Von Büchern und vom Büchermachen


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German Pages [194] Year 1968

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Von Büchern und vom Büchermachen

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Ernst Heimeran

Von Büchern und vom Büchermachen

Verlag Dokumentation München-Pullach

Heimeran Von Büchern und vom Büchermachen

Ernst Heimeran

Von Büchern und vom Büchermachen

Mit einem Nachwort von Herbert G. Göpfert

Verlag Dokumentation München-Pullach

Copyright 1969 by Verlag Dokumentation, Saur oHG, 8023 München-Pullach, mit freundlicher Genehmigung des Ernst Heimeran Verlages, München Druckerei Karl M. Lipp, München Verlags-Nummer 03158

INHALT

Büchermachen (1947)

7

Der Verlagsvertreter (1956)

37

Gegenwartsprobleme des Buchhandels (1953)

69

Wie ein Buch entsteht (1953)

89

Über das Werden eines Bilderbuches (1949)

101

Für wen schreiben Schriftsteller (1951)

108

Verleger und Autoren (1949)

110

Ich mache meine Bücher selbst (1949)

116

Der gepritschte Doppelverdiener (1954)

120

Fachbücher (1951)

124

Jugendgarten der Bücher (1954)

126

Bücher in jedem Zimmer (1951)

128

Man muß es im Kopf haben (1952)

131

Von der Notwendigkeit des Überflüssigen (1947)

133

Die gesunde Krise (1949)

137

Wer liest kommt weiter (1950)

141

Wer sie nicht kennte, die Sortimente (1954)

143

50-Jahrfeier des Verbandes Deutscher Bahnhofsbuchhändler (1955)

151

Tischrede zur Buchmesse 1950 (1950)

173

Messemusterbuchmustermesse (1953)

178

Friedrich der Große als Leser (1947)

180

Nachwort

189

Büchermachen Hohe Fenster mit schmalen Läden und verschossenen Rouleaus, steile Stehpulte, an denen sich auf Drehhockerspiralen die Beine und Rockschöße der Buchhalter und Korrespondenten hinauf­ schrauben, ferne darüber hinschwebend Gaslampen mit grünen Pappschirmen — wie groß ist das Kontor und wie klein bin ich! Aber hinten in Vaters Zimmer, wenn die Türe offensteht, wartet meiner unter dem Schreibtisch ein rohrgeflochtener Papierkorb. Da kann ich hineinlangen und herausnehmen mit vollen Armen und die Wonnen durchscheinender, aller Last entledigter Umschläge und fetter, bunter Drucksachen hinaufschleppen in die Wohnung, ins Kinderzimmer. Mama hat mir für meine Schätze weislich eine Truhe eingerichtet, mein erstes Archiv. Sie heißt die Gelumptruhe, damit ich umso eher lerne Ordnung halten im großen und ganzen. Noch heute halte ich mir inmitten der Aufgeräumtheit geheime Gelumptruhen — die Nachttischschublade zum Beispiel —, in denen die Unordnung ihr zauberisches Wesen treibt. Mit Papier fing es bei mir an. Sollte nicht alle Leidenschaft zum Buch mit Papier beginnen? Sagt man etwa: schade um das Manu­ skript, schade um den Druck, schade um den Einband, wenn ein Buch mißriet? Schade ums Papier, so sagt man. Mein erstes Buch war zweifellos vom Papier inspiriert. Es ist ein steifgebundenes Schuldoppelheft, mit marmoriertem Überzug und glänzend weißen Seiten. Welch zärtliche Lust, die glatten Blätter zu befühlen und ihr heller Spiegel dem Geiste, der sich darin er­ blickt, welch ein Wohlgefallen! Ich besitze es noch. Ich weiß sogar noch, wo ich es gekauft habe: bei Frau Wiesboeck in der Siegfried­ straße und könnte heute noch das Schubfach zeigen, dem es ent­ 7

stammt. Ich habe aus diesem bevorzugten Fach gekauft, bis es aus­ verkauft war. Denn es kam Krieg, und Krieg ist qualitätspapier­ feindlich. Das spricht sehr für Papier. Auf der ersten Seite meines ersten Buches stehen, wie es sich gehört, Titel und Verfasser. Der Titel lautet schlicht: Gesammelte Werke, erster Band. Damit man sich darunter etwas vorstellen könne, folgt auf der nächsten Seite ein Verzeichnis: Am Klavier, Novelle. Das grinsende Glück, Roman. Seltsame Familie, Lustspiel. Aphrodite, Gedicht. Die Kö­ chin, Skizze. Ränkevolles Hin und Her, Operette. Zu meiner eigenen Verwunderung ist keiner dieser Titel in dem Buch ausgeführt. Es beginnt mit der erstaunlichen Behauptung: „Neben meinem Bett steht eine Urne mit der Asche meines Urgroß­ vaters“ und übersprudelt sich auch des weiteren in spannenden Motiven. Diese Stoff- und Titellust scheint bereits auf Bücher­ macherei hinzuzielen. Der Verfasser der gesammelten Werke bin also ich. Auf daß man mich noch genauer kenne, fügte ich hinzu: Realgymnasiast. Klasse 2a. München-Schwabing. Dietlindenstr. 14. Telefon 33417. Besonders die Telefonnummer halte ich für sehr charakteristisch. Denn sie ist heute noch die Nummer meines Verlags. So kann ich gewissermaßen mit meiner eigenen Vergangenheit telefonieren. Mein erstes Buch, und ein zweites und drittes dieser Art, hatte den Fehler (sofern man das nicht einen Vorzug heißen will): es erschien nur in einem Exemplar. Man konnte es zwar verleihen und auf diese Weise unter die Leser bringen, die es aber mit ihren Bemerkungen verunzierten. Auch wenn der wohlmeinende Vater eines Freundes, als handle es sich um eine deutsche Schulaufgabe, an den Schluß schrieb: „Alles gärender Most noch, aber es wird schon Wein daraus werden“, so konnte mich das nicht recht befrie­ digen. Da war mir ein handfestes „Schmarrn“ vonseiten gleich­ altriger Kritiker noch lieber. Diesem Mißstand abzuhelfen, sann ich auf Vervielfältigung. Ich wandte mich an die „Jugendblätter“ und schlug ihnen kurzerhand 8

vor, mich zu drucken. Ich glaubte, der Titel Jugendblätter besage, daß hier die Jugend zu Wort komme. Dem war aber nicht so. Mir antwortete ein Kommerzienrat, die Kriegszeiten seien viel zu ernst und das Papier viel zu schade (s. o.) zu solchen Jugendstreichen. Was tut man in einem solchen Fall? Man gründet selber eine Zeitschrift. Das ist ein herrliches Vergnügen, dieses Gründen. Der Grund dazu findet sich hernach leicht. Ich bin überzeugt, daß die meisten Zeitschriften aus keinem anderen Grund als der Gründer­ lust entstehen. Zuerst hegte ich den verwegenen Plan, die Zeitschrift eigen­ händig zu vervielfältigen, mit Hilfe sogenannter Hektographen­ blätter, wie sie die Lehrer zu den Prüfungstexten oder wir Pfad­ finder zu unsern Manifesten und Schlußzeitungen benutzten. Aber das ergab Blätter, keine Bogen, sie rollten sich unschön, und hatten gar nichts Buchmäßiges. Außerdem verpatzten alle Zeichnungen, und Zeichnungen sollte die Zeitschrift selbstverständlich aufweisen. Da ich selber nur schulzeichnete (nach Fluchtpunkten), rief ich den Wolfgang zu Hilfe, der ganz verrückt oder vielmehr ganz Verrücktes zeichnete: z. B. das Gymnasium, davor eine Vettel und einen Wasserkopf, oder eine Gans mit Radfahrer. Wolfgang war laut Schülerverzeichnis der Sohn eines Verlegers — was mir gar nichts sagte — und als solcher wußte er die Adresse eines Mannes, der sich auf die Kunst verstünde, Geschrie­ benes wie Gezeichnetes unverschmiert zu vervielfältigen, und zwar bogen- und haufenweise. Ich ging zu diesem Mann, er hieß Steindruckerei Bernstorff, und tat ihm meine Absicht kund, eine Zeitschrift zu gründen. Herr Bernstorff erkundigte sich zunächst vorsichtig, ob ich Geld hätte? Ich war dank eines schwunghaften Handels mit Briefmarken im Besitz von dreißig Mark. Um dreißig Mark erklärte sich Herr Bernstorff, der angenehm nach Spiritus roch, in der Lage, fünfzig Exemplare, zwölf Seiten 9

in Großquartformat, mit vierseitigem grünem Umschlag, gefalzt, lose eingelegt und beschnitten, zu liefern, sofern ich ihm die end­ gültigen Vorlagen fertige, mit besonderer Tinte auf besonderem Papier. Die gab er mir. Dies war meine erste Bekanntschaft mit dem graphischen Ge­ werbe. Sie erinnerte, was die klebrige Zaubertinte betraf, noch lästig an Hektographie, so daß ich große Mühe hatte, den redaktio­ nellen Teil damit sauber und dabei schwungvoll zu Papier zu bringen. Auch machte sichs Wolf sehr bequem, indem er nach Art großer Illustratoren erklärte, für Schrift und sonstige Gebrauchs­ graphik sei er nicht zuständig, sondern nur für freie Kunst (die er mir in falschen Formaten ablieferte), so daß ich genötigt war, auch die künstlerische Anordnung des Ganzen in die Hand zu nehmen, wobei mich insbesondere die Überschriften viel Schweiß kosteten. Ich bildete sie einem von mir sonst wenig geschätzten Prachtwerk über die Befreiungskriege nach und habe damit schon damals ent­ deckt, daß man aus normalerweise ungenießbaren Büchern als Verleger immer noch etwas schöpfen kann.

So erschien im November 1917 die erste Nummer des „Zwiestrolch“.

Wieso Zwiestrolch? Der Geleitgruß sagt darüber: „Der Zwiestrolch, eine Zwiegestalt aus Geist und Witz geboren, hat, wie man sagt, in dieser Zeit das Lebensrecht verloren“ usw. Soviel ich mich erinnere, verhielt es sich indessen so, daß Wolf unter seinen Skizzen zwei Strolche vorrätig hatte, und daß wir fanden, die paßten gut für ein Titelblatt. Ergo nannten wir einfachheitshalber die Zeit­ schrift gleich nach der vorhandenen Zeichnung. Wolf behauptete, das sei sogar besonders originell, und überhaupt müßte ein Titel zu raten geben, denn dadurch zöge er an. Wolf war eben ein Verleger­ sohn. Ich konnte dem Publikum mit einer solchen Erklärung natürlich nicht kommen! Das Publikum — wer war das eigentlich? Es ist ja sehr schön, die frischen Hefte einer frischgegründeten Zeitschrift in Empfang 10

zu nehmen und sich daran zu weiden, wie herrlich oft man da gedruckt steht, und es war auch recht schmeichelhaft, daß Wolfs Vater — sagen wir es doch, es war der berühmte Einzelgänger Hans von Weber, der Schöpfer biliophiler Drucke und des Zwie­ belfisch —, daß ein solcher Kenner mich anrief, mir gratulierte und prophezeite, ich würde bestimmt Verleger werden (was mir wie­ derum nichts sagte). Aber wohin denn nun mit den vielen Heften, du lieber Himmel, wenn die mit meiner Erziehung betraute Groß­ mutter ohnedies schon fand, ich hätte viel zu viel herumliegen und immer etwas anderes im Kopf als die Schule? Außerdem: was wurde aus meinen dreißig Mark, und wie sollte das weitergehen? Darüber zerbrach sich weder Wolf den Kopf noch Ludwig, der den musikalischen Teil des Zwiestrolch bestritt mit so entsetzlich langen Artikeln wie »Die Gesellschaft gleicht einer Sonate“, die nur in Fortsetzungen unterzubringen waren. Mitschüler kamen als Abnehmer nicht in Frage. Sie sagten »Schmarrn“ und damit basta. Auch stand von der Schule im Zwiestrolch nichts drin und nichts vom Krieg. Der Zwiestrolch wollte nicht Zeit, er wollte Ewigkeit, wie es scheint, Literatur, Philosophie, Kunst, Musik. Dafür zahlen nur reife Menschen. Ich brauchte erwachsene Abnehmer. Eltern, Verwandte, Nachbarn, sie mußten herhalten. Auch ein Lehrer meldete sich zu meinem Erstau­ nen als Abonnent, der Religionslehrer, was mir einen neuen und hohen Begriff von seiner geistigen Persönlichkeit gab. Nun paßte ich sogar im Unterricht bei ihm auf. Der Absatz ließ sich erfreulich an. Es gab Onkels, die abonnier­ ten gleich zwei- und dreifach. Die von mir fernverehrte, leider schon viel zu erwachsene Mohrs Erika von nebenan brachte ihre Freundinnen als Abnehmer zu. Wir sahen uns in unsern Bestre­ bungen verstanden und in unseren hochkünstlerischen Leistungen anerkannt. Als nach der dritten Nummer die Auflage nicht mehr ausreichte, die Bezieher zu befriedigen, wurde der Zwiestrolch frech und erschien in Buchdruck, zwar in kleinerem Format, dafür aber sechzehnseitig. 11

Der Buchdrucker Bieler in der Theresienstraße — wieder so eine Empfehlung von kundiger Seite — behauptete nämlich, zwölf Seiten zu drucken sei unpraktisch, ein ganzer Bogen viel vorteil­ hafter, und Bögen, das seien eben sechzehn Seiten. Nein so was! Aber mir sollte es recht sein. Denn nun konnte Ludwigs wieder schrecklich langer Artikel über »Unterschiedliche Empfindungen nach einem Klavierabend d’Alberts“ auf einmal erscheinen, und ich konnte meine Poesien und Philosophien auch viel feierlicher plazieren. Dem Wolf war es auch recht, der hatte den Umschlag, der nach wie vor in Steindruck hergestellt wurde, zu seinen sogenannten Studien für sich, wohingegen die lästige Kleckserei für die Redaktion entfiel. Vor allem in Nummer 3 war, während ich ferienhalber die Oberaufsicht an Ludwig abgegeben hatte, dessen bedeutende Liedkomposition »Wenn du bei meinem Liebchen kommst“ abscheulich versudelt, so daß er mir einen ge­ harnischten Brief schrieb (den habe ich auch noch), er würde nicht 1/50 Thaler zuschießen, wenn der Zwiestrolch daraufhin in die Binsen ginge. So sind sie, die Mitarbeiter. Bei so verbesserter Ausstattung schien es mir gerechtfertigt, das Jahresabonnement für sechs Hefte von 3 auf 4 Mark, den Einzel­ preis von 60 auf 75 Pfennig, und die Auflage von 50 auf 150 zu erhöhen, zumal Herr Bieler versicherte, das käme bei Buchdruck im Preis aufs selbe hinaus. Was für ein geheimnisvolles Verfahren, bei dem es aufs selbe hinauslief, ob man 50 oder 150 sagte! Für mich lief es nun allerdings darauf hinaus, daß ich, als ich die Bielerrechnung erhielt, mit Entsetzen inne wurde, daß ich sie nie würde bezahlen, geschweige denn weitere Hefte würde finan­ zieren können. Und dabei hatte ich bisher doch immer so genau gerechnet, wie in einem Rechenbuch: 50 Exemplare kosten 30 Mark. Wieviel kostet ein Exemplar? — 60 Pfennig. Eben, das war der Verkaufspreis. Wieso dann Defizit? Geschäft wollten wir doch keines machen. Wir hatten uns in den (immer eine volle Seite ein­ nehmenden) Bezugsbedingungen ausführlich dahin ausgesprochen, 12

daß es »eine kapitale Naivität wäre, an eine Verbindung zwischen Zwiestrolch und Kapital zu denken“. Bemüht, den Gesetzen des verruchten Kapitalismus nun aber doch auf die Spur zu kommen, dämmerte mir das erstemal etwas von Verlagskalkulation. Wir hatten die meisten Hefte im Abonnement abgegeben. Diese brach­ ten pro Heft nicht 60, sondern nur 50 Pfennig. Aber zum Kuckuck, den Abonnenten mußte doch ein Preis vorteil geboten werden! Das war bei allen Abonnements der Fall, soviel wußte ich bestimmt. Wie konnte das je wieder hereinkommen? Aha, durch höhere Auf­ lagen. Aber da hätte ich von Anfang an eine höhere Auflage her­ stellen oder den Preis entsprechend höher setzen müssen. Überdies waren noch Frei-Exemplare abgegangen, für Wolf, für Ludwig, für mich und, was das empörendste war, für die Bayerische Staats­ bibliothek, welche behauptete, zwei Exemplare stünden ihr kosten­ los als Pflichtstücke zu, obwohl sie doch keinen Deut für den Zwiestrolch leistete. Was tun? — Die Gelder der Abonnenten, denen ich überdies noch zwei Hefte schuldete, waren verbraucht, meine schönen dreißig Mark verbraucht, und angesichts der Druckerrechnung, selbst wenn alle 150 Exemplare abgesetzt werden sollten (woran zunächst nicht zu denken war), blieb immer noch ein Defizit von mindestens 40 Mark. Mein Taschengeld betrug damals wöchentlich fünfzig Pfennig. Meine Briefmarken hatte ich größtenteils schon verhandelt, alte Schulbücher desgleichen. Mich Großmutter oder den Eltern zu eröffnen, das hätte wohl mir, nicht aber dem Zwiestrolch helfen können. Bei Außenstehenden zu pumpen, genierte ich mich. Von den Mitarbeitern war nichts zu erwarten. Zwar eröffnete ich ihnen die Katastrophe, empfing aber wenig Trost. Ludwig wollte es seinem Vater beichten, vielleicht wüßte der einen Mäzen. In dieser Krise, die soviele Zeitschriften hat stranden lassen, erhielt ich den Besuch einer gesetzten Dame. Mir jedenfalls erschien sie sehr gesetzt. Wenn ich heute darüber nachdenke, taxiere ich sie auf Ende der dreißig. Sie sagte, sie käme vom Rhein, hätte 13

soeben in einem mir nahestehenden Hause den Zwiestroldi kennen gelernt und wünsche mitzuarbeiten. In meiner bekümmerten Gemütsverfassung erwiderte ich nur kurz, es sei Zwiestrolchprinzip, daß niemand mitarbeiten dürfe, der älter sei als die Redaktion. Ich sei fünfzehn. Die Dame erwiderte hartnäckig, sie habe ihren Beitrag gleich mitgebracht, ich solle ihn erst einmal lesen. Damit legte sie mir einen Umschlag auf den Tisch und entschwand. „Wer war denn das nun wieder?“ fragte die Großmutter, der die ewige Lauferei Dreck ins Haus brachte. Es war Frau Ellen Waldthausen, Königswinter. So verriet es der zierlich geprägte Umschlag. In dem Umschlag befanden sich bare hundert Mark. Wenn mir heute ein Mäzen eine komplette Druckerei schenken wollte (was wohl nicht zu befürchten ist), würde er damit schwer­ lich den Effekt bei mir machen wie Frau Waldthausen mit jenen hundert Mark. Der Zwiestroldi, das Werk, war wie durch ein Wunder gerettet. Seit diesem Tage habe ich eine feste Vorstellung von Engeln auf Erden: in Gestalt dreißigjähriger Damen (vom Rhein). Das Defizit war gedeckt, Nummer fünf und sechs konnten er­ scheinen, und es ist durchaus begreiflich, daß ich darin froh tirillierte: „Der Menschen hastge Sinne, sie halten alle inne“. In Wahrheit war an Innehalten nicht zu denken, denn nun mußte die Auflage von 150 Exemplaren auch wirklich an den Mann gebracht werden, wenn nicht neue Zahlungsschwierigkeiten entstehen sollten. So viele zahlungswillige Männer aber hat kein Pennäler in der Bekanntschaft. Und so muß ich es wiederum einer oberen Regie zuschreiben, daß mich zu jener Zeit eine Bestellung erreichte, die dem ganzen Vertrieb eine neue Richtung gab. Sie kam aus Leipzig, ein hauchdünnes rosenfarbiges Zettelchen mit viel Vordruck, und lautete (nur das Unterstrichene ist gültig): 14

„Erbitte — direkt — zur Fortsetzung — fest mit Höchstrabatt (Höchstrabatt zweimal unterstrichen): 1 Zwiestrolch“. Die erste Buchhandelsbestellung, ein sogenannter Bücherzettel, höchst rätselhaft. Was sollte das heißen: „fest“, und wieviel betrug der verlangte Höchstrabatt? Eigentlich unverfroren so von Un­ bekannt. Es wäre nahegelegen, daß ich piich darüber bei meiner Buch­ handlung, in der ich soeben Hesses „Musik des Einsamen“ erwor­ ben, erkundigt hätte, oder auch dort, wo man alljährlich die Schulbücher bezog. Das wagte ich aber nicht, sondern wandte mich lieber an die vertraute Frau Wiesboeck und fragte ganz allgemein, was wohl unter höchstem Rabatt zu verstehen sei und was sie beim Einkauf der Schulartikel für Rabatt bekäme. Ungern und verschämt behauptete Frau Wiesboeck: zehn Pro­ zent. Hierauf belieferte ich Leipzig mit zehn Prozent Nachlaß. Die Folge war eine empörte Postkarte, wie ich dazu käme, mit einem Rabatt zu liefern, der noch nicht einmal das Porto zu decken hinreiche. Ich schrieb zurück, ich könnte doch nicht wissen, was man in Leipzig unter Höchstrabatt verstünde. Leipzig schrieb zurück, was ich denn für ein merkwürdiger Ver­ lag sei. Ich schrieb zurück, ich sei überhaupt kein Verlag, sondern der Zwiestrolch. Aber meinetwegen solle Leipzig zahlen, was im Buch­ handel üblich sei. Viel war das augenscheinlich nicht. Doch wie, wenn mehrere Buchhandlungen Abnehmer würden? Dann wäre es immerhin etwas. Es gab doch so viele Buchhandlungen; vielleicht würden sie die Restauflage an den Mann bringen? Ein berauschender Gedanke. Schade, daß ich so wenige Buchhandlungen kannte. Und gerade dort hätte ich mich nie und nimmer getraut, ein solches Ansinnen zu stellen. Persönlich schon gar nicht. Ich schrieb daher anhand des 15

Telefonbuches an einige andere Firmen, ob sie nicht den Zwie­ strolch abonnieren möchten (NB. mit höchstem Rabatt!). Der Erfolg war nicht sehr ermutigend. Zwei bestellten in Kommission. Kommissionsverkäufe mit Saldoabrechnung und Remittenden waren mir von der Verwertung meiner ehemaligen Briefmarkensammlung in Frau Wiesboecks Schreibwarenladen vertraut. Wenn das die ganze Buchhandelskunst ausmachte, konnte ich ebensogut Frau Wiesboeck den Verkauf überlassen. Nur eine einzige kleine Buchhandlung am Englischen Garten bewies späterhin, wie der treulich bewahrte Bücherzettel zeigt, tiefes Zwiestrolchverständnis, und sie spielte daher auch in meiner ferneren Bücherlaufbahn noch eine Rolle. Ein alter Trick um ihre Existenz ringender Zeitschriften ist die Zusammenlegung in Doppelnummem, bei der man zumindest am Umschlag und an der Expedition spart. Der zweite Jahrgang des Zwiestrolch erschien sogar in Dreifachnummern, mit fünf (statt sechs) Bogen Umfang, dafür braun gedruckt, mit grünen Initialen und gelben Kunsttafeln, eine Augenweide. Ich hatte herausgefunden, daß es überhaupt das Schönste am Druckenlassen sei, es nach eigenem Geschmack zu gestalten, und daß man deshalb die Herstellung eines Druckerzeugnisses keines­ wegs dem Gutdünken eines Herrn Bieler überlassen dürfe. Ge­ waltig wütete ich in Typographie und wechselte zweimal die Druckerei, um mich immer noch schönerer Schriften und reicheren Schmuckmaterials zu versichern. Als ich für den dritten Jahrgang das Anerbieten eines älteren Pfadfinderfreundes annahm, den Zwiestrolch in seinem neugegründeten Verlag zu vertreiben — die Auflage betrug jetzt 1000 Exemplare —, tat ich das mit Freuden, aber unter der ausdrücklichen Bedingung, daß außer der Schrift­ leitung „die vollkommene Ausstattung“ in meinen Händen ver­ bleibe. Es ist mir heute noch unverständlich, daß es Verleger gibt, die ihre Herstellung nicht am liebsten selber machen. 16

Der dritte Jahrgang des Zwiestrolch, bei Franz Ludwig Habbel im Verlag „Der weiße Ritter“, nannte sich im Untertitel, wo es vordem gelautet hatte „Zeitlos, Tendenziös“, schlechtweg „Schrift jugendlicher Offenbarung“. Denn seitdem wir im Zwiestrolch Völkerbund und Expressionismus diskutierten (um nicht zu sagen feierten) und von hoher kritischer Warte die Neuerscheinungen der Zeit (Blüher, Wynneken, Ehrenstein, Reimann, Johst, Schwitters, Stammler, Bonseis, Heynicke, Mynona) anpriesen bzw. vernichte­ ten, da war wohl von der Zeit 1919/20 etwas zu spüren. Und wenn der Aufsatz „Von uns“ mit dem Diktum anhob: „Erziehung ist die Sabotierung unserer Jugendlichkeit durch die Erwachsenen“, so lag darin ungeachtet aller sonstigen, meist idyllisch freien Kunst­ produktionen, wohl doch eine gewisse Tendenz. Wir Unmündigen, ha! „Ein für allemal bitte ich Mitarbeiter-Altersgenossen im Ver­ kehr das Du zu benützen und das Herr oder gar das Hochwohl­ geboren wegzulassen“, mahnte damals die Schriftleitung. „Und noch etwas: Jeder Beitrag ist willkommen, aber schickt doch nicht andauernd nur Gedichte. Mit Poesie allein kann ich den Zwie­ strolch doch nicht anfüllen und so muß ich den Prosateil größten­ teils selber schreiben. Der Zwiestrolch soll aber doch die Schrift der Jugend und nicht die Schrift über und von Ernst Heimeran I« sein! Was der Zwiestrolch war, das hatte die Zeitschrift „Wander­ vogel" folgendermaßen kritisiert: „Das gute Papier, der Zweifar­ bendruck, die ganze äußerlich kultivierte, innerlich anmaßende Arbeit könnte nutzbringender verwertet werden.“ Dagegen behaupteten die Münchner Neuesten, „die Beiträge, bis herab zu denen der Neunjährigen, sind gedanklich und stilistisch eher überreif als unreif und erfreulich frei von jugendlicher An­ maßung“. Was war von diesen widersprechenden Urteilen zu halten? Ich faßte mir ein Herz und schrieb dem für mich Kompetentesten der Kompetenten, Thomas Mann, er möchte der Öffentlichkeit einmal über den Zwiestrolch ordentlich Bescheid sagen. 17

»Das glaubst du wohl selber nicht, daß er das tut“, zweifelte Numa T6taz, der sich gerade mit einer Glosse »Literaturkenntnis“ hervorgetan. Außerdem fühlte er sich verpflichtet, an allem zu zweifeln, denn er war freireligiös. Daher fuhr ich ordentlich zusammen, als ich postwendend fol­ gendes Handschreiben empfing: 27. VI. 20 Sehr geehrter Herr:

Ich danke bestens für Ihren Brief und für das freundlichst über­ sandte Heft Ihrer Zeitschrift, das ich mit großem Vergnügen durch­ gesehen habe. Mich öffentlich damit zu beschäftigen, kommt mir aus naheliegenden Gründen nicht recht zu. Desto mehr habe ich mich gefreut, in den M. Neuesten Nachrichten bereits eine sehr sympathisch gehaltene Anzeige Ihres Blattes zu sehen, die Ihnen gewiß manches Interesse gewonnen haben wird.

Ihr sehr ergebener Thomas Mann Anständig, hochanständig! dachte ich. Zwar keine Besprechung, aber ein eigenhändiger Brief. Und was der große Mann für schlich­ tes Briefpapier benützt, mit einem ganz gewöhnlichen Gummi­ stempel! Das war mir angesichts meiner großkopfigen Redaktions­ bogen eine heilsame Lehre. Seitdem lasse ich nichts auf Thomas Mann kommen. — Man kann sich nicht unentwegt jugendlich offenbaren. Außerdem stand das Absolutorium bevor und legte mir nahe, den Zwiestroldi aufzugeben und dafür die Mathematik nachzuholen. Vor allem lernte ich Ernst Penzoldt kennen. Er modellierte mich, er las mir seine Gedichte vor, ich las ihm meine Gedichte vor, ich begleitete ihn, er begleitete mich zurüdc, beständig steckten wir zusammen. Wir fuhren miteinander nach Italien, wir saßen mit­ einander bei Wölfflin, er heiratete meine Schwester und lebte nun mit im Haus — da mußte etwas Entscheidendes geschehen. 18

Am 25. Oktober 1922 ließ ich mich, mangels Volljährigkeit nach eingeholter Zustimmung meines nachsichtigen Vaters, handelsge­ richtlich als Verleger eintragen. Ich hatte allmählich begriffen, daß ich dies im Grunde sei, gleich­ gültig, was beruflich aus mir werden würde, sei es durch Studium, sei es im väterlichen Kontor, und ließ mir von Ernst vor allem einmal ein Verlagssignet entwerfen, das H. Hierauf besorgte ich mir eine Registratur, eine Kartei, ein zwölfpfündiges (und infolge­ dessen unbrauchbares) Loseblatt-Hauptbuch, ließ Formulare drukken nebst einem Prospekt, in dem ich der staunenden Mitwelt meinen Entschluß ankündigte, „unter den schwierigsten wirtschaft­ lichen Verhältnissen“ Ernst Penzoldts Shakespeare-Schildereien herauszugeben, in 100 numerierten, handsignierten Exemplaren, davon 1—10 auf echt Geldern Bütten, in Halbpergamentmappe, Handbuchbinderei Max Schedl, zum Preise von 7200 Mark. Es ist dies eine äußerst unhandliche Mappe mit sechs GroßfolioKaltnadelradierungen, deren Unterbringung mich noch heute in Verlegenheit setzt. Schon damals bereitete sie dem Künstler beim Signieren und dem Verleger beim Expedieren schreckliche Sche­ rereien. Wir arbeiteten, zum Verdruß der Hausfrau, knielings damit auf dem guten Parkett und fuhren die mühsam verpackten Ungetümer schließlich höchstselbst zur Post. Wir haben das später noch oft getan. Mein Verlag war jahrelang berüchtigt für sein Verpackungsmaterial, als da sind alte Schuhund Tortenschachteln, Schneiderkartons und abgerissene Vorhang­ kordeln, oder was im Haushalt sonst anfiel. Ich pflege seitdem Stellenbewerber, die sich unter Verlagstätigkeit ein geruhsames Bücherlesen versprechen, mit der Frage abzuschrecken: „Können sie Pakete packen und zur Post bringen?“ In unserem Packraum hängt groß das Goethewort: „Dreingreifen, packen ist der Weg zur Meisterschaft“, und wir alle haben diese Mahnung mit Eifer beherzigt. In ,rascher Folge' von drei Jahren erschienen nach den Shake­ speare-Schildereien, womit wir immerhin auf unsere Kosten kamen, 19

noch drei weitere Werke von Ernst Penzoldt: »Der Gefährte“ (Gedichte) und zwei dünne Bände Idyllen, sämtliche äußerst biblio­ phil und in bescheidener, desungeachtet schwer verkäuflicher Auf­ lage. Das Schönste waren dabei das Vergnügen des Planens und Herstellens und der Triumph, daß dadurch große Verlage auf den Verlegten aufmerksam wurden.

Denn mir spukte schon damals die Devise »Kein Roman bei Heimeran“ im Kopfe, welche besagen will, daß es für rein erzäh­ lende Literatur genug andere Anstalten gibt, wohingegen manche Buchkategorie, die ich mir selbst wünschte, fehlte: zum Beispiel zweisprachige Ausgaben antiker Klassiker.

Vor Klassikern hatte ich von klein auf einen mächtigen Respekt. Ich war entschlossen, sie allesamt durchzulesen, von A bis Z, wie sie da mit ihren aus rotem Leinen geprägten Köpfen im elterlichen Bücherschrank standen, die Herrlichen. Es dürfte wohl wenig Leser geben, die Chamissos hawaiische Grammatik mit solcher Zähig­ keit und so wenig Verständnis studiert haben wie ich. Von einem Klassiker war mir eben jedes Wort heilig.

Da mußte es mich denn aufrichtig bekümmern, daß die antiken Autoren, die ungeachtet ihrer schulischen Behandlung schließlich doch auch Klassiker vorstellten, nur in Schulausgaben zu haben waren. Es gab freilich hübsche Übersetzungsausgaben; aber den Originaltext fallen zu lassen, schien mir gerade wegen meiner bescheidenen realgymnasialen Kenntnisse sträflich.

Franz Burger, unser begeistert verehrter Geschichtslehrer, hatte mich bereits in der Oberklasse auf den Gedanken zweisprachiger Ausgaben verwiesen, die meinem Wunsche in schönster Weise Rech­ nung tragen würden: links der Urtext, rechts die deutsche Über­ tragung. Es lag nahe, daß ich den Lehrerfreund als nunmehr einge­ tragener Verleger bestürmte, mir einen Horaz in dieser Form auszuarbeiten. Denn es gab damals in Deutschland kaum zwei­ sprachige Ausgaben, sie waren nicht marktfähig, schlimmer noch: sie waren pädagogisch wie wissenschaftlich verpönt. 20

Burger sagte zu, auch für Ovids Liebeskunst wollte er sich gelegentlich gewinnen lassen. Er empfahl Taschenformat, über­ haupt ein tusculanisches Gepräge. Ostern 1923 erschienen die »Oden und Epoden“, gefeiert von einem hymnisch ausartenden Triclinium der nächsten Freunde im mit Matratzen ausgelegten Verlagsbüro. Burger thronte auf dem kissenbepolsterten Schreib­ tisch und redete nur noch griechisch; antike Öllampen brannten bis zum Morgengrauen; der Wein floß in Strömen. Es war Heidelbeerwein, aus finanztechnischen Gründen, in Chiantiflaschen um­ gefüllt und künstlerisch als Cäcuber und Falerner etikettiert. Die Folgen waren entsetzlich. Ich habe insbesondere Peter Jaeger und Fritz Zahn nie mehr so geisterhaft bleich werden sehen. Insanire iuvat (Horaz): O, zu rasen ist süß! Im Freudentaumel also entstand die Tusculum-Bücherei, der ich hinfort meine schwa­ chen Kräfte widmete. Schwach nicht nur, weil sie, einige rühmliche Ausnahmen abgesehen, von der heute so zweisprachenfreudigen Wissenschaft keinen Beistand fand, schwach vor allem finanziell. Wenn ich das Gründungskapital von 20000 Inflationsmark, das mir nach Beschaffung des Büromaterials übrig geblieben war, in Gold umrechne, so komme ich auf 25 Mark. Daher nimmt es nicht wunder, daß der Verlag nie Geld hatte, und wenn, dann weniger aus sich selbst als von uns, sei es, daß Emst oder Peter etwas erübrigten, sei es, daß ich durch anderweitige Arbeiten etwas ver­ diente. Es kam unter diesen Verhältnissen darauf an, die Spanne zwi­ schen Papier- und Buchdruckerrechnungen und den Verkaufsein­ gängen durch Kredit zu überbrücken. Es schien mir daher geraten, mich an auswärtige Lieferanten zu halten, die, wie ich meinte, dem Unternehmen nicht so genau auf die Finger sehen könnten. Wie erschrak ich aber, als selbst die auswärtigen Firmen Ver­ treter entsandten, um den Besteller und damit seine Kreditwürdig­ keit in Augenschein zu nehmen. Besucher, die meinen Verlag besichtigen wollen, setzen mich heute noch in Verlegenheit. Ich weiß wohl, was diese Besucher 21

erwarten: Druckereianlagen, Buchbinderei-, Papiermaschinen. Das alles gibt es bei mir nicht, und auch weltberühmte Verlage können nichts vorweisen als Schreibtische, Schränke, Registraturen, Regale, an Maschinen nur Schreib- und bestenfalls Rechenmaschinen, kurz Gegenstände, die man ebensogut oder noch besser in jedem Büro­ artikelgeschäft besichtigen könnte. Alles übrige ist sozusagen Geist; und Geist kann man nicht besichtigen. Damals bestand mein Verlag aus einem einzigen Zimmer, meiner Studentenbude, der ehemaligen Zwiestrolchredaktion, immerhin ohne Bett und mit Telefon, dafür mit einem zur Firmenrepräsen­ tation ganz unmöglichen Wachstuchstubentisch. Der mußte beim Herannahen von Vertretern schleunigst in das anstoßende Fami­ lieneßzimmer verschwinden, um dem Raum wenigstens etwa das Ansehen eines Empfangszimmers zu geben. Das Mädchen wurde instruiert, und vor allem Emst spielte seine Rolle meisterhaft, in­ dem er im Nebenzimmer bald auf der Maschine klapperte (er konnte nicht einmal maschinenschreiben), bald im Empfangszimmer erschien, um unter Entschuldigungen für die Störung den dort verhandelnden Chef um eine eilige Unterschrift zu ersuchen, bald vom Nachbarhaus anrief, um mit dem leider schon wieder gestörten Chef Großabschlüsse zu tätigen. Die Vertreter konnten daraus ent­ nehmen, es handle sich um einen durchaus kreditwürdigen Betrieb und räumten entsprechendes Ziel ein. Zu meiner Entschuldigung darf ich anführen, daß an mir nie jemand einen Pfennig verloren hat als ich selbst. Daß ich den geneigten Leser derart hinter die Kulissen blicken lasse, geschieht in dem Bestreben, das Büchermachen nicht als allzueinfach und allzubillig erscheinen zu lassen. Gewiß, das Kapital spielt beim Büchermachen keineswegs die Hauptrolle, wenn ein Kapital gründ­ licher Erfahrung vorhanden ist. Eben dieses mußte ich mir erst mühsam erkaufen. Wenn sich in jener Zeit die Geschäftsfreunde meines Vaters erkundigten, was ich denn eigentlich zu werden gedächte, und dann erfuhren: »vermutlich Verleger“, so trösteten sie: »Nun es wird 22

schon wieder einmal besser werden.“ Denn Verleger, das bedeutet in jenen Kreisen einen Hausierhandel mit Textilwaren, und auch als Flaschenbierhändler, als sogenannter Bierverleger, bin ich bis­ weilen betrachtet und bedauert worden. Mit dem Büchermachen, insofern es ein Umgang ist mit Druck und Papier, kam ich, wie es mir schien, voran. Ich rang mit Frak­ tur- und Antiquaschriften, die gleich Äpfeln oder Tulpen Namen haben, Züchternamen wie Weiß, Koch, Unger, Bodoni, Didot und Garamond. Nicht genug, waren alle diese Schriften in Grade ein­ geteilt wie Soldaten, in Mannschafts- und Offiziersgrade, mit Aus­ zeichnungen aller Art geschmückt, und es bedurfte geradezu strate­ gischer Kenntnisse, um den Aufmarsch der Kolumnen im voraus richtig zu berechnen und das Geschütz der Drudestöcke wirksam einzusetzen. Die einzige Schlacht, für die ich mich je begeisterte, ist die Letternschlacht. Nicht nur die schwarze Kunst, auch die weiße des Papiers wollte nun ernstlich studiert sein. Ich suchte in die Formeln von Format und Gewicht einzudringen, in die Geheimnisse von holzfrei und holzhaltig, beschwert und auftragend, Schmalbahn und Breitbahn. Denn so geduldig, wie es das Sprichwort macht, ist das Papier beileibe nicht. Es streckt sich, bäumt sich, staubt, bricht und be­ nimmt sich äußerst widerspenstig, wo es den Anfänger merkt. Wir haben alle schon Bücher in die Hand bekommen, die sich wellen, als hätte man sie im Regen liegenlassen. Man hat sie aber keines­ wegs, es ist etwas Inwendiges. Sie sind in der falschen Laufrichtung gearbeitet. Da siehe du zu! Mit dem Bücherverkaufen indessen, ohne das die schönste Bücher­ macherei abstirbt wie ein in den Sandhaufen gepflanzter Kinder­ strauß, hatte ich weniger Erfolg. Der Absatz wäre, bildete ich mir nämlich ein, vor allem mit Prospekten zu erzielen. In Prospekten war ich groß. Gründungsprospekt zweifarbig auf Japan. Leporellöprospekt mit Ankündigung der Tusculum-Reihe, der .Abteilung Ernst Penzoldt“ und einer »Werkstatt für Buchaus­ stattung“, welche alle Erscheinungen auf Verlangen in Saffian oder 23

Kalbspergament zu binden und mit eigens dazu geschnittenen Stempeln und Rollen zu verzieren versprach. Horazprospekt, zu­ gleich Nummer 1 des „Lebenden Katalogs**. Das „H“, Hauszeit­ schrift auf Bütten, mit Leseproben und Originalbeiträgen. Brief­ einlage-Prospekt mit den Ergebnissen einer Rundfrage: „Begrüßen Sie die Schaffung der zweisprachigen Tusculum-Bücherei?“ Und wie sie begrüßt wurde von Michael Georg Conrad, Rudolf Eucken, S. Fischer, Artur Kutscher, Thomas Mann, Josef Ponten, Roda Roda, Schaukai, Wassermann, Witkowski, Wölfflin (und manchen anderen, unter Ausschluß der Philologen). Einzelprospekte für Tacitus-Tiberius, Ovid-Liebeskunst, Aischylos-Perser, mit den Pro­ ben kühner Penzoldtillustrationen und Titelkupfer. Einführungs­ prospekte in die Tusculum-Schriften, die im Gegensatz zu den ständig damit verwechselten Tusculum-Büchern durch Kurzmono­ graphien, wie Antike Mysterien, Griechische Frauen, Knabenliebe, Heilkunde usw. usw., neue Wege zur antiken Welt bieten wollten und vermehrten Anlaß zu Prospekten boten, die allesamt mit Abbildungen und weisen Zitaten gespickt waren. Ich verlegte anfangs weniger Bücher als Prospekte; die darin angekündigten Herrlichkeiten sind zum Teil heute noch nicht erschienen! Wo immer ich jetzt einem Prospekt begegne, der unter der Spitzmarke „In Vorbereitung befinden sich" ein gewaltiges Bücherprogramm entwickelt, schmunzle ich in mich hinein. Ich muß annehmen, daß die Empfänger meiner Prospekte da­ mals schon geschmunzelt haben. Zu Abertausenden gingen meine feurigen Drucksachen in die Welt. Aber die Welt blieb kalt. Groß­ mutter, die ganze Familie, Freunde und Besucher halfen adressieren und kuvertieren, und Ernst pries allen das Falzen und Einlegen als eine den Geist entbindende und damit geradezu wohltätige häusliche Einrichtung. Nur daß sie leider keinen angemessenen Erfolg zeitigte. Der Bestellungseingang blieb ausgesprochen dürftig, besonders von privater Seite, von der wir uns (Adressenkategorie „Villenbesitzer“ oder „Beamte mit höherem Einkommen“) das meiste versprochen hatten. 24

Ich richtete daraufhin das Hauptaugenmerk auf den Buchhandel. Ihm gedachte ich durch Anzeigen im Fachblatt beizukommen. Es war zu diesem Zwecke erforderlich, daß ich Mitglied des Börsen­ vereins der Deutschen Buchhändler wurde. Durch Fürsprache der mir heiter wohlgesinnten Verleger Kampmann und Schnabel wurde ich gleichzeitig Mitglied des noch exklusiveren Deutschen Verleger­ vereins. Nun konnte ich als Kollege zu Kollegen für meine Verlags­ werke werben und tat dies mit überdimensionalen und daher sehr kostspieligen Inseraten. Ich beschickte Ausstellungen, besuchte sogar die Leipziger Messe, prämierte Heimeran-Sonderfenster, lieferte Schaufensterfiguren, den Bücherboy in Holz, den Bücherheiligen in Gips und die Heimerangruppe, von Freundin Jella liebevoll aus Stoffresten angefertigt. Trotz allen Eifers kam ich nur selten auf meine Spesen. Es mußte dem Buchhandel ein Geheimnis innewohnen, das mir bisher ver­ schlossen geblieben war. Es zu lüften, machte ich jenem Buchhänd­ ler am Englischen Garten, der schon in Zwiestrolchzeiten mein Ver­ trauen gewonnen hatte, den Vorschlag, mich während der Univer­ sitätsferien als Volontär anzunehmen. Herr Schweitzer hatte nichts dagegen, daß ich bei ihm die Ver­ kaufspsychologie studiere. Zuerst verbarg er mich hinter dem Vorhang, im sogenannten Büro. Dort versuchte ich zunächst in das System seiner Buchführung einzudringen, was er nicht sehr gerne sah. Hierauf arbeitete ich an seinem Antiquariatskatalog mit, bis er mir eines stillen Mittags, als er samt seiner ersten Kraft, seiner Frau, auswärts zu tun hatte, notgedrungen den Laden über­ ließ. Es kommt doch niemand, sagte er sich.

Kaum war ich einziger Herr der Handlung, betrat eine Groß­ mama den Laden, um für ihren Enkel ein passendes Geschenk zu erwerben. Zu diesem Behufe machte sie mich mit den Eigenschaften des besagten Enkels ausführlich bekannt, wobei zu Tage trat, daß es sich einerseits um ein reines Kind, andererseits um einen weit über seine Jahre gereiften Geist von dreizehn Jahren handle. 25

Der Fall schien mir weiter nicht schwierig. Ich überlegte, was ich im fraglichen Alter gelesen, und legte vor, was ich davon in den Regalen fand. Die Anordnung des Lagers war mir von den Kun­ denzeiten her vertraut, so daß ich einen ganzen Berg empfehlens­ werter Werke zusammenbrachte. Indessen: Je größer meine Auswahl, desto unentschlossener die Großmama. Ich mußte schließlich befürchten, daß sie sich überhaupt zu nichts entschließen und den Laden unverrichteter Dinge verlas­ sen würde. Wie hätte mich dies vor meinem Prinzipal beschämt! »Halt gnädige Frau!“ rief ich daher wie in plötzlicher Erleuch­ tung, »jetzt fällt mir ein — das ist das Richtige.“

Ich begann die hohe Leiter hinanzuklimmen, verzweifelt nach etwas Richtigem ausspähend. Es war mir aber lediglich aufgegan­ gen, daß es falsch sei, meiner Großmama die Wahl zu lassen, richtig dagegen, sie von etwas Bestimmtem mit Nachdruck zu überzeugen. Da ich aber alle geeigneten Werke schon vorgelegt hatte, ergriff ich in meiner Not, oben an der Decke angelangt, einen Band »Bücher der Rose“ und eilte damit in schöngespielter Sicher­ heit zu der Kundin zurück. Als ich ihr den Band vorlegte, merkte ich zu meinem Entsetzen, daß ich, statt Eichendorff, Huchs »Pitt und Fox“ ergriffen hatte, das den Untertitel trägt: »Liebeswege der Brüder Sintrup“. Ich legte schnell den Daumen über die Liebeswege, im übrigen verschlug es mir die Stimme. War es diese stumme Geste, oder war es der Anklang an Buschs »Plisch und Plum“: die Großmama sagte ja, bedankte sich bestens, zahlte und ging.

Ganz wohl war mir bei diesem Verkauf nicht. Auch mein Chef mißbilligte ihn, weniger aus Besorgnis für den kindlichreifen Enkel als in der Vermutung, Großmama könnte den Mißgriff merken, uns peinlich zur Rede stellen und den Kauf rückgängig machen. Gottlob scheine es sich um keine alte Kundschaft zu handeln; aber neue Kunden gewinne man mit dieser meiner Methode jedenfalls nicht. 26

Ich sah das vollkommen ein.

Schon nach wenigen Tagen erschien die Großmama wieder im Laden.

»Da ist sie“, flüsterte ich dem Chef zu und verschwand hinter dem Vorhang. Dort durfte ich folgendes mitanhören: Chef (mit belegter Stimme): »Sie wünschen, gnädige Frau?“

Großmama: »Ich habe da neulich bei Ihrem jungen Mann ein Buch gekauft“ — entsetzliche Pause — »und das hat meinem Enkel so gut gefallen, daß ich nun auch für meine Enkelin------- “ O du kindlichreiner Goldenkel! Aber was war daraus fürs Büchermachen zu lernen? Daß es ein sehr verantwortungsvoller Beruf ist.

Um diese Erfahrung reicher, beendete ich meine Sortimenter­ lehrzeit in der Buchhandlung am Englischen Garten, um meinen Weg wieder nach der anderen Seite der Ludwigsstraße zu nehmen, zur Universität. Verlagstechnisch war für mich nur in einem besonders schlecht be­ suchten Kolleg, dem über Bibliographie, etwas zu holen. Daher hatte ich es mir im übrigen mit den ersten Semestern recht leicht gemacht. Da ich aber nach dem Doktortitel strebte, in diesem Falle weniger aus Titelsucht, als in der Erkenntnis, daß man als Herr Doktor leichter ins Gespräch gezogen werden kann, als mit einem schwerzubehaltenden Namen, und überhaupt, weil der Doktor­ titel, wie Hofmiller sagt, einem Regenschirm gleicht, von dem man nie weiß, ob man ihn nicht brauchen kann, wählte ich mir ein Dissertationsthema, das zugleich meine Verlagsliebhaberei zum Ausdruck brächte: »Die Initiative des Verlegers in der deutschen Literatur“. Nach vierwöchentlichen Quellenstudium sah ich indes­ sen ein, daß ich mit diesem uferlosen Thema wohl auf Jahre zu keiner eigenen Verlagsinitiative mehr Zeit finden würde. Was bo­ ten allein Göschen und Cotta für unabsehbaren Stoff, wollte man 27

ihren Anteil an der klassischen Literatur beleuchten. Und wie fesselten schon ihre Lebensläufe an sich. Cotta war Advokat, ehe er sich zur verlegerischen Lebensarbeit entschloß, Bettuch Legations­ rat, Campe Schulmann, Fröbel Professor der Mineralogie, Brock­ haus Inhaber eines Manufakturwarengeschäftes. Bis in unsere Zeit boten sich Beispiele dafür an, daß gerade sehr berühmte Verleger von verlagsfremden Berufen hergekommen sind. Das sah ja fast so aus, als ließe sich der Absprung in den Verlegerberuf von irgend­ woher vollziehen, als könnte man Verleger werden über Nacht? Auch von Büchern, die über Nacht berühmt werden, las ich ja mit­ unter, ihre Verfasser seien vordem nie schriftstellerisch tätig gewe­ sen. Wenn man näher zusah, stellte es sich anders dar. Vielleicht hatten jene Autoren noch nie eine Zeile geschrieben. Aber ihr poetisches Gefühl, ihre schöpferische Anschauung, ihr dichterisches Sein war schon lange vorgebildet. Und darauf kam es an. Man mußte erst etwas sein, um erfolgreich wirken zu können, auch als Verleger. Eine Persönlichkeit mußte eingebracht werden; das war das Erste. Allen verlegerischen Lebensgängen, so kraus sie begonnen haben mochten, schien ferner dies gemeinsam: Bücher begleiteten sie von Jugend an. Der Anruf der Bücher wurde früh gehört und befolgt. Alle großen Verleger sind erst große Leser gewesen. Schade um das gewaltige Thema. Aber mit einer Dissertation, die eine solche Welt aufriß, war für mich, nebenamtlich sozusagen, nicht fertig zu werden. Daher schwenkte ich zur Kunstgeschichte ab und entschloß mich zu einer Untersuchung über Michelangelo und das Porträt, zu der mich, wie ich mir einbildete, einige Michelangelo-Selbstdarstellungen berechtigten, die ich im Ernst in Italien, u. a. in der Sixtina, entdeckt zu haben glaubte. Diesen meinen Entdeckungen widersprach die seit Vasari unan­ gefochtene These, es wäre Michelangelo ein Greuel gewesen, Porträtzüge zu verewigen. Ich wäre mit meinen Gegenbeweisen kaum durchgedrungen, wenn nicht im gleichen Augenblick von italienischer Fachseite ein Teil meiner Entdeckungen ebenfalls ge­ macht und sensationell veröffentlicht worden wäre. Selten kommt 28

einem die berühmte Duplizität der Fälle so zu paß, wie damals mir, der ich mich über Nacht als primus inter pares anerkannt sah. Selbstverständlich wurde auch meine Dissertation wieder ein Buch (Verlag Bruckmann), und nur deshalb sind diese wie andere per­ sönlichen Eitelkeiten hier ausgekramt. Studieren, Büchermachen, Büro und Vertrieb — von allen sonstigen häuslichen und kunstbeflissenen Beschäftigungen ganz abgesehen, schrie das allmählich nach Entlastung. Ich hatte da in unserem Streichquartett einen autodidaktischen Cellisten und Komponisten, der sich in seinem Bankberuf sehr unglücklich fühlte, während ihm das Wirken in einem Verlag unge­ mein verlockend erschien. Ich hinwiederum fand es sehr praktisch, in Zukunft immer gleich einen Cellisten zur Hand zu haben. So engagierte ich ihn für Buchhaltung und Korrespondenz. Da er der Schreibmaschine unkundig und meine antiquarische Schreibmaschine ohnedies altersschwach war, nahm ich den Ge­ legenheitskauf einer Mignon wahr, die eher etwas Dentistisches als Stenotypistisches an sich hatte. Anstelle der vielen Tasten genügte ihr eine einzige, die sich ungelernt spielend bedienen ließ, indem man gleichzeitig die gewünschten Buchstaben mittels eines Stahl­ zeigers auf einem Typenfeld zusammenstocherte. Mein Cellist brachte es mittels dieser staunenswerten Erfindung zu einer beacht­ lichen Schreibgeschwindigkeit. Meistens allerdings komponierte er, sei es in Gedanken, sei es tatsächlich, und wir haben viele seiner schwer zu entziffernden Streichquartette und seiner Hymnen für Saxophon noch tintenfrisch zur Uraufführung gebracht, sogar öffentlich. Es lag nahe, daraufhin eine Musik-Verlagsabteilung zu gründen. Vorsichtshalber versuchte ich das aber erst mit den ein­ gängigeren Liedern meines Freundes und Zwiestrolchs Ludwig Kusche. Während ich dies zu Papier bringe, sumsen sie mir, jugendsüß, im Ohr: »Ich bin auch in Ravenna gewesen“ (nach Hesse) oder „Schöne Dämmerung, deine Kühle“ (nach Kiabund). Leider bin ich so ziemlich ihr einziger Anhänger geblieben. Mein Hauskomponist dagegen ähnelte nur physiognomisch dem 29

melodientrunkenen Schubert. Musikalisch war er der jüngsten Moderne ergeben. Vom Verlagswesen verstand er nichts und von Buchhaltung wenig. Aber wir paßten zusammen, und das war uns die Hauptsache. Seitdem fragen wir im Verlag bei jeder Anstellung immer zuerst: paßt er, paßt sie zu uns? wenngleich es mir geraten schien, künftighin daneben weniger auf kompositorische, als auf kontoristische Fähigkeiten zu achten. — Auch ein Verlag, der nicht recht geht, wächst. Ja gerade dann, wenn die Bücher liegen bleiben, benötigt man immer mehr Platz. Wir ließen daher seit geraumer Zeit die Expedition durch ein Leipziger Kommissionsgeschäft erledigen, wodurch einem zugleich der niederschmetternde Anblick nicht kleiner werdender Bücher­ stapel erspart blieb — übrigens für auflagensüchtige Verleger wie Autoren ein sehr heilsamer Anblick. Doch auch Registraturen, Formulare, Büros an sich haben die Tendenz aufzuquellen. Zudem fiel in dem einzigen Verlagszimmer das Nebeneinander von klapperndem Sekretär und gedanken­ vollem Chef auf die Dauer lästig. Wir saßen gemeinsam an einem viel zu akustischen Schreibtisch; wenn ich sammlungsuchend den Blick ins Grüne des kleinen Gartens richtete, schwebte mir ein Kiosk vor, der darin zur Aufstellung kommen und eine Art Ver­ lagshaus abgeben konnte, mit einer aus dem Verlagssignet gebil­ deten Wetterfahne. Ernst entwarf bereitwillig einen hübschen Plan, der das Leben und Weben in diesem Musentempel hinreißend vor Augen führte. Es fand sich dann aber doch eine winterfestere Lösung durch Ausbau des Kohlenkellers, den Ernst mit gewaltigen Engeln freskierte, die selbstverständlich ebenfalls mit Büchern be­ schäftigt waren. Jetzt konnte man sogar einen richtigen Lehrling halten und es daraufhin wieder einmal mit einer Zeitschrift probieren: den »Münchner Mitteilungen für künstlerische und geistige Interessen*. Sie stellten sich die Aufgabe, die in den Tageszeitungen zersplitter­ ten Nachrichten über die Münchner kulturellen Veranstaltungen und Begebenheiten zusammenzufassen und damit den Bestrebungen 30

selbst einen Mittelpunkt zu geben. Das Beste an den M.M. waren wiederum das Signet, der Veranstaltungskalender und die typo­ graphische Lösung der zahlreichen Inserate, die mich mit diesem Zweig des Verlagsgeschäftes so erfolgreich vertraut machten, daß sich die M.M. eine Anzeigenplantage schelten lassen mußten. So undankbar waren die Leser, die dafür nur zehn Pfg. pro Wochen­ nummer zu entrichten hatten, und so wenig ahnten sie von den Scherereien mit Postvertrieb, Straßenhandel und unehrlichen Agen­ ten. Sogar eine Tageszeitung brachte der Verlag, wenn auch nur in einer Nummer, der Faschingsnummer: „Die Kuhhaut“. Sie ver­ ulkte die Münchner Neuesten Nachrichten, deren äußere Gestal­ tung sie nachahmte, mit solchem Erfolg, daß mich die Leitung dieses Hauses nach einem zu unseren Gunsten entschiedenen Rechts­ streit und einer gewissen Respektsfrist, einladen ließ, meine Kräfte doch lieber ihr selbst zur Verfügung zu stellen und in ihre Redak­ tion einzutreten. Das fand ich außerordentlich witzig. Und da ich nun doch all­ mählich vor der Notwendigkeit stand, einen Beruf zu ergreifen, nahm ich das Angebot, das mir freie Meinungsäußerung zusicherte, an und zog im Jahre 1928 zu meinem Freund Eugen Roth in die Lokalredaktion der Münchner Neuesten Nachrichten.

Hatte ich denn nicht schon meinen Beruf? War ich denn nicht eingetragener, selbständiger Verleger? Ja, Liebhaberverleger. Mein Verlag war eine Passion geblieben, die sich allmählich selber trug, aber mich mitzutragen offenbar nicht zureichte. Das lag nicht nur an meinem hehren, unsinnigen Entschluß, nie­ mals andere Bücher herauszubringen als schwerverkäufliche Tusculumbücher. Vielmehr war dieser Entschluß durch die traurige Erfahrung mit dem „Schaubuch berühmter Zeitgenossen“ bestärkt worden.

Ich hatte es nämlich im Jahre 1924 auch einmal mit einem Erfolgsbuch versuchen wollen. Es sollte mich allen Geldkalamitäten mit einem Schlage entreißen. 31

Die Idee stammte von Ernst: die berühmten deutschen Zeitge­ nossen aller Gebiete in Werken bildender Kunst vor Augen zu stellen, die Großen gedeutet durch Künstleraugen. Eine prachtvolle Idee! Denn: „Es ist eine Wollust, einen großen Mann zu sehen.“ (Goethe.) Die Frage, wer eigentlich als bedeutend anzusprechen sei, be­ schäftigte mich allein schon geraume Zeit, besonders da es galt, dies für Gebiete festzustellen, auf denen mir jede Erfahrung fehlte. Wer war z.B. der größte deutsche evangelische, katholische, jüdische Theologe unsrer Zeit? Wer vertrat repräsentativ Frauenbewegung, Eisenbahnwesen, drahtlose Telegraphie, Finanz, Handel und die verschiedenen Sparten der Industrie? Wie waren die wissenschaft­ lichen Disziplinen zu besetzen? In Kunst und Literatur tat ich mir leicht: Kollwitz, Slevogt, Corinth, Liebermann, George, Haupt­ mann, Hofmannsthal, Mann, Rilke; Kerr für Kritik; Eugen Diederichs und S. Fischer für Verlag; Busch und Klingler für Geige, Edwin Fischer für Klavier; Slezak-Onegin Gesang; Hinde­ mith, Pfitzner, Strauß, Schönberg als Komponisten usw. usw., ins­ gesamt 130 Persönlichkeiten. Aber als ich diese nun anfragte, wer sie am besten porträtiert hätte und um Photos dieser Porträts bat, kamen zum Teil entsetzlich spießige Darstellungen zu Tage, zum andern fehlten sie ganz. War es nicht sonderbar, daß es z.B. von Kolbe noch kein Porträt gab? Er schuf daraufhin seine erste Selbst­ darstellung eigens für das Schaubuch, und auch in einem Dutzend anderer Fälle konnten durch Porträtaufträge Lücken geschlossen werden. Trotzdem war das Endergebnis nur als ein Versuch anzu­ sprechen, auch verlegerisch. Das Schaubuch wurde in der Herstel­ lung sehr teuer; da es indessen im Verkauf billig sein sollte, ein Schlager, ein Volksbuch mußte ich eine gewaltige Auflage riskieren. Kurz, ich ließ mich immer weiter zur Spekulation verlocken, dem Krebsübel aller Verlegerei, und tat trotz aller Mühen und An­ strengungen schließlich einen so tiefen Sturz, daß ich mich nur mit väterlicher Hilfe wieder aufrichten konnte. 32

Wenn ich das heute selten gewordene (weil nach Tausenden makulierte) Schaubuch zur Hand nehme, finde ich es zwar sehr interessant, wie unbekümmert, teils prophetisch, teils ahnungslos Ebert, Stresemann, Hindenburg nebeneinander stehen, oder War­ burg und Schacht, Duisberg, Stinnes und Thyssen, Planck und Einstein, Spengler und Freud. Aber vor allem mahnt es mich doch beim Büchermachen, niemals, und sei es noch so verlockend, von der Erfolgsspekulation auszugehe'n, vom »leeren, unandächtigen Gerumpel“, wie Johannes Aventinus so schön sagt. Für diese Lehre war das Lehrgeld bei alledem nicht zu hoch, und es ist mir ein Bedürfnis, sie allen Büchermachern weiterzupredigen. Als wohlbestallter Redakteur konnte ich meinem Verlag hin­ reichend unter die Arme greifen und den Ausbau der TusculumReihe fördern. 1930 konnte ich sogar eine gelernte, würdige Buch­ halterin gewinnen. Sie ist heute noch, quasi als Königinmutter, bei mir tätig und findet, wie es sich für eine Buchhalterin gehört, noch immer, daß wir viel zu schlechte Geschäfte machen.

Es blieb freilich ein sonderbarer Zustand, daß ein selbständiger Verleger mit Angestellten zugleich Angestellter eines Zeitungsver­ lags war, und das Finanzamt hat das nie recht verstanden. Seine Fragebogen paßten nicht auf mich. Es ist mir noch des öfteren mit Fragebogen so ergangen. Für das Büchermachen konnte ich auch in der Zeitung mancherlei profitieren, nicht nur technisch beim Umbruch, im Setzersaal oder als Herausgeber bilderreicher Sonderbeilagen in der Zusammen­ arbeit mit Chemigraphie und Vertrieb, sondern auch psychologisch. Gerade die Arbeit für den lokalen Teil bringt einem die Anliegen aller Bevölkerungskreise von der Gemüsefrau bis zum Oberbürger­ meister nahe. Ich bemühte mich mit Hingabe um Wohnungsver­ hältnisse, Straßenzustände, Kommunalpolitik, kämpfte für und ge­ gen Radfahrer und Automobilisten, rügte den Radiolärm, entwarf einen Knigge für Behörden, besang und bekrittelte zugleich unsere 33

Münchner Gemütlichkeit, brach siegreiche Lanzen und holte mir im Dienste für das Gemeinwohl auch so manche Beule. Deshalb war ich nicht wenig erstaunt, als mir im April 1933 zwei in unbehagliches Schwarz uniformierte Männer der politischen Polizei als Dank für meine Mühen folgenden Erlaß überbrachten: »Auf Grund amtlicher Unterlagen und Verfügungen sehen wir uns genötigt, Sie mit sofortiger Wirksamkeit zu entlassen.“ Ich packte mein Eigentum zusammen, nahm Michelangelos Menschwerdung von der Wand, den Aschenbecher vom Schreibtisch, das Handtuch aus dem Schrank und ging ziemlich betroffen nach Hause. Und doch: handelte es sich vielleicht bei diesem Schicksalsschlag nicht vielmehr wieder um so einen höheren Wink, der meinem Leben Richtung geben sollte? Ich fing an, dies zu begreifen. Zunächst überschlug ich meine Barmittel. Ein Jahr mochten die ausreichen. Dann zählte ich die Häupter meiner Lieben: Horaz, Tacitus, Ovid, Aischylos, Plutarch, Lukian, Platon, Alkiphron, Sophokles, Catull, Heraklit. Ob ich es mit so vielen prächtigen Autoren nicht doch auf eigene Faust wagen sollte? Es wird Dir, geduldiger Leser, schon lange aufgefallen sein, daß bei mir unter Büchermacherei so selten von Begegnungen mit Autoren die Rede ist. Im Anfang des Buches, so wirst Du sagen, ist doch das Wort, der Autor. Und solange ich mich nur als Autor fühlte, schien fnir das ebenfalls ganz selbstverständlich. Meine Studien über Verlagsinitiative indessen ließen mich den ausschließlichen Vorrang der Autorschaft bezweifeln. Bücher in unserem heutigen Sinne, sagte ich mir, gibt es erst seit Gutenberg. Autoren hat es schon jahrtausendelang vor ihm gegeben. Also wäre Gutenberg als der erste Verleger und Vater der Büchermacherei zu betrachten. Tausende von Büchern verdanken wir seitdem der Initiative von Verlegern, nicht von Autoren. Ich war natürlich nicht so vermessen zu glauben (wie es gewisse Kulturkammern geglaubt haben), man könne Goethes oder auch 34

nur Heimerans „züchten“. Ein belletristischer Verlag beispielsweise wird immer davon abhängig bleiben, was er an bedeutenden Autoren um sich zu sammeln versteht. Aber ich wollte ja kein belletristischer Verlag sein, umso weniger, als ich durch die jahrelange Geschäftsführung der literarischen Ge­ sellschaft „Die Argonauten" viele Dichter und Schriftsteller allzu­ sehr von der Nähe kennen gelernt hatte. Lange beschränkte ich mich auf hilfsbereite, in Person zurück­ tretende Herausgeber meiner so geduldigen antiken Autoren, was aber auch mich als Verleger, wie man sieht, im Dunkel hielt. Es ging also selbst bei meiner Verlagsart, die auf Verlagsideen beruht, auf die Dauer nicht ohne lebendige Autoren. Denn die besten autarken Verlagsideen, was sind sie ohne den Autor, der ihnen Gestalt gibt? In jenem Jahre 1933, als ich um diese Erkenntnis reicher, aber umso ärmer an zeitgenössischen Autoren vor der Entscheidung zum Berufsverleger stand, wußte ich zunächst keinen anderen Ausweg, als mich auf meine eigene Autorschaft zu besinnen, um damit meinen toten Klassikern aufzuhelfen. Zu diesem abenteuerlichen Versuch bedurfte ich, wie ich einsehen gelernt hatte, der Teilnahme des gesamten Buchhandels, und um diesen zu gewinnen, faßte ich den folgenschweren Entschluß, von Türe zu Türe um Rat und Unterstützung nachzusuchen. Ich packte meine Gesamtverlagspro­ duktion in die Mappe (sie erwies sich dafür als vollständig aus­ reichend), fuhr möglichst weit weg, nach Hamburg, wo mich gewiß niemand kannte, und versuchte mich mit Zittern und Bangen als mein eigener Verleger. Das war des Rätels Lösung. Die überraschende Ermutigung und Ermunterung, die mir auf dieser Reise zuteil, der erste große Erfolg, der meinem Trostbüchlein (das ich vor allem selber so dringend benötigte) beschert wurde, ließ meine alte Liebhaberver­ legerei wahrhaftig zu einem ordnungsgemäßen Beruf ausarten. Und damit änderte sich eigentlich nichts, als daß statt bisher 4 Neuerscheinungen im Jahresdurchschnitt jetzt durchschnittlich 14 35

erscheinen (14 ist die Verlagshausnummer), und daß sich neben den dünnen Büchlein von einst jetzt auch ausgewachsene, 600seitige Bände finden. Auch hat sich die Tusculum-Bücherei zu einer sogar philologisch ernstzunehmenden Reihe entwickelt, um dem Mangel an wissenschaftlichen antiken Texten mit abzuhelfen. Ich verstehe selber von dem, was da im Apparat zu Alkaios, zu den Sibyllinen usw. vorgetragen wird, oft sehr wenig, höre aber natürlich gerne, das sei eine große Verlegertat. Es ist mir aber nicht um Taten und nicht ums Großwerden zu tun, sondern nach wie vor darum, Bücher, die ich selber gerne besäße und die es so noch nicht gibt, in die Welt zu setzen. Denn, so hoffe ich und finde es zumeist bestätigt, diese meine Freuden werden wohl auch von anderen Bücherfreunden geteilt; und das ist eigentlich mein ganzes Verlagsprogramm. Gewisse Beschränkungen sind dabei natürlich notwendig. So halte ich es beispielsweise für überflüssig, mich angesichts der großen Zahl führender belletristi­ scher Verlage auch meinerseits besonders um Belletristik zu be­ mühen, mögen darin auch die größeren Erfolgschancen liegen. Dagegen haben sich der Humor in allen Spielarten, alles was ins Häuslich-Familiäre schlägt sowie gewisse Erscheinungen der Kul­ tur-, Kunst- und Literaturgeschichte zu richtigen Verlagsabteilungen ausgewachsen. Den Kriegsjahren hatte der Verlag und der Verleger seinen Tribut zu entrichten, so daß es im Jahre 1947 wieder von vorne anzufangen galt. Indessen ist zum Glück das Schwabinger Haus stehen geblieben, in dem Verleger und Verlag aufwuchsen. Und so kann heute noch Besuchern die Stelle im 1. Stock vorgewiesen werden — jetzt dient der Raum als Empfangszimmer — wo vor fünfunddreißig Jahren der Zwiestrolch und vor dreißig Jahren die eigentliche Verlagsfirma gegründet wurde. Der Weinstock an der Gartentreppe, damals noch ein schüchternes Reis, ist heran­ gewachsen und trägt fleißig Trauben. Sind sie auch nicht sehr groß, so sind sie doch süß von Erinnerung und Dankbarkeit. 1947 36

Der Verlagsvertreter Ist es heute schon, ist es überhaupt notwendig, sich mit den Auf­

gaben eines Verlagsreisenden zu befassen? Nennen wir ihn absicht­ lich einen Reisenden, um deutlich zu machen, daß wir den bloßen Verlagsverkäufer nicht nur augenblicklich entbehren können, son­ dern ihm am liebsten nie mehr begegnen würden. Das Hausierer­ hafte, das dem Begriff des Geschäftsreisenden zu Recht oder zu Unrecht ganz allgemein anhaftet, die Atmosphäre von Eisenbahn, Tabak und zweifelhaften Witzen, wir wünschen, daß der Buch­ handel auf immer davon befreit wäre. Eben darum bietet die heutige Situation, die eine solche Reisen­ denexistenz ausschaltet, die beste Gelegenheit, echte Vertreter heranzuziehen, die ihren Verlag nicht nur mit Auftragsblock und Musterkoffer, sondern mit Kenntnis, Hingabe und Geschmack repräsentieren werden. Es hat immer Reisende solcher Art gegeben. Aber sie waren so in der Minderzahl, daß manche Sortimenter unmutig im Buch­ händleradreßbuch die Warnung aufnehmen ließen: »Reisendenbe­ suche verbeten.“ Denn welche Fülle von inneren und äußeren Eigenschaften ist zu einem idealen Vertreter erforderlich: Gewin­ nendes, aber bestimmtes Wesen, ansehnliches, aber nicht zu ansehn­ liches Auftreten, Redegewandtheit und Verschwiegenheit, Begeiste­ rung und sachlicher Blick, zäher Fleiß, Menschenkenntnis, Kinder­ stube und — welche Menge von Kenntnissen, nicht nur der buchhändlerischen Gepflogenheiten, sondern vor allem der Bücher selbst. Ob es sich um einen wissenschaftlichen, einen schöngeistigen, einen Jugendschriftenverlag handelt, bleibt sich dabei gleich: jeder Vollvertreter soll nicht nur die verlagseigene Produktion gründlich kennen, sondern in der Bücherwelt ganz allgemein bewandert sein, 37

zumal sein Kunde, der Sortimenter, wie schon der Name sagt, ebenfalls der Vielfalt der Erscheinungen lebt. Es könnte einem himmelangst werden vor diesem Idealaufriß. Und es soll denen auch angst werden, die sich die Verlagsvertreterei höchst einfach vorstellen und nach ihr greifen wollen, weil sie sonst zu nichts taugen. Wer aber aus echter, kenntnisreicher Neigung zum Buch entschlossen ist, ihm von Türe zu Türe zu dienen, dem soll diese Schrift einen Schlüssel dazu in die Hand geben. Ein förm­ licher theoretischer Lehrgang für den Vertreterberuf, ein Trocken­ kurs sozusagen, ist freilich undenkbar; jeder muß sich da seine eigenen Beine ablaufen. Das Ideal des Verlags Vertreters wäre eigentlich der Verleger selbst. Ich sage das nicht, weil ich selber zehn Jahre lang jeweils drei bis vier Monate für meinen Verlag unterwegs war und mich damit als Idealfigur empfehlen möchte. Sondern es liegt auf der Hand, daß der, der die Bücher in die Welt gesetzt hat, darüber am besten zu referieren weiß, auch wenn es ihm an Zungenfertigkeit gebricht. Man geht nicht umsonst zu Vortragsabenden, in denen Dichter ihre Werke selber vorlesen, obwohl geschulte Sprecher das meist viel besser verstünden. Der unmittelbare Kontakt ist uns wertvoller als die kunstvollste Interpretation. Es würde weniger Verlagsnieten und weniger Ladenhüter geben, wenn sich Verleger und Sortimenter persönlich über Produktion und Absatz verein­ baren könnten. Nun ist das bei größeren Verlagen unmöglich. Selbst wenn der Inhaber Lust und Schneid und Selbstverleugnung dazu mitbrächte, fehlt es ihm an Zeit, wochenlang mit der Mappe herumzufahren. Manche Verleger machen daher gelegentlich Informationsbesuche bei dem einen oder andern großen Kunden. Derlei Visiten sind als verbindliche Gesten zu werten, im Sachlichen bleiben sie gänz­ lich unverbindlich. Farbe wird erst bekannt, wenn der Auftrags­ block gezückt ist, und da zeigt es sich oft, daß die Neuerscheinung, über die der Verleger unter liebenswürdigster Zustimmung des Sortimenters geplaudert und die er daraufhin groß herausgebracht 38

hat, vom nämlichen Sortimenter kaum bestellt wird. Da es also dem Verleger in den wenigsten Fällen möglich oder tunlich erscheint, seinen Verlag in Person zu vertreten, muß er dafür sorgen, daß ein wirklicher Vertreter seiner selbst für den Verlag reist. Der Vertriebsleiter wäre innerhalb des Verlags der bestgeeignete Mann für die Reise, aber der hat natürlich auch wie­ der keine oder nur sehr beschränkte Zeit. Und vielleicht ist das auch ganz gut, damit Sortimentsgehilfen, die den Ladentisch ein­ mal von der andern Seite erleben möchten, zu einer guten Vertre­ tung kommen. Die meisten namhaften Vertreter sind aus Sorti­ menten hervorgegangen, so daß man Sortimenterjahre als die geeignetsten Lehrjahre des Vertreters ansehen darf. Indessen haben wir es in dieser Schrift gleich mit den Wander­ jahren zu tun.

Vorbereitungen zum Start Die Wendigkeit oder, wenn das zu wenig solid klingt, die Kunst der Improvisation spielt, wie wir sehen werden, im Vertreterberuf eine große Rolle. Eben deshalb ist nicht nur für den Anfänger, sondern für jeden Vertreter-Reise-Anfang eine geradezu pedanti­ sche Vorbereitung unerläßlich. Gut improvisieren läßt sich nämlich erst, wenn man sein Instrument gründlich beherrscht. Nun liegen aber diese Reisevorbereitungen zum großen Teil in der Hand des Verlegers. Wenn dieser mit seiner Produktion, mit seinen Unterlagen und Anweisungen nicht frühzeitig im reinen ist, kann der beste Vertreter solche Versäumnisse nicht wettmachen. Es kommt immer wieder vor, daß Vertreter mit nichts als Wasch­ zetteln und halbfertigen Schutzumschlägen ausgerüstet, mit hohlen Versprechungen also, die Reise antreten müssen, so daß sie sich nicht wundern dürfen, wenn sie, und damit der Verlag, gerade vom verantwortungsbewußten Sortiment abgewiesen werden. Wie schon beim Bücherschreiben und bei der Buchherstellung, so ist auch beim Buchvertrieb ein Husch-Husch-Verfahren von Übel. 39

Deshalb ist es für den Vertreter so wichtig, daß er mit seinem Verlag in einem engen Arbeitsverhältnis steht, das allein eine sorgfältige Reisevorbereitung gewährleistet. Über die Form dieses Verhältnisses sprechen wir im Schlußkapitel, damit es nicht so aussieht, als wollten wir die damit verbundene Frage nach der Einträglichkeit des Vertreterberufs in den Vordergrund rücken.

Einarbeitung in die Verlagsproduktion Die erste und vornehmste Aufgabe des Vertreters ist die Ein­ arbeitung in die Produktion des vertretenen Verlags, und zwar nicht nur in die augenblickliche neue, sondern in die Gesamtpro­ duktion, mindestens soweit sie noch lieferbar ist. Auch soll ein Vertreter diese Bücher nicht nur gelesen haben, um gegebenenfalls den Inhalt zu referieren, sondern aufgrund einer intimen Kenntnis vermitteln können, welche Stellung ein bestimmtes Werk im Ver­ lagsganzen einnimmt, wie es von dem oder jenem Gesichtspunkt zu beurteilen ist — kurz, er soll seinen Kunden Maßstäbe in die Hand geben, nicht einen Haufen Inhaltsholzwolle. Das kann er aber nur, wenn er mit dem bisherigen Verlagsschaffen ständig umgeht und wenn er die neue Produktion schon im Entstehen mitverfolgt. Manchem alten Verlagshasen mag die Forderung nach derart durchgebildeten Vertretern maßlos übertrieben erscheinen. Es ging doch auch so! Aber wir gehen Zeiten entgegen, wo es „so“ eben nicht mehr geht. Nun gibt es freilich Erscheinungen, die man nicht gelesen haben muß, um sie zu verkaufen. Ich meine jetzt nicht, wie ein Münchner Sortimentsfreund mir insgeheim versicherte, er lese grundsätzlich keine Neuerscheinungen mehr, denn so oft er sie gelesen, hätte er nicht mehr die Stirn gehabt, sie zu empfehlen, während er sie ungelesen in aller Unschuld anpreisen könne. (So ganz ernst muß man diesen Kollegen nicht nehmen.) Ich meine, daß man die neuen Bände einer Klassikerreihe, einer Gesetzessammlung, einer 40

Gartenbücherei usw. nicht durchgelesen haben muß, um sie hin­ reichend zu charakterisieren. Auch verstehen sich manche Titel so­ zusagen von selbst, weshalb man sich schon im Absatzinteresse bemühen sollte, Titel so zu formulieren, daß sie sogar bei der bloßen biliographischen Erwähnung das Buch stummberedt ver­ treten. Bei Fachliteratur ist das verhältnismäßig einfach, bei schö­ ner Literatur fast hoffnungslos, weshalb hier der Autorenname für den Inhalt gutstehen muß. Wie schwer oder wie leicht es ein Vertreter mit seinem Verlag auch trifft: die genaue Kenntnis der »von selbst" gehenden Bücher empfiehlt sich nicht minder, als die der schwierigsten Fälle. Bei jeder Lektüre lassen sich Gesichtspunkte gewinnen, die bei dem darauf aufmerksam gemachten Sortiment zusätzliche Verkaufserfolge bescheren. Ich möchte nicht so weit gehen, dem Vertreter eine Art Zen­ sorenrolle innerhalb der Produktion einzuräumen. Aber ein Mitspracherecht in der Titel-, Ausstattungs- und Preisgestaltung halte ich für wünschenswert. Wir stoßen da auf die Grundfrage: ob ein Verlag seinen Vertreter als vollwertigen Mitarbeiter betrachtet oder nur als ein notwendiges, möglichst kurz zu haltendes An­ hängsel. Viele der Vertragsreisenden waren zweifellos nur für diesen zweiten Modus qualifiziert. Aber es ist die Frage, ob das nicht mehr eine Schuld des Verlags war, sich mit solchen Hilfs­ arbeitern zu begnügen, statt durch entsprechende Bedingungen hochwertige Vertrauenskräfte zu gewinnen. Und so ist diese Schrift immer zugleich an die Adresse des Verlags gerichtet, soweit er nicht längst jene höhere Vertreterpolitik verfolgt.

Versand von Prüfungsexemplaren Nicht nur der Vertreter soll sich vor dem Sortimentsbesuch mit den Neuerscheinungen vertraut machen können, sondern auch das wichtigste Sortiment. Schon bei berühmten Autoren kann der Sorti­ menter einen neuen Titel groß nur bestellen, wenn er ihn genau kennt, geschweige denn, daß er sich für neue Autoren auf bloßes 41

Zureden hin ins Zeug legen wird. Dies hat zur Versendung von Prüfungsexemplaren geführt. - Gemeinhin bezeichnet man sie als Leseexemplare. Doch werden hierunter auch Geschenkstücke des fertigen Werkes verstanden, die insbesondere der Gehilfenschaft als Anreiz oder als Anerken­ nung für besondere Verwendung zur Verfügung gestellt werden, während die Prüfungsexemplare, meist in gefalzten Bogen, zu dem Zwecke übermittelt werden, daß sich der Sortimenter, notfalls stüdeweise in der Trambahn, vor dem Vertreterbesuch sein Urteil bilde ( das er dann mitunter schriftlich dem Verlag kund gibt samt der Erlaubnis, davon bei der Verlagswerbung Gebrauch zu machen). Was hat diese verlegerische Maßnahme der Sortimenterbearbei­ tung mit den Aufgaben des Vertreters zu tun? Es ist seine Aufgabe, bei der Auswahl der für solche Prüfungsexemplare geeigneten Sor­ timenter mitzuwirken. Denn es kann sich immer nur um eine Auswahl von Sortimentern handeln, die mit dem oder jenem Prüfungsexemplar bedacht werden — nicht nur, weil der Verlag nicht halbe Auflagen vorwegschenken kann —, sondern weil ein Zuviel die geplagten Empfänger mehr abschrecken als ermuntern könnte. Ich habe oft Stöße solcher Sendungen ungeöffnet im Winkel liegen sehen. Als der Versand von Prüfungsexemplaren noch nicht allgemein üblich war, tat er eine ausschlaggebende Wirkung. Seitdem sich aber diese Sendungen zu Bergen stapeln, kann diese an sich wich­ tige Reisevorbereitung nur als eine zusätzliche Werbemaßnahme gewertet werden.

Die Kundenkartei Der Versand von Prüfungsexemplaren und jede der folgenden Reisevorbereitungen setzen voraus, daß sich Verlag und Vertreter darüber schlüssig geworden sind, welche Sortimente besucht werden sollen. Diese Entscheidung muß anhand der in jedem ordentlichen Verlagsbetrieb geführten Kundenkartei gefällt werden. Denn es wäre sehr dilettantisch, sich bei der Auswahl auf die, einst von 42

Leipzig beziehbaren, sogenannten Vorzugsadressen der größten und kreditfähigsten Sortimente zu verlassen, obwohl das in der Tat öfter geschehen ist. Die Kundenkartei verzeichnet neben den Personalien vor allem die von einer Firma für den Verlag erzielten Jahresumsätze. Man kann also notfalls die Festkontenblätter der Buchhaltung zu die­ sem Zweck heranziehen. Auf diesen fehlen aber die oft beträcht­ lichen Barbezüge. Festkonten geben also kein zuverlässiges Bild, zumal ja die Bezüge der einzelnen Firma über die Barsortimente ohnedies nicht zu erfassen sind. Wie oft wird dem Vertreter von Sortimenterseite versichert, man hätte ganze Berge über das Bar­ sortiment nachbezogen — was an sich insofern zweifelhaft er­ scheint, als man Berge zu besseren Bedingungen beim Verleger direkt einkauft. Aber die durch den Verlag gegangenen Barver­ käufe müssen von der Kundenkartei miterfaßt werden. Aus dieser Kundenkartei wird die Reisekartei für den Vertreter herausgezogen. Statt der Kartei kann natürlich auch eine Liste oder ein Büchlein dienen, doch habe ich es auf der Reise immer am praktischsten gefunden, die für einen Besuchstag vorgesehenen handlichen Firmenkarten in die Tasche zu stecken, so daß man auf der Straße, womöglich bei Regenwetter, nicht erst blättern muß. Wenn sich auch schon beim ersten Besuch die Personen und Ver­ hältnisse eines Sortimentes in einem aufgeschlossenen Vertreterge­ hirn wie photographisch abzeichnen, so daß man sich noch nach Jahren an Situationen, Gespräche, Erfolge, ja sogar an Launen, Krankheiten, Liebhabereien der Kunden erinnert, so entfällt einem doch plötzlich vor der Ladentür ein wichtiger Name oder eine Be­ zugsvereinbarung, und deshalb dient die Reisekarte auch hier für langjähriger Vertreter als Rückversicherung. Man sollte sich nicht darüber lustig machen, sondern sie als einen Beweis sorgfältigen Kundendienstes werten. Vielleicht interessiert den und jenen das Formular einer solchen Reisekarteikarte, weshalb hier meine ehemalige erwähnt ist.

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Sie ist übersichtshalber auf mehrere Jahre berechnet. Vorderund Rückseite sind so klar gegliedert, daß alle wichtigen Einzel­ heiten deutlich werden. Das sind alles insofern keine Geheimnisse, als das Geheimnis des Erfolges nicht auf Formularen und Prak­ tiken, sondern auf Eigenschaften beruht. Soll man nur Firmen besuchen, die durch einen gewissen Min­ destumsatz ihr Verlagsinteresse an den Tag gelegt haben, oder ge­ rade auch solche, die sich bisher ablehnend verhielten? Oder nur die, die in reisetechnisch günstig zusammenliegenden Orten ansässig sind und dafür in diesen Orten grundsätzlich alle? Oder gerade nicht alle, damit die besonders einsatzbereiten Firmen sich nicht darüber ärgern, daß Hinz und Kunz dasselbe Fenster haben? Das sind Ansichts- und Erfahrungssachen. Am häufigsten ist wohl die Kombination der Gesichtspunkte, am seltensten ein Durch­ arbeiten aller, auch der kleinsten Plätze (was nur für gewisse Popularia- oder Bildbuchverleger in Frage kommt). Der Vertreter hat das berechtigte Bestreben, unlohnende, zeitkostende Orte und Fir­ men zu überspringen, nicht nur aus finanziellen Erwägungen (die wir im Schlußkapitel anstellen): er muß ja auch innerhalb einer bestimmten Erntezeit fertig werden.

Der Reiseplan Die Aufstellung des Reiseplans gleicht jener Prüfungsaufgabe: »Wann wurde wo wer und von wem besiegt?“ Man muß sich ent­ scheiden, wann man, wo man und bei wem man reisen soll, endlich noch wie und womit. Wer sich das am grünen Tisch austüftelt, haut gewaltig daneben, weil sich ohne Erfahrung weder abschätzen läßt, wann man die Kunden am sichersten (und am bereitwilligsten) antrifft, noch wie viele Firmen sich pro Tag bewältigen lassen und wie die Reiseorte Verkehrs- und hoteltechnisch ohne Zeitverlust zu verbinden sind. Der kollegiale Rat von Reisepraktikern hilft auch nicht hundert­ prozentig, weil jeder Vertreter, je nach seinem Temperament und nach Art und Umfang seiner Verlagsproduktion, sehr verschieden 44

lang zu tun hat, pro Besuch von zehn Minuten bis zu vier Stunden. So viel steht fest: die Hauptreisezeit bleibt der Herbst, da dieser das Weihnachts-, das Hauptgeschäft einleitet. Daneben spielt die Frühjahrsreise (für das Konfirmations- und Ostergeschäft) eine wichtige Rolle. Nachdem aber der Verlag immer wieder aufgefor­ dert worden ist, seine Produktion auf das ganze Jahr zu ver­ teilen — was für gewisse Neuerscheinungen möglich und auch ge­ schehen ist —, sind Alleinvertreter praktisch das ganze Jahr unter­ wegs und stöbern ihre Kunden sogar während der Hundstage noch in Kurorten auf, sei es, daß die Kunden dort Ferien machen, sei es, daß sie dort ein Saisongeschäft betreiben. Ich habe, freilich mit persönlich befreundeten Sortimentern, schon während Schitouren, beim Schwimmen und auf Strandpromenaden, zu Wasser und zu Lande also, buchgehandelt. Ob es für die Sortimenter angenehm ist, wenn sie nie im Jahr vor Vertretern sicher sind, ist eine andere Frage. Und eigentlich sollte der Vertreter immer den psycholo­ gischen Augenblick erraten und den Erfolg seines Auftretens nicht mit einem »hat man denn nie seine Ruhe“ verscherzen. Einen wichtigen Anhaltspunkt dafür, in welchen Wochen man die Sortimenter eines Gebietes antrifft, bietet die Übersicht der Schulferien, die im Börsenblatt regelmäßig veröffentlicht werden. Denn da Sortimenter sich mit ihrem Urlaub, soweit sie Familie und schulpflichtige Kinder haben, ebenfalls nach den Schulferien ein­ richten müssen, wird man sie — oder doch einen großen Teil von ihnen — während dieser, in den verschiedenen Landesteilen sehr wechselnden Ferienzeiten schwerlich, danach aber vermutlich wie­ der antreffen. Der Vertreter konnte sich also darauf einstellen, etwa in Schle­ sien, wo die Hauptferien schon mit dem Juli zu Ende gingen, An­ fang August anzufangen und so überall danach zu trachten, der Erste zu werden. Denn je weiter das Jahr vorrückt, desto zahl­ reicher werden die Vertreter und desto schwieriger wird es, anzu­ kommen. Diese frühesten Termine wahrzunehmen, ist nur deshalb gewöhnlich nicht möglich, weil bis dahin die Verlage mit ihrer 45

Produktion noch nicht so weit gediehen sind, um den Vertreter mit den notwendigen Reisemustern und Unterlagen auszurüsten. So kommt es doch meistens darauf hinaus, daß die Vertreter Anfang August starten und gegen Anfang November aufhören, um dann eventuell Anfang Dezember noch eine Blitz-Nachtour durch die Großstädte einzulegen — mit der Vorgabe, dem Sortimen­ ter imWeihnachtstfubel das richtige Nachbestellen zu erleichtern, in Wahrheit, um Spitzenerfolge herauszuholen, nicht zuletzt an Pro­ vision. Frühjahrsreisen hängen vor allem davon ab, ob der ver­ tretene Verlag eine eigene Frühjahrsproduktion anzubieten hat. Da die Hauptreisezeiten nur wenige Wochen umfassen, wird man sich die Frage vorlegen müssen, ob man, um von Bahnver­ bindungen unabhängig zu sein, nicht der Autoreise den Vorzug geben sollte. Der Anfänger meint vielleicht, das hänge davon ab, ob man sich ein Auto leisten könne, und das könnten sich natürlich nur große Verlage beziehungsweise Vertreter leisten. Er wird daher mit Verwunderung wahrnehmen, daß oft sehr maßgebende Ver­ treter großer Verlage mit der Bahn unterwegs sind, während klei­ nere Verlage motorisiert erscheinen. So habe ich von meiner zweiten Reise an alle Besuche mit dem Wagen gemacht, nicht aus Repräsen­ tation (wozu sich mein erster Wagen, der nette, kleine Maxi, der mir von den südlichsten Alpenpässen bis zum Polarkreis diente, auch keineswegs geeignet hätte), sondern aus wirtschaftlichen Über­ legungen. Große Verlage haben in jedem Sortiment lang zu tun und kön­ nen auf entsprechende Aufmerksamkeit rechnen. Wer zu jedem Be­ such einen viertel oder halben Tag benötigt, muß auch bei Zugan­ schlüssen nicht nach Minuten geizen. Dagegen verliert der kleinere Vertreter, der in einem Ort vielleicht nur einen Kunden besucht und bei diesem schnell fertig ist — wenn er ihn womöglich nicht überhaupt verfehlt —, unverhältnismäßig viel Zeit. Wer gar einen ergiebigen städtereichen Bezirk, wie das Rhein-Ruhrgebiet, bereiste, fand so viele ausgezeichnete Schnellverbindungen vor, daß er in der Bahn, wo man nicht aufpassen muß und sogar lesen kann, viel an­ 46

genehmer und billiger voran kam. Der wirtschaftliche Kleinwagen in den Händen eines (natürlich auch autotechnisch etwas erfahre­ nen) Vertreters macht sich bezahlt, selbst wenn er (wie ich) nicht mit Erfolgsromanen oder sonstigen Großschlagern aufzuwarten hat.

Reisemuster, Bestellblock Wünschenswert wäre, daß jeder Vertreter die Neuerscheinungen fix und fertig bei sich trüge, da ja v'on der Ausstattung, der An­ sehnlichkeit eines Buches unendlich viel abhängt. Ich bin gewöhnlich in dieser glücklichen Lage gewesen, da ich für die frühzeitige Fertigstellung sorgen konnte und mich außerdem immer auf einige wenige Neuerscheinungen beschränkte. Aber ab­ gesehen davon, daß der Verlag auch bei aller Anstrengung oft nicht zielgemäß fertig werden kann, verbieten wirtschaftliche Erwä­ gungen, daß man investiertes Kapital monatelang brach liegen läßt. Auch müssen zur Bemessung der Auflagenhöhe häufig die ersten Vertretererfolge abgewartet werden. Endlich müßten die Vertreter produktionsreicher Verlage dann ganze Schrankkoffer voll fertiger Bücher mit sich schleppen. Bei großen Bilderbuchverlagen, wo das nicht zu umgehen ist, spricht der Vertreter oft wie ein Packträger vor. Eine solche Packerei kann niemand verlangen. Worauf aber von Sortimenterseite mit Recht bestanden werden muß, ist, daß der Verlag seinen Vertreter mit ordnungsgemäßen Reisemustern aus­ rüstet, die Einband, Umfang, Papier, Satz und Illustration anhand einer halben Decke mit Rücken und angeklebtem Probebogen er­ kennen lassen (es sei denn, es handle sich um einen neuen Band einer eingeführten, gleichmäßig ausgestatteten Reihe). Es ist nicht nur eine Zumutung, vom Sortimenter zu verlangen, daß er auf­ grund nackter oder nur ungenügend illustrierter Titelangaben bestelle, also die Katz im Sack kaufe, es führt auch, wenn über­ haupt, zu falschen Dispositionen, sei es, daß der Sortimenter zu viel, sei es, daß er zu wenig bestellt. Irrige Anfangsbezüge haben immer verhängnisvolle Wirkungen. Sind sie zu groß, gibt es Rück­ 47

gabe-Reklamationen, bei denen sich der Sortimenter zu Recht da­ rauf berufen kann, er sei ungenügend informiert worden; sind sie zu klein, gehen sie im Lager unter, und es ist dann nachträglich sehr schwer, den Sortimenter zu veranlassen, sich mit solchen Einzelgängern näher zu befassen. Dafür hat er ganz einfach keine Zeit, und der beliebte Klagegesang, der Sortimenter täte nichts für einen, beruht häufig auf Verlagsfehlern bei der Reisewerbung. Daher warte der Vertreter mit dem Reisebeginn, bis er richtige Reisemuster beisammen hat, selbst wenn er dadurch Zeit verliert: das ist für ihn wie für den Verlag immer noch der geringere Scha­ den. Für die Alterscheinungen versieht ein Verlag, der seine Werke nicht als Eintagsfliegen be(vielmehr miß-)handelt, seine Vertreter mit einer Mappe oder einem Leporello, die Schutzumschläge ent­ haltend. In Sachen Bestellblock, einer an sich gleichgültigen Frage, wie es scheint, plädiere ich im Interesse des Sortimenters wie vor allem des Vertreters für kleine Formate. Ich habe mich immer über die (auch bei den Fakturen) üblichen ungeschlachten Formulare ver­ wundert, die zur Ablage unleidlich sind und zur Ausfertigung erfordern, daß der Vertreter an einem Tisch Platz nehmen kann, was aber keineswegs immer der Fall ist. Der Sortimenter bestellt meist im Laden, bedient dazwischen, und so muß sich der Vertreter bald über Bücherstapel gebeugt, bald zwischen Regalen behelfen, wobei ihm dann so ein Bestellblockmonstrum äußerst lästig ist.

Besuchsankündigung Die Besuchsankündigung ist keine bloße Geste. Sie setzt den sorgfältigen Sortimenter in den Stand, sich auf das Einkaufsge­ schäft vorzubereiten. Er weiß nun, bis wann er sich über die ge­ sandten Prüfungsexemplare ein Bild gemacht haben sollte, er kann das Lager des betreffenden Verlages aufnehmen und sich über Ergänzungsbestellungen schlüssig werden, mit denen er sich auch den Vertreter verpflichtet, wenn sie ihm zugute kommen. Die Ver­ 48

treteranmeldung gibt auch Gewißheit darüber, ob der Besuch so rechtzeitig erfolgt, daß vorherige (schlechter rabattierte) Neuig­ keitenbestellungen, etwa aufgrund von Börsenblattanzeigen, un­ nötig sind. Obwohl nur eine Elite von Sortimentern so zielbewußt vorarbei­ tet, bleibt die Besuchsankündigung noch wertvoll genug. Jede Art von Werbung gewährleistet immer nur einen Teilerfolg. Auch gilt für die Anmeldeform, was für jede Werbung gilt: daß sie sachlich und zugleich einnehmend sei. Ellenlange Höflichkeitsphrasen, wie sie der Geschäftsstil mit seinem »stets gerne für Sie beschäftigt“ liebt, kann man sich sparen; dagegen wäre ein möglichst genaues Besuchsdatum wünschenswert. Da nur gut eingespielte Vertreter den Tag ihrer Ankunft schon vor Reiseantritt auf Wochen vorausbestimmen können, und da es auch immer unvorhergesehene Reiseplanänderungen geben wird, ist meist nur ein ungefährer Termin zu errechnen, es sei denn, daß der Ver­ treter die Anmeldungen von Woche zu Woche selbst voraussendet. Das belastet ihn zwar, ist aber durchführbar, wie ich erprobt habe. Ich führte zu diesem Zweck die postfertigen Anmeldungen im Kof­ fer mit und gab sie wochenweise unterwegs auf. Bisweilen wird die Anmeldung mit einem Neuigkeitenprospekt (und eventuell mit einem Formular für die Lageraufnahme) ver­ bunden. Der Sortimenter weiß das zu schätzen auch wegen etwaiger Titelaufnahme in Sortimenterkataloge. Für den Vertreter besteht dabei die Gefahr, daß der Sortimenter seine Bestellung direkt beim Verlag aufgegeben hat, ehe der Vertreter eintrifft (auch wenn in dem Prospekt gebeten wird, auf den Vertreter zu warten), und dann sind Fehlbestellungen schwerer zu korrigieren. Auch verliert der Vertreter dabei das nicht zu unterschätzende Überraschungs­ moment der Neuerscheinungen. Diese Gefahr besteht im erhöhten Maße, wenn der Verlag vor Erscheinen der Bücher Börsenblattan­ zeigen aufgibt und Rundschreiben versendet, womöglich mit Vor­ zugsangebot. Ich würde das als Vertreter innerhalb meines Gebietes als ein verlegerisches Mißtrauensvotum auffassen. Der Verlag, der 49

seinen Vertreter nur als einen zusätzlichen Handlanger betrachtet, muß sich nicht wundern, wenn er keine Elitevertreter findet, und schadet damit endlich auch sich selbst. Es drückt sich hier dieselbe Gesinnung aus, die Verlage veranlaßt, hinter dem Rücken des Sortiments Privatkundenbestellungen zu suchen, um den Rabatt (im Vertreterfalle die Provision) zu sparen. Nach Erscheinen der Bücher muß der Verlag seine Neuigkeiten freilich ganz allgemein bekannt machen. Er kann die Auslieferung auch nicht so lange hinausschieben, bis der Vertreter mit der Reise fertig ist. Auch aus diesem Grunde ist es wichtig, daß Neuer­ scheinungen „noch rechtzeitig fürs Weihnachtsgeschäft “ im Sommer auf dem Punkt stehen, daß die Unterlagen und damit die früh­ zeitige Vertreterreise gesichert sind.

Heil und Sieg und fette Beute Das ist der Gruß zwischen Vertretern, ihr Feldgeschrei, mit dem sie sich ins Buchgetümmel hineinstürzen. Man muß diesen Kriegsruf, wenigstens bei wirklichen Vertretern, nicht grob materialistisch nehmen. Sie wollen sich selber damit Mut machen. Das müßte schon ein ganz dreister Neuling sein, den bei seinen ersten Vertreterbesuchen nicht die Klinkenangst überfiele. Später, wenn man eingeführt ist, legt sie sich. Aber wie das Lampenfieber bei Stars: plötzlich einmal ist sie wieder da. Man schleicht wie die Katze um den heißen Brei der Schaufenster herum, glaubt zu be­ merken, daß diese oder jene Buchhandlung sicher nicht in Frage käme, und kann sich in einer aus Selbstvorwürfen und trüben Ahnungen gemischten Niedergeschlagenheit nicht entschließen, ein­ zutreten. Mein erster Besuch ist mir in dieser und in manch anderer Hin­ sicht unvergeßlich. Der Leser möge mir daher erlauben, persönlich zu werden. Das sollen Vertreter doch gerade sein: Persönlich­ keiten. 50

Ich war durch das Jahr 1933 um meine Stellung gekommen (als Schriftleiter an den Münchner Neuesten Nachrichten) und überlegte nun, ob ich meinen Verlag, den ich seit 1922 liebhaberisch betrieben, nicht beruflich ausüben könnte. So viel war mir sicher, daß dazu meine bisherige Beschäftigung mit zweisprachigen Aus­ gaben antiker Autoren nicht ausreichen würde. Darüber wollte ich mir handgreiflichen Rat im Sortiment holen, das ich nur gelegent­ lich als Plauderer (siehe Seite 38) aufgesucht hatte. Ich fragte den einzigen Verteter, den ich damals kannte, um seine Meinung. Diese Meinung war, ich sollte lieber nicht reisen, ich würde mich wun­ dern. Da ich jedoch in Studentenzeiten mit einer Textilvertretung schon einmal Geld verdient hatte, wagte ich es trotzdem, traf meine Vorbereitungen (nicht die oben empfohlenen, sondern höchst kindliche) und fuhr los, möglichst weit weg, wo ich niemanden kannte, nach Hamburg. In Hamburg gibt es große, berühmte Handlungen. In die traute ich mich vorerst nicht, sondern wählte ein Geschäft in der König­ straße, dessen tiefes Einzelfenster mich didcensartig vertrauensvoll anmutete. Ich prüfte eben die aus Lyrik und Jurisprudenz ge­ mischte Auslage, als sich der abschließende Vorhang teilte und einen schlanken Buchhändler sichtbar machte. Wie ertappt trat ich vom Fenster zurück, verfolgte aber von der Seite, wie besagter Buchhändler sich bemühte, eine Broschüre hereinzunehmen, die er aber wegen der Schaufenstertiefe nicht erlangen konnte. Er ver­ schwand im Laden, um, wie ich annahm, eine sogenannte Schau­ fensterzange zu holen. Durch diesen Gedankengang fühlte ich mich der Buchhandlung gewissermaßen verbunden, trat ein und be­ merkte, daß der Buchhändler, offenbar der Inhaber selbst, sich nicht mit einer Greifzange, sondern mit einem Cellobogen aus­ rüstete, um die Broschüre aus dem Fenster zu angeln. Ich bemerkte ferner, daß dieser Bogen das Behaaren nötig hätte, und das an diesen Umstand kennerisch anknüpfende Gespräch führte dazu, daß sich Sortimenter und Verlagsvertreter noch in der gleichen Woche zu einem Streichquartett zusammenfanden. 51

Ich habe seitdem unterwegs nicht nur da und dort mit Sorti­ mentsfreunden musiziert, sondern gleich manchen anderen Vertre­ terkollegen auch Garten-, Kochkunst- und Sammlerfreuden, Lieb­ habereien aller Art mit Sortimentern geteilt — sogar Säuglinge gewickelt —, von endlosen literarischen und fachlichen Diskus­ sionen abgesehen, und habe damit den Buchhandel nicht nur als eine große Familie schätzen gelernt, sondern auf diese Weise in der Teilhaberin eines Sortiments sogar meine eigene Frau gefunden. Ich kam, wie ich im Vertreterjargon zu scherzen pflege, nach Zürich, um Bücher zu verkaufen, und habe mich selbst verkauft. Und das war das beste Geschäft meines Lebens! Man wird daher verstehen, daß ich auf das Sortiment schwöre und sein Lob gerade vom Vertreterstandpunkt in allen Tonarten singe. Nicht etwa, um damit für meinen Verlag Stimmung zu machen! Nach meiner jahrelangen redaktionellen Kenntnis ver­ schiedenster Volkskreise bin ich der Überzeugung, daß der Buch­ händlerstand einen fast konkurrenzlosen Prozentsatz an Umgäng­ lichkeit und Aufgeschlossenheit repräsentiert. Es sind nicht alle Sortimenter (und auch keineswegs alle Verleger) hohe geistige oder wirtschaftliche Potenzen — das verbietet schon die Enge der täg­ lichen Kleinarbeit —, aber sie sind im hervorragenden Maß gut­ herzig, verspielt im Sinne des homo ludens; sie haben fast alle einen Sparren und verstehen Humor, kurz sie sind vor allem Menschen und ihre Fehler und Vorzüge somit von der liebens­ wertesten Art. Sie werden niemals die Macht an sich reißen, gewiß nicht, fast möchte ich sagen: leider. Die Welt auf sortimenterisch sähe anders aus. Diese Erkenntnis, die ich von der ersten Vertreterreise nachhause mitbrachte, bestimmte mich denn auch, nunmehr mein Berufsleben im Kreise der Bücher zu führen. Fürchte nicht, lieber Leser, daß ich mit einer rosa Brille behaftet den Boden der sachlichen Erörte­ rungen verliere. Auch habe ich selbstverständlich Enttäuschungen mit engherzig profitlichen, kleinlichen, unmusischen und unver­ schämten Kollegen erlebt. Aber auf die muß ich mich besinnen, 52

obwohl ich keineswegs nur „Vorzugsadressen“ oder Städte besuchte.

Es liegt nichts vor Dieser berüchtigten Abwimmlungsphrase, diesem Gehrock alter Sortimenterherrlichkeit, bin ich nur ein einziges Mal begegnet. Und weil ich schon so lange darauf lauerte, mußte ich laut herauslachen, als ich die Redensart endlich zu hören bekam. Ich will damit nicht empfehlen, daß du herausplatzen sollst, wenn sich der Sortimenter gegen deinen Besuch sträubt. Du kannst ja wirklich ungelegen kommen, besonders in der Hauptreisezeit, wenn der Sortimenter vor lauter Vertretern zu keiner Arbeit mehr kommt, wie er sagt. Theoretisch müßte der Sortimenter dich ja mit Jubel begrüßen, denn du sollst ihm einen sehr schwierigen Teil seiner Arbeit, den Einkauf, erleichtern. Sortimenter, die den Vertreter an sich als Störung betrachten, verkennen ihre und seine Aufgabe gewaltig. Aber viele Vertreter waren eben wirklich nichts anderes als störende, bestellungssammelnde Ignoranten. Außerdem mußt du es nicht so tragisch nehmen, wenn der Sortimenter, überarbeitet und womöglich sorgenvoll, seinen Unmut an dir ausläßt. Er vergeht. Ich entsinne mich folgenden „Verkaufsgesprächs“: „Was wollen Sie?“ brüllte der Sortimenter, der mich genau kannte, durch den ach so leeren Laden. „Bücher verkaufen!“ brüllte ich zurück. „Ich brauche keine Bücher.“ „Warum sind Sie dann Buchhändler geworden?“ Lächeln, Händedruck, und alles war gut. Der Sortimenter — wer ist das eigentlich? Der Inhaber? Der erste Gehilfe? Wer kauft ein? Ja, das solltest du vorher wissen. Wenn du es aber nicht sicher weißt, so frage in der Kaiserschen Buchhandlung nicht etwa nach Herrn Kaiser und in der Amelangschen nicht nach Herrn Amelang, die es nämlich schon lange nicht mehr gibt, sondern nenne dem nächstbesten Angestellten der Firma den von dir vertretenen Ver­ 53

lag, worauf du angemeldet wirst oder gleich Antwort bekommst. Gesetzt, daß der Sortimenter deinen Verlag nicht kennt — und sogar ein Inselvertreter traf noch vor zwanzig Jahren in einer Kleinstadt auf Unkenntnis seiner Firma —, so sage vielleicht, er sei aber kennenswert. Mach aber keine Sprüche, sage nicht, du woll­ test ja nur einmal zeigen, was du hättest (was dir, dich einge­ schlossen, doch niemand glaubt), behaupte nicht wunder was, son­ dern sei freundlich gelassen. Rede überhaupt nicht gar zu viel (ein Fehler, den ich habe), aber rede womöglich nicht gar zu geschäfts­ mäßig. Wenn du selber nichts weißt, kannst du dir mit den neuesten Witzen bei manchen Sortimentern Gunst erwerben (ich persönlich halte das für eine greuliche Methode). Irgendwie muß der Sortimenter spüren, daß du mit Liebe bei der Sache bist. Immer noch besser, man merkt dir Verlegenheit an als freche Berechnung. Erröten läßt sich verlernen, Dreistigkeit nie. Teils aus Unsitte, öfters aus zwingenden Gründen muß der Vertreter hören: »Kommen Sie ein andermal — oder dann und dann — wieder.“ Deshalb kann es in der Hauptreisezeit und an überlaufenen Plätzen ratsam sein, erst rundherum anzufragen, wann man gelegen käme. Vertreter großer Verlage müssen das in der Regel, Vertreter kleinerer Verlage kommen auf gut Glück zwischendurch zum Ziel. Man muß dazu aber nicht nur Glück haben, sondern vor allem Fleiß. Es gibt Vertreter, die nie vor neun Uhr anfangen, angeblich, weil das die Sortimenter auch nicht täten. Es gibt aber zahlreiche Achtuhrbesteller — das ist sogar eine ideale Zeit —, wie es auch Sortimenter gibt, die sich in der Mittagszeit oder nach Ladenschluß noch gern (vielleicht nicht gern, aber doch) erreichen lassen. Gerade wer der Meinung ist, daß Arbeit kein Selbstzweck ist, sondern dem Leben zu dienen hat, daß Selbstbesinnung und innere Fortbildung wichtiger sind als äußeres Erfolgsstreben, daß die sogenannten Freizeiten, wie man im Buch­ handel so schön sagt, uns weiter bringen als ewige Betriebsamkeit, wird in der Hauptreisesaison eine geradezu wettkämpferische Zeit­ ausnützung betreiben. 54

Die Verkaufskanone Wenn es so weit ist, daß du auspacken darfst — was meisten­ teils im Laden selbst geschieht, wobei es an Unterbrechungen nie fehlt —, dann ist dein großer Augenblick gekommen. Jetzt mußt du zeigen, ob du deine Bücher so zu charakterisieren verstehst, daß der (abgebrühte) Sortimenter sich dafür ebenso erwärmt, ja be­ geistert, wie du selbst. Verkaufen ist nämlich nicht beschwatzen, sondern mitreißen. Dazu ist es notwendig, daß du selber von deinem Gegenstand entzündet bist. Wenn man annimmt, daß dein Verleger neunzig-, wenn nicht hundertprozentig von seinen Verlagswerken überzeugt ist — jedenfalls sollte das so sein —, so müßtest du es achtzig­ prozentig sein können, damit du deine Begeisterung mit siebzig auf den Sortimenter übertragen kannst (dieser dann mit sechzig auf den Kunden und damit zum Kaufentschluß, der ab 51 Prozent zu denken wäre). Dieser schematische Scherz meint etwas sehr Ernstes: die Wahr­ heit. Der Vertreter muß wahr sein. Wahrheit besteht nicht darin, daß man seine Muster trocken und ungefällig nebeneinander ausbreitet, sondern daß man sich über­ legt, welches Werk für den betreffenden Sortimenter das größte Interesse haben könnte; damit fängt man an. Wahrheit besteht nicht darin, daß man den Inhalt nacherzählt — nacherzählende Vertreter machen weniger einen beschlagenen als beschränkten Eindruck —, sondern daß man ihn lebendig charakterisiert, wobei die eigene Zuneigung das Wort führen darf. Wahr sein, heißt nicht, das Schlechte hervorkehren; auch sind jedem lebhaften Erzähler poetische Lizenzen von vorneherein nach­ gesehen. Aber wenn du einem Buch nichts abgewinnen kannst, dann verlangt die Wahrheit, daß du das offen sagst; und falls der Sortimenter ein Buch nach deiner Auffassung ungerechtfertigt hoch bestellt, dann mußt du um der Wahrheit willen ihn darauf auf­ merksam machen. 55

Die Verkaufskanone tut das gerade Gegenteil: sie findet grund­ sätzlich, daß der Sortimenter zu wenig bestellt und treibt ihn so hoch hinauf wie möglich. Sie stellt sich förmlich beleidigt, wenn der Sortimenter von jedem noch so beliebigen Titel nicht minde­ stens eine Partie und von allen „Schlagern“ nicht mindestens hun­ dert nimmt. Sie behauptet, das und jenes Sortiment, obwohl es viel kleiner sei, hätte viel größer bestellt. Wenn man die Verkaufs­ kanone unter Vertreterkollegen reden hört, dann renommierend, sie hätte dem Sortiment das Lager wieder ordentlich vollgepackt; und wirklich: der Sortimenter ist nach dem Besuch der Verkaufs­ kanone, wie schon der Name sagt, „erschossen“.

Werde nie eine Verkaufskanone! Abgesehen von der moralischen Verwerflichkeit eines solchen Gebarens: auf die Dauer hilft es und lohnt es sich auch gar nicht. Im Gegenteil, es verscherzt den kost­ barsten Kredit, den des Zutrauens, den zu erwerben du unauf­ hörlich bestrebt sein mußt. Dann wird einmal der Augenblick kommen, wo dir viele Sortimenter die Bestellung sozusagen blanko überlassen, weil sie wissen, daß du am besten beurteilen kannst, was sie brauchen können. Das ist die schönste Anerkennung, die ein Vertreter finden kann. Bis es nach Jahren ehrlicher Mühe so weit ist, mußt du dich be­ mühen, niemals möglichst viel, sondern immer möglichst richtig zu verkaufen und auch mit kleinen Anfangserfolgen zufrieden zu sein. Wie jedes auf Dauer begründete Geschäft bedarf es einer gewissen Anlaufzeit. Das wird auch dein Verlag zu seinem eigenen Besten einsehen. Unauslöschlicher Eindruck, als auf meiner ersten Reise zum ersten Mal ein Sortimenter bestellte: 11/10! Es war Wallen­ stein (Harder) in Altona; ich muß ihm dieses Denkmal setzen. Und als ich zum ersten Mal hörte: 100, da bin ich förmlich er­ schrocken. Es war Schatzki in Frankfurt. Man kann sich augen­ blicklich kaum mehr einen Begriff davon machen, wie sorgfältig damals jedes Exemplar erwogen wurde und wie man miteinander darüber grübelte, ob zwei oder drei, oder vielleicht je eins fest und 56

in Kommission däs richtigere wären! Aber es wird gut sein, lieber Leser, wenn wir es rechtzeitig wieder lernen.

Der Rabatt Den Rabatt bestimmt der Verlag. Allerdings muß dieser Rabatt ausreichend sein. Was als ausreichend anzusehen ist, darüber wird es zwischen Verlag und Sortiment im ganzen immer wieder Mei­ nungsverschiedenheiten geben. Das ist natürlich, und man hat sich noch immer auf einer mittleren Linie geeinigt.

Auch auf der Reise lassen sich Rabattdiskussionen oft nicht ver­ meiden. Aber es gibt Sortimente, die ohne Rücksicht auf die Höhe der Bestellung einen überhöhten Rabatt verlangen. Diese soge­ nannten Rabattschinder — man könnte sie in Parallele zu den Verkaufskanonen auch Einkaufskanonen titulieren — begründen ihr Verlangen mit der (quasi drohenden) Erklärung, daß sie sich für Verlage ohne solchen Vorzugsrabatt nicht verwenden könnten. Mein erstes Gefühl solchen übersteigerten Ansprüchen gegenüber war, das Lokal unter lautem Protest zu verlassen. Das Laute habe ich hinuntergeschluckt, aber verlassen habe ich drei Firmen, eine davon für immer, die ihre Zumutung zum Ausdruck brachte, noch ohne meine Bücher überhaupt betrachtet zu haben. (Die in Frage stehenden Rabatthöhen kann ich hier leider nicht präzisieren, weil diese Schrift auch »Laien* in die Hand kommen und dort, mangels Einsicht in die Sortimenterverhältnisse, Verwirrung stiften könnte.) Ich bin der Meinung, daß der Vertreter vor dem Reiseantritt bei seinem Verlag auf einen konkurrenzfähigen Grundreiserabatt (der für verschiedene Verlagsgruppen verschieden sein kann) drin­ gen muß und daß Vorzugsbedingungen für Groß- und Grossisten­ bestellungen ein für allemal genau festgelegt werden. Schon das Partieexemplar ist eine solche Vorzugsbedingung, doch ist ein gestufter Rabatt von einer gewissen Nettosumme oder einer ge­ wissen Mehrzahl von Exemplaren an das Sinnfälligere. Auch 57

Rabatt zum eigenen Gebrauch sowie Jahresumsatzprämien gehören in dieses Gebiet.

Innerhalb der einmal abgesteckten Grenzen heißt es aber für Verlag und Vertreter, fest bleiben und lieber auf einen Auftrag verzichten. Aufträge »nur wenn mit ... Prozent Rabatt“ sollten Vertreter ihren Verlagen gar nicht einsenden. Verlagen, die sich Rabatterhöhungen abringen lassen, würde ich als Sortimenter miß­ trauen, erst recht solchen, die mit anreißerischen Rabatten auf­ warten. Mit einer Produktion, die solche Mittelchen nötig hat, muß es übel bestellt sein, und um für eine solche Produktion zu arbeiten, ist auch der höchste Rabatt noch zu kostspielig — versteht sich immer vom Standpunkt des wirklichen, auf eine Dauerkundschaft bedachten Buchhändlers.

Lagerergänzung, Umtausdi, Kommission Ist man über die Neuheiten im reinen, so geht es an die Be­ stellung der Alterscheinungen. Dazwischen wäre eine Zigaretten­ pause nicht übel, sofern der Sortimenter nicht ein Feind des Tabaks ist. (Rauchend in ein Sortiment einzutreten, ist auch bei gut be­ kannten Sortimentern eine Unerzogenheit, die kein gutes Licht auf dich wirft. Man besucht doch nicht einmal befreundete Familien unter Dampf!) Mit der Lagerergänzung kann man es nicht genau genug nehmen. Von Verkaufskanonen wird sie vernachlässigt, weil sie lang auf­ hält und im allgemeinen keine Quantitäten einbringt. Es gibt auch Verlage, die Erscheinungen, wenn sie nicht auf Anhieb gegangen sind, fallen lassen. Nun ergibt eine sorgfältige Lagerergänzung aber nicht nur nach dem Satz »Kleinvieh bringt auch Mist“ im ganzen gute Resultate, sondern sie ist der beste Anschauungsunterricht für eine gesunde Verlagspolitik, „Man sieht hier klar, wie selten nur, ins innere 58

Walten der Natur“ — des Erfolgs und Mißerfolgs nämlich. Man hat hier leibhaftig vor Augen, welche Werke in bestimmten Gegen­ den und bei bestimmten Kundenkreisen abgelehnt und bevorzugt werden, und kann zugleich die Gründe dafür erfahren. Wenn der Sortimenter zur Lageraufnahme selber noch nicht gekommen sein sollte — manche führen für jedes Werk eine Ab­ satzkartei, andere verlassen sich völlig auf ihr Gedächtnis —, so wirst du ihm anbieten können, diese Aufnahme selbst zu erledigen. Du wirst sogar wissen, wo dein Verlag steht, und dieses Regal beim jedesmaligen Wiedersehen mit einer gewissen Rührung ins Auge fassen. Zu der Rührung wird sich immer wieder einmal die peinliche Feststellung gesellen, daß von manchen Werken noch viel zu viel vorrätig ist. (Ein Blick auf das Auszeichnungsdatum belehrt dich darüber, ob es nicht vielleicht Nachbezüge jüngeren Datums sein könnten.) Da hast du dir nun Mühe gegeben, richtig zu verkaufen, und aus irgendwelchen Gründen war es doch verkehrt. Das läßt sich beim besten Willen nie ganz vermeiden, wenn du auch aus diesen Unfällen beständig lernst.

Was nun? Ich bin unter diesen Umständen für ein freiwilliges Umtauschanerbieten für die Hälfte der Exemplare (für die Hälfte deshalb, weil Verlag und Sortiment anteilig „schuld“ sind). Ich weiß wohl, daß der Verlag zum Umtausch festbezogener Exemplare nicht verpflichtet ist. Und ich habe mich immer dage­ gen gewehrt, wenn sich Firmen herausnehmen, einem, womöglich ungefragt, festbezogene Exemplare zurückzuschicken, weil das da­ hin führen würde, daß das Sortiment hemmungslos und risikolos darauf losbestellt, der Verlag müßte die Auflagen dementsprechend erhöhen und hätte sie am Schluß wieder im Hause. Aber in ge­ wissen Grenzen halte ich es für notwendig (und auch für taktisch klug), umzutauschen, da der Verlag eher Verwertungsmöglich ­ keiten hat als das örtlich begrenzte Sortiment. Vorzugsbedingungen für diese Werke müssen dann allerdings zurückgerechnet werden, 59

und für nicht mehr verlagsfrische Stücke können die Selbstkosten für das Wiederherrichten in Abzug kommen.

Der Vertreter sollte in Umtauschfragen volle Kompetenz haben, was aber voraussetzt, daß er ein vollverantwortungsbewußter Re­ präsentant seines Hauses ist, der aufgrund solcher Befugnisse nicht leichtsinnig verkauft. Beim Idealvertreter ist auch ein Modus emp­ fehlenswert, der nicht vorherzusehenden Umtausch einschränkt und gleichzeitig Kommissionslieferungen überflüssig macht: der Festver­ kauf mit Rüdkgaberecht innerhalb einer bestimmten Frist (fest mit RR).

Ich persönlich halte die Einrichtung der Bedingtkonten mit ihrem ganzen Umstandskram von Remittenden, Disponenden und Saldierungen für einen alten Zopf. Ich führe seit Jahren kein Kommissionsgut mehr und werde es auch nie mehr führen. Das bedeutet nicht, daß ich mich, vor allem für das wissenschaft­ liche Sortiment, der Notwendigkeit von Arbeitsexemplaren ver­ schlösse, die bei Nichtabsatz zurückgegeben werden können. Aber braucht man dazu eigene Konten und gesenkte Rabatte und Meß­ abrechnungskrimskrams? Ein Kreuz, und die Sendung ist auf dem Festkonto als rückgabeberechtigt bezeichnet. Statt des festen Zah­ lungstermins tritt der (natürlicherweise weit genug gestreckte) Rück­ gabetermin. Was bis dahin nicht zurück ist, ist automatisch zur Zahlung fällig. Oder es wird der Termin verlängert. Sehr einfach. Aber, wird der in der Leipziger Schule ergraute Buchhalter ent­ setzt ausrufen, dann wird ja »fest“ und „fest mit RR“ einheitlich rabattiert? Das muß erstens nicht sein und wäre zweitens nicht so entsetzlich ungerecht. Denn der Bezieher mit RR (versteht sich, daß diese Be­ züge, wie einst Kommissionsbezüge, im Verhältnis zu den Fest­ bezügen stehen müssen) will sich mit diesen Exemplaren doch besondere Mühe geben! Außerdem wurden ja witzigerweise die Kommissionskonten nachträglich praktisch doch mit Barrabatt ab­ gerechnet! 60

Auf Wiedersehen! Ebensowenig, wie sich der Gast nach beendigter Tafel sofort verabschiedet (als wäre nun nichts mehr zu holen), soll der Ver­ treter nach erhaltenem Auftrag geradezu davonstürzen. Aber noch viel irriger ist die weitverbreitete Auffassung, man müsse nadi dem Geschäft, um es sozusagen gesellschaftlich zu verwischen, noch ein langes Palaver führen. Die armen Sortimenter! Und sie halten meist brav aus, um der Redseligkeit des Vertreters einen Gefallen zu tun (während ihnen die Arbeit auf den Fingern brennt), in­ dessen der Vertreter seinerseits meint, er täte dem Buchhändler einen Gefallen, wenn er ihm noch etwas Zeit opferte und ihn mit dem neuesten Kollegentratsch unterhielte! Was man in anderen Firmen gehört und gesehen hat, muß ein Vertreter überhaupt für sich behalten. Die berufliche Schweige­ pflicht erstreckt sich dagegen nicht auf eine allgemeine Orientierung über den derzeitigen Stand der Gesamtverlagsproduktion, über die der Vertreter zwangsläufig einen guten Überblick bekommt. Er sollte dabei auf wichtige Bücher fremder Verlage ausdrücklich hin­ weisen. Ich habe es oft dankbar empfunden, wenn meinem Besuch schon die Kunde von dem oder jenem Werk vorausgeeilt war, für das sich ein Vertreterkollege ohne mein Wissen eingesetzt hatte. Zugleich war das für den Sortimenter förderlich und setzt endlich auch den empfehlenden Vertreter als wirklichen Bücherfreund in ein gutes Licht.

Und vergiß nicht, Anfänger, daß es zum großen Teil von den Mitarbeitern eines Sortimentes abhängt, ob die Bestellung des Chefs (die unklugerweise bisweilen sogar ohne Zuziehung des ersten Sortimenters erfolgt!) wirklich verkauft wird. Manche Chefs sehen es — unbegreiflicherweise — nicht gern, wenn der Vertre­ ter mit seinen Angestellten Kontakt aufnimmt. Dann tu es nicht hintenherum, sondern bitte den Prinzipal pro forma um diese Gunst, die auch in seinem Interesse liegt, und verbirg auch nicht, wenn du dich abends mit dem und jenem treffen willst, genau so 61

wenig, wie du es verheimlichen sollst, wenn dich die Konkurrenz eingeladen hat.

Endlich allein Und wenn du noch so erfolgreich bist und jeden Mittag und Abend eingeladen wirst — du hast es am Samstag oder Sonntag dringend nötig, einmal allein zu sein. Das ist nicht nur zu deiner Erholung und Auffrischung nötig (ich nahm zu diesem Zweck öfters ein paar Züge Musik oder Kunst), sondern auch um deine Hausaufgaben zu erledigen. Damit ist die Verlagskorrespondenz gemeint. Wenn du einen Auftragsblock mit Drittschriften benützest, was ich dir empfehle, so brauchst du die Auftragskopien für den Verlag ja nur in den Umschlag zu schieben und kannst die deinen später nach dem Nettowert ausrechnen und in die Karteikarten eintragen, dabei auch gleichzeitig die verdiente Provision überschlagen. Es ist aber besser, du tust das gleich, womöglich jeden Tag, wenn sich Gelegenheit bietet. Es liegt unterwegs ein gewisser Genuß und Anreiz in dieser zahlenmäßigen Vergegenwärtigung deiner Leistung, während das Nachtragen daheim im ganzen ein recht langweiliges Geschäft wird. Auch fällt dir, wenn du so Auftrag um Auftrag behandelst, jetzt noch mancherlei ein, was du auf der Kundenkarte notieren oder dem Verlag mitteilen willst. Von großartigen allgemeinen Lageberichten, die manche Verlage von ihren Vertretern verlangen, halte ich wenig. Desto mehr von handgreiflichen Memoranden wie: »Schutzumschlag scheuert! Kas­ sette gefragt! Plakat verlangt!“ und sonstigen herstellerischen, werbe- und liefertechnischen Hinweisen. Ein kluger Verlag wird dazu nicht sagen (wie ich einen alten Prokuristen auf solche Briefe sagen hörte): „Wat denn, wat denn“, sondern genau prüfen, was aus solchen Anregungen zu machen ist. Und der kluge Verlag wird vor allem seinerseits nicht »Wat denn, wat denn“ — Briefe zurückschreiben, sondern sich bemühen, seinen 62

Vertreter aufzumuntern und ihm den Rücken zu stärken. Da fehlt es ganz allgemein noch weit! Unter aufmuntern verstehe ich nicht „und hätten wir erwartet, daß Sie mit xxx besser abschneiden“, unter Rückenstärkung meine ich nicht „und kommt dieses Angebot für uns nicht in Frage“. Der Verlag soll Anerkennungen ausdrücken und Maßnahmen kameradschaftlich begründen, und wenn er ganz klug wäre, würde er seinem Vertreter statt eines Geschäftsbriefes einmal eine kleine Aufmerksamkeit schicken. Hier höre ich den obigen Prokuristen über mich sagen: „Total verrückt!“ Diese Verrücktheit rührt daher, daß ich selber Vertreter war beziehungsweise bin, und desgleichen meine Frau, und da kommen einem solche Gedanken. In den Berichten an den Verlag wird auch manches über Kredit­ fähigkeit des betreffenden Kunden stehen. Ein „Können Sie lie­ fern!“, das ein kundiger Vertreter einem sonst als schlecht bekann­ ten Sortiment erteilt, ist meistens zuverlässiger als der schwarze Eintrag in der Kreditliste. Es gab nämlich Sortimente, die bezahlten nur die Verleger, die sie besonders schätzten! Über Kreditfragen unterhält man sich am besten mit seinen Vertreterkollegen, von denen man auch sonst viel Nützliches er­ fahren kann. Du wirst als Neuling tagsüber öfters auf Herren (oder Damen) stoßen, die so recht vertraulich mit dem Sortimenter plaudern. Das sind sie, die Kollegen. Du denkst, die tun sich leicht und mir stehen sie im Weg! Vielleicht wartet dazu noch ein schnittiger Wagen vor der Tür, und du beneidest diese Glückskinder. Tu das nicht. Sie haben anfangen müssen wie du. Suche von ihnen zu lernen, und vermeide es, mit den Minderen zu saufen. Wenn du es verdienst, wirst du gerade bei der Elite die freund­ schaftlichste Unterstützung finden. Einige von ihnen genießen ein hohes Ansehen, nicht nur für das, was sie bringen, sondern für das, was sie sind. Man hört von ihnen überall. Als mir ein Sortimenter auf meiner ersten Reise prophezeite: „Sie sind ja der zweite Leins“, war ich natürlich sehr geschmeichelt und gespannt, dieses große 63

Vorbild kennenzulernen, um so mehr, als ein Sortimenter hinzu­ fügte: »Nur mit dem Unterschied, Leins rührt und Sie erheitern.“ Wobei mir ein Wort des antiken Philosophen Sotion einfiel, welches sagt: »Anstelle blinden Eifers sind den Weisen entsprungen: dem Heraklit die Zähren, dem Demokrit das Lachen.“ Wie manchen Namen müßte ich noch mit Dank nennen für alle die Freundschaftsbeweise, die das eigentliche „Heil und Sieg“ des Vertreters ausmachen. Und die fette Beute? Davon im nächsten Kapitel.

Vertrags Verhältnis Was soll der Lohn der Vertretertätigkeit sein? Ich stelle die Erörterungen darüber bewußt an den Schluß, da sie nicht der Ausgangspunkt der Tätigkeit sein sollten, sondern das gerechtfertigte Ergebnis der Leistung. Provisionsspekulanten suchen sich besser eine andere »Branche" — womit ich nicht bestrei­ ten will, daß hochwertige Buchhandelsvertreter nicht hoch ver­ dienen sollten und könnten. Grundlage jeder Vertretertätigkeit ist die Beteiligung am erziel­ ten Umsatz. Darin gleicht der Vertretervertrag dem Autorenver­ trag, und auch die Prozentsätze ähneln sich. »Was“, könnte hier ein Autor protestieren, »ich als geistiger Urheber soll nicht mehr bekommen als der bloße Verbreiter?“ Darauf wäre mit dem in buchhändlerischen Geschäften erfah­ renen Autor Schiller zu antworten: »Die Zerstreuung eines Buches durch die Welt ist fast ein ebenso schwieriges und wichtiges Werk als die Verfertigung desselben.“ Zudem ist der Vertreter zumeist nur an Bruchteilen der Auflagen beteiligt und hat für seine Arbeit ungleich höhere Baraufwendungen (Werbungskosten) zu leisten, da zum Lebensunterhalt für ihn und seine Familie noch die hohen täglichen Reisespesen hinzukommen. Auch ist der Autor theoretisch 64

unbegrenzt »verkaufsfähig“, da sich seine einmal getane Arbeit ohne weiteres Zutun nach den verschiedensten Dimensionen ver­ vielfachen läßt, während Vertreterarbeit auf das persönlich leist­ bare Tagespensum begrenzt bleibt. Reist der Vertreter ganz auf eigenes Risiko, als reiner Provi­ sionsvertreter also, so wird sein Anteil im allgemeinen 10’/° vom Umsatz betragen (es sind unter Umständen auch die Anteile für die einzelnen Verlagsgruppen verschieden). Erfahrungsgemäß kann ein Vertreter mit zehn Prozent nur auskommen, wenn er einen gut eingeführten, gut absatzfähigen produktionsstarken Verlag anzu­ bieten hat. Da der Anfänger einen solchen Verlag nur selten in die Hand bekommen dürfte, muß er höhere Ansprüche machen und sich außerdem dadurch zu helfen suchen, daß er gleichzeitig meh­ rere Verlage »mitnimmt“ und sich dabei auf die besten Plätze und Firmen beschränkt. Es ist nichts dagegen zu sagen, wenn ein Vertreter zwei einander ergänzende oder auch einander artfremde Verlage anbietet. Das häüfige Nebeneinander von drei und mehr gleichartigen Verlagen führt dagegen notwendigerweise zur Vernachlässigung des einen oder andern beziehungsweise zur ungenügenden Vertretung aller. Denn es wird dem Sortimenter mit Recht angst, wenn aus ein und derselben Mappe eine Drachensaat von Verlagen aufgeht; auch beim besten Willen ermüdet die Aufmerksamkeit, und jedenfalls müssen sich Verlage, die in dieser Weise reisen lassen, darüber klar sein, daß sie dabei weniger ver- als zertreten werden. Ein solcher mixed-pickles-Vertreter kann und wird auch selten die Anforde­ rungen an genaue Kenntnis der vertretenen Verlagsprogramme erfüllen, und aus allen diesen Gründen ist der sogenannte freie Provisionsvertreter der unfreieste und unerfreulichste. Daher wird Voll Vertretern zu dem Provisionssatz (der dann etwa auf 7,5 Prozent bemessen ist) ein Fixum gegeben, sei es in Form eines Kostenzuschusses für jeden Reisetag oder eines vom Umsatz unabhängig garantierten Mindestverdienstes. Sinn beider Arten ist, den Vertreter von der Sorge um die täglichen Reise­ 65

kosten ganz oder weitgehend zu befreien und ihm den eigentlichen Erfolg als Nettoeinkommen zu sichern. Auch bei Vertretern im festen Angestelltenverhältnis — einst der ideale Fall — wird außer den Reisekosten und dem fortlau­ fenden Gehalt eine Anerkennungsprovision ausgeschüttet. Denn »Tugend will ermuntert sein“. Ausschlaggebend ist bei alledem die Frage, was als Vertreterum­ satz gelten soll: ob nur die Nettosumme der von ihm selbst einge­ sandten Reiseaufträge oder (im Extrem) der Gesamtverlagsumsatz des ganzen Jahres in dem vom Vertreter bearbeiteten Gebiet, gleichgültig, ob es sich um Reiseaufträge, Nach- oder Börsenblatt­ bestellungen handelt. Ich habe nur einen Fall der letzteren Art kennen gelernt und halte ihn auch nicht für gerechtfertigt, da kein noch so tüchtiger Vertreter den Gesamtumsatz verursacht, sondern bei dieser Vertragsform ungebührlich von der sonstigen Werbung des Verlages zehrt. Auch verleitet ein solcher Vertrag, wie jede Monopolstellung, zu dem Mißbrauch, es sich allzu bequem zu machen. Am richtigsten erscheint mir die Vereinbarung, daß außer den Reiseaufträgen Nachaufträge des Sortiments (auch direkt einge­ sandte) innerhalb einer bestimmten Frist provisioniert werden. Die Provisionierung der Nachaufträge vom Einsenden durch den Ver­ treter abhängig zu machen, hat dazu geführt, daß viele Vertreter bei den Sortimenten eine förmliche Bestell-Unterorganisation auf­ gebaut haben, mit eigenen, an die Vertreteradresse gerichteten Bestellformularen — eine Situation, die zwar der Gutherzigkeit der Sortimenter gegenüber den Vertretern Ehre macht, aber dem Vertrauensverhältnis zwischen Verlag und Vertreter, so, wie es jedenfalls sein sollte, widerspricht. Die Provisionierung direkt ein­ laufender Reise- oder Nachaufträge ist auch deshalb gerecht, weil es oft vorkommt, daß der Vertreter den Einkäufer wiederholt ver­ fehlt und sich daher vertrösten lassen muß, die Bestellung würde aufgrund der dagelassenen Prospekte nachgesandt. Es wäre un­ billig, wenn dem Vertreter die Provision für solche Aufträge ent­ 66

ginge. Der Vertreter wird meistens, über ein etwaiges Fixum hinaus, auf Vorschuß arbeiten, da zwischen der Übermittlung der Aufträge und der Provisionsgutschrift Wochen, ja Monate ver­ streichen können. Am einfachsten wäre es ja, die Aufträge bei ihrem Eingang nach dem Nettowert abzurechnen und gutzuschrei­ ben. Aber häufig stehen die genauen Ladenpreise noch nicht fest, und durch irgendwelche Umstände kann ein angebotenes und be­ reits abgesetztes Werk dann überhaupt nicht erscheinen (in den Kriegsjahren ein sehr häufiger Fall). Deshalb kommt man nicht darum herum, die Fakturen bei der Auslieferung nach Vertreter­ zuständigkeiten zu kennzeichnen und nach den Fakturen zu provisionieren. Erst die bezahlten Fakturen zu provisionieren, macht dagegen Umstände; man kann ja, wenn man den Vertreter unter faulen Kunden mitleiden lassen will, die für solche Fälle vergüteten Provisionen zurückrechnen, wie man das ebenso bei Festremittenden halten kann. Remissionsberechtigte Festbestellungen (wie Kom­ missionsbestellungen) vergütet man mit einem Schätzungsbetrag ('/« bis */«), da es sich nicht lohnt, dafür exakte Provisionsabrech­ nungen aufzumachen. Auch Grossisten-, besonders BarsortimentsAufträge verdienen im allgemeinen nur eine gekürzte Provision, da die Vertreterarbeit bei solchen Firmen mehr als eine schematische denn als werbende anzusehen ist. Wenn, wie gewöhnlich, mehrere Vertreter für einen Verlag tätig sind, erhebt sich die Frage der gegenseitigen Gebietsabgrenzungen. Am ergiebigsten sind natürlich großstadtreiche Gebiete, so daß man dafür sorgen muß, daß die sogenannten fetten Brocken verteilt werden. So wurde einst der Hauptbrocken Berlin meist mit dem nur für wenige Verlage aufnahmewilligen, mit weiten Reisewegen belasteten Osten gekoppelt. Wo der Verleger sich mit den Ver­ tretern in die Arbeit teilt, haben einige besonders gute Kunden auf seine persönliche Aufmerksamkeit Anspruch; darüber hinaus sollen sich die Chefs gerade mit den Gebieten befassen, die sich nicht lohnen oder die erst erschlossen werden müssen. Dazu gehört vor allem auch das Ausland, zumal dort der Verlag zugleich nach dem 67

politischen Takt seines Vertreters taxiert wird. Manche an sich tüchtige Herren haben dabei ihren vielleicht ganz anders denken­ den Verlag in Mißkredit gebracht, und zwar interessanterweise gerade in der Bemühung, dem Auslandskunden nach dem Munde zu reden. Wie der Vertretervertrag auch aussehen mag: rechnerisch läßt er sich nie so ausklügeln, daß der Vertreter sein Bestes geben muß. Umgekehrt könnte ein Vertreter, selbst wenn er die verwegensten Ansprüche auf dem Papier hätte, sich nie vor einer unergiebigen Verlagsproduktion schützen. Verträge sind (oder sollen sein) die Laufgitter des Vertrauens. Und das Verhältnis zwischen Verlag und Vertreter soll dem von Erde und Mond gleichen: einander zuge­ ordnet kreisen sie um die gemeinsame Sache. Denn der Buchhandel ist unsere wärmende Sonne. 1956

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Gegenwartsprobleme des Buchhandels Liebe Kollegen!

Ich folgte in jungen Jahren einmal der Einladung eines Plakates, das einen Vortrag ankündigte über das Thema: »Wie werde ich erfolgreich?“ Denn selbstverständlich wollte ich damals, wie jeder junge Mensch, rasend gern erfolgreich sein. Heute weiß ich mir etwas Besseres als Erfolg, nämlich Harmonie. Aber das gehört nicht zum heutigen Thema. Oder vielleicht gehört es doch dazu? Wir werden ja sehen. Damals jedenfalls erschien es mir ungeheuer wichtig zu erfahren, wie man erfolgreich wird. Ich ging also in den besagten Vortrag hinein. Viele Leute gingen hinein; es waren weit mehr Besucher als hier im Saale, und alle wollten erfahren, wie man erfolgreich wird. Wenn man es recht bedenkt, sind wir hier ja zu dem gleichen Zwecke versammelt. Leider wurde ich bitter enttäuscht. Denn der Mann, der den besagten Erfolgs-Vortrag hielt, sah so blaß und hungrig aus, hatte einen so schlechtsitzenden Anzug an und so schlechtgeputzte Schuhe, auch seine Stimme war quasi schlecht geputzt, und seine Sätze saßen so schlecht, daß ich mitten im Vortrag wegging und also nie erfahren habe, wie man erfolgreich wird. Denn ich sagte mir, wenn dieser Redner da wirklich wüßte, wie man erfolgreich wird, dann sähe er zunächst einmal selber erfolg­ reicher aus, und überhaupt hätte er es dann nicht nötig, herumzu­ reisen und Vorträge zu halten. An dieses Jugenderlebnis muß ich denken, wenn ich Ihnen hier schildern soll, wie es derzeit mit dem Erfolg und den Erfolgsaus­ sichten des Buchhandels bestellt ist. Zwar hoffe ich, daß mein 69

Anzug sitzt und daß meine Schuhe einigermaßen geputzt sind, auch bilde ich mir ein, deutlich genug zu sprechen. Aber ich könnte es durchaus verstehen, wenn mancher von Ihnen bei sich dächte: Was will ausgerechnet dieser Heimeran, der weder ein Großkollege ist noch zum hiesigen Verband gehört, uns über die Lage des Buch­ handels schon sagen? Wenn er mit seiner eigenen Verlagslage hin­ reichend beschäftigt wäre, hätte er doch wahrscheinlich nicht nötig, nach Aachen zu fahren und sich da wichtig zu machen?

Ich sage, ich könnte es verstehen, wenn manche von Ihnen so dächten und bald das Lokal verließen. Wir haben ja gerade im Buchhandel oft die Erscheinung, daß diejenigen, die mit ihrem eigenen Betrieb nicht vorankommen, uns im »Börsenblatt“ oder sonstwo die prächtigsten Lehren geben, wie man im Buchhandel den richtigen Erfolg hätte. Ich erinnere mich, um ein schon histo­ risches Beispiel zu wählen, das niemandem mehr weh tut, der be­ ständigen lehrhaften Börsenblatteinsendungen einer Firma in Pass­ au, aus denen jeder Leser schließen mußte, daß es sich um einen überaus rührigen und bedeutenden Kollegen handle. Ich jedenfalls schloß das daraus und stattete einen meiner ersten Verlagsvertre­ tungsbesuche in Passau ab. Ich ging die Straße hinauf und hinunter, konnte aber immer nur eine Papierhandlung des gesuchten Namens entdecken, keine Buchhandlung. Endlich fragte ich in der Papier­ handlung nach der Buchhandlung gleichen Namens. »Einen Augen­ blick“, sagte ein Fräulein und bediente einen Lichtschalter, worauf in einer Nische ein Bücherregal zum Vorschein kam. Das war die ganze Buchhandlung.

Es ist das mit buchhändlerischen Ergüssen ähnlich wie mit ge­ wissen Büchern über Kindererziehung: Die werden meistens von denen verfaßt, die selber keine Kinder haben. Daher haben sie ja Zeit zum Schreiben! Kurz: Gute Lehren können wir im Buchhandel wie überall nur von denen annehmen, die sie uns wirklich praktisch vorleben. Wer zum Beispiel über das ideale Schaufenster schreibt, daheim aber 70

selber einen Kramladen hat, dem glauben wir mit Recht keinen Pfifferling. Nun habe ich zwar keinen Kramladen, bilde ich mir ein. Auch gehöre ich mit meinem Verlag dem Börsenverein seit dreißig Jahren an, habe also immerhin ein kleines Menschenalter mit Buchhandeln verbracht. Dennoch würde ich es nie gewagt haben, im Kreise so illustrer Kollegen meine sicherlich schrecklich subjektiven Meinun­ gen über die Situation des Buchhandels vorzusetzen.

Das hat einen anderen Grund, einen, wie ich schon sagen muß, einzigartigen. Ihr Vorstand nämlich hat mich zu diesem Vortrag eingeladen mit der Begründung, man wolle sich für die Eröffnungs­ sitzung von der Last der reinen Sachlichkeit freimachen und hoffte, daß ich Lust hätte, in einem Vortrag das Nützliche der Sache mit dem Angenehmen der Form zu verbinden — heiter-ernst, so hieß es ausdrücklich, sollte der Vortrag ausfallen. Für einen Buchhändlervorstand ist das eine so neue, ungewöhn­ liche Haltung, daß er gerade für eine ernste Eröffnung um eine aufgelockerte, ja heitere Form bemüht ist, daß ich sofort begeistert zusagte. Denn so viele Hauptversammlungen ich auch mitgemacht habe: Sie erlaubten sich wohl mal ein eingeflochtenes Witzchen, wollten aber doch um Himmels willen nie in den Geruch kommen, geradezu heiter zu werden, weil sie glaubten, damit würden sie sich und dem Ernst der Sache etwas vergeben. Ich, der ich nun beständig predige, daß gerade wahre Heiterkeit die ernsteste Sache von der Welt sei, war entzückt über Ihren Vor­ stand, der mit diesem Auftrag seinem Verbandsnamen Ehre macht. Die berühmte rheinische Heiterkeit, der berühmte westfälische Ernst, das ergibt die seltene und auszeichnende Form des heiter­ ernsten rheinisch-westfälischen Buchhandelsverbandes. Am liebsten würde ich Sie in meiner Begeisterung jetzt auffordern, sich zu Ehren dieser in den Annalen des Buchhandels unerhörten Tat von den Plätzen zu erheben! Denn wie ist es sonst bei solchen Jahres­ reden? Wir falten in Ergebenheit die Hände, sagen wie in Beet­ 71

hovens F-dur-Quartett: »Muß es sein? Es muß sein!“ und über­ lassen uns der harten Pflicht. Also ich war begeistert, daß es einmal anders gehalten und wie im Leben das Heitere vom Ernsten nicht abgetrennt, sondern ver­ eint erscheinen sollte. Hintennach wurde mir über meine Zusage aber himmelangst. Denn ob das wirklich geht: die Situation des Buchhandels so zu zeichnen, daß man dabei heiter-frisch bleibt und nicht einschläft, andrerseits aber auch wirklich etwas Sachliches davon hat?

Ganz gegen meine Gewohnheit habe ich mir daher für meine Rede ein Manuskript gemacht, damit ich ja nicht entgleise, zumal meine Frau und Kollegin leider nicht mitkommen konnte. Denn sobald ich sie vor mir habe bei meinen Vorträgen und sehe, daß sie nachsichtig lächelt, dann merke ich: Jetzt bin ich vielleicht doch zu heiter, und werde schnell wieder ein bißchen würdiger.

Gut also, ich machte mir ein Manuskript. Zuerst versuchte ich es sogar mit einer regelrechten Disposition. Aber wenn man wie bei einer Predigt von vornherein weiß, daß dem Erstens ein Zweitens folgen muß, daß es damit aber leider noch nicht sein Bewenden hat, weil erst das Drittens zum Schluß führen darf, dann kann keine Heiterkeit mehr aufkommen. Denn die Heiterkeit kann gott­ lob nicht nur bis drei zählen. Und die Begeisterung, wie sie uns doch alle für unser Thema, den Buchhandel, erfüllt, läßt sich schon gar nicht disponieren. Das wäre so, als wenn man zu einer geliebten Frau sagen wollte: Erstens haben Sie schwarze Haare, zweitens feurige Augen, drittens rote Lippen, ergo liebe ich Sie und möchte mit Ihnen leben! Umgekehrt ist es, umgekehrt! Erst liebt man und will mit dem geliebten Gegenstand leben; die Disposition der Gründe kommt lange hinterher.

Genau so verhält es sich mit unserem Buchhandel: Wir lieben ihn und wollen mit ihm leben, für ihn und durch ihn. Das ist das ganze buchhändlerische Problem, heute so gut wie gestern und ehedem. 72

Es gibt also gar keine sogenannten Gegenwartsprobleme des Buchhandels, wie unser Vortragsthema behauptet. Es gibt nur Gegenwarts-Lösungen des uralten und zu allen Zeiten schwierigen Problems: Wie kann man mit und zugleich von Büchern leben? Als gewissenhafter akademischer Referent habe ich zu dieser Frage zunächst ein wenig Literatur gewälzt, bei Schultz und Klie­ mann geblättert, den Betriebsvergleich des Instituts fürBuchwissenschaften studiert, die Kommentare Tauberts und überhaupt das „Börsenblatt“ nachgelesen, das immer noch eine unserer besten buch­ händlerischen Einrichtungen ist. Wer das „Börsenblatt“ richtig zu lesen versteht, kann sich die meisten Buchhandelsvorträge ersparen. Meinen auf jeden Fall.

Nun sind aber die geistreichsten betriebswirtschaftlichen Unter­ suchungen gefährlich, wenn man sie nicht mit den Augen der Praxis liest; so sind sie ja auch gemeint. Ich erinnere mich stets mit Ver­ gnügen eines den Buchhandel studierenden Statistikers, der mir vor Jahren klipp und klar bewies, daß mein Verlag nicht existieren kann. Denn ein schöngeistiger Verlag bedürfe zur Existenz einer breiten bzw. hohen Belletristik oder eines zusätzlichen, krisenfesten Fachgebietes oder einer anzeigenergiebigen Zeitschrift. Am besten wäre natürlich die Kombination aller dieser Existenzgrundlagen. Da mein Verlag aber keine von ihnen aufzuweisen habe, könnte ich ganz einfach nicht existieren. Hieraus müßte ich nun wissenschaftlich den Schluß ziehen, daß es ein Irrtum von mir sei, wenn ich mir einbildete, ich existiere doch! Zu solchen absurden Ergebnissen käme man, meine Damen und Herren, wenn man sich im Buchhandel ganz auf die Theorie verließe und glauben würde, daß man den Buchhandel mit den­ selben ökonomisch - philosophischen Durchleuchtungsmethoden er­ gründen und dirigieren könnte, die vielleicht für die gesamte übrige Wirtschaft ausschlaggebend sind. Denn der Buchhandel ist nicht in erster Linie ein Wirtschaftszweig, sondern eine Art von Geistes-, ja von Geister-Erscheinung. Es ist viel von Geheimnis, von Unwäg­ 73

barem, Unmeßbarem dabei, und gerade dieses Geheimnisvolle gibt den Ausschlag. Geheimnissen kommt man aber nach dem alten Wort weniger mit Studieren als mit Probieren bei. Erinnern Sie sich: Wer löst im Märchen die Rätsel, die keiner der weisen Räte zu raten weiß, wer obsiegt allen starrgepanzerten Rittern, wer führt die Prin­ zessin heim? Irgend ein naiver, lebensfroher Bursch, dem die Feen hold sind. Auch die Prinzessin Buchhandel ergibt sich mit Vorliebe denen, die nicht so sehr mit strukturellen Erkenntnissen gepanzert, als mit frischen, offenen Sinnen ausgestattet sind. Wir haben man­ chen solchen Burschen in unseren Reihen, der mir nichts dir nichts ein Buchhändlerschloß hervorzauberte. Zur Sache, zur Sache! Aber gerade das ist ja die Sache, meine Damen und Herren, daß wir uns nicht kopfscheu machen lassen sollen von irgendwelchen Theorien, der Buchhandel sei ein über­ lebtes Gebilde und müßte abgelöst werden von neuen Produktions­ und Vertriebsmethoden, und in zwanzig Jahren hätten wir nur noch ein Großunternehmertum und könnten alle unsere Einzel­ verlage und Einzelsortimente schließen. Gerade für den Buch­ handel, der sich so grundsätzlich von der reinen Wirtschaft unter­ scheidet, wird das nicht gelten, jedenfalls nicht ausschließlich; gerade in ihm wird das Urverlangen des Menschen, eine freie Person zu bleiben und keine Kollektivnummer zu sein, immer wieder zum Durchbruch kommen, und infolgedessen ist das Gene­ ral-Rezept buchhändlerischen Verhaltens dieses: je individueller, desto besser. Je mehr wir unsere Persönlichkeit ausbilden und darstellen, desto fester wird jeder von uns stehen, ob es sich um die persönliche Verlagsprägung oder um die persönliche Sortimentsprägung han­ delt. Wer sich selbst gibt, wird vielleicht nicht immer Reichtümer sammeln, gewiß, aber bestimmt wird er nicht auf Sand laufen. Wer aber beständig dem Nachbarn ins Blatt schaut und all das, was nach Erfolg aussieht, nachzuahmen sucht, der wird ein Spiel­ ball der hohlen Spekulationen und wird über kurz oder lang zu­ 74

gründe gehen, indessen der Beständige dauert. Alle bedeutenden, bleibenden Firmen des Buchhandels, prüfen Sie daraufhin nur ein­ mal die Geschichte, haben sich Stetigkeit durch Treue zu ihrer Art entwickelt. Mit derlei Sätzen pflegt man einen Vortrag eigentlich abzu­ schließen, nicht anzufangen. Denn alle Zuhörer fühlen sich dann einen Augenblick lang hoffnungsvoll berauscht und spenden Beifall. Erst hinterher kommt einem der leise Verdacht, ob das, was man beklatscht hatte, nicht nur allgemeine Tiraden gewesen seien, mit denen man praktisch gar nichts anfangen könne. Wie oft habe ich unter Kollegen nach solchen Vorträgen mit an­ gehört: »Alles ganz schön und gut, aber was kann ich denn daheim in meinem Geschäft wirklich daraus machen, um vorwärts zu kom­ men?“ Daher ist meist der eigentliche Gewinn buchhändlerischer Tagungen nicht in den hohen Vorträgen zu finden, sondern im naiven, unmittelbaren Erfahrungsaustausch mit den Kollegen. Da verrät einem zum Beispiel einer, daß er mit einem gegen die Straße zu aufschiebbaren, offenen Schaufenster, wo sich die Kunden von der Straße aus bedienen können, gute Erfolge hätte, weil damit die Scheu, den Laden zu betreten, gebannt sei — ich habe das dieser Tage in Zürich gesehen —, und von solchen Winken profi­ tiert man dann. Solche Winke über den Gartenzaun zu geben, ist zwar hier nicht meines Amtes. Aber ich bemühe mich wenigstens, so zu sprechen, wie uns daheim bei unserer Arbeit zumute ist. Ich will Sie daher mit Untersuchungen über die derzeitige Struktur des Buchhandels verschonen und lieber versuchen, die handfesten Fragen zu stellen und zu beantworten, die uns alltäglich im Geschäft bewegen. Fragen wir zunächst ganz naiv: Wie geht es denn zur Zeit dem Buchhandelsgeschäft? Als mir diese Frage neulich ein Industrieller stellte, dem es angeblich nicht gut ging, weil die Konjunktur vorbei sei, antwortete ich: „Mit Ihnen verglichen, geht es dem Buchhandel eigentlich immer schlecht, denn er hat normalerweise nie eine Konjunktur. Aber das hat auch sein Gutes. Denn er kommt daher 75

nie in die Lage, über die fehlende Konjunktur zu klagen, und damit geht es ihm immer so ziemlich gleich gut.“ Ist das nicht wirklich eine zugleich verblüffende wie beruhigende Tatsache, daß es dem Buchhandel im Ganzen, von politischen Um­ sturzjahren abgesehen, so auffällig gleichmäßig geht? Wenn Sie Statistiken vergleichen, werden Sie finden, daß die Absatzschwan­ kungen verhältnismäßig sehr gering sind, im Ganzen gesehen, weil größere Verluste, denen ein Buchhandelszweig ausgesetzt sein mag, durch größere Gewinne in einer anderen Sparte wieder ausge­ glichen werden, und ebenso, weil der Verlust gewisser Leserschich­ ten durch den Gewinn an neuen Käuferkreisen wettgemacht, ja übertroffen wird. Auch heute noch? Auch heute. Sie wissen, daß entgegen allen Prophezeiungen — es ist so hübsch, Prophezeiungen hinterher zu kontrollieren — das Jahr 1952 12 bis 15’/« Mehrumsatz brachte als das Jahr 1951, wertmäßig gesehen; und meine Unterhaltungen nicht nur mit einzelnen Firmen, sondern auch mit Barsortimenten scheinen mir zu bestätigen, daß auch der buchhändlerische Gesamt­ umsatz in den Monaten Januar bis Mai 1953 zumindest nicht ab­ gesunken ist. Das ist umso erstaunlicher, als doch jeder Vertreter belletristi­ scher Verlage auf der Frühjahrsreise beträchtliche Ausfälle beklagte. Beunruhigt von dem Anwachsen billiger Ausgaben, und zwar nun auch solcher in hochwertiger Ausstattung, übte das Sortiment ge­ genüber der normalen Romanproduktion äußerste Zurückhaltung, und auch die Käufer wurden dadurch stutzig. Es ist manchem Sortiment, nebenbei gesagt, noch nicht klar genug, daß die Beunruhigung des Käufers oft erst von seiner eigenen Unruhe ausgelöst wird, wie damals schon in der Papier­ frage deutlich zu erkennen war, wo oft der Verkäufer dem Käufer erst die Nase darauf stieß, was holzhaltig und was holzfrei sei. Ich habe dagegen Firmen angetroffen, die von dem ganzen Run auf Billigkeit verschont blieben, weil sie ihren Kunden klar zu machen verstanden, das sei gar nichts Neues, daß es ebensogut billige wie 76

teure Bücher gäbe; es käme doch wohl zuerst darauf an, was für ein bestimmtes Buch man wünsche, nicht bloß ein Buch, weil es billig sei. Diese Firmen scheinen Verluste innerhalb der Belletristik abgewehrt zu haben, und daneben wurde alles, was nicht gerade Roman war, um so lieber gekauft und verkauft. Ich habe es am eigenen Leibe erfahren. Summa summarum: Wohl in einzelnen Sparten Umsatzrückgang, nicht aber in der Buchhandelsgesamtheit. Sodann habe ich eines der bösen Inkassobüros gefragt, wie es denn mit der Zahlungsweise des Sortiments stünde: ob sie sich etwa verschlechtert hätte. (Wobei man ja, siehe oben, boshafter, aber nicht ganz unzutreffender Weise sagen könnte, sie sei in der Mehrzahl immer schlecht.) Das Büro antwortete: »Eher verbes­ sert!“ Der Kapitalumschlag vom Verlag zum Sortiment hält sich im Mittel auf drei Monaten, der vom Sortiment zum Kunden auf sechs bis acht Wochen. Und da auch der Export der Bundesrepublik eine durchaus günstige Tendenz zeigt, sehe ich im Geiste bereits die sensationelle Zeitungsüberschrift erscheinen: »Dem Buchhandel geht es gut!“ Manche Kollegen würden dagegen sicherlich heftig protestieren, sei es, weil es ihnen persönlich keineswegs gut ginge, sei es in der Meinung, es sei doch hirnverbrannt, so etwas hinauszuposaunen, da kämen höchstens die Finanzämter gelaufen. Nun, die Finanz­ ämter kommen auf jeden Fall gelaufen. Aber auch die Kunden. Denn wo Tauben sind, fliegen Tauben zu. Wem es gut geht, zu dem hat man Vertrauen. Klagerei schreckt nur ab. Ich persönlich fände es jedenfalls viel besser auszuposaunen: »Dem Buch geht’s gut!“ als »Das Buch gehört dazu!“. Damit pro­ pagiert man doch förmlich, daß das Buch nur ein Zugabe-Artikel sei. Haben Sie schon einmal einen Berufsstand gesehen, der plaka­ tiert, daß seine Ware nur eben so dazugehöre und daß man sie, bitte, bitte doch nicht ganz vergessen möge? Nein, das Buch gehört nicht dazu, sondern mitten hinein ins Leben! Dies zu bewerkstelli­ gen sind wir Buchhändler da. Wir sind doch keine Zugabenhändler! 77

Infolgedessen sollten wir jede neuartige Methode begrüßen, das Buch schlechthin zu einem Brotartikel zu machen, selbst wenn manche dieser Methoden uns zunächst ein wenig erschrecken. Auch dieses Erschrecken der jeweiligen alten Schule des Buchhandels ist nichts Neues. Welche Untergangsprophezeiungen knüpften sich nicht an das Erscheinen der Ullsteinschen Eine-Mark-Bücher! Das­ selbe Lamento dann bei den Volksausgaben, beim Auftauchen der Buchgemeinschaften. Heute wird wieder Alarm geblasen über Lese­ ringe, Buchabonnements, das Anwachsen der billigen Buchreihen. Ich bin froh, daß ich darüber sozusagen hors concours sprechen kann, also ohne in den Verdacht zu geraten, daß ich die Dinge begünstigen oder befehden möchte. Was geschieht hier eigentlich, wenn man es leidenschaftslos betrachtet? Alle diese Reihen und Ringe basieren ja nur auf einer der vielen Reizmöglichkeiten des Handels und Buchhandels: nämlich auf der Billigkeit. Billigkeit wirkt aber immer nur kurze Zeit sensationell; wenn die Grenze der größtmöglichen Billigkeit erreicht ist, ist Billigkeit kein besseres Verkaufsargument als Qualität oder Originalität, ja sogar Exklu­ sivität. Sie sehen in allen Branchen viele Geschäfte blühen, die geradezu sagen: Wir führen nichts Billiges, wir führen nur das Ausgezeichnete, das Besondere, und das hat eben seinen Preis. Sie wissen wohl besser als ich, daß die billigen Reihen das Ge­ schäft zunächst merklich belebt haben, daß sie aber schon im Weih­ nachtsgeschäft 1952 keine besondere Rolle spielten. Das zeigt, daß der Reiz der Neuheit dahin war und daß nur die Käufer blieben, die sich teure Bücher niemals leisten können, oder jene, die auf der Reise an Stelle einer Zeitschrift jetzt zu einem Buch griffen — und das müssen wir als Buchhändler doch loben! Auch der Reiz billiger Abonnements verblaßt in dem Maße, als die begehrtesten Best­ seller ausgeschlachtet sein werden — und das geht schnell — und man sich nicht auf Bücher verpflichten will, die man normalerweise nie kaufen würde. Folgender Vorfall in einem Sortiment scheint mir dafür sympto­ matisch: Ein wohlhabender Kunde nahm drei Buchabonnements, 78

der Sortimenter bedankte sich. »Sie bedanken sich auch noch?“ sagte der Kunde kopfschüttelnd. »Wissen Sie denn, was ich mit diesen billigen Büchern tun werde? Ich werde sie an Stelle der teueren, die ich sonst alle Jahre bei Ihnen einkaufte, verschenken. Sie sind aber ein schlechter Buchhändler.“ Der Sortimenter war zunächst recht betroffen und schalt sich einen Esel, daß er sich mit seiner Abonenntenwerberei selber das Wasser abgegraben habe. Aber dann faßte er sich. »Ich glaube kaum“, erwiderte er lächelnd, »daß Sie mit diesen Buchgeschenken bei denen, für die Sie früher bis zu zwanzig Mark anlegten, auskommen werden. Denn jeder Beschenkte weiß doch, daß diese Bücher nur 3.85 Mark kosten; das ist ja allgemein be­ kannt.“ »Sie haben recht“, erwiderte der Kunde verblüfft, „Sie sind doch ein guter Buchhändler!“ Und so gibt es, glaube ich, für jede buchhändlerische Gegen­ wartsaufgabe auch eine Gegenwartslösung, mit der wir zufrieden sein können. Verschwenden Sie Ihre Kräfte nicht damit, Erschei­ nungen zu befehden, die in der Zeit liegen, sondern suchen Sie den Weg, sie sich dienstbar zu machen. So wahr es ist, daß es für jedes Buch Käufer gibt, man muß sie nur finden, so wahr ist es auch, daß ein richtiger Buchhändler sich jede buchhändlerische Entwick­ lung zunutze machen kann. Die immer danach rufen, was in Sachen Buchhandel alles geschützt und verboten werden müßte, und die immer nur danach spähen, ob sich ja der Herr Kollege keine Blöße gibt, sind keine rechten Buchhändler. Mit welchen Schwierigkeiten hatten erst unsere Vorfahren zu Zeiten der Kleinstaaterei und des Nachdrucks zu kämpfen! Heute stehen wir im Zeitalter der Großstaaterei und des Vordrucks bzw. Vorkauens, der Schablone, der Masse. Ist es nicht eine großartige Aufgabe, sich gerade dieses sogenannten Zuges der Zeit zu bedienen, um das individuelle Buch zum Siege zu führen? Allerdings darf, was wir uns auch noch so Neuartiges ausdenken mögen, kein unlauterer Wettbewerb geduldet werden. Zwar halten 79

manche alles für unlauter, was ihnen Konkurrenz macht; und oft ist es wirklich schwer zu entscheiden, ob etwas nur gegen die alte Leipziger Schule oder gegen die guten Sitten verstößt. Aber zwei­ fellos kann ich mich nicht beispielsweise vor einer Buchhandlung aufpflanzen und Kunden abzufangen suchen. Auch hat es mich selber schon unangenehm berührt, wenn man mich auf der Straße anspricht, nicht um Weg oder Feuer, sondern zwecks Abonnements. Früher hätte man gesagt, das seien ja italienische Zustände; heute könnten die Italiener das mit Recht deutsche nennen, denn sie haben ihrerseits die Straßenbettelei abgestellt. Das Landgericht München ist übrigens das erste, das derartige Straßenangebote als unlauter mit einstweiligen Verfügungen belegt hat.

Aber sonst kommt es doch mehr darauf an, was man für den Gebrauch des Buches, als was man gegen den Mißbrauch tun kann und soll. Da sind einmal die Verleger. Es sind entsetzlich viele; im Bun­ desgebiet, dem Namen nach, nahezu 2000, wenn auch nur ein Viertel davon jährlich mindestens sechs Titel bringen. Jedenfalls produzieren diese 500 statt weniger immer mehr, nicht wahr? War doch die Büchertitelzahl in der Bundesrepublik 1951 schon so groß wie im Großdeutschland von 1938. Sollten sich die Verleger also nicht eigentlich beschränken? Es wäre doch zu ihrem eigenen Besten, wenn sie so vieles Gleichgültige wegließen und sich auf das Gute konzentrierten. Das klingt sehr einleuchtend. Aber erstens: Was ist denn das Gute? Mit »gut“ wird nämlich meistens das »Gangbare“ gemeint. Denn das wirklich Gute ist selten gangbar. Ich behaupte immer: Wenn ein sehr gutes literarisches Buch einen auffallenden Erfolg erzielt, dann muß ein Mißverständnis vorliegen. Denn um hoher Qualität willen allein gibt es, jedenfalls nicht in kurzer Zeit, keine großen Erfolge; soviel Qualitätsleser sind gar nicht vorhanden. Das Mißverständnis kann im Titel, im Umschlag liegen oder darin, daß der Autor schon berühmt oder sein Thema zufällig aktuell usw. ist. 80

Es ist demnach eigentlich die Aufgabe des Verlegers gerade guter, anspruchsvoller Bücher, die Mißverständnisse geradezu zu beför­ dern. Manche verstehen das meisterhaft, schade, daß ich taktvoller­ weise keinen Namen nennen kann. Und das Weglassen gleichgültiger Bücher, wie wäre es damit? Zugegeben: es sind schon viele Bücher herausgekommen, die nur aus Gefälligkeit gegen den Autor, pder weil das Verlagsprogramm noch etwas mager erschien, so mitliefen. Und dann wurden sie womöglich Bestseller! Daß im übrigen jeder Verleger seine Pro­ duktion für richtig und geeignet hält, hat auch noch den Grund, daß er so viele miserable Manuskripte lesen muß, daß er dann ein vergleichsweise gutes für absolut gut hält. Wenn ein Verlag witzeshalber einmal alles verlegen würde, was ihm angeboten wird, würden Sie erst begreifen, wie gut das alles ist, was er in Wirk­ lichkeit bringt!

Mir ist das beim Film aufgegangen. Ich gehe so alle zwei Jahre einmal, wenn mir gute Freunde und Kenner in den Ohren liegen, da sei jetzt ein Film, unerhört, da müßte ich nun wirklich hinein. Und jedesmal komme ich kopfschüttelnd heraus und überlege, ob ich an meinem Geschmack oder an dem meiner Freunde verzwei­ feln soll. Keines von beiden. Wer ständig Filme sieht, ist eben für das vergleichsweise Gute dankbar und hält es für absolut gut; wer so gut wie nie Filme besucht, findet auch dieses Gute noch zweifelhaft. Habe ich damit die verlegerische Überproduktion genügend er­ klärt? Auch sagt man dem Verleger ja nicht nur, er brächte zuviel, man sagt ihm im gleichen Atem, er brächte ja nichts! Auf jeder Messe sehe ich Kollegen herumgehen, die Hände ringen und sagen: Es erscheint ja rein gar nichts! Damit meinen sie natürlich: was ihnen hundertprozentig als Weihnachtsschlager einleuchtet. Kein Wunder, daß dann die Verleger immer mehr produzieren, hoffend, diesmal seien sie aber wirklich hundertprozentig. 81

Also, wir sind allesamt Mitschuldige, liebe Kollegen. Schelten wir uns nicht und freuen wir uns der Fülle. Es wird ja niemand ge­ zwungen, etwas anderes zu essen, als das, was ihm zuträglich ist. Es kommt also nur auf unseren Geschmack an. Das klingt sehr banal. Aber wenn man sich manche Verlagsprogramme und manche Schaufenster ansieht, dann fragt man sich: Was hat dieser Kollege eigentlich für einen Geschmack? Man bringt es nicht heraus, weil da alles zu finden ist wie bei Dutzenden anderer Kollegen auch. Es ist geradezu unfaßbar, wie bei einer solchen Fülle von Mög­ lichkeiten überall dieselbe Art Bücher erscheinen und im Fenster liegen. Der berühmte Sonntagnachmittagspaziergang, wo man nach­ sieht, ob man selber auch ja alles im Fenster hat, was der Kollege zeigt, scheint immer noch im Schwung.

Oder sind die Vertreter schuld, die überall dieselben Bücher for­ cieren? Aber es gibt doch so zahllose Vertreter. Diese ewigen Vertreter! Das ist doch eine der beweglichsten Klagen des Sorti­ ments. Auch für dieses Problem gibt es keine bessere Lösung als Festigkeit des eigenen Geschmacks und ein bißchen Humor und Einsicht, daß ohne Vertreter die Arbeit des Sortimenters noch viel schwieriger wäre. Ich muß noch ein bißchen auf diesem Gedanken des Geschmacks herumreiten, obwohl ich das Gefühl habe, daß ich längst schon nur noch langweilig-ernst und gar nicht mehr heiter bin. Es ist mir halt so ein Anliegen, zu sagen, geradezu zu flehen, daß jeder von uns sich bemühe, recht individuell zu arbeiten, seinem Geschäft ganz seine persönliche Note zu geben, denn das ist unsere große Buchhändlerchance. Deswegen werden wir auch in jeder Diktatur sofort kaltgestellt, weil man weiß, daß diese verfluchten Individua­ listen dem Seiberdenken und Seiberwählen in weitesten Kreisen Vorschub leisten.

Man kann, wenn man der Mann dazu ist, selbstverständlich auch einem Großbetrieb sein Gesicht geben; tut das Väterchen Rowohlt etwa nicht? Persönlichkeit heißt keineswegs Samtjackett 82

hinter verstaubter Ladenpuddel. Aber wenn es eine Gefahr für den Buchhandel gibt, dann die, daß man nur noch den Weg des geringsten Widerstandes geht, nur noch nach Gangbarkeit fragt, nur das tut, was andere auch tun, und möglichst nur so, wie man es immer gemacht hat. Dann werden die Schaufenster zum Gähnen, die Verlagskataloge ebenfalls, und es kann nicht ausbleiben, daß der also zum Gangbaren gegängelte Leser das Lesen gelangweilt einstellt. Manche erfahrenen Kollegen glauben, daß das Lesen beim Kauf belletristischer Bücher überhaupt nicht mehr die Hauptrolle spielt, weil 80°/’ aller belletristischer Literatur als Geschenk gekauft wer­ den. Wenn das Buch erst in zweiter Hand gelesen wird, so ver­ schlägt das ja nichts, doch sollten wir daraus lernen, den Geschenk­ charakter d.es Buches viel mehr zu betonen und auszunützen. Viele Buchhändler halten sich nicht einmal im Privatleben an diese Er­ kenntnis und bringen der Dame des Hauses Blumen und den Kindern Schokolade mit, statt Bücher. Die Blume des Buchhändlers ist das Buch, es gibt keine edlere (und überdies billigere) für ihn. Damit kommen wir ein bißchen auf Werbung zu sprechen. Bei Werbemaßnahmen wird immer zuerst an Tausende von Prospek­ ten und wer weiß was für Feldzüge gedacht, bei Schaufenstern denkt man an Material— das sind lauter berauschende, aber nicht halb so einträgliche Werbemaßnahmen als ein paar Dutzend per­ sönliche Besuche, Briefe und Ideen. Ich sage nicht gern gezielte Werbung; denn diese Zielerei geht auch bereits salvenartig vor sich und ist ebenfalls zu einer Maßnahme erstarrt. Und so versteht im Weihnachtsradau keiner mehr ein Wort vor lauter Maßnahmen; dann kommen noch ein bißchen Ostermaßnahmen, und schon pressiert es wieder mit den Weihnachtsmaßnahmen. Dabei ist jede Woche eine Buchwoche für den, der daran denkt, daß jeder Tag mit seinen Geburtstagen und Jubiläen Persönlichkeitsanlässe bietet, zu denen, siehe oben, das Buch dazugehört. Das Denken in Maß­ nahmen, statt in persönlichen Handlungen, läßt uns jährlich Millio­ nen von Gelegenheiten verpassen. 83

Ich kenne einen Kollegen, der sich bei jeder Gelegenheit, wo auch immer, und wäre es mit dem Schornsteinfeger, überlegt, für welches Buch er ihn erwärmen könnte, und der mit dieser ein Leben lang befolgten Methode die großartigsten Erfolge erzielt. Und dann war ich neulich in Italien bei einem Sortimenter, der mir lachend versicherte, selbst jeder Verleger, der ihn besuche, kaufe bei ihm ein Buch; und was soll ich Ihnen sagen: Er hatte recht. Ich will hier ja keinen Vortrag über Werbung halten, will damit nur andeuten, daß auch in unserer Zeit des Massenbetriebs und Massenvertriebs, ja gerade in ihr, jedes echte persönliche Wirken die besten und dauerhaftesten buchhändlerischen Resultate liefert. Das Buch als Ware hat eine einzigartige Stellung in der Welt: Es ist vom Einzelnen für den Einzelnen geschaffen. Wenn es sich auch der Massenmittel bedienen kann, es ist kein Massenprodukt von Haus aus, sondern ein Lebewesen. Deshalb bleibt es zum Un­ terschied von allen anderen Nahrungsmitteln des Körpers und des Geistes auch so lange am Leben, es verflüchtigt sich nicht wie die Augenblicksreizungen des Gehörs oder des Gesichts: Es ist wert­ beständig. Der beste Film, das herrlichste Theater, das schönste Konzert sind im Augenblick vorbei und hinterlassen nur Erinnerungen. Das Buch aber bleibt bestehen und ist jederzeit wieder zu Diensten, sobald man es ruft. »Ihr Buchhändler habt immer noch nicht begriffen“, sagte mir ein amerikanischer Werbespezialist, »was Ihr da in der Hand habt mit dem Buch. Seine Eigenschaften hat keine Ware der Welt!“ Deshalb ist wohl der einzige sichere Weg für jeden Verleger und jeden Buchhändler der, das zu tun, was in ihm selber liegt, und sich nicht den Kopf darüber zu zerbrechen, was spekulativ wohl das günstigste wäre. Manche von uns sind Großunternehmernatu ­ ren, sie trauen sich alles zu, und ihnen glüdct alles. Macht das ein Einzelgänger nach, meinend, Massenware sei nun der Trumpf, wird er Schiffbruch leiden. Wer für Veilchen die Hand hat, soll keine Palmen züchten wollen; aber wer sich auf das ihm Gegebene 84

beschränkt, wird damit Glück und Auskommen finden. Das ist eigentlich die ganze Weisheit allen Lebens und so auch des buch­ händlerischen. Daher es beispielsweise keinen alberneren Satz gibt als den, der oder jener Verleger, das oder jenes Sortiment habe versagt. Das ist so ein Spruch derer, die einen von der eigenen Linie weg zu irgendwelchen Postulaten bekehren wollen. Versagt hat nicht der, der sich irgendwelchen und sei es i noch so interessanten Aufgaben versagt, sondern nur der, der seiner eigenen Aufgabe untreu wird. Das ist eine große, tägliche Gefahr; es juckt einem immer einmal, es spekulationsweise mit dem oder jenem zu probieren, was einem zwar nicht ansteht, was aber doch bei anderen so vielversprechend aussieht. Damit Sie nun nicht meinen, ich wollte mich selber als eine Idealfigur darstellen, die nie eine buchhändlerische Dummheit ge­ macht hätte oder machen würde, führe ich hier eine antike Anek­ dote zu meiner Entschuldigung an. Seneca warf man eines Tages vor, er selber lebe ja gar nicht so, wie er es in seinen Schriften fordere. Er erwiderte: „Das hat man schon Platon und Epikur vorgeworfen. Audi diese sagten nämlich nicht, wie sie lebten, sondern wie sie hätten leben sollen. Ich spreche von der Tugend, nicht von mir.“ Von einem Lagebericht, er wäre nun heiter oder nicht, erwartet man zum Schlüsse dasselbe wie von einem Wetterbericht: eine Voraussage nämlich. Da wir im Buchhandel nur drei Jahreszeiten kennen: Ostern, Herbstmesse und Weihnachten, ist als nächste Prophezeiung also fällig, was wir von der Herbstmesse zu erwarten haben. Das erinnert mich lebhaft an die letztvergangene Messe, wo mich am ersten Tag ein Funkreporter an das Mikrophon schleifte und mich bat, so zu sprechen, als sei die Messe schon abgeschlossen; denn bis er mit dem Band von der Reise zur Sendung käme, seien meine Worte dann gerade aktuell. Ich wunderte mich zwar ein bißchen; aber was tut man nicht für die gute Sache? Ich tats also, 85

nach dem berühmten diplomatischen Rezept, mit vielen Worten nichts zu sagen, um abschließend zu versichern, die Messe wäre ein ganz besonderes Erlebnis gewesen, wobei offenblieb, was für eines. So geht das ja hier nicht, erstens, weil ich kein Diplomat und zweitens, weil ich wirklich überzeugt bin, daß man sagen darf: nur keine Angst! Die Befürchtungen des Frühjahrs auf einen all­ gemeinen rapiden Preissturz infolge der billigen Massenbücher­ angebote werden sich schon deshalb nicht bewahrheiten, weil die Sensation der Billigkeit schon abgestumpft ist. Es werden wohl alle Verlage danach trachten, Romane möglichst preiswert zu kalkulieren, so daß es sicher darin reichlich Titel um die zehn Mark geben wird; aber daneben werden alle anderen Arten von Büchern ihren Preis und wohl auch ihren Absatz behaupten. Ver­ glichen mit dem, was ein Buch von Gehalt bietet an lebenslangem Nutzen, ist sein Preis geradezu eine Kinderei, und wir laufen gerade den falschen Kurs, wenn wir selber uns noch immer unter­ bieten. Vor zweihundert Jahren zahlte man für ein Buch noch den Preis wie für zwei geschlachtete Kälber, und eben darum achtete man das Buch. Mir sagte neulich ein Kühlschrankfabrikant: »Wir könnten diesen Schrank da um die Hälfte verkaufen, aber dann würde ihn nur noch die Hälfte kaufen!“ Wenn man immer wieder vom Überhandnehmen amerikanischer Verhältnisse spricht, so vergißt man, daß der amerikanische Buch­ markt nebeneinander das billige und das geradezu geschmalzen teure Buch seit Jahren verträgt, und man hat auch oft genug auf die englische Gewohnheit hingewiesen, ein Werk zunächst in be­ schränkter Auflage teuer, danach wohlfeil herauszubringen, ohne daß man darin eine unlautere Machenschaft sähe wie bei uns. Wer bei der festlichen Premiere dabei sein will, zahlt eben höhere Preise als für eine Sonntagnachmittagsvorstellung. Solche Vergleiche mit anderen Ländern sind im übrigen nie schlüssig. Man weiß doch auch, daß ein Bestseller im Lande A geradezu ein Fehlschlag im Lande B sein kann. Ich erwähne das 86

nur, weil damit so oft argumentiert wird, wie es irgendwo anders sei. Woanders, liebe Kollegen, ist und bleibt es immer anders als bei uns, da können wir ganz beruhigt sein. Bei uns ist das Buch — ich sage gottlob — nicht nur zum Lesen und Benützen da, sondern zum Haben. Es gehört so gut zur Zim­ mereinrichtung wie ein Bild, das man ja auch nicht »benützt“, sondern zu seinem Behagen um sich hat. In der Zeit der Lizenzierungen handelte es sich bei uns in Mün­ chen einmal darum, die Besatzungsbehörde davon zu überzeugen, daß Bücher von unsereinem nur in gebundener Form als wirkliche Bücher angesehen würden. Ich ließ mir dabei die Bemerkung ent­ schlüpfen, nur gebundene Bücher hätten für uns häuslich Gesinnte die richtige Atmosphäre, man könnte ihre Ausstrahlung sozusagen mit verbundenen Augen spüren. Die Herren nahmen das wörtlich, verbanden mir die Augen und führten mich durch mehrere, mir unbekannte Räume, wo ich dann sagen sollte, ob sich hier Bücher befänden oder nicht. Zu meinem eigenen Erstaunen gelang das Experiment so ziemlich. Es muß mir wohl die heilige Viboroda beigestanden haben. Ich würde es jedenfalls heute nicht mehr riskieren, dieses Experiment zu wiederholen. Jedenfalls durften wir daraufhin die Bücher binden. Dieser häusliche Gegenstand, das Buch also, hat so viele treue und begeisterte Freunde, daß ich mir nicht denken kann, daß diese künftig nur auf Billigkeit ansprechen. Für den Käuferteil, der vielleicht zum vorgekauten Buch abfällt, kommen sicher neue Kreise dazu, die bisher noch nicht büchersüchtig waren und es, angelockt von der Billigkeit, werden. Denn wenn man die Erscheinungs- und Auflagezahlen des deut­ schen Büchermarktes in den letzten Jahren betrachtet, dann schwin­ delt einem förmlich vor diesem unaufhörlichen Bücherwachstum. Es wird noch größer, wenn der notwendige Wohnraum wieder zur Verfügung steht. Ich sehe als Buchprophet also durchaus rosig in die Zukunft, jedenfalls was die Zahl der verkauften Bücher anlangt. Wie weit 87

allerdings die bei billigen Büdiern erhöhten Geschäftsspesen und geringeren Kassen durch andersartige, normal kalkulierte Bücher oder durch vervielfachten Lagerumschlag ausgeglichen werden kön­ nen, wissen nur unsere Betriebsstatistiker — und auch die nur hinterher. Der beste Kampf gegen Gefahren und Auswüchse, wo auch immer, ist im übrigen der, daß wir eifrig für unsere Sache tätig sind. Wir hatten mal einen Deutschlehrer, der verlangte, daß wir eine Sache nie negativ, sondern immer positiv ausdrücken sollten. Kein schlechter Rat, er wirkt auf den ganzen Menschen. Ich hatte dann noch einen anderen Kauz als Lehrer, der paßt als Schluß auch hierher. Der sagte zu Ende jeder Stunde: »Ich fasse zusammen!“ Er faßte aber weiter gar nichts als sein Buch, klappte es zu und ging hinaus. Das war so angenehm schmerzlos. So mache ich es jetzt auch. Ich fasse zusammen. Auf Wiedersehen! 1953

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Wie ein Buch entsteht

Im stillen bringt der Autor das Buch zur Welt. Aber daß es sei­ nen Weg mache im Leben, muß einer Pate stehen: der Verleger. Denn es muß einen mühseligen Weg gehen. Davon, nur davon kann man erzählen, von diesem Weg. Wie ein Buch eigentlich entsteht aus Schöpferkraft, Schöpferlaune, Schöpferwillen — der geistige Prozeß der Buchwerdung bleibt ein Le­ bensgeheimnis. Manchmal kommen Besucher zu mir mit dem Wun­ sche, „den Verlag zu besichtigen“. Das bringt mich jedesmal in Verlegenheit. Denn ich weiß wohl, was diese Besucher erwarten. Sie erwarten Buchdrudcereianlagen, Buchbinderei-Einrichtungen, Papiermaschinen vielleicht. Das alles gibt es bei mir nicht. Es gibt Schreibtische, Schränke, Regale, Registraturen, an Maschinen nur Schreib- und Rechenmaschinen — kurz: lauter Gegenstände, die man ebenso gut oder noch besser in jedem Büromöbelgeschäft be­ sichtigen könnte. Das ist nicht nur bei mir so, so verhält es sich in den meisten Verlagen. Es gibt allerdings Buchverlage, die eigene Buchdruckereien und Buchbindereien und Papierfabriken besitzen. Aber das ist nicht das Wesen eines Verlages. Das Wesentliche ist etwas Geistiges, und Geist läßt sich nicht besichtigen. Und so läßt er sich auch nicht beschreiben. Man kann zwar aller­ lei schöne Worte darüber machen, wie Einfall und Eingebung und Einfühlung; aber man setzt damit nur weitere Unbekannte ein für das schöpferische Geheimnis, wie bei Autoren und Verlegern Wer­ ke eigentlich entstehen. Über die Arbeitsweise läßt sich allerdings einiges mitteilen. Erst dieser Tage wurden Schriftsteller vom Sen­ der darüber interviewt, ob sie Tages- oder Nachtstunden für ihr 89

Schaffen bevorzugen, ob sie auf ihrem Schreibtisch Ordnung oder vielmehr schöpferische Unordnung lieben, ob sie sich vom Rauchen oder Trinken anregen lassen und dergleichen. Das ist recht inter­ essant, gewiß, aber »lernen“ läßt sich daraus für die Frage, wie ein Buch entsteht, gar nichts als eben das eine, daß es eine große entsagungsvolle Arbeit ist, von der man sich als bloßer Leser keinen rechten Begriff macht. Ja, sogar Autoren untereinander und Autoren und Verleger gegenseitig verkennen sich und glauben, der andere täte sich leicht. Manche Autoren halten den Verleger im Grunde für einen Geschäftsmann, der aus der geistigen Arbeit anderer unverhältnismäßig Kapital zu schlagen weiß; und manche Verleger sehen in den Autoren Leute, die aus einer Art spieleri­ schen Müßiggangs glauben, einen Anspruch auf Ruhm und Wohl­ leben ableiten zu können. Man spricht derlei gewöhnlich nicht offen aus, aber man meint es so; obwohl Autoren und Verleger doch auf einander angewiesen sind, sollte man meinen. Nun ja, denkt der Autor vielleicht, der Verleger ist auf mich angewiesen. Im Anfang des Buches ist das Wort, das Manuskript, der Schrift­ steller. Wo blieben denn die Verleger, wenn es keine Manuskripte gäbe? Worauf der Verleger erwidern könnte, daß es Bücher im heutigen Sinne erst gibt, seitdem es Verleger gibt. Gutenberg, der immer nur als Handwerksmeister, als Buchdrucker gefeiert wird, war vor allem der erste Verleger. Ihm verdanken wir die Bücher, nicht den Autoren; denn Autoren hat es vor ihm schon jahrtau­ sendelang gegeben. Wenn es keine Autoren gäbe, würden sich die Verleger zu helfen wissen; aber wenn es keine Verleger gäbe, wären die Autoren übel daran. So oft ein Autor versuchte, sich selbst zu verlegen, ist er kläglich gescheitert (Klopstock beispiels­ weise); aber Tausende von Büchern verdanken wir der schöpfe­ rischen Initiative von Verlegern. Ich hatte als Literaturstudent einst die Absicht, über die Initiative des Verlegers in der deut­ schen Literatur zu promovieren; bald erkannte ich aber, daß ich da mein Leben lang über dieser Arbeit sitzen würde, so umfang­ reich ist das Material. 90

Dies sei halb im Scherze bemerkt, um allen Ernstes das Unsag­ bare bei der Entstehung des Buches, das Geistige, ungesagt zu lassen und uns auf das handgreiflich Technische zu beschränken.

Lassen wir dem Autor die Ehre und fangen wir mit seinem Ma­ nuskripte an. Er hat es, hoffentlich schön säuberlich, getippt oder abtippen lassen und sucht nun, wenn er nicht bereits in guten Hän­ den ist, dafür einen geeigneten Verlag. Er meint vielleicht, um bei einem Verlag anzukommen, müßte er vor allem Beziehungen haben oder sich erst Empfehlungen verschaffen. Kein Verlag von Rang wird ein Manuskript aber deshalb bevorzugen, weil es emp­ fohlen ist. Das erweckt allenfalls Mißtrauen. Wohl aber muß sich der Autor erst einmal umsehen, welcher Verlag die Richtung des anzubietenden Manuskriptes überhaupt pflegt. Der beste Rat­ geber ist dabei ein kundiger Buchhändler. Denn auf Grund eines einzelnen Buches, das man von einem Verlag zufällig kennt, kann man sich kein Bild von einer Verlagsrichtung machen. Ferner ist zu empfehlen, das Begleitschreiben kurz und freundlich zu halten — nicht kurz und großartig etwa, das wirkt nicht, auch nicht mit Schmeicheleien durchsetzt, das wirkt noch weniger. Ganz verfehlt sind Anpreisungen und Erklärungen. Erklären muß sich das Werk selbst. Die Versicherung gar, es würde ein großer Erfolg, entlockt jedem Verleger nur ein mitleidiges Lächeln. Also keine verfehlten Hilfsstellungen! Hans Carossa hat mir einmal erzählt, wie er zum Insel-Verlag kam. Ich frage nämlich Autoren gerne, wie sie ihre Verleger gefunden haben. Also der unbekannte Hans Carossa schrieb im Jahre 1909 dem Insel-Verlag eine Postkarte mit der Anfrage, ob der Verlag ein Bändchen Gedichte verlegen würde. Der Insel-Verlag antwortete: „Nein, danke!“, denn schon damals konnte er sich vor Gedichten nicht mehr retten. Carossa packte daraufhin einige Gedichte ein und schickte sie dem Insel-Verlag trotzdem. Und siehe da, sie fanden Gefallen, weil Carossa eben ein wirklicher Dichter und weil die Insel ein wirklicher Verlag war. 91

Trotzdem sollte sich kein Autor von anfänglichen Mißerfolgen abschrecken lassen. Viele Bücher, darunter Welterfolge, sind dut­ zendfach abgelehnt worden, ehe sich ein Verlag dafür fand. Es ist sehr merkwürdig, daß unter den zahllosen Manuskripten, die jeder Verleger tagtäglich erhält (weshalb der Autor auch bei eifrigen Verlagen notwendigerweise wochenlang auf den Prüfungs­ bescheid warten muß), ihm nur selten eines brauchbar erscheint. Sind denn die eingehenden Arbeiten alle so schlecht? Nein, sie sind nur häufig an der falschen Stelle oder kommen im unrechten Augenblick, in dem die Verlagsplanung schon auf weit hinaus ab­ geschlossen ist. Der schöngeistige Verlag muß, vor allem aus werbe­ technischen Gründen, einen Roman praktisch ein Jahr vor Erschei­ nen in Angriff nehmen. Man male sich also das Gesicht eines Ver­ legers aus, dem der Autor, wie so häufig, vorschlägt, ein im Sep­ tember eingereichtes Manuskript noch rechtzeitig zum Weihnachts­ geschäft herauszubringen! Auch ist es irrig zu meinen, wenn ein Verleger z. B. eine Sammlung unfreiwilligen Humors verlegt hat, daß man ihm dann weitere solche Sammlungen anbieten müßte. Ein Verleger, der auf sich hält, wird ein Thema nicht auswalzen. Ich habe oft schon sehr gute Manuskripte in die Hand bekom­ men, bei denen es mich gelockt hätte, Gebiete zu betreten, die außerhalb meiner Verlagsarbeit liegen. Solchen Versuchungen sind alle Verlage beständig ausgesetzt. Wenn wir von einem Verlag sagen, er habe kein Gesicht, so handelt es sich meistens um Anstal­ ten, die diesen Versuchungen erlegen sind und nach dem verderb­ lichen Grundsatz: »Wer vieles bringt, wird jedem etwas bringen" mit der Zeit eine Art geistiger Gemischtwarenhandlung darstellen, aber keinen Verlag. Noch gefährlicher ist die Versuchung des Erfolges. Es ist so an­ genehm, von Auflage zu Auflage emporzusteigen, daß man biswei­ len versucht ist, den äußeren Erfolg als den eigentlichen Grad­ messer verlegerischen Wirkens zu betrachten und sein ganzes Han­ deln danach einzurichten. Manche Verlage sind an ihren Erfolgs­ werken zugrunde gegangen; sie vernachlässigten die stille, innere 92

Arbeit, um einen äußeren Triumph an den andern zu heften; sie verlegten nicht mehr eigentlich, sie verlegten sich auf, und eines Tages stürzte dann dieser Babelturm in sich zusammen. Wie, werden Sie fragen, kommt dann aber ein Verleger über­ haupt zu einem Manuskript, wenn er die angebotenen meist zu­ rückgibt?

Er schafft sie selbst. Ich meine jetzt nicht, daß er sie selber schreibt, obwohl auch das vorkommt. Wenigstens aber regt er sie an. Er gibt sie in Auftrag. Er fördert sie. Aus kleinen, unschein­ baren Schriftstellerpflänzchen zieht er durch Geduld und Zuspruch, nicht selten auch durch Zuschuß, durch Dunggüsse gewissermaßen, prächtige perennierende Gewächse.

Alle Verleger sind ständig auf Autorenjagd begriffen. Die Ro­ manverleger pirschen in den Gefilden der Zeitungsfeuilletons, wis­ senschaftliche Verleger in Fachzeitschriften, Hörsälen und auf Ta­ gungen, Kunstverleger in Ateliers, Musikverleger in Konzertsälen. Als unfair gilt es, im Revier eines anderen Verlages auf Jagd zu gehen und dort schon herangezogene Autoren wegzufangen. Aber auch das kommt vor. Also, da hat er nun wieder eines gefunden, das ihm gefällt, an das er glaubt. Es ist vom Lektor oder von mehreren Lektoren ge­ lesen worden, von der Vertriebsabteilung und von den Vertretern gutgeheißen; bisweilen ist es auch der Verleger selbst ganz allein, der ja dazu sagt, trotz aller Einwände seiner Mitarbeiter. Denn das Jasagen zu einem Werk läßt sich weder parlamentarisch noch sonstwie errechnen; es ist eine Art von gläubiger Verwegenheit, da mit jedem Buch gleich fünfstellige Beträge im Feuer stehen. Der alte Witz, Verleger heiße einer, der sein Geld leicht auf Nimmerwieder­ sehen verlege, hat schon eine bittere Wahrheit in sich. Daher ist es wohl am sichersten, wenn der Verleger nur Werke bringt, die er nicht nur aus* spekulativen Gründen, sondern nach ihrer Qualität bejaht. Gibt es dann trotzdem Fehlschläge, so kann er sich wenig­ stens trösten, das Beste gewollt zu haben. 93

Solche Überlegungen bestimmen den weiteren Werdegang des Buches. Denn wenn das Manuskript angenommen und der Vertrag mit dem Autor geschlossen ist, beginnt erst jene entscheidende ver­ legerische Tätigkeit, die man die Herstellung nennt: die Verwand­ lung eines Manuskriptes in ein gedrucktes Buch. Das ist doch sehr einfach, denkt der harmlose Leser. Da schickt man das Geschriebene eben in eine Druckerei und läßt es drucken. Wozu überhaupt Verleger? Der Autor schreibt, der Drucker druckt, der Buchhändler verkauft... Auf diesen Einwand sind die Verleger gefaßt. Sie haben nun einmal einen Beruf, unter dem sich der Außenstehende nichts vor­ stellen kann. Oder nur etwas Falsches. Es ist auch wirklich ein verdächtiger Beruf, zumal man ihn meist nicht ordnungsgemäß er­ lernt und ergreift (obwohl dazu heutzutage alle Ausbildungsmög­ lichkeiten bestehen), sondern von ihm ergriffen wird. Cotta war Advokat, ehe er sich zu seiner berühmten verlegerischen Lebens­ aufgabe entschloß, Bettuch Legationsrat, Campe Schulmann, Fröbel Professor der Mineralogie, Brockhaus Inhaber eines Manufaktur­ warengeschäftes. Auch unsere Zeit würde zahlreiche Beispiele da­ für liefern, daß gerade sehr berühmte Verleger von verlagsfrem­ den Berufen hergekommen sind. Das sieht nun fast so aus, als ließe sich der Absprung in den Verlegerberuf von irgendwoher vollziehen, als könnte man Ver­ leger werden über Nacht. Auch von Büchern, die über Nacht be­ rühmt werden, liest man ja mitunter, ihre Verfasser seien vordem nie schriftstellerisch tätig gewesen. Wenn man näher zusieht, stellt es sich anders dar. Vielleicht hatten jene Autoren noch nie eine Zeile geschrieben, das mag sein. Aber ihr poetisches Gefühl, ihre schöpferische Anschauung, ihr dichterisches Sein war schon lange vorgebildet. Und darauf kommt es an! Man muß erst etwas sein, um erfolgreich wirken zu können, auch als Verleger. Eine Persön­ lichkeit muß eingebracht werden, das ist das erste. Allen verlegeri­ schen Lebensgängen, so kraus sie begonnen haben mögen, ist dies gemeinsam: Bücher begleiten sie von Jugend an. Der Anruf der 94

Bücher wurde früh gehört und befolgt. Alle großen Verleger sind erst große Leser gewesen. Nun gut; aber was tun sie dann da noch so Großartiges mit dem erworbenen Manuskript, da sie doch nicht mal eigene Buchdrudcmaschinen haben? Sie tun dasselbe wie ein Architekt. Der Ardiitekt besitzt selber auch keinen Zement, keine Ziegelsteine, keine Fensterläden, Dach­ platten, Heizkörper, Waschtische, Fußböden, und baut doch Häu­ ser. Er baut sie nicht mit eigener Hand. Er bedient sich dazu der Maurer, der Schlosser, der Schreiner — vieler Gewerbe. Er persön­ lich hat das Haus sozusagen nur im Kopf. Zuerst nur ganz all­ gemein, ob hochstrebend, ob langgestreckt, ob städtisch-räumlich, ob ländlich-heimelig, zuletzt aber bis in jede Einzelheit. Und dann sorgt er, der Architekt, dafür, daß dies also ausgedachte Haus Ge­ stalt annehme, wachse und dastehe, so daß man es sehen und nutznießen kann. Ebenso der Verleger. Er druckt nicht, er bindet nicht. Er hat ein Buch im Kopf, und dem verhilft er zur Wirklichkeit, zu Leben und Wirkung. Man kann also den Verleger einen Bucharchitekten nen­ nen. Wie nun der Hausarchitekt sehr ausgebreitete Kenntnisse be­ sitzen und die mannigfachsten Gewerbe verstehen muß, um sich ihrer zu bedienen, so auch der Bucharchitekt. Denn auch das Buch hat Mauern, die Buchdeckel, die nicht standhalten, wenn sie falsch berechnet sind; auch das Buch hat seine technische Installation; auch das Buch hat seine Fassade und seine Inneneinrichtung, die uns ansprechen sollen. Von allem Geistigen ganz abgesehen, ist das Buch also ein Bauwerk und gar kein so einfaches. Nehmen wir ein Buch zur Hand. Zunächst besteht es augen­ scheinlich aus Papier. Innendrin ist weißes Papier und außenherum farbiges. Sie meinen vielleicht, es sei allenfalls noch eine gewisse Kunst, was für ein farbiges Papier, was für einen Farbumschlag der Verleger für ein bestimmtes Buch auswählt. Aber das weiße Papier erfordert viel größere Kenntnisse. Es gibt zahllose Papiere, die alle gleichermaßen weiß erscheinen, und doch würden wir uns 95

bedanken, träfen wir in ein und demselben Buch nur zwei von diesen Weißpapieren gemischt an. Unser Auge würde sich em­ pören, denn jetzt merken wir es: Weiße Papiere sind ja die aller­ ungleichsten von allen. Man wird aus dem Kopf jede andere Far­ be leichter erraten und treffen können als dieses scheinbar so simple Weiß. Und dann diese Unterschiede der Körperlichkeit, der Dicke! Ich meine jetzt gar nicht besonders dicke Papiere, nur die, an die wir denken, wenn wir sagen, es sei etwas papierdünn. Dem Auge erscheinen die Papiere unserer Bücher alle schlechtweg papierdünn. Aber legen wir einmal verschiedene Stöße verschiedener papier­ dünner Blätter aufeinander: Ganze Treppen entstehen da! Nun male man sich aus, was dem Bucharchitekten widerfährt, der sich ein schmales Versbändchen gedacht hat aus dünnem Papier, und nun ist’s das falsche dünne Papier, und das Buch wächst und wird dick wie ein Adreßbuch. Ein Adreßbuch voller Lyrik, man denke! • Viel Erstaunliches ließe sich vom Papier sagen. Denn so gedul­ dig, wie es das Sprichwort macht, ist es beileibe nicht. Es streckt sich vielmehr, bäumt sich, staubt, bricht und benimmt sich äußerst widerspenstig, wenn es bemerkt, daß der Bucharchitekt meint, der Umgang mit ihm, dem Papier, sei keine Kunst. Sie haben sicher schon zu Ihrem Verdruß Bücher in die Hand bekommen, die sich werfen, als hätte man sie im Regen liegen lassen. Man hat das aber keineswegs; es ist etwas Inneres. Solche Bücher sind in der falschen Laufrichtung gearbeitet. Dieses geheimnisvolle Papier also, der Buchkörper, ist bedruckt. Es gibt da nicht nur die sogenannte Fraktur, und die Antiqua, es gibt unzählige Schriften, die wie Äpfel oder Tulpen Namen haben, Züchternamen sozusagen. Die Weiß, die Koch, die Unger, Bodoni, Garamond, Didot, Post und so weiter. Zwischen all diesen Schriften gilt es zu wählen, damit der Verleger die dem Inhalt des Buches entsprechende leichte, schwere, elegante, wissenschaftliche Schriftart herausfindet. Nicht genug sind alle diese Schriften in Grade einge­ teilt wie die Soldaten, in kleine und große, in Mannschaftsgrade und Offiziersgrade, mit Auszeichnungen aller Art geschmückt; 96

und es bedarf geradezu Generalstabskenntnisse, um den Aufmarsch der Kolumnen und Titelanführer so zu bestimmen, daß der Um­ fang und die Harmonie dieser Letternschlacht richtig berechnet sind. Wobei ich noch gar nicht von den Abbildungen sprechen möch­ te, deren Wiedergabe durch Druckstöcke, Druckfilme und Repro­ duktionsarten zu beherrschen ein Menschenleben kaum hinreicht. Ist nun das bedruckte Papier, der Buchkörper, geschaffen, so stoßen wir auf eine weitere verlegerische Aufgabe: die Schaffung des Einbandes. Wann dürfen wir mit ihm zufrieden sein? Unter­ suchen wir dies. Der deutsche Bücherfreund betrachtet nur Gebun­ denes als Buch. Denn er will nicht nur durchlesen, er will besitzen. Deshalb bevorzugt er auch den dauerhaften Leinenband. Legen wir das Buch auf den Tisch und öffnen wir den Deckel, die Haus­ tür sozusagen. Geht sie spielend auf? Bleibt sie offen stehen, wenn man es verlangt? Liegt sie dicht an, wenn wir sie wieder schließen? Blättern wir mit dem Daumen in den Seiten. Schlagen sich die Seiten weit genug auf, so daß man die Druckzeilen auch im Innern des Buches bequem lesen kann? Und wie nun, wenn wir während des Lesens abgerufen werden und wünschen, daß unser Buch an der betreffenden Stelle aufgeschlagen auf dem Tisch liegen bleibt? Auf folgende Weise kann das geschehen: Wir streifen mit dem Finger ein paarmal über den Falz, in dem sich die Buchhälften treffen. Wenn das nicht genügt, dann liegt ein Konstruktionsfehler vor. Auch wenn sich das Buch nach dem Lesen verzogen hat oder wenn es sich nur mit Gewalt öffnen läßt, wenn man es hat sozu­ sagen an beiden Ohren nehmen und nach hinten auseinander drükken müssen, wobei es womöglich auseinandergebrochen ist — in allen diesen Fällen fehlt es irgendwo. Es fehlt an der Buchbinde­ kunst. Vielleicht fehlt es nicht nur da; vielleicht ist der Fehler bereits bei der Druckkunst oder bei der Papierkunst vorgekommen. Denn der Buchbinder kann seine Buchmauern ja erst aufstellen, wenn das Innere des Buchhauses schon fertig ist. Er baut das Haus sozusagen um die fertige Wohnung herum, hat es also bedeutend schwerer als 97

ein Maurer. Deshalb sagt der Buchbinder so oft, er sei nicht schuld. Aber schuld ist bei jeder Bauerei, wir wissen’s doch, immer der andere, und es muß eine Instanz geben, die fachmännisch entschei­ den kann, wo die Ursache eines Fehlers liegt. Diese Instanz ist eben der Architekt. Er wird sich womöglich gestehen müssen, daß er sel­ ber die Ursache des Fehlers ist. Hat der Bucharchitekt etwa vorge­ schrieben »gerader Rücken überklebt" und es ist ein umfangreiches Buch, dann kann die beste Buchbinderei nichts dafür, wenn dieses Buchhaus auseinanderbricht. Derlei Bücher gehören gehülst! Was ist denn das: »gehülst“, »überklebt“? Tun wir einen Blick in die Buchmechanik. Ja blichen wir hinein, indem wir ein Buch mit bei­ den Händen ganz öffnen, in Augenhöhe führen und in den Kanal äugen, der sich am Buchrücken vor uns auftut.

Vorne am Kanalrand ist zunächst ein farbiges Stoffrändchen auf­ geklebt, das Kapitälchen. Es will eigentlich verhindern, daß wir hinter die Kulissen blicken. Es ist aber auch ein Schmuck und wird von liebevollen Bucharchitekten sehr fein zum Einband und zur Schnittfarbe abgestimmt. Wie wenige Leser sind es, die das be­ merken.

Hinter dem Kapitälchen folgt ein unansehnlicher Papierstreifen. Er deckt den Gazestreifen zu, auf den die Bogen des Buches fest­ geheftet und geleimt sind. Diesen Gazestreifen sieht man deutlicher an einer anderen Stelle des Buches: wenn man vorne oder hinten den Buchdeckel aufschlägt, dann zeichnet er sich unter dem Papier­ blatt ab, das den Deckel überzieht und mit dem Buchblock zusam­ menhängt, dem sogenannten Vorsatz. Statt des Papierstreifens, der nur eine Kanalseite verkleidet, kann eine vollrunde Papierhülse den Buchkanal überziehen. Dann also ist das Buch nicht überklebt, sondern gehülst und haltbarer. Denn dann hängt das Buchinnere nicht nur durch den oben erwähnten Gazestreifen und Vorsatz mit dem Buchäußeren zusammen, sondern findet einen weiteren Halt am Buchrücken. Dann schlagen sich auch die Buchseiten viel an­ genehmer auf und zu. 98

Der Käufer wundert sich oft über gewisse Preisunterschiede zwischen Büchern: Er achte nur einmal auf solche Dinge! Denn ein schlechter Leinenband kann billiger hergestellt werden als ein ge­ pflegter Pappband; dieser wird aber auch dauern, jener uns nur dauernd verdrießen.

Wir unterhalten uns hier gewiß nicht, um Buchbinder zu wer­ den. Aber wir mußten einmal erfahren, daß allein zum Binden mindestens zwölf Arbeitsgänge erforderlich sind, damit wir uns ausmalen können, wieviele Hände und Augen auf ein Buch haben achten müssen, ehe es Gestalt gewonnen hat. Der Dirigent dieser Kräfte ist der Bucharchitekt, den niemand nennt. Denn die Buch­ architektur wiederum ist nur eine von vielen Aufgaben des Ver­ legers. Sie werden jetzt schon müde sein. Ja, es ist ein langer Weg vom Manuskript bis zum fertigen Buch. Er würde uns noch durch viele Gebiete führen, bis wir aufatmend dort angelangt wären, wohin das entstandene Buch will: in unseren Bücherschrank. Denn Bücher sind keineswegs nur zum Lesen da. Die bloße Anwesenheit von Büchern bewirkt eine behagliche Steigerung unseres Wesens. Bücher haben gewissermaßen eine Ausstrahlung, sofern sie einer solchen ihr Dasein verdanken. Ein aus der Liebe von Autor und Verleger geborenes Buch (am schönsten, wenn es aus der Liebe zwischen Autor und Verleger entstand) steckt einfach an. Die erregendsten Augenblicke im Autorenleben sind die, in denen das erste fertige Exemplar eines neuen Buches eintrifft. Dem Ver­ leger geht es nicht anders. Obwohl er ja den ganzen Werdegang ausgedacht, mitgemacht und überwacht hat, so daß ihn, sollte man meinen, nichts mehr überraschen kann, ist es doch jedesmal eine große Überraschung, wenn das, was vor wenigen Monaten nur Plan und Absicht war, jetzt fertig vor ihm liegt. Ich habe sehr gefaßt erscheinende Verlegerpersönlichkeiten in diesem Augenblick aufgeregt das Schutzpapier aufreißen sehen, in das jedes Buch von der Binderei eingeschlagei. wird, und habe an mir selbst und an­ 99

deren fliegende Hitze beobachtet: so sehr vermag einen leiden­ schaftlichen Buchmacher der Anblick des ersten Exemplares zu be­ wegen. Er hält es dann ganz zart in Händen, viel zarter als ir­ gendein Leser es jemals halten wird, und zögert, es aufzuschlagen. Erst betrachtet er, ob der Schutzumschlag richtig sitzt, hält das Buch von sich, um zu prüfen, wie es wohl im Schaufenster wirkt — ob­ wohl er diese Prüfung beim Entwurf schon mehrfach durchgeführt hat und obwohl es doch jetzt auf jeden Fall dafür zu spät wäre —, dann betrachtet er den Farbschnitt, bläst ein paar Papierfäserchen weg, visiert das Buch ab, als müßte er damit schießen (und schließ­ lich hofft er ja auch, daß es zündet und einschlägt), und endlich, endlich schlägt er es auf. Er schlägt es nicht auf, wie man es meist in Buchläden geschehen sieht, irgendwo; Menschen, die mit dem Daumen darauf loswüten, sind einem richtigen Verleger gräßlich. Er schlägt es beim Titel auf, eigentlich beim Vortitel, wo oft das Verlagssignet untergebracht ist, die stolze Kennmarke des Hauses; dann erst liest er das eigentliche Titelblatt, obwohl er es ja aus­ wendig kennt, und prüft auch da wieder, ob es wohlgeraten. End­ lich wagt er in die Seiten vorzudringen und ein wenig zu blättern. Dies ist der dramatische Höhepunkt der Handlung, denn jetzt wird sichs zeigen! Was wird sich zeigen? Der Druckfehler. »Aber beim nächstenmal soll mir das nicht wieder passieren!“ so schwört der Verleger, so schwört der Autor. Nicht nur der Druckfehler wegen. Jedes Buch hat Fehler, und je eifriger wir nach Qualität streben, desto deutlicher treten sie hervor. Es hat etwas Großartiges und zugleich Rührendes, dieses unbeirrbare »aber beim nächsten Mal“. Wie bei einer unablässig um die Erziehung ihrer Kinder bemühten Mutter ist es gesagt. Echte Bücher sind eben nicht irgendwelche Produkte, die »gemacht“ werden; es sind Wesen, die wie lebendige entstehen. 1953

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Über das Werden eines Bilderbuches Nele war zehn Monate alt, als sie alle Zeichen des Entsetzens von sich gab über ein Etwas im Zimmer, das wir mitleidenden Eltern lange nicht auszumachen wußten. Wir suchten ihren ze­ ternden Vogelschrei, ihren stierenden Blick zu beschwichtigen, meinend, es sei etwas Inwendiges, bis wir feststellten, daß Neles Protest einer an der Wand hängenden Zeichnung galt. Nicht daß diese Zeichnung an sich zum Fürchten gewesen wäre. Es handelte sich vielmehr um eine liebevoll zarte Arbeit unseres Ernst Penzoldt. In der er mit kaum abgeschatteten Konturen Christi­ ane zur Darstellung gebracht hatte, als sie sich im nämlichen Säug­ lingsalter befunden wie jetzt ihr Schwesterchen Nele. „Liebes Kind“, so hatte der Onkel Penz damals geschrieben, „Liebes Kind, Du mußt nicht weinen, Wenn die Nacht auch lang und finster ist, Überm Dache Mond und Sterne scheinen, Und vom Himmel schaut der heilge Christ. Freilich flüsterts manchmal auf dem Gange, Und es redet jemand im Kamin, Und es wird Dir vor dem Bösen bange, Fremde Schritte tappen her und hin. Manchmal gucken Geister durch das Fenster — Doch Du mußt darauf nicht weiter achten! Sei getrost, die Dich im Schlaf betrachten, Freun sich Deines lieben Angesichts: Es sind Engel, freundliche Gespenster, Und die tun Dir nichts!“ Solcherart ist die Zeichnung, und flüchtigen Betrachtern könnte sie heute wie ein Porträt Neles erscheinen. 101

Man mag darüber sinnieren, ob sich Nele in dem Bildnis vor dem eigenen Selbst oder vor dem zum Fürchten Ähnlichen er­ schreckte. Unzweifelhaft war es aber — wir probten es aus —, daß sie die Zeichnung als solche meinte, nicht etwa das spiegelnde Glas oder eine gaukelnde Fliege; und sie gewöhnte sich erst nach Wochen an das schreckliche Phänomen. Dieses Erlebnis widerspricht der landläufigen Überzeugung, nach der ein Kind vor vollendetem zweiten Lebensjahre Abbilder aufzu­ fassen nicht fähig sei. Es ist nicht anzunehmen, daß Nele, die sich sonst völlig säuglingshaft verhält, in diesem Punkte Frühreife ver­ riete, ebensowenig wie man Kinder, die mit zehn, ja mit acht Mo­ naten laufen, bei allem Erstaunen als Wunderkinder ansprechen würde. Es ist aus diesem kleinen Erlebnis vielmehr zu schließen, daß das Bilderschauen ganz allgemein viel früher einsetzt, als man gemeinhin annimmt, und daß es sich dabei nicht um überentwickel­ te Kinder, sondern um unterentwickelte Beobachter handelt. Wie denn bei aller Kindererziehung ja vor allem auch die Erwachsenen erzogen werden. Jedenfalls schien es uns wider Erwarten an der Zeit, für Nele auf ein Bilderbuch zu denken, in dem sie das, was sie er- und begriff, ins Abbild übersetzt, wiedererkennen und sich von innen her zu eigen machen könne. Nach einem solchen ersten Buch fahndeten wir indessen, auch außer Landes, vergeblich. Natürlich gab es manche unzerreißbare Bücher mit Ball, Teddybär und Kinderrassel. Wieso denn eigent­ lich mit Hartnäckigkeit immer gerade sie, die doch ein Kind längst abgelegt, wenn es sich mit Bildern beschäftigt? Auch andere Un­ stimmigkeiten in der Wahl oder vielmehr Wahllosigkeit der ge­ zeigten Gegenstände fielen uns auf. Vor allem: daß es nur leblose Gegenstände waren, als mache ein Kind sich nur Dinge zu eigen und hätte keinen ersten Blick für Mutter und Mensch, für Tier und Blume. Das erste: Was ist es denn, worauf ein Kind mit den Au­ gen anspricht? Doch das Licht. Müßte es also nicht auch in einem ersten Buch ein Hell und Dunkel geben? 102

Von der Auswahl der Gegenstände ganz abgesehen, enttäuscht aber auch die Aufmachung und Darstellungsweise der meisten ver­ fügbaren Kleinkinderbücher. Daß sie möglichst billig zu sein sich bestreben, mag man mit der Absicht entschuldigen, sie jedermann zugänglich zu machen — obwohl der Aufwand an Kinderwägen und Kinderausstattungen gerade in den wenig bemittelten Kreisen für die Bereitschaft spricht, daß für ein Kind das Beste gerade gut genug sei. Aber verlangt diese Billigkeit des Preises wirklich billige, um nicht zu sagen miserable, lieblose, schreiende Farben und grob­ naturalistische Darstellungen in einem Format, das die kleine Hand doch gar nicht blättern und das Kinderauge doch gar nicht auf­ fassen kann? Alle frühen, unverbildeten Kinderzeichnungen spre­ chen gegen das Grobnaturalistische; und wenn sie noch so sehr die Freude am Bunten verraten, so doch nie am grellen Knalleffekt. Auch wenn man also darauf verzichten will, das Kind künst­ lerisch oder — vorsichtiger gesagt — geschmacklich zu bilden und ihm im Buche nur seine angeborene Kinderlust zu bestätigen sucht: warum dann diese überdimensionierten und vergröberten Papp­ kataloge einer grobgeschminkten halben Welt? Man kann so ein kleines Kind freilich nicht ausfragen, was ihm gefällt. Daher rührt es wohl, daß auch größere nicht gefragt, sondern mit vorgefaßten Meinungen bedient werden. Ein sehr reiches Beispiel lieferten dafür in der Schweiz die Globibücher, ursprünglich Gratisgaben der Glo­ bus-Warenhäuser, die die Herzen der Kinder so eroberten, daß Eltern und Buchhändler — sie mochten diese Globibücher noch so mäßig finden — gezwungen waren, ihren Kindern Dutzende von Folgebänden zu schenken. (Wir auch!) Dies alles vorausgeschickt zur Erklärung, warum wir Eltern es für notwendig erachteten, für Nele und damit vielleicht für viele Nelen der Welt ein eigenes erstes Buch zu machen. Bei Verlegern liegt es ohnedies nahe, daß sie sich Bücher, die es nicht gibt, selber herstellen. Es handelte sich dabei nicht um die Hinterabsicht, »mit Bilderbüchern ins Geschäft zu kommen“, — zumal es an Bilder­ büchern für fortgeschrittene Kinder ganz ausgezeichnete gibt, sogar 103

in allernächster Nähe —, sondern darum, einen in der eigenen Familie empfundenen Mangel abzuschaffen, so gut wir es ver­ möchten. Was sollte also besagtes Wunschbuch enthalten, wie sollte es aus­ sehen, welcher Künstler sollte es schaffen? Der Inhalt durfte sich, wir sagten es schon, nicht auf Spielzeug­ sachen und Gebrauchsgegenstände beschränken, sondern mußte ver­ suchen, die ganze Kleinkinderwelt einzubeziehen, und dies gerade vielleicht wegen der gebotenen Beschränkung und Auswahl nicht im wahllosen Durcheinander, sondern in einer sinnvollen Anord­ nung. Kinder sind freilich von der Einsicht in Ordnung weit entfernt, und auch bei Erwachsenen ist oft der Überlegteste Aufbau eines Sammelbuches vergebene Liebesmüh, dieweil man doch nicht Seite um Seite folgt, sondern beliebig blättert. Aber für die Abfassung eines Auswahlbandes ist es jedenfalls dienlich, einen festen Plan zu verfolgen, und deshalb schien uns des Kindes Tageslauf eine gute Richtschnur für das gedachte Nelebuch. Vom Erwachen bis zum Schlafengehen: in diesem Zirkel lebt das Kind. Dieser Vorsatz führte zu der Frage, ob dieser Gang vom Hellzum Dunkelwerden nicht durch ein beglänztes und ein nächtliches Fenster oder unmittelbar durch Sonne und Mond darzustellen sei, wodurch zugleich eine Ahnung vom großen Kosmos in das kleine Buch einzöge. Die eigentliche Wohnstatt des Kindes, das Bett, das Zimmer, der Wagen, das Haus und damit auch das Draußen, der Baum, die Blume, das Tier — warum sollte es sich das nicht auch im Buche zu eigen machen? Der Hund, den es bellen hört, der Vogel, der ihm singt, die plaudernden Eltern und Geschwister: Beschäftigen sie das Kind nicht ebenso sehr wie Puppe und Bär? Daß es im täglichen Umgang Kleidungsstücke, Waschzeug, Eß­ geschirr auffaßt und daß diese Sachen daher ihr Abbild finden müs­ sen, verstand sich: Aber gehörten nicht das gewachsene Brot, das 104

wolkengeborene Wasser, der wärmende Ofen, Haar und Wolle dazu? So entstand eine Wunschliste, die sich freilich als zu umfangreich erwies, sich aber von der künstlerischen Darstellungsmöglichkeit her reinigen mochte, sobald erst der Künstler gefunden war. Schon bei der Themenauswahl waren wir auf die grundsätzliche Überlegung gestoßen, wie weit das Buch liebevoll altmodisch oder entschlossen modern zu planen sei. Wir persönlich neigen zum Beispiel sehr zu Zuckerhüten und sind entzückt über jene Bilder, in denen sie neben Lichtputzscheren, Stiefelknechten und anderem altväterlichen Hausrat aufmarschieren. Wir traten auch diesmal, wie immer, wenn wir Bücher machen, vor unsere Vitrine, in der neben Biedermeiertassen, Barockgläsern, Zinnfiguren, Hinterglas­ bildern, Glückwunschkarten, Münzen und allen möglichen Rari­ täten und kuriosen Nichtigkeiten auch einige besonders anmutende alte Bücher zur Schau gestellt sind. Es wird einem warm ums Herz, wenn man in ihnen herumblättert, und sie haben einem jedesmal wieder etwas Neues zu sagen.

Wir hatten erst einen Band Bertuch hervorgezogen, aus der statt­ lichen Reihe jener naturwissenschaftlichen, illuminierten Kupfer für die Jugend. Doch war es ein viel kleineres und unscheinbareres Bändchen, das unser wartete. Zwar ging es ebenfalls über die Altersstufe, die wir im Auge hatten, hinaus, da es vor hundert Jahren in der Elementarklasse der Leipziger Bürgerschulen einge­ führt war. Dennoch bestimmte es den Fortgang unserer Über­ legungen.

Es überzeugte uns von der Richtigkeit eines handlichen Formates (wir entschieden uns für ein Seitenformat von 150x210) und auch davon, daß statt eines übergroßen Bildes pro Seite zwei klei­ nere Abbilder anregender und hübscher wären. In der Vorlage war sogar trotz des kleinen Oktavformates eine Vierteilung der Seite vorgenommen, was reizend aussah und auch Kleinkinder entzückte. Es ist durchaus irrig zu glauben, daß das Kind kleine Darstellun­ 105

gen übersieht, sehr häufig bevorzugt es sogar etwelche Winzig­ keiten. Das Bürgerschulbüchlein wurde so für uns selber zu einem Ele­ mentarbuch. Ihm verdankten wir ferner den Entschluß, den Abbil­ dungen die Bezeichnung beizusetzen: Tisch, Stuhl usw. — zunächst nur, weil sich das graphisch so nett ausnahm, nicht etwa, um Nele zum vorzeitigen Lesen zu erziehen, dann aber doch auch mit dem Hintergedanken, daß es ja nichts schaden könne, wenn sich das Kind Abbild und Schriftbild gemeinsam einpräge und es ihm so in Fleisch und Blut überginge, daß schreiben und zeichnen im Grunde dasselbe ist. Und sollte das Buch so schön ausfallen, wie wir es uns dachten, würde Nele ja auch im Lesealter ein gewisses herablassendes Vergnügen dafür empfinden, und noch als Groß­ mutter sollte es sie rühren. Denn wer Bücher liebt, wünscht sie sich so, daß sie geeignet seien, das ganze Leben zu begleiten. Woran lag es eigentlich, daß dieses Bürgerschulbüchlein, das ein namenloser und schlichter Holzschneider ausgeführt und eine unge­ übte, billige Kraft angepinselt hatte, so echt und innig wirkte, da­ gegen so manches unserer mit großem Aufwand an Farben, Ma­ schinen und Kunstmalern hergestellten Bilderbücher so laut und verlogen? Es lag sicher nicht allein am besagten Zuckerhut und der Lichtputzschere, die wir längst entschlossen waren gegen heutigere Dinge zu vertauschen, ja, auch ein Auto sollte nicht fehlen, zumal viele Neles damit in die Welt gefahren werden. Es lag natürlich an der Gesinnung und am Geschmack jener Zeiten, ein bißchen aber auch am Reiz der Holzschnitt-Technik. Wenn man etwas schlicht, sachlich und doch innerlich bewegt sagen will, gibt es auch im Zeit­ alter der photochemischen Reproduktion nichts Schöneres als den Holzschnitt. Und damit stand für uns auch der Künstler fest, der den Plan verwirklichen sollte: der Holzschneider Alfred Zacharias. Ein Künstler unserer Zeit, aber einer, der durch die Abstraktionen sei­ ner Sturm- und Drangjahre zu einer seelisch erfüllten Gegen­ ständlichkeit gelangt war; ein alter Freund noch überdies; einer, 106

der selber Kinder hat und zwar in dem Sinne, daß er sich mit ihnen von klein auf beschäftigt (denn manche Väter haben ja die Kinder gar nicht, die sie haben); zu allem Überfluß noch kunst­ pädagogisch tätig und als Buchschöpfer rühmlich erprobt. Unter seiner Hand geht das Buch, dessen Linie deutlich ist, das aber im einzelnen noch mancher Überlegung bedarf, der Vollen­ dung entgegen. Einen ersten Entwurf hat Nele zerfetzt; wir ließen es uns gesagt sein. Aber schon dem zweiten bezeugte sie ihre Gunst, indem sie Guckuck-Dada mit ihm spielte. Daher soll es „GuckuckDada“ heißen, dieses Bilderbuch der Allerkleinsten. 1949

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Für wen schreiben Schriftsteller Die Schriftsteller — darunter versteht Kürschners »LiteraturKalender“ alle Schreibenden, die mit Büchern hervorgetreten sind. Damit werden die nur in Zeitungen und Zeitschriften Publizieren­ den als sogenannte Tagesschriftsteller ausgeschieden, und das ließe vermuten, daß alle anderen Schriftsteller für die Ewigkeit schrei­ ben. Wenn man vierzehn ist, ist dieses höchste Ziel das natürliche. Man ahnt noch nicht, was es bedeutet, und darf sich zutrauen, ein Meister zu werden, der nur seinen Gesetzen folgt. Aber wenn man vierzig ist und hat die ewigen Maßstäbe und seine eigenen Gren­ zen noch nicht erkannt und nicht gelernt, seine bedingte Begabung statt an den unsterblichen Lorbeer an sterblichere, aber dienliche Pflanzungen zu wenden, dann entsteht jenes Mißverhältnis zwi­ schen dem Schriftsteller und dem Leser, das so oft zutage tritt. Goethe sagt einmal, die deutschen literarischen Talente, so zahl­ reich und so beachtenswert sie an sich wären, kämen deshalb nicht zur Entfaltung, weil sie beständig das Thema verfehlten. Gemeint ist: Statt sich zu bescheiden, ihre Darstellungskraft an die Themen dieser Erde zu wenden, denen und in denen sie gewachsen sind, zielen diese Talente nach den Sternen und treffen damit ins Leere. Soll das ferner bedeuten, daß der Schriftsteller davon auszu­ gehen hätte, was man in der Wirtschaft die Bedürfnisfrage nennt? Daß er bei seinem Schaffen darauf spekulieren sollte, was die Mehr­ zahl der Leser verlangt? Das kann es schon deshalb nicht bedeuten, weil jeder schöpferi­ sche Prozeß in der Freude und Unruhe des Herzens seinen Ur­ sprung hat und nicht auf Kalkül beruht. Im Grunde schreibt jeder ernstzunehmende Schriftsteller nicht für, sondern von, von dem 108

was ihn bewegt nämlich, und erst der Wunsch oder auch die Auf­ gabe zu wirken, nötigt ihn, sich so darzustellen, daß er von denen verstanden wird, von denen er verstanden sein will. Wenn es auch schmeicheln mag, wenn dies einmal Millionen sind: Die Forderung, daß jeder Schriftsteller für jeden Leser schreiben müßte, wäre un­ sinnig. Jeder Verleger weiß, daß Bücher, die sich an „jeden“ Bücher­ käufer richten, viel schlechter gehen als jene, die einen festumrissenen Interessentenkreis haben. Die eifrigsten Leser, die ich derzeit kenne, sind meine Kinder. Christiane liest grundsätzlich alles. Bei ihr haben alle Schriftsteller Chancen. Till dagegen verlangt, daß ein Buch spannend sei. Bei ihm habe ich als Autor wenig zu melden. Sollte ich es ihm verübeln? Im Gegenteil, ich lasse es mir gesagt sein, daß wir als Leser allzu­ mal Kinder sind. Wer uns einnehmen will, muß uns fesseln. Das geschieht nicht, indem uns der Autor nachläuft. Das Verlangen des Autors, daß der Leser ihm nachlaufe, ist ebenso irrig. Schreiben und Lesen heißt, sich einander begegnen, sich entgegenkommen, Grüßen und Gegrüßtwerden. Wer niemanden kennen will als sich selbst, kann nicht erwarten, daß man auf ihn sieht. Das gilt für den Schriftsteller wie für den Leser. 1951

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Verleger und Autoren »Was ist eigentli'di Ihr Sohn Ernst geworden?“ wurde mein Vater einmal von einem Geschäftsfreund gefragt. »Verleger“ sagte mein Vater. »Nun“ erwiderte verlegen der Geschäftsfreund »es wird ja auch einmal wieder besser kommen!“ Denn in meiner Heimat versteht man unter Verleger einen Hau­ sierer, der mit einem Stoffballen auf dem Rücken von Dorf zu Dorf zieht. In Oberbayern (und übrigens auch in Berlin!) kennt man dagegen vor allem den Bier-Verleger, der eine Niederlage von Flaschenbier unterhält. Ich schreibe mich daher in Hotels immer lieber als Schriftsteller ein — obwohl das ja auch ein wenig ver­ dächtig klingt — weil man doch noch eher weiß, was ein Schrift­ steller tut, als ein Verleger. Ich selbst war zu einer Zeit schon Ver­ leger, in der ich diesen Begriff noch gar nicht kannte. Ich verlegte von meinem fünfzehnten Lebensjahre an eine Zeitschrift — ganz ordnungsgemäß gedruckt und in beträchtlicher Auflage — und er­ fuhr erst im dritten Jahrgang, daß ich ein sogenannter Verleger sei. Na sowas! Das Wort verlegen bedeutet ursprünglich nur Geld auslegen. Da man als Verleger aber tatsächlich sehr leicht sein Geld auf Nim­ merwiedersehen verlegen kann, hat sich dieses Wort offenbar vor allem an den Buchhandel gehängt. Und daher halten viele die Tä­ tigkeit eines Verlegers für eine vorwiegend kaufmännische. Gerade die freilich unerläßliche kaufmännische Seite des Verlegerberufes aber ist nicht die entscheidende. Man kann daher zwar das Ver­ lagswesen ordnungsgemäß erlernen, wie jeden anderen Beruf; wie weit man es darin bringt, hängt indessen keineswegs nur von prak­ tischen kaufmännischen Kenntnissen ab, sondern vielmehr von einem 110

geistig-künstlerischen Fingerspitzengefühl, das man besser Herzspit­ zengefühl nennen sollte: Denn das Verlegen ist eine Art von Lei­ denschaft, ein tiefinneres Anliegen. Daher haben viele berühmte Verleg?- ihren Beruf nicht eigentlich erlernt, sondern haben ihn als Bert in sich gespürt. Aber ist auch so: Der Geist ist es, der die Bücher schafft. Die modernste Setzmaschine wäre völlig wertlos, und der tüchtigste Setzer ebenso, wenn nicht vorher ein Gedanke gedacht und ge­ schrieben wäre. Aha, wird man sagen, am Anfang ist also der Schriftsteller. Und dann kommt also der Schriftsetzer und der Buchbinder, die machen das Technische und endlich kommt der Buchhändler, der verkauft das Buch. Wozu braucht es dazwischen erst noch einen Verleger? Ich könnte wieder mit einem Vergleich antworten, dies zu er­ klären. Ich könnte auf den Orchesterdirigenten verweisen, der ja auch nicht selber fiedelt und bläst und doch derjenige ist, der das Musikwerk erst zur Erscheinung und Wirkung bringt. Ich will auch nicht damit kokettieren, daß ich z. B. Schriftsteller und Verleger in einer Person bin. Das ist mehr ein besonderer, als ein typischer Fall. Typisch für den Verleger ist aber die geistig-künstlerische Ini­ tiative, die ein Werk beim Schriftsteller oft erst anregt, oder ein bereits geschriebenes Werk innerlich und äußerlich in die Form bringt, in der es als Buch wirken kann. Da kommen oft lesefreudige junge Menschen zu einem und wol­ len Lektor im Verlag werden. Sie stellen sich vor, daß die entschei­ dende Tätigkeit im Verlag darin bestünde, die von Schriftstellern eingesandten Manuskripte behaglich zu lesen und dann von denen, die einem gefielen, zu sagen: Die nehmen wir in Verlag. Allerdings gibt es in jedem Verlag Lektoren, die lesen müssen, was dem Ver­ lag zugeschickt wird. Das ist aber keine behagliche Tätigkeit, son­ dern eine äußerst aufreibende. Zunächst einmal deshalb, weil die allermeisten Einsendungen für den betreffenden Verlag nicht pas­ sen und weil überhaupt die Qualität der Einsendungen sehr zu wünschen übrig läßt. Jeder Lektor nimmt mit Erstaunen wahr, 111

daß das, was von selber an einen Verlag herankommt, nie zu brau­ chen ist. Man glaubt es nicht, wenn man es nicht selber miterlebt hat, wie selten sich unter solchen Einsendungen etwas befindet, was man überhaupt zur Diskussion stellen kann. Ich habe unter 200 Verlagswerken nur zwei, die in der Gestalt erschienen, in der sie mir angeboten wurden, und nur ein weiteres Dutzend, das sich aus solchen Angeboten ergab. Und gesetzt nun auch, der Lektor findet unter den Angeboten etwas heraus, was an sich gut ist, dann kommt erst die schwere und verantwortungsvolle Frage: Ist dieses Gute auch für diesen bestimmten Verlag gut? Daher muß ein Verlags­ lektor die besonderen Möglichkeiten und Absichten seines Verlages durch Jahre hindurch kennen. Denn nur die Verlage können be­ stehen und Gutes leisten, die eine bestimmte Prägung haben, die keineswegs alles verlegen, was ihnen vor die Flinte kommt und wäre es auch noch so gut und aussichtsvoll, sondern die sich be­ stimmte Aufgaben stellen und sie mit Mut, Umsicht und weiser Selbstbeschränkung verfolgen. Von solchen Verlagen sagt man, sie hätten ein Gesicht. Ganz recht: Es sind das eben nicht irgendwelche kaufmännischen Firmen (das gibt es im Verlagswesen natürlich auch), sondern lebendige Wesen. Die Initiative des Verlegers erschöpft sich aber nicht nur darin, die richtigen Autoren zu finden, gute Verlagsideen zu entwickeln, Talente zu fördern und mit alledem also geeignete Manuskripte heranzubringen, sondern nach immer neuen Wegen zu suchen, diese Manuskripte auch zum Erfolg zu führen. Und die Aufgabe, das richtige Buch an den richtigen Käufer heranzuführen, fängt keines­ wegs erst beim Werben und Verkaufen an — eine im Verlag wie bei jedem Unternehmen natürlich sehr wichtige und interessante Tätigkeit — sie beginnt schon bei dem, was man im Verlag »die Herstellung“ nennt. Das Format eines Buches, die Art seines Drukkes, die Papierqualität, der Umschlag, der Einband, die Illustration usw. — von diesen sogenannten Äußerlichkeiten hängt es ganz ent­ scheidend ab, ob ein Buch seinen Weg macht oder nicht. Und daher ist es eine der wichtigsten und nach meinem Geschmadc schönsten 112

Tätigkeiten eines Verlegers, ein Manuskript in die zweckentspre­ chendste und überzeugendste Form zu kleiden. Es gibt dazu so viele Möglichkeiten, daß auch hier wiederum nur ein sicherer Geschmack, das eigne Gesicht also, und eine lange Erfahrung den rechten Weg durch das technische Labyrinth weisen können. »Erster Hersteller gesucht“ ist daher in Verlagsfachblättern eine ständig wiederkeh­ rende Anzeige, ja geradezu ein Schrei. Man muß sich wundern, daß Buchautoren und Buchverleger ein­ ander so oft als Erbfeinde gegenübergestellt werden. Ganze Ro­ mane leben davon, daß sich diese Geistesverwandten den Vorrang streitig machen. Gewöhnlich hat dabei A., ein armer, aber reich­ begabter Dichter, mit seinem Verleger, dem satten B., folgende Aus­ einandersetzung: A: »Überhaupt könnten Sie als Verleger gar nicht existieren, wenn es keine Autoren gäbe, die Werke verfassen; ergo gebührt den Verfassern der Vortritt.“

B: (gelassen) »Werke, deren sich kein Verleger annimmt, existieren praktisch erst recht nicht; sie bleiben ja unbekannt in der Schublade liegen.“ A: »Drucken und vertreiben kann sich ein Verfasser notfalls selber lassen, es gibt in der Literatur dafür allerlei Beispiele.“ B: »Die fast ausnahmslos damit endeten, daß die Autoren ihr Geld zusetzten, ohne Ehre aufzuheben. Dagegen verliefen die Fälle, in denen sich Verleger von Autoren unabhängig machten, ihre Verlagswerke selber verfaßten oder verfassen ließen, meist er­ folgreich. Ja, eine Doktorarbeit über die Initiative des Ver­ legers in der Literatur würde zu Tage fördern, daß ein gewal­ tiger Teil hochberühmter Schriftwerke von deren Verlegern ins Leben gerufen worden ist; ergo stehen die Autoren den Ver­ legern nach.“ A: (gereizt) »In wirtschaftlicher Beziehung allerdings! Soviel ist sicher, daß in den ältesten Zeiten, als es längst weitbekannte Schriftsteller gab, die Verleger noch gar nicht erfunden waren 113

— und was sagen Sie zu diesem historischen Beweis vom Vor­ rang der Autoren?* B: »Daß er falsch ist. Denn seitdem man statt wandernder Rhap­ soden schreibende Dichter kennt, verdanken sie ihre Verbreitung den Verlegern, wie schon Cicero seinem Freunde Atticus aus­ drücklich bestätigt. »Du hast Dich meiner Schrift Ligarius mit bewundernswertem Erfolg angenommen“, schreibt er ihm, »so daß ich Dir alle meine Werke in Verlag geben werde'.* Im Roman werden solche unerquicklichen Unterhaltungen da­ durch beendet, daß ein begütertes Mädchen, womöglich die Tochter des Verlegers selbst, den mittellosen Dichter heiratet, was die Betei­ ligten sicherlich sehr befriedigt, aber die Streitfrage an sich off en läßt, mit der wir uns abzugeben haben. Diese erinnert lebhaft an die Fa­ bel vom Kopf und vom Magen, die einander den Dienst aufsagen. Ich will damit die Verleger nicht rundweg mit dem Magen verglei­ chen, obwohl sie in der Tat viel zu schlucken haben, gerade von Autoren. Wie einnehmend sind diese, solange sie noch jung und unbekannt sind, wie köstlich frischgebacken! Aber ach, wie bald sind sie hartgesotten und schwer zu vertragen! Sie haben vergessen, was der Verleger für sie getan; sie schmeicheln sich der alleinigen Kraft ihrer Worte, glauben keines Beistandes mehr zu bedürfen, ja eigentlich nie eines solchen bedurft zu haben, werden empfind­ lich gegen Ratschläge und störrisch in ihren Forderungen. Junge Autoren geben sich Mühe, als Persönlichkeiten zu gefallen; be­ kanntgemachte erwarten, daß man um ihres Werkes willen ihrer Person alles nachsieht. Aber nicht alle Werke sind so groß wie ihre Verfasser großartig; Daher haben die Verleger die freigewordenen Autoren so gern, nicht so sehr, weil sie dabei Honorare sparen, son­ dern weil hier das Verhältnis von Person und Werk ein unver­ rückbares bleibt. Aber vom Standpunkt des Autors verhält sich das mit den Verlegern ebenso. Dem jungen Verleger ist jedes ein­ zelne Buch ganzer Hingabe wert. Beständig besucht er seinen Ver­ fasser, kümmert sich um den Fortgang des Werkes, läßt es sich in allen seinen Phasen immer wieder vorlesen, spricht Mut zu und An­ 114

erkennung aus, kümmert sich um das Gesamtbefinden des Autors, besorgt Hotelzimmer, Theaterkarten und macht sich in der erdenk­ lichsten Weise gefällig — vom Eifer bei der endlichen Druckle­ gung, Ausstattung und Verbreitung ganz zu schweigen. Sind junge Verleger aber erst zu Verlagshäusem geworden, hört dieser per­ sönliche Kontakt mehr und mehr auf, die Besuche werden seltener und repräsentativer, der Briefwechsel wird unpersönlicher, eines Ta­ ges verschwindet sogar des Verlegers eigene Unterschrift und ein ppa teilt mit. Werden also nicht etwa auch Verleger verdorben wie Autoren, zwangsläufig vielleicht diese wie jene? Und wie steht es dann mit der leidigen Rangstreitfrage? Um darüber zu einem abschließenden gerechten Urteil zu kom­ men,müßteman weder Autor noch Verleger, oder besser noch, Ver­ leger und Autor zugleich sein. Ich schmeichle mir, einen solchen Idealfall abzugeben. Wenn man mich also in dieser meiner Eigen­ schaft als Schriftstellerverleger bzw. Verlegerschriftsteller von ge­ schätzter Seite fragt, wem ich die Krone reichen würde, den Au­ toren oder dem Verleger, kann ich nur aufrichtig sagen: Da dreh ich die Hand nicht um. 1949

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Ich mache meine Bücher selbst Am............................. um........... Uhr plaudert und liest hier im .................................................................................. Ernst Heimeran aus München, von dem man nie weiß, ob er als Verleger oder als Schriftsteller bemerkenswerter ist, denn er hat viele Bücher von internationaler Berühmtheit nicht nur verlegt, sondern auch selbst verfaßt. Wir haben Dr. Heimeran gebeten, uns vor seinem Abend etwas über dieses Phänomen zu erzählen. Unter einem Selbstverleger versteht man gemeinhin einen Autor, den niemand verlegen will, und der sich in seiner Verzweiflung da­ her selber druckt. Manchmal ist es auch nicht die finstere Verzweif­ lung, die zum Selbstverlag antreibt, sondern die stolze Hoffnung, an selbstverlegten Werken mehr zu verdienen. Endlich gibt es noch jene selbstlosen Selbstverleger, die sich ihre Werke nur drucken lassen, um sie zu verschenken. Obwohl sich in jeder dieser Kategorien, allerdings selten mit Er­ folg, auch sehr namhafte Autoren versucht haben — zum Beispiel Klopstock und Goethe —, hört es doch eigentlich niemand gern, wenn man ihn einen Selbstverleger tituliert. Es klingt noch frag­ würdiger als Privatgelehrter; denn die Selbstgelehrtheit macht we­ nigstens keinen Anspruch auf fremde Teilnahme, die Selbstverlegtheit aber wohl. Ich jedenfalls betrachte gelegentlich vorkom­ mende Bestellungen, die an den Selbstverlag Heimeran adressiert sind, mit Unbehagen und trug daher anfänglich große Bedenken, nun gar in aller Öffentlichkeit wunschgemäß darüber zu sprechen, daß ich mir meine Bücher selbst mache. Abgesehen von dem pein­ lichen Eindruck der Selbstbeweihräucherung, den ich damit bei mei­ nen Lesern hervorrufen könnte, müßten sich auch meine Autoren 116

— es sind immerhin einige Hundert — an mir ärgern, wenn es so herauskäme, als betrachtete ich mich selbst als mein eigentliches ver­ legerisches Hauptgericht, alles übrige aber nur als die Beilagen. So muß es mir willkommen sein, mich darüber auszusprechen, was es mit diesem Selbermachen von Büchern, diesem „von und bei Heimeran“, für eine Bewandtnis hat. Zunächst einmal die, daß Schreiben und Verlegen bei mir seit Kinderzeiten so verschwistert sind, daß sich schwer entscheiden läßt, ob das Verlegen oder das Schreiben als die eigentliche Kinderkrank ­ heit zu betrachten wäre. Historisch ließe sich zwar feststellen, daß ich mein erstes richtiges Buch erst vor fünfzehn Jahren geschrieben, meine zweisprachigen antiken Klassiker aber schon vor fünfund­ zwanzig Jahren begonnen habe. Das Finanzamt indessen — und das ist schließlich eine literarisch unbestechlichere Behörde — hat rechts­ kräftig verfügt, daß ich nicht etwa einen Haupt- und einen Ne­ benberuf ausübe, sondern zwei Vollberufe in einer Person. Steuer­ technisch ist das sehr wichtig, wenn es mir auch mathematisch nicht einleuchtet, wie in ein und derselben Person das Volle gleich zwei­ mal Platz haben soll. Ich neige daher viel mehr zu der Auffassung, daß ich der Inhaber zweier Nebenberufe bin. Allerdings verfolgen diese denselben Zweck: Bücher in die Welt zu setzen, die es in dieser Art noch nicht gibt. Romane zum Bei­ spiel gibt es reichlich, daher es zu meinen Verlagsdevisen gehört: kein Roman bei Heimeran! Dagegen gab es zu meiner Zeit nie­ manden, der lateinische und griechische Texte mit der deutschen Übertragung herausgebracht hätte. Und es gab keinen praktischen Führer durch die Streichquartett-Literatur für Hausmusizierer. Und es gab nur Bücher für werdende Mütter, aber keines für werdende Väter. Es gab keinen Steub, keinen Lavater, keinen Ritter von Lang — und soweit ich niemanden fand, der mir diese Bücher ge­ schrieben hätte, schrieb ich sie eben selber. Für wen schreibt, für wen verlegt man nun eigentlich? Doch wohl für die Leser. Aber was heißt das? Wer sagt mir denn, ob die Leser das, was es augenblicklich zwar vielleicht nicht gibt, über­ 117

haupt zu lesen wünschen? Gut, man kann aus gewissen Erfahrun­ gen Schlüsse ziehen und sich spekulativ auf den sogenannten Lese­ bedarf einstellen. Ich habe aber gefunden, daß es anständiger und zudem sicherer ist, davon auszugehen, was man selber lesen und besitzen möchte. Spekulationen können fehlgehen. Echte Neigun­ gen dagegen werden immer von einem Kreis Gleichdenkender, der sich oft als überraschend groß erweist, geteilt, so daß man sagen könnte: Am sichersten verlegt der für die Leser, der für sich selbst verlegt. So gesehen, ist ein Selbstverleger eigentlich der ideale Typ.

Büchermachen ist aber nicht nur ein geistiges und wirtschaft­ liches, sondern vor allem auch ein künstlerisches, ein Formproblem. Es hat Verleger gegeben, die nicht nur die Absatzmöglichkeiten, sondern sogar den Inhalt ihrer Bücher außer acht ließen, so sehr berauschten sie sich an der Schönheit von Schriften, Papieren und Einbänden. Das geht entschieden zu weit, oder richtiger gesagt: Solche Verleger trieben es nicht lange. Aber das andere Extrem, daß Verleger die Ausstattung ihrer Bücher vernachlässigen, sei es, daß sie sich nicht darauf verstehen, sei es, daß es ihnen nur um Billig­ keit zu tun wäre, diese Spielart ist weit verbreitet.

Verlage, die auf sich halten, beschäftigen daher oft namhafte Künstler als sogenannte Ausstatter und unterhalten eine eigene Abteilung, die den komischen Namen »Herstellung“ führt. Aber je mehr solcher Hersteller beschäftigt sind, desto mehr gehen die Geschmäcker auseinander, und wenn diese dann wieder der Korrek­ tur der Verlagsleitung unterliegen, entsteht trotz heißer Bemühung ein unbefriedigender Mischmasch. Daher denn ganz kluge Verlage einem Generalhersteller unumschränkte Vollmacht erteilen, was aber dann von Übel ist, wenn dieser eines Tages in einen anderen Verlag hinüberwechselt: Dann kann man diese beiden Verlage nicht mehr voneinander unterscheiden. Es gab ein, zwei berühmte Schutz­ umschlag-Graphiker, die im Laufe ihrer reichen Tätigkeit Dutzen­ den von Verlagen dasselbe Gepräge gaben: ein zwar edles, aber doch unpersönliches. 118

Da tue ich mir leicht: Ich mache gerade in dieser Beziehung meine Bücher selbst. Nicht daß ich sie nun alle geradezu mit eigener Hand entwürfe! Aber jedenfalls, ehe überhaupt entworfen wird, ver­ suche ich mir, sozusagen mit geschlossenen Augen, vorzustellen, wie ein zum Drude bestimmtes Manuskript als Buch aussehen müßte. Manchmal ist diese Vorstellung ganz klar und manchmal muß ihr auf die Beine geholfen werden (wobei ich dann mit Vorliebe in Büchern des achtzehnten Jahrhunderts nachschaue);aber erst, wenn ich als Verleger weiß, was ich will, wende ich mich an die dafür ge­ eigneten Mitarbeiter. Dieses Sichtbarmachen eines Buches ist für mich die schönste aller verlegerischen Tätigkeiten, und es ist mir durchaus unbegreiflich, wie viele Kollegen sich dieses edelste Verlagsvergnügen abnehmen las­ sen. Denn ich bilde mir ja nicht ein, daß ich’s so besonders groß­ artig verstünde, und es ist noch kaum ein Buch so ausgefallen, wie ich’s mir so herrlich erträumt; aber dieses immer wieder und unter ständig sich verändernden Verhältnissen Von-Neuem-Anfangen ist nicht nur sehr spannend, sondern gibt diesen Arten von Selbstver­ legern das Gesicht. Ist es auch nicht immer das schönste, man kennt es wenigstens heraus. 1949

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Der gepritschte Doppelverdiener »Sie haben es eben gut“, sagte einmal jemand zu dem Schriftsteller und Bildhauer Ernst Penzoldt, »Sie können sich gleich mit zwei Berufen über Wasser halten!“ »Im Gegenteil“, erwiderte Penzoldt, »ich habe es doppelt hart: ich verdiene in zwei Berufen nichts!“ Daran muß ich immer denken, wenn mir Kollegen, seien es ver­ legerische, seien es schriftstellerische, vorrechnen wollen, was ich doch für ein glänzender Doppelverdiener sein müßte! Ich erwidere dann: Passen Sie auf: Als Alleininhaber meines Verlags in der Form einer sogenannten Einzelfirma kann ich mir steuerlich kein Gehalt aussetzen, sondern muß meine Entnahmen aus dem Geschäftsge­ winn bestreiten. Da aber der Geschäftsgewinn, der bei Verlagen meiner Art ohnedies bescheiden ist, bekanntlich größtenteils an den stillen Teilhaber, das Finanzamt, abgeführt werden muß — Sie kennen doch die berühmte Formel, nach der die Gesamtbesteuerung eines Steuerpflichtigen nicht mehr als 90°/o seiner Einkünfte be­ tragen soll —, so bekomme ich als Verleger für meine Cheftätig­ keit so gut wie nichts, arbeite also umsonst. Nun ja, Verlegen ist meine Liebhaberei seit dem fünfzehnten Lebensjahr, und Lieb­ habereien muß man eben bezahlen. Umso mehr bin ich also darauf angewiesen, daß ich wenigstens als Schriftsteller etwas verdiene. Soweit meine schriftstellerischen Auf­ traggeber Zeitungen, Funkanstalten usw. sind, ist das in Ordnung. Da ich indessen für derlei Aufträge nur am Wochenende Zeit habe (so schreibe ich beispielsweise diesen Aufsatz am Samstag­ abend, wo andere auf dem Fasching sind), ist mein Hauptauftrag­ geber mein eigener Verlag, denn in diesem erscheint die Mehrzahl 120

meiner eigenen Bücher (die ich in den Ferien schreibe). Es ist also für mich entscheidend, wie Heimeran, der Schriftsteller, von Heimeran, dem Verleger, honoriert wird. Ich mache mit mir für jedes meiner eigenen Verlagswerke einen Vertrag auf Honorarbeteiligung am Absatz. Das Normalhonorar beträgt 7,5°/» vom Ladenpreis jedes gebundenen oder 10’/» vom Ladenpreis jedes broschierten Exemplars. Da ich nun aber ein Bestseller-Autor meines Verlages bin (ich renommiere gerne da­ mit, daß von meinen eigenen Verlagswerken über eine halbe Mil­ lion Exemplare verkauft sind), so bilde ich mir wie alle BestsellerAutoren ein, daß ich eigentlich auf ein erhöhtes Honorar Anspruch hätte. Mein Verlag verweist mich aber darauf, daß doch gerade ich mit gutem Beispiel vorangehen und mich bescheiden müßte, damit der Verlag in der Lage bleibt, auch Werke zu finanzieren, die kul­ turell ehrenvoll, aber geschäftlich verlustreich sind, wie etwa die zweisprachigen Taschenausgaben der antiken Autoren. Also gehe ich voran und bescheide mich. Ich hätte dann wenigstens gerne gelegentlich einmal einen Vorschuß auf das zu erwartende Absatzhonorar. Aber das kann sich ein Ver­ lag wie der meine nur selten leisten, weil er seine Produktion halbe und ganze Jahre bis zum Erscheinen im voraus finanzieren muß, was ohnedies ein Kunststück ist. Also sehe ich auch das ein und warte unbevorschußt. Ich warte geduldig auf die Abrechnung zum 30. 6., dem Ende unseres Geschäftsjahres. „Zum“ wohlgemerkt, nicht „am“, denn zu­ nächst muß ja Inventur gemacht werden, und mit den verschiede­ nen Lagern im In- und Ausland dauert das einige Zeit. Dann erst kann der endgültige Absatz festgestellt und abgerechnet werden. Diese Abrechnung sieht für mich jedesmal recht hübsch aus, darüber kann ich mich nicht beschweren. Begierig öffne ich die Hand, das ausgewiesene Honorar in Empfang zu nehmen. Das ist nun aber leider dieselbe Hand, die erst die Autoren auszu­ zahlen hat, die vor mir kommen. Das sind zuerst die mit A. Es ist im Leben ein unschätzbarer Vorteil, wenn man mit A angeht. In 121

jedem Adreßbuch steht man damit an der Spitze und auch sonst. Zu meinen A-Autoren gehört da gleich Bruno Aulich, mit dem ich seit dreißig Jahren Streichquartett spiele, was auch zu allerlei ge­ meinsamen verlegerischen Taten geführt hat. Ich gönne es ihm also von Herzen, daß er als erster befriedigt wird. Gerechtigkeitshalber fange ich das Alphabet abwechselnd aber auch von hinten an, mit Z, mit meinem Freund Alfred Zacharias (ganz raffinierter Name: sowohl mit A wie mit Z!), auch ein lieber Freund, der schon vor fünfunddreißig Jahren eine Novelle von mir illustrierte. Kein Wort dagegen! Ich sage nur: ich selber komme jedesmal erst mitten­ drin, ich bin ein Mann der Mitte, wahrhaftig bin ich das und finde das sonst sogar sehr schön. Ich habe schon in der Schule viel für Horaz übrig gehabt und für seine aurea mediocritas, auf die andere verächtlich herabsehen. Aber auf hohe Schlösser kommt ein hoher Donnerschlag, und ich hab‘s halt mehr mit bescheidener, aber fro­ her Häuslichkeit. Ich will also lieber ein bißchen warten, bis ich beim Abrechnen so mittendrin darankomme. Nun macht mich aber mein Verlag darauf aufmerksam, daß ich meinen Autoren gegenüber gewissermaßen die Pflichten eines Gast­ gebers wahrzunehmen habe, der sich auch nicht mittendrin bedient, sondern erst zuletzt, wenn alle haben. Richtig, das erfordert der Anstand. Ich warte also ab, bis alle Autoren von A bis Z oder um­ gekehrt ihr Honorar bekommen haben, und dann erst greife ich für mich in die Kasse. In diesem Augenblick ist aber die Kasse gewöhn­ lich leer. Wieso kann dann die Kasse leer sein, wenn doch alle abgerech­ neten Bücher verkauft sind? Ja, im Verlagswesen ist das sehr merkwürdig. Vielleicht auch anderswo. Bei uns jedenfalls ist Verkaufthaben und Bezahltwerden nicht dasselbe. O nein, es ist ein himmelweiter Unterschied! Ein bißchen Unterschied ist da wohl in allen Geschäftszweigen, ein Unterschied von vier Wochen vielleicht oder von sechs oder viel­ leicht gar einmal zwölf. Ich will nicht ausplaudern, wie das bei uns ist, nicht in allen, aber doch in vielen Fällen. Und gerade unter 122

diesen sind wiederum viele, die menschlich und buchhändlerisch besonders nett sind, so daß man sie nicht mit harter Hand anfassen mag. Also bleibt mir gar nichts anderes übrig, als meine Autorenhand aus der Kasse bis auf weiteres zurückzuziehen und die Rolle eines Finanzministers zu übernehmen, der zugunsten des augenblicklichen Haushalt-Fehlbetrages seine Ansprüche zurückstellt. (Daß es mini­ steriell diese Rolle wirklich gäbe, will ich damit nicht behauptet haben.) Manchmal blättere ich dann gedankenvoll im Verlagsrecht, um herauszufinden, was gegen solche Mißstände künftig zu tun sei. Da heißt es zum Beispiel in Paragraph 22: „Der Verleger ist ver­ pflichtet, dem Verfasser die vereinbarte Vergütung zu zahlen.“ Ha, denkt sich Heimeran, der Schriftsteller, wenn mich Heimeran, der Verleger, nicht ordnungsgemäß bezahlt, dann nehme ich ihm meine Bücher weg und gehe zu einem anderen Verlag; Angebote darauf habe ich schon öfters bekommen! Auch steuerlich wäre das gün­ stiger. Aber leider lese ich dann bei Allfeld oder in anderen verlagsrecht­ lichen Kommentaren, daß Nichteinhaltung des Zahlungstermins den Verfasser nicht zum Rücktritt vom Vertrage berechtigt. Damit ist es also nichts. Ich könnte mich höchstens selber auf die Zahlung verklagen. Aber da lacht mich doch jeder Anwalt aus! Ja, das ge­ samte Rechts- und Steuerwesen lacht mich aus, wenn Heimeran den Heimeran dafür haftbar machen möchte, daß er so dumm ist, sein eigener Verleger und sein eigener Autor zugleich zu sein. Also bleibt mir nichts übrig (wie dieser Aufsatz beweist), als mitzulachen. 1954

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Fachbücher In früher Jugendzeit versuchte ich einmal, eine Fensterscheibe selber einzuglasen, damit die Eltern nicht merken sollten, was ich angestellt. Denn das war schon die dritte Scheibe, die ich in jener Woche mit meiner Armbrust versehentlich erlegt. Ich dachte mir dieses Einglasen höchst einfach, ich hatte es ja wiederholt mit angesehen, wie der Glaser die Scheibe einstiftelte und einkittete, das ging im Handumdrehen. Es kam nur darauf an, genau Maß zu nehmen, und ich besorgte mir denn auch eine Scheibe im allergenauesten Maß. Aber wie schwer fiel’s mir doch, die Gla­ serstifte einzuhämmern, ohne dabei die Scheibe zu treffen, und den Kitt so aufzutragen, daß er den Falz weder zu dünn noch zu dick deckte und sich beim Glattstreichen nicht wieder abrollte wie eine Spirale. Ich brauchte eine Ewigkeit und schwitzte vor Angst; auch die Scheibe schwitzte, kittverschmiert, und als ich sie reinigte, zersprang sie unter der allzu straffen Spannung. So kam am Schluß meine Untat doch ans Licht. Indessen verabreichte mir mein Vater statt der erwarteten Ohrfeige ein Buch und gebot mir, darin ein bestimmtes Kapitel zu lesen. Das sah zuerst ganz nach Straf­ arbeit aus. Dieses Buch war aber eine Einführung ins Handwerk­ liche, und das aufgeschlagene Kapitel belehrte mich aufs genaueste über die Hand- und Kunstgriffe der Glaserei. Seitdem habe ich nicht nur gelernt, mit Fensterscheiben umzuge­ hen — das haben wohl die meisten von uns in den Bombenjahren lernen müssen —, sondern Bücher zu Rate zu ziehen, wenn immer ich etwas angestellt habe oder anstellen will, sei es in Haus und Garten oder in den Häusern und Gärten des Geistes. Sogar meinen Verlegerberuf habe ich nicht erlernt, sondern erlesen und fahre darin noch immer fort. 124

Viele meinen, Fachbücher seien nur für die bestimmt, die dieses Fadi erlernen wollen; hätten sie’s aber erlernt, bedürften sie dieser Bücher nicht mehr, und wer etwas von Grund auf praktisch sich angeeignet, könnte der Bücher überhaupt entraten. Wie lachten hinten im Tegernseeischen die Bauern, als mein Arztfreund, der ein kleines Gut erworben, sich in den Kopf setzte, seine Vieh­ zucht höchstselbst zu betreiben. Ein Studierter, das wird was wer­ den! Nach drei Jahren trug dieser Studierte erste Viehzuchtpreise davon. Woher kam ihm diese Wissenschaft? Aus landwirtschaft­ lichen Fachbüchern. Wo keine Lust und keine Begabung vorhanden sind, da ist frei­ lich weder mit Büchern noch ohne Bücher zu helfen. Man muß auch das richtige Lesen von Fachbüchern erst erlernen, wenn man Nutzen daraus ziehen will. Ich kannte schon zehn Jahre lang ein Werk über Geigenspieltechnik, bis ich eines Tages begriff, daß es mir etwas sehr Wichtiges zu sagen hätte. Ich nehme seitdem jedes Fach­ buch wie ein Vexierschloß in die Hand; es ist sehr spannend her­ auszufinden, ob ich es aufbringe. Wenn es mir gelingt, tue ich unge­ ahnte Blicke in neue Welten. Für mich sind Fachbücher daher viel fesselnder als Romane und Reisewerke, und außerdem ersparen sie mir viel Geld und Zeit. Einer bestimmten Bibliographie zum Bei­ spiel verdanke ich es, daß ich zwei Semester früher promovierte, als vorauszusehen war, und einem bestimmten Werk über Dach­ konstruktionen, daß ich nun alle die Dachschäden nicht mehr habe, die mir Fachleute ohne dieses Buch seit Jahren nicht beheben konn­ ten. Jede Hausfrau, mag sie noch so bewandert sein in der Küche, benutzt und studiert Kochbücher und wird nicht müde, dieses ihr Fachgebiet in Büchern und Zeitschriften fortlaufend zu verfolgen. Sollen die Fachmänner sich von den Fachfrauen beschämen lassen? 1951

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Jugendgarten der Bücher Sie kennen doch sicher auch das schöne Spiel »Dichterquartett“? Man sitzt mit seiner Großmutter und dem Nachbarwolfi oder wem immer um einen Tisch und versucht, die vielen Karten mit Abbil­ dungen berühmter Schriftsteller und der Aufzählung ihrer vier bedeutendsten Werke so in der Hand zu halten, daß einem der Nachbar nicht hineinsehen kann. Hierauf fragt man etwa: »Hast du vielleicht Geibels .Sophonisbe'?“, um den betrüblichen Bescheid zu erhalten: »Nein. Aber gib du mir jetzt von Freiligrath ,Das Ge­ sicht des Reisenden' und den .Löwenritt' und ,Der Blumen Rache'!“ Dann hat der andere ein Quartett. Diese frühe Beschäftigung mit Literaturgeschichte ist von erre­ gendem Reiz und pädagogischem Wert. Ich zum Beispiel habe ihr die lebendige Vorstellung von Uhlands Vatermörder, Chamissos Locken, Scheffels Brille und Theodor Körners Epauletten zu dan­ ken. Wenn sich die literarischen Rangstufen im späteren Leben dann auch etwas anders darstellen als in derlei Dichterquartetten: Die jugendliche Neigung zum Buch haben sie doch bestärkt und gefördert. Denn diese Neigung zum Buch ist keine von den Schriftstellern und Buchhändlern eigensüchtig behauptete und geschürte, sondern ein jedem Kind unserer Welt angeborenes, von den Erwachsenen nur so oft verdammtes und mißleitetes Lebensbedürfnis. Fragen Sie bei uns, wen Sie wollen: Zu jedermanns frühesten und unvergeßlichsten Erinnerungen gehört das Buch. Das Bilderbuch für die Kleinsten wird daher von allen Eltern als eine schöne Not­ wendigkeit anerkannt. Aber schon dabei fängt das elterliche Mißver­ ständnis an. »Die Kinder wollen“, behaupten die Eltern, »möglichst 126

große, möglichst photographisch genaue, möglichst schreiend bunte Bücher.“ Das ist erwiesenermaßen falsch. Die Kinder wollen keineswegs, jedenfalls nicht in Bausch und Bogen, was die Eltern sich einbilden. Das kindliche Auge ist gerade für das empfänglich, wofür erwach­ sene Augen schon abgestumpft sind. Der »Struwwelpeter“ oder das Schweizer »Schellen-Ursli“ waren seinerzeit nach Ansicht der Eltern unmögliche Bücher! Ich habe an meiner Jüngsten im zweiten Lebensjahr das Experi­ ment gemacht; habe sie selber aus verschiedenen Darstellungsarten wählen lassen und habe die in der bevorzugten Art ausgewählten Blätter zu einem Buche vereinigt und verlegt. Nach Ansicht der meisten Eltern ist das Buch viel zu wenig bunt und nicht genügend naturgetreu. Die Kinder aber lieben es. Und dieses zugegeben wohlmeinende, aber vorgefaßte Meinen der Eltern bestimmt auch späterhin allzusehr das, was man Jugend­ literatur nennt, und ertötet in vielen Jugendlichen die angeborene Bücherfreude. Nimmt man dagegen von früh auf seine Kinder in gute Buchhandlungen mit und läßt sie dort, wo ohnehin schon eine behutsame Auswahl waltet, selber wählen, so wird man ihnen und sich den größten pädagogischen Dienst leisten. So geleitete Kinder werden mit sicherem Instinkt nur das wählen, was ihnen ansteht, ohne daß man Angst haben müßte vor „unpassender Lektüre“. Denn wahre Pädagogik ist nicht die vorgefaßte Meinung einer fe­ sten, ausgedachten Form, sondern die Ehrfurcht vor dem immer neuen Wunder Mensch und die Liebe, dieses Wunder wie ein Gärt­ ner zu hüten, auch im Jugendgarten der Bücher. 1954

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Bücher in jedem Zimmer Es gibt Menschen, sehr viele sogar, die weder Bücher besitzen noch Bücher lesen. Das ist nicht weiter merkwürdig. Denn das nutz­ bringende und genußreiche Lesen ist erstens eine Kunst, die gelernt und geübt sein will, und zweitens ein höhere Form von Lebens­ unterhalt als die leibliche, die den meisten Menschen durchaus ge­ nügt. Mögen sie; sie wissen ja nicht, was ihnen entgeht. Es gibt auch Menschen, die besitzen wohl Bücher, lesen sie aber nicht. Das ist schon viel merkwürdiger. Es sind darunter sogar richtige Bücherfreunde, die Bücher kaufen und sammeln, sie jedoch nur aufstellen und sich völlig damit begnügen, daß Bücher da sind. Vielleicht bilden sich diese Bücherfreunde ein, sie würden ihre Bücher eines Tages lesen, kommen aber in Wirklichkeit nie dazu. Auch über diese Spielart möchte ich nicht den Stab brechen. Warum soll man sich, ebenso wie man sich Bilder an die Wand hängt, nicht Bücher an die Wand stellen zur Dekoration, ohne sie weiter zu benutzen? Man »benutzt“ Bilder doch auch nicht, sondern freut sich einfach an ihrer schmudcvollen Anwesenheit. Bücher sehen in jedem Zimmer gut aus, machen es farbig und behaglich. Und dann gibt es drittens noch Menschen, die lesen zwar Bücher, entleihen sie aber nur und trachten selber gar nicht nach Bücherbe­ sitz. Sie behaupten, es genüge doch, Bücher gelesen zu haben; der eigentliche »Nutzeffekt“ von Büchern entspringe doch dem Inhalt. Und dagegen möchte ich heftig protestieren. Was ist zum Beispiel der Nutzen eines Kanarienvogels? Sein Gezwitscher. Genügt es uns, daß wir bei Schultzes oder in einem öffentlichen Tiergarten Kanarienvögel zwitschern hören? So ist es auch mit dem bloßen Nutzeffekt, wenn wir bei Schultzes oder in der öffentlichen Bibliothek Bücher leihweise lesen, nicht getan. Wir 128

müssen mit Büchern leben, wenn sie uns ihre ganze Weisheit und Schönheit offenbaren sollen. Wir müssen sie zu eigen haben, erwer­ ben, um sie zu besitzen. Wenn man aber kein Geld hat, Bücher zu kaufen und keinen Platz, sie aufzustellen, was dann? Das sind freilich gewichtige Einwände, wo sie zutreffen. Und sie treffen leider mitunter zu. Mitunter; meistens wird dieser Einwand aber von Menschen vorgebracht, denen Bücher nicht wichtig genug sind, daß sie sich um ihretwillen irgendeinen vergänglichen Genuß ver­ sagen und sich wegen der Unterbringung ein bißchen Mühe geben wollen. Viele Menschen verlangen, daß sie Bücher förmlich ge­ schenkt und dreinbekommen, und heißen sie teuer, wenn ein Werk, von dem vielleicht Generationen zehren können, ebensoviel kostet wie eine Mahlzeit oder gar wie ein neuer Hut. Wem also unvergängliche Bücher zu teuer sind — im 16. Jahr­ hundert mußte man für ein einziges Buch oft mehrere Stück Vieh opfern —, dem ist nicht zu helfen. Wer sich aber ernstlich Ge­ danken macht, wie er in den Besitz eines wertvollen Werkes kommt, der kann und wird sich am besten selbst dadurch helfen, daß er sich das nötige Geld dafür allmählich anspart. Und dem, der nicht weiß, wie er Bücher unterbringen soll, weil er keinen Platz hat für Bücherschränke, dem kann man mit gutem Rat beistehen. Muß es denn überhaupt ein Bücherschrank sein? Gewiß, so ein Schrank hält die Bücher sauberer als ein offenes Regal. Auch hier braucht man nicht zu übertreiben. Bei dem großen Erasmus von Rotterdam steht geschrieben: »Nicht diejenigen haben die Bücher recht lieb, welche dieselben in ihren Schränken aufheben, sondern welche sie Tag und Nacht in Händen haben!“ Die Entscheidung, ob Bücherschrank, ob offenes Bücherbord, wird also schon aus persönlichen Gründen danach ausfallen, wie nahe man seinen Büchern kommen will; vielleicht leben wir inniger mit denen, deren Atem wir teilen und deren Gesicht uns nicht erst durch ein Glas anschaut. Mit Büchern leben heißt aber nicht, sie nun nur in »dem“ Bücher­ schrank oder »dem“ Regal aufzustellen. Daß wir alle unsere Bücher 129

in einem Zimmer vereinigen wollen, bedeutet vielmehr »Museums­ wahn“. Niemandem würde es einfallen, seine sämtlichen Bilder in einem Zimmer aufzuhängen. Das Buch ist gleichfalls eine Zierde für jeden Raum und ist in jedem Raum unterzubringen. Es übertrifft in dieser Anpassungsfähigkeit noch bei weitem die Gläser mit Ein­ gemachtem, die ich schon in Schlafzimmern, ja sogar unter dem Flügel angetroffen habe! Kein Zimmer ohne Buch! Es ißt und kocht sich gut neben Koch­ büchern, es ruht sich angenehm aus neben Unterhaltungsliteratur, es schreibt sich leichter da, wo ein paar Nachschlagewerke zur Hand stehen; die Bilderbücher liegen ohnedies griffbereit, wo Kinder sich tummeln. Daß die Literatur auf unserem Nachttisch nicht Unord­ nung bedeutet, sondern zur Einrichtung gehört, dieser Gesichts­ punkt hat sich allmählich selbst bei ordentlichsten Hausfrauen durchgesetzt. Wenig bekannt ist noch die Verwendung von Hänge­ geflechten, — ähnlich denen für Schwamm und Seife an Badewan­ nen — die seitlich am Bett angebracht werden. Und sollte doch eine Frau an den in der ganzen Wohnung ver­ streuten »Staubfängern“ Anstoß nehmen, so versuche man sie mit dem Hinweis zu trösten, daß gute Bücher wie edle Weinflaschen ruhig ein »bißchen“ Staub ansetzen dürfen, den man bei Gebrauch schnell beseitigt. Zugleich ist dieser Staub oft eine stille, heitere Mahnung, einmal den oder jenen Band wieder vorzunehmen. Denn die beste Art des Bücherabstaubens ist die fleißige Benutzung. 1951

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Man muß es im Kopf haben Eines schönen Wintertages fuhr ich in einem jener plüschge­ polsterten Eisenbahncoup£, wie man sie auf Provinzstrecken noch antreffen kann. Wir waren unserer vier, und alle waren wir Leser, das reinste Lesekabinett. Der Herr am Fenster trug eine hellgraue Wests und las in einem Band Zola, wie ich allmählich herausspekulierte. Es ist ja so unter­ haltend herauszubekommen, was ein anderer liest. Das Mädchen gegenüber, in einem sehr blauen Theaterabendkleid, präparierte sich mittels eines Textheftchens auf den offenbar in der nächsten Stadt bevorstehenden „Sommernachtstraum“. Ein Herr mit korrek­ tem Mittelscheitel, aber vollem, etwas ängstlichem Gesicht, der gleich mir einen Türsitz innehatte, las in Spenglers „Untergang des Abendlandes“ und zeichnete mit einem dicken Bleistift ab und zu ein Ausrufezeichen an den Rand einer bedeutsamen Zeile, bis ihm Buch und Bleistift entsanken und der Schlaf ihn übermannte, so daß das Abendland zum Glüdc doch nicht ganz unterging. Und ich ergänzte dieses Bild der vier Temperamente mit einem Band Lich­ tenberg und genoß, wie alles so gut zusammenstimmte, jeder Le­ ser zu seinem Buch und jedes Buch zu seinem Leser. Bücher sind also nicht nur zum Lesen da, sie leisten auch andere Dienste. Ich meine nun nicht gerade, um damit zu werfen oder Feuer anzumachen oder Wände zu schmücken. „Der General Dom­ browski“, erzählt Seume im „Spaziergang nach Syrakus“ (1802), „liebte Schillers .Dreißigjährigen Krieg’ und trug ihn in seinen Feld­ zügen in der Tasche. Bei Trebbia oder Novi schlüg eine Kugel ge­ rade auf den Ort, worunter das Buch lag, und dadurch wurde ihm wahrscheinlich das Leben gerettet. Ich habe das durchschlagene Exemplar selbst in Rom gesehen.“ Es bedarf aber nicht gerade einer 131

Schlacht, und man muß ein Buch auch nicht gerade im Sack, man kann es auch nur im Kopfe haben, daß es seine Wunder tut. Einer meiner Bekannten fuhr eines Abends mit dem Fahrrad ohne Licht. Prompt fuhr er dabei einem Schutzmann in die Arme. »Wie heißen Sie?“ fragte der und zückte das Meldebuch. „Sie wissen doch, daß es verboten ist, ohne Licht zu fahren? Ich muß Sie an­ zeigen." Worauf mein Bekannter in plötzlicher Eingebung erwi­ derte: „Maecenas atavis edite regibus, o et praesidium et dulce decus meum ...“ »Hörns auf, fahrns zu, Sie komischer Ausländer!“ sagte der Schutzmann kopfschüttelnd und ließ ihn laufen! Es war aber nur ein lateinisches Zitat, das mein Bekannter da rezitierte; er hatte den Horaz im Kopfe, und er half ihm aus der Klemme. — Lohnt es sich also etwa nicht, ein Bücherleser zu sein? 1952

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Von der Notwendigkeit des Überflüssigen Viele Landser, die sich als Schriftsteller, Buchhändler oder Stu­ dierte verrieten, haben sich vom nächstbesten Spieß — und von noch höheren Spießern — anpfeifen lassen müssen: »Mit Büchern kann man nicht schießen!“ Darauf wäre zu antworten gewesen: »Gottseidank.“ Das hat man sich aber besser nur gedacht und lieber darauf hin­ gewiesen, daß der alte Fritz während des Siebenjährigen Krieges täglich mindestens drei Stunden gelesen, und zwar nicht etwa den damaligen Reibert oder sonstige militärische Fachliteratur, sondern Racine und derartige „Heinis“. Man mochte dabei über den alten Fritz denken wie man wollte, der Wehrmacht gegenüber war er auf jeden Fall eine Kapazität. So wurde denn alsbald ein Plakat angeschlagen: »Das Buch — ein Schwert des Geistes!“ Pflugschar hätte ich persönlich lieber ge­ hört. Aber gut: Schwert. Und mit diesem Schwert wurden wir dann betreut, wehrmachts-betreut. Ich kann seitdem das hübsche Wort „betreut“, das Grimm schon für das Jahr 1718 nachweist, nicht mehr hören. Was waren denn das für Schwerter? Zumeist, um mit Lichtenberg zu reden, Messer ohne Klingen, an welchen der Stiel fehlt. Und wenn man heute fragt: Sind Bücher überhaupt notwendig, und falls ja (was manchen ebensowenig ausgemacht erscheint als damals dem Spieß), was für Bücher denn? Wir lesen in diesem Buch eine Unmenge prächtiger Titel von Büchern, die uns nicht erreichten, und bei den wenigen, die uns wie­ der erreichen, überlegen wir uns: Muß, wenn das Papier schon so knapp ist, ausgerechnet dieses und jenes Beliebige erscheinen, wäre 133

es augenblicklich nicht geboten, nur wirklich notwendige Erschei­ nungen herauszubringen? Sie werden erstaunt sein zu hören, daß sich darüber alle Verleger grundsätzlich einig sind. Es fragt sich nur: Was sind notwendige Bücher? Darüber zerbrechen sich alle Beteiligten den Kopf. Zunächst einmal: Müssen es überhaupt Bücher sein? Tun nicht Zeitschriften oder Broschüren den gleichen, ja den besseren Dienst? Können wir uns ausgewachsene, womöglich gebundene Werke der­ zeit leisten?

Viele Verleger zeigten sich erbötig, dem Rechnung zu tragen und haben ihre Werke in der Form von Zeitungen und Zeitschriften­ heften herausgebracht, um damit den Bildungs- und Lesehunger mengenmäßig zu befriedigen. Aber nun stellt sich heraus, jeder Buchhändler kann es bezeugen, daß die Mehrzahl der Leser versichert: lieber nur ein richtiges Buch als zehn Broschüren. Verrät diese Einstellung nicht eine bedauerliche Minderbewer­ tung des Inhalts und eine bedenkliche, unzeitgemäße GutestubenMentalität? Sind insbesondere gebundene Bücher, von Ausnahmen wie Lexika und dergleichen abgesehen, nicht eigentlich überflüssig, angesichts der Materialnot geradezu sträflich? Warum kommen denn andere lesefreudige Nationen, wie etwa die Franzosen, vor­ wiegend mit broschierten Büchern aus und das schon in normalen Zeiten? Weil der deutsche Leser, nicht nur aus Tradition, sondern in seinem, auch klimatisch bedingten Bedürfnis nach häuslicher Einrichtung, das Buch auch als Einrichtungsgegenstand hochschätzt. Es ist dies natürlich kein deutsches Privileg. Doch hat mir eine, mit uns sonst nicht übermäßig sympathisierende ausländische Lei­ terin von Kriegsflüchtlingslagern aller Nationen bestätigt, daß man die Deutschen u.a. sofort daran erkenne, daß sie noch im größten Elend danach trachten, es sich ein bißchen .schön“ zu machen, und sei es nur mit einem irgendwo ausgekratzten armseligen Blümchen. (Total überflüssig!) 134

Dieses Blümchen, das ist uns das Buch, und deshalb werden wir immer nach „schönen“ Büchern Verlangen tragen. Wir lieben sie nicht nur, um sie zu lesen, zu benützen, sondern um sie um uns zu haben. In der Gegenwart von Büchern zu wohnen, zu arbeiten, ja zu essen und zu schlafen, gilt uns ebenso viel, als mit schönen Bil­ dern oder Dingen umgeben zu sein, die man ja auch nicht ununter­ brochen „benützt“. Genug, daß sie da sind. Schon die bloße Anwesenheit von Bü­ chern bewirkt eine Steigerung unseres Wesens. Man kann beobachten, daß Buchhändler, die bei ihrer Tageskleinarbeit kaum mehr zum Lesen kommen, daß sogar die geplagtesten dieser Bücherknechte, wie sie sich selber nennen, menschlich viel aufgeschlossener bleiben als manche andere, an sich verantwortungsvollere Berufe. Bücher haben gewissermaßen eine Ausstrahlung, sofern sie einer solchen ihr Dasein verdanken. Telefonbücher zum Beispiel strahlen nicht aus; aber ein aus Liebe geborenes Buch steckt einfach an. Ich möchte daher glauben, daß die Gegenwart eines geliebten guten Buches mehr erzieherische Arbeit leistet als eine Erziehungsbroschüren­ reihe. Wie hier im scheinbar Überflüssigen der Buchgestalt, so steckt aber auch in manchen scheinbar überflüssigen Bucharten eine höchst notwendige Kraft. An sich erschiene es einleuchtend zu fordern: Was wir heute brau­ chen, ist zunächst Fachliteratur für die Schulen und Hochschulen, für Industrie und Gewerbe. Erst wenn deren Bedarf gedeckt wäre, könne man sich anderes leisten. Der Vordersatz ist richtig und wird in steigendem Maße beher­ zigt. Der Nachsatz wäre verhängnisvoll. Auf das Gebiet der Ernäh­ rung angewendet würde er besagen: Erst muß Brot in Hülle und Fülle vorhanden sein, eher gibt es weder Fett, noch Eier, Fleisch und Zucker. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, weder körperlich noch geistig. Wir wissen alle aus Erfahrung, daß uns eine kalorien­ 135

mäßig überflüssige Zigarette und eine Tasse Kaffee nicht nur in den Stand setzen, uns mit Brot besser zu bescheiden, sondern sogar unsere Leistungsfähigkeit und unser Wohlbefinden zu steigern. Daher wäre ein ausschließender Vorrang verlegerischer Brotar­ tikel völlig verfehlt, und deshalb geben sich viele Verlage Mühe mit »überflüssigen“ Büchern. Daß ihnen diese nicht jedesmal glükken, beweist nichts gegen das Prinzip. Glauben Sie mir, lieber Leser, ich hätte Ihnen statt dieser not­ wendigen Auseinandersetzungen auch lieber etwas ÜberflüssigesHistorisches vorgeplaudert, von meinem Verlag zum Beispiel, der, vor nunmehr 25 Jahren in Schwabing gegründet, bewegte Münch­ ner Zeiten miterlebt hat. Aber Bücher sind nicht Ruhekissen, son­ dern Mahner, so wie es der in München geborene de Coster seinen Ulenspiegel sagen läßt: »Die Asche brennt auf meiner Brust.“ 1947

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Die gesunde Krise Ich las kürzlich eine Untersuchung über die Ehe. Der Bearbeiter hatte bei Eheleuten herumgefragt, ob sie vollkommen glücklich seien, und da dies ein großer Prozentsatz verneinte, schloß der Fragesteller auf eine allgemeine Ehekrise. Ein anderer hatte die Politik untersucht und eine Vertrauenskrise festgestellt. In der Wirtschaft hört man, seitdem ich denken kann, von Absatz-, Ex­ port- und Importkrisen. Die Landwirtschaft ist womöglich noch krisenreicher, da sie vom Wetter abhängt, das, seitdem die Erde steht, es noch nie allen Beteiligten recht machte! Und gestern las ich, daß selbst der allmächtige Fußball seine Krise hat! Es scheint also, daß unsere unvollkommene Welt eigentlich von Krisen lebt. Deshalb hat Eduard Engel in seinem vorzüglichen Verdeut­ schungsbuch schon vor dreißig Jahren Krise als ein »Schwamm­ wort“ gedeutet, »für fast jeden Vorgang, von dem die Zeitung öfter spricht“. Dieses Schwammwort wird derzeit mit blinder Be­ sorgnis auch auf die Welt der Bücher angewandt, so daß man tat­ sächlich meinen könnte, die Bücher oder jedenfalls der Buchhandel seien ernstlich krank. Krank ist man dann, wenn man irgendwelche lebensnotwendigen Funktionen nicht mehr erfüllen kann. Auf die Bücherfunktionen angewendet würde das heißen, daß nicht mehr genügend geschrie­ ben, nicht mehr genügend verlegt, nicht mehr genügend verkauft und nicht mehr genügend gelesen würde. Davon ist gar keine Rede. Die Schriftsteller, Verleger, Buch­ händler und Leser haben sich statistisch gewaltig vermehrt — nicht nur relativ, sondern in unserem verengten Bereich sogar absolut und gerade deshalb können nicht alle Schriftsteller, Verleger, Buch­ händler und Leser ganz auf ihre Rechnung kommen. Diese Vielfalt 137

von Individualitäten macht aber beständige gegenseitige Anstren­ gungen notwendig, um das Feld zu behaupten, wodurch sich diese Buchwelt immer wieder verjüngt und gezwungen ist, das Verlebte abzustoßen. Das war immer so, nicht etwa nur in kritischen, son­ dern gerade in sogenannten normalen Zeiten. In den vergangenen kritischen Jahren wurden schlechtweg alle Bücher verkauft; mit fortschreitender Normalisierung normalerweise nicht. So ergibt sich das Paradoxon, daß die sogenannte Buchkrise das Normale, das Gesunde ist. Wer von einer Krise im Buchhandel spricht, geht von der fal­ schen Voraussetzung aus, ein gesunder Buchhandel sei der, in dem es allen Autoren, Verlegern und Sortimentern gut ginge, in dem jedem Bücherwunsch Rechnung getragen würde und in dem alle Bücherfreunde genug Geld hätten, alle Wünsche zu befriedigen — eine bare Unmöglichkeit! Zu allen Zeiten sind Autoren, Verleger, Buchhändler unter die Räder gekommen, und es juckt mich, z.B. meine Liste der Verlage preiszugeben, die sich, oft mehrmals in ihrer Geschichte heimlich oder gerichtlich vergleichen mußten. Viele unserer angesehensten Verlage wären darunter, und zwar meist dann, wenn sie ihre geistig und künstlerisch wertvollsten Unter­ nehmungen starteten. Man muß beklagen — und es ist schon in der Antike beklagt worden —, daß die wertvollsten Bücher am schwer­ sten durchzusetzen sind, so daß man, wo dieser Fall doch eintritt, fast vermuten möchte, es müßte ein irgendwie außersachliches Er­ folgsmoment vorliegen. Aber da dies zu allen Zeiten so war, muß es nicht als Krise, sondern leider als natürlich gelten, daß Kultur­ arbeit wirtschaftlich schwierig bleibt. Unser Blick ist durch anor­ male Jahre getrübt. Wer die »alten guten“ Zeiten miterlebt hat, erinnert sich, daß ein Absatz von 3.000 Exemplaren für ein gutes Buch schon als Erfolg galt (in der Schweiz, wo die Verhältnisse stabiler blieben, ist das heute noch bei 1.000 Exemplaren der Fall). Heute betrachten zu Unrecht viele 5.000 als die eigentliche Normalauflage. Damals gab es, im ganzen Lande, tausend Vollbuchhandlungen von Rang; 138

es gibt heute, auf halbem Raum, mehr (die zahllosen Firmen min­ derer Gattung eingerechnet). Und aus dem Angebot an Manuskrip­ ten glaube ich schließen zu dürfen, daß auch die Zahl der Schrift­ steller, die allein von ihrer Feder zu leben trachten, angestiegen ist. Das muß alles erst wieder ins Gleichgewicht kommen; aber das ist ein natürlicher Prozeß, keine Krise. Im Gegenteil: es ist erstaunlich, welche Fortschritte das Buch seit der Währungsumstellung gemacht hat. Das bewies die Frankfurter Buchmesse, deren Umsatz auf anderthalb Millionen (zu Netto-Buch­ händlerpreisen!) geschätzt wird, und dies in einem Zeitpunkt, wo jedem der einkaufenden Buchhändler die „Krise“ hinreichend be­ kannt war. Da etwa 14.000 der Besucher jedoch Leser waren, die mit einem wahren Ungestüm blätterten und notierten, war der Verdacht, die Buchhändler erlägen allesamt einer Selbsttäuschung, an Ort und Stelle widerlegt. Gewiß, nicht alle Verlage nahmen naturgemäß an diesem Erfolg teil; aber er beschränkte sich auch durchaus nicht nur auf die zündensten, die Romanverlage. Deshalb (und nicht um mich etwa wichtig zu machen) muß ich aus­ sprechen, daß mein bescheidener Verlag, der die Devise führt: „Kein Roman bei Heimeran“ mit seinen Umsätzen, prozentual nach Preis und Verlagswerken gerechnet, besser steht als in nor­ malen Zeiten. Daß der Kapitalmangel und die Überbelastung an Steuern und Unkosten das Arbeiten schwierig macht, steht auf einem anderen Blatt, auch daß zweifellos eine Verschiebung ein­ getreten ist zuungunsten der ernsten Bücher und zugunsten der populären — aber auch das ist im Grunde normal, daß die Massen­ erfolge die eigentlich gewichtigen Erscheinungen mittragen müssen. Kein echter Verleger wird deshalb sich nur noch Bestsellern wid­ men, denn wer dies tut, höhlt sich selbst aus. In unglaublich kurzer Zeit hat der Verlagsbuchhandel einerseits die Ausstattung verbessert (so daß im Großen und Ganzen der Vorkriegszustand erreicht ist); andererseits die Preise gesenkt. Bü­ cher sind verglichen mit anderen Lebensgütern, die doch durch­ schnittlich das Doppelte und Dreifache kosten, billig, obwohl die 139

Herstellungskosten der allgemeinen Verteuerung entsprechen. Hun­ derte prachtvoller Bände waren in Frankfurt zu sehen, die nur 50—75°/» über dem Vorkriegsniveau> lagen: Ein Beweis dafür, daß der Verlag wie von eh und je darauf vertraut, daß solche Leistun­ gen den Bücherfreund mit neuer Begeisterung erfüllen. Denn er, der Bücherfreund, hat das entscheidende Wort. Er voll­ zieht im Einzelnen [die immer wieder notwendige gesunde Reini­ gung. Einer, den ich neulich hochbepadct eine Buchhandlung ver­ lassen sah, antwortete mir auf meine Frage, ob er denn soviel Geld hätte: „Auch nicht mehr wie voriges Jahr. Da habe ich lauter Prak­ tisches verschenkt. Jetzt müssen es aber doch wieder richtige Ge­ schenke sein. Für mich sind das Bücher. Für Sie wohl nicht?** Ich will dieses Erlebnis keineswegs verallgemeinern. Aber es zeigt doch, wie die Neigung für Bücher ständig wächst. Und wenn das mit Krise gemeint sein soll, daß die Temperatur fürs Buch wieder steigt, dann wollen wir das Schwammwort Krise gern gelten lassen. 1949

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Wer liest kommt weiter Ein Landbürgermeister in meiner Heimat war weitum dafür berühmt, daß er auf keine noch so entlegene Frage die Antwort schuldig blieb, denn — so hieß es erklärend — »er hat zuhause ein dickes Buch, da steht alles drinl“ Was war dies wohl für ein geheimnisvolles Buch, in dem »alles drinstand“? Ein Konversationslexikon? Wahrscheinlich eine Reihe gutgewählter Nachschlagewerke, wie sie sich früher auch auf dem Lande in dem oder jenem Hofe vorfanden. Der bayerische Wan­ derer und Volkskenner Ludwig Steub erzählt von so manchem belesenen Bauern seiner Zeit. Soviel ist jedenfalls sicher: Es gibt kein menschliches Problem, auf das sich nicht in irgendwelchen Büchern eine nützliche Antwort fände. Wer richtig zu lesen versteht, kann sich für alle Anliegen des Lebens in Büchern Rat holen. Dieses richtige Lesen muß man allerdings üben. Je lebhafter der Gebrauch von Büchern, desto größer der Nutzen. Es hilft zum Beispiel ja auch nichts, einen noch so großartigen Fotoapparat zu benützen, wenn man nicht mit ihm umgehen gelernt hat. Ich reiste mit so einem Nichtskönner einmal durchs höchste Norwegen, er knipste unaufhörlich, aber geworden ist nichts. Da ich selber nicht fotografiere, weiß ich nicht, woran das lag; aber wenn ich es hätte wissen wollen, hätte ich nur das entsprechende Buch studieren müs­ sen, und dann hätte ich es gewußt. So kann man sich mittels einiger Mark, die man für ein Buch anlegt, hunderte von Mark ersparen. Denn gute Bücher sind das Ergebnis langer Erfahrungen; man kauft sich mit einem einzigen Buch oft die Kenntnisse eines ganzen Lebens. Wenn von Büchern die Rede ist, wird oft nur an Bücher gedacht, die der Zerstreuung dienen. Gewiß sind sie auch dazu nützlich; aber um sich zu zerstreuen, gibt es andere Mittel genug. Deshalb 141

hat ein großer Leser einmal gesagt: »An Zerstreuung läßt es die Welt nicht fehlen; wenn ich lese, will ich mich sammeln.“ Manch einer denkt auch: das Lesen, das ist nichts für unsereinen. So ähnlich sagte einmal ein Zimmermann: »Aber unsereins kommt halt gar nicht zum Lesen.“ »Da müssen Sie sich vor mir nicht entschuldigen“, sagte mein Bekannter, der wußte, daß der Zimmermann ein leidenschaftlicher Fußballspieler war, »ich zum Beispiel komme nie zu einem Fuß­ ballspiel.“ »Ah, gehns, machens Witz!“ sagte der Zimmermann und ging kopfschüttelnd ab. Das Beste an der Geschichte war noch dies, daß mein Bekannter durch Lektüre vom Fußball immerhin soviel wußte, daß er im Toto einen ganz ansehnlichen Betrag gewann (den er größtenteils wieder in Büchern anlegte), während dem Zimmermann dieses Glück nicht beschieden war. Er hätte vielleicht doch lesen sollen. Denn wer liest, zieht sich Siebenmeilenstiefel an. Wer liest, kommt weiter. Alle großen Wirtschaftsführer und Staatsmänner sind große Leser gewesen (von allen geistigen Berufen, denen das Buch Handwerkszeug ist, versteht sich das von selbst). Ein großer Leser sein heißt nicht, das lesen, was gerade allgemein gelesen wird, sondern das, was einem förderlich ist. Das sind keineswegs nur Fachbücher. Oft kann ein poetisches Werk einem Leben eine neue Richtung geben. Edison hatte seine besten Einfälle beim Lesen von Gedichten. Der alte Fritz las klassische Dramen, um seine Gedan­ ken zu sammeln. Der rauhe Napoleon hatte bekanntlich immer Goethes schwärmerischen »Werther“ bei sich. Was man und wie man lesen soll, muß jeder für sich selbst herausfinden. Zur Anleitung sind die Buchhändler da. Sie sind gewissermaßen die Buchheilkundigen, die einem sagen können, was für ein Buch man in dem oder jenem Fall einnehmen soll. Ab und zu halten die Buchhändler eine große Rezeptschau ab, die Buch­ woche, und niemand sollte sich entgehen lasseh, sich bei dieser Gelegenheit ein Lebenselixier zu besorgen. 1950 142

Wer sie nicht kennte, die Sortimente! Der erste erfindet’s, gestaltet’s, erwägt’s, Der zweite druckt’s und verlegt’s, Der dritte bleut’s dem Publikum ein — Wer ist der wichtigste von den drein? K. H. Strobl Die meisten Bücher, bei uns in Europa wenigstens, werden durch Verlagsbuchhandlungen ans Licht der Welt und durch Sortiments­ buchhandlungen unter die Leute gebracht. Vom wechselseitigen Verhältnis dieser Sortimente zu den obbesagten Verlagen, vom herstellenden zum vertreibenden Buchhandel soll hier die Rede sein. Es gibt ja noch andere Methoden, Bücher zu machen und zu ver­ treiben als die buchhändlerischen, die Methoden der Buchgemein­ schaften beispielsweise. Manche Betrachter glauben sogar, sie seien die moderneren und damit zeitgemäßeren. Keineswegs. Der zirkel­ mäßige Buchvertrieb ist die primitivere und altmodischere Form der Buchverbreitung: Ja, sie ist geradezu archaisch! Schon Herodot bediente sich zur Bekanntmachung seiner Geschichten einer Art Olympia-Gilde, während Buchhandlungen erst Ende des vierten vorchristlichen Jahrhunderts aufkommen. Zenon, der Stifter der stoischen Schule, lernte damals als schiffbrüchiger Kaufmann die Erinnerungen des Xenophon in einer Athener Buchhandlung ken­ nen. In Rom ist ein gewerbsmäßiger Buchhandel gar erst zwei­ hundert Jahre später anzutreffen; man hatte sich dort vorher ebenfalls mit Buchgemeinschaften beholfen. Es machte daher bei Cicero, der für seine Erstlingswerke eine eigene Buchgemeinschaft aufzuziehen suchte, Sensation, als Freund Atticus, der ebenfalls von 143

der Schriftstellerei herkam, einen eigenen Verlags- und Sortiments­ betrieb aufbaute. Er war der erste buchhändlerische Großunter­ nehmer Roms, er blieb aber nicht der einzige. So hielt es Horaz mehr mit der Firma Gebrüder Sosius und ihrem Laden beim Vertumnustempel. Günstiger noch, gleich hinterm Friedenstempel, lag die von Martial unter anderen erwähnte Buchhandlung Secundus. Wenn auch eine Buchhandlung damals etwas anders aussah als heute, und wenn daher einem strengen Philologen derlei wörtliche Parallelen zwischen Altertum und Neuzeit überhaupt nie recht gefallen, sie vermögen für unseren Fall doch anschaulich zu machen, daß der freie Buchhandel gegenüber der zirkelmäßig gebundenen Buchabnahme historisch die entwickeltere, also höhere Form des Buchvertriebs ist (ich sage nicht die lukrativere). Ich schöpfe diese Nachweise übrigens aus einem eigenen Verlagswerkchen über den Buchhandel im Altertum, das längst vergriffen ist; es wäre an­ sonsten ja nicht fein, hier dafür Propaganda zu treiben. Übrigens hat diese Schrift über den Buchhandel so wenig interessiert, daß ich sie zur Strafe nie mehr auflegen und höchstens einer Buchgemein­ schaft verkaufen werde. Nach diesem kleinen Seitenhieb wollen wir uns dem Thema Ver­ lag und Sortiment zuwenden. Im Grunde gehören derlei kollegiale Nadelstiche bereits zum Thema. Denn man soll nur ja nicht glauben, daß man sich unter Buchhändlern nicht die Wahrheit sagt und daß es erst gewisser Ermahnungen von außen her bedürfe. Es gibt zwei feststehende interne Standesvorwürfe. Der Verlag behauptet, das Sortiment versage, beziehungsweise habe versagt (siehe oben). Das Sortiment rächt sich dafür mit dem Vorwurf, der Verlag pro­ duziere zuviel Unnützes (siehe oben) und überhaupt viel zu viel. Wie in einer guten Ehe werden diese Vorwürfe im Alltag nicht weiter dramatisiert, weil jeder Teil stillschweigend einsieht, daß der Partner schon ein bißchen recht hat mit seinem Tadel, nicht in Bausch und Bogen zwar, aber doch da und dort (siehe oben), ein bißchen eben, daß es schließlich und endlich aber doch auf den ganzen Bissen ankommt, nicht aufs Bißchen. 144

Für den Verlag bedeutet das, dem Sortiment die Überzeugung zu geben, daß gerade seine Verlagswerke gut, gut zubereitet und bekömmlich sind. Für das Sortiment dagegen kommt es darauf an, herauszufinden, ob das überhaupt zutrifft — denn jeder Verlag be­ hauptet von sich natürlich das beste — und wenn ja, was von die­ sem Speisenzettel für die speziellen Neigungen und Bedürfnisse der betreffenden Buchhandlung in Frage kommt. Ein Sortiment, das auch nur je ein Exemplar sämtlicher Neuerscheinungen bezöge — in Westdeutschland sind das derzeit jährlich rund 10.000 Titel —, würde an Lagerkonstipation zugrunde gehen, ebenso wie ein Ver­ lag, der alles herausbrächte, was sich ihm an Manuskripten bietet. Die Hauptaufgabe des Buchhandels besteht daher zunächst ein­ mal im Weglassen. Wenn man das kaufmännisch konsequent be­ triebe, käme man auf Verlage, die nichts anderes brächten als be­ rühmte Autoren oder Themen (es gibt in der Tat auch solche Verlage), und auf Sortimente, die sich ebenfalls nur mit solchen Schlagern beschäftigen (es gibt in der Tat auch solche Sortimente). Braucht man dazu aber einen Buchhandel? Nein, das kann jedes beliebige Versandgeschäft oder jeder beliebige Laden leisten (wie etwa die Drugstores). Offensichtlich benötigt man den Buchhandel demnach nicht nur zum Weglassen, sondern ebenso zur Vielfalt und Fülle. Der Name »Sortiment“ sagt ja schon, daß einem hier nicht nur ein paar ge­ normte Markenartikel geboten werden, sondern eine reichgemischte Auswahl, ein Kribbel-Krabbel. Da nun aber jeder Sortimenter, wie jeder Bücherfreund, anders geartet ist und also auch anders aus­ wählt, kommt ein Reichtum an verschiedensten Auswahlen zustande. Wir haben uns daran gewöhnt, aber es sollte uns doch bisweilen mit neuem Staunen erfüllen, daß man dank dem Buchhandel nicht nur in jeder kleinsten Stadt jedes beliebige Buch der Welt bestellen kann, sondern daß man dort bereits eine ganze Bücherwelt vorrätig findet. Eine mittlere Buchhandlung hält ständig etwa 5.000 bis 6.000 Titel auf Lager und zwar nicht nur bewährte, sogenannte Brotartikel, sondern auch die verschiedensten Neuigkeiten, deren 145

jede ein neues Risiko ist. Sie werden dem Sortiment besonders für Ostern und Weihnachten, aber auch sonst das ganze Jahr über an­ geboten — es vergeht eigentlich kein Tag ohne Neuerscheinungs­ angebot, und es kommen oft wochenlang Tag für Tag die Verlags­ vertreter, um die Buchhandlungen davon zu überzeugen, daß diese ihre Bücher eben kein Risiko und damit geradezu lebensnotwendig wären. Die Sortimente verhalten sich allen Verlagsangeboten gegenüber, seien es nun Anzeigen im Fachblatt, Rundschreiben, Leseexemplare, Messeangebote, Vertreterbesuche, zunächst grundsätzlich reserviert. Sie wissen natürlich, daß sie ja Bücher einkaufen müssen und daß dieser Einkauf für sie sogar am bequemsten ist, wenn ihnen die Vertreter die Bücher ins Haus bringen, vorweisen und für die Reiseaufträge sogar noch besonders günstige Bedingungen mitbrin­ gen. Aber wie eine umworbene Schönheit, die ja ebenfalls weiß, daß sie einmal ja sagen wird, bezieht das Sortiment eine, wenn auch vielleicht freundschaftlich getönte Abwehrstellung, als hätte es dieses ganze verlegerische An- und Aufgebot nicht nötig, schimpft über die ständige Belästigung und Nötigung und tut so, als werde es vom Verlag an seiner eigentlichen Arbeit gehindert!

O, wie hatte ich Klinkenangst, als ich zum erstenmal auf die Reise ging, um meine Anfängerverlagswerke dem Sortiment eigen­ händig schmackhaft zu machen! Denn um die Ernte war’s und heiß, und ich malte mir im vornherein aus, wie ich da mit einer verdächtigen Mappe in den leeren Laden hineinkäme, wo der In­ haber vielleicht endlich einen Käufer erhoffte, und dann ist es wieder nur einer, der etwas verkaufen will! Ich fuhr wenigstens möglichst weit von München weg, damit mich kein Bekannter in meiner Verlegenheit anträfe, und begann in dem mir damals völlig fremden Hamburg.

In Hamburg gibt es große, berühmte Handlungen. In die traute ich mich vorerst nicht, sondern wählte ein Geschäft in der König­ straße, dessen tiefes Einzelfenster mich dickensartig vertrauensvoll 146

anmutete. Ich prüfte eben die aus Lyrik und Jurisprudenz ge­ mischte Auslage, als sich der abschließende Vorhang teilte und einen schlanken Buchhändler sichtbar machte. Wie ertappt trat ich vom Fenster zurück, verfolgte aber von der Seite, wie besagter Buch­ händler sich bemühte, eine Broschüre hineinzunehmen, die er aber wegen der Schaufenstertiefe nicht erlangen konnte. Er verschwand im Laden, um, wie ich annahm, eine sogenannte Schaufensterzange zu holen. Durch diesen Gedankengang fühlte ich mich der Buch­ handlung gewissermaßen verbunden, trat ein und bemerkte, daß der Buchhändler, offenbar der Inhaber selbst, sich nicht mit einer Greifzange, sondern mit einem Cellobogen ausrüstete, um die Bro­ schüre aus dem Fenster zu angeln. Ich bemerkte ferner, daß dieser Bogen das Behaaren nötig hätte, und das an diesen Umstand ken­ nerisch anknüpfende Gespräch führte dazu, daß sich Sortimenter und Verlagsvertreter noch in der gleichen Woche zu einem Streich­ quartett zusammenfanden. Ich habe seitdem unterwegs nicht nur da und dort mit Sorti­ mentsfreunden musiziert, sondern gleich manchen anderen Vertre­ terkollegen auch Garten-, Kochkunst- und Sammlerfreuden, Lieb­ habereien aller Art mit Sortimentern geteilt — sogar Säuglinge gewickelt —, von endlosen literarischen und fachlichen Diskus­ sionen abgesehen, und habe damit nicht nur den Buchhandel als eine große Familie schätzen, sondern auf diese Weise in der Teilhaberin eines Sortiments sogar meine eigene Frau kennengelernt. Ich kam, wie ich im Vertreterjargon zu scherzen pflege, nach Zürich, um Bücher zu verkaufen, und habe mich selbst verkauft. Und das war das beste Geschäft meines Lebens! Man wird daher verstehen, daß ich auf das Sortiment schwöre, obwohl ich gelegentlich auch Enttäuschungen mit engherzig-profitlichen, kleinlichen, unmusischen und unverschämten Kollegen er­ lebte. Aber auf die muß ich mich erst besinnen, obwohl ich immer­ hin zehnmal drei Monate lang Buchhandlungen besuchte. Ich kenne keinen Stand, der einen so hohen Prozentsatz menschlicher Aufge­ schlossenheit und idealer Hingabe repräsentiert als den buchhänd147

krischen. Es sind nicht alle Sortimenter (und auch keineswegs alle Verleger) hohe geistige und wirtschaftliche Potenzen — das ver­ bietet schon die Enge der täglichen Kleinarbeit —, aber sie sind in hervorragendem Maße gutherzig, verspielt im Sinne des homo ludens; sie haben fast alle einen Sparren und verstehen Humor, kurz: sind nicht zunächst Geschäftsleute, sondern vor allem Men­ schen und ihre Fehler und Vorzüge somit von der liebenswertesten Art. Sie werden niemals die Macht an sich reißen, gewiß nicht, fast möchte ich sagen: leider. Die Welt auf sortimenterisch sähe anders aus. Es ist doch geradezu rührend, wie der Sortimenter alle Frühjahr und vor allem jeden Herbst wieder diese Überfülle von Büchern besteht, liest, prüft und immer wieder von neuem daran glaubt. Dabei handelt es sich doch wirtschaftlich keineswegs um „Objekte“, sondern um lächerliche Beträge von wenigen Mark, denen er seine Aufmerksamkeit widmet. Mancher Außenstehende glaubt vielleicht, der Buchhandel könne doch mindestens immer Hunderte von Exem­ plaren einkaufen? O nein, zehn Stück von einem Buch sind für eine buchhändlerische Anfangsbestellung schon viel, so viel, daß der gerührte Verlag dafür handelsüblicherweise gleich noch ein Exem­ plar dazuschenkt. Es gibt kaum einen anderen Geschäftszweig, wo so viele „Artikel“, die noch dazu beständig wechseln, geführt und in der Regel nur in einzelnen Exemplaren verkauft werden. Während sich beim Verlag natürlich die Vielzahl der Bestellungen auf einen einzelnen Titel gewaltig massieren kann, muß ein Sortiment durch die Vielfalt der Titel zu bestehen suchen. Trotz dem Rabatt, den das Sortiment vom Verlag bezieht, der Unkundigen ungerechtfertigt hoch erscheint, sind bei der indivi­ duellen buchhändlerischen Vertriebsform die Spesen so hoch, daß nur mit großem Geschick ein wirtschaftlicher Erfolg zu erzielen ist. Das hat den Sortimentsbuchhandel da und dort in den Verruf ge­ bracht, er verteure das Buch; schalte man ihn aus, dann wären die Bücher viel billiger. Richtig. Aber dann erschiene eben nur eine Handvoll Bücher, die allgemein begehrt sind, oder bestenfalls eine 148

Art von Büchern, von denen Friedrich Schlegel sagt: »Zur Populari­ tät gelangen deutsche Schriften durch einen großen Namen, oder durch Persönlichkeiten, oder durch gute Bekanntschaft, oder durch Anstrengung, oder durch mäßige Unsittlichkeit, oder durch voll­ endete Unverständlichkeit, oder durch harmonische Plattheit, oder durch vielseitige Langweiligkeit, oder durch beständiges Streben nach dem Unbedingten.“ Also gerade die feinsten und stillsten, aber eben darum am schwersten und nur mit innerer Hingabe und wirt­ schaftlicher Selbstentäußerung absetzbaren Werke blieben ungedruckt und endlich auch ungeschrieben. Jeder Literarhistoriker könnte den Nachweis führen, daß wir ohne Buchhandel, ohne diese spezielle Form des weitverzweigten Sortiments, einen großen, wenn nicht gar den größten Teil unserer literarischen Spitzenwerke nicht be­ säßen. Der Buchhandel ist in der Tat eine sehr wichtige Bedingung zum Dasein einer hohen Literatur, und deshalb tun sich alle ech­ ten Literaturfreunde selber den größten Gefallen, wenn sie den Buchhandel fördern. Ich schimpfe bisweilen auch, daß es sich manche Buchhandlungen zu bequem machen und nur noch das führen wollen, was sozusagen von selber geht. Die Regel ist das nicht. Denn merkwürdigerweise halten sich gerade die Buchhandlungen (auch die Verlage) nicht lange — nie über eine Generation —, wo man den Weg des ge­ ringsten Widerstandes einschlägt und nur noch kühl wirtschaftlich denken will. Denn damit verleugnet man eben den individuellen Grundcharakter des Buches. Wo man aber, freilich mit Fleiß, Um­ sicht und Erfahrung — der gute Wille genügt nicht —, diesem Per­ sönlichkeitswert des Buches dient, da kann man Jahrhunderte über­ dauern und zu Wohlstand kommen, auch als Sortimenter. In Frankfurt drückte ich einmal einem Buchhändler meine Be­ wunderung und mein Mitgefühl für die entsagungsvolle sortimenterische Kleinarbeit aus. »Wir Verleger", sagte ich, »haben es doch eher leichter.“ »Das mag schon sein“, antwortete er, »aber erstens muß jeder das tun, was er am liebsten tut und am besten versteht, und dann 149

bin ich offengestanden auch lieber ein reicher Sortimenter als ein armer Verleger.“ Sprachs, winkte seinem Chauffeur und rollte davon. Das gibt’s auch. Und daß es das gibt: Mich hat’s aufrichtig ge­ freut. Buchhandel, das ist also kein verlorener Posten, kein alter Zopf. Laßt uns den alten Perthes unterschreiben, der gesagt hat: »Des Buchhandels Hann man sich vor Gott und seinem Gewissen annehmen, man führt eine gerechte Sache.“ 1954

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50 Jahrfeier des Verbandes Deutscher Bahnhofsbuchhändler Verehrte Jubelgäste, meine Damen und Herren,

es ist zwar nicht fünfzig, aber immerhin auch schon 25 Jahre her, gewissermaßen ein Doppeljubiläum also, daß ich zum erstenmal in den Tessin fuhr, jenen schweizerischen Kanton, der uns in seiner unvergleichlichen Vereinigung von südländischen Naturreizen und nordländischer Hauskultur, in seiner Ursprünglichkeit und Gepflegt­ heit zugleich so bezaubert. Es liegt nahe, am Bodensee daran zu denken, wie man zum erstenmal jenseits der Schweizer Berge war, die sich uns zum Teil schon von Lindau aus präsentieren. Alles ist für jeden im Leben ja einmal das erstemal, und man erinnert sich insbesondere in jubilierenden Augenblicken gerne an das, was einst war. Es war ein Juni wie heute, da fuhr ich mit Freunden im offenen Wagen über den Bernhardin hinunter bis Brissago, das wir in unse­ rer Ferienlust in Brigasso umtauften, weil das noch romantischer klingt. Über die Gotthardstraße fuhren wir wieder zurück. Die ganze Reise dauerte drei Tage; aber bekanntlich mißt die Seele nicht nach Vierundzwanzigstundentagen, sondern nach Einheiten der Begeisterung; kurz, ich kam begeistert vom Tessin zurück. Da­ von hörte die alte »Frankfurter Zeitung“, und da sie gerade drin­ gend einen Tessinaufsatz benötigte, rief sie mich an, ob ich bereit sei, ihr binnen vierundzwanzig Stunden für ihr Reiseblatt einen unterrichtenden Aufsatz über die schönsten Punkte des Tessins zu schreiben. Sie werden lachen: Ich erklärte mich bereit. Obwohl meine Tes­ sinkenntnisse nur drei Tage weit her waren und sich außerdem nur 151

auf eine Hauptroute erstreckten, schrieb ich, gestützt auf meine Begeisterung und den getreuen Baedeker, den verlangten Aufsatz und erntete damit nicht nur bei der Redaktion, sondern insbeson­ dere bei der Leserschaft einen mich selbst verblüffenden Beifall. Es ist mir noch der Brief eines Lesers in Erinnerung, der sich als langjähriger genauer Kenner des Tessins und der gesamten Lite­ ratur über den Tessin vorstellte, um mir zu sagen, er hätte noch nie etwas so Treffendes und bei aller Kürze Umfassendes über den Ticino gelesen. Wir wollen das Phänomen, daß man als Außenstehender in aller Kürze oft mehr sieht als der Eingeweihte, auf sich beruhen lassen. Denn Sie werden sich doch schon geraume Zeit fragen, warum ich Ihnen das alles erzähle? Weil es mir heute ähnlich ergeht, wie da­ mals mit dem Tessin. Ich komme da als Vortragender zu einem Verband, von dem ich zwar allerlei hervorragende Persönlichkeiten persönlich eben kenne, von dessen Anliegen ich aber herzlich wenig weiß. Sie sind für mich, meine Damen und Herren, gewissermaßen ein zwar außerordentlich lockender und, wie ich nicht bezweifle, gepflegter, aber so gut wie unbekannter Tessin, über den oder min­ destens über den ich hinreden soll. Ihr Vertrauen ehrt mich! Und wenn es mir mit dieser Rede so hinausgeht wie damals mit dem Tessin-Artikel, soll’s mich freuen. Denn Sie erwarten ja gar nicht, daß ich Ihnen Ihre speziellen Pro­ bleme vor Augen rücke, das bleibt Ihnen vermutlich morgen ohne­ dies nicht erspart. Ich habe die Einladung Ihres Verbandes so auf­ gefaßt, daß Sie sich gerade einmal von außen her gesehen und angesprochen wünschen. Gerade was einem sehr am Herzen liegt, möchte man eben darum einmal wie mit den Augen des anderen sehen. Durch alle Jahrtausende wünschen sich Liebende, sie könnten sich einmal in den anderen verwandeln, sich mit dem Herzen des anderen spüren. So etwa habe ich mir vorgestellt, sie wünschen sich einen Vortrag einmal nicht in der Verbandssprache, sondern sozusa­ gen im Kontra-Punkt. Und das hat mich an der Einladung so be­ sonders gefreut, zumal sie mich an den Bodensee lockte, der in 152

meinem Leben schon mehrmals eine entscheidende Rolle spielte. Eine dieser Entscheidungen, meine Frau nämlich, ist hier sogar zugegen. Aber ich schweife ab. Wobei ich Ihnen im Vertrauen verraten will, daß in allen Reden die Abschweifungen das eigentlich Reiz­ volle und Unterhaltende sind. Die Abschweifungen sind daher im Thema dieses Vortrages sozu­ sagen offiziell vorgesehen. Zur Sache nun. Ihr Herr Geschäftsführer schlug ursprünglich vor, ich sollte über die Beziehungen von Buch- und Presseerzeugnissen sprechen, weil ich als Buchverleger einerseits, als Schriftsteller, der auch viel in der Presse erscheint, andererseits da ein doppelköpfiger Fachmann sei. Zweifellos könnte ich über dieses Thema referieren, zumal ich ja sogar fünf Jahre lang Schriftleiter der »Münchner Neuesten Nachrichten“ gewesen bin. Aber eben, das wäre ein Refe­ rat geworden, eine Zusammenstellung von Tatbeständen, schreck­ lich langweilig. Schon der Begriff »Beziehungen zwischen" gleicht verdächtig jenen deutschen Hausaufgaben, deren Themen anfingen mit »Inwiefern ...“. Ich erinnere mich eines solchen Aufsatzthemas, das da lautete: »Inwiefern verwendet Uhland in seinem .Herzog Ernst von Schwaben' den Humor?“ Nachdem ich dieses langweilige Stück gelesen hatte, kam ich zum Schluß: gar nicht. Aber der Lehrer seinerseits hatte Humor in dem Stück entdeckt, inwiefern weiß ich heute noch nicht, und also bekam ich für meine Ausführungen die Note ungenügend. Seither scheue ich mich vor Inwiefern- und Beziehungsaufsätzen. Denn ich will natürlich keine schlechte Note bekommen, von Ihnen, meine Damen und Herren, schon gleich gar nicht. Dazu haben Sie mich schließlich doch nicht eingeladen. Ich denke mir halt, daß Sie, Beziehung hin, Beziehung her, vor allem erwarten, daß ich Sie nicht geradezu langweile! Schön. Ich machte daher einen thematischen Gegenvorschlag. Ich schlug als Thema vor: »Literaturbahnhof oder Bahnhofsliteratur?“ In meinen Ohren klang das recht hübsch. Ich wollte schon in dieser Antithese zum Ausdruck bringen, daß sich im Bahnhofsbuchhandel 153

meiner Meinung nach eine bemerkenswerte Wandlung vom bloßen Handel zum bewußten Handeln vollzogen hat.

Aber Herr von Wissel hatte so seine Bedenken, ob der Begriff „Bahnhofsliteratur“, der aus früheren Zeiten her noch etwas anrü­ chig klingt, für einen Festvortrag der richtige sei, etwa wie man an einer Festtafel ja auch keinen Hering serviert, obwohl niemand die Tatsache des Herings bestreiten könnte. So kam die Geschäftsfüh­ rung doch wieder auf die obigen Beziehungen zwischen Buch und Presse zurück, zumal dabei ja niemand von mir ein enges Referat er­ wartete. Der Vortrag könnte dann einfach heißen: „Buch und Presse — Geist und Handel“. Ich winkte ab, ganz energisch. Stellen Sie sich dieses Thema gedruckt vor: Buch und Presse, Bindestrich, Geist und Handel. Das hätte ja ausgesehen, als wolle ich behaupten, der Geist sei nur beim Buch und nur der Handel bei der Presse! Selbst wenn das meine Meinung wäre, würde ich mich schön hüten, diese derart zu plaka­ tieren. Schließlich war ich ja auch einmal selbst richtiger Presse­ mann und würde mir mit so einem Thema ins Gesicht spucken. Und so einigten wir uns schließlich darauf, Buch und Presse ganz fallen zu lassen und nur noch zu schreiben: „Geist und Handel“. Ich möchte wohl wissen, was Sie sich gedacht haben, als Sie dieses Thema in der Ankündigung lasen. Ich hoffe: gar nichts. Ich jeden­ falls bin damit fein heraus. Denn bei diesem Thema kann man über alles sprechen, was einem einfällt, denn irgendwie gehört alles in der Welt zum Geistigen oder zum Handeln. Ja, ich könnte bei die­ sem Thema sogar über das Wörtchen „und“, das Geist und Handel verbindet, ganz für sich sprechen. Sie würden staunen, was ein Schriftsteller aus so einem kleinen „und“ herausholen kann. Ein bekanntes Lied widmet diesem Wörtchen eine ganze Zeile: „Und, und, und, und, und, es ist ein harter Schluß ...". Friedrich Kluge widmet dem „und“ in seinem Etymologischen Wörterbuch bereits 8 Zeilen, die Gebrüder Grimm in dem ihren 12 enggedruckte, zweispaltige Seiten! 154

Aber seien Sie unbesorgt, daß ich mit meinem Thema nur Faxen machen wollte. Wie den meisten Autoren, die sich heiter zu geben pflegen, ist es mir im Grunde um das Entscheidende immer ernst. Und so will ich auch hier nicht etwa über Gott und die Welt daher­ reden — Sie sehen das schon daraus, daß ich mir entgegen meiner rednerischen Gewohnheit aufgeschrieben habe, was ich sagen will —, ich will auch nicht über irgendwelchen Geist und irgendwelchen Handel, ich will schon über den Geist des Bahnhofsbuchhandels sprechen, und zwar nur über den guten Geist. Der ist mir nämlich begegnet. Ich muß dazu zunächst recht persönlich werden, noch persön­ licher. Manchmal werde ich deshalb getadelt. Aber ich kann mir nicht helfen, ich sehe in der Welt nur lauter Persönlichkeiten, große und kleine, aber jedenfalls verschiedene, und kein Menschenma­ terial, wie es beim Barras so grauenhaft hieß. Und ich denke doch, Sie, meine Damen und Herren, wollen doch auch nicht als Bahn­ hofsbuchhändlermaterial betrachtet werden, als ein uniformer Gü­ terzug, sondern jeder von Ihnen ist ein einzelner Triebwagen, eine Draisine zum mindesten, und ich fühle mich auch so. Ich wollte Ihnen zunächst erzählen, daß ich an einem Bahnhof aüfgewachsen bin, ja geradezu in einem. Er war aus roten Backstei­ nen erbaut und nach fränkischer Landessitte mit Schiefer gededct. Ein kurzes Stück Industriegleis führte vom Bahnhof in unseren Fabrikhof, und so nahm es sich aus, als ob auch der Bahnhof zu unserer Buntweberei gehörte. Fast jeden Tag meiner Volksschul­ jahre fuhr ich einmal mit den Güterwägen vom Bahnhof in den Fabrikhof und wieder zurück, im Bremserhäuschen sitzend. Die Wagen, die voll vom Bahnhof kamen, hatten böhmische Braun­ kohle geladen, die von der Fabrik ausgingen, waren mit großen, in Rupfen genähten Stoffballen bestapelt. Diesen Stoffballen wur­ de mit handgroßen Gummibuchstaben die Adresse aufgestempelt, und ich durfte mich selber daran versuchen. Ich erinnere mich noch des schwierigen Ortes Valparaiso. Vielleicht kommt meine Neigung zu allem Gedruckten von diesen Gummistempeln. 155

Da die Bahnstrecke in mein Heimatstädtchen mein Großvater bewirkt hatte, der Landtagsabgeordneter war, galten wir natürlich am Bahnhof noch extra etwas. Noch viel wichtiger aber wurde, daß Herr Webergals, der Kondukteur, unser Mädchen, die Lore, hei­ ratete. Jetzt waren wir förmlich mit der Bahn verheiratet, wir Kinder durften mit dem Pfeifchen an der Brust des Herrn Weber­ gals das Zeichen zpr Abfahrt geben, und die neumodische Einrich­ tung der Perron-Sperre galt für uns überhaupt nicht. Natürlich fuhren wir mit grünen Billetten für die zweite, grüngepolsterte Klasse, und Großvater fuhr überhaupt ohne Billett. Sie werden verstehen, daß für mein Leben daher alles, was mit der Bahn zusammenhängt, vom Jugendzauber beseelt ist. Auch als ich längst in München ins Gymnasium ging und nur noch in den Ferien in die alte Heimat kam, hätte ich jedesmal fast geheult vor Rührung, wenn ich den alten Bahnhof wieder auftauchen sah. Meine Mutter hat ihn wirklich mit unendlichen Tränen getränkt, wenn sie dort ihre Kinder bei jedem Ferienschluß wieder in die Stadt abreisen sah. Dieser alte rote Bahnhof hatte natürlich keine Bahnhofsbuch­ handlung, weder damals noch später. Der Handel hätte sich dort wahrscheinlich nicht gelohnt. Auch heute, wo der alte Bahnhof längst zu einem Nebengebäude herabgesunken und an anderer Stelle ein neuer Bahnhof gebaut ist, gibt es dort, wie ich Ihrem Mit­ gliederverzeichnis entnommen habe, keine derartige Handlung. Der Handel schläft noch, aber der Geist ist wach. Es muß im Juli 1914 gewesen sein, da bemerkte ich beim Heim­ kommen in die Ferien am Bahnhof schon von weitem unerhörte Neuerung: einen neuen Automaten! Was den alten Automaten betraf, so war er mir lieb und wert, und ich kannte ihn auswendig. Als ich bei der letzten Frankfurter Buchmesse für meine Koje einen Scherzautomaten herstellen ließ, hat er mir nochmal als Muster vorgeschwebt mit seinen schönen Messingverzierungen und dem blindgewordenen, an einem Eck gesprungenen Spiegel. Es war noch einer von den ganz altmodischen Automaten, die nur drei Dinge 156

zur Auswahl stellten: Dessert (marzipangefüllte Schokoladestan­ gen), Pfefferminz (ebenfalls in Rollenform) und dann die ganz herrlichen sogenannten „LebensWecker“, kleine saure Bonbons, wie winzige Puppenkissen anzusehen, in Blechschachteln, denen ein Schmetterling eingeprägt war. Die Lebenswecker waren sehr beliebt und daher oft tagelang ausverkauft, bis neue Füllung kam.

Ich will damit nur andeuten, was es für eine Sensation machte, als neben dem alten Automaten, dessen Süßigkeiten man in drei herausziehbaren Schubladen offeriert bekam, ein neuer Automat auftauchte, bei dem das Gewünschte in einen offenen Schlitz herunterfiel, sobald man an einem Griff zog. Und das allererstaun­ lichste: Dieser Automat lieferte nicht etwa Süßigkeiten, sondern eine ganz andere Art von Lebensweckern: Reclam-Hefte. Ich probierte ihn sofort aus, das heißt, sobald ich zwanzig Pfennige beisammen hatte. Denn zum Unterschied vom alten Auto­ maten gab er seine Waren nur zu zwanzig ab, nicht zu zehn. Und zwanzig Pfennige waren 1914 für einen Anfangspennäler, der noch dazu unterwegs schon an Automaten gezogen hatte, schon ein Stück Geld, das man sich erst verdienen mußte mit Jäten im Garten oder mit Kegelaufstellen. In einer anständigen Familie bekamen Kinder damals sonst kein Geld zur freien Verfügung.

Bis ich die zwanzig Pfennige beisammen hatte, konnte ich aber desto gründlicher studieren, was es dafür alles Herrliche zu kaufen gab. Es standen da bekanntlich mehrere Titel zur Auswahl, und wenn man ein Buch gezogen hatte, erschien darunter ein anderer Titel, ich lauerte daher täglich, ob vielleicht unterdessen ein noch schönerer als der von mir in Aussicht genommene Titel zum Vor­ schein gekommen sei, zitterte aber auch, ob mir das Gewünschte nicht vielleicht vor der Nase weggeschnappt würde. Ich konnte beruhigt sein: Der Absatz blieb, nach einem gewissen Anfangs­ erfolg, recht schleppend, und ich sah oft dieselben Exemplare mehrere Ferien hintereinander im Automatenfenster, bis ich mich dann vielleicht ihrer erbarmte. 157

Bei meiner ersten Erwerbung schwankte ich lange, ob ich Scho­ penhauers Betrachtungen über die Weiber ziehen sollte, entdeckte diese Schrift dann aber gerade noch rechtzeitig im elterlichen Bü­ cherschrank, in einem Band mit der rätselhaften Aufschrift „Parerga und Paralipomena“. Ich sag’s ja immer: Schriftsteller, die solche Aufschriften auf ihre Bücher machen, sollen sich nicht wundem, wenn sie nur zufällig entdeckt werden. So konnte ich denn das andere gewählte Buch ziehen, von dem ich höchst sonderbarerweise sowohl den Autor wie den Titel vergessen habe. Ich weiß nur noch den Untertitel, und der lautete „und andere Humoresken“. Es wer­ den vielleicht die damals beliebten Militärhumoresken des Frei­ herrn von Ompteda gewesen sein. Jedenfalls „und andere Humo­ resken“, die mir den Eindruck machten: Das kannst du auch. Ich verfaßte in das noch halbleere lateinische Schulheft, Klasse 2a, sofort eine Humoreske, über die ich in der Tat heute noch lachen muß, wenn ich daran denke. Sie hieß „Die Urne“ und begann: „Neben meinem Bett steht eine Urne mit der Asche meines Urgroß­ vaters.“ Wie Sie sehen, höchst unwahrscheinlich und daher humoresk. Aus dieser Erinnerung an den Reclam-Automaten kann man auch als Außenstehender schon die wichtigsten Eigenarten des Bahnhofsbuchhandels ablesen. Der Bahnhofsbuchhandel ist sozusagen ein stummer Buchhandel. Mehr als irgendein anderer spricht er nur durch das Gedruckte selbst den Kunden an. Man hört zwar gelegentlich wieder den alten Ruf: „Zeitungen, Zeitschriften, Bücher!“ Dies aber doch nur, um den Reisenden während des kurzen Aufenthaltes bekannt zu geben, daß in dieser Station etwas zu lesen an den Zug gebracht wird, was ja nicht selbstverständlich ist, jedenfalls weniger selbstverständlich als warme Würstchen, die doch erst recht ausgerufen werden. Aber der Laden des Bahnhofsbuchhändlers spricht nur durch das Ge­ druckte, und es bleibt dem Kunden völlig überlassen, ob er sich für Schopenhauer oder für andere Humoresken entscheiden will. Dieser Umstand hat die ganze Entwicklung des Bahnhofsbuch­ handels bestimmt. Denn wenn man, um beim Beispiel zu bleiben, 158

merkt, daß »andere Humoresken“ öfter mitgenommen werden als Schopenhauer, dann wird man natürlich mehr andere Humoresken auslegen als Schopenhauer. Ich sage »natürlich“: Denn ursprünglich sah es doch wohl so aus, daß man im Bahnhof nur das verkaufen kann, was geht, und das Gängige ist ebenso natürlich zumeist das, was dem breiteren, nicht dem anspruchsvolleren Publikum gefällt. Diesem aber gefiel nicht nur die Humoreske mehr als Schopenhauer, noch viel besser gefiel ihm die Eroteske, wenn ich so sagen darf, deren Pflege sich die Zeitschrift mehr annehmen kann als das Buch. So kam es auf besagtem, natürlichem Wege gerade im Bahnhofs­ buchhandel zu der Überflutung mit Blättern, die einen prickelnden Augenblicksreiz haben. Daß man für solche Reize gerade beim Reisen besonders empfänglich ist, in der Loslösung der alltäglichen Bindungen, ist psychologisch bekannt. Ich habe eine Zeitlang selber eine berühmte Illustrierte gemacht. Ich mußte mich dabei an Hand von Vertriebszahlen davon überzeugen, daß Nummern, die kein Mädchen im Titelblatt führten, schlechter gingen, sie mochten sonst noch so gut sein. Gelegentlich ließ sich ja ein Hindenburg nicht um­ gehen (wobei Patriotismus jeweils auch gut gefragt sein kann), und wenn man mal gerade einen Fußballkönig erwischte, so konnte das sogar zur Abwechslung Sensationsziffern bringen. Das Ideal eines Illustrierten-Titelblattes (vom Vertrieb aus gesehen) wäre eine hübsche, leicht bekleidete, siegreiche Fußballkönigin, und ich wun­ dere mich eigentlich, daß eine geschickte Redaktion noch nicht dafür gesorgt hat. So kommen wir also zwangsläufig beim stummen Buchhandel dahin, daß uns nur persönliche oder gesetzliche Moral vor den ganz guten Geschäften zurückhalten?

Doch nicht. Nicht unser Sittengesetz, unsere Standes- oder Per­ sönlichkeitsverantwortung allein halten uns davon ab, hemmungs­ los auf die niedrigsten Instinkte zu spekulieren, es zeigt sich auch, daß das auf die Dauer gar nicht das beste Geschäft ist, gerade im Bahnhofsbuchhandel nicht, und heute weniger denn je. 159

Denken Sie nochmal an die Geschichte mit dem Automaten. Ich war zwar nur ein Kind und hatte zunächst kein Geld, und dennoch bin ich allmählich der beste Kunde dieses Automaten geworden. Ich hob mir für ihn ein gut Teil meiner alljährlichen Hauptein­ nahme auf, des Geburtstagsgeldes, wobei mir die Eltern die Jahre in Markstücken auszahlten. Warum? Weil ich lesehungrig war, und weil es mir besondere Freude machte, ungefragt, unbeobachtet, in aller Ruhe und noch dazu an dem Ort, der vom Geist der Kindheit beseelt war, Bücher zu kaufen. O, ich hatte es auch schon in rich­ tigen Buchhandlungen in München probiert, in der Stadt, wo wir unsere Schulbücher kauften, oder dann einmal außen bei uns in Schwabing. Aber in der großen Schulbücherhandlung mußte alles so schnell gehen, es wurde so auf mich eingefragt, ich konnte mich gar nicht umsehen, eine alte Dame ratterte schon hinter der Kasse, da konnte ich nicht heimisch werden. Und in Schwabing, da sah ich im Schaufenster ein Bändchen von Hermann Hesse, »Lieder des Einsamen“, und wollte es mir im Laden ansehen: Da lachte das Fräulein und wisperte mit ihrer Kollegin über mich, daß sich ein Bub im Matrosenanzug die Lieder des Einsamen ansehen will... Na ja. Jedenfalls wie trostreich war dagegen mein stummer und dabei doch so beredter heimatlicher Automat! Dabei hatten die Bändchen damals noch keine Bildchen oder sonstige Anhaltspunkte, ich mußte mich auf den Titel verlassen. Denn die meisten Autoren waren mir fremd. Aber ich hatte Zutrauen zu dem Automaten, daß er mir schon Gutes herausfallen lassen würde, auch wenn ich nicht wüßte, was es sei. Und dieses Vertrauen, meine Damen und Her­ ren, ist ein besseres Handelskapital, als der noch so große Reiz­ umsatz bringen kann. Wenn im Frühling in meinem Garten in Starnberg die schwarzen Tulpen wieder aufblühen, die man zu meiner Kinderzeit noch für unmöglich hielt, dann muß ich an den Roman »Die schwarze Tulpe“ denken, den ich einst aus dem Auto­ maten gezogen hatte und in dem diese Zukunft vorausgenommen war. Dies ist nur ein kleines, ja kindliches Beispiel dafür, wie wohl 160

Unzählige gerade dem Bahnhofsbuchhandel Dank schuldig sein mögen. Ich habe ihn jedenfalls immer nur von seiner schönsten und reinsten Seite kennen gelernt. Früher hatte ja das Reisen für einen bürgerlichen Menschen an sich etwas Verdächtiges, nicht ganz Solides. Und dem Begriff .Rei­ sender* ist etwas leicht Anrüchiges bis zum heutigen Tag verblieben. Dabei reist lustigerweise der, den man kurzweg einen Reisenden nennt, der Handlungsreisende oder Vertreter, fast nur noch mit dem Wagen, so daß heute offenbar nur noch ganz solide Menschen mit der Eisenbahn reisen! So grotesk dieser Gedankengang an­ mutet, daß das Eisenbahnpublikum solider geworden sei, so gut könnte er erklären, warum heute das, was man einst als Bahnhofs­ literatur brandmarkte, nicht mehr so im Vordergrund steht. Ja, es gibt Bahnhofsbuchhandlungen, die übertreffen an Auswahl und Qualität die ansässigen Ortsbuchhandlungen — so wie man früher in der Schweiz in den jeweiligen Bahnhofsbuffets besser speiste als in den sonstigen Restaurants. Dieser Zug des Bahnhofsbuchhandels, auch in Büchern größeren Ansprüchen zu genügen, ist für den ob­ jektiven Betrachter jedenfalls auffallend. In jedem Bahnhof, den ich betrete — als Autofahrer ist mir das ohnedies ein besonderes Erlebnis, das sich meist nur besuchsabholenderweise ereignet —, sehe ich mir natürlich die Buchhandlung an, und zwar nicht so, wie das Verleger zu tun pflegen, die nur nachschauen wollen, ob und mit welchen Titeln sie vertreten sind: Nein, so wie ich einst als Kind vor dem Automaten stand, einfach staunend. Wenn ich dabei gar noch ein Buch meines Verlages entdecke, freue ich mich freilich. Denn wenn ich so an meine verlegerischen Vertreterbesuche bei Bahnhofsbuchhandlungen denke, muß ich hellauf lachen. Ich hatte da in meinen Anfängen von einem Vertreter läuten hören, ich könnte es ruhig auch einmal bei einer Bahnhofsbuchhandlung versuchen. Ich versuchte es also, warum soll ich’s nicht sagen, in Mainz und ging in den Bahnhof. Natürlich schickten mich die, kopfschüttelnd über einen solchen blutigen Anfänger, ins Büro, ganz wo anders hin. Ich fragte zwar nicht gerade nach Herrn 161

Steiniger, soviel hatte ich ja heraus, daß der Firmenname nicht immer den Chef anzeigt, erregte aber doch sichtlich neue Verwun­ derung mit allerlei, hatte dann aber Glück und geriet an Herrn Heilmann, der mich aufklärte, vor allem dahin, daß derHeimeranVerlag für Bahnhöfe wohl nicht das Richtige sei, sich aber dann netterweise zum eigenen Gebrauch etwas bestellte. Wie müssen sich die Bahnhofsbuchhändler geändert haben (nach­ dem ich mich nämlich nicht änderte!), daß derselbe Herr Heilmann mich heute führt, nicht nur zum eigenen Gebrauch. Daß es übrigens ausgerechnet ein auch als Bahnhofsbuchhändler bedeutender Stutt­ garter Kollege war, dem ich auf jener Reise einen wichtigen Rat dankte, will ich doch auch noch anmerken. Ich fragte, na also, ich fragte Kollegen Wittwer, ob er mir rate, meinen bis dahin liebhaberischen Verlag beruflich auszuüben. Er riet mir dringend ab, was meinen Entschluß, es doch zu tun, nur bestärkte, zumal sich der Ratgeber dann praktisch immer sehr lebhaft für mich einsetzte. So hat für mich das Wort »Bahnhofsbuchhändler“ geradezu eine Aureole, einen Glanz bekommen, und den verdient es auch in einem überpersönlichen Sinne. Denn wer immer bei uns den Bahn­ hofsbuchhandel eingeführt hat (ich weiß schon, wer es war), hat damit eine für alle Buchhändler richtige Tat geleistet: Er hat damit für die Verbreitung des Lesens an sich mit Erfolg geworben. Die Eisenbahn ist ja das einzige Verkehrsmittel, in dem das Lesen sowohl auf kurze Minuten wie auf lange Stunden möglich und angenehm ist. Weder vor Erfindung der Eisenbahn noch später hat es eine so bequeme Möglichkeit gegeben, einzusteigen, die Zei­ tung aufzuschlagen, ein Artikelchen zu lesen, wieder auszusteigen, oder aber auch stundenlang sitzen zu bleiben und ganze Romane auszulesen. Das erscheint uns heute selbstverständlich. Aber ehemals war es gar nicht so selbstverständlich, daß man beim Reisen nicht nur schlafen, essen und trinken kann, sondern daß der Rhythmus der Räder, der uns angenehm schaukelt und uns doch zugleich ruhig sitzen läßt (sehr zum Unterschied von anderen Verkehrsmitteln), die ideale Lesebegleitung ist. 162

Diese Entdeckung hat der Bahnhofsbuchhandel dann sozusagen mit seiner Existenz demonstriert, und alle Welt folgte mit Ent­ zücken. Es ist bereits für uns Autofahrer heute schon wie ein ver­ lorenes Paradies und wie ein sehnsüchtiger Traum, daß wir beim Fahren auch lesen! Von dem, der am Steuer sitzt, ganz abgesehen, ist eigentliche Lektüre auch im großen Wagen nicht möglich. Auch im Flugzeug ist das nicht jedermanns Sache, und deshalb müßte doch die sonst so erfinderische Eisenbahnwerbung diesen Vorzug viel mehr herausstellen. »So machen’s die Weisen, sie lesen und reisen.“ In diesem Sinne etwa. Vielleicht mit dem Hinweis: »Was Sie lesen, finden Sie in jeder Bahnhofsbuchhandlung!“ Vielleicht gäbe das eine hübsche Gemeinschaftswerbung mit der Bahn auf der Grundlage einer allgemeinen Pachtsenkung? Denn wenn ich manch­ mal auf Bestellzetteln las »mit erhöhtem Rabatt, da für Bahnhofs­ buchhandel“, und einwandte, wieso denn? Die Bahnhofsbuchhand­ lungskunden kämen doch automatisch »ins Haus“, woher da die erhöhten Spesen kämen, wurde nur immer geantwortet: »Von der hohen Pacht!“ Nun, ich verstehe nichts davon. Aber sicher ist, daß gerade Buchhandel und Bahn noch mehr gemeinsame Sache machen könnten, da Lesen und Eisenbahnfähren so ideal zusammenpassen. Und zwar nicht nur das Winterlesen, das sonst überall überwiegt, auch das Schönwetterlesen findet in der Eisenbahn mit gleichem Eifer und Vergnügen statt. Ich erinnere mich da eines knallheißen Hochsommertages in jener Frankengegend, die man sogar offiziell die Romantische Straße nennt. Ich benützte eine Nebenstrecke, auf der es noch jene plüsch­ gepolsterten Coupes gab, wie sie mir aus der Kinderzeit vertraut sind. Wir waren unserer vier in dem grünen, heißen Abteil, und alle vier waren wir Leser, das reinste Lesekabinett. An dieser Szene, die zwar nicht alltäglich, aber doch auch nicht gerade selten ist, wird deutlich, daß das Eisenbahnfähren sich kei­ neswegs nur für sogenannte leichte Lektüre eignet, sondern im Gegenteil gerade für anspruchsvolle und damit auch für große Bücher besonders in Frage kommt. Denn Eisenbahnfähren zerstreut 163

nicht (wie Autofahren), sondern sammelt. Ich sage das nicht, weil ich hier einen Vortrag zu halten habe, in dem man gewisse, dem Hörer angenehme Feststellungen treffen will. Ich habe in der Bahn von Starnberg nach München und zurück in den Jahren, als es noch nicht wieder Autos gab, den gesamten Jean Paul gelesen, alle 32 Bände der Reimerschen Erstausgabe. Sie werden mir zugeben, daß das keine leichte Lektüre ist, zumal wenn sie in stets überfüll­ ten Zügen vor sich geht. Trotzdem hat sie sich hervorragend be­ währt, und daher ist für mich der Ausdruck »Bahnhofsliteratur0 oder »Bahnlektüre" keineswegs anrüchig, sondern auszeichnend, geradezu poetisch. Ja, verehrte Hörerinnen und Hörer, selbst diejenigen unter Ihnen, die sich für rein sachliche Geschäftsleute halten, denen man mit der sogenannten Poesie des Bahnhofsbuchhandels nur ein ironi­ sches Lächeln abnötigen kann, werden sich über kurz oder lang davon überzeugen, daß Gemütsstimmung (das ist es, was wir hier mit Poesie meinen) bald das bessere Geschäft sein wird als bloßer Reiz. Frau Dr. Noelle könnte uns vielleicht dazu Zahlen verschaf­ fen, daß im Ausland der sogenannte Schund und Schmutz im Rück­ gang begriffen ist, ganz von selber, ohne Prüfstellen, die ihn näm­ lich höchstens interessant machen, und daß sich diese Entwicklung vom Seichten zum Nährenden bei uns ebenfalls abzeichnet. Sehen Sie sich doch nur einmal die Anzeigen Ihrer Fachblätter heute an gegen die von früher: Sie werden selber erstaunt feststellen, daß die Schundfabrikation sinkt und dafür wertvolle Literatur trium­ phiert. Der Bahnhofsbuchhandel spiegelt die Atmosphäre des Bahn­ hofs, das ist doch sehr begreiflich. Diese Atmosphäre ist heute mehr denn je eine poetische — nicht so, als ob nun statt unpassender Wandkritzeleien jetzt hehre Gedichte zu finden wären, sondern daß uns im Bahnhof das romantische Gefühl von Spannung, Er­ wartung, Abschied, Wiedersehen überkommt und stark bewußt wird. Gewiß, es gibt noch andere Bahnhofsempfindungen, kind­ liche Spielzeuglust oder den Genuß von Ordnung und Pünktlich­ keit. Aber auch sie tragen dazu bei, den Kunden der Bahnhofsbuch­ 164

handlung Gefühlswerte einzustimmen, denen der moderne Bahn­ hofsbuchhandel an Stelle der früher so dominierenden leichten Kost mehr und mehr entspricht. Ich möchte Ihnen das noch etwas deutlicher machen, was ich unter Atmosphäre verstehe. Für manche Vertriebsfachleute mag es ja zunächst etwas läppisch klingen, daß man heute mehr auf Atmo­ sphäre achten muß, statt auf sex- und ähnliche appeals. Ein Mann mit dem schönen Künstlernamen Heinrich der Wepper hat einmal versucht, das Wesen der Eisenbahn poetisch zu erfassen. Ich zitiere: »Es wiehert laut das Eisenroß, Bevor’s beginnt den Lauf Und eilend zieht den Wagentroß Am Schienenweg frischauf. Es zischt und braust bei seinem Ritt Durch Täler, Wies’ und Feld Und nimmt Waggons so viele mit, Als angehängt erhält. Hiebei das Auge sich erquickt Rennt imposant es her, Indem die Waggons sind geschmückt Mit viellem Passageur. Dem dreimal hoch, der es versteht, Was Nutzen schafft dem Staat, Indem des Kaisers Majestät Den Bau bewilligt hat.“ Ich glaube nicht, daß Heinrich der Wepper damit die Atmosphäre der Eisenbahn getroffen hat. Und daher erlaube ich mir, es lieber selber zu versuchen. Redner müssen sich ihre Zitate anderswo leihen, aber als Schriftsteller schlägt man sich doch am bequemsten selbst auf. Ich schlage mich in einem Buche, das »Familienalbum* heißt, auf. Darin werden einmal das oben erwähnte Starnberg und seine Station geschildert. Die Schilderung spielt also am See, und auch 165

darum finde ich sie hier in Lindau am Platze. Allerdings ist es eine Herbstschilderung, und sie beginnt daher mit der Feststellung: „Heute früh ist an der kleinen Station der Herbst eingetroffen. Er muß den Sechsuhrzug benützt haben; denn als ich um acht zur Bahn kam, war er schon da und in voller Tätigkeit. Er hatte die Buchen an der Seepromenade entzündet und die Pappel vor dem roten Stationsgebäude gelb angetupft. Gestern stand sie noch so grünsommerlich; heute schauert sie zusammen, als ich mein Fahrrad anlehne. Ein müdes Blatt fällt und verhängt sich an der Glocke der Lenkstange; da bleibt es hängen wie ein Gepäckzettel. Ich bin, wie immer, sehr zeitig zur Stelle. Zum Theater und zur Bahn komme ich nicht gerne im letzten Augenblick und lasse mich daheim lieber dafür belächeln, daß ich dann warten muß. Ich spaziere auf und ab vor dem Stationsgebäude. Es ist eine kleine Station, aus Ziegelsteinen gebaut, mit Schiefer gedeckt, mehr einem Bahnwärterhaus ähnlich. Vom Gebirge her weht ein kühler Wind, und die Telegraphen­ drähte sausen vernehmlich. Der See wirft Wellen auf. Ich schaue nach dem Dampfer aus, der an den Achtuhrzug Anschluß hat. Während der Ferienmonate ist es der große braune Dampfer mit dem goldenen Geländer. Jetzt im Herbst genügt ein weißes Motor­ schiff. Es hat drüben das Ufer verlassen und nimmt beschleunigten Kurs auf den Landungsteg der Station. Denn schon ist in der Ferne das Rollen des Zuges zu hören. Ich gehe durch die Sperre. Der Beamte blickt mir ins Gesicht und grüßt. Wir kennen uns natürlich. Aber den ganzen Sommer haben wir uns nicht gekannt. Wenn vollbesetzte Postautos vom Land­ inneren eintreffen, wenn der See Feriengäste gleich tonnenweise ans Ufer wirft und die kleine Station überfüllt ist von Reisenden, hat der Beamte keine Zeit, in Gesichter zu blicken; er achtet nur auf die Fahrkarten. Mag sein, daß er ein Kenner ist in Händen und daß er auch eine Hand kennt, die sich ihm allmorgendlich entgegen­ streckt; aber wie soll er Hände grüßen? Jetzt aber schaut er mich an und lächelt ein verständig: „Immer noch da?“ sagt er. „Ja, immer 166

noch“, antwortete ich. Es ist hübsch, von einem Bahnbeamten als Kunde behandelt zu werden. Auf dem Bahnsteig ergehen sich die übrigen Stammkunden der Station: der Herr mit dem breitrandigen, runden Hut, das über­ schlanke Fräulein mit dem beleidigten Mund, ein Offizier, eine Frau mit Schürze und Huckelkorb, zwei Herren mit Mappen, zwei Mädchen mit Hund. Sie werden, wenn der Zug einfährt, allesamt Posten fassen zwischen der zweiten und vierten Eisensäule des Wetterdaches. Sie wissen aus Erfahrung, wo man stehen muß, um auch bei großem Andrang im Zug Platz zu finden. Jetzt im Herbst wird es ja keine Rolle mehr spielen; aber im Sommer ist das so: Anfänger halten sich in der Mitte des Bahn­ steiges beim großen Haufen. Fortgeschrittene glauben, ganz vorne, außerhalb des Daches, wo der Postkarren wartet, besonders gute Aussichten zu haben. Da dies aber alle Kenner zweiten Grades glauben, wird es vorne besonders voll. Infolgedessen versuchen sie es später mit dem anderen Extrem und postieren sich am Ende des Bahnsteiges, wo man zudem noch den freien Blick auf die Zugspitze genießt. Der letzte Wagen führt aber meist Gepäck mit und der vorletzte ist öfters für Ferienkinder belegt. Nein, nein, der wahre Kenner wird sich etwas von der Mitte halten, dem großen Haufen entrückt, aber ohne sich an die Spitze stellen zu wollen. Hier bietet sich die sicherste und freieste Existenz — wenigstens auf der Eisenbahn. Die Bahnstammkunden lassen sich diese Erfahrung aber nicht anmerken, sondern wandeln, um abzulenken, unaufhörlich den Bahnsteig entlang, besonders jetzt, nachdem die Seefahrer am Lan­ dungssteg eingetroffen sind und hastig zur Bahnsperre drängen. Sie schleppen zahlreiche Koffer mit sich, was sie in den Augen der eingesessenen Bahnbenützer jhnedies zu Beutemachern stempelt, vor denen man sein Geheimnis hüten muß. Die Seefahrer stapeln ihre Koffer an allen Säulen des Bahnsteigs auf und werfen alsbald Zigarettenschachteln, Butterbrotpapiere und Filmpackungen auf die Schienen. Beides dünkt mich sonderbar. 167

Koffer bedürfen doch gar keiner Anlehnung an Säulen; es hat etwas Hundehaftes, daß die meisten Kofferinhaber nach Säulen trachten, und was soll das für eine Art von Reinlichkeit sein, wenn man seine Abfälle zwar nicht auf den Bahnsteig wirft — was allerdings strafbar wäre —, sondern auf den Bahnkörper, zwischen Schwellen, Schotter und Geleise, die zu reinigen weit mühsamer sein muß als ein Bahnsteigpflaster. »Achtung, zurücktreten“, ruft der Fahrdienstleiter, »Züge aus beiden Richtungen!“ Als erster gewinnt diesmal unser Personenzug die Station. Jeder Reisende hat auf dem Bahnsteig seinen Platz gefaßt; aber kaum ist die Lokomotive vorbeigebraust, verlassen die meisten ihre Plätze und strömen wie besessen nach vorwärts, wider alle Vernunft, mit­ gerissen von einer bloßen Bewegung. Nur einige Standhafte ent­ ziehen sich dem allgemeinen Taumel und werden dafür meistens belohnt; denn von einem festen Standort aus läßt sich ein Ziel leichter treffen als von einem beweglichen. Mir ist diesmal sogar ein Fensterplatz zuteil geworden, und so kann ich beobachten, wie auf dem anderen Geleise der Gegenzug einfährt. Es ist ein Schnellzug, und er hält nicht; die Station ist ihm viel zu unwichtig. Aber den Reisenden, die er führt, ist sie umso wichtiger, weil ihnen an dieser Stelle zum erstenmal der See und das Gebirge vor Augen treten. Die benommenen, schläfrigen Gesichter hinter den Wagenfenstern werden mit einem Male froh und lebhaft durch den bezaubernden Anblick der Berggestade, man macht sich gegenseitig darauf aufmerksam, Scheiben werden herun­ tergelassen — da ist der Zug schon vorbei, und es wird lange dauern, bis sich ihm wieder eine solche Aussicht bietet. Dies wissend, bin ich jedesmal stolz auf den Effekt, den meine kleine Station selbst auf Menschen macht, die in Schnellzügen reisen.“ Was hat diese Idylle noch mit dem Thema »Geist und Handel“ zu tun?, werden Sie vielleicht fragen. Am liebsten wäre es mir ja, Sie würden nicht fragen, sondern sich einfach mitanstecken lassen von dem Zauber, den alles, was mit der Eisenbahn zu tun hat, 168

ausübt, und zwar gerade auf den Leser. Die Eisenbahnen, auch wenn sie noch so modern sind, und desgleichen die Bahnhofsbuch­ handlungen, werden gerade davon profitieren, daß man in ihnen das Romantische, das Beseelte, den Geist spürt. Wahrscheinlich kommt das daher, daß die Bahnen erdgebunden und damit erdverbunden bleiben. Indessen die Flug- und Atom­ technik den Raum durchrast und keine Spur hinterläßt, ist die Bahn wie ein lebendiger Fußstapfen in dieser unserer Welt. Es gibt nicht sehr viele Stätten mehr, an denen Ruhe und Besinnung mög­ lich ist. Die Eisenbahn ist uns trotz aller Neuerungen immer noch ein liebes Spielzeug geblieben, an dem die Seele halten und rasten mag. Und der große Seufzer unserer Zeit geht längst nicht mehr nach Tempo, Tempo, sondern nach Beruhigung von der Hast. Diese Beruhigung kann vom Lesen ausgehen, vom richtigen Lesen, nicht vom Schlingen, und dahinzuführen haben Sie, verehrte Zuhörerin­ nen und Zuhörer, gerade als Bahnhofsbuchhändler eine Schlüssel­ stellung, bei der auch der Handel nicht zu kurz kommen wird. Die Frage, ob dazu Zeitungen und Zeitschriften auf der einen oder Bücher auf der anderen Seite den Vorzug erhalten sollen, kommt mir etwa so vor, als wenn ich entscheiden sollte, ob Band­ nudeln oder Fadennudeln das Gesündere sind. Bei allen angeblich unlösbaren Fragen in der Welt liegt der Fehler nur an der falsch gestellten Frage. Es handelt sich nicht um Faden oder Band, um beim Nudelbeispiel zu bleiben, sondern wie gut die betreffenden Arten sind. Es gibt seichte, gemeine Zeitschriften, zugegeben. Aber es gibt ebensolche Bücher. Und alle Kollegen, die hier sitzen, wer­ den bestätigen können, daß die allzu leichte Ware vom Winde verweht — jahraus, jahrein gehen derlei Produkte wieder ein —, während gute Arbeit sich Generationen behauptet. Also tut man im eigensten Interesse gut daran, eine bestimmte geistige Linie zu halten, denn nur damit hält man sich auf lange Sicht auch händ­ lerisch. Ich meine nicht, daß nun alle Jean Paul lesen werden oder sollen. Aber daß das Schlechte für den Bahnhof gerade das Rechte sei, wie mir vor vielen Jahren einmal allen Ernstes versichert 169

wurde, ist heute grundfalsch. Natürlich muß man zu locken ver­ stehen, aber nur für das, was dann befriedigt, denn nur das ver­ spricht Dauer. Ich habe neulich eine Statistik in die Hand bekommen, was die Heilsarmee von ihrem Blatt »Der Kriegsruf“ an Bahnhöfen ver­ kauft hat. Es sind da neun Bahnhöfe aufgeführt, wo jeweils ein einzelner Heilsarmeesoldat in wenigen Abendstunden, oft nur am Wochenende, fünf- bis achthundert Exemplare der Zeitschrift ab­ setzte. Absatzziffern von über hundert Exemplaren können viele Dutzende von Soldaten nachweisen. An diesem Exempel allein wird deutlich, daß das Lockende für den Bahnhof keineswegs nur das Grobsinnliche sein müßte, sondern im Gegenteil, daß der Appell an Herz und Gemüt vielleicht noch größere Chancen hat. Der Vortrupp des Bahnhofsbuchhandels hat das auch erkannt und ge­ nützt. Es gibt heute bereits Bahnhofsbuchhandlungen, die man besser mit dem einstmaligen Ehrentitel »Hofbuchhandlungen“ be­ zeichnen müßte. In jedem anständigen Vortrag heißt es zum Schluß, ich komme zum Schluß. Gewöhnlich geht es dann noch eine halbe Stunde weiter, und der freudige Ruck, mit dem man diese Schlußankün­ digung quittiert hat (in der Absicht, bald applaudieren zu dürfen), war vertan. Das stimmt mißmutig. Besser ist es schon, wenn einer sagt: »Damit will ich schließen und hoffe, daß etc., pp.“ Denn damit beweist der Redner, daß ihm wirklich nichts mehr eingefallen ist, vor allem kein Schluß. Denn einen richtigen Schluß merkt man ganz von selbst. Sehr gut machen sich am Schluß immer Zitate. Das sieht dann so aus, als hätten die großen Geister auch nichts anderes gedacht als wir. Ich hätte allerlei Passendes auf Lager. Etwa von Friedrich Nicolai: »Ich sehe die Notwendigkeit ein, wenn ich die Unterneh­ mung meiner Handlung im ganzen überlege, streng als Kaufmann zu denken; aber es wäre für meinen Verstand und für mein Herz ein großes Unglück, wenn ich immer als Kaufmann denken wollte!“ Ein schönes Wort, das von Eugen Diederichs für unsere Zeit noch 170

mit der Bemerkung ergänzt wird: »Überdies, meine Herren, man kann bei diesen künstlerischen Grundsätzen sogar geschäftlich ver­ dienen!" Das ist in der Tat ein bißchen von dem, was ich mit Geist und Handel sagen wollte. Gerade wir Buchhändler brauchen dies nicht als einen Gegensatz zu betrachten. Das zeichnet unseren Beruf aus. Ich habe es daheim in unserer Fabrik immer als schmerzlich emp­ funden (und auch deshalb konnte ich mich nicht zur Nachfolge als Buntweber entschließen), daß man in der Musterung und Aus­ rüstung, in all dem, was man den Geist einer Webware nennen könnte, so verzweifelt abhängig war, was einem die Kundschaft, der Handel diktierte. Und das war gewöhnlich das Herkömm­ lichste und Platteste. Wir Buchhändler haben es dagegen mit einer Kundschaft zu tun, bei der nicht nur ein Massengeschmack, nur eine Mode allein, den Ausschlag gibt, sondern die ganz persönliche Neigung. Und diese Entwicklung wächst in dem Maße, in dem sich ganze Schichten vom Lesen vielleicht ganz abwenden, weil sie lieber hören oder fernsehen. Damit scheiden die oberflächlichen Leser ohnedies aus, und die verbleibenden sind nur zu halten und zu gewinnen, wenn man ihnen wirkliche geistige Nahrung vermittelt. Sie werden heute in einer billigen Reihe leichter Schopenhauer ab­ setzen als die »anderen Humoresken“ von einst. Ich habe neulich von einer Bücherei die Lizenzabrechnung für das fünfundsiebzig­ tausendste Exemplar von Platons »Phaidon“ bekommen, einem Werk, das dem Bahnhofsbuchhandel von einst sogar dem Namen nach nicht geläufig gewesen wäre. Heute ist er daran nicht un­ wesentlich beteiligt. Wenn er fortfährt in dieser Arbeit, wenn er seine Chance des ständigen Passantenstroms und des stummen (und doch so beredten) Verkaufs fortsetzt (98°/° aller Verkäufe führt der Börsenverein statistisch ja auf stumme Schaufensterwerbung zurück), wenn er ferner auch weiterhin dafür sorgt, daß man bei ihm gehen und kommen und blättern kann, ohne auch nur ange­ sprochen zu werden (eine Chance, die viele Sortimenter gerne ge­ ben würden, wenn sich die Kunden nur in den Laden trauten!), 171

dann werden wir zum nächsten Jubiläum des Verbandes Deutsdier Bahnhofsbuchhändler doch über das Thema sprechen, das ich ur­ sprünglich vorschlug: .Bahnhofsliteratur oder Literaturbahnhof“. Denn Literatur und Bahnhofsliteratur werden dann ein und der­ selbe umfassende Begriff sein. 1955

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Tischrede zur Buchmesse 1950 Ich habe vom Vorstand, ja, sogar vom Vorsteher selbst, den ehrenvollen Auftrag bekommen, eine Rede zu halten, keine richtige Rede eigentlich, sondern eine Tischrede, ja, nicht einmal eine richtige Tischrede, sondern eine Nachtischrede. Ich persönlich halte zwar viel auf Nachtisch. Richtige Männer essen gerne Süßes. Außerdem weiß ich aus Erfahrung, daß zu einem guten Nachtisch viel mehr Kunst und Einfall gehören, als zu den sogenannten Hauptgerichten, die man schon auswendig kennt, mit ihren Allerweltssaucen und Allerweltsbeilagen. Es verdrießt mich oft auch in der Literatur, daß die durchschnittlichen, magenstopfen­ den Schmor- und Sauerbraten mehr gelten als ein geistreiches und anregendes Dessert. Aber da ich mich mit dieser meiner Meinung meistens in der Minderheit sehe und es mit meiner Rede doch natürlich der Mehrheit rechtmachen will, habe ich mich beim Vor­ stand genauer erkundigt, worauf und worüber ich denn da nach Tisch sprechen sollte. Der Vorstand sagte, ich sollte natürlich auf den Buchhandel sprechen, aber ja nicht über den Buchhandel. Hm; das erinnerte mich lebhaft an lateinische Schulaufgaben, wo man vorsorglich anfragte, ob man mehr frei oder mehr wört­ lich übersetzen solle? Worauf der Professor erwiderte: »Wörtlich, aber gut deutsch!* Da saß man nun und suchte verzweifelt, diese Widersprüche zu vereinen. Und da stehe ich nun, nicht ganz so verzweifelt, aber doch zweifelnd, ob es mir möglich sei, auf den Buchhandel zu sprechen, ohne eigentlich buchhändlerische Fragen zu berühren, also gewisser­ maßen alles und zugleich nichts zu sagen. Unter den Nachtischen würde man das ein Salzburger Nockerl nennen, an dem bekannt­ lich das meiste Luft ist. Es ist aber sehr schwer, mit Luft zu kochen. 173

So eine luftige Zubereitung des Themas Buchhandel wäre nun etwa die, daß wir uns darüber unterhielten, daß der Buchhandel ein idealer Beruf sei, das Ideal eines Berufs. Da man Ideale be­ kanntlich nie erreicht — sonst wären es ja keine Ideale mehr — bestünde gar keine Gefahr, daß man dabei reale buchhändlerische Fragen berühre. Ja, man könnte da sogar völlig gefahrlos vom idealen Rabatt sprechen. Denn den idealen Rabatt gibt es bekannt­ lich in Wirklichkeit nicht, weder vom Sortimenter- noch vom Ver­ legerstandpunkt, und was es nicht gibt, das ist eben Luft. Wir könnten uns ferner luftig darüber unterhalten, daß nicht nur der Buchhandel, sondern auch der Buchhändler in Person ideal sei. Ich habe das lange allen Ernstes vertreten, daß wir Buchhänd­ ler die nettesten, umgänglichsten und zuverlässigsten Menschen wä­ ren, die es überhaupt gibt. Aber seit der Geldabwertung habe ich diese Auffassung leider auch mit abwerten müssen. Wir natürlich, die wir hier sitzen, beweisen allein schon durch unsere gemeinsame Nahrungsaufnahme, daß wir, wenn nicht ein Herz und eine Seele, so doch ein Mund sind. Man sollte einmal als Parallele zu dem Werk über die weißen Ameisen eines über die weisen Buchhändler schreiben. Da käme man vielleicht in der Tat zu der Feststellung, daß wir Buchhändler alle zusammengenommen nur ein einziges Lebewesen darstellen. Ameisen sind wir auf jeden Fall. Schon zum dritten Male krabbeln wir eine steile Mauer empor, auf der oben vielleicht schon wieder der Finger wartet, der uns hinunterstößt, wenn wir es eben geschafft hätten. Einstweilen aber krabbeln wir noch, der eine schneller, der an­ dere langsamer, aber alle mit dem nämlichen Ziel: nach oben. Eine ausländische Zeitung hat neulich einmal behauptet, der deutsche Buchhandel säße auf dem absteigenden Ast. Das ist schon deshalb unmöglich, weil wir uns angeblich den Ast längst abgesägt haben, auf dem wir sitzen. Außerdem ist der Buchhandel eigentlich gar kein sitzender Beruf. Der Sortimenter übt ihn größtenteils im Herumstehen, der Verleger im Herumfahren aus. Buchhandel ist Gekrabbel, ist Rhythmus, ist Bewegung. Wenn ich nur mich selber 174

zum Beispiel nehmen darf: Ich wohne in Starnberg, der Verlag ist in München, die Auslieferung ist in Stuttgart, die Messe ist in Frankfurt, die Inkassostelle in Hamburg und die Außenstände stehen im Mond. Wenn das nicht Bewegung ist! Wenn wir aber einmal stillsitzen, dann hat das einen hohen, be­ sonderen Zweck. Unser Vorstand zum Beispiel sitzt, um Sitzungen abzuhalten. Das ist aber eine buchhändlerische Frage, und infolge­ dessen schweige ich über diese Art vori Sitzen. Wir aber sitzen hier zum Zweck des geselligen Beisammenseins, und darüber darf ich spre­ chen. Denn für die buchhändlerische Geselligkeit gibt es noch keine Verkehrsordnung. Dennoch ist sie vielleicht die festeste aller Ord­ nungen. Sie zerfällt in zwei Gruppen: 1. Geselligkeit mit Kollegen, 2. Geselligkeit mit Kunden, und zwar a) solchen, die es schon sind, b) solchen, die es erst werden sollen. Die buchhändlerische Geselligkeit unter Kollegen wird zum Zwecke des Meinungsaustausches gepflegt, wie zum Beispiel heute abend. Wenn die Meinungen zu weit auseinandergehen, spricht man nicht mehr von Geselligkeit, sondern von Konkurrenz. Aber im Grunde ist selbst Konkurrenz im Buchhandel noch Geselligkeit, indem man sich nämlich gerade dadurch heftig umeinander küm­ mert. Ist man Sortimenter, spaziert man am Sonntag an den Schau­ fenstern der Kollegen vorbei und studiert interessiert, was sie haben und was nicht; ist man Verleger, so verschlingt man mit wahrer Inbrunst die gegnerischen Börsenblattinserate und gehört zu den ersten, die sich die Bücher der Konkurrenz bestellen. All das gibt es in anderen Berufen nicht. Ich habe noch nie gehört, daß etwa ein Kohlenhändler fremde Kohlenhaufen oder Kohleninserate be­ trachtet oder gar fremde Kohlen zum eigenen Gebrauch bestellt. Im Buchhandel dagegen hat das Wort »Konkurrenz“ noch den ursprünglichen geselligen Sinn, das 4/tieinanderlaufen. Infolgedessen, wenn es in diesem allgemeinen Gelaufe einmal nicht klappt, gibt man nie sich selbst die Schuld, sondern immer 175

dem anderen, der einem im Wege ist. Audi das ist ungemein gesellsdiaftsbildend, so kommt man ins Gespräch, und einer wirft dem anderen wie in lieben, alten Gesellschaftsspielen das Schnupf­ tuch zu. Andersgeartet ist die zweite Art buchhändlerischer Geselligkeit, die mit dem Kunden. Sie besteht zunächst darin, daß man auf ihn wartet. Wer je verliebt war — und hoffentlich gibt es keinen unter uns, der es nicht war oder noch ist —, der weiß, daß das Warten fast noch mehr verbindet, als das Dasein. Schon das Warten ist also im höchsten Maße geselligkeitsbildend. Trifft dann der uns durch Warten schon so nahe gekommene Kunde wirklich ein, ist die Seligkeit groß. Aus dieser Seligkeit erwachsen oft echte Freund­ schaften, man lädt ein, man wird eingeladen. Eingeladen wird im und vom Buchhandel aber niemand so oft wie der Vertreter. Das ist ein höchst merkwürdiger geselliger Zug des Buchhandels. Denn vom Vertreter will man ja nichts, im Gegenteil, er will was von einem. In anderen Branchen lädt daher der Vertreter seinen Abnehmer ein, macht ihn gesellig reif für den folgenden Auftrag. Im Buchhandel ist es im allgemeinen gerade umgekehrt: Man belohnt den, dem man einen Auftrag gegeben hat, noch überdies mit Geselligkeit. Ja, gerade die Vertreter, die die größten Aufträge bekommen, werden überdies noch am meisten eingeladen. Das ist geradezu chinesisch. Bei allen buchhändlerischen Geselligkeiten wird Geistiges in flüs­ siger Form genossen — wie wir auch hier soeben sehen —, mehr aber noch in der Form geistiger Buchgespräche. Daran ist buch­ händlerische Geselligkeit schon von weitem zu erkennen, daß immerfort von Büchern die Rede ist. Natürlich spricht auch der Arzt beständig von seinen Fällen, der Schauspieler von seinen Rollen, der Fischer von seinen Fischen. Der Buchhändler spricht — und das unterscheidet ihn vom gewöhnlichen Fachsimpeln — nicht etwa nur von seinen Büchern, sondern überhaupt von Büchern. Ab und zu kann man mit ihm vielleicht auch über anderes sprechen, so scheint es, über Musik oder Familie vielleicht, aber ohne daß 176

man sich’s versieht, spricht man schon wieder über Musik büch er oder Familienbücher. So ist es wohl nicht zuviel behauptet, wenn man feststellt, daß die buchhändlerische Geselligkeit darin besteht, daß man unaufhörlich über Bücher spricht und zwar keineswegs nur über solche, von denen sonst im allgemeinen gesprochen wird und die sich vielleicht am besten verkaufen — darüber brauchen Buchhändler doch nicht zu sprechen, das wissen sie schon —, sondern über irgendwelche geliebte oder interessante Bücher. Ich erinnere mich eines Bremer Kollegen, der sich in seinem Laden mir gegenüber für Walser be­ geisterte, ihn aber keineswegs führte, weil der ihm, wie er sich aus­ drückte, zu schade sei für den Verkauf. Und nach einer Vertre­ tungsreise kam ich einmal mit Hunderten von Bestellungen auf ein Werk heim, das keineswegs bei mir erschienen war, von dem ich aber so oft begeistert erzählt hatte, daß man mich bat, es doch gleich mitzubesorgen. Und wie oft hat sich ein Sortimenter für etwas begeistert, was er nicht gebrauchen konnte, und auf etwas geschimpft, was er dann groß verkaufte! Das nenne ich wahre buchhändlerische Geselligkeit: sich begei­ stern und erhitzen können für Bücher, die einen rein buchhändle­ risch gar nicht beschäftigen. Die eifrigsten und so gesehen geselligsten unter uns sind dabei die Lehrlinge und jungen Gehilfen, die in ihren Zusammenkünften tatsächlich oft von nichts anderem zehren als von Buchgesprächen. Es ist rührend und beglückend zu sehen, wie diese jungen Kollegen aus der bloßen geselligen Verbundenheit mit Büchern Honig zu saugen wissen. Und da jede Tischrede in einem Lebehochruf gipfeln muß, schlage ich vor, daß wir unsere Gläser erheben und diese Nachtischrede ausklingen lassen in den Ruf: „Der Nachwuchs, er lebe!“ 1950

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Messemusterbuchmustermesse Jedesmal, wenn es wieder auf die Frankfurter Messe zugeht — die ja eine Mustermesse ist, kein Warenverkaufsmarkt — muß ich an unsere Anna denken, daheim in der elterlichen Weberei. Sie hat­ te das sogenannte Musterzimmer unter sich und wurde daher die Musteranna gerufen. Selber sah sie zwar gar nicht besonders mu­ sterhaft aus, obwohl sie sich gerne in dem Spiegel beguckte; aber was sie tat, war allerdings musterhaft. Mit Hilfe einer Hebelpresse nämlich, — an die wir Kinder um Himmelswillen nie rühren durften — zauberte sie allerliebst gezackte Stoffmüsterchen hervor, die sie dann in goldgeränderten Musterkarten aufs appetitlichste zusammenklebte. „Wißt ihr, was das ist?“ fragte sie dann. „Das ist ein Mustermessemessemuster! Könnt ihr’s nachsagen?" Und wenn wir es konnten, durften wir die Abfälle und ausgezackten Schnipsel an uns nehmen und selber damit Müsterchen spielen. Nun, was soll den Besuchern der Frankfurter Buchmesse diese Kindheitserinnerung von der Musteranna? Sie soll zu bedenken ge­ ben, daß man eine Messe nicht nur trocken erwachsen als eine ge­ schäftliche Aufgabe ansehen kann, sondern als eine Freude zugleich. Schon recht: Wir kommen, um uns unterrichten, um zu kaufen und zu verkaufen. Aber wer es versteht, den sachlichen Lebensnotwen­ digkeiten die frohe Seite abzugewinnen, wie jedes Kind es versteht, der kommt doch noch mehr auf seine „Rechnung". Denn schon das alte Wort Messe hat einen frohen, hohen Ur­ sprung und bedeutet kirchlich, wie in der sich anschließenden welt­ lichen Bezeichnung meist ein Fest, eine Feier. Muster dagegen ist ein verhältnismäßig neuer, intimerer Begriff; ja in der Form Mü­ sterchen hat er geradezu etwas Zärtliches. Und nun haben sich diese beiden Worte zusammengetan und machen Messemuster und Mu­ 178

stermesse. Gehen wir also nicht nur mit „Kalkül“, sondern nicht minder mit Vergnügen zur Messemusterbuchmustermesse — kön­ nen Sie es jetzt nachsagen? 1953

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Friedrich der Große als Leser Da sitze ich am hellichten Tage und lese. Zu Großvaters Zeiten würde man einen Geschäftsmann, den man vor Feierabend beim Lesen ertappt hätte, für einen Tagedieb gehalten und ihm den Kredit gesperrt haben; im Stande des Kaufmannslehrlings hätte man ihm das Buch geradezu um die Ohren geschlagen; und ich hege den Verdacht, daß es Menschen gibt, die das im gegenwärtigen Augenblick Lesern gegenüber auch heute für das einzig Richtige hal­ ten. Noch meine Mutter habe ich tagsüber nie ein Buch in die Hand nehmen sehen, das Kochbuch ausgenommen. »Untertags liest man nicht“, das war ein Gebot genau so unumstößlich wie »Bei Tisch singt man nicht“. Einer solchen Auffassung gegenüber werden sich die, deren Beruf es geradezu ist zu lesen, die Frage vorlegen, wie sie ihre Daseinsbe­ rechtigung begründen wollen. Sie selbst wissen freilich, daß sie nicht zum Zeitvertreib lesen und daß sie von dem Vorwurf der Leserei nicht getroffen werden. Sie lesen, um mit Goethe zu sprechen, nicht um sich zu zerstreuen, sondern um sich zu sammeln; sie lesen, um Energien zu gewinnen, nicht nur für ihre Person, sondern für die Gesamtheit, für die sie forschend, planend, aufmunternd zu wirken berufen sind. Aber der Anblick ihres Tuns, dieses Sitzen am Schreibtisch, hat für den uneingeweihten Betrachter ein solches Maß an privatem Behagen, daß man schon versteht, wie ein Urteil zu­ stande kommt gleich diesem: »Was, Bankdirektor? Das möchte ich auch, den ganzen Tag dasitzen und nichts tun als Zeitung lesen.“ Es wäre nun ein leichtes, eine Sammlung zusammenzubringen, ein Weißbuch des Lesens, in dem unsere größten Dichter in goldenen Worten dafür Zeugnis ablegen würden, daß Lektüre für ein stre­ bendes Volk in allen Lagen lebensnotwendig bleibt als sein geistiges 180

Brot. Aber in Zeiten des nackten Daseinskampfes hört man die güldensten Worte mit einem gewissen Unmut an, man denkt sich, die ehrwürdigen Verfasser dieser schönen Sentenzen hatten leicht reden und raten: Stünden sie heute an unserem Platz, würden ihnen alle Sprüche vergehen. Außerdem sind die Dichter gewissermaßen Partei; es ist ja selbstverständlich, daß sie ihr Handwerk als eines der allernotwendigsten und not-wendendsten anpreisen, nicht an­ ders als uns in Schulzeiten jeder Lehrer sein Unterrichtsfach als das wichtigste, für unser Fortkommen entscheidenste, darzulegen trachtete. Es wird wohl niemand behaupten wollen, Friedrich der Große sei kein richtiger Soldat gewesen oder seine Haltung könne militä­ risch nicht als durchaus vorbildlich betrachtet werden. Im Gegenteil: Er ist uns von den frühesten Lesebüchern an als ein solches Muster­ beispiel aller Soldatentugenden vor Augen gerückt worden und wird auch heute so unaufhörlich zitiert, daß man sich beinahe schämt, wenn man ihn ebenfalls wieder in Anspruch nimmt. Doch ist vielleicht gerade eine für seinen Charakter besonders bezeich­ nende Szene nicht allzu bekannt. Man schreibt das Jahr 1758. Friedrich verliert einen Geleitzug, muß die Belagerung von Olmütz abbrechen und sich vor Daun nach Schlesien zurückziehen. Im Westen stehen die Franzosen noch im­ mer diesseits des Rheins, im Osten sind die Russen im Vormarsch und es ist zu befürchten, daß sie sich mit den Österreichern ver­ einigen. Überall sieht sich Friedrich einer doppelten und dreifachen Übermacht gegenüber; eine höchst ungemütliche Situation. Dessen ungeachtet wird alle Nachmittage de Catt gerufen, der Schweizer Student, der den König seit der Schlacht von Leuthen als Vorleser begleitet, richtiger gesagt als Zuhörer, denn er ist mehr der unterhaltene als der unterhaltende Teil. Er trifft den König wie gewöhnlich am Schreibtisch. »Raten Sie einmal, was ich berechne?*1 wird er gefragt. Catt meint, vielleicht die Staatsfinanzen oder die Kriegskosten; aber er hat falsch geraten. »Ich berechne“ sagt der König »wieviele Minuten ich schon gelebt habe. Welche Summe — 181

und wie viele verlorene Augenblicke! Diese Zeit, die unsere Tage, Stunden, Minuten hinwegführt, wird mit Gleichgültigkeit hinge­ nommen, obwohl uns die Natur bei jeder Gelegenheit ins Ohr brüllt: Ihr Sterblichen, nützt die Zeit! Vergeßt niemals den Wert eines Augenblicks und beschleunigt die Flucht eurer Tage nicht durch eitle Nichtigkeiten! — Ein König, so fährt er fort, muß also durch rechten Gebrauch der Zeit alle Hindernisse beseitigen, die seinem Wohlbefinden wie dem seines Volkes entgegenstehen.“ Nach einer solchen Vorrede könnte man erwarten, daß der König sich unverzüglich wieder an die brennenden Kriegsgeschäfte begeben hätte. Stattdessen fordert er Catt auf, ein Menuett mit ihm zu tan­ zen, berichtigt seine Schritte und beweist ihm, daß er, der 46-jährige, sich sogar noch auf Luftsprünge verstünde, fünf-sechsmal hinter­ einander, so daß der um dreizehn Jahre jüngere Catt Mühe hat, es ihm nachzutun. „Welch ergötzliches Schauspiel für den Marschall Daun und den Prinzen Karl“ lacht der König, „wenn sie sähen, wie der Sieger von Lissa in einer Bauernstube Kreuzsprünge übt und Herrn Catt lehrt, der Vorschrift gemäß und mit mehr Anmut die Hand zu reichen!“ Das also versteht der König unter dem rechten Gebrauch der Zeit? Catt ist begreiflicherweise sehr verblüfft. „Die Sitzung dieses Tages verlief recht eigenartig“, schreibt er in sein Tagebuch. Ein andermal findet er den König mit Bauplänen beschäftigt. Es ist das Jahr der Niederlage von Kunersdorf; Dresden ist vom Feinde besetzt; General Fink wird bei Maxen eingeschlossen und mit seinem Korps gefangen genommen; eigentlich ist das ganze Land von Feinden eingekesselt, die Kriegsaussichten werden immer schlechter — und Friedrich sitzt und macht Baupläne! Es sind nicht etwa Kriegsprojekte, es sind überhaupt keine großartigen Pläne, die er entwirft; der König zeichnet einen hübschen kleinen Ruhe­ sitz für sich und ein paar Freunde, er träumt inmitten des Schlach­ tenlärms einen Plan des Lebens in der Stille. Rätselhaft. Woher bezieht der König die Kraft, sich innerlich freizumachen von allen 182

Nöten des Tages, sich über allen derzeitigen und künftigen Kum­ mer hinwegzusetzen und das Lächeln eines Weisen auch im Sol­ datenrock nicht zu verlieren? Friedrich wird so oft nur als der Unerschrockene und Unerbitt­ liche gezeichnet, unablässig beherrscht von der Härte seines Schick­ salsauftrages. Es sind ihm viele erzstarrende Denkmäler errichtet worden und es ist bei Erzgüssen freilich schwierig, jene auch unter Tränen lächelnde Überlegenheit mit einfließen zu lassen, die nie­ mandem entgehen kann, der sich mit seiner Gestalt aus Fleisch und Blut beschäftigt. »Sie sehen mich heute sehr ungeduldig und sehr traurig,“ gesteht er Catt einmal, »ein Schlag ist fehlgegangen, mein Lieber, in trauriger Weise fehlgegangen. Ich hätte große Lust, mich aufzuhängen. Haben Sie niemals diese Neigung verspürt? Ach, das Hundeleben.“ Der Siebenjährige Krieg ist gleichermaßen eine Kette von Siegen wie von Niederlagen und ebensogut bezeichnet von Kolin, Hochkirch, Kunersdorf, Landshut und Kolberg wie von Roßbach, Leuthen, Zorndorf, Liegnitz und Torgau, daß wir vor so viel Beständigkeit eines Charakters unter solchen Wechselfällen er­ schauern. Aber wenn wir uns vorsetzen, diesem Charakter nachzu­ eifern, wird uns das schlecht gelingen, wenn wir ihn nur wie ge­ wöhnlich anstaunen; wir werden gut daran tun, die Hilfsmittel zu erforschen und uns anzueignen, die diesen Charakter geformt und gestärkt haben. Es ist gar nicht so schwer, das Geheimnis seiner Widerstands­ kraft zu enträtseln; Friedrich hat es selbst verraten. »Sie sehen mich bei Lukrez und bei meinen Stoikern“, so begrüßt er am Abend des Unglückstages von Schweidnitz de Catt. »Das sind tüchtige Leute, die im Unglück standhalten." Catt, davon nicht ganz überzeugt, erwidert, wenn man nicht in sich selbst die Kraft finde, die Schicksalsschläge zu ertragen, so spende sie einem die Lektüre der Stoiker wohl auch nicht. »Oh, ich sehe wohl“, sagt der König ernst, »Sie sind diesen Leuten nicht wohlgesinnt, weil sie Ihnen düster erscheinen. Aber glauben Sie mir, sie sind eine gute Hilfe.“ Oder ein andermal: »Mein Bre­ 183

vier, wenn ich schwach zu werden in Gefahr bin,“ oder »meine Lieder, mit denen ich mein armes, krankes Kind einwiege, um es am Schreien zu hindern.“ Bücher also sind es, die den König aufrecht erhalten, das Lesen ist es, das ihn im Kriege wie im Frieden so groß gemacht hat. Er ver­ wendet auf diese Lesetätigkeit nicht nur irgendwelche Augenblicke der Muße, sondern übt sich daran von morgens bis nachts; jeder Vormittag, jeder Mittag, jeder Nachmittag, jeder Abend hat seine Lektürestunden. Man könnte sagen: Sofern der König sich nicht zu Pferde befand, befand er sich zu Buche, dermaßen überwog sein Umgang mit Büchern und Papieren jeden anderen. Nur das Flöten­ spiel wäre daneben noch in Anschlag zu bringen, auf das er eben­ falls täglich mehrere Stunden verwendete, nach dem Frühstück und dem Mittagessen allerdings mehr aus diätetischen Gründen, im Umhergehn, um sich Bewegung zu machen. Sobald der König seine Bücher zusammenpackt, weiß seine Umgebung, daß ein Marsch, ein Treffen bevorsteht; hinwiederum gehört den Büchern sein erster Gedanke, wenn er ein neues Quartier bezogen hat. »Ich bezweifle, daß in diesem erdenklich traurigsten aller Dörfer jemals so viel gelesen worden ist“, sagt er von seinem Feldlager zu Pretzschendorf, und er hätte das mit Recht von den meisten Orten seines Opera­ tionsgebietes behaupten dürfen. Er führt eine eigene Feldbücherei mit sich, eine ,biblioth£que portative', in der sich die nämlichen Lieblingsbücher befinden wie in den Sammlungen zu Berlin, Pots­ dam, Sanssouci, Charlottenburg und Breslau; nach der Art von Polarforschern, die an verschiedenen Zeltplätzen ihrer Expedition Reserveproviantlager zurücklassen, hat er sich Stützpunkte mit geistigem Proviant geschaffen, so daß er bei jedem Ortswechsel dort weiterlesen kann, wo er zuvor stehen geblieben war. Trifft er, wie im November 1758 zu Dresden, auf eine fremde Bibliothek, so beweist er auch ihr die größte Schonung. Er betrübt sich, daß die des Grafen Brühl unter den Kriegsmaßnahmen gelitten hat. »Un­ sere Leute haben sie ein wenig vermindert; das ist nicht wohlgetan. Obgleich der Herr Graf mir den erdenklichsten Schaden zugefügt 184

hat und noch zufügen wird, bin ich doch nicht für solche Räube­ reien. Gott weiß, in welche Hände diese schöne Bücherei gefallen ist!“ Man ist nun natürlich begierig zu erfahren, welche Bücher dem König solche gewaltigen Dienste, Kriegsdienste geradezu, leisteten; und auch das ist kein Geheimnis, denn es ist von ihnen in vielen Gesprächen und Briefen ausführlich die Rede. Eigentliche Fach­ literatur, historisch-militärischer Art also, wird auffallend selten erwähnt. »Ich fühle bisweilen“, sagt Friedrich, »daß ich Werke hätte lesen können, die mir für meinen Beruf nützlicher gewesen wären; aber indem ich die Dichtkunst, die schönen Künste und die Philosophie pflegte, glaubte ich mir die Eignung für alles zu erwer­ ben, und ich habe mich darin auch gar nicht so gewaltig getäuscht.“ Während des Siebenjährigen Krieges sind Lukrez und Cicero, Racine und Voltaire Friedrichs Lieblingsautoren. Er kann sie zum großen Teil auswendig: den dritten Gesang von der Natur der Dinge, Ciceros Rede für Marcellus und Bruchstücke aus den übri­ gen, sowie aus den Tusculanen und den Briefen an Atticus; ganze Szenen aus Racines Mithridates und Iphigenie und viele Partien aus Athalia, Andromache und Britannicus, die ihn jedesmal bis zu Tränen rühren. »Bin ich nicht ein rechter Narr, daß ich Tragödien lese, während ich doch wahrscheinlich bald selber eine von ganz anderer Art spielen muß?“ Seine Lektüre ist durchweg ernster Natur; nur dem als Talent bewunderten, sonst aber nicht ernst genommenen Voltaire läßt er sogar einen Candide hingehen, den einzigen Roman, den man, wie Friedrich behauptet, lesen könne und zwar wiederholt. Erstaunlich ist die Menge von Fastenpredi­ gern und Leichenrednern, die Friedrich schätzt, sogar der Hl. Chry­ sostomos befindet sich unter ihnen, — nicht etwa aus kirchlichen Gründen (»ich kenne Gott nicht, aber ich bete ihn aufs Geratewohl an“), sondern wegen ihres rednerischen Schwungs. »Vielleicht habe ich mein Herz zu sehr an die Dichtung und an die Beredsamkeit gehängt; aber wenn ich nur sie habe, kann ich die ganze Welt ent­ behren." Neben zahlreichen französischen Dichtern und Philoso­ 185

phen der Aufklärung sind es fernerhin Aristoteles, Cäsar, Diodoros, Nepos, Plutarch, Sallust, Tacitus, die Alten also, von denen der König sagen darf, es gäbe Magister von Beruf, die sie nicht besser kennten als er, obwohl er sie in französischen Übersetzungen lesen muß. »Ich werde nie die Szene vergessen“, erzählt der König Catt, »ich war noch ein Kind und deklinierte mit meinem Lehrer mensa, mensae, als plötzlich mein Vater ins Zimmer trat. „O du Schurke, Latein für meinen Sohn!“ rief er und verabreichte meinem Lehrer eine Tracht Prügel und mir eine Ohrfeige, mit den Worten: »Komm mir wieder mit deiner mensa, und du wirst sehen, wie ich dir den Kopf zurechtsetze!“ Daß man bei dieser Methode zu einem leidenschaftlichen Lieb­ haber der Antike heranwachsen kann, ist pädagogisch recht er­ staunlich. Noch viel erstaunlicher ist es aber zu hören, daß Fried­ rich überhaupt ursprünglich keine Neigung zu Büchern verspürte. »Ich sehe dich niemals mit einem Buche in der Hand“ rügte ihn die Bayreuther Schwester. »Schämst du dich denn nicht? Wenn du der­ einst berufen wirst, eine Rolle zu spielen, was für eine wird es dann sein?“ »Diese Worte“, sagt Friedrich, »rührten mich tief; ich begann zu lesen, fing allerdings mit Romanen an.“ Dieses entschuldigende »allerdings“ ist geeignet, hinwiederum den zu rühren, der den Werdegang Friedrichs als Leser verfolgt. Auf väterlichen Befehl mit allen Mitteln am Lesen gehindert, mußte er sich nachts von der Seite seines Hofmeisters aus dem Bett stehlen, um in einem Vorzimmer beim Schein eines Nachtlichtes zu lesen. »Ich habe mich später entschädigt und ungeheuer viel ge­ lesen und hätte es im Übermaß getan, wenn ich nicht streng darauf geachtet hätte, mir aus meiner Lektüre Auszüge anzufertigen und zu memorieren.“ Die Lesetechnik Friedrichs ist nachahmenswürdig. »Seit meinem 24. Jahre habe ich alles, was ich geschrieben und gelesen habe, wiederholt. Ich fahre sehr gut damit; ich vergegenwärtige mir da­ durch meine Lektüre wieder und kann mit gültiger Münze zahlen, 186

wenn man mich nach dem Inhalt fragt. Meine Methode verschafft mir außerdem das Vergnügen zu sehen, wie mein Urteil und Ge­ schmack vollkommener werden; was mir von meinem Lesestoff gefallen hatte, erscheint mir oft nach einigen Jahren unerhört lang­ weilig. Ich habe vielleicht mehr gelesen als alle Benediktiner zu­ sammen, obwohl mein Vater durchaus nicht wollte, daß ich ein Leser würde; er wollte, ich solle Soldat werden, aber er hat es sich nicht träumen lassen, daß ich es als Leser eines Tages in dem Maße würde wie jetzt.“ Wer sich in die Denkwürdigkeiten und Werke Friedrichs vertieft, wird dort, wo von Büchern die Rede ist, sich gleich uns versucht sehen, den König seitenweise zu zitieren, was immer ein Zeichen dafür ist, daß die anzuführende Vorlage von einer geradezu an­ steckenden Begeisterung für ihren Gegenstand erfüllt ist. Man muß sich danach immer erst wieder auf sich selbst besinnen und sich prüfen, wie weit man an seinem Platz ein Leser wird sein können. Wer sich aber, sei es wo immer und in welchem Stande, heute dazu gedrängt fühlt, hat in Friedrich einen gewaltigen Fürsprecher. »Mein Freund“ sagte er zu Catt, als er am Vorabend der Schlacht von Zorndorf von der Generalstabsbesprechung zu seinen Büchern zurückkehrte, »jetzt wollen wir diese Weintrauben essen; denn wer weiß, wer sie morgen genießen wird.“ 1947

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Nachwort Ob Ernst Heimeran eine Auswahl aus seinen Schriften, Aufsätzen und Ansprachen, wie man sie hier zusammengestellt hat, selbst her­ ausgegeben hätte? Wohl kaum. Alle diese Stücke sind aus bestimm­ ten Anlässen entstanden, oft zu bestimmten Zwecken geschrieben, sie sind zeitgebunden. Hingegen würde er, hätte ihn nicht der Tod so früh hinweggenommen, gewiß bis zum heutigen Tag aus vielen Anlässen sich noch geäußert haben — schon allein sein Tempera­ ment hätte ihn dazu getrieben —, und es wäre reizvoll, sich vorzu­ stellen, was er etwa über die neuen Herstellungsmethoden, über die Konzentrationsbewegungen im Verlagswesen, über die Rationali­ sierungstendenzen im Buchhandel, über Computer, über Buchmarkt­ forschung, über die Bemühungen, ein neues Selbstverständnis des Buchhandels zu gewinnen, gesagt hätte. Indem wir allein diese paar Stichworte aufwerfen, sehen wir, wieviel Fragen in den wenigen Jahren seit Heimerans Tod, seit 1955, sich neu gestellt oder sich verschärft haben und uns zu schaf­ fen machen — wir sehen, wie schnell die Zeit geht. Die Älteren unter uns, die Heimeran noch gekannt und erlebt haben, und wie viele haben ihn gekannt — all die Sortimenter in Deutschland, der Schweiz und Österreich, die er 10 Jahre lang als eigener Vertreter seines Verlages Jahr für Jahr besucht hat, die Kollegen, mit denen er in den Jahren nach dem Krieg am Wiederaufbau des Buchhandels zusammen gearbeitet hat, die unzählbar vielen, die ihm als Autor an Leseabenden begegnet sind oder die sich an den Buchmessen um seinen Stand drängten, um ihn über seine Bücher sprechen zu hö­ ren und womöglich ein Bonmot von ihm zu erhaschen — all diese also und seine sonstigen Freunde dazu werden, wenn sie jetzt in diesem Buch lesen, sogleich Ernst Heimeran wieder leibhaftig vor 189

sich sehen, den großen, beweglichen Mann mit dem lebhaft-aus­ drucksvollen Gesicht, dem immer leicht verschmitzten Mienenspiel, sie werden seine kräftige, sonore Stimme hören, sie werden sein großzügiges, unkonventionell-chevalereskes Wesen spüren, und es wird ihnen scheinen, als sei er eben erst von uns gegangen. Die Jüngeren aber, die Ernst Heimeran hier zum ersten Mal be­ gegnen, auch sie werden gewiß von der Ausstrahlung seiner Per­ sönlichkeit, von seiner Individualität, die sich noch im kleinsten Zeitungsaufsatz unverwechselbar zeigt, angerührt werden, aber werden sie nicht gerade empfinden, wieviel sich seit den Jahren, in denen diese Beiträge geschrieben wurden, geändert hat, im Äußeren, Faktischen, und vor allem im Klima unseres Lebens? Wird für sie ein Buch wie dieses, obwohl Heimeran heute erst ein Sechsundsech­ ziger wäre, zwar interessant, aber doch schon von "historischem“ Interesse sein? Gewiß, Beiträge aus bestimmten Anlässen wie die hier vereinig­ ten sind zum Teil auf ihre Weise mittlerweile Dokumente der Buchhandelsgeschichte geworden. Gerade das aber können sie nur deshalb sein, weil ihr Autor die jeweiligen Zeitfragen auf ihren Kern zurückführte und oft genug die entscheidende Antwort auf sie fand. Auch einen flüchtigen Leser wird wohl der leichte, char­ mante Plauderton Heimerans nicht dazu verleiten, über dem Hu­ mor und der Causerie die tiefdringenden Einsichten zu übersehen, auf denen das alles basiert. Man darf es ihm schon aufs Wort glauben, wenn er immer wieder betont, daß wahre Heiterkeit die ernsteste Sache von der Welt sei. So bezaubernd sich sein anmutiger Lebensbericht vom "Büchermachen“, seinem "Steckenpferd”, liest, der zudem ein Kabinettstück von kulturhistorischem Rang ist, — was für eine Besessenheit eben vom Büchermachen gehörte doch dazu, dieses Steckenpferd allen Beschwernissen zum Trotz so lange zu reiten, bis es den Reiter tatsächlich trug, und es eben nicht bei der puren Steckenpferdreiterei zu belassen. Heimeran erzählt zum Schluß dieses Berichts, daß es die politischen Ereignisse des Jahres 1933 gewesen seien, die ihn gezwungen hätten, seinen damaligen 190

Hauptberuf, den Journalismus, aufzugeben und seine Stecken­ pferdliebhaberei zum Hauptberuf zu machen. Aber dazu mußte man das Metier so gut beherrschen, um, wie er an anderer Stelle sagt, damit auch improvisieren zu können. In diesem Zusammen­ hang erwähnt er auch das ”Trostbüchlein in allen Lebenslagen*', das er 1934, nicht zuletzt sich selbst zum Trost, herausgegeben hat. An dieses "Trostbüchlein“ knüpft sich meine erste Erinne­ rung an ein Buch aus dem Heimeran-Verlag. Im heute fernen Stralsund zeigte mir es damals ein Buchhändler, einer jener "gut­ herzigen, im Sinne des homo ludens verspielten“ Vertreter seines Berufs, gewiß auch mit einem kleinen "Sparren“ — wie Heimeran in der Schrift über den "Verlagsvertreter" diese "liebenswerte Art" Menschen charakterisiert —, er wies mich wohl auf diesen oder jenen Fund in dem Büchlein hin, vor allem aber machte er mich auf die meisterliche äußere Gestalt, die der Verleger dem Buch ge­ geben habe, aufmerksam, und besonders auf den Rückentitel, auf dem sich nur das kleine Wörtchen "Trost“ fand — welch ein reizender Einfall! Mir scheint gerade dieses Buch nach Inhalt und Form für Heimeran besonders bezeichnend zu sein. Es zeigt die Scheu vor allen großen Worten und hohen Tönen, ja den Wider­ willen gegen sie, es zeigt das Bemühen, auch das Kleine und schein­ bar Anspruchslose so vollkommen wie möglich zu geben, ohne jedoch zu ästhetisieren, es zeigt das immer und überall spürbare Bestreben nach persönlichem, individuellem Ausdruck, also fernab allem Schema jedoch ohne subjektivistische Spielerei, es zeigt aber auch, daß Heimeran gerade hierdurch Leser fand, die von ihm, von seiner Art des Büchermachens angesprochen wurden. Mit dem In­ stinkt des geborenen Verlegers erreichte er das Publikum, dem seine Bücher gemäß waren. Das war also eines jener Bücher "von und bei Heimeran“, die in seinem Verlag so vielfältig erschienen, ja das Verlagsgesicht neben seinen geliebten zweisprachigen Ausgaben der antiken Klassiker wesentlich mitbestimmten. Daß Autor und Verleger derart in Per­ sonalunion auftreten, dürfte ein ziemlich singulärer Fall sein. 191

Häufig pflegen Verleger, wenn sie schon schreiben, sich hinter einem Pseudonym zu verstecken oder ihre Bücher in einem anderen Ver­ lag erscheinen zu lassen, die Autorschaft kann einen Verleger in die Gefahr der Schizophrenie bringen oder zumindest in die Nähe einer riskanten Ambivalenz, wie es z. B. bei Nicolai und sogar bei Göschen im 18. Jahrhundert der Fall war, — von Beispielen aus unserer Zeit zu schweigen. Nichts davon bei Heimeran, er war ein Autor genuiner Art und, wie er bald merkte, nicht der erfolgloseste in seinem Verlag. Daß diese Personalunion allenfalls das Finanz­ amt in Verlegenheit brachte, aber nicht ihn selbst, sondern daß sie höchstens den Verleger Heimeran veranlaßte, den Autor Heimeran mit einiger Strenge zu behandeln, darüber ist in unserem Buch auch einiges zu lesen. Der Einfallsreichtum des Verlegers Heimeran führte dazu, daß man vor Beginn jedes Buchherbstes nicht nur fragte: "Was gibt’s Neues bei Heimeran?“, sondern daß man, manchmal sogar mit noch größerer Neugier, darauf gespannt war, auf welche Weise er dieses Neue nun präsentieren würde, in der äußeren Form des Buches wie in der Ankündigung, den ersten Prospekten. “Wie ein Buch entsteht“, wie man es als Verleger — oder auch als Verlags­ vertreter — unter die Leute bringt,wohl kaum jemand hat darüber so liebevoll, so sachkundig von Grund auf und zugleich so amüsant geschrieben wie er — und so weit weg von allem Dozieren oder aller abstrakten Belehrung. Ja, es ist geradezu eine Stileigentümlichkeit von Heimeran — man kann sie in allen Beiträgen dieses Buches beobachten —, daß er abstrakte Wendungen, nüchterne Begriffe vermeidet, wahrscheinlich nicht einmal bewußt, sondern von Natur, daß er immer am anschaulichen Beispiel deutlich macht, was er sagen will, daß alles ganz lebensnah empfunden und gesagt ist: schon der Beitrag über die damaligen “Gegenwartsprobleme des Buchhandels“ ist ein Beispiel dafür. Aber man könnte auch, allein aus diesem Buch, eine Fülle von Gedanken, Aussprüchen zusammenstellen, zu einem kleinen “Heimeran-Brevier für Buch­ händler in allen Lebenslagen“ etwa, mit dem manche Probleme, 192

die auch heute noch oft so hochtrabend behandelt werden, auf ihr eigentliches Maß zurückgeführt würden, so z. B. wenn er in dem eben genannten Vortrag sagt, es gäbe gar keine sogenannten Ge­ genwartsprobleme, sondern nur Gegenwartslösungen des uralten und zu allen Zeiten schwierigen buchhändlerischen Grundproblems. Oder wenn er fordert: "Was wir tun, soll nicht zu einer Maß­ nahme erstarren. Das Denken in Maßnahmen statt in persönlichen Handlungen läßt uns Millionen von Gelegenheiten verpassen.“ Oder wenn er von der "Festigkeit des eigenen Geschmacks“ spricht, wenn er betont, es gehe ihm darum, zu sagen, ja ”zu flehen, daß jeder von uns sich bemühe, recht individuell zu arbeiten ... Das ist unsere große Buchhändlerchance“. Ist das etwa nur aus der Sicht des kleinen Individualverlegers geschrieben, der Heimeran mit Absicht, ja mit Leidenschaft war ("kein Roman bei Heimeran“)? Ich glaube nicht. Heimeran wußte sehr wohl zu unterscheiden zwischen den begrenzten Aufgaben und Möglichkeiten seines eigenen Verlages und den Aufgaben des ge­ samten Buchhandels, in die er nach dem Krieg immer mehr hinein­ wuchs. Er, der "jede neuartige Methode begrüßte“, um Bücher zu verbreiten, der selbst immer wieder solche Methoden erfand — und seien es Tomaten, die er auf der Buchmesse als "Werbemittel“ für ein Kochbuch verteilte —, der meinte, es gäbe "für jedes Buch Käufer“, man müsse sie nur finden, der es als die einzige Gefahr für den Buch­ handel ansah, "den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen“ und im alten Trott weiterzumachen, er gehörte wahrhaftig nicht zu den zeitabgewandten, weltfremden Naturen, so viel Sympathie er auch den liebenswürdig-kauzigen Gestalten, wie er ihnen im Buchhandel begegnete, entgegenbrachte. Sein Individualismus kam aus tieferer Quelle und Einsicht. Er wußte und hatte erlebt, daß es "ein Uranliegen des Menschen“ sei, "eine freie Person zu bleiben und keine Kollektivnummer zu sein“. Und daß dazu, wie kaum sonst etwas, Bücher, freilich gelesene Bücher, dienen können, das war ihm von Kindheit an lebendige Erfahrung, in seiner Ansprache an die Bahnhofsbuchhändler etwa spricht er davon — und wer 193

kann sich außer ihm wohl rühmen, den vielbändigen Jean Paul auf den täglichen Fahrten im Vorortzug gelesen zu haben! Durch alle Beiträge dieses Bandes, die der Verleger wie der Schriftsteller Hei­ meran geschrieben hat, zieht sich unüberhörbar auch die Stimme des Lesers Heimeran, der mit Büchern lebte, der, sogar noch durch Hinweise auf die äußere Unterbringung von Büchern, andern dazu verhelfen wollte, mit Büchern zu leben, der wußte, daß "Selbst­ besinnung und innere Fortbildung wichtiger sind als äußeres Er­ folgsstreben", oder der der Phrase militärischer Banausen, mit Büchern könne man nicht schießen, den lapidaren Gedanken ent­ gegensetzte: ”Gott sei Dank!“ Damit aber spricht er eine Erfah­ rung aus und hat sie selbst gelebt, in der alle Nachdenklichen von den frühen griechischen Denkern bis zu den heutigen Philosophen, Soziologen und Meinungsforschern von Ost bis West übereinstim­ men und die erst in jüngster Zeit gerade bei der "Suche nach einem neuen Berufsverständnis" des Buchhandels zur Grundlage der Ant­ wort gemacht wurde: daß das Lesen in die Mitte der mensch­ lichen Existenz führe, ja daß der Mensch eigentlich ein lesendes Wesen, ein homo legens, sei. Nichts aber kann dieses Bemühen von ihm so schön, so heimeranisch und so echt verlegerisch zugleich be­ zeichnen wie die Geschichte vom Entstehen eines Bilderbuches für seine Tochter: Hier wird das kleine Kind auf heitere Weise als Mensch ganz ernst genommen und wird durch das erste Buch, das es erhält, in den großen Kreis der "Lesenden“ auf seine Art voll­ gültig einbezogen. So ist es überall der Mensch Ernst Heimeran, der hier in diesem Buch zu uns spricht. Es ist seine vox humana, die wir hören, aber daß diese vox humana in ihrer ernsthaften Heiterkeit alles durch­ drang, wovon er sprach, noch das Nüchternste und Sachlichste, daß er sich nie von "Maßnahmen“, Organisation und wie alle diese Begriffe heißen, überkommen ließ, sondern sie beherrschte und sich dienstbar machte, das macht den eigentlichen Wert seines Wirkens und auch dieser Beiträge aus, damals wie heute. Herbert G. Göpfert 194