskis erster und letzter Lyrik-Publikation Langmut lässt sich die Auseinandersetzung mit der Vaterfigur noch nachweisen. In Letzte Grüße steigt Kempowskis Alter Ego Alexander Sowtschick in einen kühlen Stollen tief unter die Erde des Staates Utah hinab, um dort die Ahnen-Kartei der Mormonen zu besichtigen. Im Suchsystem stößt er auf Ergebnisse zu seinem eigenen Namen und dem seines Vaters. Allerdings ist als dessen Beruf nicht, wie erwartet, Oberstudienrat verzeichnet, sondern Matrose. Hier schlägt Kempowski den Bogen zu einer der frühesten Fotoaufnahmen seines Vaters: „Körling, der als Rostocker Junge eine Matrosenmütze auf dem kahlgeschorenen Kopf hat: S.M.S. HOHENZOLLERN“ (Kempowski 1975  f, 5, Hervorhebung im Original). Unausgesprochen bleibt hier die Frage, welche Zukunft der Vater und damit die Familie gehabt hätten, wäre dieser nicht Reeder und Soldat, sondern eben Matrose oder Studienrat geworden. Hätte er den Krieg überlebt? Wie wäre es danach für ihn weitergegangen? Kempowski spielt mit diesen Konjunktiv-Konstrukten, sieht deren Sinnlosigkeit jedoch selber ein: „Eine solche Biographie läßt sich nicht zu Ende schreiben, das ist eine Gleichung mit zu vielen Unbekannten“ (Kempowski 2008a, 186). Im Romanwerk aber lassen sich solche Gedanken ungehindert ausspinnen: „Bin ich denn der Sohn eines Matrosen?, dachte Alexander, also ein ganz anderer? Da zerriß der Vorhang des Tempels in zwei Stücke, von oben bis unten, und die Erde bebte“ (Kempowski 2003, 324). Peter Brand interpretiert diese Passage als Parallele zu jener Stelle im Neuen Testament, in der nach dem Tod Jesu der Vorhang im Tempel Jerusalem zerreißt und damit ein freier Zugang zu Gott ermöglicht wird (vgl. Brand 2005, 251).

368

3  Systematische Aspekte

Deutet auch diese Passage die Möglichkeit einer erfolgreichen Trennung und damit eines Abschieds an? Gelingt es dem Sohn, aus der Identität der Vorväter trotz einer kritischen Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte richtungsweisende Rückschlüsse für die eigene Identität zu ziehen? Genauso wie die Familie Kempowski in der Deutschen Chronik als Prototyp der kleinsten Einheit des Bürgertums angelegt ist, steht ‚der Vater‘ hier stellvertretend für ‚die Väter‘ und somit für eine Orientierung versprechende Instanz. Orientierung verheißend, aber eben nicht unfehlbar „steht der Vater vor uns, plötzlich, im Wind, mit wehendem Haar. Er zeigt uns: dahin müßt ihr gehen, und geht voraus. Voraus und ins Verderben“ (Kempowski 1982a, 96, Hervorhebung im Original). Kempowski selbst kommt zu einem Schluss, der dem Vater eine historische Verantwortung nicht abspricht, seiner Haltung aber dennoch Verständnis entgegenbringt nämlich, daß man der Generation unserer Väter unrecht tut, wenn man sie von heute aus, und aus dem ‚Nachhinein‘ richtet. Sie waren in der Zwickmühle: Der vom Gefühl beherrschte Verstand und die durch Angst unterdrückte Vernunft ließen keinen Widerstand aufkeimen. Und wenn sie mitmachten, dann deshalb, weil ihr Glauben und Hoffen stärker war als Mißbilligung und Haß. Mein Vater und Hitler, das war zwar der da, aber das war: ‚Immerhinque‘. (Kempowski 1975d, 16)

Der kausale Zusammenhang zu seinem frühen Ableben liegt nahe, und es ist wohl kaum ein Zufall, dass das letzte Foto des Vaters im Tagebuch nur eine Seite nach dem Portrait eines offenbar sehr aufgebracht wütenden ‚Herrn Hitler‘ abgedruckt wurde (vgl. Kempowski 1990a, 173  f.). 2006 wird Kempowskis letzter Roman Alles umsonst veröffentlicht  – eine weitere Bestätigung dessen, dass die Nazi-Zeit für ihn auch nach Mauerfall und Jahrtausendwende immer noch unabschließbar war. Das Buch thematisiert die Flucht und Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Die Figur des Kindes Peter, mutmaßlich einziger Überlebender des Infernos, trägt zwar weniger deutliche autobiographische Züge als die Erzählerfigur der Deutschen Chronik, gleichwohl lassen sich auch hier gemeinsame Merkmale von Autor und Figur ausmachen. So bewältigt der Junge, dessen Vater in der dargestellten Welt überwiegend fernmündlich in Erscheinung tritt, den größten Teil seiner Reise in den Westen – und damit in eine mögliche Zukunft – an der ihn leitenden Hand seines Lehrers. Im posthum erschienenen Gedichtband Langmut kehrt Kempowski zu diesem Bild zurück, das er wiederum in der Nähe eines Gewässers verortet: Das waren Ferien! Das Rufen über den Wellen, und Strandhafer schnitt in die Füße. An das Gewitter denkst du gern, an die gerissenen Planen. An Sand in den Augen.

3.15 Vergangenheitsbewältigung369 Sohn warst du und Vater zugleich. Du hieltest dich selbst an der Hand. (Kempowski 2009a, 29)

Ist das lyrische Ich hier ein ausgelassen spielendes Kind, das Sand in den Augen als Teil des anziehenden Abenteuers begreift, oder doch der umgekommene Vater, fern der Heimat notdürftig begraben? Die letzten beiden Zeilen des Gedichts deuten auf den postulierten neuen Welt- und Selbstbezug hin, der nach Kast eine erfolgreiche Trauerarbeit ausmacht. So im Eigenen getröstet und mit dem Blick auf ein enormes, durch ihn selbst geschaffenes Erinnerungswerk, kann der Autor seine lebenslange Suche abschließen, dem ‚Rufen über den Wellen‘ folgen und sanft in die Ströme des Vergessens hinabgleiten. Und wie so oft liefert auch hier die eigenmächtige Recherche nach der Fortsetzung eines im Text abrupt endenden Zitats den entscheidenden Schlüssel für das Leseverständnis: „Wenn du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, dass dich die Ströme nicht ersäufen sollen“ (Kempowski 1992, 232), lautet der Trost versprechende Fortgang jenes Jesaja-Zitats, das dem inneren Zwiegespräch am Todesort des Vaters in Mark und Bein nachgestellt ist. So bricht Walter Kempowski zu seiner letzten Reise auf. Diesmal ist es eine Fahrt mit Charon.

3.15 Vergangenheitsbewältigung Sabine Kyora 1  Die Familienromane und die Vergangenheitsbewältigung der 1960er und 1970er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2  Die Befragungsbände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Vatertexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Das Echolot-Projekt und die Vergangenheitsbewältigung seit den 1990er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

370 374 375 376

Die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit hat Kempowski von den Anfängen seines Werkes bis zu dessen Ende beschäftigt. Kempowskis literarische Vergangenheitsbewältigung findet sowohl in den Werkgruppen der Deutschen Chronik als auch des Echolots statt. Sie beginnt schon in Tadellöser & Wolff im Jahr 1971, seiner zweiten Veröffentlichung nach Im Block von 1969, und begleitet ihn bis zum letzten Band des Echolots 2005. Obwohl Im Block die Bewältigung der NS-Zeit nicht in den Vordergrund stellt, wird auch hier gelegentlich in den Biographien der einzelnen Häftlinge Bezug genommen auf deren NS-Vergangenheit oder deren Verfolgungsgeschichte durch das nationalsozialistische Regime. In der unmittelbaren Situation in der Haft ist der Ich-Erzähler aber vor allem mit dem Überleben beschäftigt, so dass sich keine Reflexionen oder Erinnerungen an den Alltag im Nationalsozialismus finden.

370

3  Systematische Aspekte

Auch außerhalb der beiden großen Werkgruppen wird die Vergangenheitsbewältigung in den Romanen, z.  B. in Mark und Bein (vgl. Kempowski 1992a), immer wieder thematisiert. Darüber hinaus ist sie auch Thema in Kempowskis Hörspielen, z.  B. Moin Vadder läbt von 1980. In allen Texten hat Kempowski die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Herrschaft als Aufgabe für den Einzelnen verstanden, so wie er auch die Reaktionen und den Umgang mit dem nationalsozialistischen Regime in den Texten, die zwischen 1933 und 1945 spielen, auf der Ebene des Individuums und der Familie schildert. Die Bände des Echolots bilden hier keine Ausnahme, lassen aber neben unbekannten Privatleuten auch Vertreter aus der großen Politik, sowohl aus den Reihen der nationalsozialistischen Führungsschicht als auch führende Politiker der Alliierten, zu Wort kommen. In der Deutschen Chronik spielt die Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit einerseits eine wichtige Rolle bei der Inszenierung der Familiengeschichte der Rostocker Reederfamilie Kempowski, andererseits steht sie auch im Zentrum der beiden Befragungsbände Haben Sie Hitler gesehen? Deutsche Antworten (vgl. Kempowski 1973a) und Haben Sie davon gewusst? Deutsche Antworten (vgl. Kempowski 1979b). Während die Romane um die Familie Kempowski die Verquickung von bürgerlicher Weltsicht und nationalsozialistischer Politik vorführen, werden in den Interviewbänden Menschen aller Schichten zu ihren Erinnerungen an den Nationalsozialismus befragt. In den Befragungsbänden werden die Antworten der Zeitzeugen – wie bei den Zeugnissen des Echolots – vom Autor nur zugeschnitten und montiert, während Tadellöser & Wolff unter dem Motto „Alles frei erfunden!“ (Kempowski 1996a, 6) steht, also fiktive Elemente enthält. Kempowskis Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit ist auch vor dem Hintergrund zu sehen, dass dieses Thema die Bundesrepublik seit ihrer Gründung begleitet. So greift er in seinem Werk Klischees und Rituale der Vergangenheitsbewältigung auf, die sich in den öffentlichen Debatten und in der literarischen Verarbeitung des Nationalsozialismus herausbilden. Häufig unterlaufen seine Texte genau diese Klischees, um auf die Komplexität der historischen Situation aufmerksam zu machen, aber auch, um sie als Flucht vor der eigenen Verantwortung zu entlarven. 1 Die Familienromane und die Vergangenheitsbewältigung der 1960er und 1970er Jahre Die Familienromane umspannen insgesamt die Zeit vom Wilhelminischen Kaiserreich bis zu den frühen Jahren der BRD. Kempowski erkundet mit seiner Idee, die Familiengeschichte als „Sonde“ (zitiert nach Hempel 2004, 128) in die Vergangenheit zu benutzen, als Erstes die Zeit des Nationalsozialismus. Dies ist eine Entscheidung, welche die Wichtigkeit der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit für sein Gesamtwerk bereits anzeigt: Tadellöser & Wolff (vgl. Kempowski 1971a) erzählt die Geschichte der Familie Kempowski in den Jahren von 1939 bis 1945. Im folgenden Band

3.15 Vergangenheitsbewältigung371

wird diese dann in die unmittelbare Nachkriegszeit hinein fortgesetzt: Uns geht’s ja noch gold (vgl. Kempowski 1972a) schildert die Zeit von 1945 bis zur Verhaftung Walters 1948 und hier etwa auch die Reaktionen auf die Entnazifizierung-Anstrengungen der Alliierten. Schöne Aussicht (vgl. Kempowski 1981a) umfasst schließlich die Jahre der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus bis 1939, der Fokus liegt wie in den beiden anderen Romanen auf dem Alltag der Familie Kempowski. Dabei geht es auch um deren Haltung zur Regierungsübernahme durch die Nationalsozialisten, die der schon in Tadellöser & Wolff eingenommenen Position zum NS-Regime entspricht und distanziert, aber wohlwollend ist. Als Tadellöser & Wolff 1971 erscheint, positioniert Kempowski sich in einer bereits laufenden Debatte (vgl. Kyora 2010). Nicht nur in der Öffentlichkeit wurde die Vergangenheitsbewältigung seit den 1960er Jahren – mit ausgelöst durch die Prozesse gegen Eichmann und die Täter von Auschwitz – breit diskutiert, sondern auch die bundesrepublikanische Literatur hatte sich bereits des Themas angenommen. Gegenüber Ledig-Rowohlt, der das Manuskript von Tadellöser & Wolff abgelehnt hatte, muss Kempowski deswegen die Arbeit an seinem Roman in einem Brief von Ende Dezember 1969 rechtfertigen: „Daß andere Leute über die Nazi-Zeit geschrieben haben, ist für mich kein Grund, es zu lassen. Für meine Generation wird dieses Thema nie erledigt sein. Die jüngere politische Entwicklung in der Bundesrepublik zeigt außerdem, daß unsere Vergangenheit noch lange nicht ‚bewältigt‘ ist“ (Kempowski 2012a, 602). Kempowski selbst zieht Parallelen zu Grass’ Blechtrommel und zu Arno Schmidt, grenzt sich aber zumindest im Nachhinein gegen die Schreibweisen der Gruppe 47 ab (vgl. Hempel 2004, 114). Auch von deren Mitgliedern gab es bereits literarische Verarbeitungen der nationalsozialistischen Vergangenheit, etwa in Heinrich Bölls Kurzgeschichten oder in Alfred Anderschs Roman Sansibar oder der letzte Grund (1957). Darüber hinaus sind hier z.  B. die Gedichte Paul Celans oder Peter Weiss’ dokumentarisches Drama Die Ermittlung (1965) zu nennen. Es existierte also bereits eine große Bandbreite literarischer Formen, die sich der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus widmeten. Kempowskis Äußerungen zu Grass und Schmidt zeigen aber auch, wo er sich selbst mit seiner speziellen Form der Vergangenheitsbewältigung in den Familienromanen einordnet. So sagt er im Gespräch mit Manfred Durzak: „Ich selbst hatte ja den guten Grass zum Vorbild. Mit Hilfe dieser genialen Erfindung, dieses Oskar Matzerath, war es erstmals möglich geworden, locker über die Nazi-Zeit zu sprechen“ (zitiert nach Fischer 1992, 270). Hervorzuheben ist hier Kempowskis Hinweis auf den anderen Ton, den Grass in der Blechtrommel (1959) gefunden hat, um Nationalsozialismus und Krieg darzustellen, und der eine Parallele zu Kempowskis Familienromanen bildet. Ebenso wie bei Grass kommen der Witz und die grotesken Elemente in Tadellöser & Wolff durch die spezifische Perspektive des Erzählers zustande. Dieser ist, anders als bei Grass, vor allem ein Beobachter und gibt die Rede- und Verhaltensweisen seiner Umgebung unkommentiert wieder. Diese Perspektive und

372

3  Systematische Aspekte

der Ton von Tadellöser & Wolff können auch als Reaktion auf die Debatte um die Vergangenheitsbewältigung in den 1960er Jahren gelesen werden. Durch die personellen Kontinuitäten zwischen den NS-Eliten und denen der frühen BRD sowie durch die mangelnde Auseinandersetzung mit der Verantwortung der deutschen Bevölkerung für den Nationalsozialismus entstand in den 1960er Jahren die Rede von der ‚unbewältigten Vergangenheit‘. Sie hatte auch einen moralischen Akzent, d.  h. dass neben der Forderung nach lückenloser Aufklärung der NS-Verbrechen von den Zeitgenossen auch das Eingeständnis der eigenen Schuld am Nationalsozialismus erwartet wurde (vgl. Frei 2005, 35). Genau dieser Verpflichtung zur moralischen Bewertung entzieht sich Kempowski durch die Beobachterperspektive seines Erzählers, der Rede- und Verhaltensweisen sammelt und wiedergibt, aber nicht bewertet. Auch Schöne Aussicht, obwohl deutlich später veröffentlicht und ohne den Ich-Erzähler der vorherigen Romane, behält diese Haltung bei. Kempowskis Darstellung von zeitgenössischen Rede- und Verhaltensweisen liegt eine umfangreiche Materialsammlung zugrunde. Hier zeigt sich eine der Parallelen zu Arno Schmidts Arbeitsweise: So anregend waren alle seine Bücher. Das erste, das ich als Student in Göttingen kaufte, war ‚Brand’s Haide‘. In der Titelerzählung wurde uns in sonderbar hermetischer Sprache die Nachkriegszeit hingeblockt. Die später vielzitierte faktenreiche Rastertechnik machte einen tiefen Eindruck auf mich (die Sache mit den Zetteln hat mir auch sofort eingeleuchtet). (Kempowski 1979d, 41; zum Verhältnis zwischen Kempowski und Schmidt vgl. Czapla 2010)

Schmidts frühe Erzählungen zehren einerseits vom systematischen Sammeln von Material auf den erwähnten Zetteln, andererseits werden sie genau dadurch auch ‚faktenreich‘; beides hält Kempowski für vergleichbar mit seinem eigenen Vorgehen. Der ‚Faktenreichtum‘ der Texte beider Autoren lässt sich dabei am ehesten als Detailliertheit im Hinblick auf die Alltagswelt der jeweils geschilderten Zeit und der Umgebung der Figuren verstehen. Über Kempowskis eigenen Hinweis hinaus kann man sowohl Schmidts Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus zumindest in Aus dem Leben eines Fauns (1953) als auch Grass’ Perspektive in der Blechtrommel als Reaktion auf den Diskurs verstehen, der die frühen Jahre der BRD prägte. Er ließ die Deutschen zunächst vor allem als durch Hitler und eine kleine Führungsclique Manipulierte erscheinen, während ihr eigener Anteil am nationalsozialistischen Regime verschwiegen wurde (vgl. Wolfrum 2006, 175). Beide Romane stellen dagegen deutlich die Mittäterschaft und Verstrickung der Bevölkerung in den Nationalsozialismus heraus, eine Tendenz, die auch bei Tadellöser & Wolff, Uns geht’s ja noch gold und Schöne Aussicht erkennbar ist. Den erinnerungspolitischen Wechsel zur Frage nach der Involviertheit der Bevölkerung ins NS-System kann man in Kempowskis Romanen in konkreten, alltäglichen Situationen erkennen: So wird in Tadellöser & Wolff die Faszination durch das Militär und die Siege Hitlers beim Vater und Bruder des Ich-Erzählers klar erkennbar, wenn sie über den Vormarsch der deutschen Truppen in Polen reden (vgl. Kempowski 1996a, 92).

3.15 Vergangenheitsbewältigung373

Darüber hinaus wurde bei der Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg, besonders in den 1950er Jahren, immer wieder auf die Opferrolle der Deutschen hingewiesen, die selbst unter Bombenkrieg, Flucht und Vertreibung gelitten haben. Auch in der frühen Nachkriegsliteratur  – etwa in Heinrich Bölls Wanderer, kommst Du nach Spa… (1950) oder in Wolfgang Borcherts Nachts schlafen die Ratten doch (1947) – standen zunächst deutsche Opfer im Vordergrund, bei Böll etwa der junge Soldat, der an seinen Kriegsverletzungen stirbt. Schon in Grass’ Blechtrommel und in Schmidts Aus dem Leben eines Fauns wird dieses Muster durch die Darstellung der Verstrickung in die nationalsozialistische Ideologie konterkariert. Wenn diese Opfer-Perspektive in Kempowskis Romanen erscheint, wird sie deutlich als indirekte Rede gekennzeichnet und an eine bestimmte Person gebunden, also als zitierte Äußerung markiert. Der Tod des Vaters, der Anlass geben könnte, ihn als Opfer darzustellen, wird kaum kommentiert, die wenigen berichteten Äußerungen akzentuieren eher die Sinnlosigkeit seines Todes kurz vor Kriegsende. Auch in dieser Hinsicht sind also Parallelen zu Schmidts und Grass’ Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit zu konstatieren. An zwei weiteren Punkten kann man Kempowskis Romane in den Kontext des Diskurses der Vergangenheitsbewältigung in den 1960er und frühen 1970er Jahren einordnen. Die Vergangenheitspolitik der frühen BRD zielte darauf, Hitler als eine Art Dämon darzustellen, der das deutsche Volk in den Abgrund geführt habe und der zusammen mit der Führungsclique des NSRegimes allein für die Verbrechen im Nationalsozialismus verantwortlich sei. Dieses Hitler-Bild wird in den 1960er Jahren durch die Aufarbeitung der Beteiligung aller Bevölkerungsgruppen zunehmend relativiert. In den FamilienRomanen Kempowskis zeigen sich ähnliche Tendenzen, auch kann die Entdämonisierung Hitlers als Intention für den ersten Befragungsband vermutet werden. Diese wird in Schöne Aussicht fortgesetzt, wenn z.  B. vom „Schnitzel à la Hitler“ (Kempowski 1981a, 358) die Rede ist, das in einem Ausflugsrestaurant bestellt werden kann. Schließlich wird hier ein Hitler-Besuch in Rostock geschildert, bei dem einerseits die Begeisterung der Menge und der Familie Kempowski klar wird. Andererseits lässt gerade Grethes Reaktion erkennen, dass Hitler kein Dämon, sondern zumindest in ihrer Wahrnehmung der Nachfolger des Kaisers ist, also in einer Reihe von Herrschern steht, dem das Volk seine Reverenz zu erweisen habe, und so ruft sie eben „Hurra!“ statt „Heil!“ (Kempowski 1981a, 497) Der dritte wichtige Aspekt der Vergangenheitsbewältigung, der auch bei Kempowski eine Rolle spielt, ist das Verhältnis zwischen den Generationen, nämlich zwischen der Generation, die zur Zeit des Nationalsozialismus erwachsen ist und Funktionen innerhalb des Regimes übernommen hat, und der nachfolgenden Generation (vgl. Frei 2005, 37). So lautet in Uns geht’s ja noch gold eine Frage, mit der sich der Ich-Erzähler konfrontiert sieht: „In langen Artikeln wurde auseinandergesetzt: Soldat, das wär dasselbe wie Verbrecher. Offizier gleich Schwerverbrecher. Der eigene Vater ein Verbrecher?“ (Kempowski 1975b, 74) 1945, also auf der Ebene der hier erzählten Zeit, sind

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3  Systematische Aspekte

die ‚langen Artikel‘ noch als Teil der von den Alliierten initiierten politischen und gesellschaftlichen Entnazifizierung zu verstehen. 1972, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Romans, kann man die sich anschließende Überlegung des Ich-Erzählers auch als Teil der Reflexion der deutschen Schuld und als Auseinandersetzung mit der Rolle des Vaters im Nationalsozialismus lesen. Wobei der Wortlaut der Frage – der Formulierung des ‚Verbrechens‘ – einerseits die moralische Aufladung der Debatte seit den 1960er Jahren zum Ausdruck bringt, sich aber andererseits durch die Form der eindeutigen moralischen Verurteilung des Vaters entzieht. Kempowski positioniert sich also mit den drei genannten Aspekten – dem Verhältnis zwischen der Elterngeneration und den Jugendlichen, der Infragestellung des behaupteten Opferstatus’ der Deutschen sowie dem Verhältnis zwischen Hitler und der Bevölkerung – im Diskurs der Vergangenheitsbewältigung der späten 1960er und frühen 1970er Jahre. Herauszuheben ist dabei allerdings, dass er die moralische Bewertung seiner Figuren vermeidet. Einzelne dieser Aspekte nimmt er auch in den Befragungsbänden von 1973 und 1979, dem Hörspiel Moin Vadder läbt (1980b) und in seinem Roman Mark und Bein (1992a) wieder auf. 2  Die Befragungsbände Im ersten Befragungsband Haben Sie Hitler gesehen? Deutsche Antworten (1973a, erweiterte Auflage 1999  f) äußern sich Menschen der unterschiedlichsten Berufsgruppen aus den Geburtsjahrgängen 1881 bis 1937; eine bereits von der Mutter vermittelte Erinnerung wird von einem Juristen mit dem Geburtsjahrgang 1944 wiedergegeben. Die meisten der sich Erinnernden sind in den 1910er und 1920er Jahren geboren, bürgerliche und künstlerische Berufe sind eher überrepräsentiert. Trotzdem zeigen die Antworten ein breites Spektrum der Erinnerung an Hitler, das in dieser Form den Klischees des HitlerBildes sowie der Dämonisierung der 1950er Jahre entgegenwirkt (vgl. Ladenthin 2005, 134). So erzählen die Befragten einerseits von Hitlers angeblich hypnotischer Wirkung auf Menschen und den begeisterten Massen bei seinen Auftritten, andererseits schildern sie das genaue Gegenteil: „Für mich war verblüffend die geringe Teilnahme, es stand kaum jemand am Straßenrand, ich hatte mir das anders vorgestellt. Das Heilrufen erstarb wegen der Dünne und wegen des Genierens. Die Leute gingen einfach weiter, einkaufen oder was“ (Kempowski 1999  f, 90). Erkennbar existiert hier bereits ein Bild von Hitler, das offensichtlich zeitgenössisch durch die Propaganda konstruiert wurde und bis in die Nachkriegszeit hinein wirkte. Die Erfahrung der sich erinnernden Germanistin aus dem Jahrgang 1909 widerspricht aber diesem konstruierten Bild. Durch die hintereinander montierten Antworten werden so die gängigen Klischees, hier das der Massenwirksamkeit Hitlers bei seinen Auftritten, sowohl zitiert als auch unterlaufen. An die Stelle des angeblich auf alle hypnotisch wirkenden Hitler tritt die individuelle Erfahrung und damit auch die individuelle Verantwortung dafür, sich von Hitler faszinieren zu lassen.

3.15 Vergangenheitsbewältigung375

In Kempowskis Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit steht der Holocaust als direkt geschildertes Geschehen nicht im Vordergrund, er ist aber gleichwohl ständig gegenwärtig. Das Verschwinden von jüdischen Nachbarn wird in Tadellöser & Wolff und in Schöne Aussicht – wo sich eine Nachbarin direkt an Karl Kempowski wendet und um Hilfe bei der Flucht bittet (vgl. Kempowski 1981a, 377  f.) – ebenso registriert, wie KZHäftlinge erwähnt werden. Dadurch, dass der Fokus der Darstellung auf einer nicht-jüdischen, bürgerlichen Familie liegt, stammen viele Informationen nur aus zweiter Hand, wobei der Anteil des Nichtwissenwollens und der Beschönigung auch mitgedacht und miterzählt wird. So reden die Kempowskis in Schöne Aussicht immer von „sonderbaren Geschichten“ (Kempowski 1981a, 343), wenn sie Verfolgungen durch das Regime meinen. Diesem Aspekt geht Kempowskis zweiter Befragungsband Haben Sie davon gewusst? Deutsche Antworten (1979b) nach. Die Art der Frage lässt schon erkennen, dass Kempowski damit rechnet, dass seine Gesprächspartner eine Vorstellung davon haben, was mit ‚davon‘ gemeint ist. Einerseits zeigt diese Formulierung also, dass auch hier bereits feststehende Redewendungen wie ‚Davon haben wir nichts gewusst‘ vorhanden sind, andererseits nimmt der Fragende anscheinend ein kollektives Gedächtnis an, in dem diese Formulierung eindeutig mit dem Holocaust und der Vergangenheitsbewältigung verbunden ist. Kempowskis Befragungsbände zeigen also die Klischees des Redens über den Nationalsozialismus, die vor allem der Abwehr der Schuld und der eigenen Verantwortung dienen, und versuchen genau diese zu kritisieren. Kempowskis Verfahren nähert ebenfalls sich dabei dokumentarischen Textformen an, die in den 1960er Jahren ebenfalls bei Peter Weiss, Alexander Kluge oder Rolf Hochhuth zu finden sind. Auch die O-Ton-Hörspiele der 1960er Jahre arbeiten ähnlich, indem sie reale Äußerungen aufzeichnen und dann zuschneiden. Gleichzeitig kann man die Befragungsbände auch als Vorarbeiten zum Echolot-Projekt verstehen, da sie durch die unterschiedlichen Antworten versuchen, eine Art kollektive Erinnerung in ihrer ganzen sozialen und generationsabhängigen Reichhaltigkeit zu rekonstruieren. 3 Vatertexte Das Verhältnis der Generationen und deren Beziehung zum Nationalsozialismus, speziell die Beziehung zwischen Vater und Sohn, verbindet das Hörspiel Moin Vaddr läbt (1980b) und den Roman Mark und Bein (1992a) mit anderer ‚Väterliteratur‘ der 1980er Jahre, aber auch mit den Familienromanen Kempowskis (vgl. Damiano 2010, 98). Beide Texte rufen den im Zweiten Weltkrieg gefallenen Vater von den Toten herauf: Im Hörspiel lebt der Vater getrennt von der Familie im Keller und ist für alle Lebendigen unsichtbar; im Roman vergegenwärtigt sich Jonathan Fabrizius den Tod seines Vaters während der Kämpfe um die Frische Nehrung, wobei dieser ihn wie ein Gespenst beobachtet (vgl. Kempowski 1992a, 231). Man kann die Darstellung des toten Vaters, wie Carla Damiano es tut, als Symbol der geforderten und vom Sohn zu leistenden

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3  Systematische Aspekte

Vergangenheitsbewältigung lesen (vgl. Damiano 2010, 100). So wie der Vater nicht sterben kann, solange der Sohn seinen Tod und sein Involviertsein in den Nationalsozialismus nicht erinnert, so kann er im Hörspiel auch nicht Teil der Familie sein, weil der Sohn angesichts der Verbrechen des Zweiten Weltkriegs nicht um ihn trauern kann oder darf (vgl. Drews 1989, 17). Dass der Vater in beiden Fällen tot ist, zeigt aber abseits der biographischen Parallelen zu Kempowski, dass die direkte Auseinandersetzung zwischen den Generationen sowie das Reden über Schuld und Verantwortung nicht stattfinden, dass die Erfahrung des Vaters nicht an den Sohn weitergegeben werden kann. So strickt in Moin Vaddr läbt der Vater eine „lang-langa G’schicht“ (Kempowski 1982a, 90), die den Sohn nie erreichen wird. Verursacht durch den Tod des Vaters im Krieg entsteht also eine Sprachlosigkeit zwischen den Generationen, die die Auseinandersetzung und die Bewältigung der Vergangenheit durch den Sohn verhindert. Insofern zeigt Kempowskis Darstellung des Generationenkonflikts bezogen auf den Nationalsozialismus eine besondere Konstellation. Häufiger ist der Vorwurf an den Vater zu finden, der im Nachkriegsdeutschland über seinen Anteil am NS-Staat schweigt, z.  B. in Christoph Meckels Suchbild. Über meinen Vater (1980). Meckels Vater erzählt zwar Geschichten aus dem Krieg, ist aber nicht bereit, über seine Verantwortung zu sprechen. 4 Das Echolot-Projekt und die Vergangenheitsbewältigung seit den 1990er Jahren Die dokumentarische Arbeitsweise der Befragungsbände nimmt das Echolot-Projekt ab 1993 wieder auf. Kempowski hat jeweils einen kurzen Zeitabschnitt ausgewählt, der für die Geschichte des Zweiten Weltkriegs besonders bedeutsam war: Im ersten Teil des Echolots (vgl. Kempowski 1993a) geht es um den Januar und Februar 1943 – die Kämpfe um Stalingrad, die Ermordung der Geschwister Scholl und die Belagerung von Leningrad durch deutsche Truppen –, im zweiten Teil Das Echolot. Fuga furiosa (1999d) und in Das Echolot. Abgesang ’45 (2005b) stehen die Ereignisse im Januar und Februar 1945 und vom Kriegsende zwischen dem 20. April und 9. Mai 1945 im Vordergrund. Der rote Hahn. Dresden im Februar1945 (2001a) nimmt diesen Zeitraum noch einmal auf und konzentriert sich auf die Bombenangriffe auf Dresden. In Das Echolot. Barbarossa ’41 (2002) ist das Material um den Beginn des Russlandfeldzuges gruppiert. Kempowski konzentriert sich also nicht nur auf entscheidende Abschnitte des Kriegsgeschehens, sondern auch auf Ereignisse, die im kollektiven Gedächtnis nicht nur der Deutschen eine große Rolle spielen und mit denen weit verbreitete Bilder und Erzählungen verbunden sind. Im Gegensatz zu den Befragungsbänden montiert Kempowski hier jedoch nicht nur ‚deutsche Antworten‘, sondern lässt Zeitzeugen aus ganz Europa zu Wort kommen. Seine Quellen reichen von den Memoiren wichtiger Politiker bis zu unveröffentlichten Soldatenbriefen aus seinem Nartumer Archiv. Das Strukturprinzip ist dabei – anders als in den Befragungsbänden – nicht

3.15 Vergangenheitsbewältigung377

die direkte Frage nach einem Aspekt der Vergangenheit, sondern die Rekonstruktion eines entscheidenden Abschnitts der Geschichte des Zweiten Weltkriegs. Das Fehlen der expliziten moralischen Wertung, das schon ein Element der Familienromane und der Befragungsbände war, wird hier fortgesetzt und resultiert aus Kempowskis Wertschätzung der Zeitzeugen, die er im Vorwort zu den ersten Echolot-Bänden sehr deutlich formuliert. Auch der Detailreichtum ist vergleichbar mit den Familienromanen, wird hier jedoch durch die Vielzahl der Zeitzeugen erreicht und führt zu einer Art Panorama eines bestimmten historischen Augenblicks. Das Echolot-Projekt lässt sich aber auch in Beziehung setzen zu den Tendenzen der Vergangenheitsbewältigung, wie sie ab Mitte der 1980er Jahre die Geschichtswissenschaft und die öffentliche Diskussion beherrschten (vgl. Kyora 2005). So kam es in der Geschichtswissenschaft zu einer Hinwendung zur Alltagsgeschichte des Nationalsozialismus – hier könnte man allerdings sagen, dass Kempowski schon mit seinen Familienromanen das alltägliche Leben im NS-Staat schildert – und zur Reflexion darüber, dass mit dem Aussterben der Zeitzeugen ein neuer Abschnitt der Vergangenheitsbewältigung erreicht wird. Dieser Aspekt wurde in der öffentlichen Diskussion zu Beginn der 1990er Jahre aufgegriffen, er kann aber auch als Impuls für die EcholotBände verstanden werden (vgl. Frei 2005, 41–62). In seinen Bemerkungen zum ersten Echolot spricht Kempowski ausdrücklich von seinem Vorhaben, „zu retten, was zu retten ist, ich habe nie etwas liegen lassen können, ich habe aufgesammelt, was zu bekommen war, und ich habe alles gesichtet und geordnet“ (Kempowski 1993a, Bd. 1, 7). Gerade der Versuch, die schriftlichen Zeugnisse und damit die Perspektiven der unbekannten Zeitzeugen auf ihre Gegenwart zu retten, ist neben dem Montageverfahren am auffälligsten an der Konstruktion der Echolot-Bände. Das Montageverfahren kann wiederum in Beziehung zu einer weiteren Tendenz der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus gesehen werden. Durch den zunehmenden zeitlichen Abstand und durch die abnehmende Zahl der Zeitzeugen rückt die Reflexion der Erinnerungskonstruktion in den Blickpunkt. Dadurch, dass Erinnerung kein statischer Prozess ist, sondern vom jeweiligen Standpunkt in der Gegenwart abhängt, verändert sich der Blick auf die Vergangenheit (vgl. Assmann 1999a, 145  ff.). Literarisch lassen sich dann Romanformen finden, in denen der Konstruktionsprozess der Erinnerung miterzählt wird, etwa in Dagmar Leupolds Erinnerungen an ihren Vater und dessen Integration in den Nationalsozialismus in Nach den Kriegen (vgl. Leupold 2004). Auch Marcel Beyers Roman Flughunde (vgl. Beyer 1995) macht deutlich, dass unterschiedliche Perspektiven zu einer jeweils differenten Geschichte des Nationalsozialismus’ führen: Er lässt zwei Erzähler zu Wort kommen, Goebbels älteste Tochter und einen Stimmforscher. Allerdings lässt sich das Echolot auch mit den dokumentarischen Formen der Vergangenheitsbewältigung in Verbindung bringen. So zieht Alexander Kluge eine Parallele zwischen dem Umgang mit dem Material in seinem Luftangriff auf Halberstadt (vgl. Kluge 1977a) und im Echolot (vgl. Kluge 2003, 207).

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3  Systematische Aspekte

Demgegenüber stehen in den 1990er Jahren Tendenzen zur Rekonstruktion der individuellen Erinnerung etwa in den Autobiographien von Kempowskis Generationsgenossen Ludwig Harig, Günter Grass und Martin Walser, die aber gerade in der Beschränkung auf die individuelle Erfahrung auch die Wichtigkeit des Standorts für die Erinnerung deutlich werden lassen und den Prozess der Erinnerung in die Autobiographie integrieren. Im Echolot erfolgt die Reflexion der Erinnerungskonstruktion implizit durch die Zeitzeugen. Anders als bei dem begrenzten Figurenkreis der Familienromane sind diese so gewählt, dass sie auch die große Politik ins Spiel bringen. Die Perspektive auf den Zweiten Weltkrieg, Nationalsozialismus und Holocaust ist also eine wesentlich breitere. Durch diese Breite wird vor allen Dingen die synchrone Ebene des Geschehens erkennbar – gleichzeitig erleben an unterschiedlichen Orten und in unterschiedlichen politischen und sozialen Bereichen die Beteiligten ganz verschiedene Facetten von Nationalsozialismus und Krieg. Diese Betonung der Simultanität kann als Beitrag zur Reflexion der Erinnerungskonstruktion gelesen werden, denn Kempowski akzentuiert dadurch das Moment der Gleichzeitigkeit als wichtige Perspektive auf ein so komplexes Geschehen wie den Zweiten Weltkrieg. Darüber hinaus wird dadurch auch ein Manko der Erfahrungs- und Alltagsgeschichtsschreibung offengelegt: Sie kann immer nur die Erfahrungen wiedergeben, die sie gerade erforscht, nicht die ganze Breite des Geschehens. Insofern ist das Echolot-Projekt auch eine Ergänzung der Familienromane, denn es fügt deren Alltagsperspektive mit der sozialen Bindung ans Bürgertum andere Erfahrungsdimensionen hinzu. Weiteren Zündstoff besaß in den öffentlichen Debatten seit den 1980er Jahren – in der Geschichtswissenschaft am deutlichsten erkennbar am sogenannten Historiker-Streit 1986 – die Frage nach der Einordnung des Nationalsozialismus in die deutsche Geschichte. Erörtert wurde, ob das nationalsozialistische Regime in die deutsche und die europäische Geschichte integriert werden kann oder ob es eine singuläre Ausnahmeerscheinung darstellt. Kontrovers wurde dabei eingeschätzt, ob mit dieser Einordnung eine Relativierung der nationalsozialistischen Verbrechen verbunden ist (vgl. Fischer und Lorenz 2007, 238–240). Das Nebeneinander der einzelnen Ausschnitte im Echolot kann durchaus im Sinne dieser Auseinandersetzung als Plädoyer für die Relativierung und Kontextualisierung des Geschehens im nationalsozialistischen Deutschland gelesen werden, wobei wahrscheinlich eher die Relativierung z.  B. der Behauptung von der Opferrolle der Deutschen erreicht werden sollte. So werden durch die zitierten Zeugnisse im Echolot von 1943 die Leiden der russischen Zivilbevölkerung im von deutschen Truppen belagerten Leningrad sehr deutlich. Die Relativierung der nationalsozialistischen Herrschaft durch ihre Kontextualisierung hat Kempowski wohl eher als Gefahr betrachtet: Wenn man sich die Abfolge der montierten Elemente genauer ansieht, stößt man häufig auf Kontrastmontagen, d.  h. dass z.  B. auf die Tagebucheintragung eines jungen Soldaten, der die NS-Ideologie übernommen hat und sich antisemitisch äußert, Zeugnisse aus dem Umkreis der Weißen Rose folgen, so dass deutlich wird, dass es innerhalb derselben Generation auch andere Optionen

3.15 Vergangenheitsbewältigung379

gab. Andererseits ist im Vorwort von der „Liebe“ die Rede, die Kempowski den „Guten“ und „Bösen“ gleichermaßen (Kempowski 1993a, Bd. 1, 7) entgegenbringt – eine Äußerung, die durchaus als Relativierung des Unterschieds von Tätern und Opfern gelesen werden könnte. Schließlich findet in den frühen 1990er Jahren auch die (Wieder-)Entdeckung des kollektiven Gedächtnisses als Konzept statt, das an die Stelle der Vergangenheitsbewältigung treten kann. Der Begriff, von Maurice Halbwachs bereits in den 1920er Jahren geprägt, geht davon aus, dass sich durch öffentliche Debatten, literarische Erzählungen, familiäre Erinnerungen, aber auch historiographische Diskussionen bestimmte Muster des Erinnerns ausprägen, die nicht nur für eine kleine Gemeinschaft, wie etwa die Familie, in der die Geschichte erzählt wird, gelten, sondern auf die gesamtgesellschaftlich rekurriert werden kann (vgl. Assmann 2006, 29–31). Diese Muster wären dann z.  B. das Eingeständnis der moralischen Verantwortung, die Zuweisung von Opferrolle oder Täterschaft. Dieses Konzept bietet eine Möglichkeit, den Diskurs der Vergangenheitsbewältigung zu beschreiben und zu reflektieren. Zu diesem Konzept lässt sich für das Echolot deswegen eine gewisse Nähe konstatieren, weil Kempowski dem Echolot den Untertitel Ein kollektives Tagebuch gegeben hat. Er setzt in der Präsentation des Materials auch durchaus ein kollektives Gedächtnis voraus, weil durch die Schnitttechnik Zusammenhänge nicht erklärt werden, sie müssen vielmehr vom Leser hergestellt werden. Das ist aber nur möglich, wenn der Leser Personen wie die Geschwister Scholl oder Himmler zuordnen kann und Muster der NS-Aufarbeitung oder der Darstellung des Widerstands kennt. Anders als das kollektive Gedächtnis weiß das Tagebuch allerdings noch nichts über den Fortgang der Geschichte, d.  h. Kempowski hat so geschnitten und montiert, dass der Eindruck der Gegenwart des Geschehens entsteht, als ob der Ausgang des Zweiten Weltkriegs den Schreibern nicht bekannt ist. Dies mag für die Schreiber der Tagebücher und Briefe durchaus so gewesen sein; bei den Zitaten aus Memoiren und Autobiographien musste dieser Eindruck aber durch den Schnitt erst konstruiert werden. In gewisser Weise setzt das Echolot damit an die Quelle dessen an, was später zum kollektiven Gedächtnis wird. Damit unterläuft es die Muster des Erinnerns, die sich bis in die 1990er Jahre herausgebildet haben, und stellt die Divergenz der Erfahrung im historischen Augenblick dagegen. Kempowskis Form der Vergangenheitsbewältigung ist also einerseits dadurch gekennzeichnet, dass er Klischees der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus wie etwa die Dämonisierung Hitlers aufnimmt und unterläuft. Andererseits vermeidet er durch den Verzicht auf die moralische Bewertung eine Ritualisierung des Gedenkens, die immer nur ein Schuldeingeständnis verlangt, ohne sich der Frage nach Verantwortlichkeit wirklich auszusetzen. Die Mikroperspektive der Familie und des einzelnen Zeitzeugen macht auch deutlich, wie individuell die Erfahrung selbst in einem totalitären Staat ist und dass Verantwortung sich an diesen individuellen Lebensumständen messen muss, nicht an abstrakten moralischen Leitsätzen. Schließlich ist

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3  Systematische Aspekte

die Beobachterperspektive von Kempowskis Erzählern sowie sein Verzicht auf einen Erzähler im Echolot sowohl Voraussetzung dafür, dass das Geschehen nicht bewertet wird, als auch der Grund für die Detailliertheit, mit der der Alltag während des Nationalsozialismus’ rekonstruiert wird.

4 Literaturverzeichnis Hinweis: Zur Werkgruppe der Deutschen Chronik – auch als ‚Familien-Romane‘ bezeichnet – gehören die Romane Tadellöser & Wolff. Ein bürgerlicher Roman (1971), Uns geht’s ja noch gold. Roman einer Familie (1972a), Ein Kapitel für sich (1975a), Aus großer Zeit (1978a), Schöne Aussicht (1981a) und Herzlich willkommen (1984) sowie die Befragungsbände Haben Sie Hitler gesehen? Deutsche Antworten (1973a), Haben Sie davon gewußt? Deutsche Antworten (1979b) sowie Schule. Immer so durchgemogelt. Erinnerungen an unsere Schulzeit (1974a).

1  Kempowski-Ausgaben und Publikationen Kempowski, Walter (o. J. f). „Meine Erfahrungen mit der Landschule“. Die kleine Grundschule. Hrsg. vom Niedersächsischen Kultusministerium. Hannover: 10–18. Kempowski, Walter (1969). Im Block. Ein Haftbericht. Reinbek bei Hamburg. Kempowski, Walter (1971a). Tadellöser & Wolff. Ein bürgerlicher Roman. München. Kempowski, Walter (1972a). Uns geht’s ja noch gold. Roman einer Familie. München. Kempowski, Walter (1972b). Im Block. Frankfurt a.  M. Kempowski, Walter (1973a). Haben Sie Hitler gesehen? Deutsche Antworten. München. Kempowski, Walter (1973b). Der Hahn im Nacken. Minigeschichten. Reinbek bei Hamburg. Kempowski, Walter (1974a). Immer so durchgemogelt. Erinnerungen an unsere Schulzeit. München. Kempowski, Walter (1974b). Walter Kempowskis Harzreise. Erläutert. München. Kempowski, Walter (1974c). „Prügelknabe der Nation: Aus der Schule geplaudert. Interview mit Hilke Prillman“. Die Welt, 4. April 1974: X. Kempowski, Walter (1975a). Ein Kapitel für sich. München. Kempowski, Walter (1975b). Uns geht’s ja noch gold. Hamburg. Kempowski, Walter (1975  f). Beim alten Herrn Kempowski: Walter Kempowski liest aus einem noch unveröffentlichten Roman. Radiomanuskript RFS. Kempowski, Walter (1976a). Alle unter einem Hut. Über 170 witzige und amüsante Alltags-Miniminigeschichten in Großdruckschrift. Bilder von Anne Bous. Bayreuth. Kempowski, Walter (1976b). Immer so durchgemogelt. Erinnerungen an unsere Schulzeit. Ungekürzte Ausgabe. Frankfurt a.  M. Kempowski, Walter (1978a). Aus großer Zeit. Hamburg. Kempowski, Walter (1978b). Tadellöser & Wolff. München. Kempowski, Walter (1978c). „Vom Segen der Väter: eine stegreife Meditation über Schiffsmodelle“. Westermanns Monatshefte 8 (1978): 42–43. Kempowski, Walter (1978d). Uns geht’s ja noch gold. München. Kempowski, Walter (1979a). Unser Herr Böckelmann. Mit Illustrationen von Roswitha Quadflieg. Hamburg. Kempowski, Walter (1979b). Haben Sie davon gewußt? Deutsche Antworten. Hamburg. Kempowski, Walter (1979c). „O Gott, was macht der denn da?“. Der Spiegel 14 (1979): 60–65.

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4 Literaturverzeichnis

Kempowski, Walter (1979d). „Er kam mir immer als der beste Mensch vor. Ein Nachruf auf Arno Schmidt“. Die Zeit, 15. 06. 1979: 41. Kempowski, Walter (1979e). Immer so durchgemogelt. Erinnerungen an unsere Schulzeit. Gesammelt von Walter Kempowski. Hamburg. Kempowski, Walter (1979  f). „Ich begann, meinen Ärger zu sublimieren“. Wie ich anfing… 24 Autoren berichten von ihren Anfängen. Hrsg. v. Hans Daiber. Düsseldorf: 227–238. Kempowski, Walter (1979g). „Über die Sehnsucht nach der eignen Höhle“. Trautes Heim, Glück allein. Fünf Standpunkte zum Wohnen heute. Hrsg. v. d. Leonberger Bausparkasse. Leonberg: 20–25. Kempowski, Walter (1979h). „Mein Haus ist wie ein Buch von mir“. Mosaik 3 (1979): 28–32. Kempowski, Walter (1980a). Kempowskis Einfache Fibel. Mit Illustrationen von Manfred Limmroth. Braunschweig. Kempowski, Walter (1980c). „Deutsche Schule“. Der Monat 2 (1980): 33–48. Kempowski, Walter (Hg.) (1980d). Mein Lesebuch. Frankfurt a.  M. Kempowski, Walter (1981a). Schöne Aussicht. Roman. München. Kempowski, Walter (1981b). „Zeitgeschichte und Biographie. Der Zusammenhang meiner Romane“. Biographie in handlungswissenschaftlicher Perspektive. Hrsg. v. Joachim Mattes u.  a. Nürnberg: 199–205. Kempowski, Walter (1981c). Kempowskis Einfache Fibel. Lehrerband. Braunschweig. Kempowski, Walter (1981d). Kempowskis Einfache Fibel. Übungsteil. Braunschweig. Kempowski, Walter (1981e). Kempowskis Einfache Fibel. Die 14 Ausschneidebögen. Braunschweig. Kempowski, Walter (1981  f). „Fragebogen“. Magazin der Frankfurt Allgemeinen Zeitung 89 (13. 11. 1981): 50. Kempowski, Walter (1981g). „Familienfeier“. Der Monat 1 (1981): 97–112. Kempowski, Walter (1982a). Beethovens Fünfte und Moin Vaddr läbt. Handschriften und Materialien der Hörspiele. Hamburg. Kempowski, Walter (1983a). Unser Herr Böckelmann. Sein Lebenslauf. Aufgezeichnet und illustriert von Prof. Jeremias Deutelmoser, 1. Vorsitzender der BöckelmannGesellschaft. Hamburg. Kempowski, Walter (1983b). Herrn Böckelmanns schönste Tafelgeschichten. Illustriert von Roswitha Quadflieg. München. Kempowski, Walter (1983c). Herrn Böckelmanns schönste Tafelgeschichten. Illustriert von Roswitha Quadflieg. München. [Auf 200 Stück limitierte Vorzugsausgabe; gebunden, Lederrücken, Hardcover, Goldprägung, Kartonschuber; auf der letzten Seite vom Autor und von der Illustratorin signiert.] Kempowski, Walter (1984a). Herzlich willkommen. München. Kempowski, Walter (1986a). Haumiblau. 208 Pfenniggeschichten für Kinder. München. Kempowski, Walter (1986b). „Schule schwänzen – Antwort auf die Beton-Pädagogik“. Unser Kind 5 (1986): 3. Kempowski, Walter (1987a). „Das Ruderboot: ein Beispiel für die Beteiligung des Unbewußten an einem literarischen Prozeß“. Seiltanz auf festen Versesfüßen: neun Autoren an der Marburger Universität. Hrsg. v. Wilhelm Solms. Marburg: 43–56. Kempowski, Walter (1987b). Lesenlernen – trotz aller Methoden. Ein Exkurs über Fibeln. Vortrag, gehalten am Georg-Eckert-Institut für Internationale Schulbuchforschung. Braunschweig. Kempowski, Walter (1987c). Im Block. Ein Haftbericht. München. Kempowski, Walter (1987d). „Deutsche Familienfeste“. Zeit-Magazin, 25. 12. 1987: 14–23.

1  Kempowski-Ausgaben und Publikationen383 Kempowski, Walter (1988a). Hundstage. Roman. München. Kempowski, Walter (1990a). Sirius. Eine Art Tagebuch. München. Kempowski, Walter (1990b). In Rostock. Freiburg. Kempowski, Walter (1990c). „Die Backstein-Riesen im deutschen Norden“. Lufthansa Bordbuch 9,10 (1990): 74–80. Kempowski, Walter (1991a). „Immer eine Gurke mehr“. Dressler, Fritz; Walter Kempowski; Jürgen Borchert und Otto Emersleben: Mecklenburg-Vorpommern (= Sonderausgabe für TIME-LIFE Books). München: 9–14. Kempowski, Walter (1991b). Dog Days [Englische Fassung von Hundstage]. Columbia. Kempowski, Walter (1992a). Mark und Bein. Eine Episode. München. Kempowski, Walter (1992b). Tadellöser & Wolff. München. Kempowski, Walter (1993–2005). Das Echolot. München. Kempowski, Walter (1993a). Das Echolot. Ein kollektives Tagebuch. Januar und Februar 1943. 4 Bde. München. Kempowski, Walter (1993b). „Bis ans Ende meiner Tage“. Interview mit Volker Hage. Spiegel Spezial 5 (1993): 32–34; 37. Kempowski, Walter (1993d). „Interview mit Paul Jandl. Deutsches Domino“. Der Standard, 26. 11. 1993: Album A3. Kempowski, Walter (1994a). Der arme König von Opplawur. Ein Märchen. Mit Bildern von Renate Kempowski. München. Kempowski, Walter (1994b). Mein Rostock. Hrsg. mit Heimo Schwilk. Frankfurt a.  M. u. Berlin. Kempowski, Walter (1994d). Konkordanz zu Walter Kempowskis ‚Deutscher Chronik‘. 10 Bde. Hrsg. v. Alan Keele. Hildesheim. Kempowski, Walter (1994e). „Der Herbst der Tagebücher: Walter Kempowski“. Spiegel Special 10 (1994): 14. Kempowski, Walter (1995a). Weltschmerz. Kinderszenen fast zu ernst. München. Kempowski, Walter (1996a). Tadellöser & Wolff. München. Kempowksi, Walter (1997a). Bloomsday ’97. München. Kempowski, Walter (1997b). Notizen zum Bloomsday ’97. München. Kempowski, Walter (1998). Heile Welt. Roman. München. Kempowski, Walter (1999a). Haben Sie davon gewußt? Deutsche Antworten. München. (= Die deutsche Chronik VI.) Kempowski, Walter (1999b). Herzlich willkommen. München. (= Die deutsche Chronik IX.) Kempowski, Walter (1999c). Ein Kapitel für sich. 3. Auflage. München. Kempowski, Walter (1999d). Das Echolot. Fuga furiosa. Ein kollektives Tagebuch Winter 1945. 4 Bde. München. Kempowski, Walter (1999e). Schule. Immer so durchgemogelt. München. (= Die deutsche Chronik VIII.) Kempowski, Walter (1999  f). Haben Sie Hitler gesehen? Deutsche Antworten. Erw. Aufl. München. (= Die deutsche Chronik III.) Kempowski, Walter (1999g). Tadellöser & Wolff. Ein bürgerlicher Roman. München. Kempowski, Walter (1999h). Uns geht’s ja noch gold. Roman einer Familie. München. Kempowski, Walter (1999i). Aus großer Zeit. Roman. München. Kempowski, Walter (2001a). Der rote Hahn. Dresden im Februar 1945. München. Kempowski, Walter (2001b). Alkor. Tagebuch 1989. München. Kempowski, Walter (2002). Das Echolot. Barbarossa ’41. Ein kollektives Tagebuch. München. Kempowski, Walter (2003). Letzte Grüße. München. Kempowski, Walter (2004a). Im Block. München.

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4 Literaturverzeichnis

Kempowski, Walter (2004b). „‚Das Wichtigste: Unser Führer lebt‘. Der 20. Juli 1944 – Echo eines Attentats. Ein Zeitbild aus Tagebüchern, Briefen und Erinnerungen“. Die Zeit, 08. 07. 2004: 11–14. Kempowski, Walter (2004c). Das 1. Album 1981–1986. Basel. Kempowski, Walter (2005a). Culpa. Notizen zum „Echolot“. München. Kempowski, Walter (2005b). Das Echolot. Abgesang ’45. 10 Bde. München. Kempowski, Walter (2006a). Alles umsonst. München. Kempowski, Walter (2006b). Hamit. Tagebuch 1990. München. Kempowski, Walter (2006c). „Auszüge aus dem Tagebuch 2001“. Walter Kempowski. Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur 169. Hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold. Göttingen: 3–31. Kempowski, Walter (2006d). Sirius. Eine Art Tagebuch. München. Kempowski, Walter (2006e). Tadellöser & Wolff. Ein bürgerlicher Roman. München. Kempowski, Walter (2006  f). Ein Kapitel für sich. Roman. München. Kempowski, Walter (2006g). Letzte Grüße. Hamburg. Kempowski, Walter (2006h). „Berliner sind Norddeutsche wie ich“. Walter Kempowski im Interview mit Andreas Burkhardt. tip, 27. 7. 2006: o.  S. Kempowski, Walter (2006k). „Dankrede anlässlich der Entgegennahme des Hoffmann-von-Fallersleben-Preises“. Online: http://www.hoffmann-von-fallerslebengesellschaft.de/Preistraeger/Reden/Kempowski_L.pdf (Stand: 8. 5. 2017). Kempowski, Walter (2008a). Somnia. Tagebuch 1991. München. Kempowski, Walter (2008b). Uns geht’s ja noch gold. Roman einer Familie. München. Kempowski, Walter (2009a). Langmut. Gedichte. Kempowski, Walter (2009c). Tadellöser & Wolff. Ein bürgerlicher Roman. Berlin. Kempowski, Walter (2011). „Umgang mit Größen“. Meine Lieblingsdichter  – und andere. Hrsg. v. Karl Heinz Bittel. München. Kempowski, Walter (2012a). ‚Wenn das man gut geht‘. Aufzeichnungen 1956–1971. Hrsg. v. Dirk Hempel. München. Kempowski, Walter (2012b). Haben Sie Hitler gesehen? Haben Sie davon gewußt? München. Kempowski, Walter (2014). Plankton. Ein kollektives Gedächtnis. Hrsg. von Simone Neteler. München. Kempowski, Walter; und Uwe Johnson (2006). „Kaum beweisbare Ähnlichkeiten“. Der Briefwechsel. Hrsg. v. Eberhard Fahlke u. Gesine Treptow. Berlin.

2  Unveröffentlichte Quellen 2.1  Walter-Kempowski-Archiv in der Akademie der Künste (AdK/WKA) Archiv der Akademie der Künste (o. J.). Übersicht über den Bestand. Online: http://www. adk.de/de/archiv/archivbestand/literatur/index.htm?hg=literatur&we_objectID= 336 (Stand: 05. 03. 2015). Kempowski, Walter (o. J. c). Ausgeschlossen. Typoskript. AdK/WKA, vorl. Sign. 103. Kempowski, Walter (o. J. d). Korrespondenz mit dem Rowohlt Verlag. AdK/WKA, Nr. 997. Kempowski, Walter (o. J. e). „Moin Vaddr läbt. Gespräch“. AdK/WKA, Nr. 701/8.

2  Unveröffentlichte Quellen385 Kempowski, Walter (o. J. g). Bericht über ein Projekt. Beitrag für die Festschrift zum 20jährigen Bestehen der Freien Akademie der Künste, Hamburg. Undatiertes Typoskript. AdK/WKA, Sign. 311/10. Kempowski, Walter (o. J. h). Korrespondenz mit Einsendern ins Biographienarchiv, AdK/WKA, Sign. 1–1837 (neue Signierung). Kempowski, Walter (o. J. i). [Oldenburger Vortrag]. AdK/WKA, Signatur 2821. Kempowski, Walter (o. J. j). Verzeichnis meines persönlichen Archivs. AdK/WKA, vorl. Sign. 1423. Kempowski, Walter (o. J. l). Müller üb. Vater. AdK/WKA, 51 4149 Nr. 701/51 u. Nr. 382. Kempowski, Walter (o. J. n). [Vortrag über das Biographienarchiv, gehalten an der Universität Oldenburg]. Typoskript, undatiert. AdK/WKA, Sign. 2821. Kempowski, Walter (o. J. o). Tagebucheintrag vom 28. Juni 1981. AdK/WKA, Sign. 1931. Kempowski, Walter (o. J. p). Tagebucheintrag vom 18. Dezember 1981. AdK/WKA, Sign. 1933. Kempowski, Walter (o. J. q). Margot (unveröffentlichter Roman). AdK/WKA, Signaturen K-16 bis K-24. Kempowski, Walter (1946). Margarethe Kempowski an Ursula Kai-Nielsen, Rostock 22. 1. 1946. AdK/WKA 376, S. 728. Kempowski, Walter (1956). Brief an Hans Siegfried, 8. März 1956. AdK/WKA, vorl. Sign. 3. Kempowski, Walter (1958). Wolfgang Borchert. „Draußen vor der Tür“, Versuch einer Form- und Sinndeutung. Semesterarbeit an der PH Göttingen, 1958. AdK/WKA, vorl. Sign. 5. Kempowski, Walter (1959). Pädagogische Arbeit im Zuchthaus. Ein Erfahrungsbericht. Göttingen 1959 (= Examensarbeit für die 1. Staatsprüfung für das Lehramt). AdK/ WKA, vorl. Sign. 9. Kempowski, Walter (1960a). „Nachwort zu ‚Margarethe Kempowski, Lebensbeschreibung‘“. Die ‚Roten Bände‘, Materialsammlung für die Deutsche Chronik, Band 17, 1960. AdK/WKA, Sign. 371, S. 1048. Kempowski, Walter (1960b). Januar 1960. Aus Notiz- und Tagebüchern und Briefen. AdK/WKA, Inv.-Nr. 282/1. Kempowski, Walter (1962). Familiengeschichte der Collasius, Hälssen, Kempowski, Nölting. AdK/WKA Nr. 27–30. Kempowski, Walter (1975d). Mein Vater und Hitler. AdK/WKA, Nr. 311/1/33, Ms 49. 1975. Kempowski, Walter (1977). Manuskriptfassung zum Hörspiel Führungen. AdK/WKA, vorl. Sign. 610/5 (Nr. 33). Kempowski, Walter (1980e). Noch einmal möchte ich Sie herzlich begrüßen in unserem Haus…. Rede, o. O., Jan. 1980. AdK/WKA, Sign. 311/5/13. Kempowski, Walter (1980  f). Notizbuch, Eintrag vom 4. 2. 1980. AdK/WKA, Sign. 500/74, o.  S. Kempowski, Walter (1980g). Inserat in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Juni 1980. AdK/WKA Sign. 1162 (neue Signierung). Kempowski, Walter (1980h). Die Suche nach dem Vater. AdK/WKA, Signatur, K 610/4, A-27. Kempowski, Walter (1980i). Tagebucheintrag vom 3. August 1980. AdK/WKA, Sign. 500/71, o.  S. Kempowski, Walter: (1980j). Notizbuch, Eintrag vom 4. 2. 1980AdK/WKA. Kempowski, Walter (1982b). Führungen – Ein deutsches Denkmal. Manuskriptfassung. AdK/WKA, vorl. Sign. 610/5 (Nr. 33).

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4 Literaturverzeichnis

Kempowski, Walter (1983d). „Collage“. Unveröffentlichter Essay vom 6.  Februar 1983. AdK/WKA, Signatur, K 610/4, A-26. Kempowski, Walter (1988b). [Zum 75jährigen Bestehen der Firma Rempke, Hagen 1988]. Undatierte Vortragsnotizen. AdK/WKA, Sign. 2754. Kempowski, Walter (1989). Interview mit Tim Horst, 1989. AdK/WKA, Nr. K-701/18. Kempowski, Walter (1994c). Tagebucheintrag vom 12. November 1994. AdK/WKA, Inv.-Nr. 500. Kempowski, Walter (1994  f). Walter Kempowski erklärt Carla Damiano die Struktur seines Gesamtwerks, Gespräch vom 9. 2. 1994. AdK/WKA, Signatur, 851. Kempowski, Walter (1996b). Schreiben Walter Kempowskis vom 17. 09. 1996 an die „Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen Deutschen Wehrmacht in Berlin“ sowie das Antwortschreiben vom 30. 07. 1997. AdK/WKA, Nr. 780. Kempowski, Walter (2000). Tagebucheintrag vom 19.  Oktober 2000. AdK/WKA, Sign. 500/125. Kempowski, Walter (2000). Tagebucheintrag vom 19. Oktober 2000. AdK/WKA, Inv.Nr. 500 H 75. Kempowski, Walter (2006i). Walter Kempowski an Christina Möller, E-Mail, 2.  5. 2006. Bestandsakte des Walter-Kempowski-Archivs. Kempowski, Walter; Jörg Drews; und Tim Horst (o. J.). Diskussion zum Hörspiel „Moin Vaddr läbt“. Tonbandaufnahme o.  J. AdK/WKA, Nr. 701/18.

2.2  Kempowski-Archiv Rostock Kempowski, Walter (o. J. b). Deutsche Chronik. Rohmaterial. Kempowski Archiv Rostock, Inv.-Nr. K 371 (= Bd. 17).

2.3  Deutsches Literaturarchiv Marbach Kempowski, Walter (o. J. m): Anwalt der Toten. BTS:DX 895. Kempowski, Walter (1975  f). Beim alten Herrn Kempowski: Walter Kempowski liest aus einem noch unveröffentlichten Roman. Radiomanuskript RFS 1975. 550/1 3. 10. 1975. Kempowski, Walter (1999j). Wortwechsel. Interview mit Gabriele von Arnim 1999. BTS:BX 1686: o.  S. Kempowski, Walter (2006j). Autobiografie-Fragment (unveröffentlichtes Manuskript, bearbeitet 2002–2006).

2.4  Weitere Archive und Privatbesitz Evangelische Akademie von Kurhessen-Waldeck (1954). Programm und Einladung der vom 26.–28. Februar 1954 von der Evangelischen Akademie von Kurhessen-Waldeck in Hofgeismar durchgeführten Tagung „Die Familie ohne Vater“. Familie ohne Vater. Tagungsbericht. Manuskript. Hofgeismar: 8–15. Kempowski, Walter (2007). Brief an Gita Leber vom 29. 3. 2007. Unveröffentlichte Quelle im Privatbesitz von Gita Leber. Kempowski, Walter (o. J. k): Block IV. Die Träume. Unveröffentlichte Quelle im Besitz von Haus Kreienhoop. Nartum. Schimansky, Gerd (1954). „Erziehung ohne Vater“. Familie ohne Vater. Tagungsbericht. Manuskript. Evangelische Akademie Hofgeismar. Hofgeismar: 8–15.

3  Forschungsliteratur und literarische Publikationen anderer Autoren387

3 Forschungsliteratur und literarische Publikationen anderer Autoren Adler, Walter (2016). Email an Carla Damiano vom 9. März 2016 (Privatbesitz). Adorno, Theodor W. (1975). Einleitung in die Musiksoziologie. Frankfurt a.  M. Adorno, Theodor W. (1982). „Kulturkritik und Gesellschaft“ (1951). Gesammelte Schriften. Bd. X, 1. Kulturkritik und Gesellschaft. Prismen. Ohne Leitbild. Eingriffe. Stichworte. Anhang. Hrsg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a.  M.: 11–30. Alfs, Günter; u. Manfred Rabes (1982). ‚Genauso war es  …‘ Kempowskis Familiengeschichte ‚Tadellöser & Wolff‘ im Urteil des Publikums. Hrsg. u. mit e. Forschungsbericht versehen v. Manfred Dierks. Oldenburg. Allert, Tilman (1998). Die Familie. Fallstudien zur Unverwüstlichkeit einer Lebensform. Berlin. Amt für Erziehung und Ausbildung des Reichsarbeitsdienstes für die weibliche Jugend (1940). Fahnensprüche. Leipzig Andersch, Alfred (1957). Sansibar oder der letzte Grund. Olten. Ankowitsch, Christian (2001). „Weißt Du noch, damals in Bautzen?“. Interview mit Walter Kempowski und Eduard Zimmermann. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 04. 11. 2001: 24–25. Apel, Friedmar (2004): „Der Triumph des Schulmeisters. Walter Kempowski in der Biographie von Dirk Hempel“. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29. 04. 2004: 34. ARD Hörspieldatenbank (o. J.). „Alles umsonst“. Online: Hoerspiele.dra.de/vollinfo. php?dukey=1368322 (Stand: 05. 07. 2017) Arendt, Hanna (1960). Vita activa oder Vom tätigen Leben. Stuttgart 1960. Arnold, Heinz Ludwig (1972). „Rostocker Kaleidoskop. Walter Kempowskis Roman einer Familie“. Christ und Welt, 29. 09. 1972: 30. Arnold, Heinz Ludwig (Hg.) (2006). Walter Kempowski. München. (Text + Kritik 169.) Arntzen, Helmut (1998). „Sprachverwirrungen. Zum Prozeß negativer Bildung in deutschen Romanen des 20. Jahrhunderts (Musil, Kafka, Horváth, Kempowski)“. Ästhetik und Bildung. Das Selbst im Medium von Musik, Bildender Kunst, Literatur und Fotografie. Hrsg. v. Stephanie Hellekamps. Weinheim: 81–96. Arntzen, Helmut (2000). „Das Echolot – Literarische Collage als Sprachlehre“. Die Sprache der Geschichte. Beiträge zum Werk Walter Kempowskis. Hrsg. v. Volker Ladenthin. Eitorf: 85–108. Arntzen, Helmut (2010). „Satirische Redemimesis in der ‚Deutschen Chronik‘ von Walter Kempowski“. Walter Kempowski. Bürgerliche Repräsentanz, Erinnerungskultur, Gegenwartsbewältigung. Hrsg. v. Lutz Hagestedt. Berlin u. New York: 1–13. Assmann, Aleida (1999a). „Wendepunkte der deutschen Erinnerungsgeschichte“. Dies.; u. Ute Frevert. Geschichtsvergessenheit  – Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit den deutschen Vergangenheiten nach 1945. Stuttgart: 140–149. Assmann, Aleida (1999b). Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München. Assmann, Aleida (2006). Der lange Schatten der Vergangenheit: Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München. Aston, Richard (2002). „Amnesia and Anamnesis in the Works of Walter Kempowski“. Journal of European Studies 3.32 (2002): 27–49. Atze, Marcel (2002). Dresden als Aufgabe. http://www.literaturkritik.de/public/ rezension.php?rez_id=4794 (Stand: 15. 09. 2012).

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4 Literaturverzeichnis

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3  Forschungsliteratur und literarische Publikationen anderer Autoren389 Bergander, Götz (1998): Dresden im Luftkrieg. Vorgeschichte – Zerstörung – Folgen. Würzburg. Berger, Karina (2011). „Walter Kempowski’s Alles umsonst“. The Novel in German since 1990. Hrsg. v. Stuart Taberner. Cambridge: 211–225. Beyer, Marcel (1995). Flughunde. Frankfurt a.  M. Beyer, Marcel (2000). Spione. Roman. Köln. Biergann, Armin (1972). „Der junge Schwejk vom Ostseestrand“. Kölnische Rundschau, Literaturbeilage, 29. 11. 1972: 4. Birken, Marcia; und Anne C. Coon (2008). Discovering Patterns in Mathematics and Poetry. Amsterdam u. New York. Blaukopf, Herta (Hg.) (1980). Gustav Mahler, Richard Strauss: Briefwechsel 1888– 1911. München. Blöcker, Günter (1971). „Beängstigend jovial“. Süddeutsche Zeitung, 22./23. 05. 1971: o.  S. Blöcker, Günter (1973). „Walter Kempowskis verschämte Apotheose“. Merkur 27.1 (1973): 86–87. Blom, Philipp (2005). „The whirlings. Das Echolot. Volume Nine: Abgesang ’45. Walter Kempowski“. The Times Literary Supplement, 05. 08. 2005: 24. Blomqvist, Kristina (2009). Walter Kempowskis Tadellöser & Wolff im Lichte narratologischer Theorien. Uppsala. Blume, Herbert (2008). „Der Harz als beschädigtes Idyll. Hagelstange, Kempowski, Rosenlöcher“. Literarische Harzreisen. Bilder und Realität einer Region zwischen Romantik und Moderne. Hrsg. v. Cord-Friedrich Berghahn, Herbert Blume, Gabriele Henkel u. Eberhard Rohse. Bielefeld: 275–296. Blume, Peter (2004). Fiktion und Weltwissen. Der Beitrag nichtfiktionaler Konzepte zur Sinnkonstitution fiktionaler Erzählliteratur. Berlin. Böll, Heinrich (1950). „Wanderer, kommst Du nach Spa…“. Wanderer, kommst du nach Spa… Opladen: 47–59. Böttcher, Philipp (2014). „‚Sie werden mich wieder als Sammler bezeichnen‘. Werkstrategien in Walter Kempowskis Culpa. Notizen zum ‚Echolot‘“. Walter Kempowskis Tagebücher. Selbstausdruck – Poetik – Werkstrategie. Hrsg. v. Philipp Böttcher u. Kai Sina. München: 87–122. Böttcher, Philipp; u. Kai Sina (Hg.) (2014). Walter Kempowskis Tagebücher. Selbstausdruck – Poetik – Werkstrategie. München. Bohnenkamp, Anne (2005). „Literaturverfilmungen als intermediale Herausforderung“. Literaturverfilmungen. Hrsg. v. Anne Bohnenkamp u. Tilman Lang. Stuttgart: 9–38. Borchert, Wolfgang (1947). „Nachts schlafen die Ratten doch“. An diesem Dienstag. Neunzehn Geschichten. Hamburg u. Stuttgart: 69–72. Borchmeyer, Dieter (1980). „Geschichte der deutschen Literatur: Der Naturalismus und seine Ausläufer“. Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bd. 2. Hrsg. v. Viktor Žmegač. Königstein: 153–233. Bourdieu, Pierre (1983). „Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital“. Soziale Ungleichheiten. Hrsg. v. Reinhard Kreckel. Göttingen: 183–198. Bourdieu, Pierre (2001). Die Regeln der Kunst. Frankfurt a.  M. Brand, Peter (2005). „Das wird wieder endlose Fragereien geben. Der Roman Letzte Grüße vor dem Hintergrund des Gesamtwerks“. Was das nun wieder soll? Von Im Block bis Letzte Grüße. Zu Werk und Leben Walter Kempowskis. Hrsg. v. Carla Damiano, Jörg Drews u. Doris Plöschberger. Göttingen: 247–261. Brand, Peter (2006). „Latente Wahrnehmungsschwäche? Die Literaturkritik und Walter Kempowskis Roman ‚Heile Welt‘“. Walter Kempowski. Hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold. München: 82–94. (= Text + Kritik 169.)

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3  Forschungsliteratur und literarische Publikationen anderer Autoren391 Combrink, Thomas (2006). „Eine Ästhetik der Leerstellen. Lakonismus als Erzählverfahren in Walter Kempowskis Haftbericht ‚Im Block‘“. Walter Kempowski. Hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold. München: 53–59. (= Text + Kritik 169.) Copei, Friedrich (1960). Der fruchtbare Moment im Bildungsprozess. 5., unveränderte Aufl. Heidelberg. Cornelißen, Christoph (2005). „Geordnete Erinnerung an den Untergang. Betrachtungen zu Walter Kempowskis ‚Abgesang ’45‘“. „Nun muß sich alles, alles wenden“. Walter Kempowskis ‚Echolot‘ – Kriegsende in Kiel. Hrsg. v. Kerstin Dronske. Neumünster: 32–43. Czapla, Ralf Georg (2010). „Freiheit als literarische Fiktion. Walter Kempowski und Arno Schmidt – eine Wahlverwandtschaft“. Walter Kempowski. Bürgerliche Repräsentanz – Erinnerungskultur – Gegenwartsbewältigung. Hrsg. v. Lutz Hagestedt. Berlin u. New York: 47–72. Czech, Danuta (1989). Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager AuschwitzBirkenau 1939–1945. Reinbek bei Hamburg. Czerniaków, Adam (1986). Im Warschauer Getto. Das Tagebuch des Adam Czerniaków 1939–1942. München. Czucka, Eckehard (2000). „Aus dem bürgerlichen Alltagsleben. Die Geschichte eines Familienidioms. Zu Walter Kempowskis Romanen der ‚Deutschen Chronik‘“. Die Sprache der Geschichte. Beiträge zum Werk Walter Kempowskis. Hrsg. v. Volker Ladenthin. Eitorf: 57–84. Czucka, Eckehard (2010). „Dekonstruktion des Authentischen – Re-Konstruktion des Grauens. Walter Kempowski: Das Echolot“. Umstrittene Postmoderne: Lektüren. Hrsg. v. Andrea Hübner. Heidelberg: 261–278. Damiano, Carla (1998). Montage as Exposure. A critical analysis of Walter Kempowski’s ‚Das Echolot‘. Diss., University of Oregon. Damiano, Carla (2004). „Walter Kempowski’s ‚Das Echolot‘. Questions of Reception and the Genesis and Nature of Montage“. Literatur ohne Kompromisse. Ein Buch für Jörg Drews. Hrsg. v. Sabine Kyora. Bielefeld: 421–434. Damiano, Carla (2005a). Walter Kempowski’s ‚Das Echolot‘. Stifting and Exposing the Evidence via Montage. Heidelberg. Damiano, Carla (2005b). „Walter Kempowski: Lehrer und Schriftsteller. Das Montage/ Collage-Prinzip als Baustein des Unterrichts und des Schreibens“. „Was das nun wieder soll?“ Von Im Block bis Letzte Grüße. Zu Werk und Leben Walter Kempowskis. Hrsg. v. Carla Damiano, Jörg Drews u. Doris Plöschberger. Göttingen: 171–187. Damiano, Carla; Jörg Drews; u. Doris Plöschberger (Hg.) (2005): „Was das nun wieder soll?“ Von Im Block bis Letzte Grüße. Zu Werk und Leben Walter Kempowskis. Göttingen. Damiano, Carla (2010). „Die Aufführung der Vaterfigur in Walter Kempowskis Hörspiel Moin Vaddr läbt. Walter Kempowski. Bürgerliche Repräsentanz – Erinnerungskultur – Gegenwartsbewältigung. Hrsg. v. Lutz Hagestedt. Berlin u. New York: 89–102. Damiano, Carla (2013). „Uwe Johnson und Walter Kempowski gehen in eine Bar… Oder: How Walter Kempowski Found His Groove!“ Johnson-Jahrbuch 20 (2013): 129–143. Damiano, Carla (2014). „Tagebuch performativ – oder: Nicht immer schweigen die Toten. Die öffentlichen Lesungen aus Walter Kempowskis Echolot“. Walter Kempowskis Tagebücher. Selbstausdruck, Poetik, Werkstrategie. Hrsg. v. Philipp Böttcher u. Kai Sina. München: 240–254.

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3  Forschungsliteratur und literarische Publikationen anderer Autoren393 Drews, Jörg (2006a). „‚Die Dämonen reizen – und sich dann blitzschnell umdrehen, als sei nichts.‘ Über Walter Kempowski“. Walter Kempowski. Hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold. München: 44–52 (= Text + Kritik 169). Drews, Jörg (2006b): „Wüterich und Dünnhäuter“. Süddeutsche Zeitung, 04.  10. 2006, V3/14. Durzak, Manfred (Hg.) (1976). Die deutsche Literatur der Gegenwart. Aspekte und Tendenzen. Stuttgart. Durzak, Manfred (1989). Literatur auf dem Bildschirm. Analysen und Gespräche mit Leopold Ahlsen, Rainer Erler, Dieter Forte, Walter Kempowski, Heinar Kipphardt, Wolfdietrich Schnurre und Dieter Wellershoff. Tübingen. Ebel, Martin (2002a): „Der große Gleichmacher. ‚Barbarossa ’41‘ – Walter Kempowski setzt das ‚Echolot‘ fort“. Stuttgarter Zeitung, 19. 04. 2002: 38. Ebel, Martin (2002b). „Der Mensch geht, dann taumelt er und fällt“. Neue Zürcher Zeitung, 25. 04. 2002: 33. Ebel, Martin (2005). „,Frühlingsrauschen, aus und vorbei‘. Klassische Musik in der ‚Deutschen Chronik‘“. ‚Was das nun wieder soll?‘. Von Im Block bis Letzte Grüße. Zu Werk und Leben Walter Kempowskis. Hrsg. v. Carla A. Damiano, Jörg Drews u. Doris Plöschberger. Göttingen: 35–46. Eger, Christian (2005). „Nun muss sich alles wenden“. Mitteldeutsche Zeitung, 12. 03. 2005: o.  S. Emmelius, Simone (1996). Fechners Methode. Studien zu seinen Gesprächsfilmen. Mainz (Diss.). Emmerich, Wolfgang (2005). „Dürfen die Deutschen ihre eigenen Opfer beklagen? Schiffsuntergänge 1945 bei Uwe Johnson, Walter Kempowski, Günter Grass, Tanja Dückers und Stefan Chwin“. Danzig und der Ostseeraum. Sprache, Literatur, Publizistik. Hrsg. v. Holger Böning. Bremen: 293–323. Erenz, Benedikt (1984). „Alles in Brand stecken. Walter Kempowskis neuer Roman ‚Herzlich willkommen‘“. Die Zeit, 09. 11. 1984: 89. Erenz, Benedikt (2004). „Chronist des Jahrhunderts“. Die Zeit, Nr. 29, 08. 07. 2004: o.  S. Online: http://www.zeit.de/2004/29/Vorspann_Echolot (Stand: 25. 08. 2013). Eroms, Hans-Werner (1996). „Zum Zeitstil der vierziger Jahre in Walter Kempowskis ‚Echolot‘“. Stil und Stilwandel. Bernhard Sowinski zum 65. Geburtstag gewidmet. Hrsg. v. Ulla Fix u. Gotthard Lerchner. Frankfurt a.  M.: 95–109. Eroms, Hans-Werner (2002). „Die Funktion von Verb- und Satzmodus bei Walter Kempowski“. Zur Rolle der Sprache im Wandel der Gesellschaft. Hrsg. v. Matti Luukkainen u. Riitta Pyykkö. Helsinki: 180–193. Eroms, Hans-Werner (2008). Stil und Stilistik. Eine Einführung. Berlin. Eroms, Hans-Werner (2009). „Fraktale Erzählweise in Walter Kempowskis Tagebüchern“. Gesprochen – geschrieben – gedichtet. Variation und Transformation von Sprache. Hrsg. v. Monika Dannerer, Peter Mauser u.  a. Berlin: 89–102. Eroms, Hans-Werner (2011). „‚Finden statt Erfinden‘. Walter Kempowskis sprachliche Erinnerungsarbeit“. Die Spatien 5. Texte und Bilder aus dem Kempowski-Archiv. Rostock: 119–139. Eroms, Hans-Werner (2014). „Fraktale Texte. Selbstähnliche Texte als Bausteine“. Schnittstelle Text. Hrsg. v. Ewa Drewnowska-Vargáné. Szeged: 101–120. Evangelische Kirche in Deutschland (Hg.).(1985). Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers. Mit Apokryphen. Bibeltext in der revidierten Fassung von 1984. Stuttgart. Evangelische Kirche in Hessen und Nassau (Hg.) (1994). Evangelisches Gesangbuch. Ausgabe für die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau. Frankfurt a.  M.

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3  Forschungsliteratur und literarische Publikationen anderer Autoren397 Heilfurth, Gerhardt (1951). Jugend ohne Geborgenheit: Not und Hilfe. Ertrag einer Studienkonferenz (Friedewalder Beiträge zur Sozialen Frage). Berlin. Heine, Heinrich (1887). „Bergidyll“. Die Harzreise. Leipzig: 41  f. Heise, Heinrich (1960). Die entscholastisierte Schule. Stuttgart. Heissenbüttel, Helmut (1970). Das Textbuch. Neuwied u. Berlin. Helbig, Holger (2010). „Kompilator Kempowski. Das Echolot als Museum“. Walter Kempowski. Bürgerliche Repräsentanz, Erinnerungskultur, Gegenwartsbewältigung. Hrsg. v. Lutz Hagestedt. Berlin u. New York: 203–220. Hempel, Dirk (1999). „Walter Kempowski und ‚Die deutsche Chronik‘. Aufsatz, Lebensdaten, Bibliographie, Werkverzeichnis“. Begleitheft zu: Walter Kempowski. ‚Die Deutsche Chronik‘. 9 Bde. München. Hempel, Dirk (2001). Haus Kreienhoop. Kempowskis zehnter Roman. Fotos von Frauke Reinke-Wöhl. Mit einem Geleitwort von Walter Kempowski. Fischerhude. Hempel, Dirk (2003). „‚Ein endloser Dialog zwischen Irrsinnigen‘. Kempowskis Bloomsday ’97“. Das Schöne und das Triviale. Hrsg. v. Gert Theile. München: 161–172. Hempel, Dirk (2004). Walter Kempowski. Eine bürgerliche Biographie. München. Hempel, Dirk (2005). „Autor, Erzähler und Collage in Walter Kempowskis Gesamtwerk“. „Was das nun wieder soll?“ Von Im Block bis Letzte Grüße. Zu Werk und Leben Walter Kempowskis. Hrsg. v. Carla Damiano, Jörg Drews u. Doris Plöschberger. Göttingen: 21–33. Hempel, Dirk (2007a). Walter Kempowski. Eine bürgerliche Biographie. 3.  Aufl. München. Hempel, Dirk (2007b). Kempowskis Lebensläufe. Hrsg. v. d. Akademie der Künste. Berlin. Hempel, Dirk (2007c). „Stuckrad-Barre und Kempowski. Eine Annäherung“. Auto(r) inszenierungen: Autorschaft und literarisches Werk im Kontext der Medien. Hrsg. v. Christine Künzel u. Jörg Schönert. Würzburg: 209–221. Hempel, Dirk (2007d). „Walter Kempowski – Autor, Pädagoge, Archivar“. Kempowskis Lebensläufe. Katalog zur Ausstellung. Hrsg. v. Dirk Hempel. Berlin: 58–134. Hempel, Dirk (2009). „‚Der Spuk verfliegt …‘ Walter Kempowski in der Bundesrepublik“. Deutsch-deutsches Literaturexil. Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus der DDR in der Bundesrepublik. Hrsg. v. Walter Schmitz u. Jörg Bernig. Dresden: 109–124. Hempel, Dirk (2010). „Wie eine Schädeldecke“. Walter Kempowskis Haus Kreienhoop. Mit Fotografien von Frauke Reinke-Wöhl. [Erweiterte Neuausgabe.] Bremen. Henschel, Gerhard (2009). Da mal nachhaken. Näheres über Walter Kempowski. München. Hentig, Hartmut von (1981). „Vom Verkäufer zum Darsteller“. Neue Sammlung 21 (1981): 100–113. Herrmann-Trentepohl, Henning (2006). „Das sind meine lieben Toten“ – Walter Kempowskis ‚Echolot‘-Projekt“. Bombs Away! Representing the Air War Over Europe and Japan. Hrsg. v. Wilfried Wilms u. William Rasche. Amsterdam u. New York: 81–96. Herrmann-Trentepohl, Henning (2008). „Vielstimmigkeit der Zeitgeschichte in Walter Kempowskis ‚Das Echolot‘“. Keiner kommt davon. Zeitgeschichte in der Literatur nach 1945. Hrsg. v. Wolfgang Hardtwig u. Erhard Schütz. Göttingen: 130–150. Hickethier, Knut (1980): Das Fernsehspiel der Bundesrepublik. Themen, Form, Struktur, Theorie und Geschichte 1951–1977. Stuttgart. Hickethier, Knut (1998). Geschichte des deutschen Fernsehens. Unter Mitarbeit von Peter Hoff. Stuttgart u. Weimar.

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3  Forschungsliteratur und literarische Publikationen anderer Autoren399 Kabermann, Friedrich (1991). Echolot. Tage und Jahre 1975–1985. Gernsbach. Kafka, Franz (1994). „In der Strafkolonie“. Der Landarzt und andere Drucke zu Lebseiten. Gesammelte Werke in zwölf Banden, Bd. 1. Hrsg. v. Hans-Gerd Koch. Frankfurt a.  M.: 159–195. Kardorff, Ursula von (1962). Berliner Aufzeichnungen 1942–1945. München. Kast, Verena (2013). Trauern. Phasen und Chancen des psychischen Prozesses. Stuttgart. Kastberger, Klaus (2005). „Schluss, aus, fertig“. Die Presse, Beilage Spectrum, 07. 05. 2005: VII. Keele, Alan (1997). „Walter Kempowski – Thinker, Tailor, Chronicler… – Spy? A Note on the margins of fact and fiction“. Themes and structures. Studies in German literature from Goethe to the present. A Festschrift for Theodor Ziolkowski. Hrsg. v. Alexander Stephan. Columbia: 269–280. Kempowski-Gesellschaft (o. J.). Bibliographie. Online: http://www.kempowski-gesellschaft.de/forschung/bibliographie/selbststaendige-publikationen.html (Stand: 05. 03. 2015). Kempowski-Stiftung (o. J.). Bibliographie. Online: http://www.kempowski-stiftung.de/ literatur/index.html (Stand: 05. 03. 2015). Kersten, Paul (2007). Das letzte Interview. (NDR) (Sendemitschnitt). Kesting, Hanjo (2014). „Der Krieg geht zu Ende“. NDR Kultur, 06. 02. 2014. Online: http://www.ndr.de/ndrkultur/audio187743.html (Stand: 12. 07. 2016). Kiefer, Bernd (2010). „Ein Kapitel bürgerlicher (Fernseh-)Geschichte. Zur Wahlverwandtschaft von Walter Kempowski und Eberhard Fechner“. Walter Kempowski. Bürgerliche Repräsentanz – Erinnerungskultur – Gegenwartsbewältigung. Hrsg. v. Lutz Hagestedt. Berlin u. New York: 261–274. Kielinger, Thomas (1972). „Hans Dampf in Rostocks Gassen. Wellershoff, Walter Kempowski und Otto F. Walter“. Die Welt, Ausgabe B, 28. 09. 1972: III. Kilb, Andreas (2006). „Das Amt und sein Preis“. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02. 05. 2006: 43. Kindt, Tom (2010). „‚Ich bin traurig und pfeife vor mich hin‘. Zur Komik bei Kempowski am Beispiel des Tagebuchs Alkor“. Walter Kempowski. Bürgerliche Repräsentanz, Erinnerungskultur, Gegenwartsbewältigung. Hrsg. v. Lutz Hagestedt. Berlin u. New York: 275–291. Kinzer, Stephan (1994). „German Echoes From 1943 Set Off a Book Sensation“. The New York Times, 1.  6. 1994, o.  S. Online: http://www.nytimes.com/1994/06/01/ books/german-echoes-from-1943-set-off-a-book-sensation.html?pagewanted=1 (Stand: 05. 03. 2015). Knaus, Albrecht (Hg.) (1989). Walter Kempowski zum 60. Geburtstag. Mit Beiträgen von Jörg Drews, Charlotte Heinritz und einer Bibliographie. München u. Hamburg. Klein, Erich (2005). „Aus allen Wunden blutend“. Falter, 06. 05. 2005: 67. Kleßmann, Christoph (1988). Zwei Staaten, eine Nation. Deutsche Geschichte 1955– 1970. Bonn. Kluge, Alexander (1964). Schlachtbeschreibung. Olten. Kluge, Alexander (1977a). Luftangriff auf Halberstadt. Frankfurt a.  M. Kluge, Alexander (1977b). „Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945“. Neue Geschichten. Hefte 1–18. ‚Unheimlichkeit der Zeit‘. Frankfurt a.  M. Kluge, Alexander (2003). „Lakonie als Antwort. Gespräch mit Volker Hage“. Volker Hage. Zeugen der Zerstörung. Die Literaten und der Luftkrieg. Frankfurt a.  M.: 201–209. Kluge, Karlheinz (1991). „Der Phantasie ein Echolot. Anmerkungen zu Günter Herburgers Prosa“. Günter Herburger. Texte, Daten, Bilder. Hrsg. v. Klaus Siblewski. Hamburg: 104–110.

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3  Forschungsliteratur und literarische Publikationen anderer Autoren409 Seiler, Sascha (2006). ‚Das einfache wahre Abschreiben der Welt‘. Pop-Diskurse in der deutschen Literatur nach 1960. Göttingen. Sina, Kai (2010). „‚Die Improperien‘. Zur kunstreligiösen Werk- und Autorschaftskonzeption bei Walter Kempowski“. Walter Kempowski. Bürgerliche Repräsentanz – Erinnerungskultur  – Gegenwartsbewältigung. Hrsg. v. Lutz Hagestedt. Berlin u. New York: 403–422. Sina, Kai (2011). „Kochen alle nur mit Wasser. Walter Kempowski blickt auf die Autorenkollegen“. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. 05. 2011: Z 7. Sina, Kai (2012). Sühnewerk und Opferleben. Kunstreligion bei Walter Kempowski. Göttingen. Solms, Wilhelm (1987). „Vorwort“. Seiltanz auf festen Versesfüßen. Neun Autoren in der Marburger Universität. Marburg. Spinnen, Burkhard (2003). „Kempowskis Abschied. In seinem neuen Roman kehrt Alexander Sowtschick wieder – und stirbt“. Die Zeit, Literatur, 09. 10. 2003: 10–11. Spivak, Marcel (2001). „‚Das Echolot‘. ‚Fuga Furiosa  – Ein kollektives Tagebuch. Winter 1945‘“. Francia 28.3 (2001): 301  ff. Stagl, Justin (1998). „Homo Collector. Zur Anthropologie und Soziologie des Sammelns“. Sammler – Bibliophile – Exzentriker. Hrsg. v. Aleida Assmann u.  a. Tübingen: 37–54. Stanzel, Franz K. (1987). Typische Formen des Romans. Göttingen. Stargardt, Nicholas (2003). „Opfer der Bomben und der Vergeltung“. Ein Volk von Opfern? Die neue Debatte um den Bombenkrieg 1940–45. Hrsg. v. Lothar Kettenacker. Berlin: 140–144. Starkmann, Alfred (1978). „Mit Donnerhall und Wogenprall. Walter Kempowski fügt seiner deutschen Bürgerchronik ein weiteres Kapitel hinzu“. Die Welt, Welt des Buches, 16. 09. 1978: V. Steinbach, Matthias (Hg.) (2014). Mobilmachung 1914. Ein literarisches Echolot. Stuttgart. Sterz, Reinhold; u. Ortwin Buchbender (1982). Das andere Gesicht des Krieges. Deutsche Feldpostbriefe 1939–1945. München. Stockhorst, Stefanie (2010). „Exemplarische Befindlichkeiten. Walter Kempowskis Deutsche Chronik als literarisierte Familiengeschichte und bürgerlicher Erinnerungsort“. Walter Kempowski. Bürgerliche Repräsentanz  – Erinnerungskultur  – Gegenwartsbewältigung. Hrsg. v. Lutz Hagestedt. Berlin u. New York: 423–442. Stockmann, A. C. (1779). „Der Gottesacker“. Leipziger Musenalmanach auf das Jahr 1780. Leipzig: 214. Struck, Wolfgang (1998). „Reisen ins Herz der Finsternis. Fünf deutsche Bücher“. Kulturelle Identitäten in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. Hrsg. v. Heinrich Detering u.  a. Frankfurt a.  M.: 123–142. Struck, Wolfgang (2005). „‚Im Garten lasse ich noch ein kleines Bunkerchen bauen‘. Textarchitekturen in Walter Kempowskis Echolot“. „Nun muß sich alles, alles wenden“. Walter Kempowskis ‚Echolot‘  – Kriegsende in Kiel. Hrsg. v. Kerstin Dronske. Neumünster: 21–31. Stuckrad-Barre, Benjamin von (o. J.). Druckfrisch. Gespräch von Benjamin von Stuckrad-Barre und Dennis Scheck. Online: http://www.ardmediathek.de/das-erste/ druckfrisch/benjamin-von-stuckrad-barre-ueber-auch-deutsche-unter-den?documentId=6088926 (Stand: 10. 08. 12). Stuckrad-Barre, Benjamin von (1998). Soloalbum. Köln. Stuckrad-Barre, Benjamin von (2001a). „Was das nun wieder soll?“. Der Spiegel 43 (2001): 214. Stuckrad-Barre, Benjamin von (2001b). Deutsches Theater. Köln.

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3  Forschungsliteratur und literarische Publikationen anderer Autoren411 Warner, Ansgar (2002). „‚Sie sollen mich für dumm halten‘. Literatur als Kontrollmacht: In den Tagebuchcollagen seines ‚Echolot‘-Projekts scheint Walter Kempowski als Autoreninstanz zu verschwinden“. die tageszeitung, 18. 05. 2002: 13. Weber, Dietrich (1977). „Walter Kempowski“. Deutsche Literatur der Gegenwart in Einzeldarstellungen. Bd. 2. Hrsg. v. dems. Stuttgart: 278–296. Weidermann, Volker (2002). „Als der Geschichte der Atem gefror. Walter Kempowskis Rußlandfeldzug“. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. 03. 2002: L6. Weigel, Andreas (2007). „‚Brille ohne Gläser‘. Mustergültig misslungene CD-ROMEdition von Karl Kraus’ Zeitschrift ‚Die Fackel‘“. praesent 2007. Das österreichische Literaturjahrbuch. Das literarische Geschehen in Österreich von Juli 2005 bis Juni 2006. Hrsg. v. Michael Ritter. Wien: 37–59. Weigend-Abendroth, Friedrich (1972). „Eine Rostocker Odyssee. Walter Kempowski erzählt den zweiten Teil seiner Familiengeschichte“. Hannoversche Allgemeine, 14. 10. 1972: o.  S. Weinrich, Harald (1997). Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens. München. Weiss, Peter (1965). Die Ermittlung. Frankfurt a.  M. Weiß, Hermann (2003). Quaartz, Reinhold Georg. http://www.deutsche-biographie. de/sfz103932.html (Stand: 25. 08. 2013). Welzer, Harald (2005). „Gehirn macht Geschichte“. Gehirn & Geist 5 (2005): 52–57. Werner, Hendrik (2005). „Palast und Ballast der Erinnerung“. Die Welt, 12.  02. 2005: 4. Willms, Johannes (1993). „Die Kritik in der Krise“. Süddeutschen Zeitung, 31. 12. 1993: 17. Winkels, Hubert (1999). „Grenzgänger. Neue deutsche Pop-Literatur“. Sinn und Form 51.4 (1999): 581–610. Winkler, Willi (2002). „Walter Kempowski über Lehrer“. Süddeutsche Zeitung, 05./06. 10. 2002: VIII. Winter, Florian (1974). „Wie schön war die Schulzeit?“ Stern, 07. 03. 1974: 185–186. Wolf, Christa (1976). Kindheitsmuster. Berlin. Wölfel, Kurt (1993): „ Roman“. Literatur-Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. 15 Bde. Hrsg. v. Walther Killy. München 1988–1993. Bd. 14: 302–309. Wolff, Christoph (2000). Johann Sebastian Bach. Frankfurt a.  M. Wolfrum, Edgar (2006). Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart. Worthmann, Joachim (2005). „Vier Tage im Frühjahr 1945“. Stuttgarter Zeitung, 03. 03. 2005: 35. Zacharias, Irene (1986). Meine sieben Kinder und der Lauf der Welt. Hrsg. von Walter Kempowski. Hamburg. Ziebritzki, Henning (2001). „Experimente mit dem Echolot. Zum Verhältnis von moderner Lyrik und Religion“. Das Gedicht 9 (2001): 89–94. Zimmermann-Thiel, Gisela (1994). „Echolot  – ein Menetekel“. Kultur-Chronik 12 (1994): 4–8. Zivier, Georg (1972). „Wie es weiterging. Walter Kempowski über die Nachkriegszeit“. Der Tagesspiegel, Literaturblatt, 26. 11. 1972: 52. Zschirnt, Christiane (2003). „Strukturell immer offen. Popliteratur ist tot, nun liegt sie auf den literaturwissenschaftlichen Seziertischen: Der Fachbereich Germanistik der Uni Heidelberg widmete in diesem Jahr seine Poetikdozentur der Popliteratur“. die tageszeitung, 16. 06. 2003: 16.

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4 Filme Altman, Robert (1993). Short Cuts (USA; 187 min.). Axer, Oliver; u. Suzanne Benze (2003). Hitlers Hitparade. Eine ungewöhnliche Zeitreise (ARTE). Duyns, Cherry (1991). Schuld als Schatten. Der Schriftsteller Walter Kempowski und die Vergangenheit (1990). [Niederländisches Original: Schuld als Schaduw]. Fechner, Eberhard (1969). Nachrede auf Clara Heydebreck (NDR). Fechner, Eberhard (1975). Tadellöser & Wolff (D; 192 min.; Sepia). Fechner, Eberhard (1977). Commedian Harmonists (NDR). Fechner, Eberhard (1979). Ein Kapitel für sich (D; 366 min.). Fechner, Eberhard (2005). Tadellöser & Wolff. Ein bürgerlicher Film von Eberhard Fechner nach dem Roman von Walter Kempowski. ZDF/POLAR Film + Medien GmbH. Haneke, Johannes (2005). „Interview mit Walter Kempowski im Haus Kreienhoop in Nartum, 2005“. Tadellöser & Wolff. Ein bürgerlicher Film von Eberhard Fechner nach dem Roman von Walter Kempowski. ZDF/POLAR Film + Medien GmbH, CD 2. Kempowski, Walter (1975c). Wer will unter die Soldaten. SFB-Reihe „Der Autor und sein Thema“. Reitz, Edgar (1982–2004). Heimat (Trilogie). Spielfilm-Zyklus in 30 Teilen (D; Gesamtlänge 52 Std., 8 Min.). Reitz, Edgar (2013). Die andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht (D; 230 min). Scheck, Denis (2005). „Walter Kempowski. Das Echolot – Abgesang ’45“. druckfrisch, Sendung v. 6. Februar 2005 (ARD). Voß, Peter; u. Walter Kempowski (2003). „Warum wollen Sie das Vergangene bewahren, Herr Kempowski? Peter Voß im Gespräch mit Walter Kempowski“ (SWR).

5 Hörspiele Kagel, Mauricio (1969). Ein Aufnahmezustand. Hörspiel (WDR). Kempowski, Walter (1971b). Träumereien am elektrischen Kamin. Hörspiel (NDR). Kempowski, Walter (1972c). Ausgeschlossen. Hörspiel unter der Regie von Fritz Schröder-Jahn (NDR). Kempowski, Walter (1973c). Haben Sie Hitler gesehen? Hörspiel (WDR). Kempowski, Walter (1976c). Beethovens Fünfte. Hörspiel (NDR/SDR). Kempowski, Walter (1980b). Moin Vadder läbt – a Ballahd inne Munnohrd kinstlich med Mosseg unde Jesann von Wullar Kinnpussku. Hörspiel (HR). Kempowski, Walter (1982c). Führungen – Ein deutsches Denkmal. Hörspiel (HR). Kempowski, Walter (1984b). Alles umsonst. Hörspiel (HR/WDR). Kempowski, Walter (1993c). Stalingrad. Hörspiel (HR). Kempowski, Walter (1995b). Der Krieg geht zu Ende – Chronik für Stimmen – Januar bis Mai 1945. Regie u. Produktion Walter Adler. (HR/BR/MDR/SWF). Kempowski, Walter (1995c). Der Krieg geht zu Ende – Chronik für Stimmen – Januar bis Mai 1945. 6 Tonbandkassetten. München. Kempowski, Walter (2009b). Die Herren Hagedorn, Jonas und Böckelmann. Geschichten aus der Schulzeit. Live-Lesung von Walter Kempowski. München (Hörbuch). Köhler, Michael (2005). Das Echolot, Abgesang ’45. Deutschlandfunk. Wühr, Paul (1971). Preislied. Hörspiel (BR/WDR).

5 Werkregister Alkor  8, 15, 24, 78, 127, 132, 134–135, 238, 253, 274, 326, 399, 405 Alle unter einem Hut  VI, 138–139, 381 Alles umsonst  8, 70–72, 79, 81–84, 204, 215–216, 221, 223–226, 238, 285, 308, 323–324, 328, 331, 337, 346–347, 366, 368 Alles umsonst (Hörspiel)  215–216, 221, 223–225 Aus großer Zeit  7, 45–50, 57–58, 171, 238, 246–247, 250, 273–276, 324, 330, 342, 358 Ausgeschlossen (Hörspiel)  194–195, 197–198 Beethovens Fünfte (Hörspiel)  7, 203–204, 206–207, 277 Bloomsday ’97  8, 128–129, 134, 137, 174–177, 238, 260, 266, 309, 354 Das 1. Album 1981 bis 1986  177–179 Das Echolot (alle vier Bände)  4, 8–9, 65, 84, 86, 97, 100, 110, 112–113, 175, 238, 275, 335, 342, 369, 376–377 Der arme König von Opplawur  66, 160–161 Der Hahn im Nacken  138–139 Der Krieg geht zu Ende (Hörspiel)  226–231 Der Krieg geht zu Ende Chronik für Stimmen – Januar bis Mai 1945 (Hörbuch) 226 Der rote Hahn  97, 120–124, 238, 376 Ein Kapitel für sich  7, 31, 34, 39, 41–42, 51, 183–184, 197, 204, 216, 221–222, 238, 249, 254, 258–259, 264, 273–274, 279, 283, 295, 300, 307, 324, 330, 334, 337, 340 Führungen – ein deutsches Denkmal  213–215 Haben Sie davon gewusst?  202, 359, 370, 375 Haben Sie Hitler gesehen?  7, 44, 54, 56, 64, 129, 198–199, 202, 238, 272, 359, 370, 374 Haben Sie Hitler gesehen? (Hörspiel)  198–199, 201–202, 226 Hamit  8, 24, 132, 134–135, 168, 238, 253, 280, 356

Haumiblau  7, 138–140, 148 Heile Welt  8, 24, 57, 66, 73–76, 78, 148, 238, 300, 302, 308, 347, 367 Herrn Böckelmanns schönste Tafelgeschichten nach dem ABC geordnet  148, 152, 157, 299 Herzlich willkommen  7, 42, 46, 50–53, 135, 238, 278, 284–285, 300, 307– 308, 310, 330, 360 Hundstage  8, 24, 29, 66–68, 71, 76–77, 79, 135, 175, 179, 238, 246, 252, 266, 312 Im Block Ein Haftbericht In Rostock  2, 6, 31, 33, 40, 42, 44, 68, 133–134, 181, 183–184, 187, 195–197, 204, 216, 221, 238, 249, 254, 259, 268, 273–274, 276, 278–279, 283, 300, 306–307, 332, 337, 339, 346, 356, 369 Immer so durchgemogelt  7, 44, 55, 57, 59, 64, 142–143, 158, 238, 308, 310, 358 Johnson, Uwe u Kempowski, Walter: Der Briefwechsel  180 Kempowskis einfache Fibel  2, 140, 145–147, 149–150, 299 Langmut  9, 24, 75, 183–185, 238, 367–368 Letzte Grüße  8, 24–25, 28–29, 66, 71, 73, 76, 78–79, 238, 246, 252, 277, 308, 331, 348, 367 Mark und Bein  8, 15, 21, 24, 66, 68, 71–72, 76, 78, 135, 194, 211–212, 223, 225, 238, 296, 306, 309, 330–331, 337, 347, 363–367, 369–370, 374–375 Mecklenburg-Vorpommern  9, 169 Mein Rostock  168, 171–173 Moin Vaddr läbt  7, 24, 72, 194, 204, 207–212, 216, 274, 282, 296, 362– 364, 375–376 Plankton  9, 23, 124–131, 177, 231, 288 Schöne Aussicht  2, 7, 47–50, 74, 238, 248–249, 342, 358, 371–373, 375 Sirius  8, 15, 24, 66, 68, 132, 134–137, 151, 238, 253, 266, 274, 279, 355, 359, 364

414 Somnia  9, 24, 132, 134–135, 238, 253, 326, 364 Tadellöser & Wolff  6–7, 34, 36–37, 39–41, 54, 65, 74, 97, 116, 134, 137, 143, 164–165, 167–172, 179–182, 188–191, 193–194, 200, 234, 238, 245–246, 248–249, 251–252, 254, 256, 259–262, 265, 268, 273–274, 278–281, 283–284, 288, 292, 312, 317–319, 332–334, 337, 344, 346, 349, 352, 357, 359–360, 367, 369–372, 375 Träumereien am elektrischen Kamin  2, 188–190, 195, 198

5 Werkregister Unser Herr Böckelmann  139–140, 144, 152–153, 156–157, 284, 297, 312 Unser Herr Böckelmann Sein Lebenslauf  157 Uns geht’s ja noch gold  6–7, 37–42, 44, 47, 171, 181, 235, 238, 254, 262, 273–274, 283, 287, 333–334, 337, 342, 346, 349, 371–373 Walter Kempowskis Harzreise erläutert  164–165 Wenn das man gut geht  9, 132, 136, 345

6 Sachregister Alexander Sowtschick  8, 24–25, 29, 66–67, 74, 76–78, 246, 252, 348, 367 Alter Ego  23, 28, 51, 74, 77–78, 181, 367 Archiv (auch: Sammlung)  1, 3–4, 7–9, 12–14, 18, 50–51, 57, 61–63, 65, 85, 94–96, 98–102, 119, 123–124, 126–128, 131, 133, 136–137, 139–140, 159, 175, 186, 195, 197, 204, 214, 221, 227–228, 231, 233–245, 256, 262, 266, 270, 276, 281, 290, 312, 314–317, 327, 336, 354, 376 Bautzen (auch: Haft$ Haftzeit)  1, 4–6, 9, 31–34, 42–44, 50, 52, 62, 81, 99–100, 125, 132–137, 183–185, 195–197, 203–206, 222, 224, 234, 237–238, 240, 249–250, 263, 265–266, 272–275, 277–278, 280–281, 284, 286–287, 293–294, 311, 316–317, 321, 325–326, 337–340, 352, 356, 360, 362, 369 Bruder (auch: Robert Kempowski)  1, 3, 5–6, 31, 39, 42–44, 50, 134, 160, 164–166, 170, 180, 188–189, 191, 208, 223, 236, 255, 259, 279–280, 286, 290, 293, 316–318, 336, 338, 362, 364, 372 Bürgertum (auch: bürgerlich)  7, 32, 34, 38–39, 41, 43, 45–46, 48–50, 56, 60, 63, 68, 109, 134, 147–148, 150, 161, 165, 175, 191, 233–235, 240, 245–253, 258, 262–265, 268, 279, 282–284, 287–292, 295, 306, 332–334, 336–337, 342, 353, 355–356, 358, 360, 365, 368, 370, 374–375, 378 Chor  1, 18, 23, 32, 101, 103, 105, 112, 143, 201, 212, 214, 230, 272, 274, 285, 321 Deutsche Chronik  7, 23, 28, 31, 39, 42, 44, 96, 116, 135–137, 200, 206, 243, 253, 272, 287–288, 294, 301, 318, 328, 337, 354 Erinnerungskultur  203, 260, 262, 330, 367

Film und Fernsehen (auch: Verfilmung)  7, 37, 41, 178, 189, 254–255, 257–258, 260, 262, 265, 334, 357 Haus Kreienhoop  4, 7, 9, 25, 233, 239, 265–266, 323, 335, 343 Montage-Collage  267, 272, 274, 306, 345 Musik  16, 35, 49, 112, 116, 119, 130, 189–194, 215, 220, 231, 246–247, 253, 258, 274, 277–280, 282–286, 290, 295, 321–322 Mutter (auch Margarete Kempowski/ Grete Kempowski)  1, 5–6, 12, 25–26, 31–33, 35–36, 38, 42–44, 46, 50–53, 69–70, 80, 90, 93, 105, 133–134, 138–139, 145, 163–166, 170, 188, 192–193, 210, 216–224, 228, 234, 247–248, 250, 255, 257, 261, 272–273, 279, 281–283, 286–287, 289–290, 292–296, 300, 316–317, 320–321, 336–338, 342, 348, 351–352, 357, 359, 363, 366–367, 374 Pädagogik (auch Lehrer)  6–8, 35, 53, 59–60, 73–75, 80, 127, 133, 138–139, 141–144, 148, 152–157, 159, 234, 241, 250, 270, 284, 297–303, 305–312, 322, 327, 358, 368 Poetik  59, 61, 258, 327–328, 336, 341 Popliteratur  312–315, 318–320 Reederei  1, 34, 38, 247, 292 Religion  72, 133, 225, 247, 320, 322, 325–326, 329, 338, 341 Rostock  3–6, 8–9, 15, 31, 34–35, 39, 46, 48, 50, 52–53, 68, 134–135, 137, 148, 163, 167–173, 182, 188, 191, 233–235, 237, 248, 256, 261, 280, 282–283, 313, 316–318, 320, 322–324, 355, 373 Schuld  31, 51–53, 64–66, 69–72, 82, 134, 199, 201, 207, 209–210, 212, 216, 222–224, 227, 267, 286–287, 292–293, 321–322, 325–326, 332, 336–342, 349, 359, 362, 366–367, 372, 374–376

416 Schwester(auch Ulla Kempowski)  38, 42–45, 51, 133–134, 137, 165, 189, 192, 241, 249, 259, 280, 289, 349–350 Spionage (auch Spion, Geheimdienst)  1, 6, 32, 39, 43, 50, 122, 165, 195, 204, 216, 222, 265, 271, 286, 292 Sprache  41, 49, 51, 53, 60–61, 65, 96, 103–104, 134, 143, 154, 157, 208– 209, 212, 214, 259–261, 263, 270, 299–300, 305, 307–310, 332, 334, 344–345, 350, 353–355, 362–363, 372 Tagebuch (Tagebücher)  5, 7–16, 18–19, 21–24, 33, 65–66, 68, 78, 85, 90–91, 95–96, 100, 103–104, 109–110, 113, 116, 121, 123, 127, 131–137, 151,

6 Sachregister 168, 171, 174, 176, 179, 184, 205, 215, 221, 223, 225, 227–230, 234–235, 237–241, 243, 245, 252–253, 260, 266, 270, 272, 274–275, 294, 299, 311, 317, 321, 336–337, 339, 342, 353–354, 356–357, 364, 368, 379 Vater (auch Karl Kempowski)  5, 12, 24–26, 34, 38, 44, 52, 55, 69–72, 80, 134, 138–139, 145, 164, 166, 170–171, 188–194, 207–212, 223–224, 233–234, 246, 248–250, 257, 280–282, 286–292, 296, 308, 312, 316–317, 319–320, 322, 339, 348, 355–369, 372–377 Vergangenheitsbewältigung  69, 123, 262, 356, 366, 369–377, 379

7 Autorenregister Adenauer, Konrad  101 Adler, Walter  226–231 Adorno, Theodor W.  64, 108, 271, 284 Altdorfer, Albrecht  102, 103 Altman, Robert  260 Andersch, Alfred  371 Anton Ulrich von Braunschweig  84 Assmann, Aleida  294 Bach, Johann Sebastian  112, 278, 280, 283–285, 322–324 Bähr, Hans Walter  95 Balzac, Honoré de  84 Baring, Arnulf  239 Barth, Karl  90 Baßler, Moritz  92, 114, 314, 315 Baumann, Hans  278 Bazin, André  256, 264 Beck, Klaus  136, 222, 345 Beckmann, Max  92 Beethoven, Ludwig van  191, 203–206 Bei der Wieden, Franz  172 Beneken, Friedrich Burchard  281 Benjamin, Walter  94, 96, 123, 186, 269, 361 Benn, Gottfried  14, 105, 351 Berlin, Isaiah  42 Bernhard, Thomas  361 Beuys, Joseph  176 Beyer, Marcel  82, 96, 122, 377 Biehl, Bert C.  173 Bienek, Horst  239 Biermann, Wolf  239 Bismarck, Otto von  90 Bittel, Karl Heinz  11, 12, 14, 20–22, 186 Blaukopf, Herta  285 Blunck, Hans  102 Bohm, Hark  239 Böll, Heinrich  37, 67, 123, 187, 371, 373 Bonhoeffer, Dietrich  94 Borchert, Jürgen  169 Borchert, Wolfgang  218, 373 Bourdieu, Pierre  246 Bous, Anne  138 Brasch, Thomas  178 Braun, Volker  178

Brecht, Bertolt  92 Breier, Christel  110 Breughel der Ältere, Pieter  102 Broch, Hermann  85, 104 Bruckner, Anton  191 Buchbender, Ortwin  95 Buchheim, Lothar-Günther  179 Buggert, Christoph  227, 228 Camus, Albert  186 Celan, Paul  371 Certeau, Michel de  264 Chopin, Frédéric  278 Churchill, Winston  24 Collasius, August Wilhelm  288 Comenius, Johann Amos  156 Copei, Friedrich  304, 310, 311 Cords, August  289 Czech, Danuta  90, 91, 228 Czerniaków, Adam  91 Diner, Dan  95 Distler, Hugo  280 Döblin, Alfred  85, 186, 252, 351 Dos Passos, John  186, 269 Dostojewski, Fjodor M. 31, 186 Dressler, Fritz  169 Dückers, Tanja  82 Dürr, Alfred  280 Eccard, Johann  285 Egner, Eugen  239 Eichmann, Adolf  64, 201, 371 Emersleben, Otto  169 Ende, Michael  188 Enzensberger, Hans Magnus  345 Erasmus von Rotterdam  330 Ernst, Max  268 Exner, Lisbeth  110 Fallada, Hans  102 Fassbinder, Rainer Werner  263 Fechner, Eberhard  7, 37, 41, 97, 168, 189, 190, 239, 254–265, 334, 356, 357 Feddersen, Helga  255 Feuchtwanger, Lion  187 Fichte, Hubert  40, 123 Fontane, Theodor  187, 251, 333 Foucault, Michel  315 Fried, Erich  179 Friedrich, Jörg  122

418 Fröbel, Friedrich  302 Fröhlich, Hans J.  239 Fröhlich, Hans Jürgen  179 Fuchs, Helmut  7 Fussenegger, Gertrud  110 Gadamer, Hans-Georg  42 Gauck, Joachim  56, 173, 201, 202 Genette, Gérard  35 Gide, André  14 Ginzburg, Natalia  332 Giordano, Ralph  239 Giovannini, Giuseppe  284 Goebbels, Joseph  92, 111, 191, 192 Goedecke, Heinz  192 Goedel-Dreising, Emmi  192 Goethe, Johann Wolfgang von  165, 196, 358 Goetz, Curt  172 Goldschmidt, Berthold  266 Goldt, Max  239, 335 Göring, Hermann  119 Görlitz, Walter  5 Gosselck, Johannes  234, 358 Grass, Günter  37, 40, 52, 67, 81, 82, 109, 121, 332, 335, 344, 371–373, 378 Grimm, Jacob  162, 270 Grimm, Wilhelm  162, 270 Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel von 40 Groys, Boris  314, 315 Grünbein, Durs  239 Gryphius, Andreas  227 Habermas, Jürgen  42 Haffner, Sebastian  54, 55 Hage, Volker  22, 77, 94, 97, 129, 200, 239, 250–252, 272, 312, 334 Hahn, Ulla  82, 179, 239 Halbwachs, Maurice  379 Handke, Peter  335 Haneke, Johannes  257 Harig, Ludwig  61, 378 Hartlaub, Geno  239 Hedin, Sven  92 Heidenreich, Elke  239 Heine, Heinrich  165 Heise, Heinrich  302, 305 Heissenbüttel, Helmut  123 Hemingway, Ernest  187 Hennig, Falko  239 Henschel, Gerhard  239, 335

7 Autorenregister Herbart, Johann Friedrich  154 Herder, Johann Gottfried  302 Hess, Manfred  227 Hesse, Hermann  158 Heykens, Jonny  283 Himmler, Heinrich  379 Hitler, Adolf  1, 2, 7, 24, 32, 44, 47, 53–56, 63, 64, 86–90, 126, 129, 130, 162, 181, 193, 198–202, 226, 238, 249, 253, 263, 272, 282, 291, 306, 309, 319, 355, 359, 368, 370, 372, 373, 374, 379 Hochhuth, Rolf  375 Hoffmann, E. T. A.  161 Höhne, Klaus  255 Hölderlin, Friedrich  92, 106, 108 Horkheimer, Max  34 Hugenberg, Alfred  90 Humboldt, Wilhelm von  172 Illich, Ivan  61 Jackson, Michael  174 Jacobi, Ernst  215 Jakobs, Theodor  172 Jandl, Ernst  209 Janssen, Hildegard  6, 53 Jastram, Jo  239 Jens, Walter  334 Johnson, Uwe  40, 85, 178, 180–182, 239, 269, 275, 317 Joyce, James  128, 174, 209, 260 Juhnke, Harald  160, 161 Jünger, Ernst  92, 344 Kabermann, Friedrich  110 Kafka, Franz  6, 85, 219, 220, 222 Kagel, Mauricio  206 Kapfer, Herbert  110 Kauffmann, Bernd  239 Keele, Alan  3, 29 Kempowski, Anna  289 Kempowski, Hildegard  28, 253 Kempowski, Karl Friedrich  6 Kempowski, Karl Georg  5, 44, 52, 134, 234, 281, 282, 286–296, 355–358, 361, 365 Kempowski, Margarethe  1, 5, 44, 45, 50, 134, 164, 165, 286–296 Kempowski, Renate  6, 28, 160 Kempowski, Richard  45 Kempowski, Robert  1, 5, 44, 45, 134, 164, 165, 208, 286, 290, 293, 318, 364

7 Autorenregister419 Kempowski, Ursula (Ulla)  5, 45, 134, 137, 164, 165, 286, 292 Kerschensteiner, Georg  311 Kersten, Paul  239 Key, Ellen  297, 299, 305, 310 Kinkel, Johann Gottfried  173 Kirsch, Sarah  239 Klemperer, Victor  92 Klipstein, Ernst von  255 Klopstock, Friedrich Gottlieb  281 Kluge, Alexander  94–96, 123, 263, 269, 375, 377 Kogon, Eugen  62, 63, 65 Kohl, Helmut  334 Köhler, Horst  3, 9, 270 Kohlsaat, Friedrich  138 Kolbe, Jürgen  239 Kollewe, Martin  255 Kopelew, Lew  239 Köppen, Edlef  47 Kracauer, Siegfried  42 Kracht, Christian  313 Kraus, Karl  114, 115, 309 Krauss, Christian  265 Kröger, Anna  282 Krogmann, Hans Gerd  198 Krüger, Michael  239 Kubin, Alfred  222 Kunert, Günter  239, 266 Laßwitz, Kurd  319 Laufenberg, Heinrich von  323 Ledig, Gerd  123 Ledig-Rowohlt, Heinrich Maria  360, 371 Lehár, Franz  279 Lenz, Siegfried  67, 205, 239, 299, 332 Leupold, Dagmar  377 Lieffen, Karl  255, 264, 356 Lietz, Herman  302 Lilje, Hanns  93, 343 Limmroth, Manfred  145, 151 Lindqvist, Sven  122 Liselotte von der Pfalz  84 Liszt, Franz  192 Loest, Erich  239 Longfellow, Henry Wadsworth  281 Lotte, Fernand  85 Lukács, Georg  84 Luther, Martin  225, 285, 323, 324, 328, 343 Mahler, Gustav  285

Mahnke, Hans  255 Mann, Klaus  92 Mann, Thomas  14, 47, 67, 74, 85, 92, 96, 102, 112, 158, 186, 251, 333, 340 Matheny, Ray  7, 28, 123 Mayer, Hans  239 Meckel, Christoph  376 Medicus, Thomas  82 Mendelssohn Bartholdy, Felix  282, 283 Michel, Gabriele  255 Mitscherlich, Alexander  198, 199, 201, 202, 225, 226, 264, 359 Mitscherlich, Margarete  198, 199, 201, 202, 225, 226, 264, 359 Modick, Klaus  239 Monk, Egon  264 Montessori, Maria  297 Morell, Theodor  90 Mörike, Eduard  105 Mozart, Wolfgang Amadeus  277, 283 Müller, Christoph  227 Müller, Heinrich  324 Mund, Karl Heinz  6 Muschg, Adolf  179, 239 Musil, Robert  85, 96, 115 Nabokov, Vladimir  68 Nahmmacher, Detlef  280, 281 Neumann, Gerhard  239 Nohl, Hermann  304 Nossack, Hans Erich  97, 123 Ophüls, Marcel  118 Otto, Berthold  302 Paeschke, Olaf  21 Palestrina, Giovanni Pierluigi da  280 Pastior, Oskar  239 Pepping, Ernst  278 Pestalozzi, Johann Heinrich  303 Petersen, Peter  302 Picander (Christian Friedrich Henrici) 324 Pieck, Wilhelm  43 Piranesi, Giovanni Battista  183, 185, 222 Plessen, Elisabeth  239 Plivier, Theodor  95, 96 Poe, Edgar Allen  185 Poliza, Michael  255 Prokofiev, Sergei  191 Proust, Marcel  85 Quaatz, Reinhold Georg  90

420 Quadflieg, Roswitha  152 Raddatz, Fritz J.  6, 33, 92, 96, 110, 136, 221, 222, 239 Rau, Johannes  9, 270 Reemtsma, Jan Philipp  239 Reichwein, Adolf  302 Reitz, Edgar  255, 260 Remarque, Erich Maria  47 Reuter, Fritz  31 Richter, Ludwig  159 Rilke, Rainer Maria  184 Rohmer, Erich  68 Roller, Samuel David  281 Rommel, Erwin  92 Rosenthal, Philip  179 Rubinstein, Anton  190 Rühmann, Heinz  192, 198 Rühmkorf, Peter  239, 345 Schacht, Ulrich  239 Schirle, Alfons  215 Schlingensief, Christoph  257 Schlink, Bernhard  96 Schlöndorff, Volker  263 Schmidt, Arno  67, 94, 100, 164, 269, 340, 371–373 Scholl, Hans  92, 376, 379 Scholl, Sophie  92, 376, 379 Schröder-Jahn, Fritz  197 Schulte, Winfried J.  173 Schumann, Robert  163, 277, 278, 282, 283 Schurz, Carl  173 Schwartz, Stephan  255, 263 Schwilk, Heimo  171, 172, 239 Schwitters, Kurt  268 Sebald, W. G.  97, 121–124 Seidel, Heinrich Wolfgang  172 Seipel, Edda  255 Seitz, Franz  61 Semmelrogge, Martin  255

7 Autorenregister Sennett, Richard  256 Sihle-Wissel, Manfred  266 Solschenizyn, Alexander  68 Sophie von Hannover  84 Sörensen, Sven  255 Stalin, Josef  24 Steinbach, Matthias  110 Sternheim, Carl  332 Sterz, Reinhold  95 Stockmann, August Cornelius  281 Stölzl, Christoph  14 Stuckrad-Barre, Benjamin von  239, 313, 335 Syberberg, Hans-Jürgen  118 Terkel, Studs  96 Teuchert, Hermann  234 Tieck, Ludwig  161 Tschaikowski, Peter  193, 282 Turrini, Peter  239 Uhland, Ludwig  106 Ulrich von Hutten  172 Valéry, Paul  92 Vasarely, Victor  352 Velázquez, Diego  102, 103 Vesper, Guntram  179, 239 Vollmer, Horst  215, 224 Walser, Martin  110, 335, 344, 378 Weisenborn, Günther  92 Weiss, Peter  64, 94, 269, 371, 375 Weisser, Jens  255 Wellershoff, Dieter  239 Wimmer, Marie  215 Wolf, Christa  312, 334, 335 Wossidlo, Richard  234 Wühr, Paul  206 Zacharias, Irene  7 Zinzendorf, Nikolaus Ludwig von  90 Zola, Émile  84 Zwerenz, Gerhard  179 Zwetkoff, Peter  215, 362