Vom Wesen des französischen Geistes: La sagesse française [Reprint 2019 ed.] 9783486770513, 9783486770506

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Table of contents :
INHALTSANGABE
ABSCHNITT I. FRANZÖSISCHE LEBENSWEISHEIT
ABSCHNITT II. DER HUMANISMUS BIS MONTAIGNE
ABSCHNITT III. DIE LEHRJAHRE DES MICHEL DE MONTAIGNE
ABSCHNITT IV. DER MENSCH IN DEN „ESSAIS“
ABSCHNITT V. DER HEILIGE FRANZ VON SALES UND DAS RELIGIÖSE EMPFINDEN
ABSCHNITT VI. DESCARTES UND DIE WISSENSCHAFT
ABSCHNITT VII. LA ROCHEFOUCAULD UND DIE WELTLICHKEIT
ABSCHNITT VIII. PASCAL UND SEIN LEBEN
ABSCHNITT IX. PASCALS PHILOSOPHIE
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Vom Wesen des französischen Geistes: La sagesse française [Reprint 2019 ed.]
 9783486770513, 9783486770506

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FORTUNAT

STROWSKI

VOM WESEN DES FRANZÖSISCHEN GEISTES

FORTUNAT

STROWSKI

VOM WESEN DES FRANZÖSISCHEN GEISTES LA SAGESSE

ÜBERSETZT

FRANÇAISE

VON

HANS HENNECKE

MÜNCHEN UND B E R L I N 1937

VERLAG VON R . O L D E N B O U R G

Die französische Ausgabe ist im Jahr 1925 bei Plon-Nourrit et Cie., Paris, erschienen

Druck von R. Oldenbourg, München

INHALTSANGABE Seite

Abschnitt ,,

I. Vom Wesen des französischen Geistes II. Der Humanismus bis Montaigne

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III. Die Lehrjahre des Michel de Montaigne . . . .

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TV. Der Mensch in den „Essais"

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„ „ ,, ,, „

V. Der hl. Franz von Sales und das religiöse Empfinden 79 VI. Descartes und die Wissenschaft VII. La Rochefoucauld und die Weltlichkeit VIH. Pascal und sein Leben I X . Pascals Philosophie

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ABSCHNITT I

FRANZÖSISCHE LEBENSWEISHEIT Die neuen Methoden, die wir heutzutage der Literaturgeschichte gegenüber mit so großem Erfolg anwenden, zeigen nur, wie ein Jahrhundert aus dem anderen hervorgeht. Dank ihrer unterscheiden wir deutlich die Einflüsse einer jeden Stunde auf die folgende. Und so gelingt es uns, das Entstehen der Meisterwerke beinahe zu erklären. Aber dergleichen Methoden erschließen uns nicht das, was an diesen unverrückbar und dauernd ist; sie erwecken in uns schließlich nur die Vorstellung, daß die Literatur dem fließenden Wasser gleiche, einem Fluß, der seine Fluten dahinrollt, ohne eine andere Einheit, als die der Zeit und der Aufeinanderfolge in der Zeit. Betrachtet man aber eine große Literatur aus einer gewissen Entfernung und von einem umfassenderen Gesichtspunkt aus, dann gewinnt man den Blick auf eine sehr viel wesentlichere Einheit. Es gibt keine wahrhaft nationale Literatur, die nicht über die Zeiten hinweg ihr eigenstes Gesicht bewahrt und eine Einheit bildet; besser gesagt, die nicht eine Individualität wäre. Die französische Literatur gehört zu denen, deren Individualität höchst komplexer Natur ist, ohne deswegen an „Einheitlichkeit" zu verlieren. Eine Fülle von Einzelströmungen bestimmt ihr Wesen; sie verschmelzen miteinander in einer Folge von Auseinandersetzungen, KomS t r o w s k i , Wesen

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I. Französische Lebensweisheit

promissen, Spaltungen und Wiedervereinigungen, um schließlich zu jenen Augenblicken des Gleichgewichts und vollkommener Harmonie zu führen, die man großen Jahrhunderten und überragenden Geistern verdankt. Diese Strömungen als solche kennen zu lernen, ist genau so notwendig, wie die Entwicklung der Epochen im einzelnen zu verfolgen. Unter diesen Strömungen gibt es eine, die bei uns offenbar alle anderen an Bedeutung überragt. Abgesehen von der Zeit der Plejade und dem Zeitalter der Romantik ist sie mit einer unverkennbaren Hartnäckigkeit und Beständigkeit immer wieder zutage getreten; sie entspringt einer Art nationalen Instinktes, gleichsam als die unaufhaltsame Grundströmung des französischen Geistes. Ihre Kennzeichen sind: starke Neigung zu psychologischer Beobachtung, feinstes Organ für Fragen der Moral, große Begabung für alles, was mit der Erkenntnis des Menschen zusammenhängt. In der französischen Literatur fuhren die Moralisten das Wort. Das soll nun im einzelnen bewiesen und belegt werden. I Gegen Ende des 16. Jahrhunderts gibt ein hoher Beamter, Angehöriger des neuen Adels, reich durch seine Familie und einflußreich durch seine Beziehungen, seinen Beruf auf, verzichtet auf alles, was er je erstrebt, sagt der Stadt und dem Hof Lebewohl und zieht sich in die Einsamkeit seines Schlosses unweit der Dordogne zurück. Dort langweilt er sich. Da er seiner Begabung nach zur Schriftstellern neigt, Liebhaber der schönen Literatur und unermüdlicher Leser ist, so greift er, um seine Langeweile zu überwinden, zu den Büchern und vergräbt sich

I. Französische Lebensweisheit

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in sie. Dann entschließt er sich, wie andere das vor ihm getan haben, zu schreiben oder, wie er sich ausdrückt, zur Niederschrift seiner Gedanken und Einfälle. Und welcher Einfälle ? Ideen ? Philosophische Systeme ? Hat er nicht tatsächlich ein großes, beinahe metaphysisches Werk übersetzt, „Natürliche Theologie" betitelt, das einen Mönch des 14. Jahrhunderts zum Verfasser hat ? Nein, er ist weder Theologe noch Philosoph. Noch weniger gibt er sich mit romanhaften Erfindungen ab. Das Werk, das er vorlegt, heißt „ E s s a i s " , und es ist die am reichsten dokumentierte, genaueste und eindringlichste Untersuchung des Wesens des Menschen, mit vielen Ratschlägen und weisheitsvollen Winken zu rechter Lebensführung. Wie man sieht, handelt es sich um Michel de Montaigne, der, sich seiner natürlichen Neigung überlassend, durch und durch zum Moralisten wird, weil er es bereits von jeher war, genau so wie er Gascogner und Franzose war. Ein anderer Edelmann, aber diesmal von höchstem Adel und einer der erlauchtesten Familien des Reiches entstammend, hat alle erdenklichen Abenteuer hinter sich. Liebe und Politik schlugen ihn während seiner ganzen Jugend in Bann. Endlich entschließt er sich zur Ruhe und Sammlung; er ist Feinschmecker; er hat eine Freundin, die ihn verwöhnt und zu den edelsten Frauengestalten des Jahrhunderts gehört; sie ist, was alles besagt, die Freundin Pascals. Auch er vertreibt sich die Zeit mit Schriftstellerei, durchaus als „Grandseigneur", der zwanglos seiner Neigung nachgeht. E r schreibt ein Buch, das so gedrängt, so kurz, so messerscharf ist, wie das Montaignes voller Nuance, Gestalt und Seitenlichter war. Aber auch in diesem Buche geht es wiederum nur um das Wesen I*

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I. Französische Lebensweisheit

des Menschen und um Grundsätze der rechten Lebensführung. Denn dies ist das Grundthema der „ M a x i m e n " La Rochefoucaulds. Ein Gelehrter, und zwar ein sehr großer, einer jener gewaltigen Denker, die das furchtbare Chaos der Außenwelt der Ordnung und der Einheit der menschlichen Vernunft unterwerfen, hat sich, etwa 30 Jahre alt, dem Jansenismus angeschlossen, aber ohne deswegen die geistige Haltung des Gelehrten aufzugeben. Er hat sich mit leidenschaftlichem Eifer auf die theologischen Auseinandersetzungen seiner Religionsgemeinschaft gestürzt: schreibend, redend, handelnd; er hat sich in hundert Intrigen verstrickt, in hundert Konflikte, in denen man schnell die Ruhe verliert. Endlich wendet er sich, krank und erschöpft, von all diesen erbitterten und erbitternden Streitigkeiten ab; er will seine Arbeit nur noch dem eigenen Seelenheil und dem seiner Mitmenschen widmen. Er macht Vorarbeiten zu einer Verteidigungsschrift über die christliche Religion. Bei schwankender Gesundheit und von ständigen Schmerzen geplagt, die ihm jede anhaltende Beschäftigung untersagen, vermag er die begonnene „Verteidigungsschrift" (Apologie des Christentums) nicht zu vollenden; in seinem Nachlaß finden sich nur Bruchstücke und vorbereitende Bemerkungen. Im 39. Lebensjahr rafft ihn der Tod hinweg ! Und der Inhalt dieser Notizen und Fragmente eines Mathematikers und Physikers, dessen kurzer Erdenwandel in einer solchen Fülle von Studien, Auseinandersetzungen und Leidenschaften aufging ? Ein wenig Mathematik, ein paar abstrakte Gedankengänge, eine Reihe metaphysischer Erwägungen — vor allem aber eine echte und auf Erfahrungen und Tatsachen gegründete Analyse der Menschen, wie sie in Wirklichkeit

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sind. In seinen „ G e d a n k e n " vergegenwärtigt sich Pascal die Stellung des Menschen in dieser Welt. Ihm galt sein eigentlichstes und tiefstes Studium. Pascal war Moralist. Ein letztes Beispiel: es handelt sich wieder um einen Gelehrten, der ein wenig Pedant und Eigenbrötler ist, zugleich sehr gebildet in den alten und in einigen neueren Sprachen, in der Geschichte, der Geographie, der Genealogie usw. . . . Man hat ihm die Erziehung des Enkels des großen Condé übertragen; diese heikle Aufgabe nimmt ihm viel Zeit und kostet ihn Ärger und Mühe. Dennoch findet er die Muße, zu seiner Zerstreuung ein sehr persönliches Buch zu schreiben. Dieses Werk, sein bester Vertrauter und Beistand, seine liebste und ihm gemäßeste Unterhaltung, heißt: „Charaktere oder die Sitten dieses Jahrhunderts". Der Titel besagt, worum es ihm geht. Auch La Bruyère ist Moralist. Die „Essais" erschienen zum erstenmal im Jahre 15 80, die „Charaktere" im Jahre 1688. Nur eines Jahrhunderts bedurfte es, um Montaigne, Pascal, La Rochefoucauld, La Bruyère hervorzubringen, Männer also, die man, ohne der noch so stolzen Literatur irgendeines anderen Volkes im geringsten zu nahe zu treten, als die größten Moralisten der Welt bezeichnen darf. Nach diesen Großen werden bei uns immer wieder Moralisten auftauchen, die auf einem Felde, dessen beste Ernten eingefahren sind, immer noch Entdeckungen machen, die unser Wissen vom Menschen bereichern: Duelos, Vauvenargues, Chamfort und schließlich Joubert — und auch später immer wieder andere ! Naturgemäß werden sie alle nur noch Ährenleser sein können. Aber selbst diese bescheidenen Ährenleser, diese Spätlinge werden trotz alledem bedeutende Moralisten sein; und

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I. Französische Lebensweisheit

solange der französische Geist der heimliche Herrscher der französischen Literatur ist, wird es an ihnen niemals fehlen. In gewisser Hinsicht ist der Einwand berechtigt, daß diese Reihe großer Moralisten keinen Beweis für die ganze Tragweite unserer Behauptungen liefere. Sie erweist nur, daß es in unserer Literatur unter glücklichen Umständen eine glänzende Reihe leidenschaftlicher Beobachter gab, denen es vor allem um den Menschen und um seine Lebensführung ging. Zu einer ihrem Bestreben günstigen Zeit geboren und hochbegabt, wie sie waren, haben diese Schriftsteller mit großem Erfolg eine Mode schaffen können, ohne daß diese nun einer eigentlichen Grundströmung unseres Geistes zu entsprechen brauchte. Hier aber darf man auf etwas hinweisen, was unsere Behauptungen bestätigt und ihnen eine umfassende Gültigkeit zu verleihen vermag. Selbst wenn ihnen durchaus nicht daran liegt, sich als Moralisten zu geben, selbst wenn sie sich dagegen sträuben, Moralisten zu sein, bleiben unsere großen Schriftsteller doch gleichsam dazu verurteilt, es zu sein. Descartes war der genialste Vertreter des deduktiven Verfahrens, den Frankreich besaß. Er erhob den Anspruch, aus einigen klaren und in sich selbst einleuchtenden Grundsätzen die Erkenntnis aller Dinge auf Erden ableiten zu können. Er war Mathematiker; den Rausch des wissenschaftlichen Selbstbewußtseins trieb er bis zum Äußersten, fast bis zum Widersinn. Er versicherte, die Wissenschaft würde ihm die Geheimnisse der Natur in die Hände legen und ihm das Wesen der Seele und Gottes offenbaren: auf Grund einer unanfechtbaren Methodik; er verstieg sich zu der Verheißung, daraus im einzelnen ent-

I. Französische Lebensweisheit

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wickeln zu können, wie kommende Jahrhunderte ihr Leben zu gestalten hätten; denn ein Jahrhundert bedeutete ihm zu wenig I Auch dieser stolze Gelehrte sah sich dennoch vor die Notwendigkeit gestellt, zu sagen, wie man sein eigenes Leben einzurichten und im Leben mit den Menschen auszukommen habe. Diesem Fragenkreis der Philosophie gegenüber schwor er dem Hochmut ab, verzichtete er auf alles Räsonnieren und Deduzieren. Hier war er alles andere als selbstsicher und kategorisch; er wandte sich an Montaigne, er erläuterte Seneca; er beobachtete das schlichte Alltagsdasein seiner Mitmenschen, der Männer wie der ihm nahestehenden Frauen. So ist er in seiner „Abhandlung über die Methode" wie auch in seinen „Briefen an die Prinzessin Elisabeth" schließlich nur noch Moralist, allenfalls Moralist als Philosoph oder auch als Edelmann — aber jedenfalls Moralist. Um diese Erläuterung an der Hand von Beispielen abzuschließen, möchte ich Descartes noch einen anderen unfreiwilligen Moralisten zugesellen, einen, der in jeder Hinsicht seinen Gegenpol darstellt, aber dem Beruf des Moralisten noch ferner steht als dem des Mathematikers : La Fontaine. La Fontaine ist der geborene Dichter, und er ist Dichter in reinster Ausprägung. Zerstreut und ohne eigentliche Interessen, wird er nur dann er selbst, wenn er seinen bezaubernden Gesang anstimmt. Seine Verse sind Musik. Seine Begabung weist ihn vor allem auf die Elegie. Wenn er deren Bereich verlassen will, so vergnügt er sich, wie das einem echten Elegiker zukommt, mit prickelnden und sinnlich schwülen Geschichten. Er schreibt seine Vers-Erzählungen, die er durchaus nicht erfindet — und zwar nur zu seinem eigenen Vergnügen :

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I. Französische Lebensweisheit

kurz er ist in jeder Hinsicht grundverschieden von Montaigne, La Rochefoucauld, La Bruyère, — um hier von Pascal gar nicht erst zu reden. Eines Tages kommt er auf den Einfall, gereimte Fabeln zu dichten: Abenteuer aus der Tierwelt, die den Kindern als Schullektüre dienen sollen. Seine ersten Fabeln sind anzügliche Erzählungen. Bald aber fängt er Feuer beim Spiel. Die Tiere, die er aufmarschieren läßt, bekommen allmählich ein durchaus eigenes Gesicht und werden Träger einer sehr abgestuften Gefühlswelt. La Fontaine geht dazu über, hinter ihren pittoresken Masken die gesamte Welt des Menschen durchscheinen zu lassen: die Charaktere der Menschen, ihre Laster, ihre Mängel, ihre komischen Seiten, ja sogar noch ihre Gesten und Bewegungen. So werden seine Fabeln zu wundervollen Schatzkammern für die Moralisten. Und das bringt wieder der französische Geist zustande . . . Diese Beweiskette möchte ich nicht endlos fortsetzen. Ich will hier nicht auf die größten Kanzelredner hinweisen, die sich auf ihrer eigensten Wirkungsstätte zu Moralisten entwickeln: auf den hl. Franz von Sales, auf Bourdaloue, auf Massillon, um hier von Bossuet und Fénelon zu schweigen. Auch werde ich nicht ausführen, wie nach dem 17. Jahrhundert, nach Molière und Racine und ihren Schülern, das χ 8. gleichfalls, ob nun im Drama Marivaux' oder im Roman der kühnsten Romanciers, ein Jahrhundert der Moralisten geblieben ist. Mag die italienische Literatur die Schule der Kunst, der Einbildungskraft und der Leidenschaft sein — die englische die Schule der „Empfindsamkeit" und der eigentlichsten Dichtung — die deutsche die Schule der Schwärmerei und der Metaphysik —, die französische bewahrte sich seit je (außer in der Zeit der Plejade und im Zeitalter der Romantik)

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die leidenschaftliche Vorliebe dafür, die Menschen zu erforschen, sie kennen zu lernen, sie darzustellen, den Triebfedern ihrer Lebensführung nachzuspüren, in das Geheimnis ihrer „äußeren und inneren Verfassung" einzudrängen und ihnen Winke zur rechten Gestaltung ihres Lebens zu geben: sie ist die Schule der Lebensweisheit. II Aus all diesen Beispielen wird es wohl hinreichend deutlich, was man darunter zu verstehen hat, wenn man Von einer besonderen Berufung des französischen Geistes in allen Fragen der Moral spricht, und was der Ausdruck „Philosophie des Menschen" in seiner Anwendung auf unsere Literatur besagen will. Aber man kann diese Gedanken noch genauer formulieren. Man findet bisweilen auch bei anderen Völkern dieses Streben nach Erkenntnis der Menschen und — der Kunst, mit und unter ihnen zu leben. Es ist unmöglich, diesen Fragenkreis ganz zu übersehen; jede Literatur entdeckt dort dann und wann eine Fundgrube merkwürdiger und schöner Dinge und macht sie sich zunutze. Aber, ganz abgesehen davon, daß sie sich nur zeitweise damit befassen, dennoch wissen diese Literaturen nicht den gleichen Nutzen daraus zu ziehen wie unsere Moralisten. Vor etwa 50 Jahren schuf der englische Roman eine verschwenderische Fülle von Menschengestalten; er studierte und analysierte sie auf ihre winzigsten Einzelmerkmale hin; ihr Leben im Alltag ließ er an unseren Augen vorüberziehen. Wir wissen um die innerste Artung ihrer Seele und, wenn man so sagen darf, um das Drum und Dran ihrer Individualität. Dennoch sind die Verfasser

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I. Französische Lebensweisheit

dieser Romane keine Moralisten. Sie verstehen es, uns zu bestricken, zu unterhalten, zu ergreifen; aber sie geben uns keine umfassende Vorstellung davon, wie die Menschen wirklich sind, und wie man sein Leben mit ihnen einrichten muß. Sie bleiben im individuellen Detail stecken; sie haben zuviel Humor. Unsere Moralisten verstehen es seit je, hinter den individuellen Zügen die großen allgemeinen Umrisse der menschlichen Daseinsform aufdämmern zu lassen. Dennoch lassen sie niemals das Wirkliche außer acht, und niemals versteigen sie sich etwa in ihrem Selbstgefühl dazu, die Idee des Menschen in Bausch und Bogen festlegen zu wollen. Nicht auf irgendeiner abstrakten Lebenslage des Menschen bauen sie auf; es ist ihnen nicht um eine allgemein verbindliche Begriffsbestimmung des Menschen zu tun. Sie bemühen sich, ihr systematisches Denken auf eine von der Praxis und den Tatsachen ausgehende Erkenntnis des Einzelmenschen zu gründen, den sie in seinem wirklichen Leben analysieren und in den intimsten Zügen seines alltäglichen Daseins erfassen. In einem berühmt gewordenen Epigramm zeichnet Heinrich Heine einen Philosophieprofessor, der sich die Welt aufgebaut und sie zu einer vollkommenen Kugel abgerundet hat; dennoch bleibt ein Loch; um es zu verstopfen, steckt er seinen Schlafrock hinein. Der französische Moralist sammelt Beobachtungen, ordnet sie, zieht, wofern er kann, aus ihnen seine Schlüsse, aber auch dann mit tiefem Respekt vor der Wirklichkeit. Montaigne pflegte zu sagen, man lerne einen Menschen besser kennen, wenn man ihn in seinem Alltagsdasein beobachte, als dann, wenn heftige Gemütsbewegungen ihn aus dem Gleichgewicht bringen, oder wenn er über die eigenen Grenzen hinausgehen

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möchte. Bei denen unter unseren Moralisten, die sich dem Anschein nach durch eine vorgefaßte Idee bestimmen lassen, und bei denen man eine Neigung zu voreiligem Systematisieren vermuten könnte: bei La Rochefoucauld, bei Pascal trägt doch die Beobachtung immer den Sieg davon. Durch unmittelbaren Lebenskontakt erfassen sie die Wahrheit, keinesfalls deduktiv oder metaphysisch. Dabei setzen sie eigentlich nur eine in Frankreich schon uralte Art der Lebensführung fort. Man male sich das Leben vergangener Zeiten etwa seit dem Mittelalter aus, wie es in den kleinen, von Gräben und Festungswällen umgebenen Städten verläuft. Da hat jeder seinen Lebensraum, den er kaum zu verlassen vermag. Nichts, was sich jemals entscheidend wandelte; die Familien wohnen immer in dem gleichen Haus, das ihnen gehört. Der kleine Kaufmann wird niemals seinen Kundenkreis erweitern. Keine Aussicht auf Bereicherung oder Abenteuer. Abends kommen die Leute zusammen, im Sommer auf der Türschwelle, im Winter am Herd. Man ist gesellig, erzählt sich Geschichten, trinkt Wein, hänselt sich, ist rechtschaffen und ganz normal, und man achtet den Nachbarn. Seine Mitmenschen in ihrer Lebensweise beobachten, ihren Charakter ergründen, sie auf ihren Schwächen ertappen, sich über ihre komischen Seiten lustig machen, daran haben sie vor allem Freude, das ist ihr zentraler Lebensinhalt. Ich habe Länder gesehen, in denen das Leben der Menschen in Arbeit und Mühe sich verzehren muß, Tag für Tag bis zum Tode, ohne daß sie jemals dazu kämen, dem eigenen Leben oder dem der Mitmenschen zuzuschauen; dort wird es eine strenge Moral geben können, aber keinesfalls Moralisten. Andere Länder habe ich kennen gelernt, in denen eine große Idee in allen Her-

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zen heimisch ist und alle Geister erfüllt: etwa die Idee der Eroberung nationaler Unabhängigkeit, der Rettung des Vaterlandes; in diesen Ländern mag es etwas Höheres als eine strenge Moral geben, aber keinesfalls Moralisten. Moralist ist man nicht in den Vereinigten Staaten. Moralist war man nicht in Polen. Aber man ist es in Frankreich, wo die Geselligkeit, die reichliche Muße, die Anmut des Himmels und der Sitten, die Freiheit des Bürgers, die Lebenssicherheit innerhalb der eigenen Mauern, endlich der begrenzte Horizont den aller Wahrscheinlichkeit nach eingeborenen Sinn für einen praktischen und konkreten Blick auf den Menschen entfaltet haben. Dieser Sinn hat im Laufe der Zeit eine immer festere Ausprägung und Vervollkommnung erfahren. Alles fallt in Frankreich dem zu, der sich auf die Kunst versteht, mit den Menschen umzugehen; das Genie als solches und allein öffnet die Pforten der Akademie nicht, dazu bedarf es obendrein noch der Psychologie und des Fingerspitzengefühls in Fragen der Menschenbehandlung. Sympathisch sein und gut miteinander auskommen — das letztere noch mehr als das erstere — ist die Quelle des Erfolges, selbst in der Politik. Dieses „auskommen" aber heißt: mit den Menschen umzugehen wissen, ihre Geschmacksrichtungen erfassen, ihre Lebensart, ihre Neigungen, kurz das, was Pascal die „Ursprünge der Freude" nennt. „Diese also sind", sagt Pascal, „bei allen Menschen verschieden und obendrein bei jedem einzelnen wandelbar, und zwar so verschieden, daß kein Mensch sich von einem anderen tiefer unterscheidet als von sich selbst, nämlich von den eigenen verschiedenen Lebensstufen. Ein Mann hat an anderen Dingen Freude als eine Frau; ein Reicher und

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ein Armer an jeweils sehr verschiedenen Dingen; ein Prinz, ein Krieger, ein Bürger, ein Bauer, die Alten, die Jungen, die Gesunden, die Kranken — alle sind wandelbar; oft durch die geringsten Umstände." Wenn in Frankreich Männer und Frauen sich untereinander gut verstehen, wenn das gegenseitige Verstehen bei uns eine größere Rolle spielt als gegenseitiger Zwang, so liegt das daran, daß man sich sehr gut darauf versteht, feine Unterschiede zu machen und sich an diese Unterscheidungen, diese ständigen und unmerklichen Schattierungen und Wandlungen zu halten; es liegt daran, daß Psychologen und Moralisten auf allen Gassen anzutreffen sind. Die besten Psychologen der Welt sind ja ohne Zweifel die „concierges" der Pariser Mietskasernen. Diese auf die Praxis, die Tatsachen, die Wirklichkeit zielende Einstellung der uns gemäßen Menschenbeurteilung tritt noch deutlicher zutage, wenn man von dem Sachverhalt zur „Vorschrift", nämlich von der Feststellung der Tatsachen zu ihrer Wertung übergeht. Der Franzose möchte nicht nur Beobachter bleiben: er ist zutiefst Moralist, insofern er sofort ein Werturteil auf der Zunge hat; ja er ist sogar auf durchaus aktive Weise Moralist, insofern er sein Urteil unmittelbar verbindlich machen möchte. In anderen Ländern gibt es eine einstimmig anerkannte strengere Moral; aber eben diese einstimmig anerkannte Moral entbindet von der Mühe, die ein auf den Sonderfall berechnetes moralisches Urteil erfordert. In Frankreich besteht, zumal seit dem letzten Jahrhundert, die Neigung, in jedem Falle ein wahrhaft individuelles Urteil zu fällen und sich nicht mit allgemein verbindlichen Grundsätzen abzufinden; und dann zeigt jeder Franzose eine Vorliebe dafür, zu sagen, was er getan hätte, wäre

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er in der Lage dessen gewesen, über den er urteilt: „Wäre es nach mir gegangen . . Unsere Moralisten, die offenen wie die heimlichen, Montesquieu und Marivaux genau so wie Montaigne oder La Rochefoucauld, können, selbst wenn sie sich einer rein wissenschaftlichen Haltung befleißigen und sich aller moralischen Erwägungen entledigen wollen, doch nicht umhin, nach Gesichtspunkten der Moral zu urteilen. Übrigens ist es auch sehr selten, daß sie so rückständig sind, solch eine voraussetzungslose Haltung einzunehmen. Unsere besten Schriftsteller sind niemals das, was man als „Amoralisten" bezeichnet. Ein Mann wie Gabriel Naudé im 17. Jahrhundert, übrigens ein unbedeutender Schriftsteller, ist eine Ausnahmeerscheinung; und wer gar heutzutage sich seiner amoralischen Haltung rühmt, steckt voller moralischer Vorurteile. Worin besteht nun die Eigenheit dieser Urteile ? Niemals beruft man sich bei ihnen auf einen verbrieften Brauch, niemals auf ein als allgemeingültig hingestelltes Gesetz, niemals auf einen kategorischen Imperativ. Man läßt sich bei ihnen zunächst durch das unbestechliche Gefühl für gut und böse, gerecht und ungerecht, uneigennützig und edel leiten. Man sagt: „Das geht, das geht nicht 1 . . E r s t in zweiter Linie sieht man auf das, was sich schickt, nützlich ist oder sich vom praktischen Leben aus empfiehlt; man weist gern nach, daß die Irrtümer und die Fehler Dummheiten und Verrücktheiten sind; der Sinn für Spott und Ironie, der in den Erzählungen und den Schwänken des alten Frankreich oder selbst noch in den Fabeln La Fontaines an den Tag tritt, begleitet am häufigsten die abfälligen Urteile, die man vom Standpunkt der Moral aus fällt; nur die großen Vergehen oder die

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abstoßenden Verbrechen erregen Empörung, ohne daß man dabei auf das Nützliche oder das Schickliche sähe; daher kommt es, daß die Ausländer oft kein Verständnis für eine gewisse Strenge haben, die sich bei uns hinter dem Scherz und dem Lächeln verbirgt. Drittens schließlich werden die moralischen Urteile in Frankreich fast durchweg von einem Ideal bestimmt, dem nur die großen Moralisten Ausdruck zu verleihen wissen, dem aber das Volk und sogar noch die Schriftsteller sich vorbehaltlos unterwerfen, auch wenn sie sich dessen gar nicht bewußt sein sollten. Der Ausdruck „Ideal" mag vielleicht überraschen. Wie können „Realisten", gewiegte Psychologen, auf ein Ideal zurückgreifen ? Tatsächlich hat der Ausdruck etwas Irreführendes ; um ganz genau zu sein, müßte man betonen, daß jedes Zeitalter sich sein eigenes Vorbild menschlicher Vollkommenheit schafft, ein jeweils relatives und in die Tat umzusetzendes, nach dem sich die Werturteile richten. In Frankreich war von jeher unter einer bisweilen täuschenden Oberfläche der Sinn für Poesie heimisch, das Bedürfnis nach innerer Vornehmheit, das Gefühl für Menschenwürde, die Achtung vor dem Wert der Einzelperson, kurz das, was Pascal Sinn für Größe nannte — etwas, was der gesunde Menschenverstand zwar prüfen lind lenken mochte, was er aber niemals hat zerstören oder auch nur beeinträchtigen können. Auf jeder Entwicklungsstufe unseres völkischen Genius hat sich die französische Geistesart zwar nicht einen Begriff (das wäre zu abstrakt), wohl aber ein lebendiges Symbol geschaffen, in dem sie ihren Sinn für Größe verkörperte. Dieses lebendige Symbol ist von jeher von Elementen der Wirk-

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lichkeit geformt worden, von jeher mit dem Blick auf das Leben des Alltags, auf die jeder Zeitepoche eigenen Notwendigkeiten und auf die in jeder Generation schlummernden Möglichkeiten. So kam der „Edelmann" (gentilhomme) der Zeit Montaignes zustande; so der „Ehrenmann" (honnête homme) der Zeit Pascals und La Rochefoucaulds, so der „Gebildete" (civilisé) der Zeit Voltaires und Montesquieus, so der „Gesellschaftsmensch" (homme social) der Zeit Balzacs und Stendhals. III „Das Wissen um den Menschen" in der französischen Literatur studieren, heißt also, die Kunst studieren, mit der die großen Schriftsteller den Menschen und seine Welt dargestellt und die inneren Triebfedern, die sein Handeln bestimmen, ergründet haben. Es heißt, das ideale und das wirkliche Bild menschlicher Vollkommenheit nach seinen zeitlichen Erscheinungsformen beschreiben, wie es sich ganz von selbst in der Einbildungskraft und im Herzen, in den Gesprächen und in den Büchern, in der Mode und in der Philosophie herausbildet. Aber das ist noch nicht alles. Man würde sich arg gegen die Wahrheit versündigen, wollte man Frankreichs Literatur und Gedankenwelt als für sich bestehende Gebilde erforschen, die ihren Inhalt und Gehalt nur sich selbst verdankten und der übrigen Welt fremd gegenüberstünden. Das würde eine Ungerechtigkeit den anderen Literaturen gegenüber bedeuten, die uns soviel gegeben haben, wie auch der unseren gegenüber, die ihnen soviel gegeben hat. Man muß seinen Blick sogar weiter und höher richten und den Mut aufbringen,

I. Französische Lebensweisheit

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an den Menschengeist zu denken — wäre es auch nur, um Frankreichs Rolle und Sendung in der Geistesentwicklung der Menschheit aufzuweisen. Zwei gefährliche Neigungen kennzeichnen den Menschengeist, die beide demselben Ziele zustreben : der einen liegt der Hochmut, der anderen die Trägheit zugrunde. Sobald der Menschengeist das entdeckt oder geschaffen hat, was er für Wahrheit hält, ist er so glücklich und so stolz, daß er nicht mehr daran zu rühren wagt. Von nun an hält er sich an die Doktrin oder die Vorstellung, deren er sich versichert glaubt; er geht allem aus dem Wege, was ihnen etwa Eintrag tun könnte; er gerät in Unruhe, wenn sie lebendig zu werden beginnen; leben — heißt das nicht, dem Wandel unterworfen sein ? Er weigert sich, sie neuen Prüfungen auszusetzen; das hieße ja, sein Versagen eingestehen ! In alledem bestärkt ihn seine Trägheit. Nichts ist bequemer als ein allgemeingültiges Gesetz; ihm zufolge kann man die jeweiligen Sonderfälle außer acht lassen; es nimmt dem Geist die schwere Bürde ab, die Dinge selbst zu durchschauen, und befreit ihn von der Verpflichtung, in jedem Einzelfalle ein persönliches Urteil zu fällen. Es nimmt ihm dies Urteil ab; es erlöst ihn von der schweren Aufgabe, zu prüfen, zu entscheiden, eine Verantwortung auf sich zu laden. Das besorgt das Gesetz für ihn, es verleiht ihm Sicherheit; so sieht er sich auf eine recht billige und mühelose Weise unfehlbar ! Was nun aber das echte Wissen um den Menschen angeht — wie oft hat der Menschengeist ewige Systeme errichtet, unter denen der Hochmut und die Trägheit gleichermaßen ihre Ruhe fanden 1 Man wußte unwiderlegbar und ein für allemal, was der Mensch war, wie sein wahres Idealbild aussah, und wie ein jeder zu dessen VerwirkS t r o w s k i , Wesen

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I. Französische Lebensweisheit

lichung beitragen mußte und konnte. So haben bald die Wissenschaft, bald die Religion, bald die Metaphysik, bald die Gewohnheit und schließlich auch die Dichtung — wollte man ihnen glauben, für immer und unumstößlich — die unerläßlichen Leitlinien der richtigen Lebensführung aufgestellt ! Im allgemeinen entstanden diese anspruchsvollen trügerischen Weltbilder außerhalb Frankreichs. Dann aber fanden sie dort bald Einlaß und wollten sich auch dort durchsetzen. So ist es im Laufe der Geschichte oft vorgekommen, daß geniale Menschen, Philosophen oder freie Denker oder sogar Männer der Tat ohne jede Beziehung zur Literatur sich einen vorbildlichen Menschentyp erdacht und ausgemalt haben. Auch ist es oft vorgekommen, daß bestimmte Kreise von Menschen oder auch ganze Völker sich gewissen Lebensregeln unterwarfen, die ein neues Bild des Menschen zur Voraussetzung hatten. In solchen Fällen zwingt gewöhnlich die eigene Notlage diese Zeitalter, sich bei früheren Zeiten um Beistand umzusehen: was nämlich gewisse ethische Grundsätze oder Sitten angeht, die man längst überholt glaubte. Wenn dies nun außerhalb Frankreichs geschieht, so neigen solche neuen Vorstellungen vom Menschen, solche neuen Weltanschauungen stets dazu, sich in Abstraktionen zu verflüchtigen; sie verwandeln sich so in Begriffsbestimmungen oder in unbedingt und allgemein gültige Gesetze. Obendrein verleiht der Hochmut ihnen einen Anspruch auf Unfehlbarkeit; man zieht sie nicht mehr in Frage, und die Trägheit schafft sich so bequeme Mittel, zu urteilen und ihre Entscheidungen im Leben zu treffen, ohne sich die ermüdende Aufgabe aufzuhalsen, sich selbst umzusehen und sich seine eigenen Gedanken zu machen.

I. Französische Lebensweisheit

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Auf diese Weise kam es in neuerer Zeit zu den Weltanschauungen des Humanismus, des Jansenismus, des Naturalismus u s w . . . . Hier gewinnt die Sendung des französischen Geistes ihre Bedeutung. Diesen starren Doktrinen, diesen steinernen oder hölzernen Standbildern, die die gebildete Welt allenthalben als das wahre und echte Bild des Menschen anerkennt, stellt der französische Geist die auf Tatsachen gegründete und analytische Erkenntnis der wirklichen Menschen in ihren wirklichen Lebensverhältnissen gegenüber. Den Idealen und den Fordervingen einer künstlich aufgebauten Moral stellt er die aus der Praxis gewonnenen Ideale gegenüber, die er den echten Möglichkeiten des Menschen und unserer Daseinsform anzupassen weiß. Dabei steht der französische Geist nicht etwa den großen aus Europa und der Welt herübergekommenen Ideen feindlich gegenüber; nur ihre Ergänzungsbedürftigkeit möchte er aufweisen. Ja er läßt sich sogar von ihnen durchdringen, und grade indem er sich in ihnen zur Geltung bringt, macht er sie, wenn man so sagen darf, wohnlich. Das wirklich Neue an ihnen bewahrt er. Auch erhält er ihnen die Schönheit ihrer Gliederung. Denn er möchte nichts zerstören. Er ist nicht radikal (wie man sieht, gebrauche ich dieses Wort im geistigen und nicht etwa im politischen Sinne, in dem es übrigens überhaupt keinen erdenklichen Sinn besitzt). Grade an diesem Merkmal erkennt man ihn. Und wenn in Frankreich eine wahrhaft radikale Lehre auftritt wie die Rousseaus, des Bürgers von Genf, so kann man sicher sein, daß sie ihrem Wesen nach nicht französisch ist. Mit seiner Erfahrung und mit seinem Wirklichkeitsa·

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sinn weiß der französische Geist das Wissen um den Menschen, wie es sich jedem Zeitalter aufdrängt und darstellt, geschmeidig zu machen, zu verwandeln und zu korrigieren. Derart verwandelt und zum Leben erweckt gibt er es an Europa zurück, das es übernimmt und daraus wieder eine Art Idol macht — ein Kreislauf, der immer von neuem einsetzt, und zwar immer von Frankreich aus. Kurz gesagt, die Aufgabe unseres Landes besteht darin, die Versteinerungen und Erstarrungen zu durchbrechen; und auch darin, dem Leben seine Geschmeidigkeit zu erhalten, nämlich die Fähigkeit, sich durchzusetzen und lebendig zu bleiben. Diese Fähigkeit schafft aus unbeweglichen Standbildern lebendige Wesen. Darzustellen, wie der Geist Frankreichs sich dieses Auftrages entledigt hat, ist das Thema unseres Buches. Wir werden uns nicht begnügen mit der Feststellung: „Diese Anschauung vom Menschen besaß Montaigne . . . oder Descartes . . . oder Pascal usw. . . . " , — sondern darlegen: „Dieses bestimmte Bild menschlicher Vollkommenheit, diese bestimmten Grundsätze der Lebensführung, diese bestimmte Wesensdeutung des Menschen besaß die gebildete Welt zu der oder jener Zeit, — und auf die und die Weise haben die französischen Moralisten sich diese Weltschau und dieses Bild des Menschen, diese Grundsätze und diese Leitidee zu eigen gemacht. So und so haben sie sie an dem Maße der wirklichen Menschen und Dinge gemessen. So und so haben sie den gesunden Menschenverstand, die maßvollen Verhältnisse und die recht verstandene Wahrheit in sie hinein verarbeitet." So werden wir besser die verdienstliche Rolle unserer Schriftsteller erfassen und werden zeigen, wie unsere Nation sich als ein unersetzliches Glied in die ewige Ge-

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meinschaft der Völker einreiht. Wenn ich hier einen Vergleich wagen darf, so möchte ich sagen, daß in dieser Hinsicht der französische Geist den Apparaten ähnelt, die die Elektrizität verwandeln. Auf den großen Masten, auf denen unheimliche Inschriften uns vor Todesgefahr warnen, und an denen die Ingenieure Schutzgitter und Stacheldraht anbringen, um den Unvorsichtigen den Zutritt zu verwehren, an diesen unheimlichen großen Masten werden Drähte angebracht, deren leiseste Berührung ausreichen würde, eine ganze Stadt zu vernichten. Aber in kleinen, oft zierlichen und sonderbaren Häuschen befinden sich sinnreiche Maschinen, die die todbringende Kraft verwandeln und sie uns gefügig und dienstbar machen. Der Menschengeist, seit jeher rastlos um eine Totalanschauung des Menschen bemüht, errichtet gleichsam solche Masten, bringt dort Drähte an und läßt radikale und „absolute" Ideen kreisen, die, würden sie verwirklicht, den unwiderruflichen Untergang des Menschengeschlechts zur nächsten Folge haben würden. Der französische Geist liefert gleichsam diese Transformatoren — und den „Essais" Montaignes, den „Gedanken" Pascals, den Lustspielen Molières, Voltaire und Montesquieu und noch vielen anderen verdankt man es, wenn aus radikalen Ideen segensreiche Wirklichkeiten werden.

ABSCHNITT II

DER HUMANISMUS BIS MONTAIGNE Zu Beginn der Neuzeit, zwischen dem Mittelalter und der Renaissance, schien die Lebensanschauung des Christentums und des Feudalismus, die bis dahin die Moral, die Philosophie, die gesamte Zivilisation geistig bestimmt und allein entscheidend geleitet hatte, zu weichen, als wenn sie sich einer zu unübersichtlich gewordenen Welt nicht mehr gewachsen fühlte. Eine neue Lebensanschauung begann hervorzutreten: der Humanismus. Der Humanismus wurde geboren, als aus dem leidenschaftlichen Studium der Alten ein zugleich vornehmer und neuer Typus des Menschen erstand. Er wurde durch Gebildete geschaffen, die ihren Geist und ihr Bewußtsein mit den schönen Bildern der Weisheit, der Tugend und des Glückes erfüllten, die uns durch Cicero und Plato, Virgil und Homer, Titus Livius und Plutarch vertraut geworden waren. Er faßte zunächst Wurzel in dem Lande, in dem die Antike noch durch ihre Denkmäler, durch ihre Tradition und durch ihren inneren Anspruch lebendig geblieben war: in Italien. Dort hatten die Luft, die Erde, der Himmel, das Wasser noch etwas von der Seele des alten Rom bewahrt. Die Entdeckung der alten Handschriften ergänzte nur ein Wissen um die Vergangenheit, das man von jeher besaß, und der Antike konnte es nicht schwer-

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fallen, hier in ihren schönsten und liebenswertesten Gestalten wieder lebendig zu werden, da sie ja hier in Wirklichkeit niemals tot gewesen war. Aber der Humanismus blieb dort doch nicht für immer: er entfaltete sich und wanderte aus. Man könnte ihn mit einem Baum vergleichen, den man im vollen Wachstum in ein ergiebigeres Erdreich verpflanzt, um ihm Lebens- und Entfaltungskraft und die Möglichkeit zu sichern, seine Zweige ungehindert nach allen Richtungen zu erstrecken. So lange er nur auf Italien beschränkt blieb, haftete dem Humanismus etwas Begrenztes, zu sehr bloß Bodenständiges an, das ihn daran hinderte, von universeller Tragweite für jeden Gebildeten zu werden. Er verkörperte nur den heimischen Volksgeist, nicht aber eine allgemein menschliche, oder, genauer gesagt, europäische Haltung. Seine große Fähigkeit, sich auszubreiten, sollte ihn bald befreien. Im 16. Jahrhundert war nicht mehr Rom, Mailand, Florenz oder Venedig, sondern waren die Rheinlande und die Niederlande die eigentliche Heimat des Humanismus. Von dort konnte er auf alle Kulturländer Einfluß gewinnen, ohne doch dem einen mehr als dem anderen zuzugehören. Aller Voraussicht entgegen vermochte er diese Vormachtstellung nicht lange zu halten. Wie hätte er das auch gekonnt ? Vom Osten her brauste ein gewaltiger Sturm. Die Reformation wandte sich gegen ihn, verbannte ihn aus Gebieten, in denen er herrschte, und drängte ihn rücksichtslos nach dem Westen ab, wo er zweifellos noch Gegner, aber nicht so mächtige und nicht so unversöhnliche Gegner finden sollte. So breitete der große Baum des Humanismus seine Zweige und seinen Schatten nach

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dem Westen aus. Frankreich wurde der letzte Hort des humanistischen Gedankens, der in Italien geboren wurde, in die Rheingebiete auswanderte und schließlich bei uns Heimatrecht erlangte. Dadurch also, daß sie sich entfaltete und ihr Wirkungsfeld erweiterte, erlitt diese Lehre das unvermeidliche Schicksal aller der Lehren, die es mit dem Menschen und mit dem Leben zu tun haben; sie erstarrte zur Schulweisheit, sie verlor das Organ für die Wirklichkeit und das Leben. Damals nun trat unser Montaigne auf, der dieser gefährlichen Entwicklung Einhalt gebot und der das rettete, was man vom Humanismus retten mußte, um die Neuzeit heraufzuführen. Dadurch erklärt sich die entscheidende Bedeutung des Lebenswerkes Montaignes. I Es hieße von unserm Thema abschweifen, wollten wir uns dem Genuß einer zu eingehenden Befassung mit dieser ersten Blüte des zuerst in Italien auftauchenden Humanismus hingeben. Für unsern Zweck wird es genügen, sie nach ihrem erlauchtesten Vertreter, Petrarca, flüchtig zu skizzieren. Petrarca ist tatsächlich der Vater und der Lehrer des italienischen Humanismus oder auch, kurz gesagt: des Humanismus. In vieler Hinsicht gehört er noch zum Mittelalter, und grade der Teil seines Lebenswerkes, der bis heute der modernste und populärste geblieben ist, enthält am wenigsten Humanistisches: sein Kanzonenwerk. Wenn er in ihm, in der Weise eines modernen Dichters, der Gewalt und dem Schmerz seiner Liebe Ausdruck verleiht, so ver-

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25 flicht er in sein Verlangen oder seinen Gram soviel weit hergeholte Ideen, soviel subtile Gedankengänge, soviel dem Herzen eigentlich fremde Gedanken — steckt er so voller ineinander „verschachtelter" Allegorien und Symbole, steht er der Einfachheit so fern, wie auch der Unmittelbarkeit, durch die sich der Humanismus so grundlegend von den Subtilitäten des Mittelalters unterscheidet, daß ich Petrarcas Sonette lieber mit den Klosterkapitälen von Moissac vergleichen möchte, als etwa mit den Liebesliedern Lamartines oder Verlaines. Somit eröffnet Petrarca also grade durch den heute vergessenen Teil seines Lebenswerkes und durch das beispielhafte Vorbild seines ganzen Lebens die Reihe der Humanisten. Die Jahre seiner Jugend und seiner beginnenden Reife verlebte er ebenso in der Provence wie in Italien, und die Alpen haben für ihn gleichsam nicht existiert. Ebenso wenig waren ihm die Einfalle der Barbaren Wirklichkeit; für ihn ist das römische Reich noch nicht versunken. Er empfindet sich zu gleicher Zeit als Zeitgenossen des Altertums und als Bürger seiner Zeit. Als Sohn eines aus Florenz Verbannten hat er sich nicht von den Leidenschaften verzehren lassen, unter deren Diktat Dante die „Göttliche Komödie" schrieb. Seit seinen Jünglingsjahren hat er geistige Leidenschaft nur gegenüber den Werken der Alten gekannt. Überall forschte er nach ihnen. Ein seltenes Manuskript war ihm kostbarer als alle Reichtümer der Welt, und ich bin sicher, daß er für die verlorenen Bücher des Titus Livius den Lorbeerkranz hingegeben hätte, mit dem er auf dem Kapitol gekrönt wurde. Als Laura starb, schrieb er seinen Gram auf den Einband des schönsten Manuskriptes, das er besaß: das

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des Virgil, weil, so sagte er, „diese Stelle mir oft vor Augen kommt". Er empfand eine Art bitterer Süße darin, den grausamsten Kummer seines Herzens mit dem großen Namen Virgils zu verknüpfen. Täglich arbeitete er regelmäßig χ 6 Stunden. Eines Morgens fand man ihn tot in seiner Bibliothek; er war sanft entschlafen, 70 Jahre alt, das Haupt über eine unvollendete Seite geneigt. Mit ihm ging eine selbstlose, hochgeartete, adlige und von Poesie überströmende Seele dahin. So inmitten der Alten zu leben, sie zu lieben und sie zu erfassen — daraus schuf Petrarca ein Leitbild der Vollkommenheit des Menschen und seines Lebens, das durchaus im Einklang mit seinem Charakter stand. Und so wie Machiavelli, der die Alten mit mindestens der gleichen Verehrung las, wie Petrarca, bei ihnen nur Lehren einer unmenschlichen Politik zu finden weiß, so entdeckt Petrarca bei ihnen nur Lehren der Weisheit und der Tugend, des Heroismus und der Größe. Das ist der größte Dienst, den er dem Humanismus erwiesen hat. Nach den Forderungen dieses Humanismus besteht die unerläßlichste Eigenschaft des Menschen (dabei handelt es sich immer nur um den Menschen von edler Abkunft und hoher Artung) darin, „gebildet" zu sein. Wer nicht in der schönen Literatur zu Hause ist, kann mit keiner Aufnahme in die Gemeinschaft der Humanisten rechnen. Da er selbst gebildet ist, muß er sich so auch in der Wahl seiner Freunde erweisen. Denn allerdings bleibt der Humanist auf Freunde angewiesen. Ciceros Abhandlung „ D e amicitia" hat ihn die Schönheit der Freundschaft sehen lehren. Der Humanismus ist Vaterland und Staat zugleich. Humanismus ist Bildung : Bildung des Einzelnen und Bildung der Gesellschaft.

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Somit tritt der Humanismus zwei Irrtümern entgegen, die in Petrarcas Zeit genau so häufig auftraten, wie in der unseren, denn es handelt sich bei ihnen um Irrtümer des Hochmuts und der Trägheit, obgleich sie in logischer Hinsicht einander widersprechen: der eine besteht in der Annahme, es gäbe so etwas wie von selbst funktionierende Methoden des Geistes, die dem Menschen die Mühe abnähmen, von sich aus zu denken und zu urteilen; die ihn nahezu unfehlbar machen könnten, und die ihm gleichsam von selbst sein Lebensglück gewährleisten; der andere Irrtum besteht darin, daß der Mensch, um glücklich zu sein, der Bildung durchaus nicht bedürfe, weil das Wissen oder das Streben nach Wissen ihm das Leben in peinlicher Weise komplizieren würde, — derart also, daß das vollkommen glückliche Geschöpf eigentlich der unwissende Wilde wäre. Seit Petrarca ist der Humanismus „Zivilisation" sowohl der Barbarei der Wissenschaft wie auch der Barbarei der Unwissenheit gegenüber. Zugleich vertritt er aber auch die Liebe zum Vaterland und zur Familie. Der Humanist ist menschlich und allen menschlichen Regungen offen; nichts Menschliches ist ihm fremd. Immer wieder liest er mit tiefem Verständnis jene schöne Stelle der „Aeneis", in der, nach ihrer Ankunft auf der Insel der Cyklopen, die Gefährten des Aeneas plötzlich einen Elenden vor sich erblicken; er ist hager, völlig entblößt und am Sterben; er ist ihnen entgegengeeilt und plötzlich stehen geblieben : er hat seine tötlichsten Feinde erkannt, denn er stammt aus Ithaka und ist ein Gefährte des Odysseus. Aber dann geht er ihnen weiter entgegen. Er möchte Menschen um sich haben, von Menschen beachtet werden. Seine Feinde werden ihn töten. Das ist ihm

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gleich: da er schon sterben muß, möchte er lieber durch Menschenhände sterben. „Hominum manibus periisse juvabit." Der Humanist hat tieferen Anteil als jeder andere Mensch an dem „stolzen Bewußtsein, Mensch zu sein". Auch besitzt er das stolze Gefühl des eigenen Wertes. Er verliert sich nicht in der Herde und er hebt sich durch das ihm stets eigene Gefühl für Menschenwürde und für die Würde der eigenen Person heraus. Die Unwissenden und die Narren sind bloße Zahlen, wie Horaz lächelnd feststellt: „Nos numerus sumus et fruges consumere nati." Im Humanismus besitzt jede Seele, jeder Geist seinen Wert und seinen Rang. Jeder Mensch ist ein Wesen für sich. Jedem Ding gegenüber läßt der Humanist eine Art Künstlerinstinkt walten. Es kommt ihm auf schöne Verhältnisse an, es geht ihm um die Klarheit und Eleganz, er verlangt Licht und Ordnung, Leichtigkeit und Nüchternheit, und mit all dem hat er etwas Beschwingtes und Ausgeglichenes. Er stellt die Poesie über die Prosa, die Tugend des Sokrates über die des Diogenes, das Denken Piatos über das des Aristoteles. Schließlich hat er dem Leben gegenüber Vertrauen; er weiß es zu schätzen und er liebt es. Diese allgemeinen Merkmale werden von nun an und für immer dem Humanismus eigen sein. Wir werden sie im Humanismus Montaignes wiederfinden; und noch heute

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sehen diejenigen, die, wie wir, sich für den Humanismus einsetzen, sie nicht anders. Aber Petrarca war vor allem Italiener und schien den Humanismus mit der Größe Italiens zu verwechseln. Er glaubte offenbar, daß die Geschicke seines Vaterlandes und die des Humanismus eng miteinander verknüpft seien, worin er zwar für sein Jahrhundert, aber nicht für die folgenden Jahrhunderte recht hatte; der Humanismus mußte sich von jedem einzelnen Vaterland freimachen und seine Kraft und seine Schönheit ganz der Aufgabe widmen, alle Länder zum Leben zu erwecken. Nachdem er Italien wieder hatte erstehen lassen, mußte er die Seele Europas wiedererwecken, wie das im Mittelalter die Kirche und das Reich getan hatten. Während er also in Italien die ihn kennzeichnende allgemein menschliche Haltung zu verlieren begann und mit Machiavelli politisch, mit Giovanni Pico de la Mirandola skeptisch, mit Marsilio Ficino platonisch zu werden begann, holte er in der Person des Erasmus zu einer innerlich und äußerlich umfassenderen Wirksamkeit aus. II Der mittlere und der untere Rhein mit den Städten, die an seinen Ufern oder in seiner Nähe liegen, ist lange Zeit das gewesen, was heute Paris ist, nämlich der Ort, in dem sich die einander entgegengesetztesten Einflüsse kreuzen, und von dem aus sie über Europa ausstrahlen. Daher die entscheidende Bedeutung der Niederlande und der Rheinlande im 15. und im 16. Jahrhundert. Erasmus wurde in Rotterdam geboren. Seine Studien hat er so ziemlich überall betrieben: in Deventer, in Paris,

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wo das Kolleg Montagu ihm peinliche Erinnerungen hinterlassen hat, in England, in Italien. Aber ganz im Gegensatz zu den anderen Humanisten hat er sich weniger Italien als vielmehr den Niederlanden zugewandt; er betrachtete es gleichsam als seine Sendung, den Humanismus dort zu verbreiten, wo die Antike keine Spuren hinterlassen hatte: weder Denkmäler, noch Erinnerungen, noch Traditionen, noch ein stolzes Nationalgefühl, das die Erinnerung an sie beschworen hätte. So kam es, daß er sich ziemlich lange in England aufhielt, und daß er dort einen großen Einfluß ausübte. Aber mit 44 Jahren ließ er sich endgültig in Basel nieder. Will man sich eine Vorstellung von dem Zauber machen, der seinen Namen umgab, so wird man auf den Brief zurückgreifen müssen, den ihm Rabelais im Dezember 1532 geschrieben hat, unmittelbar nach der Veröffentlichung des „Pantagruel". „ P a t e r mi humanissime", redet er ihn an; und er nennt ihn nicht Lehrer, sondern „Vater und Mutter". Er versichert ihm, daß er ihm alles verdanke, was er sei und was er wert sei. Und nicht ohne tiefe Bewegung kann man die Worte lesen, in denen dieser „grobschlächtige" Erzähler der Heldentaten Gargantuas, Pantagruels und Panurgs die „so sehr keusche Lehre" des Humanisten feiert, ohne die er, Rabelais, unbekannt und ungebildet, „ignotus et ignobilis" wäre. Die Haltung des Erasmus und die Konflikte, die er immer neu entfacht hat, wurden für das moderne Europa von sehr viel größerer Bedeutung, als es die Petrarcas sein konnten. Das Hauptproblem, das Petrarca vor sich sah, war das, zu wissen, ob das Papsttum in Avignon verbleiben oder nach Rom zurückkehren sollte; und seine

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Tätigkeit ging darin auf, unter heftig zerklüfteten und verfeindeten Stadtstaaten die Idee der Einheit Italiens zu erwecken. Gewiß will ich die Bedeutung einer derartigen Aufgabe nicht herabsetzen. Aber Erasmus sah sich vor eine noch umfassendere Aufgabe gestellt. Er trat genau in dem Zeitpunkt auf, als das Christentum einer Art „Heilung" bedurfte. Eine Reformation drängte sich der katholischen Kirche auf; zu dieser Reformation aber konnte es nicht kommen, ohne daß die heftigsten politischen, nationalen und religiösen Leidenschaften entfacht wurden. In diesen Stürmen war es des Erasmus Aufgabe, die entscheidende Rolle, ja sogar die Existenz des Humanismus aufrechtzuerhalten: dadurch, daß er in sehr geschickter Weise dessen Schicksal mit dem der ältesten und maßvollsten der einander befehdenden Parteien verknüpfte; damit erwies er dem Humanismus einen genau so grundlegenden Dienst, wie dem Katholizismus, ja sogar — wie man sagen darf — der gesamten christlichen Welt, da der Humanismus so zu einem unersetzlichen Bestandteil des gesamten religiösen und sittlichen Lebens wurde und nicht mehr nur eine bloße Sonderströmung darstellte. Erasmus lehrte gleichfalls, aber mit größerer Tiefe und Gründlichkeit als Petrarca, den Wert der Bildung. Er sagte, daß nur der ein Mensch zu heißen verdiene, dessen Geist genau so „gebildet" sei, wie sein Herz und seine Umgangsformen. Er glaubte an keine Verfahren, die einem die Wahrheit von selbst in den Schoß fallen ließen. In Fragen der Bildung und der Philologie wies er dem gesunden Menschenverstand, dem guten Geschmack, der menschlichen Erfahrung eine entscheidende Rolle zu. Seine ganze Verachtung galt dem kulturlosen Menschen;

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sein ganzer Abscheu einem bloß grobschlächtigen und unerleuchteten Glauben. Er verlangte, daß eine christliche Seele auch die Weisheit der Alten nicht geringschätze. Gerne hätte er, glaube ich, das so ausgedrückt, wie es später Pierre Charron tun sollte: ein Heiliger sei ein von Gott berührter Weiser. Nichts von dem, was die menschliche Vollkommenheit zu bereichern vermag, Schloß er aus. Diese Vollkommenheit bestand für ihn in dem einträchtigen Gleichgewicht aller Fähigkeiten, in dem jede nach ihrer Bedeutung entfaltet ist — nicht aber in dem Opfer dieser oder jener Gabe oder in der einseitigen Übertreibung dieser oder jener Fähigkeit. Er war uneigennützig, menschlich, gesellig, maßvoll in seinen Wünschen und in seinen Neigungen. Der Papst wollte ihn zum Kardinal machen: er lehnte ab und starb ohne andere Ehren als die, die er seinem Genie, seiner Arbeit und seinem edlen Charakter verdankte. Es findet sich bei ihm ein Hang zum Geistreichen und zur Ironie, zu einer Art Mutterwitz und zum Paradox, der in einer Zeit summarischer Glaubenssätze und erbitterter Fanatismen dem Humanismus unendlich wertvolle Dienste geleistet hat. Aber vielleicht war sein Geist zu ausschließlich im Reiche der Ideen heimisch. Dem Humanismus, so wie er und, seinem Beispiel folgend, die Nachwelt ihn sah, eignet leicht eine zu starke Neigung, sich in einem Arbeitszimmer zwischen lauter Büchern einzuschließen; er wird leicht ein wenig literatenhaft. Eine der Gestalten DuVairs sagt einmal: „Unsere Philosophie ist eine Prahlerin und Großsprecherin : ihre Siege erficht sie im Schatten eines Zimmers . . . aber gilt es, ins Freie zu gehen, gilt es mit blankem Degen zu kämpfen, und versetzt ihr das Schicksal einmal einen wirklich wuchtigen Streich,

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so ist sie schnell erledigt, und die Waffen sinken ihr sofort aus den Händen." Dieser Vorwurf trifft ein wenig auch die Lebensweisheit des Erasmus. III Dennoch breitete sie sich über die Welt aus, als plötzlich die Reformation ihr heftig entgegentrat. Um eben diese Zeit begann das Leben in diesen Ländern sehr hart und grausam zu werden. Die Philosophie des Erasmus konnte den meisten Menschen nicht mehr genügen; sie gab ihnen nicht genug inneren Rückhalt. Damals machte der Humanismus — kurz vor Montaigne — eine letzte Wandlung durch: er wurde französisch und trat, indem er sich zu einer Schule verengte, die geistige Erbschaft einer einzelnen Lehre an. Er beschränkte sich auf die Glaubenssätze der Stoa und machte sich Namen und Haltung der Stoiker zu eigen. Und warum grade der Stoiker ? Zweifellos weil ihre Lehre, von allen Verkörperungen der antiken Philosophie, am wenigsten des Epikureismus und der Gottlosigkeit verdächtig schien und sich noch am besten mit der Strenge der christlichen Moral vertrug. In dieser Hinsicht glaubten die Reformierten, sogar dem lässiger gewordenen Katholizismus einen Vorwurf machen zu können: ein Übersetzer des „Handbuchs der Moral" des Epiktet, der protestantische Dichter Rivaudeau schreibt in den Randbemerkungen zu seiner Übertragung: „Diese Betrachtung des Todes steht dem Christen sehr wohl an, und zumal, da er an die Liebe Christi denken muß und daran, daß er selbst mit dem Sohne Gottes getötet, hingemordet und begraben sei." Und weiS t r o w s k i , Wesen

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ter: „Die Christen müßten vor Schande vergehen, wenn sie dies lesen und ihr Handeln nicht danach einrichten . . . die Epikuräer und die Freigeister dieser Zeit müßten vor unsterblicher Reue vergehen, wenn sie dies lesen und ihr Leben nicht danach einrichten." Und schließlich: „Die haben nicht die gleiche Vorstellung von Gott, wie sie dieser Philosoph hat, die seine Gebote zu erweitern oder zu schmälern oder sonstwie zu ändern sich erkühnen. Zur Verwirrung und Spaltung der Kirche konnte es nur kommen, weil man dies nicht beachtete, als die Menschen, sich ihrer Weisheit überlassend, dem Worte Gottes etwas hinzuzufügen wagten." Übrigens war die Strenge der stoischen Lebensauffassung seit je nach dem Sinne der leidenschaftlichen Christen, trotz des widerchristlichen Hochmuts, den diese Lehre in sich birgt. Ein anderer Tatbestand erklärt die weite Verbreitung, die der Stoizismus damals erlebte. Die Zeiten waren so hart geworden, daß es galt, sich mit Mut und Kraft zu wappnen. Von den Moralsystemen der Antike hatte nur ein einziges, und dies mit sehr großem Erfolg, die Standhaftigkeit und Opferbereitschaft in diesen Zeiten öffentlichen und privaten Ungemachs gelehrt. Seinen Leitsatz: „sustine et abstine" hatten sich die besten und größten Menschen des Altertums zu eigen gemacht. Ihm verdankte man Cato, Epiktet, Thraseas, Marc Aurel. Und da die Zeiten des Thraseas und Neros zurückgekehrt waren, mußte man wohl oder übel zu derselben Weisheit und denselben Vorschriften zurückkehren. Der Stoizismus war von nun an der ganze Humanismus — oder jedenfalls der einzige Humanismus, mit dem man zu rechnen hatte.

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35 In Frankreich vertrat diesen Humanismus eine sehr ernste und sehr gewichtige Persönlichkeit — ein Mann, der zunächst Jurist und Angehöriger des Gerichtshofs war, dann Gesandter, erster Präsident, Bischof und Kanzler Frankreichs: Guillaume Du Vair. Nach Anfängen, die auf eine tatkräftige und ehrgeizige Persönlichkeit hinzudeuten schienen, hatte er in den friedlichen Amtsgeschäften eines gelehrten Rates beim Pariser Gerichtshof sein Genüge gefunden. Er schriftstellerte gern, beschäftigte sich mit Fragen der Rhetorik und schrieb in einem guten, an Cicero gebildeten Stil Gedanken und Randbemerkungen zur Bibel nieder. Aber er muß bei seinen Berufsgenossen und selbst in der öffentlichen Meinung eine gewisse Autorität genossen haben. Die Liga bedrohte König Heinrich III., der sich nach Blois zurückzog; ein Teil des Parlaments folgte ihm nach dort. Du Vair blieb in Paris, aber ohne deswegen der rechtmäßigen Sache irgendwie untreu zu werden. Die Anerbietungen, die ihm die Liga machte, um ihn für sich zu gewinnen, lehnte er ab, und bot überhaupt nach besten Kräften den Feinden des Königs und Frankreichs, die in der Hauptstadt des Landes das Regiment führten, die Stirne. Tatsächlich mußte er mehrfach durch sein Wort oder durch seine Schriften eingreifen, und das tat er immer mit großem Mut und mit einem sehr auffallenden politischen Instinkt. Eine glühende und hellsichtige Vaterlandsliebe beseelte ihn, wie überhaupt alle Humanisten. Behauptet man, der Name und die I.dee des Vaterlandes und die Hingabe an das Vaterland — unabhängig von seinen damaligen Vertretern, den Königen und Fürsten, betrachtet — sei eine neue Idee, so hat man den alten Du Vair nicht gelesen. Niemand hat so vom Vaterland gesprochen, wie 3*

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er — nicht einmal im 19. Jahrhundert. Ich wünschte, ich könnte hier eine Huldigung an Frankreich zitieren, die in einer der politischen Schriften sich findet, die er zu jener Zeit verfaßte. Man würde dann übrigens sehen, wie sehr er in der Liebe für sein Land Humanist bleibt: er beschreibt Frankreich, wie man ein Gemälde, ein Standbild oder ein gutgebautes Drama beschreibt. Das war während der Zeit der Liga-Staaten, während die Spanier in Paris Intrigen anzettelten, um die Franzosen an der gegenseitigen Verständigung und Einigung zu hindern. Demosthenes hätte in der Zeit seiner „Philippischen Reden" von Athen nicht anders gesprochen. Als sich die unheilvolle Lage in Paris verschlimmerte, erlebte dieser große Patriot eine Stunde der Entmutigung; er gab sein Land verloren und „sein Herz und seine Augen" begannen „darüber zu weinen". Dann suchte er als echter Philosoph Trostgründe in seiner Lebensweisheit, und damals bekannte er sich zu dem vorbehaltlosesten Stoizismus. E r schrieb drei „Dialoge über die Standhaftigkeit und den Trost in Zeitläuften öffentlichen Ungemaches", wie auch eine „Unterweisung in Fragen des bürgerlichen Lebens". In ihnen paßte er die Gedankenwelt des Chrysipp und des Cleanthes, des Epiktet und des Marc Aurel der gegenwärtigen Lage und zugleich den Forderungen des christlichen Glaubens an. Nachdem die Gefahr beseitigt war, wandte er sich nicht etwa von der Stoa ab. Die Lehre, die bisher zur Förderung der Widerstandskraft und der Kampfbereitschaft gedient hatte, wandelte er nun den Erfordernissen des alltäglichen Lebens entsprechend um. Epiktet sagt in seinem von Arrian gesammelten Gesprächen : „Schaut euch, bitte ich, einmal den großen Frieden näher an, den uns Cäsar,

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scheint es, gewährleistet, da es doch keine Kriege mehr gibt, keine Schlachten, keine Wegelagerer und keine Korsaren auf dem Meere, da man sich aber in aller Muße und Ruhe zu jeder Stunde auf dem Lande frei bewegen und von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang auf dem Meere fahren kann. Aber kann er es erreichen, daß das Fieber uns in Frieden läßt ? Und kann er uns vor Schiffbruch oder Feuer, vor dem Erdbeben oder dem Blitze bewahren ? Kann er uns auch mit unsern Leidenschaften in Eintracht leben lassen ? Uns vor der Liebe, vor der Trauer und der Langeweile schützen ? Nichts von alledem kann er uns abnehmen, aber die Lehre der Philosophen verheißt uns den Frieden mit diesem allen." Genau so bleibt, auch wenn Heinrich der IV. den Franzosen den großen Frieden im öffentlichen und politischen Leben geschenkt hat, der innere Friede, der Friede der Seele doch ständig bedroht. Und die Lehre der Stoa, an die man sich in Zeiten öffentlicher Unruhe gewandt hatte, um sich innerlich zu stählen und zu wappnen, bleibt doch auch in der neuen Ordnung unerläßlich, um als Schutzwall gegenüber den Anfechtungen des Willens und der Sinnlichkeit zu dienen. Eben diesem Ziele sollten die großen theoretischen Abhandlungen Du Vairs dienen: „Die Moralphilosophie der Stoiker" und „La Sainte Philosophie", wie andererseits auch die Übertragung des „Handbuchs" des Epiktet. Die Philosophie der Stoa, ihre stolze Auffassung des Menschen und ihre äußerst nüchterne Auffassung des Lebens setzten sich also schließlich bei allen noch wesentlich vom Humanismus berührten Menschen durch. Um so mehr, als in Belgien ein sehr berühmter Professor und Gelehrter, Justus Lipsius, die gleichen Lehren mit einem

II. Dei Humanismus bis Montaigne 38 ungeheuren Widerhall verbreitete und sie in dem ganzen gebildeten Europa heimisch machte, nicht nur durch seine Ausgaben des Tacitus und des Seneca, sondern auch durch große lateinisch abgefaßte Abhandlungen — sehr ausfuhrliche, beredte und lebendige Traktate. Dieser Stoizismus nun, zu dem damals der Humanismus zusammenschrumpfte, weist nirgendwo die warme Einfühlung in alles Menschliche auf, die den Humanismus Petrarcas und des Erasmus so lebendig machte. Er stützt sich nicht auf die Liebe zur Kultur und zur Zivilisation. Er wendet sich nicht an den Schönheitssinn. Er läßt das Leben genau so erstarren, wie das Herz. Der Stoiker glaubt, sein Glück und der Friede seiner Seele dürften einzig und allein nur von ihm abhängen, und so entledigt er sich alles dessen, was nicht von ihm abhängt. Er verschließt sich in sich selbst, er läßt die natürlichsten Neigungen verkümmern, er weiß sie nur beiläufig zu schätzen. Er bildet sich ein, er könne seiner Leidenschaften Herr werden, und so unterdrückt er sie alle, damit sie seine innere Freiheit nicht gefährden. Er verbringt sein Leben in stolzer Absonderung. Die Anmut der Dinge, der tiefe Zauber des Lebens, die Beschwingtheit des Herzens — von alledem weiß er nichts. Er stellt sein Leben ganz auf das System. Immer läßt er dem Verstand und dem Willen das letzte Wort. Seine allem Menschlichen ferne Weltanschauung entartet zu einer Scholastik, durch die die menschliche Natur verkümmern würde, und die den Humanismus der gleichen Armut, Dürre und Pedanterie überantworten würde, zu der soeben die vom Mittelalter überkommene Moral herabgesunken war. Da aber trat der französische Geist auf den Plan. Er ließ innerhalb dieser ungestümen und abstrakten Lehren

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die dem Leben und den Menschen nahe Wirklichkeit wieder zu ihrem Rechte kommen; und der Humanismus erlebte seine Auferstehung in neuer Gestalt. Mit Montaigne sollte ein durchaus menschlicher Typus in Erscheinung treten, die Gestalt des Edelmannes und des Ehrenmannes. Und er sollte zu Beginn eines großen Jahrhunderts so etwas wie eine Befreiung bedeuten.

ABSCHNITT III

DIE LEHRJAHRE DES MICHEL DE MONTAIGNE Das gefährliche Phänomen, das niemals ausbleibt, sobald die Morallehren sich verfestigen, griff zu seiner Zeit auch in die Entwicklung des Humanismus ein. Was anfangs freie Eingebung und quellende Fülle gewesen war, wurde System und scholastische Formel. Die Gewohnheit, der Hochmut, die Trägheit verwandelten die hochsinnigen Auffassungen des Menschen und des Lebens, die ja grade die Pedanterie bekämpfen wollten, in pedantische Theorien. Aber das Leben sollte wieder zu seinem Recht kommen, und der französische Geist schickte sich an, das Vermächtnis Petrarcas und des Erasmus wieder lebendig zu machen. Michel de Montaigne begann, die „Essais" zu schreiben. Michel de Montaigne ist ein großer Humanist, aber er ist auch ein großer Realist. Er kennt den Menschen durch und durch. Er kennt die Schriftsteller und die Bücher, die Philosophen und die Systeme. Die Idee, die er sich von der Vollkommenheit des Menschen macht, holt er sich bei den begnadeten Geistern „vergangener Zeiten" und bei denen, die ihre geistigen Führer gewesen sind. Aber nicht weniger gut kennt er seine eigene Zeit und in dieser Zeit ein Individuum mit Namen Michel de Montaigne. Er ist sich völlig klar geworden über die wirk-

ΙΠ. Die Lehrjahre des Michel de Montaigne

lichen Möglichkeiten, die dieser Michel de Montaigne besitzt. Er läßt sich durch Gedanken und Worte nichts vormachen. Die Wirklichkeit hält ihn in Bann und ist seine Grundlage. Er selbst sagt in einem seiner „Essais" : ,,Die Menschen richten ihre Blicke immer nach außen. Ich dagegen wende meinen Blick nach innen, ich fixiere ihn dort und lasse ihm dort seine Freuden. Jeder schaut gradeaus: ich dagegen schaue in mein Inneres, ich habe es nur mit mir zu tun. Ich betrachte mich unaufhörlich, ich prüfe mich, ich genieße mich gleichsam selbst. Die anderen gehen immer anderswohin, sie gehen immer vorwärts . . . ich dagegen kreise in mir selbst. Diese Fähigkeit, jedwede Wahrheit in mir selbst zu entdecken, und diese freie Haltung, meinem Glauben nicht leichthin Gewalt anzutun, verdanke ich vor allem mir selbst; denn die mir eigenen unverrückbarsten und grundlegenden Vorstellungen sind die, die sozusagen mit mir geboren wurden; sie sind mir gemäß und ganz zu eigen. Ich holte sie alle aus mir selbst, nur gleichsam noch roh und ungeschliffen — auf eine kühne und starke, aber ein wenig unklare und unvollkommene Weise. Seitdem habe ich sie mir wahrhaft angeeignet und sie unangreifbar gemacht : durch die Autorität anderer und durch die geheiligten Vorbilder der Alten, denen ich mich in meiner Art zu urteilen verwandt fühle : diese haben es mir ermöglicht, sie mir ganz zu eigen zu machen und sie tiefer und umfassender zu genießen."

Dieses Bekenntnis hat Montaigne an sehr vielen Stellen der „Essais" wiederholt; dadurch versichert er uns, daß er in seinen „Erfahrungen" die besondere Erkenntnis eines einzelnen ganz bestimmten Menschen gewonnen und daß er sie befestigt, erweitert und verallgemeinert hat — dadurch, daß er sie mit dem uns von der Tradition der griechischen und der römischen Antike her überkommenen Idealbilde des Menschen verglich. So müssen wir uns also zunächst mit dem besonderen Individuum befassen, das Michel de Montaigne hieß — mit seinen Ursprüngen, seinem Temperament und mit sei-

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nen Erfahrungen; denn erst von der Beobachtung dieses Individuums aus ist er zu der umfassenden Wesenserkenntnis des Menschen und zu dem Urbild menschlicher Vollkommenheit aufgestiegen. I Michel de Montaigne wurde am 28. Februar 1533 in Périgord geboren, als Abkömmling einer einflußreichen, aus Bordeaux stammenden Familie. Seine Großväter waren reich gewordene Kaufleute; sein Vater, der erst neuerdings geadelt war, hatte in seiner Jugend an den Kriegen in Italien teilgenommen und war auf seine alten Tage noch Bürgermeister von Bordeaux geworden. Seine Mutter war eine Demoiselle de Louppes (Lopez), vermutlich jüdischer Herkunft; sie hatte sich der Reformation angeschlossen. Sie scheint viel praktischen Sinn und einen energischen Willen besessen zu haben. In ihrem kurz vor dem 90. Lebensjahr abgefaßten Testament heißt es : „ E s ist bekannt, daß ich ganze 40 Jahre lang im Hause de Montaigne mit meinem Gatten zusammen gearbeitet habe, derart, daß durch meine Arbeit, Sorgfalt und Wirtschaftlichkeit besagtes Haus wesentlich in seinem Wert erhöht, verbessert und vergrößert worden ist." Montaigne hat uns niemals von seiner Mutter gesprochen, die bei ihm wohnen blieb und die ihn überlebt hat. Aber er hat uns oft von seinem Vater erzählt: er nennt ihn „den besten Vater, der je gelebt hat". E r spricht ihm die besten Eigenschaften zu. „ E r sprach wenig, aber gut", sagte er von ihm. „ E r legte einen unermeßlichen Glauben in seine Worte", fährt Montaigne dann fort, „und seine Sinnesart und Religion ließen ihn überhaupt mehr zum Aberglauben neigen als zum Gegenteil."

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Montaigne leitet alles, was sich an Gutem bei ihm finden mag, aus der ihm von diesem Vater überkommenen Anlage ab: „Ich verdanke meinem Glück mehr als meiner Vernunft. Es hat mich von einem durch seine bürgerliche Tüchtigkeit berühmten Geschlecht und von einem sehr guten Vater abstammen lassen. Ich weiß nicht, ob er einen Teil seiner Gemütsart auf mich übertragen hat, oder aber ob das ständige gute Vorbild meines Elternhauses und die gute Schule meiner Kindheit unmerklich dazu beigetragen haben, oder ob ich sie andererseits von Geburt aus mitbekommen habe — so viel ist sicher, daß ich die meisten Laster verabscheue, und zwar aus einer mir so gemäßen und eigenen Haltung heraus, daß ich mir eben diesen mir von frühster Kindheit an eigenen tiefen Instinkt bewahrt habe, ohne daß irgendwelche Umstände mich je darin beirrt hätten usw. u s w . . . . "

Hier möchte ich gleich den Gedanken hervorheben, der in seinen Ausführungen ständig wiederkehren wird: daß die Tugend und die Weisheit eine irgendwie vererbbare Anlage voraussetzen. Der Verfasser der „Essais" ist durch und durch Aristokrat I Pierre de Montaigne, der Vater, hatte sich von seinen Reisen in Italien her eine Art Trunkenheit bewahrt. Dort hatten ihn die Anmut des Lebens, der Genuß der Kunst und der Schönheit und alle Vorteile einer unermeßlich verfeinerten Zivilisation aufs tiefste entzückt. Noch ganz unter diesem Eindruck erzog er seinen ältesten Sohn. Er wollte dem Kinde jede unnütze Mühe und jedes nicht notwendige Leid ersparen. Es ist bekannt, daß — nachdem er als Kind aufs Land verschickt war, in eine noch völlig unzivilisierte Gegend, wo er Geschmack an Schwarzbrot, Speck und Knoblauch gewann — Michel nach seiner Rückkehr ins Vaterhaus morgens durch Musik geweckt wurde, Latein wie seine

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Muttersprache erlernte und sich spielend alle die Kenntnisse aneignete, die den anderen Kindern so schwer fallen ! „Dadurch, daß ich als Kind eine recht sanfte und freie Erziehung genoß, sagt er, und damals durchaus nicht unter strenger Disziplin zu leiden hatte, habe ich jede Fähigkeit zur Gewissenhaftigkeit und Disziplin verloren." Das bewies er allerdings, als sein Vater später schweren Herzens einwilligte, ihn auf die höhere Schule zu schicken, wo die strengste Disziplin herrschte. Der Jüngling zog sich damals ganz in sich zurück; er lebte in einer Art schweigenden und gleichgültigen Trotzes, bis ihn eines Tages sein Lehrer (sein Repetitor) wie in ein verbotenes Vergnügen in das Lesen der Dichter und in den freien Genuß der gesamten Antike einführte. Montaigne wurde auf diese Weise „erlöst" und begann, sich ein neues, durchaus freies, in der Dichtung und im Geistigen aufgehendes Leben aufzubauen. Das jedenfalls erzählt er uns selbst über seine Jugend; vielleicht hat sich das alles keineswegs genau so zugetragen, wie er es uns schildert, aber jedenfalls ist dies die Vorstellung und die Erinnerung, die er sich davon bewahrt hat. Und darauf kommt es an. Die Menschen lassen sich — so belehrt er selbst uns einmal — weniger durch die Dinge als durch ihre Ansicht der Dinge leiten, weniger durch ihre Erziehung als vielmehr durch das Wunschbild ihrer Jugend, das sie verfolgt und ihr ganzes Leben lang begleitet. Für eine weniger starke Individualität wäre eine solche Erziehung sehr gefahrvoll gewesen; aber Montaigne bedurfte nicht des äußeren Zwanges. Er besaß in sich selbst sein Zentrum. Der Mangel jeder kontinuierlichen Disziplin ließ ihn spüren, daß die wahre Grundrichtung seines inneren Lebens von keinem Zwange abhängig und gleich-

III. Die Lehrjahre des Michel de Montaigne

sam etwas Absolutes war, und so kam ihm die Erkenntnis, daß die Menschen nur durch sich selbst existieren. Er sah die tiefgreifenden Unterschiede, die die Menschen daran hindern, bloße Scheidemünzen zu sein, die alle achtlos aus demselben Metall und nach dem gleichen Muster geprägt werden. Die fruchtbare Idee der Individualität und der individuellen Selbständigkeit, die alle seine Einfalle und sein gesamtes Denken beherrscht, ist ihm hier vertraut geworden ! Die ständig vertiefte Lebenserfahrung sollte ihm übrigens die Möglichkeit geben, diese Idee genauer zu bestimmen. II Er war im Jahre 1557 Rat beim Gerichtshof von Bordeaux geworden, nachdem er vorher Gerichtsrat in Périgueux gewesen war. Dort konnte er beobachten, wie mächtig Individualität in Erscheinung treten kann, wenn Leidenschaft und Gesetzlosigkeit ihre Triebfedern sind. Die feine Lebensart und die Ausgeglichenheit der Sitten waren nicht stark genug, die gewalttätigen Instinkte zu unterdrücken; junge Leute aus den besten Familien scheuten sich sogar nicht, Diebstähle und Räubereien zu begehen, nur um zu Gelde zu kommen. Einer der näheren Bekannten Montaignes „wurde dabei ertappt, wie er einer Dame Ringe stahl, bei deren Morgenempfang er sich mit vielen anderen eingefunden hatte". Dieser verheißungsvolle junge Dieb gestand es Montaigne „rund heraus". Über sein Verhältnis zur Liebe hört man Montaigne am besten selbst sprechen: „Süß und köstlich — so schreibt er — ist mir der Umgang mit ehrenwerten und aus gutem

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Hause stammenden Frauen. Aber bei solchem Umgang muß man doch ein wenig auf seiner Hut bleiben. Ich verbrühte mich schon als Kind daran, und damals erduldete ich alle die Qualen, die nach Ansicht der Dichter denen vorbehalten sind, die sich dabei hemmungslos und ohne Urteil gehen lassen." Dieses Geständnis empfängt seine volle Bestätigung durch einen in Versen abgefaßten Brief, in dem Etienne La Boétie seinen Freund zur Lebensweisheit zu bekehren sucht. Durch ihn bekommt man eine Ahnung, daß es den Prediger viel Mühe kosten wird, das zu erreichen. Anderen Gestalten, in denen sich ihm Individualität eindrucksvoll verkörpert, begegnet Montaigne dann später auf seinen Reisen, während der Missionen bei Hofe, mit denen man ihn betreut. Denn der künftige Verfasser der „Essais" hat sich nicht ständig in seinen vier Wänden und in der einen Stadt aufgehalten. Im Jahre 1559 begibt er sich nach Paris und gehört dort zum Gefolge Franz' II. auf der Reise, die dieser Prinz nach Bar-le-Duc unternimmt. In den Jahren 1561 und 1562 kehrt er an den Hof zurück und macht mit ihm zusammen die Reise nach Rouen, wo er sogar Gelegenheit hat, sich mit Kannibalen zu unterhalten. Und bis zum Jahre IJ70 oder vielmehr bis zu seinem Tode hört er nicht auf, am öffentlichen Leben teilzunehmen und sich in der Welt umzusehen, entweder in dienstlichen Angelegenheiten oder aus eigener Freude am Reisen. Er gewinnt das Vertrauen seiner höchsten Vorgesetzten und ist mit den Herzögen von Guise genau so befreundet, wie mit dem Fürsten von Navarra, ohne deswegen seiner Ergebenheit gegenüber dem König von Frankreich untreu zu werden.

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Vielleicht hat es niemals eine Zeit gegeben, in der mächtigere und vielseitigere Persönlichkeiten im öffentlichen Leben auftraten. Während der Regierung der letzten Valois waren alle denkbaren Formen von Ehrgeiz in leidenschaftlichster Entfaltung zutage getreten, genau so wie alle Formen von Fanatismus während der Religionskriege. Waghalsige und durchtriebene Gestalten waren es, die sich Frankreich damals streitig machten, und die sich Montaigne zum Vertrauten und zum Gefährten wählten. Aber er konnte, da er seine Freiheit nicht aufs Spiel setzte, den wahren Charakter dieser Leute beobachten und sich ein Bild vom eigentlichen Wesen des Menschen machen. Während er diese Erfahrungen sammelte, vergaß Montaigne doch nicht den Humanismus und die Alten. Er lebte in einem Kreis gebildeter Menschen. Seine Schwester war an einen Gerichtsrat mit Namen Lestonnat verheiratet. Eines Tages erschien bei diesem einer seiner Kollegen, um M. de Lestonnat zu einer „kleinen Liebesorgie" einzuladen. Um nicht von Neugierigen verstanden zu werden, brachte er seine Einladung in griechischer Sprache vor: was immerhin beweist, daß die beiden Männer griechisch verstanden. Zum Glück für die guten Sitten verstanden sie es aber nicht allein. Mme de Lestonnat hörte, was sie sprachen, und der Verfasser der Chronik von Bordeaux, der uns diese Anekdote berichtet, teilt uns mit, daß die Dame den schlechten Ratgeber ,Hals über Kopf' zur Tür herauswarf". Aber Montaigne sollte auf andere Weise durch den Humanismus zur Weisheit bekehrt werden.

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III. Die Lehrjahre des Michel de Montaigne

III Auf dem Gerichtshof hatte er einen Berufsgenossen kennen gelernt, der fast so jung war wie er, mit Namen Etienne de La Boétie. Etienne wurde am i. November ï 5 30 in Sarlat geboren; er hatte eine Witwe geheiratet, die älter als er und Mutter mehrerer Kinder war. So wurde er der Schwiegervater eines protestantischen Bruders Montaignes. La Boétie war ein großer, ganz von der Weisheit der Antike gesättigter Gelehrter. Er war katholisch geblieben und starb als Katholik, aber auch als Philosoph. Er hat eine gewisse Rolle im politischen Leben des Südwestens gespielt; er gehörte der „gemäßigten" Richtung an und war ein unbedingter Anhänger des Königs. Seine Tagend, die Würde seines Lebens, die Festigkeit seines Charakters, die Weite seines Geistes bestimmten ihn offenbar zu großen Aufgaben. Der Tod raffte ihn früh hinweg, im Alter von 3 2 Jahren und 9 Monaten, lange bevor er die ganze Fülle seiner Begabung entfalten konnte. Ihm Schloß sich nun Montaigne mit leidenschaftlicher Bewunderung an. Die beiden Freunde haben nur sehr kurze Zeit miteinander verbracht. Durch genaue Zusammenstellung der Daten habe ich feststellen können, daß sie nur sehr wenige Wochen gemeinsam verlebt haben können. Insofern hat Montaigne offenbar die ihm in La Boétie verkörperte Idee der Vollkommenheit genau so in persönlichem Umgang kennen und lieben gelernt, wie den Menschen La Boétie selbst. Übrigens hat dieses innige Verhältnis, im Gegensatz zu den gewöhnlichen Freundschaften, durch räumliche Trennung und durch den Tod keine Beeinträchtigung erfahren. Man darf sagen, daß Montaigne in der Gestalt des La Boétie all das verkörpert

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fand, was sein Herz und sein Geist sich an Höchstem und Schönstem vorzustellen vermochten. Diese Freundschaften, die aus der Bewunderung erwachsen, sind die fruchtbarsten und die dauerndsten. Jedenfalls hat die Freundschaft, die Montaigne für La Boétie empfand, den großen Vorteil gehabt, daß die Tugenden der Antike und das Bild des Menschen, das Montaigne bei den Humanisten entdecken konnte, in La Boétie ihre reinste Gestalt fanden. Anstatt bloße abstrakte Begriffe zu bleiben, haben sie in einem ebenso geliebten, wie bewunderten lebendigen Menschen ihre Verkörperung erfahren. Nach dem Tode La Boéties suchte Montaigne in einer Heirat Trost. Er heiratete ein junges Mädchen, Françoise La Chassagne, deren Bruder gleichfalls Gerichtsrat war und unter dem Namen „sieur de Preyssac" der erste Übersetzer der „Briefe" Senecas werden sollte. Montaigne war kein schlechter Ehemann. „Ich habe wirklich die Gesetze der Ehe strenger eingehalten, als ich es versprochen und gehofft hatte", sagt er selbst. Er hat mehrere Kinder gehabt — und doch auch das große Leid, sie alle zu verlieren, außer einer Tochter, die er erzogen und vermählt hat : neue Erfahrungen, auf die er bisweilen in den „Essais" zu sprechen kommt. Im Jahre 1568 verlor er seinen Vater; kurz darauf veröffentlichte er die Übersetzung eines sehr bedeutenden religionsphilosophischen Werkes, der „Natürlichen Theologie" des Raymond Sebond. Auch veröffentlichte er, mit eigenen Vorreden und Widmungen, verschiedene Traktate de La Boéties. Aber er verzichtete offenbar nicht auf seine Laufbahn bei der Behörde: so reichte er ein Gesuch ein, um in die große Kammer aufgenommen zu werden. S t r o w s k i , Wesen

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Zum Glück empfing er einen unverdienten abschlägigen Bescheid, woraufhin er unverzüglich sein Amt verkaufte und sich in sein Schloß zurückzog. Man kann das Leben Montaignes bis zu diesem Zeitpunkt mit einer großen, ein wenig unruhigen und planlosen Reise vergleichen, auf der die verschiedensten Landschaften vor seinen Augen vorübergezogen sind. Sollte diese Reise alle ihre Früchte tragen und der Geist den vollen Nutzen aus ihnen ziehen, so mußte Montaigne sich sammeln, in seinem Gedächtnis die zu schnell vorübergeflohenen Bilder Wiederaufleben lassen und über den Sinn seiner Erlebnisse nachdenken. Die Übersiedlung in das Schloß de Montaigne ermöglichte ihm dies alles, und so konnte er fast zehn Jahre lang bei der Niederschrift seiner „Essais" über die Menschen und über sich selbst Betrachtungen anstellen. Im Jahre 15 80 fand seine Lebensreise ihre Fortsetzung in Gestalt einer wirklichen Reise durch Europa. IV Montaigne hielt sich noch für sehr krank und dem Tode sehr nahe. Er verließ sich weder auf die Arzneien noch auf die Ärzte, aber er glaubte an die heilsame Wirkung der Wasser. So brach er also von seinem Schloß auf, um in den großen Bädern Europas Heilung zu suchen. Er kam nach Paris, nach Plombières, nach Basel; er reiste durch die Schweiz, besuchte Italien und ließ sich schließlich zu einem langen Erholungsaufenthalt in den Bädern von Lucca nieder. Man hat die von Montaigne oder von seinem Sekretär

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stammenden Reiseaufzeichnungen wiederaufgefunden; aus ihnen ersieht man, wie sich das Beobachtungsfeld des Philosophen erweitert; wie seine Erfahrung sich bereichert. Wie Odysseus sieht er die Sitten und Bräuche der Menschen; er interessiert sich für die kleinsten Einzelheiten des Alltagsdaseins und für jene charakteristischen Merkmale, die von einer Stadt zur andern wechseln. Aber niemals wird er dabei banal. In den ein wenig naiven Seiten, die das Reisetagebuch auch enthält, kommt vermutlich die primitive Verwunderung des Sekretärs zu unmittelbarem Ausdruck, eines jungen Mannes, den Montaigne schließlich verabschiedete. Überall da, wo Montaigne selbst spricht, offenbart sich der tiefe Beobachter der Menschennatur. Montaigne wäre vielleicht unbegrenzt lange auf Reisen geblieben und hätte somit seine Erfahrung als Reisender und Tourist unendlich erweitert, hätte er nicht die Mitteilung erhalten, daß seine Landsleute ihn auf zwei Jahre zum Bürgermeister von Bordeaux gewählt hatten. Der König ließ ihm einen strengen Befehl zukommen, seine Stellung so schnell wie möglich anzutreten, und Montaigne kehrte zurück. Der Bürgermeister von Bordeaux hatte damals viel zu tun: die Zeiten waren voller Unruhen, die Liga gelüstete es sehr nach der großen Stadt; Heinrich von Navarra begehrte sie nicht minder. Aber rechtmäßig gehörte sie dem König von Frankreich, und ihrem rechtmäßigen Herren mußte der Bürgermeister sie erhalten. Er sah sich somit gezwungen, zu verhandeln, zu handeln, ja sogar sich zu schlagen: „Ich habe die ganzen Nächte entweder bewaffnet in der Stadt oder außerhalb der Stadt im Hafen 4*

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ΠΙ. Die Lehrjahre des Michel de Montaigne

verbracht", schreibt er dem Marschall de Matignon, dem Stellvertreter des Königs. Dadurch gewinnt seine Kenntnis der Menschen an Tiefe; es ist ja nicht dasselbe, ob man die Freundschaft und das volle Vertrauen der Großen besitzt oder ob man mit ihnen gleichsam handgemein wird, in offenem Kampfe oder in heimlichem Interessenstreit. In diesem Falle muß man bis auf den Grund des Herzens schauen, den Triebfedern nachspüren, die das Handeln der einzelnen bestimmen und ihre geheimsten Absichten ergründen. Ganz abgesehen davon, daß man sich bei solcher Betätigung selbst verwandelt und ein anderer wird. Ein Mann wie Montaigne, der sich ständig selbst beobachtet, kann auf diese Weise merkwürdige Entdeckungen in seinem eigenen Herzen machen. Vier Jahre lang blieb Montaigne Bürgermeister von Bordeaux. Zusammen mit der Reise ergibt das fünf neue „Lehrjahre". Es gab da Neues genug, das gründlich durchdacht sein wollte. Montaigne hatte neuen Stoff in Fülle, über den er wiederum in der Einsamkeit seines Schlosses nachsinnen und denken konnte. Nach Verlauf von drei Jahren begibt sich Montaigne wiederum nach Paris; er nimmt an der Ständeversammlung in Blois teil; er ahnt die großen Wirren, die der Ermordung des Königs folgen werden. Er knüpft eine Verbindung mit einem jungen Mädchen, Mlle de Gournay, die wir nur als alte, etwas komische Jungfer kennen, die aber jung gewesen sein muß, bevor sie alterte, bezaubernd, bevor sie etwas komisch wurde, „modern", bevor sie altmodisch wurde. Endlich wird ihm die Erfahrung des Altwerdens zuteil, und er versucht, mit Ehren vor ihr zu bestehen.

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,,Ιη meiner Jugend", sagt er,,,bedurfte ich der Mahnung und des Ansporns, um mich leistungsfähig zu erhalten. Heute steht es ganz anders mit mir. Die Bedingungen des Alters mahnen mich nur zu sehr und machen mich weise und nachdenklich. Aus dem Ubermaß der Lebensfreude bin ich in das mühsamere Übermaß strengster Selbstbescheidung geraten . . . Meine Jahre predigen mir Tag für Tag Kühle und Mäßigung. Dieser mein Körper läßt mich, ob ich nun schlafe oder wache, nicht eine Stunde ohne düstere Mahnung an Tod, Geduld und Reue . . . Jedenfalls möchte ich in jeder Hinsicht Herr meiner selbst sein. Daher vergönne ich mir aus einer Art Lebensklugheit heraus, aus Furcht, sonst unfruchtbar, leer und schwerfällig zu werden, in den Pausen, die meine Leiden mir gewähren, eine ganz leichte Entspannung und wende meinen Blick von dem stürmischen und umwölkten Himmel ab, den ich vor mir sehe, und den ich, Gott sei Dank, durchaus ohne Furcht, aber nicht ohne Anstrengung und ernstes Nachsinnen betrachte."

Diese letzte Erfahrung ist genau so wie die anderen für Montaigne und uns fruchtbar geworden; er hat in seinem Schlosse darüber gegrübelt bis zu seinem Tode, der ihn am 13. September 1592 überraschen sollte. Diese Zeit über hat er immer wieder sich seinen Gedanken hingegeben und zur Feder gegriffen; er hat dem Buche, an dem er seit dem Jahre 1571 ununterbrochen arbeitete, seine neuen Erfahrungen und seine neue Lebensweisheit anvertraut. In einem seiner ersten Essays schrieb Montaigne: „Ich stelle die Probe auf das Ergebnis meiner Studien dem Tode anheim. Dann wird sich zeigen, ob meine Reden mir aus dem Munde oder aus dem Herzen kommen." Gegen Ende seines Lebens hat er es bescheidener ausgedrückt: „ E s (das Alter) ist eine gar mächtige Krankheit, die ganz von selbst und unmerklich um sich greift. Es bedarf eines sehr ausgebreiteten Studiums und großer Umsicht, um die Unvollkommenheiten, die es uns auferlegt, zu vermeiden oder wenigstens ihr Fortschreiten zu hem-

ΠΙ. Die Lehrjahre des Michel de Montaigne 54 men. Ich spüre, daß es, wie sehr ich mich auch ihm gegenüber verschanze, Schritt für Schritt mich überwältigt; ich halte mich, so gut ich kann, aber zuguterletzt weiß ich nicht, wohin es mich selbst führen wird: was auch kommen mag, ich bin zufrieden, daß man weiß, wes Geistes Kind ich bin." Wir wissen es heute, wohin das Alter ihn geführt hat: jedenfalls hat es seine Weltanschauung und seine Lebensweisheit nicht Lügen gestraft. Seine Todesstunde hat es bezeugt, daß ihm die Worte aus dem Herzen kamen. Sein Nachfolger im Gerichtshof, Florimond de Rémond, der Verfasser des Buches „L'Erreur populaire de la papesse Jeanne", bestätigt uns das in seinem Buche. Nach einigen Bemerkungen über die Armseligkeit des Menschen und einer Reihe Betrachtungen über den Tod fährt er fort: „Aber das wollen wir Michel de Montaigne überlassen. Über Fragen dieser Art muß man bei ihm Belehrung suchen. Wie oft hat er uns dieses Thema nahegebracht ! Er war unermüdlich darin, mit dem Tode ganz schlichten Umgang zu pflegen, sich mit ihm sehr vertraut zu machen und mit ihm gleichsam spielend fertig zu werden. Ja er philosophierte noch, wenn auch die grimmigsten Leiden ihn heimsuchten, bis zu seinem Tode, ja sogar als er schon im Sterben lag. „Finsternis liegt seit kurzer Zeit über Frankreich, seit diese lebensprühende und unvergleichliche Leuchte des Wissens, der Beredsamkeit und der weltmännischen Erfahrung nicht mehr unter uns weilt. Nach allem, worin sich uns seine Tugend bezeugt hat; seine mutige und beinahe stoische Lebensanschauung; seine wunderbare Gefaßtheit gegenüber allen möglichen Leiden und Stürmen unseres Lebens; sein subtiles und treffendes Urteil über die Menschen seiner Zeit in jeden erdenklichen Angelegen-

III. Die Lehrjahre des Michel de Montaigne

heiten; seine so sehr bezaubernde und anmutreiche Art, zu sprechen, die in so vielgestaltiger, alle Wünsche übertreffender Vollendung erglänzte — hat das grausame und unerbittliche Schicksal ihn unsern Augen entzogen und, an der Schwelle seines Greisenalters, Aquitanien, aber mehr noch Frankreich diesen reichen Schatz der Ehre, der Tugend und unsterblichen Ruhmes entrissen. Ich möchte euren Beistand und eure Hilfe anrufen, heilige Musen, um hier eure Verse auf das gesegnete und ewige Andenken unseres nie genug gepriesenen Montaigne aufzuzeichnen." Wir haben die Verse der heiligen Musen nicht nötig, um Montaigne seinem Verdienst gemäß zu erkennen und zu rühmen. Er selbst hat uns sein Wesensbild in einem Buch hinterlassen, in dem er sich nach seiner schlichten, natürlichen und ungezwungenen Weise dargestellt hat: die „Essais". Aber dieses Buch ist keineswegs nur das Selbstportrait Montaignes ; es enthält eine Philosophie des Menschen und ein Idealbild menschlicher Vollkommenheit, die dem kommenden Jahrhundert sein Gepräge geben sollten.

ABSCHNITT IV

DER MENSCH IN DEN „ESSAIS" Die „Essais" sind ein verwirrendes und geheimnisvolles Buch. Eine Zeile, zehn Zeilen lesen sich unendlich angenehm; man findet dort „Wirklichkeit", wie Mme de Sablé sagte. Aber die pausenlose Lektüre eines der längeren Essais ist oft sehr mühsam. Man sollte nicht einmal den Versuch machen, das ganze Werk „auf einen Sitz" durchzulesen; das würde Menschenkraft übersteigen. Es ist also besser, man betrachtet die „Essais" als einen Lebensgefährten, bei dem man sich Rat holt, oder als eine Art Wörterbuch, in dem man gelegentlich blättert. Man schlägt es auf, wirft einen Blick hinein, schließt es wieder — und jedesmal ist man um einen neuen — kleinen oder großen — Erfahrungsschatz reicher geworden. Nach Verlauf von Wochen, Monaten und Jahren „setzen sich" diese Reichtümer und ordnen sich in Geist und Herz nach ihrer natürlichen Rangfolge; sie bilden gleichsam einen lebendigen Organismus; man spürt allmählich, daß man einem unwiderstehlichen „Zauber" verfallen ist; man fühlt sich verwandelt; man hat Montaignes Gedankenwelt der eigenen einverleibt. Es ist ein sehr merkwürdiges Buch ! Und obendrein ist es auf eine so seltsame Weise entstanden, wie kein anderes Buch, von dem wir Kunde haben.

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I Montaigne hatte sich am 28. Februar 1571 auf sein Schloß zurückgezogen; er hatte dort alsbald an der Wand seines Arbeitszimmers eine lateinische Inschrift anbringen lassen, in der er dem Gericht und dem Staatsdienst feierlich Lebewohl sagte und die ihm noch vergönnte Lebenszeit den Musen widmete. Er hatte sich dort eine „nur für ihn bestimmte" Klause geschaffen: in dem Turm, der sich über dem Eingangstor des Schlosses erhebt; dorthin verlegte er sein Zimmer, seine Kapelle, seine Bücherei. Das eigentliche Wohngebäude überließ er seiner Familie, nämlich seiner Mutter, seiner Frau, seiner Tochter und der Dienerschaft. Seine Klause war ihm heilig: er lebte dort mit seinen Büchern. Aber der Umgang mit den Büchern, mag er auch durch gelegentliche Reisen oder Besuche ergänzt werden, vermag doch allein kein Menschenleben auszufüllen. Montaigne mochte noch so viel lesen : er langweilte sich. Seine Einbildungskraft förderte, wie er sich ausdrückt, „Traumgestalten" zutage, „ohne alle Ordnung und Schick". Nun entschloß er sich, geborener Schriftsteller, der er war, zu schreiben; und da er ohne Disziplin herangewachsen war, so schrieb er ohne Zusammenhang über Themen, die ihm grade durch den Kopf gingen. So begann er, „seine Gedanken und Einfalle" zu Papier zu bringen. „Als ich mich letzthin in mein Hauswesen zurückzog, mit dem festen Entschlüsse, so viel wie möglich mich hinfort mit nichts mehr abzugeben und meine übrige Lebenszeit in stiller Ruhe fur mich hinzubringen: da meinte ich, ich könnte meinem Geist nicht gütlicher tun, als wenn ich ihn von aller Beschäftigung befreite, damit er sich mit sich selbst unterhalten, sich selbst genießen und an sich selbst erlaben könne . . .

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Aber ich finde das Gegenteil: wie ein Pferd, das den Reiter abgeworfen hat, galoppiert er noch ärger, bloß für sich, als er sonst für andere tat. Und er heckt aus keiner anderen Ursache so viele Ungeheuer aus und so viele Traumgestalten, ohne alle Ordnung und Schick, als damit ich die gepfuschten Wunderfratzen der Läng und Breite nach beschauen könne. Ich habe aber angefangen, ihn wieder aufzuschirren, und hoffe ihn mit der Zeit dahin zu bringen, daß er sich des Unfugs selbst schämen soll."

Nicht „Scham", wohl aber Stolz durfte Montaigne empfinden, wenn er seine Gedanken und Einfalle durchging. Denn, wenn die „Essais" anfangs nur kleine „Stücke" waren, dazu bestimmt, einen merkwürdigen Fall zu erörtern (etwa sich darüber klar zu werden, ob der Kommandant einer belagerten Festung sich auf Unterhandlungen einlassen oder einem siegreichen Feind die Stirne bieten solle), so gestaltete sie Montaigne doch bald zu richtigen Abhandlungen, in denen er die wichtigsten Fragen der Ethik entwickelte, immer mit dem Blick auf seine eigenste Lebensführung und auf das, was seine Erfahrung ihn lehrte. Kurz, Montaigne merkte ziemlich bald, daß seine „Essais", ob sie nun lang oder kurz gerieten, von Tag zu Tag seine „inneren Zustände und Stimmungen" abbildeten, mit einem Wort ihn selbst. Das war nun kein unbewegliches oder nur dem Anschein nach lebendiges Bildnis, wie alle Bilder sonst. Hier war es der Mensch selbst, wie er sich bewegte, sich wandelte, wie er leibte und lebte. Vor unseren Augen wurde er lebendig, vor unseren Augen dachte, lachte und weinte er. Er aß und trank vor unseren Augen; kurz hier war die volle Wahrheit des Lebens I Um dies Bild seiner selbst vollständig zu machen, fügte der Verfasser in seinem hohen Alter noch ein paar genaue

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Einzelheiten ein, und er durfte nach dem Abschluß des Ganzen bekennen: „Ich selbst bin der Gehalt meines Buches", und an anderer Stelle: „Ich errichte hier kein Standbild etwa für die Straßenkreuzung einer Stadt oder für eine Kirche oder überhaupt einen öffentlichen Platz ..., nein, nur für die Nische eines Bücherzimmers, und damit ein Nachbar, ein Verwandter, ein Freund seine Freude daran habe, dem es vielleicht Vergnügen bereitet, mit mir auf der Grundlage meines Selbstbildnisses solch nahen und vertrauten Umgang zu haben . . . Wie froh wäre ich darüber, fände ich in ähnlicher Weise einen Menschen, der mir von den Sitten und Gebräuchen, dem Gesicht, der Haltung, den alltäglichen Worten und den Schicksalen meiner Vorfahren erzählte I"

Genau an diesem Punkte war Montaigne um das Jahr 1579 angelangt. Da er damals einen hinreichend großen Bestand derartig entstandener Essais oder Abschnitte beisammen hatte, entschloß er sich zu ihrer Veröffentlichung. Er verteilte sie auf zwei Bücher. Die wichtigsten unter ihnen ließ er in der Reihenfolge, in der er sie durchdacht und niedergeschrieben hatte, nämlich in derselben Folge, in der seine Lebenserfahrungen und sein Leben sich entwickelt hatten. Bei den weniger wichtigen und ihn persönlich weniger nahe angehenden Abschnitten hielt er sich nicht an die chronologische Genauigkeit; er verstreute sie, wie es sich grade traf, zwischen die großen Abschnitte, um den Leser durch die Verschiedenartigkeit der Themen zu entspannen. So geriet sein Werk nicht mehr in die Gefahr, als Tagebuch oder als Memoirensammlung zu gelten.

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Man entsinnt sich, daß Montaigne von 1580 bis 1585 auf Reisen war und sich dann als Bürgermeister von Bordeaux mit großer Tatkraft den öffentlichen Angelegenheiten widmete. Im Jahre 1585 kehrte er in seine geliebte Klause und zu seinen Arbeiten zurück. Dann schrieb er neue Essais, die den Ertrag seiner neuen Erfahrungen enthalten. Daraus stellte er ein drittes Buch zusammen, das sich an die ersten beiden anschließt. Aber um dieselbe Zeit fügte er in den Text der beiden ersten Bücher (der 1580 erschienenen) Beobachtungen ein, die häufig in Widerspruch mit ihnen stehen, und Änderungen, die häufig bewußt das Gegenteil behaupten. Die neue Ausgabe seiner „Essais", die er im Jahre 1588 veranstaltete, setzt sich somit aus einander kraß widersprechenden Elementen zusammen und erweckt den Eindruck einer Planlosigkeit, die für den heutigen Leser etwas Verwirrendes hat. Von 15 89 oder 15 90 an bis zu seinem Tode nahm Montaigne das wieder auf, womit er sich 1571 und 1585 beschäftigt hatte: wiederum stellte er Betrachtungen über seine neuerdings gewonnenen Erfahrungen oder vielmehr über sein gesamtes Leben an. Er schrieb Fragmente nieder, teils sehr lange, teils sehr kurze; er sah den Text seiner „Essais" wieder durch; und all dies verschmolz er eng und unentwirrbar zu einem Sammelwerk, in dem kein Plan mehr ersichtlich wird, und in dem wir nicht mehr den gleichen Leitfaden für unsere Lektüre besitzen. Übrigens konnte diese Ausgabe nicht durch Montaigne selbst überwacht werden. Sein Manuskript war völlig druckfertig, aber noch nicht in den Händen des Druckers, als der Autor starb. Wir sind in der glücklichen Lage, dieses Manuskript

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zu besitzen. Es handelt sich um das berühmte Exemplar von Bordeaux. Es bildete seinerzeit die Grundlage für die Ausgabe der Mlle de Gournay (1595); wir haben es in der sog. „Edition municipale" vollständig mit allen Varianten und Verbesserungen herausgegeben. Schließlich haben wir der Librairie Hachette eine Lichtdruck-Wiedergabe dieses Manuskriptes überlassen. Alle diese Einzelheiten wird man bequem in der neuesten verbreiteten Ausgabe Montaignes finden: der des M. Pierre Villey, der übrigens Mitarbeiter der „Edition municipale" ist. Eine Ausgabe wie die „Edition municipale" oder die Ausgabe Villeys gestatten einen klaren Einblick in die Entwicklung Montaignes — aber lag dem Autor selbst daran, daß man sie allzu genau vor Augen habe ? Und war der Wunsch, den er so sehr betont, sich ganz „nackt" darzustellen, durchaus aufrichtig ? Montaigne war zu sehr Edelmann, als daß er sein Leben so zur Schau gestellt, und zu sehr Gascogner, als daß er nicht gerne Rätsel aufgegeben hätte. Daher werden sein Buch und sein Menschentum, seine Art zu denken und seine Ideen noch lange Zeit erörtert werden. Aber das hat ihrem Einfluß, dem allgemeinen Bild, das sie enthalten, und den Gedanken, die sie erwecken, durchaus keinen Abbruch getan. Denn wenn der Plan, den Montaigne befolgt hat, sich nur schwer ergründen läßt, wenn das so entstandene Werk etwas Verwirrendes hat und den allzu eiligen Leser auf die Dauer ermüdet, so verdanken doch die „Essais" noch ihren Mängeln die Tiefe und die Breite ihrer Wirkung auf den Leser. Hätte sich Montaigne tatsächlich damit begnügt, die (wie er sagt) „Entwicklung seiner Geistesart darzustellen"; hätte man „jeden Bestandteil seiner Erkenntnis"

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zu sehen bekommen, so hätte man die Darstellung einer geistigen Entwicklung erhalten, die allenfalls großartiger zu nennen wäre, als irgendeine andere Biographie. Aber eine Biographie bleibt doch immer ein Buch, das man liest, und eine Rede, der man folgt, während die „Essais" uns unmittelbaren Umgang mit dem Menschen Montaigne selbst verschaffen; man hört ihn plaudern; man hat ihn vor sich, in jedem Augenblick, ganz und gar, wenn ich so sagen darf, mit allem, was er jeweils grade „darstellt", mit alledem, womit das Leben ihn bisher ausgestattet hat. Wenn man somit durch eine Rede oder durch ein Buch ergriffen oder überzeugt wird, so üben doch der Umgang und die Unterhaltung mit einem Freunde eine sehr viel stärkere und dauerhaftere Wirkung aus. Die „Essais" sind ein solcher Umgang und eine solche Unterhaltung. Unmerkbar bemächtigt sich Montaigne der Individualität seiner Leser .— mit all der verwickelten Vielgestaltigkeit seines Menschentums, das Tag für Tag um all das reicher wird, was das Leben in seinem Verlauf hinterläßt. II Will man sich mit Montaigne über Fragen der Philosophie und der Ethik unterhalten, so muß man sich darüber klar sein, daß man bei ihm weder eine neue Philosophie noch überhaupt ein ausgebautes System suchen darf. Von Anfang bis Ende sind die „Essais" das Werk eines „Naturalisten", in dem Sinne, in dem Montaigne dies Wort gebraucht. Das besagt, daß der Philosoph aus Bordeaux, wenn er den Menschen darstellen und ein Idealbild menschlicher Vollkommenheit umreißen möchte, sich dabei doch keines einzigen metaphysisch belasteten

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Begriffes bedient. Treibt er mitunter Metaphysik, so doch nur, weil er dadurch dann um so besser von ihr frei wird und sein Thema von ihr frei hält. Darin scheidet er sich von seinem Jahrhundert; so kann er in einer der Wahrheit gemäßen Idee und in einem der Wirklichkeit entsprechenden I d e a l einen unverrückbaren Standpunkt einnehmen — außerhalb der wandelbaren philosophischen Systeme, wie sie ein jedes Jahrhundert hervorbringt. Das besagt nicht, daß es ihm an höheren Gedanken fehlt; ein angeborener Seelenadel schwingt bei ihm auf jeder Seite mit, ja er ist gleichsam ihr geheimster Ausweis und Quellgrund. Aber man muß 2ugeben, daß Montaigne sich niemals auf das Dasein Gottes, auf die abstrakten Ideen der Freiheit oder der Verantwortlichkeit, noch auch auf den Unterschied 2wischen Seele und Körper beruft. Seine Ausführungen vertragen sich mit jeder beliebigen Glaubenshaltung und stehen zu keiner im Widerspruch. Sein Buch kann dem Ungläubigen genau so wie dem Frommen zum Brevier werden.

Und wie versteht es nun Montaigne trotz alledem, uns innerlich zu fördern ! Immer wieder versichert er, sein Buch solle „nur ihm zur Unterweisung" dienen, nicht anderen Leuten. Dieser Gegner jeder Art von Dogmatismus betont, daß er nichts zu lehren habe. Und dennoch hat er es ! Und zwar durch die Schärfe seiner psychologischen Beobachtung und durch die ständige Übung in der Selbsteinkehr: „Ich wende meinen Blick nach innen . . . ich blicke in mein Inneres . . . ich beobachte mich unauf-

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IV. Der Mensch in den „Essais"

hörlich . . . ich kreise gleichsam in mir selbst." Den gleichen psychologischen Scharfblick wendet er auch der Beobachtung seiner Mitmenschen zu: „Diese ständige Aufmerksamkeit, die ich der Selbstergründung dienstbar mache, befähigt mich auch, über meine Mitmenschen ein beachtenswertes Urteil abzugeben. Und wenig gibt es, wovon ich lieber und mit größerem Rechte spräche." Dabei begnügt er sich nicht mit bloßem Beobachten und Feststellen. Ständig läßt er seine Vernunft und sein Gewissen zu Worte kommen. Wenn er es in einigen Fällen oder sogar in vielen Fällen ablehnte, zu „urteilen", so nur deswegen, weil solche Fälle „jenseits von Gut und Böse" standen, and weil es sich bei ihnen weder um Vornehmheit noch um Edelmut, weder um Feigheit noch um Gewöhnlichkeit, weder um Gerechtigkeit noch um Ungerechtigkeit handelte. Überall sonst hält er mit seiner Meinung nicht zurück. Es liegt ihm äußerst daran, und er hat es sehr eilig damit, seine Ansicht auszusprechen. Und er wird sich durchaus klar darüber, daß ein Moralist seiner Art immer von Nutzen ist, auch wenn er nur seine eigenen Schwächen darstellt: „Meine Fehler", sagt er, „sind zum großen Teil mir angeboren und unabänderlich; aber was der Ehrenmann unter den Schriftstellern bei seinem Publikum dadurch gewinnt, daß er sich als Vorbild hinstellt, das werde ich durch den kühnen Versuch erreichen, zu zeigen, wie man es nicht machen soll. . . . Dadurch, daß ich meine eigenen Unvollkommenheiten hier gleichsam öffentlich anprangere, wird der eine oder der andere sich vor ihnen in acht zu nehmen lernen . . . Es könnte ja ein Mensch so geartet sein wie ich, der ich mich besser durch ein warnendes Beispiel als durch ein Vorbild, lieber gleichsam durch Flucht als durch Nachfolge belehren lasse."

IV. De* Mensch in den „Essais"

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III Was ist nun, in Montaignes Augen, der Mensch ? Um als Christ zu sprechen — denn der Verfasser der „Essais" bekennt sich ausdrücklich zum Christentum —: der Mensch ist ein Ausnahmegeschöpf; er ist Gipfel und letztes Ziel jener Pyramide, die die Schöpfung darstellt. Aber doch nur durch die Gnade Gottes scheidet sich der Mensch von dem übrigen Universum ab. Vom Standpunkt des „Naturalisten" aus — und das ist der Standpunkt Montaignes ! — ist der Mensch nur ein Geschöpf wie die andern auch, steht er weder über noch unter ihnen. „Alles Vorstehende habe ich gesagt", schreibt er, nachdem er die Übereinstimmungen der Tiere mit den Menschen aufgezählt hat, „um die Ähnlichkeit zu behaupten, die sich unter den menschlichen Dingen befindet, und uns an den großen Haufen der übrigen lebenden Geschöpfe zurückzuführen und anzuschließen. Wir stehen weder über noch unter den übrigen. Alles, was unter dem Firmamente ist, sagt der Weise, hat einerlei Gesetz in verschiedener Form. Es gibt Unterschiede, Ordnungen und Stufen; aber unter der Gestalt eirier und derselben Natur. Man muß den Menschen zwingen, sich in den Grenzen dieser Einrichtung zu erhalten."

So zeigt das Antlitz der Natur ständigen Wandel, wie auch eine ständige „Verwicklung". Alle Dinge sind im Werden; alle Dinge bestehen aus einer Unzahl von Elementen. Einfachheit, Bewegungslosigkeit, dergleichen ist für Montaigne das Gegenteil der Wirklichkeit und ein Attribut Gottes allein. Gott allein ist — und Gott allein ist einfach. Die Natur ist das Gegenteil. In die Natur eingeschlossen, ist der Mensch ihrem Gesetze Untertan. Er existiert auf keine andere Weise wie sie; die einzige Beständigkeit, auf die er hoffen kann, ist die des Aufschwungs, des Zieles und der Grundhaltung. S t r o w s k i , Wesen

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IV· De 1 Mensch in den „Essais"

Rühmt er sich seiner Vernunft, so ist er ein Tor; versteift er sich im Trotz, so ist er ein Esel. ,,Da nun so alle Dinge dazu verurteilt sind, von einer Veränderung zur anderen überzugehen, so sieht die Vernunft, die einen wahrhaften Bestand in ihnen sucht, sich enttäuscht, da sie nichts Beständiges und Dauerndes zu entdecken vermag, da ja alles entweder grade aufgehört hat zu sein oder überhaupt noch nicht ist; man beginnt zu sterben, bevor man geboren ist."

Und weiter: „ . . . Jedes menschliche Wesen steht ständig in der Mitte zwischen Geburt und Tod und hinterläßt nur eine dunkle und schattenhafte Erscheinung und eine schwankende und wandelbare Ansicht seiner selbst. Und wer etwa seinen Gedanken „festlegen" möchte, um ihn in seinem Wesen zu erfassen, handelt doch nur genau so, als wollte er Wasser in seine Hände schöpfen . . . "

Aber man darf nicht glauben, daß Montaigne die Persönlichkeit und das Leben des Menschen zu einer Reihe bloßer Funken verflüchtigen wolle, die aufstrahlen, aufsteigen und verlöschen. Durch sein ganzes Buch zieht sich sein tiefes Wissen, daß jeder Mensch eine „nur ihm eigene Wesensart" besitzt, die sich gegen die Erziehung, die Umstände und alle Willensbestrebungen durchsetzt. Er betont, daß der Mensch „als ganzer" seinem „Wachstum und seinem Verfall" entgegengehe. Und obgleich er die Wirksamkeit der „Lehren" anerkennt, die das Leben ihm erteilt („Ich werde", so sagt er, „ein anderer sein, sobald eine neue Erfahrung mich wandelt"), so spricht er doch eine noch größere Macht der Geburt, dem Blut und den „inneren Anlagen und Stimmungen" zu. Jeder Mensch unterscheidet sich von allen anderen Menschen.

IV. Der Mensch in den „Essais"

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Wie kann man das Problematische eines solchen Sachverhaltes erklären ? Offenbar können die Gedankengänge Bergsons, die an so vielen Punkten sich mit den Ideen Montaignes berühren, den geheimsten und vielleicht unzureichend ausgedrückten Grundgedanken Montaignes verdeutlichen. Blicken wir wiederum auf das merkwürdige Buch, die „Essais", in ihrer letzten Ausgabe. Scheint Montaigne uns nicht zu sagen: „Meine ganze Vergangenheit bleibt in mir lebendig, selbst wenn die Gegenwart dem, was ich einst erzählte und glaubte, widerspricht. Der Irrtum und die Täuschung von gestern durchdringen sich bei mir mit der Wahrheit und der Enttäuschung von heute. Alles, was ich je gewesen bin, verschmilzt miteinander, und so entsteht für mich jeweils ein und derselbe Augenblick: der gegenwärtige. Denn woraus besteht dies mein Ich ? Ich bin eine Bewegung, ein ,élan vital'. Ich trage in mir meine gesamte Vergangenheit, in die ein jeder Tropfen der kommenden Zeit einmündet. Das ergibt ständig bewegliche und wandelbare Verbindungen, die doch im wesentlichen einander gleichen: in ihrer Materie, nämlich der verflossenen Zeit, und in ihrer Wesensartung, nämlich der Bewegung in einer bestimmten Richtung. Ich bin keine Substanz. Unmöglich zu sagen : ,Ich bin'. Wohl aber darf ich sagen: ,Ich lebe'. Und es ist durchaus präzis und durchaus wahr, zu sagen, daß ich lebe." Dergleichen etwa glaubte ich zu vernehmen, als ich das Manuskript der „Essais" wieder las und durch die Konjekturen und die Korrekturen hindurch einer längst verklungenen Stimme lauschte. Die „Essais" sind, alles in allem, ein Buch, das die gleiche Haltung und die gleiche Weltanschauung (ich sage nicht 3·

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„die gleiche Moral", das hieße Montaigne beleidigen) vertritt, wie Marcel Prousts „ A u f den Spuren der verlorenen Zeit". IV In Wahrheit ist dieses „in ständiger Wandlung begriffene", dabei aber doch seiner Grundrichtung treubleibende Geschöpf nicht etwa zu einem blinden Fatalismus verurteilt. „Ich habe meine ganze Kraft daran gesetzt, mein Leben zu gestalten", sagt Montaigne; „das ist mein Beruf und mein Lebenswerk." Hier setzen für ihn die Fragen der Moral ein. Welches ist nun der moralische Gehalt, den wir letzthin in den „Essais" entdecken ? Zunächst der niemals aussetzende Blick auf die Antike : zutiefst in den Schriftstellern Griechenlands und Roms lebend, zitiert Montaigne sie immer wieder, wobei er sich nicht immer auf ihre Autorität, wohl aber auf ihre Einbildungskraft und auf ihre Kunst beruft. Sie bereichern ihn mit reizvollen Redewendungen, mit tiefdringenden Formulierungen, mit merkwürdigen Tatsachen. Das gesamte Altertum ist in die „Essais" gleichsam „eingegangen" — in seiner Formvollendung und in seinem Sachgehalt. Will man das Beste der antiken Literatur beisammen haben, so braucht man nur die „Essais" bei sich zu haben. Diese Literatur dient Montaigne nicht ausschließlich dazu, die Schönheit seines Stiles zu erhöhen: er läßt sich von ihr auch in Fragen der Moral beraten. Sie hilft ihm, sein Leben zu gestalten. Zu einem bestimmten Zeitpunkt, etwa im Jahre 1572, verfiel er in der Einsamkeit seines Schlosses der damals allgemein verbreiteten Neigung: er wurde Stoiker oder,

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wenn man lieber will, ließ sich von der Stoa beeinflussen. Damals berauschte ihn die Lektüre Senecas. Er begann im Sinne Senecas und in dem gleichen epigrammatischen Stil zu denken. Die Abschnitte, die er damals niederschrieb, erinnern in ihrer Anlage an Traktate über Fragen der Moral und an Predigten. Zu Kronzeugen seines Handelns möchte er Cato, Phocion und Aristides machen. Er schreibt, daß die „Tugend es ablehne, den leichtesten Pfad zu beschreiten"; er verlangt, daß man das Leiden, die Armut und den Tod als gleichgültige Vorkommnisse und nicht als Übel betrachte; er versucht, die Bande der Natur zwar nicht zu zerreißen, wohl aber wenigstens zu lockern. „Sorge derjenige, der's vermag, daß er Weib, Kinder, Vermögen und vor allen Dingen Gesundheit habe; aber laß ihn seine Seele nicht so fest daran hängen, daß er sein ganzes Glück darauf baue. Man muß ein Hinterstübchen für sich absondern, in -welchem man seinen wahren Freiheitssitz und seine Einsiedelei aufschlagen kann. Hier müssen wir vernünftigen Umgang mit uns selbst unterhalten . . . Hier mache man ernsthafte Überlegungen, und hier lache man, als ob man weder Frau, noch Kinder, noch Verwandte, noch Hausgesinde hätte : damit, wenn der Fall eintreten sollte, daß man sie verlöre, es einem nicht schwer sei, sich ohne sie zu behelfen. Unsere Seele ist, ihrer Natur nach, für alle Lagen geschickt. Sie ist fähig, sich selbst Gesellschaft zu sein."

Diese schönen und strengen Weisungen würden ihren Autor den Stoikern im eigentlichsten Sinne des Wortes, etwa Du Vair und Justus Lipsius, zugesellen, hätte Montaigne ihre herben Seiten nicht später durch die ihm eigene, schwer bestimmbare, natürliche und schlichte Haltung gemildert. So holt er sich schon bald darauf nicht mehr bei den Philosophen und den Büchern der Antike seine Beispiele, sondern bei dem Bettler vor seiner Tür.

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„Laßt uns unsern Blick auf die Eide werfen. Auf die atmen Menschen, welche wit darauf vorbereitet sehen, den Kopf niedergesenkt nach ihrem Bedürfnis, welche weder etwas vom Aristoteles noch Cato, weder von Beispielen noch von Vorschriften wissen. Aus diesen zieht die Natur täglich Wirkungen der Beständigkeit und der Geduld, welche reiner sind und kräftiger als diejenigen, welche wi» so emsig in den Schulen der Philosophen studieren . . . Der Mann, welcher meinen Garten umgräbt, hat diesen Morgen seinen Vater oder seinen Sohn begraben. Die Namen selbst, womit sie die Krankheiten belegen, mildern und mindern ihre Bitterkeit. Die Lungensucht heißt bei ihnen Husten, die Ruhr Durchfall, das Seitenstechen Erkältung; und so sanft der Name ist, womit sie solche benennen, so sanftmütig erdulden sie solche. Ihre Krankheiten müssen sehr schwer sein, wenn sie ihre gewöhnlichen Arbeiten unterbrechen sollen. Sie werden nicht eher bettlägerig, als um zu sterben."

Bald wird er sogar, als wollte er die eigenen hochfahrenden Vorsätze ironisieren, sich eine weichliche Gemütsart zusprechen, auf die man nicht allzuviel geben darf. „Gewiß ist mein Sinn nicht so geschwollen oder aufgebläht, daß ich nicht für einen handfesten, recht sinnenhaften und kernigen Genuß wie die Gesundheit einen eingebildeten und ungreifbaren geistigen Genuß hingäbe. Der Ruhm, sogar der Ruhm der vier Heymonskinder wird für einen Menschen meiner Anlage zu teuer erkauft, wenn er ihn drei richtige Kolikanfälle kostet. Die Gesundheit geht, bei Gott I über alles I" Er ist also kein Stoiker mehr, aber alle Gedanken der Stoa, die er jemals äußerte, hält er in seinem Buch aufrecht. Und da sie einen erstaunlich resoluten Akzent haben, scheinen sie sogar das Rückgrat des Buches zu bilden. Darin ist Montaigne Humanist, nach der Weise seiner Zeit — ja mit der Weisheit seiner Zeit, auf die er dann die eigene Lebensweisheit gründet: die eines freieren und fruchtbareren Humanismus . . . Ich will hier nicht ausführen, wie Montaigne sich von

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der strengsten Form der Stoa freigemacht hat. Es ist bekannt, daß der Pyrrhonismus ihn von dieser Selbstüberspannung des Willens und diesem hochfahrenden Gebaren der Weisheit, die seine „Essais" von IJ72 trotz alledem enthalten, geheilt hat. Aber ich möchte doch betonen, daß auch dieser Pyrrhonismus zutiefst immer noch eine Form des Humanismus ist. Er ist von Sextus Empiricus und den griechischen Skeptikern entscheidend beeinflußt. Die anderen Quellen der Skepsis Montaignes bedeuten neben diesen wenig. Zweifellos blieb er hier, wie anderswo, seinem Naturell treu; er ließ sich jeweils von den Umständen bestimmen; er selbst wünschte und bejahte seine „Lehrzeit". Aber die Mittel dieser „Lehre" und die Aufgaben dieser neuen Erziehungsart holte er sich bei den Alten. Die letzte Seite der „Apologie de Raymond Sebond", auf der er den allgemeinen Fluß der Dinge darstellt, hat er dem Plutarch entnommen und fast Wort für Wort nach der Übersetzung Amyots wiederholt. Somit hat sich Montaigne also durch den Humanismus von der Selbstüberspannung des Humanismus freigemacht. Und doch trifft das Wort „freigemacht" nicht ganz das Rechte, da Montaigne ja, woran ich noch einmal erinnern möchte, nichts ausgelassen und nichts aufgegeben hat, wohl aber alle einander ablösenden Gestalten seines Denkens, seiner Erfahrungen und seines Lebens nebeneinander aufrecht erhalten hat, selbst wenn sie einander widersprachen. So hätte ich bis zum Schluß fortfahren können; jedesmal, wenn es Montaigne darum ging, eine neue Lebenserfahrung sich zu eigen zu machen, hat er auf den Humanismus zurückgegriffen. Wenn er seine Persönlichkeit

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entfaltete, so machte er letzthin den Humanismus reicher und geschmeidiger. Um welches „Leitbildes" willen bedurfte er seiner ? V Im Zenit seines Lebens, im Vollbesitz seiner Kräfte schrieb er in Form eines Briefes eine Abhandlung über die Erziehung und die Ausbildung eines Menschen — des Menschen. Und diese Abhandlung hat er in den Mittelpunkt seiner „Essais" gerückt; dort dürfen wir das Urbild der Vollkommenheit suchen, wie es Montaigne vorschwebte — die (platonisch verstandene) I d e e des Menschen. Dort dürfen wir das lebendige Leitbild seiner eigensten Tugend und Lebensweisheit erblicken. E r möchte also einen Menschen schaffen, der so vollkommen ist, wie es die Bedingungen des Menschenlebens zulassen, einen Menschen, der nicht der Phantasie, sondern der Wirklichkeit und der Vernunft gemäß vollkommen ist. Betrachten wir dieses lebendige Vorbild, dessen Verwirklichung er anstrebt, einmal aus größerer Nähe. Zunächst wird es die Züge des Edelmannes tragen. Montaigne erzählt, daß er eines Tages auf der Reise nach Orléans unterwegs zwei Schulmeistern begegnete, die zu Fuß in 50 Schritten Abstand voneinander nach Bordeaux gingen; weiterhin sah er einen Haufen Reiter mit einem Offizier an der Spitze, „der der verstorbene Comte de La Rochefoucauld war". „Einer meiner Leute erkundigte sich bei dem ersten Schulmeister", so fährt Montaigne fort, „wer dieser Kavalier sei. Dieser, der den Trupp nicht gesehen hatte, der hinter ihm war, und meinte, man spräche von seinem Kollegen, antwortete gar drollig : er ist kein Kavalier; er ist ein Grammatikus, und ich bin

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ein Logikus." Der Verfasser der „Essais" bemerkt zum Schluß: „Wir nun aber, die wir nicht darauf ausgehen, weder einen Grammatikus noch einen Logikus zu bilden, sondern einen wackeren Edelmann, wir wollen sie ihre Muße mißbrauchen lassen, wie sie wollen; wir haben wohl sonst was zu tun I" Also es geht um den Edelmann ! Aber man darf sich durch dieses Wort nicht täuschen lassen. Später wird man vom „Ehrenmann" sprechen. Edelmann ist man mehr durch die natürlichen Anlagen des Herzens als durch eine soziale Abstempelung. Montaigne erkennt den Edelmann daran, daß er den Klang der Trommel dem Spiel der Gaukler vorzieht und den Staub und die Wunden des Sieges den Preisen, die beim Ballspiel zu gewinnen sind. Wer dies nicht von Geburt aus im Blute trägt, ist kein Edelmann; Montaigne gibt den guten Rat, „ihn lieber zu erdrosseln oder ihn in einer braven kleinen Stadt Pastetenbäcker werden zu lassen, selbst wenn er der Sohn eines Herzogs wäre". Montaigne ist nicht Aristokrat, wohl aber Humanist; denn der Humanismus setzt immer eine freiheitliche Gesinnung voraus. Jeder, der nicht von Geburt aus diese Art von Adel in sich trägt und das, was die Römer als Ursprünglichkeit bezeichneten, nicht im Blute hat, mag allenfalls einen guten Grammatiker oder Logiker abgeben, aber keinesfalls kann er Humanist sein. Wir haben in einem früheren Kapitel betont, von welcher entscheidenden Bedeutung für Erasmus und für Petrarca der Sinn für Menschenwürde, die Idee der Ehre und der Drang nach der Schönheit der Dinge waren. In diesem sehr allgemeinen Sinne muß der Weise „von gutem Stamme" sein.

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Ist diese Vorbedingung erfüllt, dann kommt es darauf an, wie man ihn richtig erzieht. Man sollte ihm die Wissenschaft nicht als Wissenschaft nahebringen, sondern um des Wertes willen, den sie der Persönlichkeit zu verleihen vermag; seine Erziehungsanstalt, seine Arbeit, seine Studien — all das sollte nur darauf abgestimmt sein, „aus ihm einen ganzen Menschen zu machen". Er muß jeder „Sonderbarkeit und Eigenbrötelei in seiner Lebensführung als seinem Umgang und der Gesellschaft zuwider" aus dem Wege gehen. Man muß ihm die Fähigkeit erhalten, ein aufrechtes und unverrückbares Urteil zu haben; man muß den angeborenen Adel seines Herzens noch vertiefen. Und schließlich muß man seinen Körper abhärten, damit sein Körper seiner Seele Beistand leiste, anstatt ihr „zum Bleigewicht zu werden". So muß unverkennbar immer noch der Humanismus, müssen die alten Philosophen, Dichter und Geschichtsschreiber „dieser ersten und entscheidenden Einrichtung den Gehalt" liefern. Aber bei all dem wird die Lebenserfahrung unentbehrlich sein, die allein dieser Bildung eine Bedeutung und eine echte Wirksamkeit zu verleihen vermag. „Man zieht", sagt Montaigne, „eine unvergleichliche Klarheit für den menschlichen Verstand aus dem fleißigen Umgang mit Menschen. Wir sind alle in Haufen zusammengedrängt und sehn nicht weiter als unsere Nasen reichen.. . Wem es aber um den Kopf herum hagelt, den dünkt das Gewitter über die ganze Himmelssphäre zu wüten . . . Wer sich aber das große Bild unserer Mutter Natur gleichsam wie in einem Gemälde in ihrer ganzen Majestät vorstellt; wer in ihrem Gesichte eine so allgemeine, so beständige Abänderung sieht; wer sich darin betrachtet, und nicht bloß sich selbst, sondern ein ganzes Reich, wie den Strich von einer sehr zarten Spitze — nur der schätzt die Dinge nach ihrer wahren Größe. Diese große Welt, welche einige noch wie Spezies unter ein Genus multiplizieren, ist der Spiegel, in den wir schauen müssen, um unseren wackeren

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Balken wahrzunehmen. Kurz, ich verlange, daß sie das Buch meines Schülers sein s o l l . . . "

Übrigens gehört es zu den Vorrechten und Wesensmerkmalen des Edelmannes, zu urteilen, und das ganz besonders in Fragen der Moral. Montaigne ist Gegner des leeren Formelkrams, der nur das Gedächtnis belastet: , ,Laß den Hofmeister also jede Meinung durchs Sieb schlagen und nichts in den Kopf seines Zöglings setzen, was sich bloß auf Ansehen und Kredit fußt. Er muß ihn ebensowenig auf ein Prinzip des Aristoteles, als auf ein Prinzip des Epikur oder der Stoiker schwören lassen. Man lege ihm die Verschiedenheit der Meinungen vor; kann er darunter wählen, um so besser; wo nicht, so laß ihn zweifeln. Denn nimmt er die Meinung des Xenophon oder des Piaton an, nach seiner eigenen Erwägung, so sind es nicht mehr die ihrigen, sondern seine eigenen... Er muß wenigstens ihren Ideengang kennenlernen, ihre Lehrsätze braucht er nicht zu beschwören . . . "

Den eigentlichen Stoff für diese Übung des Verstehens müssen sich Lehrer und Schüler bei den alten Schriftstellern holen: „Vermittelst der Geschichte wird er sich mit den großen Seelen der besten Zeitalter bekannt machen. Es ist ein eitles Studium, wird vielleicht einer oder der andere sagen; es ist aber, richtig genommen, ein Studium von sehr schätzbarem Nutzen . . . Welchen Vorteil wird er nicht in diesem Fache vom Lesen der Lebensbeschreibungen unseres Plutarchs ziehen I Aber laß unseren Hofmeister auch nicht vergessen, was eigentlich der Zweck seines Amtes ist, und laß ihn so seinen Untergebenen nicht sowohl lehren, wo Marcellus starb, sondern warum es nicht mit seiner Pflicht bestand, dort zu sterben. Er lehre ihn nicht sowohl die Begebenheiten selbst, als richtig darüber urteilen."

Ich lasse mich nicht auf Einzelheiten dieser Erziehungsmethode ein : sie ist zu berühmt und zu bekannt, als daß ich mir anmaßen möchte, bei ihr länger zu verweilen. Es bleibt mir nur noch übrig, zu sagen, welchem Ziele sie zustrebt.

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Ohne über den Humanismus hinauszugehen, erstrebt sie die Tugend des modernen Menschen, die Schönheit und die Freiheit. „Sie leitet geradehin zur Tugend, die nicht, wie die Schule lehrt, auf der Spitze eines steilen, schroffen, unzugänglichen Berges gepflanzt ist. Diejenigen, welche bis zu ihr gelangt sind, sagen im Gegenteil, sie wohne in einer fruchtbaren, lieblichen Ebene, von daraus sie zwar alle Dinge in der Tiefe unter sich sieht, zu welcher man aber gleichwohl, wenn man richtige Anweisung hat, durch schattige, von Blumenduft umwehte, leicht sich hebende, eben gebahnte Wege (wie die Wege am Gewölbe des Himmels) gelangen kann. Weil sie keine Bekanntschaft mit dieser erhabenen Tugend gemacht haben, die so schön, so mächtig, so lieblich, so reizend und zugleich so mutvoll, eine offenbare und unversöhnliche Feindin alles Haders, alles Mißvergnügens, aller Furcht und alles Zwanges ist, deren Führer Natur, deren Begleiter Glück und Wonne sind: so haben sie in ihrer Schwachheit sich beigehen lassen, jenes dumme Bild, das so trübselig, zänkisch, hämisch, drohend und grinsend aussieht, zu formen und es auf einem abwärts gelegenen Felsen, zwischen Dornen und Hecken, als ein Scheusal aufzustellen, um die Menschheit zu schrecken . . . Der Preis und die Würde der wahren Tugend bestehen in der Leichtigkeit, Nützlichkeit, Beharrlichkeit bei ihrer Ausübung; so entfernt von aller Schwierigkeit, daß Kinder sowohl als Männer, die Einfältigen sowohl als die Klugen, dazu die Fähigkeit haben. Sie wirkt mehr durch richtige Anwendung der Werkzeuge als durch Stärke. Sokrates, ihr vornehmster Liebling, entsagt wissentlich seiner Stärke, um desto behender und zwangloser in ihr weiter zu kommen. Sie ist die Pflegerin menschlicher Freuden. Sie bestimmt ihr Maß und macht sie dadurch sicher und rein. Sie hält solche in ihren Grenzen und erhält sie dadurch frisch und von lieblichem Geschmack. Sie versagt uns solche, die sie uns verweigern muß, und schärft dadurch unser Verlangen nach jenen, die sie uns vergönnt; und vergönnt uns alle diese in reichem Maße, die die Natur uns nicht verbeut; wo nicht zum Uberdruß, doch wie eine gütige Mutter bis zur Sättigung. Da wir doch auch wohl nicht sagen wollen, daß die Mäßigkeit, die dem Säufer vor dem Rausch, dem Fresser vor der Überladung des Magens, dem Wollüstling vor der Glatze noch Einhalt tut, eine Feindin unseres Vergnügens sei. Wenn das gemeine Glück ihr sauer sieht, entflieht sie seinem Dienste, oder weiß sein zu entbehren und schmiedet eines, das ganz nach seinem Sinn und nicht wankend ist und unbeständig. Sie hat den Verstand dazu, reich zu sein und mächtig und auf weichen Polstern zu schlafen. Sie liebt das Leben, sie liebt die Schönheit, den Ruhm und die Gesundheit. Ihr

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eigentlicher und besonderer Dienst aber besteht darin, daß sie lehrt, diese Dinge zu gebrauchen und ohne Schmerz zu verlieren. Ein Dienst, der viel edler ist als beschwerlich, ohne welchen der ganze Lauf des Lebens Unnatur, Unheil und Ungefugigkeit ist, dem man mit Recht Klippen, Dornen und Ungeheuer zuschreiben kann . . . "

Hier sind wir unendlich weit ab von dem formalen Stoizismus und all den besonderen Formen, die der scholastisch erstarrende Humanismus zu übernehmen im Begriff war; hier spüren wir in voller natürlicher Freiheit den Gedankenstrom und das Vorbild der Lebensweisheit der Antike. VI Nach Montaigne besitzt jedes Individuum eine „nur ihm eigene Gestalt". Aber diese ihm eigene Gestalt enthält ihrerseits „die gesamte Gestalt des Menschseins". Als Grundlage dieser Gestalt des Menschseins entdeckt man eine Art „Keim der Weltvernunft, wie er jedem unverbildeten Menschen zu eigen ist". Wenn uns Montaigne somit versichert, daß er nur sich selbst dargestellt habe, so dürfen wir ihm nur zur Hälfte glauben: in einem Menschen hat er alle Menschen dargestellt; vielleicht darf man sagen, daß er in dem Menschen das gesamte Weltall dargestellt habe. Wenn er uns versichert, er schildere nur das Vorübergleiten, und zwar das Vorübergleiten von Minute zu Minute, so sagt er doch noch immer nur die halbe Wahrheit. Unter diesem Vorübergleiten gibt es doch etwas Dauerndes, das sich durch alle Strömungen des Lebens hindurch erhält, und zwar: die Individualität, die Tugend, die Weisheit, die Weltvernunft und Gott. Somit verhilft uns der Humanismus, wenn wir uns

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IV· Der Mensch in den „Essais"

seiner frei bedienen, dazu, all dies zu begreifen, und sowohl unserer Natur wie auch der wahren Ordnung der Dinge gemäß zu leben. Zu dieser neuen Aufgabe berufen, findet nun der Humanismus seine Fruchtbarkeit wieder; und so wird der Typus des Ehrenmannes, wie er Montaigne vorschwebt — geheiligt durch die unvergleichbare Schönheit des Stils der „Essais" und uns vertraut geworden durch die naturhafte Frische und Vielgestaltigkeit der Beobachtungen — anderthalb Jahrhunderte lang Europa beherrschen. Man wird ihn unter der Hülle des Priesters wiedererkennen, wie unter der des Höflings, unter der des Schriftstellers wie unter der des Gelehrten — bis zu dem Zeitpunkt, da der ungestüme Rousseau von neuem lehren wird, die Kultur zu hassen.

ABSCHNITT V

DER HEILIGE FRANZ VON SALES UND DAS RELIGIÖSE EMPFINDEN Durch Montaigne war es dem Humanismus also gelungen, ein Bild oder einen Typus der Vollkommenheit zu schaffen, auf die die Menschen Anspruch erheben und der sie sehr nahe kommen konnten. Aber dieser Typus und dieses Bild blieben, wie wir schon betonten, ohne jeden metaphysischen Unterbau. Sie besaßen keine Macht außer dem Reiz und der Harmonie, die in ihnen selbst lag; sie beruhten weder auf einem Glauben noch auf einer Wissenschaft: die „Gewißheit", die „Sicherheit" waren ihre Stärke nicht. Allein die Religion vermochte zu jener Zeit diese Gewißheit land diese Sicherheit zu verleihen; denn der Wissenschaft fehlte es damals noch an Autorität und an Zuverlässigkeit. Die Idee des Menschen und die Auffassung des Lebens, die sie verkündete, konnte sie allein auf ein unabweisliches Dogma und auf eine strenge Disziplin stützen. Sie allein herrschte unumschränkt und ohne andere „Schattierungen" als die der sich bekämpfenden Glaubensbekenntnisse; überall erstreckte sich ihre Herrschaft — über den Armen und den Unwissenden genau so wie über den Gelehrten und den Reichen. Ihre Gewalt reichte vom König bis zum letzten seiner Untertanen.

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V. Der hl. Franz von Sales und das religiöse Empfinden

Nun aber kann der religiöse Glaube trotz seiner Größe und seiner Schönheit, wie all das, worin sich allzu Menschliches geltend macht, leicht entarten. Gar zu leicht brechen in ihm die Quellen der Leidenschaften und Irrtümer auf. Das war während der Religionskriege geschehen. Trotzdem der Humanismus hier eingriff, der in den Gestalten eines Erasmus, eines Melanchthon, eines Theodor de Beza in diesen erbitterten Kämpfen seine Menschlichkeit, seine Weitherzigkeit und seine Schönheit zur Geltung brachte, waren die Herzen verwildert, die Geister fanatisiert, und hatte das Leben alle Achtung vor Kultur und Bildung verloren. Aber als die Religionskriege beendet waren, und die allgemeine Verwilderung sich ein wenig gelegt hatte, da lebte zugleich mit der Wiederherstellung der äußeren Ordnung auch die innere Gesittung wieder auf. Das religiöse Empfinden bewegte sich wieder in seinen natürlichen Bahnen, wenn auch nicht ganz. Aus dem einen Extrem fiel es in das andere. So schuf es, wie das schon der von der Stoa beeinflußte Humanismus getan hatte, außerhalb jeder Verwirklichungsmöglichkeit einen allzu vereinfachten und gedankenlosen — und damit einen verfälschten Menschentypus. Tatsächlich neigt jede Religion dazu, den „Gläubigen", nämlich den, der ihr Gesetz anerkennt, aufs strengste von dem Ungläubigen zu scheiden, nämlich von dem, der außerhalb ihres Bereiches lebt. Ein äußerster Gegensatz tut sich zwischen beiden auf; der eine gilt als erlöst, der andere als verdammt; der eine lebt im Angesichte Gottes, der andere ist dieses notwendigen Beistandes beraubt. Nichts von all dem gab es bei Montaigne oder bei den Humanisten. Sie schufen keinen Abgrund zwi-

V . D e i hi. Franz v o n Sales und das religiöse Empfinden

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sehen dem Weisen und dem Toren. Montaigne wandte sich ohne besondere Unterscheidungen an jeden wahrhaftigen und gut veranlagten Menschen. Im Gegensatz dazu sollte die Religion des 17. Jahrhunderts, wie etwa der Jansenismus sie zu gestalten versuchte, solche Abgründe schaffen. In Pascals Augen stellen die Welt und die Kirche zwei Antipoden dar: „ M a n betrachtete sie", sagt er, „als zwei entgegengesetzte Sphären, als zwei unversöhnliche F e i n d e . . .

Man statuierte einen entsetzlichen

Gegensatz zwischen dem einen und dem anderen."

Man braucht bloß auf die Auseinandersetzungen Antoine Arnaulds und de la Mothe Le Vayers über die Tugenden der Heiden hinzuweisen, um diesen Unterschied zwischen der modernen christlich-humanistischen Auffassung und der christlich-jansenistischen Auffassung zu sehen. Es ist das übrigens eine Tendenz, die so alt ist wie die älteste Religion. Es gab zu Beginn des 17. Jahrhunderts auch hier nichts Neues, außer der Art, in der sie sich Geltung verschuf, und dem praktischen Ergebnis, zu dem sie schließlich führte. Diese Wirkung wird uns jetzt nach zwei Richtungen hin und in Gestalt zweier Vorurteile deutlich werden. Das erste Vorurteil bestand in der Ansicht, daß niemand ein Christ heißen noch sein Seelenheil erlangen könne, wenn er sich nicht aus der Welt zurückziehe und in einem Kloster seine Zuflucht suche. Der Typus menschlicher Vollkommenheit stellte sich in dem „Einsiedler" dar, der sich ein für allemal von der Welt abgeschieden und alle Bande zwischen der Gesellschaft, der Natur und sich selbst zerrissen hat. S t r o w s k i , Wesen

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V. Der hl. Franz von Sales und das religiöse Empfinden

Das zweite Vorurteil bestand in der Ansicht, daß der Urgrund des religiösen Lebens durch die übernatürlichen Erscheinungen und durch die ungewöhnlichsten Heilspraktiken bestimmt werde : durch grausame Bußübungen, schrankenlose Askese, Erleuchtungen und Ekstasen. Als Anhänger dieser Richtung sollte ein wenig später Saint-Cyran die Einöde yon Port-Royal mit seinen „Einsiedlern" bevölkern. Und schon vorher, seit dem Ende des 16. Jahrhunderts, öffnen sich die Klöster in Frankreich, und die von allen Seiten ihnen zuströmenden Gläubigen lassen die von ihnen verlassene Welt beinahe ohne alle Seelenglut und Frömmigkeit zurück. Es hat keinen Sinn, hier die Bedeutung dieser Bewegung für die uns beschäftigende Frage zu betonen. Diese Vorstellungen vom religiösen Leben setzen tatsächlich eine allgemeine Auffassung des Menschen voraus, von der man ahnen mag, wie weit sie sich vom Humanismus und sogar von der Wahrheit entfernt hat. Indessen verlief sich diese Strömung, ohne all die unheilvollen Wirkungen zu zeitigen, die man von ihr befürchten mußte. Die scholastische Frömmigkeit fand, wie seinerzeit der scholastische Humanismus, ihren Montaigne, der sie wieder mit dem Leben aussöhnte : in der Gestalt des hl. Franz von Sales. I Die Erfahrungen eines Priesters, wie des hl. Franz von Sales, gleichen denen eines Montaigne nicht: es sind die Erfahrungen eines Augenzeugen und nicht eines Mitspielers; aber sie gehen tiefer, weil dieser Augenzeuge zugleich auch Zergliederer und Richter ist. Wenn er nicht alle Leidenschaften, die seine Erkenntnis erweitern, an

V. Der hl. Franz von Sales und das religiöse Empfinden

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sich selbst erfahren hat, und wenn er kein Fieber und keine Narbe davon zurückbehält, so verfolgt und „zerlegt" er sie doch mit der Kühle eines Beobachters und der inneren Beteiligung eines Vaters oder eines Bruders bis in ihre winzigsten Triebfedern, in ihren geheimsten Wesensgrund. Aber obendrein ist der hl. Franz von Sales selbst durch gewisse Prüfungen hindurchgegangen, so daß sein Herz und sein Geist nicht von außen über die Dinge zu urteilen brauchen. Seine Erfahrung war eine der umfassendsten, die einem Menschen je zuteil wurde. Aus Savoyen stammend, d. h. halb Franzose, halb Italiener, wurde er im Jahre 1567 in Thorens in der Nähe des Genfer Sees geboren. Er verkörpert mehr das Menschentum der Renaissance als das der Religionskriege. Sein Vater, Angehöriger des Adels, aber mit bescheidenem Vermögen, wollte ihn zum Verwaltungsbeamten oder zum Diplomaten machen. So wurde Franz nach Paris in das Collège de Clermont geschickt, um eine humanistische und philosophische Ausbildung zu erhalten. Dort hörte er außerdem Vorlesungen über die Heilige Schrift, die am Collège de France abgehalten wurden. Damals machte er eine ungewöhnliche Krise durch; er hielt sich für von Gott verlassen, der Gnade beraubt und verdammt: „Eine schwere Gelbsucht", sagt sein Biograph, Charles-Auguste de Sales, „suchte seinen Körper heim, mit solch heftigen Schmerzen, daß er weder schlafen noch essen noch trinken konnte." Er wurde davon befreit in der Kirche SaintEtienne-du-Mont, wo er das „Souvenez-vous" sprach. Kurz nach dieser Krise begab er sich nach Padua, w o er sich dem Rechtsstudium widmen sollte. In dieser 6*

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Stadt gab es eine große und berühmte Universität, an der noch der Geist des Averroes herrschte, und von der die großen atheistischen Strömungen des 16. und des 17. Jahrhunderts ihren Ausgang nahmen. Franz von Sales, der bereits das Keuschheitsgelübde abgelegt hatte und entschlossen war, die Priesterweihen zu empfangen, nahm darum nicht weniger an dem Leben der Universität Anteil. Von einer sehr schweren Krankheit befallen, sprach er den Wunsch aus, daß, falls er sterben sollte, sein Körper den Ärzten und den Chirurgen ausgehändigt werde, um seziert und ihren Forschungen dienstbar gemacht zu werden. Wir besitzen eine Art Lebensprogramm von ihm, das er zu jener Zeit für sich niederschrieb; aus ihm spricht nicht nur ein frommer Christ, sondern auch ein Edelmann von feinster Bildung und ein Künstler von erlesenem Geschmack, der bestrebt ist, in sein tägliches Leben Maß, Ordnung, Harmonie, Anmut und Würde zu bringen. In seine Heimat zurückgekehrt, wurde er fast gegen die Wünsche seiner Eltern Priester, und er wurde zum Propst des Bischofs von Genf ernannt, der in Annecy residierte. Seine ersten Arbeiten galten der Predigt des Evangeliums und religiösen Streitfragen. Das Chablais, dessen politische Zugehörigkeit lange zwischen den Genfern, den Franzosen und den Italienern umstritten blieb, war schließlich dem Herzog von Savoyen zugefallen. Nun waren aber seine Bewohner Protestanten. Den Gesetzen der Zeit gemäß hätte ihr neuer Gebieter ihnen seine Religion aufzwingen können und müssen. Aber der Vertrag, der die Lage im Chablais regelte, enthielt die besondere Bestimmung, daß der Calvinismus dort keines-

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falls verfolgt werden dürfe. Der Herzog von Savoyen mußte sich auf die Mittel der Überredung beschränken, um, falls es möglich wäre, seine neuen Untertanen zu bekehren, und er gab dem hl. Franz von Sales den Auftrag, ihnen das Evangelium zu predigen. Mehrere Reisen reichten dazu kaum hin. Der Missionar, dem man zunächst aus dem Wege ging, nahm zu kurzen Schriften seine Zuflucht, die mehr Zeitungsartikeln als Traktaten glichen, und die er heimlich unter die Türritzen steckte. Mit Überraschung stellt man fest, daß er in ihnen Montaignes damals noch wenig bekannte „Essais" mit begeisterter Zustimmung zitierte. Schließlich trug der hl. Franz von Sales den Sieg davon; seine einschmeichelnde Beredsamkeit und sein hohes persönliches Ansehen, die die Wirksamkeit seiner kleinen Schriften erhöhten, gewannen ihm alle Herzen, und das Chablais trat in Massen über. Im Jahre 1602, 35 Jahre alt, unternahm Franz von Sales, der inzwischen Amtsgehilfe seines Bischofs geworden war, eine wichtige Reise nach Paris: wichtig war sie für die Verwaltungsgeschäfte und die politischen Aufträge, die man ihm anvertraut hatte, aber wichtiger noch wegen der Lehren, die er dort empfing, und alles dessen, was er dort zu sehen bekam. Denn das Paris jener Zeit — während des großen Friedens Heinrichs IV. — war damals noch der Schauplatz stärkster religiöser Erregungen: ekstatische und wundertätige Heilige erregten dort das größte Aufsehen. Aber eine handfeste Frömmigkeit, die sich auf die Vernunft, die Theologie und die Erfahrung stützte, fand in M. de Bérulle und in Mme Acarie ihre Vertreter. Die Karmeliterinnen wurden um diese Zeit in Frankreich

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heimisch. Die alten Orden machten Umwandlungen durch. Die neuen Orden waren im Entstehen und wandten sich nicht nur der religiösen Versenkung, sondern obendrein der mildtätigen Liebe und sogar der Förderung der Bildung zu. Die tolerante Haltung des Königs Heinrich hielt all diese auseinanderstrebenden Elemente, die sich leicht hätten ereifern und einander aufs schärfste bekämpfen können, in Zucht und Eintracht. Der hl. Franz von Sales machte seine Beobachtungen und erweiterte sein Gesichtsfeld. Er befreundete sich mit M. de Bérulle und Mme Acarie; er wurde mehrfach von Heinrich IV. empfangen, und man berichtet, daß der König ihn gern dabehalten hätte, um ihm später das Erzbistum von Paris anzuvertrauen. Er meditierte, er nahm Beichten ab, er predigte, und so kehrte er heim, wenn nicht innerlich verwandelt, so doch wenigstens für seine künftigen Aufgaben aufs beste vorbereitet. Bald darauf Bischof geworden, konnte er seine ganze Begabung und seine ganze Heiligkeit entfalten. Um den Einfluß eines solchen Mannes ganz zu ermessen, muß man seine Tätigkeit auf all den Gebieten verfolgen, auf die sie sich erstreckte. II Zählen wir zunächst, ohne uns dabei allzusehr aufzuhalten, seine Verwaltungsgeschäfte auf; sie nahmen übrigens einen großen Teil seiner Zeit in Anspruch. Ein Mann der Ordnung auf allen Gebieten, ein Mann des Willens und der Tatkraft, hielt der hl. Franz von Sales strenge Zucht in einem sehr großen Kreis von Priestern, Mön-

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chen, Nonnen, ganz abgesehen von den Laien — eine Zucht ohne Willkür und Härte, eine kräftige und besonnene, konsequente und nie ermattende Disziplin. Dem einen läßt er sagen, „er solle sich nicht soviel um seine Schuhe, seine Frisur und um Galanterien kümmern". Einen andern ermächtigt er, Weihnachtslieder und geistliche Gesänge in den Kirchen durch die Frauen singen zu lassen; er prüft die Rechnungsbücher mit der gleichen Gewissenhaftigkeit, mit der er den in ihrer Zucht gelockerten Klöstern die Ordensregel auferlegt. Das Leben in der Mystik verschließt ihm nicht die Augen für das Leben des Alltags. Er läßt dieses jenem gegenüber nicht zu kurz kommen. Er betrachtete die Predigt als die erste Pflicht des Bischofs. Er predigte viel. Er gab sich ganz darin aus. In seinen Anfängen sagte ihm sein Vater oft: „Propst, du predigst mir zu oft. Ich höre sogar an Werktagen die Predigtglocke läuten, und immer sagt man mir: ,Das ist der Propst ! Der Propst I' Zu meiner Zeit war das nicht so. Damals predigte man viel seltener. Aber was waren das auch für Predigten ! . . . Jetzt machst du etwas so Alltägliches daraus, daß es einem keinen großen Eindruck mehr macht, und daß man die Hochachtung vor dir verliert." Franz von Sales war es nicht um „Hochachtung" zu tun. Er wollte helfen. Jede seiner Predigten, die Fragen der Moral und der Psychologie behandelten, war eine Weisung, wie man gut und christlich leben und sich in der Selbsterkenntnis vervollkommnen könne; jeder Hörer jeder seiner Predigten mochte glauben, daß die Predigt einzig und allein ihm gelte. Sie hätten dem gütigen Prediger Antwort stehen mögen, dessen langsame, bilderreiche, nachdenkliche und erfahrene Rede (denn der hl.

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Franz von Sales schien im Sprechen zu meditieren, und seine Sprechweise hatte nichts Aufgeregtes oder Weltliches) lauter Anspielungen auf ihre eigensten Fragen und Nöte zu enthalten schien. Immer dem Alltagsleben und der Wirklichkeit ganz nahe, immer von Liebe zu den Nächsten und zu Gott erfüllt, bekam diese Art zu predigen, die zunächst etwas Befremdendes hatte und für ein wenig schwer galt, bald einen gewissen Zauber, den sie selbst heute noch nicht ganz verloren hat. Man spürt deutlich, daß eines der edelsten, der anmutigsten und der menschlichsten Wesen ganz darin aufgeht. „Man lauscht mir mit wundervoller Aufmerksamkeit", schreibt ganz gegen Ende seines Lebens der gütige Lehrer an Mme de Chantal — aber, so fügt er hinzu, „ich predige ja auch aus ganzer Seele." Eine andere Aufgabe, die er aus vollem Herzen erfüllt, gibt ihm sein Seelsorgertum. In jener aufgewühlten Zeit sind die Menschen, zwischen den verschiedensten Leidenschaften, Bekenntnissen oder, kurz gesagt, Strömungen hin und her geworfen, zugleich voller Verlangen nach Ruhe und Ordnung und ihrer doch vollständig beraubt. Sie glauben; aber ihr Glaube verhilft ihnen im Grunde ihres Wesens nicht zu jenem völligen und wirklichen Frieden, zu jener placida pax, der die wesentliche Vorbedingung zu einem Leben der Tat und des Glückes ausmacht. Nun besaß Franz die Gabe, in den unruhigen Herzen zu lesen und inmitten all der Wirbel die entgegengesetzten Strömungen, die sie verursachen, aufzudecken. Er drang so sehr in jede Seele ein, daß man es wie ein Wunder empfand. Er selbst sprach sich diese Gabe zu. Zugleich besaß er eine Prägnanz des Stils, eine wundervolle Fähigkeit der Sprache, die geheimnisvollen Ab-

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gründe zu schildern und zu analysieren, in sie hinabzuleuchten und sie aufzudecken, in denen die Unruhe ihre geheimsten Ursprünge hat, und in die die gequälte Seele nicht hinabzusteigen wagt. Und schließlich eine schrankenlose Güte, die etwas Ermutigendes, etwas Strahlendes, etwas Verführerisches hat — und dabei immer eine Fülle witziger, ja leise spöttischer Einfalle, zugleich mit einer alles überstrahlenden Heiterkeit. Wünscht man ein Beispiel ? „Der Glanz des Geistes macht uns mitunter sehr eitel; man ist häufiger im Geiste hochnäsig, als im Gesichtsausdruck ; man schmeichelt durch Worte genau so wie durch Blicke. Wahrlich, es ist nicht gut mit dem Fuße oder dem Geiste oder dem Körper auf Stelzen zu gehen, denn wenn man stolpert, so stürzt man nur um so unsanfter. Darum also, meine Tochter, trage ja Sorge, nach und nach diesen Hochmut deiner Seele abzulegen; halte dein Herz dort, ganz bescheiden, ganz, ganz still zu Füßen des Kreuzes."

Die Ratschläge, die er mit solcher Grazie und solcher Zartheit erteilte, waren stets aufs feinste auf den Menschen abgestimmt, dem sie galten. Denn der hl. Franz von Sales hat seine Beichtkinder immer gemahnt, sich von der Vorstellung einer absoluten und gleichsam fix und fertigen Vollkommenheit freizumachen, einer Vollkommenheit, in die man sich gleichsam kleidet, wie man in den großen Warenhäusern fertig gekaufte Kleider anzieht. Er erzählt irgendwo eine Geschichte, die er in den Lebensdarstellungen der Wüstenväter gefunden hatte. In ihr ist von einem jungen Manne die Rede, der, vom Geiste Gottes berührt, einen dieser Väter aus der Einöde der Thebais um Rat fragt, wie man „recht schnell vollkommen" werden könne. „Denn", fügt der hl. Franz von Sales hinzu, „schrankenlos vollkommen wollte er

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werden und obendrein, daß das recht schnell geschähe." Der gute Vater antwortete ihm voller Weisheit: „Mein Sohn, sehr gerne will ich dir den Weg weisen, der dich zur Vollkommenheit führt; aber, daß du so schnell vollkommen wirst, wie du es wünschest, das kann ich dir nicht versprechen, um so mehr, als wir in diesem Hause, genau so wenig wie sonst irgendwo, keine fertige Vollkommenheit haben, und so muß ein jeder auf die eigene hinarbeiten." Und nun die Wege, die einen jeden zu seiner Vollkommenheit führen sollen ? Die vom hl. Franz von Sales empfohlenen sind immer noch die wirksamsten und dem Menschen nächstliegenden: sein Herz auf den Händen tragen; stets bescheidenen, sanften und ruhigen Geistes sein; nicht zu milde mit sich selbst umgehen und dennoch seinen Fehlern gegenüber Geduld üben, die heilige Herzenseinfalt pflegen und schließlich sich den unscheinbaren Tugenden widmen. ,,Laß uns dennoch, meine liebe Tochter, sagt er, laß uns durch diese tiefen Täler der demütigen und unscheinbaren Tugenden wandeln. Wir werden dort Rosen zwischen den Dornen schauen, die mildtätige Liebe, die vor allen inneren und äußeren Leidenschaften ihren Glanz entfaltet, die Lilien der Reinheit, die Veilchen der reuigen Buße, und wie vieles wohl sonst noch ? Vor allem liebe ich die drei unscheinbaren Tugenden: die Sanftmut des Herzens, die Schlichtheit des Geistes, die Einfachheit des Lebens und jene schwereren Betätigungen: die Kranken besuchen, den Armen dienen, die Betrübten und Bedrängten trösten; aber all das ohne Eilfertigkeit und mit einer wahren Freiheit. Nein, unsere Arme sind noch nicht umfassend genug, um an die Zeder des Libanon zu reichen; begnügen wir uns mit dem Ysop der Täler."

Und an anderer Stelle empfiehlt dann der hl. Franz von Sales, „gerechten und besonnenen Geistes" zu sein.

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Aber er begnügt sich nicht etwa mit dem Leben des Alltags: „Ich pflegte", sagt er, „allen Seelen, die sich an mich wenden, zu sagen, aber dir lege ich es ganz besonders ans Herz, dir, die du in ganz besonderem Maße meine Tochter bist, daß man sein Herz erheben muß, so wie es die Kirche beim Meßopfer verkündet. Lebt mit edlen und erhabenen G e d a n k e n . . ."

Man begreift, wie verführerisch und wie wirksam solch eine Art der Seelsorge sein mußte. Da der hl. Franz von Sales sich keiner in Not und Anfechtung gefallenen Seele entzog, so könnte man schon daraus hinreichend die Weite seines unermeßlichen Einflusses erklären. Aber zu den Briefen, die er als Seelsorger schrieb, gesellten sich bald darauf die Bücher, die deren Wirkung unabsehbar vermehren sollten; der hl. Franz von Sales war ein geborener Schriftsteller, wie Montaigne. Auf welchen Platz ihn die Vorsehung auch gestellt haben würde, er wäre Schriftsteller geworden — und zwar ein begnadeter Schriftsteller. Seine Einbildungskraft war lebhaft, reich und voller Anmut; er besaß ein musikalisches, feinhöriges und empfindsames Ohr; er beherrschte glänzend alle Mittel seines Werkzeuges, nämlich der französischen Sprache; und schließlich machte es ihm Freude, gut zu schreiben. In der Vorrede zu seiner „Abhandlung von der Gottesliebe" spricht er von den Kupferstechern, die die Gepflogenheit haben, stets einen schönen Smaragd bei sich zu tragen, um ihre Augen zu erholen: „Damit sie, von Zeit zu Zeit einen Blick auf ihn werfend, ihre ermattenden Augen erfreuen und sie wiederbeleben können." Was diesen der schöne Smaragd, das bedeuteten ihm seine

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Bücher; sie schufen seinem Geist Erholung von der Arbeit des Alltags, ohne daß ihn übrigens die Freude, über ihnen zu sinnen, jemals von seinen unmittelbaren Tagesaufgaben abgelenkt hätte. Er schrieb also in seinen Mußestunden und machte sich dabei die Erfahrung zunutze, die er als Seelsorger gewann. Daher erklärt sich die Eigenart seiner Werke, in denen der Einzelfall mitunter scheinbar eine unverhältnismäßige Bedeutung gewinnt, und in denen jede Seite um ihrer selbst willen und nicht um des Ganzen willen geschrieben scheint: das kommt daher, daß der hl. Franz von Sales jede Seite gesondert durchdachte und niederschrieb. Aber dafür, gleichsam als Entschädigung für diesen Mangel, verirrte sich sein Denken niemals in bloße Dialektik, wagte es sich niemals über die Beobachtung und die Analyse hinaus; es hält sich stets in der Ebene der vollen Lebenswirklichkeit. Weder die „Anleitung zu einem frommen Leben" noch die „Abhandlung von der Gottesliebe" verfallen jemals den Versuchungen des abstrakten Denkens und der reinen Idee. So verbrachte der hl. Franz von Sales sein Leben inmitten dieser vierfachen Betätigung: der Leitung einer Diözese, der Vorbereitung seiner Predigten, der Betreuung der Seelen und der Abfassung von Werken über Frömmigkeit und Mystik. Diese vier Betätigungen nun laufen schließlich auf eine einzige hinaus: auf die allmähliche innere Heiligung. Sie bilden nur die Hauptzweige eines und desselben Stammes. Jahr für Jahr trachtet der hl. Franz von Sales nur danach, sich zu Gott zu erheben; auf diesem Wege bleibt er nicht ganz allein. Zunächst begleitet ihn dabei eine

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Seele, die in der christlichen Liebe fast mit der seinigen eins wird: die Seele der Mme de Chantal, dann die Seelen all derer, die er kannte und betreute, und schließlich all derer, die durch seine Bücher die Ausstrahlung seiner Heiligkeit und die Erleuchtung seines Geistes erfuhren. Das ist seine Sendung; er sollte sie bis zur Stunde seines Todes erfüllen, der ihn in Lyon am 28. Dezember 1622 im 55. Jahre seines Lebens ereilen sollte. III Wir haben gesehen, daß der hl. Franz von Sales keine gleichsam fertige Vollkommenheit gelten ließ; dennoch ahnt man in all seinen Büchern und Briefen ein bestimmtes, beständiges Bild menschlicher Vollkommenheit; nur dessen Verwirklichung wandelt sich jeweils von Mensch zu Mensch. Dieses Bild ist in seinem Geltungsbereich nicht sehr weit entfernt von dem, das uns die „Essais" vermittelten. Wie der Weise des Montaigne, so ist der Fromme des hl. Franz von Sales nicht an einen bestimmten Stand gebunden. Er kann jedem beliebigen Stande angehören. Die Frömmigkeit bringt keinen von seinem Wege ab, wofern es sich nicht um Wege des Verbrechens und der Niedertracht handelt; sie entreißt weder den Untertan seinem König noch den Gatten seiner Frau, weder den Mann von Welt seinen Freunden noch den Koch seinem Bratspieß. Sie verhilft ihnen vielmehr, jedem in seinem Beruf, zu höherer Menschlichkeit und Gesittung. Der hl. Franz von Sales betont, daß der Mensch ein unbarmherziges, ungebärdiges und rohes Tier sei. Erst die Frömmigkeit hilft ihm, diese Barbarei seines Naturzustan-

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des zu überwinden, aber keinesfalls, um nun an ihre Stelle eine andere Barbarei zu setzen. Lassen wir den heiligen Bischof selbst sprechen: „Jedoch muß die Frömmigkeit auf verschiedene Weise geübt werden, je nachdem einer ein Vornehmer, ein Künstler, Knecht oder Prinz ist oder Witwe, Tochter oder Gattin; und nicht nur dieses im allgemeinen, auch den Kräften, Geschäften und Berufspfiichten jedes einzelnen muß die Ausübung der Gottseligkeit entsprechen. Oder meinst du, liebe Philothea, der Bischof könnte leben wie ein Kartäuser ? Oder ein Verheirateter könnte auf allen Erwerb verzichten wie ein Kapuziner ? Könnte der Handwerker den ganzen Tag in der Kirche verweilen wie der Ordensmann und der Ordensmann sich allen Arten von Geschäften im Dienste des Nächsten aussetzen wie der Bischof ? Wäre solche Gottseligkeit nicht lächerlich, ungeregelt und unerträglich ? Nein, Philothea, die Frömmigkeit verdirbt nichts, wenn sie die wahre ist, im Gegenteil, sie vervollkommnet alles, und wenn sie dem rechtmäßigen Berufe irgendeines Menschen Hindernisse setzt, so ist sie zweifelsohne eine falsche. Die Biene, sagt Aristoteles, saugt ihren Honig aus den Blumen, ohne sie zu beschädigen, und läßt sie ebenso unverletzt und frisch, als wie sie dieselben fand. Die wahre Gottseligkeit tut noch mehr; sie bringt nicht nur keinem Stande und Geschäfte Schaden, sondern ziert und verschönert dieselben vielmehr. Alle Arten von Edelsteinen werden, je nach ihrer Farbe, glänzender, wenn sie in Honig getaucht werden; so wird auch jeder liebenswürdiger in seinem Stande, wenn er mit ihm die Gottseligkeit verbindet. In das Innere der Familie bringt sie den Frieden; die Liebe zwischen Mann und Weib macht sie herzlicher, den Dienst der Fürsten treuer und jede Art von Beschäftigung süßer und lieblicher. Es ist ein Irrtum, sogar eine Ketzerei, das gottselige Leben aus dem Heere des Soldaten, aus der Werkstatt des Handwerkers, vom Hofe des Fürsten und aus dem Schöße der Familien verbannen zu wollen."

So erklärt es sich, daß die neue Gesellschaft, die ihr Gepräge durch den Hof, die Salons und die gesellige Unterhaltung empfangen sollte, und dann auch die tatkräftigere Gesellschaft, die sich weniger um die Genüsse der Geselligkeit kümmern und sich ganz der Notwendigkeit der Arbeit und des Schaffens hingeben sollte —, daß weder die eine noch die andere die geringste Hemmung,

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sondern im Gegenteil Beistand und Bestätigung durch die Frömmigkeit erfahren sollte, wie der hl. Franz von Sales sie verstand, während doch die mönchische Askese, zusammen mit dem Geist des Jansenismus, hätten sie gesiegt, die neuzeitliche Entfaltung der weltlichen Kultur untergraben haben würden. Übrigens hat diese Frömmigkeit durchaus nichts Gezwungenes oder Gewaltsames. Die Härte und das Leid schließt sie aus; sie ähnelt jener Weisheit, von der uns Montaigne das anmutigste und verführerischste Bild entworfen hat. Sie wohnt nicht „zwischen Dornen und Hecken, als ein Scheusal, um die Menschen zu schrecken", wohl aber wohnt auch sie „in einer fruchtbaren, lieblichen Ebene, zu welcher man durch schattige, von Blumenduft umwehte, leicht sich hebende, eben gebahnte Wege (das könnte man hier sagen !) wie die Wege am Gewölbe des Himmels" gelangen kann. Diese Frömmigkeit tut, gleich der Weisheit Montaignes, den Freuden der Sinne keinen Eintrag: „Dadurch, daß sie sie h e i l i g t , sichert und läutert sie sie." Ohne sie „ist jedes Menschenleben sich selbst entfremdet, voller Unruhe und Häßlichkeit". Lassen wir nochmals dem hl. Franz von Sales das Wort: „Die Welt sieht die Gottseligen fasten, beten, Unbilden ertragen, den Kranken dienen, den Armen Almosen geben, wachen, den Zorn unterdrücken, ihre Leidenschaften bezähmen und bändigen, sich sinnlicher Vergnügen enthalten und anderes der Art tun, was der Natur schwer und hart ist. Aber die Welt sieht nicht die innere Gottseligkeit ihres Herzens, wodurch alle diese Werke angenehm, süß und leicht werden. Betrachte die Bienen auf dem Thymian, welche darin einen bitteren Saft finden, ihn aber durch Einsaugen in Honig verwandeln; denn das ist eine ihrer natürlichen Fähigkeiten. O ihr Weltkinder, die Gottseligen finden viel Bitterkeit in ihren Abtötungen, das ist wahr; aber in der Ausübung derselben

V. Der hl. Franz yon Sales und das religiöse Empfinden verwandeln sie diese in Wonne und Süßigkeit 1 So erschienen den heiligen Märtyrern Feuer, Flammen, Räder und Schwerter wie Blumen und Wohlgeruch, weil sie gottselig waren I Wenn nun der Gottseligkeit die grausamsten Martern und sogar der Tod wonnig erscheinen können, welche Würze wird sie nicht den Übungen der Tugend zu verleihen vermögen ? Der Zucker versüßt unreife Früchte und benimmt den reifen Herbe und Bitterkeit. So ist die Gottseligkeit der wahre geistliche Zucker, sie nimmt den Abtötungen ihre Bitterkeit und sinnlichen Freuden ihre Schädlichkeit; sie verscheucht von dem Armen den Gram, von dem Reichen die Habsucht; dem Bedrängten gewährt sie Trost, den Günstling des Glückes bewahrt sie vor Übermut; sie scheucht die Traurigkeit von dem Einsamen und Ausgelassenheit von dem, der in der Welt lebt; sie ist wie Wärme im Winter, wie Tau im Sommer; sie weiß den Überfluß wie die Armut zu ertragen; sie bleibt unempfindlich bei Ehre oder Schmach; sie nimmt Freude und Schmerz mit derselben Ruhe des Herzens hin und erfüllt die Seele mit wunderbarer Süßigkeit."

Hier sieht man die zahlreichen Gemeinsamkeiten, die den Leser des hl. Franz von Sales an Montaigne denken lassen. Es sind ebenso viele Berührungspunkte. Der Humanismus des einen und die Frömmigkeit des anderen stehen einander sehr nahe, sie stützen sich gegenseitig und arbeiten einträchtig an einer gemeinsamen Aufgabe. Nicht etwa, daß der hl. Franz von Sales sich damit begnügte, den Humanismus weiter zu entwickeln und ihn der Frömmigkeit dienstbar zu machen. Die Mittel, deren er sich bedient, gehören ganz ihm an; sie sind durchaus christlich und von der Liebe zu Christus erfüllt. Gewissensprüfung, Selbstprüfung der Seele, Selbsteinkehr (was er als Forschen nach den Ursprüngen der Sünde bezeichnet), Bußfertigkeit, Versenkung und Streben nach der Vollkommenheit — all das ist seiner Ansicht nach durchaus und zumal christlich; all das steht dem heiligen Ignatius näher als Montaigne; all das setzt außer der Willensanstrengung des Menschen die Gnade Gottes und die mystische Wirksamkeit der Sakramente voraus. Franz

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von Sales glaubt sogar, daß die Tugenden der Heiden, vor allem die des Epiktet, nur „wurmstichige Äpfel" seien. Aber trotz dieser Vorbehalte sind alle seine Werke gesättigt mit der Dichtung und der Weisheit der Antike; wenn ich nicht fürchtete, mit Worten zu spielen, möchte ich sagen, daß bei ihm die ganze Anmut („grâce") griechischer Schönheit mit der christlichen Gnade („grâce") verschmilzt. Sogar wenn er die Tugenden der Heiden verurteilt oder wenn er etwa schreibt, daß er sich über ihre Bewunderer wundere, kann er doch nicht umhin, ihnen eine ganz leise und bisweilen sogar sehr laute Bewunderung zu zollen. ,,Im besonderen Maße aber verwundere ich mich über den armen Epiktet, dessen Reden und Denksprüche durch die Ubersetzung, die die ebenso gelehrte als anmutige Feder des ehrwürdigen Paters Dom Johannes Tom hl. Franziskus, Provinzials der Kongregation der Feuillanten in Gallien, vor kurzer Zeit vorgelegt, so angenehm in unserer Sprache zu lesen sind; empfindet man doch tiefes Mitleid, wenn man liest, wie dieser ausgezeichnete Philosoph zuweilen mit einer Salbung, mit einer Empfindung und einem Eifer von Gott redet, daß man ihn für einen Christen halten möchte, der von einer tiefen und frommen Betrachtung zurückkommt. Und doch redet er an anderen Stellen hin und wieder auf eine ganz heidnische Weise von den Göttern."

Seine Strenge vermag doch ihren Vorzügen gegenüber nicht unempfindlich zu bleiben, und wenn er ihnen Vorwürfe macht, so geschieht es weniger, weil sie nicht um die christlichen Tugenden wußten, als vielmehr weil sie, gleich den zu selbstherrlichen Stoikern, die wahre Natur des Menschen und die Bedürfnisse des Menschenherzens verkannten. Alles in allem bleibt er Humanist, sogar noch dort, wo er gegen den Humanismus etwas einzuwenden hat. Dennoch handelt es sich hier um einen sehr großen FortS t r o w s k i , Wesen

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schritt: denn Montaigne ist Empirist und Naturalist, und der hl. Franz von Sales ist Metaphysiker. Der Verfasser der „Abhandlung von der Gottesliebe" begnügt sich nicht damit, „Lebenserfahrungen" zu schildern und sie gleichsam zu lenken, er forscht zugleich auch nach der „Ursache der Wirkungen". Man könnte ihn ohne Übertreibung mit Newton vergleichen, nachdem man ihn mit Montaigne verglich; aber wir werden gleich sehen, daß sogar noch dieser Unterschied uns wieder auf neue Gemeinsamkeiten führen wird. Die „Abhandlung von der Gottesliebe" beginnt mit demAufriß eines Sonderfalls des Gesetzes der allgemeinen Schwerkraft, des Gesetzes der Schönheit. „Gott", sagt Franz von Sales, „will alle Dinge gut und schön machen"; was nun erzeugt die Schönheit ? „Die in der Verschiedenartigkeit hergestellte Einheit bildet die Ordnung. Die Ordnung bewirkt Ebenmaß und Verhältnis, und das Ebenmaß in vollständigen und vollendeten Dingen begründet die Schönheit. . . Damit eine Musik schön sei, müssen die Stimmen nicht nur rein, klar und ganz bestimmt, sondern auch in einer Weise miteinander verbunden sein, daß sich eine reine Harmonie und ein richtiger Einklang ergibt — mittele der Einheit, die ihre Verschiedenartigkeit verbindet, und mittels der Verschiedenartigkeit, die in der Einheit der Stimmen herrscht. .

Ferner ist das Schöne seiner Natur nach das, dessen Erkenntnis uns Freude bereitet. So muß es also „erkannt" werden können. „So muß außer der Einheit und Verschiedenartigkeit, der Vollständigkeit, Ordnung und Übereinstimmung seiner Teile sich auch viel Glanz und Licht mit ihm verbinden, damit es erkennbar und sichtbar sei. Die Stimmen müssen, um schön zu sein, klar und rein, die Reden verständlich, die Farben glänzend und leuchtend sein. Dunkelheit, Schatten und Finsternis sind häßlich und machen alle Dinge häßlich, da in ihnen nichts erkennbar ist, weder Ordnung noch Unterschied, weder Einheit noch Ebenmaß."

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Das ist noch nicht alles: „Wenn es sich jedoch um beseelte und lebende Wesen handelt, dann ist ihre Schönheit nicht vollendet, falls sich nicht auch die Anmut dazugesellt, die außer dem Ebenmaß der vollkommenen Teile, das die Schönheit begründet, auch noch das Ebenmaß der Bewegungen, Gebärden und Handlungen hinzufugt und gleichsam die Seele und das Leben der Schönheit belebter Wesen ist."

Die in diesem Sinne verstandene Schönheit zu verwirklichen, darauf zielt letzthin die Lebensbewegung der Geschöpfe hin. Ihr streben sie gleichsam als ihrer Vollkommenheit und ihrem Glücke entgegen. Und sehen sie sich ihr fern, so leiden sie ; sie werden von ständiger Unruhe geplagt. Nun enthält aber die Natur des Menschen „eine unzählbare Menge und Mannigfaltigkeit von Handlungen, Bewegungen, Empfindungen, Gewohnheiten, Leidenschaften, Fähigkeiten und Kraftfeldern". Seit der Erbsünde lebt die Menschheit in Anarchie und Unordnung, das heißt fern aller Schönheit, und das wiederum besagt: fern allem Frieden und Glück. Der Wille des Menschen sollte sein Gesetz zum allgemeinen Gesetz machen und die Harmonie herstellen. Aber er selbst ist vom rechten Wege abgekommen. Es wird ihm nicht gelingen, seine „Ordnung schaffende" Herrschaft aufzurichten, wenn er nicht bei einer ihm selbst überlegenen Macht seine Zuflucht sucht: bei der Liebe. Der Wille ähnelt der Liebe, an die er sich wendet; ist sie mächtig und stark, so ist er selbst mächtig und stark; ist sie edel und besonnen, so läßt er überall inneren Adel und Besonnenheit zur Herrschaft kommen. Ist sie göttlich, so verhilft er überall der Schönheit zur Herrschaft. Ist sie aber niedrig und brutal, so läßt er sich durch die Leidenschaft fortreißen. 7*

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Die Erfüllung oder die Vollendung der Persönlichkeit des Menschen in der Schönheit läßt sich also nur erreichen, wenn der Mensch einer höheren Liebe die Herrschaft über den Willen gewährt und dem Willen die Herrschaft über die Seele. So erklärt sich, daß der hl. Franz von Sales sagte, daß ein jeder an seiner Vollkommenheit arbeiten solle, da sie ja das Ergebnis einer durch den Willen und durch die Liebe ermöglichten inneren Harmonie ist. Aber andere wichtige und sogar für die Lebensführung entscheidende Folgen lassen sich aus dieser Philosophie ableiten. Wenn die Vollkommenheit nur durch die innere Harmonie dieser „Kraftfelder" erlangt werden kann, die jede Individualität bestimmen, so stärkt sie doch im Maße ihrer Verwirklichung diese Individualität selbst, da sie ja deren „Kraftfelder" in der Richtung auf ein Ziel zusammenfaßt und ihre Wirksamkeit durch ihre Eintracht erhöht. So wird es begreiflich, daß für den hl. Franz von Sales und für seine Schüler eine jede Seele gleichsam eine Welt für sich darstellt. Eine andere Folge ist die, daß die Vollkommenheit das Seelenglück und den Frieden zur Folge hat, nicht etwa als Lohn, wohl aber als ihre eigenste Natur oder Wesensäußerung. Je mehr sich die Seele der Vollkommenheit nähert, um so mehr fühlt sie sich von Natur aus befriedet und glücklich. Schließlich entspringt diese ganze Bewegung der Freiheit; der Mensch bleibt dabei keinem äußeren Zwange hörig: die Seele bewahrt sich ihre Selbständigkeit, ihre Unmittelbarkeit, ihre Beschwingtheit und ihre Freiheit. Aber wir brauchen nicht bei diesen theoretischen Erörterungen zu verweilen. Wir könnten dabei leicht auf

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Irrwege geraten. Sie zeigen den italienischen Edelmann im hl. Franz, der für Plato schwärmt und Zeitgenosse der Renaissance ist. In ihm steckt doch auch ein echter Franzose und ein Zeitgenosse der Restauration Heinrichs IV. — ein Montaigne genau so wie ein Pico de la Mirandola. Wenn sein Geist gerne die tiefsten Fragen ergründen und den metaphysischen Wesensgrund der Dinge entdecken möchte, so faßt der Geist des Moralisten in ihm doch gerne die Wirklichkeit ins Auge, um von ihr sein Denken und Handeln bestimmen zu lassen. Ohne das hätte er noch so viel predigen können, daß die Frömmigkeit sich mit allen Berufen und mit allen Lebenslagen gut vertrage, daß sie edel, voller Anmut und Süße sei, eine Freundin der weltlichen Kultur und des Lebens — er hätte doch niemanden bekehrt und der Mensch wäre weiterhin — im Kloster, im Haushalt, in der Stadt, am Hofe — „das unbarmherzige, ungebärdige und rohe Tier" geblieben, das die Religionskriege und die Bürgerkriege zum Unheil und Schaden des Christentums entfesselt hatten. Hätte dem hl. Franz von Sales der Sinn für das Wirkliche gefehlt, so würde die neue Welt genau so ausgesehen haben, wie die alte Welt; der Heilige oder der Weise wäre, hoffnungslos vor dem Leben versagend, in die Einsamkeit der Wüstenväter geflüchtet. Und der edle, durchaus menschliche und realisierbare Typus der christlichen durch Bildung verfeinerten Heiligkeit wäre der neuzeitlichen Gesellschaft versagt geblieben.

ABSCHNITT VI

DESCARTES UND DIE WISSENSCHAFT Der Fall Montaignes zeigte uns, wie in der Krisis des Humanismus ein französischer Humanist das erlösende Wort sprach; bei dem hl. Franz von Sales sahen wir in einer durchaus entsprechenden Krisis des religiösen Lebens denselben „Geist" erlösend eingreifen; im Falle Descartes werden wir eine genau entsprechende Krisis der Moral gegenüber der Wissenschaft erleben — und zugleich den Triumph des „freiheitlichen Genius" Frankreichs. Die Wissenschaft wie auch die Religion neigen sehr leicht dazu, sich vom Menschen ein zu abstraktes, schematisches und verfälschtes Bild zu machen. Wie wir sagten, unterscheidet die Religion zwischen dem „Erwählten" und dem bloßen Laien, zwischen dem Geretteten und dem Verdammten. Für die Psychologie und für die Ethik ist das ein gefährlicher Ausgangspunkt. Die Wissenschaft macht einen genau so scharfen Unterschied zwischen dem Gelehrten und dem Unwissenden; sie trennt beide durch einen Abgrund. Die Religion schreibt den Gläubigen ihre Gesetze mit einer unumschränkten Gewalt vor; genau so gebieterisch, wenn nicht noch mehr, verfährt die Wissenschaft. Die Wissenschaft wie die Religion unterliegen sehr schnell der Versuchung, die Beobachtung und die Wirklichkeit, den gesunden Menschenverstand und die Liebe

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zu allem Lebendigen außer acht zu lassen. Für die Wissenschaft ist diese Gefahr noch größer, insofern die Religion, wenigstens die christliche Religion, als Vorbild und Lehrer, als Licht- und Lebensquelle eine wirkliche lebendige Gestalt besitzt, die mit den anderen Menschen zusammen gelebt hat und ein geschichtliches Gesicht trägt: Jesus, wie ihn das Evangelium sehen lehrt. Demgegenüber setzt die Wissenschaft sich nur aus Axiomen, aus Gesetzen und aus in Formeln gefaßten Verallgemeinerungen zusammen. Sie bleibt im Reiche des Abstrakten. Damit geraten die Gedankengänge des Gelehrten, soweit sie sich in das Gebiet der Ethik hineinwagen, leicht in Gefahr, noch weniger schmiegsam und „menschlich" zu werden, als selbst die des Theologen, der nur Theologe ist. Wenn nun jemals die geistige Welt vor der Gefahr gestanden hat, daß man ihr eine rein wissenschaftliche Moral zumuten wollte und ihr, anstatt einer wirklichen Erkenntnis der Menschen, den ganzen Bestand von Gesetzen, die starren Formeln, die Grundwahrheiten aufdrängen wollte, die die Wissenschaft immer bereit hat — so geschah das zu der Zeit der wundervollen neuen Blüteperiode der Mathematik und der Physik, die der Welt auf einmal Galilei und Descartes, Torricelli und Pascal, Fermât, Gassendi, Huyghens schenkte. Zu dieser Zeit, also bald nach dem hl. Franz von Sales und Montaigne, entstand in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts die moderne Wissenschaft, und ihre Fruchtbarkeit schien unerschöpflich, so geschwind und sich gegenseitig fördernd folgten ihre Entdeckungen aufeinander. In den früheren Jahrhunderten hatte die Erforschung der Natur und des Menschen bei den sogenannten „ersten" Qualitäten haltgemacht: der wissenschaftliche „Sym-

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bolismus", der so zustande gekommen war (denn jede Wissenschaft greift schließlich auf ein Symbol und auf das Verfahren des „Abbildens" zurück), lief immer nur darauf hinaus, über die abstrakten Begriffe, die diese „ersten" Qualitäten ausdrückten, rein verstandesmäßige Erwägungen anzustellen. Einen von Grund aus verschiedenen „Symbolismus" schuf die moderne Wissenschaft. Sie „bildete" die Natur und ihre Phänomene durch geometrische Figuren „ab", durch algebraische Formeln und durch Zahlen. Und mit einem Mal waren Gewißheit, Klarheit und die Aussicht auf einen unabsehbaren Fortschritt an die Stelle dürrer Verstandeserwägungen getreten; von nun an ließ alles sich berechnen ! Gewiß war die Schöpfung dieses „Symbolismus" nicht ohne Schwierigkeiten vor sich gegangen, und es hatte dazu des Zusammentreffens einer Reihe wunderbarer Entdeckungen bedurft. Zunächst kam es zur Entdeckung neuer Meßinstrumente, die es ermöglicht hatten, Eigenschaften, wie warm und kalt, Naturkräfte, wie den Druck der Atmosphäre, echte „Kontinua", wie die Zeit in Zahlen und Linien aufzulösen. Dann gelangte man zur Entdeckung von neuen Instrumenten der Beobachtung, die eine große Erweiterung unserer Sehkraft zur Folge hatten und die unsere mangelhaften und ungleichmäßig funktionierenden Organe durch Apparate ersetzten, die nahezu unfehlbar waren: z. B. das Teleskop und das Mikroskop. Hand in Hand mit diesen Fortschritten der Beobachtung durch das Experiment und der Zahlen- und Formelsprache hatten sich die mathematischen Wissenschaften, die man zu jener Zeit unter dem Namen „Geometrie"

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zusammenfaßte, um eine Reihe nicht weniger fruchtbarer Entdeckungen bereichert. Das moderne „analytische" Verfahren, wie man es nannte, trat an die Stelle des alten. Diese Analyse lehrte es, die verwickeltsten Formeln zu behandeln und aufzulösen; Kurven höherer Ordnung zu entwerfen und zu berechnen; und schließlich aus diesen Figuren und diesen Formeln mit absoluter Gewißheit die entlegensten und unerwartetsten Folgerungen zu ziehen, aus denen ihrerseits neue Entdeckungen hervorgehen konnten. Ich möchte hinzufügen, daß diese erstaunlichen Entfaltungen der modernen Wissenschaft sich nicht auf das Gebiet theoretischer Erkenntnis beschränkten; sie griffen immer mehr auf das praktische Leben über und ließen die Hoffnung berechtigt erscheinen, daß der Mensch in Bälde Herr und Meister der Natur sein werde und dann schließlich sogar die Dauer des Menschenlebens um 400 bis 500 Jahre verlängern werde. Diese neue Wissenschaft, die bald das Feld allein behaupten sollte, konnte es keine Mühe kosten, die Wissenschaft des Mittelalters in Vergessenheit zu bringen. Noch weniger Mühe kostete es sie, einer anderen, eben aufkeimenden Wissenschaft den Rang abzulaufen: einer Wissenschaft, die zur Hälfte noch Geheimwissenschaft blieb, und die die Alchemisten, die Freidenker und die Astrologen umfaßte: aus ihr sollte sich die moderne Chemie entwickeln. Demgegenüber stand die Wissenschaft der Mathematik damals im Zenit ihres Ruhmes. Mit der Schönheit ihres Baues und der Unantastbarkeit ihrer Logik, mit ihren der Beobachtung abgewonnenen Elementen und ihren der Geometrie entnommenen Ver-

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fahren nötigte sie sogar der Kirche Hochachtung ab. So ist es nicht erstaunlich, wenn sie in dem ersten Rausche ihres siegesgewissen Stolzes in allen Einzelheiten eine neue Moral und eine neue Wissenschaft vom Menschen hat schaffen wollen. Erstaunlich ist nur, daß dieses Unternehmen gescheitert ist. Das soll nun am Beispiel des Gelehrten aufgewiesen werden, der den Stolz des wissenschaftlichen Selbstbewußtseins am weitesten treiben sollte: Descartes. I Descartes' Lebenslauf ist in mancher Beziehung aufschlußreich. Denn, was man auch in der Hinsicht an Vermutungen geäußert hat, nicht der reine Geist war der Schöpfer des Cartesianismus. Weder „seine Erfahrungen" noch sich selbst hat er wegräsonieren können. Seine „Erfährungen" konnten nicht ohne Einfluß auf die Entstehung und die Richtung seiner Gedankengänge bleiben; und sein Temperament bleibt noch in den abstraktesten Konzeptionen seines Geistes spürbar. Geb. am 31. März 1596 in de la Haye, einer Kleinstadt der Touraine (die etwa an der Grenze dieser Provinz und des Poitou liegt), hat er sich stets als einen „Poitevin" bezeichnet. Als Sohn eines Ratsherrn des Parlaments in Rennes, hat er sich stets als Edelmann bezeichnet, genau so wie Pascal mit „Patricius Arvernus" zu unterzeichnen pflegte. Er wurde im Jesuitenkolleg de la Flèche erzogen. „Ich besuchte — sagte er, — eine der hervorragendsten Schulen Europas . . . Ich hatte dort alles gelernt, was die anderen lernten."

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Er fügt hinzu, daß man ihn seinen Mitschülern geistig durchaus gewachsen fand, „obwohl manche von diesen bestimmt waren, an die Stelle unserer Lehrer zu treten."

Er wurde im Geiste des Humanismus erzogen. „Die Beredsamkeit schätzte ich sehr, die Dichtung liebte ich leidenschaftlich", versichert er. Er war empfänglich für „die unvergleichliche Macht und Schönheit der einen und für die hinreißende Feinheit und Zartheit der anderen." Er hatte viel gelesen, da er der Ansicht war, daß „das Lesen aller guten Bücher einer Unterhaltung mit den bedeutendsten Männern vergangener Zeiten gleicht, welche sie verfaßten, und zwar einer gelehrten Unterhaltung, bei der sie uns nur ihre besten Gedanken offenbarten." Aber das Lesen genügte ihm nicht. Den Ratschlag Montaignes befolgend, begab er sich auf Reisen: „Denn die Unterhaltung mit Männern vergangener Jahrhunderte ist fast genau so wie das Reisen . . . deshalb", fährt er fort, ,,gab ich das Studium der Wissenschaften gänzlich auf, sobald mein Alter mich der Leitung meiner Lehrer enthob; ich entschloß mich, keine andere Wissenschaft mehr zu suchen als diejenige, welche ich in mir selbst oder in dem großen Buche der Welt zu lesen vermochte; und so verwendete ich den Rest meiner Jugendzeit auf Reisen; ich sah Höfe und Heere, verkehrte mit Leuten verschiedener Temperamente und verschiedener Lebensstellung, sammelte mancherlei Erfahrungen, erprobte mich in den Widerwärtigkeiten, in die das Schicksal mich versetzte, und dachte über alles nach, was sich mir darbot, damit ich Nutzen daraus ziehen konnte."

Bevor er sich auf Reisen begab, war er nach Paris gegangen, wo er das Leben eines Edelmannes führte; dann diente er als Freiwilliger beim Heere, und später unternahm er Reisen durch ganz Europa, wobei er übrigens hin

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und wieder nach Frankreich zurückkehrte, um seine Heimat wiederzusehen. Baillet, sein Biograph, hat in seinem so anmutigen und so gründlichen Buch diese für das Entstehen der kartesischen Philosophie so entscheidend gewordenen Jahre im einzelnen geschildert; man gewahrt, so wie er es hier darstellt, eine Art Widerspruch in der Wesensanlage Descartes'. Dieser Widerspruch offenbart sich in der zwiefachen Lockung, die seit diesen Jahren der Jugend und Schwärmerei ihm abwechselnd das Leben des Gelehrten und dann wieder das des Gesellschaftsmenschen wünschenswert machte. Descartes vermochte den Verlockungen des Spieles, der geselligen Gespräche und der Weltlichkeit nicht zu widerstehen. War er aber bei der Arbeit, so widmete er sich ihr mit voller Hingabe, ohne jeden Gedanken an die Verlockung, der er, hätte sie ihm vor Augen gestanden, erlegen wäre. Indessen schuf er sich bereits allmählich einen Mittelpunkt seiner Interessen; besser gesagt: eine bestimmte stetige Richtung setzte sich in der gesamten geistigen Tätigkeit des jungen Mannes durch. Ein einziges und ständiges Verlangen trieb ihn, „das Wahre von dem Falschen unterscheiden zu lernen, um bei seinem Handeln klar zu sehen und unangefochten im Leben immer gradeaus zu gehen". Während dieses leidenschaftlichen Suchens, das zum Hauptinhalt seines Lebens wurde, geriet er in verschiedener Hinsicht auf Irrwege, bis ihm endlich, wie Pascal bei seiner Suche nach Gott, eine jähe Erleuchtung zuteil wurde. Im Winter des Jahres 1619, in tiefer Einsamkeit in den Winterquartieren lebend, in der ihn keine Unterhaltung

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ablenken konnte, und wo er weder Sorgen noch Leidenschaften kannte, die seine Sammlung hätten gefährden können, entschloß er sich, alles, was man ihn gelehrt hatte, als zweifelhaft zu verwerfen und mit eigener Hand das gesamte Gebäude unantastbaren Wissens neu aufzubauen. In der Nacht des 10. November 1619 hatte er im Traume eine Vision, deren Erleuchtung ihm bis zu seinem Tode erhalten blieb. Die Einzelheiten dieses Traumes sind so seltsam und so kindlich, und die durch ihn verursachte seelische Erregung war so heftig, daß Baillet ganz harmlos die Frage aufwirft, ob Descartes am Abend vorher nicht ein wenig zu -viel getrunken habe. Aber seit mehreren Monaten trank der Philosoph nur noch Wasser. Im Anschluß an diesen Traum, dessen Darstellung man bei Baillet nachlesen sollte, legte Descartes noch in der gleichen Nacht seine Methode fest, deren Regeln so bekannt geworden sind. Ich möchte sie dennoch hier aufzählen; denn ohne sie würde man die folgenden Gedankengänge nicht verstehen: sich aller überkommenen Vorstellungen entledigen; nichts als Wahrheit hinnehmen, was man nicht in voller Klarheit als solche erkennt; jedes schwierige Problem in soviel Teilprobleme zerlegen, als nötig ist, um zu einfachen und durchsichtigen Grundwahrheiten zu gelangen; ferner sein Denken an einem gewissen Leitfaden orientieren — nämlich mit den einfachsten und leichtesten Gegenständen beginnen, um dann nach und nach, gleichsam stufenweise, zur Erkenntnis der verwickeltsten aufzusteigen; und schließlich auf jedem Gebiet solch erschöpfende Aufzählungen und solch umfassende Übersichten aufstellen, daß man völlig sicher sein kann, nichts zu übersehen. Die Anwendung dieser Methode führte Descartes bald

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dazu, die Gegenstände möglicher Erkenntnis auf zwei Welten zu verteilen: die Welt der Natur und die Welt des Gedankens ; die geistige Welt und die räumliche Welt. Dadurch drang er zu den einfachen und fruchtbaren Grundwahrheiten vor, auf denen er dann mühelos eine restlos gesicherte Wissenschaft aufzubauen gedachte. Die eine, das „Cogito ergo sum" erklärt die Welt des Geistes; die andere, die Ausdehnung nach Länge, Breite und Tiefe erklärt die Welt der Körper. Von dem einen und von dem anderen aus muß sich jede Wahrheit, jede einzelne in ihrer Sphäre, ableiten lassen. Von nun an in sicherem Besitz dieser Grundsätze, ließ er sich in Holland nieder, um sich in Ruhe seiner Forschung zu widmen. Seltsam, daß er, obwohl er nach innerer und äußerer Ruhe trachtete, derart, daß er schließlich jede Gesellschaft mied, fortwährend seinen Aufenthaltsort und seine Wohnung wechselte. Seine Lebensweise verrät ein ihm eigenes Beweglichkeitsbedürfnis und eine gleichsam physische Unruhe, die in merkwürdigem Widerspruch stehen zu seinem Bedürfnis nach besinnlicher Ruhe und zu seiner Art, seine Erkenntnisse langsam ausreifen zu lassen. Lange Jahre hindurch widmete er sich der zwiefachen Erforschung der auf die Ausdehnung zurückgeführten äußeren Welt und der auf das Denken zurückgeführten inneren Welt. Der ersteren gegenüber bedurfte es bei ihm keiner Mühe, sehr schnelle und sehr weitführende Fortschritte zu machen; denn er besaß eine mathematische Genialität, für die es überhaupt keine Schwierigkeiten gab : er brauchte die Natur ja nur auf die Ausdehnung zurückzuführen, um sie rein geometrisch erfassen zu können. Der anderen gegenüber bedurfte es größerer Mühe und

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einer schwierigeren Methodik, weil das Denken noch nicht seinen Euklid, seinen Vieta, seinen Fermât besaß. Aber schließlich machte Descartes auch auf diesem neuen Gebiet sehr schnelle Fortschritte — und voller Bewunderung stand sein Jahrhundert vor einem Philosophen, der auf eine so entscheidende Weise den Unterschied zwischen der Seele und dem Körper, die Wesensbeschaffenheit der Seele und das Dasein Gottes festlegte. Die „Abhandlung über die Methode", die er im Jahre 1636 veröffentlichte, und die er in der höchst persönlichen Form eines Essays — in der „aristokratischen" Art Montaignes — abfaßte (Balzac nannte ihn „die Geschichte Ihres Geistes"), stellt eine Art ersten großen Aufrisses dar, voll der stolzesten und schrankenlosesten Verheißungen. Descartes versichert, es gäbe in der Natur kein Geheimnis, das er nicht durch seine Grundsätze zu erklären vermöge. Er läßt durchblicken, daß die Menschen durch die gleichen Grundsätze sich zu Herren und Meistern der Natur entwickeln werden. Er meint, durch die Wissenschaft könne man sich unzähliger Krankheiten — körperlicher wie geistiger — entledigen, ja vielleicht sogar den Kräfteverfall des hohen Alters überwinden. In den „Principia" wird er das dann so ausdrücken, „daß es keine Naturerscheinung gibt, die durch das in dieser Abhandlung erarbeitete Grundwissen nicht ihre Erklärung fände". Um nun diese Unzahl von Arbeiten bewältigen zu können, hielt Descartes sich an eine sonderbare Lebensweise. Ständig geplagt von dem Bedürfnis nach innerer Ruhe, das ihn doch niemals in Ruhe ließ, wechselte er unaufhörlich seine Wohnung und seine Einsamkeit :

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worunter ich eine gleichsam bevölkerte Einsamkeit verstehe, denn er besaß eine merkwürdige Vorliebe für die großen Städte: „ T a g für T a g " , sagte er, „mache ich meine Spaziergänge mitten im Trubel einer großen Menschenmasse — mit solcher Ruhe und inneren Freiheit, wie ihr sie in euren Gartenalleen genießen mögt; und dabei beachte ich die Menschen, die ich dort sehe, nicht mehr und nicht weniger als die Bäume in euren Wäldern oder die Tiere, die dort weiden."

Verbindung mit der übrigen Welt besaß er fast nur durch den Père Mersenne, mit dem er im Briefwechsel stand. Er verabscheute jede Abhängigkeit. Er hatte dem Herrn von Zuylichen, der seine Frau durch den Tod verloren hatte, keine Beileidsbezeigungen gesandt. Und als der berühmte Holländer sich darüber bei Balzac beklagte, antwortete ihm dieser, daß der französische Philosoph das Witwertum durchaus nicht als ein Unglück ansehen könne, da ihm jede Art Abhängigkeit zuwider sei, so sehr, daß er sich stets weigerte, Strumpfbänder zu tragen. Unter diesen Umständen wird es begreiflich, wenn er sich überhaupt nicht mehr recht in der Welt zu bewegen wußte: nach der langen Periode des nur von seinem philosophischen Denken ausgefüllten Schweigens, in dem seine Tage dahingingen, hatte er fast sogar das Sprechen selbst verlernt. In den Jahren 1647 und 1648 kehrte er nochmals nach Frankreich zurück; er unternahm sogar eine Reise ins Poitou. Eine berühmt gewordene Anekdote des Chevalier Méré, die man ohne jeden zwingenden Grund auf Pascal deutet, bezieht sich allem Anschein nach auf ihn. Es ist von einer Reise die Rede, an der ein großer Mathematiker, „der aber nur auf diesem Gebiete beschlagen

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war", teilnimmt. Es war „ein Mann im besten Alter", und er zeigte eine große Bewunderung für die Beredsamkeit und den Geist des Herrn du Vair.Nach Verlauf von einigen Tagen begriff der große Mathematiker schließlich die Existenz der Außenwelt und der Natur. „Seit dieser Reise", schließt Méré seinen Bericht, „verschwendete er keinen Gedanken mehr an die Mathematik, die ihn immer aufs tiefste beschäftigt hatte ; und das sah fast nach einer feierlichen Entsagung a u s . "

Tatsächlich kehrte Descartes der Mathematik den Rücken, denn bald darauf nahm er eine Einladung der Königin Christine an ihren Hof an. Seine ihm teuer gewordene Einsamkeit und seine Freiheit aufgebend, traf er in Stockholm im Oktober 1649 ein. Das strenge Klima und das launische Wesen der Königin untergruben seine Gesundheit. Er starb am 1 1 . Februar 1650: „Voller leidenschaftlicher Ungeduld, wie sein Biograph sagt, eine Wahrheit enthüllt zu sehen und ihrer teilhaft zu werden, die er sein ganzes Leben lang gesucht hatte." Das letzte Werk, das er hinterließ, ist keine philosophische Abhandlung, wohl aber ein in Versen abgefaßtes Ballett. Allerdings hat eres nicht selbst getanzt. So trat der Edelmann wieder zutage,der in seinerJugend in ihm steckte, und den der Gelehrte verdrängt hatte. Übrigens braucht man nur seine „Abhandlung über die Methode" und seine Briefe an Balzac zu lesen, um zu sehen, wie sehr er „Ehrenmann und Gesellschafter zu sein vermochte", wenn ihm nur daran lag. Selbst nach seinem Tode hat sich die merkwürdige Doppelanlage seines Charakters bezeugt: als seine Asche nach Paris überführt und in der Kirche Sainte-Geneviève beigesetzt wurde „auf dem höchst gelegenen Platz der S t r o w s k i , Wesen

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Hauptstadt und auf dem Gipfel der ersten Universität des Königreiches", schloß sich an die Trauerfeier ein schwelgerisches Gelage an, das in einem Freudentaumel inmitten der üppigsten Weine und der erlesensten Speisen endete. Nicht um einen Toten trauerte man; man feierte einen Gott. II Da es Descartes darum ging, eine umfassende Erkenntnis alles Seienden aufzubauen, mußte sein Ehrgeiz sich auch auf die für den Menschen wesentlichste Erkenntnis richten: auf die Erkenntnis des Menschen selbst. In dem Stolz und dem Selbstvertrauen des Gelehrten mußte er eine Philosophie des Menschen suchen, die die unantastbaren Merkmale der Wissenschaft aufwies. Er war, wie man wohl sagen darf, dazu verurteilt, ein neues Leitbild menschlicher Vollkommenheit zu schaffen — und zugleich eine neue Moral, die neben seiner Mathematik, seiner Physik und seiner Metaphysik bestehen konnte. Wir werden gleich sehen, daß er dieser Gefahr entging, und daß seine Moral der Du Vairs, Montaignes und des hl. Franz von Sales ähnlich blieb; immer noch verkörpert der „Ehrenmann" oder der „Edelmann" ihm das Urbild menschlicher Vollkommenheit. Tatsächlich versagt hier seine Methode; aber hier rächen sich die Wirklichkeit und das Leben. Descartes entschuldigt sich, daß er sich in die Zwangslage versetzt sähe, eine durchaus v o r l ä u f i g e Moral zu schaffen: denn, bevor er das Gebäude der Wissenschaft vollenden konnte, mußte er handeln. Er bedurfte sogleich gewisser Maximen für sein Leben.

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Diese Maximen bezeichnet er als vorläufig; aber besser würde man sagen, daß sie dem praktischen Leben entstammten, und daß sie der natürlichen Philosophie entsprächen, die sich aus der Zivilisationsstufe seines Zeitalters ergab, ja, daß sie in unmittelbarem Zusammenhange mit der Philosophie stünden, die von allen Gebildeten und Gutwilligen heimlich als solche anerkannt war. Die vier Maximen, die er formulierte, sollen hier folgen; so werden wir leicht unterscheiden können, wie er zu ihnen gekommen ist: „Die erste", sagt er, „war: den Gesetzen und Einrichtungen meines Vaterlandes zu gehorchen . . . in allen übrigen Dingen aber mich nach den gemäßigten Ansichten zu richten, die allen Extremen fernliegen und von den verständigsten meiner Gefährten geteilt werden."

Wird hier nicht der Geist Montaignes spürbar ? Die zweite Maxime „war, in meinen Handlungen so fest und beharrlich wie irgend möglich zu sein, und auch die zweifelhafteste, wenn ich mich ihr einmal zugewandt hatte, ebenso sicher und entschlossen festzuhalten, als wäre ich mir ganz gewiß darüber".

Diese Maxime stammt sicherlich nicht von Montaigne; aber ergänzt wird sie durch die folgende Bemerkung, der gewiß auch der Verfasser der „Essais" seine Zustimmung nicht versagt haben würde : „Es ist eine unantastbare Wahrheit, daß, wenn wir nicht zu erkennen vermögen, was wirklich das beste ist, wir am sichersten gehen, wenn wir das tun, was uns als das beste erscheint.. ."

Die dritte Maxime führt uns wieder durchaus zu Montaigne, zu Du Vair und zu Epiktet. ,J)ie dritte Maxime" — schreibt der Philosoph — „bestand in dem Versuch, lieber mich selbst als das Schicksal zu besiegen und eher meine 8*

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Wünsche als die Weltordnung zu ändern; überhaupt mich an den Gedanken zu gewöhnen, daß nichts als unser Gedanke ganz in unserer Gewalt i s t . . . " ,

was Descartes dem reinsten Stoizismus gemäß entwickelt: „Allein ich gestehe" — schreibt er zum Schluß—, „daß es langer Übung und wiederholten Nachdenkens bedarf, um sich an eine Betrachtung aller Dinge unter diesem Gesichtswinkel zu gewöhnen. Ich glaube auch, daß allein hierin das ganze Geheimnis jener Philosophen bestand, die sich einst der Macht des Schicksals zu entziehen wußten und trotz Schmerzen und Armut mit ihren Göttern Zwiesprache über das Glück halten konnten. Sie betrachteten stets die ihnen von der Natur gesetzten Schranken und kamen so zu der Überzeugung, daß nichts als ihre Gedanken in ihrer Macht stände, und daher gingen ihre Wünsche nicht übei diese hinaus, und sie erlangten solch unbedingte Gewalt über ihre Neigungen, daß sie mit vollem Recht sich für reicher, mächtiger, freier und glücklicher als die anderen hielten, die dieser Philosophie nicht anhingen und, wie sehr sie auch von der Natur und vom Geschick begünstigt sein mochten, dennoch nicht die Gewalt über den Willen hatten."

Die vierte Maxime ist Descartes durchaus eigen. Sie erklärt sich durch den grundlegenden Widerspruch, den wir in seiner naturhaften Anlage aufgewiesen haben, wo nämlich die Liebe zu allem Weltlichen mitunter mit seiner Liebe zur Wissenschaft in Konflikt geriet. Diese vierte Maxime behauptet ausdrücklich, damit man es nicht vergesse (denn man könnte es sehr wohl vergessen), den Primat der Wissenschaft und der Würde des Lebens im Geiste. .Schließlich", sagt er, „wog ich zur Vollendung dieser Moral die verschiedenen Beschäftigungen der Menschen in diesem Leben gegeneinander ab, um mir aus diesen die beste auszuwählen. Ich brauche meine Ansicht über die anderen hier nicht darzulegen und will nur sagen, daß ich für mich nichts Besseres fand, als die meinige fortzusetzen, d. h. mein ganzes Leben für die Ausbildung meiner Vernunft zu verwenden und nach der Methode, die ich für mich festgesetzt hatte, nach der Wahrheit zu forschen."

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Ich möchte hier die Bemerkung einfügen, daß Descartes sich noch auf Grundsätze beruft, die der Stoa durchaus vertraut waren, um diese vierte Maxime zu rechtfertigen, die nichts allgemein oder unbedingt Anerkanntes enthalten kann. Er behauptet tatsächlich, daß der Mensch nur durch seine Fortschritte in der Erkenntnis der Wahrheit aller der echten Güter teilhaft werden könne, die ihm zugänglich sind: „denn unser Wille wird lediglich durch den Verstand, der ihm etwas als gut oder schlecht darstellt, dazu bestimmt, dies zu erstreben oder zu meiden, und es wird daher genügen, immer richtig zu urteilen, um richtig zu handeln, und so richtig als möglich zu urteilen, um so richtig als möglich zu handeln; d. h. um alle Tugenden zugleich mit den anderen erreichbaren Gütern zu erlangen. Ist man davon überzeugt, so wird es an Zufriedenheit nicht fehlen."

So steht es mit der vorläufigen Moral Descartes', und man erkennt leicht, wie nahe sie der Moral der von der Stoa beeinflußten Humanisten steht, wie sehr sie an Montaigne erinnert. Nirgendwo spürt man hier den Mathematiker oder den Physiker. Allerdings bedürfte sie, um ganz auf der Höhe ihrer Zeit zu stehen, noch jenes unverkennbaren Tonfalls, der dem Edelmann eigen ist — einer gewissen adligen und ritterlichen Art, zu empfinden, einer gewissen Poesie und Hochherzigkeit. Zum Glück ist Descartes Zeitgenosse Corneilles : die „Abhandlung über die Methode" erschien im gleichen Jahre wie der „Cid". So werden wir gleich sehen, wie Descartes' Moral ihre Ergänzung findet, und wie sich in ihm die typische Empfindungsweise des Edelmannes wieder Geltung verschafft.

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Das geschah aus einem etwas romanhaften Anlaß. Im Mai 1643 wandte sich eine junge Prinzessin, die Tochter des Kurfürsten Friedrich I. von der Pfalz und die Nichte des unglücklichen Karls I. von England, mit einer Bitte an ihn: er möge ihr bei der Gestaltung ihres inneren Lebens beratend zur Seite stehen. Sie liebte die Wissenschaft, und zweifellos suchte sie zunächst Förderung auf diesem Gebiete, als sie sich an den Verfasser der „Meditationen" wandte. Aber sehr bald schon bildeten Fragen der Moral immer mehr das Hauptthema ihres Briefwechsels. Er gibt ihr Winke und Ratschläge, die der jungen Frau ein Leben voller Zufriedenheit, Heiterkeit und innerer Ruhe gewährleisten sollen. Er erläutert ihr Senecas Schrift „ D e vita beata". In der Zeit vom 21. Juli bis zum 6. Oktober 1645 schreibt er ihr in Form von sechs Briefen tatsächlich so etwas wie einen „Traktat" der Moral, wie er den Anforderungen entspricht, die das Leben an eine Prinzessin stellt. Welch hohe Vorstellung von der eigenen Person und deren großer Rolle damals ein König, ein Königssohn, die Tochter eines Fürsten besaßen, ist bekannt: man braucht bloß an die Rolle der Infantin im „Cid" zu denken. Während Descartes nur die im vierten Teil der „Abhandlung über die Methode" im Keim enthaltenen Gedankengänge weiter ausspinnt, verleiht er ihnen doch etwas von der Hoheit und dem Glanz, die den Menschen zukommen, die schon von ihrer Geburt aus nur zu großen Dingen bestimmt sind. Man hat von diesen Briefen gesagt, sie enthielten die endgültige Moral Descartes' ; in Wahrheit aber steht diese Moral in gar keinem Zusammenhang mit der Wissenschaft oder der Metaphysik des Cartesianismus.

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Ihre Gestalt empfing sie einzig und allein durch das philosophische Denken der Vergangenheit und durch das praktische Leben der Gegenwart. Aber konnte Descartes sich überhaupt zu einer anderen als einer bloß „vorläufigen" Moral bekennen ? III Wäre es ihm gelungen, eine endgültige Moral aufzustellen, wenn er nicht nach Schweden gegangen wäre und wenn er noch lange genug gelebt hätte, um sein System zu vollenden ? War seine vorläufige Moral nur eine vor-läufige Moral, die nämlich später durch eineend-gültige Moral ersetzt werden sollte ? Mit andern Worten: führte der Cartesianismus in direktem logischem Fortgang zu einer wissenschaftlichen Moral, und enthielt der gedankliche Ansatz Descartes' schon im Keim eine derartige Moral ? — Keineswegs 1 Trotz Spinoza und Malebranche ist der Versuch der Schüler Descartes' immer wieder gescheitert, aus der Lehre ihres Meisters in Fragen der Moral etwas anderes als die vier vorläufigen Grundsätze der „Abhandlung über die Methode" abzuleiten. Die Maximen zur Lebensführung sind ihnen immer wieder aus einer andern Quelle als der reinen Wissenschaft im Sinne Descartes' erwachsen. Und die, die das geistige Erbe des Meisters antraten und erweiterten, blieben gleich ihm in jedem einzelnen Falle auf eine jeweils vorläufige Moral angewiesen, und diese blieb immer alles in allem eine von der Beobachtung und von der Erfahrung ausgehende Moral: kurz eine Moral in der Weise Montaignes und in echt französischem Geiste !

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Der Grund dieses Versagens steckt schon in dem Prinzip der Methodik und der Theorie Descartes'. Dieser Methode gemäß muß man die schwierigeren Probleme zerlegen und allmählich bis zu den Elementen der Dinge und zu den einfachsten Begriffen herabsteigen, um dann durch möglichst erschöpfendes Zusammenfassen wieder zu dem Ausgangspunkt aufzusteigen. Daher die unbedingte Notwendigkeit einer strengen Gedankenverkettung, die in dem Fortgang des analytischen Abstiegs oder des synthetischen Aufstiegs keinem von außen kommenden Begriff oder Bestandteil einzudringen erlaubt. Dadurch, daß er dieses Verfahren mit unerbittlicher Strenge durchführte, hat Descartes der gesamten Erkenntnis eine Grundlage geschaffen. Er hat, wie wir es ausgedrückt haben, die räumliche Welt streng von der geistigen Welt gesondert: zum Wesen der räumlichen Welt hat er die Ausdehnung gemacht — als letzte Einheit; zum Wesen der geistigen Welt das Denken — als letzte Einheit. Indem er einerseits die Gesetze „des Denkens" erforschte, schuf er die Geisteswissenschaften; andererseits die der Ausdehnung, schuf er die Naturwissenschaften. Um nun jede Verwechslung oder jede Vermischung dieser Wissensgebiete untereinander zu vermeiden, ging er sogar so weit, die Tiere hypothetisch als Maschinen zu betrachten — eine dem gesunden Menschenverstand kraß widersprechende Theorie, die aber den Vorteil hat, daß sie die Tiere auf solch einfache letzte Einheiten zurückführt, daß sie sich schließlich nicht von den Steinen oder dem Wasser, einem Haus oder einer Pumpe unterscheiden — und die es jedenfalls ermöglicht, sich ihrer

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Erforschung zu widmen, ohne die große Zweiteilung der Wissenschaften zu durchbrechen. Aber keinesfalls kann der Mensch, gleich den Tieren, auf ein einfaches letztes Prinzip zurückgeführt werden. Als Körper gehört er der räumlichen Welt an — und damit dem Bereich der Ausdehnung, die den unverbrüchlichen Gesetzen unterliegt, wie sie die Geometrie und die Mechanik aufstellen. Als Geist unterliegt er den — höheren und nicht mechanisch bestimmenden — Gesetzen des Denkens. Der wirkliche Mensch ist nicht einerseits Seele, andererseits Körper in abstrakter Trennung und Überlagerung — nicht Geist, der nebenher noch einen Körper besäße : er stellt eine komplizierte Synthese, eine Verschmelzung des einen mit dem anderen dar. Denn Descartes hat es an sich selbst und an den anderen erfahren: der Körper wirkt auf die Seele, der Raum auf das Denken und umgekehrt. So erzählt uns der Philosoph, daß er von seiner Mutter einen trockenen Husten und eine bleiche Gesichtsfarbe vererbt bekommen habe, die er bis zu seinem 20. Lebensjahr behielt, und um derentwillen alle Ärzte, die ihn zu sehen bekamen, ihm einen frühen Tod voraussagten: „aber", fugt er dann hinzu, „ich glaube, daß das mir seit jeher eigene Bestreben, alles, was mir zustieß, daraufhin zu betrachten, wie es mir Zum Besten geraten könnte, und überhaupt mein g a n z e s inneres W o h l b e f i n d e n nur v o n m i r selbst a b h ä n g i g sein zu l a s s e n , die Ursache ist, daß diese mir gleichsam von der Natur mitgegebene Anfälligkeit sich allmählich ganz und gar verloren hat".

Die eigene Erfahrung also hat ihn gelehrt, wie sehr trotz ihrer Grundverschiedenheit der Geist auf den Körper, „das Denken" auf „die Ausdehnung" zu wirken vermag. Umgekehrt hatte er aber auch, wie man aus

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seinem „Traktat über die Leidenschaften" ersehen kann, vollkommen klar erkannt, wie ausschlaggebend der Einfluß des Körpers auf den Geist und „der Ausdehnung" auf „das Denken" sein kann. Der Mensch war für ihn also ein kompliziertes Wesen, und wenn er unter eigenen Gesetzen stehen sollte, so konnten das weder die Gesetze der Ausdehnung sein, da diese keinesfalls dem Geiste gegenüber Geltung haben können, noch auch die des Geistes, da diese sich keinesfalls auf die Ausdehnung anwenden lassen. Der Mensch muß also unter nur ihm eigenen Gesetzen stehen, wie man diese nun auch auffassen und in Worte fassen mag; sie sind in sich so komplex, daß nach meiner Überzeugung Descartes sie sich nur unter dem Gesichtspunkt der Freiheit vorstellen konnte, daß aber seine Methode jedenfalls vor ihnen versagen mußte. Tatsächlich ist es unverkennbar, daß hier der Cartesianismus, nämlich die Wissenschaft als solche, Schiffbruch leiden muß. Da sie ihrem Wesen nach auf Trennung und Analyse aus ist, um zu den einfachsten Elementen zu gelangen, und da sie andererseits im Wesen des Menschen etwas letzthin Unauflösliches, erblickt, so muß sie diesem letzteren gegenüber sich bescheiden, da sie sonst dieses oder sich selbst zerstören würde. Ließe sich der Mensch, wie das Tier, als „Maschine" erklären oder aber, wie der Engel, als reiner Geist, dann ließe sich die Moral in methodischem Fortgang von der reinen theoretischen Erkenntnis aus ableiten; dann gäbe es eine endgültige Moral. Da das aber nun nicht möglich ist, müssen sich der Forscher und der Philosoph wohl oder übel auf das stützen, was die Erfahrung, der gesunde Menschenverstand, das Leben, die Gewohnheiten, das Fingerspitzengefühl ihnen als den

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besten Weg offenbaren, auf dem sich für die Willenskraft des Menschen, für sein moralisches Empfinden, sein Herz und selbst seinen Geist das Höchstmaß an Glück und Seelenfrieden sichern läßt; ein Höchstmaß an Leistungsfähigkeit und innerer Kraft, wie auch an Seelenadel, das am ehesten jenem Ideal von Edelsinn, Mut und Unantastbarkeit entspricht, wie es sich in den Menschen offenbart, die man seit je aufs tiefste geliebt und verehrt hat. Somit stellt sich in der Zeit Descartes' und für seine Art, zu sehen, immer noch der Humanismus als Urbild der bisher erreichten und in Zukunft erreichbaren Lebensweisheit dar — allerdings ein hochgearteter, ein wenig weltlich, ja höfisch angehauchter Humanismus. Und eben darum gibt Descartes dem großen, grundlegenden Aufriß seiner Erkenntnistheorie die Form, in der ein Mann der Gesellschaft plaudern würde. Darum auch konnte sich seine Liebe zur Einsamkeit, in der er sich, fern der Gesellschaft, der Wissenschaft widmete, durchaus der Schwäche gesellen, die ihn noch an seinem Lebensabend an den Hof einer Königin führte, die ihm die Abfassung von Ballett-Texten auftrug. Und darum vor allem steht seine Moral aller bisherigen Moral so nahe, während er doch im Gegenteil auf dem Gebiete der Wissenschaft und der Philosophie die Welt und die Zeit ein für allemal in zwei Perioden gleichsam auseinandergebrochen hat — und zwar so, daß die zweite von der ersten in Zukunft nichts mehr zu lernen vermöchte. Descartes' Genie schuf so die stolzeste, die strengste und die umwälzendste Wissenschaft, von der man bisher weiß, und hat doch nur den dem französischen Moralismus eigenen Hang zur Erfahrung und zur Wirklichkeit bestätigen und bestärken können.

ABSCHNITT VII

LA ROCHEFOUCAULD UND DIE WELTLICHKEIT Die Höflichkeit ist eine bezaubernde und unentbehrliche Eigenschaft: sie macht in einem gewissen Maße alle anderen entbehrlich, weil sie sie nachahmt oder sie vortäuscht. Ein wahrhaft höflicher Mensch verbirgt das, was er an Gewaltsamkeit und Leidenschaft, an Befangenheit und Kummer etwa in sich bergen mag; er spricht, er benimmt sich so, als wäre das Leben leicht und problemlos. Er behandelt die, denen er begegnet, als wären auch sie ohne Fehler oder wenigstens ohne erniedrigende und störende Fehler. Eine von der Konvention bestimmte Sprache, die die Härten des „ I c h " abschleift, läßt den höflichen Menschen über die niedrigen, demütigenden, grausamen Notwendigkeiten des Lebens hinwegsehen. Streng genommen gibt man dabei genau zu verstehen, was man sagen will, aber man sagt es nicht: „Die Höflichkeit, schreibt La Bruyère, führt nicht immer zur Güte, Rechtlichkeit, Gefälligkeit, Dankbarkeit; aber sie erweckt wenigstens den Anschein ihres Vorhandenseins und läßt den äußeren Menschen so erscheinen, wie der innere beschaffen sein sollte." Der Geist der Höflichkeit ist überall derselbe, aber die Erscheinungsweisen der Höflichkeit unterscheiden sich

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je nach den Ländern, den Klassen und den einzelnen Menschen. Sie sind nicht dieselben bei den Bauern wie bei den Arbeitern und bei den Bürgern. Sie waren nicht die gleichen in Rom und in Griechenland. Die Höflichkeit ist immer unentbehrlich, sogar im Familienleben, sogar und vor allem im Familienleben. Aber diese unentbehrliche und allgemein gültige Eigenschaft kann ihrerseits leicht eine systematische und unheilvolle Verbildung der Idee des Menschen 2ur Folge haben, sobald ein Kreis von Menschen, sobald die Mode oder die Literatur diese Neigung, alles schönzufärben, aufgreifen, ihr systematische Lügen hinzufügen und aus ihr eine wahre Weltanschauung machen wollen. Von da an entsteht eine Art Scholastik der Weltlichkeit, die ganz und gar jener Scholastik entspricht, die das letzte Reifestadium des Humanismus oder der Religion oder der Wissenschaft kennzeichnet. Zu diesem Vorgang kam es zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Diese an Irrtümern und Wahrheiten so reiche Epoche, in der sich die wahrhaftige Erkenntnis des inneren Menschen gleichsam gegen den Strom durchsetzte, sah auch eine optimistische Verfälschung des Menschen entstehen — eine Auffassung, die in der Gesellschaft und im geselligen Gespräch ihre Stütze fand und durch eine gewisse epidemisch gewordene Heuchelei ein unvorstellbares Musterbild menschlicher Vollkommenheit zu schaffen bestrebt war. A m Beginn dieses Irrweges steht ein großes Buch, der Roman „Asträa". Durch die Erfindung einer bezaubernden Welt der vollkommenen Liebe und dichterisch verklärten Zärtlichkeit

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VII. La Rochefoucauld und die Weltlichkeit

hatte dieser berühmte Roman in den aufgeklärten Franzosen die Neigung erweckt, sich ein zu sehr auf Rührung und Harmonie abgestimmtes Bild vom Leben und von der Natur zu machen. Dort gibt es nur Schäfer und Schäferinnen, dort sind alle glücklich oder unglücklich, je nachdem sie mehr oder weniger frei durch demütigste Verehrung dem oder der angebeteten Schönen dienstbar sein können. Selbst die Unbeständigen, wie Hylas, selbst die Gewaltmenschen, wie Valentinian, erscheinen dort auf Kosten der Wirklichkeit als vollendete Muster der Höflichkeit; immer liegen sie auf den Knien, selbst wenn sie scheinbar laufen. Ihren „Unvollkommenheiten" muß man die ganze engelhafte Vollkommenheit Céladons gegenüberstellen und all die Tränen, die er in Gedanken an die Göttin Asträa am Fuße des Gebirges von Cervières vergoß, um gewahr zu werden, daß sie keineswegs vollkommen sind, und daß d'Urfé ihnen einen minderen Rang zugewiesen hat. Die Wölfe, die d'Urfé in seiner Schäferwelt auftreten läßt, sind in Wahrheit nur die zartesten Schafe und die unschuldigsten Lämmer. Aber warum sollte man bei einer Phantasieschöpfung ohne jede Wirklichkeit von „Wahrheit" sprechen ? Dennoch sollte sich das 17. Jahrhundert durchaus nicht in einer Schäferwelt verlieren; seine ersten Jahrzehnte sollten zu sehr von Schlachten, erbitterten Auseinandersetzungen und grausamen Abenteuern erfüllt sein, als daß es sich stets nach Art der Lämmer und Schafe hätte gebärden können; zuviel Krieg und Elend, Verschwörungen und Intrigen standen ihm bevor ! So konnten sich die Welt und die Literatur nicht mit den Hirtenstäben und den Strohhütten Céladons und Asträas abfinden; man bedurfte der Helden unter Männern

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und Frauen, und die Hirtenwelt sollte durch die Welt der „Preziösen" ersetzt werden. Die „Preziosität", wie sie im Hotel de Rambouillet aufblühte, erfordert tatsächlich Heroismus und Seelenkraft. Céladon begnügte sich mit seinen Tränen und mit seiner Liebe; der große Condé sollte die Schlacht von Rocroy gewinnen. Asträa ist ein empfindsames und stolzes, aber zartes und furchtsames Mädchen; die Freundinnen der Catherina von Vivonne, die weiblichen Stammgäste des „Blauen Salons" sollten lernen, ein Pferd zu besteigen, um einem Geliebten nachzusetzen oder eine Verschwörung mit Erfolg durchzuführen. Diese Frauen sollten imstande sein, eine Kanone abzufeuern. Sie sollten Amazonen und durchaus keine Schäferinnen sein. Indessen sollten, von anderen Gesichtspunkten aus, diese Helden und diese Heldinnen trotz ihrer Unerschrockenheit noch ätherischer und vollkommener sein als die Gestalten der „Asträa", da ihre Körper und ihre Seelen das merkwürdige Vorrecht genossen, nicht mehr an der Erde zu haften. Es sind Geschöpfe, bei denen die irdischen Sorgen keine Rolle spielen; sie essen nicht und trinken nicht. Sie trachten nicht danach, ihr Glück zu machen; Reichtum und Armut existieren für sie nicht: die irdische Seite des Daseins ist aus ihrem Leben verschwunden. In der Liebe sind die Frauen voller Leidenschaft und die Männer voller Treue. Sie sterben vor Liebe, aber recht geduldig. Ein altes Liedchen, das zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Großmütter ihren Enkelinnen vorsangen, und das damals mindestens 150 Jahre alt sein mußte, drückt das sehr anmutig aus: „ M e s enfants, tout dégénère, Croyez-en votre grand'mère:

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VII. La Rochefoucauld und die Weltlichkeit Feu le marquis, votre grand-père, Me fit la cour pendant trente ans Sans m'avouer ses sentiments Brûlants."

Die Frauen sind Löwinnen und Tigerinnen; die Männer huldigen ihnen zwischen zwei Verschwörungen und zwei Madrigalen, ohne es jemals müde zu werden, Verschwörungen anzustiften, Madrigale zu dichten, zu lieben und ohne alle Hof&iung zu hoffen. Doch möchte ich gleich bemerken, daß in Wirklichkeit die menschliche Natur sich noch so spreizen mochte — sie blieb doch, damals wie heute, die armselige menschliche Natur. „Auch auf Stelzen, sagte Montaigne, muß man immer noch mit seinen Beinen gehen." In jener Zeit tat man so, als verwechselte man die Stelzen mit den Beinen. Aber was damals wie ein Spiel aussah und wie eine Bühnenillusion für die im Hotel de Rambouillet vereinigte Elite der Gesellschaft, sollte bald darauf zu einer verhängnisvollen Mode werden. Das von Eitelkeit geschwellte Verlangen, den edelsten Geistern Frankreichs zu gleichen, sollte allen Cathos, allen Madeions und allen Mascarilles zu Kopfe steigen. Die Lektüre der Romane der Mlle de Scudéry, La Caprenèdes und Gombervilles erweckte in den staunenden Lesern die Vorstellung, daß alles sich immer so abgespielt habe und fürderhin immer so abspielen sollte, wie in der „preziösen" Gesellschaft. Schließlich nahmen die Philosophen und die Moralisten selbst, genau so wie die Dichter und die Romanschreiber, wie auch die Damen der großen Welt, die Bürgertöchter und die großen Herren die Gewohnheit an, als höchste Erscheinungsform menschlichen

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Wertes, als reinste Quelle des Genusses und der Tugend diese künstliche und zerbrechliche Welt zu betrachten, in der man nichts von den Härten des Geschickes und nichts von den menschlichen Leidenschaften zu befürchten hatte. So entstand etwas wie ein allgemeiner Optimismus, der immer mehr um sich griff, ein falsches, nicht nach dem Antlitz des Menschen, sondern nach irgendeiner künstlichen Maske geprägtes Gesicht. Ich brauche hier nicht bei den Gefahren dieser Bewegung zu verweilen — einer weniger sonderbaren und weniger widersinnigen Bewegung, als man glauben sollte. Weder Selbstsucht noch Bosheit noch eigennützige Gesichtspunkte werden durch diese Art von „Höflichkeit" ausgeschaltet; im Gegenteil, sie bietet ihnen eine Stütze und gewährt ihnen die Freiheit, sich gleichsam im Schatten auszuleben. Und dann steht nichts in krasserem Widerspruch zu der Wahrheit oder zu der Wirklichkeit. Daher hat derjenige, der inmitten dieser „preziösen" Männer und Frauen die brokatenen und goldverbrämten Vorhänge zerriß und in vollem Tageslichte sehen ließ, wie das Menschenherz beschaffen ist, seiner Zeit einen Dienst erwiesen — und damit zugleich auch allen Zeiten. Charles Andler hat in seinem gelehrten und vornehmen Werk über Nietzsche einige Ansichten des deutschen Philosophen über die französischen Moralisten angeführt. Am meisten bewundert Nietzsche bei unseren Denkern, daß sie aufrichtig und ohne Heuchelei waren: der allzuleicht zum Bürgerlichen und Empfindsamen neigende deutsche Geist ließ ihm diesen gallischen Freimut vielleicht noch kostbarer erscheinen. Nietzsche hat dort seinen eigenen Geist wiederentdeckt. Er sagte von ihnen gern, sie entS t r o w s k i , Wesen

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VII. La Rochefoucauld und die Weltlichkeit

hielten mehr echte Gedanken, als alle Bücher aller Metaphysiker seines Landes zusammen. Er wünschte, daß man sie läse, um sich von einer gewissen Unreife freizumachen, die den Blick auf das Wirkliche verstellt, und von einer Art schlaffer Eitelkeit, die jede strenge Arbeit des Menschen an sich selbst behindert. Der Chorführer dieser großen französischen Moralisten, die die Menschheit reifer machen, ist La Rochefoucauld. I La Rochefoucauld ist unter den „großen Herren" der französischen Literatur der größte. In jeder Hinsicht ist er ein sehr großer Herr. Bei seiner Taufe war der diensttuende Priester ein Bischof, sein Onkel; der Taufzeuge war ein Kardinal, ein anderer Onkel. Sein Urgroßvater war Taufzeuge Franz I. gewesen, und er selbst hat von seiner Familie gesagt, „daß sie die erlauchteste, vornehmste, größte und älteste der Provinz de Saintonge und d'Angoumois war". „Ich bin in der Lage", sagte er gern, „es zu rechtfertigen, daß seit drei Jahrhunderten die Könige es nicht verschmäht haben, uns als Verwandte zu behandeln." Für einen Menschen dieser Gesellschaftsklasse wird es schwierig sein, sich in die Klasse der Schriftsteller einzureihen. Er wird, wenn er zur Feder greift, versuchen müssen, vornehme und stolze Wendungen zu finden, die nichts Literatenhaftes an sich haben. Man entsinnt sich dessen, was Montaigne über jenen „Logikus" sagte, bei dem man sich nach dem Edelmann erkundigte, der hinter ihm schritt; der biedere Mann, der glaubte, daß man von einem seiner Genossen spräche, antwortete scherzhaft: „Das ist kein Edelmann; er ist ein Grammati-

VII. La Rochefoucauld und die Weltlichkeit

kus, und ich bin ein Logikus."Der Edelmann nun, der tatsächlich hinter ihnen herging, war „Monsieur le Comte de La Rochefoucauld". Selbst auf den öffentlichen Straßen läßt sich ein La Rochefoucauld nicht mit den Männern der Schule oder den Männern der Feder, mit den Grammatikern oder den Logikern verwechseln ! Bei einem La Rochefoucauld mußte selbst der Gedanke einen gewissen Akzent haben, der es verhinderte, ihn mit den Gedanken des gewöhnlichen Menschen zu verwechseln. So sollte selbst neben solch echten Edelmännern wie Montaigne, Descartes oder Pascal einem La Rochefoucauld ein anderer Horizont eigen sein, andere Erfahrungen, eine andere Art sich zu geben und ein anderer Stil ! Der künftige Verfasser der „Maximen" wuchs auf dem Lande auf, auf der Domaine von Verteuil, inmitten jenes Parkes de la Tremblaye, der einem ungeheuren Urwalde glich. Offenbar hat er nicht viel Studien getrieben, aber er las viele Romane; damals begeisterte er sich für die „Asträa", der er sein ganzes Leben lang in der Phantasie treu bleiben sollte, wenn sich auch sein Herz und sein Geist sehr bald von ihr abwenden sollten. Mit 15 Jahren heiratete er, dann kam er an den Hof; dort nahm er Dienste und machte einen Feldzug mit. Wir werden ihn oft im Heere wiederfinden, wo er immer durchaus seinen Mann stehen wird, aber ohne jene unmittelbare Begeisterung, die ein Zeichen tieferer Berufung ist. So hat man sagen können, daß er „ein geborener Soldat war", aber daß er niemals ein richtiger „Krieger" gewesen sei. Sein Leben wäre glücklich verlaufen, wäre er im Dienst geblieben. Er wußte um die belebende Kraft des kriegerischen Daseins ; er hatte bemerkt, daß sich die bürger9*

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liehe Atmosphäre dabei verliert, während der Hof sich doch niemals ganz davon freimachen kann. Aber es drängte ihn, in die Nähe des Königs und der Königin zurückzukehren, und da setzte sein Mißgeschick ein. Sein romantischer Geist hatte ihn für die Königin Partei ergreifen lassen, gegen Richelieu und sogar gegen den König. Übrigens hatte er sich als alter Leser der „Asträa" durch jene Herzogin de Chevreuse bezaubern lassen, von der uns Richelieu berichtet: „Sie besaß einen starken Geist, eine eindrucksvolle Schönheit, von der sie guten Gebrauch zu machen verstand — dabei ließ sie sich durch keinerlei Mißgeschick entmutigen und bewahrte sich stets die gleiche überlegene Haltung." Dieser tatkräftigen Frau, die er liebte, schloß er sich bei all den Verschwörungen an, die sie anstiftete; dabei setzte er seinen Kopf aufs Spiel. Jedenfalls mußte er, als im Jahre 1637 Mmc de Chevreuse aus Frankreich fliehen mußte, sich selbst nach Verteuil zurückziehen, wo er sich mit seinen Pferden und mit seinen Hunden zu trösten versuchte. Der Tod Richelieus und der Ludwigs XIII., die Thronbesteigung der Königin als Regentin hätten La Rochefoucauld eigentlich zur Macht zurückführen müssen. Aber auch nach seinem Tode dauerte Richelieus Herrschaft noch an. Er erstreckte seinen Machtbereich sogar auf das Herz der jungen Königin, und zwar in der Gestalt seines Schülers, seines Dieners und seines Nachfolgers: Mazarins. Die Königin bezeugte La Rochefoucauld wenigstens in ihren Worten ihre allerbesten Absichten. Aber in Wirklichkeit gewährte sie ihm keinerlei Huld, keinen wirklichen Gunstbeweis, keine Macht.

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Bald bedrückte sie offenbar schon die Gegenwart ihres einstigen Anhängers, und La Rochefoucauld empfing so seine erste Lehre im Undank und Vergessen. Sie war allzu bitter und brutal. Er hatte Gelegenheit, das, was man ihm in Zeiten der Gefahr, als er sein Vermögen, seine Freiheit und sein Leben einsetzte, versprochen hatte, mit dem zu vergleichen, was er in Zeiten des Ruhmes und des Triumphes erhielt — nämlich mit der Ungnade. Während er so die ganze Bitterkeit des Undankes zu kosten bekam, machte er eine neue Schule der Liebe durch. Er verband sich mit der schönen Herzogin de Longueville. Eine — wenigstens seitens der Herzogin — sehr heftige Liebe verband sie für einige Jahre miteinander: in der gleichen Politik und in der gleichen Erbitterung, vielleicht auch in dem gleichen Ehrgeiz. So schreibt sie zum Beispiel: ,,Ich sei.wöre Ihnen wenigstens, daß diese Ihre Güte ihre Wirkung, und zwar eine sehr zarte Wirkung, auf mein Herz nicht verfehlt, daß sie mich Ihnen tiefer verbindet, als ich es jemals mir selbst gewesen bin, und ich bin entzückt, daß ich nun ebensosehr durch Verpflichtung dort heimisch bin, als ich es zuerst durch Neigung war, und daß ich schließlich durch eine so innige Gemeinsamkeit dort beheimatet bin, daß einzig und allein der Tod sie zerstören könnte."

Ein andermal sagt sie am Schlüsse eines Briefes : „Adieu, ich werde für Sie leben und sterben." Aber die schönen Leidenschaften dauern nicht so lange, wie man es gerne wünschte. „Das Herz ist nicht so reich, daß es immer zu lieben und immer zu weinen vermöchte", sollte La Bruyère später sagen. Für den Augenblick liebt La Rochefoucauld so stark, wie es seine Natur verträgt. Und als sich die Herzogin, ihrem Bruder, dem großen

VII. La Rochefoucauld und die Wdtlichkeit 134 Condé folgend, der Fronde anschloß, tat er seinerseits das gleiche. Dies hätte er zweifellos nicht getan, nur um sich für den erfahrenen Undank zu rächen; aber er zögerte nicht, es zu tun, wenn es galt, der Frau zu folgen, die er liebte. Das an Intrigen und Abenteuern reiche Leben, das er einige Monate lang führte, hätte ihn entflammen und begeistern müssen. Aber er war von zu unruhiger Wesensart, und zu schnell überkam ihn der Ekel an allem. Er lebte in ständiger Unentschlossenheit. Nach dem hübschen Wort des Kardinals de Retz litt er an „einer gewohnheitsmäßigen Unentschlossenheit". Er selbst gab zu, daß er wenig ehrgeizig, wenig neugierig und nicht sehr leidenschaftlich war und zu einer gewissen Schwermut neigte. Das sind ungünstige Vorbedingungen für einen Menschen, der gegen seinen Fürsten Verschwörungen anzettelt und Krieg führt. Und obgleich La Rochefoucauld in der Fronde durchaus seinen Mann stand, verließ ihn die Begeisterung doch bald, um so mehr, als die von ihm vernachlässigte Mme de Longueville sich inzwischen von Nemours den Hof machen ließ. Um ihn ganz und gar auf sich zurückzuwerfen und ihn völlig zu ernüchtern, dazu bedurfte es nur eines körperlichen Mißgeschickes; dieses sollte ihn nur allzu bald ereilen. In dem Entscheidungskampf, zu dem die Frondeure sich stellten, und den sie verloren, wurde er im Gesicht verwundet. Das Hohe Fräulein, das an jenem Tage das Geschick Frankreichs entschied, hat uns eine Schilderung des unglücklichen Mannes hinterlassen: „In der Straße de la Tixeranderie bot sich mir der schrecklichste Anblick, der sich vorstellen läßt: ich sah den Herzog de la Rochefoucauld, der einen Musketenschuß abbekommen hatte, der ihm den Winkel des einen

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Auges wegriß und durch das ándete herausging... derart, daß beide Augen verletzt waren; es sah so aus, als fielen sie ihm aus den Augenhöhlen, soviel Blut verlor er dabei. Sein ganzes Gesicht war voll davon, und obendrein holte er fortwährend schwer Atem, als wenn er befürchtete, das Blut, das ihm in den Mund drang, könnte ihn ersticken. Sein Sohn hielt ihn an der Hand und Gourville an der anderen, denn er konnte überhaupt nichts sehen. Er war zu Pferde und trug ein weißes Wams, ebenso wie die, die ihn führten, die gleichfalls, wie er, mit Blut überströmt waren. Sie zerflossen in Tränen; denn als ich ihn in diesem Zustande sah, hätte auch ich niemals geglaubt, daß er das hätte überstehen können. Ich hielt an, um mit ihm zu sprechen, aber er gab mir keine Antwort; er konnte mich bestenfalls grade noch verstehen."

Dieses letzte Erlebnis und diese letzte Niederlage gaben La Rochefoucauld den Rest. Während seine alten Freunde, der Prinz von Condé und M me de Longueville, ihrem Glück oder ihrem Unglück nachgingen, suchte er, jeglichem Ehrgeiz Lebewohl sagend, nur noch die äußere und die innere Ruhe. Bevor wir ihm dorthin folgen, wollen wir das entscheidende Merkmal seiner Lebenserfahrungen herausstellen. Er suchte sie in einer Welt, zu der die Moralisten sonst kaum Zutritt haben. Dort sind die Leidenschaften eindeutiger. Mit den unmittelbaren Lebensbedürfnissen geben sich die Menschen dort nicht ab. Das Herz ist der Alltagssorgen ledig und kann sich ganz und gar ohne Ablenkung seinen Empfindungen hingeben. Die kleinlichen, niederen und eigennützigen Gesichtspunkte finden dort keine Entschuldigung, ja sogar keinen Raum. Alles erscheint dort in vornehmeren und größeren Ausmaßen, selbst die Ruchlosigkeit. Ein großer Herr hat als schlechter Mensch andere Allüren, als ein bürgerlicher Schurke. Dort, unter diesen so hochstehenden und so stolzen, so ungestümen und so unzugänglichen Persönlichkeiten lernte La Rochefoucauld den Menschen kennen. Folglich

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mußte er, so scheint es, sich von ihm eine höhere Vorstellung machen, ähnlich der, die man von den Gestalten eines Trauerspiels besitzt. Ganz im Gegenteil werden wir gleich feststellen, daß er die Erbärmlichkeit der Menschen zu durchschauen verstand, und daß er sich nicht durch den Hochmut der großen Welt täuschen ließ. II Bei der Marquise de Sablé fand er Sammlung; dort arbeitete er seine Moralphilosophie im einzelnen aus. Die Marquise de Sablé war damals 60 Jahre alt; sie hatte sich kürzlich bekehrt und wohnte in Paris in der Nähe des Klosters von Port-Royal in einem Wohnhaus, das sie sich mit einer unmittelbaren Verbindung zum Kloster hatte bauen lassen. Immer mit ihrer Gesundheit beschäftigt und ständig in schrecklicher Angst vor dem Tod, sah sie gerne Ärzte bei sich: unter anderen Menjot, der Protestant oder vielmehr Freigeist war, und den Doktor Vallan, der Pascal während seiner letzten Krankheit behandelte. Auch Gelehrte wie Rohault fanden sich dort ein, oder große Herren, wie der Marquis de Sourdis, die selbst wissenschaftlich arbeiteten. Im Jahre 1660 hielt dieser Marquis de Sourdis eines Tages einen Vortrag über die „Capillarität", die man soeben entdeckt hatte, und die zu Pascals Theorien über das „Equilibre des liqueurs" in krassem Widerspruch zu stehen schien. Die Theologen von Port-Royal verkehrten dort gleichfalls. Wenigstens las man dort ihre Schriften, und man wandte sich mehr als einmal an die Marquise, damit sie in den wissenschaftlichen Fehden dieser Herren die Vermittlerin spiele. Mère

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Angélique stand in regelmäßigem Briefwechsel mit der Marquise; und um dies Port-Royal betreffende Kapitel abzuschließen, möchte ich noch erwähnen, daß Pascal in dem Salon der M rae de Sablé großes Ansehen genoß, und daß er in ihrem Herzen und in ihrem Geiste vielleicht mehr Raum einnahm, als La Rochefoucauld selbst, wenn ich nach einem Briefe urteilen darf, in dem Mère Agnès die Marquise zu trösten versucht, die soeben den Tod ihres jungen Freundes erfahren hatte. Somit besaß sie also einen Salon, der sich von denen der „Preziösen" durchaus unterschied. Die Wissenschaft spielte dort ihre Rolle, ebenso wie die Politik, die Theologie, die Moral und die Psychologie. Man scheute sich dort nicht, auch von den irdischen Bedürfnissen und sogar Genüssen zu sprechen; und bei der Übersendung der Maximen an die Marquise glaubte La Rochefoucauld sich nichts zu vergeben, wenn er sie um „eine Mohrrübensuppe, ein Hammelragout grüne Soße und einen Kapaun mit Backpflaumen" bat, was beweist, daß er nicht reiner Geist war, daß er einen Magen und eine höchst leibhaftige Wirklichkeit besaß. Bei M me de Sablé vernachlässigte man — immer auf dem laufenden — keineswegs die Literatur, aber man verabscheute die gewöhnliche und leichte Literatur und sogar die der höheren Gesellschaft, auch wenn sie ersten Ranges war. Anderswo unterhielt man sich damit, „Charakterbilder" zu entwerfen; bei M me de Sablé brachte man lieber als „Charakterbilder" die Lebensweisheit und die Erfahrung in möglichst knappe und hochfahrende Formeln: man schrieb Maximen. Für den großen Herren, der La Rochefoucauld war, konnte es kaum mehr als zwei literarische Gattungen

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geben, in denen er sich schriftstellerisch betätigen durfte, ohne sich etwas zu vergeben; entweder Memoiren, die vergangenes Leben wiedererwecken und die geheimsten Antriebe einer menschlichen Individualität aufdecken, oder aber „Maximen", die etwas Endgültiges, Gebieterisches und Distanziertes haben, wie die Gesetzesformeln. La Rochefoucauld hatte bereits Memoiren geschrieben; so blieb ihm nur noch übrig, Maximen zu schreiben; das tat er mit jenem Sinn für Stil, jener tiefen Kenntnis der Sprache, jener Knappheit und glänzenden Schlagkraft, die die besonderen Merkmale seines schriftstellerischen Genius waren. III In seinen „Maximen" stellte er zunächst ein ganzes System auf, das, wie alle Systeme, nicht leicht widerlegt werden kann, denn es ist vollkommen geschlossen und voller Logik und liefert eine sehr einleuchtende Erklärung der Dinge. Aber es ist nicht weniger hinfällig als die anderen großen „Standpunkte" : man braucht nur einen Gesichtspunkt zu ändern — und schon ist man völlig außerstande, es zu verstehen. Der Grundsatz dieses Systems ist der, daß das Handeln der Menschen lediglich dadurch bestimmt wird, daß sie an sich denken und immer wieder voller Selbstsucht auf sich zurückkommen. Alle Tugenden münden nach La Rochefoucauld in das eigene Interesse, wie die Flüsse ins Meer — obgleich unsere Eitelkeit ihnen gern Selbstlosigkeit als Triebfeder unterschiebt. Dieser Systemgeist ist gleichsam eine „Preziosität" mit

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umgekehrten Vorzeichen, aber er bleibt doch eben „preziös". Hätte La Rochefoucaulds Beitrag nur darin bestanden, so wäre sein historischer Rang ziemlich bescheiden geblieben. Aber wie schon Viktor Delbos im Falle Spinozas bemerkte: nicht die Systeme bleiben lebendig; wohl aber die Erfahrungen, auf die sie sich gründen, und die jeweilige menschliche Haltung, der sie Ausdruck verleihen. Durch seine Erfahrungen und durch seine Haltung sollte La Rochefoucauld bei Lebzeiten Wirkung ausüben und nach seinem Tode lebendig bleiben. Gehen wir die „Maximen" im einzelnen durch; was kennzeichnet sie vor allem ? Das Gegenteil dessen, woran der Geist der „Preziösen" glaubt; das Gegenteil jener Schönfärberei ins Heroische und Allzuedle, in die Gefühlswelt der ewigen Schäfer und Liebenden, in der die damalige Modeliteratur den Naturzustand und die wahre Lage des Menschen erkennen möchte. Zum Beispiel erblicken die Maximen dort, wo der „Preziose" sich die Gestalt des „Helden" ausmalt, nichts wie Schwäche und Mittelmäßigkeit. Sie lassen die Selbsttäuschung der Kraft und des Willens in Nichts zergehen: „Wir haben nicht Kraft genug, unserer ganzen Vernunft zu folgen." „Schwäche ist der einzige Fehler, den man nicht verbessern kann." „Schwäche ist der Tugend entgegengesetzter als Laster." „Während Trägheit und Furcht uns bei unserer Pflicht erhalten, hat unsere Tugend doch oft die ganze Ehre davon."

Der „Preziose" ist auf seine Heldentaten und auf sein Mißgeschick stolz; La Rochefoucauld versetzt diesem Stolz einen vernichtenden Stoß.

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„Man ist niemals so glücklich oder so unglücklich, wie man sich einbildet."

Er stellt einen neuen Menschentypus heraus, dem die „Preziösen" nie Beachtung schenken wollten: den Dummen. „Ein Dummkopf hat nicht das Zeug dazu, gut zu sein." „Man ist bisweilen ein Dummkopf mit Geist, niemals aber einer von Verstand." „Ein rechter Mann kann wie ein Narr verliebt sein, aber nicht wie ein Dummkopf."

In den Leidenschaften, in denen die „Preziösen" eine gewisse Größe und adlige Haltung verkörpert sehen wollten (man vergleiche die — fälschlich Pascal zugesprochene — „Abhandlung über die Leidenschaften der Liebe"), erkennt er lediglich Schwäche und bloße Dürftigkeit. In krassem Widerspruch zugleich zu den „Preziösen", den Stoikern und den Anhängern Descartes' schreibt er: „Die Dauer unserer Leidenschaften hängt nicht mehr von uns ab, als die Dauer unseres Lebens."

Dem Weisen, der sich brüstet, von den Leidenschaften geheilt zu sein, antwortet er: „Der Gleichmut der Weisen ist nichts weiter wie die Kunst, ihre Erregung in ihren Herzen zu verschließen."

Und die Tugend der Frauen, auf die sich die „Preziösen" soviel zugute tun, erklärt er lediglich aus ihrem Temperament oder aus ihrer Furchtsamkeit: „Eitelkeit, Scham und vor allem das Temperament — der Mut der Männer und die Tugend der Weiber." „Es gibt wenig ehrbare Frauen — die ihres Handwerks nicht müde wären."

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Vor allem in den Maximen über die Liebe sieht man, wie sehr La Rochefoucauld Gegner der „Preziösen" ist. Für die „Preziösen" war die Liebe die Tugend der Tugenden und die Quelle jeder heroischen Tat. Sie gründete sich auf die Bewunderung und auf die Treue, auf die Achtung und auf die Hingabe. Sie duldete weder die leiseste körperliche Geste noch die geringste Untreue; für sie existierte das Fleisch und seine Schwäche nicht. Hier ging es nicht um das Vergnügen, sondern um die Glückseligkeit; hier gab es kein Fieber, sondern nur Heiligung. Das Temperament spielte hier überhaupt keine Rolle. Das Herz war ein Organ der Seele, und die Seele stand ganz unter der Herrschaft des Geistes. So aber spricht — im Gegensatz zu all diesem — La Rochefoucauld von der Liebe: „Wenn es eine reine und der Vermischung mit unseren anderen Leidenschaften bare Liebe gibt, so liegt sie — uns selber unbekannt — auf dem Grunde unseres Herzens verborgen."

Über diese reine, uns selber unbekannte Liebe sagt La Rochefoucauld weiter nichts. Man weiß nicht einmal, ob er wirklich an sie glaubt; nur die andere Liebe kennt er. „Mit wahrer Liebe ist es wie mit Geistererscheinungen: alle Welt spricht von ihnen, aber wenige haben welche gesehn."

Die wirkliche Liebe, die in seinem Blickfeld liegt, ist etwas von Grund aus anderes. Zunächst ist sie ein dem Haß sehr benachbartes Gefühl. „Je heißer man eine Geliebte liebt, desto näher daran ist man, sie zu hassen." „Es gibt kaum Menschen, die sich nicht schämten, einander geliebt zu haben, wenn sie sich nicht mehr lieben."

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„Was man einmal wirklich zu lieben aufgehört hat, kann man unmöglich ein zweites Mal lieben." „In der Liebe ist der zuerst Geheilte auch stets der besser Geheilte."

Er weist nach, wieviel Selbstsucht und Schwäche in der Liebe steckt. Was man für Liebe hält, ist oft nur Sinnlichkeit. „In ihrer ersten Liebesleidenschaft lieben die Frauen den Geliebten, in den späteren die Liebe." „Man vergibt, wie man liebt." „Liebende Frauen vergeben großen Verrat eher als kleine Treulosigkeiten."

Steht das nicht in unmittelbarem Gegensatz zu dem leidenschaftlichen Gebaren der großen „Preziösen", jener Frauen, die eine zudringliche Rede oder Gebärde nicht verzeihen zu können behaupten ? „Es ist schwerer, seiner Geliebten treu zu sein, wenn man glücklich mit ihr ist, als wenn man von ihr gequält wird." „Weiber sind koketter, als sie wissen." „Das größte Wunder der Liebe: von der Gefallsucht zu heilen."

Kurz dort, wo der „Preziose" inneren Adel und Selbstbeherrschung erblicken muß, erkennt La Rochefoucauld nur erniedrigende Schwächen. „Alle Leidenschaften lassen uns Fehler begehen — die aus Liebe begangenen sind nur lächerlicher."

Nicht nur die Liebe bagatellisiert er so, auch den Ehrgeiz, auch das Verlangen nach ruhmreichen Taten, auch den Erfolg, auch die glänzende Laufbahn eines Richelieu oder eines Mazarin. „Wir würden uns oft unserer schönsten Handlungen schämen, wenn die Welt all ihre Antriebe kennte." „Glück und Laune regieren die Welt."

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Man könnte diese Zitate vervielfachen, die auf alle Leidenschaften und auf alle Lebensalter Bezug nehmen. Sie zeigen, daß La Rochefoucauld einen Philinte in sich barg, der nicht mehr erstaunt ist, „Bemerk' ich böse eigennütz'ge Menschen, Als ob ich fleischbegier'ge Geier sähe, Boshafte Affen, wuterfullte Wölfe." (Molière.)

Tatsächlich zeigt La Rochfoucauld dann in seinem eigenen Verhalten im Leben sich Philinte durchaus ähnlich. In einem merkwürdigen Briefe berichtet uns der Chevalier Méré ein Gespräch, das er kurz vorher mit La Rochefoucauld hatte. Die beiden Freunde unterhalten sich am Kamin — und der Verfasser der „Maximen" kommt zu folgenden Schlußfolgerungen, die zugleich verzagt und kühn, gemäßigt und dennoch radikal sind, und die eine Geisteshaltung ausdrücken, die ebenso weit abliegt von dem Hochmut der „Preziösen", wie von dem Glauben Pascals oder von Descartes' Vertrauen auf die Wissenschaft: „Ich glaube, daß man als Maxime aufstellen könnte, daß die mißverstandene Tugend kaum weniger unbequem ist, als das bescheiden dosierte Laster angenehm ist. — Oh ! mein Herr, rief ich aus, man muß sich da sehr in acht nehmen ; diese Worte sind so Ärgernis erregend, daß sie die ehrenwerteste und die heiligste Sache der Welt in tiefsten Mißkredit bringen könnten. — Darum, sagte er mir, gebrauche ich diese Worte auch nur, um mich der Sprechweise gewisser Leute anzupassen, die oft der Tugend den Namen des Lasters und dem Laster den der Tugend geben. Und weil die ganze Welt glücklich sein möchte, und weil das das Ziel ist, zu dem alle Handlungen unseres Lebens hinstreben, staune ich, daß das, was man gemeinhin als Laster bezeichnet, gewöhnlich angenehm und bequem ist, und daß die mißverstandene Tugend voller Bitternis und Bürde ist. Ich wundere mich gar nicht, daß jener große Mann (es ist immer noch von Epikur die Rede) soviel Feinde gehabt hat: die echte Tugend verläßt sich auf sich selbst, sie zeigt sich ungekünstelt und

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durchaus schlicht und natürlich, wie die des Sokrates. Aber die falschen Ehrenmänner suchen genau so wie die Scheinfrommen nur den äußeren Schein, und ich glaube, daß in Fragen der Moral Seneca ein Heuchler und Epikur ein Heiliger war. Ich sehe nichts, was so schön wäre, wie der Adel des Herzens und die hohe Artung des Geistes; daraus geht die innere Ehrenhaftigkeit hervor, die ich höher als alles schätze, und die man meiner Meinung nach, um des Lebensglückes willen, dem Besitze eines Königreiches vorziehen sollte. So liebe ich die echte Tugend, wie ich das echte Laster hasse ; aber nach meinem Empfinden muß man, um wirklich tugendhaft zu sein oder um es wenigstens aus freien Stücken zu sein, die guten Manieren beherrschen, über alles ein gesundes Urteil haben und dén vortrefflichen Dingen bei weitem den Vorzug vor denen geben, die bloß mittelmäßig sind. Das nach meiner Ansicht sicherste Verfahren, das einem den Zweifel benimmt, ob etwas vollkommen sei, beruht darin, zu beobachten, ob es in jeder möglichen Hinsicht schicklich sei ; und nichts scheint mir so tinfrei, als ein Tor oder eine Törin zu sein, und sich von Vorurteilen umgarnen zu lassen. Wir schulden ein gut Teil Achtung den Sitten und Bräuchen der Gegenden, in denen wir leben, damit wir nicht der Ehrerbietung eines ganzen Volkes zu nahe treten, auch wenn diese Sitten und Bräuche schlecht sein sollten; aber wir schulden ihnen nur gleichsam die Gebärde; man muß ihnen diesen Zoll entrichten und sich sehr hüten, sie in seinem Herzen gut zu heißen, aus Furcht, die allgemeingültige Vernunft zu beleidigen, die sie verdammt. Und ferner, wie eine Wahrheit niemals allein auftritt, so kommt es auch vor, daß ein Irrtum andere nach sich zieht. Nach diesem Grundsatz, daß man wünschen muß, glücklich zu sein, sind Ehren, Schönheit, Tapferkeit, Geist und selbst die Tugend — ist all dieses nur wünschenswert, um sich das Leben angenehm zu gestalten. Es ist unverkennbar, daß man nichts ganz Reines und Wahrhaftiges erblickt, daß es in allen Dingen des Lebens Gutes und Schlechtes gibt, daß man sie nach unserem Bedarf hinnehmen und ablehnen muß, daß das Glück des einen oft das Unglück des anderen bedeuten würde, und daß die Tugend wie die Sünde jedes Übermaß meidet. Möglicherweise waren Aristides und Sokrates nur zu tugendhaft, und waren Alcibiades und Phädon es nicht genug; aber ich weiß nicht, ob man, um zufrieden und als ein in der Welt geachteter Ehrenmann zu leben, nicht besser Alcibiades und Phädon als Aristides oder Sokrates wäre; einer ganzen Menge von Dingen bedarf es, um glücklich zu sein, aber es genügt ein einziges, um beklagenswert zu sein; und erst die Freuden des Geistes und des Körpers machen das Leben lieblich und angenehm, wie die Schmerzen des einen und des anderen es hart und beschwerlich erscheinen lassen. Der glücklichste Mensch der Welt verfügt niemals über alle diese Freuden nach Wunsch. Die größten Freuden des Geistes sind, soweit ich

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darüber urteilen kann, der echte Ruhm und die schönen Wissenschaften, und ich bin mir durchaus klar darüber, daß jene Leute ihrer nur sehr wenig teilhaft sind, die sich zu sehr den Freuden des Körpers hingeben. Auch finde ich, daß diese Freuden der Sinne grobschlächtig und dem Überdruß unterworfen sind, und daß man ihnen nicht zu sehr nachtrachten sollte, »ofern sich ihnen nicht die Freuden des Geistes zugesellen. Die am tiefsten spürbare ist die der Liebe; aber sie geht sehr schnell vorüber, wenn der Geist nicht dabei beteiligt ist. Und wie die Freuden des Geistes sehr weit über die des Körpers hinausgehen, so scheint mir auch, daß die äußersten körperlichen Leiden viel unerträglicher sind, als die Leiden des Geistes. Außerdem sehe ich, daß das, was einerseits dienlich ist, andererseits schadet, daß das Vergnügen oft den Schmerz gebiert, wie der Schmerz das Vergnügen auszulösen vermag, und daß unsere Glückseligkeit ziemlich viel vom Glück und mehr noch von unserem Verhalten abhängt. — Ich hörte ihm mit tiefem Behagen zu, als man uns plötzlich unterbrach, und ich war fast mit allem einverstanden, was er sagte. Glauben Sie mir, gnädige Frau, Sie sollten die Argumente eines so vollkommenen Ehrenmannes schätzen lernen, und Sie sollten sich nicht von der falschen Höflichkeit umgarnen lassen."

Das ist seine wahre Philosophie — alles in allem durchaus im Einklang mit seiner Lehre von dem allgewaltigen Egoismus. Und so mußte die Lebensphilosophie dieses durch und durch lebensklugen großen Herrn sein, der die Welt kennen gelernt hat und sich nichts vormachen läßt, nicht einmal von seinem Herzen, wofern er überhaupt ein Herz besitzt. Aber wir werden gleich sehen, daß er in der Tat ein Herz besaß. IV Als La Rochefoucauld die „Maximen" veröffentlicht hatte, entstand große Bestürzung und beinahe Entrüstung in seinem Bekanntenkreise. Mme de La Fayette schrieb: „Welche Verderbnis muß im Geiste und im Herzen eines Menschen herrschen, der fähig ist, sich all dies auszumalen. Ich bin so entsetzt, daß ich Ihnen versichere, daß, wenn Scherze ernst zu nehmen wären, solche S t r o w s k i , Wesen

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Maximen seiner Sache mehr schaden würden, als alle Suppen, die er neulich bei Ihnen verzehrte !"

La Rochefoucauld verdiente diese Empörung nicht, wie der eben wiedergegebene Brief des Chevalier de Méré erweist. Übrigens sollte Mme de La Fayette noch die beste Freundin dessen werden, den sie fur so verdorben hielt. Sie sahen sich persönlich, schlossen eine innige Freundschaft und konnten sich nicht mehr trennen. Sie mußten sich Tag für Tag sehen: „Nichts ließ sich", schreibt M m e de Sévigné, „dem Vertrauen und dem Zauber dieser Freundschaft vergleichen; nichts konnte die Macht einer solchen Verbindung übertreffen."

Ein zweiter Philinte, von der Gicht und seinem Alter geplagt, erwies sich so La Rochefoucauld stärker, als die Bilder übermenschlicher Tugend und absoluter Vollkommenheit, die bis dahin die Verfasserin der „Princesse de Clèves" entzückt hatten. Aber welch merkwürdige Begegnimg und welch merkwürdige Freundschaft 1 Hätten die Bücher miteinander sprechen können, welch seltsame Reden hätte der am meisten idealistische Roman des 17. Jahrhunderts und unserer Literatur und das bitterste und enttäuschendste Buch eines Moralisten ausgetauscht, auf dem gleichen Salontischchen einander begegnend, während ihre Verfasser in zartester Weise die zarte Wonne kosteten, miteinander zu schweigen. In dieser für ihn eigentlich sehr fremden Atmosphäre ging LaRochefoucaulds Leben zur Neige, einer schönen Abenddämmerung vergleichbar. Als er den Tod nahen fühlte, nahm er von seiner Freundin in den zärtlichsten, den ergreifendsten und doch auch tapfersten Worten Abschied; und er starb in den Armen Bossuets.

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V Ich brauche hier nicht die Rolle zu betonen, die die „Maximen" in ihrer Zeit gespielt haben. Der Aufschrei der Mme de La Fayette, die gewiß die größte und edelste Frau unter den „Preziösen" war, verrät uns deutlich genug, welche tiefen Widersprüche das Ideal der „Preziösen", wie es die „Asträa" und das Hotel de Rambouillet geschaffen hatten, von der der Wirklichkeit entsprechenden Wahrheit scheiden, wie sie La Rochefoucauld dargestellt hatte. Aber die „Maximen" sollten durch den Glanz ihrer Form ihr Jahrhundert überleben; sie werden immer wieder gelesen. Ihr Einfluß erlischt nicht. Die La Rochefoucaulds System bestimmende Idee, daß jede Tugend nur die verschleierte Erscheinungsweise des Eigennutzes und der Selbstsucht sei, steht heute noch in philosophischen Abhandlungen zur Diskussion. Wie ich schon sagte, läßt sie sich weder beweisen noch widerlegen, und sie ist auch nicht von entscheidender Bedeutung. Übrigens hat La Rochefoucauld selbst ihr in mehreren „Maximen" widersprochen, in denen er sich zu der Feststellung gezwungen sieht, daß es Seelengröße, rein von der Vernunft bestimmte Geistigkeit und selbstlose Tugend gibt. Aber seine Erfahrungen und seine Feststellungen über die menschliche Schwäche, über die Eitelkeit, über die Leidenschaften, über das Glück sind so durch und durch wahrhaftig, daß man gern aus ihnen schöpft, und daß man in ihnen für jede Lebenslage ein Heilmittel und eine Erklärung entdeckt: ein Heilmittel gegen die Naivität, den ungerechtfertigten Optimismus, die scheinheilige Friedfertigkeit und die Heuchelei; eine Erklärung der 10·

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Unbeständigkeiten, Betrügereien, Schwächen, Gewaltsamkeiten, auf denen man andere oder sich selbst ertappt. All das ist eine gute Seife, um die allzu zarten Farben geschminkter Gesichter hinwegzuwaschen. Durch all das hat unser La Rochefoucauld der Erkenntnis des Menschen einen unsterblichen Dienst erwiesen. Denn mag die Selbsttäuschung bisweilen für die Behaglichkeit eines Augenblickes unerläßlich sein, so ist die Wahrheit doch noch notwendiger für die Tugend; für ein geordnetes Leben und für eine auf Vernunft gegründete Moral ist sie unentbehrlich. Man tut gut daran, sich nicht zu häufig Illusionen hinzugeben — sonst wird man entweder ein zu bescheidener Tropf oder ein zu schwermütiger Lebensskeptiker. Die echte menschliche Lebensweisheit erfordert den Mut zur Wahrheit.

ABSCHNITT Vili

PASCAL UND SEIN LEBEN Er ist der letzte dieser großen Darsteller des Menschen und Lehrer der Weisheit. Pascal erscheint in der Mitte und gleichsam im Mittelpunkte dieser großen Bewegung. Unter den Moralisten seiner Zeit nimmt er nicht nur den ihm eigenen Platz neben ihnen ein. Er überragt sie und faßt ihre Ergebnisse noch einmal zusammen. Er ist gleichsam ihre Schlußfolgerung . . . aber eine Folgerung, die über die Prämissen unendlich hinausgeht und sie verwandelt, ohne sie doch zu beeinträchtigen. Der Zeit nach verläuft Pascals Leben zwischen dem Leben Descartes' und dem La Rochefoucaulds. Tatsächlich ist sein Denken der Punkt, auf den die Gedanken aller anderen hinführen, und in dem sie sich vereinigen, um zu einem neuen Denken zu führen. Er flüchtete sich nicht in das Abstrakte und in das Allgemeine, wie es das gewöhnliche Schicksal derer ist, denen diese Rolle des Abschließens zufällt. Als Moralist gehört er durchaus zu dem gleichen Schlage wie Montaigne und der hl. Franz von Sales, wie Descartes und La Rochefoucauld. Aber er beherrscht einen wesentlich weiteren Bereich. Er erschließt die Sphäre der Tragik. Ihr wenden sich sein Temperament und sein Genie zu.

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I Pascal wurde 1623 geboren und starb im Herbst des Jahres 1662. Seine kurze Lebenszeit fiel also in die Zeit der Herrschaft Richelieus und Mazarins, in die der Fronde und der Regentschaft Annas von Österreich. Er erlebte (ja er erlitt sogar) die Gewaltherrschaft Richelieus, das Unheil der Fronde, den Umsturz der herrschenden Ideen und der sich auf sie gründenden Ordnung und die Wiederherstellung des nationalen Friedens; aber die großartige Entwicklung der großen Zeit der Klassik und das Königtum Ludwigs X I V . erlebte er nicht mehr. Seine Familie stand Richelieu zunächst feindlich gegenüber, war ihm aber dann zu Dank verpflichtet. Sein Vater gehörte vorübergehend zu den Kreisen der Aufrührer; später wurde er als Beamter ein eifriger Anhänger. Die Pascals waren Anna von Österreich treu ergeben, solange sie das romantische Opfer des ersten Ministers war; aber während ihrer Regentschaft hatten sie offenbar keine Beziehungen mehr zu ihr. Da alles darauf hinzudeuten scheint, daß Pascal den abenteuerlichsten Rollenträgern in den Ereignissen jener Zeit, wie La Rochefoucauld und Méré, befreundet war, so darf man annehmen, daß die aufregenden Ereignisse, die er als Zeitgenosse erlebte, daß die Stimmungen und Ideen, die damals Frankreich und die Gemüter der Franzosen erschütterten, auch auf ihn ihre Wirkung nicht verfehlten. Zur Zeit Ludwigs XIV. lag seinen Biographen offenbar sehr daran, ihn als den gehorsamsten Untertanen hinzustellen. Gehorsam — das

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mag stimmen. Aber darum machte er sich doch nicht weniger seine eigenen Gedanken 1 ). Er lebte viel in Paris, aber einen guten Teil seines Lebens verbrachte er in der Provinz. Schließlich bedeuten „Provinz" und „Paris" dem Franzosen ja das gleiche. Pascal ist durch und durch Franzose. Seine Familie stammt aus der Auvergne und gehört zu dem seit zwei Generationen durch ihre Ämter und Berufe in den Adel erhobenen Bürgertum, das aber noch ganz in den Lebensstil der Handels- und Geschäftsleute verstrickt ist. So unterzeichnet Pascal später „patricius arvernus"; und das mit gutemRecht— sogar mit demRecht, darauf stolz zu sein; denn er sollte wahrhaft ein Edelmann, wenn auch von neustem Adel, sein. Seine Geburtsstadt ist Clermont-Ferrand, und obwohl er diese Stadt schon früh mit seinem Vater verließ, kehrte er oft dorthin zurück. Gegen Ende seines Lebens suchte er dort Ruhe und Genesung. Er nahm reichlichen Anteil an dem Tun und Treiben der Kleinstadt. Seine Familie, die Gewohnheiten und die kleinen Eitelkeiten seiner Familie banden ihn an diesen Ort. Seine dort ansässigen Verwandten hielten ihrerseits noch mehr zu ihm, zunächst weil sie seinem Vater, dem reichen Mann der Sippe, Geld schuldeten und dann, weil sie eine feine Witterung für seinen Ruf und sein Genie besaßen. Es ist nicht unwesentlich, in der Provinz zu Hause zu sein. Montesquieu ist zeitlebens Präsident des Gerichtshofs von Bordeaux geblieben. Dergleichen verleiht eine Er sah in der Fronde den Versuch eines Widerstandes, den die Gerechtigkeit der Macht entgegensetzte. Aber diese Gerechtigkeit war doch nur eine „angemaßte Gerechtigkeit". Genau so gut könnte man bei Revolutionen von Protestbewegungen sprechen.

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gewisse Würde und heimliche Sicherheit; es bestärkt die individuellen Wesenszüge der Menschen. Balzac, der Romancier, betont, daß er für gewisse Gestalten und für gewisse Leidenschaften ausdrücklich den Rahmen des Provinzlebens gewählt habe: „Das Leben wird gefahrvoll, die Interessen lassen fortwährend die heftigsten Leidenschaften wie auch die naivsten Hoffnungen aufeinanderprallen, und so bekommt das Leben einen düsteren Ernst, je reifer es wird." Ein wenig von alledem verspürt man bei Pascal. Doch lernte Pascal die Provinz nicht nur in ClermontFerrand kennen. Er lebte als junger Mann auch in Rouen; und er spielte dort offenbar eine sehr glänzende und sehr beachtete Rolle. Sein Vater gehörte übrigens zu den wichtigsten Persönlichkeiten der Stadt. War doch Rouen damals die literarisch bedeutsamste Stadt Frankreichs 1 Corneille lebte dort. Die Pascals waren dem Dichter kurz nach dem entscheidenden Erfolg des „Cid" befreundet. Außerdem befand sich diese Stadt damals durch alle möglichen Massenbewegungen in fieberhafter Unruhe : Volksaufstände, heftiges Aufflammen mystischer Ideen, Streitgespräche zwischen Theologen und Bürgern. In Paris, wohin er mit etwa 24 Jahren übersiedelte, suchte Pascal begreiflicherweise bis zu seinem Lebensende den Umgang mit Gelehrten, und dann von einem gewissen Zeitpunkt an besonders den Verkehr mit religiösen Menschen und mit Geistlichen. Danach könnte man ihn für einen Mann der Kirche halten. Aber seine intimen Freunde gehören noch der höchsten Gesellschaft an; der eine ist Herzog und Pair von Frankreich: der Herzog von Roannes; ein anderer hat die Welt bereist und findet nichts, dem er sich geistig nicht ge-

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wachsen sähe: der Chevalier Méré. Mme de Sablé hegt für ihn eine sehr zarte und sehr tiefe Neigung, in die er sich zweifellos mit La Rochefoucauld teilen mußte, was Pascal aber durchaus nicht abhielt, mit seinem Pfarrer Freundschaft zu schließen und sich ganz den Armen widmen zu wollen. Sein ganzes Leben verbrachte Pascal in einer sehr innigen Gemeinschaft mit seiner Familie. Sein Vater war sein einziger Lehrer, sie besaßen die gleichen Neigungen; sie unterstützten sich gegenseitig in ihren Arbeiten. Als der Präsident Etienne Pascal an die Spitze des Finanzwesens gestellt wurde, wurde sein Sohn ihm als Sekretär für das Rechnungswesen beigeordnet. Als er übertrat, Schloß Blaise sich diesem Übertritt an. In den Auseinandersetzungen mit Père Noel vertrat Etienne Pascal seines Sohnes Stelle. Ein merkwürdiges Schriftstück, ein ergreifendes Sinnbild dieses innigen Verhältnisses ist uns durch einen glücklichen Zufall erhalten geblieben. Es ist ein Brief, den Blaise seiner ältesten in Clermont-Ferrand verheirateten Schwester schickt. Er teilt ihr Neuigkeiten über ihre gemeinsamen Freunde in Rouen mit. Gegen Ende des Briefes nimmt der Vater die Feder aus den Händen seines Sohnes und setzt den Brief fort. Blaise beendet ihn schließlich und unterzeichnet mit einem schönen, kühn geschwungenen und sauberen Namenszuge. Nach dem Tode seines Vaters übertrug Blaise seine Zuneigung auf seine beiden Schwestern. Die jüngste war seine Sekretärin und seine Pflegerin: Jacqueline. Als sie ihn verließ, um ins Kloster zu gehen, war er darüber

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ganz außer sich. Als er sich endgültig bekehrte, vertraute er sich ihrer Lenkung an. Und die älteste, Gilberte, war so etwas wie seine Mutter. Sie trug um seine Gesundheit Sorge. Er begab sich zu ihr, um Erholung zu suchen; er starb in ihrem Hause. Und sie sprach das Verlangen aus, nicht neben ihrem Gatten und neben ihren Kindern, sondern neben ihrem Bruder beerdigt zu werden. Sie schrieb, wie man weiß, eine Biographie ihres Bruders, die in ihrer Frömmigkeit, ihrer Aufrichtigkeit und sogar ihrer Zuverlässigkeit bewundernswert ist. Sogar noch zu seinen Neffen und zu seinen Nichten besaß Pascal ein zärtliches Verhältnis. Er war Taufzeuge und wahrscheinlich Lehrer seines Neffen Etienne Périer. Er fand in diesen zärtlichen Regungen soviel Süße, daß er gegen Ende seines Lebens, als er auf alles Verzicht leisten wollte, sich die unschuldigsten Liebesbezeigungen versagte. Wären sie ihm gleichgültig gewesen, so hätte er sich nicht solch ein fast unmenschliches Gebot auferlegt. Ein anderer „Umstand", der Pascal seit seinem 17. Lebensjahre nicht einen Tag erspart blieb, war das körperliche Leiden. Seit seiner Jünglingszeit wurde er „durch ständige und sich obendrein immer noch vermehrende Krankheiten heimgesucht". Ständig plagten ihn unerträgliche Kopfschmerzen. Zwei oder drei Jahre vor seinem Tode konnte er nur noch an Krücken gehen. Er konnte sich nicht zu Pferde halten; er konnte nicht mehr als drei oder vier Meilen in der Kutsche zurücklegen. Im Jahre 1660 brauchte er mehr als 22 Tage, um sich von Paris nach Clermont-Ferrand zu begeben. Dies etwa sind die allgemeinen Verhältnisse, in denen

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Pascal sein Leben verbrachte. Jeder kann sich mühelos vorstellen, wie groß ihr Einfluß auf den gewaltigen Menschen sein mußte, dessen Bild wir hier umreißen. Aber ursprünglicher noch als jede Wirkung seiner Umwelt und als jede Erfahrung war in Pascal ein angeborenes und starkes Temperament lebendig, das sich allem gegenüber — fast hätte ich gesagt : auch Gott gegenüber — behauptete. II Pascal ist ein Wesen voller Leidenschaft und aus einem Guß; hätte ihn nicht die Gewohnheit einer aufs feinste ausgebildeten Höflichkeit in Schranken gehalten, so würde er oft ein unerträglich aufbrausendes Wesen an den Tag gelegt haben. Sogar wenn es sich um ein mathematisches Problem handelt, setzt er dort gleichsam seinen ganzen Menschen ein mit allen seinen „Kräften". Staunend sieht man, wie er, denkbar fern der Weltferne des Christen, in einem Anfall äußerster Gereiztheit die Rivalen rücksichtslos vernichtet, die den Ruhm beanspruchten, die Probleme des Cycloids, die er ihnen vorgetragen hatte, genau so gut wie er gelöst zu haben. Das sei Eitelkeit, sagt man. Vielleicht hängt es aber vielmehr damit zusammen, daß ihm dieser Streit zu sehr Herzenssache geworden war; im Augenblick bedeutete diese Streitfrage ihm mehr als Himmel und Erde. Diese leidenschaftliche und geschlossene Haltung bewahrte er sich in allen Abenteuern und Verhältnissen seines Lebens. Sie alle wurden ihm nacheinander jeweils zur einzigen und entscheidenden Angelegenheit.

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Bei seinen Vorgängern wurde die Tiefe ihres Gemütes im allgemeinen nicht in Mitleidenschaft gezogen, oder blieb dieses wenigstens unbewegt und unerschütterlich, außer in Stunden der Krise. Sie ließen ihr Leben vor ihren Augen vorüberziehen, sie betrachteten es mit großer Aufrichtigkeit und mit philosophischer Gelassenheit; sie lebten es. Aber all das spielte sich in einer verhältnismäßigen inneren Ruhe ab. Pascal weiß nichts von Ruhe, und niemals kennt er Verzicht in Fragen des Geistes. In der Abwendung oder in der Hingabe — in jedem Augenblick geht es um seine ganze Seele. Jeder Augenblick ist ein Wendepunkt. Ständig setzt er seinen Kopf aufs Spiel. Nicht nur ein krankhaft nervöser Gemütszustand erregt ihn so; er ist zutiefst davon durchdrungen, daß jede Einzelfrage irgendwie das Ganze betrifft, weil sie alle anderen Fragen und sogar das ganze, selbst das ewige Leben in sich birgt. Daher erhielten und behielten seine Erfahrungen, auch wenn sie allgemeinere Bedeutung gewannen, eine nur ihnen eigene und tragische Gestalt. Von den einfachsten bis zu den ungewöhnlichsten wecken sie alle in seinem Herzen die tiefen Ängste, die Geburt und Tod umgeben. Ein anderes Merkmal des Pascalschen Geistes besteht in der Gewohnheit, „komplex" zu denken. Wir haben gesehen, wie Descartes die Probleme „zerlegt" und sie gleichsam auf parallel verlaufende „Linien" zurückführt, die schließlich zu den einfachsten Grundsätzen führen. Descartes' Methode besteht also darin, daß er diese „Linien" studiert, ohne sie miteinander zu vermengen, und daß er dabei streng deduktiv verfährt. Pascal denkt von Grund auf verschieden.

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Ihn kennzeichnet ein Verfahren, das man als „kombinierend" und als „komplex" bezeichnen könnte. Sooft ihm das Leben ein Problem oder ein sein Denken reizendes Thema vorlegt, sooft ein Gedanke in seinem Geist auftaucht, begnügt er sich nicht damit, ihn zu analysieren und die Folgerungen aus ihm unmittelbar abzuleiten. Er begnügt sich nicht damit, seine „Wurzeln" aufzusuchen; er ruft alle ihm verwandten Gedanken, auch die scheinbar widersprechenden, auf den Plan. So trennt er, nachdem er das Elend des Menschen festgestellt hat, dieses keineswegs von der Größe, die das Gegenteil des Elends darstellt, ohne die es aber keinerlei Elend gäbe, da das eine aus dem anderen hervorgeht. Das Elend und die Größe sind für ihn etwas „Komplexes", das er niemals in seinem Geist oder in der Wirklichkeit auflösen möchte. Von einem Geiste dieser Art könnte man sagen, daß er seinen Gedanken die Ordnung des Himmelsgewölbes verleiht. Die Gedanken entstehen dort zunächst völlig planlos, wie Nebelflecken; sie verdichten sich, nehmen eine lichte und bestimmte Gestalt an und ordnen sich dann zu einer begrenzten Menge reicher, harmonischer und verwickelter Systeme. Aber die Ordnung der Himmelsgestirne ist unumstößlich. In einem lebendigen, ständig fortschreitenden, ständig durch neue Erfahrungen bereicherten und sich entwickelnden Geist können die Sonnensysteme nur vorläufig sein. Die vorübergehend durch das Genie oder den Willen Pascals errungene Harmonie findet sich zerstört, sobald eine neue Tatsache dieses Gedankengefüge durchbricht. Dann entsteht Unordnung, Angst und neues Streben. Dennoch setzt Pascal sein Vertrauen in die Wirklichkeit

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und in seine Vernunft; er setzt sein Vertrauen auf Gott; er beginnt sein Streben zur Synthese immer von neuem, ohne jemals zu verzweifeln. Im Gegenteil, er weiß, daß ihm eine neue Bereicherung bevorsteht, daß in einem unermeßlich erweiterten Firmament sich eine um so vollkommenere Harmonie herstellen wird. So geht er von Krise zu Krise, von Bekehrung zu Bekehrung, wie ein Heiliger und nicht wie ein Pessimist; er geht der Heiligung und dem Tode entgegen. Ein letzter Wesenszug soll schließlich unser Verständnis für das heroische Leben Pascals abrunden: die Folgerichtigkeit. Ohne die Folgerichtigkeit wäre Pascal trotz allen guten Willens und trotz seiner großen Begabung zweifellos nur ein sprunghaftes Genie gewesen, das nach jedem neuen Anlauf zurückwich, ganz auf das angewiesen, worauf ihn die Umstände oder seine Wissensbegierde jeweils grade führten. Pascal hat sein ganzes Leben lang dasselbe getan, sein ganzes Leben lang hat er sich mit denselben Fragen beschäftigt. Zum Beispiel hat, wie wir gleich näher ausführen werden, dieser große Physiker sich in der Physik eigentlich nur mit einer einzigen Untersuchung befaßt. Und für alle seine Entdeckungen, alle seine Theorien während der beinahe 20 Jahre seines Forschens und Bemühens diente als Ausgangspunkt ein einziger glücklich gelungener Versuch, der wiederholt, analysiert, abgewandelt, durch eine Reihe entgegengesetzter Versuche auf seine einfachste Formel gebracht, dann in die Sprache der Mathematik übersetzt und schließlich für zweckmäßige Er-

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findungen nutzbar gemacht, zu einem der großen Grundpfeiler der Physik und zu einem elementaren Bestandteil der Wissenschaft wurde. Man macht dieselbe Feststellung, wenn man in dem Manuskript der „Pensées" blättert. Irgendein Gedanke, den man dem Ende seines Lebens zuweisen möchte, fand sich im Keime schon in vorbereitenden Notizen der „Lettres Provinciales"; irgendein großartiger Gedankengang, der der Zeit der „Apologie" anzugehören scheint, war schon zu der Zeit in Pascals Geist lebendig, als man ihn ausschließlich mit weltlichen Dingen beschäftigt glauben mußte. Daraus ergibt sich, daß Pascals Gedankenwelt durchaus nicht durch die „Zahl" der Gedanken bemerkenswert ist. Im Gegenteil: nur wenige Grundgedanken bestimmen sie. Sein gewaltiger und tiefsinniger Geist bedarf nur einiger weniger Säulen, um das Gebäude der Wissenschaft und der Religion zu errichten. Man braucht hier nicht auf die Gewalt, die Zuverlässigkeit und die riesigen Dimensionen dieser Pfeiler hinzuweisen. Im allgemeinen teilt man Pascals Leben in drei Perioden ein. Danach wäre Pascal nacheinander Mathematiker, Weltmann und Christ gewesen. Diese Einteilung setzt einen chronologischen Irrtum voraus. Mathematiker war Pascal bis zu seinem Lebensende. Und seine Entdeckungen über die Cycloide liegen später als die „Lettres Provinciales". Seine Versuche über das Leere und über das „Equilibre des liqueurs" hat er niemals abgebrochen. In der großen Welt lebte er seit seiner Kindheit, und bei Hofe vorgestellt wurde er zu der Zeit, als seine Frühreife ihn die Geometrie entdecken ließ. Zwei Jahre vor seinem Tode sprach noch der Weltmann aus ihm, als er an Fer-

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mat schrieb: „Weiterhin möchte ich Ihnen noch sagen, daß ich Sie zwar für den größten Mathematiker in ganz Europa halte, mich aber dennoch nicht wegen dieser Eigenschaft zu Ihnen hingezogen fühle, sondern im Umgang mit Ihnen so viel Geist und feine Lebensart zu finden hoffe, daß ich Sie allein darum aufsuchen würde.. Tatsächlich hat Pascal niemals auf irgendeine seiner Betätigungen ganz Verzicht geleistet; er hat sie stets irgendwie ausgeübt. Wandelbar ist nur die Bedeutung, die er ihnen periodisch jeweils in der Wertordnung der Dinge und den tiefsten Bedürfnissen seines Herzens zuweist. Ihre wechselseitige Über- und Unterordnung bleibt niemals endgültig. Es kommt hier zu ständigen Schwankungen, bis schließlich die Religion den Sieg davon trägt — und eigentlich mehr noch als die Religion das inständige Verlangen nach einem ganz schlicht und einfach gewordenen, ganz der Hingabe, dem Opfer und dem Dienste geweihten Leben. Aber um der Klarheit der Dinge willen wollen wir uns vorläufig an die üblich gewordenen Einteilungen halten und, ohne irgendwie dabei an zeitlichen oder „logischen" Ablauf zu denken, Pascals wissenschaftliche Betätigung, seine weltliche Erfahrung und sein religiöses Erlebnis prüfen. III Mit der Wissenschaft hat sich Pascal unaufhörlich beschäftigt. Sein Genie bezeugte sich zum erstenmal in der Wunderleistung, durch die er mit zwölf Jahren die Geometrie erfand. Er hatte seinen Vater und dessen Freunde, die diese Wissenschaft leidenschaftlich trieben, sagen hören, sie sei

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„etwas, das dem Geist tiefe Erfüllung und Befriedigung verschaffe". Indem er die verschiedenen Begriffe, die er aus ihren Gesprächen sich angeeignet hatte, sammelte, stellte er Axiome und Definitionen auf und gelangte so bis zum 3 2. Lehrsatz des Euklid, wobei er sich eines höchst persönlichen, kindlichen und natürlichen Wortschatzes bediente: er sprach von Rädern und Stangen. Man hat dieses wunderbare Bemühen angezweifelt, aber diese Einwände haben mich nicht überzeugen können. Es ist begreiflich, daß Pascal nach diesem glänzenden Anfang, der seinem Vater Tränen der Freude und des Staunens entlockte und ihm die Bewunderung der Freunde seines Vaters eintrug, ungewöhnlich schnelle Fortschritte machte. Aber er begnügte sich nicht mit der Erfindung von Lehrsätzen und Beweisen. Er strebte danach, seine geniale Begabung nach einer bestimmten „Methode" wirksam werden zu lassen. Mit 16 Jahren verfaßte er einen „Essai pour les Coniques", nach der Methode Desargues'; seine eigene Leistung dabei beruhte darin, daß er den Lehrsätzen seines Lehrers einen grundlegenden Hilfssatz hinzufügte, den Desargues selbst als „La Pascale" bezeichnete, und aus dem sich der ganze Bestand der Lehrsätze ableiten ließ. Im Jahre 1644 wagte er sich an den sehr verwickelten Traktat des Apollonius über die Kegelschnitte und vereinfachte ihn zu einem einzigen umfassenden, mit 400 Folgesätzen versehenen Lehrsatz. Bis zum Jahre 1657 beschäftigte er sich unausgesetzt mit der Mathematik. Während der sogenannten weltlichen Periode seines Lebens kündete er mehrere heute verlorengegangene Abhandlungen an. Während seiner ersten hingebungsvollen Mitarbeit an der Strowski, Wesen

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Sache von Port-Royal lehnt er es dennoch nicht ab, auf Fragen zu antworten, die die Mathematiker ihm stellen. Im Jahre 1658 entdeckte er, wir wissen nicht, unter welchen Umständen, neue „Methoden" zur Berechnung der Ausdehnung und der Schwerpunkte der festen Körper, der einfachen und der gekrümmten Flächen und der Kurven, von denen er glaubte, daß sie sich auf fast alle Gegenstände anwenden ließen. Und um die Probe aufs Exempel zu machen, wagte er sich an eines der schwierigsten und berühmtesten Probleme, nämlich das der sonst auch Trochoide und Cykloide genannten Radlinie. „Es ist", sagt er, „eine so gewöhnliche Linie, daß es nach der Graden und der Kreislinie keine gibt, die so häufig vorkäme, wie sie." Ich brauche hier nicht zu wiederholen, auf welch eine romantische und höchst eitle Weise er dies Problem den Gelehrten seiner Zeit vortrug, und mit welcher bisweilen ungerechten Heftigkeit er Robervals und seine eigenen Rechte vertrat. All das gehört zur Frage seiner „Empfindlichkeit" und zur Geschichte seiner Beziehungen zu Roberval. Es mag uns hier genügen, festzustellen, daß Pascal zur gleichen Zeit, in der er die „Apologie" entwarf, und in der er begann, sich auf den Tod vorzubereiten, noch leidenschaftlich Geometrie trieb. Dennoch wußte er bereits um die Grenzen dieser wunderbaren Wissenschaft, und im Jahre 1660 schrieb er, sie sei „die höchste Übung des Geistes", aber wer sich mit ihr befasse, unterscheide sich kaum von einem „geschickten Handwerker". Er hatte sich von der gefährlichsten aller Bezauberungen frei gemacht. Denn allerdings liegt eine Art Zauber in der Mathematik. Man sagt, die Mathematiker seien zerstreut: besser

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würde man sagen, sie seien blind. Regelmäßige und nach bestimmten Regeln in einen Zusammenhang gebrachte Gebilde, die der Vernunft vollkommen Genüge tun, hindern sie daran, die Wirklichkeit zu erblicken, die der Vernunft solch unerbittlichen Widerstand entgegensetzt. Pascal hätte überhaupt keine Erfahrung besessen, wenn er nur die mathematische besessen hätte. Aber sogar dieser Wissenschaft ist er sehr schnell Herr geworden. Er wurde es durch das Studium ihrer Methoden; er wurde gewahr, daß sie nur eine Form und einen Rahmen darstelle; daß sie von sich aus keinerlei Wirklichkeit besitze; und daß man sich nicht nur ihr anvertrauen dürfe, wo es um die Erkenntnis der Menschen und der Dinge geht. Er erkannte, daß es dazu einer neuen Dialektik bedürfe, einer verwickeiteren, subtileren und schmiegsameren Dialektik, wenn man zu der Sphäre des „Seienden" und vor allem zu der der Moral gelangen will; darum stellte er den „esprit de finesse" dem „esprit de géométrie", die „l'art d'agréer" der „l'art de convaincre" gegenüber. Dennoch hat er sich nicht zu der entgegengesetzten Behauptung verstiegen, die die Mathematik als bloße Form hinstellen möchte; am Anfang dieser Wissenschaft stieß er nicht auf bloße Fragen der Geometrie, sondern auf den gesunden Menschenverstand : das, was „das Herz" zu erkennen vermag. Dadurch hat er in der Mathematik Elemente zu entdecken gewußt, die ihm für die Erkenntnis des Menschen wertvolle Dienste leisten sollten. Wir werden gleich sehen, daß diese den unendlichen Schattierungen des Menschenherzens so fernstehende Wissenschaft ihm dennoch ermöglichen sollte, dem Menschen II«

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wieder seinen Platz im Weltall zuzuweisen und die Unruhe zu erklären, die der Quell jedes höheren Lebens ist. Dieselbe Beobachtung werden wir machen können, wenn wir uns auf eine gedrängte Aufzählung seiner mathematischen und rechnerischen Arbeiten beschränken. Zu diesem Gebiet seiner Forschungen wurde er durch die Notwendigkeiten des Lebens selbst geführt, und sie bestimmten die Entwicklung dieser Forschungen. Die Erfordernisse des Rechnens bilden den Ursprung aller seiner mathematischen Entdeckungen. Da er die Finanzen einer großen Provinz nach Silberlingen, Zinsfüßen und Pfunden berechnen mußte, das heißt nach einander heterogenen Zählungsverfahren, kam er darauf, daß die Leistungen des Kalküls, die scheinbar die höchsten Anstrengungen des Menschengeistes darstellen, in Wahrheit rein mechanisch zu bewerkstelligen waren. Und so vertraute er sie tatsächlich einer Maschine an, der sogenannten Rechenmaschine, diesem ehrwürdigen Vorfahren aller Zählungsapparate und Totalisatoren der Welt. Später legte ihm sein Freund, der Chevalier Méré, sehr schwierige Fragen über die Teilung der Einsätze vor, wenn die Spieler sich trennen, bevor sie die Partie beendet haben, und wahrscheinlich auch über die Gewinnchancen in den Hasardspielen. Für diese Wahrscheinlichkeitsrechnungen genügte das Einmaleins des Pythagoras genau so wenig, wie etwa ein Dolch imstande wäre, eine Kanone zu bekämpfen. Daher erfand Pascal ein anderes Einmaleins, das arithmetische Dreieck, aus dem er eine solche Fülle von Merkmalen ableitete, daß er jede Art von Zahlengrößen zu „addieren" und unendlich große Zahlen

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genau so gut wie unendlich kleine Größen zu berechnen vermochte; dies führte zu der Infinitesimalrechnung, diesem Schlüssel der gesamten modernen Wissenschaft. Auch da verlor Pascal niemals die Wirklichkeit aus den Augen. Die Freude an der Entdeckung und an der abstrakten Spekulation führte ihn niemals weit über die menschlichen Wahrheiten und über die Grundsätze des Lebens hinaus. In dem Traktat über „La somme des puissances numériques" erklärte er z. B. : „Die Punkte fügen den Linien nichts hinzu, die Linien nichts den Flächen und die Flächen nichts den Körpern; oder um, wie es sich für eine arithmetische Abhandlung schickt, von Zahlen zu sprechen: die Wurzeln fügen den Quadratwurzeln nichts hinzu, die Quadratwurzeln nichts den Kubikwurzeln und die Kubikwurzeln nichts dem ,Quadrat im Quadrat'. . . Was ich hier sage, ist denen, die sich mit den Unteilbaren beschäftigen, vertraut; aber ich habe noch einmal darauf hinweisen wollen, um durch dieses Beispiel den wundervollen Zusammenhang aufzuweisen, durch welchen die Natur, welche die Einheit liebt, aus den einander scheinbar entlegensten Dingen ein Ganzes schafft. . Dieser wundervolle Zusammenhang sollte Pascal zu den drei Ordnungen der Wirklichkeit fuhren, in die er das Weltall, den Menschen und Gott einschließt. So bedient er sich des arithmetischen Verfahrens auch da, wo er sich die „Kreise" alles Seienden vorstellt. In der Physik hat Pascal sich noch früher hervorgetan als in der Mathematik. Sein Vater war musiktheoretisch gebildet. Man pflegte zu Hause bei Tisch über diese Fragen zu sprechen. „Ein-

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mal", so erzählt uns Mmc Périer, seine Schwester, „als jemand versehentlich mit einem Messer an eine FayenceSchüssel stieß, fiel es dem Kinde auf, daß das einen lauten Klang ergab, daß dieser aber, sobald man die Hand darauf hielt, ausblieb. Er wollte sogleich die Ursache wissen, und dieser Versuch führte ihn dazu, viele andere Versuche mit den Tönen anzustellen. Er bemerkte dabei so vielerlei, daß er im Alter von xi Jahren eine Abhandlung darüber verfaßte, die schon völlig logisch aufgebaut schien." Dann hat er scheinbar jede Art Wissensdrang auf diesen Gebieten verloren. 13 Jahre später besuchte Pierre Petit, ein Festungskommandant, der durch Rouen reiste, Etienne Pascal und erzählte ihm von einem geheimnisvollen Versuch, der ein einziges Mal von Torricelli mit Erfolg ausgeführt war und später niemals hatte wiederholt werden können. Das war der Versuch mit der barometrischen Röhre. Da sich in Rouen Glasfabriken befanden, sahen sie sich um, wie sie den Versuch wiederholen könnten, und erlebten die Freude, ihn gelingen zu sehen. Das war für Blaise Pascal ein Ausgangspunkt, von dem aus er sich an die Eroberung der neuesten, der wichtigsten und folgenreichsten Wahrheiten über das Leere, über die Luft und über die Mechanik der flüssigen Körper machte. Mit einer wunderbaren Ausdauer wiederholte er auf hundert verschiedene Weisen den ursprünglichen Versuch. Sowie ihm eine neue Hypothese durch seine Beobachtungen nahe gelegt wurde, dachte er sich einen neuen Versuch aus, um sie auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen. Indem er so von Fortschritt zu Fortschritt die

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Theorie seinen Versuchen unterwarf und die ihm durch den Versuch und die Theorie offenbarte Tatsache auf einfache Gesetze und auf allgemeine Grundsätze zurückführte, schuf er eines der schönsten und vollkommensten Gebilde der menschlichen Wissenschaft. Nicht daß er etwa alles erfunden hätte. Wer dürfte sagen: das ist meine Entdeckung ? Eine jede Entdeckung wurde durch einen ahnungsreichen Geist vorweggenommen. Aber der wahre Schöpfer ist der, der die gewagten, vereinzelten, halbwahren Lehrsätze zusammenfaßt, um sie der Analyse und dem Beweis zu unterwerfen, in einen geschlossenen Zusammenhang zu bringen und sie der menschlichen Vernunft einzuverleiben. Das war Pascals Verdienst. Das besagt nicht, daß die Natur durch ihren Reichtum und die unendliche Fülle ihrer Gliederung über die Vernunft nicht hinausreiche : das sollte Pascal in dem Augenblick zu spüren bekommen, als er vielleicht glaubte, die vollkommene und endgültige Wahrheit entdeckt zu haben; aber es besagt, daß die Vernunft und die Natur in einer engen Verwandtschaft zueinander stehen. Um das Jahr 1660 ging es dem Physiker Rohault, der sich durch seine geistreichen Versuche einen großen Ruf erworben hatte, auf, daß, wenn man in Pascals Versuchen die gewöhnlichen Glasröhren durch sehr enge Röhren ersetzte, keines der durch Pascal entdeckten Gesetze mehr Geltung habe. Man stellte Untersuchungen bei Mme de Sablé an. Wie nahm Pascal das auf ? Bekam er Zweifel an seinen Versuchen und an den Wahrheiten, die er bewiesen hatte ? Wir kennen ihn genug, um sicher zu sein, daß er weder enttäuscht noch entmutigt war. Er ließ sich nicht zu der

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Schwäche hinreißen, zu glauben, seine Methoden hätten ihn getäuscht, und er hätte nur Irrtum auf Irrtum gehäuft. Die Natur war eben reicher als die Wissenschaft, das war alles ! Sie belehrte ihn, daß jede menschliche Wissenschaft stets unvollkommen bleibt, und daß der Menschengeist nie rasten darf. Sie schenkte ihm das doppelte Empfinden, das dem Gelehrten unerläßüch ist : Vertrauen und Demut. Das ist ein großer Dienst, den die Physik ihm erwies. Aber es ist nicht der einzige. Irgendwo sagt er, daß die Versuche die einzigen Prinzipien der Physik seien. Dank ihrer überwand dieser Mathematiker, dieser Geometer die Abstraktion. Er besaß die Kraft des „geometrischen Geistes" — aber ohne dessen Enge 1 Er verband beides, Weitblick und Genauigkeit. Zu alledem kommt noch die Erfahrung der „großen Welt", die ihm den vollen Sinn für die Wirklichkeit erschließen sollte. IV Die Wendung zur „Welt" — zum Erfahrungskreis der „großen Welt" — bedeutete nicht etwa, wie man sich das gerne vorstellt, den Übergang von einem noch ungehobelten zu einem verfeinerten Wesen 1 ). Schon vorher war der Sohn des Präsidenten Pascal, der einen solch ausgebreiteten Bekanntenkreis besaß, der Bruder Jacquelinens, der Dichterin „à la mode" mit der Gesellschaft und Dieser Irrtum erklärt sich aus einer Verwechslung, die Pascals Biographen mit hartnäckiger Blindheit aufrecht erhalten. Ein Kenner entdeckte einst einen Text Mérés, in dem dieser von einem , .Menschen im besten Lebensalter" sprach, einem Mathematiker, der nichts weiter war als das, und der auf einer Reise im Poitou die Welt und die Annehmlichkeiten des Lebens entdeckte. Es handelt sich zweifellos um Descartes und nicht um Pascal.

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dem geselligen Gespräch, mit dem feinen und erlesenen weltlichen „Esprit", dem Spiel, dem Theater durchaus vertraut. Er beherrschte bereits vollkommen die geselligen Formen. Er besaß Beziehungen und hatte viele Freunde. Der Wendepunkt setzte erst ein, als die „Welt" in einer Stunde der Not und Erschöpfung ihm wie ein Zufluchtsort erschien. Pascal hofft, dort die Ruhe und das Glück zu finden, nach welchen es seine Unruhe so unendlich verlangt; vorübergehend glaubt er, dort liege die wahre Befriedigung eines Menschen seiner Art: „Ich hatte viel Zeit auf das Studium der abstrakten Wissenschaften verwandt", schreibt er auf ein kleines Blatt Papier; „und der geringe Kontakt mit Welt und Menschen, den man durch sie erhalten kann, hatte mich ihrer überdrüssig gemacht. Als ich mich dem Studium des Menschen zuwandte, sah ich, daß diese abstrakten Wissenschaften dem Menschen nicht gemäß sind . . . Ich glaubte, durch das Studium des Menschen wenigstens eine Menge neuer Freunde zu finden, und war überhaupt der Ansicht, daß erst dieses das dem Menschen gemäße Studium sei." Diese Worte enthalten vermutlich ein Bekenntnis: das durch das gesellige Leben ermöglichte Studium des Menschen begann Pascals Interesse genau zu der Zeit zu erwecken, als er die Grenzen der abstrakten Wissenschaften durchschaute und durch den geringen Kontakt mit Welt und Menschen, den man durch sie erhalten kann, ihrer „überdrüssig'* wurde. Das war um das Jahr 1652. Am Ende des vorhergehenden Jahres hatte Pascal seinen Vater verloren. Er wußte, daß seine Schwester entschlossen war, ins Kloster einzutreten. Und so verlor er auch sie. Er blieb allein, da Gilberte in Clermont-Ferrand wohnte. In Port-Royal stand

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man ihm kühl und mißtrauisch gegenüber. Er besaß nicht mehr genug Geld, um seinem Stand und seinen Neigungen gemäß zu leben, die anspruchsvoll und kostspielig waren. Seine physikalischen Versuche kosteten ihn immer noch sehr viel Geld. Offenbar machte er eine jener Perioden der Niedergeschlagenheit durch, die im Leben häufig sind. Er hatte wieder unter Kopfschmerzen zu leiden. Er kam sich verlassen vor. Er litt. Viele Menschen suchten seinen Umgang — nicht nur in Gelehrtenkreisen, sondern auch in den Kreisen der großen Welt. So lud im April des Jahres 1652 dieselbe Herzogin d'Aiguillon, für die seine Schwester noch als Kind Komödie gespielt hatte, Herzoginnen und höhere Adlige zu sich, um einer Vorführung der Rechenmaschine und Versuchen über die Fontänen beizuwohnen. Damals machte er die Bekanntschaft eines Nachbars, des Herzogs von Roannes, der der einzige noch unverheiratete Herzog und Pair Frankreichs und darum sehr umschwärmt war. Auch knüpfte er eine Verbindung mit einem merkwürdigen Menschen an, dem Chevalier Méré, dem Freunde und Vertrauten La Rochefoucaulds. Er stürzte sich in diesen für ihn völlig neuen Menschenkreis — einen Kreis großer Lebensskeptiker, die jeder Religion gleichgültig gegenüberstanden, bereits alle möglichen Abenteuer hinter sich hatten und ihren Ehrgeiz darauf beschränkten, das Leben so genießerisch wie möglich anzufassen. Sie hegten Geringschätzung für die menschliche Natur oder hielten sie vielmehr für schwach und anmaßend. Was man große Taten und große Verbrechen, große Tugenden und große Laster und auch, was man große Vermögen

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nennt, das schien ihnen nur Sache des Temperaments und des Zufalls zu sein. In dem Herzen und dem Trachten des Menschen erblickten sie überall nur Mittelmäßigkeit. Übrigens haben uns La Rochefoucaulds „Maximen" diese Weltanschauung bereits enthüllt. Der Chevalier Méré, ein geistvoller Kopf, ein wenig Pedant, grade weil er es nicht sein wollte, der sich in einem gewissen schulmeisterlichen und lehrhaften Wesen gefiel, fügte dieser Psychologie eine Art Moral oder Metaphysik hinzu. Da er das Wohl des Menschen nicht in dem Trachten nach übernatürlichen Gütern oder in der Befriedigung großer Leidenschaften erblickte, schien ihm das Glück letzthin nur in dem erlesenen Auskosten aller Freuden zu beruhen, die jede Stunde bringen mag. Unter diesen Freuden sind die wichtigsten und die zartesten die, die einem aus dem Leben in der Gesellschaft und aus dem geselligen Gespräch erwachsen. Zu einem geselligen Dasein bestimmt, muß der Mensch, wofern er kein „Wilder" bleiben möchte, sein tiefstes Genügen in der Geselligkeit finden. Darauf hatte Méré sein Weltbild aufgebaut. Einerseits verlangte er, daß der Ehrenmann wirklich alle die Vorzüge besäße, deren Scheinvorhandensein die Höflichkeit verlangt, und die den Menschen dem Menschen umgänglich machen: Bescheidenheit, Temperament, Freimut, gesunden Menschenverstand, Güte, vor allem aber keine Spur von Geckenhaftigkeit oder Dummheit. Er war der Ansicht, daß der Schein die Wirklichkeit nicht ersetzen könne, und er erzählte gerne jene Anekdote von einer Dame, der ein Edelmann Liebeserklärungen machte. Die Dame lachte und der Edelmann fragte sie : „Aber was soll ich tun, damit Sie mir glauben ?" — „Mich lieben", antwortete sie. Andererseits versicherte er, daß die besten

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Eigenschaften nichts wert seien, wofern man nicht die Kunst verstünde, durch sie „Gefallen" zu erregen. Nun hängt aber dieses „Gefallen" von individuellen Eigenschaften ab, da es sich an das Herz und an den Willen wendet: „Man muß auf den Menschen, um den es einem zu tun ist, dessen Geist und Herz es zu erkennen gilt, ein scharfes Augenmerk haben — sehen, welchen Grundsätzen er huldigt, welche Dinge er liebt, und dann bei dem Ding, um das es sich handelt, beobachten, in welcher Beziehung es zu den Grundsätzen steht, zu denen er sich bekennt, oder zu den Gegenständen, die erst kostbar werden durch die Reize, die man ihm verleiht."1) Das führte zu der feinsten Menschenbeobachtung und ließ sich nicht ohne ein tiefeindringendes Verstehen ermöglichen. Pascal ließ sich durch diese Theorien verfuhren. Sie schufen ihm Erholung von den abstrakten Wissenschaften. Sie vertrugen sich mit seinen Lebensgewohnheiten. Sie erschlossen ihm ein neues Reich des Denkens und des Forschens. Sie gewährten ihm die Freuden, die ihn am tiefsten zu befriedigen vermochten. Sie lehrten ihn die Menschen und das Menschenherz wirklich verstehen. Später schwor er ihnen nicht stärker ab, als etwa der Geometrie und der Physik. Der Ehrenmann, wie Méré ihn sieht, blieb für ihn immer das Muster menschlicher Vollkommenheit, außerhalb der Religion. Allerdings hatte er Mérés Ideen eine größere Tiefe durch seine eigenen Gedankengänge verliehen und eine größere Breite durch die Lektüre Montaignes, der sein Lieblingsautor wurde. Merkwürdiges Symptom: die beiden „Essais", mit denen er sich am *) Ich zitiere hier Pascal.

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meisten beschäftigte, und die er fast auswendig gewußt haben muß — so häufig zitiert er sie —, sind die „Apologie de Raymond Sebond" und die „Art de conférer", die verkünden, daß man die menschliche Natur geringschätzen und den geselligen Umgang mit Leuten von Welt hochschätzen solle. Man darf sich fragen, ob Pascal sich an die Welt nicht durch andere, stärkere „Reize" gebunden fühlte. Das ist eine sehr ungeklärte Frage. Als er sich später aus der Welt zurückzog, sollte Pascal seiner Schwester versichern, daß ihn dort „schrecklich starke Bande" zurückgehalten hätten. Jacquelinens Wortlaut ist ziemlich doppeldeutig. „Er gestand", sagte sie, „daß er sich bei dem gänzlichen Verzicht auf alle Dinge, zu dem er sich durchgerungen habe, wenn er auch Gott die gleichen Gefühle wie einst entgegenbrächte, sich doch aller Dinge fähig glaube, und daß ihn zu j e n e r Zeit schrecklich starke Bande v e r s t r i c k t halten mußten, wenn er sich so hartnäckig den Gnaden, die Gott ihm erwies, und der großen Kraft, die Er ihm verlieh, verschließen konnte." In dem gleichen Schriftstück versichert Jacqueline noch, daß er schließlich eine äußerste Abneigung vor den Freuden und den Torheiten der Welt empfand. All das könnte an eine große Leidenschaft glauben lassen, die einen tragischen Ausgang nahm: man könnte in La Rochefoucaulds „Maximen" zehn Gedanken finden, die diese Annahme bestätigen würden. Übrigens hat Pascal in ziemlich aufschlußreicher Weise über die Liebe gesprochen, zwar nicht in der berühmten und unechten Abhandlung über die Leidenschaften der Liebe, die nur einige Bruchstücke seiner Gedanken enthält, wohl aber in den „Pensées". Dort ist er genau so bitter wie La Rochefoucauld.

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„Wer die Eitelkeit des Menschen gan2 erfassen möchte, braucht nur die Ursache und die Wirkungen der Liebe zu betrachten. Ihre Ursache ist etwas kaum Greifbares (,un je ne sais quoi' — Corneille), und ihre Wirkungen sind schrecklich." Spricht hier die Erinnerung und der Groll ? Ich zitiere hier noch den merkwürdigen Gedanken, den er neun oder zehn Jahre nach dieser Zeit niederschrieb: „ E r liebt die Frau nicht mehr, die er vor zehn Jahren liebte. Ich glaube sehr, sie ist nicht mehr die gleiche, genau so wenig wie er. Er war jung und sie gleichfalls. Nun ist sie ganz anders. Vielleicht würde er sie lieben, wäre sie noch so, wie sie damals war." Ein Mann von Geist könnte auf diesen wehmütigen Worten einen kleinen Roman aufbauen. Die Frau, die Pascal liebte, weilte in der Ferne. Lange Zeit darauf kehrt sie heim: er zittert für sie und für sich selbst. Er befürchtet ein Erwachen der schrecklichen Leidenschaft. Sinnlose Sorge: sie ist nicht mehr die gleiche, genau so wenig wie er. Und um Gott dafür zu danken, sucht Pascal ein armes, sehr hübsches und sehr gefährdetes Mädchen auf, um es den Priestern von Saint-Sulpice anzuvertrauen, damit sie es auf den rechten Weg zurückführen. Was dieser Wendepunkt ihm auch bedeutet haben mag, Pascal hat es gelernt, sich als den feinsten und scharfsinnigsten Psychologen zu erweisen: er hat den Sinn des „Gefallens" erfaßt; er hat als Muster des Menschen als Menschen den „Ehrenmann" anerkannt. So beginnt sich, geprägt durch das, was ihn das Leben lehrte, die Dreiheit herauszubilden, die in seinen Augen die menschlicheVollkommenheit verkörpert : die des Mathematikers, des Ehrenmannes und des Christen. Nun gilt es noch den Sinn des dritten Wortes zu erfassen : „des Christen".

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V Nicht auf dem gewöhnlichen und alltäglichen Wege kam Pascal von einem lauen und toten Glauben zu seinem durch und durch lebendigen und ihn ganζ beherrschenden Glauben. Er wurde durch den Jansenismus zum „Heiligen". Der Jansenismus war damals weder eine Sekte noch eine Ketzergemeinschaft. Um Saint-Cyran hatte sich ein Kreis von Menschen gebildet. Sie beklagten die laue Haltung der Kirche; sie verabscheuten die neuen Ideen, die in der Moral und in der Theologie auftauchten, um in dem modernen Leben die religiösen Pflichten zu erleichtern. Sie wollten, wie alle Reformatoren, zu der ursprünglichen Reinheit zurückkehren. Aber von den anderen Reformatoren schied sie vor allem ihr Wille, mit der Kirche vereinigt zu bleiben. Nichts fürchteten sie so sehr wie den Vorwurf der Ketzerei. Daher war es ihnen nahezu unmöglich, ihre Gefühlswelt in Gedanken und in bestimmte Glaubenssätze umzusetzen. Hätte die Kirche ihre Glaubenssätze verurteilt, so hätten sie sich weder von der Kirche zu trennen noch auf die ihnen vertraut gewordene Empfindungsweise zu verzichten vermocht. Die Sorbonne trieb sie wider ihren Willen in diese Sackgasse. Die theologische Fakultät von Paris gab, nachdem sie ihre Lehre — an Hand des „Augustinus" des Jansenius — entwickelt und in fünf Leitsätzen zusammengefaßt hatte, diese Leitsätze nach Rom weiter. Die zweideutige Lage der Religionsgemeinschaft zwang sie zu einem zweideutigen Verhalten. Die „Augustinienser" erkannten an, daß die fünf Leitsätze fünf Ketzereien ent-

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hielten. Sie behaupteten, daß diese weder ihr Denken noch das des Jansenius wiedergäben. Dennoch verteidigten sie sie, weil sie in ihnen die Keime der Wahrheit spürten, als deren letzte Anwälte sie sich vorkamen. Als die Leitsätze verurteilt worden waren, blieben sie in derselben schwierigen Lage, unfähig, sich der Verurteilung zu fügen, und doch auch unfähig, sich ihr nicht zu fügen. So kam es zu endlosen Spitzfindigkeiten, wahren Meisterstücken der Dialektik und fortwährenden Abwandlungen. So kam es auch außerhalb der Gemeinschaft und in der Gemeinschaft selbst zu Unruhen, Auseinandersetzungen, Ungewißheiten und mitunter zu offenem Kampfe. Und so kam es schließlich zu Verfolgungen, Verleumdungen und beinahe zum Martyrium. Nun stelle man sich Pascal inmitten dieser Bewegung vor — mit seiner Wahrheitsliebe, seinem wissenschaftlichen Ethos, seinem geschlossenen Charakter und seinem leidenschaftlichen Glauben. Man begreift, daß er unter allen Christen zugleich der glühendste wie auch der skeptischste Jansenist sein mußte. Er litt, er kämpfte, er exponierte sich zusammen mit den anderen. Er suchte gemeinsam mit ihnen; seine Logik, seine Methodik, die Forderungen seines Geistes führten ihn zugleich zu den äußersten Folgerungen, im Doppelsinne dieses Wortes. Die Mitglieder von Port-Royal, die hellsichtige Psychologen waren, liebten ihn als einen ihrer Besten. Aber sie hatten niemals den Wunsch, daß er zu Port-Royal gehöre. Er bewunderte in ihnen die vollkommensten Christen, aber er stellte sich niemals in ihre Reihen. Das hätte in einer weniger starken, weniger aufrechten, weniger religiösen und weniger großen Seele entweder zu Kompromissen oder zum Fanatismus führen können. Von einem

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Extrem ins andere geworfen, hat Pascal im Gegenteil dabei gelernt, ein durchaus überlegenes und unabhängiges Leben zu leben, das kennenzulernen sich lohnt. Das begann mit einem Zufall. An einem Wintertage brach sich Pascals Vater, der damals noch in Rouen wohnte, auf dem Schnee ausgleitend, den Oberschenkel. Zu seiner Pflege bestimmte man zwei brave Orthopäden, die einem normannischen Kreise glühender Anhänger des Augustinismus angehörten. Etienne Pascal spürte sein Alter herannahen, und so dachte er zweifellos an sein Seelenheil. Der Bekehrungseifer seiner Krankenpfleger hatte somit leichtes Spiel; plötzlich überkam ihn ein leidenschaftlicher Drang zur Religion, und da sein Sohn ihm in allem nachstrebte, wurde auch Blaise Pascal Schüler Saint-Cyrans. Jacqueline erlag als dritte diesem Bann. Die ersten Äußerungen dieser religiösen Glut mußten bei Pascal mehr rein geistiger als mystischer Art sein; eine merkwürdige Episode aus dieser Zeit zeigt uns, wie der junge Mann mit seinen Freunden leidenschaftlich bestrebt ist, es einem Mönche heimzuzahlen, der über Fragen der Theologie ohne jedes denkerische Gewissen gesprochen hatte. Der Eifer dieser neuen Bekehrten ist höchst merkwürdig. Aber bei dieser seltsamen Auseinandersetzung bleibt unverkennbar, wie sehr Pascal den Rechten der Wissenschaft verschworen bleibt. Blaise Pascal verzeiht es dem unvorsichtigen Mönche nicht, daß er behauptet hatte, er könne mit Hilfe der heiligen Dreifaltigkeit über Wahrheiten der Physik entscheiden, die nur von der Erfahrung und der Berechnung abhängen. Niemals werden wir Pascal die Wissenschaft und ihre Methodik dem Glauben und der Theologie opfern sehen; er scheidet streng die eine von der anderen; jede hat ihren S t r o w s k i , Wesen

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eigenen Geltungsbereich, ohne daß sie sich ins Gehege zu geraten brauchen. Kaum bekehrt, wurde Pascal, schwer erkrankt, zusammen mit seiner Schwester Jacqueline nach Paris geschickt, um die Ärzte aufzusuchen und strenge Diät zu halten. Begreiflicherweise galt sein erster Besuch PortRoyal. Dort traf er den Herrn de Rebours, den bedeutenden Leiter der Anstalt; nur auf Frömmigkeit bedacht, hatte Herr de Rebours kein Verständnis für die geistige Haltung Pascals, der sich bereits darüber klar geworden sein mußte, daß die Schwäche des Jansenismus für immer in seiner Unfähigkeit, eine geschlossene Doktrin zu bilden, bestehen mußte. Andererseits sieht es nicht so aus, als hätte der junge Mensch bereits den Frieden gefunden, dessen er noch sehr bedurfte. „Weit davon entfernt", sagt er, „anderen genug Erleuchtung gebracht zu haben, habe ich nur Verwirrung und Unruhe über mich selbst gebracht, die Gott allein zu beschwichtigen vermag. Ich betone : die Gott allein zu beschwichtigen vermag . . . Da ich mich so ganz auf mich allein zurückgeworfen sehe, so bleibt mir nur noch übrig, zu Gott zu beten, daß er den Erfolg segnen möge." Er hatte indessen das Beispiel der religiösen Inbrunst seiner Schwester vor Augen, die bereits entschlossen war, ins Kloster einzutreten, und man ersieht aus anderen Briefen, vor állem aus denen, die er über den Tod seines Vaters schrieb, daß es ihn nach einem strengen und nüchternen, geistig wachen und stolzen Christentum verlangte. Bald darauf verließ ihn seine Schwester, sie ging wider seinen Willen ins Kloster und entzog ihm so ihre Gegenwart und ihre schwesterliche Betreuung und sogar die wirtschaftliche Hilfe, deren er sehr bedurfte. Und obwohl

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er sich dabei sehr gefaßt und ritterlich benahm, blieb er doch voller Bitternis und Unzufriedenheit. In dieser Zeit sah er am meisten von der Welt, suchte er Geld zu verdienen und verstrickte er sich vermutlich in jene „schrecklich starken Bande". Diese Lebensweise konnte ihm nicht zusagen; eine schreckliche Leere folgte, wie wir schon sahen, auf die Zersplitterung und den Rausch. Und er wurde so unglücklich, daß er Mitleid erregte, daß er das Leben kaum noch zu ertragen vermochte. Da setzte die religiöse Erfahrung von neuem ein. Seine Schwester Jacqueline, die inzwischen Schwester Sainte-Euphémie geworden war, schreibt am 25. Januar 1655 an M me Périer: „Gegen Ende September des letzten Jahres suchte er mich auf, und bei diesem Besuch erschloß er sich mir in einer Weise, daß ich tiefstes Mitleid empfand: er gestand mir, daß er inmitten seiner sehr ausgedehnten Tätigkeit und alles dessen, was ihn die Dinge dieser Welt hätte lieben lehren können, und dem man ihn mit guten Gründen sehr verbunden glauben mußte, so sehr danach trachte, all dies aufzugeben — einerseits, weil er vor den Torheiten und Freuden dieser Welt eine äußerste Abneigung besäße, und dann, weil ihm sein Gewissen ständige Vorwürfe mache — daß ihm diese Dinge so fern stünden, wie es niemals vorher auch nur annähernd der Fall gewesen sei; daß er aber überdies sich so sehr von Gott verlassen vorkomme, daß er von dorther keinen Ruf verspüre, daß er sich aber trotz alledem mit seiner ganzen Kraft Ihm zuwende, daß er aber dabei sehr wohl spüre, daß mehr seine Vernunft und sein eigener Geist ihn zu dem trieben, was er als das Beste erkannt habe, und nicht etwa ein leiser Ruf Gottes . . Diese Ermattung 12·

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und Niedergeschlagenheit schwand ganz plötzlich in einer Nacht der Offenbarung und höchsten Erregung, deren Zeugnis und Gedächtnis Pascal während seines ganzen übrigen Lebens bewahrt hat. Dies ist das Dokument, das man nach seinem Tode in seinen Kleidern fand: *

Das Jahr der Gnade 1654. Montag, den 23. November, Namensfest von St. Clemens, dem Papst und Märtyrer, und von anderen nach dem Martyrologium. Vigil von St. Chrysogonus, Märtyrer, und von andern. Seit etwa halb elf Uhr abends bis ungefähr halb eins, FEUER Der Gott Abrahams, der G o t t Isaaks, der G o t t Jakobs, Nicht der Philosophen und Gelehrten. Gewißheit. Gewißheit. Lebendiges Durchdrungensein. Freude. Frieden. Der Gott J e s u C h r i s t i Deum meum et Deum vestrum. Dein Gott wird mein Gott sein — Vergessen der Welt und alles andern außer Gott. E t ist nicht zu finden, es sei denn auf den Wegen, die das Evangelium bezeichnet. GRÖSSE DER MENSCHLICHEN SEELE Gerechter Vater, die Welt hat dich nicht erkannt; aber ich habe dich erkannt. Freude, Freude, Freude, Tränen der Freude. Ich habe mich von ihm getrennt — Dereliquerunt me fontem aquae vivae. Mein Gott, du willst mich verlassen ? Daß ich doch nicht ewig von ihm getrennt würde ! Dies ist das ewige Leben, daß sie dich als den einzigen und wahren Gott erkennen und den, den du gesandt hast, Jesum Christum. Jesus Christus Jesus Christus — Ich habe mich von ihm getrennt. Daß ich doch niemals von ihm getrennt würde ! Du behältst ihn nicht, es sei denn auf den Wegen, die das Evangelium bezeichnet.

VÖLLIGER SÜSSER VERZICHT.

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Eine durch Pascal selbst oder unter seinen Augen hergestellte Abschrift bestätigt und ergänzt die graphischen Andeutungen dieses Schriftstücks. Wir sehen, daß die für Pascal entscheidenden, nämlich die ihn beherrschenden Empfindungen ausdrückenden Worte der Name Gottes, der Name Jesu Christi, der völlige und süße Verzicht und — eine entscheidende Offenbarung — die Größe der menschlichen Seele waren: diese Größe der menschlichen Seele wie andererseits der Glaube an Jesus Christus stellen seitdem und für immer sein Denken in Gegensatz zu dem La Rochefoucaulds, Mérés und ihrer Freunde. Auch müssen wir beachten, daß Pascal: „Feuer" schrieb, und nicht etwa „Flamme", und daß ihm also nicht eine einmalige Erleuchtung oder Vision zuteil wurde, sondern eine stille läuternde Glut, die ihm in seiner tödlichen Niedergeschlagenheit neue Kraft verlieh. Übrigens hat Pascal während dieses ganzen Abends das Evangelium vor Augen gehabt und immer wieder bei ihm Zuflucht gesucht. Eine merkwürdige Erfahrung, die Pascal für immer den Weg weisen sollte. Ständig kommt er darauf zurück, wenn es gilt, die großen abstrakten Prinzipien der Religion zu erörtern und zu rechtfertigen. Was tut Pascal während des ersten Jahres nach seiner Bekehrung ? Ohne Zweifel genoß er die stillen Freuden des bußfertigen Lebens um so lebhafter, als sein „Feuer" noch keine Asche kannte. Wir wissen, daß er eine neue Methode erfand, den Kindern das Lesen beizubringen, und vielleicht beauftragte man ihn mit der Leitung von Kinderschulen. Jedenfalls gehört er nicht zu Port-Royal; es bleibt eine Quelle des Erstaunens für uns und ein Rätsel für die Geschichte, daß

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er sich nicht in die Einsamkeit zurückzog, und daß er nicht einer „dieser Herren" wurde. Zu Ende des Jahres 1655 war die Situation fur die Jansenisten gespannt und schwierig; die fünf Leitsätze waren in Rom verdammt worden, und die Bischöfe wie auch die Kleriker-Versammlung hatten ein Schriftstück aufgesetzt, das jeder Mönch oder jeder Priester unterzeichnen mußte, und in dem man sich ausdrücklich der Verurteilung anschloß. Da die Jansenisten dies ablehnten, so war eine Art schweigenden Übereinkommens entstanden, demgemäß die Jansenisten zwar zugaben, daß die fünf Leitsätze Ketzerwerk seien, aber zugleich leugneten, daß sie sich im Werke des Jansenius selbst befänden und seiner Denkweise entsprächen. Ein heikler Standpunkt, den man nur durch Schweigen aufrecht erhalten konnte. Nach einigen Monaten solch notwendigen Schweigens lösten sich die Zungen gar zu schnell, und die Leidenschaften flammten von neuem auf. Ein Priester von Saint-Sulpice verweigerte dem Herrn de Liancourt auf Grund seiner Beziehungen zu den Jansenisten die Absolution. Arnaud ergriff die Verteidigung des Herrn de Liancourt durch eine Reihe von Schriftstücken, an denen die Pariser Universität Anstoß nahm, so daß Arnaud, obwohl er Doktor war und obendrein der Sorbonne angehörte, sich in der bedrohlichsten Lage sah: er mußte befürchten, daß man ihn von der Universität verjagen, ihm seinen Doktortitel aberkennen, ihm jede kirchliche Autorität entziehen, und daß er so gezwungen sein würde, sich verborgen zu halten. Die Gemeinde hielt es für günstig, an die öffentliche Meinung zu appellieren und beauftragte Pascal damit, Frankreich den

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eigentlichen Grund des Streites auseinanderzusetzen. So entstanden die „Lettres Provinciales". Ein Mann wie Pascal setzt, selbst wenn er der gewissenhafte Anwalt einer Sache ist, seine eigenste Persönlichkeit ein und spielt so innerhalb ihrer gleichsam sein eigenes Spiel. Er bleibt nicht draußen wie ein Künstler, der die von einem anderen komponierte Symphonie aufführt, er ist Schriftsteller und Lehrer in einer Person; er gerät selbst unter den Einfluß der Empfindungen, die er beschwört, und die Klarheit, mit der er die anderen beleuchtet, macht zunächst seine eigenen Augen hellsichtiger. Was finden wir nun in den „Lettres Provinciales" ? Zunächst eine Erörterung, die den Gelehrten und den Mathematiker verrät, und zwar über den Gebrauch und die Begriffsbestimmung gewisser Worte, wie „grâce suffisante", „pouvoir prochain" usw. . . . Aber bald fangt Pascal Feuer; er wendet sich unmittelbar an die innersten Bezirke eines jeden menschlichen Gewissens. Er betont den absoluten Charakter der christlichen Moral und die Notwendigkeit, Gott zu lieben, um erlöst zu werden: man solle sich vor den Juristen hüten und vor den Krämern, die hier handeln wollen, die die enge Straße erweitern und ständig mit den Forderungen des Glaubens feilschen möchten. Diesen Kampf führt er nicht als Theologe, sondern als Mann von Welt. Er schreibt eine lebendige und nuancenreiche Komödie in einem sehr gefeilten, sehr natürlichen und sehr schmiegsamen Französisch. Vielleicht vergaß er für einen Augenblick in der Bezauberung dieses Spieles die große Schwermut des christlichen Lebens. Vielleicht vergaß er sogar, daß er Christ war.

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Zwei Ereignisse rufen es ihm zu sehr gelegener Zeit ins Gedächtnis zurück. Das erste ist die Bekehrung der MUe de Roannes. Als Schwester seines Freundes vertraut sich ihm dieses junge Mädchen in ihren Absichten und in ihrer Ohnmacht an; sie öflnet ihm ihr Herz. Er glaubt, dort gewisse Fingerzeige des Himmels zu erkennen; er wird ihr geistiger Führer und Tröster, und während er ihr beisteht, prüft er sich selbst aufs tiefste und bestärkt sich so in dem zwiefachen Gefühl des Gehorsams gegenüber der Wahrheit und der Unterwerfung dem Papst gegenüber, ohne daß er weder die Wahrheit, die seine Augen ihm offenbaren, noch die Einheit, die der Papst verkörpert, zu opfern vermochte. Außerdem hatte Pascal damals ein überraschendes und einigermaßen bestürzendes Erlebnis. Grade als man in Rom seine „Lettres Provinciales" verurteilen wollte, und als bereits die Regentin sich anschickte, die „Einsiedler" zu zerstreuen und Port-Royaldes-Champs zu schließen, wurde Marguerite Périer, Pascals eigene Nichte, die in Port-Royal Stiftsdame war, plötzlich von einer Fistel am Auge durch die Berührung mit einer Reliquie „des Heiligen Dornes" geheilt. Das Wunder wurde durch alle Ärzte bestätigt. Es war, als hätte Gott Pascal persönlich eine Antwort erteilt. Sein Leben und seine Seele wurden dadurch aufs tiefste erschüttert. Etwas wie eine Krise des Jubels und des Stolzes kam über ihn, die sich in dem Wandel des Tonfalls der „Lettres Provinciales" verrät. Er erwog, wie das die großen Häretiker getan hatten, statt an den Papst, der ihn verurteilte, an Gott zu appellieren, der ihn mit Glorie umgab. Daher der neue Akzent der sog. „Petites Lettres", der weniger den Mann von Welt, weniger den

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„Ehrenmann" verrät und voller prophetischer Verkündigungen und selbstherrlicher Herausforderungen ist. Die „Lettres Provinciales" endeten bei dem 18. Briefe, der, wir wissen nicht recht warum, einen weniger scharfen und versöhnlicheren Ton anschlägt. Aber in seinem Herzen sollte Pascal nicht weniger leidenschaftlich bleiben. Nachdem er sich wieder den Wissenschaften zugewandt und eine sehr wesentliche Entdeckung in der Geometrie gemacht hatte, begnügte er sich nicht damit, sie der gelehrten Welt darzulegen; er trug sie in rätsei- und problemreicher Form vor, damit man die unvergleichliche Gewalt seines Geistes ermessen könne, dem kein anderer gewachsen sei. Das ist der Stolz des von der Wissenschaft auserwählten Menschen, der sich dem Stolze des von Gott auserwählten Menschen gesellt. Wir sehen, wie diese Selbstherrlichkeit auch zutage trat, als Pascal in den inneren Streitigkeiten Port-Royals zu vermitteln bestrebt war. Er hatte, als das sogenannte „Formelbuch" herauskam, versucht, die Jansenisten mit den Bischöfen und vor allem mit den führenden Geistlichen von Paris auszusöhnen. Und dann wurde er ganz plötzlich nach dem Tode seiner sehr stolzen und unlenksamen Schwester selbst intransigent. Er beschuldigte seine Freunde, daß sie die Wahrheit zum Opfer bringen wollten, und er, der sich niemals vom Papst hatte trennen wollen, machte dem Papst den Vorwurf, daß er den teuflischen Wunsch gehabt habe, die Wahrheit zu unterdrücken. Auch dieses Fieber legte sich; zuerst schwand der wissenschaftliche Hochmut, wir wissen nicht, unter welchen Einflüssen. Aber wir besitzen ein Zeugnis darüber in dem berühmten Briefe an Fermât, in dem Pascal erklärt, daß er es ablehnen würde, auch nur einen Schritt

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zu tun, um einen Mathematiker zu sehen, daß er sich aber eiligst nach Toulouse begeben würde, falls es dort einen Ehrenmann zu sehen gäbe. Und sein jansenistischer Eifer schwand nach erbitterten Auseinandersetzungen, in denen trotz aller ihrer Vorbehalte ihm die Freunde von PortRoyal einige ziemlich harte Wahrheiten sagten und dieselben Vorwürfe ihm gegenüber erhoben, die ihm bis dahin die Jesuiten wegen der „Lettres Provinciales" gemacht hatten. Und das führte schließlich zu einer neuen Krise religiöser Inbrunst und Unterwerfung, zu einer neuen Bekehrung. Pascal legte eine allgemeine Beichte ab; er gab es ein für allemal auf, sich in die Angelegenheiten der Jansenisten zu mischen; man findet weder seinen Namen noch überhaupt die geringste Spur von ihm in den jansenistischen Schriften jener Jahre. Er widmete alle ihm verbleibende Kraft der Aufgabe, den Freigeistern und den Gottlosen das Evangelium zu predigen und seine große „Apologie der christlichen Religion" vorzubereiten. Seine einzige Zerstreuung bestand darin, dem Gottesdienst und den schönen religiösen Feierstunden in den verschiedenen Pariser Kirchen zu folgen: er hatte sich eine Art Kalender angelegt, um hier ja nichts zu versäumen. Kurz, während dieser neuen Periode seiner Entwicklung erfuhr seine geistige Tätigkeit keine Unterbrechung, aber sie wurde von jedem Hochmut, von jedem Sektengeist frei und hatte nur noch den Dienst an der Sache Gottes und den Dienst an seinen Mitmenschen im Auge. Doch auch das war trotz all seiner Reinheit noch nicht die letzte Stufe. Pascal fühlte sich mit der Zeit immer kranker. Die Ärzte

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untersagten ihm jede andauernde Tätigkeit. Sein Gedächtnis verließ ihn; es war, so wunderbar genau und schnell es gearbeitet hatte, so schwach geworden, daß, sobald ihm ein Gedanke oder eine Formel einfiel, er sie sofort auf ein Blatt Papier, an den Rand eines Buches oder eines Registers niederschreiben mußte, bisweilen sogar auf seine Handkrausen. Um dieselbe Zeit wuchs sein Verlangen, Jesus Christus nachzufolgen, unaufhörlich,so sehr, daß er schließlich, um seinem Meister mehr zu gleichen, den Entschluß faßte, sich alles dessen, was er besaß, zu entledigen und sich ausschließlich dem Dienste an den Armen und Kranken zu widmen. „Seine Mildtätigkeit gegenüber den Armen", sagt seine Schwester, „war immer schon sehr groß gewesen, aber sie verstärkte sich gegen Ende seines Lebens so sehr, daß ich ihm nichts Lieberes antun konnte, als mit ihm darüber zu sprechen. Er ermähnte mich inständig, mich dem Dienste an den Armen zu widmen und auch meine Kinder dazu anzuhalten. Er sagte immer wieder, daß das der eigentliche Beruf der Christen s e i . . . daß nur und allein daraufhin Jesus Christus einst die W e l t richten werde." Unter diesem Beistand den Armen gegenüber verstand er vor allem den täglichen Dienst im einzelnen und nicht etwa eine unverpflichtend allgemeine Hilfsbereitschaft. „Seiner Ansicht nach bestand die Gott wohlgefälligste Weise darin, daß man den A r m e n in A r m u t diene, und zwar ein jeder nach seinem Vermögen." Während seiner letzten Krankheit äußerte er den Wunsch, man möge ihn zu den Unheilbaren legen: ein Armer solle seinen Platz einnehmen und so die ihm selbst zugedachte Pflege erhalten.

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Man darf beinahe behaupten, daß sein Tod eine letzte Bekehrung war — vor dem Letzten Gericht. Die Ärzte wollten nicht glauben, daß seine Leiden die Vorboten des Todes waren. Und so lehnte man, der jansenistischen Strenge gemäß, es ab, Pascal die letzte Wegzehrung zu bringen. Aber er, der sein Ende nahe fühlte, trug glühendes und schmerzliches Verlangen nach dieser Tröstung. Mit unglaublicher Dringlichkeit, so erzählt seine Schwester, bat er, man möge ihm die Kommunion geben, und im Namen Gottes möge man doch Mittel und Wege finden, all den Schwierigkeiten abzuhelfen, die man bis dahin angeführt habe, und er bat so inständig darum, daß einer der Anwesenden ihm wegen seiner Unruhe Vorwürfe machte: er solle sich mit dem Urteil seiner Freunde abfinden, es ginge ihm schon besser, er habe fast keine Kolik mehr, und da er nur noch an einer Art Grille leide, so habe er kein Recht darauf, sich das heilige Sakrament bringen zu lassen. Besser wäre es, er verschöbe das, um in der Kirche diese heilige Handlung nachzuholen. „Man spürt nicht, wie krank ich bin, und man täuscht sich sehr", gab er zur Antwort, und er wartete voller Angst, der Tod könne ihn überraschen. Eines Abends schließlich, am 17. August 1662, bat er, nachdem die Ärzte ihn auf seinen Wunsch untersucht und außerhalb jeder Gefahr erklärt hatten, seine Schwester um einen Geistlichen, der die Nacht über bei ihm bleiben solle. Sie erzählt: „Ich selbst fand ihn so krank, daß ich heimliche Anweisung gab, die Wachskerzen und alles Notwendige herbeizuschaffen, damit man ihn am nächsten Morgen kommunizieren lassen könne. Gegen Mitternacht überkam ihn ein solch heftiger Krampf, daß wir, als er

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vorüber war, ihn tot glaubten; und zu allem andern hatten wir den bittersten Kummer, ihn ohne das heilige Sakrament sterben zu sehen, nach dem er doch so inständig verlangt hatte. Aber Gott, der einen so inbrünstigen und berechtigten Wunsch belohnen wollte, ließ, wie durch ein Wunder, diesen Anfall noch einmal vorübergehen und gab ihm seine volle Urteilskraft, wie in den Zeiten seiner besten Gesundheit, wieder, so daß der Herr Pfarrer, mit dem heiligen Sakrament ins Zimmer tretend, ihm zurief: „Hier bringe ich dir Den, nach Dem du so sehr Verlangen trugst." Diese Worte weckten ihn wieder völlig auf, und als der Herr Pfarrer zu ihm trat, um ihm die Kommunion zu reichen, sammelte er noch einmal seine Kraft und richtete sich ganz allein zur Hälfte auf, um ihn so ehrerbietiger zu empfangen; und nachdem der Herr Pfarrer ihn, dem Brauche gemäß, über die wichtigsten Glaubensgeheimnisse befragt hatte, antwortete er klar und deutlich: Ja, Herr Pfarrer, ich glaube an alles das aus ganzem Herzen. Dann empfing er die Heilige Wegzehrung und die Letzte Ölung mit solch tiefer Ergriffenheit, daß er dabei Tränen vergoß: er antwortete auf alles, dankte dem Herrn Pfarrer, und als dieser ihn mit dem heiligen Kelch segnete, sprach er: Möge Gott mich niemals verlassen. Es waren wohl seine letzten Worte." Das war das letzte religiöse Erlebnis Pascals. Er hatte den Kreis durchmessen: er war zugleich in die Heiligkeit und in den Tod eingegangen.

ABSCHNITT I X

PASCALS PHILOSOPHIE Im Sommer des Jahres 1654, also während der leidschweren Monate, in denen er der Welt überdrüssig war und doch noch nicht den leisesten Ruf Gottes vernahm, hatte Pascal mit seinem Freund, dem Chevalier Méré, eine lange Auseinandersetzung über die Teilbarkeit ins Unendliche und über die mathematische Unendlichkeit. Méré schrieb ihm: „Sie werden immer in den Irrtümern befangen bleiben, denen Sie durch die falschen Definitionen der Geometrie verfallen sind, und ich kann keinesfalls glauben, daß Sie von der Mathematik gänzlich geheilt sind, solange Sie behaupten, daß jene kleinen Körper, von denen wir neulich sprachen, sich bis ins Unendliche teilen lassen." Pascal schrieb seinerseits an Fermât (am 29. Juli 1654): „ E r ist ein vorzüglicher Kopf, aber er ist kein Mathematiker (wie Sie wissen, ist das ein großer Fehler); ja er begreift sogar nicht einmal, daß eine geometrische Linie sich ins Unendliche teilen läßt, und er glaubt die Ansicht vertreten zu können, daß sie aus einer begrenzten Zahl von Punkten bestehe; niemals habe ich ihn davon abbringen können. Wenn Sie das fertig brächten, so könnte man ihn vollkommen machen." Obgleich in der Abschrift, in der uns dieses Fragment erhalten blieb, Mérés Name nicht völlig ausgeschrieben ist, kann man kaum daran zweifeln, daß von ihm die Rede ist.

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Nun blieb uns aber die ganze Beweisführung erhalten, deren sich Pascal dem Chevalier gegenüber so erfolglos bedient. Sie ist so überzeugend, daß man, je mehr man darüber nachdenkt, Mérés mathematische Blindheit als immer unwahrscheinlicher empfindet. Nicht mangelnde Einsicht konnte es Méré verwehren, solch evidente Wahrheiten zu „begreifen" oder vielmehr sie anzuerkennen : er sträubte sich dagegen, weil er die Nachwirkungen und die gesamten Folgen klar vor Augen hatte, die diese Mathematik in Pascals Gedankenwelt zeitigen mußte. Er führte seine ganze Vernunft gegen eine ganze „Philosophie" ins Feld. Übrigens hat Pascal selbst uns dargelegt, inwiefern sein Begriff der Teilbarkeit im Keime schon seine ganze Philosophie enthält: „Ein ähnliches Verhältnis wird man finden zwischen Ruhe und Bewegung und zwischen einem Augenblick und der Zeit; denn alle diese Dinge sind ihren Größen ungleichartig, weil, wenn sie auch unendlich oft vervielfältigt werden, sie doch stets nur Unteilbare bilden können, ebenso wie die Unteilbaren der Ausdehnung und aus demselben Grunde. Und nun wird man zwischen all diesen Dingen eine v o l l kommene Wechselbeziehung bemerken; denn all jene Größen sind teilbar ins Unendliche, ohne je zu ihren Unteilbaren herabzusinken, so daß sie alle die Mitte halten zwischen dem Unendlichen und dem Nichts. Das ist das bew u n d e r u n g s w ü r d i g e Verhältnis, welches die Natur zwischen diesen Dingen aufgestellt hat, und die beiden wunderbaren Unendlichkeiten, welche sie den Menschen vorgelegt hat, nicht um sie zu begreifen, sondern um sie zu bewundern; und um ihre Betrachtung mit einer letzten Bemerkung abzuschließen, will ich hinzufugen, daß diese beiden Unendlichkeiten, obwohl unendlich verschieden, dennoch in einem solchen Verhältnis zueinander stehen, daß die Erkenntnis der einen notwendig zu der Erkenntnis der anderen führt.

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Diejenigen, welche diese Wahrheiten klar erkennen, v e r m ö g e n die G r ö ß e und M a c h t d e r N a t u r in d i e s e r z w i e f a c h e n U n e n d l i c h k e i t , die uns ü b e r a l l u m g i b t , 2 u b e w u n d e r n und sich selbst v e r m ö g e d i e s e r w u n d e r b a r e n B e t r a c h t u n g recht k e n n e n z u l e r n e n , i n d e m sie sich h i n e i n g e s t e l l t sehen z w i schen eine U n e n d l i c h k e i t und ein N i c h t s an A u s d e h n u n g , z w i s c h e n eine U n e n d l i c h k e i t und ein N i c h t s an Z a h l , z w i s c h e n eine U n e n d l i c h k e i t u n d ein N i c h t s an B e w e g u n g , z w i s c h e n eine U n e n d l i c h k e i t und ein N i c h t s an Z e i t . Daraus kann man sich nach seinem w a h r e n W e r t k e n n e n l e r n e n und daraus sehr b e d e u t s a m e B e t r a c h t u n g e n a b l e i t e n , die m e h r w e r t s i n d , als die g a n z e ü b r i g e G e o m e t r i e . "

Diese let2ten Zeilen sind vollkommen klar. Hier offenbart sich Pascals Hintergedanke; man kann dem Mathematiker sogar vorwerfen, daß er in ihnen sich einer Art von Sophismus schuldig macht oder, um es weniger hart auszudrücken, einer unangebrachten Geltungserweiterung der mathematischen Denkweise. Pascal ist tatsächlich von einer in Wirklichkeit gar nicht existierenden Linie ausgegangen und von einer rein theoretischen Eigentümlichkeit dieser imaginären Linie, um in jäher Wendung zur Wirklichkeit überzugehen: für das Seiende und sogar für ein so vielschichtiges Geschöpf wie den Menschen bringt er mathematische Begriffe in Anwendung, die nur im Geiste ihren Ursprung haben. Er verwechselt das Abstrakte mit dem Konkreten; Méré hätte sich Pascals Denkweise vermutlich angeschlossen, wenn Pascal nur als Mathematiker gesprochen hätte; aber da er als Psychologe und als Philosoph spricht, verharrt Méré auf seinem Standpunkt. Er sagte sich vielleicht, daß Pascals Leidenschaft ihn von den klassischen Bahnen sehr weit abführe, und daß seine Philosophie der Geistesart des Franzosen zuviel zumute, als daß sie diese nicht in Gefahr bringen würde.

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Aber Pascal konnte nicht anders. Er war geborener Mathematiker, und er blieb Mathematiker. Er blieb dabei, alles unter dem Gesichtswinkel der beiden Unendlichkeiten zu betrachten. Er sah die gesamte Schöpfung, wenn man so sagen darf, „am Hange der Unendlichkeit" schwebend und unaufhörlich strauchelnd, gleich einer Herde am Rande eines Berges : der Gipfel bleibt unzugänglich, und der Fuß des Berges ist es nicht weniger; so suchen die Tiere ihre Nahrung, während teils Erschöpfung, teils Gefahr sie bedroht. In dieser unseligen Lage ist der Mensch seinem Innern wie auch der Außenwelt gegenüber. Pascal zeigt ihn, wie er zwischen den beiden Unendlichkeiten hin- und hergeworfen wird und in sich selbst diese beiden Unendlichkeiten birgt. Das ist einer der Pole seines Denkens. Die schönsten Fragmente, die schlagendsten, die farbigsten und eindringlichsten handeln von den beiden Unendlichkeiten. Etwa ein Viertel der „Pensées" handelt unmittelbar von ihnen, und die drei anderen Viertel setzen sie voraus. Man braucht die Seiten, die „Les disproportions de l'homme" überschrieben sind, und in denen der Mensch „in den allumfassenden Schoß der Natur" wieder aufgenommen wird, nicht zu zitieren — kaum daß man an sie zu erinnern braucht. Hier ist der Anblick des Manuskriptes sehr aufschlußreich. Auf ein großes Blatt Papier, das rechts und links weite Ränder aufweist, schrieb seine Hand mit großartigem und flüchtigem Duktus die Worte, die ihm offenbar von selbst zuströmten, so vertraut und lieb war ihm dieser Gedanke geworden I Kaum daß einige Verbesserungen notwendig waren. Skrowski, Wesen

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Die berühmte „Wette" entstammte gleichfalls seinem „zentralen" Anliegen. Sie trägt die Überschrift: „Das Unendliche — das Nichts." Es handelt sich hier um eine neue Art des Rechnens und des Denkens, die für die Fälle bestimmt ist, in denen der Mensch zwischen den ihm gleichermaßen unzugänglich bleibenden Polen des „Unendlichen" und des „Nichts" sich entscheiden muß, als wenn er sie kennte. Pascals Geist scheint sich hier am wenigsten sicher gefühlt zu haben: die Anforderungen des Rechnens zwangen ihn dazu, über den gewohnten Kreis seiner Themen hinauszugehen; daher erklären sich jene Überarbeitungen und jene ausführlichen Ergänzungen, von denen das Schriftstück übervoll ist. Pascal findet zu seiner ganzen Überlegenheit zurück, sobald er es nicht mehr mit der äußeren Lage, sondern mit dem eigentlichen Wesen des Menschen zu tun hat, mit jener Zerspaltenheit und Disharmonie, die die Mathematik ihm enthüllt hatte. Wenn der Mensch sich zwischen den beiden Unendlichkeiten gleichsam in einer ungewissen Mitte befindet, so birgt er beide in sich; von Geburt aus sind ihm zwei einander widersprechende Neigungen und Antriebe nach jeder dieser beiden Unendlichkeiten hin eigen. Das Nichts zieht ihn an, das Absolute aber nicht weniger. „Das Elend und die Größe" — beides ist ihm gleichermaßen vertraut; ohne sich jemals von einer der beiden Lockungen freimachen zu können, ohne daß es ihm jemals gelänge, entweder ganz elend oder ganz groß zu sein. Von seiner Geburt her ist es ihm verhängt, zugleich das eine und das andere zu sein: „da das Elend aus der Größe und die Größe aus dem Elend erwächst." Schließlich lassen sich alle Gedanken Pascals über die Tragweite der Wissenschaft vom Menschen, über das

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Ungeklärte und Zweideutige in Fragen der Religion auf den gleichen Grundgedanken zurückführen. Es sind Zweige eines und desselben Baumes. Man dürfte mit Recht darüber staunen, daß Pascal einer der einfachsten und banalsten Ideen der Mathematik eine solch entscheidende Bedeutung beimaß, wenn man von seinem Leben und den Wendepunkten seiner Erfahrung nichts wüßte. Wir haben sie eingehend genug geschildert, so daß seine Philosophie jedem verständlich werden kann. Immer und überall, in der Physik genau so wie in der Moral, in der Moral wie in der Religion, traf er auf die beiden Unendlichkeiten, wenn er sein jeweiliges Empfinden oder seine Erinnerungen prüfte. Die beiden Unendlichkeiten waren ihm der Schlüssel für alles. Ohne sie würde Pascal ein „unbegreifliches Phänomen" bleiben. Was ist letzthin die Wissenschaft ? Ein Streben nach einer restlosen Erkenntnis der Natur; sie ist niemals völlig ergebnislos und doch niemals endgültig abgeschlossen. Was heißt, nach der Ansicht der Welt, „glücklich leben" ? Sich ständig an wandelbare Verhältnisse anpassen — in einer fortwährend umgestürzten und dennoch fortwährend sinnvollen „Ordnung" sich behaupten 1 Und was ist der Glaube ? Eine Verbundenheit mit der Wahrheit Gottes, ein Gemenge aus Schatten und Licht, aus Sünde und Tugend, ein ansteigender und abfallender Weg, ein ständiges Straucheln in einem ständigen Aufstieg. Das lehrt ihn nicht nur sein Denken: das bestätigt ihm vor allem sein Leben selbst. Bald sollte ihn nicht mehr allein seine Erfahrung den Sinn der beiden Unendlichkeiten lehren. Die Religion behält das letzte Wort. Das Dogma der Erbsünde liefert ihm die vollkommenste Bestätigung aller seiner theoreti13·

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sehen Gedanken. „Was könnte man ohne sie (die Erbsünde) über den Menschen aussagen ? Alles hängt von diesem winzigen Punkte ab", schreibt er. So führt die Theologie ihn zu seinem Ausgangspunkt zurück und gibt ihm den letzten Aufschluß darüber, wie es um den Menschen steht: um sein Elend und um seine Größe. Man muß zugeben, daß wir an diesem Gipfelpunkt über den Empirismus der Moralisten weit hinausgelangt sind, sowohl derer, die Pascals Vorgänger sind, wie auch derer, die nach ihm kamen. Weder Descartes noch Spinoza haben eine so umfassende und so geschlossene Philosophie des Menschen geschaffen. Man muß einen Augenblick innehalten, um ihren Tiefsinn zu bewundern : zum erstenmal seit Pythagoras gelang es dem Genie der Mathematik, das in seinen Formeln, seinen Gesetzen und seinen Ableitungen die Welt des Raumes in geschlossenem Zusammenhang darzustellen vermag, zusammen mit dem gesamten Weltall auch jene vielschichtige und ungreifbare Wesenheit, jene „moralische" Wirklichkeit zu umfassen, die Mensch heißt. Aber dieser Fortschritt sollte teuer erkauft sein. Das Gleichgewicht der Moralvorstellungen und des Typus menschlicher Vollkommenheit, wie ès der Lebensklugheit der klassischen Moralisten vorschwebte, ist seitdem ins Wanken geraten. Diese Meister hatten die Vorsicht besessen, gewisse Anlagen der menschlichen Natur wie die Unruhe und das Verlangen nach Glück nicht übermäßig zu betonen. Sie hatten diesen Seiten der „inneren" Wirklichkeit gegenüber nicht die Augen verschlossen; aber sie hatten doch ihr Augenmerk nicht besonders auf sie gerichtet. Pascal war so „unvorsichtig". Denn schließlich lautet der wahre Name jener inneren Verfassung, auf die er die mensch-

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liehe Natur letzthin zurückführt: „Unruhe": „Unbeständigkeit, Überdruß, Unruhe — das ist der Mensch", so sagt er. Nach seiner Ansicht machen Verwirrung und Rastlosigkeit, zusammen mit dem törichten Drang nach Zerstreuung oder der bitteren Verzweiflung eines eitlen Trachtens, den Menschen aus. Selbst wenn er ihm entflieht, wenn es Pascal gelingt, sich und uns ihm zu entreißen — immer wird sein Herz voll heimlicher Unruhe bleiben. Es ist wie mit dem Bedürfnis nach Alkohol; für einen Tag, eine Woche, einige Monate beschwichtigt man es; dann ergreift es einen von neuem; man glaubt, ohne ihn nicht zu leben. Ohne ihn erscheint alles fade und eintönig. Bis zu seinem Tode hat Pascal diese ständige Unruhe verfolgt. „Die Flüsse Babylons fließen und fallen und reißen alles mit sich. O heiliges Zion", schrieb er, „wo alles beständig ist und nichts ins Wanken gerät." Erst im Erwachen seiner Todesnacht hat er diese Mauern Zions zu sehen bekommen. Wer nun in solch ständiger Unruhe lebt, muß sich ein Ziel setzen, das wandelbar wie sein Herz ist, und dieses Ziel wird nur das Trugbild des Glückes sein können. Das Glück ist selbstverständlich das Ziel eines jeden menschlichen Wesens; aber man darf aus ihm keine über das uns Beschiedene hinausliegende Wirklichkeit machen; man darf aus ihm kein verwunschenes Schloß machen. Unsere klassischen Moralisten machen es zu einem Teil unseres eigenen Wesens, mengen es in jede Einzelheit des Lebens, lassen es mit jedem Schlage unseres Herzens eins werden. Das Glück — das ist jener Augenblick, in dem wir ein Gemälde betrachteten, in dem uns unsere Arbeit Heiterkeit und Erfüllung schuf, in dem wir eine zarte Neigung spürten:

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IX. Pascals Philosophie „Was ist das Glück ? Vielleicht ein blaues Tal, In dem wir — lang ist's her I — den Hasen jagten,"

sagte Francis Jammes. Wir brauchen keinen Kreuzzug zu unternehmen, um es zu erobern; wir brauchen nur die Hände hinzuhalten. Nach Pascal können wir seiner in keinem Augenblicke teilhaft werden: es ist so schrecklich fern von uns, daß wir unsere Lenden gürten, den Pilgerstab ergreifen und, ohne uns je zu verlaufen, voller Leiden auf Wegen wandeln müssen, auf denen die Dornen die Blüten ersticken. Dieses unerreichbare Glück gleicht der Unruhe. Hat sich das Herz einmal daran gehängt, so kann es nicht mehr darauf verzichten. Die Vorstellung dieses Glückes wird zu einer Besessenheit und einer Zwangsvorstellung. Es war sehr tinvorsichtig von Pascal, daß er so tyrannische und so vernunftlose Mächte entfesselte. Allerdings glaubte er, für solche Tyrannei und solche Vernunftlosigkeit ein Heilmittel entdeckt zu haben. Auch dieses Mal lieferte ihm die Mathematik Prinzipien, die in einem gewissen Maße Ordnung und Beständigkeit zugleich zu gewährleisten vermochten. Wie man weiß, schreibt er in seiner Abhandlung über „La somme des puissances numériques": „Wenn es sich um stetige Größen handelt, so kann man eine Quantität beliebiger Größe und Ordnung einer Quantität höherer Ordnung hinzufügen, ohne daß man dieser damit etwas hinzufügt. So f ü g e n die P u n k t e den L i n i e n , die L i n i e n den F l ä c h e n u n d die Flächen den K ö r p e r n n i c h t s h i n z u . . . darum darf man den minderen Ordnungen, soweit sie keinen Wert be-

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sitzen, keine Beachtving schenken. Was ich hier sage, ist denen, die sich mit den Unteilbaren beschäftigen, vertraut, aber ich h a b e n o c h e i n m a l d a r a u f h i n w e i s e n w o l l e n , um d u r c h dieses Beispiel den w u n d e r vollen Zusammenhang aufzuweisen, durch welchen die N a t u r , die die E i n h e i t l i e b t , aus den e i n a n d e r s c h e i n b a r e n t l e g e n s t e n D i n g e n ein G a n z e s s c h a f f t . " Dieser wunderbare Zusammenhang ermöglicht es Pascal, wie ich noch einmal betonen möchte, dem gesamten Universum ein Prinzip der Ordnung und der Beständigkeit zu unterlegen. So, wie es in der Geometrie Dimensionen gibt, wie diese Dimensionen voneinander durch Abgründe geschieden sind, und wie die niederen den höheren gegenüber keine Rolle spielen, so gibt es in der Wirklichkeit Dimensionen, die sich gegenseitig selbständig gegenüberstehen und gegenseitig gleichsam ausschließen. Die folgenden Seiten zitiere ich nach der Reihenfolge und dem Gedankengang des Manuskriptes. „Es gibt", sagt Pascal, „drei Dimensionen von Gegenständen: den Körper, den Geist, den Willen. Die dem Körper Verfallenen sind die Reichen und die Könige : ihnen ist es nur um den Körper zu tun. Dagegen die Neugierigen und die Wissenden: ihnen ist es nur um den Geist zu tun. Und die Weisen: ihnen ist es nur um die Gerechtigkeit zu tun."

Und an anderer Stelle: „Der unendliche Abstand des Körpers vom Geist ist ein Bild des noch unendlich viel größeren Abstandes des Geistes von der Liebe; denn diese ist übernatürlich." „Aller Glanz sinnlicher Größe hat keinen Reiz für diejenigen, welche sich mit dem Geiste beschäftigen." „Die Größe der Geistmenschen ist unsichtbar fur die Könige, die Reichen, die Feldherren, für alle diese dem Fleische nach Großen."

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,JDie Größe der Weisheit, die nur in Gott ist, bleibt gleich unsichtbar den Großen des Fleisches und den Großen des Geistes. Es sind dies drei ihrer Art nach verschiedene Gebiete." „Die großen Geister haben ihr eigenes Reich, ihren Glanz, ihre Größe, ihren Sieg, ihre Herrlichkeit. Sie bedürfen nicht der fleischlichen Größe und haben damit nichts zu schaffen. Man sieht sie nicht mit dem Auge, sondern mit dem Geiste, und das genügt ihnen." „Die Heiligen haben ihr eigenes Reich, ihren Glanz, ihren Sieg, ihre Herrlichkeit. Sie bedürfen weder der fleischlichen noch der geistigen Größe und haben mit ihr, die ihnen weder etwas geben noch nehmen kann, nichts zu tun. Sie werden von Gott und den Engeln gesehen, nicht von Leibern und neugierigen Geistern: Gott genügt ihnen."

Und anschließend folgende Randbemerkungen: „Alle Körper, das Firmament, die Sterne, die Erde und ihre Reiche kommen an Wert nicht dem geringsten der Geister gleich; denn er erkennt dies alles, und sich selbst, und die Körper erkennen nichts." „Alle Körper und alle Geister zusammen mit allen ihren Erzeugnissen sind nicht die geringste Regung der Liebe wert, die einer unendlich viel höheren Ordnung angehört." „Alle Körper zusammen können nicht einen einzigen Gedanken hervorBringen; es ist unmöglich und gehört einem anderen Gebiete an. Alle Körper und alle Geister können nicht eine Regung wahrer Liebe hervorbringen; es ist unmöglich und gehört einem andern, übernatürlichen Gebiete an."

Man muß diese Seite wörtlich nehmen; es handelt sich hier nicht um eine gleichnishafte Auslegung. Die Welt, wie sie sich in Pascals Geiste spiegelt, besteht ihrer Struktur nach aus großen „Kreisen", die sich übereinander erheben, wie in Dantes mystischem Universum. Und ebenso, wie man in der „Göttlichen Komödie" nur durch ein Wunder von einem „Kreise" zum anderen gelangt, so kann man auch nach Pascals Ansicht nur durch ein Wunder von einer „Ordnung" zur anderen aufsteigen.

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Jede Ordnung existiert also völlig für sich und unabhängig; und nur ihre Gesamtheit entzieht sich dem Schicksal der Unbestimmtheit und der Unruhe, das das Los der Schöpfung ist. Nur innerhalb einer jeden Ordnung tritt die Unruhe in Erscheinung. Ein gewisses Maß von Beständigkeit, wenigstens in der Bestimmtheit der Dinge, ermöglicht es Pascal also, die Welt nach einem vernünftigen Plan wieder aufzubauen und die Grundlagen für eine Moral des praktischen Lebens zu schaffen. Die erste Vorsichtsmaßregel, der wesentlichste Grundsatz dieser Moral besteht darin, daß man die Ordnungen nicht verwechseln darf: die Physik hat nichts mit der Theologie gemeinsam, die Wissenschaft nichts mit dem Glauben, die Macht nichts mit der Wahrheit und die Wahrheit nichts mit der Liebe. Wenn der Theologe dem Physiker widersprechen wollte, so wäre das nur töricht und nur „Tyrannei" — und genau entsprechend verhält es sich mit den anderen. „Die Tyrannei besteht in dem Verlangen nach Alleinherrschaft, die sich auch außerhalb der eigenen Sphäre auswirken m ö c h t e . . . So ist es töricht, wenn die Macht und die Schönheit sich darum streiten, wem die Herrschaft über den anderen zufallen solle; denn ihre Herrschaft ist von sehr verschiedener A r t . . . " Diese Definition des Willens zur „Tyrannei" ist einer der wesentlichsten Gesichtspunkte des Pascalschen Denkens. Schon als er die „Lettres Provinciales" schrieb, hatte er sie unverkennbar vor Augen; bis zu seinem Tode sollte sie in seinem Denken immer tiefere Bestätigung finden. Ohne sie gibt es keine Möglichkeit, Art- und Rangstufen aufzustellen; und alles Konkrete wäre Pascals Händen entglitten.

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Aber alle diese Ordnungen, außer jener höchsten, in die uns Jesus Christus durch seine Gnade einfuhrt — müssen sie nicht den Eindruck des Chaos erwecken ? Die Begierde herrscht in ihnen, die Unbeständigkeit ist ihr tiefstes Wesen. Wie kann man etwas der Vernunft und der Gerechtigkeit Entsprechendes auf solchen Sand und solche Wirbel bauen ? Heißt das nicht von neuem der Verzweiflung anheimfallen ? Hier nun kommen die Beobachtung, die Erfahrung und sogar die Religion Pascal zu Hilfe. Ganz im Gegensatz zu seinem Lehrer Montaigne und zu seinen Freunden, den weltlich oder jansenistisch eingestellten Moralisten, schätzte Pascal, der echte Pascal (der nichts mit jenem einseitig falschen Bild zu tun hat, das seine unmittelbaren Erben und seine ersten Herausgeber seinem wahren Wesensbild unterstellt haben) weder den Menschen noch die Natur gering. Selbst auf den Gebieten, in denen die „Begierde" herrscht, offenbarte sich ihm die Größe der menschlichen Seele. Und diese Größe verhalf ihm dazu, den Gedanken einer vernunftgemäßen „Ordnung" zu fassen. Wir besitzen von ihm eine Reihe von Bemerkungen unter dem rätselhaften Titel „Ursache der Wirkungen". Unter diesen „Ursachen der Wirkungen" versteht er die eigentlichen Ursachen, welche die Sitten, die Gewohnheiten und die Gesetze schufen, auf die sich die Gesellschaft gründet, und die nur eine oberflächliche Prüfung widersinnig erscheinen läßt: „Die ,Ursache der Wirkungen'", sagt er einmal, „kennzeichnet die Größe des Menschen, die darin beruht, daß er aus der Begierde eine so schöne Ordnung zu schaffen vermochte." Diese „so schöne Ordnung", die Pascal ergründen möchte, weist auf den positiven Teil seiner Philosophie

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hin, der der Unruhe die Waagschale halten und dem verzweifelten Trachten nach dem Glücke Einhalt gebieten soll. Er kam nicht mehr dazu, ihn ganz auszuarbeiten; wir wissen nur, daß in ihm der Ehrenmann den höchsten Rang einnimmt, und daß etwas in ihm den Chevalier Méré befriedigen mußte. Hier müßte man die drei „Abhandlungen über die Stellung der Großen" zitieren, jene drei Vorträge, die er in Gegenwart Nicoles, der sie überarbeitete, vor jungen Adligen hielt. In der ersten Abhandlung lehrt der Philosoph, daß jeder Mensch eine „gesetzliche Größe" und eine „natürliche Größe" besitzt, und daß man nicht auf die eine übertragen darf, was man der anderen schuldet: „Ihr m ü ß t . . . zwiefache Gedanken haben; und -wenn ihr äußerlich mit den Menschen eurem Range gemäß verfahrt, müßt ihr vermöge eines verborgeneren, aber wahrhaftigeren Gedankens erkennen, daß ihr von Natur durchaus nicht über ihnen steht. Wenn jener öffentliche Gedanke euch über Leute gewöhnlichen Schlages erhebt, so möge der andere euch erniedrigen und euch in vollkommen gleicher Höhe mit allen Menschen halten; denn das ist euer natürlicher Stand."

Die zweite Abhandlung leitet die praktischen Folgerungen dieser ersten Unterscheidung ab: „Es gibt in der Welt, sagt er, zwei Arten von Größen; denn es gibt gesetzliche Größen und natürliche Größen. Die gesetzlichen Größen hängen ab vom Willen der Menschen, welche mit Recht gewisse Stände ehren und mit ihnen gewisse Ehrfurchtserzeigungen verbinden zu müssen geglaubt haben. Ämter und Adel gehören zu dieser A r t . . . Die natürlichen Größen sind die, welche unabhängig sind von der Laune der Menschen, weil sie in wirklichen und wirksamen Eigenschaften der Seele oder des Körpers bestehen, welche jene oder diesen schätzenswerter machen, so ζ. B. Wissenschaft, Verstand, Geist, Tugend, Gesundheit, K r a f t . . . Den gesetzlichen Größen schulden wir gesetzliche Ehrfurcht, d. h. gewisse äußere Förmlichkeiten, die trotzdem, wie wir gezeigt haben, mit

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innerer Anerkennung der Gerechtigkeit dieser Anordnung verbunden sein können, die uns aber in denen, -welche wir auf diese Weise ehren, durchaus noch keine wesentliche Eigenschaft erkennen lassen. Mit Königen spricht man auf den Knien: im Zimmer der Fürsten muß man stehen. Nur ein töricht und niedrig denkender Geist kann diese Schuldigkeit verweigern. Aber natürliche Ehrenbezeigungen, die in der Achtung bestehen, schulden wir nur den natürlichen Größen ; und umgekehrt schulden wir Verachtung und Abscheu den Eigenschaften, welche diesen natürlichen Größen entgegengesetzt sind. Weil ihr Herzog seid, brauche ich euch noch nicht zu achten; aber ich muß euch grüßen."

Darf ich hier eine Andeutung einfügen ? Pascal bekämpft hier die Revolution — und zwar aus einer revolutionären Geisteshaltung heraus. In der dritten Abhandlung wird seine konstruktive Dialektik weniger spitzfindig und dringt sie mehr in die Tiefe. Der Philosoph versucht, die Grundlage der menschlichen Ordnung bis zu der „Begehrlichkeit" zurückzuverfolgen. „Ihr seid gleichsam ,Könige' der ,Begehrlichkeit', ruft er seinen jungen Zuhörern zu. Eure Kraft erwächst euch aus dem Besitz der Dinge, welche die Begierde der Menschen erstrebt." Und dann fährt er fort: „Aber wenn ihr eure natürliche Stellung kennt, so gebraucht die ihr eigentümlichen Mittel, aber beansprucht nicht mittels eines anderen Einflusses zu herrschen, als mittels dessen, der euch zum Könige macht. Nicht eure natürliche Kraft und eure natürliche Macht machen euch all jene Leute Untertan. Maßt euch also nicht an, sie mit Gewalt zu beherrschen, noch mit Härte zu behandeln. Befriedigt ihre gerechten Wünsche; mildert ihre Not, sucht eure Freude in der Wohltätigkeit; fördert sie, soviel ihr könnt, und ihr handelt in Wahrheit wie die, die Könige und Herren ihrer Begehrlichkeit sind."

Ist das nicht bewundernswert ? Und hat selbst Kant es besser gemacht ? Nachdem er alles zerstörte, baut Pascal alles wieder auf. So kann er Mme de Sablé, La Rochefoucauld oder den Chevalier Méré aufsuchen, dort die

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gesellige Bildung der anderen genießen und die eigene glänzen lassen; er kann „dem Kaiser geben, was des Kaisers ist", die Macht des Fürsten achten und sich vor den Baretts der Gerichtspräsidenten verneigen; er kann Geschäfte abschließen, von seinen Schuldnern fordern, daß sie ihm nach dem Maße ihrer Zahlungsfähigkeit ihre Schulden zurückerstatten, wie er die eigenen bezahlen wird; er kann gewinnbringende Unternehmen gründen — er weiß, daß all dieses in seinem natürlichen Geltungsbereich durchaus in Ordnung ist. Wenn er die ihm verliehenen Gaben pflegt; wenn er Mathematik treibt; wenn er Maschinen erfindet, so fügt er sich damit „der so schönen Ordnung der Begehrlichkeit" ein. Hier stehen wir wieder mitten im Bereiche französischer Lebensweisheit. Aber seine große Seele, die nach der Vollkommenheit und dem Himmel dürstete, sollte sich dabei nicht beruhigen. Sie wäre dabei erstickt. Seine letzten Worte an seine jungen Schüler ergänzen seine praktische Moral und steigern sie ins Erhabene: so sehr, daß sie Gefahr läuft, sich darin zu verlieren. „Das was ich euch sage, reicht nicht weit; und wenn ihr es dabei bewenden lasset, so werdet ihr unfehlbar irre gehen; aber wenigstens werdet ihr als ehrenwerte Männer irre gehen. Es gibt Leute, die sich so töricht durch Habsucht, Roheit, Ausschweifung, Gewalttätigkeit, Übereilungen, Blasphemien in Verdammnis bringen 1 Das Mittel, was ich euch zeige, ist ohne Zweifel ehrenvoller; aber in Wahrheit ist es stets eine große Torheit, sich in Verdammnis zu bringen; und eben darum darf man es nicht dabei bewenden lassen."

Man kann mit gutem Rechte sagen „Pascal — und kein Ende !" Dieser scharfsinnige, tiefsinnige, phantasiegewaltige Pascal, dieser Dante der Mathematik, in dem wir den ech-

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ten Pascal zu erkennen glauben, erinnert an einen Eroberer; er zerstört, um wieder aufzubauen. Aber er blieb lange unbekannt. Der Pascal, der dem 17. Jahrhundert vertraut gewesen ist, war der eindringliche und genaue Beobachter, der den Wesensgrund der Dinge durchschaute und ihn mit einer gewissen Erbarmungslosigkeit aufzeigte, ohne jede Grübelei und Erörterung. Er machte bloß Feststellungen. Er stellte Behauptungen auf. Er hielt sich an das Wirkliche und Konkrete. Er führte die Tradition Montaignes und La Rochefoucaulds fort. Seine Manuskripte, die in gewissem Maße durch die „Vernunft" und den „Geschmack" der klugen Männer, die im Besitze seines Nachlasses waren, gleichsam „hindurchgegangen" sind, haben den späteren Lesern nur einen Moralisten der klassischen Art offenbart, der ein wenig farbiger, ein wenig stärker und in seiner Haltung viel christlicher ist als die anderen. Dennoch, mag auch das eigentliche Wesen eines Menschen sich noch so sehr verbergen: selbst wenn es unbekannt bleibt, selbst wenn es mißverstanden wird — es wird doch aus der Tiefe und von innen heraus wirksam. Der unruhige und glücklose Pascal, der Mann, dessen ganzes Dasein nur eine einzige Folge von Krisen und Bekehrungen war, der Mann, der alle seine Freunde verführte und bezauberte, der Mann, der sich uns schließlich nur in dem Manuskript seiner „Pensées" in seiner vollen Größe offenbaren sollte, bedrohte von da an mit dumpfer Erschütterung das Gleichgewicht der französischen Geistesart: zweifellos, um sie auf höhere Gipfel zu führen; aber auch so blieb es doch immerhin eine Erschütterung. Schon sieht man, wie um ihn — durch oder gegen seinen Einfluß — hier und da Sehnsüchte des Herzens und

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der Phantasie, Träume, Hirngespinste und Narreteien erwachen. Schon kündigen sich Fénelon, Rousseau und Chateaubriand an. Aber die eigentliche französische Geistesart sollte in anderer Gestalt, mit anderen, wenn nicht besseren Waffen ausgerüstet, sich wieder geltend machen, immer gestützt auf den Kreis jener klassischen Moralisten, deren Darstellung wir hiermit beschließen.

ENDE.

ANMERKUNG

DES

ÜBERSETZERS

Bei einet Reihe der Z i t a t e dieses Buches bediente ich mich — in den meisten Fällen wörtlich — der folgenden gedruckt vorliegenden deutschen Ubersetzungen: Für

Montaigne:

Für

Franz von Sales:

Der Zuerst 1793 —1795 erschienenen, Hann 1908 (bei Georg Müller, München und Leipzig) von Otto Flake und Wilhelm Weigand redigierten von Johann Joachim Bode. Diese klassische Übertragung sticht durch ihre urwüchsige, „Patina"und Sinnfälligkeit bewußt vereinigende Art von den Übersetzungen der späteren Autoren naturgemäß etwas ab.

Der von P. P. Osborne („Philothea"), Dülmen i. Westf. 1922, und der von Nikolaus Heller („Theotimus"), Regensburg 1931.

Für

Descartes: Der von Werner Leist

(„Philosophische Schriften").

Berlin-Wien 1924. Für

La Rochefoucauld

Für

Pascal:

(bei allen Zitaten und wörtlich): Der von Ernst Hardt, München u. Berlin 1937 (bei R.Oldenbourg), abgesehen von dem bisher noch nicht übersetzten Briefe Mérés. Der von Joh. Georg Dreydorff: „Gedanken über die Religion", Gotha 1891, der von Heinrich Hesse: „Gedanken", Leipzig 1882 (bei Reclam), und der von Heinrich Lützeler: „Religiöse Schriften Pascals", Köln 1924. (Für das Zitat auf S. 180.)

DIE ¿MAXIMEN DES HERZOGS VON LA ROCHEFOUCAULD NEUE VOLLSTÄNDIGE AUSGABE ÜBERSETZT ERNST

VON

HARDT

142 Seiten. 1937. Gebunden RM. 3.20

La Rochefoucauld, der geistreiche Gegenspieler Richelieus, gibt in seinen •weltberühmten Maximen mit ironischer Gelassenheit seine Urteile über die vornehme Welt des 17. Jahrhunderts. Unvergleichlich in der Schärfe seines Geistes und der Knappheit seines Stils, die nicht zwei Worte verschwendet, wenn eines genügt, schuf er ein Dokument französischen Geistes. — Seit Jahren fehlte eine Ausgabe auf dem Büchermarkt. Wir legen deshalb im Anschluß an das Werk Strowskis die Übersetzung Ernst Hardts in einem Neudruck vor. Sie wurde sprachlich überarbeitet und stellt durch Aufnahme von Maximen, die in den ersten Ausgaben verschiedentlich gestrichen wurden, die einzig vollständige in deutscher Sprache dar. „Ich biete hier ein Porträt des menschlichen Herzens. Es ist dem Schicksale ausgesetzt, nicht jedermann zu gefallen, weil man vielleicht finden wird, es sei allzu ähnlich und schmeichle nicht genug. Das Beste, was der Leser tun kann, ist, seinem Geiste zunächst einzuschärfen, daß keine einzige dieser Maximen ihn im besonderen beträfe, und daß er allein ausgenommen sei, obgleich sie allgemein gültig erscheinen. Wenn dies geschehn, bin ich ihm Bürge dafür, daß er der erste sein wird, der sie gutheißt und sogar meinen wird, sie ließen dem menschlichen Herzen noch Gnade widerfahren." — Diese Geleitworte des Verfassers aus dem Jahre i66j möchte der Verlag auch der Neuausgabe mit auf den Weg geben.

GESCHICHTE DER FRANZÖSISCHEN

RATION

Versuch einer Entwicklungsgeschichte des französischen Volkes von CHARLES

SEIGNOBOS

2. Auflage. 359 Seiten. Gr.-8°. 1936. In Leinen geb. RM. 9.50

Seignobos hat die Geschichte der französischen Nation von vorchristlicher Zeit bis zur Gegenwart geschrieben, indem er gleichsam durch das heutige Frankreich wandelt, dem Volk auf den Mund sieht, Charaktereigenschaften und Volkssitten nachsinnt, öffentliche Einrichtungen und Gesetze erklärt, Kleidung und Wohnung beobachtet, Baudenkmäler und Kunstbauten ins Auge faßt, dem nachgeht, was in Handel und Landwirtschaft, in Industrie und Gewerbe des Brauchs ist. Nirgends tritt das Wissen als trockene Gelehrsamkeit hervor, sondern es zeigt sich uns im Rahmen eines klugen Gesprächs mit einem gelehrten Freund. Dabei trägt er mit einer Lebendigkeit vor, die er aus großer geistiger Leidenschaft gewinnt. Mit unheimlicher Treffsicherheit errät er alles das, was uns erklärenswert erscheint. Es ist aber nicht so, daß Seignobos etwa den zeitlichen Ablauf der geschichtlichen Darstellung vernachlässigt. Nur hat er das beiseite gelassen, dessen Wirkung nicht in irgendeiner Weise bis in die Gegenwart fortdauert oder zu ihrem Verständnis beiträgt. Kein Nachschlagewerk französischer Geschichte, wohl aber die lebendigste und eindringlichste Nachweisung der Triebquellen und Kräfte, die Wesen und Handeln des heutigen französischen Menschen bestimmen.

R.OLDENBOURG · MÜNCHEN 1 UND BERLIN