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German Pages 249 [254] Year 2018
Sarah Anna Uffelmann Vom System zum Gebrauch
Über Wittgenstein
Herausgegeben im Auftrag der Internationalen Ludwig Wittgenstein Gesellschaft e. V. von James Conant, Wolfgang Kienzler, Stefan Majetschak, Volker Munz, Josef G. F. Rothhaupt, David Stern und Wilhelm Vossenkuhl
Band 3
Sarah Anna Uffelmann
Vom System zum Gebrauch Eine genetisch-philosophische Untersuchung des Grammatikbegriffs bei Wittgenstein
ISBN 978-3-11-056335-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-056516-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-056455-6 ISSN 2365-9637 Library of Congress Control Number: 2018940053 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: 3w+p GmbH, Rimpar Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Zum Andenken an meinen lieben Vater
Die Arbeit an der Philosophie ist – wie vielfach die Arbeit in der Architektur – eigentlich mehr die Arbeit an einem selbst. An der eigenen Auffassung. Daran, wie man die Dinge sieht. (Und was man von ihnen verlangt.) Ludwig Wittgenstein, Ts 213: 407
Inhalt Vorwort
XIII
Danksagung Prolog
XVII
Einleitung
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XV
1 Zusammenfassung (Honig)
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Philosophisch-philologische Betrachtungen von Wittgensteins Grammatikbegriff 17 17 Zur Rolle der Grammatik in Wittgensteins Philosophie Herkömmliche und historische Gebrauchsweisen 19 Etymologie von „Grammatik“ 19 20 „Grammatik“ im deutschen Sprachgebrauch „Grammar“ im englischen Sprachgebrauch 22 Wittgensteins Gebrauch von „Grammatik“ 26 26 Moores Kritik Entgegen dem gewöhnlichen Sprachgebrauch 31 Wittgensteins Charakterisierungen von Grammatik 34 Beschreibung der Sprache 35 37 Geschäftsbuch der Sprache Sammelsurium von Regeln 39 Sprachgebrauch und Bedeutung 40 Kalkül, Schach, Wesen, Leben des Satzzeichens 43 Drei Verwendungsweisen von „Grammatik“ 45 „Grammatik“ und „Logik“ im Nachlass 51 Zusammenfassung 56 Von der Logik zur Grammatik: Logisch-philosophische Abhandlung und Bemerkungen 1929/30 58 Grammatik, Syntax und Logik in Wittgensteins Frühphilosophie 60 Syntax und Grammatik Anfang 1929 66 Biographisches 66 Ramseys Kritik 69 Verwendungsweisen von „Syntax“ und „Grammatik“ 73
X
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Inhalt
Phänomenologie als Grammatik 77 81 Das Farbenoktaeder Syntax und Grammatik Ende 1929 und 1930 84 Von der Analyse der logischen Syntax zur übersichtlichen Darstellung unserer Grammatik 84 90 Mehr Grammatik als Syntax Grammatik als „Theory of Logical Types“ 91 97 Kalkül, Schach, Spiel, Willkür Zusammenfassung 101 Vom Allgemeinen zum Besonderen: Big Typescript und Brown Book 103 Grammatik im Big Typescript 104 105 Erläuterungen zur Textgrundlage: Ts 213 und BT „Grammatik“ und „Logik“ in Ts 213 und im BT 117 Grammatik als ein reiner Kalkül 122 124 Spiele und Sprachspiele Willkürlichkeit der Grammatik 127 Sprache und Wirklichkeit 131 Logik, Grammatik, Metalogik 136 140 (Un)Vollständigkeit der Grammatik Nur Regeln in besonderen Fällen 147 Grammatik im Brown Book und Versuch einer 149 Umarbeitung Erläuterungen zur Textgrundlage: Ts 310 und Ms 115ii 149 Grammatik im Brown Book Korpus 152 Logik im Brown Book Korpus 159 Das Besondere 163 Verschiebungen 164 Grammatik, Sprachgebrauch, Bedeutung eines Wortes 167 Das Ende der Theorie 171 Vom Allgemeinen zum Besonderen 177 Zusammenfassung 178 Die Philosophischen Untersuchungen und Wittgensteins späte 182 Manuskripte Grammatik in den PU 182 Erläuterungen zur Textgrundlage: Ts 227 184 Ein Album 185 Die Quellen von „Grammatik“ in den PU 190
XI
Inhalt
.. . .. .. .. .. .. . Epilog
„Grammatischer Satz“ und „Satz der Grammatik“ 194 196 Logik in den späten Manuskripten Erläuterungen zur Textgrundlage: Mss 172 – 177 196 Zurück zur Logik 198 „Du musst die Praxis der Sprache ansehen“ 205 207 Logik als Rahmen unseres Denkens und Schließens Die Flussbettmetapher 213 217 Zusammenfassung 220
Literaturverzeichnis 221 Wittgensteins Schriften 221 221 Nachlass Verzeichnis der verwendeten Siglen der Buchausgaben Weitere Literatur 222 Personenindex Sachindex
232 234
221
Vorwort Bei der vorliegenden Untersuchung handelt es sich um die erweiterte und überarbeitete Fassung meiner Dissertation, verfasst im Rahmen eines Cotutelle-Abkommens der Universitetet i Bergen (Norwegen) und der Universität Kassel (Fachbereich 02), die ich am 07. Oktober 2016 in Bergen erfolgreich verteidigt habe. Die Präsentation der Ergebnisse der Dissertation an der Universität Kassel fand am 26.10. 2016 statt. Das Buch erzählt die Geschichte der Entwicklung des Grammatikbegriffes im Denken Ludwig Wittgensteins. Nun mag manch einer sich fragen, wie solch eine Geschichte als philosophischer Beitrag gerechtfertigt ist. Diese Frage beinhaltet tatsächlich zwei: Zum einen die Frage nach der Rechtfertigung von Geschichten in der Philosophie, zum anderen die Frage, wieso gerade Wittgensteins Geschichte von Interesse ist.¹ Was die erste Frage betrifft, so liegt es im Wesen philosophischer Fragen, und überhaupt aller Fragen, dass sie sich nicht isoliert betrachten lassen, sondern, wie schon Ludwik Fleck erkannte, stets in einen Denkstil eingebettet sind. Jede philosophische Frage, und jede darauf formulierte Antwort, hat und ist Teil einer Geschichte. Diese zu explizieren ist Teil unserer philosophischen Tätigkeit. Es geht nicht ausschließlich um Wittgenstein, sondern vor allem um die philosophischen Probleme, die ihn quälten. Was die zweite Frage betrifft, so rühren Wittgensteins „Beunruhigungen“ u. a. von seiner Beschäftigung mit Nietzsche und Schopenhauer, aber auch seinem Austausch mit Frege und Russell sowie seinem ursprünglich mathematischtechnischen Interesse her. Damit finden wir zwei heutzutage gern unterschiedene Strömungen, „analytisch“ und „kontinental“, in einem einzigen Denker vereint, dem oft irrtümlicherweise der Stempel „analytisch“ aufgedrückt wird. Ferner sind Wittgensteins Fragen bis heute von Bedeutung, etwa die Frage nach dem Wesen der Logik, dem Verhältnis von Sprache und Welt, und nicht zuletzt der Ethik. Mein Eindruck ist, dass Wittgenstein in der heutigen Zeit gerne als ein „Klassiker der Philosophie“ gesehen wird, dem man zwar durchaus historische Bedeutung zugesteht, dessen Philosophie jedoch längst integriert und überwunden scheint.² Dieses Buch ist ein Ausdruck meiner Überzeugung, dass sein Denken im Gegenteil
Mit der Frage „Why is Wittgenstein important?“ wurde ich während des Schreibens meiner Dissertation mehrmals konfrontiert und stehe damit keinesfalls alleine; u. a. Allan Janik ist sie ebenfalls gestellt worden, und er widmet seiner Antwort darauf einen eigenen Artikel (Janik 1990). Diese Marginalisierung von Wittgensteins Philosophie hat auch Lars Hertzberg hervorgehoben (2006: 82– 85). https://doi.org/10.1515/9783110565164-001
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Vorwort
für den Zweck der Klärung philosophischer Probleme weitaus mehr Beachtung verdient, als dies heute der Fall ist. Die eigentliche Fragestellung greift damit viel tiefer, als es oberflächlich betrachtet den Anschein haben mag. Indem sie die Geschichte der Entwicklung von Wittgensteins Grammatikbegriff von 1913 bis 1936 erzählt – dem Zeitraum, in dem Wittgenstein zu seiner Auffassung von Grammatik gelangt, wie sie uns in den Philosophischen Untersuchungen begegnet –, leistet diese Arbeit ihrem Selbstverständnis nach nicht einen rein philosophiegeschichtlichen Beitrag, sondern bearbeitet philosophische Fragestellungen aus kritischem Blickwinkel. „Was ist Grammatik bei Wittgenstein?“ heißt im Kern: Wie kann uns Wittgensteins Grammatikbegriff – und damit verbunden sein philosophischer Ansatz – dabei helfen, eine Antwort auf die philosophischen Fragen zu formulieren, die uns quälen?
Danksagung Wie die Fragestellung ist auch diese Arbeit selbst Teil einer Geschichte. Sie war nur im Austausch und in Zusammenarbeit mit anderen Menschen und Institutionen möglich, denen ich an dieser Stelle sehr herzlich danken möchte. Mein größter Dank gebührt meinen beiden Betreuern, Alois Pichler und Stefan Majetschak, die mir bei der Organisation und Durchführung des Promotionsstudiums jederzeit mit großem Engagement zur Seite standen. Bei der Disputation hatte ich das Glück, mit Joachim Schulte und Nuno Venturinha zwei Opponenten gegenüberstehen zu dürfen, die ich sehr schätze. Ihnen danke ich für die durch und durch im philosophischen Geist geführte Disputation und ihr motivierendes sowie konstruktives Feedback zu meiner Arbeit. Neben den Opponenten waren Anat Biletzki und Stefan Majetschak als Vertreter der Universitäten Bergen und Kassel Mitglieder des Prüfungskomitees. Dem Komitee insgesamt danke ich für die Wahl des Themas der Trial Lecture, „The Concept of Logic in Wittgenstein’s Later Writings“, das mich dazu anregte, die Untersuchung des Logikbegriffes bei Wittgenstein in der Dissertation zu vertiefen und zu ergänzen. Das Ergebnis ist in Abschnitt 4.2 dieser Arbeit enthalten. Ralph Jewell danke ich nicht nur für unsere belebenden Unterhaltungen in Bergen, sondern auch für seine besondere Art des Philosophierens, die meine Arbeit in vielerlei Hinsicht beeinflusst hat. Ein weiterer Dank gebührt Christian Erbacher und Julia Setz für ihr konstruktives und engagiertes Feedback zu vielen meiner Ideen. Mit besonderem Dank erwähnen möchte ich außerdem Kristian Köchy, der mir im Vorfeld dieser Arbeit den Zugang zur Philosophie geebnet und mein Denken nachhaltig geprägt hat. Christoph Becker danke ich dafür, mein tieferes Interesse für Wittgensteins Philosophie zu gemeinsamen Studienzeiten geweckt und damit den Grundstein für diese Untersuchung gelegt zu haben. Das Wittgensteinarchiv an der Universität Bergen, an dem ich einen Großteil meiner Forschung durchgeführt habe, ist mir nicht nur in philosophischer Hinsicht eine Heimat geworden. Den Menschen, denen ich dort begegnet bin, neben Alois Pichler insbesondere Rune J. Falch, Kjell S. Johannessen, Heinz Wilhelm Krüger, Helle Nyvold und Deirdre C. P. Smith, danke ich für unsere zahlreichen wertvollen Gespräche zu Wittgensteins Philosophie und darüber hinaus. Des Weiteren danke ich allen, die bei ihren Aufenthalten in Bergen oder auf Konferenzen, insbesondere bei den Summer Schools und Wittgenstein-Symposien der ALWS in Kirchberg am Wechsel, die Zeit gefunden haben, meine Gedanken zu Wittgensteins Grammatikbegriff zu diskutieren und zu kommentieren. Diese oft sehr fruchtbaren Gespräche haben mir für die Entwicklung und Fertigstellung meiner Dissertation viel Inspiration und Ansporn gegeben. Besonders hervorhehttps://doi.org/10.1515/9783110565164-002
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Danksagung
ben möchte ich an dieser Stelle Alexandra Dias Fortes, Florian Franken Figueiredo, Stefan Giesewetter, Inês Hipólito, Sebastian Sunday Grève, Maja Jaakson, Daniel Sharp und David Wörner, denen ich für unsere ausgedehnten Diskussionen und z.T. auch Korrespondenzen danke. Peter Hacker und Danièle Moyal-Sharrock haben je einen meiner thematisch relevanten Aufsätze gelesen und kommentiert, wofür ich ihnen danken möchte. Mein Dank geht außerdem an James Klagge für seine Einladung, meine frühen Ideen an der Virginia Tech vorzustellen und zu diskutieren. David Stern danke ich für seine Erlaubnis, mit dem damals noch unveröffentlichten Manuskript der Edition von Moores Vorlesungsnotizen der Jahre 1930 – 1933 zu arbeiten und daraus zu zitieren. Dem Forschungsreferat der Universität Kassel, dem philosophischen Institut der Universität Bergen und dem DAAD danke ich für ihre finanzielle Unterstützung des Projekts. Darüber hinaus bin ich den philosophischen Instituten der Universitäten Bergen und Kassel, sowie der Universitätsadministration an beiden Orten, für die Ermöglichung und Hilfe bei der Organisation des Cotutelle-Abkommens zu Dank verpflichtet. Mein besonderer Dank gilt hier Kirsten Bang vom philosophischen Institut der Universität Bergen, die mir bei allen organisatorischen Fragen stets tatkräftig zur Seite stand. Ein weiterer herzlicher Dank gebührt Angelika Hermann und Christoph Schirmer vom Verlag Walter de Gruyter für ihre offenen Ohren bezüglich aller die Veröffentlichung betreffenden Fragen. The Master and Fellows of Trinity College in Cambridge, der Universität Bergen in Bergen, The Bodleian Libraries der University of Oxford sowie der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien danke ich für ihre freundliche Erlaubnis, die in diesem Buch enthaltenen Abbildungen von Wittgensteins Manuskriptseiten abzudrucken. Heinz Wilhelm Krüger und Jakub Mácha haben Teile des nahezu fertigen Manuskripts gelesen und kommentiert, wofür ich ihnen danken möchte. Meiner Mutter danke ich für ihre sorgfältigen sprachlichen Korrekturen des Manuskripts. Nicht zuletzt danke ich meiner Familie und meinen Freunden von Herzen für ihre liebevolle Unterstützung in allen Lebenslagen, die das Schreiben dieses Buches mit sich brachte. Sarah A. Uffelmann Kassel, im Juni 2018
Prolog The men of experiment are like the ant, they only collect and use; the reasoners resemble spiders, who make cobwebs out of their own substance. But the bee takes a middle course: it gathers its material from the flowers of the garden and of the field, but transforms and digests it by a power of its own. Not unlike this is the true business of philosophy; for it neither relies solely or chiefly on the powers of the mind, nor does it take the matter which it gathers from natural history and mechanical experiments and lay it up in the memory whole, as it finds it, but lays it up in the understanding altered and digested. Francis Bacon
https://doi.org/10.1515/9783110565164-003
Einleitung „Wie alles Metaphysische ist die Harmonie zwischen Gedanke und Wirklichkeit in der Grammatik der Sprache aufzufinden“ (Ts 228: 148), notiert Ludwig Wittgenstein insgesamt neunmal in acht seiner Nachlassdokumente.¹ Es handelt sich um eine Bemerkung,² die sich quer durch sein philosophisches Denken von den Notizbüchern der frühen 30er Jahre bis zu seinen Bemerkungen zur Philosophie der Psychologie (BPP) sowie der Zettelsammlung (Z) zieht.³ Wittgenstein thematisiert darin die Harmonie zwischen Gedanke und Wirklichkeit, auf die wir ihm zufolge in der Grammatik stoßen. Das Verhältnis von Sprache und Welt, oder hier von Gedanke und Wirklichkeit, ist ein Grundthema seines Philosophierens, das er schon in der Logisch-philosophischen Abhandlung (TLP) behandelt. Doch möchte ich hier vor allem den einleitenden Worten dieser Bemerkung besondere Beachtung schenken: „Wie alles Metaphysische“,⁴ heißt es dort. Nicht nur die Harmonie zwischen Gedanke und Wirklichkeit findet sich in der Grammatik, sondern alles Metaphysische. Beschäftigt uns eine metaphysische Frage, so scheint Wittgen-
Zu Wittgensteins Nachlass siehe z. B. Pichler: „Was Wittgenstein […] 1951 an philosophischen Texten hinterlassen hat, sind ungefähr 140 Manuskripte und Typoskripte, die zusammen rund 18 Tausend Seiten ausmachen: Zum Großteil in Wittgensteins Hand; zum Teil von ihm in die Maschine diktiert; zum Teil von Typisten abgeschrieben; zum Teil von Wittgenstein diktiert, in die Hand eines Freundes oder Kollegen erhalten.“ (2004: 41) Eine erste Einführung und Übersicht von Wittgensteins Nachlass und dessen einzelnen Textdokumenten findet sich bei von Wright 1982: 35 – 62. Für weitere Einführungen in den Nachlass sowie Erläuterung zu Wittgensteins Schreibprozess vgl. u. a. Pichler 1994, Pichler 2004: 40 ff und Keicher 2008. Einen neueren Sammelband mit Beiträgen zur Erläuterung und Bewertung von Wittgensteins Nachlass hat Venturinha (2010) herausgegeben. Bei dem Wort „Bemerkung“ handelt es sich um einen Fachterminus der Wittgensteinforschung. Wittgenstein hat seine Texte größtenteils in Bemerkungen verfasst: „meistens durch eine Leerzeile und/oder Nummerierung abgesetzte […] Texteinheiten. Derartige ‚Bemerkungen‘ können aus einem Absatz oder mehreren Absätzen bestehen. Solche Absätze innerhalb von Bemerkungen werden meistens durch Einrücken der ersten Zeile gekennzeichnet.“ (Schulte 2001a: 13, Anm. 1) In Variationen findet sich diese Bemerkung auch in den folgenden Textdokumenten: Ms 109: 31; Ms 114: 152; Ms 116: 122; Ts 211: 337; Ts 212: 578; Ts 213: 189; Ts 228: 27, 148; Ts 233a: 9. Zum Variantenschreiben Wittgensteins erläutert Pichler: „Einen großen Anteil an der Textvervielfältigung und Nachlassentstehung überhaupt hat das Schreiben von Textvarianten. Damit sind Formulierungen gemeint, die Wittgenstein als zu anderen Formulierungen alternativ hinschreibt; es handelt sich dabei zum Großteil um, wie man gemeinhin sagen würde, ‚rein stilistische und inhaltlich wenig voneinander unterschiedene‘ Varianten. Am Anfang ist das Variantenschreiben noch eher bescheiden; es nimmt dann aber immer mehr zu, um bei der Übersetzung des Brown Book in Ms 115ii (1936) einen Höhepunkt zu erreichen.“ (Pichler 2004: 45 f) Meine Hervorhebung. https://doi.org/10.1515/9783110565164-004
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Einleitung
stein hier sagen zu wollen, wird sich eine grammatische Untersuchung des Problems als aufschlussreich erweisen. Das heißt, auf die zitierte Textstelle bezogen, wenn wir uns mit der Frage nach dem Verhältnis von Gedanke und Wirklichkeit beschäftigen, so werden wir sehen, dass in der Grammatik beide miteinander harmonieren. Der Gedanke, dass wir in der Grammatik Antworten auf metaphysische Fragen finden, wird auch in anderen Bemerkungen Wittgensteins deutlich, etwa in PU 371: „Das Wesen ist in der Grammatik ausgesprochen.“⁵ Ist es traditionell die Metaphysik, die sich mit dem Wesen der Dinge beschäftigt, so ist es bei Wittgenstein die Grammatik. Doch was genau meint er mit „Grammatik“? Und meint er zu jeder Zeit seines philosophischen Schaffens dasselbe? Dass diese Fragen für eine tiefere Auseinandersetzung mit Wittgensteins Philosophie von zentraler Bedeutung sind, wird u. a. dadurch deutlich, dass er sowohl in den Philosophischen Untersuchungen (PU)⁶ als auch in anderen Schriften seine Betrachtung als eine „grammatische“ charakterisiert⁷ und ferner an anderer Stelle feststellt, die Menschen seien „tief in den philosophischen, d.i. grammatischen Konfusionen eingebettet“ (Ts 213: 423)⁸. Zu Desmond Lee hat er einmal im akademischen Jahr 1930/31 bemerkt: „So in philosophy, all that is not gas is grammar“ (LWL 112). Darüber hinaus weist er dem Begriff der Grammatik aufgrund seiner überaus häufigen Verwendung desselben implizit eine zentrale Stellung innerhalb seines Denkens zu. In der Literatur zu Wittgenstein wird der Begriff der Grammatik oft vernachlässigt.⁹ Ein möglicher Grund hierfür ist die Tatsache, dass ihn Wittgenstein in den PU, die, neben dem TLP, trotz der neueren Debatte um den Third Wittgenstein und dessen späte Schriften, noch immer im Fokus der heutigen Untersuchungen zu Wittgenstein stehen, verhältnismäßig selten verwendet.¹⁰ Zwar haben sich einige Autoren mit Wittgensteins Grammatikbegriff befasst und seine Schlüsselrolle innerhalb von Wittgensteins Gesamtwerk hervorgehoben,¹¹ doch überrascht es, dass, obwohl die mangelnde Klarheit des Begriffs in Wittgensteins
Vgl. Ms 116: 340; Ts 228: 185; Ts 230: 102; Ts 235: 7. Siehe auch: „Es muss im Wesen (in der Grammatik) dieses roten Striches liegen, dass ein Mehr oder Weniger von ihm möglich ist.“ (Ms 112: 127r) Mit „PU“ beziehe ich mich immer auf den sogenannten ersten Teil derselben. Ms 142: 80, 92; Ts 220: 67; Ts 227a/b: 76 (PU 90); Ts 239: 67. Vgl. auch Ts 211: 570 und Ts 212: 1177. Zu diesem Schluss kommt auch Beaney (2013). Im Ts 227a, das die Grundlage der PU-Buchausgaben darstellt, erscheint „Grammatik“ 36 Mal, „grammatisch/e/er/es“ 18 Mal und „grammatikalisch/e/er/es“ zweimal. Vgl. u. a. Garver 1996: 139, Sedmak 1996: 196 (Anm. 125), McGinn 2011: 646, Forster 2004.
Einleitung
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Schriften durchaus betont wird,¹² der Versuch einer präzisen Klärung desselben – etwa in Form einer Definition, systematischen Analyse oder textgenetischen Untersuchung – in den meisten Fällen ausbleibt.¹³ Diese Arbeit leistet einen Beitrag zu einem genaueren Verständnis von Wittgensteins Grammatikbegriff. Sie wird offenlegen, dass dieser Begriff bei Wittgenstein nicht nur verschwommene Ränder hat, sondern auch, und vor allem, dass er im Laufe von Wittgensteins philosophischer Entwicklung verschiedene Änderungen durchläuft. Dies lässt sich philologisch zeigen und philosophisch interpretieren. Damit bietet dieses Buch Antworten auf viele der Fragen, die Mauro Engelmann im Jahr 2011 aufgeworfen hat.¹⁴ Die Dynamik von Wittgensteins
Vgl. u. a. Garver 1996: 139: „[…] he never gave a clear and orderly account of what he meant. Nor did he succeed, in spite of the centrality of this idea from 1930 right through his late writings, in convincing all those who read his work sympathetically that he meant what he seemed to be saying […]“ und Stetter: „So intuitiv sicher sich Wittgenstein offenbar der Verwendung dieses Topos ist, so wenig klar ist doch der Sinn des Wortes ‚Grammatik‘ in diesen vielfältigen Verwendungen.“ (Stetter 2006: 113) Dies gilt allerdings nicht nur für „Grammatik“, sondern für viele Begriffe in Wittgensteins Schriften. Ausnahmen bilden Forster, der versucht, Wittgensteins Grammatikbegriff in sieben Merkmalen der Analogie zwischen „Grammatik“ und „(Sprach)spiel“ zu fassen (2004: 8 f), und Engelmann (2011), der sich von den Interpretationen Newton Garvers, Peter Hackers sowie des frühen Gordon Bakers deutlich distanziert und um ein tieferes Verständnis von Wittgensteins Grammatikbegriff bemüht ist. Auch wurden Klärungsversuche hinsichtlich des Grammatikbegriffs unternommen, die sich auf einzelne Schriften Wittgensteins beziehen, anstatt den Nachlass insgesamt zu untersuchen, so etwa Arrington 1990, Stetter 2006 und McGinn 2011. Der späte Gordon Baker hatte ursprünglich versucht, eine systematische Darstellung von Wittgensteins Verwendungsweisen von „Sprache“ und „Grammatik“ anzufertigen, hat dieses Vorhaben aufgrund der Fülle des Materials und der Komplexität dieses Unternehmens jedoch wieder aufgegeben: „The data are extraordinarily complicated and wide-spread, while unpacking the subtleties of individual remarks often requires extensive argument and textual comparisons. The attempt to produce an übersichtliche Darstellung of this material risks degenerating into a series of controversial but unsupported dogmas, and that eliminates the possibility of achieving anything very important in this way.“ (Baker 2004: 53) In der Tat genügt es nicht, die Bemerkungen zusammenzustellen, in denen Wittgenstein den Begriff der Grammatik verwendet; vielmehr müssen Kontext und Entstehung dieser Bemerkungen sowie Wittgensteins philosophische Entwicklung mitberücksichtigt werden. „If it is correct, as I think it is, that Wittgenstein parts away from his Middle Period notion of ‘grammar’ in his later philosophy, many new questions arise. Is ‘grammar’ merely an ‘arbitrary interpretation’ in the Philosophical Investigations? Are Wittgenstein’s goals and practice really consistent in his later writings? Why and how did Wittgenstein change his views concerning ‘grammar’? What is the internal dialectic in Wittgenstein’s Middle Period writings that brings him to a new role for ‘grammar’? […] One needs to reevaluate Wittgenstein’s Middle Period Philosophy and explain why and how his views changed.“ (Engelmann 2011: 99) Engelmann selbst behandelt diese Fragen in seiner erhellenden Monographie (2013b). Meine Ergebnisse weisen in eine ähn-
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Einleitung
Grammatikbegriff ist der Grund, weswegen er sich nur schwer greifen lässt: „Was ist denn eigentlich Grammatik?“ scheint Wittgenstein sich manchmal selbst zu fragen, und zwar auch noch spät in seinem Denken in einem Teil der Manuskripte, die als die Bemerkungen über die Farben erschienen sind: „Hier könnte man nun fragen, was ich denn eigentlich will, wieweit ich die Grammatik behandeln will.“ (BÜF III 309) Somit verdient die Frage nach Wittgensteins Grammatikbegriff einen Zusatz, der den zeitlichen Aspekt berücksichtigt: Was versteht Wittgenstein zur Zeit X (oder in Textdokument Y) unter Grammatik? Mein Ansatz ist der Philologie verbunden, denn ich werde untersuchen, wann und in welchen Textdokumenten Wittgenstein den Begriff der Grammatik verwendet, wie er ihn gebraucht, und welche Änderungen sich sowohl hinsichtlich der Häufigkeit als auch der Verwendung des Begriffs feststellen lassen. Diese philologischen Betrachtungen erfolgen dabei nicht zum Selbstzweck, sondern sind als Vorstudien für die philosophische Auseinandersetzung mit Wittgensteins Grammatikbegriff zu verstehen. Die von Joachim Schulte formulierte Auffassung der Bedeutung der historisch-philologischen Untersuchungen, die er in seinen „Historisch-philologischen Nachbemerkungen“ zur Kritisch-genetischen Edition der PU (PU 2001) zum Ausdruck bringt, gilt damit meines Erachtens auch für die philologischen Teile meiner Arbeit: „historisch-philologische Überlegungen der hier ansatzweise vorgestellten Art [können] nur der Vorbereitung auf eine interpretatorische Auseinandersetzung mit den Texten dienen […]. […] Andererseits kann die Interpretation der Texte nicht völlig ohne Kenntnis der historisch-philologischen Belege auskommen.“ (Schulte 2001b: 1089) Zusammenfassend verfolge ich in dieser Untersuchung die folgenden Hauptthesen: (1) Wittgensteins Gebrauch des Begriffs der Grammatik hat sich im Laufe seines Arbeitens gewandelt; (2) damit einhergehend hat Wittgenstein „Grammatik“ zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich aufgefasst;¹⁵ (3) eine wichtige Entwicklungsstufe von Wittgensteins Grammatikbegriff ist mit seiner Arbeit am Brown Book Korpus ¹⁶ abgeschlossen; (4) Wittgensteins Auffassung von Grammatik im Big Typescript ist nicht dieselbe ist wie in den PU; (5) die termi-
liche Richtung wie seine; meine Untersuchung geht aber nicht nur in philologischer Perspektive über die Darlegungen Engelmanns hinaus, sondern bezieht auch inhaltlich Wittgensteins letzte Manuskripte mit ein, die von Engelmann ausgelassen wurden. Wittgensteins Philosophie folgend ist es problematisch, zwischen (1) und (2) zu unterscheiden. Ich treffe die Differenzierung zu dem Zweck der Unterscheidung der verschiedenen Blickwinkel. Dass Wittgenstein „Grammatik“ auf verschiedene Weise gebraucht, wird sich kaum bestreiten lassen, während man mit meiner philosophischen Interpretation der Entwicklung seines Grammatikbegriffes uneins sein könnte. Zum Begriff des Brown Book Korpus siehe 3.2.
Einleitung
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nologische Verschiebung von „Grammatik“ zu „Logik“ in Wittgensteins späten Manuskripten ergibt sich aus der Entwicklung seines Grammatikbegriffs. Ziel des Buches ist es, einerseits Schwierigkeiten den Grammatikbegriff betreffend aufzuzeigen, auf die wir als Wittgensteininterpreten notgedrungen stoßen, und andererseits sowohl einen differenzierten Blick auf Wittgensteins Grammatikbegriff zu ermöglichen als auch die Entwicklung dieses Begriffs in seinem Denken nachzuzeichnen. Damit soll ein Beitrag zu einem umfassenderen Verständnis von Grammatik in Wittgensteins Denken geleistet werden. Schließlich sollen die philologisch-philosophischen Teile dieser Arbeit, so hoffe ich, auch denjenigen von Nutzen sein, die dazu neigen, aus meinen Darlegungen andere interpretatorische Schlüsse zu ziehen. Mit meinen Thesen hinterfrage ich eine verbreitete Annahme, die in vielen Texten zu Wittgensteins Philosophie implizit vorausgesetzt zu werden scheint, nämlich die Annahme, sein Verständnis von Grammatik sei in den Jahren seines philosophischen Schaffens, mindestens ab dem Big Typescript, im Wesentlichen dasselbe geblieben. Diese Auffassung wird explizit etwa von Peter Hacker (2012) und Clemens Sedmak (1996: 197, Anm. 126) vertreten. Darüber hinaus zeigt sie sich bei vielen Autoren vor allem darin, dass sie in ihren Auseinandersetzungen mit Wittgensteins Grammatikbegriff bedenkenlos eine ganze Bandbreite seiner Schriften zitieren, die nicht selten von den frühen 30er Jahren bis hin zu seinen letzten Manuskripten reicht, ohne dass hierbei die Tatsache des Heranziehens der zeitlich weit auseinander liegenden Quellen diskutiert wird. Eine solche Unterscheidung der Quellen halte ich jedoch für unerlässlich, da andernfalls eine Statik des Grammatikbegriffes vorausgesetzt wird, welche es erst zu überprüfen gilt. Das Spezifische an der hier durchgeführten Herangehensweise ist die Betrachtung von Wittgensteins Philosophie aus einem Blickwinkel, der es ermöglicht, die Veränderungen des Grammatikbegriffes bereits an äußeren Textmerkmalen nachzuvollziehen: Sie wird aus der Perspektive einer sprachlichen Unterscheidung seines Gebrauchs von „Grammatik“ sowie aus der Perspektive des Verhältnisses der Häufigkeit von „Logik“ und „Grammatik“ in seinen Schriften betrachtet. Dies sind Perspektiven, die sich aus der philologischen Untersuchung im ersten Kapitel ergeben werden. Nimmt man diese Blickwinkel ein, stechen vor allem drei Entwicklungen ins Auge: Erstens, die Ablösung der logischen Syntax durch die Grammatik Anfang der 30er Jahre; zweitens, der Übergang von der Redeweise von Grammatik im Allgemeinen in den frühen 30er Jahren zu Grammatik im Besonderen in den PU; drittens, die Ablösung der Grammatik durch die Logik in seinen letzten Manuskripten der Jahre 1950/51. Sie alle werden in den Kapiteln 2 bis 4 aufgegriffen. Obwohl sich diese Arbeit auf Wittgensteins gesamten Nachlass bezieht, verlangt es das Streben nach Übersichtlichkeit und praktischer Umsetzung des
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Einleitung
Projekts, einige Nachlassdokumente in den Vordergrund zu rücken, anstatt jedes einzelne Manuskript oder Typoskript gesondert auf seinen Grammatikbegriff hin zu untersuchen. Für diesen Zweck wurden für die philologische Untersuchung im ersten Kapitel diejenigen Texte ausgewählt, die entweder einen hohen autoritativen Status haben oder aus anderen Gründen relevant für die aktuelle Debatte innerhalb der Wittgensteinforschung sind. Im einzelnen handelt es sich um die Logisch-philosophische Abhandlung (TLP), Wittgensteins frühe Tage- und Notizbücher sowie den sogenannten Prototractatus (Mss 101– 104), seine Bemerkungen unmittelbar nach seiner Rückkehr nach Cambridge 1929/30, die die Philosophischen Bemerkungen (PB) beinhalten (Mss 105 – 108, Tss 208 – 209), das Big Typescript (BT, Ts 213), die Philosophischen Untersuchungen (PU, Ts 227a/b) sowie die letzten Bemerkungen 1950/1951, die je teilweise in Über Gewißheit (ÜG), die Bemerkungen über die Farben (BÜF) und den zweiten Teil der Letzten Schriften über die Philosophie der Psychologie (LSPP II) eingegangen sind (Mss 172– 177). Das erste Kapitel enthält nicht nur die philologischen Analysen dieser Texte im Hinblick auf den in ihnen enthaltenen Grammatikbegriff, sondern dient darüber hinaus als Einführung in die Schwierigkeiten, die sich bei einer genauen Betrachtung von Wittgensteins Auffassung von Grammatik ergeben. Nach der philologisch-philosophischen Untersuchung im ersten Kapitel widmet sich Kapitel 2 Wittgensteins frühen Schriften bis einschließlich 1930, bevor in Kapitel 3 zunächst das Big Typescript Gegenstand der Betrachtung sein wird. Auf dem Weg vom Big Typescript zu den PU erweist sich ferner das Brown Book und dessen Umarbeitung ins Deutsche (Ms 115ii) als ein wichtiger Zwischenschritt, so dass es ebenso gründlich im Hinblick auf den in ihm enthaltenen Grammatikbegriff untersucht werden wird. Am Ende des dritten Kapitels werden die wesentlichen Verschiebungen in Wittgensteins Auffassung von Grammatik von den Bemerkungen 1930 über das Big Typescript bis in den Brown Book Korpus und damit die PU aufgezeigt. Das vierte Kapitel skizziert schließlich Wittgensteins Anwendung dieses neuen Grammatikbegriffes in den PU und seinen letzten Manuskripten. Darüber hinaus wird im vierten Kapitel Wittgensteins Logikbegriff diskutiert. Mit dieser Darstellung wird eine Entwicklungslinie nachgezeichnet, die leicht so missverstanden werden könnte, als dass ich etwa vier Wittgensteins – früh, mittel, spät und noch später – unterscheiden wolle. Dies ist nicht der Fall. Vielmehr möge man sich Wittgensteins Philosophie als einen Zeitstrahl denken, auf dem verschiedene Punkte herangezoomt werden. Anhand dieser Momentaufnahmen wird der Versuch unternommen, wesentliche Aspekte der Entwicklung von Wittgensteins Denken übersichtlich darzustellen. Die Einteilung in verschiedene Phasen von Wittgensteins Philosophie war nicht von vornherein gesetzt, sondern hat sich aufgrund der hier verfolgten Thematik ergeben. Ich möchte
Einleitung
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folglich nicht den Anschein erwecken, mich am Spiel „Counting Wittgensteins“ (Hacker 2012: 1) zu beteiligen. Im Gegenteil stehe ich, wie viele andere, einer derartigen Einteilung äußerst skeptisch gegenüber.¹⁷ Bereits Stern hat treffend festgestellt: „we would be better off acknowledging that his [Wittgenstein’s] writings ‘are related to one another in many different ways’ (PI § 65) and turning to
Schon die noch heute verbreitete Redeweise vom „frühen“ und „späten“ Wittgenstein, bzw. von „Wittgenstein I“ und „Wittgenstein II“, die in Deutschland auf Stegmüller (1969), in den USA auf George Pitcher zurückgeführt werden kann (vgl. Schulte 1989: 122), ist insofern irreführend, als dass sie nahelegt, es habe zwischen dem TLP und den PU einen radikalen Bruch in Wittgensteins Philosophie gegeben. In diesem Sinne behauptet Stegmüller, Wittgenstein habe „zwei verschiedene Philosophien entwickelt […], von denen die zweite nicht als eine Fortsetzung der ersten aufgefaßt werden kann“ (1969: 524). In der Tat, stellt man TLP und PU einander direkt gegenüber, also den jeweils wichtigsten Text des sogenannten Wittgenstein I und II, so entsteht leicht der Eindruck, man habe es hier mit zwei gänzlich verschiedenen philosophischen Auffassungen und Herangehensweisen zu tun, und große Unterschiede sind sicher nicht zu leugnen. Eine genaue Betrachtung zeigt jedoch auch die Verwandtschaft beider Texte, die letztlich nicht verwundern muss, denn uns begegnet hier zweimal derselbe Philosoph, der zeitlebens auf der Suche nach der Klärung philosophischer Probleme war. Diese Auffassung ist natürlich nicht neu. Bereits Schulte stellt fest, dass die Unterscheidung zwischen Wittgenstein I und II „heute zwar längst nicht mehr so populär wie früher [ist], aber […] nach wie vor einen großen Teil der Debatte um den besten Interpretationsansatz [prägt].“ (Schulte 1989: 123) Stern legt dar, dass die „two-Wittgenstein view“ noch heute verbreitet ist, insbesondere bei Philosophen, die sich nicht tiefgreifend mit Wittgensteins Philosophie auseinandersetzen. (Stern 2006) Die Unterscheidung vom frühen und späten Wittgenstein wird auch unter Wittgensteininterpreten noch immer aufgegriffen, etwa in dem Postulat eines dritten Wittgensteins, der auf Wittgenstein I und II folgt (Moyal-Sharrock 2004 et al., z. B.: „[…] the third Wittgenstein found solutions that had eluded the second Wittgenstein.“ (2004: 2)) Die Einheit von Wittgensteins Werk ist hingegen schon früh betont worden, wenn auch im Zusammenhang unterschiedlicher Interpretationen, so etwa von Kenny (2006, ursprünglich 1973), in neuerer Zeit u. a. von Diamond (u. a. 1991) und anderen Resolute Readers, wobei Conant (2010) sich entschieden dagegen wehrt, als Vertreter einer „one-Wittgenstein view“ gesehen zu werden. Auch Hacker wendet sich mit seinem Ausdruck „Counting Wittgensteins“ (2012: 1) deutlich gegen den Versuch einer klaren Trennung verschiedener Wittgensteins. Ebenso betont Sluga die Dynamik in Wittgensteins Denken jenseits der Unterscheidung verschiedener Philosophien. („The Performative Conception of the Self“, in Vorbereitung) Eine differenzierte Herangehensweise liegt wohl den meisten Wittgensteininterpreten am Herzen, und Conant hat sicher recht, wenn er feststellt: „it is perhaps especially difficult in the case of Wittgenstein to see precisely how properly to balance the continuities against the discontinuities in a full narrative of the character of his philosophical development. The devil lies in the detail here.“ (2010: 56) Anstatt den TLP und die PU als isolierte Produkte zu betrachten wird infolgedessen die Berücksichtigung der Entwicklung von Wittgensteins Denken zwischen beiden Texten essentiell. Diese Herangehensweise ist in der Literatur als die Untersuchung des sogenannten „Middle Wittgenstein“ eingegangen. Hilfreiche Übersichten über die ineinander übergreifenden Debatten bieten Kienzler (1997: 15 – 26), Stern (2006) und Thompson (2008: 15 – 24). Eine Antwort auf die Einteilung Sterns aus Sicht der Resolute Readers gibt Conant (2010).
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the more productive task of investigating those relations in greater detail.“ (Stern 2006: 205) Bei Wittgenstein haben wir es mit einem Denker zu tun, der seine philosophischen Auffassungen nicht abrupt über Bord wirft, um dann etwas gänzlich Neues zu beginnen, sondern der unnachgiebig danach trachtet, sich von seinen philosophischen Fragen zu erlösen. So fragt er bereits in seinen während des Ersten Weltkriegs entstandenen Tagebüchern: „ob mir der erlösende Gedanke kommen wird? ob er kommen wird??!!“ (Ms 101: 43v) Gemäß Waismanns Notizen zu den Gesprächen mit Wittgenstein und Schlick sagte Wittgenstein auch im Januar 1930, weniger flehend doch dafür deutlich bestimmter: „Alles, was wir tun, besteht darin, das erlösende Wort zu finden.“ (WWK 77) Noch später notiert er selbst: „Der Philosoph trachtet das erlösende Wort zu finden, das ist das Wort, das uns endlich erlaubt, das zu fassen, was bis jetzt/dahin immer, ungreifbar, unser Bewusstsein belastet hat.“ (Ts 213+H: 409)¹⁸ In den PU schlägt sich diese tiefe Sehnsucht nach der Erlösung von quälenden philosophischen Fragen in dem Streben nach vollkommener Klarheit nieder: „Denn die Klarheit, die wir anstreben, ist allerdings eine vollkommene. Aber das heißt nur, daß die philosophischen Probleme vollkommen verschwinden sollen.“ (PU 133) Zu diesem Zweck der Erlösung von philosophischen Problemen durch vollkommene Klarheit schlägt Wittgenstein verschiedene Wege ein, die sich im Wesentlichen ähneln, weil sowohl die quälenden Fragen als auch das Ziel ihrer Klärung dieselben bleiben. Hierin finden wir einen roten Faden, der sich durch Wittgensteins gesamtes Denken zieht und sich nicht ohne Weiteres in einzelne, womöglich gar klar definierte Abschnitte untergliedern lässt.¹⁹
Zur Zitierweise des Big Typescript vgl. 3.1. Vom „erlösenden Wort“ spricht Wittgenstein an vielen Stellen im Nachlass.Vgl. Ms 101: 43v; Ms 102: 63r, 122r; Ms 105: 44; Ms 107: 114; Ms 110: 17; Ms 115: 66; Ms 124: 218; Ms 132: 55 f; Ms 142: 109; Ms 146: 55; Ms 147: 9v; Ms 179: 3v; Ts 211: 128, 158; Ts 212: 1115; Ts 220: 83; Ts 238: 11; Ts 239: 84. Vgl. dazu Klagge 2011: 125 – 142, wo er einschlägige Nachlassstellen zusammenträgt und kommentiert. Zum „erlösenden Wort“ im Big Typescript vgl. Majetschak 2006a: 70 f. Zu demselben Ergebnis gelangen auch Erbacher: „Zwar hat sich im Gegensatz zur LPA Wittgensteins Verständnis des Klärens und damit die Darstellungsform für dessen Vergegenwärtigung verändert; die Funktion von Wittgensteins Texten, sein klärendes Philosophieren mit literarischphilosophischen Darstellungsmitteln zu zeigen, bleibt aber unveränderter Grundzug seiner schriftlichen Entwürfe“ (Erbacher 2015: 130) und Majetschak: „So ist gerade sein Werk, wie kaum ein zweites, durch eine manchmal geradezu ‚manisch‘ zu nennende Neu- und Umbearbeitung derselben Probleme, derselben Schriften gekennzeichnet, denen er immer neue Aspekte abgewinnt, ohne – wie Wittgenstein jedenfalls glaubte — ‚das erlösende Wort zu finden‘ […]“ (Majetschak 2000: 17).
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Im Vorwort zu den PU verkündet Wittgenstein, „schwere Irrtümer“ in seiner im TLP dargelegten Auffassung entdeckt zu haben. Er hat also erkannt, dass sein im TLP eingeschlagener Weg in die Irre führt und daher ein anderer Weg, wohlgleich mit demselben Ausgangspunkt und demselben Ziel, zu erproben ist. Diese verschiedenen Wege sind, so meine ich, mit seinem Verständnis von Grammatik untrennbar verwoben. Die Betrachtung des Grammatikbegriffs im Kontext von Wittgensteins philosophischer Entwicklung führt daher unmittelbar an den Puls seines Denkens. Jedes Kapitel dieses Buches schließt mit einer Übersicht der wichtigsten Inhalte, so dass die Zusammenfassungen in ihrer Gesamtheit ein abschließendes Résumé ergeben. Die wichtigsten Ergebnisse werden sein, dass Wittgenstein „Grammatik“ zum ersten Mal in den „Notes on Logic“ im Sinne einer uns täuschenden Grammatik verwendet, der er im TLP die logische Syntax zur Klärung sprachlicher Missverständnisse gegenüberstellt. 1929 wird er die Begriffe „Syntax“ und „Grammatik“ synonym gebrauchen und in beiden Fällen auf das Attribut „logisch“ verzichten. Mit seiner Hinwendung zur Umgangssprache Ende 1929 wird schließlich sein Gebrauch von „Syntax“ immer mehr abnehmen und durch „Grammatik“ ersetzt: Anstatt unsere Sprache vermittels einer logischen Grammatik von Ambiguitäten zu reinigen, soll die Grammatik unserer Alltagssprache übersichtlich dargestellt werden. Im Big Typescript kommt Wittgenstein seiner „Theorie der Grammatik“ (Ms 109: 18) am nächsten, bereitet gleichzeitig jedoch auch den Übergang zur Grammatik als Beschreibung des Sprachgebrauchs vor. Seine Ablehnung jeglicher Theorie wird eingeleitet durch die Erkenntnis der Unvollständigkeit des grammatischen Systems einerseits und die Einsicht, dass nicht alle Regeln des Sprachgebrauchs notwendig allgemeine Regeln darstellen müssen, andererseits. „Grammatik“ wird so von einem Sprachsystem, einem grammatischen Möglichkeitsraum, zur Beschreibung des Sprachgebrauchs im jeweils konkreten Fall und lässt sich durch die Worte „Gebrauch“ oder „Sprachgebrauch“ ersetzen. Diese Entwicklung findet im Brown Book Korpus ihre Vollendung. In den PU bezieht sich Wittgenstein wieder auf seinen früheren Grammatikbegriff des Big Typescript zurück. Dies darf aber nicht so verstanden werden, als ob sich seine Auffassung von Grammatik zwischen dem Brown Book Korpus und den PU verändert hätte. In den späten Manuskripten vollzieht sich eine terminologische Verschiebung von „Grammatik“ zu „Logik“, die sich aus der beschriebenen Entwicklung ergibt. Wittgenstein versucht nicht mehr, die Logik vermittels der übersichtlichen Darstellung der Grammatik zu beschreiben, sondern erkennt, dass sie sich in der Praxis der Sprache zeigt.
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Zusammenfassung (Honig) Für eine bessere Übersicht werden hier die Kapitelzusammenfassungen vorweggenommen und als Einheit präsentiert. Im ersten Kapitel wird Wittgensteins Begriff von Grammatik von philologischphilosophischer Seite beleuchtet und es werden die empirischen Daten untersucht, die sich mit Hilfe der digitalen Erfassung von Wittgensteins Nachlass gewinnen lassen. Eingangs werden die Rolle der Grammatik in Wittgensteins Philosophie (vgl. 1.1) sowie die mit diesem Begriff verbundenen Schwierigkeiten erläutert: Wittgenstein verwendet das Wort „Grammatik“ entgegen dem gewöhnlichen deutschen Sprachgebrauch (vgl. 1.3) und bietet uns keine klare Definition, sondern lediglich einige bildliche Charakterisierungen dieses Begriffs an. Diese werden in Abschnitt 1.4 zusammengestellt. Um zu demonstrieren, dass Wittgensteins Gebrauch von „Grammatik“ vom herkömmlichen Gebrauch abweicht, werden ferner die herkömmlichen und historischen Gebrauchsweisen von „Grammatik“ und „grammar“ zusammengetragen (vgl. 1.2). Dabei stellt sich heraus, dass sich Wittgensteins Grammatikbegriff am ehesten an dem englischen Sprachgebrauch von „grammar“ im übertragenen Sinn zu orientieren scheint, den unter anderem John Henry Newman und Karl Pearson in ihren Werktiteln verwenden. Des Weiteren wird in Abschnitt 1.5 die Unterscheidung der Verwendungsweisen von „Grammatik“ eingeführt, die nachfolgend einen differenzierten Blick auf Wittgensteins Grammatikbegriff erlauben wird: Grammatik im allgemeinen Sinn, d.i. die Grammatik unserer Sprache in ihrer Gesamtheit, und Grammatik im partikulären Sinn, d.i. die Grammatik eines Teils unserer Sprache, etwa eines Wortes oder Satzes. Abschließend wird in Abschnitt 1.6 dargelegt, wie sich die Begriffe „Grammatik“ und „Logik“ auf ausgewählte einschlägige Textdokumente des Nachlasses verteilen.Während „Logik“ in den Bemerkungen 1929/ 30 klar dominiert, finden sich im Big Typescript mehr Instanzen von „Grammatik“ als von „Logik“. In den PU verwendet Wittgenstein beide Begriffe deutlich weniger als im Big Typescript, wobei eine leichte Vorherrschaft von „Grammatik“ gegenüber „Logik“ festzustellen ist. In den späten Manuskripten gebraucht Wittgenstein schließlich kaum noch den Begriff der Grammatik, dafür allerdings den Begriff der Logik in erhöhtem Maße. Diese Perspektiven auf Wittgensteins Grammatikbegriff und die gewonnenen empirischen Daten bilden den Hintergrund für die übrigen drei Kapitel dieser Untersuchung. Viele Fragen werden aufgeworfen, und mit Sicherheit ließen sich viele weitere formulieren. Es wäre zu ambitioniert, sich ihnen allen zufriedenstellend widmen zu wollen. Zwei Fragen, die Wittgensteins philosophische Entwicklung betreffen, stechen jedoch besonders hervor: (1) Warum spricht Wittgenstein im Big Typescript soviel von Grammatik, gerade von der Grammatik im
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allgemeinen Sinn, während sein Gebrauch des Grammatikbegriffs in den PU deutlich abnimmt und außerdem eine Verschiebung hin zu einer Betonung von Grammatik im partikulären Sinn erfährt? (2) Warum nimmt Wittgensteins Gebrauch des Grammatikbegriffs in den späten Manuskripten radikal ab, während wir dort sehr häufig auf den Begriff der Logik stoßen? Auf die erste Frage wird am Ende des dritten Kapitels eine Antwort formuliert werden. Die zweite Frage wird im vierten Kapitel aufgegriffen und beantwortet. Die Geschichte von Wittgensteins Grammatikbegriff beginnt im September 1913 in den „Notes on Logic“, in denen er sein Misstrauen gegenüber der Grammatik der Alltagssprache deutlich zum Ausdruck bringt und dieses Misstrauen als Bedingung für das Philosophieren beschreibt. In der Logisch-philosophischen Abhandlung (TLP), die er während seiner Zeit als Soldat im Ersten Weltkrieg verfasste, hat er daraufhin zwei Sprachen betrachtet: Erstens die Umgangssprache, die uns zuweilen durch Ungenauigkeiten und Ambiguitäten täuschen kann, und der deshalb nicht zu trauen ist, und zweitens eine logische Zeichensprache (Notation, Symbolismus), die uns, frei von Doppeldeutigkeiten, die Sachverhalte klar und deutlich vor Augen führen soll. Mit dieser Unterscheidung stellt er der zu misstrauenden Grammatik der Alltagssprache die klar darstellende, eindeutige, logische Grammatik, die er „logische Syntax“ nennt, gegenüber. Das Attribut „logisch“ sowohl vor „Syntax“ als auch vor „Grammatik“ verschwindet zwar bereits im Februar 1929, d.i. mit seinem Wiederbeginn des philosophischen Schreibens nach jahrelanger Unterbrechung, aus seinen Notizen, doch die Gegenüberstellung der irreführenden und der klärenden Grammatik bleibt weiterhin bestehen. Dies ändert sich erst, als Wittgenstein im Oktober 1929 sein Projekt, eine phänomenologische Notation als Ergänzung des TLP zu entwickeln, aufgibt. Indem er eine phänomenologische, und überhaupt jegliche logisch-formale Notation zur Klärung philosophischer Probleme verwirft, wird auch die Gegenüberstellung der beiden Grammatiken hinfällig. Seine Einsicht, dass wir „mit unserer gewöhnlichen Sprache auskommen“ (Ms 107: 176) und „nicht erst eine neue Sprache […] erfinden oder eine Symbolik […] konstruieren“ (WWK 45) müssen, bedeutet gleichzeitig, dass wir mit der Grammatik bzw. Syntax unserer Alltagssprache „zurechtkommen“ müssen. Sie kann uns zwar zuweilen in die Irre führen – von dieser Auffassung rückt Wittgenstein nicht ab –, doch wir können solchen Täuschungen entgehen, indem wir „die Syntax einfach und übersichtlich […] machen“. (WWK 46, Anm. 1) „Syntax“ und „Grammatik“ kann zu dieser Zeit noch immer als gegeneinander austauschbar verstanden werden, denn im Nachlass notiert Wittgenstein zeitgleich, d.i. kurz vor Weihnachten 1929, unserer Grammatik fehle es vor allem an Übersichtlichkeit (Ms 108: 31). An die Stelle der logischen Analyse der Sprache mittels der logischen Syntax tritt die übersichtli-
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che Darstellung der Grammatik unserer Alltagssprache; das Ziel der Klärung der Gedanken bleibt dasselbe, doch die Methode hat sich geändert. Dies verdeutlicht die begriffliche Entwicklung von der logischen Syntax des TLP über die Syntax oder Grammatik des phänomenologischen Projekts, die hier weiterhin als logische Syntax/Grammatik zu verstehen ist, hin zur Grammatik, oder Syntax, unserer Alltagssprache ab Ende des Jahres 1929. Infolge dieser Entwicklung dünnt Wittgenstein seinen Gebrauch von „Syntax“ immer weiter aus und verwendet mehr und mehr das Wort „Grammatik“. Wittgensteins Grammatikbegriff ist also in direkter Nachfolge der logischen Syntax des TLP zu sehen und kann nur vor dem Hintergrund von Wittgensteins Frühphilosophie und seinen Denkbewegungen im Jahr 1929 umfassend verstanden werden. Um die Entwicklung von Wittgensteins Grammatikbegriff vom Big Typescript zum Brown Book Korpus nachzuzeichnen, ist es wichtig, zunächst die Genese des Ts 213 zu erläutern und den Status des Big Typescripts im Gesamtnachlass zu diskutieren. Als Ergebnis wird das Big Typescript als ein wichtiger Zwischenschritt auf Wittgensteins Weg zu einer Buchpublikation charakterisiert. Ob Wittgenstein dabei vorsah, genau diesen Text zu veröffentlichen, oder ob er ihn dazu verwendete, seine Gedanken zu ordnen, ist für die vorliegende Untersuchung letztlich nebensächlich, wenn auch letzteres auf Grund der im Big Typescript enthaltenen offenkundigen Inkonsistenzen wahrscheinlicher scheint. Als Referenzsystem wird Schultes Unterscheidung zwischen „Ts 213“ für den getippten Text und „BT“ für das Typoskript inklusive handschriftlicher Korrekturen und Ergänzungen übernommen. Ergänzend erlauben die im dritten Kapitel erläuterten Kürzel „Ts 213+H“ (handschriftlich bearbeitet), „Ts 213H“ (handschriftlich hinzugefügt) und „Ts 213X“ (durchgestrichen) ein präzises Zitieren. Die Gegenüberstellung von Ts 213 und dem BT zeigt, dass Ts 213 keinen konsistenten Text darstellt, der anschließend von Wittgenstein bearbeitet wurde, sondern dass Inkonsistenzen bereits in Ts 213 enthalten sind und sich im BT fortsetzen. Wittgensteins Korrekturen des Textes in Ts 213 sind fast ausschließlich sprachlicher, nicht inhaltlicher Art. Im Big Typescript fasst Wittgenstein Grammatik als einen reinen Kalkül auf, der nicht, wie in den Bemerkungen 1930, auf die Wirklichkeit angewendet wird und insofern autonom, willkürlich ist. Während Sätze weiterhin mit der Wirklichkeit verglichen werden, um über ihre Wahr- oder Falschheit zu entscheiden, ist Grammatik ein von der Wirklichkeit unabhängiger Kalkül, der über Sinn und Unsinn, jedoch nicht Wahr- und Falschheit eines Satzes entscheidet. Gleichzeitig weist Wittgenstein das Abbildungsverhältnis von Sprache und Wirklichkeit vehement zurück und fragt, wie wir den Ausdruck „übereinstimmen mit der Wirklichkeit“ alltäglich gebrauchen. Dies geht einher mit seiner Ablehnung jeglicher Metalogik, denn um eine Aussage über das Verhältnis von Sprache und Wirk-
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lichkeit zu treffen, müssten wir, was unmöglich ist, eine (metalogische) Position jenseits der Grenze der Sprache einnehmen. So bleibt ein Satz wie „Dieser Satz stimmt mit der Wirklichkeit überein“ ein Satz wie jeder andere unserer Sprache, den wir lediglich auf seinen Gebrauch hin, grammatisch, untersuchen können. Das Verhältnis von Grammatik und Logik stellt sich im Big Typescript derart dar, dass grammatische Regeln, oder auch grammatische Sätze, logische Notwendigkeiten bzw. Unmöglichkeiten ausdrücken. Das Wort „Logik“ gebraucht Wittgenstein hier im Sinne des Denkbaren, nicht im Sinne der formallogischen Disziplin, obgleich sich auch dieser Gebrauch von „Logik“ häufig im Big Typescript findet. Des Weiteren wird der Vergleich von Grammatik mit einem Kalkül im Big Typescript durch den Vergleich von Grammatik mit einem Spiel erweitert. Stand in den Bemerkungen 1930 das Schachspiel als Beispiel eines sowohl Kalküls als auch Spiels im Vordergrund des Vergleichs, wird es im Big Typescript durch andere Spiele wie Ballspiele, Tennis oder das Preisschießen ergänzt, denn obgleich Teile unserer Sprache einem solchen Kalkül entsprechen, gilt dies nicht für die Sprache insgesamt. Diese Überlegung ebnet den Weg für Wittgensteins Begriff des „Sprachspiels“, der im Big Typescript jedoch kaum vertreten ist. Zum einen begegnet uns im Big Typescript Grammatik als vollständiger Kalkül – als vollständiges System, als vollständiges Geschäftsbuch der Sprache –, das den grammatischen Raum des sinnvoll-Sagbaren umschreibt. Zum anderen stellt Wittgenstein fest, dass unsere Sprache nicht überall von Regeln begrenzt ist, was die Unvollständigkeit dieses Kalküls, Systems, Geschäftsbuches oder der Begrenzung dieses Raumes impliziert. Notiert Wittgenstein in Ts 213, er mache sich anheischig, das System der Grammatik vollständig darzustellen, so kehrt er in einer handschriftlichen Bemerkung diesen Satz ins genaue Gegenteil. Tatsächlich enthalten beide, Ts 213 und die handschriftlichen Ergänzungen, Behauptungen sowohl der Vollständigkeit als auch der Unvollständigkeit der Grammatik. Wittgenstein entwickelt im Big Typescript nicht nur eine Skepsis gegenüber dem Aufstellen aller grammatischen Regeln, sondern auch gegenüber dem Angeben allgemeiner Regeln. Das Wort „alle“ nütze nichts, wenn man die Grammatik im jeweils konkreten Fall nicht kenne. Statt allgemeiner Regeln gibt es nur Regeln über allgemeine Zeichen. Das Big Typescript zeichnet sich folglich dadurch aus, dass es sowohl Bemerkungen aus den Jahren 1929/30 enthält, als auch Bemerkungen, die Gedanken der PU vorwegnehmen. Insbesondere sein Zweifeln an der Vollständigkeit der Grammatik und seine Skepsis gegenüber der Möglichkeit allgemeiner Regeln bringen Wittgenstein schließlich dazu, seine Auffassung von Grammatik als einem vollständigen Möglichkeitsraum, der die Bedeutung von Wörtern bestimmt und über Sinn und Unsinn entscheidet, zugunsten einer Grammatik als Beschreibung des Sprachgebrauchs im jeweils konkreten Fall aufzugeben. Im Brown
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Book Korpus ist diese Entwicklung bereits vollzogen. Dies ist daran erkennbar, dass Wittgenstein ohne den Begriff der Grammatik ausgekommen wäre, hätte er ihn jeweils durch den Begriff des Gebrauchs ersetzt. Diese Tatsache wird in Abschnitt 3.2 ausführlich erläutert. Außerdem wird im selben Abschnitt dargelegt, dass die Bemerkungen, die die Worte „Logik“ bzw. „logic“ oder eines ihrer Derivate enthalten, im Brown Book Korpus als Ablehnung der strengen logischen Methode verstanden werden können. Mit dieser Entwicklung gehen einige Verschiebungen in Wittgensteins Denken einher, die in Abschnitt 3.3 dargelegt werden: (1) Die Verschiebung von der Bedeutung eines Wortes als Ort im grammatischen Raum zu der Bedeutung eines Wortes als sein Gebrauch in der Sprache. (2) Die Verschiebung von einer „Theorie der Grammatik“ zu der Behandlung sprachlicher Missverständnisse im jeweils konkreten Fall – beiden Methoden ist das Ziel der Erlösung von quälenden philosophischen Fragen gemein. (3) Die Verschiebung von Grammatik im allgemeinen zu Grammatik im partikulären Sinn, die bereits im ersten Kapitel aufgedeckt wurde. Die Darlegungen im dritten Kapitel bieten eine Erklärung dieser Entwicklung von Wittgensteins Gebrauch von „Grammatik“ an. Alle diese Verschiebungen haben ihren Ursprung in den Bemerkungen 1929/ 30 und enden im Brown Book Korpus. In den PU behält Wittgenstein seine Auffassung von Grammatik des Brown Book Korpus bei. Das Big Typescript stellt bei dieser Entwicklung einen wichtigen Zwischenschritt dar, in dem Altes und Neues zusammenkommt. Weder wird im Big Typescript das Alte komplett überwunden, noch wird das Neue vollständig umgesetzt. Eine wichtige Entwicklungsstufe von Wittgensteins Grammatikbegriff ist mit Wittgensteins Brown Book Korpus abgeschlossen. Aufgabe des vierten Kapitels ist es, Wittgensteins Anwendung und evtl. weitere Entwicklung dieses Begriffes in den PU sowie den späten Manuskripten zu skizzieren. Die Tatsache, dass Wittgenstein in den PU erneut von Grammatik im Allgemeinen spricht, obwohl er diese Redeweise im Brown Book Korpus bereits aufgegeben hatte, verlangt eine Erklärung, denn sie scheint auf den ersten Blick meiner im dritten Kapitel vorgestellten Lesart zu widersprechen. Meine Antwort stützt sich auf die Auffassung der PU als einem polyphonen Album, in dem Wittgenstein verschiedene Stimmen zu Wort kommen lässt, nicht als allwissender Erzähler auftritt, dem Leser die Beantwortung der aufgeworfenen Fragen überlässt und seine Bemerkungen wie „Landschaftskizzen“ (PU Vorwort) in einem Album komponiert. Diese Lesart hat Pichler (2004) ausführlich erläutert und begründet. Versteht man die PU als ein solches Album, das den „Niederschlag“ (PU Vorwort), im chemischen Sinne, von Wittgensteins Bemerkungen ab 1929 präsentiert, so wird verständlich, dass die Grammatik im allgemeinen Sinn darin eine Rolle spielen muss, da sie Wittgensteins Denken bis mindestens ins Big Typescript maßgeblich geprägt hat.
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Lesern, die mit dieser Auffassung der PU als einem Album nicht einverstanden sind, biete ich zusätzlich eine andere Erklärung an: Wittgensteins Gebrauch von „Grammatik“ nimmt in den PU, insbesondere in deren Urfassung, gegenüber dem Big Typescript radikal ab. Darüber hinaus verschiebt er sich eindeutig von Grammatik im allgemeinen zu Grammatik im partikulären Sinn. In den ersten 188 Bemerkungen der PU, d.i. deren Urfassung, finden sich lediglich zwei Instanzen von Grammatik im allgemeinen Sinn. Beide sind sowohl Einschübe in einen schon vollständigen Satz als auch klare Anspielungen auf Bemerkungen des Big Typescript. Dass Wittgenstein versucht ist, den Ausdruck von Grammatik im allgemeinen Sinn zu vermeiden, wird außerdem daraus ersichtlich, dass er, anstelle von „Regel der Grammatik“ oder „Satz der Grammatik“, in den PU fast ausschließlich die Formulierung „grammatischer Satz“ wählt, und auch dies nur äußerst selten. Die einzige substantivische Verwendung von „Grammatik“ in diesem Kontext ist erneut eine klare Anspielung auf das Big Typescript. Hinzu kommt, dass Wittgenstein während seiner Arbeit an den PU zum Teil das Big Typescript durchgesehen hatte. Hätte er sein darin zum Ausdruck gebrachtes Grammatikverständnis beibehalten, so wäre anzunehmen, dass er deutlich mehr Bemerkungen daraus in die PU übernommen hätte, als dies der Fall ist. Dass er es nicht tut, wird im vierten Kapitel durch das Aufzeigen der Quellen der GrammatikBemerkungen der PU im Nachlass dargelegt. Die Vorkommnisse von Grammatik im allgemeinen Sinn in den PU deute ich demzufolge als die „Eierschalen“ (Ts 229: 455) von Wittgensteins alter Auffassung. Neben diesen Begründungen ist vor allem entscheidend, dass man Wittgensteins im dritten Kapitel beschriebene Ablehnung der Theorie ernst nimmt. Wenn man das tut, so ist eine theoretisch motivierte Lesart der PU kaum vertretbar. In den späten Manuskripten lässt sich schließlich eine terminologische Verschiebung von „Grammatik“ zu „Logik“ feststellen. Die Tatsache, dass Wittgenstein gegen Ende seines Lebens kaum noch das Wort „Grammatik“ verwendet, spricht für die These, dass der Grammatikbegriff keine große Rolle mehr in seinem Denken spielt. Tatsächlich findet sich eine Vielzahl von Bemerkungen, die den Gebrauch eines Wortes behandeln, nicht etwa dessen Grammatik. Bezüglich des Logikbegriffes lässt sich beobachten, dass Wittgenstein ihn in vielerlei Hinsicht in der Art und Weise gebraucht, wie er früher „Grammatik“ verwendet hatte. Dennoch dürfen wir nicht über diese terminologische Verschiebung hinwegsehen und davon ausgehen, dass Wittgenstein mit „Grammatik“ und „Logik“ dasselbe meint. Beide Begriffe lassen sich in seinen Schriften nicht ohne Weiteres gegeneinander austauschen. Logik in Wittgensteins Texten verstehe ich als den Rahmen unseres Denkens und Schließens. Gemäß den späten Manuskripten offenbart sich dieser Rahmen in der Art und Weise, in der wir täglich sprechen und handeln. Anstatt einen Third Wittgenstein mit einem erweiterten Grammatikbegriff
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zu proklamieren, vertrete ich die Auffassung, dass Wittgenstein auf die Wurzeln seines Denkens zurückgeht und das „Logik“ nennt, was immer Logik für ihn war, was er lange Zeit jedoch „Grammatik“ genannt hatte. Anders gesagt: Wittgenstein vertritt in seinen letzten Manuskripten nicht einen erweiterten Grammatikbegriff, sondern hat davon abgelassen, Logik „Grammatik“ zu nennen. Auf die Logik stoßen wir nicht allein in den (grammatischen) Regeln unserer Sprache, sondern vor allem in unserem Handeln, unserem Verhalten, unserer Praxis. Obgleich Wittgenstein bereits in den 1930er Jahren zu dieser Ansicht neigte, tritt sie erst in den letzten Manuskripten in den Vordergrund. Dies hat einige Wittgensteinforscher verleitet, hier eine Wende in seinem Denken sehen. Tatsächlich aber erstreckt sich die allmähliche Entwicklung der Bedeutsamkeit des Praxisbegriffes über mehr als ein Jahrzehnt. Zwar lassen sich in den späten Manuskripten zweifellos Verschiebungen und Änderungen in Wittgensteins Denken ausfindig machen, doch die Proklamation einer „dritten Phase“ seiner Philosophie gründet sich meines Erachtens auf ein tiefgreifendes Missverständnis seiner Arbeit. In den späten Manuskripten schließt sich einerseits der Kreis zum TLP, denn Wittgenstein hatte bereits in seiner Frühphilosophie die Unbeschreibbarkeit der Logik behauptet. Die Betonung der Bedeutung der Praxis für die Logik hat sich andererseits erst in Wittgensteins späteren Überlegungen entwickelt. Sie klingt bereits im Big Typescript an und scheint in den späten Manuskripten ihre Vollendung zu finden. Im Big Typescript musste alles, was in der Logik „business“ ist, in der Grammatik gesagt werden. (Ts 213: 526) In den späten Manuskripten hingegen zeigt sich alles, was in der Logik „business“ ist, in der Praxis der Sprache. Kjell S. Johannessen (1988: 359) hat bereits drei Zitate aus Wittgensteins Gesamtwerk gegenübergestellt, die die Entwicklung von Wittgensteins Terminologie deutlich zum Ausdruck bringen: Im TLP heißt es: „Die Logik muß für sich selber sorgen.“ (TLP: 5.473) In den Notizen der frühen 30er Jahre lesen wir: „[…] die ganze Sprache muss für sich selbst sprechen.“ (Ms 109: 294) In den späten Manuskripten schließlich schreibt Wittgenstein „[…] die Praxis muß für sich selbst sprechen.“ (Ms 174: 30v) Dazwischen liegen allmähliche Übergänge, die sich vermittels der Betrachtung des Grammatikbegriffs und seinen Veränderungen nachvollziehen lassen.
1 Philosophisch-philologische Betrachtungen von Wittgensteins Grammatikbegriff 1.1 Zur Rolle der Grammatik in Wittgensteins Philosophie Wer davon ausgeht, dass diejenigen Begriffe, die Wittgenstein besonders häufig verwendet und die sich durch sein gesamtes philosophisches Denken ziehen – wie etwa „Sprache“ –, eine zentrale Rolle in seiner Philosophie spielen, wird kaum bestreiten können, dass dem Begriff der Grammatik eine solche Rolle zuzuordnen ist. Gemäß der Bergen Electronic Edition (BEE) verwendet Wittgenstein diesen Begriff in etwa 1487 Bemerkungen auf etwa 1269 Seiten seines Nachlasses.¹ Beziehen wir die Derivate von „Grammatik“ mit in die Suche ein, erhalten wir als Ergebnis etwa 2470 Bemerkungen und 2156 Seiten.² Bereits im TLP stoßen wir auf „Grammatik“.³ Der Begriff häuft sich vor allem in Wittgensteins Texten aus den
Die Zahl der Bemerkungen bezieht sich auf die Suche in der Normalized Transcription, die Zahl der Seiten auf die Suche in der Diplomatic Transcription der BEE. Die mit der BEE ermittelten Zahlangaben sind immer als Richtwerte zu verstehen, weil das Suchprogramm der BEE einige Instanzen von „Grammatik“ übersehen haben könnte, etwa wenn „Grammatik“ im Sperrdruck erscheint. Die Zahlen kommen wie folgt zustande: Normalized Transcription: „grammar“ – 64; „grammars“ – 2; „grammatical“ – 31; „Grammatik“ – 1487; „grammatikalisch“ – 4; „grammatikalische“ – 5; „grammatikalischen“ – 7; „grammatikalischer“ – 4; „Grammatiken“ – 4; „Grammatiker“ – 3; „grammatisch“ – 60; „grammatische“ – 332; „grammatischen“ – 397; „grammatischer“ – 50; „grammatisches“ – 20. Diplomatic Transcription: „grammar“ – 65; „grammars“ – 3; „grammatical“ – 25; „Grammatik“ – 1269; „grammatikalisch“ – 4; „grammatikalische“ – 5; „grammatikalischen“ – 7; „grammatikalischer“ – 3; „Grammatiken“ – 4; „Grammatiker“ – 3; „grammatisch“ – 56; „grammatische“ – 317; „grammatischen“ – 331; „grammatischer“ – 46; „grammatisches“ – 18. In seinem Aufsatz „Wittgenstein on Grammar, Theses and Dogmatism“ (2012) behauptet Peter Hacker, der Ausdruck „Grammatik“ und seine Derivate kämen gemäß der BEE 1837 Mal im Nachlass vor (vgl. 2012: 4). Das ist falsch. Die BEE gibt nicht die absolute Zahl des Vorkommens eines Wortes im Nachlass an, sondern die Anzahl der Bemerkungen (Normalized Transcription) bzw. der Seiten (Diplomatic Transcription), in bzw. auf denen das entsprechende Wort vorkommt. Hackers Ergebnis erhält man, wenn man in der Diplomatic Transcription nach „grammat*“ sucht. 1837 ist demnach die Anzahl der Seiten im Nachlass, auf denen Wittgenstein „grammat*“ verwendet. Es ist keineswegs die Zahl des Vorkommens von „Grammatik“ und seiner Derivate im Nachlass. TLP 3.325: „Um diesen Irrtümern zu entgehen, müssen wir eine Zeichensprache verwenden, welche sie ausschließt, indem sie nicht das gleiche Zeichen in verschiedenen Symbolen, und Zeichen, welche auf verschiedene Art bezeichnen, nicht äußerlich auf die gleiche Art verwendet. Eine Zeichensprache also, die der logischen Grammatik – der logischen Syntax – gehorcht.“ https://doi.org/10.1515/9783110565164-005
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1 Philosophisch-philologische Betrachtungen von Wittgensteins Grammatikbegriff
frühen 30er Jahren. Danach begegnen wir ihm weniger, jedoch oft an entscheidender Stelle. Bis in seine spätesten Manuskripte hinein hat Wittgenstein nicht davon abgelassen, die Grammatik zu behandeln. Er selbst streitet jedoch, zumindest in den frühen 30er Jahren, ab, dass diesem Begriff aufgrund seines häufigen Vorkommens eine bedeutende Rolle in seinen Überlegungen beizumessen sei. In Alice Ambrose’ Notizen zu Wittgensteins Vorlesungen der Jahre 1932/33 lesen wir: […] I once thought that certain words could be distinguished according to their philosophical importance: ‘grammar’, ‘logic’, ‘mathematics’. I should like to destroy this appearance of importance. How is it then that in my investigation certain words come up again and again? It is because I am concerned with language, with troubles arising from a particular use of language. The characteristic trouble we are dealing with is due to our using language automatically, without thinking about the rules of grammar. (AWL 13)
Nicht nur möchte Wittgenstein hier dem Eindruck entgegenwirken, dass dem Begriff der Grammatik – sowie den Begriffen der Logik und der Mathematik – in seinem Denken eine besondere Bedeutung zuzuweisen sei, sondern er möchte ihn sogar zerstören. ⁴ Dies zeigt, dass er sich seines häufigen Gebrauchs von „Grammatik“ durchaus bewusst war. Er wehrt sich jedoch dagegen, den Grund dafür in der Wichtigkeit des Begriffs zu sehen, sondern verweist zur Erklärung auf seinen Ansatz, Probleme zu betrachten, die aufgrund eines unreflektierten Sprachgebrauchs entstehen, welcher die grammatischen Regeln außer Acht lasse. Dieser Ansatz, so scheint er hier sagen zu wollen, zwinge ihn geradezu, bestimmte Worte wiederholt zu gebrauchen. Doch soweit wir Ambrose’ Aufzeichnungen Glauben schenken dürfen, enthält Wittgensteins Begründung für das zahlreiche Vorkommen von „Grammatik“ selbst einen Verweis auf eben diesen Begriff: Das Wort „Grammatik“ erscheint so häufig, weil wir uns der grammatischen Regeln der Sprache bewusst werden sollen, um philosophische Probleme zu vermeiden. Wittgensteins Begründung rückt somit den Begriff der grammatischen Regel ins Zentrum, ohne an dieser Stelle näher auf ihn einzugehen oder ihn gar zu erklären. Damit bleibt die Frage nach der Grammatik weiterhin nicht nur offen, sondern auch zentral, denn Wittgenstein gelingt es offenkundig nicht, ohne Bezug auf die Grammatik die Häufigkeit des Begriffs der Grammatik zu erklären. Im Gegenteil betont er erneut, dass es ihm in seinem philosophischen Ansatz um das Aufzeigen grammatischer Regeln geht – und damit um Grammatik. Dieser Gedanke ist tief in
Gemeint ist hier eine besondere Bedeutung für Wittgensteins Philosophie, nicht eine besondere Bedeutung in einem absoluten, ontologisch fundierten Sinn.
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seinem Denken verankert, nicht nur in den frühen 30er Jahren, sondern auch später in den PU („unsere Betrachtung ist daher eine grammatische“ (PU 89)) und noch später in einem seiner letzten Manuskripte, worin er die Frage aufwirft „was ich denn eigentlich will, wieweit ich die Grammatik behandeln will“ (BÜF III 309). Hieraus wird die Zentralität der Grammatik deutlich; die Grammatik spielt eine Schlüsselrolle in Wittgensteins Spätphilosophie⁵, weil sie untrennbar mit seinem Ansatz und seiner Methode verwoben ist. Genau darin liegt auch die Schwierigkeit, Wittgensteins Grammatikbegriff zu fassen. Eine genaue Betrachtung von Wittgensteins Verwendungsweise des Begriffs „Grammatik“ lenkt den Blick zunächst auf zwei Probleme. Zum einen gebraucht er den Begriff nicht gemäß unserem gewöhnlichen Sprachgebrauch, zum anderen ist sein eigener Gebrauch nicht einheitlich. Beides stellt nicht notwendig eine Schwierigkeit dar; in der Philosophie, wie in anderen Disziplinen, ist eine eigene Fachterminologie durchaus üblich, und auch mit unterschiedlichen Verwendungsweisen desselben Begriffs lässt es sich leicht umgehen, wenn das Gemeinte aus dem jeweiligen Kontext klar hervorgeht. In Bezug auf Wittgensteins Philosophie ergeben sich jedoch Schwierigkeiten, die im Folgenden erläutert werden. Dazu werde ich zunächst die herkömmlichen Gebrauchsweisen des Begriffes kurz beleuchten, bevor Wittgensteins eigener Gebrauch von „Grammatik“ ins Zentrum der Untersuchung rückt.
1.2 Herkömmliche und historische Gebrauchsweisen 1.2.1 Etymologie von „Grammatik“ Etymologisch betrachtet ist das Wort „Grammatik“ dem lateinischen Ausdruck „(ars) grammatica“ entlehnt, was mit „Sprachlehre“ (Kluge 1995: 333) oder auch „Schriftkunde, Elementarlehre der Sprache, Sprachwissenschaft“ (Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm (DWB))⁶ übersetzt wird. Der lateinische Ausdruck geht wiederum auf das griechische „grammatiké (téchne)“ zurück, wobei „grámma“ „Geschriebenes“ oder „Buchstabe“ bedeutet und sich von „gráphein“ (einritzen, schreiben) herleitet (Kluge 1995: 333). Gemäß Heinrich Roos bedeutete Grammatik „ursprünglich die Fertigkeit des Lesens, wurde aber Mit dem Begriff „Spätphilosophie“ meine ich Wittgensteins philosophische Arbeiten ab 1929, ohne eine homogene Spätphilosophie andeuten zu wollen. Bei Zitaten aus dem DWB beziehe ich mich auf die digitale Ausgabe desselben, die im Internet frei zugänglich ist: http://dwb.uni-trier.de/de/ (19.02. 2016). Alle Verweise und Zitate aus dem DWB in diesem Abschnitt beziehen sich auf den Eintrag „Grammatik“ im digitalen DWB.
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schon früh als ein Wissen von der Sprache verstanden“ (Roos 1974: 846). Als erster (griechischer) Grammatiker gilt ihm zufolge Dionysius Thrax, welcher im 2. Jh. v. Chr. die Grammatik als „die Wissenschaft, welche alle Probleme, die zur vollständigen Interpretation eines literarischen Werkes benötigt werden, behandelt“ (ebd.). Gemäß diesem frühen Grammatikbegriff ist Grammatik also nicht bloß Sprach-, sondern auch Literaturwissenschaft – und zudem empirisch, da sie die Sprache, so wie sie vorliegt, katalogisiert und systematisiert (ebd.). Doch bereits die klassischen römischen Grammatiker Aelius Donatus und Priscian, auf deren Werke man sich auch im Mittelalter bis ins 12. Jahrhundert hinein stützte, fassten Grammatik allein als Sprachwissenschaft auf und verstanden sie als „1. Lehre von den Sprachelementen, 2. Lehre von den acht Redeteilen, 3. Lehre von der Syntax“ (ebd.). Beginnend mit der Rezeption des Aristoteles wurde Grammatik schließlich als „grammatica speculativa“⁷ umgedeutet und nicht mehr als empirische und normative, sondern als spekulative Wissenschaft verstanden, die sich mit dem Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit befasst. (ebd.: 847 f) Im christlichen Mittelalter war „Grammatik“ zudem der Name der ersten und grundlegenden der Sieben Freien Künste (septem artes liberales)⁸ und bezeichnete jene Disziplin, die sich mit der Sprache im Allgemeinen und mit dem Spracherlernen beschäftigte (DWB).
1.2.2 „Grammatik“ im deutschen Sprachgebrauch Das DWB unterscheidet vier Bedeutungsfelder von Grammatik, nämlich erstens Grammatik als (mittelalterliche) Disziplin, zweitens als „die einer Sprache zugrundeliegende formale Struktur, die Summe und das System der in ihr sich ausdrückenden und auswirkenden Regeln, Gesetze und Ordnungsprinzipien; ebenso deren Kenntnis und Anwendung“, drittens als Buch und viertens als Grammatik im metaphorischen, bildlichen Sinne (DWB). Die zweite dieser Definitionen enthält verschiedene Bedeutungen von „Grammatik“ – zum einen Grammatik als formale Struktur, zum anderen als Summe von Regeln und letztlich als Kenntnis und Anwendung einer Sprache. Die vierte Bedeutung wird u. a. deutlich in Johann Christoph Adelungs Charakterisierung von Grammatik als „die Kunst, eine Sprache richtig zu reden und zu schreiben; die Sprachkunst“ aus dem Dieser Begriff findet sich erstmals bei Robert Kilwardby (um 1250), Boethius de Dacia (um 1270) und Rudolphus Brito (um 1290). Vgl. Roos 1974: 847. Bei den Sieben Freien Künsten werden ferner Trivium und Quadrivium unterschieden. Dazu zählen im Trivium Grammatik, Rhetorik und Logik und im Quadrivium Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie.
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Jahr 1811 (DWB). Der Begriff der Grammatik umfasst der Grimmschen Definition zufolge also Struktur, Regeln und Anwendung von Sprache. Dabei wird mit dem Begriff der Regel der normative Charakter von Grammatik hervorgehoben: der richtige Sprachgebrauch folgt grammatischen Regeln, bezogen sowohl auf einzelne Fälle als auch auf die gesamte Praxis des Sprechens (DWB).⁹ In der Bedeutung von Grammatik als Buch unterscheidet das DWB zwischen Büchern mit normativen und solchen mit historischen Darstellungen von Sprache bzw. Sprachsystemen und verweist auch auf die rein gegenständliche Verwendung von „Grammatik“ als Buch (DWB). Der übertragene, bildliche Gebrauch von Grammatik komme ferner lediglich vereinzelt vor, so etwa bei Karl Ludwig Börne, Johann Gottfried Herder („dies sagt Luther von der Grammatik der Worte, und noch mehr ließe es sich von der Grammatik der Gedanken, der Philosophie, sagen“ (1878: 472)) oder Novalis (DWB). Heutzutage ist uns der Begriff der Grammatik aus der Linguistik und dem Alltagsgebrauch bekannt. Im Gegensatz zum DWB, das, wie wir gesehen haben, vier Bedeutungen von „Grammatik“ unterscheidet – Disziplin, formale Struktur und Regelwerk, Buch, Metapher –, führt der Duden lediglich zwei Bedeutungen an. Das Historische Wörterbuch für Philosophie unterscheidet ebenfalls zwischen zwei Bedeutungen, nämlich zwischen einerseits Grammatik als wissenschaftliche Analyse einer Sprache, welche sich wiederum in Morphologie und Syntax untergliedert und die seit der neueren Sprachwissenschaft, d. h. ab dem beginnenden 19. Jahrhundert, neben Phonologie und Semantik steht, und andererseits Grammatik als Struktur dieser Sprache (Schmidt 1974: 852). Eine solche Auffassung von Grammatik als Lehre bzw. Disziplin und Grammatik als Sprachstruktur könne ferner sowohl für die Umgangssprache als auch für den sprachwissenschaftlichen Kontext gelten (ebd.). Sowohl der Duden als auch das Historische Wörterbuch und das DWB führen die Bedeutung von „Grammatik“ als Sprachlehre an. Das Historische Wörterbuch lässt den Gebrauch von „Grammatik“ als Buch unberücksichtigt – was nicht verwundert, denn den Alltagsgebrauch der Wörter zu erklären, gehört nicht zu seinem Aufgabenbereich – und der Duden erwähnt nicht den Gebrauch von „Grammatik“ als Struktur der Sprache. Das DWB enthält hingegen alle drei Bedeutungen und verweist zusätzlich, wie wir gesehen haben, auf sowohl Gram-
So findet man etwa bei Martin Luther Passagen, in denen er gleichsam von grammatischen Fehlern spricht, etwa wenn er einen Priester zitiert, der, als er über dem Altar mehrere Hostien weihen sollte, sprach „Dies sind meine Leiber“, weil er es als wider der Grammatik auffasste, zu sagen „Dies ist mein Leib“: „Gleich wie einmal ein Meßpfaff gewest ist, derselbe da er uberm altar viel Hostien sollte consecriren, meinete er, es wäre nicht congrue nach der Grammatica geredt, Das ist mein Leib, sondern sprach: Dies sind meine Leibe“ (Luther 2000: 615).
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matik als mittelalterliche Disziplin als auch den bildlichen Gebrauch von „Grammatik“. Wenn wir im Alltag von „Grammatik“ sprechen, denken wir tatsächlich meist an die Grammatik, wie sie uns in der Schule begegnet, nämlich als die – in Büchern dargestellte – Lehre von Satzbau, Flexion, Wortarten etc., dh. als Lehre von Syntax und Morphologie. Wir sagen z. B., dass wir die Grammatik einer fremden Sprache, die wir erlernen, noch nicht vollständig beherrschen, weil wir etwa noch nicht alle Bildungsarten für die Verben im Imperfekt kennen. Oder wir nennen es einen „grammatischen Fehler“ – einen Fehler des Satzbaus, der Syntax –, wenn jemand sagt: „Es sein bald Frühling.“ Um zu überprüfen, ob ein Satz den Regeln der Grammatik als Lehre oder Struktur entspricht, sehen wir in der Grammatik im Sinne eines Buches nach. Die Bedeutungen von „Grammatik“ als Sprachlehre, Sprachstruktur und Buch (über Sprachlehre bzw. Sprachstruktur) sind uns also wohl vertraut. Es ist jedoch wichtig, zu sehen, dass hier eine bestimmte Auffassung von Sprache im Hintergrund steht, nämlich von Sprache als reiner Wortsprache. Zwar ließe es sich auch von der „Grammatik der Gebärden“ sprechen, doch dies wäre ein weiteres Beispiel für den metaphorischen Gebrauch von „Grammatik“, wie ihn das DWB beschreibt. Wittgenstein selbst führt ein entsprechendes Beispiel an: „Und also gibt es auch eine Grammatik der Gesten (nämlich ihre Geometrie).“ (Ms 110: 126; Ts 211: 212)
1.2.3 „Grammar“ im englischen Sprachgebrauch Da Wittgenstein sich nicht nur im deutschen, sondern auch im angelsächsischen Sprachraum bewegte und mit einigen englischsprachigen philosophischen Werken vertraut war, muss der englische Sprachgebrauch von „grammar“ ebenfalls berücksichtigt werden. Als Standardreferenzwerk dient dabei das Oxford English Dictionary (OED), das die folgenden sechs Gebrauchsweisen von „grammar“ unterscheidet: 1. a. That department of the study of a language which deals with its inflexional forms or other means of indicating the relations of words in the sentence, and with the rules for employing these in accordance with established usage; usually including also the department which deals with the phonetic system of the language and its representation in writing. b. general, philosophical or universal grammar […]. historical grammar […]. comparative grammar […]. 2. A treatise or book on grammar.
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3. An individual’s manner of using grammatical forms; speech or writing judged as good or bad according as it conforms to or violates grammatical rules; also speech or writing that is correct according to those rules. 4. The phenomena which form the subject matter of grammar; the system of inflexions and syntactical usages characteristic of a language. 5. a. Used for Latin, or the Latin language. b. Scholarship generally, literature. c. The name of a class in certain Jesuit schools or colleges. d. Short for Grammar School. 6. transf. a. The fundamental principles or rules of an art or science. b. A book presenting these in methodical form. (Now rare, formerly common in the title of books.)¹⁰
Der englische Sprachgebrauch von „grammar“ deckt sich dieser Darstellung zufolge nicht vollständig mit dem deutschen Sprachgebrauch von „Grammatik“, obgleich sich Überschneidungen feststellen lassen. Der erste Eintrag 1.a. des OED ist dem deutschen Gebrauch von „Grammatik“ als Sprachlehre parallel, doch werden im Englischen nicht, wie im Deutschen, Syntax und Morphologie, sondern Morphologie (Flexion) und Phonetik als Teile derselben verstanden. 1.b. verweist darüber hinaus auf spezielle technische Gebrauchsweisen von „grammar“. Die Syntax findet sich im vierten Eintrag des OED, worin „grammar“ – analog dem deutschen Gebrauch von „Grammatik“ als Struktur einer Sprache – als morphologisches und syntaktisches System einer Sprache – charakterisiert wird. Auch die deutsche Verwendung von „Grammatik“ als Buch hat im Englischen gemäß dem zweiten Eintrag des OED eine Parallele. Darüber hinaus wird im dritten Eintrag des OED ein Gebrauch von „grammar“ identifiziert, der sich auf den individuellen Sprachgebrauch von Personen bezieht: Die „Grammatik“ einer Person ist entweder gut oder schlecht, je nachdem, ob die Person sich an die entsprechenden grammatischen Regeln hält oder nicht. Diese Verwendung von „grammar“ hat keine Parallele in den zitierten deutschen Nachschlagewerken, ebenso wie der fünfte Eintrag im OED, demzufolge „grammar“ als entweder Latein, lateinische Sprache, wissenschaftliche Tätigkeit, Unterrichtsfach an Jesuiten-Schulen, oder als Kurzform für Elementarschulen („Grammar Schools“) verstanden wird. 5.a und 5.b sind dabei als veraltet gekennzeichnet. In Bezug auf Wittgensteins Verwendung von „Grammatik“ ist schließlich vor allem der sechste Eintrag des OED interessant, der „grammar“ im übertragenen Sinn als die grundlegenden Prinzipien oder Regeln einer Wissenschaft oder Kunst beschreibt
Diese Angabe bezieht sich auf den Eintrag zu „grammar, n.“ in der aktuellen Online-Ausgabe des OED: http://www.oed.com (Stand: 24. Februar 2016). Die Angabe im OED ist ausführlicher und mit Beispielen versehen.
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(6.a) – ein Gebrauch, der sich u. a. in Buchtiteln niederschlägt (6.b).¹¹ Als Beispiel für solche Buchtitel wird John Henry Newmans Werk An Essay in aid of a Grammar of Assent genannt. Weitere Beispiele umfassen u. a. eine Textpassage aus Thomas Fullers Holy State („Manly sports are the Grammer [sic.] of Military performance“) aus dem Jahr 1642 sowie J. Goldsmiths A Brief Grammar of the Laws and Constitution of England (1809) und Owen Jones’ Grammar of Ornarment (1856). Als aktuellstes Beispiel wird die Ausgabe der Times vom 5. März 1963 zitiert: „The grammar of the film was established“. Die Verwendung von „Grammatik“ als die grundlegenden Prinzipien oder Regeln einer Wissenschaft oder Kunst, oder, wie in Newmans Fall, eines Begriffs, in Buchtiteln ist heutzutage gemäß dem OED zwar selten – „now rare“ –, war zu Lebzeiten Wittgensteins jedoch durchaus gängig und ihm mit Sicherheit geläufig. Gerade in Bezug auf das vom OED zitierte Werk des Kardinals John Henry Newman können wir davon ausgehen, dass Wittgenstein mit ihm vertraut war, denn der Einfluss Newmans auf Wittgensteins Denken scheint größer, als weithin angenommen wird.¹² So spricht gemäß Kienzler einiges dafür, dass Newmans 1870
Ich danke Harald Johannessen für seinen Hinweis auf die mögliche Bedeutung dieser Verwendungsweise von „grammar“ für Wittgensteins Grammatikbegriff, sowie für seinen Hinweis auf Karl Pearson, der „grammar“ in diesem Sinne gebrauchte (siehe unten). Bereits im Jahr 1936 erwähnte Wittgenstein gegenüber Maurice Drury, dass er Newmans Apologia Pro Vita Sua gelesen hätte: „He told me he had been reading Newman’s Apologia and that he admired Newman’s obvious sincerity“. (Drury 1984: 130) Hinweise auf Wittgensteins Interesse an Newman finden sich außerdem in Malcolms Aufzeichnungen seiner Erinnerungen an Wittgenstein (vgl. Malcolm 2001: 59) und bei Cyril Barrett, der durch Yorick Smythies von Wittgensteins Beschäftigung mit Newmans Grammar of Assent erfahren hat (vgl. Barrett 1991: 181). Ferner berichtet Oets Kolk Bouwsma ausführlich von einem Gespräch mit Wittgenstein über Newman (vgl. Bouwsma et al. 1986: 34– 37), und den Notizen Kanti Shahs zufolge erwähnt Wittgenstein John Henry Newman in seiner Vorlesung vom 11. Oktober 1946 in Cambridge (vgl. PGL: 120). Diese Hinweise hat bereits Kienzler zusammengetragen (vgl. Kienzler 2006b: 118 – 121). In Wittgensteins Schriften kommt der Name „Newman“ insgesamt viermal vor, davon dreimal in Ms 117 (203, 209, 223) aus dem Jahr 1940 und einmal in Ms 172 (1) aus dem Jahr 1950. Da Wittgenstein in Ms 117 jedoch nur von „Newman“ spricht und dessen Vornamen oder Initialen unerwähnt lässt, können wir nicht mit Sicherheit sagen, ob es tatsächlich der Kardinal Newman ist, auf den er sich hier bezieht. Kienzler kommt zu dem überzeugenden Ergebnis, dass es sich in Ms 117 um Verweise auf M. H. A. (Max) Newman handelt, einen Kollegen Wittgensteins am Christ College in Cambridge (vgl. Kienzler 2006b: 118). Diese Schlussfolgerung hat auch Hans Biesenbach in seinem Werk zu den Anspielungen und Zitaten in den Schriften Wittgensteins übernommen (vgl. Biesenbach 2014: 376 f). In der Bemerkung in Ms 172: 1 lesen wir hingegen von „H. Newman“, was auf eine Referenz auf John Henry Newman hindeutet, obgleich sie auch hier nicht eindeutig ist. Diese Bemerkung wäre demnach die einzige in Wittgensteins Nachlass, in der er mit einiger Wahrscheinlichkeit explizit auf den Kardinal verweist. Es handelt sich dabei um die erste Bemerkung der uns als Über Gewißheit (ÜG) bekannten Edition von Teilen der letzten Manuskripte
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erschienener Essay in Aid of a Grammar of Assent dasjenige Werk ist, welches Wittgensteins Denken zwischen 1946 und 1951 am meisten angeregt hat (Kienzler 2006b: 117).¹³ Ein weiterer Autor, der eine Monographie mit „grammar“ im Titel veröffentlicht hat und dessen Schriften Wittgenstein gekannt haben könnte, ist Karl Pearson mit seinem im Jahr 1892 erstmals erschienenen Werk The Grammar of Science, an dem er auch nach dessen Publikation weiterarbeitete und das er in zwei weiteren Editionen, 1900 und 1911, ergänzte. Wittgensteins Kenntnis der Schriften Pearsons ist nicht eindeutig zu belegen, jedoch anzunehmen, da es sich erstens bei Pearson um einen zu Lebzeiten Wittgensteins einflussreichen Mathematiker handelt, der u. a. in Cambridge studiert und unterrichtet hat,¹⁴ und da zweitens Ernst Mach, dessen Werk Wittgenstein mit Sicherheit gut kannte,¹⁵ auf Pearsons Monographie im Vorwort zur dritten Auflage seiner Mechanik verweist.¹⁶ Der englische Sprachgebrauch von „grammar“ im Sinne der Prinzipien oder Regeln einer Wissenschaft oder Kunst, der von den gängigen deutschen Wörterbüchern nicht genannt wird, könnte also, möglicherweise inspiriert durch die
Wittgensteins. Auf welche „komische Bemerkung“ in Newmans Schriften sich Wittgenstein hier bezieht, lässt sich allerdings nicht mit Sicherheit sagen (vgl. dazu Kienzler 2006b: 134 und Biesenbach 2014: 375 f). In der Wittgensteinforschung wird Newman oft übersehen, so dass sich die Literatur zu Wittgenstein und Newman auf wenige Essays beschränkt, u. a. Fritz Patrick 1977, Kienzler 2006b, Ariso 2012 und Harris 2015. Wittgensteins Verständnis der Gewissheit in ÜG weist tatsächlich deutliche Ähnlichkeiten zu Newmans Begriff der Zustimmung (assent) auf (vgl. Kienzler 2006b). Newman untersucht die „Grammatik der Zustimmung“ und meint damit die Grundlagen des Verstehens, Schließens, Zustimmens und Sich-Sicher-Seins. Er versucht, empirisch zu zeigen, wie wir zu Zustimmungen gelangen (vgl. Harrold 1947: xviii). Doch trotz dieser empirischen Herangehensweise, die sich stark von Wittgensteins Methode unterscheidet, sieht Kienzler in Newmans Werk auch einen im wittgensteinschen Sinne logischen Ansatz: „In an important sense Newman considered his Grammar of Assent as much as work on logic as did Wittgenstein his remarks On Certainty.“ (Kienzler 2006b: 128, Anm. 37) Vgl. dazu das Vorwort von Pearsons Sohn Egon Sharpe in der posthumen Edition der Grammar of Science (Pearson 1937). Der mögliche Einfluss Pearsons auf Wittgensteins Denken wird in der Forschung weitestgehend vernachlässigt, mit Ausnahme von John W. Cook, der explizit davon ausgeht, Wittgenstein habe Pearson teilweise gelesen und seine Gedanken aufgegriffen (vgl. Cook 1994: 18, 94, 191, 212). Ernst Mach war eine Kultfigur in Wittgensteins Jugendjahren, so dass davon ausgegangen werden kann, dass Wittgenstein mit dessen Werk vertraut war (vgl. McGuinness 1988: 38). Zum Einfluss Machs siehe auch Janik & Toulmin 1973: 113. „Durch die Publikation von K. Pearson (‚Grammar of Science’, London 1892) habe ich einen Forscher kennengelernt, mit dessen erkenntniskritischen Ansichten ich mich in allen wesentlichen Punkten in Übereinstimmung befinde, und welcher außerwissenschaftlichen Tendenzen in der Wissenschaft frei und mutig entgegenzutreten weiß.“ (Mach 1988: XXIII)
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Texte Newmans oder Pearsons, bei der Ausprägung von Wittgensteins Grammatikverständnis durchaus eine Rolle gespielt haben.¹⁷ Auf Wittgensteins Philosophie angewandt lässt sich Grammatik entsprechend als die Regeln oder die Struktur des Denkbaren verstehen (vgl. dazu 3.1 und 4.2).
1.3 Wittgensteins Gebrauch von „Grammatik“ 1.3.1 Moores Kritik Bereits George Edward Moore hat Wittgenstein vorgeworfen, sein Gebrauch von „Grammatik“ unterscheide sich von unserer herkömmlichen Verwendung des Begriffs. Im Februar 1932 verfasste er ein Paper, worin er seine Bedenken zum Ausdruck brachte. Es beginnt mit dem Eingeständnis, er sei im Hinblick auf Wittgensteins Gebrauchsweise von „Grammatik“ bzw. „grammatische Regel“ in ein großes Durcheinander geraten:¹⁸
An dieser Stelle sei auf einen weiteren Denker verwiesen, Fritz Mauthner, der zwar keine Monographie mit „Grammatik“ im Titel verfasste, jedoch den Begriff der Grammatik verwendete und Wittgensteins Philosophie ohne Zweifel beeinflusst hat. Es ist naheliegend, dass Wittgenstein die Schriften Mauthners bereits während seiner Arbeit am TLP gut kannte. Tatsächlich ist die einzige Stelle im Nachlass, an der Mauthner namentlich genannt wird, die oft zitierte Bemerkung TLP 4.0031: „Alle Philosophie ist ‚Sprachkritik‘. (Allerdings nicht im Sinne Mauthners.)“ Obgleich sich Wittgenstein darin bewusst von Mauthner abgrenzt, haben Interpreten auf Parallelen zwischen Mauthner und Wittgensteins Frühphilosophie hingewiesen (vgl. u. a. Leinfeller 1995). Auch in Wittgensteins Philosophie ab 1929 lassen sich Bezüge zu Mauthner herstellen. Leinfeller sieht eine äußerst enge Beziehung zwischen beiden Philosophen, wenn sie in Bezug auf Wittgensteins spätere Schriften feststellt, Philosophie sei „nun wirklich Sprachkritik im mauthnerschen Sinne“ (Leinfeller 1995). Diese Sprachkritik Mauthners ist Erkenntniskritik und richtet sich gegen metaphysische Spekulationen (vgl. Haller 1974). (Für vertiefende Literatur siehe Leinfeller 1969, Leinfeller 1995 und Weiler 1970.) In Wittgensteins späterer Philosophie finden sich des Weiteren Metaphern, die von Mauthner inspiriert sein könnten, so etwa der Vergleich von Philosophie und Therapie (vgl. PU 133, Mauthner 1969: 705) oder das Bild der Stadt sowie des Sich-nicht-Auskennens (vgl. PU 18, 123, Mauthner 1967: 257 f). Darüber hinaus leugnet Mauthner die Singularität der Philosophie (vgl. Mauthner 1967: 257 f), wie auch Wittgenstein in PU 133 das Bestehen von bloß einer philosophischen Methode leugnet. Mauthners Grammatikbegriff ist wesentlich weiter gefasst als die in Abschnitt 1.2 skizzierte Grammatik der Linguistik und der Alltagssprache: Sie ist ein „Weltkatalog“ mit verschiedenen Kategorien, mittels dessen wir die Welt zu erkennen glauben (vgl. Mauthner 1969: 73). Moores Paper und dessen Kritik an Wittgensteins Grammatikbegriff wird umfänglich von David Stern diskutiert. Sein Aufsatz mit dem Titel „Wittgenstein and Moore on Grammar“ ist derzeit in Vorbereitung. Ich danke David Stern für unsere kurze Korrespondenz zu Moores Kritik
1.3 Wittgensteins Gebrauch von „Grammatik“
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I am in a very great muddle about the way in which Dr. Wittgenstein uses the expressions ‘rule of grammar’ or ‘grammatical rule’. And all I have tried to do is to ask some questions, which puzzle me, about it. I am in such a muddle that I haven’t been able even to arrange my questions well, & it’s very likely that some of them will be questions of no importance & some of them questions to which I ought to be able to find the answer to myself. But whether I ought or not it is a fact that I’m not sure what the answer to any of them is; & I hope there may be at least some of them which are worth discussing. (Moores Short Paper on Wittgenstein on Grammar, MWN 367)¹⁹
Dieses Paper von Moore war Gegenstand einer von Wittgensteins Vorlesungen in Cambridge im Jahr 1932. Von dieser Vorlesung ist eine Mitschrift von John King erhalten geblieben, die Wittgensteins Reaktion auf Moores Einwände beschreibt. In dieser Mitschrift werden zunächst Moores Bedenken auf den Punkt gebracht: Moore read a brief paper to introduce a discussion on Rules of Grammar. He gave two examples: (1) Where there is no doubt. ‘Three men was working’. Here it is clear what the rule is and how it has been broken. (2) ‘Different colours cannot be in the same place in a visual field at the same time.’ This differs from example (1). Are the two examples rules of grammar in the same sense? (LWL 97)
Moore nennt hier ein Beispiel für eine Regel, die wir zweifellos eine grammatische nennen würden, nämlich dass in der englischen Sprache das Prädikat eines Satzes im Numerus mit dem Subjekt des Satzes übereinstimmen muss. Anstatt diese Regel explizit anzugeben, gibt er uns ein Beispiel für einen Regelverstoß: „Three men was working“ anstelle von „Three men were working“. Dieser Regel stellt er eine weitere gegenüber: „In einem Gesichtsfeld können sich nicht verschiedene Farben zur selben Zeit am selben Ort befinden“. Diese zweite Regel ist
an Wittgensteins Grammatikbegriff und seine Bereitstellung des Aufsatzmanuskripts sowohl im Mai 2015 als auch während der Summer School in Kirchberg am Wechsel 2017. Moores Paper wurde kürzlich im Anhang der Edition von David Stern, Brian Rogers, und Gabriel Citron: „Wittgenstein: Lectures, Cambridge 1930 – 33 from the notes of G.E. Moore“ erstmals veröffentlicht. Vgl. MWN 367– 378. Vgl. dazu Stern: „Moore read his paper in Wittgenstein’s discussion class on February 26, 1932. He had originally prepared it for the previous meeting, on the 19th, but it had been cancelled because Wittgenstein was unwell.We have only one draft of the first two pages, but two different versions of the conclusion. It is very likely that Moore used the extra week before his presentation to revise the first two pages, and write a new conclusion. Moore made relatively minor changes to his first two pages, except for deleting a passage towards the end of the second page.“ („Wittgenstein and Moore on Grammar“, S. 8, in Vorbereitung.)
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für Wittgenstein eine grammatische. Moores Frage ist nun, ob beide Regeln im selben Sinne grammatische seien. Kings Mitschriften zufolge antwortet Wittgenstein, richtig wäre es zu sagen, dass eine Äußerung Sinn oder keinen Sinn habe. Die Rede von einer grammatischen Regel sei hingegen eine schlechte Ausdrucksweise: „The right expression is ‘It does not have sense to say – - -’; but we usually express it badly speaking of a rule of grammar.“ (LWL 97) Insofern habe es, so fährt er fort, keinen Sinn zu sagen, dass ein Tisch so identisch wie ein anderer sei. (Ebd.: 97 f) Interessant ist hier, dass Wittgenstein seine eigene Ausdrucksweise zu kritisieren scheint. Anstatt von grammatischen Regeln zu sprechen, sollen wir überlegen, ob eine Aussage Sinn habe oder nicht. Dies bringt die enge Verknüpfung von Sinn und Grammatik in seinem Denken, zumindest in den frühen 30er Jahren, zum Ausdruck. Nichtsdestoweniger finden sich in seinen Schriften unzählige Bemerkungen, in denen er selbst nicht von Sinn und Unsinn, sondern vielmehr von grammatischen Regeln spricht. Moores Bedenken scheinen daher durchaus berechtigt. Noch wichtiger ist allerdings die Tatsache, dass Wittgenstein selbst gemäß Kings Notizen nicht der Auffassung ist, er verwende den Begriff der Grammatik entgegen dem gewöhnlichen Sprachgebrauch. In Bezug auf Moores zwei Beispiele von Regeln erwidert er, alle grammatischen Regeln seien gleicher Art: Grammatical rules are all of the same kind, but it is not the same mistake if a man breaks one as if he breaks another. If he uses ‘was’ instead of ‘were’ it causes no confusion; but in the other example the analogy with physical space (c.f. two people in the same chair) does cause confusion. (LWL 98)
Der Unterschied zwischen den beiden Beispielregeln von Moore bestehe also nicht darin, dass sie beide in verschiedener Hinsicht grammatisch seien – sie seien vielmehr grammatisch in gleicher Hinsicht –, sondern darin, dass ein Regelverstoß in beiden Fällen unterschiedliche Konsequenzen mit sich ziehe: Im ersten Fall entstehe keine Verwirrung, im zweiten Fall indessen durchaus. Diesen Unterschied greift Wittgenstein auch später im Big Typescript wieder auf: Unsere grammatische Untersuchung unterscheidet sich ja von der eines Philologen etc.; uns interessiert z. B. die Übersetzung von einer Sprache in andre, von uns erfundene Sprachen. Überhaupt interessieren uns Regeln, die der Philologe gar nicht betrachtet. Diesen Unterschied können wir also wohl hervorheben. (Ts 213: 413)²⁰
Vgl. auch Ms 110: 194 f; Ts 211: 244; Ts 212: 1129.
1.3 Wittgensteins Gebrauch von „Grammatik“
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Wittgensteins Interesse gilt also denjenigen grammatischen Regeln, deren Missbrauch zu Verwirrungen führen kann, wie etwa Moores zweites Beispiel, und das sind nicht die Regeln der Sprachwissenschaftler, wie etwa in Moores erstem Beispiel. Während er in der Vorlesung von 1932 noch den Standpunkt vertreten hat, die beiden grammatischen Regeln seien im selben Sinne grammatisch, formuliert er im Big Typescript weiter: Anderseits wäre es irreführend zu sagen, dass wir das Wesentliche der Grammatik behandeln (er [der Philologe], das Zufällige). […] Eher könnten wir sagen, dass wir doch etwas anderes Grammatik nennen, als er. Wie wir eben Wortarten unterscheiden, wo für ihn kein Unterschied (vorhanden) ist. (Ts 213: 413)²¹
Wittgenstein scheint demnach im Big Typescript eher geneigt zu sagen, dass sein Gebrauch von „Grammatik“ ein anderer ist als der des Philologen, was wiederum nach sich zöge, dass wir es im Falle von Moores Beispielen mit verschiedenen Arten grammatischer Regeln zu tun hätten. Jedoch behauptet er nicht, er habe einen anderen Grammatikbegriff als der Philologe, sondern bleibt in seiner Formulierung recht vorsichtig: Anstatt zu sagen, der Philologe beschäftige sich mit unwichtigen grammatischen Regeln, währende er selbst das Wesentliche der Grammatik untersuche, könnte man eher sagen, er gebrauche „Grammatik“ auf andere Weise als der Philologe. Dass man dies eher sagen könnte bedeutet aber noch nicht, dass Wittgenstein es auch tatsächlich sagen will. Dennoch legt diese Bemerkung im Big Typescript die Vermutung nahe, Moores Einwand habe Wittgenstein noch weiterhin beschäftigt.²² Dieser Eindruck wird durch eine Bemerkung in Ts 212 gestärkt, worin Wittgenstein von der „Grammatik, wie ich das Wort gebrauche“, spricht (Ts 212: 1108). Die entsprechende Bemerkung lässt sich bis zum Januar 1931 in Ms 109 zurückverfolgen, worin es heißt: „Ist die Grammatik nur die Beschreibung der tatsächlichen Handhabung der Sprache?“ (Ms 109: 281) Wittgenstein hat diese Bemerkung bereits ins Ts 211 übernommen (Ts 211: 141), doch erst in Ts 212 fügt er handschriftlich hinzu: „wie ich das Wort gebrauche“. Diese Formulierung übernimmt er ins Big Typescript, wobei hier der Zusatz „wie
Vgl. auch Ms 110: 194 f; Ts 211: 244; Ts 212: 1129. Stern ist der Ansicht, dass Wittgenstein in Abschnitt 56 des Big Typescript eine umfassendere Antwort auf Moores Kritik formuliert. Dieser Abschnitt handelt von der Willkürlichkeit der Grammatik. Wie Stern feststellt, findet er sich fast wörtlich bereits in Ms 113 auf den Seiten 57– 71, die auf den 25., 26. und 27. Februar 1932 datiert sind – also die Tage rund um das Entstehungsdatum von Moores Paper (26. Februar 1932). („Wittgenstein and Moore on Grammar“, S. 12, in Vorbereitung.)
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1 Philosophisch-philologische Betrachtungen von Wittgensteins Grammatikbegriff
ich das Wort gebrauche“ gestrichelt unterstrichen ist. Wittgenstein scheint demnach unsicher, ob er einen eigenen Sprachgebrauch von „Grammatik“ suggerieren möchte oder nicht. Nichtsdestoweniger deutet diese Textstelle darauf hin, dass er Moores Einwand ernst nimmt und seinen Gebrauch von „Grammatik“ reflektiert. Auch in seiner Vorlesung in Cambridge am ersten Mai 1933 geht Wittgenstein näher auf das Verhältnis zwischen seiner Untersuchung der Grammatik und der eines Linguisten ein: What’s the relation between that study of grammar which a linguist makes, & that which we are making? (1) Linguist is concerned with history, we aren’t. (2) We are interested in ‘There is an individual such that’ (Russell) which isn’t good English. (3) Our object is to get rid of certain puzzles, in which the grammarian isn’t interested at all: e. g. ‘Time flows’. Is what we say about ‘Time flows’ grammar at all? (MWN 317 f)
Gerade der dritte Unterschied, den Wittgenstein hier anführt, scheint ihn besonders zu beschäftigen, wenn er sich fragt, ob seine (grammatische) Untersuchung des Ausdrucks „Zeit fließt“ überhaupt „Grammatik“ genannt werden könne oder nicht. Dies ist derselbe der Unterschied, den Wittgenstein im Big Typescript hervorhebt. In der gerade zitierten Vorlesung fährt er fort: „We are interested in puzzles which grammarian isn’t, & for which he is partly responsible.“ (MWN 318) Dieser Aussage zufolge gibt es nicht nur einen Unterschied zwischen der herkömmlichen und der philosophischen Grammatik, sondern der Grammatiker ist sogar teilweise für die philosophischen Verwirrungen verantwortlich – vermutlich aufgrund einer irreführenden und undifferenzierten Einteilung der Wörter in sprachliche Kategorien.²³ Wittgenstein nimmt folglich eine kritische Haltung gegenüber der herkömmlichen Grammatik ein. Moore selbst zeigt sich schließlich wenig zufrieden mit dem Ergebnis der Diskussion seiner Einwände. In seiner späteren Darstellung der Vorlesung erfahren wir, dass ihn die Diskussionen mit Wittgenstein nicht von seinen Bedenken befreien konnten und er weiterhin der Auffassung ist, Wittgenstein verwende den Ausdruck „grammatische Regel“ entgegen dem gewöhnlichen Sprachgebrauch:
Diese Lesart hat Hans Sluga während der Summer School 2017 in Kirchberg am Wechsel vorgeschlagen.
1.3 Wittgensteins Gebrauch von „Grammatik“
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[T]hese two expressions [‘without sense’ (‘nonsense’, ‘meaningless’, ‘useless’) and ‘rules of grammar’] were used by him constantly throughout these lectures. And my last puzzle is due to the facts that I think there is reason to suspect that he was not using either expression in any ordinary sense, and that I have not been able to form any clear idea as to how he was using them. (MWL 65) In the interval between (II) and (III) I wrote a short paper for him in which I said that I did not understand how he was using the expression ‘rule of grammar’ and gave reasons for thinking that he was not using it in its ordinary sense; but he, though he expressed approval of my paper, insisted at that time that he was using the expression in its ordinary sense. Later, however, in (III), he said that ‘any explanation of the use of language’ was ‘grammar’, but that if I explained the meaning of ‘flows’ by pointing at a river ‘we shouldn’t naturally call this a rule of grammar’. This seems to suggest that by that time he was doubtful whether he was using ‘rule of grammar’ in quite its ordinary sense; and the same seems to be suggested by his saying, earlier in (III), that we should be using his ‘jargon’ if we said that whether a sentence made sense or not depended on ‘whether or not it was constructed according to the rules of grammar’. I still think that he was not using the expression ‘rules of grammar’ in any ordinary sense; and I am still unable to form any clear idea as to how he was using it. (MWL 69)
Wittgensteins Verwendung von „Grammatik“, bzw. „grammatische Regel“, stellt also auch Moore vor ein Rätsel; auch er scheint den Begriff der grammatischen Regel als Schlüsselbegriff in Wittgensteins Philosophie verstanden zu haben, der einer Klärung bedarf.
1.3.2 Entgegen dem gewöhnlichen Sprachgebrauch Auch wenn Wittgenstein, wie wir gerade gesehen haben, offensichtlich darum bemüht war, den gewöhnlichen Sprachgebrauch von „Grammatik“ beizubehalten, bleibt sein Grammatikbegriff unklar. In der überwiegenden Zahl der Fälle weicht er von dem uns vertrauten ab.²⁴ Da wir gleichzeitig keine klare Definition oder Erläuterung des Grammatikbegriffs in Wittgensteins Nachlass finden, wird er für uns schwer greifbar. Dies führt zurück zu der Hauptfrage dieser Untersuchung: Was versteht Wittgenstein unter Grammatik? – und wie in der Einleitung bereits erläutert soll das Stellen dieser Frage keineswegs nahelegen, dass er zu allen Zeiten seines philosophischen Schaffens dasselbe darunter verstanden haben muss.
Auch Michael Forster (2004: 7) und Peter Hacker (Baker & Hacker 2009: 60) kommen zu dem Schluss, dass Wittgenstein „Grammatik“ nicht im herkömmlichen Sinne verwendet. David Stern teilt ebenfalls diese Auffassung, wie er mir in einer Email vom 14. Mai 2015 mitteilte.
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1 Philosophisch-philologische Betrachtungen von Wittgensteins Grammatikbegriff
Mit dem Fehlen einer klaren Definition von „Grammatik“ werde ich mich später beschäftigen (vgl. 1.4). Zunächst soll hier beleuchtet werden, wie sich Wittgensteins spezieller Gebrauch von „Grammatik“ zu seinem Grundanliegen, philosophische Probleme durch das Aufzeigen von Irreführungen durch die Sprache aufzulösen, verhält. Dass Wittgenstein nicht im herkömmlichen Sinne von Grammatik spricht ist vor allem deshalb auffällig, weil er sprachliche Missverständnisse im philosophischen Diskurs diagnostiziert, die er auf die Verwendung von Wörtern entgegen ihrem gewöhnlichen Sprachgebrauch zurückführt.²⁵ In den PU macht er es sich zum Ziel, den tatsächlichen Gebrauch der Wörter herauszustellen: Wenn die Philosophen ein Wort gebrauchen – ‚Wissen‘, ‚Sein‘, ‚Gegenstand‘, ‚Ich‘, ‚Satz‘, ‚Name‘ – und das Wesen des Dings zu erfassen trachten, muß man sich immer fragen: Wird denn dieses Wort in der Sprache, in der es seine Heimat hat, je tatsächlich so gebraucht? – Wir führen die Wörter von ihrer metaphysischen, wieder auf ihre alltägliche Verwendung zurück.²⁶ (PU 116)
Wiederholt betont er die Wichtigkeit der Verwendung von Wörtern im Einklang mit ihrem gewöhnlichen Gebrauch bzw. die Absurdität eines entgegengesetzten Vorgehens. So heißt es etwa in PU 246: „Wenn wir das Wort ‚wissen‘ gebrauchen, wie es normalerweise gebraucht wird (und wie sollen wir es denn gebrauchen!) […]“.²⁷ Anstatt für die Philosophie eine logisch eindeutige Sprache anzustreben, wie es etwa Frege und Russell getan haben, hält er uns dazu an, in der Philosophie den gewöhnlichen Gebrauch der Wörter lediglich zu beschreiben: „Die Philosophie darf den tatsächlichen Gebrauch der Sprache in keiner Weise antasten, sie kann ihn am Ende also nur beschreiben. Denn sie kann ihn auch nicht begründen. Sie lässt alles, wie es ist.“ (PU 124)²⁸ Philosophie in diesem Sinne ist Sprachkritik durch Beschreibung des gewöhnlichen Sprachgebrauchs und durch Identifizie-
Darauf verweist auch Engelmann (2011). Die Bemerkung ist, in abgewandelter Form, bereits in früheren Aufzeichnungen Wittgensteins vorhanden, erstmals im Jahr 1930: „Wenn die Philosophen ein Wort gebrauchen und nach seiner Bedeutung forschen muss man sich immer fragen, wird denn dieses Wort in der Sprache (die es geschaffen hat/für die es geschaffen ist) je tatsächlich so gebraucht? Man wird dann meistens finden, dass es nicht so ist und das Wort (gegen seine normale/entgegen seiner normalen) Grammatik gebraucht wird. (‚Wissen‘, ‚sein‘, ‚Ding‘)“ (Ms 109: 246). Vgl. darüber hinaus: Ms 142: 116 f; Ts 211: 405; Ts 212: 1192; Ts 213+H: 430; Ts 220: 89; Ts 238: 7; Ts 239: 80. Vgl. auch Ms 124: 244; Ms 129: 39; Ms 180a: 9v; Ts 241a: 7. Vgl. ebenso Ms 110: 188 f; Ms 142: 107 f; Ts 211: 242; Ts 212: 1147; Ts 213: 417 f; Ts 220: 81; Ts 238: 9; Ts 239: 82.
1.3 Wittgensteins Gebrauch von „Grammatik“
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rung der Verwendung von Wörtern entgegen ihrem gewöhnlichen Gebrauch als Quelle philosophischer Probleme. Diese Einsicht Wittgensteins legt die Vermutung nahe, dass er auch in seinen eigenen Texten bestrebt ist, unseren alltäglichen Sprachgebrauch beizubehalten. In der Tat orientiert sich sein Schreibstil sehr an der Umgangssprache. Man könnte sogar versucht sein, ihm gar einen performativen Selbstwiderspruch vorzuwerfen, wo sich seine Verwendungsweise von Wörtern vom herkömmlichen Gebrauch unterscheidet – wie im Falle des Wortes „Grammatik“.²⁹ Doch wir müssen berücksichtigen, dass Wittgenstein keineswegs normativ vorgeht und etwa verlangt, dass philosophische Texte im Einklang mit dem gewöhnlichen Sprachgebrauch verfasst sein müssen, um Missverständnisse zu vermeiden. Er betont hingegen die deskriptive Rolle der Philosophie. Insofern begeht er keinen performativen Selbstwiderspruch, wenn sein Grammatikbegriff vom herkömmlichen deutschen Gebrauch des Wortes abweicht.³⁰ Als Reaktion auf die Frage, ob Wittgenstein „Grammatik“ im gewöhnlichen Sinne verwendet, lässt sich schließlich auch ein Satz aus der Bemerkung 79 der PU anführen: „Sage, was Du willst solange dich das nicht verhindert, zu sehen, wie es sich verhält.“³¹ Dies ließe sich so verstehen, dass Wittgenstein bereit ist, jede beliebige Redeweise, also auch die von der Grammatik, anzunehmen, insofern sie sich als erhellend erweist und nicht unsere Sicht vernebelt.³² Ausschließen lässt sich diese Interpretation nicht, jedoch ist zu berücksichtigen, dass
Zu diesem Vorwurf neigt Mauro Engelmann in Bezug auf Newton Garvers Verständnis von Wittgensteins Grammatikbegriff (vgl. Engelmann 2011: 80 ff). Darüber hinaus könnte Wittgensteins Gebrauch von „Grammatik“ vom englischen Gebrauch von „grammar“ beeinflusst sein, wie bereits dargelegt wurde (vgl. 1.2). Wäre der Bezug auf diese spezielle Verwendungsweise des Begriffs jedoch offensichtlich, hätte Moore – als Muttersprachler der englischen Sprache – seine Kritik vermutlich in anderer Weise vorgebracht und unter Umständen sogar auf diesen spezifischen Gebrauch verwiesen. Vgl. Ms 142: 68; Ts 220: 59. Eine ähnliche Haltung kommt in PU 693 zum Ausdruck: „‚Wenn ich Einen die Bildung der Reihe … . lehre, meine ich doch, er solle an der hundertsten Stelle … . schreiben.‘ – Ganz richtig: du meinst es. Und offenbar, ohne notwendigerweise auch nur daran zu denken. Das zeigt dir, wie verschieden die Grammatik des Zeitworts ‚meinen‘ von der des Zeitworts ‚denken‘ ist. Und nichts Verkehrteres, als Meinen eine geistige Tätigkeit zu nennen! Wenn man nämlich nicht darauf ausgeht,Verwirrung zu erzeugen. (Man könnte auch von einer Tätigkeit der Butter reden, wenn sie im Preis steigt; und wenn dadurch keine Probleme erzeugt werden, so ist es harmlos.)“ Vgl. Ms 129: 178; Ts 228: 98; Ts 230: 116.Wenn die Redeweise von einer Tätigkeit der Butter keine Verwirrung erzeugt, so ist sie genau darum harmlos. Anders verhält sich damit, „Meinen“ eine geistige Tätigkeit zu nennen, denn dies führt unmittelbar zu philosophischen Verwirrungen. Man gerät etwa durch diese Redeweise in Versuchung, den vermeintlichen Vorgang des Meines zu untersuchen, etc.
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1 Philosophisch-philologische Betrachtungen von Wittgensteins Grammatikbegriff
dieser Ausspruch in einen ganz spezifischen Kontext eingebettet ist. In Bemerkung 79 der PU wird die Bedeutung von Namen diskutiert und festgestellt, dass wir einen Namen zum Teil ohne „feste Bedeutung“ verwenden: „Aber das tut seinem Gebrauch so wenig Eintrag wie dem eines Tisches, daß er auf vier Beinen ruht, statt auf dreien, und daher unter Umständen wackelt.“ (PU 79) Der Gesprächspartner antwortet darauf mit der Frage: „Soll man sagen, ich gebrauche ein Wort, dessen Bedeutung ich nicht kenne, rede also Unsinn?“ (Ebd.). Wittgensteins Antwort darauf ist nun, man könne sagen, was man wolle, solange einen dies nicht daran hindere, die Sachlage zu sehen. In Klammern fügt er jedoch gleich hinzu: „Und wenn du das siehst, wirst du manches nicht sagen.“ (Ebd.). Der letzte Satz suggeriert, dass Wittgenstein selbst nicht geneigt ist, sich so auszudrücken, wie der Gesprächspartner es vorschlägt, indes es ihm auch nicht verwehren will, diese Worte zu wählen – unter der Bedingung der Klarheit. Das Trachten nach Klarheit findet sich auch in Wittgensteins Streben nach der übersichtlichen Darstellung sowie in der oft zitierten Bemerkung PU 133: „Denn die Klarheit, die wir anstreben, ist allerdings eine vollkommene. Aber das heißt nur, daß die philosophischen Probleme vollständig verschwinden sollen.“³³ Wittgensteins Ziel der Klarheit im Blick, ließe sich der Satz aus der Bemerkung PU 79 aus seinem unmittelbaren Kontext ziehen und im Hinblick auf den Grammatikbegriff so formulieren: „Ich gebrauche ‚Grammatik‘, wie ich will, solange mich das nicht verhindert, zu sehen, wie es sich verhält.“ Doch selbst, wenn dies so sein sollte, bleibt unsere Schwierigkeit bestehen, zu verstehen, wie es sich mit Wittgensteins Grammatikbegriff verhält.
1.4 Wittgensteins Charakterisierungen von Grammatik Wittgensteins Gebrauch des Begriffs der Grammatik würde weniger Schwierigkeiten bereiten, wenn er ihn definieren oder genauer erläutern würde. Doch in seinen Schriften fehlt eine aufschlussreiche Erklärung oder gar Definition des Begriffs, obgleich er ihn zum Teil bildhaft beschreibt oder auch synonym mit anderen Begriffen verwendet. Solche Textstellen liefern uns zumindest einige Hinweise auf sein Grammatikverständnis, wenn diese sich auch nicht immer gegenseitig ergänzen, sondern zum Teil sogar in Widerspruch zueinander stehen. Im Folgenden werde ich einige einschlägige Textstellen im Nachlass, in denen Wittgenstein um eine Charakterisierung von Grammatik bemüht scheint, genauer betrachten.
Vgl. Ms 142: 119; Ts 220: 92; 238: 16; Ts 239: 87.
1.4 Wittgensteins Charakterisierungen von Grammatik
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1.4.1 Beschreibung der Sprache In den Vorlesungsnotizen von Desmond Lee aus dem Lent Term 1931 heißt es: Grammar (rules and vocabulary) is the description of language, and it consists in giving the rules for the combination of symbols, i. e. which combinations make sense and which don’t, which are allowed and which are not allowed. (LWL 46 f)³⁴
Die Grammatik setzt Wittgenstein hier gleich mit „Regeln und Vokabular“, und wir können vermuten, dass er die Regeln und das Vokabular einer einzelnen Sprache im Sinn hatte. Grammatik, im Sinne von Regeln und Vokabular, versteht er weiter als Beschreibung einer Sprache, und eine solche Beschreibung bestünde wiederum in der Angabe der Regeln für die sinnvolle Kombination von Symbolen. Wir können allein dieser Textstelle demnach drei Charakterisierungen von Grammatik entnehmen: (a) Grammatik = Regeln und Vokabular, (b) Grammatik = Beschreibung der Sprache, (c) Grammatik besteht in der Angabe von Regeln für die sinnvolle Kombination von Symbolen einer Sprache. Dieses frühe Grammatikverständnis Wittgensteins zeigt deutlich seine Verwendung des Begriffs entgegen dem natürlichen Sprachgebrauch, denn, wie wir gesehen haben, war es zu keiner Zeit üblich, unter der Grammatik einer Sprache ihre Regeln und ihr Vokabular zu verstehen (vgl. 1.2). Selbst in dem übertragenen Gebrauch des Wortes, wie er sich bei Newman und Pearson niederschlägt, wird Grammatik lediglich als Prinzip oder Regelwerk aufgefasst, beinhaltet jedoch kein Vokabular bzw. etwas ihm Analoges. Ebenso wird deutlich, dass Wittgenstein in der gerade zitierten Textstelle den deskriptiven Anspruch der Grammatik hervorhebt, wenn er sie eine Beschreibung von Sprache nennt. Andererseits scheint er der Grammatik mit ihrer Aufgabe, Regeln für den sinnvollen Sprachgebrauch anzugeben, durchaus auch normativen Charakter zuzuschreiben. Nicht nur in jener Vorlesung, sondern auch an mehreren Stellen im Nachlass greift Wittgenstein den deskriptiven Charakter der Grammatik auf, überwiegend in den frühren 30er Jahren ab 1931: Die Grammatik ist eine nachträgliche Beschreibung der Sprache. Die Grammatik sagt z. B.: so wird das Wort Quadrat gebraucht. (Ms 110: 110 (1931)) Die Grammatik beschreibt, wie die Zeichen verwendet werden. Aber nicht, wie sie einer Reihe von Beobachtungen zufolge verwendet werden, sondern die Verwendung in jedem einzelnen
Lecture B IX, Lent Term 1931.
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1 Philosophisch-philologische Betrachtungen von Wittgensteins Grammatikbegriff
Fall. (Ms 110: 135 (1931)) Die Grammatik beschreibt ja die Bedeutung der Zeichen. (Ms 110: 176 (1931)) Und die Grammatik des Wortes ‚rot’ ist dann wichtig, weil sie die Bedeutung des Wortes ‚rot’ beschreibt. (Ms 110: 177 (1931); Ts 211: 239 (1931/32); Ts 212: 1132 (1932); Ts 213: 413 (1933)) Die Grammatik ist die Beschreibung der Sprache. (Ts 213H: 192 (1933 – 1937)³⁵ Die Grammatik beschreibt den Gebrauch der Wörter in der Sprache. (Ms 140: 15r (1934))
Als handschriftliche Notiz auf einer Rückseite im Big Typescript identifiziert er darüber hinaus die grammatischen Regeln als die Beschreibung der Sprache, wie sie tatsächlich ist, im Gegensatz zu einem möglichen normativen Verständnis von Grammatik, demzufolge sie entweder von Natur aus oder aufgrund von Erfahrungstatsachen in bestimmter Weise beschaffen sein müsse, um ihren Zweck zu erfüllen: Die grammatischen Regeln sind nicht diejenigen (natürlichen erfahrungsmäßigen) Regeln nach denen die Sprache gebaut sein muß um ihren Zweck zu erfüllen/um diese Wirkung zu haben. Vielmehr sind sie die Beschreibung davon wie die Sprache es macht, – was immer sie macht. D. h. die Grammatik beschreibt nicht die Wirkungsweise der Sprache sondern nur das Spiel der Sprache, die Sprachhandlungen. (Ts 213H: 191 (1933 – 1937))
Diese Bemerkung findet in veränderter Form schließlich sogar Eingang in die PU: „Grammatik sagt nicht, wie die Sprache gebaut sein muß, um ihren Zweck zu erfüllen, um so und so auf Menschen zu wirken. Sie beschreibt nur, aber erklärt in keiner Weise, den Gebrauch der Zeichen.“ (PU 496)³⁶ In dieser Formulierung, die sich seit 1937 im Nachlass findet, wird die deskriptive im Gegensatz zur normativen Funktion der Grammatik besonders deutlich: die Grammatik beschreibt den Sprachgebrauch, erklärt ihn jedoch nicht. In früheren Notizen hebt Wittgenstein jedoch durchaus den explanativen Charakter der Grammatik hervor wenn er schreibt:
Diese klare Formulierung findet sich nur an dieser einzigen Stelle im Nachlass, und auch dort nur als durchgestrichene handschriftliche Notiz auf einer Rückseite von Ts 213. Vgl. Ms 116: 133 (1937/1938); Ts 228: 29 (1945).
1.4 Wittgensteins Charakterisierungen von Grammatik
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Die Grammatik erklärt die Bedeutung der Wörter soweit sie zu erklären ist. Und zu erklären ist sie soweit, als nach ihr zu fragen ist, und nach ihr fragen kann man soweit sie zu erklären ist. (Ms 109: 139 (1930); Ts 211: 372 (1931/32); Ts 212: 132 (1932); Ts 213X: 37 (1933)) Man kann nun sagen: die Grammatik erklärt die Bedeutung der Zeichen und dadurch macht sie die Sprache bildhaft. (Ms 114: 177 (1933)³⁷; Ts 213H: 197v (1933 – 37))³⁸ Meine Erklärung, dass die Bedeutung eines Wortes ganz in der Grammatik erklärt ist […]. (Ts 219: 2 (1932/33))
In den später datierten Nachlassdokumenten finden sich keine Bemerkungen mehr, in denen Wittgenstein der Grammatik eine erklärende Rolle zuweist. Hingegen zieht sich seine Charakterisierung der Grammatik als Sprachbeschreibung bis in die PU.³⁹
1.4.2 Geschäftsbuch der Sprache Noch häufiger als die Charakterisierung der Grammatik als Beschreibung von Sprache verwendet Wittgenstein das Bild der Grammatik als „Geschäftsbuch“ oder „Geschäftsbücher“ der Sprache. Dieser Gedanke taucht erstmals im September des Jahres 1930 auf: „Die Grammatik ist das Geschäftsbuch/die Geschäftsbücher der Sprache; woraus/aus denen alles zu ersehen sein muss, was nicht Gefühle betriff, sondern Fakten/harte Tatsachen (betrifft)“ (Ms 109: 129). In abgewandelter und erweiterter Form zieht sich diese Bemerkung durch weitere Manuskripte und Typoskripte bis in jenen Teil von Ms 116, an dem Wittgenstein zwischen September 1937 und Juni 1938 gearbeitet hat.⁴⁰ Geschäftsbücher dienen der Nachvollziehbarkeit und Kontrolle der Umsätze von Kaufleuten, welche dazu verpflichtet sind, in solchen Büchern über ihre Geschäfte und den Stand ihres Vermögens Buch zu führen. Das Bild von der
In Ms 114 folgt auf diesen Satz, jedoch durchgestrichen: „Die Grammatik bestimmt die Bedeutung der Wörter & bestimmt ihnen damit den Platz, den sie beim Portraitieren eines Sachverhalts einnehmen dürfen.“ Handschriftliche Notiz auf einer Rückseite in Ts 213. Durchgestrichen, jedoch mit Haken an der Seite. Auf derselben Seite findet sich auch – ebenfalls durchgestrichen – die Formulierung: „Grammatik bestimmt die Bedeutung der Wörter“. Vgl. hierzu 3.3. Vgl: Ms 114: 58; Ms 116: 47; Ms 116: 260; Ts 211: 367; Ts 212: 197; Ts 213+H: 58.
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1 Philosophisch-philologische Betrachtungen von Wittgensteins Grammatikbegriff
Grammatik als dem Geschäftsbuch oder den Geschäftsbüchern⁴¹ der Sprache evoziert entsprechend das Bild einer sowohl exakten als auch vollständigen Darlegung der Sprache bzw. des Sprachgebrauchs, die keine Unklarheiten offen lässt. In der Tat spricht Wittgenstein im selben Manuskript auch von Grammatik als dem vollständigen Geschäftsbuch der Sprache: Denn, dass jener Satz ohne eine solche Ergänzung nichts sagt, muss die Grammatik sagen. Wenn sie das vollständige Geschäftsbuch der Sprache sein soll (wie ich es nenne). (Ms 109: 138) Ich will immer zeigen, dass alles was in/an der Logik business ist, in der Grammatik gesagt werden muss. Wie etwa der Fortgang eines Geschäftes aus den Geschäftsbüchern muss vollständig herausgelesen werden können. So dass man auf die Geschäftsbücher deutend muss sagen können: Hier! hier muss sich alles zeigen; und was sich hier nicht zeigt, gilt nicht. Denn am Ende muss hier alles herauskommen/sich hier alles auswirken (abspielen)/sich hier alles Wesentliche ereignen (abspielen). Alles wirklich Geschäftliche – heißt das – muss sich in der Grammatik abspielen. (Ms 109: 122 f)
Diese beiden Bemerkungen finden ebenfalls Eingang ins Big Typescript, wo sie als Einheit erscheinen.⁴² Auch in Ms 112 vom Oktober 1931 greift Wittgenstein das Bild des Geschäftsbuches auf, wenn er notiert: Immer wieder möchte ich sagen: Ich kontrolliere die Geschäftsbücher der Mathematiker, die seelischen Vorgänge in den Inhabern, so wichtig sie sind, kümmern mich nicht/interessieren mich nicht/… die seelischen Vorgänge, Freuden, Depressionen – und Instinkte der Inhaber, so wichtig sie in andrer Beziehung sind, kümmern mich nicht. (Ms 112: 19r)⁴³
Schließlich spricht er auch im November 1937 von den Geschäftsbüchern, wenn auch von denen eines Begriffs und nicht der Sprache als solcher: „In die Geschäftsbücher dieses Begriffes⁴⁴ müssen wir sehen. Hier muß zu ersehen sein, was der Begriff jeder seiner Anwendungen, jeder seiner Assoziationen verdankt etc.“ (Ms 119: 85v) Alles wirklich „Geschäftliche“ soll sich für Wittgenstein also in der Grammatik abspielen. Die Grammatik, so scheint er hier sagen zu wollen, gibt als
Wittgensteins Schwanken zwischen Singular und Plural könnte darauf hindeuten, dass er sich hier nicht sicher war, ob er von der Grammatik der Sprache als Ganzes oder den Grammatiken der einzelnen Wörter einer Sprache sprechen möchte. Vgl. Ts 211: 371; Ts 212: 1376; Ts 213: 526. Vgl. Ts 211: 429; Ts 212: 1396; Ts 213: 538. Es geht um den Begriff „unendlich“.
1.4 Wittgensteins Charakterisierungen von Grammatik
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Geschäftsbuch der Sprache Auskunft über den sinnvollen Sprachgebrauch. Wittgenstein versteht sich dabei als Geschäftsmann, der die Grammatik betrachtend die Geschäftsbücher kontrolliert (Ms 112: 19r). Anfang der 30er Jahre scheint er von dieser Herangehensweise vollkommen überzeugt gewesen zu sein; so lesen wir auch bei Drurys Aufzeichnungen seiner Gespräche mit Wittgenstein: „I know that my method is right. My father was a business man, and I am a business man: I want my philosophy to be business-like, to get something done, to get something settled.“ (Drury 1984: 110) Diese Einstellung vertritt Wittgenstein zumindest bis Januar 1933 (Ms 114: 58). Danach verschwindet seine Redeweise von den Geschäftsbüchern der Sprache und dem „Business“ in der Logik allmählich aus seinen Notizen und findet sich lediglich noch in drei Bemerkungen: Ms 116: 47, Ms 116: 260 (September 1937 – Juni 1938) und Ms 119: 85v (November 1937).
1.4.3 Sammelsurium von Regeln Dass die Grammatik aus Regeln besteht, schreibt Wittgenstein erstmals 1930: „Die Grammatik besteht aus solchen allgemeinen Regeln“ (Ms 108: 104; Ms 109: 221). Später in Ms 156b (1933) bezeichnet er die Grammatik als ein „Sammelsurium von Regeln“, welche er als Vereinbarungen über die Sprache versteht, die darüber Auskunft geben, welche Wortverbindungen zulässig sind: Inwiefern beschreibt denn die Grammatik die Sprache? Sie sagt, daß die & die Wortverbindungen zuläßig sind. Auch daß dieses Wort das gleiche bedeutet wie jenes. Sie ist also eigentlich ein Sammelsurium von Regeln. Sie besteht aus Vereinbarungen über die Sprache. (Ms 156b: 7r (1933))
Dass er die grammatischen Regeln zumindest zeitweise als Vereinbarung auffasste, zeigt auch die folgende Bemerkung: „Die Grammatik besteht aus Vereinbarungen. So eine Vereinbarung ist es z. B., wenn sie sagt: ‚das Wort ‚rot‘ bedeutet diese Farbe’“ (Ms 114: 167 (1933)). Die gerade zitierte Textstelle aus Ms 156b zeigt, obwohl sie im Manuskript durchgestrichen ist, dass Wittgenstein durchaus das Bild von der Grammatik als Regelwerk in Erwägung zog, wenn nicht gar explizit im Sinn hatte. Auffällig ist jedoch, dass er im Nachlass in nur einer einzigen Bemerkung von einer Totalität oder Vollständigkeit der Regeln spricht – abgesehen von seinem Bild der Grammatik als dem vollständigen Geschäftsbuch der Sprache. Auf diese Bemerkung stoßen wir sowohl in Ms 110 als auch in Ts 211, sie findet jedoch keinen Eingang ins Big Typescript.Wittgenstein spricht darin von der Grammatik als einer „Veranstaltung“ von Regeln, und zwar allen Regeln:
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Ich möchte sagen: Es muss die ganze Grammatik als eine Veranstaltung äußerlicher Regeln genommen werden, mit allen Regeln für das Ersetzen z. B., und das Wesentliche nur in der Anwendung eben dieses ganzen Gebildes gesehen/gesucht werden. (Ms 110: 207; Ts 211: 252)
An anderer Stelle fragt sich Wittgenstein, ob die Grammatik gleichzusetzen sei mit den Regeln des tatsächlichen Sprachgebrauchs: „Soll ich sagen, die Regeln der Grammatik seien die Regeln, nach denen (d. h. in Übereinstimmung mit welchen) das Sprechen einer Gruppe von Menschen tatsächlich/erfahrungsgemäß vor sich geht?“ (Ms 109: 280 (1931)) Eine Gleichsetzung von Grammatik nicht mit den Regeln des Sprachgebrauchs, sondern den syntaktischen Regeln findet sich auch schon im Jahr 1930: „Und wäre es so auch mit der Grammatik, d. h. mit den syntaktischen Regeln?“ (Ms 108: 64). Doch obwohl seine Charakterisierung von Grammatik als Regelkonglomerat in den frühen 30er Jahren sehr präsent ist, taucht sie in seinen späteren Schriften nicht mehr auf, und auch seine Verwendung des Ausdrucks „grammatische Regel“ oder „Regel der Grammatik“ findet sich nur noch vereinzelt (u. a. in Ms 122: 72r (1939) oder Ts 230: 33 (1945)).
1.4.4 Sprachgebrauch und Bedeutung An mehreren Stellen des Nachlasses, insbesondere ab Mitte der 30er Jahre, ist Wittgenstein versucht, Grammatik mit Gebrauch gleichzusetzen. Doch auch schon früher hat er die Begriffe „Grammatik“ und „Gebrauch“ eng zusammen gesehen, wenn auch nur in zwei Bemerkungen. In einer von diesen versteht er die Grammatik des Wortes „Übereinstimmung“ und seinen Gebrauch offenbar als gegeneinander austauschbar: „Es kommt eben wieder auf die Grammatik des Wortes ‚Übereinstimmung‘ an, auf seinen Gebrauch.“ (Ms 113: 48r; Ts 211: 597; Ts 212: 616; Ts 213: 204) In der zweiten Bemerkung liegt keine solche Austauschbarkeit von Gebrauch und Grammatik vor, doch Wittgenstein stellt fest, dass die Grammatik ein Wort durch die Angabe der Regeln für seinen Gebrauch erklärt: „Wie erklärt die Grammatik das Wort ‚jetzt‘? Doch wohl durch die Regeln, die sie für seinen Gebrauch angibt“ (Ms 109: 139; Ts 211: 372; Ts 212: 1377; Ts 213: 526). Grammatische Regeln versteht er an dieser Stelle folglich als Gebrauchsregeln von Sprache. Später im Brown Book verwendet er „Grammatik“ und „Gebrauch“ scheinbar synonym: „It is one of our tasks here to give a picture of the grammar (the use) of the word ‘a certain’“ (Ts 310: 90; vgl. BBB: 135).⁴⁵ Tatsächlich lässt sich In seiner deutschen Übersetzung und Revision des englischen Textes (Ms 115 ab Seite 118) lässt Wittgenstein diese Bemerkung allerdings aus (vgl. Pichler/Smith 2013: 317).
1.4 Wittgensteins Charakterisierungen von Grammatik
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nachweisen, dass jede Instanz von „Grammatik“ im Brown Book durch das Wort „Gebrauch“ ersetzt werden kann und die entsprechende Bemerkung dabei kohärent bleibt.⁴⁶ In seiner deutschen Übersetzung und Revision des Brown Book (Ms 115ii, d.i. Ms 115: 118 – 229) stoßen wir auf einen ähnlichen Fall: „Denk an die Grammatik/den Gebrauch des Ausdrucks: ‚jemand matt setzen‘“ (Ms 115: 278). Die Worte „den Gebrauch“ hat Wittgenstein hier über „die Grammatik“ geschrieben und wieder durchgestrichen, sich also klar dafür entschieden, an dieser Stelle „Grammatik“ zu verwenden und nicht „Gebrauch“. Nichtsdestotrotz können wir hieran erkennen, dass er beide Begriffe zumindest zu dieser Zeit als eng verwandt, wenn nicht gar austauschbar oder synonym aufgefasst hat. Darüber hinaus scheint er im Brown Book Korpus ⁴⁷ „Grammatik“ nicht nur mit „Gebrauch“, sondern auch mit „Bedeutung“ gleichzusetzen: So nun verhält es sich auch mit dem Gebrauch der Wörter ‚meinen‘, ‚glauben‘, ‚intendieren/ beabsichtigen‘ etc.: eine falsche – falsch vereinfachte – Auffassung ihrer Bedeutung, d. h. ihrer Grammatik, verleitet uns, zu denken, es müsse jedem dieser Wörter/dem Wort/einem Wort ein bestimmtes charakteristisches Erlebnis entsprechen. (Ms 115: 264 (1936))
Er hat hier also offenbar nicht nur eine zweifältige Beziehung zwischen Grammatik und Gebrauch, sondern eine dreifältige Beziehung zwischen Grammatik, Gebrauch und Bedeutung im Sinn.⁴⁸ Doch nicht erst während der Zeit seiner Arbeit am Brown Book, sondern bereits in den frühen 30er Jahren hat Wittgenstein eine enge Beziehung zwischen der Grammatik eines Wortes und seiner Bedeutung gesehen. Bereits im Big Typescript setzt er beide gleich: […] die Grammatik des Worts (seine Bedeutung) (Ms 112: 98v; Ms 155: 88v; Ts 211: 495; Ts 212: 608; Ts 213X: 199) Und so hat auch das hinweisende Fürwort ‚dieser‘ andere Bedeutung (d. h. Grammatik), wenn es sich auf Hauptwörter verschiedener Grammatik bezieht. (Ms 114: 15v; Ts 211: 754; Ts 212: 121; Ts 213X: 33r)
Vgl. 3.2. Diese Instanzen von „Grammatik“ im Brown Book finden sich auf den folgenden Seiten: Ts 310: 51, 82, 90, 101, 145; BBB 109, 130, 135, 142, 171. Unter „Brown Book Korpus“ verstehe ich Ts 310, Ms 115ii und Ms 141. Ms 141 enthält den Anfang einer frühen deutschen Version des Brown Book (vgl. Kap. 3). Zu Wittgensteins Gebrauch von Grammatik im Brown Book vgl. 3.2.
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1 Philosophisch-philologische Betrachtungen von Wittgensteins Grammatikbegriff
An anderer Stelle erklärt er: „Man kann sagen: die Grammatik bestimm[e] die Bedeutg. der Wörter […]“ (Ts 213H: 197v).⁴⁹ Die Idee der Verknüpfung von Grammatik und Bedeutung eines Wortes lässt sich demnach bis ins Jahr 1931 (in den Mss 112 und 155) zurückverfolgen. Das Brown Book und Ms 115ii sind in den Jahren 1934– 1936 entstanden. Auch 1938 ist Wittgenstein versucht, „Grammatik“ durch „Gebrauch“ oder „Anwendung“ zu ersetzen: „Aber damit ist die Grammatik/der Gebrauch/die Anwendung des Wortes ‚Extension‘ noch nicht bestimmt“ (Ms 121: 36v). Die Worte „der Gebrauch“ stehen hier als Alternative über „die Grammatik“; „die Anwendung“ steht hinter „Gebrauch“ und ist mit einer gewellten Linie unterstrichen, was auf Unzufriedenheit Wittgensteins mit diesem Ausdruck hindeuten könnte. „Grammatik“ und „Gebrauch“ erscheinen jedoch als gleichwertige Alternativen (s. Abb.1).
Abb. 1: Ausschnitt aus Ms 121: 36v Abgebildet mit der freundlichen Erlaubnis von The Master and Fellows of Trinity College, Cambridge, und der Universität Bergen, Bergen.
Die enge Verbindung von Grammatik und Gebrauch zieht sich schließlich bis in die PU: „Es ist eine Hauptquelle unseres Unverständnisses, daß wir den Gebrauch unserer Wörter nicht übersehen. – Unserer Grammatik fehlt es an Übersichtlichkeit“ (PU 122).⁵⁰ Wittgenstein ersetzt hier „Gebrauch unserer Wörter“ durch „Grammatik“, scheint unter Grammatik also Sprachgebrauch zu verstehen.⁵¹ Es ist auffällig, dass dies die einzige Bemerkung im gesamten Nachlass ist,
Handschriftliche Notiz auf einer Rückseite in Ts 213. Vgl. auch Ms 142: 107. Anstelle von „Gebrauch“ können wir hier „Grammatik“ setzen und sagen: „Es ist eine Hauptquelle unseres Unverständnisses, dass wir die Grammatik unserer Wörter nicht übersehen.“ Jedoch lässt sich im letzten Teil der Bemerkung nicht „Grammatik“ durch „Gebrauch“ ersetzen: „Unserem Gebrauch fehlt es an Übersichtlichkeit“ würde Wittgenstein wohl kaum behaupten wollen, sondern eher, den Regeln den Sprachgebrauch betreffend fehlt es an Übersichtlichkeit. Hier liegt also nicht eine Gleichsetzung beider Begriffe, sondern lediglich eine enge Verknüpfung vor. Im Brown Book hingegen handelt es sich meiner Einschätzung nach tatsächlich um eine
1.4 Wittgensteins Charakterisierungen von Grammatik
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in der Wittgenstein die Grammatik schlechthin als Gebrauch auffasst; in allen anderen hier relevanten Bemerkungen spricht er von der Grammatik eines bestimmten Wortes oder Ausdrucks als dessen Gebrauch. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Tatsache, dass er bereits 1929 notierte, unserer Grammatik fehle es an Übersichtlichkeit (Ms 108: 31). An dieser Stelle fehlt jedoch der Bezug von Grammatik zum Sprachgebrauch.⁵²
1.4.5 Kalkül, Schach, Wesen, Leben des Satzzeichens Neben den bereits genannten finden sich im Nachlass noch weitere Annäherungen an eine Begriffsklärung von „Grammatik“. So beschreibt Wittgenstein im Big Typescript die Grammatik als einen Kalkül: „Die Grammatik ist für uns ein reiner Kalkül. (Nicht die Anwendung eines auf die Realität).“ (Ms 113: 62r (1932); Ms 154: 9r (1932); Ts 211: 616 (1931/32); Ts 212: 1438 (1932); Ts 213: 558) Zur selben Zeit notiert er auch: „Ich betrachte die Sprache und Grammatik unter dem Gesichtspunkt des Kalküls/unter der Form des Kalküls/als Kalkül, d. h. des Operierens nach festgelegten Regeln./d. h. als Vorgang nach festgesetzten Regeln.“ (Ms 111: 67; Ts 211: 40; Ts 212: 740; Ts 213X: 258) Dieser Beschreibung gemäß folgt die Grammatik starren und eindeutigen Regeln – sie erscheint als ein komplett regelgeleitetes System, ähnlich einem System von Spielregeln. Tatsächlich findet sich auch Wittgensteins Vergleich der Grammatik mit dem Schachspiel ab den frühen dreißiger Jahren und kommt in einer Notiz aus Ms 109 am deutlichsten zum Ausdruck: „Grammatik ein Schachspiel“ (Ms 109: 156). Auch in der folgenden Bemerkung spielt dieser Vergleich eine Rolle: Die Grammatik, wenn sie in der Form eines Buches uns vorläge, bestünde nicht aus einer Reihe bloß nebengeordneter Artikel, sondern würde eine andere Struktur zeigen. Und in dieser müsste man – wenn ich Recht habe – auch den Unterschied zwischen Phänomenologischem und Nicht-Phänomenologischem sehen. Es wäre da etwa ein Kapitel von den Farben, worin der Gebrauch der Farbwörter geregelt wäre; aber dem vergleichbar wäre nicht, was über die Wörter ‚nicht‘, ‚oder‘ etc. (die logischen Konstanten) in der Grammatik gesagt würde. Es würde z. B. aus den Regeln hervorgehen, dass diese letzteren Wörter in jedem Satz anzuwenden seien (nicht aber die Farbwörter). Und dieses ‚jedem‘ hätte nicht den Charakter einer erfahrungsmäßigen Allgemeineinheit; sondern der inappellablen Allgemeineinheit
Gleichsetzung von „Grammatik“ und „Gebrauch“, weil sich alle Instanzen von „Grammatik“ durch „Gebrauch“ problemlos (d.i. ohne inhaltliche Konsequenzen) ersetzen lassen. PU 122 wird in Abschnitt 3.3 diskutiert. Für meine Interpretation dieser Beobachtung vgl. 3.3.
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1 Philosophisch-philologische Betrachtungen von Wittgensteins Grammatikbegriff
einer obersten Spielregel. Es scheint mir ähnlich, wie das Schachspiel wohl ohne gewisse Figuren zu spielen (oder doch fortzusetzen) ist, aber nie ohne das Schachbrett. (Ms 109: 120 f (1930); Ts 211: 364 f (1931); Ts 212: 378 f (1932); Ts 213X: 113 (1933))
Der erste Satz dieser Bemerkung ist von besonderem Interesse, da Wittgenstein hier tatsächlich vorschlägt, uns die Grammatik als ein Buch – ein Grammatikbuch also – vorzustellen, das, wie im Laufe der Bemerkung deutlich wird, aus mehreren Kapiteln besteht, die jeweils verschiedene Wortkategorien, etwa die Farbwörter behandeln. Auch an anderer Stelle vergleicht er die Grammatik mit einem (Wörter‐)Buch (Ts 212: 260; Ts 213+H: 80). Die Analogie von Grammatik und Schachspiel besteht in der gerade zitierten Textpassage darin, dass wir, so wie wir Schach auch mit weniger als den üblichen Figuren, aber nicht ohne Brett spielen können,⁵³ auch Sprache ohne die Verwendung etwa der Farbwörter gebrauchen können, jedoch nicht ohne die Wörter, die Wittgenstein zu den logischen Konstanten zählt – und die ein Linguist entsprechend als Konjunktionen und Subjunktionen bezeichnen würde. Entsprechend heißt es in Ms 114: „Der Unterschied der Wortarten ist dem Unterschied der Spielfiguren im Schach zu vergleichen, aber auch dem noch größeren einer Spielfigur & des Schachbrettes.“ (Ms 114: 39) Gleich im Anschluss an diese Bemerkung notiert Wittgenstein: „Man kann erklären: Der Ort eines Wortes in der Grammatik ist seine Bedeutung.“ (Ebd. (1933))⁵⁴ Von 1929 bis ins Big Typescript spricht er gar vom „grammatischen Raum“⁵⁵ oder charakterisiert die Grammatik als die Beschreibung eines Systems oder Raumes: „Die Grammatik beschreibt das System, den Raum, an dessen eine Stelle das Symbol/Zeichen zeigt.“ (Ms 110: 126 (1931)) Wir haben es hier folglich mit zwei Varianten zu tun: Einmal versteht Wittgenstein die Grammatik als System oder Raum, ein andermal als Beschreibung eines solchen Raumes. Doch diese Redeweise Wittgensteins hört nach 1934 fast vollständig auf, ausgenommen in Ms 116 in einer Bemerkung aus dem Jahr 1937, wo Wittgenstein die Bedeutung eines Wortes noch einmal als seinen Ort in der Grammatik bezeichnet (Ms 116: 30). Ferner spricht Wittgenstein von der Grammatik als dem Wesen (einer Sache): „Es muß im Wesen (in der Grammatik) dieses roten Stiches liegen, daß ein Mehr oder Weniger von ihm möglich ist“ (Ms 112: 127r; Ts 211: 530; Ts 213: 475) – eine
Im Big Typescript fügt Wittgenstein jedoch handschriftlich in Klammern hinzu: „Das ist nicht wahr, man könnte ganz gut mit einem Teil des Brettes auskommen.“ (Ts 213H: 113) Vgl. auch Ms 114: 179 (1933); Ms 116: 30 (1937); Ms 140: 15r (1934); Ts 211: 178 (1931); Ts 212: 114 (1932); Ts 213+H: 31 (1933). Ms 107: 181 (1929); Ms 109: 175 (1930); Ms 110: 286 (1931); Ts 209: 47 (1930); Ts 211: 302 (1931); Ts 212: 106 (1932); Ts 212: 1083 (1932); Ts 213: I (1933); Ts 213: 30 (1933); Ts 213: 389 (1933).
1.5 Drei Verwendungsweisen von „Grammatik“
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Bemerkung, die uns an eine bekannte Stelle in den PU erinnert: „Das Wesen ist in der Grammatik ausgesprochen.“ (PU 371)⁵⁶ Wittgensteins kryptischste und wohl auch poetischste Charakterisierung von Grammatik ist schließlich die, in der er Grammatik als „das Leben des Satzzeichens“ bezeichnet: „Das ist klar: die Grammatik ist das Leben des Satzzeichens.“ (Ms 109: 40; Ts 211: 342) An beiden Textstellen geht Wittgenstein nicht näher auf dieses Verständnis von Grammatik ein. In Ms 109 fährt er fort: Ist es nun nicht so: Würde man die Dinge sich selbst bezeichnen lassen, so wären unsinnige Zeichenverbindungen nicht erst zu verbieten, sondern unmöglich. Aber wenn die Vorstellungen Zeichen sind, so geschieht eben dasselbe: Etwas Dunkleres als Schwarz kann ich mir nicht vorstellen und keine klingende Farbe etc. – ich meine, die grammatischen Regeln wirken sich erst mit der Zeit aus, wenn das Wort in verschiedenen Verbindungen gebraucht wird, aber die Grammatik der Vorstellung/Vorstellungen ist sozusagen zwangsläufig. Aber das ist auch eine schiefe Darstellung. (Ms 109: 40 f)
In Ts 211 hingegen schreibt er: „Wie weiß ich, was der Begriff ‚Kugel‘ alles beinhaltet, – wenn ich das Wort ‚Kugel‘ gebrauche, und doch wissen muss/weiß, was ich damit meine.“ (Ts 211: 342) Da beide Bemerkungen die Metapher von der Grammatik als dem Leben des Satzzeichens nicht weiter ausführen, können wir nur vermuten, was Wittgenstein darunter verstanden hat. Naheliegend scheint die Lesart, dass er der Auffassung war, erst der Gebrauch eines Satzes (im Sinne von Satzzeichen) in der alltäglichen Sprache erwecke ihn zum Leben. Tatsächlich spricht Wittgenstein in beiden zitierten Textstellen den Gebrauch eines Wortes an und hatte, wie im vorherigen Abschnitt erläutert wurde, tatsächlich bereits in den frühen 30er Jahren die Bedeutung von Grammatik als Gebrauch im Blick.⁵⁷
1.5 Drei Verwendungsweisen von „Grammatik“ Wittgensteins Grammatikbegriff ist zwar in vielerlei Hinsicht undurchsichtig, jedoch nicht generell unverständlich. Wenn Wittgenstein etwa von der Grammatik eines bestimmten Wortes oder Ausdrucks spricht – wie z. B. in „die Grammatik von ‚glauben‘“ (Ms 175 38v, d.i. ÜG 313) –, so scheint es ihm um den tatsächlichen
Vgl. Ms 116: 340; Ts 228: 185; Ts 230: 102; Ts 235: 7. Wolfgang Kienzler deutet Wittgensteins Bemerkung zur Grammatik als Leben des Zeichens im Zusammenhang mit Wittgensteins Auseinandersetzung mit der Philosophie Gottlob Freges (1997: 231).
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1 Philosophisch-philologische Betrachtungen von Wittgensteins Grammatikbegriff
Gebrauch dieses Wortes oder Ausdrucks in unserer Sprache zu gehen. Die Grammatik eines Wortes zu erklären heißt, seinen Gebrauch zu erklären, d. h. Beispiele der alltäglichen Verwendung dieses Wortes aufzuzeigen und möglichst übersichtlich darzustellen. „‘How is the word used’ and ‘What is the grammar of the word?’ I shall take as being the same question“, lesen wir in Ambroses Aufzeichnungen von Wittgensteins Vorlesungen der Jahre 1932– 33 (AWL 3), und auch im Brown Book schlägt Wittgenstein das Wort „Gebrauch“ („use“) explizit als gegen „Grammatik“ austauschbar vor (vgl. 3.2). Hier stellt sich die Frage, warum Wittgenstein den Begriff „Grammatik“ gegenüber dem Begriff „Gebrauch“ bevorzugt. Die Tatsache, dass er den Ausdruck „Grammatik eines Wortes“ dem Ausdruck „Gebrauch eines Wortes“ vorzieht und, wie er selbst zu Beginn der 30er Jahre einräumt (vgl. 1.3), dabei mit „Grammatik“ vermutlich etwas anderes meint als die Grammatik im herkömmlichen Sprachgebrauch, legt die Vermutung nahe, dass hier ein Theoretisieren im Hintergrund steht, welches wiederum im Widerspruch zu seiner später formulierten Überzeugung zu stehen scheint, nicht theoretisieren zu wollen: „Und wir dürfen keinerlei Theorie aufstellen. Es darf nichts Hypothetisches in unsern Betrachtungen sein. Alle Erklärung muß fort, und nur Beschreibung an ihre Stelle treten.“ (PU 109)⁵⁸ Trotz dieser Schwierigkeit trägt es wesentlich zu unserem Verständnis von Grammatik im Sinne der Grammatik eines bestimmten Wortes oder Ausdrucks – eines bestimmten Teils der Sprache – bei, sie als Gebrauch aufzufassen. Diese Verwendungsweise von „Grammatik“ in Wittgensteins Schriften werde ich im Folgenden „Grammatik im partikulären Sinn“ nennen.⁵⁹ An anderen Stellen im Nachlass verwendet Wittgenstein „Grammatik“ als Disziplin, etwa in „Phänomenologie ist Grammatik“ (Ts 213: 437). Darunter können wir uns ein Tätigkeitsfeld vorstellen, das die verschiedenen Gebrauchsweisen einzelner Wörter sammelt, untersucht, auswertet und präsentiert. Der Grammatiker wird hier zum Beschreiber von Sprache. Er stellt, im Einklang mit dem gerade zitierten Credo Wittgensteins, keine Regeln des Sprachgebrauchs auf, sondern beschreibt die Verwendungen von Worten und Ausdrücken, die er in der alltäglichen Kommunikation vorfindet.
Vgl. Ms 142: 102; Ts 220: 76; Ts 239: 76. Auch Stetter hebt diese Verwendungsweise von „Grammatik“ hervor, wenn er sich auf den „Ausdruck ‚die Grammatik von x‘“ (Stetter 2006: 113) bezieht, und auch er stößt sich offenbar vor allem an dem, was ich „Grammatik im allgemeinen Sinn“ nennen werde, wenn er fragt was es denn etwa heiße, dass die Bedeutung eines Wortes sein Ort in der Grammatik sei: „So intuitiv sicher sich Wittgenstein offenbar der Verwendung dieses Topos ist, so wenig klar ist doch der Sinn des Wortes ‚Grammatik‘ in diesen vielfältigen Verwendungen.“ (Ebd.)
1.5 Drei Verwendungsweisen von „Grammatik“
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Diese beiden Gebrauchsweisen Wittgensteins von „Grammatik“ sind durchaus nachvollziehbar. Doch er verwendet „Grammatik“ noch auf eine andere Weise, wenn er von der Grammatik spricht, z. B. in: „Der Solipsismus könnte durch die Tatsache widerlegt werden, daß das Wort ‚ich’ in der Grammatik keine zentrale Stellung hat, sondern ein Wort ist, wie jedes andre Wort.“ (Ts 213: 508) Diesen Gebrauch von „Grammatik“ werde ich im Folgenden „Grammatik im allgemeinen Sinn“ nennen.⁶⁰ Es ist vor allem dieser Gebrauch des Wortes, der undurchsichtig erscheint – es ist unklar, was wir uns unter dieser Grammatik vorzustellen zu haben. Die Redeweise von der Grammatik im allgemeinen Sinn evoziert das Bild eines vollständigen Regelwerks unseres Sprachgebrauchs, eines Systems oder einer Struktur im Hintergrund unseres alltäglichen Umgangs mit Sprache; und es ist ja nicht ausgeschlossen, dass Wittgenstein genau ein solches System oder eine solche Struktur im Sinn hatte, als er in den 30er Jahren damit begann, vermehrt von Grammatik zu sprechen. Im Gegenteil, diese Verwendungsweise von Grammatik bewegt sich im Dunstkreis der Bedeutung von Grammatik im Sinne von Struktur oder Regelwerk einer Kunst, Wissenschaft oder eines Begriffs, wie sie zu Lebzeiten Wittgensteins zum Teil gängig war und etwa in den Titeln der Monographien Newmans und Pearsons Ausdruck fand. Vor diesem Hintergrund ist es möglich, wenn nicht gar naheliegend, Wittgensteins Grammatik im allgemeinen Sinn als Struktur oder Regelwerk von (Wort‐) Sprache zu verstehen. In der Tat spricht Wittgenstein von „der Grammatik als solcher“ oder „Grammatik als solche“ (Ms 114: 158; Ts 212: 696; Ts 213+HX: 235r) und der „Grammatik überhaupt“ (Ms 111: 169, 175; Ms 153a: 90v; Ts 211: 107; Ts 211: 111; Ts 212: 205; Ts 213X: 63). Schwierigkeiten ergeben sich vor allem dann, wenn man dieses Verständnis von Wittgensteins Grammatikbegriff an seine späteren Schriften herantragen will. Die Auffassung von Grammatik im allgemeinen Sinn als Struktur oder Regelwerk von Sprache ist zu theoretisch aufgeladen, als dass sie im Einklang mit Wittgensteins späteren Überzeugungen und Vorgehensweisen
Die Redeweisen von „Grammatik im partikulären Sinn“ und „Grammatik im allgemeinen Sinn“ können leicht missverstanden werden, gerade weil sie an den spezifischen Gebrauch von „allgemein“ und „partikulär“ in der Logik erinnern. Eine solche Unterscheidung ist hier nicht gemeint. Vielmehr geht es mir um eine Unterscheidung innerhalb des Sprachgebrauchs Wittgensteins. „Grammatik im partikulären Sinn“ heißt, dass Wittgenstein von der Grammatik einzelner Wörter bzw. der Grammatik einzelner Teile der Sprache spricht. „Grammatik im allgemeinen Sinn“ soll keinen absoluten Grammatikbegriff andeuten, sondern heißt schlicht, dass Wittgenstein an den entsprechenden Stellen das Wort „Grammatik“ verwendet, um eine Gesamtheit auszudrücken: Er spricht nicht von der Grammatik einzelner Teile der Sprache, sondern von der Grammatik (der Sprache).
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1 Philosophisch-philologische Betrachtungen von Wittgensteins Grammatikbegriff
stehen könnte – und unter „späte Überzeugungen und Vorgehensweisen“ verstehe ich hier jene seit etwa den PU. Im dritten Kapitel werde ich Wittgensteins Überlegungen zur Vollständigkeit der Grammatik näher untersuchen und dabei feststellen, dass sich seine Auffassung im Laufe seiner philosophischen Arbeit gewandelt hat, und dass im Zuge dieser Veränderung gerade die Verwendung von Grammatik im allgemeinen Sinn zunehmend weniger präsent ist. Zunächst sollen jedoch die drei genannten Gebrauchsweisen von „Grammatik“ in Wittgensteins Nachlass übersichtlich erläutert werden. Im Anschluss daran folgt eine Untersuchung der Verteilung dieser verschiedenen Gebrauchsweisen von „Grammatik“ im Nachlass. An dieser Stelle möchte ich betonen, dass die Unterscheidung der drei Verwendungsweisen von „Grammatik“ als ein Werkzeug zu verstehen ist, das einen differenzierten Blick auf Wittgensteins Grammatikbegriff ermöglichen soll.⁶¹ Die Beschäftigung mit Wittgensteins Grammatikbegriff wird nämlich nicht nur dadurch erschwert, dass Wittgenstein den Begriff weder im herkömmlichen Sinne
Eine andere Unterscheidung von zwei Bedeutungen von „Grammatik“ bei Wittgenstein findet sich bei Arrington, die er aus der Literatur zu Wittgenstein entnommen haben will, jedoch leider keine Quellen angibt: „When Wittgenstein speaks of the grammar of an expression or word, grammar appears to be something that is the property of that part of language. When he tells us such things as that ‚grammar only describes and in no way explains the use of signs’ (PI, § 596), he is obviously referring to statements made about the grammar of these words, that is to say, about grammar in the first sense. To facilitate the discussion, I shall use the word ‘grammar’ to refer to that which is a property of a word or expression or sentence. I shall speak of statements made about grammar as ‚grammatical remarks’.“ (Arrington 1990: 212) Dies ist eine Unterscheidung von Grammatik im partikulären Sinn einerseits und grammatischen Bemerkungen andererseits, jedoch streng genommen keine Unterscheidung von zwei Bedeutungen des Wortes „Grammatik“. Die Deutung, „Grammatik“ in dem Satz „Sie [Grammatik] beschreibt nur, aber erklärt in keiner Weise, den Gebrauch der Zeichen“ (PU 496 – der Verweis auf PU 596 bei Arrington ist wohl ein Tippfehler) sei offensichtlich auf grammatische Bemerkungen bezogen, halte ich nicht für überzeugend, denn Wittgenstein spricht hier von Grammatik, nicht von grammatischen Bemerkungen. Er hätte, wenn es ihm eindeutig um grammatische Bemerkungen gegangen wäre, auch „Grammatische Bemerkungen beschreiben nur, aber erklären in keiner Weise den Gebrauch der Zeichen“ notieren können. Stattdessen spricht er an dieser Stelle jedoch von Grammatik im allgemeinen Sinn. Mit seiner Unterscheidung zwischen Grammatik im partikulären Sinn und grammatischen Bemerkungen umgeht Arrington geschickt die Problematik, die der Begriff der Grammatik im Allgemeinen mit sich bringt. Es ist jedoch interessant, und auch verständlich, dass er sich in seinem kurzen Aufsatz zur „Grammatik der Grammatik“ auf Grammatik im partikulären Sinn beschränkt, denn der Text, auf den er sich überwiegend bezieht, ist die PU; und in den PU liegt, wie sich noch zeigen wird, nicht nur Wittgensteins Fokus tatsächlich auf der Grammatik im partikulären Sinn, sondern die Grammatik im allgemeinen Sinn scheint dort auch in der Tat gar nicht hineinzupassen. Dennoch lässt sich nicht leugnen, dass Wittgenstein in den PU „Grammatik“ im allgemeinen Sinn verwendet. Vgl. Abschnitt 4.1.
1.5 Drei Verwendungsweisen von „Grammatik“
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gebraucht noch definiert, sondern vor allem auch dadurch, dass er den Begriff nicht einheitlich verwendet. Dies soll nicht heißen, dass das vorgeschlagene Raster das einzig mögliche oder gar adäquate Schema ist, mit dem wir Wittgensteins Grammatikbegriff zu betrachten haben, um ihn „richtig“ zu verstehen. Es ist vielmehr ein vereinfachtes Hilfsmittel, das sich insofern als nützlich erweisen wird, als dass sich damit Wittgensteins Grammatikbegriff von einer Seite beleuchten lässt, die in der bisherigen Wittgensteinliteratur unberücksichtigt blieb, die aber zu tieferen Einsichten in sein Grammatikverständnis, und im Zuge dessen in seine philosophischen Überzeugungen im weiteren Sinne, verhelfen kann. So kann diese Differenzierung, wie noch deutlich werden wird, Aufschlüsse über Wittgensteins Grammatikverständnis während bestimmter Phasen seines philosophischen Schaffens geben. Die Dreiteilung von Wittgensteins Gebrauch von „Grammatik“ stellt sich wie folgt dar: (a) Der Gebrauch von „Grammatik“ als „Grammatik im allgemeinen Sinn“ Grammatik wird als die Grammatik unserer Sprache als Ganzes verstanden. Z. B.: – Die Grammatik ist keiner Wirklichkeit Rechenschaft schuldig (Ts 213: 233) – Unserer Grammatik fehlt es an Übersichtlichkeit (PU 122) – Ist das ein Erfahrungssatz; oder eine verschleierte Festsetzung der Grammatik? (Ms 115: 75) (b) Der Gebrauch von „Grammatik“ als „Grammatik im partikulären Sinn“ „Grammatik“ meint die Grammatik eines bestimmten Wortes oder Teils der Sprache. Z. B.: – Die Grammatik von ,passen‘, ,können‘ und ,verstehen‘ (PU 182) – Grammatik des Wortes ,Hier‘ (Ms 153a: 65r) – Grammatik der zeitlichen Ausdrücke/unserer Zeitbegriffe (Ms 115: 176) (c) Der Gebrauch von „Grammatik“ als „Grammatik als Disziplin“ Grammatik wird als Fachgebiet und Lehre verstanden. Beispiele: – Theologie als Grammatik (PU 373) – Und hier sieht man deutlich, dass die Frage ,wie wird dieser Satz verifiziert‘ von einem Gebiet der Grammatik zum anderen ihren Sinn ändert (Ts 213: 392) – Aber die Grammatik kümmert sich nicht um den Zweck der Sprache und ob sie ihn erfüllt. Sowenig wie die Arithmetik um die Anwendung der Addition. (Ts 213H: 192v) Die Grenzen zwischen diesen verschiedenen Gebrauchsweisen sind nicht klar gezogen. Insbesondere ist es schwierig, zwischen den Gebrauchsweisen (a) und
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1 Philosophisch-philologische Betrachtungen von Wittgensteins Grammatikbegriff
(c) klar zu unterscheiden, etwa wenn Wittgenstein fragt: „Warum empfinden wir die Untersuchung der Grammatik als fundamental?“ (Ts 213: 412) „Grammatik“ kann hier sowohl als Grammatik im Allgemeinen als auch als Disziplin verstanden werden. Verstehen wir sie als Disziplin, ist die Untersuchung eine grammatische, d. h. die Grammatik selbst führt die Untersuchung durch.Verstehen wir sie als Grammatik im Allgemeinen, ist sie hingegen das Objekt unserer Untersuchung. Auch in dem oben genannten Beispiel: „Und hier sieht man deutlich, dass die Frage ‚wie wird dieser Satz verifiziert‘ von einem Gebiet der Grammatik zum anderen ihren Sinn ändert“ (Ts 213: 392) können wir „Grammatik“ sowohl als Grammatik schlechthin als auch als Disziplin verstehen. Wittgenstein könnte entweder verschiedene Gebiete innerhalb der Grammatik als Disziplin im Sinn haben, oder aber verschiedene Gebiete der Grammatik unserer Sprache im Allgemeinen. Im Grunde ist es möglich, beinahe jede Instanz von „Grammatik“ im nicht-besonderen Sinn als sowohl Grammatik im allgemeinen Sinn als auch als Disziplin zu verstehen. Ein Kriterium zur klaren Unterscheidung von beiden müsste deutlicher formuliert werden und wäre willkürlich gesetzt. Es stellt sich die Frage, inwiefern eine solche eindeutige Trennung überhaupt zweckdienlich wäre. Offensichtlich oszilliert der Grammatikbegriff (im nicht-besonderen Sinn) zwischen Grammatik im allgemeinen Sinn und Grammatik als Disziplin. Anstatt beide klar voneinander trennen zu wollen, werde ich im Folgenden mit diesem schillernden Grammatikbegriff arbeiten. Diese Uneindeutigkeiten sollen nicht irritieren, denn der Sinn dieser Unterscheidung ist es nicht, jede Instanz von „Grammatik“ eindeutig in das vorgeschlagene Schema – bzw. überhaupt in irgendein Schema – einordnen zu können, sondern lediglich, den Blick auf bisher übersehene Aspekte des wittgensteinschen Grammatikbegriffs zu lenken. Für die weitere Untersuchung wird sich ohnehin vor allem die Unterscheidung der Gebrauchsweisen (a) und (b) als relevant erweisen. Um eine scharfe Trennung von (a) und (c) zu umgehen, wird ferner (a) mit (c) zusammenfallen und „Grammatik im allgemeinen Sinn“ heißen. Abschließend ist hinzuzufügen, dass Wittgenstein an einigen wenigen Stellen im Nachlass „Grammatik“ im Sinne der Alltagsgrammatik, die uns zuweilen täuschen kann, verwendet, oder vom Begriff der Grammatik spricht.⁶² In den nachfolgenden Übersichten werden diese Instanzen von „Grammatik“ als „Grammatik in anderem Sinn“ zusammengefasst.
Etwa im Big Typescript: „Man könnte sehr wohl in der (gewöhnlichen/deutschen) Grammatik neben diesen Wörtern die Wörter/die Bezeichnungen ‚Farbwort’, ‚Formwort‘, ‚Klangwort‘ einführen.“ (Ts 213+H: 32)
1.6 „Grammatik“ und „Logik“ im Nachlass
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1.6 „Grammatik“ und „Logik“ im Nachlass Ein Blick in Wittgensteins Nachlass zeigt, dass das Wort „Grammatik“ und seine Derivate sehr ungleichmäßig auf die verschiedenen Manuskripte und Typoskripte verteilt sind. Bei genauer Betrachtung dieser Verteilung lassen sich außerdem bemerkenswerte Verschiebungen erkennen. Dieser Abschnitt soll einen Überblick über Wittgensteins Verwendungsweise von „Grammatik“ im Nachlass geben. Dabei wird auch der Begriff der Logik von Bedeutung sein, denn, wie bald deutlich werden wird, verwendet Wittgenstein „Grammatik“ und „Logik“ zum Teil auf ähnliche Weise. Die Frage nach dem Verhältnis von Logik und Grammatik in Wittgensteins Philosophie wird im dritten und vierten Kapitel wieder aufgegriffen (vgl. insbesondere 4.2). Der Übersichtlichkeit halber werde ich in dieser Untersuchung nicht jedes einzelne Nachlassdokument heranziehen, sondern mich auf eine Textauswahl konzentrieren, welche die folgenden Schriften umfasst: (a) die ersten Manuskripte und Typoskripte, an denen Wittgenstein nach seiner Rückkehr nach Cambridge in den Jahren 1929 und 1930 gearbeitet hat und die Ende 1930 abgeschlossen waren (ab jetzt „Bemerkungen 1929/30“, d.i. Ms 105, Ms 106, Ms 107, Ms 108, Ts 208, Ts 209); (b) das Big Typescript (Ts 213), eine geordnete und überarbeitete Sammlung, die Wittgenstein von seinen Bemerkungen der frühen 30er Jahre anfertigte, die jedoch nicht als abgeschlossenes Werk, sondern als Zwischenstufe verstanden werden kann;⁶³ (c) die Vorlagen für unsere heutigen autoritativen Ausgaben der PU (Ts 227a/b); und (d) Wittgensteins letzte Manuskripte, die z.T. in den Bemerkungen über die Farben (BÜF), Über Gewißheit (ÜG) und dem zweiten Teil der Letzten Schriften über die Philosophie der Psychologie (LSPP II) veröffentlich wurden (d.i. Mss 172– 177, ab jetzt „späte Manuskripte“). Die Bemerkungen 1929/30 sowie die späten Manuskripte werden berücksichtigt, weil sie den zeitlichen Rahmen von Wittgensteins philosophischer Entwicklung von seiner Rückkehr nach Cambridge bis zu seinem Tod markieren. Das Big Typescript ist insofern von Bedeutung, als dass es sich dabei um eine umfassende Zusammenstellung von Bemerkungen handelt, die Wittgenstein ab 1929 verfasst hatte. Die PU sollen schließlich betrachtet werden, weil sie denjenigen Text darstellen, welchen Wittgenstein am gründlichsten be- und überarbeitet und für eine Veröffentlichung vorbereitet hat, und der außerdem in der heutigen Wittgensteinforschung als zentraler Text seiner sogenannten Spätphilosophie gilt.
Vgl. zum Big Typescript Abschnitt 3.1.
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1 Philosophisch-philologische Betrachtungen von Wittgensteins Grammatikbegriff
Tabelle 1 zeigt die Verteilung von Wittgensteins Gebrauchsweisen von „Grammatik“ gemäß Abschnitt 1.5 und den Derivaten von „Grammatik“⁶⁴ in den vier genannten Textgruppen. Tab. 1: Übersicht über die Häufigkeit der Verwendungsweisen von „Grammatik“ in den Bemerkungen 1929/30, dem Big Typescript, den PU und den späten Manuskripten Grammatik im allgemeinen Sinn
Grammatik im partikulären Sinn
Grammatik in Derivate von Insgesamt anderem Sinn⁶⁵ Grammatik
Bemerkungen /
-
Big Typescript
PU
Späte Manuskripte
-
Diese Zahlen⁶⁶ sind freilich nur dann aussagekräftig, wenn wir die Textmenge der jeweiligen Dokumente berücksichtigen. Die Bemerkungen 1929/30 erstrecken sich
Die Derivate von „Grammatik“ im Nachlass sind: „grammatisch“, „grammatische“, „grammatischen“, „grammatischer“, „grammatisches“, „grammatikalisch“, „grammatikalische“, „grammatikalischen“, „grammatikalischer“, „Grammatiken“, „Grammatiker“. Die mit Abstand häufigsten Derivate im Nachlass sind eine Form des Adjektivs „grammatisch“. „Grammatik in anderem Sinn“ bezieht sich hier auf Textstellen, an denen Wittgenstein von „Grammatik“ im herkömmlichen Sinne oder vom Begriff der Grammatik spricht. Diese Stellen sind: Ts 213+H: 32, 63r, 66r, 157, 190r (2x), 256v, 413; Ts 227a/b: 269. Die Zahlen in dieser Tabelle sind nicht der BEE entnommen, sondern aktuelleren Web-Versionen der entsprechenden Texte, die ich in ein Word-Dokument kopiert habe. Gezählt habe ich die Instanzen von „Grammatik“ und den Derivaten von „Grammatik“ von Hand in diesen WordDokumenten, nachdem ich sie den verschiedenen Kategorien zugeordnet und farblich markiert hatte. Instanzen von „Grammatik“ und ihren Derivaten in einzelnen Varianten derselben Bemerkung werden nicht gezählt, es sei denn, Wittgenstein verwendet in den Variationen mal das Substantiv „Grammatik“ und mal das Adjektiv „grammatisch“, was jedoch äußerst selten vorkommt (vgl. etwa Ts 213: 549); in solchen Fällen werden beide Instanzen gezählt. Freilich kann es vorkommen, dass mir aufgrund von Transkriptionsfehlern der Textdokumente Unstimmigkeiten unterlaufen sind, oder dass ich mich trotz aller Sorgfalt schlicht verzählt habe. Dennoch erscheint mir diese Vorgehensweise als die beste praktikable Lösung. Sie bietet beispielsweise größere Verlässlichkeit als die Suchfunktion der BEE, die einige Instanzen der gesuchten Wörter übersieht, etwa aufgrund von Sperrdruck oder Rechtschreibfehlern. Diese Aussage soll den Wert der BEE jedoch in keinem Fall schmälern; eine Untersuchung wie die vorliegende wäre ohne eine digitale Nachlass-Edition kaum möglich gewesen. Eine verbesserte Version der BEE ist darüber
1.6 „Grammatik“ und „Logik“ im Nachlass
53
auf insgesamt 1313 Seiten, Ts 213 hat 776 + 137 Seiten,⁶⁷ Ts 227a 323 Seiten und die Mss 172– 177 haben zusammengenommen 637 Seiten.⁶⁸ Das bedeutet, dass im Durchschnitt in den Bemerkungen 1929/30 das Wort „Grammatik“ oder eines seiner Derivate ca. alle zwölf Seiten, im Big Typescript ca. alle zwei Seiten, in den PU ca. alle sechs Seiten und in den spätesten Manuskripten ca. alle 91 Seiten vorkommt. Wenn wir auch die Wortanzahl per Seite berücksichtigen, ergibt sich folgende Verteilung: In den Bemerkungen von 1929/30 ist „Grammatik“ oder ein Derivat von „Grammatik“ ca. jedes 2532te Wort, im Big Typescript jedes 501te Wort, in den PU jedes 1353te Wort und in den späten Manuskripten jedes 8463te Wort.⁶⁹ Die Tendenz der Entwicklung, die sich bereits in Tabelle 1 abzeichnet, ist damit weitestgehend bestätigt: Gegenüber dem Big Typescript, in dem sich Witthinaus in Vorbereitung. 5000 Seiten des Nachlasses sind in dieser verbesserten Ausgabe bereits auf der Webseite www.wittgensteinsource.org frei zugänglich. Gemäß der Paginierung im Typoskript selbst sind es 768 Seiten, wobei die Zählung bei 0 beginnt und es keine Seite 261 gibt. Somit bleibt es bei 768 Seiten (vgl. Schulte 2015). Hinzu kommen die acht Seiten des Inhaltsverzeichnisses, welches ich in meiner Zählung berücksichtige, so dass die hier gewählte Textgrundlage insgesamt 776 Seiten umfasst. Die 137 handbeschriebenen Rückseiten (vgl. Krüger 1993: 397) werden bei der Zählung ebenfalls berücksichtigt. Hierbei ist es wichtig, die Recto-Verso-Seitenzählung der späten Mss zu berücksichtigen. Hierbei handelt es sich selbstverständlich um Richtwerte. Die durchschnittliche Wortanzahl per Seite ergibt sich wie folgt: - Bemerkungen von 1929/30: Um zunächst eine durchschnittliche Wortanzahl per Seite zu ermitteln, wurden in den Manuskripten Mss 105 – 108 die Wörter auf jeweils zwei (insgesamt acht) Seiten gezählt und die Summe durch 8 geteilt. Entsprechend wurden für die Typoskripte Tss 208 – 209 jeweils zwei exemplarische Seiten gezählt und die Summe durch 4 geteilt. Da die Manuskripte zusammengenommen ca. viermal so viele Seiten umfassen wie die Typoskripte, wurde die durchschnittliche Wortanzahl per Seite der Manuskripte mal 4 genommen, zu der Wortanzahl der Typoskripte addiert und schließlich durch 5 geteilt. Ergebnis: 216 Wörter pro Seite. Dieses Ergebnis wurde mit der Gesamtseitenzahl der Mss 105 – 108 und der Tss 208 und 209 (1313) multipliziert, um eine Gesamtzahl der Wörter zu erhalten. Diese wurde schließlich durch die Zahl der Instanzen von „Grammatik“ und ihren Derivaten geteilt. - BT: Den Bemerkungen 1929/30 analoges Vorgehen. Vier exemplarische Seiten von Ts 213 wurden gezählt. Ergebnis: 268 Wörter pro Seite bei 776 Seiten. Die Wörter auf den 137 beschriebenen Rückseiten wurden grob gezählt; das Ergebnis ist 12560. Diese Zahl wurde auf 13000 aufgerundet, um die handschriftlichen Notizen auf den Vorderseiten mit einzubeziehen, die ich ebenfalls grob gezählt hatte. Damit ergibt sich als ungefähre Wörterzahl des Big Typescript insgesamt die Zahl 220968. - PU: Den Bemerkungen 1929/30 analoges Vorgehen. Vier exemplarische Seiten von Ts 227a wurden gezählt. Ergebnis: 222 Wörter pro Seite bei 323 Seiten. - Späte Manuskripte: Den Bemerkungen 1929/30 analoges Vorgehen. Jeweils zwei Seiten aus Mss 172– 177 wurden gezählt und die Summe durch 12 geteilt. Ergebnis: 93 Wörter pro Seite bei 637 Seiten (Recto-Verso-Zählung berücksichtigt).
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1 Philosophisch-philologische Betrachtungen von Wittgensteins Grammatikbegriff
genstein intensiv mit der Grammatik beschäftigt, nimmt sein Gebrauch von „Grammatik“ in den PU deutlich ab und wird in den späten Manuskripten zur Seltenheit. In den Bemerkungen 1929/30 spricht Wittgenstein jedoch weniger häufig von „Grammatik“ als in den PU, obwohl Tabelle 1 das Gegenteil nahelegt. Im Hinblick auf diese Textgruppe müssen wir allerdings berücksichtigen, dass sie viele Bemerkungen enthält, die Wittgenstein in ein anderes Manuskript oder Typoskript derselben Textgruppe übernommen hat. Das Vorkommen von „Grammatik“ oder eines seiner Derivate in solchen Bemerkungen wurde entsprechend auch mehrfach gezählt. Auffällig ist weiterhin, dass Wittgensteins Gebrauch von „Grammatik“ im Laufe seines philosophischen Arbeitens zwar deutlich abnimmt, sein Gebrauch von „Logik“ – im Verhältnis zu „Grammatik“ – hingegen gegen Ende seines Lebens erneut zunimmt. Dies zeigt Tabelle 2.⁷⁰ Tab. 2: Anzahl der Instanzen von „Grammatik“ und „Logik“ in den Bemerkungen 1929/30, dem Big Typescript, den PU und den späten Manuskripten Grammatik (inkl. Derivate)
Logik (inkl. Derivate)
Bemerkungen /
(jedes . Wort)
(jedes . Wort)
Big Typescript
(jedes . Wort)
(jedes . Wort)
PU
(jedes . Wort)
(jedes . Wort)
Späte Manuskripte
(jedes . Wort)
(jedes . Wort)
Hier sieht man, dass Wittgenstein bei der Wiederaufnahme seines philosophischen Arbeitens weitaus häufiger von Logik als von Grammatik spricht – ein Verhältnis, das sich im Big Typescript radikal umkehrt. In den PU sind Grammatik und Logik annähernd gleich stark vertreten, wenn Wittgenstein auch „Grammatik“ ein wenig öfter verwendet als „Logik“. Die deutlichste Verschiebung des Verhältnisses von „Grammatik“ und „Logik“ zeigt sich schließlich in den späten Manuskripten, in denen Wittgenstein fast gänzlich davon ablässt, von Grammatik zu sprechen und stattdessen die Logik behandelt. Tatsächlich verwendet er „Logik“ zehnmal soviel wie „Grammatik“. Wittgensteins Gebrauch von „Logik“ und „logisch“ in den späten Manuskripten kommt seinem früheren Gebrauch von „Grammatik“ und „grammatisch“ bezeichnend nahe, was sich mitunter darin zeigt, dass er noch zur Zeit seiner
Die Angaben für „Logik“ sind analog denen für „Grammatik“ berechnet.
1.6 „Grammatik“ und „Logik“ im Nachlass
55
Arbeit an den PU grammatische Sätze empirischen Sätzen gegenüberstellt, in den späten Manuskripten jedoch zu einer Kontrastierung von Logik und Empirie übergeht. Ein weiteres Beispiel ist sein Übergang von der Formulierung „Grammatik der Farben“, die sich bis ins Big Typescript zieht, einerseits, und seiner Redeweise von der „Logik der Farbbegriffe“, die ausschließlich in den späten Manuskripten zu finden ist. Diese Beispiele werden in 4.2 genauer ausgeführt. Analog der in Abschnitt 1.5 vorgenommenen Unterscheidung der verschiedenen Verwendungsweisen von „Grammatik“ verwendet Wittgenstein in den späten Manuskripten den Begriff der Logik häufig im partikulären Sinn. So spricht er etwa von der „Logik der Farbbegriffe“ (Ms 173: 23v, 64r; Ms 176: 7r), der „Logik des Begriffs ‚wissen‘“ (Ms 173: 100r) oder der „Logik des Begriffes ‚weiß‘“ (Ms 173: 70v). Mit Ausnahme einer Bemerkung aus den Zetteln (Ts 233a: 38)⁷¹ spricht Wittgenstein an keiner anderen Stelle im Nachlass als in den späten Manuskripten von der Logik eines Begriffs. Allerdings gebraucht er im Nachlass auch nur zweimal den Ausdruck „Grammatik eines Begriffs“ (Ms 136: 80b, Ts 232: 673) und notiert in der großen Mehrheit der Fälle „Grammatik von …“, nicht „Grammatik des Begriffs …“. In den späten Manuskripten findet sich hingegen nicht die Redeweise von „Logik von …“ im partikulären Sinn, sondern lediglich die von der „Logik des Begriffs …“. Die genannte Zettelbemerkung ist dabei von besonderem Interesse, denn im Typoskript steht ursprünglich „Grammatik“, während „Logik“ erst nachträglich handschriftlich als mögliche Alternative hinzugefügt wurde. Keiner der beiden Begriffe ist durchgestrichen. Dies deutet darauf hin, dass sich Wittgenstein hier unsicher war, ob er von der Grammatik oder Logik eines Begriffs sprechen möchte. Leider lässt sich der Zeitpunkt dieses Schwankens jedoch nicht datieren. Analog zu der Differenzierung der Gebrauchsweisen von „Grammatik“ lassen sich schließlich auch Wittgensteins Gebrauchsweisen von „Logik“ im Nachlass unterscheiden. Auf die vier hier betrachteten Textgruppen verteilen sich diese Gebrauchsweisen wie in Tabelle 3 dargestellt.
„Was ist die Grammatik/Logik des Begriffs Abergefühl? – Es wird ja nicht ein Gefühl dadurch, dass ich es Gefühl nenne.“
56
1 Philosophisch-philologische Betrachtungen von Wittgensteins Grammatikbegriff
Tab. 3: Übersicht über die Häufigkeit der Verwendungsweisen von „Logik“ in den Bemerkungen 1929/30, dem Big Typescript, den PU und den späten Manuskripten Logik im allgemeinen Sinn
Logik im partikulären Sinn
Logik in anderem Sinn⁷²
Derivate von Insgesamt Logik
Bemerkungen /
-
Big Typescript
-
PU
Späte Manuskripte
-
Hieraus wird ersichtlich, dass Wittgenstein in allen vier Textgruppen am meisten das Adjektiv „logisch“ verwendet.⁷³ In den Bemerkungen 1929/30 und im Big Typescript ist die Konzentration auf die adjektivische Verwendung am deutlichsten: in 64,4 % bzw. 67,4 % der Instanzen von „Logik“ und seinen Derivaten gebraucht Wittgenstein das Adjektiv. Ebenso zeigt die Tabelle, dass Wittgensteins Gebrauchsweise von Logik im allgemeinen Sinn zunächst stark ab- und in den letzten Manuskripten wieder leicht zunimmt, während seine Verwendung von Logik im besonderen Sinn erst in den späten Manuskripten im Verhältnis mehr an Bedeutung gewinnt.
1.7 Zusammenfassung In diesem Kapitel wurde Wittgensteins Begriff von Grammatik von philologischphilosophischer Seite aus beleuchtet und es wurden die empirischen Daten untersucht, die sich mit Hilfe der digitalen Erfassung von Wittgensteins Nachlass gewinnen lassen. Zunächst wurde die Rolle der Grammatik in Wittgensteins Philosophie (vgl. 1.1) sowie die mit diesem Begriff verbunden Schwierigkeiten erläutert: Wittgenstein verwendet das Wort „Grammatik“ entgegen dem gewöhnlichen deutschen Sprachgebrauch (vgl. 1.3) und bietet uns keine klare De-
„Logik in anderem Sinn“ bezieht sich auf Textstellen, an denen Wittgenstein von dem Begriff der Logik spricht oder „Logik“ in Anführungszeichen setzt. Diese beiden Textstellen sind: Ts 227a/ b: 1 (PU Vorwort) und Ts 227a/b: 89 (PU 124). Die Derivate von „Logik“ sind meist eine Form des Adjektivs „logisch“.
1.7 Zusammenfassung
57
finition, sondern lediglich einige bildliche Charakterisierungen dieses Begriffs an. Diese wurden in Abschnitt 1.4 zusammengestellt. Um zu demonstrieren, dass Wittgensteins Gebrauch von „Grammatik“ vom herkömmlichen Gebrauch abweicht, wurden ferner die herkömmlichen und historischen Gebrauchsweisen von „Grammatik“ und „grammar“ zusammengetragen (vgl. 1.2). Dabei hat sich herausgestellt, dass sich Wittgensteins Grammatikbegriff am ehesten an dem englischen Sprachgebrauch von „grammar“ im übertragenen Sinn zu orientieren scheint, den u. a. John Henry Newman und Karl Pearson in ihren Werktiteln verwenden. Des Weiteren wurde in Abschnitt 1.5 die Unterscheidung der Verwendungsweisen von „Grammatik“ eingeführt, die im Folgenden einen differenzierten Blick auf Wittgensteins Grammatikbegriff erlauben wird: Grammatik im allgemeinen Sinn, d.i. die Grammatik unserer Sprache in ihrer Gesamtheit, und Grammatik im partikulären Sinn, d. i. die Grammatik eines Teils unserer Sprache, etwa eines Wortes oder Satzes. Abschließend wurde in Abschnitt 1.6 dargelegt, wie sich die Begriffe „Grammatik“ und „Logik“ auf ausgewählte einschlägige Textdokumente des Nachlasses verteilen. Während „Logik“ in den Bemerkungen 1929/30 klar dominiert, finden sich im Big Typescript mehr Instanzen von „Grammatik“ als von „Logik“. In den PU verwendet Wittgenstein beide Begriffe deutlich weniger als im Big Typescript, wobei eine leichte Vorherrschaft von „Grammatik“ gegenüber „Logik“ festzustellen ist. In den späten Manuskripten gebraucht Wittgenstein schließlich kaum noch den Begriff der Grammatik, dafür allerdings den Begriff der Logik in erhöhtem Maße. Diese Perspektiven auf Wittgensteins Grammatikbegriff und die gewonnen empirischen Daten bilden den Hintergrund für die übrigen drei Kapitel dieser Untersuchung. Viele Fragen sind aufgeworfen worden, und mit Sicherheit ließen sich viele weitere formulieren. Es wäre zu ambitioniert, sich ihnen allen zufriedenstellend widmen zu wollen. Zwei Fragen, die Wittgensteins philosophische Entwicklung betreffen, stechen jedoch besonders hervor: (1) Warum spricht Wittgenstein im Big Typescript soviel von Grammatik, gerade von der Grammatik im allgemeinen Sinn, während sein Gebrauch des Grammatikbegriffs in den PU deutlich abnimmt und außerdem eine Verschiebung hin zu einer Betonung von Grammatik im partikulären Sinn erfährt? (2) Warum nimmt Wittgensteins Gebrauch des Grammatikbegriffs in den späten Manuskripten radikal ab, während wir dort sehr häufig auf den Begriff der Logik stoßen? Auf die erste Frage wird am Ende des dritten Kapitels eine Antwort formuliert werden. Die zweite Frage wird im vierten Kapitel aufgegriffen und beantwortet.
2 Von der Logik zur Grammatik: Logisch-philosophische Abhandlung und Bemerkungen 1929/30 Wittgensteins Grammatikverständnis steht in unmittelbarer Nachfolge seines Logikbegriffs des TLP. Der vorliegende Abschnitt soll die enge Verwandtschaft beider Begriffe in Wittgensteins Philosophie unterstreichen und verdeutlichen, dass bei der Untersuchung der wittgensteinschen Grammatik auch seine Auffassung von Logik und logischer Syntax in Betracht gezogen werden muss. Dieser Gedanke ist auch hinsichtlich der Manuskripte Mss 172– 177 von Bedeutung, da Wittgenstein in seinen letzten Aufzeichnungen häufiger von Logik anstelle von Grammatik spricht und sich folglich die Frage nach dem Verhältnis beider Begriffe zueinander stellt. Am Ende des vorliegenden Kapitels wird, so hoffe ich, klar geworden sein, dass und in welcher Weise sich Wittgensteins Grammatikbegriff direkt aus seiner Frühphilosophie heraus entwickelt hat, und dass er nur vor diesem Hintergrund umfassend verstanden werden kann. Im TLP spielt Grammatik eine untergeordnete Rolle und Logik steht im Mittelpunkt der Untersuchung. Auch hatte die philologische Betrachtung im ersten Teil dieser Untersuchung ergeben, dass Wittgenstein nach der Wiederaufnahme seiner philosophischen Tätigkeit in Cambridge 1929 häufiger von Logik als von Grammatik spricht. Allerdings begegnet uns die Grammatik bereits in seinen Notizen, die er kurz nach seiner Ankunft in Cambridge verfasste. Von da an rückt sie mehr und mehr ins Zentrum der Betrachtung, bis sich das Verhältnis der Häufigkeit des Vorkommens von „Logik“ und „Grammatik“ im Big Typescript radikal umkehrt und Grammatik zum vorherrschenden Begriff wird. Diese Entwicklungslinie suggeriert, dass Wittgenstein in den Jahren 1929/30 allmählich seine logische Betrachtung durch eine grammatische ablöst. Philosophisch lässt sich zeigen, dass genau dies der Fall ist. Den Übergang von Logik und logischer Syntax zu Grammatik werde ich hier skizzieren. Dabei werfe ich zunächst einen Blick auf Wittgensteins Frühphilosophie – die „Notes on Logic“, die frühen Tagebuchnotizen und die Logisch-philosophische Abhandlung –, bevor ich mich der Frage zuwende, warum Wittgenstein in den Jahren 1929 und 1930 beginnt, dem Begriff der Grammatik größere Bedeutung zuzumessen. Als Grundlage für die Untersuchung von Wittgensteins Philosophie in den Jahren 1929 und 1930 dienen die Texte, die er 1929 und 1930 sowohl begann als auch fertigstellte. Textdokumente, die er 1930 begann und 1931 weiterführte, werden ausgeklammert. Konkret handelt es sich um die Manuskripte 105 bis 108 sowie die Typoskripte 208 und 209. Dies entspricht dem, was ich im ersten Kapitel https://doi.org/10.1515/9783110565164-006
2 Von der Logik zur Grammatik
59
„Bemerkungen 1929/30“ genannt habe. Der größte Teil der Bemerkungen, die Rush Rhees in der Buchedition der Philosophischen Bemerkungen (PB) herausgegeben hat, fallen genau in diese Zeit.¹ Zusätzlich zu diesen Textdokumenten werden auch Waismanns Notizen der Gespräche mit Wittgenstein und Schlick aus den Jahren 1929 und 1930 sowie die Notizen Desmond Lees und G. E. Moores zu Wittgensteins Vorlesungen dieser Zeit in dieser Arbeit Berücksichtigung finden.² Infolge dieser Darstellung ließe sich mit einiger Rechtfertigung von den Bemerkungen 1929/30 insgesamt als den Philosophischen Bemerkungen sprechen. Dies werde ich jedoch nicht tun, denn die Jahre 1929 und 1930 bilden in Wittgensteins Denken keine Einheit, obgleich dies durch die Textgenese so den Anschein haben mag. Tatsächlich gibt Wittgenstein jedoch im Oktober 1929 sein zu Anfang desselben Jahres begonnenes phänomenologisches Projekt auf und wendet sich der Umgangssprache zu. Dies ist ein wichtiger Schritt in seiner philosophischen Entwicklung, insbesondere im Hinblick auf seinen Grammatikbegriff. Infolgedessen wird in Abschnitt 2.2 der Zeitabschnitt von Februar bis Ende Oktober 1929, in Abschnitt 2.3 der Zeitabschnitt von Ende Oktober 1929 bis Ende 1930 betrachtet. Der Titel „Philosophische Bemerkungen“ stammt darüber hinaus nicht von Rush Rhees, sondern von Wittgenstein selbst, der ihn, gemäß der BEE, sowohl auf den Vorsatzblättern seiner Manuskriptbände Ms 105, Ms 106 und Ms 108 als auch auf dem Deckblatt des Typoskripts Ts 209 verwendete.³ Bei Ts 209 handelt es sich um „eine Anordnung von Zetteln aus einem Durchschlag der Synopse TS 208, die Wittgenstein in neuer Ordnung in ein Schreibbuch eingeklebt und durch handschriftliche Zusätze ergänzt hat.“ (Nedo 1994: IX) Entweder dieses „Buch“ (Nedo
Zur Zusammensetzung der PB siehe Biggs & Pichler 1993. Der Hauptteil der PB entspricht den Bemerkungen in Ts 209, das Vorwort ist Ms 109 entnommen, der Anhang stammt vermutlich aus den Tss 214a, 215a und 215b. Für eine übersichtliche Darstellung der Textgenese siehe Nedo 1994: IX. Für eine gründliche, und Nedo teilweise widersprechende Untersuchung der Textgenese von Ts 208 und Ts 209 siehe Pichler 1994: 31– 59. Waismanns Notizen zu den Gesprächen während dieser Zeit sind in WWK veröffentlicht. Die Notizen zu Wittgensteins ersten Vorlesungen in Cambridge hat Desmond Lee 1980 herausgegeben (LWL). Moores Vorlesungsnotizen sind umfassend von David Stern et al. 2016 herausgegeben worden (MWN). Der Sammelband Philosophical Occasions 1912 – 1951, herausgegeben und eingeleitet von James C. Klagge und Alfred Nordmann, enthält Moores Erinnerungen an Wittgensteins Vorlesungen (MWL). In deutscher Übersetzung durch Joachim Schulte sind sie 1989 erschienen. Wittgensteins „Vortrag über Ethik“ fällt ebenfalls in diese Zeit, wird jedoch in dieser Untersuchung unerwähnt bleiben da er zu der Entwicklung des Grammatikbegriffs nichts Wesentliches beiträgt. Ms 107 trägt den Titel „Philosophische Betrachtungen“. Zu Wittgensteins Werktiteln vgl. Keicher 2008: 198.
60
2 Von der Logik zur Grammatik
1994: IX), vermutlich jedoch Ts 208 (Pichler 1994: 58) hatte Wittgenstein Ende April 1930 Russell vorgelegt, damit dieser eine Beurteilung von Wittgensteins bisherigen Arbeiten für den Zweck eines weiteren Stipendiums für Wittgenstein verfassen konnte. Da auch Bemerkungen aus der Zeit vor Ende Oktober 1929 Eingang in Ts 208 und Ts 209 finden,⁴ werde ich die Bezeichnung Philosophische Bemerkungen ausschließlich für die Buchedition verwenden und von den „Bemerkungen 1930“ sprechen, wenn ich mich auf Textstellen aus der Zeit vom 23. Oktober 1929 bis 31. Dezember 1930 beziehe. Dieser Festlegung zufolge bezieht der Ausdruck „Bemerkungen 1930“ also die Bemerkungen von Ende 1929 mit ein.
2.1 Grammatik, Syntax und Logik in Wittgensteins Frühphilosophie Wittgenstein verwendet in seiner Frühphilosophie⁵ nicht nur die Begriffe „Grammatik“ und „Logik“, sondern auch die Begriffe „Syntax“ und „Sprachlogik“. Für den Zweck dieser Untersuchung werde ich hier nicht seine gesamte Frühphilosophie erläutern, sondern vielmehr die relevanten Aspekte derselben skizzieren, die genannten Begriffe kurz beleuchten und sie in Zusammenhang zueinander stellen.⁶
Dies liegt in Wittgensteins Arbeitsweise begründet. Die Tatsache, dass er frühere Bemerkungen in spätere Texte übernimmt, bedeutet nicht notwendig, dass er seine frühere Auffassung beibehalten hat. Vielmehr sind seine Bemerkungen immer in ihrem Zusammenhang zu sehen und können, je nach Kontext, in verschiedenem Licht erscheinen. Rhees schreibt dazu in seinen Anmerkungen zur Philosophischen Grammatik: „Wenn Wittgenstein hier einen Absatz schreibt, der schon in den Philosophischen Bemerkungen steht, so heißt das nicht, daß er hier nur wiederholt, was er dort gesagt. (Wir wissen aber, daß über diese Frage noch viel zu sagen wäre.)“ (Rhees 1984a: 488) Nedo deutet die Typoskripte Wittgensteins als „Synopsen“ seiner handschriftlichen Notizen: „Wittgensteins philosophische Methode des Fortschreitens in Bemerkungen führt immer wieder dazu, daß er seine ursprünglichen Gedankenwege in ‚Synopsen‘ zusammenfaßt. Die in der Regel von ihm selbst in die Schreibmaschine diktierten Typoskripte stellen also gegenüber den Manuskripten keine verbesserten Textfassungen dar. Vielmehr bieten sie einen Überblick über das in den Manuskripten begangene Terrain, vergleichbar einer Landkarte im Verhältnis zur Landschaft selbst.“ (Nedo 1994: X) Mit dem Ausdruck „Frühphilosophie“ meine ich entsprechend einer rein zeitlichen Einteilung Wittgensteins Philosophie vor 1929. Mein Anliegen in dieser Untersuchung ist es nicht, mich an der sogenannten Resolute ReadingDebatte zu beteiligen. Ohne den Wert und die Bedeutung dieser Diskussion – sowie der Beiträge von James Conant, Cora Diamond und anderen Vertretern des „New Wittgenstein“ – schmälern zu wollen, bleiben mir bei ihrer Interpretation des TLP einige Zweifel. Mein Verständnis des TLP ist hauptsächlich von der Lesart geprägt, die man gemeinhin als „traditionell“ bezeichnet. Für eine
2.1 Grammatik, Syntax und Logik in Wittgensteins Frühphilosophie
61
In Wittgensteins Bemerkungen aus der Zeit vor 1929 begegnet uns der Begriff der Grammatik dreimal, während sich Derivate von „Grammatik“ an keiner Stelle finden. Zum ersten Mal stoßen wir im September 1913 in den „Notes on Logic“ (NL) auf Grammatik: „Distrust of grammar is the first requisite for philosophizing.“ (Ts 201 a1: B21; Ts 201 a2: B22) Es ist naheliegend, dass Wittgenstein hier mit „grammar“ die Grammatik der Alltagssprache meint und sich am herkömmlichen Sprachgebrauch des Wortes orientiert. Er misstraut der Alltagssprache mit ihrer Grammatik und bevorzugt eine logisch eindeutige Sprache zur Klärung philosophischer Probleme. In einer Tagebuchnotiz vom September 1914 spricht er zum zweiten Mal von Grammatik: ,Es ist gut dass p‘ kann wohl analysiert werden in ,p · es ist gut wenn p‘ Wir setzen voraus: p sei nicht der Fall: Was heißt es dann zu sagen ,es ist gut dass p‘? Wir können ganz offenbar sagen, der Sachverhalt p sei gut, ohne zu wissen, ob p wahr oder falsch ist. Der Ausdruck der Grammatik: ,Ein Wort bezieht sich auf ein anderes‘ wird hier beleuchtet. (Ms 101: 22r-23r)
Hier scheint sein Grammatikbegriff bereits von unserem herkömmlichen abzuweichen, denn der Satz „Ein Wort bezieht sich auf ein anderes“ gehört gemäß unserem Alltagsverständnis (vgl. 1.2) nicht zur Grammatik. Wir können ihn uns allenfalls als Teil einer Schulgrammatik denken, die mit diesen Worten etwa den Gebrauch von Pronomina, Adjektiven und Adverbien erläutert. Wittgenstein verwendet „Grammatik“ hier im allgemeinen Sinn. Er untersucht nicht die Grammatik eines bestimmten Wortes oder Ausdrucks, sondern differenziert zwischen Teilen der Grammatik: Der Ausdruck „Ein Wort bezieht sich auf ein anderes“ ist nicht nur den grammatischen Regeln gemäß gebildet, sondern gehört zur Grammatik. Grammatik besteht für Wittgenstein somit zumindest partiell aus Ausdrücken. Aus dem Kontext dieser Notiz ergeben sich jedoch keine weiteren Aufschlüsse über diese frühe Auffassung von Grammatik, die sich auch nicht in das Bild fügt, das die weitere Betrachtung ergeben wird, nämlich die Gegenüberstellung der irreführenden Alltagsgrammatik und der klar darstellenden logischen Grammatik.Wittgenstein übernimmt diese Tagebuchnotiz weder in den TLP noch in den sogenannten Prototractatus (PT).⁷
zusammenfassende Übersicht der Beiträge der Resolute Readers und ihrer Kritiker siehe Bronzo 2012. Der Prototractatus (Ms 104) ist eine frühe, handschriftliche Version des TLP aus dem Sommer (Juli und August) 1918. Die Veröffentlichung des Textes von McGuinness et al. 1971 enthält eine
62
2 Von der Logik zur Grammatik
Zum dritten Mal begegnen wir der Grammatik in einer Bemerkung des PT (Ms 104: 54), die Wittgenstein in überarbeiteter Form in den TLP übernommen hat: Um diesen Irrtümern zu entgehen, müssen wir eine Zeichensprache verwenden, welche sie ausschließt, indem sie nicht das gleiche Zeichen in verschiedenen Symbolen, und Zeichen, welche auf verschiedene Art bezeichnen, nicht äußerlich auf gleiche Art verwendet. Eine Zeichensprache also, die der logischen Grammatik – der logischen Syntax – gehorcht. (TLP 3.325)
Wie in den „Notes on Logic“ geht es ihm auch hier darum, durch die Alltagssprache hervorgerufenen Irrtümern mittels der Verwendung einer Sprache, die nicht der alltäglichen, sondern der logischen Grammatik folgt, zu entgehen. Wittgenstein führt den Begriff der logischen Grammatik ein, um sie klar von der Alltagsgrammatik zu unterscheiden. Doch da ihm das Attribut „logisch“ als Abgrenzung offenbar nicht ausreicht, nennt er die logische Grammatik „logische Syntax“. Es handelt sich hierbei folglich um die begriffliche Einführung der logischen Syntax in den TLP.⁸ Im PT sehen wir, dass Wittgenstein an besagter Stelle zuerst „der logischen Syntax“ notierte, „Syntax“ jedoch wieder strich und durch „Grammatik“ ersetzte, gefolgt von „– der logischen Syntax“ (s. Abb. 2).
Abb. 2: Ausschnitt aus Ms 104: 54 Gemäß der Nummerierung der Bodleian Libraries: MS. German d. 7, fol. 28v. Abgebildet mit der freundlichen Erlaubnis von The Bodleian Libraries, University of Oxford; The Master and Fellows of Trinity College, Cambridge, und der Universität Bergen, Bergen.
Wittgenstein möchte also nicht von logischer Syntax sprechen, ohne sie vorher als logische Grammatik eingeführt zu haben. Diese Lesart wird durch die Tatsache gestützt, dass er im TLP die Betonung von „logisch“ vor „Grammatik“
historische Einführung in den PT von von Wright (von Wright 1971). Vgl. auch Kang 2005 und Bazzocchi 2010. Ich danke Christian Erbacher für seine Anregung zu dieser Lesart.
2.1 Grammatik, Syntax und Logik in Wittgensteins Frühphilosophie
63
beibehält, während er „logisch“ vor „Syntax“ nicht mehr hervorhebt: „Logische Syntax“ ist ein Fachbegriff, der als Grammatik, nämlich logische Grammatik, bestimmt wird. Für die Interpretation dieser Textstelle als Begriffseinführung spricht ferner die Tatsache, dass Wittgenstein von hier an durchgängig im TLP den Begriff der logischen Syntax verwendet und ausschließlich an dieser einen Stelle von logischer Grammatik spricht.⁹ Der Gedanke dieser Bemerkung ist, dass wir, um nicht von der Sprache in die Irre geleitet zu werden, einer Zeichensprache bedürfen, die die Regeln der logischen Syntax befolgt. Das Ziel der Vermeidung sprachlicher Missverständnisse ist ein Grundthema des TLP, das Wittgenstein bereits in seinem Vorwort formuliert – „Das Buch behandelt die philosophischen Probleme und zeigt – wie ich glaube – daß die Fragestellung dieser Probleme auf dem Mißverständnis der Logik unserer Sprache beruht.“ (TLP Vorwort) – und in den Erläuterungen zum vierten Hauptsatz wieder aufgreift: „Die Umgangssprache ist Teil des menschlichen Organismus und nicht weniger kompliziert als dieser. Es ist menschenunmöglich, die Sprachlogik aus ihr unmittelbar zu entnehmen.“ (TLP 4.002) Philosophische Probleme versteht er daran anknüpfend als Missverständnisse, nicht unserer Sprache, sondern unserer Sprachlogik, denn „[d]ie meisten Fragen und Sätze der Philosophen beruhen darauf, daß wir unsere Sprachlogik nicht verstehen.“ (TLP 4.003).¹⁰ Eine Zeichensprache, die den Regeln der logischen Syntax folgt, soll demgegenüber unsere Sprachlogik klar darlegen und auf diese Weise philosophische Probleme als Missverständnisse entlarven. Unter der logischen Syntax lassen sich folglich die versteckten Regeln unserer Sprachlogik verstehen, die durch logische Analyse aufgedeckt werden.¹¹ Entscheidend ist, dass die logische Syntax aus anderen Regeln besteht als die
Auf den Begriff „Syntax“ bzw. „logische Syntax“ stoßen wir in sechs Bemerkungen von Wittgensteins Frühphilosophie. Fünf davon erscheinen im Prototractatus und im TLP (3.325, 3.33, 3.334, 3.344, 6.124), eine lediglich als Tagebuchnotiz (Ms 101: 20r). Ebenso wie im Falle der Grammatik spricht Wittgenstein erst im Prototractatus und im TLP von logischer Syntax, dort jedoch durchgängig. Dasselbe gilt für das Adjektiv „syntaktisch“, das Wittgenstein vor Abfassung des TLP ohne das Attribut „logisch“ gebraucht (vgl. Ms 101: 8r; Ms 102: 114r, 116r, 146r, 149r, 163r, 164r; Ms 104: 58, 60), im TLP hingegen mit diesem Attribut, obgleich dort nur ein einziges Mal (TLP 3.327). In der Tagebuchnotiz vom Juni 1914, die keinen Eingang in den TLP findet (Ms 101: 20r), ist unter „Syntax“ ebenfalls die unter der Alltagssprache verborgene logische Struktur der Sätze zu verstehen, die erst durch Analyse zutage tritt. Syntax ist somit bereits 1914 logische Syntax, auch wenn sie dieses Attribut erst später erhält. Die drei gerade zitierten Stellen sind die einzigen in Wittgensteins Frühphilosophie, an denen er von „Sprachlogik“ bzw. von der „Logik unserer Sprache“ spricht: TLP Vorwort, TLP 4.002 und TLP 4.003. Vgl. hierzu etwa Glock 1996: 223 ff.
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2 Von der Logik zur Grammatik
Grammatik der Alltagssprache, welcher Wittgenstein bereits 1913 misstraute (Ms 101: 22r-23r). Wittgenstein stellt also der Grammatik der Alltagssprache die Grammatik einer Zeichensprache gegenüber, welche den Regeln unserer Sprachlogik folgt. Logik wird für Wittgenstein im TLP zu Sprachlogik, und Philosophie zu „Sprachkritik“ (TLP 4.0031), da sie mittels logischer Analyse die Logik unserer sprachlichen Ausdrücke offenlegt. Als Notation dient dabei ein Symbolismus, der den Regeln der logischen Syntax folgt. Wird die Logik traditionell als Lehre des vernünftigen Schlussfolgerns verstanden, so distanziert sich Wittgenstein explizit von dieser Auffassung, wenn er erklärt: „Die Logik ist keine Lehre, sondern ein Spiegelbild der Welt. Die Logik ist transzendental“ (TLP 6.13).¹² Nehmen wir, um Wittgensteins Weltbegriff zu berücksichtigen, TLP 1: „Die Welt ist alles, was der Fall ist“ und TLP 1.1: „Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge“ hinzu, so wird deutlich, dass Wittgenstein die Logik als Spiegelbild der Gesamtheit der Tatsachen, als Spiegelbild der bestehenden Sachverhalte, auffasst.¹³ Doch Logik ist mehr noch als ein Spiegelbild der Welt, denn der Welt als der Gesamtheit aller bestehenden Sachverhalte steht der logische Raum, der Raum aller möglichen Sachverhalte, gegenüber. Nur Zeichenverbindungen, die einen möglichen Sachverhalt im logischen Raum abbilden, haben Sinn, während unsinnige Zeichenverbindungen genau darum unsinnig sind, weil sie keine möglichen Sachverhalte darstellen.¹⁴ Wittgenstein geht es im TLP also nicht um die Unterscheidung von Wahrheit und Falschheit, sondern von Sinn und Unsinn. Er will „dem Ausdruck der Gedanken“ eine Grenze ziehen, „und was jenseits der Grenze liegt, wird einfach Unsinn sein.“ (TLP Vorwort) Durch die logische Analyse eines Satzes, das heißt durch das Aufdecken seiner logischen Syntax und deren Darstellung vermittels einer geeigneten Zeichensprache, wird erkennbar, ob der Satz sinnvoll oder unsinnig ist. Damit beschreiben die Regeln der logischen Syntax die Grenze des sinnvoll-Sagbaren.¹⁵
Wittgensteins Verwendung des Wortes „transzendental“ ist häufig zum Anlass genommen worden, den TLP im kantischen Sinne zu lesen (vgl. etwa Glock 1996: 199; Stenius 1996: 218 f; Stetter 1999: 406). Gegen diese „transzendentale“ Deutung des TLP argumentiert Stefan Majetschak (2000: 101 ff). „Was der Fall ist, die Tatsache, ist das Bestehen von Sachverhalten.“ (TLP 2) Neben sinnvollen und unsinnigen unterscheidet Wittgenstein auch sinnlose Sätze. Dies sind Tautologien und Kontradiktionen (TLP 4.461 ff). Zu ihnen zählen die Sätze der Logik. Die Sätze der Mathematik sind denen der Logik verwandt. (Vgl. TLP 6.1 ff und TLP 6.2 ff) Später, im Jahr 1930, wird Wittgenstein sagen, dass die mathematischen Sätze dem gleichen, „was die Tautologie [der logische Satz] zeigt.“ (WWK 106 f) Vgl. Glock 1996: 199: „These limits [of thought] are set by logical syntax, the system of rules which determines whether a combination of signs is meaningful.“
2.1 Grammatik, Syntax und Logik in Wittgensteins Frühphilosophie
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Die Verbindung von Sprache und Welt sieht Wittgenstein in der Vorraussetzung der Logik, „daß Namen Bedeutung, und Elementarsätze Sinn haben“. (TLP 6.124) Er fährt fort: Es ist klar, daß es etwas über die Welt anzeigen muß, daß gewisse Verbindungen von Symbolen – welche wesentlich einen bestimmten Charakter haben – Tautologien sind. Hierin liegt das Entscheidende. Wir sagten, manches an den Symbolen die wir gebrauchen wäre willkürlich, manches nicht. In der Logik drückt nur dieses aus: das heißt aber, in der Logik drücken nicht wir mit Hilfe der Zeichen aus, was wir wollen, sondern in der Logik sagt die Natur der naturnotwendigen Zeichen selbst aus. (TLP 6.124)
Hier findet sich bereits der Gedanke der Willkürlichkeit, der uns auch in Wittgensteins späteren Texten als die Willkürlichkeit der Grammatik begegnen wird. Im TLP sind für Wittgenstein die Zeichen einer Zeichensprache (TLP 3.322), d. h. „etwas“ an der Notation (TLP 3.342), an den Symbolen (TLP 6.124) willkürlich. Es gibt nicht nur eine adäquate Notation, die wir verwenden müssen, doch jede für den Zweck der logischen Analyse geeignete Notation spiegelt die Welt; anders ausgedrückt, die Welt und die Notation haben dieselbe logische Form (TLP 2.18). Die gerade zitierte Bemerkung schließt mit den Worten: „Wenn wir die logische Syntax irgendeiner Zeichensprache kennen, dann sind bereits alle Sätze der Logik gegeben.“ (TLP 6.124) Diese Aussage ist für das Verständnis der logischen Syntax von Bedeutung, denn sie betont noch einmal die enge begriffliche Verknüpfung von Logik und logischer Syntax: Wenn wir die logische Syntax einer Zeichensprache kennen, so kennen wir alle logischen Sätze. Logische Sätze sind Regeln der logischen Syntax, so dass, wenn wir alle Regeln kennen, wir alle logischen Sätze kennen. Die Gesamtheit der logischen Sätze können wir folglich der logischen Syntax als Regelwerk gleichsetzen. Die Regeln der Syntax sind ferner als Tautologien nichtssagend, also sinnlos. Sinnvolle Sätze hingegen sind Sätze „irgendeiner Zeichensprache“, die den Regeln der logischen Syntax nach geformt sind und damit eine Position im logischen Raum einnehmen. Während die Logik für Wittgenstein Spiegelbild der Welt ist (TLP 6.13), ist die logische Syntax – die logische Grammatik – die Gesamtheit des zeichensprachlichen Ausdrucks der Logik, und somit in ihrer Gesamtheit das zeichensprachlich gefasste Abbild der Welt.¹⁶
Gemäß dem TLP ist die Logik nicht nur „weltspiegelnd“ (TLP 5.511), sondern sie erfüllt auch die Welt, wobei die Grenzen der Welt ebenfalls die Grenzen der Logik bedeuten (TLP 5.61). In diesen wie den darauf folgenden Bemerkungen des TLP offenbart sich dessen mystischer Charakter.
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2 Von der Logik zur Grammatik
2.2 Syntax und Grammatik Anfang 1929 2.2.1 Biographisches Wittgenstein glaubte, mit dem TLP „die Probleme im Wesentlichen endgültig gelöst zu haben.“ (TLP Vorwort) Entsprechend zog er sich als Volksschullehrer ins ländliche Niederösterreich zurück und versuchte sich später, ab Herbst 1926, als Architekt für das Haus seiner Schwester Margarethe in Wien. (WWK 14) Der bereits 1921 veröffentlichte TLP fand währenddessen großen Anklang in der Philosophie seiner Zeit und beeinflusste insbesondere den Wiener Kreis, der vermittels Moritz Schlicks erstmal im Dezember 1924 an Wittgenstein herantrat, um ihn zu philosophischen Gesprächen einzuladen. (WWK 13) Zu einem ersten Treffen mit Schlick kam es jedoch erst mehr als zwei Jahre später, im Februar 1927 (WWK 14).¹⁷ Gleichzeitig wurde der TLP auch in England publiziert (1922) und gelesen. Der Student Frank Ramsey verfasste die erste Rezension des Werkes (Ramsey 1923) und besuchte Wittgenstein in den Jahren 1923 und 1924 mehrmals in Österreich, um es mit ihm zu diskutieren (WWK 12), woraufhin Wittgenstein im August 1925 Ramsey in England aufsuchte. (McGuinness 2008: 5) Ein Brief Wittgensteins an John Maynard Keynes vom Juli 1924 verdeutlicht jedoch seine noch immer ablehnende Haltung gegenüber der philosophischen Beschäftigung, die sich wohl auch nach seinem Besuch in England nicht geändert hatte: Sie schreiben, ob Sie etwas tun können, um mir wieder wissenschaftliches Arbeiten zu ermöglichen: Nein, in dieser Sache läßt sich nichts machen; denn ich habe selbst keinen starken innerlichen Trieb mehr zu solcher Beschäftigung. Alles, was ich wirklich sagen musste, habe ich gesagt und damit ist die Quelle vertrocknet. Das klingt sonderbar, aber es ist so. (Nr. 106 in McGuinness 2008)
Obwohl sich Wittgenstein also aus dem akademischen Umfeld zurückgezogen hatte, stand er weiterhin im regelmäßigen Austausch mit Philosophen seiner Zeit, insbesondere in den Jahren 1927 und 1928, in denen es zu mehreren Treffen mit Mitgliedern des Wiener Kreises kam. (WWK 15 f) Ein Vortrag von Luitzen E. J. Brouwer im Frühling 1928 mit dem Titel „Mathematics, Science and Language“ könnte ihn schließlich dazu bewogen haben, seine philosophische Tätigkeit
Der Briefwechsel zwischen Schlick und Wittgenstein ist in den Wittgenstein-Studien veröffentlicht worden (Iven 2015). Das Verhältnis von Schlick und Wittgenstein untersucht Engler im selben Band (Engler 2015).
2.2 Syntax und Grammatik Anfang 1929
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wieder aufzunehmen.¹⁸ Am 18. Januar 1929¹⁹ reiste er zurück nach Cambridge und entschied sich zu bleiben. (Nedo 1994: VII, WWK 17) Bald darauf promovierte er bei Ramsey (Monk 1990: 278), wobei ihm der TLP als Dissertation diente. Bereits kurz nach seiner Ankunft in Cambridge beginnt er, seine philosophischen Gedanken in Bänden niederzuschreiben.²⁰ Gemäß der Standardauffassung markiert Wittgensteins Rückkehr nach Cambridge den Beginn der zweiten Phase seines philosophischen Arbeitens, das schließlich mit dem Verfassen der PU seinen Höhepunkt erreicht. Dies ist nicht ganz unrichtig, doch kann diese Auffassung schnell in die Irre leiten, denn sie suggeriert erstens einen radikalen Bruch in Wittgensteins Philosophie zwischen einer ersten und einer zweiten Phase, und zweitens eine geradlinige Entwicklung seines Denkens von 1929 bis hin zu den PU. Beides ist problematisch, denn, wie gerade beschrieben, setzte sich Wittgenstein auch während seiner Zeit in Österreich mit den Kommentaren zum TLP auseinander. Entsprechend beginnt er in Cambridge nicht etwas völlig Neues, sondern reagiert unter anderem auf Ramseys Kritik an seinem Werk. Sieht man sich ferner seine Schriften aus der Zeit zwischen 1929 und der Zeit seiner Arbeit an den PU an, so wird man feststellen, dass sein Denkweg nicht einer klaren Linie folgt, sondern sich oft verzweigt, wobei einige Pfade weiterverfolgt, andere vernachlässigt, und wiederum andere aufgegeben werden. Die ersten Bemerkungen nach seiner Rückkehr nach Cambridge notiert Wittgenstein in Band I (Ms 105), beginnend am 02. Februar 1929. Darin lesen wir gleich zu Beginn, dass er und Ramsey ihre in Österreich begonnenen Diskussionen miteinander fortsetzten: Vgl. etwa Paul 2007: 10. Monk zitiert dazu Herbert Feigl, der Wittgenstein gemeinsam mit Friedrich Waismann zu Brouwers Vortrag begleitete und im Anschluss daran mit ihm darüber diskutierte: „ […] es war faszinierend, welcher Wandel an diesem Abend in Wittgenstein vor sich gegangen war … Er wurde äußerst redselig und begann, Ideen zu skizzieren, die er in späteren Schriften ausführte … An jenem Abend kehrte sein tiefes philosophisches Interesse zurück, öffnete er sich wieder für die Philosophie.“ (Monk 1990: 269) Zu Wittgensteins philosophischer Beziehung zu Brouwer vgl. Marion 2003: 103. Wir kennen das genaue Datum aus einem Brief, den John Maynard Keynes an seine Frau Lydia verfasste. Darin schreibt er: „Well, God has arrived. I met him on the 5.15 train.“ (Zitiert nach Monk 1990: 275.) Für einige philologische Details vgl. Pichler (2004: 43 ff) und Kienzler (1997: 81 ff): „Nach seiner Rückkehr nach Cambridge im Januar 1929 beginnt Wittgenstein zum ersten Mal seit über zehn Jahren wieder damit, seine philosophischen Gedanken in geordneter Form schriftlich festzuhalten. Er schreibt die Ergebnisse jedes Tages in große Manuskriptbände, die er fortlaufend nummeriert, in der Regel mit einem Datum und teilweise mit Titeln versieht. Aus den ersten vier dieser Bände diktiert Wittgenstein im Frühjahr 1930 eine Maschinenschrift, die eine die originale Reihenfolge beibehaltende Auswahl aus den Bänden darstellt. […]“ (Kienzler 1997: 81)
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2 Von der Logik zur Grammatik
Ich habe sehr genussreiche Diskussionen mit Ramsey über Logik etc. Sie haben etwas von einem kräftigen Sport und sind, glaube ich, in einem guten Geist geführt. Es ist etwas Erotisches und Ritterliches darin. Ich werde dabei auch zu einem gewissen Mut im Denken erzogen. Es kann mir beinahe nichts Angenehmeres geschehen, als wenn mir jemand meine Gedanken gleichsam aus dem Mund nimmt und sie gleichsam im Freien aufrollt. Natürlich ist das mit viel Eitelkeit gemischt, aber es ist nicht pure Eitelkeit. (Ms 105: 4)
Wie Wittgenstein später erklärt, hat Ramsey bei diesen Treffen seine Kritik am TLP vorgetragen, die wir in ihren Grundzügen schon in seiner Rezension des Werkes finden. Im Vorwort zu den PU misst Wittgenstein dieser Kritik große Bedeutung bei: Seit ich nämlich vor 16 Jahren mich wieder mit Philosophie zu beschäftigen anfing, mußte ich schwere Irrtümer in dem erkennen, was ich in jenem ersten Buche niedergelegt hatte. Diese Irrtümer einzusehen hat mir – in einem Maße, das ich kaum selbst zu beurteilen vermag – die Kritik geholfen, die meine Ideen durch Frank Ramsey erfahren haben – mit welchem ich sie während der letzten zwei Jahre seines Lebens in zahllosen Gesprächen erörtert habe. (PU Vorwort)²¹
Angeregt von Ramseys Kritik hat Wittgenstein also „schwere Irrtümer“ im TLP eingesehen. Doch dies ist kein Beleg dafür, dass er 1929 eine gänzlich neue Richtung einschlägt, sondern vielmehr dafür, dass er in Cambridge direkt an seine im TLP ausgedrückten Auffassungen anknüpft.²² Wie Mauro Engelmann überzeugend darlegt, beginnt Wittgenstein zunächst mit dem Versuch einer Ergänzung des TLP, die ihn schließlich, weil sie sich als nicht zielführend erweist, zu
Wie Kienzler feststellt, war Wittgensteins Einschätzung der Diskussionen mit Ramsey zu der Zeit, als sie geführt wurden, jedoch weitaus weniger positiv. (Kienzler 1997: 57 ff) Nedo beschreibt Wittgensteins Wiederaufnahme der philosophischen Tätigkeit als direkt an die Gespräche mit Schlick anknüpfend: „Wie der Brief an Schlick vom 18. Februar 1929 bereits andeutet, ist die philosophische Arbeit in Cambridge eine Fortsetzung der Arbeiten, die mit dem ersten Zusammentreffen mit Schlick am 19. Februar 1927 in Wien begonnen hatten.“ (Nedo 1994: VII) Entsprechend stellt Nedo fest, dass Wittgenstein 1929 die Diskussionsthemen der Gespräche mit den Mitgliedern des Wiener Kreises wieder aufnimmt: „Der I. Band Philosophische Bemerkungen beginnt mit direkten Bezügen zu den Diskussionsthemen des Wiener Kreises, d. h. mit Fragen zu den Grundlagen der Mathematik und Bemerkungen zur ‚Phänomenologie’ (Immanzenphilosophie) von Ernst Mach.“ (Nedo 1994: VIIf) In der Tat spielen Überlegungen zur Mathematik dieser Zeit eine große Rolle in Wittgensteins Notizen. Die Nähe dieser Notizen zum TLP ist überdies unverkennbar, was nicht zu verwundern braucht, weil selbiger mit großer Sicherheit auch Gegenstand der Gespräche mit Mitgliedern des Wiener Kreises gewesen war, die im TLP eine wichtige Grundlage ihrer eigenen Arbeiten gesehen haben.
2.2 Syntax und Grammatik Anfang 1929
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neuen Überlegungen leitet. (Engelmann 2013b: 6 – 64) Auch Wittgensteins Essay Some Remarks on Logical Form (RLF), den er für die gemeinsame Sitzung der Aristotelian Society und der Mind Association im Juli 1929 verfasste,²³ und der inhaltlich direkt an den TLP anknüpft, ist ein Beleg dafür, dass sein Denken nach seiner Rückkehr nach Cambridge keinen radikalen Bruch erfährt, sondern auf die kritischen Einwände gegen den TLP reagiert, um diese zwar entsprechend zu ergänzen, doch in ihren wesentlichen Grundzügen beizubehalten.²⁴ Erst im Oktober 1929 gibt Wittgenstein dieses Projekt auf und beginnt, sich allmählich von seiner im TLP vertretenen Position zu entfernen.²⁵ Im Folgenden werde ich diese Überlegungen Wittgensteins in dem Maße beleuchten, wie sie für die Entwicklung seines Grammatikbegriffes relevant sind.
2.2.2 Ramseys Kritik Ramseys Kritik ist für diese Untersuchung von Bedeutung, weil sie Wittgenstein zu seinem Versuch anregt, die Position des TLP mithilfe einer phänomenologischen Sprache zu retten.Wie sich bald zeigen wird, ist Wittgensteins phänomenologisches Projekt²⁶ eine wichtige Phase für die Ausbildung seines Grammatikbegriffes. Er
Wittgensteins Essay wurde zwar in den Proceedings dieser Konferenz veröffentlicht, doch gehalten hat er stattdessen einen Vortrag zur Mathematik. Die Datierung seines Vortrags, nämlich den 13.07.1929, entnehmen wir einem Brief Wittgensteins an Russell (vgl. McGuinness & von Wright 1980: 176). Für weitere Hintergrundinformationen und Quellenverweise zu RLF vgl. Klagge & Nordmann (Hrsg.) Philosophical Occasions 1912 – 1951, Hackett: Indianapolis and Cambridge, USA, 1993: 28. Auch Kienzler ist der Ansicht, dass Wittgenstein zunächst direkt an den TLP anknüpft, „dann allerdings ziemlich rasch zu einer durchgreifenden Kritik am Tractatus, zu einer wesentlichen philosophischen Umorientierung, und damit zum eigentlichen Eintritt in die Spätphilosophie“ (Kienzler 1997: 13) übergeht. Es wäre irreführend, hier von einem „Bruch“ zu sprechen. Wie Kienzler betont, ist „Wittgensteins Wende zu seiner Spätphilosophie“ – wenn man überhaupt von einer solchen sprechen möchte — „ein komplexer Vorgang und kein einmaliges Ereignis“ (1997: 230) Auch Thompson formuliert in diesem Zusammenhang sehr treffend: „I use the less sensationalistic phrasing ‘move away from’ instead of ‘break away’ or ‘rejection of’, because they would distort or overlook the transitional quality of Wittgenstein’s thought in this work.“ (Thompson 2008: 60) Mit den Ausdrücken „phänomenologisches Projekt“ und „phänomenologische Phase“ beziehe ich mich auf Wittgensteins Versuch der Entwicklung einer phänomenologischen Notation, den er Anfang 1929 beginnt (der erste Eintrag in Ms 105 (Band I) ist auf den 02. Februar 1929 datiert) und am 22. Oktober desselben Jahres wieder aufgibt (vgl. 2.1). Derselben Ansicht ist Kienzler (1997: 108). Hintikka & Hintikka (1990: 198 ff) sehen hingegen bereits im TLP einen engen
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2 Von der Logik zur Grammatik
führt währenddessen etwa das Farbenoktaeder ein, das er schon wenig später, im Jahr 1930, „Grammatik“ nennen wird (Ms 107: 282), und versteht darüber hinaus die Phänomenologie selbst als Grammatik. In diesem Abschnitt soll deutlich werden, wieso es Wittgenstein, angeregt durch Ramseys Kritik, für nötig hält, den TLP durch eine phänomenologische Notation zu ergänzen. Da von Wittgensteins Gesprächen mit Ramsey keine Aufzeichnungen überliefert sind, können wir über deren konkreten Einfluss auf Wittgensteins Denken, die er im Vorwort zu den PU konstatiert, nur spekulieren.²⁷ Außer Zweifel scheint jedoch, dass Ramseys Kritik an der Idee des Elementarsatzes im TLP, die er bereits in ihren Grundzügen in seiner in Mind erschienenen Rezension „Critical Notice of L. Wittgenstein’s Tractatus Logico-Philosophicus“ (Ramsey 1923) zum Ausdruck brachte und in den anschließenden Diskussionen weiter verfeinerte, Wittgenstein zu seinem Projekt der Entwicklung einer phänomenologischen Sprache führte.²⁸ Ramsey spricht ein von Wittgenstein im TLP unterschätztes Problem an: Wenn es logisch unmöglich ist, „daß z. B. zwei Farben zugleich an einem Ort des Gesichtsfeldes sind“, weil dies „durch die logische Struktur der Farbe ausgeschlossen“ (TLP 6.3751) ist, dann können zwei Sätze wie z. B. „A ist rot“ und „A ist blau“ keine Elementarsätze sein, denn gemäß dem TLP sind Elementarsätze voneinander logisch unabhängig: Kein Elementarsatz kann mit einem anderen in Widerspruch stehen (TLP 4.211), und „[a]us einem Elementarsatz läßt sich kein anderer folgern“ (TLP 5.134). „A ist rot“ steht jedoch in Widerspruch zu „A ist blau“, und aus „A ist rot“ lässt sich „A ist nicht blau“ folgern. Dies ist kein textimmanenter Widerspruch im TLP, denn Wittgenstein behauptet an keiner Stelle, ein Satz wie „A ist rot“ oder „A ist blau“ sei ein Elementarsatz. Tatsächlich nennt er kein einziges Beispiel für einen Elementarsatz, sondern stellt lediglich fest, dass wir „aus rein logischen Gründen [wissen], daß es Elementarsätze geben muß“ (TLP 5.5562). Welche Sätze wiederum als Elementarsätze gelten entscheidet nicht die Logik, sondern deren Anwendung. (TLP 5.557) Während Wittgenstein also die Existenz von Elementarsätzen logisch voraussetzt, verlangt Ramsey eine Methode, um sie ausfindig zu machen.²⁹
Zusammenhang zwischen Wittgensteins Philosophie und Phänomenologie, der auch nach Wittgensteins sogenannter phänomenologischen Phase bestehen bleibe. Vgl. Abschnitt 2.2.4. Für eine Einschätzung vgl. Kienzler 1997: 56 ff. Für eine ausführliche Darstellung vgl. Engelmann 2013b: 6 ff. In meiner folgenden Zusammenfassung von Ramseys Kritik und Wittgensteins Reaktion darauf folge ich Engelmanns detaillierter und überzeugender Interpretation. Vgl. Engelmann 2013b: 10: „Wittgenstein’s supposition is that the analysis [of elementary propositions], therefore, must be possible, while Ramsey’s objection could be paraphrased as ‘If it must be possible, it must be shown how it goes.’“
2.2 Syntax und Grammatik Anfang 1929
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Wittgensteins Versuche, eine befriedigende Antwort auf Ramseys Einwand zu formulieren, bringen ihn bald zu der Einsicht, dass sich Sätze, die einen gewissen Grad einer Eigenschaft behaupten³⁰ – und zu diesen zählen Farbaussagen wie „A ist rot“ und „A ist blau“ –, mittels der Logik des TLP nicht weiter analysieren lassen und deshalb tatsächlich Elementarsätze sein müssen.³¹ Das hat die Konsequenz, dass es Elementarsätze gibt, die nicht voneinander unabhängig sind, denn „A ist rot“ ist nicht unabhängig von „A ist blau“.³² Damit ergibt sich ein Widerspruch im TLP. Ferner führt dies dazu, dass die Notation des TLP es erlaubt, unsinnigen Sätzen wie „A ist rot und A ist blau“ den Wahrheitswert „wahr“ zuzuschreiben. (Engelmann 2013b: 12, 24). In RLF erkennt Wittgenstein dieses Problem, indem er einräumt: It is, of course, a deficiency of our notation that it does not prevent the formation of such nonsensical constructions, and a perfect notation will have to exclude such structures by definite rules of syntax. These will have to tell us that in the case of certain kinds of atomic propositions described in terms of definite symbolic features certain combinations of the T’s and F’s must be left out. Such rules, however, cannot be laid down until we have actually reached the ultimate analysis of the phenomena in question. This, as we all know, has not yet been achieved. (RLF: 170 f)
Er beginnt deshalb mit der Suche nach einer Notation, die die Unsinnigkeit der logischen Verknüpfung von Sätzen wie „A ist rot und A ist blau“ zeigt (Engelmann 2013b: 12 f): Und doch muss sich dieser Widerspruch ganz im Symbolismus zeigen lassen, denn wenn ich von einem Fleck sage, dass er grün und rot ist, so ist er ja eines dieser beiden sicher nicht und der Widerspruch muss im Sinn der beiden Sätze liegen. […] Ich muss es dem grün ansehen, dass es nicht sein kann, wo das rot ist. (Oder vielmehr, ich muss es beiden ansehen, dass sie nicht an den gleichen Ort gehen, oder gingen.) (Ms 106: 79 f)
Im Englischen verwendet Wittgenstein den Begriff „statement of degree“ (RLF: 167 f). Im Deutschen gebraucht er stattdessen: „Satz, der einen gewissen Grad einer Eigenschaft behauptet“ (Ms 106: 95; Ts 209: 33). Vgl. dazu Pichler: „It became clear that color statements could not be shown to be mutually exclusive on the basis of logical syntax alone, and their logical product therefore not a logical contradiction; further, color statements could not be shown to be analyzable into simple statements of nondegree.“ (Pichler 2013: 439) Vgl. Engelmann 2013b: 11: „Wittgenstein ended up assuming that statements of degree cannot be further analyzed by his old logic and are, therefore, elementary. Thus, Wittgenstein concluded, there are elementary propositions that are not logically independent.“
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2 Von der Logik zur Grammatik
Die „letzte Analyse“ – „ultimate analysis“ –, von der Wittgenstein in RLF spricht (s.o.), ist für ihn eine phänomenologische Analyse, die in einer phänomenologischen Sprache – einer phänomenologischen Notation – Ausdruck finden soll (Engelmann 2013b: 13 f, 18). In dieser Notation soll sich die Unsinnigkeit von Sätzen wie „A ist rot und A ist grün“ zeigen. Wittgensteins phänomenologisches Projekt ist also sein Versuch, den TLP so zu ergänzen, dass sie solche Sätze, die einen gewissen Grad einer Eigenschaft behaupten, berücksichtigt und damit Ramseys Einwände unschädlich macht. Das bedeutet, dass Wittgenstein direkt an seine im TLP dargelegten Auffassungen anknüpft. Nach wie vor ist es sein Ziel, die Grenze der Sprache aufzuzeigen und Sinn von Unsinn zu trennen. Auch seine Herangehensweise behält er bei; die Entwicklung einer phänomenlogischen Notation soll den TLP lediglich erweitern und dadurch verbessern. (Engelmann 2013b: 18) Dennoch wird Wittgensteins modifizierte Auffassung der Elementarsätze letztendlich seinen philosophischen Ansatz grundsätzlich verändern. (Pichler 2013)³³ Für den Zweck dieser Untersuchung ist es nicht nötig, Wittgensteins phänomenologisches Projekt im Detail zu betrachten.³⁴ Wichtig ist jedoch die Tatsache, dass die Suche nach einer phänomenologischen Notation als Bindeglied zwischen Wittgensteins Untersuchung der Logik im TLP und dem Beginn seiner späteren Untersuchung der Grammatik fungiert und damit den Boden für seinen Übergang von Logik zu Grammatik ebnet. Im Folgenden werde ich zunächst darlegen, inwieweit Wittgenstein während seiner phänomenologischen Phase von Syntax und Grammatik spricht, bevor ich mich den beiden hier relevanten Aspekten des phänomenologischen Projekts zuwende, nämlich zum einen seinem Verständnis von Phänomenologie als Grammatik und zum anderen seinem Entwurf des Farbenoktaeders. Daran wird sich eine Betrachtung der Zeit nach der Aufgabe des phänomenologischen Projekts ab Oktober 1929 anschließen, zu der der Begriff der Grammatik zunehmend an Bedeutung gewinnt.
„The change of the elementary proposition conception and later its final abandonment are so fundamental that they naturally affect the entire framework of discourse, rather than an issue within the discourse only. It would thus not be adequate to regard the correction of the independency conception as belonging within the Tractatus framework.“ (Pichler 2013: 440) Dies haben andere bereits unternommen. Vgl. etwa Hintikka & Hintikka 1990, Kienzler 1997, Thompson 2008, Engelmann 2013b.
2.2 Syntax und Grammatik Anfang 1929
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2.2.3 Verwendungsweisen von „Syntax“ und „Grammatik“ Wie zu Beginn dieses Kapitels gezeigt, führt Wittgenstein im TLP den Begriff der logischen Syntax in seine Untersuchung ein, indem er sie als logische Grammatik definiert. Im Anschluss daran spricht er ausnahmslos von logischer Syntax (vgl. 2.1). Während seines phänomenologischen Projekts bleibt der Begriff der Syntax weiterhin dominant, obgleich Wittgenstein hin und wieder auch den Begriff der Grammatik verwendet. Das Substantiv „Grammatik“ gebraucht er zwischen dem 02. Februar und dem 22. Oktober 1929 sechsmal in vier Textpassagen: Ms 105: 3, 5 (2x), 53; Ms 106: 38, 145. Derivate von „Grammatik“ kommen gar nicht vor. „Syntax“ hingegen verwendet er während dieser Zeit elfmal substantivisch (Ms 105: 52; Ms 106: 67, 83, 218, 40, 125, 135, 139, 145, 283; Ms 105: 30) und fünfmal adjektivisch (Ms 105: 106; Ms 106: 139, 273, 283; Ms 105: 32), in allen fünf Fällen in der Verbindung „syntaktische Regel“.³⁵ Obwohl Wittgensteins Notizen nach Abfassung des TLP keine eindeutige Bemerkung zum Verhältnis von Syntax und Grammatik enthalten, können wir davon ausgehen, dass er auch während der phänomenologischen Phase unter beiden dasselbe versteht, denn es findet sich weder eine dem widersprechende Bemerkung, noch ein anderer Anhaltspunkt für die gegenteilige Annahme. Auffallend ist allerdings, dass er von nun an durchgängig auf das Attribut „logisch“ verzichtet. Der Ausdruck „logische Grammatik“ findet sich im Nachlass ausschließlich an jeweils der Stelle im PT bzw. im TLP, an der Wittgenstein die logische Syntax als logische Grammatik einführt (Ms 104: 54, TLP 3.325). Auch den Ausdruck „logische Syntax“ verwendet er ausschließlich in seiner Frühphilosophie. Somit wird bereits 1929 „logische Syntax“ zu „Syntax“, und „logische Grammatik“ zu „Grammatik“.
Diese Angaben basieren auf den aktuellen Web-Versionen der Transkriptionen der Manuskripte (vgl. Anm 66 in Kap. 1). Sie erfolgen in der Reihenfolge des Entstehungsdatums der Bemerkungen. Wittgenstein beginnt in Ms 105 (Band I) auf den Seiten 1, 2 und 4, bevor er auf allen ungeraden Seiten 3 – 59, dann auf den geraden Seiten 60 – 106 und schließlich den ungeraden Seiten 109 – 131 fortfährt. Ms 106 (Band II) beginnt er auf den ungeraden Seiten 1– 11, dann folgen die geraden Seiten 112– 296, darauf die geraden Seiten 2– 110, schließlich die ungeraden Seiten 113 – 297 und die Seite 298. Im Anschluss daran nutzt Wittgenstein in Ms 105 die ungeraden Seiten 109 – 131 bevor er Ms 107 (Band III) beginnt.Vgl. dazu auch Nedo 1994: XIIf. Nedo erklärt dazu: „Er [Wittgenstein] beschreibt zunächst nur die Rektoseiten. Am Ende des zweiten Bandes [d.i. Ms 106] angekommen, setzt er den Text vorn, auf den leergebliebenen Versoseiten fort. Er beginnt dabei wieder am Anfang des Bandes. Der Umstand, daß er dabei zunächst die Versoseiten des zweiten und erst im Anschluß daran jene des ersten Bandes verwendete, läßt sich dadurch erklären, daß er bei Beginn der Versobeschriftung wegen eines Ferienaufenthaltes in Österreich den Band I [d.i. Ms 105] nicht zur Hand hatte.“ [Ebd.: XII]
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2 Von der Logik zur Grammatik
Zweimal während der phänomenologischen Zeit verwendet Wittgenstein sowohl „Grammatik“ als auch „Syntax“ in derselben Textpassage. In der ersten bezieht er sich auf die Grammatik bzw. Syntax der Umgangssprache, die uns täuscht: Das Maximum einer Funktion scheint mir einer intensionalen Erklärung fähig. Der höchste Punkt einer Kurve ist zwar höher als ein beliebig herausgegriffener anderer Punkt, aber ich finde ihn nicht dadurch, dass ich die Punkte einer Kurve einzeln durchgehe und sehe, ob einer noch höher ist. (Berechnung des Maximums nicht durch mengentheoretische Wege sondern f′(x) = 0.) Hier ist es wieder die Grammatik, die wie immer im Bereich des Unendlichen uns einen Streich spielt. Wir sagen der höchste Punkt der Kurve, das kann aber nicht heißen der höchste Punkt unter allen Punkten der Kurve in dem Sinn, in dem man vom größten dieser drei Äpfel redet. Denn wir haben ja nicht alle Punkte der Kurve vor uns, ja dieser Ausdruck ist unsinnig. Es ist derselbe Fehler unserer Syntax, der die Sätze der Apfel lässt sich in zwei Teile teilen als die gleiche Form darstellt wie eine Strecke ist unbegrenzt teilbar. So dass man scheinbar in beiden Fällen sagen kann ,nehmen wir an, die mögliche Teilung sei ausgeführt‘. In Wahrheit haben aber die Ausdrücke ,in zwei teilbar‘ und ,unbegrenzt teilbar‘ eine ganz verschiedene Form. Es ist natürlich derselbe Fall, wie dass man mit dem Worte ,unendlich‘ wie mit einem Zahlwort operiert, weil beide in der Umgangssprache auf die Frage wieviel zur Antwort kommen. (Ms 106: 38 f)³⁶
Hier findet sich Wittgensteins alter Gedanke wieder, dass uns die Grammatik der Alltagssprache in die Irre führt. Interessanterweise verwendet er – wenn auch nur an dieser einen Stelle – in diesem Zusammenhang die Idee einer täuschenden, „fehlerhaften“ Syntax. In seiner Frühphilosophie hatte er ausschließlich von den Irrtümern der Grammatik gesprochen, denen er vermittels der logischen Grammatik (der logischen Syntax) entgehen will. Diese ursprüngliche Gegenüberstellung der Alltags- und der logischen Grammatik findet sich auch in seinen Notizen aus der phänomenologischen Phase, und zwar an der zweiten Textstelle, die sowohl „Grammatik“ als auch „Syntax“ enthält: Ordnet die Beziehung m = 2n die Klasse aller Zahlen einer ihrer Teilklassen zu? Nein! Sie ordnet jeder beliebigen Zahl eine andere zu und wir bekommen auf diese Weise unendlich viele Klassenpaare, deren eine Klasse der anderen zugeordnet ist, die aber nie im Verhältnis von Klasse und Subklasse stehen. Noch ist dieser unendliche Prozess selbst in irgendeinem Sinne ein solches Klassenpaar. Wir haben es bei dem Aberglauben, dass m = 2n eine Klasse ihrer Teilklasse zuordnet, wieder
Meine Hervorhebung.
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nur mit zweideutiger Grammatik zu tun. Und zwar hängt alles an der Syntax der Wirklichkeit und Möglichkeit. m = 2n enthält die Möglichkeit der Zuordnung jeder Zahl zu einer anderen, aber es ordnet nicht alle Zahlen anderen zu. (Ms 106: 143)³⁷
Das „wieder nur“ muss sich hier auf Wittgensteins Frühphilosophie beziehen, denn in seinen Notizen vom Februar 1929 bis zu dieser Bemerkung spricht er an keiner Stelle von zweideutiger, doppeldeutiger oder mehrdeutiger Grammatik oder Syntax. Unsere Alltagsauffassung der Grammatik von m = 2n führt uns in die Irre, und die Syntax hilft uns dabei, den Sachverhalt klar zu sehen: m = 2n ordnet nicht alle Zahlen anderen zu, wie man meinen könnte, sondern enthält lediglich die Möglichkeit einer solchen Zuordnung. Es bleibt also festzuhalten, dass Wittgenstein während der phänomenologischen Phase nur dann von sowohl Grammatik als auch Syntax spricht, wenn er auf Irreführungen der Alltagssprache verweist. Alle anderen Vorkommnisse von „Grammatik“ und „Syntax“ während dieser Zeit meinen Syntax oder Grammatik im nicht-täuschenden, klärenden Sinn. Wittgenstein hat hier ein „System von Regeln“ im Sinn, „welche einen Kalkül bestimmen“ (Ms 105: 32). Diese Bestimmung ist vollständig, denn so wie Wittgenstein im TLP bemerkt, in der Logik gebe es „keine Überraschung“ (TLP 6.1261), so betont er 1929, man könne in der Syntax keine Entdeckungen machen: Es ist unmöglich, Entdeckungen neuartiger Regeln zu machen, die von einer uns bekannten Form gelten. Sind es neue Regeln, so ist es nicht die alte Form. Das Gebäude der Regeln muss vollständig sein, wenn wir überhaupt mit einem Begriff arbeiten wollen. – Man kann keine Entdeckungen in der Syntax machen. – Denn erst diese Gruppe von Regeln bestimmt den Sinn unserer Zeichen und jede Änderung (z. B. Ergänzung) der Regeln bedeutet eine Änderung des Sinnes. (Ms 105: 52)
Überraschungen bzw. Entdeckungen sind unmöglich aufgrund der Vollständigkeit des jeweiligen Systems. Im TLP heißt es bereits auf der ersten Seite: „Die Welt ist durch die Tatsachen bestimmt und dadurch, daß es alle Tatsachen sind.“ (TLP 1.11) Insofern muss auch die Logik vollständig sein, um Spiegelbild der Welt sein zu können, so dass „[d]ie Angabe aller wahren Elementarsätze […] die Welt vollständig [beschreibt]. Die Welt ist vollständig beschrieben durch die Angabe der Elementarsätze plus der Angabe, welche von ihnen wahr und welche falsch sind.“ (TLP 4.26) Bereits während der phänomenologischen Phase beginnt Witt Fettdruck ist meine Hervorhebung, Kursivdruck Wittgensteins.
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genstein mit der häufigen Verwendung des Begriffs der Regel, so dass wir hier entsprechend nicht auf eine vollständige Beschreibung der Welt durch die Angabe aller Elementarsätze, sondern auf die Vollständigkeit der syntaktischen Regeln für einen Begriff treffen. Bemerkenswert ist, dass alle fünf Vorkommnisse von „syntaktische Regel“, und ebenso fast alle Vorkommnisse von „Syntax“, im Zusammenhang mit mathematischen Überlegungen stehen. Die drei einzigen Ausnahme bilden Ms 106: 65 f, 81 f, 218, worin Syntax jeweils im Zusammenhang mit Farbaussagen vorkommt. Wittgenstein charakterisiert Gleichungen, mathematische Definitionen und Axiome als syntaktische Regeln (Ms 106: 139, 273, 283) und gibt darüber hinaus kein explizites Beispiel für eine solche Regel außerhalb der Mathematik. Auch der Begriff der Grammatik erscheint im mathematischen Kontext, wenn Wittgenstein überlegt, die Axiome der Geometrie als „Prinzipe des Übergangs von einem Satz zu einem anderen“, und damit als Sätze der Grammatik aufzufassen (Ms 105: 53).³⁸ Es lässt sich kein überzeugender Grund dafür angeben, warum Wittgenstein nicht, wie im TLP, durchgängig den Begriff der Syntax, sondern auch den der Grammatik verwendet, und so bleibt keine schlüssige Alternative zu der Annahme, beide als austauschbar zu verstehen – obgleich Wittgenstein weiterhin „Syntax“ zu bevorzugen scheint, denn er verwendet diesen Begriff mehr als doppelt so häufig als den der Grammatik. Von den nur sechs Vorkommnissen des Grammatikbegriffs während der phänomenologischen Phase ist, wie bereits gezeigt, in zwei Fällen von der täuschenden Alltagsgrammatik die Rede (Ms 106: 38, 143). Nur in einem einzigen Fall steht Grammatik, wie sonst meist Syntax, im Kontext mathematischer Überlegungen (Ms 105: 53). Die übrigen drei Vorkommnisse von „Grammatik“ finden sich wiederum alle in einer einzigen Textpassage, die Wittgenstein gleich zu Beginn seiner Suche nach einer phänomenologischen Notation, nämlich am 15. Februar 1929, verfasste. Darin charakterisiert er die Phänomenologie, und damit im weiteren Sinne seine eigene Herangehensweise bei der Ergänzung des TLP, als Grammatik.
Die Bemerkung lautet wie folgt: „Könnte man die Axiome der Geometrie als Prinzipe des Übergangs von einem Satz zu einem anderen auffassen? Dann wären sie wirklich als Sätze der Grammatik aufgefasst, die nur solange nötig sind, als dass man die interne Relation zwischen den Gliedern eines Schlusses nicht aus der Struktur der Sätze ersehen kann. Sie sind dann von der Art: Man darf immer von einem Zeichen, das so und so aussieht, zu einem anderen übergehen, das so und so aussieht.“
2.2 Syntax und Grammatik Anfang 1929
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2.2.4 Phänomenologie als Grammatik Wie aus dem vorhergehenden Abschnitt hervorgeht, verwendet Wittgenstein während seines phänomenologischen Projekts nur sechsmal das Wort „Grammatik“. Allerdings stoßen wir auf diesen Begriff bereits auf der dritten Seite des Manuskripts 105, d.i. Band I, den Wittgenstein im Februar 1929 begonnen hat. Auf dieser und der folgenden Seite gebraucht er den Begriff der Grammatik gleich dreimal. Er steht dort in Zusammenhang mit der Unterscheidung von Physik und Phänomenologie: Es scheint viel dafür zu sprechen, dass die Abbildung des Gesichtsraumes durch die Physik wirklich die einfachste ist. D. h., dass die Physik die wahre Phänomenologie wäre. Aber dagegen lässt sich etwas einwenden: Die Physik strebt nämlich Wahrheit, d. h. richtige Voraussagungen der Ereignisse an, während das die Phänomenologie nicht tut sie strebt Sinn, nicht Wahrheit an. [sic.] Aber man kann sagen: Die Physik hat eine Sprache und in dieser Sprache sagt sie Sätze. Diese Sätze können wahr oder falsch sein. Diese Sätze bilden die Physik und ihre Grammatik die Phänomenologie (oder wie man es nennen will). Die Sache schaut aber in Wirklichkeit schwieriger aus durch den Gebrauch der mathematischen Terminologie. Wenn z. B. die Wissenschaft zweifelt, ob die beobachteten Erscheinungen durch die Elektronen- oder die Quantentheorie richtig zu beschreiben sind, so scheint es auf den ersten Blick, es handelte sich um eine Entscheidung in der Grammatik. Es gibt eine bestimmte Mannigfaltigkeit des Sinns und eine andere Mannigfaltigkeit der Gesetze. Die Physik unterscheidet sich von der Phänomenologie dadurch, dass sie Gesetze feststellen will. Die Phänomenologie stellt nur die Möglichkeiten fest. Dann wäre also die Phänomenologie die Grammatik der Beschreibung derjenigen Tatsachen, auf denen die Physik ihre Theorien aufbaut.³⁹ (Ms 105: 3 f)
Herbert Spiegelberg hat es in seinem erstmals 1968 veröffentlichen Essay ein „puzzle“ genannt, „that here [in den PB] for the first time the term ‘Phänomenologie’ appears plainly and repeatedly in Wittgenstein’s own published writings.“ (Spiegelberg 1986: 222) Mit seinem Beitrag hat er die Diskussion um die sogenannte „phänomenologische Phase“⁴⁰ in Wittgensteins Denken angeregt. Er selbst formuliert in seinem Aufsatz die These, Wittgenstein habe nie aufgehört, Phänomenologie zu betreiben: „Wittgenstein never abandoned phenomenology, Fettdruck ist meine Hervorhebung, Kursivdruck Wittgensteins. Vgl. Kienzler (1997: 106): „Die in der Wittgensteinforschung inzwischen eingebürgerte Redeweise von einer ‚phänomenologischen Phase‘ entspring Wittgensteins eigener Redeweise. Wittgenstein verwendet in seinen Aufzeichnungen der Jahre 1929 bis 1933 immer wieder die Wörter ‚Phänomen‘, ‚Phänomenologie‘ und ‚phänomenologisch‘.“
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but merely ceased to call it by this name rather than by a more conventional one, i. e., grammar.“ (Spiegelberg 1986: 232) Dieser ungewöhnlichen Interpretation zufolge war Wittgenstein in seiner (möglicherweise gesamten) Spätphilosophie Phänomenologe, und „Grammatik“ – in Wittgensteins Texten – ist schlicht als ein anderes Wort für „Phänomenologie“ zu verstehen. Spiegelberg übersieht bei seiner Deutung jedoch, dass Wittgenstein im Oktober 1929 sein phänomenologisches Projekt aufgibt und eine phänomenologische Sprache für „absurd“ erklärt (vgl. 2.3). Merrill und Jaakko Hintikka sehen darin den „entscheidenden Wendepunkt in Wittgensteins philosophischer Entwicklung“ (1990: 184). Mit ihrer Interpretation vertreten sie, wie bereits Wolfgang Kienzler (1997: 107) herausgestellt hat, eine Position, die der Spiegelbergs genau entgegengesetzt ist: Wittgenstein habe nicht ab 1929 Phänomenologie betrieben, sondern von 1913 bis 1929 (Hintikka & Hintikka 1990: 201). Das heißt, ihrer Lesart zufolge ist bereits der TLP ein Beitrag zur Phänomenologie. Demgegenüber sehen Kienzler und Engelmann in Wittgensteins phänomenologischer Phase den „Irrweg eines einzigen Jahres“ (Kienzler 1997: 108); wie Engelmann (2013b: 6 – 42) herausstellt, versucht Wittgenstein 1929 den TLP mit Hilfe einer phänomenologischen Notation zu ergänzen, gibt dieses Projekt jedoch im Oktober 1929 wieder auf.⁴¹ Aufschlussreich ist hier David Sterns Differenzierung zwischen zwei Verschiedenen Gebrauchsweisen, in denen Wittgenstein den Ausdruck „phänomenologische Sprache“ verwendet. (1995: 137) Dieser Unterscheidung folgend ist es möglich, zu sagen, dass Wittgenstein auch nach 1929 in gewissem Sinne Phänomenologie betrieben hat (vgl. Anm. 55 in Abschnitt 2.3). Auch James Thompson betont Wittgensteins Fortführung der phänomenologischen Untersuchung: „For Wittgenstein phenomenology changes from a phenomenology of the logical structure of the world to a phenomenology of ordinary language.“ (2008: 132) Gemäß Thompson laufen, ähnlich der Interpretation Spiegelbergs, Sprache und Erfahrung im Begriff der Grammatik
Dieser Entwicklung stimmt auch Thompson zu. Er würde wohl nicht darauf bestehen, Wittgenstein ab 1929 einen Phänomenologen zu nennen, sondern untersucht Wittgensteins Auffassung von Erfahrung ab 1929. Dabei versteht er die Begriffe „Phänomenologie“ und „Grammatik“ in enger Beziehung zueinander und sieht in Wittgensteins Formulierung im Big Typescript „Phänomenologie ist Grammatik“ die Identität beider Begriffe: „In the Big Typescript, the identity of grammar and phenomenology is taken itself as the point of departure for his future investigations.“ (2008: 132) Hingegen ist es ebenso möglich, Phänomenologie im Big Typescript als einen Teil der Grammatik zu begreifen. Kienzler zufolge ist wiederum „[d]ie Aufnahme eines eigenen Kapitels mit dem Titel ‚Phänomenolgie’ in das Big Typescript […] ein Akt der Nachlaßordnung und keine Fortsetzung unter diesem Titel über das Jahr 1931 hinaus.“ (Kienzler 1997: 108) Einer Gleichsetzung von „Phänomenologie“ und „Grammatik“ stimmt er nicht zu. (Ebd.: 136)
2.2 Syntax und Grammatik Anfang 1929
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ineinander.⁴² Was Wittgenstein nach 1929 entwickle sei „phenomenology of language itself“ (2008: 91).⁴³ Ob man Wittgensteins Philosophie nach 1929 in gewissem Sinne Phänomenologie nennen könnte oder nicht, braucht hier nicht weiter diskutiert zu werden. Wichtig ist indessen, dass (a) Wittgenstein in seinem Projekt, den TLP durch eine phänomenologische Notation zu ergänzen, den Begriff der Grammatik verwendet, und (b), dass er dieses Projekt Ende 1929 aufgibt und die Konstruktion einer phänomenologischen Sprache (in diesem Sinne) verwirft (vgl. 2.3). Die Gegenüberstellung von Physik und Phänomenologie in der zu Beginn dieses Abschnitts zitierten Bemerkung ist ungewöhnlich, und es fehlen, wie bereits Kienzler feststellt, in Wittgensteins Bemerkungen 1929 „jegliche[…] konkrete […] Bezüge auf Phänomenologie und Physik, wie sie zu dieser Zeit als wissenschaftliche Disziplinen existierten.“ (1997: 109) Gemäß Thompson ist die oben zitierte Bemerkung eine Reaktion Wittgensteins unter anderem auf Russell.⁴⁴ In seinem phänomenologischen Projekt geht es Wittgenstein um die Beschreibung bzw. Abbildung des Gesichtsraumes im Unterschied zum physikalischen Raum (vgl. Thompson 2008: 73 ff). Dies wird bereits in dem ersten Satz der oben zitierten Bemerkung offenkundig. Wittgenstein verwendet demnach den Begriff der Phänomenologie vermutlich nicht, weil er sich explizit auf Husserl oder anderer Phänomenologen beziehen möchte, sondern weil er das Wahrnehmbare, die unmittelbaren Sinnesdaten, beschreiben will (vgl. Kienzler 1997: 110).⁴⁵ Möglicherweise war er hier von seinem Austausch mit den Mitgliedern des Wiener
Thompson distanziert sich dabei von Spiegelberg, Stern und anderen (2008: 91). Thompson erläutert in diesem Zusammenhang: „Wittgenstein’s investigation is no longer a description of immediate experience free from all possible (theoretical, external, etc.) influences, but rather a description of their manifestation in ordinary language. Put differently, if we are to ‘get at the things themselves’, so to speak, then we must go ‘through’ language. Considered in this way, what he is promising is a phenomenology of language itself (the only phenomenological analysis possible according to Wittgenstein).“ (2008: 91) Auch Clemens Sedmak hat darauf hingewiesen, dass im Big Typescript „[d]as Projekt einer ‚phänomenologischen Sprache‘ […] als grammatisches Projekt geführt“ wird. (Sedmak 1996: 219) „This unusual distinction is a response (specifically) to Russell, and (more generally) to the question of which form of representation is most appropriate in the depiction of our unmediated experience of the world.“ (Thompson 2008: 80) Vgl. auch ebd. 73 ff. Die Frage, wer oder was Wittgenstein dazu veranlasst hat, den Begriff der Phänomenologie zu verwenden, haben einige Autoren versucht zu beantworten, etwa Hintikka & Hintikka (1990: 198 ff) und in sehr gründlicher Form Thompson (2008), der letztlich zu dem Ergebnis gelangt, dass sich diese Frage nicht abschließend beantworten lässt: „None of his [Wittgenstein’s] known writings or notes mention anyone specifically, and portions of his Nachlaß from around this time, which might have shed some light on the issue, were later burned per Wittgenstein’s instructions.“ (Thompson 2008: 71 f)
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Kreises angeregt.⁴⁶ Rückblickend formuliert er im Mai 1932 eine Charakterisierung der phänomenologischen Sprache: „Phänomenologische Sprache: Die Beschreibung der unmittelbaren Sinneswahrnehmung, ohne hypothetische Zutat.“ (Ms 113: 123r) Den Gesichtsraum versteht er dabei ebenso wenig als privat wie den physikalischen Raum und möchte ihn objektiv, d. h. unabhängig von einem Subjekt, erfassen.⁴⁷ Die genaue Verbindung von Phänomenologie und Grammatik hat Thompson herausgestellt: Wittgenstein hat der logischen Analyse der Phänomene, die er in RLF anstrebt (RLF: 170 f), letztlich den Namen „Phänomenologie“ verliehen (Thompson 2008: 65, 77 ff). Die Verbindung zwischen beiden Begriffen wird auch durch Wittgensteins Formulierung deutlich, die Phänomenologie stelle, im Gegensatz zur Physik, nur die Möglichkeiten fest (Ms 105: 5). Was aber bedeutet seine Überlegung, die Phänomenologie sei „die Grammatik der Beschreibung derjenigen Tatsachen, auf denen die Physik ihre Theorien aufbaut“ (ebd.)? Im Einklang mit seinem phänomenologischen Projekt, die Notation des TLP mithilfe einer phänomenologischen Notation zu ergänzen, lässt sich die Phänomenologie als die Grammatik der Elementarsätze – die „Beschreibung derjenigen Tatsachen, auf denen die Physik ihre Theorien aufbaut“ – begreifen.⁴⁸ Ihre Aufgabe ist es, als logische Grammatik den Möglichkeitsraum dieser Sätze abzustecken. Das Verhältnis von Phänomenologie und Grammatik wird im Hinblick auf Wittgensteins frühe Farbbemerkungen deutlicher, die im nachfolgenden Abschnitt zum Farbenoktaeder untersucht werden. In Ms 105 notiert er, er brauche „eine rein psychologische Farbenlehre“ (Ms 105: 90) Diese Bemerkung übernimmt er später in Ts 209 (PB), fügt darin jedoch den Begriff der Phänomenologie hinzu: „Was ich brauche, ist eine psychologische oder vielmehr phänomenologische Farbenlehre, keine physikalische und ebensowenig eine physiologische.“ (Ts 209: 125) Dementsprechend muss die Farbenlehre gemäß dieser überarbeiteten Bemerkung „eine rein phänomenologische“ (ebd.) sein – und nicht mehr eine rein psychologische. Hier zeigt sich die enge Verknüpfung von Psychologie und Phänomenologie in Wittgensteins Sprachgebrauch; dennoch ist unklar, „ob die Phänomenologie die Grundlage der Psychologie sein soll oder umgekehrt die Psychologie die Grundlage der Phänomenologie – oder ob beide identisch der Physik gegenübergestellt sein sollen.“ (Kienzler 1997: 115)
Vgl. dazu Thompson 2008: 67 ff. Zu Wittgensteins Kritik an Machs Darstellung des Gesichtsfeldes vgl. ebd. 73 ff. Waismanns Aufzeichnungen der Gespräche Wittgensteins mit Mitgliedern des Wiener Kreises beginnen erst im Dezember 1929. Zu diesem Zeitpunkt waren phänomenologische Überlegungen ein zentrales Thema dieser Gespräche (vgl. WWK: 55 ff). „Der Gesichtsraum hat wesentlich keinen Besitzer.“ (Ms 105: 122). Vgl. Engelmann 2013b: 20 f. Diese Lesart verdanke ich einem Gespräch mit Stefan Majetschak im Herbst 2015.
2.2 Syntax und Grammatik Anfang 1929
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Bezüglich Wittgensteins Wortwahl ist es verblüffend, dass er in der zu Beginn dieses Abschnitts zitierten Bemerkung vom Februar 1929 von „Grammatik“ spricht, nicht etwa, wie zuvor im TLP, von der (logischen) Syntax. Der Begriff der Grammatik ist hier eindeutig auf Sätze, d. h. auf Sprache bezogen. Man könnte deshalb versucht sein, genau darin den Grund dafür zu sehen, dass Wittgenstein an dieser Stelle von Grammatik und nicht von Syntax spricht. Doch andererseits ist auch die logische Syntax des TLP klar auf (zeichen‐)sprachliche Ausdrücke bezogen, und auch während seiner phänomenologischen Phase spricht Wittgenstein von der Syntax von Sätzen (Ms 106: 67). Wir haben somit Grund zu der Annahme, dass er auch hier die Phänomenologie als Syntax anstelle von Grammatik hätte charakterisieren können. Warum er dem Wort „Grammatik“ hier letztlich den Vorzug gibt, obwohl er sonst zur Verwendung von „Syntax“ neigt, ist unklar. Es ist denkbar, dass es ihm schlicht merkwürdig anmutete, von Phänomenologie als Syntax zu sprechen; der Ausdruck „Grammatik“ scheint hier der naheliegendere zu sein, denn Grammatik bezeichnet nicht nur die Sprachstruktur, sondern auch die Disziplin, die sich mit dieser Struktur beschäftigt – so wie es sich auch bei der Phänomenologie um eine Disziplin handelt. Mit Syntax wird hingegen eher die Satzstruktur als die Lehre von derselben konnotiert, obgleich auch hier dieselbe Doppeldeutigkeit vorliegt wie beim Begriff der Grammatik. Ein weiterer möglicher Grund für Wittgensteins Verwendung von „Grammatik“ statt „Syntax“ könnte seine Beeinflussung der Begrifflichkeiten von Newman und Pearson sein (vgl. 1.2). Für die Thematik dieser Untersuchung von Bedeutung ist die Tatsache, dass Wittgenstein sein 1929 begonnenes phänomenlogisches Projekt offenbar als ein grammatisches versteht. Obwohl er von dem Begriff der Grammatik während dieser Phase kaum Gebrauch macht, bildet Grammatik den Hintergrund seines Ansatzes, wie er ihn im Februar 1929 auffasst. Zwar notiert er erst viel später, lange nachdem er die Suche nach einer phänomenologischen Notation als Ergänzung des TLP wieder aufgegeben hat: „Mein Buch könnte auch heißen: Philosophische Grammatik“ (Ms 110: 254), doch die Grundzüge dieser Auffassung zeichnen sich bereits 1929 in seinem Verständnis von Phänomenologie als Grammatik ab.
2.2.5 Das Farbenoktaeder Wie im Zusammenhang von Ramseys Kritik gezeigt, ist die Notation des TLP insofern unzureichend, als dass sie es erlaubt, unsinnigen Sätzen wie „A ist rot und A ist grün“ den Wahrheitswert „wahr“ zuzuschreiben. Wittgenstein ist daher auf der Suche nach einer Darstellungsform, die die Unsinnigkeit eines solchen Satzes sowie alle internen Relationen der Farbbegriffe zeigt:
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In der richtigen Darstellung der Farben muss sich nicht nur zeigen, dass wenn a rot ist es nicht zugleich grün sein kann, sondern alle jenen internen Eigenschaften müssen sich zeigen, die wir kennen. Also alles, was sich auf die Verwandtschaft der einzelnen Farben zueinander und ihr Verhältnis zu Schwarz und Weiß bezieht. (Ms 105: 90)
Dabei geht er von einfachen Farben aus – „[e]infach als psychologische Erscheinungen“ (Ms 105: 90) – und sucht im Sinne seines phänomenologischen Projekts eine „rein psychologische Farbenlehre […], in der nur von wirklich Wahrnehmbarem die Rede ist und keine hypothetischen Gegenstände – Welle, Zellen, etc. etc. – vorkommen.“ (Ebd.) Um die Farbrelationen darzustellen, entwirft er wenige Seiten später das Farbenoktaeder,⁴⁹ bestehend aus einem Quadrat mit den vier Farben blau, grün, rot und gelb als Eckpunkten, von denen ausgehend sich Linien nach oben und unten fortsetzen, welche spitz zulaufend sich oberhalb und unterhalb des Mittelpunkts des Quadrats treffen und so die Kanten von zwei Pyramiden bilden. An ihren Grundflächen zusammengesetzt ergeben die beiden Pyramiden das Oktaeder. Die Spitze der oberen Pyramide ist der Punkt weiß, die der unteren Pyramide der Punkt schwarz. Wittgenstein erläutert dazu: „Jeder Punkt auf der Oberfläche des Oktaeders stellt eine Farbe dar, z. B. ein weißliches Blaurot welches näher dem Rot als dem Blau ist.“ (Ms 105: 98) Damit wird jede Farbe zu einer Kombination aus Farbton (rot – blau – grün – gelb), Helligkeit (weiß) und Sättigung (schwarz)⁵⁰ (s. Abb. 3).
Für eine Darstellung der Bedeutung des Farbenoktaeders für Wittgensteins phänomenologisches Projekt vgl. Engelmann 2013b: 33 ff. Für eine umfassende Analyse des Farbenoktaeders im Kontext der Farbmerkungen in Wittgensteins Nachlass, inklusive Bezug zu weiteren Farbenlehren, vgl. Rotthaupt 1996, darin insbesondere S. 262 ff. Wittgenstein erwähnt im unmittelbaren Kontext des Entwurfs des Farbenoktaeders nicht die Begriffe der Helligkeit bzw. Lichtstärke und Sättigung. Dass er genau diese mit den Eckpunkten Weiß und Schwarz meint, lässt sich jedoch in Bezug auf zwei spätere Bemerkungen deuten. So lesen wir in Ms 107: 217 (vgl. Ms 114: 16r; Ts 209: 24; Ts 211: 756; Ts 212: 1350; Ts 213: 510): „wie zwei Anzüge die Gleiche (sic.) Farbe haben, wenn sie in Bezug auf Helligkeit, Sättigung etc. miteinander übereinstimmen.“ Mit „etc.“ meint er hier mindestens auch den Farbton, wie aus der zweiten Bemerkungen hervorgeht: „Wenn man glaubt sich einen 4-dimensionalen Raum vorstellen zu können, warum nicht auch 4-dimensionale Farben, das sind Farben, die außer dem Grad der Sättigung, dem Farbton und der Lichtstärke noch eine vierte Bestimmung zulassen?“ (Ms 108: 112; Ts 209: 27; Ts 233a: 55) Aufgrund des Farbenoktaeders können wir Schwarz der Sättigung und Weiß der Helligkeit bzw. Lichtstärke zuordnen. Auch Engelmann deutet die Spitzen Weiß und Schwarz in diesem Sinne (vgl. 2013b: 33 f). Rothhaupt geht hingegen von Weiß und Schwarz als weiteren Farben aus: „Daß dazu eigentlich sechs Ur- bzw. Grundfarben nötig sind, da zusätzlich Weiß und Schwarz zu berücksichtigen sind, wird an dieser Stelle nur durch die skizzierte Darstellung der Schwarz-Weiß-Achse des Farbenoktaeders angedeutet.“ (1996: 262) Er verweist in diesem Zu-
2.2 Syntax und Grammatik Anfang 1929
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Abb. 3: Ausschnitt aus Ms 105: 98 Abgebildet mit der freundlichen Erlaubnis der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien, The Master and Fellows of Trinity College, Cambridge, und der Universität Bergen, Bergen.
Dem Farbenoktaeder lässt sich unmittelbar entnehmen, dass der Satz „A ist rot und A ist grün“ unsinnig ist, denn der Punkt A kann lediglich eine Position im Farbenraum – d.i. auf der Oberfläche des Oktaeders – einnehmen. Ebenso zeigt diese Darstellung die Unmöglichkeit eines rötlichen Grüns, denn rot und grün liegen, ebenso wie blau und gelb, im Quadrat diagonal gegenüber, so dass im Oktaeder keine Flächen mit den Eckpunkten rot – grün – weiß bzw. rot – grün – schwarz entstehen. Wie Engelmann richtig feststellt, ist das Farbenoktaeder die Darstellung eines Teils unserer Sprache und implizit in ihr gegeben (2013b: 34).⁵¹ Aus diesem Grund wird Wittgenstein es wenig später, allerdings erst nachdem er sein phänomenologisches Projekt bereits aufgegeben hat, „Grammatik“ nennen. Doch obgleich Wittgenstein den Begriff der Grammatik oder Syntax nicht bereits während seiner phänomenologischen Phase explizit mit dem Farbenoktaeder in Verbindung bringt, wird dennoch implizit deutlich, dass es als Teil der Syntax verstanden
sammenhang auch auf Ewald Hering, der ebenfalls sechs Grundfarben unterscheidet. (Vgl. ebd. 264) Tatsächlich spricht Wittgenstein 1929 nur von vier Grundfarben (Ms 106: 171), später allerdings in einer Bemerkung auch von sechs Grundfarben (Ms 111: 72; Ts 211: 42a; Ts 212: 937; Ts 213: 334). Im November 1946 formuliert er genauer: „war es also diese Zusammensetzung (aus den Grundfarben inklusive Schwarz und Weiß) die Du beim Rot vermisstest?“ (Ms 133: 17r). In seinen spätesten Manuskripten finden sich darüber hinaus auch Bemerkungen zu drei als Alternative zu vier Grundfarben (Ms 173: 5v, 26r, 30v). Es sind also beide Lesarten, einerseits Weiß und Schwarz als zwei weitere Grundfarben zu Rot, Gelb, Grün und Blau, andererseits als das jeweilige Maximum an Helligkeit und Sättigung einer Kombination aus den vier elementaren Farben, denkbar. Auch bei Rothhaupt wird dies deutlich: 1996: 269.
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2 Von der Logik zur Grammatik
werden muss, denn es ist Teil der phänomenologischen Notation, die Wittgenstein Anfang 1929 als Ergänzung zum TLP zu entwickeln beginnt; und als Teil der Notation, der adäquaten Zeichensprache, ist es Teil der Syntax, der (logischen) Grammatik.⁵² Tatsächlich spielt das Farbenoktaeder eine wichtige Rolle in Wittgensteins Entwicklung seiner Gedanken, denn einerseits entsteht es im Zuge der Ergänzung des TLP und bringt es in unmittelbaren Zusammenhang mit demselben, und andererseits fungiert es zugleich als Muster, auf das sich Wittgenstein nicht nur Anfang der 30er Jahre (Ms 153b: 17v; Ts 209: 14), sondern auch noch viel später in seinen Notizen von 1948 (Ms 137: 6b, 7a, 7b) und 1950 (Ms 173: 66v) beziehen wird. Es ist Wittgensteins bestes, wenn nicht gar einziges Beispiel für eine „übersichtliche Darstellung“ (Ms 108: 89) der Grammatik.
2.3 Syntax und Grammatik Ende 1929 und 1930 2.3.1 Von der Analyse der logischen Syntax zur übersichtlichen Darstellung unserer Grammatik Am 22. Oktober 1929 gibt Wittgenstein sein Projekt der Entwicklung einer phänomenologischen Sprache auf. Die entscheidende Bemerkung wird eingeleitet durch eine in Geheimschrift⁵³ verfasste Passage: „Habe schwere Probleme in mir und bin so unklar, dass ich nichts rechtes niederschreiben könnte. Soll in den nächsten zwei Termen Vorlesungen halten! Bin zweifelhaft, wie es gehen wird. Hauptsache wäre, daß jetzt meine Arbeit gut vorwärts ginge.“ (Ms 107: 175 f) Direkt im Anschluss an diese Worte notiert er, nicht kodiert: Die Annahme, dass eine phänomenologische Sprache möglich wäre und die eigentlich erst das sagen würde, was wir in der Philosophie ausdrücken müssen/sollen, ist – glaube ich – absurd. Wir müssen mit unserer gewöhnlichen Sprache auskommen und sie nur richtig verstehen. D. h., wir dürfen uns nicht von ihr verleiten lassen, Unsinn zu reden. (Ms 107: 176)
Wittgenstein kommt also bereits wenige Monate nach seiner Wiederaufnahme der philosophischen Tätigkeit an den Punkt, sein phänomenologisches Unterfangen für „absurd“ zu erklären. Er hat erkannt, dass eine phänomenologische Notation,
Hierin stimme ich mit Engelmann überein (vgl. Engelmann 2013b: 34). Wittgensteins Geheimschrift ist leicht zu entziffern, denn er vertauschte schlicht A mit Z, B mit Y etc. Zu Wittgensteins Geheimschrift vgl. z. B. Somavilla 2010a, 2010b und Immler 2011: 78 ff.
2.3 Syntax und Grammatik Ende 1929 und 1930
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und tatsächlich jede Art von Symbolismus, nicht die Aufgaben erfüllen kann, für die er sie entwerfen wollte, nämlich (als Ergänzung des TLP) die Grenze des sinnvoll-Sagbaren klar zu definieren.⁵⁴ Aufgrund der gerade zitierten kodierten Bemerkung können wir gleichzeitig davon ausgehen, dass er noch kein alternatives Projekt deutlich vor Augen hat und unter dieser Unklarheit leidet. Dennoch schlägt er bereits hier den Weg ein, den er auch weiterhin verfolgen wird: die Hinwendung zur „gewöhnlichen Sprache“.⁵⁵ Etwa zwei Monate später, am 18. Dezember 1929 im Gespräch mit Moritz Schlick und Friedrich Waismann im Hause Schlick,⁵⁶ erklärt er, Waismanns Notizen zufolge, ausdrücklich, dass er nicht mehr bestrebt sei, eine phänomenologische Notation zu finden, sondern stattdessen unsere Umgangssprache betrachten wolle:
Für eine genaue Analyse der Gründe dafür vgl. Stern 1995: 143 ff und Engelmann 2013b: 35 ff. Auf Seite 43 erklärt Engelmann: „logic and phenomenological notations could not take care of the task of the T [ractatus] (determining the limits of language and the nature of necessity). When Wittgenstein abandons the phenomenological language, he thereby abandons the idea that notations (symbolisms) have a fundamental role in philosophy.“ Hintikka & Hintikka (1990: 184 ff) sehen in Wittgensteins Abkehr von einer phänomenologischen und gleichzeitigen Hinwendung zu einer physikalistischen Sprache den entscheidenden Wendepunkt zwischen einer ersten zu einer zweiten Phase in seinem Denken: „Unsere These besagt, daß es, insoweit es nur zwei Wittgensteins gibt, ebendieser Wechsel des Sprachparadigmas ist, der sowohl genetisch als auch systematisch die Wasserscheide zwischen ihnen kennzeichnet.“ (Ebd.: 185) Sehr aufschlussreich ist hier die Untersuchung David Sterns (1995), in der er zwischen zwei Gebrauchsweisen Wittgensteins von „phänomenologischer Sprache“ unterscheidet und feststellt, dass Wittgenstein, in gewissem Sinne, auch nach 1929 an einer phänomenologischen Sprache arbeitet: „Wittgenstein sometimes uses the term ‘phenomenological language’ in a restricted sense, to mean a canonical analysis of the experience of the present moment. In this sense, he consistently maintained after 1929 that such a primary language was indeed impossible. […] But he also spoke of ‘phenomenological language’ in a loser sense, meaning by it any way of talking about the content of experience, and, in this sense of the term, he holds that a phenomenological language is possible but not necessary. Giving up his goal of a phenomenological language in the narrow sense meant giving up the goal of constructing an artificial philosophical language that would be capable of fully clarifying the structure of present experience, in favour of a study of the structure of the language we ordinarily speak. But this new project still included a study of phenomenological language in the looser sense of the term: a study of how we actually talk about experience, and how we might be misled into misunderstanding the talk. So, in this sense, Wittgenstein still thought of himself as making use of ‘perspicuous language’ to describe experience. Thus, even after he rejected the goal of a single phenomenological language, he was still prepared to speak of himself, in a sense, as constructing phenomenological language.“ (1995: 137) Zu Wittgensteins Philosophie als Phänomenologie vgl. Abschnitt 2.2.4. Zum biographischen Kontext vgl. WWK 18 ff.
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2 Von der Logik zur Grammatik
Ich habe früher geglaubt, daß es die Umgangssprache gibt, in der wir alle für gewöhnlich sprechen und eine primäre Sprache, die das ausdrückt, was wir wirklich wissen, also die Phänomene. Ich habe auch von einem ersten und einem zweiten System gesprochen. Ich möchte jetzt ausführen, warum ich an dieser Auffassung nicht mehr festhalte. Ich glaube, daß wir im Wesen nur eine Sprache haben und das ist die gewöhnliche Sprache. Wir brauchen nicht erst eine neue Sprache zu erfinden oder eine Symbolik zu konstruieren, sondern die Umgangssprache ist bereits die Sprache, vorausgesetzt, daß wir sie von den Unklarheiten, die in ihr stecken, befreien. (WWK 45)
Obwohl sich Wittgenstein offenkundig der alltäglichen Sprache zuwendet, sieht er nach wie vor „Unklarheiten“ in ihr: „Die Symbole unserer Umgangssprache sind nicht unzweideutig definiert. [Die Symbole schwanken zwischen verschiedenen Bedeutungen […]]“ (WWK 47)⁵⁷ Anstatt diesen „Unzweideutigkeiten“ mittels eines eindeutigen Symbolismus zu entgehen, strebt er nun nach der Übersicht ihrer Syntax: „Die Sprache ist schon vollkommen geordnet. Die Schwierigkeit besteht nur darin, die Syntax einfach und übersichtlich zu machen.“ (WWK 45, Anm. 1) Hierin finden wir die Wurzel für sein Streben nach der „übersichtlichen Darstellung“ der Grammatik – diesen Begriff verwendet er erstmals im Februar 1930⁵⁸ –, das sich bis in die PU ziehen wird. Bezeichnenderweise spricht er an dieser Stelle von der Übersichtlichkeit der Syntax, was deutlich unterstreicht, dass die Grammatik in direkter Nachfolge zur (logischen) Syntax zu verstehen ist.⁵⁹
Von den Irreführungen der Sprache lesen wir auch in Desmond Lees Vorlesungsmitschriften aus dem Frühjahrstrimester 1930: „Substantives and other parts of speech are only essential in our language. Such linguistic classifications are very misleading, as can be seen by substituting words for each other in propositions of the same linguistic form.“ (LWL 3) „Die Oktaederdarstellung ist eine übersichtliche Darstellung der grammatischen Regeln.“ (Ms 108: 89) Engelmann kommt zu einem ähnlichen Ergebnis: „‘Grammar’ (or ‘syntax’) […] must be understood as a substantially extended version of the ‚logical syntax’ of the T[ractatus].“ (2013b: 43) Vgl. auch ebd.: 47: „The expression of the rules of ‘grammar’ (syntax) replaces the old idea of analysis.“ Auch Baker & Hacker sehen die Grammatik, bzw. die Regeln der Grammatik, in direkter Nachfolge zu den Regeln der logischen Syntax des TLP. Obwohl sie in ihren Ausführungen vor allem die wesentlichen Unterschiede zwischen beiden Konzepten hervorheben, wird aus ihrer Darlegung doch ersichtlich, dass sie die Bestimmung der Sinngrenze als ihre zentrale Gemeinsamkeit betrachten (1988: 39; vgl. in der von Hacker überarbeiteten Version 2009: 43 ff). Wittgensteins Bestreben, sinnvolle und unsinnige Äußerungen klar voneinander zu unterscheiden, wird dieser Perspektive zufolge zum roten Faden seines gesamten philosophischen Schaffens. Diese Betonung der Grenzziehung zwischen Sinn und Unsinn geht soweit, dass Baker & Hacker den Zweck der Grammatik allein in dieser Unterscheidung sehen: „Wittgenstein’s rules of grammar serve only to distinguish sense from nonsense.“ (1988: 40) Das „only“ kann zwar in erster Linie als Abgrenzung der Eigenschaften der grammatischen Regeln von denen der logi-
2.3 Syntax und Grammatik Ende 1929 und 1930
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Doch bereits fünf Tage nach der Zusammenkunft mit Schlick und Waismann, am 23. Dezember 1929, wählt Wittgenstein in diesem Zusammenhang den Begriff der Grammatik: „Unser [sic.] Grammatik fehlt es vor allem an Übersichtlichkeit.“ (Ms 108: 31) Diese Stelle ist nicht nur darum von Bedeutung, weil sie Wittgensteins erste Bemerkung darstellt, in der er sein Streben nach der „übersichtlichen Darstellung“ klar zum Ausdruck bringt, sondern auch darum, weil er in ihr zum ersten Mal von unserer Grammatik spricht. Wir haben es hier folglich nicht mehr mit einer logischen Grammatik zu tun, sondern mit unserer Grammatik – der Grammatik unserer Alltagssprache.⁶⁰ Entsprechend stellt Wittgenstein fest: „Wie seltsam wenn sich die Logik mit einer ‚idealen’ Sprache befasste, und nicht mit unserer.“ (Ms 108: 51) Logische Analyse ist für ihn zur „Analyse von etwas, was wir haben, nicht von etwas, was wir nicht haben“ (ebd.) geworden:⁶¹ „Der Satz ist vollkommen logisch analysiert, dessen Grammatik vollkommen klargelegt ist.“ (Ms 108: 88) Damit stellt die logische Analyse die Umgangssprache, die wir alltäglich gebrauchen, übersichtlich dar und bedient sich nicht eines Zeichenformalismus, den wir erst konstruieren müssten: „Sie ist also die Analyse der Sätze wie sie sind.“ (Ms 108: 51 f) Diese Überlegungen sind von fundamentaler Bedeutung für das Verständnis der Verschiebung von Logik zu Grammatik. Hatte sich die Logik im TLP mit der logischen Struktur, also der logischen Syntax bzw. logischen Grammatik von Sprache beschäftigt, so betrachtet die Grammatik bzw. Syntax von jetzt an unsere Sprache, wie sie ist, und versucht, ihre Regeln übersichtlich darzustellen. Das Ziel ist beiden Ansätzen gemeinsam die „vollkommene[…] Klarheit“ (Ms 108: 21) durch Aufdeckung von „leerlaufenden Räder[n]“ (WWK 48)⁶² und so die Vermeidung
schen Syntax verstanden werden, doch nichtsdestoweniger ist die Formulierung bezeichnend – zeigt sie doch, mit welchem Nachdruck Baker & Hacker den Begriff der Grammatik mit der Unterscheidung von Sinn und Unsinn untrennbar verwoben gesehen haben. Hacker hat allerdings in seiner überarbeiteten Edition des Kommentars diese Formulierung nicht wieder verwendet. Von unserer Syntax spricht Wittgenstein bereits während seines phänomenologischen Projekts, jedoch in Abgrenzung zur logischen Syntax (Ms 106: 49; Ts 208: 31; Ts 209: 90). Auch hier ist also mit „unserer Syntax“ die Syntax unserer gewöhnlichen Sprache gemeint. Vgl. 2.2. Zum selben Ergebnis gelangt Engelmann: „The expression of the rules of ‘grammar’ replaces the old idea of analysis.“ (Engelmann 2013b: 47) Das vollständige Zitat lautet: „Unsere Sprache ist in Ordnung, sobald wir nur ihre Syntax verstehen und die leerlaufenden Räder erkennen.“ Was Wittgenstein unter einem leerlaufenden Rad versteht, erklärt er auf derselben Seite: „Wenn ich mich umdrehe, ist der Ofen weg. (Die Dinge existieren nicht in den Wahrnehmungspausen.) Wenn ‚Existenz‘ im empirischen Sinn (nicht im metaphysischen) genommen wird, so ist diese Aussage ein leerlaufendes Rad.“ (WWK 48) Für ein weiteres Beispiel für ein leerlaufendes Rad vgl. WWK 65. Dasselbe Bild wird Wittgenstein auch
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von Irreführungen durch die Sprache.⁶³ In diesem Sinne beginnt Wittgenstein seine erste Vorlesung in Cambridge am 20. Januar 1930 mit den Worten: „Philosophy is the attempt to be rid of a particular kind of puzzlement.“ (LWL 1) Dieses hier noch sehr sanftmütig formulierte Ziel begegnet uns später in den PU in weitaus militanterer Form: „Die Philosophie ist ein Kampf gegen die Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache.“ (PU 109) Wittgenstein hält sein Projekt der Entwicklung einer phänomenologischen Sprache nicht dauerhaft für „absurd“ (Ms 107: 176), sondern erachtet es stattdessen bereits Anfang 1930 für unnötig: „Die phänomenologische Sprache oder ‚primäre Sprache‘, wie ich sie nannte, schwebt mir jetzt nicht als Ziel vor; ich halte sie jetzt nicht mehr für nötig.“ (Ts 209: 1)⁶⁴ Eine weitere Erläuterung finden wir in Waismanns Notizen vom 02. Januar 1930: Es ist so: Syntax und Zeichen arbeiten immer gegeneinander. Was die Zeichen leisten, geht auf Kosten der Syntax, und was die Syntax leistet, geht auf Kosten der Zeichen. Ich kann sagen: Ein Zeichensystem von richtiger Mannigfaltigkeit macht die Syntax überflüssig. Ich kann aber ebenso gut sagen: Die Syntax macht ein solches Zeichensystem überflüssig. Ich kann ja auch ein unvollkommenes Zeichensystem verwenden und die Regeln der Syntax hinzufügen. Beide zusammen leisten genau dasselbe, [es] ist also genau das gleiche Darstellungssystem. (WWK 80)
Wir sehen also, dass Wittgenstein seine phänomenologische Notation schließlich nicht als vollkommen fehlgeschlagenen oder gar absurden Versuch verwirft, sondern schlicht zu der Erkenntnis gelangt, dass ihm die genaue Betrachtung der Alltagssprache für seine Zwecke ausreicht. In diesem Sinne stellt Engelmann fest, dass Wittgenstein nicht die phänomenologische Untersuchung als solche, sondern die Notation verwirft: „It is only the fundamental role attributed to a complete notation that is abandoned.“ (2013b: 44)
noch in den PU verwenden: „Die Verwirrungen, die uns beschäftigen, entstehen gleichsam, wenn die Sprache leerläuft, nicht wenn sie arbeitet.“ (PU 132) Stetter beschreibt diesen Übergang (bei ihm in der Gegenüberstellung von TLP und dem Big Typescript) wie folgt: „An die Stelle des Programms der Übersetzung aus der natürlichen Sprache in eine extensional fundierte logische Syntax – mehr als ein Programm ist es nicht gewesen – tritt die grammatische Analyse der natürlichsprachlichen Basis philosophisch problematischer Sachlagen.“ (Stetter 2006: 112) Hingegen heißt es in der ursprünglichen Formulierung in Ms 107: „ich halte sie jetzt nicht mehr für möglich“ (Ms 107: 205, meine Hervorhebung). Dies haben bereits Hintikka & Hintikka (186 f) betont und behauptet, Wittgenstein habe an seiner Auffassung der Unmöglichkeit der phänomenologischen Notation festgehalten, obwohl er in Ts 209 „nötig“ statt „möglich“ schreibt.
2.3 Syntax und Grammatik Ende 1929 und 1930
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Ebenso darf Wittgensteins Übergang von der Analyse der logischen Syntax zur übersichtlichen Darstellung unserer Grammatik nicht zu der Annahme verleiten, er habe sich mit der Aufgabe des phänomenologischen Projekts gänzlich von seinen im TLP ausgedrückten Auffassungen distanziert. Tatsächlich hält er weiterhin an wesentlichen Grundzügen seiner Frühphilosophie fest. Am 18. Januar 1930 notiert er: „Es ist wahrscheinlich, dass meine ganze (bisherige) Auffassung der Sätze gleichsam um einen kleinen Winkel gedreht werden muss um zu stimmen/um wirklich zu passen.“ (Ms 107: 247) Diese Drehung um einen kleinen Winkel lässt sich verstehen als der Übergang von der Suche nach einer in unserer Sprache versteckten logischen Struktur zu einer Betrachtung der Sprache, wie sie tatsächlich ist. Folglich ist für Wittgenstein nicht mehr die Logik, sondern die Grammatik „a mirror of reality“ (LWL 9). Im Zuge dessen wird auch der Möglichkeitsraum ein grammatischer, denn „[g]rammar is not the expression of what is the case, but of what is possible“ (LWL 10). Gleichzeitig bleibt die im TLP zentrale Auffassung vom Satz als Bild, das wir mit der Wirklichkeit vergleichen, weiterhin bestehen (Ms 107: 241 f; Ms 108: 229; WWK 90; LWL 1, 4), denn ohne seine Beziehung zur Wirklichkeit ist jeder Satz für Wittgenstein „ein leeres Spiel von Strichen oder Lauten“ (Ms 107: 177).⁶⁵ Es geht ihm also noch immer darum, etwas über die Welt zu sagen, indem er das Sagbare vom Unsagbaren, d. h. das Sinnvolle vom Unsinnigen, versucht abzugrenzen. Seinen Studenten erklärt er im Oktober 1930: „What we are in fact doing is to tidy up our notions, to make clear what can be said about the world. We are in a muddle about what can be said, and are trying to clear up that muddle.“ (LWL 21) Das Philosophieren vergleicht er mit „tidying up a room“ (LWL 24), wobei man dabei nichts anderes als eine „synopsis of trivialities“ (LWL 26) erhält, denn in der Grammatik lassen sich keine Entdeckungen machen (WWK 78): Wie in der Logik gibt es auch in der Grammatik keine Überraschungen (TLP 6.1251, 6.1261; WWK 77; vgl. 2.2). Gemäß Engelmann ist die Grammatik eine wesentlich erweiterte Version der logischen Syntax: „‘Grammar’ (or ‘syntax’) […] must be understood as a substantially extended version of the logical syntax of the T[ractatus].“ (2013b: 43) Meiner Einschätzung nach ist der Unterschied zwischen Grammatik und Syntax jedoch größer. Grammatik ist nicht eine Version der logischen Syntax, sondern sie löst die logische Syntax ab. Der wesentliche Unterschied ist, dass die logische Syntax einen Zeichensymbolismus darstellt, welcher der Alltagssprache überge Dabei hält er auch an den Grundzügen seiner verifikationistischen Auffassung fest, die er im Zuge seines phänomenologischen Projektes entwickelt hatte: „Wie ein Satz verifiziert wird, das sagt er.“ (Ms 107: 143) Auch nachdem er die logische Analyse bereits verworfen hatte, notiert er: „die einzige Beziehung [des Satzes] zur Wirklichkeit ist die Art seiner Verifikation“ (Ms 107: 177).
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ordnet ist. Hingegen gründet sich Wittgensteins Grammatikbegriff ab Ende 1929 in Wittgensteins Akzeptanz der Alltagssprache, trotz ihrer Irreführungen. Eine wichtige Parallele bleibt dennoch bestehen: Sowohl die logische Syntax des TLP als auch die Grammatik ab Ende 1929 sollen dazu dienen, die Logik unserer Sprache abzubilden bzw. übersichtlich darzustellen. Wittgensteins Übergang von der logischen Analyse der Sprache vermittels eines Zeichensymbolismus zur übersichtlichen Darstellung der Grammatik unserer Umgangssprache ist die für diese Untersuchung wichtigste Änderung seiner Auffassungen in den Bemerkungen 1929/30. Im Folgenden werde ich darlegen, wie sich seine Hinwendung zur Alltagssprache in seiner Verwendung von „Syntax“ und „Grammatik“ niederschlägt. Im Anschluss daran werden die grundlegenden Aspekte seines Grammatikbegriffs erläutert, die er in den darauffolgenden Monaten entwickelt hat.
2.3.2 Mehr Grammatik als Syntax Der im letzten Abschnitt dargestellte Übergang von der Untersuchung der logischen Syntax zur übersichtlichen Darstellung unserer Grammatik legt die Vermutung nahe, dass Wittgenstein nach Aufgabe seines phänomenologischen Projekts häufiger von Grammatik als von Syntax spricht. Die Tatsache, dass dies tatsächlich der Fall ist, verdeutlicht die enge Verknüpfung von Wittgensteins begrifflichen Verwendungen und seinen philosophischen Auffassungen und stützt damit eine grundlegende Voraussetzung der vorliegenden Untersuchung. Bemerken wir eine begriffliche Verschiebung in seinen Schriften, ist es häufig naheliegend, auch eine Änderung seiner Philosophie zu vermuten. Wie bereits gezeigt, zieht Wittgenstein unmittelbar nach seiner Rückkehr zur philosophischen Tätigkeit 1929 weiterhin den Begriff der Syntax dem der Grammatik vor, verzichtet jedoch, im Gegensatz zum TLP, in beiden Fällen auf das Attribut „logisch“ (vgl. 2.2). Nach Aufgabe seines phänomenologischen Projekts im Oktober 1929 nimmt sein Gebrauch des Wortes „Grammatik“ und dessen Derivaten rasant zu: In den Schriften nach der Aufgabe des phänomenlogischen Projekts, d. h. ab Seite 176 im Ms 107, bis zum Ende des Jahres 1930 (Ms 107: 176 – 308, Ms 108, Ts 208, Ts 209) spricht er doppelt so häufig von Grammatik (105 Mal)⁶⁶ wie von Syntax (52 Mal).⁶⁷
Substantivische Verwendung: Ms 107: 176, 238, 276 (2x), 282 (2x); Ms 108: 2, 17, 22, 31, 36, 39, 52, 60, 64, 70, 74, 88 (3x), 95, 99, 102, 104 (5x), 115, 143, 153, 168 (2x), 269; Ts 208: 1r, 31, 39, 50r, 51, 52r, 70, 112, 116, 117; Ts 209: 1 (2x), 2 (2x), 3 (5x), 4, 6, 14 (2x), 15 (2x), 21, 28, 35, 46, 49, 63, 78, 79, 90, 95, 127
2.3 Syntax und Grammatik Ende 1929 und 1930
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Die Grammatik hat damit einen festen Platz in Wittgensteins Denken gefunden. Im TLP hatte er sie nur gebraucht, um seinen Begriff der logischen Syntax einzuführen (vgl. 2.1). Der Gegensatz von Alltagsgrammatik und logischer Grammatik schien ihm so groß, dass das Attribut „logisch“ nicht ausreichte und ein anderer Begriff für die logische Grammatik nötig war. Mit der Hinwendung zur Alltagssprache Ende 1929 verliert der Begriff der Syntax jedoch an Bedeutung und verschwindet allmählich aus Wittgensteins Sprachgebrauch, während der Begriff der Grammatik triumphierend zurückkehrt. Dennoch verwendet Wittgenstein beide Begriffe zunächst weiterhin synonym. Engelmann ist der Auffassung, dass Wittgenstein bis Ende 1930 die Worte „Grammatik“ und „Syntax“ synonym gebrauche, nach 1930 jedoch häufiger „Grammatik“ als „Syntax“ verwende. (Engelmann 2013b: 282, Anm. 49) Mein Ergebnis hingegen ist, dass wir nicht erst nach 1930, sondern schon ab Ende 1929, also nach Wittgensteins Aufgabe seines phänomenologischen Projekts, eine Änderung verzeichnen können, denn ab diesem Zeitpunkt nimmt seine Verwendung von „Grammatik“ gegenüber Syntax rasant zu – er gebraucht „Grammatik“ zweimal so viel wie „Syntax“. Zuvor, während seines phänomenologischen Projektes, hatte er doppelt so häufig von „Syntax“ als von „Grammatik“ gesprochen. Insofern sehe ich Wittgensteins verstärkten Gebrauch von „Grammatik“ untrennbar mit seiner Hinwendung zur Umgangssprache verknüpft.⁶⁸
2.3.3 Grammatik als „Theory of Logical Types“ Am 02. März 1930 nennt Wittgenstein die Grammatik eine „Theory of logical types“ (Ms 108: 104)⁶⁹ und bezieht sich damit auf seinen Lehrer und Freund Bertrand Russell, der als erster eine einfache Typentheorie zur Lösung semantischer Paradoxien – der nach ihm benannten „Russellschen Antinomien“ – entwarf und
(3x). Adjektivische Verwendung: Ms 107: 181, 210, 211, 257, 278, 279, 285 (2x); Ms 108: 31, 89, 97 (2x), 98, 103, 143, 167, 168, 169, 171, 174, 178, 210; Ts 208: 1r; Ts 209: 1 (3x), 2, 3, 10, 34, 39, 47. Substantivische Verwendung: Ms 107: 213 (2x), 214, 218, 232, 235; Ms 108: 25 (3x), 26, 34, 50, 55 (3x), 63, 233; Ts 208: 31, 39 (2x), 50r, 53v, 118; Ts 209: 5, 19, 33, 36 (3x), 53, 59, 63, 70, 73, 80, 90, 94 (3x), 95 (2x). Adjektivische Verwendung: Ms 108: 64, 115, 170, 171, 295; Ts 208: 9, 39, 54; Ts 209: 45, 53, 74. Auch Hintikka & Hintikka (1990: 220) ist nicht entgangen, dass Wittgenstein „um 1929/30 […] so häufig den Ausdruck ‚Grammatik‘ verwendet, wo man normalerweise die Wörter ‚Logik‘ oder ‚Semantik’ erwartet.“ Vgl. hierzu auch Engelmann: 49 f. Ob Wittgenstein bereits während seiner Ingenieurstudien in Manchester auf Russell hingewiesen wurde, oder ob er erst nach Jena zu Frege reiste, der ihn dann wiederum nach Cambridge schickte, lässt sich nicht eindeutig klären.Vgl. dazu McGuinness 1988: 73 f.
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im Jahr 1903 als Anhang zu seinen Principles of Mathematics veröffentlichte. (Russell 1903, Hasenjäger 1998: 1538, Mormann 2007: 31, 89)⁷⁰ Russell entwickelte wenig später eine verzweigte Typentheorie zur Vermeidung logischer Paradoxien, die 1910 in den gemeinsam mit Alfred North Whithead verfassten Principia Mathematica erschien (Russell 1978: 37– 65, vgl. Hasenjäger 1998: 1538). Wittgenstein war mit beiden Werken vertraut, und es waren u. a. die Principles of Mathematics, die ihn während seiner Zeit als junger Ingenieur zur intensiven Beschäftigung mit Logik und Philosophie und schließlich nach Cambridge zu Russell trieben. (Monk 1990: 30 f)⁷¹ Die Grundidee der Typentheorien ist es, Selbstreferenzen von Entitäten – etwa, in Bezug auf Funktionen, solche, die sich selbst zum Argument haben, also f(f) – durch eine hierarchische Ordnung logischer „Typen“ auszuschließen. (Mormann 2007: 88) Einfache Typentheorien gehen dabei von einer linearen, verzweigte Typentheorien von einer verzweigten Hierarchie von Typen aus. (Rheinwald 1988: 57) In seinen Notizen geht Wittgenstein nicht näher auf seine Charakterisierung der Grammatik als Typentheorie ein, setzt „Theory of logical types“ jedoch in Anführungszeichen, was suggeriert, dass er mit diesem Begriff zwar auf Russell anspielen möchte, jedoch etwas anderes als dessen Typentheorie im Sinn hat. In der Tat geht es ihm nicht um die Überwindung von logischen Selbstreferenzen, Antinomien und Paradoxien, sondern, wie bereits gezeigt, um die Auflösung sprachlicher Missverständnisse im Allgemeinen. Dennoch haben sowohl Russells Typentheorie als auch Wittgensteins Grammatik die Klärung semantischer Verwirrungen zum Ziel. Russell möchte sie durch die hierarchische Ordnung von Entitäten erreichen, Wittgenstein durch die übersichtliche Darstellung der Grammatik. In seinen Vorlesungen im März 1930 grenzt sich Wittgenstein jedoch deutlich von Russell ab:
Zu Russells Typentheorien vgl. für eine kurze Übersicht z. B. Mormann 2007: 88 – 94 und für eine detaillierte Betrachtung z. B. Rheinwald 1988. „[…] Wittgenstein was introduced by one of his fellow students to Bertrand Russell’s book on the subject, The Principles of Mathematics, which had been published five years previously. […] Reading Russell’s book was to prove a decisive event in Wittgenstein’s life. […] He had found a subject in which he could become as absorbed as his brother Hans had been in playing the piano, a subject in which he could hope to make, not just a worthwhile contribution, but a great one.“ (Monk 1990: 30 f) Ein Verweis auf Russells Typentheorie findet sich bereits im TLP: „Kein Satz kann etwas über sich selbst aussagen, weil das Satzzeichen nicht in sich selbst enthalten sein kann, (das ist die ganze ‘Theory of types’).“ (TLP 3.332) Zuvor hatte er Ende 1912 in einen Brief an Russell geschrieben, er glaube nicht, dass es verschiedene Typen von Gegenständen geben könne, und dass jede Typentheorie durch eine Symbolismustheorie überflüssig werde. (Monk 1990: 70)
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Explain ‘A stands on the floor’. A is this, stands is this, on is this, floor is this. I.e. these definitions presuppose that we know grammar. These are conventions in that they don’t talk about application, but presuppose it. This explains what’s wrong with Russell’s theory of types: a theory of types is a grammar, & must not mention meanings of words. (MWN 30, 03.03.1930) All grammar is a theory of logical types; and logical types do not talk about the application of language. Russell failed to see this. (LWL 13, 10.03.1930)
Die Grammatik als eine Theorie der logischen Typen sagt nichts über die Anwendung der Sprache aus, weil sie, bestehend aus Konventionen, diese Anwendung bereits voraussetzt. (LWL 13) Unter „Anwendung“ versteht Wittgenstein hier die Anwendung auf die Wirklichkeit, also den Vergleich eines Satzes mit der Wirklichkeit.⁷² In seiner Vorlesung vom 10. März 1930 fährt er fort: „Language [d.i. hier: grammar] shows the possibility of constructing true and false propositions, but not the truth or falsehood of any particular proposition.“ (LWL 13) Während Russell in den Principia Mathematica noch von der Wahrheit und Falschheit von Sätzen spricht, geht es Wittgenstein wieder um die Möglichkeit der Konstruktion solcher Sätze, und damit um die Unterscheidung von Sinn und Unsinn. Ob ein Satz wahr oder falsch ist, erfahren wir durch seine Anwendung auf die Wirklichkeit. Der Grammatik können wir lediglich entnehmen, ob ein Satz sinnvoll ist oder nicht. Was Wittgenstein in der Grammatik unterscheidet, nennt er nicht „logische Typen“, sondern, in Anlehnung an die Alltagsgrammatik, „Wortarten“ oder auch „Wortgattungen“. Damit meint er allerdings nicht ausschließlich die Wortarten der Linguisten, sondern unterscheidet auch zwischen Wortarten, wo Sprachwissenschaftler keinen Unterschied sehen.⁷³ So gehören Wittgenstein zufolge bei-
Die Anwendung eines Satzes auf die Wirklichkeit wird in Abschnitt 2.3.4 behandelt. Dies geht aus einer etwas späteren Bemerkung vom Juni 1931 deutlich hervor: „Unsere grammatische Untersuchung unterscheidet sich ja von der eines Anglisten oder Germanisten etc.; uns interessiert z. B. die Übersetzung von einer Sprache in andre Sprachen. Überhaupt interessieren uns Regeln, die der Philologe gar nicht betrachtet. […] Andererseits wäre es irreführend zu sagen, dass wir das Wesentliche der Grammatik behandeln (er das Zufällige). Eher könnten wir sagen, dass wir doch etwas anderes Grammatik nennen, als er. Wo wir eben Wortarten unterscheiden, wo für ihn kein Unterschied vorhanden ist.“ (Ms 110: 194 f; vgl. Ts 213: 413) Analog zu Wittgensteins Gebrauch von „Grammatik“ orientiert sich also auch sein Gebrauch von „Wortart“ an dem Sprachgebrauch der Philologen, geht jedoch über diesen hinaus, auch wenn Wittgenstein zumindest anfänglich keinen Unterschied zum herkömmlichen Sprachgebrauch eingestehen will (vgl. 1.3).
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spielsweise nicht alle jene Worte, die die Sprachwissenschaft Substantive nennt, wie etwa „Tisch“, „Mauer“, „Tier“, „Wasser“, „Schmerz“ und „Gedanke“, zur selben Wortart. Nehmen wir zum Beispiel den Satz: „Dieser Tisch ist zwei Meter lang“. „Tisch“ ließe sich hier ersetzen durch einen Teil anderer Substantive, wie etwa „Mauer“ („Diese Mauer ist zwei Meter lang“) oder „Tier“, jedoch nicht durch einen Teil anderer Substantive wie etwa „Wasser“, „Schmerz“ oder „Gedanke“; Sätze wie „Dieses Wasser ist zwei Meter lang“, „Dieser Schmerz ist zwei Meter lang“, etc. sind unsinnig.⁷⁴ Für Wittgenstein wird eine Wortgattung nicht durch die äußere, (alltags‐)grammatische Form eines Wortes, sondern „erst durch alle grammatischen Regeln bestimmt, die von einem Wort gelten, und so betrachtet, hat unsere Sprache eine Unmenge verschiedener Wortarten.“ (Ms 107: 211) Es ist eine „Unmenge“ an Wortarten, weil Wittgenstein einerseits voraussetzt, dass zwei Worte nur dann zur selben Wortart gehören, wenn ihre Regeln dieselben sind, andererseits aber feststellt, dass „wenn sich ein Zeichen ganz so benimmt wie ein anderes, die beiden dasselbe Zeichen sind.“ (Ms 108: 172) Streng genommen stellt also jedes Wort eine eigene Gattung dar. Dennoch möchte Wittgenstein verschiedene Kategorien – Typen – von Wörtern unterscheiden und so verschiedene Kapitel in der Grammatik als Buch bilden: „Die Wörter ‚Farbe‘, ‚Ton‘, ‚Zahl‘ etc. können in den Kapitelüberschriften der/ unserer Grammatik erscheinen.⁷⁵ In den Kapiteln müssen sie nicht vorkommen, sondern da wird die Struktur gegeben.“ (Ms 108: 99; Ts 209: 2) „Farbe“ könnte somit als Überschrift der Darstellung der Grammatik der Farben fungieren. Diese Grammatik der Farben hat Wittgenstein bereits übersichtlich dargestellt, indem er das Farbenoktaeder entwarf, das er jetzt entsprechend eine „übersichtliche Darstellung der grammatischen Regeln“ (Ms 108: 89) nennt. Damit ist das Farben-
Der Gedanke der verschiedenen Wortarten zieht sich bis in die PU: „Wir werden sagen können: in der Sprache (8) haben wir verschiedene Wortarten. Denn die Funktion des Wortes ‚Platte‘ und des Wortes ‚Würfel‘ sind einander ähnlicher, als die von ‚Platte‘ und von ‚d‘.“ (PU 17) Vgl. auch WWK 102: „In der Logik gibt es keine Begriffe. Was so ausschaut wie ein Begriff ist eine Kapitelüberschrift in der Grammatik. Wenn man z. B. von verschiedenen Zahlenarten spricht, so hat man es nicht mit verschiedenen Begriffen zu tun.Wir haben nicht einen Begriff der Zahl, der in verschiedene Unterbegriffe zerfällt. Die Zahlen zerfallen nicht in Subklassen, sondern wir haben verschiedene Wortarten vor uns, etwa so, wie die Grammatik Substantiva, Adjektiva,Verba etc. unterscheidet. Zwischen der Syntax der verschiedenen Zahlenarten bestehen gewisse Ähnlichkeiten, und deshalb nennt man sie alle Zahlen.“ In Wittgensteins Redeweise von „gewissen Ähnlichkeiten“ lässt sich eine Wurzel von Wittgensteins Idee der Familienähnlichkeit sehen. In dieselbe Richtung weist eine weitere Bemerkung Wittgensteins aus demselben Gespräch mit Schlick und Waismann (19. Juni 1930): „Die Bedeutung des Schachspiels ist das, was alle Schachspiele gemeinsam haben.“ (WWK 105)
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oktaeder von einem Teil der phänomenologischen Notation zu der übersichtlichen Darstellung eines Teils der Grammatik unserer Alltagssprache geworden.⁷⁶ Das Farbenoktaeder stellt nicht nur ein Kapitel in der Grammatik als Buch dar, sondern ihm entspricht auch der grammatische Raum der Farben (Ms 107: 278 f). Der Begriff des Raumes als Möglichkeits- und damit logischer bzw. grammatischer Raum gewinnt von nun an an Bedeutung. „Suchen kann man nur in einem Raum“, notiert Wittgenstein (Ms 107: 151), und: „Raum nenne ich das, dessen man beim Suchen gewiß sein kann“ (Ms 108: 155).Was Wittgenstein hier im Sinn hat, wird verständlich, wenn wir folgende Bemerkung heranziehen: „Wenn ich sage, ich habe heute Nacht nicht geträumt, so muss ich doch wissen, wo nach dem Traum zu suchen wäre.“ (Ms 108: 56) Das bedeutet, die Möglichkeit des Träumens und die des Nicht-Träumens liegen im selben Raum. Genauso verhält es sich mit dem Zustand von Magenschmerzen: Wenn ich sage: ‚Ich habe keine Magenschmerzen‘, so setzt das bereits die Möglichkeit eines Zustandes der Magenschmerzen voraus. Mein jetziger Zustand und der Zustand der Magenschmerzen liegen gleichsam in selben logischen Raum. (So wie wenn ich sage: Ich habe kein Geld. Diese Aussage setzt bereits die Möglichkeit voraus, daß ich ja Geld habe. Sie zeigt auf den Nullpunkt des Geldraumes.) Der negative Satz setzt den positiven voraus und umgekehrt. (WWK 67)
In diesem Zusammenhang spricht Wittgenstein sogar von einem „Magenschmerzenraum“ (WWK 86), aber auch vom arithmetischen Raum (Ms 107: 63), algebraischen Raum (Ms 107: 63), physikalischen Raum (Ms 108: 44), visuellen, taktilen, temporalen und akustischen Raum (LWL 6).⁷⁷ Ein Raum ist ein Möglichkeitsraum der sinnvollen Sätze, die eine bestimmte Wortart enthalten. Wenn wir beispielsweise die Farbe eines Gegenstandes wissen wollen, suchen wir danach im Farbenraum und nicht im auditiven Raum oder im Raum der Magenschmerzen etc. Es lässt sich also festhalten, dass Wittgenstein 1930 die Wörter unserer Sprache in Kategorien einteilt, die er „logische Typen“, „Räume“, „Kapitel“ oder „Wortarten“ nennt. Entscheidend ist die Zuordnung von Worten zu einer Kategorie aufgrund der Regeln, die von ihnen gelten. Dabei geben alle möglichen Sätze, in denen ein bestimmtes Wort vorkommt, die Grammatik dieses Wortes vollständig an (WWK 47). Jeder Satz liegt somit eingebettet in einem System von Sätzen, die
Vgl. Engelmann 2013b: „We might just even use the tools developed for the phenomenological language in order to express the ’grammar’ of language.“ (47) Vgl. auch Ms 107: 258, 265, 281; Ms 108: 57 f.
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sich alle im selben grammatischen Raum befinden, und es ist dieses Satzsystem, das Wittgenstein mit der Wirklichkeit vergleichen will: „Ich lege nicht den Satz als Maßstab an die Wirklichkeit an, sondern das System von Sätzen.“ (Ms 108: 35; vgl. WWK 76). Dies ist ein wesentlicher Unterschied zum TLP, worin Wittgenstein den einzelnen Satz als Bild mit der Wirklichkeit verglichen hatte (TLP 2.1511, 2.1512). Der Gedanke des Satzsystems kommt ins Spiel durch Wittgensteins Einsicht, dass nicht alle Elementarsätze voneinander unabhängig sein können (vgl. 2.2). Wenn ein Fleck rot ist, kann er nicht gleichzeitig blau sein. Sätze wie „Der Fleck ist rot“, „Der Fleck ist blau“, „Der Fleck ist nicht grün“ usw. liegen in einem Satzsystem und damit im Raum der Möglichkeiten der Farbigkeit des Flecks. Im Gespräch mit Schlick und Waismann erläutert Wittgenstein seine neue Einsicht: Nicht die einzelnen Teilstriche werden angelegt, sondern die ganze Skala. […] Ein solches ganzes Satzsystem nun wird mit der Wirklichkeit verglichen, nicht ein einzelner Satz. […] Ich habe all das bei der Abfassung meiner Arbeit noch nicht gewusst und meinte damals, daß alles Schließen auf der Form der Tautologie beruhe. Ich hatte damals noch nicht gesehen, daß ein Schluß auch die Form haben kann: Ein Mensch ist 2 m groß, also ist er nicht 3 m groß. Das hängt damit zusammen, daß ich glaubte, Elementarsätze müssten unabhängig sein; aus dem Bestehen eines Sachverhaltes könne man nicht auf das Nicht-Bestehen eines andern schließen. Wenn aber meine jetzige Auffassung mit dem Satzsystem richtig ist, ist es sogar die Regel, daß man aus dem Bestehen eines Sachverhaltes auf das Nicht-Bestehen aller übrigen schließen kann, die durch das Satzsystem beschrieben werden. (WWK 64)
Im Zuge von Wittgensteins Hinwendung zur Alltagssprache verliert „[d]er Begriff des ‚Elementarsatzes‘ jetzt überhaupt seine Bedeutung“ (Ms 108: 52), denn die Regeln für die logischen Verknüpfungswörter „und“, „oder“, „nicht“ etc., die Wittgenstein mittels der W/F-Notation dargestellt hatte, „sind ein Teil der Grammatik über diese Wörter, aber nicht die ganze.“ (Ebd.) Auch im Gespräch mit Schlick und Waismann erklärt Wittgenstein: „Die Regeln für die logischen Konstanten bilden […] nur einen Teil einer umfassenden Syntax, von der ich damals noch nichts wußte.“ (WWK 74) Mitunter angeregt durch diese Textpassage nennt Engelmann Wittgensteins Grammatik zu dieser Zeit „comprehensive grammar“ – umfassende Grammatik (Engelmann 2013b: 50). Sie ist umfassend im Sinne von vollständig: „There are no gaps in grammar; grammar is always complete“ (LWL 16) und „Wenn man eine logische Form beschreibt, so muß man alles beschreiben. Nichts darf unvollständig bleiben.“ (WWK 69) Diese Vollständigkeit der Grammatik wird bereits durch die Begriffe des Satzsystems und der Grammatik als Buch suggeriert.⁷⁸
Die Vollständigkeit der Grammatik wird Wittgenstein im Big Typescript sowohl behaupten als
2.3 Syntax und Grammatik Ende 1929 und 1930
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Ich werde im Folgenden einige weitere Aspekte dieses frühen Grammatikbegriffs Wittgensteins erläutern, die sich, so wie sein Streben nach übersichtlicher Darstellung, bis ins Big Typescript und zum Teil bis in die PU ziehen werden. Tatsächlich reichen die Wurzeln einiger grundlegender Gedanken der PU bis in die Bemerkungen von Ende 1929 bis Ende 1930 – d. h. bis in eine Zeit, zu der Wittgenstein noch an grundlegenden Auffassungen des TLP festgehalten hatte.
2.3.4 Kalkül, Schach, Spiel, Willkür Die Grundzüge von Wittgensteins Grammatikverständnis in seinen Bemerkungen von Ende 1929 bis Ende 1930 wurden bereits vorgestellt. In diesem Abschnitt soll auf drei weitere wichtige Aspekte der Grammatik hingewiesen werden, die für die weitere Entwicklung des Grammatikbegriffs von Bedeutung sein werden: Erstens die Nähe von Wittgensteins Grammatikverständnis zum mathematischen Kalkül und Schachspiel, zweitens die damit einhergehende Willkürlichkeit der Grammatik, und drittens Wittgensteins Auffassung seiner Untersuchung als einer grammatischen. Bereits zur Zeit der Entwicklung einer phänomenologischen Notation standen Wittgensteins Bemerkungen zur Syntax überwiegend im Kontext mathematischer Überlegungen. Seine erstmalige Verwendung des Kalkülbegriffs fällt ebenfalls in diese Zeit:⁷⁹„Das System von Regeln, welche einen Kalkül bestimmen, bestimmt damit auch die ‚Bedeutung‘ seiner Zeichen.“ (Ms 105: 32) Diese Bemerkung steht im Kontext der Betrachtung eines Schülers der Trigonometrie; Kalkül heißt hier mathematischer Kalkül. Wittgenstein übernimmt diese Bemerkung in seine Schriften von 1930 (Ts 208: 54), wo sie im selben mathematischen Kontext verortet bleibt. Mathematik ist für Wittgenstein, wie er gegenüber Waismann und Schlick behauptet, „immer eine Maschine, ein Kalkül.“ (WWK 106) Das „System von Regeln“, von dem Wittgenstein auch in der zitierten Bemerkung zum Kalkül spricht, ist 1930 von einem logisch-syntaktischen zu einem grammatischen geworden. Tatsächlich verwendet Wittgenstein in seinen Vorlesungen vom Michaelmas Term 1930 und May Term 1931 wiederholt den Begriff des grammatischen Systems, etwa am 10. November 1930: „I may use a new word: but I must commit myself to something. It’s the way in which it’s used which cha-
auch kritisieren und schließlich bestreiten, was weitreichende Konsequenzen für seinen philosophischen Ansatz haben wird. Vgl. Kap. 3. Dennoch verwendet Wittgenstein während der Zeit seines phänomenologischen Projekts den Kalkülbegriff lediglich zweimal, nach Aufgabe des Projekts 1929/30 hingegen weitaus häufiger.
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racterises it. I.e. a word has only meaning in a grammatical system.“ (MWN 90)⁸⁰ Nach wie vor ist es das System, das die Bedeutung eines Wortes festlegt, wie auch im Fall des Kalküls das Regelsystem die Bedeutung seiner Zeichen bestimmt. Die Bedeutung eines Wortes ist „its place in the symbolism“ (LWL 28) und damit sein Ort im grammatischen Raum. Ändern sich die Regeln, die von einem Wort gelten, so ändert sich das entsprechende Satzsystem, der grammatische Raum, und auch die Bedeutung des Wortes: „Wenn die Syntax verschieden ist, muß auch die Bedeutung verschieden sein.“ (WWK 71) Trotz dieser offenbaren Verwandtschaft von Grammatik und Kalkül dürfen wir nicht vorschnell schließen, dass Wittgenstein zu dieser Zeit Grammatik als Kalkül versteht. Grammatik beschäftigt sich mit Sätzen, Mathematik, die Wittgenstein als Kalkül betrachtet, hingegen nicht, denn für Wittgenstein sind „mathematische Gleichungen keine Sätze“ (Ms 107: 188). Sie sind darum keine Sätze, weil Sätze – als sinnvolle Sätze – wahr oder falsch sein können, während mathematische Gleichungen immer wahr sind: „Man könnte sagen: Die Philosophie sammelt fortwährend ein Material von Sätzen, ohne sich um ihre Wahr- oder Falschheit zu kümmern, nur im Falle der Logik und Mathematik hat sie es nur mit den ‚wahren‘ Sätzen zu tun.“ (Ms 107: 286) Obwohl also sowohl Mathematik und (formale) Logik als auch Grammatik ein System bilden, sind nur das mathematische und das logische System Kalküle.⁸¹ Dennoch liegen Kalkül und Grammatik eng beieinander. Wittgenstein vergleicht beide mit dem Schachspiel. Vermutlich ist seine Schachspielanalogie von Gottlob Frege angeregt, denn Wittgenstein verweist explizit auf Textellen bei Frege (Ms 108: 170; WWK 124).⁸² Das Regelsystem des Schachspiels versteht er als Kalkül
Vgl. auch LWL 36: „A word only has meaning in a grammatical system, and what characterises it is the way in which it is used.“ Für weitere Instanzen des Ausdrucks „grammatisches Systems“ in Moores Vorlesungsnotizen vgl. MWN 86, 145, 151. Spätestens hier stellt sich die Frage, was Wittgenstein in den Bemerkungen 1930 unter Logik versteht. Sein hier dargestelltes Logikverständnis unterscheidet sich offenbar von dem im TLP zum Ausdruck gebrachten, demzufolge Logik keinesfalls Kalkül ist. Darüber hinaus unterscheidet Wittgenstein im TLP zwischen logischen und mathematischen Sätzen. Meine These ist, dass er den Begriff der Logik in verschiedener Hinsicht verwendet und in der hier zitierten Bemerkung die formale Logik als Disziplin einen Kalkül nennt. Dazu wird in Abschnitt 3.1 mehr gesagt. Zu Wittgensteins Logikverständnis vgl. insbesondere 4.2. Die entsprechenden Stellen bei Frege hat Biesenbach zusammengetragen. (Vgl. Biesenbach 2014: 163) Es handelt sich demnach um zwei Textpassagen aus den Grundgesetzen der Arithmetik: „Zuweilen scheint man die Zahlzeichen wie Schachfiguren anzusehen und die sogenannten Definitionen als Spielregeln. […]“ (GGA I: xiii), und: „Während in der inhaltlichen Arithmetik die Gleichungen und Ungleichungen Sätze sind, die Gedanken ausdrücken, sind sie in der formalen zu vergleichen den Stellungen von Schachfiguren, die nach gewissen Regeln verändert werden
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und spricht von den „Spielregeln der Mathematik“. (WWK 120) In einem Gespräch mit Schlick und Waismann im Juni 1930 bemerkte er: Man hat mich in Cambridge gefragt, ob ich denn glaube, daß es die Mathematik mit den Tintenstrichen auf dem Papier zu tun habe. Darauf antworte ich: In genau demselben Sinn, wie es das Schachspiel mit den Holzfiguren zu tun hat. Das Schachspiel besteht nämlich nicht darin, daß ich Holzfiguren auf Holz herumschiebe. Wenn ich sage: ‚Jetzt werde ich mir eine Königin anschaffen mit ganz furchtbaren Augen, die wird alles aus dem Feld schlagen‘, so werden Sie lachen. Es ist egal, wie ein Bauer aussieht. Es ist vielmehr so, daß die Gesamtheit der Spielregeln den logischen Ort des Bauern ergibt. Der Bauer ist eine Variable, so wie das ‚x‘ in der Logik. (WWK 104)
Die Gesamtheit der Spielregeln ergibt die Bedeutung des Bauern im Schachkalkül, so wie die Gesamtheit der Regeln eines mathematischen Zeichens die Bedeutung dieses Zeichens im mathematischen Kalkül bestimmt. Die Schachspielanalogie gebraucht Wittgenstein, ebenfalls im Gespräch mit Schlick und Waismann, im Dezember 1930, auch in Bezug auf die Grammatik (hier noch Syntax): Ich kann nicht sagen: Das ist ein Bauer und für diese Figur gelten die und die Spielregeln. Sondern die Spielregeln bestimmen erst diese Figur: Der Bauer ist die Summe der Regeln, nach welchen er bewegt wird (auch das Feld ist eine Figur), so wie in der Sprache die Regeln der Syntax das Logische im Wort bestimmen. (WWK 134)
Die Regeln, die von einer Schachfigur gelten, definieren die Figur. In gleicher Weise bestimmen die grammatischen Regeln, die von einem Wort gelten, die Wortart: „Die Frage ‚Was ist ein Wort‘ ist ganz analog der ‚Was ist eine Schachfigur‘“. (Ms 107: 240) In der Analogie entsprechen „[v]erschiedene Arten von Figuren, wie etwa Läufer, Rössel, etc. […], verschiedenen Wortarten.“ (Ms 108: 169) Wittgenstein nennt das grammatische System diesem Bild zufolge ein Spiel (Ms 108: 167). Sowohl der mathematische Kalkül als auch die Grammatik werden somit mit dem Spiel verglichen. Wittgenstein stellt fest, dass die Grammatik „allein betrachtet eine bloße Sammlung von Spielregeln sein [könnte].“ (Ms 108: 102, vgl. WWK 105) Doch sie ist tatsächlich nicht eine bloße Spielregelsammlung. Während die Mathematik (das Kalkül, das Spiel) „ihre eigene Anwendung ist“ (Ms 108: 115), wenden wir die Grammatik auf die Wirklichkeit an. Wittgenstein verdeutlicht diesen Sachverhalt in seiner Vorlesung vom 10. März 1930:
ohne Rücksicht auf einen Sinn. […]“ (GGA II: §91). Wolfgang Kienzler hat Wittgensteins Beeinflussung durch Frege ausführlich untersucht (1997: 179 – 229).
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‘[…] Are you then talking of ‘mere convention’, of mere convention in the sense that the rules of chess or any other game are ‘mere convention’?’ Grammar certainly is not merely the conventions of a game in this sense, the game of language.What distinguishes language from a game in this sense is its application to reality. This application is not shown in grammar; the application of the signs is outside the signs, the picture does not contain its own application. Language is connected with reality by picturing it, but that connection cannot be made in language, explained by language. (LWL 12)
In dieser Erläuterung sehen wir, dass Wittgenstein weiterhin an seiner Auffassung, dass Sprache die Wirklichkeit abbildet, festhält. Auch der hier formulierte Gedanke, dass das Bild nicht seine eigene Anwendung abbilden kann, findet sich bereits im TLP: „Der Satz kann die gesamte Wirklichkeit darstellen, aber er kann nicht das darstellen, was er mit der Wirklichkeit gemein haben muß, um sie darstellen zu können – die logische Form.“ (TLP 4.121) Die Anwendung der Grammatik liegt außerhalb ihrer selbst, so wie die Form der Abbildung, die logische Form, außerhalb der Logik liegt: „Um die logische Form darstellen zu können, müßten wir uns mit dem Satz außerhalb der Logik aufstellen können, das heißt außerhalb der Welt.“ (TLP 4.12) Was die Grammatik vom Kalkül unterscheidet, ist damit ihr Bezug zur Wirklichkeit. Ohne diesen Bezug wäre sie ein Spiel: „Die Syntax läßt sich nicht begründen. Sie ist daher willkürlich. Losgelöst von den Anwendungen, für sich allein betrachtet, ist sie Spiel, genau so wie das Schachspiel.“ (WWK 105) Später im Big Typescript wird sich Wittgenstein von dieser Auffassung abgrenzen und die Grammatik als Kalkül auffassen: „Die Grammatik ist für uns ein reiner Kalkül. (Nicht die Anwendung eines auf die Realität.)“ (Ts 213: 558). Die Auffassung von Grammatik als Kalkül vertritt er bereits im September 1931 (Ms 111: 171), doch noch nicht in seinen Bemerkungen von Ende 1929 bis Ende 1930. Diese letzte zitierte Bemerkung aus Waismanns Notizen enthält einen weiteren hier relevanten Aspekt, nämlich die Willkürlichkeit der Grammatik: „Die Syntax läßt sich nicht begründen. Sie ist daher willkürlich.“ (WWK 105) Grammatik ist willkürlich, weil sie sich nicht rechtfertigen lässt: Die Konventionen der Grammatik lassen sich nicht durch eine Beschreibung des Dargestellten rechtfertigen. Jede solche Beschreibung setzt schon die Regeln der Grammatik voraus. D. h., was in der zu rechtfertigenden Grammatik als Unsinn gilt, kann in der Grammatik der rechtfertigenden Sätze nicht als Sinn gelten, und umgekehrt. (Ms 108: 104)
Die Willkürlichkeit der Grammatik besteht also darin, dass sie sich nicht durch Sätze rechtfertigen lässt, denn solche Sätze müssten den grammatischen Regeln folgen, welche sie gerade zu rechtfertigen versuchen. Wie die Grammatik nicht
2.4 Zusammenfassung
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ihre Anwendung auf die Realität enthalten kann, so kann sie sich auch nicht selbst rechtfertigen. Wittgenstein nennt die grammatischen Regeln, in Anlehnung an die Spielregeln der Schachanalogie, „Konventionen“ (Ms 108: 96 ff; Ts 209: 2 f). Doch es sind nicht bloße Konventionen ihrer Anwendung auf die Realität (LWL 12). Die Grammatik ist willkürlich aufgrund ihrer Grund- und Rechtfertigungslosigkeit, sie ist jedoch nicht willkürlich im Sinne eines in sich selbst geschlossenen Kalküls ohne jegliche Verbindung zur Wirklichkeit, wie es die Mathematik darstellt. Im Zusammenhang einiger mathematischer Überlegungen bemerkt Wittgenstein in seiner Vorlesung vom 28. April 1930 zur Logik, wohl im Sinne der formalem Logik als Kalkül: „I might as well question the laws of logic as the laws of chess. If I change the rules it is a different game and there is an end of it.“ (LWL 19) So einfach erledigt ist der Fall in Bezug auf die Grammatik nicht, denn im Gegensatz zu Logik und Mathematik wird sie auf die Wirklichkeit angewandt. Zuletzt sei hier noch etwas zu Wittgensteins Verständnis der Philosophie als Grammatik gesagt. In Abschnitt 2.2.4 wurde gesagt, dass Wittgenstein bereits sein phänomenologisches Projekt als ein grammatisches auffasste, indem er die Phänomenologie als Grammatik charakterisierte. Die Auffassung von Phänomenologie als Grammatik finden wir auch in den PB (PB 53), und sie wird sich bis ins Big Typescript ziehen (Ts 213: VI, 437). Im Februar 1930 beginnt Wittgenstein außerdem, seine Untersuchung eine grammatische zu nennen: „Ich sammle gleichsam sinnvolle Sätze über Zahnschmerzen. Das ist der charakteristische Vorgang einer grammatischen Untersuchung. Ich sammle nicht wahre sondern sinnvolle Sätze und darum ist diese Betrachtung keine psychologische.“ (Ms 107: 285 f) Eine grammatische Untersuchung durchzuführen heißt hier, Sätze zu sammeln, in denen ein bestimmtes Wort, wie z. B. „Zahnschmerzen“, sinnvoll gebraucht ist. Sind alle sinnvollen Verwendungsweisen über dieses Wort zusammengestellt, ist der Möglichkeitsraum seiner Verwendung abgesteckt und damit seine Grammatik gegeben. Auch in den PU wird Wittgenstein seine Betrachtung eine grammatische nennen (PU 90), doch seine Auffassung von Grammatik wird sich bis dahin entscheidend verändert haben (vgl. 3.3).
2.4 Zusammenfassung Die Geschichte von Wittgensteins Grammatikbegriff beginnt im September 1913 in den „Notes on Logic“, in denen er sein Misstrauen gegenüber der Grammatik der Alltagssprache deutlich zum Ausdruck bringt und dieses Misstrauen als Bedingung für das Philosophieren beschreibt. Im TLP, den er während seiner Zeit als Soldat im Ersten Weltkrieg verfasste, hat er daraufhin zwei Sprachen betrachtet: Erstens die Umgangssprache, die uns zuweilen durch Ungenauigkeiten und
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Ambiguitäten täuschen kann, und der deshalb nicht zu trauen ist, und zweitens eine logische Zeichensprache (Notation, Symbolismus), die uns, frei von Doppeldeutigkeiten, die Sachverhalte klar und deutlich vor Augen führen soll. Mit dieser Unterscheidung stellt er der zu misstrauenden Grammatik der Alltagssprache die klar darstellende, eindeutige, logische Grammatik, die er „logische Syntax“ nennt, gegenüber. Das Attribut „logisch“ sowohl vor „Syntax“ als auch vor „Grammatik“ verschwindet zwar bereits im Februar 1929, d.i. mit seinem Wiederbeginn des philosophischen Schreibens nach jahrelanger Unterbrechung, aus seinen Notizen, doch die Gegenüberstellung der irreführenden und der klärenden Grammatik bleibt weiterhin bestehen. Dies ändert sich erst, als Wittgenstein im Oktober 1929 sein Projekt, eine phänomenologische Notation als Ergänzung des TLP zu entwickeln, aufgibt. Indem er eine phänomenologische, und überhaupt jegliche logisch-formale Notation zur Klärung philosophischer Probleme verwirft, wird auch die Gegenüberstellung der beiden Grammatiken hinfällig. Seine Einsicht, dass wir „mit unserer gewöhnlichen Sprache auskommen“ (Ms 107: 176) und „nicht erst eine neue Sprache […] erfinden oder eine Symbolik […] konstruieren“ (WWK 45) müssen, bedeutet gleichzeitig, dass wir mit der Grammatik bzw. Syntax unserer Alltagssprache „zurechtkommen“ müssen. Sie kann uns zwar zuweilen in die Irre führen – von dieser Auffassung rückt Wittgenstein nicht ab – doch wir können solchen Täuschungen entgehen, indem wir „die Syntax einfach und übersichtlich […] machen“. (WWK 46, Anm. 1) „Syntax“ und „Grammatik“ kann zu dieser Zeit noch immer als gegeneinander austauschbar verstanden werden, denn im Nachlass notiert Wittgenstein zeitgleich, d.i. kurz vor Weihnachten 1929, unserer Grammatik fehle es vor allem an Übersichtlichkeit (Ms 108: 31). An die Stelle der logischen Analyse der Sprache mittels der logischen Syntax tritt die übersichtliche Darstellung der Grammatik unserer Alltagssprache; das Ziel der Klärung der Gedanken bleibt dasselbe, doch die Methode hat sich geändert. Dies verdeutlicht die begriffliche Entwicklung von der logischen Syntax des TLP über die Syntax oder Grammatik des phänomenologischen Projekts, die hier weiterhin als logische Syntax/Grammatik zu verstehen ist, hin zur Grammatik, oder Syntax, unserer Alltagssprache ab Ende des Jahres 1929. Infolge dieser Entwicklung dünnt Wittgenstein seinen Gebrauch von „Syntax“ immer weiter aus und verwendet mehr und mehr das Wort „Grammatik“. Wittgensteins Grammatikbegriff ist also in direkter Nachfolge der logischen Syntax des TLP zu sehen und kann nur vor dem Hintergrund von Wittgensteins Frühphilosophie und seinen Denkbewegungen im Jahr 1929 umfassend verstanden werden.
3 Vom Allgemeinen zum Besonderen: Big Typescript und Brown Book Während im zweiten Kapitel der allmähliche Übergang von Logik zu Grammatik – von der logischen Analyse der Sprache vermittels der logischen Syntax zur übersichtlichen Darstellung der Grammatik der Sprache, wie sie tatsächlich ist – nachgezeichnet wurde, rückt im vorliegenden Kapitel eine der Fragen in den Vordergrund, die sich aus den philologischen Beobachtungen des ersten Kapitels ergeben haben: Warum spricht Wittgenstein im Big Typescript so häufig von Grammatik im allgemeinen Sinn, während sein Gebrauch dieses Begriffs in den PU nicht nur radikal abnimmt, sondern sich auch in Richtung der Verwendung von Grammatik im partikulären Sinn verschiebt? Die philologischen Ergebnisse legen die Vermutung nahe, dass sich Wittgensteins Auffassung von Grammatik in den PU gegenüber seiner Auffassung von Grammatik im Big Typescript verändert hat. Genau diese These vertrete ich hier und werde in diesem Kapitel die Veränderung von Wittgensteins Grammatikverständnis ab dem Big Typescript explizieren und erklären. Dabei beginne ich mit einer genauen Betrachtung des Big Typescripts, denn zum einen ist darzulegen, mit was für einem Text wir es darin zu tun haben und welche Rolle dieses Typoskript im Kontext von Wittgensteins Gesamtnachlass spielt, zum anderen, welche Auffassung von Grammatik darin zutage tritt. Da die wichtigsten Schritte der Veränderung von Wittgensteins Verständnis von Grammatik zwischen Big Typescript und PU bereits im Boown Book vollzogen sein werden, schließt sich an die Untersuchung des Big Typescript eine Betrachtung des Brown Book und dessen Umarbeitung ins Deutsche (Ms 115ii) an. Im Zuge dessen wird es sich als hilfreich erweisen, die philologische Analyse von Grammatik und Logik im Nachlass Wittgensteins (vgl. 1.6) um den Brown Book Korpus zu ergänzen. Den Ausdruck „Brown Book Korpus“ werde ich verwenden, um mich auf beide Texte, Ts 310 und Ms 115ii, zu beziehen.¹ Der Brown Book Korpus umfasst darüber hinaus auch den Beginn einer frühen deutschen Version des Brown Book, Ms 141.²
Dies erfolgt in Anlehnung an Pichlers Ausdruck „Brown Book Complex“, den er in Gesprächen und Vorträgen mehrmals verwendet hat. Zu Ms 141 vgl. Pichler 1997: 65 ff. Pichlers Einschätzung zufolge ist Ms 141 noch vor Ts 310, nämlich in den Jahren 1933/34 entstanden. In diesem Sinne nennt es Pichler „Ein frühes Braunes Buch“ (ebd.: 65) Von Wright wiederum datiert Ms 141 auf 1935 oder 1936. (Von Wright 1982: 45) Da das aus nur wenigen Seiten bestehende Manuskript nicht den Begriff der Grammatik enthält, kann es bei der philosophischen Untersuchung der Grammatik ausgeklammert werden. Es wird https://doi.org/10.1515/9783110565164-007
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3 Vom Allgemeinen zum Besonderen: Big Typescript und Brown Book
Die zentralen Verschiebungen hinsichtlich des Grammatikbegriffs in Wittgensteins Philosophie zwischen den Bemerkungen 1930, dem Big Typescript, dem Brown Book Korpus und schließlich den PU werden im Anschluss in Abschnitt 3.3 erläutert. Am Ende dieses Kapitels soll deutlich geworden sein, warum der Grammatikbegriff im Brown Book Korpus weniger prominent ist als im Big Typescript, und warum eine Verschiebung von Grammatik im allgemeinen zu Grammatik im partikulären Sinn in Wittgensteins Texten stattgefunden hat. Der Blick auf die PU erfolgt aus dieser Perspektive.
3.1 Grammatik im Big Typescript Wie aus den philologischen Untersuchungen des ersten Kapitels hervorgeht (vgl. Tab. 1), erreicht Wittgensteins Verwendung des Grammatikbegriffs ihren Höhepunkt im Big Typescript. In keinem anderen Text spricht er so häufig von Grammatik, und in keinem anderen Text kommt dem Begriff der Grammatik eine so bedeutende Stellung zu. Im zweiten Kapitel wurde dargelegt, dass der Begriff der Syntax allmählich durch den der Grammatik abgelöst wird. Diese Entwicklung setzt sich im Big Typescript weiter fort – darin finden sich insgesamt lediglich noch zehn Instanzen von „Syntax“ mit ihren Derivaten³ – und wird schließlich im Brown Book, das keine einzige Instanz von Syntax oder eines der entsprechenden Derivate enthält, ihre Vollendung finden.⁴ Hat der Begriff der Syntax in den Bemerkungen 1929/30 (und darin als Synonym zu „Grammatik“) durchaus noch eine Rolle in Wittgensteins Denken gespielt, ist im Big Typescript die Grammatik eindeutig zum Protagonisten avanciert. Doch wird sie diese herausragende Position nicht lange behalten, denn bereits im Brown Book nimmt ihre Bedeutung entscheidend ab (vgl. 3.2). Das Big Typescript ist somit die Hauptquelle von Wittgensteins Bemerkungen zur Grammatik, und es ist im Big Typescript, worin er im Verhältnis gesehen am häufigsten von Grammatik im allgemeinen Sinn spricht. Vor einer inhaltlichen Untersuchung ist jedoch zunächst einiges zur Textgrundlage zu sagen.
jedoch bei der Untersuchung der Logik im Brown Book Korpus berücksichtigt werden, weil es zweimal den Begriff der Logik enthält (vgl. 3.2.3). Substantivisch: Ts 213: 270, 518, 567 (2), 636, 652, 742; adjektivisch: Ts 213: 264 (2), 335. Bereits während seiner Bearbeitung des Ts 213 hat Wittgenstein keine Bemerkung zur Syntax dem Text hinzugefügt. Darüber hinaus enthält weder der Brown Book Korpus noch die PU den Begriff der Syntax.
3.1 Grammatik im Big Typescript
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3.1.1 Erläuterungen zur Textgrundlage: Ts 213 und BT Bekanntlich hat Wittgenstein zu Lebzeiten nur ein einziges philosophisches Buch, die Logisch-philosophische Abhandlung, veröffentlicht. Hinzu kommt sein Wörterbuch für Volksschulen, das während seiner Zeit als Lehrer im ländlichen Niederösterreich entstand.⁵ Alle weiteren „Bücher“ Wittgensteins wurden posthum aus seinem umfangreichen Nachlass von ca. 18000 Seiten⁶ herausgegeben – so auch das Big Typescript ⁷ und die Philosophischen Untersuchungen. Wenn wir mit diesen Texten arbeiten, ist es daher wichtig, sie in ihren Gesamtkontext des Nachlasses einzuordnen und nicht im selben Sinn als „Werke“ Wittgensteins zu verstehen wie den TLP.⁸ Ziel des vorliegenden Abschnitts ist die Zusammenstellung der wichtigsten Tatsachen und Probleme im Hinblick auf das Big Typescript, nicht die erschöpfende Diskussion desselben.⁹ Am Ende wird eine kurze Positionierung innerhalb der Debatte stehen, die bei jedweder Arbeit mit dem Big Typescript nicht ausbleiben kann.¹⁰
Die neueste Version der Bibliographie der Schriften Wittgensteins ist 2011 in den WittgensteinStudien erschienen (Biggs, Pichler & Szeltner 2011). Wittgensteins zu Lebzeiten veröffentlichte Schriften werden dabei unter Teil 1 angeführt. Es handelt sich im einzelnen neben dem TLP und dem Wörterbuch um eine Rezension des Buches The Science of Logic von P. Coffey (1913), seinen provisorischen Beitrag zur Konferenz der Aristotelian Society und Mind, „Some Remarks on Logical Form“ (1929), sowie einen Leserbrief in der Zeitschrift Mind (1933). Auflistungen der Veröffentlichungen Wittgensteins zu Lebzeiten finden sich u. a. auch bei Pichler 2004: 40 und Keicher 2008: 218 f. Zur Seitenanzahl vgl. Pichler 2004: 41, Anm. 19. Wo die Bezeichnung „Big Typescript“ herrührt, ist unbekannt: „Dazu befragt, haben die Professoren Elizabeth Anscombe, Norman Malcolm und Georg Henrik von Wright übereinstimmend ausgesagt, sie wüßten es nicht.“ (Luckhardt & Aue 2005: vi, Anm. 1) Die Frage: „Was ist ein Werk von Wittgenstein?“ wurde z. B. von Schulte (1989) und Rothhaupt (1996) aufgeworfen. Pichler bietet 2004 eine Antwort darauf an (40 – 56). Schultes neuster Beitrag zu dieser Frage ist sein Aufsatz „What is a work by Wittgenstein?“ (Schulte 2006). Darin nennt Schulte drei Kriterien als „Daumenregeln“ für die Einschätzung eines Nachlassdokuments als Werk: (a) Die Zufriedenheit des Autors mit Form und Inhalts des Textes, (b) eine erkennbare Argumentationslinie im Text, (c) die Überarbeitung des Texts durch den Autor im Hinblick auf stilistische Verbesserungen und Umstrukturierungen. (Schulte 2006: 402) Bei der Anwendung dieser Kriterien auf Wittgensteins Nachlass kommt Schulte zu dem Ergebnis „that, except for Philosophical Investigations, very little comes near that status.“ (Ebd. 403) Eine solche findet sich in gründlicher Form bei Pichler 2004, Kienzler 2006a und Rothhaupt 2008. Ich danke Joseph Rothhaupt für die Zusendung seines bisher unveröffentlichten Manuskripts. In seiner textgenetischen Bemerkung zu Ts 213 der BNE auf der Webseite Wittgenstein Source (http://www.wittgensteinsource.org/Ts-213_m) erläutert Schulte, dass die Entstehungsgeschichte des Typoskripts kompliziert und nicht bis in alle Einzelheiten bekannt sei, so dass jede noch so
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3 Vom Allgemeinen zum Besonderen: Big Typescript und Brown Book
Bezüglich des Big Typescripts stellt sich zunächst die Frage, welcher Text überhaupt gemeint ist, denn es existieren tatsächlich drei Exemplare der „Maschinschrift“, wie Wittgenstein selbst sie nannte,¹¹ wobei zwei dieser Exemplare unvollständig sind und sich sogar gegenseitig ergänzen, so dass man vielleicht eher von zwei Exemplaren sprechen sollte:¹² (1) Ein Exemplar mit zahlreichen Anmerkungen, Ergänzungen und Änderungen Wittgensteins von Seite 0 bis 292 und von Seite 354 bis 432. Dazu gehört ein Inhaltsverzeichnis, das mit der Notiz „Given by M. Rhees Jan. 1970“ versehen ist. Dieses Exemplar enthält außerdem Anmerkungen der Nachlassverwalter, insbesondere von G.H. von Wright in den Abschnitten zu den Grundlagen der Mathematik. Es scheint, als sei dieser Teil einmal vom Rest des Typoskripts getrennt gewesen. In der Bergen Electronic Edition sowie auf Wittgenstein Source¹³ liegt diese Version des Typoskripts in digitaler Form vor und bildet damit die Textgrundlage dieser Arbeit.¹⁴ (2) Ein
vorsichtige Beschreibung nicht vollständig frei von Vorannahmen sein könne. Jede Einordnung dieses Textes in Wittgensteins Nachlass ist also unausweichlich auch eine Positionierung innerhalb der Debatte über dessen Status. Meines Erachtens sollte jeder, der das Big Typescript einer ernsthaften Untersuchung unterzieht, sich der damit verbundenen Problematiken bewusst sein und deutlich zum Ausdruck bringen, welches Verständnis des Typoskriptes im Kontext von Wittgensteins Nachlass der jeweiligen Untersuchung zugrunde liegt. Den Ausdruck „Maschinschrift“ verwendet Wittgenstein im Nachlass an verschiedenen Stellen: Ms 114: 37: „Besser in der Maschinschrift“; Ms 115: „Siehe Maschinschrift“; Ms 117: 129 „[Maschinschrift]“; Ms 119: 79r: „Fing an, meine alte Maschinschrift anzusehen und den Weizen von der Spreu zu trennen, wenn sie nur reiner zu sondern wären!“; Ms 119: 80r: „Schreibe jetzt nicht mehr, sondern lese nur den ganzen Tag meine Maschinschrift und mache Zeichen zu jedem Absatz.“ An weiteren Stellen finden sich Verweise auf das „Typescript“ (etwa Ms 124: 150, 151; Ms 157b: 15r) oder verkürzt „T.Scr.“ (etwa Ms 117: 134, 137, 138, 146; Ms 137: 82r). Ich danke Jonathan Smith vom Trinity College in Cambridge für seine genaue Information zu den vorhandenen Exemplaren von Ts 213. In der Literatur finden sich dazu z.T. widersprüchliche Angaben. So spricht etwa Schulte (2015) von zwei Exemplaren – einem kommentierten und einem unkommentierten —, während Luckhardt und Aue (2005) im Vorwort zu ihrer Edition des Big Typescript von drei Exemplaren ausgehen: (1) dem unkommentierten Durchschlag des Typisten, (2) einem Exemplar mit handschriftlichen Ergänzungen, Änderungen und Anmerkungen Wittgensteins, und (3) einem dritten Exemplar mit denselben handschriftlichen Anmerkungen Wittgensteins, jedoch weiteren Anmerkungen von G.H. von Wright und G. Kreisel im Abschnitt zur Philosophie der Mathematik. Ich verlasse mich hier auf die Aussage von Jonathan Smith, der direkten Einblick in die vorhandenen Dokumente hat, und dem keine weiteren Exemplare des Ts 213 bekannt sind, abgesehen von evtl. angefertigten Kopien der Nachlassverwalter. Meine Darstellung im Text folgt seiner Beschreibung, die er mir am 11. November 2015 schriftlich übermittelte. http://www.wittgensteinsource.org. Die Zahlen zu den Vorkommnissen von „Grammatik“ und „Logik“ im Big Typescript im ersten Kapitel dieser Arbeit basieren auf diesem Typoskript. Freilich hat man in der BEE auch die
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unkommentiertes Exemplar des Typoskripts von Seite 0 bis 528, d.i. ohne den Teil zur Philosophie der Mathematik. (3) Ein umkommentiertes Exemplar der Seiten 529 bis 768. Jonathan Smith¹⁵ hielt dieses Dokument zunächst für den fehlenden Teil von (2), verwirft diesen Schluss jedoch wieder, u. a. weil Rechtschreibfehler darauf hinwiesen, dass dieser Text von einem englischsprachigen Typisten angefertigt wurde, so dass es nicht auszuschließen sei, dass er erst nach Wittgensteins Tod entstand. Im Folgenden werde ich Schultes Unterscheidung zwischen „Ts 213“ als Bezeichnung für die nicht handschriftlich bearbeitete Version des Typoskripts und „BT“ als Bezeichnung für die Version inklusive Wittgensteins handschriftliche Korrekturen und Ergänzungen übernehmen.¹⁶ Sowohl das Ts 213 als auch das BT sind als Buch erschienen: das Ts 213 im Jahr 2000 als Band 11 in der von Michael Nedo herausgegebenen Wiener Ausgabe (WA)¹⁷ – und zwar vollständig mit den Abschnitten zur Philosophie der Mathematik –, das BT im Jahr 2005 bei Blackwell, herausgegeben von C. Grant Luckhardt und Maximilian A. E. Aue.¹⁸ Ferner liegt uns in den Transkriptionen der BEE, und in der überarbeiteten und verbesserten Edition auf Wittgenstein Source, das BT vor, nicht Ts 213 in seiner ursprünglichen Form, d. h. frei von handschriftlichen Anmerkungen und Ergänzungen Wittgensteins. Als Benutzer dieser Editionen hat man jedoch die Möglichkeit, die einzelnen Seiten als Faksimile aufzurufen und auf diese Weise nachzusehen, welche Teile des Textes getippt und welche handschriftlich hinzugefügt wurden.¹⁹ Des Weiteren besteht die Option, auf der interaktiven Website
Möglichkeit, sich jedes Faksimile des Typoskripts einzeln anzusehen und so zu überprüfen, welche Teile getippt und welche handschriftlich hinzugefügt wurden. Siehe Anm. 12 in diesem Kapitel. „Just to facilitate reference I should like to introduce the following convention: in speaking of the uncorrected TS I shall use the abbreviation ‘TS 213’, whereas in commenting on the entire copy containing handwritten additions I shall use the term ‘BT’“. (Schulte 2015) Nedo, Michael 2000 (Hrsg.): Ludwig Wittgenstein, „The Big Typescript“, Wiener Ausgabe Bd. 11, Wien: Springer. C. Grant Luckhardt & Maximilian A. E. Aue 2005 (Hrsg.): Ludwig Wittgenstein. The Big Typescript. TS 213, Malden/Oxford/Carlton: Blackwell. Die Herausgeber schreiben die Anmerkungen G. H. von Wrights einem anderen Exemplar des Ts 213 zu. Siehe Anm. 12 in diesem Kapitel. Dies kann sehr aufschlussreich sein, wenn man bei einzelnen Bemerkungen nachsehen möchte, ob sie bereits in Ts 213 enthalten sind, oder ob Wittgenstein sie erst in seiner Überarbeitung hinzugefügt hat. Das ganze Ts 213 vermittels der Faksimiles zu lesen ist technisch zwar möglich, jedoch recht mühsam, da jede Seite einzelnen als Bilddatei geöffnet werden muss. Nichtsdestoweniger muss man sich dank dieser Möglichkeit auf keine Transkription verlassen, sondern kann bei Unklarheiten direkt im Originaltext nachsehen, was Wittgenstein auf welche Weise notiert hat.
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HyperWittgenstein die Editionen einzelner Nachlassdokumente selbst für den eigenen Forschungszweck zu modifizieren.²⁰ Bereits vor diesen neueren Editionen des Textes hatte Rush Rhees 1969 einige Teile desselben als Philosophische Grammatik (PG) veröffentlicht.²¹ Weil diese Edition jedoch „eine Rekonstruktion etwas späterer Umarbeitungsversuche“ (Schulte 2005: 77)²² von Ts 213 und damit einen eigenständigen Text darstellt, wird sie hier weitestgehend ausgeklammert werden. Rothhaupt stellt in diesem Zusammenhang treffend fest: „Es geht nicht um entweder Big Typescript oder Philosophische Grammatik, sondern um ein sowohl Big Typescript als auch Philosophische Grammatik.“ (Rothhaupt 2008: 295) Die Edition der PG hat also durchaus ihre Berechtigung.²³ Dennoch konzentriere ich mich in dieser Untersuchung auf
http://wab.uib.no/transform/wab.php?modus=opsjoner. Diese Website wurde auch für die vorliegende Untersuchung verwendet. Rothhaupt erläutert dazu: „Rush Rhees veröffentlichte aber nicht dieses Typoskript Ts 213, weder in der rein maschinenschriflichen Version, noch in der handschriftlich überarbeiteten Version, sondern stellte zusammen mit anderen Materialien einen eigenen Text her, der sich allerdings – dies sei ausdrücklich vermerkt – an von Wittgenstein gemachte Vorgaben der Neuerstellung und Umordnung orientiert. Das so von Rhees erstellte ‚Werk‘ wurde von ihm alsdann unter dem Titel Philosophische Grammatik veröffentlicht […].“ (Rothhaupt 2008: 292) Rhees selbst erklärt: „The most important source for our text is a large typescript completed probably in 1933, perhaps some of it in 1932. Our ‘Part II’ makes up roughly the second half of this typescript. In most of the first half of it Wittgenstein made repeated changes and revisions […] and probably in the summer of 1933 he began a ‘Revision’ in a manuscript volume (X and going over into XI). This, with the ‘Second Revision’ (which I will explain), is the text of our Part I up to the Appendix. […] He did not write the ‘second revision’ in the manuscript volume but on large folio sheets. He He [sic.] crossed out the text that this [sic.] was to replace, and showed in margins which parts went where. But it is a revision of only a part, towards the beginning, of the first and principal ‘Revision’. […] The second revision is not dated either, but obviously it is later than the passages it replaces; probably not later than 1934.“ (Rhees 2005: 487) „Die Philosophische Grammatik ist eine Rekonstruktion etwas späterer Umarbeitungsversuche, die Wittgenstein in einem Exemplar des ‚Big Typescript‘ in zwei großen Manuskriptbänden und auf losen Blättern vorgenommen hat. Zwischen dem II. Teil der Philosophischen Grammatik (‚Über Logik und Mathematik’) und den entsprechenden Kapiteln des ‚Big Typescript‘ besteht kein Unterschied – Wittgenstein hat nicht versucht, dieses Material umzuarbeiten. Die Gliederung des I. Teils der Philosophische Grammatik stammt vom Herausgeber. Ein besonders auffälliger Unterschied zwischen den beiden Publikationen besteht darin, dass drei komplette Kapitel (‚Philosophie’, ‚Phänomenologie’ und ‚Idealismus, etc.‘) in der Philosophische Grammatik fehlen.“ (Schulte 2005: 77 f) Das editorische Vorgehen von Rhees ist oft kritisiert worden, so etwa von Baker & Hacker (1986: 324 ff), Kenny: (1984: 30 ff) und Hilmy (1987: 29, 31). Inwiefern Rhees Vorgehensweise trotz aller Kritik gerechtfertigt ist, lesen wir bei Nedo: „Das vorläufige Ende der vielen Versuche von Über- und Umarbeitungen des ‚Big Typescript‘ […] existiert im Nachlaß nicht als konkretes Manuskript. […] Rush Rhees hat dieses virtuelle Manuskript von Beziehungen im ersten Teil der von
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das Big Typescript, nicht auf die Philosophische Grammatik. Dies ist allein schon deswegen notwendig, weil sich die Angaben über die Häufigkeit des Vorkommens von „Grammatik“ etc. in Wittgensteins Schriften, die im ersten Kapitel dieser Untersuchung präsentiert wurden und hier im Hintergrund der Untersuchung stehen, ebenfalls auf das BT beziehen.²⁴ Die neueste publizierte graphische Darstellung des Zusammenhangs von Wittgensteins Schriften von 1929 bis 1934 ist in Nedos Einleitung zum elften Band der Wiener Ausgabe enthalten (Nedo 2000: VIII).²⁵ Daraus geht klar hervor, was bereits von Wright in seinem Katalog zu Wittgensteins Nachlass erläutert hat,
ihm 1969 herausgegebenen Philosophischen Grammatik mit großer Sorgfalt realisiert. Erst viel später fand sich im Nachlaß von Moritz Schlick ein Typoskript, offenbar von Wittgenstein diktiert und vermutlich von Friedrich Waismann stenographisch aufgezeichnet und anschließend mit der Schreibmaschine geschrieben, das die Richtigkeit und die Genauigkeit der Arbeit von Rush Rhees verifiziert.“ (Nedo 1998: XIV) Eine aufschlussreiche Darstellung der Motive von Rush Rhees und der anderen beiden Nachlassverwalter für ihre Vorgehensweisen bei der Herausgabe von Wittgensteins Schriften findet sich bei Erbacher 2014. Der Bedeutung von Ts 212 in der Genese von Wittgensteins Texten bin ich mir dabei durchaus bewusst. Kienzler erläutert dazu: „Tatsächlich aber ist Ts 212 in beinahe allen relevanten Belangen äquivalent mit Ts 213. Die Disparatheit der unterschiedlichen Teile des Big Typescript wird in Ts 212 auch optisch augenfällig, so daß diese Sammlung in ihrer ganzen Unhandlichkeit für die Forschung weitaus aufschlußreicher ist als die geglättete Version von Ts 213.“ (Kienzler 2006a: S. 21, Anm. 39) Rothhaupt stimmt dem zu: „Kennt man die Gesamtgenese, so weiß man, dass die Erstellung der Ordnung, wie sie in Ts 213 vorhanden ist, gerade dort selbst nicht installiert, sondern lediglich dorthin kopiert wurde. Basis der Ordnung ist vielmehr TS212. In TS212 liegen deshalb auch die Parameter für eine philologische Einschätzung und eine philosophische ‚textimmanente‘ Interpretation von TS213.“ (Rothhaupt 2008: 299) Pichler sieht in Ts 212 nicht nur eine Vorstufe von Ts 213, sondern „ein Werk mit eigenem Charakter“. (Pichler 2004: 88) Für weitere Erläuterungen zu Ts 212 vgl. auch Erbacher 2015: 108 f. Trotz dieser textgenetischen Bedeutung von Ts 212 verwende ich Ts 213 als Grundlage der hier durchgeführten Untersuchung. Interessant wäre u.U. eine genaue Untersuchung von Ts 212 unter der Fragestellung, ob sich aufgrund der besseren Nachvollziehbarkeit der Textgenese Aufschlüsse bezüglich des Grammatikbegriffs ergeben.Wie in der Einleitung beschrieben, sehe ich mich aus Gründen der Umsetzung des Projekts jedoch gezwungen, einzelne Nachlassdokumente hervorzuheben, anstatt jedes einzelne Dokument gleichermaßen zu untersuchen. Siehe auch Nedos Einleitung zum Register zu den Bänden 1– 5 der Wiener Ausgabe (WA; Nedo 1998:VIII). Ein erstes solches Stemma hat Krüger vorgeschlagen (1993: 309). Die Entstehung des Ts 213 fasst er in sechs Thesen zusammen: „T1: Aus den MSS 105, 106, 107 und 108.I entsteht das TS 208. T2: Aus dem MS 108.II entsteht das TS 210. T3: Aus dem TS 208 und den TNB 153a, 153b, 154 und 155 entstehen die MSS 110 bis 114.I. T4: Aus den MSS 109 bis 114.I entsteht das TS 211. T5: Aus den TS 208, 210 und 211 entsteht das TS 212. T6: Aus den TSS 208, 210, 211 und 212 entsteht das TS 213.“ (Krüger 1993: 303) Den Ausdruck „entstehen aus“ versteht er in diesem Zusammenhang „im Sinne von ‚ist (mindestens teilweise) wortwörtlich zu finden in’ und nicht etwa im Sinne von ‚ist unter Berücksichtigung der Gedanken aus (…) entstanden‘“ (ebd.: 310, Anm. 3).
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nämlich dass Ts 212 die unmittelbare Grundlage für Ts 213 darstellt (von Wright 1982: 55, 123). In diesem Sinne formulieren auch Luckhardt und Aue: „Das ‚Big Typescript‘ entstand dann, als Wittgenstein das Ts 212 1933 unter Einbeziehung weiterer Änderungen und Zusätze und unter Hinzufügung eines Inhaltsverzeichnisses von einem Typisten kopieren ließ.“ (2005: vii) Ts 212 setzt sich wiederum aus Zetteln zusammen, die Wittgenstein aus den Typoskripten 208, 210 und 211 ausgeschnitten und neu geordnet hatte.²⁶ Bereits Krüger stellt dementsprechend fest, Ts 212 mache „den Eindruck eines gut sortierten Zettelalbums.“ (Krüger 1993: 306) Ts 208 und 210 basieren schließlich auf den Manuskriptbänden I bis IV (Ms 105 – 108), Ts 211 auf den Manuskriptbänden V bis X (Ms 109 – 114i).²⁷ Somit enthält das Big Typescript Bemerkungen, die sich zum Teil bis zum Anfang des Jahres 1929 zurückverfolgen lassen: „In other words, TS 213 represents Wittgenstein’s own selection of remarks from all his manuscripts written between the beginning of 1929 and June 1932.“ (Schulte 2015) So fand, wie Luckhard und Aue feststellen, bereits die erste Bemerkung in Ms 105 vom Februar 1929 Eingang in Ts 213 (2005: vi). Unumstritten ist die Tatsache, dass Ts 213 direkt aus der Zettelsammlung des Ts 212 hervorgegangen ist. Umstritten ist allerdings die genaue Zeit der Entstehung von sowohl Ts 212 als auch Ts 213, besonders im Hinblick auf den Beginn der Arbeit an diesen Typoskripten.²⁸ Was wir jedoch mit ziemlicher Sicherheit sagen
Ts 209 kommt in dieser Liste nicht vor, weil es eine neue Zusammensetzung der Bemerkungen aus Ts 208 darstellt (vgl. Kap. 2). Zu Ts 211 vgl. Krüger 1993: 305 f. Baker & Hacker nennen es in ihrem Kommentar zu den PU „Early Big Typescript“ (Baker & Hacker 1980: xxiii). An dieser Stelle sind einige der einschlägigen Datierungsvorschläge zu nennen. Gemäß Nedo hat Wittgenstein die Arbeit an Ts 212 vermutlich im Sommer 1932 begonnen. Ts 213 habe er im Anschluss daran zusammengestellt, wahrscheinlich ab dem Frühjahr 1933. (Nedo 2000: VII) Dieser Datierungsvorschlag findet sich ebenso bei Rothhaupt. (2008: 305) Auf zumindest einen Teil der Entstehung des Typoskripts im Frühjahr 1933 verweist auch ein Brief Wittgensteins an W. H. Watson vom April 1933, in dem Wittgenstein davon spricht, etwa 800 Seiten seiner Philosophie in Wien diktiert zu haben. (Vgl. Nr. 156 in McGuinness 2008) Es ist gemäß Schultes Einschätzung höchstwahrscheinlich, dass Wittgenstein hier vom Diktieren des Ts 213 sowie seiner Umarbeitung des Textes spricht. (Schulte 2015) In seinen Anmerkungen zu jenem Brief hält McGuinness es allerdings für möglich, dass es sich auch um das Diktat von Ts 211 handeln könnte. (McGuinness 2008: Anmerkung zu Nr. 156) Keicher bringt demgegenüber die Entstehung von Ts 213 mit einem Leserbrief in Verbindung, den Wittgenstein im Frühjahr 1933 in Mind veröffentlichte und in dem er betont, seine Schriften bisher nicht veröffentlicht zu haben. (Vgl. Nr. 158 in McGuinness 2008) Keicher zufolge sei dem Nachlass eindeutig zu entnehmen, dass Wittgenstein kurz nach der Veröffentlichung dieses Leserbriefes damit begann, seine seit 1929 erstellten Manuskriptbände durchzusehen, woraus zunächst Ts 212 und gleich im Anschluss Ts 213 hervorgegangen sei. (Keicher 2008: 214) Was das Ende der Arbeit an Ts 213 betrifft, so stoßen wir in dem direkt danach
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können, ist (1) dass Wittgenstein frühestens im Sommer 1932 und spätestens im Sommer 1933 damit begann, ausgewählte Bemerkungen ab 1929 in Ts 212 zu sammeln, die er (2) gleich im Anschluss in Ts 213 übertrug, (3) dass diese Arbeit Ende des Jahres 1933 abgeschlossen war, und (4) dass Ts 213 folglich eine Auswahl von Bemerkungen der Jahre 1929 – 1932 beinhaltet. Luckhardts und Aues Einschätzung zufolge setzte Wittgenstein seine Arbeit an den Zusätzen und Korrekturen des Textes bis ins Jahr 1937 fort (Luckhardt & Aue 2005: vi), was sowohl von Pichler als auch Rothhaupt mit Verweis auf Bemerkungen in Ms 119 bestätigt wird (Pichler 2004: 46; Rothhaupt 2008: 298). Diese Überarbeitungen sind komplex und umfangreich.²⁹ Nedo vermutet, dass Wittgenstein nicht erst nach Fertigstellung, sondern bereits während seiner Arbeit an Ts 213 „mit einer extensiven Über- und Umbearbeitung, zuerst auf den Recto-, dann auf den Versoseiten und später in weiteren Manuskriptbänden, die er über ein komplexes Bezugssystem mit dem Typoskript verknüpft“ (Nedo 2000: VII) begann.³⁰ In der Forschung werden nicht nur die möglichen Entstehungsdaten des Ts 213 diskutiert, sondern vor allem auch die Frage nach dem Status des Textes. Obwohl das Big Typescript tatsächlich auf den ersten Blick wie ein Buch erscheint, inklusive Inhaltsverzeichnis³¹ und Kapitelunterteilung (19 Kapitel mit insgesamt 140 Abschnitten), fehlen sowohl Titel als auch Motto und Vorwort, wie wir es im TLP und auch in Wittgensteins Entwürfen der PU vorfinden – und das, obwohl Wittgensteins Manuskriptbände seit 1930 durchaus Entwürfe für ein Vorwort enthalten. (Nedo 2000: IX)³² Rothhaupt sieht darin einen deutlichen Hinweis entstandenen Manuskriptband XI (Ms 115i) gleich auf der ersten Seite auf das Datum „14.12.1933“, was darauf hindeutet, dass Wittgenstein mit großer Wahrscheinlichkeit in der ersten Dezemberhälfte 1933 seine Arbeit am Ts 213 abgeschlossen hatte. (Vgl. Nedo 2000: VII) Dazu erläutern Luckhardt & Aue: „Bald, vielleicht unmittelbar nach Fertigstellung des ‚Big Typescripts’, begann Wittgenstein mit der Revision. Manche der zwischen doppelten Schrägstrichen platzierten alternativen Worte und Satzteile strich er aus, andere blieben unberührt; er strich auch getippte und handgeschriebene Worte, Wortgruppen, Sätze, Absätze und Bemerkungen aus, setzte handschriftlich neue Alternativen ein, korrigierte Tippfehler, trennte, bzw. verband Buchstaben, Absätze und Bemerkungen, zeigte mit Hilfe von Pfeilen und anderen Verweiszeichen an, wohin er einzelne Bemerkungen verlegt haben wollte, entwarf sowohl auf den Vorder- als auch auf den Rückseiten der getippten Blätter neue Bemerkungen, notierte sich Fragen und setzte Randbemerkungen und Randzeichen (Schrägstriche, Haken, Fragezeichen und – als Zeichen für ‚schlecht‘ – langgestreckte ‚s‘-Zeichen) ein.“ (Luckhardt & Aue 2005: vii) Darauf deutet auch ein Ausschnitt aus Wittgensteins Brief an Watson hin. (Vgl. Nr. 156 in McGuinness 2008) Rothhaupt versteht dieses Inhaltsverzeichnis als „Themenregister“ (2008: 302 f). Zu Wittgensteins Vorworten vgl. u. a. Keicher 2004, Pichler 1997: 24– 35, Pichler 2004: 64 f, Rothhaupt 2008 und Weihe 2008: 19.
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darauf, Ts 213 nicht als Buch zu verstehen. Stattdessen fasst er es als „eine sehr große, in Gruppen geordnete, thematisch angelegte Materialsammlung“ auf. (Rothhaupt 2008: 302 ff)³³ Rhees hat eine ganz ähnliche Auffassung: „despite its book-like appearance, it [TS 213] was not a work for publication but rather an ordered collection for a further stage of elaboration“ (zitiert nach Erbacher 2014: 18),³⁴ und auch Sedmak versteht den Text des Typoskripts als eine „Sammlung von nur lose zusammenhängenden Bemerkungen.“ (Sedmak 1996: 143, Anm. 1) Obgleich sie nicht explizit von einer Materialsammlung ausgehen, sehen auch Nedo und Keicher in Ts 213 einen Zwischenschritt in Wittgensteins Versuch, seine ab 1929 geschriebenen Bemerkungen in einem Buch zusammenzufassen. (Nedo 2000: VII, IX;³⁵ Keicher 2008: 214 f)³⁶ Kienzler spricht in diesem Zusammenhang von einer „Zusammenfassung der von Wittgenstein als brauchbar erachteten Teile „Für Wittgenstein ist es [Ts 213] eine sehr große, in Gruppen geordnete, thematisch angelegte Materialsammlung. Es enthält zwar ein so genanntes ‚Inhaltsverzeichnis‘, aber keinerlei Vorwort. Für ein ‚Buch‘ von diesem Umfang ein äußerst markanter Sachverhalt. Kennt man die Genese zu und in Ts 212, so zeigt sich, dass dieses achtseitige sogenannte ‚Inhaltsverzeichnis‘ in erster Linie ein ‚Themenregister‘ darstellt.“ (Rothhaupt 2008: 302) Und: „[O]hne weitere stichhaltige Belege den Schuss zu ziehen, dass TS213 ein ausgereiftes ‚Werk‘ Wittgensteins sei, ist leichtsinnig. Sicher sagen lässt sich nur, dass TS213 die fixierte Wiedergabe des Zustandes der Materialsammlung TS212 in einem bestimmten Moment darstellt.“ (Rothhaupt 2008: 304) Erbacher hat vor allem Rhees’ Briefe aus der ersten Hälfte der 1960er Jahre zur Quelle, die in der finnischen Nationalbibliothek aufbewahrt werden. Diese Briefe sind bisher unveröffentlicht, doch eine vollständige Edition ist in Erbachers Vorbereitung. In seinem Vorwort zur PG formuliert Rhees ähnlich: „The large typescript of 1933 […] looks like a book. Everyone who sees it first thinks it. But it is unfinished; in a great many ways. And Wittgenstein evidently looked on it as one stage in the ordering of his material.“ (Rhees 2005: 488) Wie Kienzler bereits beobachtet hat, fehlt der Satz „Everyone who sees it first thinks it“ in der deutschen Übersetzung. (Kienzler 2006a: 14, Anm. 18) „‚Meine Absicht war es von Anfang, all dies einmal in einem Buche zusammenzufassen, …‘ schreibt Wittgenstein 1945 im Vorwort zu den ‚Philosophischen Untersuchungen’. Das ‚Big Typescript‘ ist Wittgensteins erster Versuch einer solchen Zusammenfassung“ (Nedo 2000: VI). Vgl. auch: „Äußerlich erscheint das Typoskript unter den Schriften Wittgensteins das fertigste im Sinne eines Buches […]. […] Aber es sind vor allem die extensiven Über- und Umarbeitungen, mit denen Wittgenstein aller Wahrscheinlichkeit noch vor der Fertigstellung des ‚Big Typescript‘ begonnen hatte, die zeigen, daß das Typoskript auf dem Weg zu der angestrebten Zusammenfassung seiner Gedanken in ein Buch eher einen Status nascendi darstellt, als, wie oft argumentiert wird, ‚a coherent stage of Wittgenstein’s thought’.“ (Nedo 2000: IX) Keicher hält genauer gesagt nicht Ts 213, sondern die ersten Umarbeitungsversuche Wittgensteins für dessen Publikationsvorhaben: „Kaum lag Wittgenstein dieses umfangreiche Typoskript [Ts 213] vor, machte er sich auch schon an eine erste ‚Umarbeitung‘ (Ms 114ii/Ms 115i). Nach einigen Monaten brach er diese jedoch ab. Nichtsdestoweniger dokumentieren die Schriften vom Sommer 1933 bis zum Frühjahr 1934 offenbar das erste philosophische Publikationsvorhaben Wittgensteins nach der Logisch-philosophischen Abhandlung von 1918.“ (Keicher 2008: 214 f)
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sämtlicher Texte aus dem Zeitraum 1929 – 1932.“ (Kienzler 2006a: 11)³⁷ Auch Hilmy, obgleich er in Ts 213 bereits den Ausdruck von Wittgensteins späterer Philosophie sieht und dem Text damit ausdrücklich einen hohen autoritativen Status zumisst (Hilmy 1987: 25 ff),³⁸ kommt zu dem Ergebnis, dass „much of this work is simply a collection of ‚remarks’“. (Hilmy 1987: 232, Anm. 32)³⁹ Krüger stimmt Hilmy diesbezüglich zu, betont jedoch auch Wittgensteins Vorhaben einer Buchpublikation, das mit dem BT gescheitert war.⁴⁰ Pichler wendet sich hingegen deutlich gegen das Verständnis des Big Typescripts als Materialsammlung oder Zusammenfassung und hält es wenigstens für möglich, dass Wittgenstein es als Buchmanuskript, und wenn nicht dies so doch sicher als „unabdingliches Glied im Prozess der Buchverfertigung“ (Pichler 2004: 89) aufgefasst hat,⁴¹ obgleich es letztlich mit einem Buch im traditionellen Sinn „allerdings kaum mehr als die äußere Form gemeinsam“ hat. (Ebd.) Baker und Hacker halten Wittgensteins Verständnis des Big Typescripts als Buchmanuskript nicht nur für möglich, sondern gehen ohne
Kienzler verweist ferner auf einige „Versehen“, die beim Abtippen des Typoskripts entstanden sind, und deutet diese als Hinweis darauf, „wie wenig das Big Typescript ein ‚fertiger‘ Text ist und wie problematisch es ist, durch die äußere Erscheinungsform, nämlich das Weglassen jeglichen Erläuterungsapparates, einen solchen glatten Eindruck zu erzeugen.“ (Kienzler 2006: 15, Anm. 20). Ferner stelle das BT für Wittgenstein „einen definitiven Abschluß dar, hinter den er nicht mehr zurückging.“ (Kienzler 2006: 22) Dennoch sei er damit immer noch weit von einem Buch entfernt (vgl. ebd.). „TS 213 should be taken as a reliable expression of Wittgenstein’s ‘later’ approach to philosophy. […t]his typescript, far from having been left by the wayside, played a significant role in the drafting of Philosophical Investigations, for, when Wittgenstein gave up trying to write a stylistically conventional book and decided to settle for an ‘album of remarks’ (as documented in the previous section), one of the first and primary texts to which he turned as a source of ‘remarks’ was TS 213.“ (Hilmy 1987: 26) Hilmy schließt folglich: „Thus, TS 213 (and its manuscript sources) can with some assurance be taken as representative of Wittgenstein’s ‘later’ approach to philosophy.“ (Hilmy 1987: 39) „The stylistically conventional qualities of TS 213 do not extend much further than its surface appearance, for much of this work is simply a collection of ‘remarks’ (from various manuscript sources) which have been pigeonholed under separate headings.“ (Hilmy 1987: 232, Anm. 232) „Wittgensteins Vorhaben, das er in Ms 110 (S. 254) ankündigt, ein Buch mit dem Namen ‚PG‘ zu schreiben, ist gescheitert. Die Vermutung liegt nahe, dass das weniger am Inhalt des Big Typescript lag, als an dem Umfang des Werkes und an der Form, die Wittgenstein hier zum ersten Mal ausprobierte. Hilmys Beobachtung, dass das TS 213 über weite Strecken nicht mehr als eine Ansammlung von Bemerkungen darstellt, trifft zu.“ (Krüger 1993: 310) „Man muss das Big Typescript also doch als etwas mehr denn als eine gut lesbare Reinschrift der in den Manuskripten enthaltenen Gedanken sehen.Wittgenstein hat das Big Typescript sicher wenigstens als unabdingliches Glied im Prozess der Buchverfertigung, wenn nicht sogar als das Manuskript zu dem nach dem Tractatus ‚zweiten Buch‘ aufgefasst, das ihm u. a. die Urheberschaft an gewissen Ideen zusichern sollte.“ (Pichler 2004: 89)
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Zweifel von Wittgensteins Vorhaben einer Publikation aus: „This so-called ‘Big Typescript’ was evidently planned for publication as a book.“ (Baker & Hacker 1986: 323) Sie verstehen das Typoskript durchaus als ein Buch Wittgensteins, nicht als einen Zwischenschritt auf dem Weg zu einem Buch und schon gar nicht als Materialsammlung. Kenny wiederum fasst das Big Typescript als „single, reasonably coherent stage of Wittgenstein’s development“ auf. (Kenny 1984: 30) In seiner neueren Publikation versteht es Hacker als die provisorische Zusammenfassung von Wittgensteins in den Jahren 1929 bis 1933 erarbeiteten „Weltanschauung“ und hält sich mit dieser Formulierung, ganz im Gegensatz zu seiner früheren Aussage gemeinsam mit Baker, gegenüber der Entscheidung „Buch oder nicht Buch“ äußerst bedeckt (Hacker 2012: 4).⁴² Für Engelmann ist das Big Typescript beides: sowohl die erste Version eines Buches als auch eine Materialsammlung, wohlgemerkt für das Buch, das Wittgenstein gemeinsam mit Friedrich Waismann geplant hatte (Engelmann 2013b: 113).⁴³ Wichtig scheint mir bei all diesen Überlegungen die Trennung zwischen Wittgensteins Intention bei der Abfassung von Ts 213 und dem Resultat dieses Unternehmens zu sein. Wittgenstein kann ja durchaus (muss jedoch nicht notwendig) beim Diktat des Textes ein Buchprojekt im Sinn gehabt haben, was aber nicht ausschließt, dass am Ende etwas herausgekommen ist, was er für überarbeitungsnötig hielt und was ihm letztlich als eine Art Materialsammlung diente. Da es zu Lebzeiten Wittgensteins nie zu einer Veröffentlichung des im Big Typescript enthaltenen Textes kam und ferner keine eindeutigen Belege für Wittgensteins Intention, das Typoskript als solches zu publizieren, vorliegen, bleiben bei der Einschätzung des Textes weiterhin Fragen offen. Ich halte die Ausführungen derjenigen Autoren für überzeugend, die darin kein „Buch“, sondern eine Zwischenstufe in Wittgensteins philosophischer Entwicklung sehen – obgleich Wittgenstein freilich bestrebt ist, einmal ein weiteres Buch zu publizieren.⁴⁴ Was die Datierung der Entstehung des Textes betrifft, ist für die vorliegende Untersuchung lediglich die Tatsache relevant, dass Ts 213 Bemerkungen der Jahre 1929 bis 1932 enthält. In diesem Sinne verstehe ich Ts 213 als Wittgensteins Auswahl
„The Big Typescript is the provisional culmination of Wittgenstein’s attempts between 1929 and 1933 to develop his new conception of (among other things) grammar, grammatical confusion, grammatical problems, grammatical propositions and remarks. For it was in the notebooks of these years that he developed his new philosophical Weltanschauung.“ (Hacker 2012: 4) „The BT, it seems, was the first version of the book that Wittgenstein intended to write at the time (1932– 3), but it was also used as the rough material of a book that he was co-authoring with Waismann.“ (Engelmann 2013b: 113) Eine gründliche Untersuchung von Wittgensteins „Buchprojekt“ findet sich bei Pichler 2004: 78 – 142.
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und Neuzusammenstellung dieser Bemerkungen und das BT als ein Zeugnis dafür, dass er diese Bemerkungen zumindest teilsweise als ergänzenswert und überarbeitungsnötig erachtete. Das Big Typescript eröffnet uns damit einen Einblick in Wittgensteins Philosophie Mitte der 30er Jahre. In der Tat erweist es sich als äußerst komplex, da sich in ihm Bemerkungen aus ganz unterschiedlichen Quellen vermischen. So finden wir darin zwar Bemerkungen, die bis 1929 zurückreichen, andererseits aber auch spätere Bemerkungen, die Wittgensteins früheren Ansichten widersprechen, und schließlich sogar Bemerkungen, die einander widersprechen. Dies wird nachfolgend deutlich werden. Es ist daher unabdingbar, einzelne Bemerkungen bis zu ihren Wurzeln im Nachlass zurückzuverfolgen, wenn man versucht ist, Wittgensteins Denkweg nachzuvollziehen.⁴⁵ Ich halte es nicht für unwahrscheinlich, dass Wittgenstein mit seiner Auswahl der Bemerkungen in Ts 211 und deren Neuzusammenstellung in Ts 212 und Ts 213 sich selbst einen Überblick über seine für ihn als brauchbar erachteten Bemerkungen verschaffen wollte. Damit wäre das Big Typescript eine Zwischenstation in einem sich fortsetzenden Entwicklungsprozess; und mehr als dies braucht es als Gegenstand der vorliegenden Untersuchung auch nicht zu sein. Die Frage, ob Wittgenstein bei der Komposition von Ts 213 auch dessen Veröffentlichung im Sinn hatte, ist für die hier durchgeführte Arbeit letztlich nebensächlich. Wichtig ist hingegen die Tatsache, dass er auf dem Weg zu einer Buchpublikation eine Auswahl seiner Bemerkungen neu zusammengestellt und anschließend bearbeitet hat. Eine der wichtigsten philosophischen Fragen, die bei all diesen Einschätzungen im Vordergrund stehen, ist das Verhältnis von Big Typescript und PU zueinander, und zwar nicht so sehr in textgenetischer, sondern vor allem in philosophischer Hinsicht: inwiefern sagt Wittgenstein im Big Typescript etwas anderes als in den PU, und sagt er überhaupt etwas anderes?⁴⁶ Die in diesem Kapitel durchgeführte Untersuchung soll einen Beitrag zur Beantwortung dieser Fragen leisten. Meine These ist, dass sich Wittgensteins Auffassungen in den PU deutlich von denen im Big Typescript unterscheiden, dass er also durchaus in beiden Texten etwas anderes sagt – obgleich Ähnlichkeiten und Parallelen zwischen beiden Texten unbestreitbar sind. Diese inhaltliche Veränderung ist bereits im Brown Book Korpus offenkundig und wird von Wittgenstein in den PU beibehalten.
U.a. dies begründet die Relevanz der Philologie für die Wittgensteinforschung. Das Interesse an dem Vergleich beider Texte zeigt sich u. a. darin, dass einige Autoren in ihren Ausführungen zu Ts 213 direkt auf Parallelen zu den PU verweisen, so etwa Sedmak 1996: 156 f, Baker & Hacker 1986: 349 f und Hacker 2012.
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Zunächst stellt sich jedoch die Frage, inwiefern Wittgenstein in Ts 213 etwas anderes sagt als im BT. Da in der vorliegenden Untersuchung konsequent zwischen Ts 213 und dem BT unterschieden wird, soll an dieser Stelle das inhaltliche Verhältnis beider Texte zueinander beschrieben werden. Wie bereits angedeutet, ist das Big Typescript keine konsistente Zusammenstellung von Bemerkungen, sondern weist Inkonsistenten auf, die bereits in Ts 213 enthalten sind.⁴⁷ Zwar machen die handschriftlichen Überarbeitungen und Ergänzungen das Big Typescript in textgenetischer Hinsicht noch komplexer als es ohnehin schon ist, doch liegen Ts 213 und das BT inhaltlich nicht so weit auseinander, wie man vermuten könnte. Wittgensteins Überarbeitungen des vorhandenen Textes sind meist stilistischer Natur. Die handschriftlichen Bemerkungen auf den Rückseiten oder den freien Plätzen der Vorderseiten des Typoskripts sind selten inhaltliche Veränderungen des vorhandenen Textes, sondern meist alternative Varianten der getippten Bemerkungen, oder Erweiterungen des bereits Gesagten. Es ist also keineswegs der Fall, dass Wittgenstein in Ts 213 eine konsistente Sammlung von Bemerkungen erstellt hätte, die dann erst im BT durch handschriftliche Änderungen korrigiert und verändert wurde. Vielmehr liegt die Besonderheit der Änderungen und Ergänzungen vor allem darin, dass sie ein Zeugnis von Wittgensteins Auffassungen zur Zeit ihrer Entstehung, ca. 1933 – 37, darstellen. Es gibt jedoch Ausnahmen, von denen mindestens eine für die Untersuchung von Wittgensteins Grammatikbegriff relevant ist. Sie betrifft Wittgensteins Annahme von der Vollständigkeit der Grammatik, die er in Ts 213 sowohl behauptet als auch in Frage stellt und erst im BT endgültig verwerfen wird: „Ich mache mich nicht anheischig, ein Regelverzeichnis aufzustellen, das alle unsere Sprachhandlungen regelt.“ (Ts 213H: 249r) Dieser Sachverhalt wird noch genauer diskutiert werden. Für den Zweck der Übersichtlichkeit und Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse werde ich im Folgenden bei Zitaten immer dann „Ts 213“ angeben, wenn es sich um eine Textstelle handelt, die Wittgenstein nicht überarbeitet hat. Das Kürzel „Ts 213+H“ kennzeichnet Textstellen, die zwar in Ts 213 enthalten sind, jedoch handschriftlich bearbeitet wurden; „Ts 213X“ kennzeichnet solche Stellen, die Wittgenstein später durchgestrichen hat.⁴⁸ „Ts 213+HX“ steht entsprechend für
Diese betreffen etwa seine Auffassung des Verhältnisses von Sprache und Wirklichkeit und seine Annahme der Vollständigkeit der Grammatik, wie noch deutlich werden wird. Wenn Wittgenstein eine Bemerkung durchstreicht, bedeutet dies nicht notwendig, dass er sich von dem darin Gesagten distanziert. Vielmehr kann es sich auch um ein Selektionsmerkmal für seine weitere Verwendung dieser Bemerkung handeln. Weiss schlägt vor, waagerechte Streichungen als ein Durchstreichen von Bemerkungen, senkrechte, diagonale und kreuzförmige Streichungen hingegen als ein Anstreichen von Bemerkungen zu deuten. (Weiss 2004: 7) Vorschläge zur Deutung der Textmarkierungen Wittgensteins finden sich auch bei Rothhaupt 2010.
3.1 Grammatik im Big Typescript
117
Textstellen, die sowohl bearbeitet als auch durchgestrichen sind. Das Kürzel „Ts 213H“ weist schließlich darauf hin, dass es sich um eine Textstelle handelt, die Wittgenstein nachträglich handschriftlich hinzufügte. Hierzu zählen auch neu hinzugefügte Erweiterungen von bereits vorhandenen Bemerkungen.⁴⁹ Wenn immer ich im Text vom „Big Typescript“ spreche, beziehe ich mich auf sowohl Ts 213 als auch BT und meine den Text in seiner Gesamtheit als Forschungsgegenstand.⁵⁰
3.1.2 „Grammatik“ und „Logik“ in Ts 213 und im BT Vor dem Hintergrund der gerade vorgestellten und angewandten Unterscheidung Schultes zwischen Ts 213 und dem BT ist es notwendig, Ts 213 und das BT als je eigenständige Texte zu betrachten. Die im ersten Kapitel dargelegten philologischen Ergebnisse beziehen sich auf das BT. Damit sich ein vollständiges Bild ergeben kann, werden sie in dem vorliegenden Abschnitt den entsprechenden Untersuchungen des Ts 213 kurz gegenübergestellt. Daraus wird ersichtlich werden, ob und inwiefern sich Wittgensteins Verwendungsweisen von „Grammatik“ und „Logik“ sowie deren Häufigkeit im unbearbeiteten Typoskript von denen in Wittgensteins bearbeiteter Version des Textes unterscheiden. Um die entsprechenden Zahlen für Ts 213 zu erhalten, lässt sich vermittels der Webseite HyperWittgenstein⁵¹ eine benutzerdefinierte Version des Ts 213 erstellen und darin nach „Grammatik“, „Logik“ und ihren Derivaten suchen.⁵² Die einzelnen Bemerkungen zu Grammatik und Logik in dieser Version habe ich zur Sicherheit mit den Faksimiles des BTs in der BEE verglichen und überprüft, ob
Diese Unterscheidung erfolgt in Anlehnung an Sedmaks Unterscheidung (1996: 159) von „BT“, „BTh“ und „BTc“. Dies gilt auch für die bisherigen Verwendungen von „Big Typescript“ in dieser Arbeit. http://wab.uib.no/transform/wab.php?modus=opsjoner Ich danke Alois Pichler für seinen Hinweis auf diese Möglichkeit und seine Unterstützung bei der Umsetzung dieses Vorgehens. Um Ts 213 in „Reinform“ zu erhalten, wählt man in der Zeile „Show/hide revisions in different hand“ die Option „hide“. Da sich die Seite im Aufbau befindet, sind die Ergebnisse im Moment (Herbst 2015) noch nicht zu hundert Prozent verlässlich, weshalb ein manueller Vergleich mit dem BT für ein genaueres Ergebnis nötig war. Einer der Vorteile dieser Webseite ist die gegenüber der BEE deutlich verbesserte Suchfunktion. So werden beispielsweise Instanzen in Sperrdruck gefunden, die die Suche in der BEE nicht erfasst. In diesem Zusammenhang möchte ich auch auf die Webseite WittFind verweisen (http://wittfind.cis.uni-muenchen.de), die die Suche in 5000 Seiten von Wittgensteins Nachlass, einschließlich des BTs, ermöglicht. Während der Durchführung meiner philologischen Untersuchungen bestand diese Möglichkeit noch nicht, so dass WittFind in dieser Arbeit nicht verwendet wurde.
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3 Vom Allgemeinen zum Besonderen: Big Typescript und Brown Book
sich Bemerkungen zu Grammatik und Logik in Ts 213 finden, die Wittgenstein im BT durchgestrichen hat, oder ob umgekehrt das BT solche Bemerkungen enthält, die er handschriftlich hinzufügte.⁵³ Bei der Auswertung der Instanzen von „Grammatik“ und „Logik“ sind nur solche in die Zählung eingegangen, die gänzlich neu hinzugekommen sind, d. h. Fälle, in denen „Grammatik“ oder eines ihrer Derivate in eine Bemerkung eingefügt wurde, die dieses Wort ursprünglich nicht enthielt,⁵⁴ oder Fälle, in denen Wittgenstein eine neue Bemerkung zur Grammatik notierte.⁵⁵ Im Falle von Textvarianten wurde jeweils nur eine Instanz gezählt.⁵⁶ Beim Vergleich der so ermittelten Daten zu Ts 213 und dem BT ergibt sich folgendes Bild (s. Tabellen 4 und 5). Tab. 4: Instanzen von „Grammatik“ in Ts 213 und dem BT Grammatik im allgemeinen Sinn
Grammatik im partikulären Sinn
Grammatik in an- Derivate von derem Sinn Grammatik
Insgesamt
Ts
BT
Differenz +
+
+
+
+
Freilich können sich trotz dieser möglichst sorgfältigen Vorgehensweise Fehler eingeschlichen haben, nicht zuletzt weil ich die einzelnen Instanzen von „Grammatik“ und „Logik“ in Word-Dokumenten von Hand gezählt habe. Die Zahlangaben betrachte ich folglich als so genau, wie es mir möglich war, kann allerdings nicht ihre absolute Richtigkeit behaupten. Etwas anderes als Richtwerte brauchen sie in dieser Untersuchung aber auch nicht zu sein. Solche Fälle kommen jedoch hier gar nicht vor, es sei denn, sie sind meinem Blick entgangen. Hingegen streicht Wittgenstein hin und wieder „Grammatik“ oder eines ihrer Derivate durch, so etwa in der Überschrift: „Die Bedeutung eines Wortes ist das, was die (grammatische) Erklärung der Bedeutung erklärt.“ (Ts 213: 34) Im BT ist „grammatische“ durchgestrichen und wird folglich nur in Ts 213 gezählt. Solche Fälle sind zahlreich, vgl. etwa Ts 213: 33v. Dies gilt sowohl für bereits in Ts 213 enthaltene Varianten (etwa Ts 213: 60), als auch für neue Varianten, die Wittgenstein im BT hinzufügte (etwa Ts 213+H: 31), als auch für Varianten innerhalb der neu entstandenen Bemerkungen im BT (etwa Ts 213H: 32v). Ausnahmen bilden Fälle, in denen eine Variante eines der Substantive „Grammatik“ oder „Logik“ enthält, eine andere Variante hingegen das Adjektiv „grammatisch“ oder „logisch“. In solchen Fällen wurden sowohl Substantiv als auch Adjektiv gezählt. Ein solcher Fall liegt hier jedoch lediglich einmal vor: „In einem völlig geklärten System mit klarer Grammatik/In einem grammatisch geklärten System […]“ (Ts 213: 549).
119
3.1 Grammatik im Big Typescript
Tab. 5: Instanzen von „Logik“ in Ts 213 und dem BT Logik Logik im partikuläim allgemeinen ren Sinn Sinn
Logik in anderem Derivate von Sinn Logik
Insgesamt
Ts
BT
+-
+-
+
+
Differenz +
Die beiden Tabellen zeigen, dass Wittgenstein in seiner Überarbeitung des Ts 213⁵⁷ sowohl Bemerkungen zur Grammatik als auch solche zur Logik einfügte, obgleich die handschriftlichen Ergänzungen zur Grammatik gegenüber denen zur Logik deutlich überwiegen (50 gegenüber 13). In diesen Ergänzungen verwendet Wittgenstein 17 Mal „Grammatik“ im allgemeinen Sinn und elfmal im partikulären Sinn. Bei den übrigen sieben Fällen handelt es sich jeweils um eine Form des Adjektivs „grammatisch“. Wittgenstein ist folglich geneigt, während seiner Zeit der Überarbeitung des Textes sowohl von Grammatik im Allgemeinen als auch im Besonderen zu sprechen. Die letzten fünf Kapitel des Big Typescripts (das entspricht den Seiten 530 bis 768) beinhalten Bemerkungen zur Philosophie der Mathematik. Es ist in diesen Bemerkungen, worin Wittgenstein den Begriff der Logik im Verhältnis zum übrigen Text am häufigsten verwendet und sogar häufiger von Logik als von Grammatik spricht. Das bedeutet, dass auf den gesamten Text bezogen Grammatik zwar eindeutig vorherrschend gegenüber Logik ist, dass sich dieses Verhältnis in den letzten fünf Kapiteln jedoch ins Gegenteil wendet. Umgekehrt bedeutet es auch, dass in den ersten 14 Kapiteln noch häufiger von Grammatik (294 Mal in Ts 213, 334 Mal im BT) als von Logik (136 Mal in Ts 213, 148 Mal im BT) die Rede ist, als es die auf den gesamten Text bezogenen Tabellen nahelegen. Dies gilt für Ts 213 und BT gleichermaßen, da Wittgenstein den logisch-mathematischen Teil des Ts 213 nicht bearbeitet hat. Des Weiteren fällt bei einer genauen Betrachtung der einzelnen Instanzen auf, dass Wittgenstein hin und wieder „Grammatik“ im allgemeinen Sinn verwendet, wenn er von einem „Satz der Grammatik“ spricht. Solche Fälle begegnen uns in Ts 213 achtmal⁵⁸ und im BT neunmal.⁵⁹ Hingegen spricht Wittgenstein weder in Ts 213
Diese umfasst bekanntlich nicht das gesamte Typoskript, sondern lediglich die Seiten 0 bis 292 und 354 bis 432. Ts 213: 96, 165, 199, 402, 463, 477, 573, 603. Zu den acht Vorkommnissen in Ts 213 kommt eine Ergänzung auf Seite 149v hinzu.
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3 Vom Allgemeinen zum Besonderen: Big Typescript und Brown Book
noch im BT von einem „grammatischen Satz“.⁶⁰ Stattdessen ist die Redeweise von „grammatischen Regeln“ äußerst prominent: In Ts 213 kommt dieser Ausdruck 48 Mal vor,⁶¹ im BT 58 Mal.⁶² Insofern überrascht es kaum, dass Wittgenstein ebenfalls den Ausdruck „Regel/n der Grammatik“ gebraucht, und zwar in Ts 213 zwölfmal,⁶³ im BT 13 Mal.⁶⁴ Tabelle 6 gibt einen Überblick über diese Verteilung von Wittgensteins Verwendungsweisen. Tab. 6: Instanzen von „Satz der Grammatik“, „grammatischer Satz“, „Regel der Grammatik“ und „grammatische Regel“ in Ts 213 und dem BT⁶⁵ Ts
BT
„Satz der Grammatik“
„grammatischer Satz“
„Regel der Grammatik“
„grammatische Regel“
Hieraus wird erkennbar, dass in Ts 213 20 und im BT 22 Instanzen von „Grammatik“ im allgemeinen Sinn der Wendung „Satz der Grammatik“ oder „Regel/n der Grammatik“ zuzuordnen sind. Man könnte davon ausgehend gegen mein Vorgehen einwenden wollen, dass die Instanzen von „Satz der Grammatik“ und „Regel/n der Grammatik“ gar nicht als Grammatik im allgemeinen Sinn zu werten seien, weil Wittgenstein genauso gut „grammatischer Satz“ bzw. „grammatische Regel/n“ hätte schreiben können, so dass wir es mit weiteren Fällen adjektivischer Verwendung zu tun hätten. Darauf möchte ich erstens erwidern, dass man mit dem gleichen Recht umgekehrt alle Instanzen von „grammatischer Satz“ und „grammatische Regel/n“ als „Satz der Grammatik“ bzw. „Regel/n der Grammatik“ werten könnte und folglich eine große Menge an weiteren Instanzen zu Grammatik im Allgemeinen bekäme. Das möchte ich jedoch gar nicht tun, sondern hingegen zweitens betonen, dass Wittgenstein tatsächlich beide Formulierungen, die adjektivische und die substantivische, verwendet, und dass diese Tatsache
Einmal jedoch spricht er von einem „grammatikalischen Satz“ (Ts 213: 91). Ts 213: i, ii (3x), iii, 32, 61, 63, 65, 79, 98 (2x), 150 (2x), 152, 159 (3x), 160 (2x), 161, 164, 193 (3x), 195, 204, 233 (2x), 235, 237, 238, 240 – 1, 249, 314, 364, 374, 416, 425, 441, 500, 552 (2x), 573, 579, 600, 612, 744. Hinzu kommen Ergänzungen auf den Seiten Ts 213: 33v, 190v (2x), 191v, 195, 235v (3x), 237v. Ts 213: 54, 165, 199, 230, 236 (3x), 237, 238 (2x), 308, 484. Zu den zwölf Vorkommnissen in Ts 213 kommt eine Ergänzung auf Seite 236v hinzu. Derivate der einzelnen Wörter werden jeweils mit berücksichtigt.
3.1 Grammatik im Big Typescript
121
ernst zu nehmen ist, selbst wenn sich die eine Formulierung problemlos, d.i. ohne inhaltliche Konsequenzen, in die andere umformen lässt. Warum Wittgenstein wiederum mal zu dieser, mal zu jener Formulierung neigt, lässt sich wohl am ehesten damit begründen, dass er stets um einen natürlichen Lesefluss bemüht war. Dafür spricht auch die Tatsache, dass wir hin und wieder sowohl den adjektivischen als auch den substantivischen Ausdruck in ein und derselben Bemerkung antreffen, wie beispielsweise in der folgenden: Wer etwas dagegen hat, dass man sagt, die Regeln der Grammatik seien Spielregeln, hat in dem Sinne Recht, dass das, was das Spiel zum Spiel macht, die Konkurrenz von Spielern, der Zweck der Unterhaltung und Erholung, in der Grammatik abwesend ist etc.. Aber niemand wird leugnen, dass das Studium des Wesens der Spielregeln für das Studium der grammatischen Regeln nützlich sein muss, da irgend eine Ähnlichkeit zweifellos offenbar besteht. (Ts 213+H: 238)⁶⁶
Wittgenstein scheint hier offenkundig zwischen beiden Formulierungen variieren zu wollen. Drittens ist anzumerken, dass selbst dann, wenn wir die insgesamt 20 bzw. 22 Instanzen von „Satz der Grammatik“ und „Regel/n der Grammatik“ von der in Tabelle 4 dargestellten Summe der Instanzen von „Grammatik“ im allgemeinen Sinn abziehen würden, die Vorherrschaft der Grammatik im allgemeinen Sinn gegenüber der Grammatik im besonderen Sinn weiterhin bestünde, obgleich sie zugegeben weniger signifikant ausfiele. Das bedeutet, dass diese Gebrauchsweisen von Grammatik im allgemeinen Sinn („Satz der Grammatik“ und „Regel/n der Grammatik“) nicht annähernd den größten Teil aller Instanzen von Grammatik im allgemeinen Sinn darstellen, weder in Ts 213 noch dem BT. Diese Überlegungen sind keineswegs nebensächlich, sondern gewinnen gerade in der Gegenüberstellung zu den PU an Relevanz, in denen Wittgenstein die Ausdrücke „grammatischer Satz“, „grammatische Regel/n“, „Satz der Grammatik“ und Regel/n der Grammatik“ deutlich weniger, nämlich nur fünfmal gebraucht, und zwar fast ausschließlich in der adjektivischen Form. Dieser Sachverhalt wird in Abschnitt 4.1 aufgegriffen und ausgewertet. Unter formalen Gesichtspunkten scheinen die Begriffe der Logik und der Grammatik im Big Typescript weit auseinander zu liegen, denn „Logik“ und seine Derivate stehen im deutlich überwiegenden Teil der Fälle im Zusammenhang mit mathematischen und formallogischen Überlegungen. In den meisten Fällen verwendet Wittgenstein das Adjektiv „logisch“ und dessen Derivate und spricht im
Meine Hervorhebung.
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3 Vom Allgemeinen zum Besonderen: Big Typescript und Brown Book
formallogischen Sinn etwa vom logischen Produkt⁶⁷ und der logischen Summe.⁶⁸ An anderer Stelle verwendet er allerdings auch Ausdrücke, die zumindest rein äußerlich an seine früheren Ausführungen im TLP und den Bemerkungen 1930 erinnern, wie etwa den der logischen Möglichkeit/Unmöglichkeit⁶⁹ und der logischen Analyse.⁷⁰ Nach diesen formalen und philologischen Betrachtungen des Big Typescripts steht im Folgenden die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Text im Vordergrund. Die nachfolgenden Abschnitte stellen in ihrer Gesamtheit den Vorschlag einer Interpretation von Wittgensteins Grammatikverständnis im Big Typescript dar. Sie hängen dabei inhaltlich eng zusammen, so dass sich ein Gesamtbild erst durch die Lektüre aller sieben Abschnitte ergeben kann. Auf Inkonsistenzen im Big Typescript wird jeweils im Haupttext oder in den Fußnoten hingewiesen.
3.1.3 Grammatik als ein reiner Kalkül Den Begriff des Kalküls hat Wittgenstein nicht erst im Big Typescript, sondern bereits in seinen Bemerkungen 1930 mit Grammatik in Verbindung gebracht (vgl. 2.3.4). Während er darin Logik und Mathematik als reine Kalküle verstand, verglich er Grammatik lediglich mit einem Kalkül, denn obgleich er sowohl Logik und Mathematik als auch Grammatik als regelgeleitete Systeme charakterisierte, sah er einen Unterschied zwischen ihnen im Hinblick auf ihr Verhältnis zur Wirklichkeit: Während die Gleichungen der Logik und Mathematik immer wahr (und darum strenggenommen keine Sätze) sind, und folglich nicht die Realität über ihre Wahr- oder Falschheit entscheidet, ist Sprache aufgrund ihrer Abbildfunktion mit der Realität so verknüpft, dass ein gemäß den grammatischen Regeln gebildeter sinnvoller Satz mit der Wirklichkeit verglichen werden muss, wenn über seine Wahr- oder Falschheit entschieden werden soll. Ohne diese Anwendbarkeit der Sprache auf die Wirklichkeit wäre die Grammatik in der Tat bloße Spielkonvention (LWL 12).
Etwa Ts 213: 51, 100, 119, 362, 607, 707. Etwa Ts 213: 295, 299, 326, 608, 727. Etwa Ts 213: 98, 450, 655, 728; Ts 213H, 264v. Etwa Ts 213+H: 100, Ts 213X: 260, Ts 213: 326, 460, 557. Freilich kommt das Adjektiv „logisch“ auch in vielen weiteren Verbindungen vor, die hier nicht vollständig aufgeführt zu werden brauchen. Dass sich das Verhältnis von Logik und Grammatik bei einer inhaltlichen Betrachtung als viel enger erweist, als es formal den Anschein hat, wird noch deutlich werden.
3.1 Grammatik im Big Typescript
123
Von dieser Auffassung hat sich Wittgenstein im Big Typescript gelöst und bezeichnet darin die Grammatik als einen reinen Kalkül:⁷¹ „Die Grammatik ist für uns ein reiner Kalkül. (Nicht die Anwendung eines auf die Realität.“ (Ts 213: 558)⁷² Diese Bemerkung steht allerdings sowohl im Big Typescript als auch in den zugrundeliegenden Manuskriptquellen im Kontext mathematisch-logischer Überlegungen. Im Big Typescript befindet sie sich im Abschnitt zur Begründung der Arithmetik (Ts 213: 550 – 561), in dem Wittgenstein u. a. verschiedene Verwendungsweisen des Wortes „Anwendung“ unterscheidet und im Hinblick auf den Kalkül erläutert: „Hier kann man nun sagen: Die Arithmetik ist ihre eigene Anwendung. Der Kalkül ist seine eigene Anwendung.“ (Ts 213: 556) In dem Sinne, in dem der Kalkül seine eigene Anwendung ist, ist er ein reiner Kalkül. Doch geht es in diesem Zusammenhang offensichtlich um Mathematik, nicht um die Umgangssprache. Logik und Mathematik als reinen Kalkül zu begreifen stellt noch keinen Unterschied zu den Bemerkungen 1930 dar, in denen Wittgenstein sie ebenso als solche verstand, obgleich er darin den Begriff des „reinen Kalküls“ nicht verwendet hat. Der Unterschied zwischen den Bemerkungen 1930 und dem Big Typescript zeigt sich vielmehr zum einen darin, dass Wittgenstein im Big Typescript Mathematik und Logik als Teile der Grammatik versteht (während es hingegen die Grammatik in den Bemerkungen 1930 nur mit sinnvollen Sätzen, nicht mit immer-wahren Gleichungen zutun hat), und zum anderen darin, dass im Big Typescript mathematisch-logische Betrachtungen und Anmerkungen zu unserem Sprachgebrauch direkt nebeneinander stehen. So stoßen wir im selben Abschnitt zur Begründung der Arithmetik auch auf die folgende Bemerkung über den Gebrauch des Wortes „Liebe“: „sage ich hier etwas über die Liebe aus? Natürlich nicht. Ich gebe eine Regel für den Gebrauch des Wortes ‚Liebe‘ und will etwa sagen, dass wir dieses Wort z. B. so gebrauchen“ (Ts 213: 555). Tatsächlich entfällt im Big Typescript der Unterschied zwischen Mathematik und Logik als reine Kalküle einerseits und Grammatik als auf die Realität angewandtes Regelsystem andererseits, so dass sich die Auffassung von Grammatik als einem reinem Kalkül ergibt, der sowohl die Regeln der Logik und Mathematik als auch die der Alltagsprache umfasst. Dies geht bereits daraus hervor, dass Wittgenstein im Big Typescript explizit die Grammatik einen reinen Kalkül nennt, obwohl er an besagter Stelle die Mathematik behandelt.
Demgegenüber finden sich jedoch auch Textpassagen, in denen Wittgenstein an einem Abbildverhältnis von Sprache und Wirklichkeit festhält. Vgl. Abschnitt 3.1.5. Diese Bemerkung notierte Wittgenstein erstmals im April 1932 (Ms 154: 9r und Ms 113: 62r).
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3 Vom Allgemeinen zum Besonderen: Big Typescript und Brown Book
Wie bereits in seinen Bemerkungen 1930 wählt Wittgenstein den Kalkülbegriff, um die Regelgeleitetheit von Sprache hervorzuheben, denn Sprache und Grammatik „unter dem Gesichtspunkt des Kalküls“ zu betrachten bedeutet, sie als ein „Operieren[…] nach festgelegten Regeln“ zu verstehen (Ts 213X: 258 f).⁷³ Eine Sprache verstehen bedeutet für ihn, ihre Regeln zu kennen und anwenden zu können: „Einen Kalkül beherrschen“ (Ts 213: 143). Die Begriffe „Grammatik“ und „Kalkül“ können dabei zum Teil als gegeneinander austauschbar verstanden werden, wie aus der folgenden Bemerkung hervorgeht: „Und das Wort ‚jetzt‘ bedeutet hier: ‚in diesem Kalkül/dieser Grammatik‘, oder: ‚wenn die Worte mit(?) diesen grammatischen Regeln gebraucht werden‘.“ (Ts 213: 63)⁷⁴
3.1.4 Spiele und Sprachspiele Neben dem Begriff des Kalküls gewinnt auch der Spielbegriff im Big Typescript an Bedeutung. Bereits in seinen Bemerkungen 1930 hatte Wittgenstein die Ausdrücke der „grammatischen Spielregeln“ (vgl. Ms 108: 169) und des „grammatischen Spiels“ (vgl. Ms 108: 178) verwendet und erklärt, dass die Grammatik „allein betrachtet eine bloße Sammlung von Spielregeln sein“ könne (Ms 108: 102). Doch weil die Anwendung der Grammatik „außer ihr [liegt]“ (Ms 108: 102), konnte sie Wittgenstein nicht als bloße Spielregelsammlung verstehen, denn er hatte sie ja gerade nicht „allein betrachtet“, sondern in Bezug auf ihre Anwendung auf die Wirklichkeit. Diese Perspektive gibt er im Big Typescript auf, wie im vorherigen
Wittgensteins Bemerkung lautet: „Ich betrachte die Sprache und Grammatik [unter dem Gesichtspunkt des Kalküls/unter der Form des Kalküls/als Kalkül], [d. h. des Operierens nach festgelegten Regeln./d. h. als Vorgang nach festgesetzten Regeln.]“ (Ts 213X: 258). Den heuristischen Aspekt des Kalkülbegriffs im BT hat Sedmak herausgestellt: „Die ‘calculus view on language’ ist eine heuristische Perspektive. Natürlich ist sich Wittgenstein im Klaren, daß die Regeln des ‚lebendigen Gebrauchs‘ der Sprache nicht tabuliert werden können, daß die sprachliche Praxis nicht kalkulierbar ist. Sein Anliegen ist es auch nicht, eine ‚Abbildung des Sprachgebrauchs’ zu liefern, sondern den Sprachgebrauch unter der Rücksicht seiner Regelhaftigkeit zu beschreiben.“ (Sedmak 1996: 170, Anm. 62) Meiner Einschätzung nach ist es jedoch keineswegs selbstverständlich, dass Wittgenstein sich über die Nicht-Kalkulierbarkeit der sprachlichen Praxis im Klaren sei. Was Sedmak nicht berücksichtigt, ist, dass das BT beide Aspekte enthält: Grammatik als Kalkül, und zwar vollständiger Kalkül, als auch den nicht von allen Seiten durch Regeln begrenzten Sprachgebrauch. Dieser Widerspruch wird in Abschnitt (3.1.8) noch deutlich werden und in 3.3. erläutert. Im BT ist diese Bemerkung mit einem Fragezeichen versehen.
3.1 Grammatik im Big Typescript
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Abschnitt gezeigt wurde. Grammatik versteht er jetzt als einen reinen Kalkül – als eine Sammlung von „strikten grammatischen Spielregeln“ (Ts 213: 248).⁷⁵ Bei dem Vergleich der Grammatik mit einem Spiel ist er sich möglicher Einwände bewusst und betont, dass es ihm allein auf den Aspekt der Regelgeleitetheit von Spielen ankommt: Wer etwas dagegen hat, dass man sagt, die Regeln der Grammatik seien Spielregeln, hat in dem Sinne Recht, dass das, was das Spiel zum Spiel macht, die Konkurrenz von Spielern, der Zweck der Unterhaltung und Erholung, in der Grammatik abwesend ist, etc.. Aber niemand wird leugnen, dass das Studium des Wesens der Spielregeln für das Studium der grammatischen Regeln nützlich sein muss, da irgendeine Ähnlichkeit offenbar besteht. Es ist überhaupt besser, ohne ein gefasstes Urteil oder Vorurteil über die Analogie zwischen Grammatik und Spiel, und nur getrieben von dem sicheren Instinkt, dass hier eine Verwandtschaft vorliegt, die Spielregeln zu betrachten. Und hier soll man einfach berichten, was man sieht und nicht fürchten, dass man damit eine wichtige Anschauung untergräbt, oder auch, seine Zeit mit etwas Überflüssigem verliert. (Ts 213+H: 238 f)
Die Spielregeln will Wittgenstein in Analogie zu den grammatischen Regeln untersuchen, denn zwischen beiden bestehe offenbar eine Ähnlichkeit. Hingegen seien viele Charakteristika eines Spiels, wie etwa der Zweck der Unterhaltung oder die Konkurrenz der Spieler, nicht auf die Grammatik übertragbar. Die Analogie zwischen Grammatik und Spiel ist also auf das Operieren nach Regeln in beiden Fällen beschränkt. Als Wittgenstein in seinen Bemerkungen 1930 vom Begriff des Spiels Gebrauch machte, hatte er sich auf das Schachspiel konzentriert, das er zwar an keiner Stelle im Nachlass explizit einen Kalkül nennt, jedoch als Kalkül mit festen Regeln aufgefasst hat.⁷⁶ Auch im Big Typescript greift er häufig auf den Vergleich der Sprache oder der Grammatik mit dem Schachspiel zurück, um seine Gedanken zu veranschaulichen.⁷⁷ Erst im Jahr 1931 beginnt er, nicht nur die Regeln des Schachspiels, oder auch des Damespiels (Ms 108: 169), sondern auch anderer Spiele als Brettspiele zu berücksichtigen. Dass er fortan auch andere Spiele in
Vgl. ebenso etwa Ts 213: 77 und 264. Das ergibt sich daraus, dass Wittgenstein, wenn er in den Bemerkungen 1930 vom Kalkül spricht, häufig in Analogie auf das Schachspiel verweist (vgl. 2.3.4). Gemäß der BEE verwendet Wittgenstein das Wort „Schach“ oder ein Kompositum, das mit „Schach“ beginnt, in 85 Bemerkungen: Die Suche nach „Schach*“ im BT in der Normalized Transcription der BEE liefert 87 Treffer, d. h. 87 Bemerkungen, wobei in drei derselben das Wort „Schachtel“ gefunden wird: Ts 213X: 168; BT 247; Ts 213: 346.
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Betracht ziehen will, ist in der folgenden Bemerkung angedeutet, worin er die „Mannigfaltigkeit“ der Spiele hervorhebt:⁷⁸ Es ist so, als erklärte jemand: ,spielen besteht darin, dass man Dinge, gewissen Regeln gemäß, auf einer Fläche verschiebt…‘ und wir ihm antworten: Du denkst da gewiss an die Brettspiele, und auf sie ist Deine Beschreibung auch anwendbar. Aber das sind nicht die einzigen Spiele. Du kannst also Deine Erklärung richtigstellen, indem Du sie ausdrücklich auf diese Spiele einschränkst. (Ts 213+H: 26)
Diese Bemerkung hat Wittgenstein erstmals im Juli 1931 notiert (Ms 111: 17). Einen Monat später formuliert er seine ersten Bemerkungen zum Tennisspiel (Ms 111: 83) und Preisschießen (Ms 111: 84) und spricht im November desselben Jahres erstmals vom „Ballspiel“ (Ms 112: 96r). Auch im Big Typescript wählt er Tennis (Ts 213X: 249, Ts 213: 255, 532, 535), andere Ballspiele (Ts 213: 254) und das Preisschießen (Ts 213: 250), um in Analogie von den Regeln dieser Spiele auf die Regeln der Sprache zu schließen.⁷⁹ Wir können also festhalten, dass Wittgensteins Spielbegriff im Big Typescript, bzw. in den entsprechenden zugrundeliegenden Manuskriptquellen, eine Erweiterung von Schach über Brettspiele zu weiteren Spielen erfährt. Ferner lässt sich feststellen, dass der Spielbegriff im Big Typescript gegenüber den Bemerkungen 1930 an Bedeutung gewinnt. Während 1930 der Vergleich von Sprache mit einem Kalkül im Vordergrund gestanden hatte, stehen im Big Typescript Kalkül und Spiel als Bilder für die Regelgeleitetheit von Sprache nebeneinander. Die Betonung des Spielcharakters von Sprache und Grammatik hängt offenbar mit dem Einzug des Begriffs des Sprachspiels in Wittgensteins Denken zusammen, den er im Februar 1931 erstmals gebraucht (Ms 113: 45r).⁸⁰ Im Big Typescript verwendet er den Ausdruck „Sprachspiel“ 15 Mal⁸¹ und gibt außerdem Beispiele für Spiele, die er zwar nicht ausdrücklich als „Sprachspiele“ bezeichnet,
Der Begriff der „Mannigfaltigkeit“ findet sich nicht im Big Typescript, sondern ist hier in Anspielung auf die PU gemeint, worin Wittgenstein von der „Mannigfaltigkeit der Sprachspiele“ sprechen wird (PU 23, 24). Tatsächlich ist auch die hier zitierte Textpassage nicht nur in Ts 213, sondern auch in die PU eingegangen (vgl. PU 3). In Abschnitt 3.1.8 werden einige dieser Analogien genauer betrachtet. Wittgenstein verwendet an dieser Stelle den Begriff des Sprachspiels, ohne ihn zuvor einzuführen oder zu erklären. Eine erste kurze Charakterisierung des Sprachspielbegriffs als „ein bestimmtes System, Sprachspiel mit seiner Anwendung“ formuliert er einige Monate später am 05.06.1932 in Ms 114: 117. Zur Entwicklung des Sprachspielbegriffs bei Wittgenstein vgl. Sedmak 1996. Vgl. Ts 213: 8, 201 (2x), 205, 208, 393, 396, Ts 213+H: 202, Ts 213X: 205, Ts 213H 3, 78v, 79, 205, 208v, 209. Textvarianten wurden nicht berücksichtigt.
3.1 Grammatik im Big Typescript
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die jedoch vor dem Hintergrund seiner Philosophie als solche zu verstehen sind, etwa: „Es gibt übrigens auch ein Spiel: die Farbe wählen, die einem beim Wort ‚rot‘ einfällt“ (Ts 213+H: 38) oder: „,Rot kann man nicht teilen‘ heißt also: Erinnere Dich daran, dass Du in dem Spiel, zu welchem dieser Satz seiner Form nach zu gehören scheint, nichts anfangen kannst/anzufangen weißt.“ (Ts 213H: 78v) Obwohl der Begriff des Sprachspiels im Big Typescript bereits enthalten ist, kommt ihm darin noch keine zentrale Rolle zu. Dennoch finden sich im Big Typescript – und den ihm zugrundeliegenden Manuskriptquellen ab 1931 – die Wurzeln von Wittgensteins Sprachspielbegriff.⁸² Parallel zur wachsenden Bedeutung von Sprachspielen in Wittgensteins Denken verläuft die Verschiebung vom Vergleich der Sprache mit einem Kalkül zum Vergleich der Sprache mit einem Spiel in seinen Schriften. Bereits im Brown Book und dessen Überarbeitung und Übersetzung ins Deutsche (Ms 115ii) wird sich Wittgenstein vollkommen der Untersuchung von Sprachspielen widmen und dabei den Begriff des Kalküls an keiner Stelle verwenden. Auch in den PU untersucht er Spiele und Sprachspiele, nicht Kalküle, und gebraucht den Begriff des Kalküls lediglich siebenmal⁸³ – davon mindestens einmal, um auf seine frühere Auffassung zu verweisen (PU 136) und einmal in deutlicher Abgrenzung zu seinen früheren Ansichten: „Denn dann wird auch klar werden, was uns dazu verleiten kann (und mich verleitet hat) zu denken, dass, wer einen Satz ausspricht und ihn meint, oder versteht, damit einen Kalkül betreibt nach bestimmten Regeln.“ (PU 81)⁸⁴
3.1.5 Willkürlichkeit der Grammatik Bereits in seinen Bemerkungen 1930, denen zufolge er noch an seiner Abbildtheorie festgehalten hatte, bezeichnete Wittgenstein die Grammatik als willkürlich. Sie ist nicht willkürlich im Sinne eines von der Wirklichkeit unabhängigen Kalküls, sondern aufgrund ihrer Rechtfertigungslosigkeit: Zwar wird die Grammatik auf die Wirklichkeit angewandt, da ihren Regeln gemäß geformte Sätze mit
Dies hat Sedmak in seiner Monographie zur „Genesis und Geltung von Wittgensteins Sprachspielmodell“ (1996) herausgearbeitet. Darin stellt er fest: „Natürlich wird vor allem der Begriff des Sprachspiels in den PU Konturen erfahren; der Begriff als solcher ist ja im BT von geringer Relevanz. Das Sprachspielmodell aber […] ist bereits im BT prinzipiell (thematisch, inhaltlich und methodisch) abgeschlossen.“ (1996: 157) Vgl. PU 81 (3x), 136, 559, 565 und eine Ergänzung von PU 28 (vgl. S. 762 in der Kritisch-genetischen Edition.) Zu Anfang dieser Bemerkung charakterisiert er Kalküle als „Spiele nach festgesetzten Regeln“ (PU 81).
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3 Vom Allgemeinen zum Besonderen: Big Typescript und Brown Book
der Wirklichkeit verglichen werden, doch weil jede Beschreibung der Wirklichkeit die grammatischen Regeln bereits voraussetzt, lässt sich die Grammatik nicht rechtfertigen (vgl. 2.3.4). Diese Auffassung übernimmt Wittgenstein in sein Unterkapitel zur Willkürlichkeit der Grammatik im Big Typescript (Ts 213: 233 – 239): Und zu sagen, die Regeln der Grammatik sind willkürlich, sagt bloß: Verwechsle eine Regel über den Gebrauch des Wortes A nicht mit einem Satz, in dem von A Gebrauch gemacht wird. Denke nicht, die Regel sei in ähnlicher Weise einer Realität verantwortlich/mit einer Realität zu vergleichen, wie der Erfahrungssatz, der von A handelt. (Ts 213H: 236v)
Wittgenstein vertritt in dieser Bemerkung – wohlgemerkt eine handschriftliche Ergänzung des Textes – noch immer ein Abbildungsverhältnis von Sprache und Wirklichkeit: Während „der Erfahrungssatz, der von A“ handelt, mit der Wirklichkeit verglichen werden kann, ist eine grammatische Regel über den Gebrauch des Wortes A keiner Wirklichkeit verantwortlich und darum willkürlich.Versuche, die Grammatik zu rechtfertigen, sind „nach dem Modell der Rechtfertigung eines Satzes durch (den) Hinweis auf seine Verifikation gebaut“ (Ts 213: 236), und genau darin liegt das Missverständnis, denn grammatische Regeln lassen sich nicht verifizieren. Den grammatischen Regeln nach richtig geformte Sätze lassen sich vermittels eines Vergleichs mit der Wirklichkeit rechtfertigen, nicht jedoch die grammatischen Regeln selbst: „Wenn man von der Willkürlichkeit der grammatischen Regeln spricht, so kann das nur bedeuten, dass es die Rechtfertigung, die in der Grammatik als solche liegt, nicht für die Grammatik gibt.“ (Ts 213+HX: 235) Ein Gegner könnte gegen diese Sichtweise etwa vorbringen: „Aber es gibt doch wirklich 4 primäre Farben“ (Ts 213: 236): Kann man aber nicht doch in irgendeinem Sinne sagen, dass die Grammatik der Farbwörter die Welt, wie sie tatsächlich ist, charakterisiert? Man möchte sagen: kann ich nicht wirklich vergebens nach einer fünften primären Farbe suchen? Nimmt man nicht die primären Farben zusammen, weil sie eine Ähnlichkeit haben, oder zumindest die Farben, im Gegensatz z. B. von/zu den Formen oder Tönen, weil sie eine Ähnlichkeit haben? (Ts 213+H: 236 f)
Darauf ließe sich erwidern, dass, wer eine entsprechende Einteilung der Wirklichkeit als richtig betrachtet, „schon eine vorgefasste Idee als Paradigma im Kopf [hat]“ (Ts 213: 237), und so bleibt lediglich die Bestätigung: „‚ja, das ist die Weise/ Art, wie wir die Dinge betrachten‘, oder ‚wir wollen eben ein solches Bild (von der Wirklichkeit) machen‘.“ (Ts 213: 237) Wittgensteins Antwort auf diesen Einwand reicht jedoch noch weiter, denn er fragt, woher wir überhaupt den Begriff der Ähnlichkeit der vier primären Farben haben: „Ist nicht […] auch der Begriff jener Ähnlichkeit nur durch die vier Farben gegeben? Ja, sind sie nicht die gleichen!“
3.1 Grammatik im Big Typescript
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(Ts 213: 237) Das heißt, wir sehen eine Ähnlichkeit zwischen den Primärfarben, eben weil wir sie unter dem Begriff der Primärfarben zusammenfassen. Doch wenn dies eine willkürliche Einteilung ist, „könnte man denn auch rot, grün und kreisförmig zusammenfassen?“ (Ts 213: 237) Wittgenstein hält dies für durchaus möglich, wenn er erwidert: „Warum nicht?!“⁸⁵ (Ts 213: 237) Bereits in Ts 209: 2 hatte Wittgenstein diesen Einwand in ähnlicher Weise vorgebracht und im Big Typescript die entsprechende Textstelle übernommen. Grammatische Regeln fasst er darin als Konventionen auf:⁸⁶ Könnte ich den Zweck der grammatischen Konventionen dadurch beschreiben, dass ich sagte, ich müsste sie machen, weil etwa die Farben gewisse Eigenschaften haben, so wären damit diese Konventionen überflüssig, denn dann könnte ich eben das sagen, was die Konventionen gerade ausschließen. Umgekehrt, wenn die Konventionen nötig waren, also gewisse Kombinationen der Wörter als unsinnig ausgeschlossen werden mussten, dann kann ich eben darum nicht eine Eigenschaft der Farben angeben, die die Konventionen nötig machte, denn dann wäre es denkbar, dass die Farben diese Eigenschaft nicht hätten und das könnte nur entgegen den Konventionen ausgedrückt werden. (Ts 213+HX: 237 f)
Könnte man also sagen, die Regeln der Grammatik müssen aufgrund der Beschaffenheit der Wirklichkeit so getroffen werden, wie sie sind, dann bräuchte man keine Konventionen, denn dann ließe sich ohne Hilfe von Konventionen ausdrücken, wie es sich in Wirklichkeit verhält. Gleichzeitig ließe sich ausdrücken, wie es sich nicht verhält – „was die Konventionen gerade ausschließen“. Sind aber Konventionen nötig, weil gewisse Wortverbindungen als unsinnig ausgeschlossen werden müssen, dann lässt sich nicht sagen, dass die Konventionen aufgrund der Eigenschaften der Farben so gewählt werden müssen, wie sie sind, weil es dann denkbar wäre, dass es sich auch anders verhalten könnte, und dies lässt sich vermittels der gegebenen grammatischen Regeln gar nicht ausdrücken. Auch in seinen handschriftlichen Ergänzungen des Big Typescript behält Wittgenstein diese Auffassung bei (Ts 213H: 237v).⁸⁷ Wir stoßen also, wenn wir
Der Ausruf „Warum nicht?!“ kann auch so verstanden werden, dass Wittgenstein der Auffassung ist, man könne rot, grün und kreisförmig nicht zusammenfassen. Um zu entscheiden, welche Lesart richtig ist, müssten wir wissen, ob „warum“ oder ob „nicht“ in der Formulierung betont werden soll. Im Kontext der Bemerkung halte ich die im Haupttext beschriebene Lesart für überzeugender. Im Big Typescript spricht Wittgenstein auf mehreren Seiten von „Konventionen“, „grammatischen Konventionen“ oder „Konventionen der Grammatik“. Vgl. Ts 213+HX: 237, Ts 213X: 238, BT 198, 237v. „Angenommen man wollte eine grammatische Konvention damit rechtfertigen, dass — z. B. – die Farben die und die Eigenschaften haben und daher gewisse Regeln für den Gebrauch der
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versucht sind, vermittels eines Verweises auf die Wirklichkeit die grammatischen Konventionen zu rechtfertigen, an die Grenze der Sprache; das, was wir uns nicht anders denken können, gehört zur Grammatik. „Die Grammatik ist keiner Wirklichkeit verantwortlich. Die Grammatik ist der Wirklichkeit nicht Rechenschaft schuldig“ (Ts 213: 234) bedeutet, dass sich die Grammatik nicht nur nicht rechtfertigen lässt, sondern auch, dass sie sich gar nicht zu rechtfertigen braucht, da sie in keinem Abbildungsverhältnis zur Wirklichkeit steht. Ein weiterer wichtiger Aspekt der Willkürlichkeit der Grammatik ist, dass das Sprechen einer Sprache nicht im selben Sinn durch ihren Zweck definiert ist wie andere Tätigkeiten, wie etwa Waschen oder Kochen. Im Big Typescript vergleicht Wittgenstein die Regeln der Grammatik mit den Regeln des Kochens: „Warum nenne ich die Regeln des Kochens nicht willkürlich; und warum bin ich versucht, die Regeln der Grammatik willkürlich zu nennen? Weil Kochen durch seinen Zweck definiert ist, dagegen der Gebrauch/das Sprechen der Sprache nicht.“ (Ts 213+H: 237). Dazu erläutert er: [E]s gibt natürlich auch für das Kochen Regeln, aber ,Kochen‘ bezeichnet nicht wesentlich eine Tätigkeit nach diesen Regeln, sondern eine Tätigkeit, die ein bestimmtes Resultat hat. Es ist etwa eine Regel, dass man Eier 3 Minuten lang kocht, um weiche Eier zu erhalten; wird aber durch irgendwelche Umstände das gleiche Ergebnis durch 5 Minuten langes Kochen erreicht, so sagt man nun nicht ,das heißt dann nicht ‚weiche Eier kochen‘. Dagegen heißt ,Schachspielen‘ nicht die Tätigkeit, die ein bestimmtes Ergebnis hat, sondern dieses Wort bedeutet eine Tätigkeit, die gewissen/den und den Regeln entspricht. (Ts 213+HX: 236)
Während das Schachspiel also durch seine Regeln definiert ist, ist Kochen durch seinen Zweck definiert. Man möchte etwa ein bestimmtes Gericht kochen und hält sich an das entsprechende Rezept, doch wenn man auf anderem Wege dasselbe Gericht zustande bringt, hat man trotz Regelverstoß jenes Gericht gekocht. Richtet man sich im Schachspiel jedoch nach anderen Regeln als denen des Schachspiels, spielt man ein anderes Spiel. Dies ließe sich auch so ausdrücken, dass die Erfahrung zu den Regeln des Kochens geführt hat – z. B. möchte man weichgekochte Eier erhalten und stellt fest, dass sie nach drei Minuten weich gekocht sind –, während die Schachregeln nicht festgelegt wurden, um ein bestimmtes Resultat zu erzielen, und daher nicht auf empirischem Wege gefunden werden müssen. Die Spieler könnten sich nach anderen Regeln als denen des Schachspiels richten, also ein anderes Spiel spielen, und man würde daraufhin nicht sagen, sie spielten
Farbwörter gelten/gelten müssten. Dann wäre es nach dieser Grammatik auch denkbar, nämlich sagbar, dass die Farben diese/jene Eigenschaften nicht hätten, und es müsste sich nach ihr alles sagen lassen, was dann der Fall wäre.“ (Ts 213H: 237v)
3.1 Grammatik im Big Typescript
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schlecht, sondern vielmehr, sie spielten etwas anderes als Schach. Wenn sich jedoch ein Koch nicht nach dem Rezept für ein bestimmtes Gericht richtet, das er kochen möchte, kocht er schlecht (Ts 213+H: 237) – es sei denn, das, was er zustande gebracht hat, schmeckt seinen Gästen. Beim Kochen ist also das Resultat entscheidend, beim Schachspiel nicht. Die Grammatik vergleicht Wittgenstein daraufhin mit dem Schachspiel, nicht mit dem Kochen: „wer sich nach andern Regeln als denen des Schach richtet, spielt ein anderes Spiel und wer sich nach andern grammatisch Regeln richtet, als den und den, spricht darum nichts Falsches, sondern von etwas Anderem.“ (Ts 213: 237) Aus diesem Grund ist der Gebrauch der Sprache „in einem gewissen Sinne autonom“ (Ts 213: 237). Dieser Auffassung zufolge, die ihren Ursprung in den Jahren 1929/30 hat, bildet Sprache Wirklichkeit ab. Sätze werden mit der Wirklichkeit verglichen, um über ihre Wahr- und Falschheit zu entscheiden. Grammatik hingegen entscheidet über Sinn und Unsinn eines Satzes, nicht über seine Wahrheit oder Falschheit, und ist willkürlich aufgrund ihrer Rechtfertigungslosigkeit. Das Big Typescript enthält jedoch auch eine Reihe von Bemerkungen, die sich gegen Abbildtheorie und Verifikationismus wenden. Diese werden Gegenstand des folgenden Abschnitts sein.
3.1.6 Sprache und Wirklichkeit Wittgenstein kann im Big Typescript Sprache und Grammatik als reinen Kalkül und als von der Wirklichkeit unabhängiges Spiel verstehen, weil er sich allmählich von seiner Auffassung, Sprache bilde Realität ab, entfernt. Einerseits vertritt er noch immer die Bildhaftigkeit von Sprache, wie im vorherigen Abschnitt dargelegt wurde, andererseits hinterfragt er sie: „,Der Satz ist ein Bild.‘ Ein Bild wovon? Kann man sagen: ‚von der Tatsache, die ihn wahr macht, wenn er wahr ist und von der Tatsache, die ihn falsch macht, wenn er falsch ist. Im ersten Fall ist er ein korrektes Bild, im zweiten ein unkorrektes‘?“ (Ts 213X: 289) Im TLP und auch noch in seinen Bemerkungen 1930, von denen er einige ins Big Typescript übernimmt, hatte er genau dieses behauptet. Jetzt fügt er jedoch hinzu: „Wenn man mit Bild meint: die richtige, oder falsche Darstellung der Realität, dann muss man wissen, welcher Realität; oder: welches Teils der Realität.“ (Ts 213X: 289) Wenn man etwa ein Bild von einem Zimmer mit dem abgebildeten Zimmer vergleichen wolle, müsse man zuerst wissen, von welchem Zimmer das Bild ein Bild sein soll (ebd.).Wittgenstein fragt schließlich, was wir meinen, wenn wir sagen, ein Satz sei ein Bild der Wirklichkeit oder stimme mit der Wirklichkeit überein: „Wie gebrauchen wir das Wort übereinstimmen?“ (Ts 213+H: 203)
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Dass Wittgenstein sich kritisch mit der Annahme eines Abbildungsverhältnisses zwischen Sprache und Wirklichkeit auseinandersetzt, hängt wesentlich mit dem Eintritt des „Sprachspiels“ in seine Überlegungen sowie der Erkenntnis der Mannigfaltigkeit der Sprachspiele zusammen. Die Einsicht, dass Augustinus, wenn er das Erlernen einer Sprache erklärt,⁸⁸ „wirklich einen Kalkül [beschreibt]“, dass jedoch „nicht alles, was wir Sprache nennen, dieser Kalkül [ist]“ (Ts 213: 26), lässt ihn erkennen, dass Sprache auf ganz unterschiedliche Weise gebraucht wird – so wie es außer den Brettspielen noch eine ganze Reihe andersartiger Spiele gibt. Einige Sprachspiele beruhen zwar tatsächlich auf einem Benennen von Gegenständen und Vorgängen, wie Augustinus vorschlägt, doch treffe dies nicht auf alle unsere Sprachspiele zu (Ts 213+HX: 25). Die Annahme einer Übereinstimmung von Sprache und Wirklichkeit lässt sich ferner in Bezug auf Sprachspiele, denen kein Vorgang des Benennens von Gegenständen zugrunde liegt, kaum anwenden: Ein einfaches Sprachspiel ist z. B. dieses: Man spricht zu einem Kind (es kann aber auch ein Erwachsener sein) indem man das elektrische Licht in einem Raum andreht: ‚Licht‘, dann, indem man es abdreht: ‚Finster‘; und tut das etwa mehrere Male mit Betonung und variierenden Zeitlängen. Dann geht man etwa in das Nebenzimmer, dreht von dort aus das Licht im ersten an und bringt das Kind dazu, dass es mitteilt, ob es licht oder finster ist./… dass es mitteilt: ‚Licht‘, oder: ‚Finster‘. Soll ich da nun ‚Licht‘ und ‚Finster‘ Sätze nennen? Nun, wie ich will. – Und wie ist es mit der ‚Übereinstimmung mit der Wirklichkeit‘? (Ts 213: 201)⁸⁹
Inwiefern stimmen die Ausrufe „Licht“ und „Finster“ in dem beschriebenen Sprachspiel mit der Wirklichkeit überein? Wittgenstein nähert sich dieser Frage, indem er zunächst eine grammatische Untersuchung des Wortes „Übereinstimmung“ durchführt: Wie gebrauchen wir das Wort ‚übereinstimmen‘? – Wir sagen, ‚die beiden Uhren stimmen überein‘, wenn sie die gleiche Zeit zeigen, ‚die beiden Maßstäbe stimmen überein‘, wenn gewisse Teilstriche zusammenfallen, ‚die beiden Farben stimmen überein‘, wenn etwa ihre Zusammenstellung uns angenehm ist. Oder manchmal, wenn wir sagen wollen, die beiden Dinge haben dieselbe Farbe.Wir sagen ‚die beiden Längen stimmen überein‘, wenn sie gleich sind, aber auch, wenn sie in einem von uns gewünschten Verhältnis stehen. Und, dass sie ‚übereinstimmen‘ heißt dann nichts anderes, als dass sie in diesem Verhältnis – etwa 1:2 –
Bekanntlich wird Wittgenstein die PU mit einem Zitat von Augustinus eröffnen (vgl. PU 1). Seine erste Bemerkung zu Augustinus’ Erläuterungen des Erlernens einer Sprache formuliert er im Juli 1931 (Ms 111: 15) – d.i. im selben Jahr, in dem er den Begriff des Sprachspiels zum ersten Mal verwendet. Zur Genese von PU 1– 4 vgl. Pichler 1997 und Pichler 2004: 233 ff. Bei dieser Bemerkung handelt es sich um die erste im Nachlass, in der Wittgenstein den Begriff des Sprachspiels gebraucht, und zwar ursprünglich am 29.02.1932 in Ms 113: 45r.
3.1 Grammatik im Big Typescript
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stehen. So muss also in jedem Fall erst festgesetzt werden, was unter ‚Übereinstimmung‘ zu verstehen ist. (Ts 213+H: 203 f)
Wenn wir von der „Übereinstimmung von Sprache und Wirklichkeit“ sprechen wollen, müssen wir also genau festlegen, was wir in diesem Fall unter „Übereinstimmung“ verstehen, denn „[e]s kommt eben wieder auf die Grammatik des Wortes ‚Übereinstimmung‘ an, auf seinen Gebrauch“ (Ts 213: 204). In Bezug auf das beschriebene Sprachspiel mit den Worten „Licht“ und „Finster“ stellt Wittgenstein fest, dass darin der Ausdruck „Übereinstimmung mit der Wirklichkeit“ gar nicht vorkomme (Ts 213X: 205) und somit keine Rolle spiele. Sprache hat hier offenbar eine andere Funktion, als die Wirklichkeit abzubilden.⁹⁰ Wittgensteins in diesem Zusammenhang wesentliche Einsicht ist, dass der Ausdruck „Übereinstimmung mit der Wirklichkeit“ nicht metalogisch⁹¹ gebraucht werden darf, „sondern als Teil eines Kalküls, als Teil der gewöhnlichen Sprache.“ (Ts 213: 205) Insofern müssen die Worte „übereinstimmen“, „Bild“, „Wirklichkeit“ etc. ebenso grammatisch, auf ihren Gebrauch hin, untersucht werden, wie alle anderen Wörter der Sprache auch. Doch trotz dieser Erkenntnis beschäftigt ihn seine alte Sichtweise bzw. „Abbildtheorie“ weiterhin. Obwohl er sich bereits in Ts 213 deutlich von der Auffassung von Sätzen als Bilder der Wirklichkeit distanziert,⁹² diskutiert er noch in seinen handschriftlichen Ergänzungen die Irreführung der Sprache durch die Annahme eines solchen Abbildverhältnisses: Was macht uns glauben, dass so etwas wie eine Übereinstimmung der Gedanken/des Gedankens mit der Wirklichkeit besteht? – Statt Übereinstimmung könnte man hier ruhig setzen: ‚Bildhaftigkeit‘. Ist aber die Bildhaftigkeit eine Übereinstimmung? In der ‚Abhandlung‘/‚Logisch-philosophischen Abhandlung‘ hätte/habe ich so etwas gesagt wie: sie ist/sei eine Übereinstimmung der Form. Das aber ist irreführend/eine Irreführung. (Ts 213H: 188v)
Es ist eine Irreführung, weil wir, um eine solche Aussage überhaupt treffen zu können, eine metalogische Perspektive einnehmen müssten. Wir rennen hier also gegen die Grenze der Sprache an: Zu sagen, die Regeln der Grammatik stimmen mit der Wirklichkeit überein, ist „Unsinn“ (Ts 213: 297). Dennoch ließe sich der Ausdruck „Übereinstimmung mit der Wirklichkeit“ auf das beschriebene Sprachspiel anwenden, wenn man etwa „Licht!“ und „Finster!“ als Bilder von Zuständen auffassen will. So könnte man sagen, „Licht!“ stimmt mit Wirklichkeit überein, wenn im Zimmer die Lampe leuchtet, „Finster!“ wenn sie ausgeschaltet ist. Zum Begriff der Metalogik vgl. den nachfolgenden Abschnitt. Vgl. etwa Ts 213X: 84: „Die Übereinstimmung von Satz und Wirklichkeit ist der Übereinstimmung zwischen Bild und Abgebildetem nur so weit ähnlich, wie der Übereinstimmung zwischen einem Erinnerungsbild und dem gegenwärtigen Gegenstand.“
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Die irreführende Redeweise von der Bildhaftigkeit der Sprache ist jedoch in dem „ganze[n] Problem der Bedeutung der Worte“ (Ts 213: 366) weit verbreitet (Ts 213X: 366 f). Im Big Typescript antwortet Wittgenstein auf die Frage, warum wir immer wieder dazu verleitet werden, ein Abbildungsverhältnis zwischen Sprache und Wirklichkeit, bzw. zwischen Gedanke und Wirklichkeit, anzunehmen, indem er auf unser „menschliche[s] Leben“ (Ts 213H: 195v) verweist: „Uns Bilder herzustellen ist Teil unseres Lebens.“ (Ts 213H: 389v) Bei der Untersuchung des Verhältnisses von Sprache und Wirklichkeit im Big Typescript sind ferner zwei weitere, verwandte Aspekte zu nennen. Der erste betrifft den Verifikationismus, den Wittgenstein 1930 noch vertreten hatte und auch in einigen Bemerkungen des Big Typescript zu vertreten scheint, und der oft mit den Worten „Der Sinn eines Satzes ist die Methode seiner Verifikation“ zusammengefasst wird. Im Oktober 1929 hatte Wittgenstein behauptet: „Jeder Satz ist ein leeres Spiel von Strichen oder Lauten ohne die Beziehung zur Wirklichkeit & die/ seine einzige Beziehung zur Wirklichkeit ist die Art seiner Verification [sic].“ (Ms 107: 177) Im Big Typescript sieht es an einigen Stellen so aus, als hätte er seine alte Auffassung beibehalten. So lautet etwa die Überschrift des 60. Abschnitts im Big Typescript: „Sage mir, was Du mit einem Satz anfängst, wie Du ihn verifizierst, etc., und ich werde ihn verstehen.“ (Ts 213: 265)⁹³ Doch im Unterschied zu seiner früheren Auffassung, derzufolge jeder Satz verifizierbar sein muss, um sinnvoll zu sein, versteht er die Angabe der Verifikation eines Satz im Big Typescript als einen Beitrag zu seiner Grammatik (Ts 213: 265).⁹⁴ Das heißt, um einen Satz zu verstehen, kann es sich als hilfreich erweisen, nach der Verifikation oder Falsifikation dieses Satzes zu fragen, denn „[d]ie Frage nach der Verifikation ist nur eine besondere Form der Frage ‚wie meinst Du das?‘./‚Was tut man mit diesem Satz?‘.“ (Ts 213+H: 265). Zu wissen, unter welchen Umständen wir einen Satz als wahr anerkennen, gehört folglich zur Grammatik dieses Satzes. Das bedeutet jedoch nicht, dass ein für uns wahrer Satz mit der Wirklichkeit übereinstimmen muss. Stattdessen ist die Grammatik der Frage, wie ein Satz verifiziert wird, von Bedeutung: „[W]elchen Sinn hat es, von der Verifikation des Satzes ‚ich habe Zahnschmerzen‘ zu reden? Und hier sieht man deutlich, dass die Frage ‚wie wird
Vgl. auch Ts 213X: 43: „Zur Grammatik gehört nur das nicht, was die Wahrheit und Falschheit eines Satzes ausmacht. Nur darum kümmert sich die Grammatik nicht. Zu ihr gehören alle Bedingungen des Vergleichs des Satzes mit der Wirklichkeit/mit den Tatsachen. Das heißt alle Bedingungen des Verständnisses. (Alle Bedingungen des Sinnes.)“ und Ts 213: 728: „Und man wird, um die Grammatik des Satzes verstehen zu lernen, fragen: wie gebraucht man diesen Satz? Was sieht man als Kriterium seiner Wahrheit an? Was ist seine Verifikation?“ „Die Angabe/Beschreibung der Verifikation eines Satzes ist ein Beitrag zu seiner Grammatik.“ (Ts 213: 265) Diese Bemerkung stammt aus Ms 110: 238 (Juni 1931).
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dieser Satz verifiziert‘ von einem Gebiet der Grammatik zum andern ihren Sinn ändert.“ (Ts 213: 392)⁹⁵ Der dritte Aspekt, der hier im Zusammenhang des Verhältnisses von Sprache und Wirklichkeit im Big Typescript genannt werden soll, betrifft hinweisende Definitionen, die Wittgenstein vor allem im 13. Abschnitt des Big Typescript diskutiert. Einen Unterschied zwischen hinweisenden und verbalen Definitionen streitet er nicht ab, denn sie unterscheiden sich zum einen äußerlich – die hinweisende Definition besteht aus einer Geste mit der Hand, die verbale aus Lautund Schriftzeichen – und zum anderen logisch: „Es wird von [ihnen] in anderer Weise Gebrauch gemacht.“ (Ts 213: 56)⁹⁶ Der Unterschied zwischen hinweisender Definition und verbaler Definition betrifft also den Gebrauch dieser Worterklärungen: weil sie auf verschiedene Weise gebraucht werden, besteht zwischen ihnen ein grammatischer und logischer Unterschied.⁹⁷ Diese Unterscheidung wird jedoch innerhalb der Grammatik getroffen und reicht nicht über ihre Grenzen hinaus. Der „Irrtum“, von dem Wittgenstein in der folgenden Bemerkung (Ts 213: 54) spricht, ist die Annahme, dass hinweisende Worterklärungen tatsächlich eine „Verbindung von Sprache und Wirklichkeit“ herstellen würden: Regeln der Grammatik, die eine ‚Verbindung zwischen Sprache und Wirklichkeit‘ herstellen, und solche, die es nicht tun. Von der ersten Art etwa: ‚diese Farbe nenne ich ‚rot‘‘, – von der zweiten: ‚non-non-p = p‘. Aber über diesen Unterschied besteht ein Irrtum: der Unterschied scheint prinzipieller Art zu sein; und die Sprache etwas, dem eine Struktur gegeben, und das dann der Wirklichkeit aufgepasst wird. (Ts 213+H: 54)
Tatsächlich sind auch hinweisende Definitionen Teil der Sprache: „,Die Beziehung/Verbindung zwischen Sprache und Wirklichkeit‘ ist durch die Worterklärungen hergestellt/gemacht, welche wieder zur Sprachlehre gehören. So dass die Sprache in sich geschlossen, autonom, bleibt.“ (Ts 213: 189) Bereits die Anführungszeichen, die Wittgenstein verwendet, um das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit zu thematisieren, verdeutlichen seine Distanzierung von dieser Re-
Diese Bemerkung stammt aus Ms 113: 53r (April 1932). Die vollständige Bemerkung lautet: „Die hinweisende Erklärung eines Namens ist nicht nur äußerlich verschieden von einer Definition wie ‚1+1=2‘, indem etwa das eine Zeichen in einer Geste meiner Hand, statt in einem Laut- oder Schriftzeichen besteht, sondern sie unterscheidet sich von dieser logisch; wie die Definition, die das Wort dem Muster beigesellt, von der eines Wortes durch ein Wort. Es wird von ihr in anderer Weise Gebrauch gemacht.“ (Ts 213: 56) Zum Verhältnis von Logik und Grammatik im Big Typescript vgl. den nachfolgenden Abschnitt.
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deweise. Über die Verbindung von Sprache und Welt können wir nicht sinnvoll sprechen, denn „das, was man den Zusammenhang von Sprache und Wirklichkeit nennen möchte“, ist selbst ein Teil der Grammatik (Ts 213: 441).⁹⁸ Diese Überlegungen leiten über zu Wittgensteins Ablehnung jeglicher Metalogik.
3.1.7 Logik, Grammatik, Metalogik Wittgensteins Denken über Logik ist mit seinem Denken über Sprache eng verknüpft. Dies kommt bereits im TLP zum Ausdruck, worin er „das Undenkbare von innen durch das Denkbare begrenzen“ (TLP 4.114) will und darin die Aufgabe der Philosophie sieht. Diese Grenze des Denkbaren ist die Grenze der Sprache: „Die Grenze wird also nur in der Sprache gezogen werden können und was jenseits der Grenze liegt, wird einfach Unsinn sein.“ (TLP: Vorwort) Dass es sich hierbei gleichzeitig auch um die Grenze der Logik handelt, geht schon aus dem Titel des TLP hervor, worin Wittgenstein sein Vorhaben als ein logisch-philosophisches bezeichnet. Das Denkbare begrenzen heißt, das logisch Mögliche begrenzen – den logischen Raum, die Logik. Außerhalb der Logik können wir uns nicht „aufstellen“ (TLP 4.12), denn wir können nichts Undenkbares, d.i. nichts Unlogisches denken (TLP 3.03, 5.4731). Die Grenze der Sprache, die Grenze des Denkbaren und die Grenze der Logik sind somit eins. Sprache versteht Wittgenstein dabei als den „Ausdruck der Gedanken“ (TLP Vorwort). Auch gemäß dem Big Typescript gibt es eine „Grenze der Sprache“ (Ts 213: 411, 421, 425), bzw. im Plural „Grenzen der Sprache (im Wörterbuch/in der Grammatik)“ (Ts 213: 80), die wir nicht übertreten können, und was jenseits dieser Grenze liegt, wird auch im Big Typescript „einfach Unsinn sein“: „Die Ergebnisse der Philosophie sind die Entdeckung irgend eines schlichten Unsinns und Beulen, die sich der Verstand beim Anrennen gegen die Grenze der Sprache geholt hat.“ (Ts 213: 425)⁹⁹ Sie sind ebenso unsinnig wie die bedeutungslosen Striche eines Kindes auf einem Blatt Papier (Ts 213+H: 430).¹⁰⁰ Die Unterscheidung von Sinn und
In diesem Sinne ist auch die am Anfang dieser Arbeit zitierte Bemerkung zu verstehen: „Wie alles Metaphysische ist die (prästabilierte) Harmonie zwischen Gedanke und Wirklichkeit in der Grammatik der Sprache aufzufinden.“ (Ts 213: 189) Diese Bemerkung wird Wittgenstein in die PU übernehmen (vgl. PU 119). Verfasst hat er sie bereits im Sommer 1930 (Ms 108: 247).Vgl. ebenso Ms 124: 07; Ms 142: 116; Ts 210: 61; Ts 212: 1184; Ts 220: 89; Ts 237: 90; Ts 239: 81. Ts 213+H: 430: „Die Philosophen sind oft wie kleine Kinder/Den Philosophen geht es oft wie den kleinen Kindern, die zuerst mit ihrem Bleistift beliebige/irgend welche Striche auf ein Papier kritzeln und nun/dann den Erwachsenen fragen ‚was ist das?‘ – Das ging so zu: Der Erwachsene
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Unsinn ist folglich nicht nur Gegenstand des TLP, sondern auch des Big Typescript. Die Grenze zwischen Sinn und Unsinn wird allerdings nicht mehr von der Logik, sondern von der Grammatik gezogen. Bereits in den Bemerkungen 1930 wurde der „logische Raum“ des TLP durch einen grammatischen abgelöst, und auch im Big Typescript behält Wittgenstein die Redeweise vom grammatischen Raum bei (Ts 213: i, 30, 389). Trotz der begrifflichen Verschiebung vom logischen zum grammatischen Raum besteht ein interner Zusammenhang zwischen Logik und Grammatik, denn, so geht aus Wittgensteins Bemerkungen hervor, grammatische Sätze drücken logische Notwendigkeiten und Unmöglichkeiten aus. Dies wird anhand der folgenden Bemerkung deutlich: ,Wenn Du mich auf den Kopf schlägst, sehe ich Kreise.‘ – ‚Sind es genaue Kreise, hast Du sie gemessen?‘ (Oder: ‚Sind es gewiss Kreise, oder täuscht Dich Dein Augenmaß?‘) – Was heißt es nun, wenn man sagt: ‚wir können nie einen genauen Kreis sehen‘? Soll das eine Erfahrungstatsache sein, oder die Konstatierung einer logischen Unmöglichkeit? (Ts 213: 439)¹⁰¹
Wittgenstein stellt hier der Erfahrungstatsache die „Konstatierung einer logischen Unmöglichkeit“ gegenüber. Diese Formulierung ist ungewöhnlich, denn in der Tat ist dies die einzige Bemerkung im Big Typescript, und sogar im gesamten Nachlass, in der er von der „Konstatierung einer logischen Unmöglichkeit“ (bzw. Notwendigkeit) spricht. Üblicherweise unterscheidet er stattdessen zwischen Erfahrungssätzen und in der Grammatik festgesetzten Regeln (u. a. Ts 213: iii, 240; Ts 213X: 246; Ts 213H: 149v), oder Erfahrungstatsachen und Regeln (Ts 213: 240 f), stellt also Erfahrungstatsachen bzw. -sätze und Regeln einander gegenüber. Die zitierte Bemerkung gibt uns einen Hinweis darauf, wie wir solche Regeln verstehen können, nämlich als Konstatierungen logischer Unmöglichkeiten (bzw. Notwendigkeiten). Den Satz „Wir können nie einen genauen Kreis sehen“ können wir durchaus als eine Regel, eine „Festsetzung der Grammatik“ (Ts 213H: 265v), auffassen – Wittgenstein diskutiert hier, ob es sich um eine solche oder um eine Erfahrungstatsache handelt. An anderer Stelle bringt er Erfahrungstatsachen zwar nicht mit dem Begriff der Logik, jedoch mit dem Denkbaren in Verbindung: „Ist das eine Erfahrungstatsache? Kannst Du Dir denken (vorstellen), dass es anders wäre? Willst Du sagen, Substanz sei noch nie zerstört worden, oder es sei undenkbar, dass sie zerhatte dem Kind öfters etwas vorgezeichnet und gesagt: ‚das ist ein Mann‘, ‚das ist ein Haus‘ u.s.w. . Und nun macht das Kind auch Striche und fragt: was ist nun das?“ Vgl. ebenso Ms 112: 58r; Ms 116: 284; Ts 211: 454; Ts 212: 1193. Vgl. Ms 114: 5; Ts 211: 740; Ts 212: 1216.
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stört wird?“ (Ts 213H: 97v) Was wir uns auch anders denken können, ist eine logische Möglichkeit, während hingegen was wir uns nicht anders denken können eine logische Notwendigkeit darstellt, ein „logisches Muss“: „,Aber ich muss doch einen Befehl verstehen, um nach ihm handeln zu können’. Hier ist das ‚muss‘ verdächtig. Wenn das wirklich ein Muss ist – ich meine – wenn es ein logisches Muss ist, so handelt es sich hier um eine grammatische Anmerkung.“ (Ts 213: 17)¹⁰² Das Verhältnis zwischen Logik und Grammatik ist im Big Typescript folglich untrennbar mit der Trennung von Sinn und Unsinn verbunden. Sinnvolle Sätze sind logisch möglich und „mit den grammatischen Regeln im Einklang“ (Ts 213: 98) gebildet, während unsinnige Sätze entweder logische Unmöglichkeiten oder logische Notwendigkeiten ausdrücken, wie etwa „Der Stab hat eine Länge“ (vgl. Ts 213: 604), „Der Fleck hat eine Farbe“ (vgl. ebd.), „Der Winkel lässt sich nicht durch 3 teilen“ (vgl. Ts 213: 665), „Der Sessel existiert unabhängig davon ob ihn jemand sieht/wahrnimmt“ (Ts 213H: 265v). Sind solche Notwendigkeiten oder Unmöglichkeiten allgemein formuliert, stellen sie häufig den Versuch dar, Metalogisches¹⁰³ auszusagen, und stoßen dabei an die Grenzen der Sprache. Beispiele hierfür sind metaphysische Behauptungen wie etwa „Alles fließt“ (Ts 213: 427), „Die Substanz ist unzerstörbar“ (vgl. Ts 213: 98) oder „Sprache und Wirklichkeit stimmen miteinander überein“ (vgl. Ts 213: 204). Es gibt jedoch auch allgemeine grammatische Sätze, die nicht metaphysisch klingen, etwa „Jeder Stab hat eine Länge“, „Jeder Fleck hat eine Farbe“, „Farben kann man nicht teilen“ (vgl. Ts 213: 79) oder „Es gibt kein rötliches Grün“ (Ts 213X: 243). Diese Sätze sind Regeln des Sprachgebrauchs, haben aber die Form von Erfahrungssätzen.¹⁰⁴ Die Schwierigkeit, Wittgensteins Logikbegriff zu begreifen, liegt darin, dass Wittgenstein diesen Begriff in zweierlei Hinsicht gebraucht, nämlich zum einen im Sinne der Logik als Disziplin inklusive ihrer formal-logischen Inhalte, zum anderen aber auch im Sinne des für uns Denkbaren und Undenkbaren, also des logisch Möglichen und Unmöglichen, das durch die Grammatik ausgedrückt wird: „Ich will immer zeigen, dass alles, was in an der Logik ‚business‘ ist, in der Grammatik gesagt werden muss.“ (Ts 213: 526) Im Sinn der Logik als der uns bekannten Disziplin ist Logik ein Teil der Grammatik – was könnte auch so offensichtlich logisch notwendig sein wie eine logische Gleichung, eine Tautologie,
Vgl. Ms 110: 192; Ms 114: 15; Ms 140: 8; Ts 211: 244; Ts 212: 68. Der Begriff der Metalogik wird im Folgenden erläutert werden. Obgleich Wittgenstein den Ausdruck „Form der Erfahrungssätze“ nicht im Big Typescript, sondern erst in seinen späten Manuskripten verwendet (vgl. Ms 174: 21v; Ms 175: 37v, 68v, 69r), scheint er auch an dieser Stelle treffend zu sein.
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etwa „non-non-p = p“ (Ts 213: 54)? Im Sinn der Logik als Ausdruck des Denkbaren, des Vorstellbaren, scheinen Logik und Grammatik in eins zusammenzufallen (vgl. 4.2). Aus Wittgensteins Feststellung der Grenze der Sprache und des Denkbaren folgt schließlich sein Abstreiten der „Metalogik“ – ein Ausdruck, der sich erstmals in einer Bemerkung vom Mai 1931 findet (Ms 110: 160).¹⁰⁵ Wir können uns nicht außerhalb der Sprache aufstellen, um von dort etwas über die Sprache auszusagen, denn was auch immer wir sagen werden, wird letztlich doch ein gemäß den Regeln unserer Sprache gebildeter Satz sein. Wäre es hingegen möglich, von einem Standpunkt außerhalb der Sprache, und damit außerhalb des Denkbaren, eine Aussage über Sprache und Denken zu treffen, wäre eine solche Aussage eine metalogische; „metalogisch“ bedeutet „jenseits der Grenze der Sprache“. Jegliche Metalogik lehnt Wittgenstein bereits auf der ersten Seite des Big Typescript ab:¹⁰⁶ „Wie es keine Metaphysik gibt, so gibt es keine Metalogik. Das Wort ‚Verstehen‘, der Ausdruck ‚einen Satz verstehen‘, ist auch nicht metalogisch, sondern ein Ausdruck wie jeder andre der Sprache.“ (Ts 213: 1) Das bedeutet, dass wir, wenn wir vom Verstehen eines Satzes reden, keine außersprachliche Perspektive einnehmen, um von dort aus etwa zu beobachten, was es heißt, einen Satz zu verstehen, sondern wir verbleiben innerhalb der Sprache und können lediglich beschreiben, auf welche Weise das Wort „verstehen“ oder der Ausdruck „Verstehen eines Satzes“ verwendet wird. Diese Grundüberzeugung Wittgensteins führt letztendlich auch zu seiner Zurückweisung des Abbildungsverhältnisses zwischen Sprache und Wirklichkeit. Sätze wie „Sprache bildet Wirklichkeit ab“ oder „Dieser Satz stimmt mit der Wirklichkeit überein“ sind keine metalogischen, sondern in unserer Sprache gebildete, gewöhnliche Sätze, die wir bei Bedarf auf ihren Gebrauch hin – grammatisch – untersuchen können. Wir können jedoch nicht sagen, ob ein Satz mit der Wirklichkeit übereinstimmt oder nicht übereinstimmt, weil wir, um eine solche metaphysische Aussage zu treffen, eine Perspektive außerhalb von Sprache und Logik einnehmen müssten. Der Ausdruck „Übereinstimmung mit der Wirklichkeit“ kann „nicht als metalogischer Ausdruck, sondern als Teil eines Kalküls, als Teil der gewöhnlichen Sprache“ (Ts 213: 205)¹⁰⁷ gebraucht werden, und will
„Ich rechtfertige das Resultat 32 durch x2. So schaut Rechtfertigung aus. In gewissem Sinne bringt uns das nicht weiter. Aber es kann uns ja auch nicht weiter, d. h. zu dem Metalogischen/ einem Fundament bringen.“ (Ms 110: 160) Vgl. zur Metalogik im Big Typescript ebenso Ts 213: 16, 205, 282, 286, 412, Ts 213H 3, 285v. Handschriftlich fügt Wittgenstein noch hinzu: „sondern nur als eine Münze im praktischen Geldverkehr/sondern nur als Redeteil im praktischen Gebrauch unserer gewöhnlichen Sprache/ sondern als (einen) Teil der gewöhnlichen, praktischen, Sprache.“ (Ts 213H: 204v)
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man tatsächlich überprüfen, ob ein Satz mit der Wirklichkeit übereinstimmt oder nicht, so kann man die Wirklichkeit lediglich beschreiben „und sehe[n], ob der gleiche Satz herauskommt“ (Ts 213: 204).
3.1.8 (Un)Vollständigkeit der Grammatik Im Big Typescript charakterisiert Wittgenstein die Grammatik als vollständiges Geschäftsbuch der Sprache: „Denn, daß jener Satz ohne eine solche Ergänzung nichts sagt, muss die Grammatik sagen. Wenn sie das vollständige Geschäftsbuch der Sprache sein soll (wie ich es meine).“ (Ts 213: 526)¹⁰⁸ Auch an anderer Stelle bemerkt er: „Die Grammatik – könnte man/möchte ich sagen – das sind die Geschäftsbücher der Sprache“ (Ts 213+H: 58).¹⁰⁹ Dieser Vergleich suggeriert die Möglichkeit, die gesamte Grammatik in einem Buch niederschreiben zu können. Wittgenstein geht von der Vollständigkeit der Grammatik aus, wenn er sie das vollständige Geschäftsbuch der Sprache nennen will – und dass er dies will, wird durch die Worte „wie ich es meine“ unterstrichen. Wie aber könnte so ein vollständiges Grammatikbuch aussehen? Wir können uns vorstellen, dass darin die einzelnen Wörter einer Sprache mit ihren jeweiligen Verwendungsmöglichkeiten angegeben werden. Das Postulat der Vollständigkeit setzt dabei erstens voraus, dass es sich bei einer solchen Auflistung um alle Wörter der Sprache handelt, deren Anzahl entsprechend als endlich angenommen werden muss, und zweitens, dass alle Verwendungsmöglichkeiten angeführt werden, was voraussetzt, dass von vornherein bekannt ist, welche Verwendungsmöglichkeiten möglich sind. Wir haben es hier mit einer Denkfigur zu tun, die ihrer Form nach sehr an den TLP erinnert. Dem TLP zufolge steht a priori fest, in welche Sachverhalte ein Ding eingehen kann: „In der Logik ist nichts zufällig: Wenn das Ding im Sachverhalt vorkommen kann, so muß die Möglichkeit des Sachverhalts im Ding bereits präjudiziert sein“ (TLP 2.012); und: „Wenn ich den Gegenstand kenne, so kenne ich auch sämtliche Möglichkeiten seines Vorkommens in Sachverhalten. […] Es kann nicht nachträglich eine neue Möglichkeit gefunden werden“ (TLP 2.0123). Wenn dies der Fall ist, und wenn die Zahl der Gegenstände als endlich angenommen wird, so ist klar, dass alle möglichen Sachverhalte von vornherein gegeben sind. Entsprechend heißt es in TLP 2.0124 f: „Sind alle Gegenstände gegeben, so sind damit auch alle möglichen Sachverhalte gegeben. Jedes Ding ist,
Vgl. Ms 109: 138; Ts 211: 371; Ts 212: 371. Vgl. zu diesem Vergleich auch 1.4.2.
3.1 Grammatik im Big Typescript
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gleichsam, in einem Raume möglicher Sachverhalte.“ Dieser Raum möglicher Sachverhalte ist im TLP der logische Raum. Analog dazu sind bei einer endlichen Anzahl der Wörter einer Sprache die gesamten Verwendungsmöglichkeiten dieser Sprache gegeben, wenn man davon ausgeht, dass die Grammatik (im partikulären Sinn) jedes einzelnen Wortes ebenfalls vollständig gegeben ist. Auch hier steht am Ende der Überlegung ein Möglichkeitsraum, jedoch nicht der logische Raum des TLP, sondern der von der Grammatik (im allgemeinen Sinn) beschriebene „grammatische Raum“ (vgl. Ts 213: i, 30, 389). Den Gedanken, die Grammatik der einzelnen Wörter einer Sprache müsse a priori¹¹⁰ bestimmt sein, greift Wittgenstein auch im Big Typescript explizit auf: „Das Wort ‚Satz‘ und das Wort ‚Erfahrung‘ haben schon eine bestimmte Grammatik. Das heißt, ihre Grammatik muss im Vorhinein bestimmt sein und hängt nicht von einem künftigen Ereignis ab.“ (Ts 213X: 62r) Man könnte hierauf einwenden wollen, dass sich die Sprache doch ausdehnen könne, dass also neue Verwendungsweisen eines Wortes hinzukommen könnten. Wittgenstein möchte dies nicht bestreiten, räumt jedoch ein, dass wir in so einem Fall bereits wissen müssen, wie eine solche Erweiterung oder Ausdehnung der Sprache überhaupt aussehen könnte: […] aber wenn dieses Wort ‚ausdehnen‘ hier einen Sinn hat, so muss ich jetzt schon wissen, was ich damit meine, muss angeben können, wie ich mir so eine Ausdehnung vorstelle. Und was ich jetzt nicht denken kann, das kann ich jetzt auch nicht ausdrücken, und auch nicht andeuten. Und das Wort ‚jetzt‘ bedeutet hier: ‚in diesem Kalkül/dieser Grammatik‘, oder: ‚wenn die Worte mit diesen grammatischen Regeln gebraucht werden‘. (Ts 213: 63)
Demzufolge ist wieder a priori festgelegt, was als eine Erweiterung des Sprachgebrauchs gelten könnte; auch dies kann durch entsprechende grammatische Regeln zum Ausdruck gebracht werden. Bereits im November 1929, kurz nachdem er sein Projekt der Ergänzung der logischen Syntax des TLP vermittels einer phänomenologischen Notation aufgegeben hatte, spricht Wittgenstein von „alle[n] grammatischen Regeln […] die von einem Wort gelten“ (Ms 107: 211). Die Nähe zum TLP braucht uns aufgrund des Entstehungsdatums dieser Bemerkung nicht zu verwundern. Der Vergleich der Grammatik mit „Geschäftsbüchern“ (Ms 109: 122) oder dem „Geschäftsbuch“ (Ms 109: 129) der Sprache findet sich erstmals im September 1930 im Nachlass und
Wittgenstein verwendet den Ausdruck „a priori“ im Big Typescript, vgl. Ts 213: 129 f, 304, 441, 445, 500, 559, 672.
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3 Vom Allgemeinen zum Besonderen: Big Typescript und Brown Book
wandert von dort bis ins Big Typescript. Das bedeutet, dass Wittgenstein bereits Ende 1929 und 1930 von einer Vollständigkeit der Grammatik ausgegangen ist. Tatsächlich unterscheidet er zu dieser Zeit einzelne „Kapitel“ der Grammatik (Ms 109: 121, 132) und differenziert noch im Februar 1931 zwischen der „Überschrift eines Teils der Grammatik“ und der „Überschrift der ganzen Grammatik“ (Ms 110: 65). Diese Formulierungen deuten darauf hin, dass er sich die Grammatik tatsächlich als ein mögliches Buch vorgestellt hat, das er zwar nie systematisch – im klassischen, hierarchisch-taxonomischen Sinn – begonnen hat zu schreiben, das jedoch als langfristiges Projekt im Hintergrund seines philosophischen Arbeitens gestanden haben könnte. Dafür spricht auch die Tatsache, dass er zwei seiner Manuskriptbände, Ms 113 (1931) und Ms 114 (1932), mit dem Titel „Philosophische Grammatik“ überschrieben hat.¹¹¹ Garvers Bezeichnung von Wittgensteins „Philosophie als Grammatik“ (Garver 1996) passt an dieser Stelle im doppelten Sinne: Zum einen passt sie auf die Idee, die Philosophie in einem Buch als (philosophische) Grammatik zusammenzufassen, zum anderen passt sie zu der Auffassung von Philosophie als derjenigen Disziplin, die für die Verfassung dieses Buches zuständig ist. Wittgensteins Überzeugung von der Vollständigkeit der Grammatik beginnt jedoch zu bröckeln, und zwar schon vor der Abfassung von Ts 213. Kienzler hat bereits darauf hingewiesen und die Gespräche Wittgensteins mit Pierro Sraffa dafür verantwortlich gemacht (Kienzler 2006a: 28).¹¹² Im September 1931 formuliert Wittgenstein einen „ernsten Einwand“ gegen seine Auffassung: „Wohl aber könnte man fragen, ob denn die Grammatik überhaupt abgeschlossen sei; oder, ob wir sagen können, wir kennen alle Regeln über die/der Anwendung eines Wortes.“ (Ms 111: 176) Seine Bedenken ziehen sich bis ins Big Typescript, wo wir in der Tat auf eine Vielzahl von Bemerkungen stoßen, die genau in die Richtung der Unvollständigkeit der Grammatik weisen. So fragt er, was man überhaupt unter dem Ausdruck „alle Regeln“ versteht: „Was versteht man unter ‚allen Regeln des
Dieser Titel ist jedoch mehrdeutig. Wir können ihn entweder so verstehen, dass (1) das Buch die philosophische Grammatik enthält, oder (2) dass in dem Buch philosophische Grammatik als Methode vorgestellt wird, oder (3) dass in dem Buch die philosophische Grammatik (entweder als Gegenstand oder als Methode bzw. Disziplin) behandelt wird. Kienzler schreibt a.a.O.: „In den Gesprächen mit Sraffa, die um 1931/32 stattfanden, löst sich Wittgenstein von der Vorstellung, daß man für jedes Zeichen eine eindeutige und vollständige Grammatik im Rahmen einer übergreifenden Logik angeben können muss.“ Vgl. zur Bedeutung Sraffas für Wittgenstein auch Kienzler 1997: 51– 55. Engelmanns Ausführungen zu „Wittgenstein’s ‘Most fruitful Ideas’ and Sraffa“ (2013a) weisen in dieselbe Richtung wie Kienzlers: „It is not only Wittgenstein’s notion of ‘understanding’, therefore, that does not fit them [i. e., Sraffa’s idea of primitive languages], but also his idea of ‘grammar’ as a system of rules (calculus) that limits sense.“ (Engelmann 2013a: 167) Vgl. auch Engelmann 2013b: 117 f und 148 ff.
3.1 Grammatik im Big Typescript
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Tennisspiels‘? Alle Regeln, die in einem bestimmten Buche stehen, oder alle die der Spieler im Kopf hat, oder alle die je ausgesprochen wurden, oder gar: alle die sich angeben lassen?!“ (Ts 213: 255) Aus dieser Vieldeutigkeit schließt er, dass „wir lieber nicht so vage von ‚allen Regeln‘ reden [wollen], sondern nur von bestimmten Regeln, oder allen Regeln eines Verzeichnisses, etc.. Und das gleiche gilt von den Regeln über die Verwendung eines Wortes.“ (Ebd.) Mit der Unschärfe der Bedeutung von „alle Regeln“ beschäftigt sich Wittgenstein auch, wenn er herausstellt, dass die Grenzen eines Regelwerks nur vorläufig gezogen sind. Die Tatsache, dass er im gerade angeführten Beispiel die Tennisregeln wählt, zeigt bereits, dass er im Big Typescript seinen Vergleich der Grammatik mit dem Schachspiel auf andere Spiele, wie u. a. Tennis, ausweitet. So findet sich auch die bekannte Bemerkung der PU, in der Wittgenstein das Tennisspiel anführt (PU 68),¹¹³ im Big Typescript und hat ihre Wurzeln in den Notizen von August 1931 (Ms 111: 83): Denken wir uns ein Spiel, etwa das Tennis, in dessen Regeln nichts über die Höhe gesagt ist, die ein Ball im Flug nicht übersteigen darf. Und nun sagt einer: Das Spiel ist ja gar nicht geregelt, denn, wenn einer den Ball so hoch wirft, dass er nicht wieder auf die Erde zurückfällt, oder so weit, dass er um die Erde herumfliegt, so wissen wir nicht, ob dieser Ball als ‚out‘ oder ‚in‘ gelten soll. Man würde ihm – glaube ich – antworten, wenn ein solcher Fall einträte, so werde man Regeln für ihn geben, jetzt sei es nicht nötig. (Ts 213X: 249)
Wittgenstein weist hier auf die Möglichkeit eines Falls hin, für den es gemäß dem bestehenden Regelwerk keine Regelung gibt, weil er bisher nicht eingetroffen ist. Würde er einmal eintreffen, so müsste man wohl eine entsprechende Regelung für solche Fälle festsetzen. Ein weiteres Beispiel im selben Zusammenhang ist das Preisschießen: Wie wäre es, […] wenn für gewisse Grenzfälle keine Bestimmung getroffen wäre, ob dieser Schuss noch als Treffer ins Schwarze gelten soll (oder nicht). Nehmen wir nun aber an, ein solcher Schuss käme bei unserem Preisschießen gar nicht vor; könnte man dann dennoch sagen, die ganze Preisverteilung gelte nichts, weil für diesen Fall nicht vorgesehen/vorgesorgt war? (Ts 213: 250)
Der entsprechende Teil dieser Bemerkung lautet: „,Aber dann ist ja die Anwendung des Wortes nicht geregelt; das ,Spiel‘, welches wir mit ihnen spielen, ist nicht geregelt.‘ —— Es ist nicht überall von Regeln begrenzt; aber es gibt ja auch keine Regel dafür z. B., wie hoch man im Tennis den Ball werfen darf, oder wie stark, aber Tennis ist doch ein Spiel und es hat auch Regeln.“
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Das heißt, ist ein Preisschießen überhaupt gültig, wenn nicht für alle denkbaren Fälle eine Regelung im Vorfeld festgelegt wird? Hierauf würde man wohl antworten, das Preisschießen sei selbstverständlich gültig, man habe sich an alle festgelegten Regeln gehalten, und ob irgendwelche denkbaren Grenzfälle geregelt sind oder nicht, sei hier nicht von Interesse. Später in den PU, erstmals in deren „Urfassung“ (Ms 142: 60),¹¹⁴ wird Wittgenstein schreiben: „aber Tennis [oder das Preisschießen] ist doch ein Spiel und es hat auch Regeln.“ (PU 68) Was in dieser PU-Bemerkung zum Ausdruck kommt, ist auch im Big Typescript enthalten: Wir können Spiele spielen, und analog dazu Worte verwenden, auch wenn nicht für alle möglichen Fälle Regeln vorgesehen sind. Die Frage, die sich hier allerdings unweigerlich stellt, ist, ob sich die „Idee des Kalküls“ (Ts 213X: 249) mit dessen klar und vollständig definierten Regeln auf solche Beispiele überhaupt anwenden lässt; und die Antwort, die sich hier aufdrängt, ist nein. Wittgenstein ringt somit nach einem Ausweg aus dieser Schwierigkeit: „Ich mache mich doch anheischig, das Regelverzeichnis unserer Sprache aufzustellen“ (Ts 213X: 250), gibt er gleich im Anschluss an das Beispiel des Preisschießens zu, und weiß nicht, wie er mit solchen Fällen umgehen soll: „Was soll ich nun in einem solchen Fall, wie dem des Begriffes ‚Pflanze‘ tun?“ (Ts 213: 250) Das Beispiel des Begriffs der Pflanze hatte er im selben Kapitelabschnitt zwei Seiten zuvor angeführt: Was heißt es, zu wissen, was eine Pflanze ist? Was heißt es, es zu wissen und es nicht sagen zu können? ‚Du weißt es und kannst hellenisch reden, also musst Du es doch sagen können.‘ Müßigkeit einer Definition, etwa der des Begriffs ‚Pflanze‘. Aber ist die Definition kein Erfordernis der Exaktheit? ‚Der Boden war ganz mit Pflanzen bedeckt‘: damit meinen wir nicht Bazillen. Ja, wir denken dabei vielleicht an grüne Pflanzen einer bestimmten Größenordnung. Wer uns sagen würde, wir wissen nicht, was wir reden, ehe wir keine Definition der Pflanze gegeben haben, würden wir mit Recht für verrückt halten.¹¹⁵ (Ts 213: 248)
Das Problem, das sich hier stellt, ist dem des Preisschießens anlog: Können wir überhaupt sagen, wir wissen, was eine Pflanze ist, wenn wir nicht eine Definition von „Pflanze“ geben können, wenn wir also nicht die genaue Verwendung des Wortes in allen möglichen Fällen bereits kennen – wenn also nicht alle grammatischen Regeln, die von diesem Wort handeln, von vornherein gegeben sind? So wie das Preisschießen seine Gültigkeit behält, auch wenn im Nachhinein Lücken
Zur „Urfassung“ der PU vgl. Schulte 2001a: 18 f sowie 2001b: 1089 ff. Das Beispiel des Begriffs der Pflanze führt Wittgenstein auch an weiteren Stellen des Big Typescripts an, vgl. etwa Ts 213: 69, 251, 329, 333, 337, Ts 213X: 249, 251, Ts 213H: 68v.
3.1 Grammatik im Big Typescript
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im Regelwerk des Wettkampfes gefunden werden, so können wir auch das Wort „Pflanze“ in der Tat verwenden, ohne es definieren zu müssen: „Ja, wir könnten auch mit einer solchen Definition uns in den gewöhnlichen Fällen nicht besser verständigen. Ja, es scheint sogar, in gewissem Sinne schlechter, weil gerade das Undefinierte in diesem Fall zu unserer Sprache zu gehören scheint.“ (Ts 213: 248) Wie das Preisschießen durchaus nach bestimmten Regeln abläuft, so können durchaus auch grammatische Regeln über den Gebrauch von „Pflanze“ angegeben werden. Es sind jedoch auch Fälle denkbar, in denen das Angeben einer klaren Definition müßig wäre: „Wenn es etwa gelänge, ein Lebewesen halb maschinell und halb auf organischem Weg zu erzeugen, und nun gefragt würde: ist das nun noch ein Tier (oder eine Pflanze).“ (Ts 213X: 249) Wittgensteins Frage: „Was soll ich nun in einem solchen Fall tun?“ ist, so möchte ich hier behaupten, keine rhetorische, denn Wittgenstein hadert tatsächlich mit seiner festen Überzeugung von der Annahme der Vollständigkeit der Grammatik einerseits, die exakte Definitionen, also vollständige „Grammatiken“ der einzelnen Wörter einer Sprache voraussetzt, und andererseits seiner Einsicht, dass wir unser Spiel mit der Sprache ohne vollständige Regelgeleitetheit spielen können und spielen.¹¹⁶ Dies ist eine Schwierigkeit, „die ich hatte“ (Ts 213: 256), die ihn „quälte“ (ebd.). Im Big Typescript ist er um eine Auflösung dieser Schwierigkeit bemüht, doch sein Versuch einer Antwort bleibt zunächst voller Fragen: Soll ich sagen, dass für diesen und diesen Fall keine Regel aufgestellt ist? Gewiss, wenn es sich so verhält. Soll ich aber solche [sic.] sagen, es gibt kein Regelverzeichnis unserer Sprache und das ganze Unternehmen, eins aufzustellen, ist Unsinn? – Aber es ist ja klar, dass es nicht unsinnig ist, denn wir stellen ja mit Erfolg Regeln auf, und wir müssen uns nur enthalten, Dogmen aufzustellen. (Was ist das Wesen eines Dogmas? Besteht es nicht darin, naturnotwendige Sätze über alle möglichen Regeln zu behaupten?)/Ist es nicht die Behauptung eines naturnotwendigen Satzes über alle Regeln? (Ts 213X: 250)
Die Erkenntnis, der Gebrauch eines Wortes müsse nicht a priori vollständig bestimmt sein, wird Wittgenstein letztlich aufrecht erhalten: „ich habe darüber keine Bestimmung getroffen, ob dieses Ding eine Pflanze heißen soll oder nicht“ (Ts
Auch weitere Bemerkungen des Big Typescript bringen zu Ausdruck, dass Wittgensteins Überzeugung von der Vollständigkeit des grammatischen Kalküls in Wanken gerät. Vgl. etwa: „Gibt es so etwas, wie eine komplette Grammatik, z. B. des Wortes ‚nicht‘?“ (Ts 213X: 258) oder auch: „Zum mindesten scheint eine Frage berechtigt: Wenn ich die Grammatik aufgeschrieben hätte und die verschiedenen Kapitel, über die Farbwörter, etc. etc. der Reihe nach da stünden, wie Regeln über alle Figuren des Schachspiels, wie wüsste ich dann, dass dies nun alle Kapitel sind?“ (Ts 213X: 115)
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213X: 251), das heißt die Grenzen des Begriffs der Pflanze „sind nicht scharf bestimmt“ (Ts 213: 251).¹¹⁷ Die Unschärfe der Grenzen der Regeln der Sprache wird ferner auch im Abschnitt zum „Problem des Sandhaufens“ (Ts 213: 136 – 141) deutlich, worin Wittgenstein Beispiele für die Unbestimmtheit von Wörtern anführt. Wie auch immer wir etwa einen Haufen definieren wollen, es wäre eine willkürliche Festlegung, die nicht unserem gewöhnlichen Gebrauch von „Haufen“ entspräche, denn „[f]ür diesen liegen keine Abgrenzungen vor“ (Ts 213: 140). Es liegen stattdessen „nur Fälle vor, welche wir zu dem Umfang des Begriffs/zu den Haufen rechnen und solche, die wir nicht mehr zu dem Umfang des Begriffs rechnen.“ (Ebd.) Darum lässt sich nicht festlegen, welcher Haufen als der größte oder der kleinste zu gelten hat; „ich kann nur eine vorläufige obere und untere Grenze bestimmen.“ (Ts 213: 141) Den Widerspruch zwischen der Vollständigkeit der Grammatik und dem „schwankende[n] Sprachgebrauch“ (Ts 213: 248) mit unscharfen Rändern löst Wittgenstein letztlich auf, indem er die Annahme der Vollständigkeit der Grammatik fallen lässt. Seine ursprüngliche Formulierung, er wolle ein komplettes Regelwerk aufstellen, wendet er dementsprechend in seinen handschriftlichen Ergänzungen ins Gegensteil: „Ich mache mich nicht anheischig ein Regelverzeichnis aufzustellen, das alle unsere Sprachhandlungen regelt; so wenig ein Jurist es versucht, für sämtliche Handlungen der Menschen Gesetze zu geben.“ (Ts 213H: 249v)¹¹⁸ Diese Haltung wird er bis in die PU und darüber hinaus beibehalten. Wittgensteins Übergang von der Annahme einer vollständigen zur Annahme einer Solche Überlegungen zur Unschärfe von Begriffen wird Wittgenstein in den PU im Zusammenhang der Familienähnlichkeit wieder aufgreifen (PU 65 ff). Den Begriff „Familienähnlichkeit“ verwendet er zwar auch im Big Typescript, allerdings nicht im übertragenen Sinn im Hinblick auf Begriffsdefinitionen, sondern, mit Verweis auf Spengler, wörtlich in Bezug auf sowohl Ähnlichkeiten zwischen Familienmitgliedern einer Familie als auch Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Familien (Ts 213: 259). In dem hier beschriebenen Zusammenhang, dem die zitierten Bemerkungen entnommen sind, geht es Wittgenstein jedoch nicht um seine erst später entwickelte Idee der Familienähnlichkeit, sondern um die unvollständige Angabe von Regeln. Meine Hervorhebung. Es finden sich allerdings auch noch im BT Bemerkungen, in denen Wittgenstein seine fragende Formulierung beibehält: „Gibt es ein komplettes Regelverzeichnis für die Verwendung eines Wortes? Gibt es ein komplettes Regelverzeichnis für die Verwendung einer Figur im Schachspiel?“ (Ts 213H 256v) Ebenso scheint es, als hätte Wittgenstein diese Schwierigkeit bereits in Ts 213 überwunden, wenn er sie als eine solche beschreibt, die er hatte und die ihn quälte (vgl. Ts 213: 256), und nicht etwa als eine, die er hat und die ihn quält.Wichtig ist für die vorliegende Untersuchung die Tatsache, dass das Big Typescript im Hinblick auf die Annahme der Vollständigkeit der Grammatik Bemerkungen enthält, die miteinander in Widerspruch stehen. Ob Wittgenstein diese Annahme nun bereits vor der Arbeit an Ts 213 oder erst danach aufgegeben hat, kann hier nicht abschließend diskutiert werden.
3.1 Grammatik im Big Typescript
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unvollständigen Grammatik wird auch in G. E. Moores Vorlesungsnotizen sehr deutlich, aus denen hervorgeht, dass Wittgenstein am 05. Mai 1930 die Vollständigkeit der Grammatik vehement verteidigt hat: Many things we can’t understand; but nothing in grammar is a thing we don’t understand: grammar is complete. This seems not to be so, because there is such a thing as mathematical discovery, & therefore it looks as if what is discovered is what we didn’t yet know. But there can be no incompleteness except within a space; there are no gaps in grammar: it is always complete. (MWN 46)
Am 17. Februar 1933, also während der Zusammenstellung der Bemerkungen in Ts 211, 212 oder 213,¹¹⁹ behauptet er jedoch die Unvollständigkeit der Grammatik: „Idea might be that complete logical analysis gives us complete grammar of a word. [sic] I say there is no complete grammar.“ (MWN 266)¹²⁰ In Ts 213 stehen sich die Behauptung der Vollständigkeit sowohl die Behauptung der Unvollständigkeit der Grammatik gegenüber, obgleich darin Bemerkungen, die den schwankenden, inexakten Sprachgebrauch unterstreichen, überwiegen. Das Big Typescript, sowohl in seiner unbearbeiteten als in seiner bearbeiteten Form, enthält also sowohl Bemerkungen, die die Vollständigkeit der Grammatik behaupten, als auch Bemerkungen, in denen Wittgenstein sich eingesteht, dass sich diese Behauptung gegen den Einwand, unser Sprachgebrauch sei gerade nicht vollständig geregelt, nicht halten lässt, als auch Bemerkungen, in denen er explizit den Versuch, ein vollständiges Regelwerk der Grammatik aufzustellen, aus logischen Gründen ablehnt.
3.1.9 Nur Regeln in besonderen Fällen Wittgenstein entwickelt im Big Typescript eine Skepsis gegenüber dem logischen Begriff der Allgemeinheit: „Ist das Wort Regel überhaupt vieldeutig? Und sollen wir also nicht von Regeln im Allgemeinen reden, wie auch nicht von Sprache im
Vgl. Anmerkung 28 in diesem Kapitel. Darüber hinaus betont Wittgenstein in der Vorlesung vom 05. Mai 1933, dass wir grammatische Regeln ad hoc ändern können: „But I haven’t talked about one problem: I’ve said that, though I compare use of words with a calculus, grammar with a game, yet we don’t generally think of the rules according to which the words we use are used, & we change our rules as we go along.“ (MWN 323)
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Allgemeinen? Sondern nur von Regeln in besonderen Fällen.“ (Ts 213: 309)¹²¹ Der Untersuchung des Allgemeinheitsbegriffes ist im Big Typescript ein ganzes Kapitel gewidmet (Ts 213: 311– 352), das sich wiederum aus sechs Abschnitten zusammensetzt. Darin beleuchtet Wittgenstein vor allem die Ausdrücke „allgemein“ und „besonders“ der Logik und kritisiert etwa Freges und Russells Allgemeinheitsbegriffe (Ts 213: 322– 325). Obgleich nicht auf den ersten Blick offensichtlich, sind seine Überlegungen zur Grammatik des Allgemeinheitsbegriffes mit seinem philosophischen Ansatz eng verknüpft und hängen ebenso mit seinen Überlegungen zur Vollständigkeit bzw. Unvollständigkeit der Grammatik, die im vorhergehenden Abschnitt beleuchtet wurden, untrennbar zusammen. Ein erster Hinweis darauf ist die Tatsache, dass Wittgenstein sowohl in seinen Untersuchungen der Allgemeinheit als auch der Vollständigkeit der Grammatik das Beispiel des Wortes „Pflanze“ anführt:¹²² Wenn wir eine Anwendung des Begriffes ‚Ei‘ oder ‚Pflanze‘ machen, so schwebt uns sicher vorher nicht ein allgemeines Bild vor, oder bei dem Hören des Wortes ‚Pflanze‘ das Bild eines bestimmten Gegenstandes, den ich dann als Pflanze bezeichne. Sondern ich mache die Anwendung sozusagen spontan. Dennoch gibt es eine Anwendung, von der ich sagen würde: nein, das habe ich unter ‚Pflanze‘ nicht gemeint; oder andererseits ‚ja, das habe ich auch gemeint‘. (Ts 213: 333)
Wittgenstein ist hier nicht am „seelische[n] Vorgang des Verstehens interessiert“ (Ts 213: 332), sondern an der Unbestimmtheit des Wortes „Pflanze“. Ein allgemeines Bild einer Pflanze zu entwerfen hieße, eine allgemeine Definition von „Pflanze“ zu formulieren – und eine Definition anzugeben bedeutet, alle Verwendungsmöglichkeiten von „Pflanze“ im Sprachgebrauch vollständig auflisten zu können. Nun ist es aber so, „dass es sinnlos ist, von ‚allen Möglichkeiten‘ zu sprechen. Der Begriff ‚Pflanze‘ und ‚Ei‘ wird also von der Aufzählung gar nicht angetastet.“ (Ts 213: 337)
Hier ließe sich leicht ein „wie auch nicht von Grammatik im Allgemeinen?“ ergänzen. Hatte Wittgenstein es sich zunächst zum Ziel gemacht, unsere Grammatik mit allen ihren Regeln vollständig anzugeben, wird er sich nicht nur der Unklarheit des Ausdrucks „alle Regeln“ bewusst, sondern auch der Unschärfe des Wortes „Regel“ selbst. Da es für ihn keine Metalogik gibt, kann das Wort „Regel“ kein metalogischer Ausdruck sein, sondern ist ein Wort wie jedes andere (vgl. Ts 213: 67). Auch das Wort „Regel“ muss damit zur Klärung seiner Bedeutung einer grammatischen Untersuchung unterzogen werden. Vgl. den vorherigen Abschnitt sowie Ts 213: 329 f, 333, 336 f.
3.2 Grammatik im Brown Book und Versuch einer Umarbeitung
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Das irreführende Bild, das Wittgenstein hier beseitigen will, ist das Bild der allgemeinen Regel als einem Behältnis, das eine endliche Zahl besonderer Fälle beinhaltet wie „Äpfel in einer Kiste“ (Ts 213: 321): „[D]er allgemeine Satz zählt besondere Sätze nicht auf. […] Er kann nicht durch seine Spezialfälle charakterisiert werden; denn wie viele man auch aufzählt, so könnte er immer mit dem Produkt der angeführten Fälle/Spezialfälle verwechselt werden.“ (Ts 213: 321) Der springende Punkt, um den es Wittgenstein hier offenbar geht, ist, dass wir keine allgemeinen Regeln der Grammatik angeben können, sondern nur „Regeln über allgemeine Zeichen“ (Ts 213: 308). Wittgenstein verwirft somit nicht nur die Auflistung aller grammatischen Regeln, sondern auch den Versuch des Aufstellens allgemeiner Regeln.¹²³ Es nützt nämlich gar nicht, stellt er fest, „zur Klärung das Wort ‚alle‘ zu gebrauchen, wenn man seine Grammatik in diesem Fall noch nicht kennt.“ (Ts 213: 328) Wenden wir diese Einsichten auf seinen Grammatikbegriff an, so ergibt sich zum einen die Annahme der Unvollständigkeit der Grammatik – im partikulären sowie im allgemeinen Sinn – als auch die Annahme, nur für einzelne Beispiele des Sprachgebrauchs grammatische Regeln angeben zu können. Dies hat weitreichende Konsequenzen für seinen philosophischen Ansatz, wie in Abschnitt 3.3 gezeigt werden wird.
3.2 Grammatik im Brown Book und Versuch einer Umarbeitung 3.2.1 Erläuterungen zur Textgrundlage: Ts 310 und Ms 115ii Das Brown Book und der Versuch einer Umarbeitung, d.i. dessen Überarbeitung und Übersetzung ins Deutsche, sind insofern von Bedeutung, als dass sie zwei der letzten Schriften darstellen, die Wittgenstein verfasste, bevor er im Herbst 1936 mit der Arbeit an Ms 142, der „Urfassung“ der PU begann¹²⁴ – und zwar genau nachdem er seinen „ganze[n] Versuch [s]einer Umarbeitung“ als „nichts wert“ verworfen hatte (Ms 115: 292).¹²⁵ Ich werde im Folgenden sowohl das Brown Book als auch jenen Versuch einer Umarbeitung betrachten und im Hinblick auf den
Dies ist vermutlich angeregt durch Wittgensteins Gespräche mit Sraffa. Dieser hatte Wittgenstein Anfang 1932 eine kurze Nachricht geschickt, in der er u. a. schreibt: „We should give up the generalities and take particular cases, from which we started.“ (Nr. 144 in McGuinness 2008) Darauf verweist auch Engelmann (2013a: 169 f). Zur Urfassung der PU vgl. Schulte 2001a: 18 f sowie 2001b: 1089 ff. Vgl. dazu Pichlers Argumentation in Pichler 2004.
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darin enthaltenen Grammatikbegriff untersuchen. Zuvor sei kurz erläutert, mit welchen Texten wir es jeweils zu tun haben.¹²⁶ Bei Ts 310, dem so genannten Brown Book, handelt es sich um ein Typoskript, das auf der Grundlage von Wittgensteins Diktat an seine Studenten Alice Ambrose und Francis Skinner im akademischen Jahr 1934/35 in Cambridge angefertigt wurde, und zwar in englischer Sprache. (Von Wright 1982: 49) Im Gegensatz zum Blue Book, das Wittgenstein ebenfalls einigen seiner Studenten ein Jahr zuvor diktiert hatte, kann das Brown Book als erster Entwurf einer Publikation angesehen werden: „That was all the Blue Book was, though: a set of notes. The Brown Book was rather different, and for a time he [Wittgenstein] thought of it as a draft of something he might publish.“ (Rhees 1969: v) Auch Pichler stellt fest, dass „das Brown Book letztlich nicht nur ein Lehrbuch sein, sondern auch eine ordentliche und Wittgenstein bestimmte Urheberrechte sichernde Veröffentlichung werden“ sollte (2004: 131). Diese Einschätzung misst dem Brown Book eine besondere Stellung im Nachlass zu. Wittgenstein hat darin versucht, seine Gedanken strukturiert und linear darzustellen; Pichler nennt es sogar „ein Meisterwerk in puncto vereinheitlichender Strukturierung und Linearität“ (Pichler 2004: 122).¹²⁷ Der Versuch einer Umarbeitung ist in Ms 115 auf den Seiten 118 – 292 enthalten (Ms 115ii).¹²⁸ Als Überschrift wählt Wittgenstein: „Philosophische Untersuchungen. Versuch einer Umarbeitung“. Dass er für diesen Versuch das Brown Book überarbeitet und ins Deutsche übersetzt hat, ist nicht zu bezweifeln (Rhees 1984b: 10),¹²⁹ denn er berichtet Moore in einem Brief vom November 1936, dass er mit genau dieser Arbeit begonnen habe: „I don’t know if I wrote to you that when I came here I began to translate into and rewrite in German the stuff I had dictated Vgl. dazu auch Pichler 2004: 114– 142. Dies gilt in noch höherem Maße ebenfalls für den Versuch einer Umarbeitung: „Die Vorlage Brown Book wird vom deutschen ‚Versuch‘ in linearer Gestaltung und Durchführung dieser Strukturierung durch das Sprachspiel noch übertroffen.“ (Pichler 2004: 122) Die ersten 117 Seiten des Ms 115 (Ms 115i) sind überschrieben mit „Philosophische Bemerkungen XI. Fortsetzung von Band X“. Das Wort „Umarbeitung“ muss sich jedoch zunächst nicht direkt auf die Umarbeitung des Brown Book beziehen; vgl. Pichler: „,Versuch einer Umarbeitung‘ muss aber nicht direkt die Umarbeitung des Brown Book bedeuten, das Wort kann sich ebensogut allgemein auf die Arbeit an dem anvisierten ‚Buch‘ beziehen (abgesehen davon, dass es sich dabei auch nur um eine Absichtserklärung handeln kann).“ (2004: 122 f) Als Ergebnis der Umarbeitung ist aber tatsächlich eine deutsche Version des Brown Book entstanden: „Ms115ii ist an Ts310 so eng angelehnt, dass eines klar ist: Die Stoßrichtung der Umarbeitung kann nicht darin gelegen haben, die Vorlage inhaltlich akzeptabel oder akzeptabler zu machen; als Umarbeitung des Brown Book war sie hauptsächlich eine Umarbeitung ins Deutsche. Bei diesem Unternehmen ging es wohl eigentlich um das Erstellen eines publikationsfähigen deutschen Textes, das Erstellen eines Pendants zum Brown Book.“ (Pichler 2004: 129)
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to Skinner and Miss Ambrose.“ (Nr. 204 in McGuinness 2008) Dank der Datierung des „Versuchs einer Umarbeitung“ auf „Ende August 36“ (Ms 115: 118) brauchen wir über die Zeit seiner Entstehung nicht zu spekulieren. Ende August 1936 hielt sich Wittgenstein im norwegischen Skjolden am Ende des Sognefjords auf – darauf bezieht sich die Formulierung „when I came here“ im gerade zitierten Briefausschnitt –, um eine endgültige Formulierung seiner Bemerkungen zu finden. (Monk 1991: 361)¹³⁰ Er fand dort in seiner Hütte mitten in der norwegischen Fjordlandschaft die „stille Ernsthaftigkeit“ die er offenbar zum Arbeiten brauchte: „I can’t imagine that I could have worked anywhere as I do here. It’s quiet and, perhaps, the wonderful scenery; I mean, it’s quiet seriousness.“ (Nr. 202 in McGuinness 2008)¹³¹ Auf Seite 292 des Ms 115ii bricht Wittgenstein seine Umarbeitung des Brown Book jedoch mit den Worten „Dieser ganze ‚Versuch einer Umarbeitung‘ von Seite 118 bis hierher ist nichts wert“ radikal ab. An Moore schreibt er: When about a fortnight ago, I read through what I had done so far I found it all, or nearly all, boring and artificial. For having the english [sic.] version before me had cramped my thinking. I therefore decided to start all over again and not to let my thoughts be guided by anything but themselves. – I found it difficult the first day or two but then it became easy. And so I’m writing now a new version and I hope I’m not wrong in saying that it’s somehow better than the last. (Nr. 204 in McGuinness 2008)
Der Brief ist auf den 20. November datiert, so dass Wittgenstein Anfang November („a fortnight ago“) mit diesem Neuanfang begonnen haben muss. Es handelt sich dabei um Ms 142, der sogenannten „Urfassung“ der PU, welche die ersten 188 Bemerkungen unserer heutigen PU-Ausgaben enthält. Wie Pichler überzeugend dargelegt hat, beginnt Wittgensteins Arbeit an den PU, wie wir sie heute kennen, mit seiner Arbeit an Ms 142 im November 1936 in Skjolden (Pichler 2004).¹³²
Monk erläutert dazu: „Wittgenstein’s leaving for Norway in August 1936 is strongly reminiscent of his earlier departure in October 1913. In both cases he was leaving for an indefinite period to accomplish a definite task: – the preparation of a final formulation of his philosophical remarks. […]“ (Monk 1991: 361) Das Zitat ist einem Brief Wittgensteins an G. E. Moore vom Oktober 1936 entnommen. „Der Beginn an den Philosophischen Untersuchungen, so wie wir sie heute kennen, fällt zusammen mit dem text- und formgenetischen Übergang von der deutschen Umarbeitung des Brown Book (Ts310) im zweiten Teil von Ms115 zu der handgeschriebenen Fassung des ersten Teils der ‚Frühversion‘ der Untersuchungen in Ms142. Dieser Übergang fand Anfang November 1936 statt […].“ (Pichler 2004: 14) Das bedeutet natürlich nicht, dass Wittgenstein mit der Arbeit an den PU nicht an seine früheren Überlegungen angeknüpft hätte: „Zwar sind Titel und Formgebung der Untersuchungen hauptsächlich auf das Jahr 1936 zurückzuführen; doch das ist nicht genug, um
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Sowohl Ts 310 als auch Ms 115ii sind als Buchausgaben veröffentlich worden: Das Brown Book hat Rush Rhees 1958 unter dem Titel „Preliminary Studies for the ‘Philosophical Investigations’. Generally known as The Blue and Brown Books“ herausgegeben. Ms 115ii erschien erstmals 1970 als „Eine Philosophische Betrachtung. Versuch einer deutschen Umarbeitung des Brown Book, ergänzt durch die englische Fassung“ im Band 5 der Suhrkamp Werkausgabe, herausgegeben ebenfalls von Rush Rhees. Als Textgrundlage für die hier durchgeführte Untersuchung dienen die Faksimiles und Transkriptionen von Ms 115ii und Ts 310, wie sie uns in der Bergen Electronic Edition vorliegen, sowie die veröffentlichten Buchaugaben.
3.2.2 Grammatik im Brown Book Korpus ¹³³ Angesichts der Häufigkeit von „Grammatik“ im Nachlass ist es vielleicht verwunderlich, dass dieser Begriff im Brown Book kaum vertreten ist. Darin stoßen wir insgesamt neunmal in fünf Textpassagen auf „Grammatik“; wenn auch die Varianten dieser Textpassagen mitberücksichtigt werden, liegen zwölf Vorkommnisse des Begriffes vor. Derivate von „Grammatik“ sind darüber hinaus im Brown Book überhaupt nicht zu finden. Die fünf Textpassagen sind die folgenden:¹³⁴ (1) Remember, however, that the grammar of our temporal expressions is not symmetrical with respect to an origin corresponding with the present moment. Thus the grammar of the expressions relating to memory does not reappear ‘with opposite sign’ in the grammar of the future tense./Thus there is nothing in the grammar of the future tense corresponding to the grammar of the word ‘memory’. This part of the grammar of the past tense does not recur ‘with its sign changed’ on the future side./[…] If a philosopher says that propositions about the future are not real propositions, it is because he has been struck by the asymmetry in the grammar of temporal expressions. (Ts 310: 51 = BBB: 109)
sagen zu können, daß sie 1936 oder ab 1936 geschrieben wurden. Geschrieben wurden sie tatsächlich seit 1929, und viele der vor 1936 entstandenen Bemerkungen sind unverändert (oder nicht mehr verändert als die ab 1936 entstandenen) in die veröffentlichten Untersuchungen eingegangen.“ (Pichler 1997: 10) Eine frühere, englischsprachige Version dieses Abschnitts habe ich 2013 beim Internationalen Ludwig Wittgenstein Symposium in Kirchberg am Wechsel vorgetragen (Szeltner 2013). Alle Nummerierungen von Zitaten und Hervorhebungen durch Fettdruck in Zitaten in diesem Abschnitt sind von mir hinzugefügt.
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(2) We are treating here of cases in which, as one might roughly put it, the grammar of a word seems to suggest the ‘necessity’ of a certain intermediary step/stage, although in fact the word is used in cases in which there is no such intermediary step. (Ts 310: 82 = BBB: 130) (3) It is one of our tasks here to give a picture of the grammar (the use) of the word ‘a certain’. (Ts 310: 90 = BBB: 135) (4) But here you are misled by the grammar of the word ‘to know’. (Ts 310: 101 = BBB: 142)¹³⁵ (5) Just as the statement, ‘These ticks follow at equal intervals’, has got one grammar if the ticks are the tick of a pendulum and the criterion for their regularity is the result of measurements which we have made on our apparatus, and another grammar if the ticks are ticks which we imagine. (Ts 310: 145 = BBB: 171)
Das auffälligste Merkmal dieser fünf Textstellen ist, dass Wittgenstein darin an keiner Stelle von Grammatik im allgemeinen Sinn spricht, sondern ausschließlich von der Grammatik bestimmter Teile unserer Sprache: von der Grammatik unserer Zeitausdrücke, der Grammatik des Futur, der Grammatik des Wortes „Gedächtnis“, etc. Wittgenstein ist also an keiner Stelle des Brown Book dazu geneigt, eine Aussage über die Grammatik im Allgemeinen zu treffen. Wir können daher nicht nur sagen, dass er im Brown Book weitaus weniger von Grammatik spricht als in früheren Schriften, sondern auch, dass sich sein Gebrauch von „Grammatik“ im Brown Book als einseitig erweist. In Zitat (3) scheint Wittgenstein die Wörter „Grammatik“ und „Gebrauch“ als gegeneinander austauschbar zu verstehen,¹³⁶ denn er gibt seinen Lesern den Hinweis, dass er an dieser Stelle statt von „Grammatik“ auch von „Gebrauch“ Diese Bemerkung hat Engelmann in seiner Analyse übersehen und spricht folglich nur von vier statt fünf Grammatikbemerkungen im Brown Book (2011: 97, 2013b: 201 ff). Arrington geht von einer Gleichsetzung aus: „In the Brown Book (BBB, p. 135) Wittgenstein equates grammar and use, and in the Philosophical Grammar there is an explicit equation of use and meaning (p. 60).“ (Arrington 1990: 213) Auch Engelmann fasst „use“ und „grammar“ im Brown Book als Synonyme auf: „They are synonyms, I take it, because there is no space for ‚grammar’ as the discipline that demarcates the bounds of sense and explains the nature of necessity in Wittgenstein’s philosophy after 1934 in an anti-realistic fashion.“ (2011: 97 f) Engelmanns Ergebnisse sind mit meinen verwandt: auch meiner Interpretation zufolge ist im Brown Book (und im gesamten Brown Book Korpus) kein Platz für eine Grammatik im allgemeinen Sinn, die den Möglichkeitsraum des sinnvoll-Sagbaren festlegt. Vgl. ebenso Engelmann 2013b: 201 ff.
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hätte sprechen können. Dieser Hinweis ist insofern interessant, als dass wir in der Tat alle zwölf Vorkommnisse von „Grammatik“ im Brown Book durch das Wort „Gebrauch“ ersetzen können, ohne dass die entsprechenden Textpassagen dadurch unverständlich oder inkohärent würden. Schon zuvor im akademischen Jahr 1932/33 hatte Wittgenstein seinen Studenten vermittelt: „‘How is the word used’ and ‘What is the grammar of the word?’ I shall take as being the same question.“ (AWL 1) Im Brown Book spielt Grammatik also keine herausragende Rolle, denn Wittgenstein wäre leicht ohne sie ausgekommen, indem er schlicht vom Gebrauch (etwa eines Wortes) gesprochen hätte.¹³⁷ Bei seiner Umarbeitung und Übersetzung des Brown Book ins Deutsche behält Wittgenstein nur in zwei der fünf Textpassen das Wort „Grammatik“ bei: (1a) Aber vergessen wir nicht, daß die Grammatik der zeitlichen Ausdrücke/unserer Zeitbegriffe nicht symmetrisch ist in Bezug auf die Gegenwart. Denn in der Grammatik der Zukunft tritt der Begriff des ‚Gedächtnisses‘ nicht auf, auch nicht ‚mit umgekehrten Vorzeichen‘.Vielleicht wird man sagen: ‚Was hat das mit Grammatik zu tun? Wir erinnern uns eben nicht an die Zukunft!‘ Nun das kommt darauf an, wie man das Wort erinnern gebraucht. (Ms 115: 176) (4a) Du wirst von der Grammatik des Wortes ‚wissen‘ irregeführt. (Ms 115: 257)
In den anderen drei Textpassagen lässt er entweder davon ab, von Grammatik zu reden (Zitat 2), oder es findet sich nicht einmal eine Entsprechung dieser Textstelle in Ms 115ii (Zitate 3 und 5).¹³⁸ Allerdings stoßen wir an vier weiteren Stellen von Ms 115ii auf „Grammatik“: (6) Die Grammatik unserer Sprache lässt eben Fragen zu, und sie verleitet uns zu ihnen durch ihre/die Bildhaftigkeit. (6a) Unsere Sprache lässt Fragen zu, zu denen es keine Antwort gibt. Und sie verleitet uns, diese Fragen zu stellen, durch die Bildhaftigkeit des Ausdrucks. (Ms 115: 172)
Dieser Sachverhalt könnte gar zu der Behauptung verleiten, Grammatik spiele im Brown Book nicht nur keine herausragende, sondern überhaupt keine Rolle. Man darf allerdings nicht außer Acht lassen, dass Wittgenstein dennoch an der Verwendung von „Grammatik“ festhält anstatt ihn konsequent durch „Gebrauch“ zu ersetzen, und dass er auch bei seinem Versuch einer Umarbeitung in Ms 115ii weiterhin diesen Begriff gebraucht. Vgl. Pichler & Smith 2013.
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(7) Wenn uns nun nicht eine falsche Auffassung der Grammatik des Wortes ‚Bedeutung‘ verführt, daß wir glauben, es müsse ein Wenn-Gefühl geben, so werden wir nun sagen: Es gibt Wenn-Gefühle und zwar in dem Sinne, in dem es Wenn-Gebärden gibt, oder/& Wenn-Tonfälle. (Ms 115: 264) (8) So nun verhält es sich auch mit dem Gebrauch der Wörter ‚meinen‘, ‚glauben‘, ‚intendieren/ beabsichtigen‘ etc.: eine falsche – falsch vereinfachte – Auffassung ihrer Bedeutung, d. h. ihrer Grammatik, verleitet uns, zu denken, es müsse jedem dieser Wörter/dem Wort/einem Wort ein bestimmtes charakteristisches Erlebnis entsprechen. (Ms 115: 264) (9) Denk an die Grammatik/den Gebrauch des Ausdrucks: ‚jemand matt setzen‘. Er bezieht sich auf eine gewisse Handlung im Spiel. Aber wenn jemand, sagen wir ein Kind, mit Schachfiguren & einem Schachbrett spielt, dabei ein paar Figuren aufs Brett setzt & die Bewegungen/Handlung des Mattsetzens macht/macht/ausführt, werden wir nicht sagen, es habe jemand matt gesetzt. (Ms 115: 278)
Mit Ausnahme von (6) spricht Wittgenstein auch in allen diesen Bemerkungen von Grammatik im partikulären Sinn.¹³⁹ (9) ist von besonderem Interesse, denn hier liegt ein ähnlicher Fall vor wie in (3): In der handschriftlichen Notiz wird deutlich, dass Wittgenstein das Wort „Gebrauch“ als mögliche Alternative zu „Grammatik“ in Betracht gezogen hat (s. Abb. 4).
Abb. 4: Ausschnitt aus Ms 115: 278 Abgebildet mit der freundlichen Erlaubnis von The Master and Fellows of Trinity College, Cambridge, und der Universität Bergen, Bergen.
Mindestens zwei Interpretationen dieser Textstelle sind möglich. Erstens kann sie als Hinweis darauf verstanden werden, dass Wittgenstein auch hier die Grammatik eines bestimmten Teils unserer Sprache als dessen Gebrauch versteht, obgleich er „Gebrauch“ wieder durchstreicht und sich eindeutig für die Verwendung von „Grammatik“ entscheidet. Diesem Verständnis nach wäre sein Durch (7) und (8) haben keine Entsprechung im Brown Book. (6) und (9) kommen im Brown Book ohne das Wort „Grammatik“ aus.
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streichen von „den Gebrauch“ auf stilistische Vorlieben zurückzuführen. Die Textstelle lässt sich jedoch auch so deuten, dass Wittgenstein sich hier bewusst gegen die Austauschbarkeit von „Gebrauch“ und „Grammatik“ entscheidet und dies durch sein Durchstreichen zum Ausdruck bringt; er hätte ja auch „Gebrauch“ und „Grammatik“ als zwei Varianten stehenlassen können. Darüber, welche Interpretation tatsächlich die adäquate ist, kann nur spekuliert werden. Wichtig scheint mir jedoch zu sein, dass Wittgenstein an dieser Stelle Grammatik und Gebrauch miteinander in Verbindung bringt – und zwar ungeachtet dessen, ob er letztlich an dieser Verknüpfung festhalten oder sie verwerfen will. (7) und (8) deuten in eine wiederum andere Richtung. In (8) bringt Wittgenstein die Grammatik in engen Zusammenhang mit der Bedeutung eines Wortes, indem er die Grammatik von „meinen“, „glauben“, „intendieren“ und „beabsichtigen“ mit deren Bedeutung gleichsetzt, oder zumindest hier „Grammatik“ und „Bedeutung“ als gegeneinander austauschbar verstehen will. In (7) begegnen wir einem ähnlichen Fall. Wie in (8) geht es Wittgenstein auch hier um die falsche Auffassung der Grammatik eines Wortes, und es ist wahrscheinlich, dass er dabei auch hier die falsche Auffassung der Bedeutung eines Wortes im Sinn hat, denn „Grammatik“ lässt sich problemlos als „Bedeutung“ verstehen; es geht um eine falsche Auffassung der Bedeutung des Wortes „Bedeutung“, die uns verführt. Auch im Hinblick auf die weithin bekannte Bemerkung 43 der PU verwundert es nicht, dass Wittgenstein eine enge Beziehung von Grammatik und Bedeutung vorschlägt. Was man hier jedoch deutlich sehen kann, ist, dass er nicht nur eine zweigliedrige Beziehung von Grammatik und Gebrauch im Sinn zu haben scheint, sondern eine dreigliedrige von Grammatik, Gebrauch und Bedeutung – zumindest hinsichtlich der Grammatik im partikulären Sinn, wie sie im Brown Book Korpus vorliegt.¹⁴⁰ Wie bereits angedeutet, unterscheidet sich (6) in bezeichnender Weise von allen anderen Textstellen des Brown Book Korpus, denn hier spricht Wittgenstein nicht von der Grammatik eines Teils unserer Sprache, sondern von der Grammatik unserer Sprache insgesamt. Er scheint jedoch unzufrieden mit seiner Wortwahl zu sein, denn er streicht die Worte „Die Grammatik“ in „Die Grammatik unserer Sprache“ durch und lässt stattdessen „Unsere Sprache“ stehen (s. Abb. 5). Diese Änderung kann man entweder so auffassen, dass er zu dieser Zeit ganz davon absehen wollte, von der Grammatik im Allgemeinen zu sprechen, oder dass er die Redeweise von Grammatik im Allgemeinen nur in dieser Bemerkung für unangebracht hielt. Die zweite dieser beiden möglichen Lesarten scheint jedoch weniger plausibel, da Wittgenstein an keiner weiteren Stelle des Brown Book
Zu Grammatik, Bedeutung und Gebrauch vgl. 3.3.1.
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Abb. 5: Ausschnitt aus Ms 115: 172 Abgebildet mit der freundlichen Erlaubnis von The Master and Fellows of Trinity College, Cambridge, und der Universität Bergen, Bergen.
Korpus Grammatik im allgemeinen Sinn verwendet. Die Annahme, dass er sie zu dieser Zeit seines philosophischen Schaffens gänzlich vermieden, wenn nicht sogar bewusst verworfen hat, liegt näher. Auch (1a) unterscheidet sich von den anderen Bemerkungen in Ms 115ii. Wittgenstein verwendet hier dreimal das Wort „Grammatik“.Während er es in den ersten beiden Fällen eindeutig im partikulären Sinn gebraucht, lässt er beim dritten Mal seinen Gesprächspartner fragen, was all dies mit Grammatik zutun habe. „Grammatik“ können wir hier als Disziplin, als Grammatik im Allgemeinen oder gar als Grammatik im traditionellen (linguistischen) Sinn verstehen, wenn wir uns etwa einen Gesprächspartner denken, der sich bei dem Wort „Grammatik“ an das erinnert, was ihm in der Schule als Grammatik präsentiert wurde.¹⁴¹ Ich betrachte diese Instanz von „Grammatik“ im Brown Book Korpus als weniger relevant als die übrigen zitierten Textstellen, denn anstelle seine eigene Sichtweise darzulegen, stellt Wittgenstein sich hier zweifellos einen möglichen Einwand darauf vor. Während im Brown Book das Adjektiv „grammatisch“ gar nicht vorkommt, begegnet es uns in Ms 115ii fünfmal (Ms 115: 228, 241, 242, 260, 276). Somit spricht Wittgenstein in Ms 115ii etwas mehr von Grammatik (zwölf Instanzen)¹⁴² als im Brown Book (neun Instanzen). Dieser Unterschied ist allerdings zu unerheblich, als dass sich daraus signifikante Schlüsse ziehen ließen. Wichtig ist hingegen die Tatsache, dass Wittgenstein im Brown Book Korpus seine Verwendung von „Grammatik“ auf Grammatik im partikulären Sinn beschränkt und sie darüber hinaus in engem Zusammenhang mit dem Gebrauch und der Bedeutung eines Wortes sieht. Diese Verwendungsweise von Grammatik steht in scharfem Kontrast zu seinen früheren Schriften von Anfang der 30er Jahre, in denen er sehr häufig Da mir die letzte dieser Lesarten am überzeugendsten erscheint, wird diese Textstelle in Tabelle 7 entsprechend gedeutet, so dass dort eine Verwendung von „Grammatik in anderem Sinn“ aufgeführt wird. Zitat (6) wird bei der Zählung nicht berücksichtigt, da Wittgenstein das Wort „Grammatik“ an dieser Stelle durchgestrichen hat.
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„Grammatik“ im Sinne von Grammatik im allgemeinen Sinn verwendet hatte. Infolgedessen ist die Annahme naheliegend, dass sich sein Grammatikverständnis verändert hat, als er mit dem Diktat des Brown Book begann. Offensichtlich ist er lediglich noch an der Grammatik eines bestimmten Wortes oder Teils unserer Sprache interessiert, nicht mehr an der Grammatik unserer Sprache allgemein.¹⁴³ Für eine bessere Übersichtlichkeit wird in Tabelle 7 die philologische Untersuchung im ersten Kapitel dieser Arbeit durch das Ergebnis der Untersuchung des Brown Book Korpus ergänzt. Tab. 7: Instanzen von „Grammatik“ im Big Typescript, im Brown Book, in Ms 115ii und den PU Grammatik im all- Grammatik im gemeinen Sinn partikulären Sinn
Grammatik in anderem Sinn
Derivate von Grammatik
Insgesamt
Big Typescript
Brown Book
Ms ii
PU
Dieser Übersicht ist zu entnehmen, dass der Brown Book Korpus einen erheblichen Einschnitt in Wittgensteins Verwendungsweise des Grammatikbegriffs darstellt, denn erstens gebraucht Wittgenstein „Grammatik“ entschieden weniger als noch im Big Typescript, und zweitens enthält der Brown Book Korpus keine Instanzen von Grammatik im allgemeinen Sinn. Die Tabelle zeigt ebenfalls, dass Wittgenstein in den PU zum einen wieder zu seiner Verwendungsweise von Grammatik im allgemeinen Sinn zurückkehrt und zum anderen auch generell wieder häufiger vom Begriff der Grammatik Gebrauch macht. In Abschnitt 3.3 werde ich diese Entwicklung näher beleuchten. Zuvor sei hier noch etwas zu Wittgensteins Verwendung des Wortes Logik und seinen Derivaten im Brown Book Korpus gesagt.
Diese Entwicklung wird in 3.3 aufgegriffen und interpretiert.
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3.2.3 Logik im Brown Book Korpus Der Begriff der Logik, inklusive den Derivaten des Wortes „Logik“ bzw. „logic“, begegnet uns im gesamten Brown Book Korpus zwölfmal:¹⁴⁴ dreimal in Ts 310,¹⁴⁵ zweimal in Ms 141¹⁴⁶ und siebenmal in Ms 115ii.¹⁴⁷ Gemeinsames Merkmal dieser Vorkommnisse ist, dass sie alle im Zusammenhang mit Wittgensteins Abgrenzung von der logischen Methode, anderen Logikern und dem TLP stehen.¹⁴⁸ Dies lässt sich leicht zeigen; im Folgenden führe ich alle zwölf Vorkommnisse an:¹⁴⁹ (1) […] and it is curious to compare what we see in our examples with the simple and rigid rules which logicians give for the construction of propositions. (Ts 310: 10 = BBB 83) (2) Eine solche Überlegung zeigt, wie viel weniger rigid die Funktion des Wortes im Satz ist, als die Logiker vielfach/meistens annehmen. (Ms 141: 3)¹⁵⁰ (3) In introducing the distinction, ‘word, pattern’, the idea was not to set up a final logical duality. We have only singled out two characteristic kinds of instruments from the variety of instruments in our language. (Ts 310: 12 = BBB 84) (4) Wir haben mit dieser Unterscheidung aber nicht eine letzte Dualität in der Logik festgestellt; sondern nur aus den Mitteln unserer Sprache zwei charakteristische Arten hervorgehoben. (Ms 141: 3)
Der Zählung liegt an dieser Stelle die BEE zugrunde. Einmal „logical“ (Ts 310: 12) und zweimal „logician“ (Ts 310: 10, 34). Einmal „Logik“ (Ms 141: 3) und einmal „Logiker“ (Ms 141: 3). Beides sind Wittgensteins Übersetzungen der entsprechenden Textpassagen im Brown Book ins Deutsche. Dabei wählte er für den Ausdruck „logical duality“ im Brown Book die Übersetzung „Dualität in der Logik“ in Ms 141. Fünfmal eine deklinierte Form von „logisch“ (Ms 115: 125, 174, 175 (2x), 249) und zweimal „Logiker“ (Ms 115: 129, 155). Auf Seite 125 liegen zwei Varianten vor, die beide den Ausdruck „logische Analyse“ enthalten; nur eine wurde bei der Zählung berücksichtigt. Wittgenstein erwähnt den TLP dreimal in Ms 115ii (Ms 115: 125, 129, 188). Bei der Zählung sind diese Instanzen von „logisch“ unberücksichtigt geblieben, da sie einen Teil des Titels des TLP darstellen. Die Nummerierung der Zitate sowie Fettdruck in den Zitaten in diesem Abschnitt habe ich für den Zweck der Übersichtlichkeit hinzugefügt. Ms 141 ist ebenfalls Teil des Brown Book Korpus, enthält jedoch keine Instanzen von Grammatik und ihren Derivaten.
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(5) Though from certain points of view we should call the linear character of the sentence merely external and inessential, this character and similar ones play a great role in what as logicians we are inclined to say about sentences and propositions. (Ts 310: 34 = BBB 98) (6) Welches diese Elemente der Wirklichkeit waren/seien, schien nicht leicht zu sagen. Diese Aufgabe dachte ich mir als die Aufgabe weiterer ‚logischer Analyse‘. / Ich dachte, es sei die Aufgabe weiterer logischer Analyse, sie zu finden. (Ms 115: 125) (7) Solche Überlegungen können uns die ungeheure Mannigfaltigkeit der Mittel unserer Sprache ahnen lassen; und es ist merkwürdig/interessant, mit dem, was sich uns hier zeigt, zu vergleichen, was Logiker vom Bau aller Sätze gesagt haben. (Ms 115: 129) (8) Obwohl wir den linearen Charakter unserer Sprache von einem bestimmten Standpunkt aus für rein äußerlich und unwesentlich erklären werden, spielt es doch in dem, was wir als Logiker über die Sätze zu sagen geneigt sind, eine große Rolle. (Ms 115: 155) (9) Wenn man den Eigenamen eines Menschen, oder einen wie ‚Nothung‘, nicht Namen im ‚strengen logischen’ Sinn des Wortes nennen will, weil ein Name etwas Einfaches bedeuten soll. (Ms 115: 174) (10) und (11) Dieses Raisonnement hängt an verschiedenen Irrtümern: a) die Idee, einem Wort müsse ein Gegenstand ‚entsprechen‘, damit es eine Bedeutung habe, die Verwechslung der Bedeutung mit dem Träger eines Namens. b) ein falscher Begriff von der philosophischen, oder logischen Analyse eines Satzes, als sei sie ähnlich der chemischen, oder physikalischen. c) eine falsche Auffassung der ‚logischen Exaktheit‘, Unkenntnis des Begriffs der ‚Familie‘. (Ms 115: 175) (12) ‚Klasse‘ ist eine logisches Modewort, wir müssen von ihm noch reden. (Ms 115: 249)
In den meisten Fällen ist Wittgensteins Distanzierung von der Logik oder den Logikern offensichtlich, obwohl die Zitate hier aus ihrem Kontext herausgenommen sind. In (1) stellt Wittgenstein seine Perspektive („what we see“) den strengen Regeln der Logiker („rigid rules which logicians give“) gegenüber. In der Übersetzung von (1) in (2) ist diese Gegenüberstellung zwar weniger augenfällig, doch die Abgrenzung von „den Logikern“ bleibt weiterhin deutlich bestehen. In (3) und
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dessen Übersetzung in (4) hebt Wittgenstein hervor, dass es ihm an dieser Stelle gerade nicht um eine logische Unterscheidung geht. In (5), als auch dessen Übersetzung in (8), scheint sich Wittgenstein zwar auf den ersten Blick selbst als Logiker zu verstehen („as logicians we“, „wir als Logiker“), doch bei einer genaueren Betrachtung dieser Textpassage(n) in ihrem Kontext wird deutlich, dass er sich hier lediglich in die Perspektive eines Logikers versetzt, so dass wir diese Textstelle(n) im Sinne von „wäre ich ein Logiker, würde ich hier geneigt sein, zu sagen […]“ oder „würde ich hier wie ein Logiker vorgehen, würde ich hier geneigt sein, zu sagen“ deuten können. Es kann sich ebenfalls um einen Rückbezug zu seiner früheren Art des Philosophierens handeln, denn im Rückblick auf den TLP versteht sich Wittgenstein, als ihr Autor, als Logiker. Gerade im Versuch einer Umarbeitung werden diese Rückbezüge besonders deutlich, weil Wittgenstein darin teilweise explizit auf den TLP Bezug nimmt (Ms 115: 125, 129, 288) sowie seine früheren Auffassungen erläutert, wie etwa in (6): „Diese Aufgabe dachte ich mir als die Aufgabe weiterer ‚logischer Analyse‘“¹⁵¹. Auch (7) lässt sich als einen solchen Rückbezug verstehen – „was Logiker vom Bau aller Sätze gesagt haben“ –, denn im TLP hat Wittgenstein selbst etwas „vom Bau aller Sätze“, nämlich von der „allgemeine[n] Form des Satzes“ (TLP 6), gesagt. Ähnlich listet Wittgenstein in (10) und (11) eine Reihe von Irrtümern auf, denen er selbst aufgesessen war. Allerdings wendet er sich hier nicht gegen die logische Analyse, sondern gegen eine falsche Auffassung derselben. Es ist also nicht auszuschließen, dass er sein Vorgehen selbst als eine Art logischer Analyse auffasst – und das ist sogar naheliegend vor dem Hintergrund, dass sich seine Untersuchung zu jeder Zeit als eine logische verstehen lässt. Was damit gemeint ist, wird in 4.2 erläutert werden. Wichtig für das Verständnis des Brown Book Korpus ist, dass Wittgenstein sich darin von einer strengen logischen Analyse im Sinne des TLP abgrenzt. In (9) wird diese Abgrenzung vom „strengen logischen Sinn“ allein durch die Verwendung der Anführungszeichen offensichtlich. In (12) erklärt er schließlich den Begriff der Klasse abfällig zum „logische[n] Modewort“ und distanziert sich damit offenkundig von den Strömungen in der Logik seiner Zeit. In diesem Zusammenhang ist auch die Beobachtung erhellend, dass er die Wörter „Syntax“ und „syntaktisch“ im gesamten Brown Book Korpus überhaupt nicht gebraucht. Von seiner im TLP vertretenen Auffassung von Grammatik als logischer Syntax, die in seinen Schriften der frühen 30er Jahre noch deutlich zu
Im Hinblick auf die in 4.2 angestellten Überlegungen zu Wittgensteins Logikbegriff ist es auch möglich, mitunter vielleicht wahrscheinlich, dass sich Wittgenstein zur Zeit der Entstehung des Brown Book Korpus durchaus als Logiker verstanden hat, wenn auch nicht als Logiker im herkömmlichen Sinn und auch nicht im Sinne seiner hier überwundenen frühen Überlegungen.
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sehen war und sich – obgleich stark verkümmernd – bis ins Big Typescript zog, scheint er sich demnach inzwischen vollkommen gelöst zu haben. Allerdings bleibt an dieser Stelle zu erwähnen, dass er seine Redeweise von der unverstandenen „Sprachlogik“, die schon im TLP eine zentrale Rolle spielt, beibehält, wenn auch nur in einer einzigen Textstelle des Versuchs einer Umarbeitung, die er mehrere Male überarbeitet hat: In der Philosophie begegnen Dir eine Unmenge solcher schattenhafter ätherischer Gebilde. Es spukt in der Philosophie (überall)/(allenorten) von solchen schattenhaften Gebilden. Ihre Vorstellung/Die Vorstellung von ihnen drängt sich uns als Erklärung einer von uns missverstandenen/unverstandenen grammatischen Form/unverstandener grammatischer Formen auf. Sie ist das Erzeugnis einer/die Ausgeburt einer/Sie sind die Erzeugnisse einer/Sie sind die Ausgeburt einer unverstandenen Sprachlogik (Paul Ernst). Die Vorstellung von ihnen drängt sich uns als Erklärung einer grammatischen Form/ grammatischer/ sprachlicher Formen auf. (Sie sind die Erzeugnisse einer unverstandenen Sprachlogik (Paul Ernst).) Ihre Vorstellung drängt sich uns auf als Erklärung gewisser sprachlicher Formen. (Sie sind die Ausgeburt einer unverstandenen Sprachlogik (Paul Ernst).) (Ms 115: 259 f)¹⁵²
Dies klingt wie der Versuch der Formulierung einer neuen Version der bekannten Passage im Vorwort des TLP: „Das Buch behandelt die philosophischen Probleme und zeigt – wie ich glaube – daß die Fragestellung dieser Probleme auf dem Mißverständnis der Logik unserer Sprache beruht.“ Dass Wittgensteins zeitlebens das Ziel verfolgt hat, sich von philosophischen Problemen zu „erlösen“, wurde schon in der Einleitung dargelegt und braucht hier nicht zu verwundern. Bemerkenswert ist jedoch, dass er an der zitierten Stelle aus Ms 115ii trotz allen Vermeidens sowohl der Grammatik im allgemeinen Sinn als auch der logischen Methode das Bild der irreführenden Sprachlogik wieder aufgreift, von dem er sich schon im Oktober 1929 gelöst hatte, als er erkannte, dass wir mit der gewöhnlichen Sprache zurechtkommen müssen (vgl. 2.3 und 4.2).
Auf den Schriftsteller Carl Friedrich Paul Ernst verweist Wittgenstein an mehreren Stellen im Nachlass, die Biesenbach zusammengetragen hat (2014: 136 – 139). Darauf, dass Wittgenstein in der zitierten Passage aus Ms 115ii „Missverständnisse der Sprachlogik“ im Sinne des TLP versteht, weist eine weitere Textstelle aus Ms 110 hin, die ebenfalls auf Paul Ernst Bezug nimmt: „Wenn mein Buch je veröffentlicht wird, so muss in seiner Vorrede der Vorrede Paul Ernst’s zu den Grimmschen Märchen gedacht werden, die ich schon in der Log. Phil. Abhandlung hätte erwähnen müssen.“ (Ms 110: 84) Für die möglichen Textpassagen des Nachwortes (nicht Vorrede) von Paul Ernst vgl. Biesenbach 2014: 136 f. Zu Wittgenstein und Paul Ernst vgl. Majetschak 2006a: 73 ff.
3.2 Grammatik im Brown Book und Versuch einer Umarbeitung
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3.2.4 Das Besondere Im Brown Book Korpus, d.i. vom akademischen Jahr in Cambridge 1934/35 bis Herbst 1936, geht es Wittgenstein um die Grammatik (den Gebrauch, die Bedeutung) eines Wortes oder Teils unserer Sprache im besonderen Fall, nicht um eine Grammatik, Syntax oder Logik unserer Sprache. Wittgenstein möchte keine allgemeinen Gesetzmäßigkeiten formulieren, sondern besondere Fälle betrachten. Entsprechend lesen wir im Brown Book von „particular words“ (Ts 310: 10), „particular method“ (Ts 310: 12), „particular mental experience“ (Ts 310: 15), „particular cases“ (Ts 310: 17), „particular circumstances“ (Ts 310: 17) etc. – die Liste ließe sich noch lange fortsetzen.¹⁵³ Auch im Versuch einer Umarbeitung in Ms 115ii formuliert er: „Es ist nicht ein Akt der Einsicht, der uns die Regel ‚Addiere immer 1‘ bei jedem Schritt so anwenden lässt, wie wir sie eben anwenden. Es sei denn, dass es im besonderen Fall ein Akt der Einsicht wäre“ (Ms 115: 260), „Wir fixieren unsere Aufmerksamkeit auf die Empfindung in einem besonderen Fall und glauben, hier haben wir die spezifische Erfahrung“ (Ms 115: 266) oder auch: „Gefährlich ist hier die Verwechslung zwischen Wollen und Wünschen. – Denn wenn ich meinen Arm hebe, so ist es nicht so, dass ich zuerst wünsche, er möchte sich heben, und nun tut er es tatsächlich. (Obwohl auch das in besonderen Fällen geschehen könnte.)“ (Ms 115: 290 f) Auch hier ließen sich noch viele weitere Textstellen anführen, in denen Wittgenstein besondere Fälle, Situationen oder Anwendungen betrachtet.¹⁵⁴ Obwohl Wittgenstein in den PU wieder im allgemeinen Sinn von Grammatik sprechen wird, wird sein Interesse am Besonderen weiterhin bestehen bleiben. Im folgenden Abschnitt werden die Verschiebungen in Wittgensteins Philosophie erläutert, die im Big Typescript und den zugrundeliegenden Manuskriptquellen anklingen, im Brown Book umgesetzt werden, und sich schließlich in den PU „niederschlagen“.¹⁵⁵
Gemäß der Suche in der BEE verwendet Wittgenstein das Wort „particular“ im Brown Book in 92 Bemerkungen auf 82 Seiten. Vgl. z. B. Ms 115: 136, 145, 185, 190, 270, 275. Den Begriff des Niederschlags verwendet Wittgenstein im Vorwort zu den PU: „In dem Folgenden veröffentliche ich Gedanken, den Niederschlag philosophischer Untersuchungen, die mich in den letzten 16 Jahren beschäftigt haben.“ Vgl. Abschnitt 4.1.
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3.3 Verschiebungen Wittgensteins Auffassung von Grammatik erfährt zwischen den Bemerkungen 1930 und dem Brown Book substantielle Veränderungen, die Konsequenzen für seinen philosophischen Ansatz haben und sich auf die PU und darüber hinaus auswirken. Im Zuge dieser Entwicklung stellt das Big Typescript ein wichtiges Zeugnis dar, da in ihm, wie in 3.1 gezeigt, Altes und Neues zusammenkommen. Das Ergebnis von Wittgensteins Hadern mit seinen inhaltlichen Widersprüchen im Big Typescript zeichnet sich im Brown Book deutlich ab. Wittgensteins Unzufriedenheit mit diesem Text, bzw. dessen Umarbeitung ins Deutsche, mündet daraufhin in seine Gestaltung der PU. Diese Entwicklung zeigt, dass Wittgensteins Auffassung von Grammatik im Big Typescript nicht seinem Grammatikverständnis der PU gleicht; das Big Typescript ist vielmehr ein wichtiges Zwischenstadium auf Wittgensteins Weg zu seiner Auffassung von Grammatik im Brown Book Komplex und den PU. Es verwundert aufgrund dieser Entwicklung allerdings nicht, dass Interpreten, wie in prominenter Weise etwa Peter Hacker (2012), eine Kontinuität von Wittgensteins Grammatikbegriff des Big Typescript und dem der PU sehen und behaupten. Clemens Sedmak kommt ebenfalls zu diesem Ergebnis, wenn er die Grammatik im Big Typescript mit Wittgensteins Worten als „das vollständige Geschäftsbuch der Sprache“ (Ts 213: 526) beschreibt und auf derselben Seite in einer Fußnote erörtert, wohlgemerkt mit Verweisen auf Wittgensteins Sprachgebrauch, das „in den Umbruchsjahren gewonnene Verständnis von ‚Grammatik’ und die Methode der grammatischen Untersuchungen […]“ bliebe „in der Spätphilosophie erhalten.“ (1996: 197) Dass sich Wittgensteins Sprachgebrauch von „Grammatik“ zwischen dem Big Typescript und den PU nicht ändert, wird indessen durch die vorliegende Untersuchung widerlegt (vgl. 4.1). Sedmaks Argumentation erweist sich daher als nicht stichhaltig. Hacker hat sicher mit seiner Auffassung recht, dass sich die Lektüre des Big Typescript als erhellend für das Studium des Grammatikbegriffs in den PU erweisen kann (Hacker 2012: 10), doch das impliziert nicht, dass Wittgensteins Grammatikbegriff im Big Typescript derselbe ist wie in den PU. (Ebd.: 12) Obgleich die Beobachtung richtig ist, dass sich Kontinuitäten zwischen Big Typescript und PU ausfindig machen lassen, sind andererseits auch Kontinuitäten bezüglich dem Big Typescript und den Bemerkungen 1930 nicht zu übersehen. Hacker ist sich dieser Inkonsistenzen im Big Typescript durchaus bewusst, lässt sie in seiner Darstellung jedoch absichtlich außen vor (Ebd.: 8).¹⁵⁶ Es ist ferner nicht der Fall,
„I have passed over various inconsistencies in the Big Typescript and disregarded those
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dass sich die Widersprüchlichkeiten im Big Typescript lediglich auf Bemerkungen beschränken, die Wittgenstein aus seiner phänomenologischen Phase ins Big Typescript übernommen hat. (Ebd.) Gegen diese These spricht beispielsweise, dass Wittgenstein seine Auffassung von Grammatik als einem reinen Kalkül, d.i. einem vollständigen System von allgemeinen Regeln des Sprachgebrauchs (vgl. 3.1) – die nicht zu seiner Auffassung von Grammatik in den PU passt, jedoch im Big Typescript sehr präsent ist –, frühestens im Jahr 1931 entwickelt, nachdem er sein phänomenologisches Projekt weit hinter sich gelassen hatte.¹⁵⁷ Schließlich halte ich es, im Gegensatz zu Hacker, für unabdingbar, Wittgensteins Hadern mit seinen alten Ideen einerseits und seinem Zögern hinsichtlich seiner neuen Ideen andererseits im Big Typescript zu beleuchten, um sein Grammatikverständnis in den PU nachvollziehen zu können. Freilich wäre dies nicht im Sinne von Hackers „present purpose“ in seinem Essay, in dem es darum geht, zu zeigen, dass sich Wittgensteins Grammatikverständnis zwischen Big Typescript und PU gerade nicht wesentlich verändert hat. Bereits in seinem dazugehörigen Abstract behauptet er: „On all important matters, his conception of grammar and of grammatical investigations, of grammatical statements or propositions and of grammatical clarification did not change between the Big Typescript and the Investigations.“ (Hacker 2012: 1) Wenn er dies zeigen will, in seiner Darstellung jedoch sowohl die Inkonsistenzen im Big Typescript als auch Wittgensteins „Kampf“ mit der Entstehung neuer Ideen und der gleichzeitigen Aufgabe seiner alten ausdrücklich vernachlässigt, verwundert es nicht, dass am Ende seines Essays als Ergebnis genau das herauskommt, was gezeigt werden soll. In gewisser Weise ist der Unterschied zwischen Hackers Auffassung des Grammatikbegriffs in Big Typescript und PU und meiner hier vorgeschlagenen
remarks that are no more than the decaying corpse of Wittgenstein’s phenomenological reflections in 1929/30. For these rapidly disappear from his thought after the Big Typescript, long before the composition of the first draft of the Investigations in 1936/37. I have also not paused to examine Wittgenstein’s hesitations with the emerging ideas and struggles with the residues of old ones – that would be too lengthy a task and to little present purpose. Rather, I have focused on those elements of his reflections on grammar and meaning, and on his new method of philosophical investigation that, as I shall now show, remain constant. It is these that are of pivotal importance for the understanding of the Philosophical Investigations and for his later work on the philosophy of mathematics (between 1937 and 1944).“ (Hacker 2012: 8) Für Hacker zieht sich die phänomenologische Phase jedoch offenbar bis ins Jahr 1930 (vgl. das Zitat in Anm. 156 dieses Kapitels), was wiederum ohne eine Erklärung schwer nachvollziehbar ist. Doch selbst wenn sich Hacker auf die Bemerkungen aus den Jahren 1929/30 als Quelle der Inkonsistenzen zwischen Big Typescript und PU beschränken will, ist Wittgensteins Entwicklung der „Grammatik als reiner Kalkül“-Auffassung ein Gegenbeispiel, denn diese Entwicklung fällt nicht in diese Zeit.
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Interpretation gar nicht so groß, wie man infolge dieser Ausführungen annehmen könnte. Eine von Hackers Schlussfolgerungen ist nämlich, dass bezüglich Wittgensteins Verständnis von Grammatik kein Wandel in den Jahren 1936/37 stattgefunden hat: „We may conclude that there is no fundamental change in 1937, or indeed later, in the salient features of Wittgenstein’s conception of grammar, of philosophy as a grammatical investigation, or of philosophical problems as au fond grammatical ones.“ (Hacker 2012: 12) Auch meiner Auffassung zufolge hat in den Jahren 1936/37 kein solcher Wechsel stattgefunden. Hacker fährt fort: „There are obvious changes: in the Big Typescript, he was still occasionally prone to conceive of language as a calculus of rules, and hence of grammar as rules of a calculus – but that had virtually disappeared long before he wrote the Investigations (it was no more than some of the eggshells of his old views still clinging to his ideas in 1931).“ (Ebd.) Hacker führt hier also selbst das Beispiel von Wittgensteins Kalkül-Auffassung von Sprache an und widerspricht sich damit selbst, da die Entwicklung derselben nicht in die phänomenologische Phase fällt, die er 1929/30 verortet hatte. Er hat indessen recht, dass Wittgenstein die Kalkül-Auffassung von Sprache lange vor dem Beginn seiner Arbeit an den PU aufgegeben hat, denn dieser Übergang ist bereits im Brown Book Korpus vollzogen. Dies ist in der Tat eine wesentliche Verschiebung, die in dem Zeitraum zwischen Big Typescript und PU stattfindet. Trotz dieser Sachlage, die Hacker selbst anführt, schließt er, dass Wittgensteins Grammatikverständnis in Big Typescript und PU im Wesentlichen dasselbe sei. Genau hier liegt der größte Unterschied zwischen seiner und meiner Lesart. Wittgenstein hat seine Kalkül-Auffassung von Sprache, um bei diesem Beispiel zu bleiben, nicht verworfen, bevor er mit der Arbeit am Big Typescript begonnen hat. Sie gehört zwar tatsächlich zu den „Eierschalen“ seiner alten Sichtweise, doch das Küken ist erst nach der Entstehung des Big Typescript, spätestens mit Wittgensteins Arbeit am Brown Book, geschlüpft. Da sich dieser Wechsel also zwischen der Entstehung des Big Typescript und den PU vollzogen hat, kann Wittgensteins Grammatikverständnis in den PU nicht dasselbe wie im Big Typescript sein. Im Folgenden werde ich die wesentlichen Verschiebungen bezüglich Wittgensteins Grammatikverständnisses zwischen den Bemerkungen 1930, dem Big Typescript, dem Brown Book und schließlich den PU darlegen. Am Ende dieses Abschnitts soll eine der Fragen beantwortet werden, die sich aus der philologischen Betrachtung des ersten Kapitels dieser Untersuchung ergeben hatten: Warum verwendet Wittgenstein den Begriff der Grammatik in den PU deutlich weniger als im Big Typescript , und warum verschiebt sich sein Gebrauch von „Grammatik“ von Grammatik im allgemeinen zu Grammatik im partikulären Sinn?
3.3 Verschiebungen
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3.3.1 Grammatik, Sprachgebrauch, Bedeutung eines Wortes Wie im zweiten Kapitel dargelegt, hat sich Wittgensteins Auffassung von Grammatik aus seinem Begriff der logischen Syntax entwickelt: Grammatik in den Bemerkungen 1930 steckt den Rahmen der möglichen, d. h. sinnvollen Verwendungsweisen von Worten ab. Aus dem logischen Raum war ein grammatischer geworden, der alle möglichen Verwendungsweisen der Worte einer Sprache definiert. Ende Januar 1931 beginnt Wittgenstein sich jedoch zu fragen „[w]ie aber […] der Zusammenhang des Gebrauchs der Sprache und der Regeln der Grammatik/der grammatischen Regeln“ sei (Ms 109: 280).¹⁵⁸ Er antwortet darauf nicht, wie man zu Recht vermuten könnte, der Zusammenhang sei derart, dass die grammatischen Regeln den sinnvollen Gebrauch der Wörter einer Sprache bestimmen. Stattdessen formuliert er eine Frage: „Soll ich sagen, die Regeln der Grammatik seien die Regeln, nach denen (d. h. in Übereinstimmung mit denen/welchen) das Sprechen einer Gruppe von Menschen tatsächlich/erfahrungsgemäß vor sich geht?“ (Ms 109: 280). Diese Überlegung fügt dem normativen Charakter der Grammatik, d.i. der Grenzziehung zwischen Sinn und Unsinn, einen deskriptiven Charakter hinzu: Wenn die grammatischen Regeln diejenigen Regeln sind, denen gemäß die Sprecher einer Sprache sprechen, lassen sich die grammatischen Regeln anhand des tatsächlichen Sprachgebrauchs ablesen und beschreiben. In der Tat notiert Wittgenstein am 30. Januar 1931: Ist die Grammatik nur die Beschreibung der tatsächlichen Handhabung der Sprache? So dass ihre Sätze eigentlich wie Sätze einer Naturwissenschaft aufgefasst werden könnten? Das ist dann aber nicht die descriptive [sic.] Wissenschaft des Denkens, sondern des Sprechens. (Ms 109: 281)
Diese Bemerkung wird schließlich Eingang ins Big Typescript finden (Ts 213: 408).¹⁵⁹ Wittgenstein gibt zwar weder in Ms 109 noch im Big Typescript eine direkte Antwort auf seine Frage, doch eine Reihe anderer, nach Januar 1931 entstandenen Bemerkungen belegen, dass er sie letztlich mit „Ja“ beantworten wird.
Das ist, wie Engelmann bemerkt, kurz nachdem Wittgenstein begonnen hatte, sich regelmäßig mit Pierro Sraffa zu treffen (2013b: 117). Wittgenstein übernimmt diese Bemerkung in Ts 211 (141), Ts 212 (1108) und Ts 213 (408). Erst in Ts 212 fügt er handschriftlich die Worte „wie ich das Wort gebrauche“ hinter „Grammatik“ hinzu. Diese Ergänzung übernimmt er in Ts 213, worin sie gestrichelt unterstrichen bleibt. Der Zusatz ließe sich so erklären, dass Wittgenstein durch seine Einsicht in den Zusammenhang von Grammatik und Sprachgebrauch erkennt, dass sein Gebrauch des Wortes „Grammatik“ nicht (mehr) dem gewöhnlichen entspricht.
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Ein früher Hinweis darauf findet sich in seinen Notizen vom 20. Juni 1931: „Die Philosophie darf den wirklichen/tatsächlichen Gebrauch der Sprache in keiner Weise antasten, sie kann ihn am Ende also nur beschreiben. Denn sie kann ihn auch nicht begründen. Sie lässt alles, wie es ist.“ (Ms 110: 188) Hierbei handelt es sich um eine Bemerkung, die Wittgenstein sowohl ins Big Typescript (Ts 213: 417) als auch in die PU (PU 124) übernehmen wird. Doch ist darin von der Aufgabe der Philosophie die Rede, nicht explizit von Grammatik. Spätestens am 02. März 1932 wird jedoch klar, wie eng Wittgenstein Grammatik an den tatsächlichen Sprachgebrauch knüpft: „Es kommt eben wieder auf die Grammatik des Wortes ‚Übereinstimmung‘ an, auf seinen Gebrauch.“ (Ms 113: 48r; vgl. Ts 213: 204) Dies ließe sich einerseits so deuten, dass die Begriffe „Grammatik“ und „Gebrauch“ gegeneinander austauschbar sind; andererseits könnte man den Satz auch elliptisch verstehen und sagen, es komme auf die Grammatik des Wortes „Übereinstimmung“ an, nämlich auf die Beschreibung seines Gebrauchs. In beiden Fällen ist es der tatsächliche Sprachgebrauch, den wir betrachten müssen – nicht etwa den Ort dieses Begriffs im grammatischen Raum –, um etwas über den Begriff der Übereinstimmung zu erfahren. Eine noch eindeutigere Formulierung liegt schließlich in Ms 140 aus dem Jahr 1934 vor: „Die Grammatik beschreibt den Gebrauch der Wörter in der Sprache“ (Ms 140: 15r), und auch in den PU heißt es: „Die Grammatik sagt nicht, wie die Sprache gebaut sein muss, um ihren Zweck zu erfüllen, um so und so auf Menschen zu wirken. Sie beschreibt nur, aber erklärt in keiner Weise, den Gebrauch der Zeichen“ (PU 496). Im Brown Book lässt sich ferner jede Instanz von „Grammatik“ durch das Wort „Gebrauch“ ersetzen, was die enge Verknüpfung von Grammatik und Gebrauch unterstreicht und auf die Spitze treibt: Der Begriff der Grammatik wird nahezu unnötig, denn es lässt sich schlicht vom Sprachgebrauch reden (vgl. 3.2). Wittgensteins Grammatikverständnis verschiebt sich demzufolge von der Auffassung von Grammatik als Möglichkeitsraum des sinnvoll-Sagbaren zu der Auffassung von Grammatik als Beschreibung des Sprachgebrauchs. Diese möglicherweise von Pierro Sraffa angeregte Verschiebung wirkt sich ebenfalls auf seine Auffassung von der Bedeutung eines Wortes aus.¹⁶⁰ Zunächst hatte Witt-
Auf den Einfluss Sraffas auf Wittgensteins Denken sowie die in diesem Zusammenhang erhellenden Untersuchungen Kienzlers (1997, 2006a) und Engelmanns (2013a, 2013b) wurde in Abschnitt 3.1 bereits verwiesen. Kienzler betont, dass Wittgenstein „zu einer gewandelten Perspektive der Betrachtung der Philosophie gelangt ist, in der der Aspekt des Gebrauchs eine zentrale Stellung einzunehmen beginnt (Sraffa).“ (1997: 55; vgl. ebd. 230) Wittgensteins Auffassung der Bedeutung soll im Rahmen dieser Arbeit nicht im Detail diskutiert werden.Vielmehr soll an dieser Stelle auf verschiedene Formulierungen hingewiesen werden.
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genstein die Bedeutung eines Wortes als dessen Ort oder Platz im grammatischen Raum bestimmt. Sie findet sich bereits in seinen Notizen vom Oktober 1930: „Die Bedeutung eines Zeichens ist das ganze Symbol, zu dem das Zeichen gehört. Oder man könnte sagen, sie ist der Platz im grammatischen Raum, an dem es steht.“ (Ms 109: 174 f) Im Big Typescript wird schließlich „Bedeutung, der Ort des Wortes im grammatischen Raum“ (Ts 213: 30) zur Überschrift des achten Abschnitts. Auch Moores Aufzeichnungen zufolge hat Wittgenstein in seiner Vorlesungen am 01. Juni 1931 die Bedeutung eines Wortes als seinen Ort in einem grammatischen System definiert: „Meaning is fixed in language. […] The meaning is the place of the word in a grammatical system.“ (MWN 151) Diese Auffassung der Bedeutung wird Wittgenstein noch einige Zeit nach der Entstehung des Big Typescript beibehalten. So findet sich etwa der Satz „Der Ort eines Wortes in der Grammatik ist seine Bedeutung“ in Ms 114ii: 179, Ms 116: 30 und Ms 140: 15r. Es ist allerdings der Fall, dass Wittgenstein eine derartige Formulierung in kein nach Ts 213 entstandenes Typoskript übernimmt. Das letzte Vorkommnis im Nachlass befindet sich in Ms 116 auf Seite 30 und ist ein Teil der Bemerkungen, die, gemäß Himlys schlüssiger Argumentation, Wittgenstein im Herbst 1937 notiert hat.¹⁶¹ Von da an charakterisiert Wittgenstein die Bedeutung eines Wortes konsequent als dessen Gebrauch in der Sprache. Bemerkenswert ist im Zusammenhang dieser Entwicklung auch, dass Wittgenstein an mindestens drei Stellen im Nachlass beide Auffassungen der Bedeutung eines Wortes nebeneinander stellt, so 1933: Ich will erklären: Der Ort eines Wortes in der Grammatik ist seine Bedeutung. Ich kann aber auch sagen: Die Bedeutung eines Wortes ist das, was die Erklärung der Bedeutung erklärt. Die Erklärung der Bedeutung erklärt den Gebrauch des Wortes. Der Gebrauch des Wortes in der Sprache ist seine Bedeutung. (Ms 114: 179)
und 1934: Ich will erklären: der Ort eines Wortes in der Grammatik ist seine Bedeutung. Ich kann aber auch sagen: Die Bedeutung eines Wortes ist das was die Erklärung der Bedeutung erklärt. […] Die Erklärung der Bedeutung erklärt den Gebrauch des Wortes
„The selection and revision of remarks from TS 213 which we find in MS 116, pp. 1– 135, can therefore be precisely dated to autumn 1937, during Wittgenstein’s stay in Norway.“ (Hilmy 1987: 33) Für Hilmys Argumentation vgl. ebd. 25 – 39.
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Der Gebrauch des Wortes in der Sprache ist seine Bedeutung. Die Grammatik beschreibt den Gebrauch der Wörter in der Sprache. Sie verhält sich also zur Sprache ähnlich wie die Beschreibung eines Spiels, wie die Spielregeln zum Spiel. (Ms 140: 15r)
Wittgenstein scheint hier nach der Ausdrucksweise zu suchen, die ihn zufrieden stimmt, und gibt dabei seine Redeweise von der Bedeutung als Ort im grammatischen Raum nicht auf. Zumindest in Bezug auf die Bedeutung eines Wortes bleibt seine Vorstellung von der Grammatik (im allgemeinen Sinn) als Möglichkeitsraum folglich weiterhin erhalten. Auf die dritte und letzte Nebeneinanderstellung beider Auffassungen von Bedeutung stoßen wir in seinen Notizen aus dem Jahr 1936 auf einer Manuskriptseite, die den Eindruck einer Gliederung erweckt:¹⁶² Bedeutung = Gebrauch. Bedeutung = Ort im grammatischen Raum (Ms 152: 45)
Beide Auffassungen scheint er hier weiter ausführen zu wollen. Nach Herbst 1937 wird Wittgenstein die Bedeutung eines Wortes nicht mehr als Ort im grammatischen Raum, sondern lediglich als Gebrauch in der Sprache beschreiben. Bereits 1934 formuliert er eine Bemerkung, die allein auf diese Auffassung von Bedeutung verweist: „die Grammatik dieses Wortes ist nicht die eines ‚Bewusstseinszustandes‘, sondern eine andere. Und, sie kennen zu lernen, ist nur ein Mittel: nachzusehen, wie das Wort tatsächlich gebraucht wird“ (Ms 140: 28). Die aus den PU bekannte Bemerkung: „Man kann für eine große Klasse von Fällen der Benützung des Wortes ‚Bedeutung‘ – wenn auch nicht für alle Fälle seiner Benützung – dieses Wort so erklären: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache“ (PU 43) stammt ferner ursprünglich aus der Urfassung der PU, die 1936/37 entstanden ist (Ms 142: 36).¹⁶³
Diese Listen in Ms 152 deutet Pichler (2014: 173) als Entwürfe und Anordnungsvorschläge für seine Bemerkungen in Ms 142. Für eine Deutung von PU 43 vgl. Giesewetter 2014. Es ist oft diskutiert worden, für welche Fälle der Benützung von „Bedeutung“ Wittgenstein diese Charakterisierung ausschließen möchte. Die Antwort darauf scheint mir sehr einfach zu sein: sie trifft nicht für Verwendungen von „Bedeutung“ im Sinne von „Bedeutsamkeit“, also „Wichtigkeit“, zu. Beide Begriffe stellt Wittgenstein in einer weiteren Bemerkung nebeneinander, die sich u. a. im Big Typescript findet und in welcher er auf Tolstoi verweist (vgl. Ts 213: 406). Dies zeigt zumindest, dass er sich der Doppeldeutigkeit von „Bedeutung“ durchaus sehr bewusst war.
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Festzuhalten bleibt erstens, dass, trotz Wittgensteins verhältnismäßig langer Nebeneinanderstellung der Auffassung der Bedeutung eines Wortes zum einen als dessen Ort im grammatischen Raum und zum anderen als dessen Gebrauch in der Sprache (oder dessen Beschreibung), die Redeweise vom „grammatischen Raum“ und „Ort in der Grammatik“ sowohl im Brown Book Korpus als auch in den PU vollkommen verschwindet und auch in seinen späteren Schriften nicht mehr vorkommt. Zweitens ist es keineswegs der Fall, wie nun deutlich geworden sein sollte, dass Wittgenstein den Begriff der Grammatik von Beginn an als die Beschreibung des Sprachgebrauchs aufgefasst hat, sondern dass diesbezüglich eine allmähliche Entwicklung seiner Auffassung stattgefunden hat. Diese Entwicklung verläuft im Zusammenhang mit seiner Aufgabe der Arbeit an einer Theorie der Grammatik, die Gegenstand des folgenden Abschnitts sein wird.
3.3.2 Das Ende der Theorie Die Erkenntnis, dass die Grammatik nicht vollständig ist, veranlasst Wittgenstein keineswegs dazu, „das Regelsystem in unerhörter Weise verfeinern oder komplettieren/vervollständigen“ zu wollen (Ts 213H: 257v). Er bleibt vielmehr bei seiner Untersuchung der Umgangssprache, wie sie ist: „Untersuchen wir die Sprache auf ihre Regeln hin. Hat sie dort und da keine Regeln, so ist das das Resultat unsrer Untersuchung.“ (Ts 213: 254) Ziel seiner Untersuchung ist es nach wie vor,¹⁶⁴ „Verwirrungen und Beunruhigungen [zu] beseitigen, die aus der Unübersichtlichkeit des Regelsystems herrühren/die aus der Schwierigkeit herrühren, das System zu übersehen“ (Ts 213H: 257v)¹⁶⁵ – nach wie vor ist er darum bemüht, „das erlösende Wort zu finden“ (Ts 213: 409). Wittgensteins kontinuierliches Streben nach der Erlösung von quälenden philosophischen Fragen bleibt also erhalten, während gleichzeitig im Big Typescript, bzw. in den zugrundeliegenden Manuskriptquellen ab 1931, eine folgenreiche Änderung in seinem Denken eingeleitet wird, die seinen philosophischen Ansatz betrifft. Im August 1930 hatte er noch von der „Theorie der Grammatik“ (Ms 109: 18) gesprochen und bis zum November desselben Jahres den Ausdruck „meine Theorie“ verwendet (Ms 105: 21, 23; Ms 106: 111, 120, 184, 278; Ms 107: 7, 294; Ms 109: 128; Ts 209: 9).¹⁶⁶ Wir können demnach davon ausgehen, dass er tatsächlich an einer Theorie gearbeitet hat. Dies widerspricht keineswegs seinem Vgl. hierzu die Einleitung zu dieser Arbeit. Vgl. ebenso Ts 213H: 66v. Darüber hinaus hatte er im März 1930 die Grammatik in Anlehnung an Russell eine „Theory of logical types“ genannt (Ms 108: 104; Ts 209: 3; vgl. 2.3.3).
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Vorhaben, sprachliche Missverständnisse aufzudecken, das er schon im TLP verfolgte, denn diese Missverständnisse ließen sich vermittels des Verweises auf eine Theorie als solche entlarven. Doch spätestens mit seiner Kritik des Allgemeinheitsbegriffes beginnt Wittgenstein, sich aus dem Bereich des Theoretisierens zu entfernen. Sein Übergang vom Allgemeinen zum Besonderen ist damit auch ein Übergang vom Theoretischen zum Nicht-Theoretischen, das er später „Therapie“ nennen wird:¹⁶⁷ „Es gibt nicht eine Methode der Philosophie, wohl aber gibt es Methoden, gleichsam verschiedene Therapien.“ (PU 133)¹⁶⁸ Wittgensteins allmählicher Übergang von Grammatik als Möglichkeitsraum zu Grammatik als Beschreibung des Sprachgebrauchs, der im vorherigen Abschnitt dargestellt wurde, ist mit seiner Abkehr von der Theorie eng verknüpft. Die „Theorie der Grammatik“ war die Theorie eines vollständigen grammatischen Möglichkeitsraums, der die sinnvollen Verwendungsweisen der Worte einer Sprache festlegt. Es ist zum einen Wittgensteins Einsicht der Unvollständigkeit der Grammatik, zum anderen seine Einsicht, dass grammatische Regeln in den meisten Fällen nicht notwendig allgemeine Regeln sind – und es auch nicht sein brauchen –, die dem theoretischen Konstrukt eines vollständigen grammatischen Systems der Grammatik seinen Boden entziehen und damit an den Grundfesten des Begriffs der Grammatik rütteln: die Grammatiken der einzelnen Teile unserer Sprache sind weder vollständig geregelt, noch enthalten sie allgemeine Regeln des Sprachgebrauchs. Da es jedoch im Begriff der Theorie liegt, allgemeine Regeln bzw. Gesetzmäßigkeiten aufzuzeigen, setzt eine „Theorie der Grammatik“ die Möglichkeit allgemeiner Regeln voraus. Das theoretische Konstrukt einer Grammatik, die den Möglichkeitsraum des Gebrauchs von Wörtern einer Sprache absteckt, beginnt zu bröckeln, weil dieser Möglichkeitsraum erstens sich als unvollständig erweist und zweitens aufgrund der Nicht-Allgemeingültigkeit der Regeln keinen Allgemeinheitsanspruch für den sinnvollen Gebrauch der Wörter einer Sprache haben kann. Infolgedessen wird die Theorie der Grammatik allmählich durch die Grammatik als Beschreibung des Sprachgebrauchs ersetzt. Anstatt im konkreten Fall eines sprachlichen Missverständnisses auf die Grammatik im Sinne eines allgemeinen, theoretischen Konstrukts zu verweisen, lässt sich lediglich aufzeigen, dass hier ein bestimmtes Wort in einer Art und Weise gebraucht wurde, wie wir es
Pichler spricht in diesem Zusammenhang von „dogmatisch“ und „undogmatisch“: „Die philosophische Untersuchung hätte spätestens seit dem Sommer 1931 undogmatisch sein sollen; tatsächlich war sie 1929 – 1936 nicht undogmatisch, sondern durchaus dogmatisch verfahren. Wittgenstein war für bestimmte, wenn auch im Laufe der Zeit verschiedene Theorien und Thesen eingetreten und hatte für diesen Zweck bestimmte Argumente entwickelt.“ (Pichler 2004: 17) Diese Bemerkung notiert Wittgenstein erstmals in Ms 116: 186 (frühestens September 1937).
3.3 Verschiebungen
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gewöhnlich nicht verwenden. Philosophie wird damit zu einem „Rückerinnern“: „Wir erinnern uns, dass wir die Worte wirklich auf diese Art und Weise gebraucht haben“ (Ts 213: 419), und „[w]ollte man Thesen in der Philosophie aufstellen, es könnte nie über sie zur Diskussion kommen, weil Alle mit ihnen einverstanden wären.“ (Ts 213: 419; vgl. PU 128). Solche „Thesen“ könnten nur Beschreibungen des tatsächlichen Gebrauchs von Wörtern darstellen, die niemand bestreiten möchte. Die „Lösung aller philosophischen Schwierigkeiten“ wird dadurch zwar „hausbacken und gewöhnlich/gewöhnlich und trivial“, doch wenn man „sie im richtigen Geist anschau[t], dann macht das nichts“ (Ts 213+H: 412). Im Big Typescript spricht Wittgenstein weder im positiven noch im negativen Sinn von seiner Philosophie als „Theorie“, doch wird im Text sowohl Wittgensteins Neigung zum Theoretisieren als auch seine allmähliche Distanzierung von der Theorie offenbar. An eine Theorie der Grammatik erinnert im Big Typescript etwa die Vorstellung von Grammatik als vollständiges „Geschäftsbuch“ der Sprache, als vollständiger Kalkül mit klar definierten Regeln, die den sinnvollen Gebrauch der Wörter einer Sprache festlegen. Ebenso kommt im Big Typescript die Auffassung der Bedeutung eines Wortes als Ort im grammatischen Raum zum Ausdruck. Ferner ist sich Wittgenstein im Big Typescript der Tatsache, dass wir in der Philosophie dazu neigen, allgemeine Regeln anzugeben, anstatt einzelne Missverständnisse zu klären, durchaus bewusst: Wenn man die Philosophie fragt: ‚was ist – z. B. – Substanz?‘, so wird um eine Regel gebeten. Eine allgemeine Regel, die für das Wort ‚Substanz‘ gilt, d. h.: nach welcher ich zu spielen entschlossen bin. – Ich will sagen: die Frage ‚was ist ….‘ bezieht sicht nicht auf einen besonderen – praktischen – Fall, sondern wir fragen von unserem Schreibtisch aus. (Ts 213: 415 f)
Eine allgemeine Regel zu finden wirkt beruhigend auf uns, „nachdem wir so schwer/ tief beunruhigt waren. Was uns beruhigt ist offenbar, dass wir ein System sehen, das diejenigen Gebilde (systematisch) ausschließt, die uns immer beunruhigt haben“ (Ts 213+H: 416).¹⁶⁹ Schließlich wird Wittgensteins Theoretisieren im Big Typescript in Bemerkungen wie etwa der folgenden deutlich, die er erstmals im Februar 1930 notierte (Ms 108: 88): „Der Satz ist vollkommen logisch analysiert, dessen Grammatik vollkommen klargelegt ist. Er mag in welcher Ausdrucksform immer hingeschrieben oder ausgesprochen sein.“ (Ts 213: 417) Die Nähe seiner Auffassung zur logischen Analyse vermittels der logischen Syntax im TLP wird darin besonders augenfällig. Im Big Typescript lautet die darauffolgende
Vgl. auch: „Die besondere Beruhigung, welche eintritt, wenn wir einem Fall, den wir für einzigartig hielten, andere ähnliche Fälle an die Seite stellen können […]“ (Ts 213: 416)
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3 Vom Allgemeinen zum Besonderen: Big Typescript und Brown Book
Bemerkung: „Unserer Grammatik fehlt es vor allem an Übersichtlichkeit“ (Ts 213: 417), eine Bemerkung, die sich bis ins Jahr 1929 zurückverfolgen lässt (vgl. 2.3). Was hier fehlt, ist die Übersicht über den grammatischen Raum, über die sinnvollen Verwendungsweisen der Wörter. Wittgensteins Zurückweisung der Theorie ist demgegenüber im Big Typescript etwa in der Bemerkung, die Philosophie dürfe den tatsächlichen Sprachgebrauch nicht antasten, sondern könne ihn nur beschreiben (Ts 213: 417), oder in der Bemerkung, dass es nie zu Uneinigkeiten über philosophische Thesen kommen könne, wenn man solche denn überhaupt aufstellen mag (Ts 213: 419), implizit enthalten. Beide Bemerkungen wird Wittgenstein später in die PU übernehmen (PU 124, 128), und beide Bemerkungen finden sich, ebenso wie die gerade zitierten Bemerkungen zur vollkommenen Analyse und fehlenden Übersichtlichkeit der Grammatik, im Philosophiekapitel des Big Typescripts, so dass darin Theorie und Abwendung von der Theorie unmittelbar nebeneinander stehen. Man könnte nun einwenden wollen, dass Wittgenstein auch die Bemerkung zur fehlenden Übersichtlichkeit der Grammatik in die PU übernommen hat (PU 122), so dass meiner Interpretation zufolge auch in den PU ein Theoretisieren im Hintergrund stehen müsse, welches ich gerade bestreiten will. Zu Wittgensteins Vorgehen in den PU wird im letzten Kapitel dieser Arbeit noch einiges zu sagen sein, was für die Antwort auf diesen Einwand von Relevanz ist. An dieser Stelle sei jedoch außerdem darauf hingewiesen, dass die Bemerkung in den PU nicht, wie im Big Typescript, „Unserer Grammatik fehlt es vor allem an Übersichtlichkeit“ lautet, sondern wesentlich erweitert worden ist. Sie beginnt wie folgt: „Es ist eine Hauptquelle unseres Unverständnisses, dass wir den Gebrauch unserer Wörter nicht übersehen. – Unserer Grammatik fehlt es an Übersichtlichkeit. – […]“ (PU 122) Demzufolge ist es der Gebrauch unserer Wörter, den wir gemäß den PU nicht übersehen; wir „kenne[n uns] nicht aus“ (PU 123) in unserem Sprachgebrauch. Es geht hier folglich nicht um eine fehlende Übersicht des grammatischen Raumes, sondern des Sprachgebrauchs. Ferner ist der Satz „Unserer Grammatik fehlt es an Übersichtlichkeit“ in PU 122 ein Einschub, der letztlich auch hätte weggelassen werden können, denn bis auf den Begriff der Grammatik enthält er nichts Neues: dass der Gebrauch unserer Wörter für uns unübersichtlich ist, sagt Wittgenstein bereits im ersten Satz von PU 122. „Grammatik“ ließe sich hier sogar gegen „Gebrauch unserer Wörter“ austauschen, so dass diese Bemerkung Wittgensteins Übergang von seiner Auffassung von Grammatik als Möglichkeitsraum zu seiner Auffassung von Grammatik als Beschreibung des Sprachgebrauchs, oder (elliptisch) als Sprachgebrauch, mehr unterstreicht als widerlegt. Letztendlich gehe ich davon aus, dass es sich bei dem Satz „Unserer Grammatik fehlt es an Übersichtlichkeit“ in den PU um ein Zitat Wittgensteins aus seinen früheren Schriften handelt, das auf die Albumstruktur der PU zurückzuführen ist (vgl. Kap. 4).
3.3 Verschiebungen
175
In seinem Kommentar zu den PU deutet Eike von Savigny (1988: 165) die fehlende Übersichtlichkeit in PU 122 als eine fehlende „Übersicht über Redeweisen wie die folgenden: ‘weiter östlich’, ‘in östlicher Richtung’, ‘in Richtung Osten’, ‘nach Osten’; ‘nach Wien fahren’, ‘nach Atlantis suchen’, ‘nach Utopia streben’, ‘nach Osten reiten’.“ „Grammatik“ in diesem Sinne meint unseren Sprachgebrauch, unsere Ausdrucksweise, nicht aber ein grammatisches System oder einen grammatischen Möglichkeitsraum. Folglich ist von Savignys Interpretation von PU 122 mit meiner hier vorgestellten Lesart im Einklang. Anders verhält es sich bei der Interpretation Peter Hackers.¹⁷⁰ In seiner überarbeiteten Version des analytischen Kommentars zu den PU widmet er PU 122 und dem Begriff der übersichtlichen Darstellung einen eigenen Aufsatz, in dem er die relevanten Nachlassstellen zu diesem Begriff zusammenstellt und erläutert (Baker & Hacker 2005a: 307– 334).¹⁷¹ Die Frage, was Wittgenstein in PU 122 unter „Grammatik“ versteht, ist für ihn nicht von Interesse, sondern vielmehr vor allem die Frage nach der Bedeutung des Begriffs der Übersichtlichkeit.¹⁷² Eines seiner Ergebnisse ist, dass „[b]roadly understood, a surveyable representation is a synopsis of the grammatical rules for the use of an expression“ (Baker & Hacker 2005a: 332). Grammatik ist seinem Verständnis nach – dies wird an anderen Stellen seines Kommentars deutlich¹⁷³ – untrennbar an die Regeln des Sprachgebrauchs sowie an die Trennung von Sinn und Unsinn geknüpft: Er versteht unter Wittgensteins Grammatik eine Menge oder ein System von Regeln für den sinnvollen Sprachgebrauch. Hat ein Wort keinen Gebrauch, so hat es auch keinen Sinn. Die Regeln des Sprachgebrauchs beschreibt er als deskriptiv, doch was sie beschreiben sei normativ. Ferner müsse man die Grammatik als Disziplin und die Ich beziehe mich hier nur auf Hacker, da ich überwiegend mit der neuen Edition des ursprünglich von Baker & Hacker gemeinsam verfassten Kommentars zu den PU arbeite, die Hacker ohne die Mitarbeit von Baker überarbeitet hat. In seiner Exegese von PU 122 verfährt er ebenso; vgl. Backer & Hacker 2005b: 259 ff. Folgende Fragen sind für Hacker relevant: „What exactly is meant by ‘an overview’? Why is our grammar lacking in surveyability? What is a surveyable representation? Where do we find examples of such representations in Wittgenstein’s work? What is an understanding that consists in seeing connections? Is the description of intermediate links part of the surveyable representation, or does it merely facilitate the understanding that the latter produces? What is meant by saying that this concept characterizes the way Wittgenstein looks at things, the form of account he gives? And why does he query whether adopting this form of representation is a ‘Weltanschauung’? These are the questions that must be addressed.“ (Baker & Hacker 2005a: 307) Vgl. etwa Baker & Hacker 2009: 19: „ [Philosophy] clarifies the grammar of our language, the rules for the construction of significant utterances, whose transgression yields nonsense“ und Baker & Hacker 2005a: 324: „Grammar determines what is logically possible, i. e. what it makes sense to say. It determines, as it were, logical space, the actual logical space within which we operate with our language – not, so to speak, a ‘possible’ logical space“.
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3 Vom Allgemeinen zum Besonderen: Big Typescript und Brown Book
Grammatik als den Gegenstand dieser Disziplin unterscheiden. Im Hinblick auf die Grammatik eines bestimmtes Wortes meint Hacker, sie sei ein Teil des Systems von Normen.¹⁷⁴ Damit setzt sich die Grammatik als Ganzes aus den Teilgrammatiken einzelner Worte zusammen, welche den sinnvollen Gebrauch dieser Worte und Ausdrücke festlegen. Demzufolge fehlt es nach Hacker in PU 122 sowohl dem grammatischen System als auch dem Sprachgebrauch an Übersichtlichkeit – beide Ausdrucksweisen sind mit seiner Interpretation vereinbar. Doch steht bei ihm das System der Grammatik, und damit die Grammatik im allgemeinen Sinn, deutlich im Vordergrund, und tatsächlich ist seiner Interpretation zufolge die Grammatik in den PU dieselbe wie im Big Typescript;¹⁷⁵ genau dafür argumentiert er in seinem letzten Aufsatz zu Wittgensteins Grammatikbegriff (2012).¹⁷⁶ Meiner Auffassung nach hat sich Wittgenstein jedoch seit dem Big Typescript bzw. den zugrundeliegenden Manuskriptquellen ab 1931 von einem solchen grammatischen System zu lösen begonnen. Dafür, dass Wittgenstein in den PU nicht mehr die Auffassung von Grammatik als einem aus grammatischen Regeln bestehenden System aufrechterhält, spricht auch die Tatsache, dass in den PU die Ausdrücke „Regel der Grammatik“ und „grammatische Regel“ nahezu gar nicht vorkommen, während sie hingegen im Big Typescript überaus präsent sind (vgl. Tab. 9 in Abschnitt 4.1.4). Das Aufstellen einer Theorie wird Wittgenstein frühestens im November 1936 ausdrücklich ablehnen: „Und wir dürfen keinerlei Theorie aufstellen. Es darf nichts Hypothetisches in unseren Betrachtungen sein. Alle Erklärung muss fort, und nur Beschreibung an ihre Stelle treten.“ (Ms 142: 102; vgl. PU 109).¹⁷⁷ Seine Redeweise von der Philosophie als Therapie beginnt kurz darauf, im Jahr 1937: „Es gibt nicht eine Methode der Philosophie, wohl aber gibt es Methoden, gleichsam verschiedene Therapien“ (Ms 116: 186). Diese Bemerkung zieht sich bis in die PU (133) und darüber hinaus in spätere Typoskripte (Ts 228: 38; Ts 230: 153). Eine
Diese Zusammenfassung verdanke ich einem persönlichen Gespräch mit Peter Hacker im September 2014 an der Universität Bergen, für das ich ihm herzlich danke. Mauro Engelmann (2011) diskutiert ebenfalls (Bakers und) Hackers Grammatikbegriff und stellt fest, dass „[a]rguably, what Baker and Hacker (or Hacker) say about the Philosophical Investigations fits well the Big Typescript.“ (95) Gleichzeitig erkennt Hacker, dass Wittgenstein seine Auffassung von Grammatik als Kalkül allmählich aufgibt: „From 1931 onwards Wittgenstein moved gradually away from the idea that beneath meaningful discourse lies a system of rules of a calculus towards recognition of the fact that speaking a language is a many-faceted, rule-governed array of activities.“ (Baker & Hacker 2009: 44 f) Trotz dieser Einsicht bleibt Grammatik Hacker zufolge ein regelgeleitetes System. Im gleichen Manuskript, zwölf Seiten zuvor, hatte Wittgenstein auch in Abgrenzung von den empirischen Wissenschaften im Imperfekt formuliert: „Alle Erklärung musste fort – und nur Beschreibung an ihre Stelle treten.“ (Ms 142: 90)
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Bemerkung vom Februar 1938 weist darauf hin, dass Wittgenstein möglicherweise die Therapie im Sinne Sigmund Freuds im Sinn hat:¹⁷⁸ „What we do is much more akin to psychoanalysis than you might be aware of“. (Ms 158: 34r) Dennoch ist zu betonen, dass, wie in der Einleitung zu dieser Arbeit erläutert wurde, der Aspekt der Therapie im Sinne der Befreiung von philosophischen Problemen und der Suche nach dem „erlösenden Wort“ ein Charakteristikum von Wittgensteins Philosophie seit dem TLP darstellt und hier nicht als eine wesentliche Änderung seines Ansatzes gesehen werden darf. Was sich hingegen grundlegend ändert ist, dass Wittgenstein nicht mehr im Hinblick auf eine Theorie der Grammatik „therapieren“ will, sondern im Hinblick auf die Beschreibung des Sprachgebrauchs.
3.3.3 Vom Allgemeinen zum Besonderen Zum Abschluss dieses Kapitels bleibt eine der Leitfragen klar zu beantworten, die sich aus der philologischen Untersuchung im ersten Teil ergeben hatte: Warum spricht Wittgenstein zu Beginn der 30er Jahre und im Big Typescript so häufig von Grammatik, vor allem im allgemeinen Sinn, während sein Gebrauch dieses Begriffs in den PU nicht nur radikal abnimmt, sondern sich auch in Richtung der Grammatik im partikulären Sinn verschiebt? Mein Vorschlag einer Antwort auf diese Frage ergibt sich aus der im zweiten und diesem Kapitel dargelegten Interpretation von Wittgensteins Schriften hinsichtlich seines Grammatikbegriffs. Vor diesem Hintergrund lässt sich diese Entwicklung so verstehen, dass Wittgenstein in seinen im Big Typescript zusammengestellten Bemerkungen seinem Versuch, eine „Theorie der Grammatik“ (Ms 109: 18) zu entwickeln, am nächsten gekommen war und sich nach der Arbeit am Big Typescript von einem solchen Vorhaben immer weiter entfernt. Zugleich enthält jedoch bereits das Big Typescript tiefgreifende Bedenken an einer (grammatischen) Theorie, so dass es als eine Umbruchstelle in Wittgensteins Denken verstanden werden kann. Bereits im Diktat an seine Schüler 1934, das uns heute als das Brown Book bekannt ist, verzichtet er sowohl auf jegliches Theoretisieren als auch weitestgehend auf den Begriff der Grammatik, sowie konsequent auf den Begriff der Grammatik im allgemeinen Sinn (vgl. 3.2). Zudem lassen sich, wie bereits gezeigt wurde, alle Instanzen von „Grammatik“ im Brown Book durch das Wort „Gebrauch“ ersetzen, so dass Wittgenstein in der Tat darin ohne Zu Wittgensteins Verhältnis zu Freud vgl. Majetschak (2010: 151): „Wittgenstein’s relationship with the works of Sigmund Freud, manifest in numerous remarks in the ‘Nachlass’, can only be described as ambivalent. His remarks alternate between admiring absorption and intense rejection of Freud’s thoughts.“
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den Begriff der Grammatik ausgekommen wäre. Die Annahme, dass er sich aufgrund seiner Einsichten während der Arbeit am Big Typescript immer weiter davon entfernt, eine Theorie aufzustellen – im Brown Book implizit durch seine Methode, in den PU explizit –, wird dadurch gestützt. Für die PU, an denen er viele Jahre gearbeitet hat, wählt Wittgenstein schließlich die Form eines Albums (vgl. Kap. 4). Eine „Theorie der Grammatik“ wird letztlich nicht nur nicht möglich, sondern auch nicht nötig sein, um sprachliche Missverständnisse aufzulösen, sondern es genügt, im besonderen Fall zur Klärung von Missverständnissen auf den Gebrauch der Sprache zu verweisen und ihn zu beschreiben: „Alle Erklärung muss fort und nur Beschreibung an ihre Stelle treten. Und diese Beschreibung erhält ihr Licht, d.i. ihren Zweck, von den philosophischen Problemen.“ (Ms 142: 102; PU 109) Wittgenstein braucht keine allgemeine Theorie der Grammatik zu vertreten, wenn er philosophische Probleme als Irreführungen der Sprache entlarven und behandeln will „wie eine Krankheit“ (Ms 116: 323; PU 255): „Es werden Probleme gelöst (Schwierigkeiten beseitigt), nicht ein Problem.“ (Ms 112: 47v; PU 133) Dabei genügt es, „im besonderen Fall Missverständnisse [zu] vermeiden!“ (Ms 142: 43; PU 48)¹⁷⁹
3.4 Zusammenfassung Um die Entwicklung von Wittgensteins Grammatikbegriff vom Big Typescript zum Brown Book Korpus nachzuzeichnen, war es wichtig, zunächst die Genese des Ts 213 zu erläutern und den Status des Big Typescripts im Gesamtnachlass zu diskutieren. Als Ergebnis wurde das Big Typescript als ein wichtiger Zwischenschritt auf Wittgensteins Weg zu einer Buchpublikation charakterisiert. Ob Wittgenstein dabei vorsah, genau diesen Text zu veröffentlichen, oder ob er ihn dazu verwendete, seine Gedanken zu ordnen, ist für die vorliegende Untersuchung letzt Dass es Wittgenstein um die philosophische Behandlung einzelner Missverständnisse geht, hat auch Sebastian Sunday Grève hervorgehoben, u. a. während seines Vortrags „If only we avoid misunderstanding in any particular case! – Wittgenstein: Philosophy as an Activity“ am 21.09. 2012 an der Universität Bergen. Seine wesentlichen Ergebnisse haben in überarbeiteter Form Eingang in seinen Essay „The Importance of Understanding Each Other in Philosophy“ (2015) gefunden, in dem er Wittgensteins und Sokrates’ philosophische Therapien in Zusammenhang miteinander bringt. Verbindungen zwischen den Methoden Sokrates’ und Wittgensteins haben wiederum auch James Klagge und James Conant betont: Klagge in seinem Vortrag „Socrates vs. Wittgenstein“ am 01.03. 2012 an der Universität Bergen, Conant in seinem Vortrag „Socrates or Wittgenstein?“ am 15.08. 2015 während des 38. Internationalen Wittgenstein Symposiums der ALWS in Kirchberg am Wechsel.
3.4 Zusammenfassung
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lich nebensächlich, wenn auch letzteres auf Grund der im Big Typescript enthaltenen offenkundigen Inkonsistenzen wahrscheinlicher scheint. Als Referenzsystem wurde Schultes Unterscheidung zwischen „Ts 213“ für den getippten Text und „BT“ für das Typoskript inklusive handschriftlicher Korrekturen und Ergänzungen übernommen. Ergänzend erlauben die in diesem Kapitel erläuterten Kürzel „Ts 213+H“ (handschriftlich bearbeitet), „Ts 213H“ (handschriftlich hinzugefügt) und „Ts 213X“ (durchgestrichen) ein präzises Zitieren. Die Gegenüberstellung von Ts 213 und dem BT zeigt, dass Ts 213 keinen konsistenten Text darstellt, der anschließend von Wittgenstein bearbeitet wurde, sondern dass Inkonsistenzen bereits in Ts 213 enthalten sind und sich im BT fortsetzen. Wittgensteins Korrekturen des Textes in Ts 213 sind fast ausschließlich sprachlicher, nicht inhaltlicher Art. Im Big Typescript fasst Wittgenstein Grammatik als einen reinen Kalkül auf, der nicht, wie in den Bemerkungen 1930, auf die Wirklichkeit angewendet wird und insofern autonom, willkürlich ist. Während Sätze weiterhin mit der Wirklichkeit verglichen werden, um über ihre Wahr- oder Falschheit zu entscheiden, ist Grammatik ein von der Wirklichkeit unabhängiger Kalkül, der über Sinn und Unsinn, jedoch nicht Wahr- und Falschheit eines Satzes entscheidet. Gleichzeitig weist Wittgenstein das Abbildungsverhältnis von Sprache und Wirklichkeit vehement zurück und fragt, wie wir den Ausdruck „übereinstimmen mit der Wirklichkeit“ alltäglich gebrauchen. Dies geht einher mit seiner Ablehnung jeglicher Metalogik, denn um eine Aussage über das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit zu treffen, müssten wir, was unmöglich ist, eine (metalogische) Position jenseits der Grenze der Sprache einnehmen. So bleibt ein Satz wie „Dieser Satz stimmt mit der Wirklichkeit überein“ ein Satz wie jeder andere unserer Sprache, den wir lediglich auf seinen Gebrauch hin, grammatisch, untersuchen können. Das Verhältnis von Grammatik und Logik stellt sich im Big Typescript derart dar, dass grammatische Regeln, oder auch grammatische Sätze, logische Notwendigkeiten bzw. Unmöglichkeiten ausdrücken. Das Wort „Logik“ gebraucht Wittgenstein hier im Sinne des Denkbaren, nicht im Sinne der formallogischen Disziplin, obgleich sich auch dieser Gebrauch von „Logik“ häufig im Big Typescript findet. Des Weiteren wird der Vergleich von Grammatik mit einem Kalkül im Big Typescript durch den Vergleich von Grammatik mit einem Spiel erweitert. Stand in den Bemerkungen 1930 das Schachspiel als Beispiel eines sowohl Kalküls als auch Spiels im Vordergrund des Vergleichs, wird es im Big Typescript durch andere Spiele wie Ballspiele, Tennis oder das Preisschießen ergänzt, denn obgleich Teile unserer Sprache einem solchen Kalkül entsprechen, gilt dies nicht für die Sprache insgesamt. Diese Überlegung ebnet den Weg für Wittgensteins Begriff des „Sprachspiels“, der im Big Typescript jedoch kaum vertreten ist. Zum einen begegnet uns im Big Typescript Grammatik als vollständiger Kalkül – als vollständiges System, als vollständiges Geschäftsbuch der Sprache –, das den gramma-
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3 Vom Allgemeinen zum Besonderen: Big Typescript und Brown Book
tischen Raum des sinnvoll-Sagbaren umschreibt. Zum anderen stellt Wittgenstein fest, dass unsere Sprache nicht überall von Regeln begrenzt ist, was die Unvollständigkeit dieses Kalküls, Systems, Geschäftsbuches oder der Begrenzung dieses Raumes impliziert. Notiert Wittgenstein in Ts 213, er mache sich anheischig, das System der Grammatik vollständig darzustellen, so kehrt er in einer handschriftlichen Bemerkung diesen Satz ins genaue Gegenteil. Tatsächlich enthalten beide, Ts 213 und die handschriftlichen Ergänzungen, Behauptungen sowohl der Vollständigkeit als auch der Unvollständigkeit der Grammatik. Wittgenstein entwickelt im Big Typescript nicht nur eine Skepsis gegenüber dem Aufstellen aller grammatischen Regeln, sondern auch gegenüber dem Angeben allgemeiner Regeln. Das Wort „alle“ nütze nichts, wenn man die Grammatik im jeweils konkreten Fall nicht kenne. Statt allgemeiner Regeln gibt es nur Regeln über allgemeine Zeichen. Das Big Typescript zeichnet sich folglich dadurch aus, dass es sowohl Bemerkungen aus den Jahren 1929/30 enthält, als auch Bemerkungen, die Gedanken der PU vorwegnehmen. Insbesondere sein Zweifeln an der Vollständigkeit der Grammatik und seine Skepsis gegenüber der Möglichkeit allgemeiner Regeln bringen Wittgenstein schließlich dazu, seine Auffassung von Grammatik als einem vollständigen Möglichkeitsraum, der die Bedeutung von Wörtern bestimmt und über Sinn und Unsinn entscheidet, zugunsten einer Grammatik als Beschreibung des Sprachgebrauchs im jeweils konkreten Fall aufzugeben. Im Brown Book Korpus ist diese Entwicklung bereits vollzogen. Dies ist daran erkennbar, dass Wittgenstein ohne den Begriff der Grammatik ausgekommen wäre, hätte er ihn jeweils durch den Begriff des Gebrauchs ersetzt. Diese Tatsache wurde in Abschnitt 3.2 ausführlich erläutert. Außerdem wurde im selben Abschnitt dargelegt, dass die Bemerkungen, die die Wort „Logik“ bzw. „logic“ oder eines ihrer Derivate enthalten, im Brown Book Korpus als Ablehnung der strengen logischen Methode verstanden werden können. Mit dieser Entwicklung gehen einige Verschiebungen in Wittgensteins Denken einher, die in Abschnitt 3.3 dargelegt wurden: (1) Die Verschiebung von der Bedeutung eines Wortes als Ort im grammatischen Raum zu der Bedeutung eines Wortes als sein Gebrauch in der Sprache. (2) Die Verschiebung von einer „Theorie der Grammatik“ zu der Behandlung sprachlicher Missverständnisse im jeweils konkreten Fall – beiden Methoden ist das Ziel der Erlösung von quälenden philosophischen Fragen gemein. (3) Die Verschiebung von Grammatik im allgemeinen zu Grammatik im partikulären Sinn, die bereits im ersten Kapitel aufgedeckt wurde. Die Darlegungen in diesem Kapitel bieten eine Erklärung dieser Entwicklung von Wittgensteins Gebrauch von „Grammatik“ an. Alle diese Verschiebungen haben ihren Ursprung in den Bemerkungen 1929/ 30 und enden im Brown Book Korpus. In den PU behält Wittgenstein seine Auf-
3.4 Zusammenfassung
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fassung von Grammatik des Brown Book Korpus bei. Das Big Typescript stellt bei dieser Entwicklung einen wichtigen Zwischenschritt dar, in dem Altes und Neues zusammenkommt. Weder wird im Big Typescript das Alte komplett überwunden, noch wird das Neue vollständig umgesetzt.
4 Die Philosophischen Untersuchungen und Wittgensteins späte Manuskripte 4.1 Grammatik in den PU Die Entwicklung des Grammatikbegriffs, wie er uns in den PU begegnet, ist mit Wittgensteins Arbeit am Brown Book Korpus abgeschlossen. Wenn er seinen Versuch einer Umarbeitung verwirft und mit der Arbeit an Ms 142, der „Urfassung“ der PU beginnt, nimmt er seine Brown Book-Auffassung von Grammatik mit in die PU.¹ Diese These verlangt eine Erklärung, da Wittgenstein in den PU „Grammatik“ erneut im allgemeinen Sinn verwendet, was auf den ersten Blick gegen sie spricht. Die Erklärung wiederum hängt wesentlich mit meinem Verständnis der PU als einem polyphonen Album (Pichler 2004: 12) zusammen, in dem Wittgenstein Bemerkungen und Gedanken aus früheren Jahren nebeneinanderstellt und miteinander in Beziehung setzt. Folglich werde ich in diesem Abschnitt diese Lesart der PU zusammenfassen und darüber hinaus einen kurzen Blick auf die Grammatikbemerkungen der PU, insbesondere ihre Quellen im Nachlass, werfen. Es mag Leser geben die diese Begründung des Vorkommens von „Grammatik“ in den PU nicht akzeptieren, weil ihnen die Auffassung der PU als einem Album nicht genügt, oder weil sie mit dieser Auffassung gar nicht einverstanden sind. Ihnen möchte ich zunächst antworten, dass Wittgensteins Ablehnung der Theorie, wie in 3.3 beschrieben, ernst zu nehmen ist, und dass daher, wenn man sie ernst nimmt, theoretische Interpretationen der PU weitestmöglich zu vermeiden sind. Welchen Grund hätte Wittgenstein auch gehabt, sein altes theoretisches Konstrukt von Grammatik als Möglichkeitsraum, das er selbst aus den Angeln gehoben hat, mit einem Mal wieder zu behaupten und anzuwenden? Darüber hinaus möchte ich ergänzen, dass Wittgenstein in der Urfassung der PU, d. h. deren ersten 188 Bemerkungen, nur zweimal „Grammatik“ im allgemeinen Sinn verwendet: PU 29 und 122. Beide Bemerkungen lassen sich bis ins Big Typescript zurückverfolgen, wie noch gezeigt werden wird. Bei PU 122 handelt es sich um die Bemerkung, die die fehlende Übersichtlichkeit „unserer Grammatik“ konstatiert, und die bereits in 3.3.2 diskutiert wurde. In PU 29 schreibt Wittgenstein: „Denn das Wort ‚Zahl‘ zeigt hier an, an welchen Platz der Sprache, der Grammatik, wir das Wort setzen.“ Wie in PU 122 ist Meine Ergebnisse unterstreichen und ergänzen damit die von Mauro Engelmann. Auch er stellt fest: „So ‘grammar’, as in the BrB [Brown Book], means merely our use of words in their surroundings or the description of such a use compared to other uses. Nothing of the ‘old grammar’ is in place in the PI.“ (2013b: 261 f) https://doi.org/10.1515/9783110565164-008
4.1 Grammatik in den PU
183
„Grammatik“ hier eingeschoben und der Satz wäre auch ohne das Wort „Grammatik“ vollständig. „Grammatik“ scheint vor allem das Wort „Sprache“ an dieser Stelle zu illustrieren. Auch ein Austausch von „Grammatik“ durch „Sprachgebrauch“ ist, wie in PU 122, denkbar. Für das Verständnis von PU 29 ist der Begriff der Grammatik somit nicht zentral. Sowohl Peter Hacker (Baker & Hacker 2005b: 103) als auch Eike von Savigny (1988: 66) scheinen diese Auffassung zu teilen, da beide in ihrer Exegese der Bemerkung den Begriff der Grammatik nicht einmal erwähnen. Stattdessen heben sie hervor, dass es gerade keiner „category specification“ (Hacker) bzw. „zusätzliche[r] wortsprachliche[r] Mittel“ (von Savigny) bedarf, um Missverständnisse im Zusammenhang mit hinweisenden Definitionen zu vermeiden, obgleich dies auf den ersten Blick logisch notwendig scheint. Insbesondere Hackers Formulierung verdeutlicht, dass eine Kategorisierung von Sprache im Sinne einer „Theorie der Grammatik“, einer Grammatik als Typentheorie oder als vollständiges Geschäftsbuch der Sprache, in PU 29 zwar aufgegriffen, jedoch abgelehnt wird. In der Tat beginnt die Bemerkung mit einem Vorschlag: „Vielleicht sagt man […]“. Die darauffolgende Formulierung, das Wort „Zahl“ in dem gewählten Beispiel zeige den Platz in der Sprache (oder Grammatik) an, an den das Wort „zwei“ gesetzt wird, gehört zu diesem Vorschlag der Erläuterung von hinweisenden Definitionen. Nach dem ersten Bindestrich in PU 29 antwortet jedoch der Text mit einer zweiten Formulierung auf diese Erklärung und stimmt dabei der ersten nicht zu. Am Ende der Bemerkung wird auf die besonderen Umstände verwiesen, in denen die hinweisende Definition gegeben wird: Ob das Wort ‚Zahl‘ in der hinweisenden Definition der Zwei nötig ist, das hängt davon ab, ob er sie ohne dieses Wort anders auffaßt, als ich es wünsche. Und das wird wohl von den Umständen abhängen, unter welchen sie gegeben wird, und von dem Menschen, dem ich sie gebe.
Es geht also in PU 29 nicht um eine vollständige Grammatik mit verschiedenen Kategorien, sondern, wie im Brown Book Korpus, um die Vermeidung von Missverständnissen im jeweils konkreten Fall.² Im Allgemeinen bleibt festzuhalten, dass erstens Wittgensteins Gebrauch von „Grammatik“ in den PU gegenüber dem Big Typescript radikal abnimmt, gerade in der Urfassung der PU (nur zwölf Instanzen von „Grammatik“ inklusive ihrer Derivate), und dass zweitens sein Gebrauch von Grammatik im partikulären Sinn, der mit meiner Lesart im Einklang ist, deutlich überwiegt. Hätte Wittgenstein sein Die Bedeutung der Vermeidung von Missverständnissen in PU 29 wird auch von von Savigny betont (a.a.O.).
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4 Die Philosophischen Untersuchungen und Wittgensteins späte Manuskripte
Grammatikverständnis, wie es zum Teil im Big Typescript zum Ausdruck kommt, in die PU übernommen, so hätte er mit großer Wahrscheinlichkeit mehr Grammatik-Bemerkungen des Big Typescript in die PU übernommen. Dass er dies unterlässt, verstehe ich als einen deutlichen Hinweis darauf, dass der Begriff der Grammatik in den PU lediglich eine der „Eierschalen“ seiner früheren Überzeugung darstellt: „Jedem Denken/Denker kleben die Eierschalen seines Ursprungs an. Man kennt es Dir an, im Kampf womit Du aufgewachsen bist. Welche Anschauungen die Deinen bezeugt; von welchen Du Dich dann hast losmachen müssen.“ (Ts 229: 455; Ts 245: 324)³
4.1.1 Erläuterungen zur Textgrundlage: Ts 227 Die PU gelten in der Forschung als Wittgensteins Spätwerk, obgleich es nie zu einer Veröffentlichung des Textes zu Lebzeiten Wittgensteins gekommen war.⁴ Dieser hatte zwar durchaus mit dem Verlag Cambridge University Press zwecks einer Veröffentlichung Kontakt aufgenommen, war jedoch immer wieder mit seinen Ergebnissen unzufrieden und fühlte sich zu neuen Überarbeitungen und Ergänzungen getrieben.⁵ Wie eingangs erwähnt, sei hier noch einmal daran erinnert, dass in dieser Arbeit mit „PU“ bzw. „Philosophische Untersuchungen“ nur der sogenannte Teil I der Buchedition gemeint ist, denn nur dieser kann als ein Spätwerk Wittgensteins gelten.⁶ Wittgenstein hatte zwar einen zweiten Teil seiner Untersuchung geplant,
Ähnliche Bemerkungen finden sich an verschiedenen Stellen im Nachlass, so auch Ms 129: 181: „Es wird schwierig sein, aus meiner Darstellung zu folgen: denn sie sagt Neues, dem doch die Eierschalen des Alten ankleben.“ Vgl. ebenso Ms 130: 116 und Ms 135: 139. Diese Stellen hat bereits Hilmy zusammengetragen (Hilmy 1987: 39). Sie alle hat Wittgenstein im Jahr 1944 oder später verfasst. Zur Werkfrage vgl. Anm. 8 in Kap. 3. Speziell zu den PU erklärt Schulte: „Vom I. Teil der Philosophischen Untersuchungen darf man annehmen, daß Wittgenstein seine Veröffentlichung wünschte. Bei allen anderen publizierten Schriften ist die Frage, inwiefern sie überhaupt ein ‚Werk‘ Wittgensteins darstellen, heikel.“ (Schulte 2001a: 12) Für Wittgensteins Publikationsvorhaben siehe von Wright 1982: 120 – 122. Zur Entstehung der PU unter verschiedenen Aspekten siehe Pichler 1997: 9 – 35. Für eine genaue historisch-genetische Darstellung der Entstehung der PU siehe Schulte 2001a: 14– 27 und 30 ff, für eine historischphilologische Darstellung siehe Schulte 2001b. Vgl. Schulte: „Bei den Philosophischen Untersuchungen können wir aufgrund der erhaltenen Manuskripte und Typoskripte sicher sein, daß die Formulierung und Anordnung der Bemerkungen Wittgensteins Willen entspricht, denn diese Manuskripte und Typoskripte zeigen, wie viel Mühe er sich gegeben hat, um zu dieser ‚endgültigen‘ Formulierung und Anordnung zu gelangen.
4.1 Grammatik in den PU
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dafür aber aller Wahrscheinlichkeit nach nicht den heutigen Teil II der Buchedition vorgesehen, sondern vielmehr einen aus Bemerkungen zur Philosophie der Mathematik bestehenden Text.⁷ Die Entstehungsgeschichte der sogenannten Spätfassung der PU ist recht verworren, da sie keiner geraden Linie folgt und sich über einen längeren Zeitraum von mehr als neun Jahren erstreckt: von November 1936 bis Ende 1945 oder Anfang 1946. (Vgl. Schulte 2001a und 2001b)⁸ Bei dieser Spätfassung handelt es sich im Nachlass um das Ts 227. Es liegt dort in zwei Versionen vor: Ts 227a und Ts 227b. Ursprünglich hatte es noch ein drittes Exemplar gegeben, das für den Drucksatz verwendet wurde, doch dieses Exemplar, in dem Wittgenstein selbst Änderungen und Korrekturen vorgenommen hatte, gilt als verschollen. (Von Wright 2001: 8) Zu den beiden erhaltenen Exemplaren von Ts 227 erläutert von Wright, dass sie „mit dem gedruckten Text nicht ganz überein[stimmen]. Beide enthalten zahlreiche Eintragungen von fremder Hand. Es ist anzunehmen, daß sie größtenteils wortgetreu aus dem verschollenen Exemplar kopiert wurden.“ (Von Wright 2001: 8)⁹ Die verschiedenen Vorstufen der PU – Urfassung (Ms 142), Frühfassung (Ts 225, Ts 220, Ts 221), bearbeitete Frühfassung (Ts 239) und (rekonstruierte) Zwischenfassung¹⁰ – werden hier zugunsten der 1945/46 in Cambridge diktierten Spätfassung weitestgehend ausgeklammert.¹¹ Den Zahlangaben über das Vorkommen von „Grammatik“ und „Logik“ liegt in dieser Arbeit das Ts 227a zugrunde. Zitate stammen hingegen aus der gedruckten Ausgabe der Spätfassung in PU 2001.
4.1.2 Ein Album In seinem Vorwort zu den PU schreibt Wittgenstein:
In diesem Sinne darf man zwar den Teil I der Philosophischen Untersuchungen ein ‚Werk‘ Wittgensteins nennen, nicht aber das unter dem gleichen Titel veröffentlichte Buch.“ (2001: 12 f) Vgl. dazu von Wright 2001: 8, Anm. 1. Der von Anscombe und Rhees herausgegebene Teil II der PU entspricht im Nachlass dem Ms 144. Zu dessen Genese vgl. Schulte 2001a: 27 ff. Über den Beginn der Arbeit Wittgensteins an Ms 142, der sogenannten Urfassung der PU, wurde in Abschnitt 3.2 bereits einiges gesagt. Wie von Wright weiter anmerkt, ermöglicht die kritisch-genetische Edition der PU den direkten Vergleich der Tss 227a und b und dem veröffentlichten Text (von Wright 2001: 8). Für philologische Details zu diesen Vorstufen siehe Schulte 2001a und Schulte 2001b. Für philologische Details zur Spätfassung siehe Schulte 2001a: 25 ff und Schulte 2001b: 1007 ff.
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In dem Folgenden veröffentliche ich Gedanken, den Niederschlag philosophischer Untersuchungen, die mich in den letzen 16 Jahren beschäftigt haben. […] Die philosophischen Bemerkungen dieses Buches sind gleichsam eine Menge von Landschaftsskizzen, die auf diesen langen und verwickelten Fahrten entstanden sind. […] So ist also dieses Buch eigentlich nur ein Album. (PU Vorwort)
Diese Erläuterungen Wittgensteins sind ernst zu nehmen und haben, wenn sie ernst genommen werden, tiefgreifende Konsequenzen für das Lesen und Verstehen der PU. Oft werden sie allerdings so gedeutet, dass Wittgenstein mit seiner Albumform selbst unzufrieden ist. Dies wird meist mit dem Verweis auf eine Bemerkung begründet, die er am Ende seines Vorwortes formuliert: „Ich hätte gerne ein gutes Buch hervorgebracht. Es ich nicht so ausgefallen; aber die Zeit ist vorbei, in der es von mir verbessert werden könnte.“ (PU Vorwort)¹² Einige Kommentatoren, wie etwa Baker und Hacker¹³ oder Hilmy,¹⁴ haben diese Aussage zum Anlass genommen, den Inhalt der PU in eine lineare und systematische Form zu bringen, in die Wittgenstein selbst ihn trotz etlicher Versuche vermeintlich nicht zu bringen vermochte.¹⁵ Pichler betont demgegenüber die Untrennbarkeit von Form und Inhalt der PU und deutet die im Vorwort zum Ausdruck gebrachte Unzufriedenheit Wittgensteins mit seinem Text „nicht als Zurückbleiben hinter den Maßstäben Linearität und Kohärenz […], sondern als Eingeständnis, ein anderes Ideal nicht vollends erreicht zu haben.“ (Pichler 2004: 77)¹⁶ Dieses andere
Pichler (2004: 57 ff) unterscheidet und diskutiert fünf mögliche Lesarten dieser Textstelle in Verbindung mit der „Album“-Bemerkung. „The metaphor of an album of sketches […] is important. It signifies a confessed failing in the book, reaffirmed in the final paragraph of the Preface. The Investigations is, as it were, a sketchbook of a master-artist who could not produce a finished canvas.“ (Baker & Hacker 2005b: 34) „Even if Wittgenstein wished his writing to help other people set their thinking straight, he clearly did not write in a non-linear manner because this was a therapeutic goal. He wrote in a non-linear manner because this was a stylistic idiosyncrasy of his which he could not overcome to his satisfaction, however much he tried.“ (Hilmy 1987: 21) Dazu konstatiert Pichler: „In der Wittgenstein-Forschung ist man gerne nach folgender Deutung verfahren: Die Schuld am Versagen liegt an der schriftstellerischen Schwäche Wittgensteins, nicht am Gegenstand. Wittgenstein hatte die Philosophischen Untersuchungen viel besser und damit ganz anders schreiben wollen, und er hätte es auch sollen; dadurch hätten wir nicht nur nichts verloren, sondern sogar gewonnen. Kurz gesagt: Der Inhalt der Untersuchungen ist in Ordnung – das Albumhafte der Untersuchungen aber verhält sich zu ihrem Inhalt akzidentell und gehört verbessert.“ (2004: 133) Dass Form und Inhalt der PU nicht zu trennen sind, ist eine Hauptthese seines Buches, die sich durch den gesamten Text zieht. Vgl. etwa die Seiten 10 f, 58 f, 133.
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Ideal ist „vielleicht die Optimierung der verbindenden und vernetzenden Albumform.“ (Ebd. 178)¹⁷ In meiner Interpretation der PU folge ich Pichlers Auffassung derselben als einem von Wittgenstein bewusst als Album konzipierten Text, in dem die verschiedenen „Landschaftsskizzen“, die er auf seinen philosophischen Reisen angefertigt hatte, dem Leser präsentiert werden.¹⁸ Die „Natur der Untersuchung“ selbst zwingt Wittgenstein dazu, „ein weites Gedankengebiet, kreuz und quer, nach allen Richtungen hin zu durchreisen.“ (PU Vorwort) Der wesentliche Schritt vom Brown Book zu den PU beinhaltet damit eine Änderung der Methode und des Stils.¹⁹ Die PU sind jedoch nicht nur ein Album, sondern ein polyphones Album. Das bedeutet, dass der Leser „durch eine Ausstellung von philosophischen Aufnahmen geführt wird, die aus verschiedenen Kontexten stammen und hier wie in einem Album zusammengefügt und zueinander in polyphone Beziehung gesetzt sind.“ (Pichler 2004: 18 f)²⁰ Diese Mehrstimmigkeit beinhaltet, dass nicht immer
Pichler verweist in diesem Zusammenhang auch insbesondere auf Anscombe (1969), die ebenfalls um eine Antwort auf die Frage nach der Bedeutung von Wittgensteins Unzufriedenheitsbekundung bemüht ist und feststellt: „There was never any question of his writing the Investigations except in the form of just such discrete chunks as we have there.“ (Anscombe 1969: 374; vgl. Pichler 2004: 176 ff) Auch Keicher betont die Albumstruktur der PU, wenn er sie mit Wittgensteins Fotoalbum aus den 30er Jahren in Verbindung bringt: „Wittgensteins praktische Arbeit mit Fotografien beinhaltet erstaunliche methodische Ähnlichkeiten mit der Komposition seiner Bemerkungen in Textform, die Wittgenstein häufig ausgeschnitten und in Form von Zetteln neu arrangiert hat. Die durch formale Mittel wie Auswahl, Zuschnitt und Anordnung der Fotografien angestrebte Kohärenz des Albums beinhaltet ein Netz wechselseitiger Beziehungen zwischen einzelnen oder kleineren Serien von Fotografien. Eine ähnliche Verbindung zwischen eigenständigen Sinneinheiten, seriellen Aspekten und diskursiven Vernetzungen kennzeichnet die Schreibweise in Wittgensteins philosophischen Schriften. […] Seine besondere Bedeutung erhält das Fotoalbum durch Wittgensteins eigenen Vergleich der Philosophischen Untersuchungen mit einem Album.“ (Keicher 2013: 318) Vgl. dazu Pichler (2004: 69): „Der Neubeginn passiert Anfang November 1936 in Ms142 und resultiert in einem Text, von dem wir mit Recht sagen können, er sei die erste Fassung der Philosophischen Untersuchungen. Hier lässt Wittgenstein u. a. von der Methode ‚strenger und durchgehender Aufbau am Faden von nummerierten und vom Einfachen zum Komplizierten fortschreitenden Sprachspielen‘ […] ab und beginnt, die Bemerkungen als ganze zu nummerieren, unabhängig davon, ob sie Einführungen von Sprachspielen enthalten oder nicht.“ Dies ist ein deutlicher stilistischer und methodischer Gegensatz zum Brown Book Korpus (ebd.: 122 f). Diese Änderung von Stil und Methode hat aufgrund der inneren Verwobenheit von Form und Inhalt der PU auch inhaltliche Konsequenzen (ebd.: 10), die sich jedoch nicht auf den Grammatikbegriff auswirken. Zur Polyphonie der PU siehe auch Pichler 2004: 19, 147.
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offensichtlich ist, wer gerade spricht. (Von Savigny 1988: 1 f) Zwar verwendet Wittgenstein in den PU hin und wieder Anführungszeichen, um verschiedene Stimmen kenntlich zu machen, doch können wir daraus nicht schließen, dass er selbst immer dann spricht, wenn der entsprechende Text nicht in Anführungszeichen gesetzt ist. Wittgenstein tritt eben nicht als allwissender Erzähler auf, der seinen Lesern „richtige“ Antworten auf philosophische Probleme präsentiert, sondern fordert die Einsicht und Problemlösung vom Leser selbst.²¹ Dies deutet er bereits in seinem Vorwort an, wenn er schreibt: „Ich möchte nicht mit meiner Schrift Andern das Denken ersparen. Sondern, wenn es möglich wäre, jemand zu eigenen Gedanken anregen.“ (PU Vorwort) Dadurch eignet sich der polyphone „Gesprächsstil“ (Pichler 2004: 211) der PU ausgezeichnet für Wittgensteins Philosophie als Therapie, weil er den Leser aktiv mit einbezieht: „es gibt für die Therapie keine bessere Methode, als dem Leser seine eigene Stimme zu geben.“ (Ebd.) Aus der Form der PU als einem polyphonen Album folgt, dass nicht jede darin enthaltene Bemerkung eine Behauptung Wittgensteins darstellt, wie er sie während seiner Arbeit an den PU getroffen hätte. Für die vorliegende Untersuchung bedeutet das, dass das Vorkommen von Bemerkungen zur Grammatik im allgemeinen Sinn allein kein Hinweis darauf ist, dass Wittgenstein in den PU etwa weiterhin von einem vollständigen grammatischen System ausgeht, wie in den Bemerkungen 1930 und z.T. noch im Big Typescript. Vielmehr zeigt es, dass Wittgenstein seine Leser zu einer Auseinandersetzung mit diesem Grammatikverständnis anregen will, wie auch zu der Auffassung von Grammatik als Sprachgebrauch. Dabei erlaubt ihm die Albumform, „Bemerkungen in sein Werk hereinzunehmen, die im Braunen Buch keinen Platz gehabt hätten, und dies auf eine Art, wie es dort noch nicht möglich gewesen wäre“ (Pichler 2004: 262). In der Tat war im Brown Book kein Raum für Bemerkungen zur Grammatik im allgemeinen Sinn, die aber durchaus in den „Collagen“ der PU Platz finden.²² Ein gutes Beispiel für Wittgensteins Verwertung früherer Bemerkungen in den PU ist die Bemerkung 520. Wittgenstein leitet sie wie folgt ein: ,Wenn man auch den Satz als Bild eines möglichen Sachverhalts auffaßt und sagt, er zeige die Möglichkeit des Sachverhalts, so kann doch der Satz bestenfalls tun, was ein gemaltes, oder plastisches Bild, oder ein Film, tut; und er kann also jedenfalls nicht hinstellen, was nicht der Fall ist. Also hängt es ganz von unserer Grammatik ab, was (logisch) möglich genannt wird, und was nicht, – nämlich eben was sie zuläßt?‘ – Aber das ist doch willkürlich! – Ist es willkürlich?
Dies ist ein wichtiger Unterschied der PU zu Platons Dialogen (Pichler 2004: 213, 220). Zu Wittgensteins Technik des Collagierens siehe Pichler 2004: 258 ff.
4.1 Grammatik in den PU
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Bis zu „Aber das ist doch willkürlich!“ findet sich diese Bemerkung wortgleich im Big Typescript (Ts 213+H: 99). Dort hatte Wittgenstein die Willkürlichkeit allerdings nicht infrage gestellt, sondern bestätigt: „Gewiss, aber nicht jeder Kalkül der dem, mit gewissen unseren Erfahrungssätzen, analog ist, ist irgendwie von Nutzen. […]“. (Ts 213H: 98v) Auch in Ts 212 aus dem Sommer 1932 stoßen wir auf diese Bemerkung, worin Wittgenstein wiederum auf andere Weise antwortet: „Gewiß, aber nicht mit jedem Gebilde kann ich etwas anfangen […]“ (Ts 212: 336). Dieses Beispiel zeigt deutlich, dass Wittgenstein seine früheren Bemerkungen aufgreift, umformuliert und in neue Zusammenhänge setzt. Finden sich also in späteren Texten Bemerkungen, die sich in frühere Texte zurückverfolgen lassen, können wir daraus nicht schließen, dass Wittgenstein seine in dem früheren Text ausgedrückte Sichtweise in den späteren Text übernommen hat. In den PU verwendet er die hier zitierte frühere Bemerkung in sehr kritischer Weise. Hier gewinnt wieder die „Wer-Spricht-Frage“ an Bedeutung. Ein weiteres Motiv, das Wittgenstein in seinem PU-Vorwort verwendet, ist das oben zitierte Bild des Niederschlags. Wittgenstein nennt seine in den PU zum Ausdruck gebrachten Gedanken den „Niederschlag“ seiner philosophischen Untersuchungen der letzten 16 Jahre. Das Wort „Niederschlag“ wird hier oft im meteorologischen Sinn verstanden, doch ist auch eine andere Lesart möglich, die Jérôme Letourneur im Januar 2012 während eines Vortrags vorgeschlagen hat, nämlich die Deutung im chemischen Sinn.²³ „Niederschlag“ meint dieser Lesart zufolge nicht etwa einen Regen, der sich aus den Wolken der letzten 16 Jahre auf die PU herab ergießt, sondern das Ergebnis einer chemischen Reaktion, die während dieser 16 Jahre stattgefunden hatte. Infolge dieser Deutung sind die PU selbst – die Veröffentlichung – das Ergebnis dieser Reaktion: „In dem Folgenden veröffentliche ich Gedanken, den Niederschlag philosophischer Untersuchungen, die mich in den letzen 16 Jahren beschäftigt haben.“ So verstanden findet die eigentliche Reaktion nicht erst in den PU, und auch nicht erst kurz vor der Entstehung der PU, statt, sondern schon früher und über einen langen Zeitraum hinweg. Man könnte etwa vermuten, dass Wittgenstein auf sein Hadern mit seinen alten und neuen Auffassungen anspielen will, wie es vor allem im Big Typescript noch präsent ist und in den darin enthaltenen Inkonsistenzen zum Ausdruck kommt. In den PU finden wir entsprechend vor, was nach dieser Reaktion als fester Stoff übrig bleibt. Sind aber die PU der Niederschlag von Wittgensteins Seinen Vortrag mit dem Titel „From a change in situation to a philosophical investigation’s aspect change: Wittgenstein 1941– 1949“ hielt Jérôme Letourneur am 31.1. 2012 an der Universität Bergen. Vgl.: http://wab.uib.no/wab_letourneur.page (Stand: 14.03. 2016). Die hier dargestellte Lesart verdanke ich Letourneurs Darstellungen sowie anschließenden Gesprächen mit Alois Pichler.
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vergangenen philosophischen Untersuchungen, so braucht es nicht zu verwundern, dass Wittgenstein darin kein neues Verständnis von „Grammatik“ entwickelt, sondern auf seinen alten Begriff zurückgreift – und zwar, meiner Lesart zufolge, methodisch auf sein ganzes Repertoire an Grammatikbemerkungen seit mindestens 1929. Dabei steht er selbst jedoch nur noch hinter jenem Grammatikbegriff, wie er uns im Brown Book Korpus begegnet: als der natürliche Sprachgebrauch eines Wortes im jeweils konkreten Fall.
4.1.3 Die Quellen von „Grammatik“ in den PU Wie aus Tabelle 1 hervorgeht, spricht Wittgenstein in den PU verhältnismäßig selten von Grammatik. Insgesamt gebraucht er in 26 Bemerkungen der PU das Substantiv „Grammatik“, in 15 Bemerkungen das Adjektiv „grammatisch“ und in zwei Bemerkungen das Adjektiv „grammatikalisch“, wobei zwei Bemerkungen (PU 295, 572) sowohl Substantiv als auch Adjektiv enthalten. Hinzu kommen drei Grammatik-Bemerkungen auf Zetteln aus Ts 228, die Wittgenstein nachträglich hinzugefügt hat.²⁴ Inklusive dieser Zettelbemerkungen enthalten 44 Bemerkungen der PU mindestens eines der Worte „Grammatik“, „grammatisch“ oder „grammatikalisch“ (vgl. Tab. 8). Acht Grammatik-Bemerkungen der PU ähneln Formulierungen in Wittgensteins Schriften der frühen 30er Jahre, inklusive dem Big Typescript, oder entsprechen ihnen im Wortlaut.²⁵ Hierbei ist jedoch zu bedenken, dass Wittgenstein zwei dieser Bemerkungen erst handschriftlich dem Big Typescript hinzugefügt hat, so dass sie auch 1936 oder 37 entstanden sein könnten.²⁶ Die übrigen sechs der acht Bemerkungen aus den frühen 30er Jahren lassen sich bis in Ts 213 zurückverfolgen, wobei jedoch eine lediglich in Ms 114ii, nicht in Ts 213, der PU-Form
Den ersten dieser Zettel finden wir zwischen den Seiten 31 und 32 von Ts 227a; in Ts 227b fehlt er (PU 2001: 768). In PU 2001 steht diese Bemerkung zwischen PU 35 und 36. Der zweite Zettel befindet sich in Ts 227a zwischen den Seiten 103 und 104 und in Ts 227b zwischen den Seiten 102 und 103 (PU 2001: 830). In PU 2001 steht diese Bemerkung zwischen PU 149 und 150. Der dritte Zettel findet sich sowohl in Ts 227a als auch Ts 227b zwischen den Seiten 115 und 116 (PU 2001: 840). In PU 2001 steht diese Bemerkung zwischen PU 165 und 166. Dies sind PU 29 (vgl. Ts 213+H: 32); PU 111 (vgl. Ms 110: 176 und Ts 213: 412); PU 122 (vgl. Ms 108: 31 und Ts 213: 417); PU 257 (vgl. Ts 213H: 209); PU 458 (vgl. Ts 213H: 90); PU 497 (vgl. Ts 213: 194); PU 520 (vgl. Ts 213+H: 99); PU 558 (vgl. Ms 110: 203, Ms 114i: 31 f und Ts 213: 159 – in Ms 110 und Ts 213 ist jeweils nur der Einstieg der PU-Bemerkung zu finden). Diese Angaben basieren auf meiner eigenen Recherche in der BEE. Es lässt sich nicht mit Sicherheit ausschließen, dass ich weitere Bezüge übersehen habe. Dies sind PU 267 und PU 458.
4.1 Grammatik in den PU
191
nahezu entspricht (PU 558). Aus dem Brown Book und Ms 115ii hat Wittgenstein keine Bemerkung in die PU übernommen, wohl aber findet man zusätzlich zu PU 558 vier weitere Bemerkungen aus Ms 114ii und Ms 115i.²⁷ Die insgesamt zwölf PUBemerkungen zur Grammatik mit Ursprung in Nachlassdokumenten, die vor 1936 entstanden sind, setzen sich also zusammen aus acht Bemerkungen aus dem Big Typescript und weiteren vier aus der Zeit unmittelbar nach der Entstehung von Ts 213 (Ms 114ii und Ms 115i). Tabelle 8 stellt die Grammatik-Bemerkungen der PU in Hinblick auf ihre Quellen im Nachlass übersichtlich dar. Tab. 8: Übersicht über die Grammatik-Bemerkungen der PU²⁸ Ursprung
Grammatik Grammatik im im partikulären Sinn allgemeinen Sinn
Big Typescript (getippt)
, , ,
Big Typescript (handschriftlich)
Grammatik Derivate von Grammatik im anderen Sinn²⁹ , ()
,
Ms ii oder Ms i
,
Neu (Herbst oder später)
, , , , ,
, , , , , , , , , , Zettel / Zettel /
, , , , , , , , , , , , Zettel /
Nahezu drei Viertel der Grammatik-Bemerkungen der PU – 32 von insgesamt 44 – sind demnach erst mit Wittgensteins Arbeit an den PU entstanden, also in Skjolden im November 1936 oder später. Weiter ist festzuhalten, dass nur vier der Bemerkungen aus der Zeit vor 1936 in die Urfassung der PU, und damit in die ersten 188 Bemerkungen des heute veröffentlichten Textes, Eingang gefunden haben: PU 20, 29, 111 und 122. Die ersten 188 Bemerkungen sind derjenige Teil der PU, den Wittgenstein am meisten überdacht und überarbeitet hat. 14 dieser Be-
Dies sind PU 20 (vgl. Ms 115i: 19 f); PU 251 (vgl. Ms 114ii: 121); PU 492 (vgl. Ms 114ii: 172); PU 562 (vgl. Ms 115i: 68). Hier werden die Bemerkungen aufgelistet, nicht die Instanzen von Grammatik. Einige Bemerkungen enthalten mehr als eine Instanz von „Grammatik“ oder einem ihrer Derivate. Vgl. Tab. 1.
192
4 Die Philosophischen Untersuchungen und Wittgensteins späte Manuskripte
merkungen beinhalten „Grammatik“ oder eines ihrer Derivate, inklusive zwei der bereits erwähnten Zettel. Diese Angaben werden hier so sorgfältig getätigt, um zu zeigen, dass aus philologischer Sicht die Verbindung zwischen den Grammatikbemerkungen des Big Typescript und den PU nicht so groß ist, wie man meinen könnte. Um dies zu sehen brauchen wir uns lediglich vor Augen halten, dass nur acht der unzähligen Big Typescript-Bemerkungen zur Grammatik letztlich Eingang in die PU, und nur vier in deren Urfassung, gefunden haben. Hätte Wittgenstein sein Grammatikverständnis des Big Typescript beibehalten, wäre es dann nicht naheliegend, er hätte noch intensiver aus dem reichhaltigen Vorrat der Big Typescript-Bemerkungen geschöpft? – zumal er das Big Typescript im Jahr 1937 offenbar durchgesehen und für seine Arbeit an den PU verwendet hat, wie wir einigen Hinweisen in Ms 119 entnehmen können.³⁰ (Hilmy 1987: 32 f und Pichler 2004: 46) Peter Hacker hat in seinem Essay „Wittgenstein on Grammar, Theses and Dogmatism“ (2012) den Grammatik-Bemerkungen des Big Typescript und der PU besondere Aufmerksamkeit geschenkt um zu demonstrieren, dass Wittgenstein seine Auffassung von Grammatik im Big Typescript in den PU beibehalten wird: „On all important matters, his conception of grammar and of grammatical investigations, of grammatical statements or propositions and of grammatical clarification did not change between the Big Typescript and the Investigations.“ (Hacker 2012: 1) Im Big Typescript habe er seinen Grammatikbegriff entwickelt und in den PU vorausgesetzt: „Wittgenstein was clarifying for himself the scope and nature of grammar as he used the term. So, by the time he came to write the Investigations, he took all that for granted“ (Ebd.: 10). Damit vertritt Hacker eine dieser Untersuchung entgegengesetzte Auffassung.³¹ Im Zuge seiner Argumentation geht Hacker ebenfalls auf philologische Daten zu den Grammatik-Bemerkungen der PU ein. Sein Ergebnis deckt sich jedoch nicht mit meinem, denn er spricht lediglich von 35 Instanzen von „Grammatik“ und ihren Derivaten in den PU: „In the Investigations, ‘grammar’ and its cognates occur 35 times“ (Hacker 2012: 4). Gemäß der vorliegenden Untersuchung finden
Hilmy deutet die Tatsache, dass Wittgenstein das Big Typescript für seine Arbeit an den PU verwendet hat, hingegen als deutlichen Hinweis darauf, das Big Typescript als einen „relatively reliable expression of his [Wittgenstein’s] ‘later’ approach to philosophy“ (1987: 34) verstehen zu können. Bei dieser Einschätzung blendet Hilmy jedoch die Möglichkeit aus, dass Wittgenstein Bemerkungen aus dem Big Typescript in die PU übernommen haben könnte, um sie als Beispiele seiner alten Auffassung zu präsentieren und vermittels der Gesprächsstruktur der PU zu hinterfragen. Hilmy hat indessen völlig recht, wenn er selbst feststellt: „More light, however, needs to be shed on the extent and the nature of TS 213’s contribution to the Investigations.“ (Ebd.) Zu Hackers Auffassung vgl. ebenfalls Abschnitt 3.3.
4.1 Grammatik in den PU
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sich hingegen 53 Instanzen von „Grammatik“ oder eines ihrer Derivate in 44 PUBemerkungen (vgl. Tab. 1 und Tab. 8).³² Weiter führt Hacker an, dass sich neun der PU-Bemerkungen zur Grammatik vom Big Typescript ableiten ließen, weitere vier ähnlich zu Bemerkungen im Big Typescript seien, wiederum vier weitere aus Manuskripten der frühen 30er Jahre stammten, jedoch nicht im Big Typescript enthalten seien, und wiederum vier weitere aus den Mss 114 und 115 stammten – ihm zufolge damit eigentlich aus dem Brown Book Korpus.³³ Die übrigen Grammatik-Bemerkungen der PU seien zwischen 1936 und 1945 entstanden. (Ebd.) Zusammengenommen stammen gemäß Hacker 17 Grammatik-Bemerkungen der PU aus den frühen 30er Jahren inklusive dem Big Typescript und vier aus dem Brown Book. ³⁴ Dies erweckt den Eindruck eines engen philologischen Zusammenhangs zwischen den Grammatik-Bemerkungen des Big Typescript und denen der PU: 35 Grammatik-Instanzen in den PU stehen 17 Bemerkungen gegenüber, die aus dem Big Typescript stammen. Tatsächlich, d.i. gemäß der Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung, handelt es sich hingegen um 53 Grammatik-Instanzen und 8 Bemerkungen mit Ursprung im Big Typescript.
Möglicherweise handelt es sich in Hackers Aufsatz um eine Vertauschung der Ziffern, wenn er 35 statt 53 Instanzen angibt. Im Original schreibt Hacker: „Among the remarks on grammar in the Investigations, nine are derived from the Big Typescript and a further four are similar to remarks there, four remarks are from earlier MSS not incorporated into the Big Typescript, four from MSS 114– 115 (Eine Philosophische Betrachtung; in effect, from the Brown Book). The rest date from manuscripts written between 1936 and 1945.“ (Hacker 2012: 4) Es ist nicht eindeutig, welche Verbindung Hacker zwischen den Mss 114– 115 und dem Brown Book sieht. Beim Brown Book handelt es sich um Ts 310.Wittgensteins Umarbeitung und Übersetzung des Brown Book entspricht im Nachlass Ms 115ii (vgl. 3.2.1). Vermutlich meint Hacker hier vier der fünf Bemerkungen aus Ms 114ii oder Ms 115i, die jedoch nicht zum Brown Book Korpus gehören. Verwirrend kann in diesem Zusammenhang Hackers Anführung des Titels „Eine Philosophische Betrachtung“ anmuten, den Rush Rhees als Titel für die deutsche Buchausgabe der BBB gewählt hat. Tatsächlich handelt es sich dabei nicht um eine deutsche Übersetzung des Brown Book, sondern um Ms 115ii. Rhees erläutert dazu in seiner Vorbemerkung: „Da der Titel ‚Philosophische Untersuchungen‘ jetzt das spätere Werk bezeichnet, habe ich der hier erstmals veröffentlichten Umarbeitung des Brown Book einen Titel gegeben, den Wittgenstein einmal zu verwenden gedachte: 1931 schrieb er in einem Manuskriptband: ‚Mein Buch kann heißen: Eine Philosophische Betrachtung. (Als Haupt-, nicht als Untertitel.)‘“ (Rhees 1984b: 10) Leider gibt er nicht an, um welche Bemerkungen es sich jeweils konkret handelt.
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4 Die Philosophischen Untersuchungen und Wittgensteins späte Manuskripte
4.1.4 „Grammatischer Satz“ und „Satz der Grammatik“ In den PU nimmt Wittgensteins Verwendung von sowohl „Satz der Grammatik“ und „Regel/n der Grammatik“ als auch „grammatischer Satz“ und „grammatische Regel/n“ radikal ab. Stoßen wir im Big Typescript insgesamt 80 Mal auf diese Wendungen (vgl. 3.1.2), begegnen sie uns in den PU lediglich fünfmal. Dies ist auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass das Big Typescript in Bezug auf die Seitenzahl umfangreicher ist als die PU, ein deutlicher Unterschied. Der Ausdruck „grammatischer Satz“ kommt in den PU dreimal vor (PU 251, 295, 458)³⁵, „grammatische Regel“ einmal (PU 558) und „Regel/n der Grammatik“ ebenfalls einmal (PU 497).³⁶ Der Ausdruck „Satz der Grammatik“ kommt nicht vor. Ferner sind alle diese fünf Ausdrücke von „grammatischer Satz“, „grammatische Regel“ und „Regel/n der Grammatik“ in den weniger überarbeiteten Teilen der PU zu finden und kommen in den Bemerkungen PU 1– 188 überhaupt nicht vor. Tabelle 9 gibt hierüber einen Überblick im Verhältnis zum Big Typescript. Tab. 9: Instanzen von „Satz der Grammatik“, „grammatischer Satz“, „Regel der Grammatik“ und „grammatische Regel“ im Big Typescript und den PU³⁷ Big Typescript
PU
„Satz der Grammatik“
„grammatischer Satz“
„Regel der Grammatik“
„grammatische Regel“
Hieraus wird ersichtlich, dass Wittgenstein in den PU fast durchgängig davon absieht, einen substantivischen Ausdruck zu verwenden, der die Verwendung von Grammatik im allgemeinen Sinn erfordert. Im Big Typescript hatte er hingegen häufig davon Gebrauch gemacht. Dies ist neben der Verschiebung von Grammatik im allgemeinen zu Grammatik im partikulären Sinn eine weitere Veränderung von
In PU 295 liegt der Ausdruck „grammatischer Satz“ nur in elliptischer Weise vor: „Und was soll ‚ich weiß nur vom eigenen Fall …‘ überhaupt für ein Satz sein? Ein Erfahrungssatz? Nein. – Ein grammatischer?“ Zusätzlich enthalten die PU einmal die Wendung „grammatikalischer Satz“ (PU 251) und einmal „grammatische Bemerkung“ (PU 574). Derivate der einzelnen Wörter werden berücksichtigt.
4.1 Grammatik in den PU
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Wittgensteins Sprachgebrauch hinsichtlich des Grammatikbegriffs in den PU gegenüber dem Big Typescript. ³⁸ Die einzige substantivische Verwendung von „Regeln der Grammatik“ in den PU ist in PU 497 zu finden: „Man kann die Regeln der Grammatik ‚willkürlich‘ nennen, wenn damit gesagt sein soll, der Zweck der Grammatik sei nur der der Sprache. […]“. Dieser Satz stammt ursprünglich aus dem ersten Teil von Manuskriptband XII, d.i. Ms 116 (Ms 116: 134),³⁹ und fällt in die Gruppe der Bemerkungen, die Wittgenstein während seines Aufenthaltes in Skjolden im Herbst 1937 notierte. Zu dieser Zeit hat Wittgenstein noch einmal das Big Typescript durchgesehen (Hilmy 1987: 32 f). Es handelt sich demnach um einen Satz, der nicht nur zeitlich nach dem Big Typescript, sondern auch in unmittelbarer Auseinandersetzung mit dem Big Typescript entstanden ist. Tatsächlich ist er ein gutes Beispiel für Wittgensteins Konzeption der PU als einem Album, denn Wittgenstein übernimmt nicht einfach eine Bemerkung des Big Typescript in die PU, sondern greift einen Teil von ihr auf und setzt ihn in Beziehung mit anderen Überlegungen. Im Big Typescript hatte Wittgenstein an mehreren Stellen die Willkürlichkeit der grammatischen Regeln behauptet, wie etwa in Ts 213: 233: „Die grammatischen Regeln bestimmen erst die Bedeutung (konstituieren sie) und sind darum keiner Bedeutung verantwortlich und insofern willkürlich“ oder auch in Ts 213: 236: „Die Regeln der Grammatik sind in demselben Sinne willkürlich und in demselben Sinne nicht willkürlich, wie die Wahl einer Maßeinheit.“ In seinem Satz aus Ms 116, der schließlich Eingang in die PU findet, nimmt Wittgenstein direkt auf diese und weitere ähnliche Stellen des Big Typescripts Bezug und revidiert sie: Er behauptet jetzt nicht mehr, die Regeln der Grammatik seien willkürlich, sondern stellt fest, dass man sie willkürlich nennen könnte, und zwar genau dann, wenn man damit eigentlich sagen will, dass der Zweck der Grammatik nur der der Sprache sei. Das heißt, Wittgenstein greift hier zwar auf seine frühere Ausdrucksweise „Regeln der Grammatik“ zurück, jedoch nur in Anlehnungen an –
Clemens Sedmak, der sehr sorgfältig mit dem Big Typescript arbeitet und auch eine ganze Bandbreite von Instanzen von „Grammatik“ und ihren Derivaten aus den PU zitiert, kommt dennoch zu dem gegenteiligen Schluss, Wittgensteins Sprachgebrauch hinsichtlich Grammatik habe „sich vom BT her nicht wesentlich verschoben.“ (Sedmak 1996: 197, Anm. 197) Diese These erweist sich aufgrund der philologischen Ergebnisse dieser Arbeit als nicht haltbar. Dies soll jedoch nicht den Wert von Sedmaks Untersuchung schmälern, die im Übrigen zu einer Zeit entstanden ist, in der weder Wittgensteins Nachlass in digitaler Form zugänglich noch das Big Typescript in gedruckter Form publiziert war. Wie von Wright erläutert, kann Ms 116 in vier Teile untergliedert werden (von Wright 1982: 50 f, 122 f).
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4 Die Philosophischen Untersuchungen und Wittgensteins späte Manuskripte
und Anspielung auf – Bemerkungen des Big Typescripts, in denen er von ihr Gebrauch machte.
4.2 Logik in den späten Manuskripten Obgleich der Fokus der vorliegenden Untersuchung auf Wittgensteins Schriften vom TLP bis zu den PU liegt, dürfen seine letzten Manuskripte bei einer Darstellung der Entwicklung seines Grammatikbegriffs nicht unberücksichtigt bleiben. In den philologischen Betrachtungen des ersten Kapitels wurden diese letzten Manuskripte bereits mit einbezogen. Das Ergebnis hat gezeigt, dass sich das Verhältnis der Verwendung Wittgensteins von „Grammatik“ und „Logik“ in den Mss 172– 177 elementar ändert. Daraus hatte sich die Frage nach den Gründen ergeben, warum Wittgenstein gegen Ende seines Lebens kaum noch von Grammatik spricht und stattdessen den Begriff der Logik in einer Weise verwendet, die seinem früheren Gebrauch von „Grammatik“ auf bezeichnende Weise ähnelt (vgl. 1.6). In diesem Abschnitt wird diese Fragestellung aufgegriffen und eine Antwort formuliert. Dabei rückt der Begriff der Logik in den Vordergrund der Untersuchung und wird vor dem Hintergrund von Wittgensteins Gesamtwerk beleuchtet. Am Ende des Abschnitts soll deutlich geworden sein, was Wittgenstein unter Logik versteht, inwiefern Logik und Grammatik in seinem Denken zusammenhängen, und warum seine Untersuchung zu jeder Zeit eine logische ist.
4.2.1 Erläuterungen zur Textgrundlage: Mss 172 – 177 Die späten Manuskripte Wittgensteins werden häufig mit dem Text in Verbindung gebracht, den G. E. M. Anscombe und G. H. von Wright erstmals 1969 als Über Gewißheit (ÜG) herausgegeben haben. Zwar ist es richtig, dass die Bemerkungen in ÜG aus Teilen der letzten Manuskripte Wittgensteins stammen – und zwar aus Mss 172, 174, 175, 176 und 177⁴⁰ –, doch die Buchpublikation findet sich in dieser Form nicht im Nachlass: ÜG ist eine von den Herausgebern angefertigte Zusammenstellung von ausgewählten Bemerkungen aus Wittgensteins Notizen, die er während seiner letzten zwei Lebensjahre, vermutlich von Anfang 1950 bis April 1951, niederschrieb. Aus denselben Manuskriptquellen sind neben ÜG zwei weitere Buchpublikationen, ebenfalls Zusammenstellungen von Bemerkungen, hervorgegangen: die Bemerkungen über die Farben (BÜF), 1977 herausgegeben von G.
Für eine genaue Angabe der Quellen der ÜG-Bemerkungen im Nachlass vgl. Pichler 1993.
4.2 Logik in den späten Manuskripten
197
E. M. Anscombe, mit Bemerkungen aus den Mss 172, 173 und 176, sowie Letzte Schriften über die Philosophie der Psychologie II (LSPP II), 1993 herausgegeben von Heikki Nyman und G. H. von Wright mit Bemerkungen aus den Mss 169, 170, 171, 173, 174 und 176.⁴¹ Die in diesen drei Publikationen enthaltenen Bemerkungen hängen folglich sowohl textgenetisch als auch inhaltlich viel enger zusammen, als es die Veröffentlichungen unter verschiedenen Titeln nahelegen. Darüber hinaus sind in den Mss 172– 177 weitere Bemerkungen enthalten, die in keine Buchpublikation aufgenommen wurden. Aufgrund dieser Sachlage werde ich im Folgenden auf die Manuskripte verweisen, nicht auf die Buchausgaben. Zu den Manuskripten ist des Weiteren zu sagen, dass sie die Rohfassungen von Wittgensteins Bemerkungen enthalten, die er gegen Ende seines Lebens neu formuliert und nicht aus früheren Aufzeichnungen überträgt und neu ordnet. Obgleich sich einige Korrekturen im Text finden, ist es nicht wahrscheinlich, dass Wittgenstein seine Bemerkungen aus dieser Zeit systematisch durchgegangen ist und verfeinert hat. Aufgrund dieser Tatsache neigen einige Kommentatoren dazu, Wittgensteins letzte Manuskripte als im Verhältnis zu anderen Nachlassdokumenten weniger relevant einzustufen oder sie aus diesem Grund ganz zu vernachlässigen. Seit der von Danièle Moyal-Sharrock initiierten Debatte um den sogenannten Third Wittgenstein sind sie jedoch mehr in den Fokus der Diskussion gerückt, insbesondere die in ÜG veröffentlichten Bemerkungen, die Moyal-Sharrock (2007)⁴² ausgiebig diskutiert. Ich teile Moyal-Sharrocks Anliegen, diesen letzten Bemerkungen Wittgensteins mehr Aufmerksamkeit zu schenken (2009: 558), obgleich ich ÜG nicht, wie sie, für Witgensteins drittes „masterpiece“ neben dem TLP und den PU halte (Moyal-Sharrock 2004b: 1; 2009: 558)⁴³ und auch ihrer Proklamation eines Third Wittgenstein nicht zustimme.⁴⁴
Für eine genaue Angabe der Quellen vgl. ebenso Pichler 1993. Erstveröffentlichung 2005. ÜG ein „masterpiece“ zu nennen, ist irreführend, denn erstens handelt es sich, wie gerade beschrieben, nicht um einen zusammenhängenden Text Wittgensteins, sondern um eine posthum angefertigte Auswahl und Anordnung von Bemerkungen (obgleich viele der in ÜG enthaltenen Bemerkungen auch in den zugrundeliegenden Manuskriptquellen in derselben Reihenfolge stehen), und zweitens hat Wittgenstein die in ÜG enthaltenen Bemerkungen nicht einmal überarbeitet. Es würde aus diesen Gründen zu weit führen, hier von einem „Werk Wittgensteins“ zu sprechen, geschweige denn von einem „Meisterwerk“. (Zur Werkfrage vgl. Anm. 8 in Kap. 3.) Moyal-Sharrock verweist selbst auf die Werkfrage, kommt allerdings zu dem folgenden Schluss: „By the standards of all his writing – including Philosophical Investigations – On Certainty unquestionably qualifies as one of Wittgenstein’s works. Its being a work in progress is characteristic of all of Wittgenstein’s later works, and does not prevent it from being a finished product.“ (MoyalSharrock 2007: 3; vgl. dazu ebenso Moyal-Sharrock 2013: 359) ÜG auf dieselbe autoritative Stufe stellen zu wollen wie die PU ist sehr gewagt. Zwar sind tatsächlich beide ein „work in progress“,
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4.2.2 Zurück zur Logik⁴⁵ Dass Wittgenstein in seinen späten Manuskripten dazu übergeht, von Logik anstelle von Grammatik zu sprechen, wurde im ersten Kapitel dargelegt (vgl. 1.6). In den Mss 172– 177 finden sich lediglich drei Instanzen von „Grammatik“ als Substantiv⁴⁶ und vier Instanzen des Adjektivs „grammatisch“.⁴⁷ Demgegenüber stehen 78 Instanzen des Wortes „Logik“ und seiner Derivate – 38 Mal das Substantiv „Logik“,⁴⁸ 34 Mal das Adjektiv „logisch“,⁴⁹ dreimal das Substantiv „Logiker“⁵⁰ und zweimal die Nominalisierung des Adjektivs „logisch“, nämlich „Logisches“.⁵¹ In der Literatur wird die Tatsache, dass Wittgenstein in den späten Manuskripten den Begriff der Logik zehnmal so häufig verwendet wie den Begriff der Grammatik, selten festgestellt und kaum diskutiert. Ausnahmen bilden etwa Clemens Sedmak, der bemerkt, „daß die Bedeutung des Wortes ‚Grammatik‘ in ÜG auffallend zurücktritt, obwohl sich Wittgenstein doch mit der Grammatik des Wortes ‚wissen‘ beschäftigt“ (1996: 197, Anm. 126), und Oskari Kuusela, der auf den Wandel von Wittgensteins Terminologie hinweist und die Auffassung vertritt,
doch, wie Schulte feststellt (vgl. 4.1), handelt es sich bei den PU um einen Text, den Wittgenstein in einem Maße bearbeitet und verbessert hat wie keinen anderen Text seiner Philosophie ab 1929. Dass sie kein „Werk“ Wittgensteins darstellen, soll jedoch den philosophischen Wert der ÜGBemerkungen in keiner Weise schmälern. Moyal-Sharrock hat im Jahr 2004 die Redeweise von einem Third Wittgenstein eingeführt und damit Wittgensteins Philosophie in drei Phasen eingeteilt: Wittgenstein I (Wittgensteins Frühphilosophie mit dem TLP als Hauptwerk), Wittgenstein II (ab den frühen 1930er Jahren bis etwa 1945 mit den PU als Hauptwerk) und Wittgenstein III (ab ca. 1946 mit ÜG als Hauptwerk). Als Gründe für die Unterscheidung einer dritten Phase nennt sie (1) dass Wittgensteins späte Schriften ab 1946 mehr Beachtung verdienen, (2) dass sich Wittgenstein III philosophisch von Wittgenstein II (dem Wittgenstein der PU) unterscheide, und (3) dass Wittgenstein nach den PU zu einer „more conservative method of doing philosophy“ übergegangen sei (vgl. Moyal-Sharrock 2009: 558). Gegen Moyal-Sharrocks Thesen haben sich u. a. Venturinha (2007) und Tomasini Bassols (2010) ausgesprochen. Einige meiner wichtigsten Gründe gegen die Annahme eines Third Wittgenstein habe ich in meinem Paper „Notes On Wittgenstein’s Notion Of Grammar And Moyal-Sharrock’s ‘Third Wittgenstein’“ (Szeltner 2012) dargelegt. Eine frühere Version der hier wesentlich überarbeiteten und ergänzten Überlegungen findet sich in meinem Beitrag zum Wittgenstein-Symposium 2015 (Szeltner 2015). Ms 173: 90r; Ms 175: 38v; Ms 176: 24v. Ms 172: 18 (2x); Ms 175: 74r; Ms 176: 33v. Ms 172: 15, 16, 18, 21; Ms 173: 1r, 2v, 3r, 3v, 12r, 18r, 23v, 25r, 26v, 34r (2x), 64r, 69r, 70v, 72r, 97v, 100r; Ms 174: 17r, 22r, 24v; Ms 175: 40r, 48v, 61r, 68v; Ms 176: 7r, 8v, 9v, 10v, 35r, 41r, 49v (2x), 78v, 79r. Ms 172: 7, 9, 12, 16 (3x), 17, 18, 19; Ms 173: 4r, 6r, 23r, 35r, 36v (2x), 74r, 76v, 84r; Ms 174: 4r, 29r, 33v; Ms 175: 1v, 37r, 52r, 54r, 69r; Ms 176: 9v, 13r, 21r, 28r, 30r, 50r, 50v, 76r. Ms 173: 24v; Ms 174: 15v; Ms 176: 17v. Ms 173: 19r, 54r.
4.2 Logik in den späten Manuskripten
199
Wittgenstein habe lediglich seine Wortwahl verändert: „But he continues to use ‘grammar’, ‘logic’ and their cognates interchangeably later too. There is no textual evidence for a change of mind.“⁵² Implizit scheinen einige weitere Wittgensteininterpreten zu Kuuselas Position zu neigen. So behauptet etwa Danièle Moyal-Sharrock, der sogenannte Third Wittgenstein, d.i.Wittgenstein von ca. 1946 bis zu seinem Tod in 1951,⁵³ habe einen erweiterten Grammatikbegriff. (Moyal-Sharrock 2004b: 4 f) Moyal-Sharrock stimmt Bakers und Hackers Interpretation von Wittgensteins Grammatikbegriff teilweise zu, wobei ihre Einschränkungen zeitlicher, nicht konzeptioneller Art sind. Bakers und Hackers Interpretation beziehe sich wesentlich auf den sogenannten Wittgenstein II zwischen dem Beginn der 1930er Jahre und, in etwa, 1946, ohne jedoch Wittgensteins spätesten Schriften gerecht zu werden. In diesen letzten Schriften, insbesondere in den als ÜG herausgegebenen Manuskripten, sieht Moyal-Sharrock eine Erweiterung von Wittgensteins früherer Auffassung von Grammatik, die sie als ein wesentliches Charakteristikum einer dritten Schaffensperiode Wittgensteins – des Third Wittgenstein – betrachtet: „The second Wittgenstein found that what we took to be empirical propositions describing necessary truths […] are really expressions of rules of grammar […]. The third Wittgenstein, I suggest, comes to see that our grammar is more extensive than he has previously thought […] In On Certainty, he comes to see that these ‘general empirical propositions’ are not empirical propositions at all, but rules of grammar.“ (Moyal-Sharrock 2007: 164) Während der zweite – Bakers und Hackers – Wittgenstein nur solche Sätze „grammatisch“ nenne, die offensichtlich den Gebrauch bestimmter Wörter erläutern, z. B. „Rot ist eine Farbe“, sei Wittgensteins spätere Auffassung der Grammatik wesentlich breiter und umfasse sämtliche für uns feststehende, objektive Gewissheiten, die Moyal-Sharrock in Anlehnung an Wittgensteins Türangel-Metapher (vgl. ÜG 341, 343 bzw. Ms 175: 48r, 48v) und deren Übersetzung ins Englische „hinges“ (Angeln) nennt und in vier Kategorien unterteilt (Moyal-Sharrock 2007: 102 f und 165). Die grammatischen Sätze des Wittgenstein II (und nur solche) fallen dabei in die Kategorie der linguistic hinges. Die übrigen Angeln sind für Moyal-Sharrock allesamt non-lingustic und fallen entweder in die Kategorie der personal hinges, die für „mich“ feststehen (z. B. „Ich war noch nie auf dem Mond“), der local hinges, die für die Menschen einer be-
Dieses Zitat stammt von der dritten Seite des bisher unveröffentlichten Papers Kuuselas „The Method of Language-games as a Method of Logic“, das er online zur Verfügung stellt: http://www.academia.edu/1104909/The_Method_of_Language-games_as_a_Method_of_Logic (Stand: 08.03. 2016) Zu dem Textkorpus des Third Wittgenstein zählt Moyal-Sharrock alle ab ungefähr 1946 entstandenen Texte (vgl. 2004b: 2 und 2009: 557 f).
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4 Die Philosophischen Untersuchungen und Wittgensteins späte Manuskripte
stimmten Generation oder Epoche feststehen (z. B. „Die Erde ist rund“) oder der universal hinges, die unumstößliche Gewissheiten für alle normalen Menschen ausdrücken (z. B. „Die Dinge verschwinden nicht, wenn wir nicht hinsehen“) (vgl. Moyal-Sharrock 2007: 102 f).⁵⁴ Um ihre These zu belegen, verweist Moyal-Sharrock überwiegend auf Bemerkungen aus ÜG, worin Wittgenstein das Wort „Grammatik“ oder seine Derivate jedoch kaum verwendet. Anstatt darauf hinzuweisen, versucht sie ihre These mit Hilfe von Bemerkungen zu stützen, die von Logik anstelle von Grammatik handeln, und geht somit implizit davon aus, dass Wittgenstein mit „Logik“ und „Grammatik“ dasselbe meint. Ein weiterer Autor, der implizit davon ausgeht, „Logik“ in Wittgensteins letzten Manuskripten sei ein anderes Wort für „Grammatik“, ist Michael Forster (2004). Bei seiner Betrachtung der Willkürlichkeit von Wittgensteins Grammatik zieht er sowohl Zitate aus dem Big Typescript als auch aus ÜG sowie anderen Schriften heran, ohne weder auf die zeitlichen Abstände der Quellen noch den terminologischen Unterschied von Grammatik und Logik hinzuweisen. Hinsichtlich der Verschiebung von Wittgensteins Sprachgebrauch von „Grammatik“ zu „Logik“ sind mindestens vier Positionen denkbar: – Wittgenstein hat lediglich seine Wortwahl geändert und meint mit „Logik“ dasselbe wie mit „Grammatik“, so dass beide Begriffe gegeneinander austauschbar sind. (Dies ist die Position, die Kuusela explizit und andere Autoren, wie Forster und Moyal-Sharrock, implizit vertreten.) – Wittgensteins Gebrauch von „Logik“ und/oder „Grammatik“ ist nicht konsistent. Wir können folglich keine Rückschlüsse von seiner Terminologie auf seine Auffassung ziehen. – Wittgenstein meint mit „Logik“ und „Grammatik“ nicht dasselbe. Die Verschiebung der Terminologie ist auch eine konzeptionelle Änderung. – Wittgenstein meint mit „Logik“ und „Grammatik“ nicht dasselbe. Die Verschiebung der Terminologie ergibt sich aus seinen früheren Einsichten. Position (2) ist nicht überzeugend, da sich Wittgenstein zeitlebens um eine präzise Wortwahl bemüht hat und sich außerdem tatsächlich Beziehungen zwischen Wittgensteins Terminologie und seiner philosophischen Auffassung feststellen lassen, wie u. a. die vorliegende Untersuchung zeigt.⁵⁵ Damit stehen sich die Positionen (1), (3) und (4) gegenüber. Die Frage ist, ob Wittgenstein in seinen letzten Manuskripten lediglich seine Wortwahl ändert, oder ob die Änderung seiner
Vgl. zu Moyal-Sharrocks Auffassung der „‘hinges as grammatical rules’“ ebenso MoyalSharrock 2013: 365. Sehr deutlich wird dies beispielsweise in 2.3.2.
4.2 Logik in den späten Manuskripten
201
Terminologie auch eine inhaltliche Verschiebung mit sich bringt bzw. sich aus einer solchen ergibt. Mein Anliegen ist es vor allem, nicht von (1) auszugehen, ohne (3) und (4) eingehend geprüft zu haben. Darüber hinaus werde ich hier Position (4) einnehmen. Moyal-Sharrock steht mit ihrer These, der Third Wittgenstein habe einen erweiterten Grammatikbegriff, letztlich zwischen den Positionen (1) und (3). Zwar kann ihre These aufgrund des spärlichen Vorkommens von „Grammatik“ in den letzten Manuskripten nicht richtig sein – und um diese These zu halten, muss sie implizit Position (1) voraussetzen –, doch deutet Moyal-Sharrock in die Richtung von Position (3), wenn sie behauptet, es habe eine konzeptionelle Änderung hinsichtlich Wittgensteins Grammatikbegriffs stattgefunden. Richtig ist die Feststellung, dass Wittgenstein in den letzten Manuskripten keinen erweiterten Begriff von Grammatik hat, sondern von Logik anstelle von Grammatik spricht. Wenn man Position (1) vertritt, hat dies keine weitreichenden Konsequenzen für die Interpretation der letzten Manuskripte. Wenn man, wie Moyal-Sharrock, jedoch von einer konzeptionellen Änderung hinsichtlich des Grammatikbegriffes ausgeht, muss man unter Berücksichtigung der philologischen Ergebnisse Position (3) einnehmen. Position (1) wird dadurch gestützt, dass Wittgensteins Gebrauch von „Logik“ in den späten Manuskripten seinem früheren Gebrauch von „Grammatik“ bezeichnend nahe kommt. Ein Beispiel dafür ist seine Gegenüberstellung von logischen und empirischen Sätzen bzw. Erfahrungssätzen, die seiner früheren Kontrastierung von grammatischen und empirischen Sätzen gegenüber steht. So formulierte er etwa im Big Typescript und den PU:⁵⁶ Unterscheidung zwischen Regel und Erfahrungssatz. Wenn ein Satz der Grammatik ein Naturgesetz der Anwendung des Wortes wäre, so gäbe es grammatische Hypothesen; und wie ein Wort gebraucht werden kann zeigt sich dadurch, wie es gebraucht wird. (Ts 213H: 149v) ‚Der Sessel existiert unabhängig davon ob ihn jemand sieht/wahrnimmt.‘ Ist das ein Erfahrungssatz oder eine verschleierte Festsetzung der Grammatik? (Ts 213H: 265v) ‚Ich kann mir das Gegenteil nicht vorstellen‘ heißt hier natürlich nicht: meine Vorstellungskraft reicht nicht hin. Wir wehren uns mit diesen Worten gegen etwas, was uns durch seine Form einen Erfahrungssatz vortäuscht, aber in Wirklichkeit ein grammatischer Satz ist. (PU 251)
Meine Hervorhebungen.
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4 Die Philosophischen Untersuchungen und Wittgensteins späte Manuskripte
Und was soll ‚Ich weiß nur vom eigenen Fall…‘ überhaupt für ein Satz sein? Ein Erfahrungssatz? Nein. – Ein grammatischer? (PU 295)
In den späten Manuskripten hat er offenbar dieselbe Unterscheidung zwischen Erfahrungssätzen und Sätzen anderer Art im Blick, nennt diese Sätze anderer Art jedoch nicht mehr grammatische, sondern logische:⁵⁷ Und ist dies ein Satz der Erfahrung? – Ich weiß z. B. nicht, ob Rot (d. h. das reine) heller oder dunkler ist als Blau; ich müsste sie sehen um es sagen zu können. Und doch wenn ich es gesehen hätte, so wüsste ich’s nun ein für alle mal, wie das Resultat einer Rechnung. Wo trennen sich hier Logik & Erfahrung/Empirie? (Ms 173: 1r) Inneres ist mit Äußerem nicht nur erfahrungsmäßig verbunden, sondern auch logisch. Inneres ist mit Äußerem logisch verbunden, nicht bloß erfahrungsmäßig. (Ms 173: 36v) Ich will sagen: Sätze von der Form der Erfahrungssätze und nicht nur Sätze der Logik gehören zum Fundament alles Operierens mit Gedanken (mit der Sprache). (Ms 175: 68v; vgl. auch Ms 173: 3v-4r) Sätze werden oft an der Grenze von Logik & Empirie gebraucht, (so) dass ihr Sinn über die Grenze hin & her wechselt, & sie bald als Ausdruck einer Norm, bald als Ausdruck einer Erfahrung gelten. (Denn es ist ja nicht eine psychische Begleiterscheinung – so stellt man sich den ‚Gedanken‘ vor –, sondern die Verwendung, die den logischen vom Erfahrungssatz unterscheidet.) (Ms 176: 9v)
Ein weiteres Beispiel für die Ablösung des Begriffs der Grammatik durch den Begriff der Logik sind Wittgensteins Bemerkungen zur Grammatik bzw. Logik der Farben. In Ms 173 spricht er, im Vergleich zu den anderen späten Manuskripten, am häufigsten von Logik. Von den darin enthaltenen Bemerkungen sind keine in ÜG, dafür hingegen die meisten in den BÜF veröffentlicht. Inhaltlich untersucht Wittgenstein in den BÜF die „Logik der Farbbegriffe“ (Ms 173: 23v, 64r; Ms 176: 7r) und spricht von der „Logik in den Farbbegriffen“ (Ms 173: 25r). Den Begriff der Grammatik bringt er hingegen an keiner Stelle in den späten Manuskripten mit den Farben oder Farbbegriffen in Zusammenhang. In allen Nachlassdokumenten, die zeitlich vor den letzten Manuskripten liegen, hatte er jedoch an keiner Stelle von einer Logik der Farbbegriffe, sondern stets (d.i. von 1931 bis in Big Typescript) von einer „Grammatik der Farben“ gesprochen⁵⁸ und bereits im Jahr 1930 sein
Meine Hervorhebungen. Ms 112: 83, 86v; Ms 153b: 7v; Ts 211: 477, 479; Ts 212: 178; Ts 213: 53.
4.2 Logik in den späten Manuskripten
203
Farbenoktaeder „Grammatik“ genannt (vgl. 2.2.5). Schließlich fasst Wittgenstein in den letzten Manuskripten nicht mehr, wie zuvor, die Grammatik als Beschreibung des Sprachgebrauchs auf, sondern die Logik: Ein logischer Satz beschreibt „die begriffliche (sprachliche) Situation“ (Ms 172: 16) „[u]nd zur Logik gehört alles, was ein Sprachspiel beschreibt.“ (Ms 172: 18)⁵⁹ Neben der Verschiebung der Terminologie von „Grammatik“ zu „Logik“ in den späten Manuskripten verwendet Wittgenstein den Begriff der Logik auch auf eine Art und Weise, die uns aus seinen früheren Schriften wohl vertraut ist, wenn er etwa Bemerkungen zur logischen Möglichkeit oder Unmöglichkeit (Ms 172: 7; Ms 176: 30r, 50v, 76) formuliert. Den Ausdruck „grammatisch möglich“ oder „grammatisch unmöglich“ hat er hingegen zu keiner Zeit verwendet, wohl aber gezeigt, dass sich logische Möglich- und Unmöglichkeiten in grammatischen Sätzen ausdrücken lassen, dass Grammatik also eng mit Logik verzahnt ist (vgl. 3.1.7). Wittgenstein verwendet somit gegen Ende seines Lebens „Logik“ sowohl in einer Art und Weise, wie er sonst „Grammatik“ verwendet hat, als auch in der Art und Weise, wie er „Logik“ bereits in früheren Schriften seit dem TLP gebrauchte. Dies spricht für die Positionen (3) und (4): die Entwicklung von Wittgensteins Gebrauch von „Logik“ suggeriert eine konzeptionelle Veränderung in seinem Denken. Die Veränderung findet nicht in den späten Manuskripten oder unmittelbar vor deren Entstehung statt, wie Vertreter von Position (3) behaupten würden, sondern ihre Wurzeln reichen zurück zu Wittgensteins Einsicht, dass das grammatische Regelsystem unserer Sprache weder vollständig noch allgemeingültig zu sein braucht (vgl. Kap. 3). Die Folgen der Verschiebung in seinem Denken vom Streben nach der übersichtlichen Darstellung der Grammatik zur Beschreibung des Sprachgebrauchs im jeweils konkreten Fall werden damit auch in den späten Manuskripten sichtbar. Mit dieser Lesart vertrete ich Position (4). Die Grammatik
Bemerkenswerterweise beschäftigt er sich auch mit den Grenzen einer solchen Beschreibung, was zu einer Betonung der Praxis führt: ,“Wie kann ich Einem beschreiben, wie wir das Wort ‚morgen’ gebrauchen? Ich kann ein Kind dies/es lehren; aber das heißt nicht, ihm den Gebrauch beschreiben. Aber kann ich doch die Praxis von Leuten beschreiben, die einen Begriff haben, z. B. ‚rötlichgrün’, den wir nicht besitzen? – Ich kann diese Praxis doch jedenfalls niemand lehren. Kann ich denn auch nur sagen: ‚Diese Leute nennen dies (ein Braun etwa) rötlichgrün? Wäre es dann eben nur ein andres Wort für etwas, wofür auch ich eins habe? Wenn sie wirklich einen andern Begriff haben als ich, so muss sich das darin zeigen, dass ich mich in ihrem Wortgebrauch nicht ganz auskenne. Ich habe aber doch immer wieder gesagt, man könne sich denken, dass unsre Begriffe anders wären als sie sind. War das alles Unsinn?“ (Ms 173: 28r) Diese Überlegung scheint Wittgenstein stark beschäftigt zu haben, denn er bricht seine Untersuchung für diesen Tag ab und setzt sie erst nahezu zwei Wochen später, am 11. April 1950, fort.
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4 Die Philosophischen Untersuchungen und Wittgensteins späte Manuskripte
wird terminologisch von der Logik abgelöst, doch daraus dürfen wir nicht schließen, dass Logik gleichbedeutend mit Grammatik ist.⁶⁰ Spätestens zu Beginn seiner Arbeit am Brown Book war Wittgenstein zu der Einsicht gelangt, dass er den theoretischen Begriff einer Grammatik unserer Sprache für sein Philosophieren nicht benötigt. Aufgrund seiner Abkehr von Dogmatismus und Theorie beginnt er ihn zu vermeiden (vgl. 3.3.2). Im Brown Book Korpus wäre er leicht ohne den Begriff der Grammatik ausgekommen, denn darin lässt sich jede Instanz von „Grammatik“ durch das Wort „Sprachgebrauch“ ersetzen (vgl. 3.2). Später in den PU verwendet er den Begriff der Grammatik wieder häufiger, weil es sich bei den PU um ein Album seiner Bemerkungen ab 1929 handelt (vgl. 4.1). Wenn es richtig ist, dass Wittgenstein 1936 den theoretischen Begriff der Grammatik aufgibt, dann überrascht es nicht, wenn er in seinen späteren Notizen davon absieht, diesen Begriff wieder aufzugreifen. Im Gegenteil ist Wittgensteins spärliche Verwendung von „Grammatik“ in den Mss 172– 177 im Einklang mit der in dieser Arbeit vorgestellten Interpretation der Entwicklung des Grammatikbegriffs.⁶¹ Lässt sich aber Wittgensteins Verständnis von Grammatik als der Gebrauch eines Wortes im jeweils konkreten Fall, wie er im Brown Book zutage tritt, auch auf die letzten Manuskripte anwenden? Wenn das der Fall ist, so wäre zu erwarten, dass Wittgenstein in den letzten Manuskripten vermehrt den Ausdruck „Gebrauch eines Wortes“ – anstelle von „Grammatik eines Wortes“ – verwendet. Dies ist tatsächlich der Fall, wie die folgenden Beispiele demonstrieren: Gebrauch von ‚Ich weiß‘ (Ms 172: 4) Gebrauch von Worten (Ms 172: 11 f) Gebrauch des Wortes ‚gelblich‘ (Ms 173: 25r) wie wir das Wort ‚morgen‘ gebrauchen? (Ms 173: 28r) Gebrauch des Wortes ‚seelisch‘ (Ms 173: 34v) den normalen Gebrauch der Farbwörter (Ms 173: 84v)
Diese Lesart werde ich unten näher erläutern. Siehe insbesondere Abschnitt 4.2.4. Ein Einwand könnte lauten, dass Wittgenstein in den letzten Manuskripten nicht vollständig davon ablässt, das Wort „Grammatik“ zu verwenden, was darauf hinweist, dass der Grammatikbegriff nicht vollkommen an Bedeutung für ihn verloren haben kann. Darauf möchte ich betonen, dass es sich bei den Bemerkungen in den letzten Manuskripten lediglich um Notizen handelt, nicht um ausgereifte, überarbeitete Bemerkungen. Wir können nicht ausschließen, dass Wittgenstein in einem weiteren Arbeitsschritt versucht hätte, den Begriff der Grammatik in seinen Bemerkungen zu vermeiden. Dessen ungeachtet ist die Feststellung richtig, dass er „Grammatik“ nicht gänzlich aus seinem Vokabular verbannt hat. Hätte der Grammatikbegriff jedoch nach wie vor einen zentralen Stellenwert in seinem Denken inne, so hätte ihn Wittgenstein mit Sicherheit öfter verwendet; und hätte sich nichts an seinen Auffassungen geändert, welchen Grund hätte er für eine terminologische Verschiebung gehabt?
4.2 Logik in den späten Manuskripten
205
Gebrauch des Wortes ‚sehen‘ (Ms 173: 97v) Gebrauch des Wortes ‚wissen‘ (Ms 174: 1v) Gebrauch des Wortes Wissen (Ms 175: 73v) das Wort ‚Baum‘ gebrauchen (Ms 176: 36r)
Diese Liste ließe sich leicht ergänzen. Zwar hat Wittgenstein bereits in den frühen dreißiger Jahren mit derartigen Formulierungen den „Gebrauch von X“ untersucht, doch parallel dazu findet sich in seinen Bemerkungen bis mindestens in die PU zusätzlich die Formulierung „Grammatik von X“, die in den letzten Manuskripten bis auf eine einzige Ausnahme fehlt.⁶² Hätte Wittgenstein in seinen letzten Manuskripten wiederum seinen Gebrauch des Grammatikbegriffes durch den Begriff der Logik ersetzt, wie es Vertreter von Position (1) behaupten, wäre zu erwarten, dass sich in den letzten Manuskripten Instanzen von „Logik von X“ finden, was jedoch nicht der Fall ist.⁶³ Stattdessen untersucht Wittgenstein wie erwartet den Gebrauch von X. Die Untersuchung der Grammatik, so meine These, hat Wittgenstein seit etwa dem Brown Book durch die Untersuchung des Sprachgebrauchs abgelöst. Der Begriff der Logik fällt hingegen nicht mit dem Sprachgebrauch zusammen, so dass Logik und Grammatik nicht gegeneinander austauschbar sind. Zwar ersetzt Wittgenstein in vielen Fällen in den späten Manuskripten seinen Gebrauch von „Grammatik“ durch den Gebrauch von „Logik“, doch umgekehrt lassen sich nicht alle Instanzen von „Logik“ durch „Grammatik“ ersetzen. Im folgenden Abschnitt wird eine zentrale Bemerkung der späten Manuskripte genauer beleuchtet, die, wie noch deutlich werden wird, Wittgensteins spätes Logikverständnis auf den Punkt bringt: Logik zeigt sich in der Praxis der Sprache.
4.2.3 „Du musst die Praxis der Sprache ansehen“ Wenige Tage vor seinem Tod, am 11. April 1951, notiert Wittgenstein: Komme ich nicht immer mehr und mehr dahin zu sagen, daß die Logik sich am Schluss nicht beschreiben lasse? Du mußt die Praxis der Sprache ansehen, dann siehst du sie. (Ms 176: 41r)
Die Ausnahme befindet sich in Ms 175: 38v: „die Grammatik von glauben“. Allerdings verwendet Wittgenstein zweimal den Ausdruck „Logik des Begriffes X“ (Ms 173: 70v; Ms 176: 10v). In beiden Bemerkungen, die sich im Wortlaut sehr ähneln, ist der Begriff „weiß“ gemeint. Logik wird hier mit Bedeutung in Verbindung gebracht, nicht jedoch mit Gebrauch. Wittgenstein scheint an dieser Stelle in alte Denkmuster zurückzufallen.
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4 Die Philosophischen Untersuchungen und Wittgensteins späte Manuskripte
Diese Notiz ist aus mehreren Gründen bemerkenswert. Auffällig ist zunächst, dass sie mit einer Frage beginnt. Anstatt die Unbeschreibbarkeit der Logik zu behaupten, scheint Wittgenstein sich hier selbst zu fragen, ob seine Gedankengänge ihn nicht immer mehr dazu führen, eine solche Unbeschreibbarkeit anzunehmen. Die Formulierung „Komme ich nicht immer mehr und mehr dahin zu sagen“ suggeriert weiter, dass Wittgenstein hier zu einer unerwarteten Einsicht gekommen ist. Es handelt sich um eine rhetorische Frage, die ein „Ja“ erwarten lässt. Der Leser ist also nicht, wie so oft in Wittgensteins Texten, mit einer Frage allein gelassen und aufgefordert, selbst eine Antwort zu finden, sondern die Antwort ist in dieser Frage gleichsam enthalten. So handelt es sich bei dem nachfolgenden Aussagesatz nicht um eine Antwort, sondern um eine Weiterführung des Gedankens. Die Bemerkung ließe sich wie folgt umformulieren: „Die Logik lässt sich nicht beschreiben. Du musst die Praxis der Sprache ansehen, um sie zu sehen.“ Beide Sätze stehen unverbunden nebeneinander. Wir können sie uns zwar mit verschiedenen Konjunktionen verknüpft denken, aus der Bemerkung selbst geht jedoch nicht hervor, welche Art der Satzverbindung Wittgenstein im Sinn hatte: – kausal (die Logik lässt sich nicht beschreiben, weil du die Praxis der Sprache ansehen musst, um sie zu sehen) – adversativ (du kannst die Logik nicht beschreiben, sondern musst die Praxis der Sprache ansehen, um sie zu sehen) oder – konsekutiv (die Logik lässt sich nicht beschreiben, folglich musst du die Praxis der Sprache ansehen, um sie zu sehen). Am plausibelsten⁶⁴ scheint es hier, eine adversative oder konsekutive Verbindung anzunehmen, die die Gegensätzlichkeit des ersten und zweiten Satzes der Bemerkung unterstreicht; anstatt vergeblich zu versuchen, die Logik zu beschreiben, sollen wir die Praxis der Sprache ansehen. Wenn die Logik aber dasjenige ist, was wir sehen, wenn wir die Praxis der Sprache betrachten, so könnte man meinen, dass wir die Logik doch beschreiben können, indem wir die Praxis der Sprache beschreiben. Genau dieses scheint Wittgenstein jedoch verneinen zu wollen, wenn er dahin kommt, zu sagen, dass sich die Logik am Schluss eben nicht beschreiben lasse. Der Kontrast zwischen dem ersten und dem zweiten Satz liegt nicht zwischen „Logik“ und „Praxis der Sprache“, sondern vor allem zwischen „beschreiben“ und „sehen“ – eine Unterscheidung, die an jene zwischen „sagen“ und „zeigen“ im TLP erinnert. Vor diesem Hintergrund ließe sich die Bemerkung auch so umformulieren: „Die Logik lässt sich nicht beschreiben. Sie zeigt sich in der Praxis der Sprache.“ Einen Satz
Zum Begriff der Plausibilität vgl. Böhnert und Reszke 2015.
4.2 Logik in den späten Manuskripten
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der Logik auszusprechen wäre demzufolge genauso unsinnig, wie auch gemäß des TLP das Resultat des Versuchs, das Sich-Zeigende in Worte zu fassen, unsinnig ist. Logik lässt sich nicht beschreiben, denn eine solche Beschreibung käme dem Versuch gleich, mittels der Sprache die Grenze der Sprache zu beschreiben – ein Vorhaben, für das wir, aus der Logik heraustretend, uns „außerhalb der Logik aufstellen“ (TLP 4.12) müssten. Die Bemerkung lässt sich ebenfalls, wenn auch mit Blick auf einen anderen Aspekt, mit den PU verbinden. Sie kann uns in zweierlei Hinsicht Aufschlüsse über Wittgensteins Vorstellung von der Natur der Logik geben. Zum einen, von der Logik ausgehend, lenkt sie unseren Blick auf die Praxis der Sprache, auf ihre alltägliche Verwendung, und fordert uns auf, dort nach der Logik zu suchen. Umgekehrt, von der Praxis ausgehend, können wir sagen, dass genau das, was wir in der Praxis unserer Sprache sehen, Logik ist. In PU 89, worin Wittgenstein ebenfalls die Logik thematisiert, lesen wir: „es ist vielmehr für unsere Untersuchung wesentlich, daß wir nichts Neues mit ihr lernen wollen. Wir wollen etwas verstehen, was schon offen vor unseren Augen liegt. Denn das scheinen wir, in irgendeinem Sinne, nicht zu verstehen.“ Indem sich die Logik in unserem alltäglichen Handeln zeigt, ist sie uns nicht neu, sondern liegt bereits offen vor unseren Augen. In diesem Sinne formuliert Wittgenstein auch in Ms 173: 93r: „Die Praxis gibt den Worten ihren Sinn.“⁶⁵ Im Folgenden werde ich eine Interpretation von Wittgensteins Logikbegriff darlegen, die nicht nur die späten Manuskripte, sondern Wittgensteins Gesamtwerk berücksichtigt. Dadurch soll unter anderem hervorgehen, warum sich seine Terminologie in den späten Manuskripten von Grammatik zu Logik verschiebt. Im Zuge dieser Darstellung werden die wesentlichen Ergebnisse des dritten Kapitels kurz aufgegriffen, um die Entwicklung insgesamt nachzuvollziehen. Für das Verständnis der folgenden Überlegungen ist die Kenntnis der Inhalte der Kapitel 2 und 3 dennoch unerlässlich.
4.2.4 Logik als Rahmen unseres Denkens und Schließens Logik wird gemeinhin als die Lehre des vernünftigen Schließens verstanden. Wittgenstein verwendet den Begriff der Logik jedoch zumindest teilweise in einem anderen Sinn – nicht nur in den letzten Manuskripten, sondern in seinem gesamten Nachlass, beginnend mit dem TLP und seinen frühen Tagebuchnotizen.
Zur Bedeutung des Praxisbegriffes in Wittgensteins Philosophie vgl. u. a. die Arbeiten von Kjell S. Johannessen, insbesondere Johannessen 1988.
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Bereits im TLP distanziert er sich von der verbreiteten Auffassung von Logik als der Lehre des vernünftigen Schließens wenn er formuliert, Logik sei keine Lehre, sondern ein Spiegelbild der Welt. (TLP 6.13) Gleichzeitig, so heißt es im TLP, erfüllt Logik die Welt. (TLP 5.61) Die Grenzen der Welt bedeuten die Grenzen der Sprache – und damit auch die Grenzen der Logik. In der Tat sind Sprache und Logik in Wittgensteins Denken untrennbar miteinander verknüpft. Meinem Verständnis von Wittgenstein zufolge fasst er Logik nicht als Lehre des vernünftigen Schließens, sondern als Gerüst oder Rahmen unseres Denkens und Schließens auf.⁶⁶ In seinem gesamten philosophischen Werk ist er versucht, diesen Rahmen abzustecken. Alles, was sich innerhalb des Rahmens befindet, ist sinnvoll; alles, was außerhalb des Rahmens liegt oder ihn beschreibt, ist Unsinn.⁶⁷ Im TLP wird der Rahmen unseres Denkens und Schließens durch die Regeln der logischen Syntax definiert. Wittgenstein unternimmt den Versuch, vermittels logischer Analyse die Logik aus der Alltagssprache herauszufiltern. Schon bald nach seiner Wiederaufnahme des Philosophierens und Rückkehr nach Cambridge erkennt er jedoch gegen Ende des Jahres 1929, dass er sich vielmehr der Alltagssprache zuwenden muss, um sein Ziel zu erreichen: „Die Sprache ist schon vollkommen geordnet. Die Schwierigkeit besteht nur darin, die Syntax einfach und übersichtlich zu machen.“ (WWK, Anm. 1; vgl. Kap. 2) Deshalb beginnt er, an einer übersichtlichen Darstellung der Grammatik zu arbeiten, und begreift Grammatik als vollständiges System der Regeln für den sinnvollen Gebrauch von Worten. Dennoch strebt er auch zu dieser Zeit eine Übersicht der Logik an, denn das System der grammatischen Regeln unserer Sprache soll gerade den logischen Rahmen unseres Denkens und Schließens definieren. In diesem Sinn fallen Grammatik und Logik in seinem Denken zusammen; es scheint sogar, die Grammatik habe die Logik in gewissem Sinn ersetzt. Der logische Raum ist im Zuge dieser Entwicklung zum grammatischen geworden, und, wie die Untersuchung des erstens Kapitels gezeigt hat, rückte zu Beginn der 30er Jahre der Begriff der Grammatik zunehmend in den Vordergrund von Wittgensteins Betrachtungen. Richtiger jedoch als die Behauptung, Grammatik habe Logik in Wittgensteins Untersuchungen ersetzt, ist die Feststellung, dass beide untrennbar miteinander verwoben sind: Logische Notwendigkeiten und Unmöglichkeiten – Tautologien und Kontradiktionen – werden durch grammatische Sätze wie „Jeder Stab hat eine Länge“ (Tautologie) bzw. „Kein Fleck im Gesichtsfeld ist zur selben Zeit rot und grün“ (Kontradiktion) ausgedrückt. (Vgl. 3.1.7) Wenn wir also die Logik Diese Überlegungen entstammen meiner englischsprachigen Trial Lecture, die ein Teil der Disputation an der Universität Bergen war. Darin habe ich den Ausdruck „framework of our reasoning“ gewählt. Das Unsinnige ist nicht notwendig irrelevant.
4.2 Logik in den späten Manuskripten
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unserer Sprache suchen, müssen wir sie nicht vermittels logischer Analyse aus der Umgangssprache herausfiltern, sondern die Grammatik der Umgangssprache selbst betrachten. Wittgenstein rückt zu keiner Zeit von dieser Wende zur Betrachtung der normalen Sprache ab, gelangt jedoch zu der Einsicht, dass das System der Grammatik, dessen übersichtliche Darstellung er angestrebt hatte, weder vollständig ist noch vollständig sein muss. Außerdem erkennt er, dass grammatische Regeln nicht allgemein gelten, sondern modifiziert werden können „as we go along“. (PU 83) Ist jedoch das grammatische Regelsystem weder vollständig noch allgemeingültig, ist es auch nicht geeignet, den Rahmen unseres Denkens uns Schließens – d. h. die Logik – abzustecken. Aus diesem Grund verliert der Begriff eines grammatischen Systems für Wittgenstein seinen Sinn. In der Tat wird der Begriff der Grammatik für ihn immer unbedeutender, als er seine Arbeit am Big Typescript abgeschlossen und bevor er das Diktat des Brown Book an seine Schüler beendet hatte. Anstelle ein System der grammatischen Regeln aufzustellen, beginnt er nun damit, den tatsächlichen Gebrauch der Worte in besonderen sprachlichen Situationen zu beschreiben. Zur gleichen Zeit löst (a) der Vergleich von Sprache mit einem Spiel das Verständnis von Sprache als Kalkül ab, gewinnt (b) der Begriff der Praxis zunehmend an Relevanz, und verschiebt sich (c) die Auffassung von der Bedeutung eines Wortes vom Ort im grammatischen Raum zum Gebrauch in der Sprache. An dieser Stelle bleibt die Frage offen, welche Rolle Wittgensteins Begriff der Logik in Folge dieser Entwicklung zukommt. Hat Wittgenstein sein Vorhaben, das Gerüst unseres Denkens und Schließens abzustecken, etwa aufgegeben? Nein, das hat er mit Sicherheit nicht getan. Er hat vielmehr erkannt, dass er es nicht in einem System finden kann. Wittgensteins Untersuchung ist zu jeder Zeit seiner philosophischen Arbeit eine logische. Zwar hat sich ihm der Begriff der Grammatik viele Jahre lang als nützlich erwiesen – und er hat nie ganz aufgehört, das Wort „Grammatik“ zu gebrauchen – doch nicht Grammatik, sondern Sprache ist sein Schlüssel zum Verständnis der Logik seit dem TLP, und der Begriff der Sprache hat seine Bedeutsamkeit in seinen Schriften seitdem nie verloren. Die grammatischen Regeln unserer Sprache sind gleichzeitig auch logische. Jede Überschreitung dieser Regeln führt unweigerlich zu Unsinn. Wittgenstein hatte logische Notwendigkeit und Unmöglichkeit in unserer Alltagssprache gefunden und weicht von dieser Auffassung nicht mehr ab. Was sich allmählich ändert ist die Hervorhebung der Bedeutung der Praxis und des (nicht‐)sprachlichen Handelns, die in Wittgensteins spätesten Schriften am deutlichsten zum Ausdruck kommt. Aufgrund von Wittgensteins Sensibilität für den richtigen Ausdruck seiner Gedanken und seinem Streben nach diesem Ausdruck, der ihm Erlösung bringen
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4 Die Philosophischen Untersuchungen und Wittgensteins späte Manuskripte
soll, halte ich es für überzeugend, die terminologische Verschiebung von Grammatik zu Logik in seinen Schriften als Teil einer konzeptionellen Änderung seiner philosophischen Auffassungen zu deuten. Die veränderte Redeweise in den späten Manuskripten kristallisiert sich aus Wittgensteins früheren Einsichten heraus und trifft den Nagel auf den Kopf. Sie wurzelt in Wittgensteins Einsicht, dass wir in der Lage sind, die Regeln von Spielen und Sprachspielen zu ändern und zu formen, während wir sie anwenden – as we go along. Grammatische und gleichzeitig logische Regeln sind nicht allgemeingültig, sondern hängen vom Kontext ihres jeweiligen Gebrauchs ab. Die Regeln unserer Umgangssprache zu betrachten reicht somit nicht aus, den Rahmen unseres Denkens und Schließens abzustecken. Was wir vielmehr betrachten müssen ist der Gebrauch der Umgangssprache. Wie oben erläutert, ist Wittgensteins Untersuchung zu jeder Zeit eine logische. Über einen langen Zeitraum hinweg hat er sie jedoch als eine grammatische bezeichnet, etwa in der bekannten Bemerkung PU 90: „Unsere Betrachtung ist daher eine grammatische.“ Er hat das grammatische Wesen seines Ansatzes betont, um zu verdeutlichen, dass wir die Logik, im Sinne des Rahmens unseres Denkens und Schließens, in unserer Alltagssprache finden. In den letzten Manuskripten heißt es jedoch: „Komme ich nicht immer mehr und mehr dahin, zu sagen, daß die Logik sich am Schluß nicht beschreiben lasse? Du mußt die Praxis der Sprache ansehen, dann siehst Du sie.“ (Ms 176: 41r-41v) Um den Rahmen unseres Denkens und Schließens zu finden, müssen wir die Praxis der Sprache betrachten. Allein die grammatischen Regeln zu untersuchen, reicht nicht aus. Der Schlüssel zum Verständnis der terminologischen Verschiebung von Grammatik zu Logik ist daher der Begriff der Praxis. Die Bedeutung von Praxis, Handeln und Verhalten in Wittgensteins Denken ist nicht neu in den späten Manuskripten, sondern lässt sich bis zu seinen Bemerkungen der frühen 30er Jahre, die er zum Teil ins Big Typescript übernommen hat, zurückverfolgen. Der Aspekt der Praxis ist außerdem in Wittgensteins berühmtem Begriff des Sprachspiels enthalten, den er erstmals im Februar 1932 (Ms 113) gebraucht und der im Blue Book, im Brown Book und nicht zuletzt in den PU an Bedeutung gewinnt. In der Tat ist ein großer Teil der in dieser Untersuchung beschriebenen Verschiebungen in Wittgensteins Denken bereits mit dem Brown Book Korpus abgeschlossen, wie in Kapitel 3 dargelegt wurde. Die Behauptung, dass der Begriff der Praxis in den späten Manuskripten maßgeblich an Bedeutung gewinnt, verlangt somit eine Erklärung. Der Begriff der Praxis ist in den späten Manuskripten zentral, denn nur darin finden sich Bemerkungen, in denen Wittgenstein den Begriff der Logik mit Hilfe des Begriffs des Sprachspiels erläutert. In Ms 172 notiert er: „Und zur Logik gehört alles, was ein Sprachspiel beschreibt“ (Ms 172: 18), und in Ms 174 (17r) lesen wir
4.2 Logik in den späten Manuskripten
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erneut: „Was als ausreichende Prüfung einer Aussage gilt, – gehört zur Logik. Es gehört zur Beschreibung des Sprachspiels.“ Eine derartige Bemerkung, nicht einmal eine diesen Formulierungen ähnliche Bemerkung, findet sich an keiner anderen Stelle in Wittgensteins Nachlass.Wir können daher davon ausgehen, dass er einige seiner wesentlichen Einsichten, deren Wurzeln weit in seinem Denken zurückreichen, erst gegen Ende seines Lebens vollständig umsetzt. Erst zu dieser Zeit ist er gewillt, bereit, oder in der Lage, diese Einsichten schriftlich auszuformulieren und die Konsequenzen zu ziehen; erst zu dieser Zeit findet er den richtigen Ausdruck seiner Gedanken. Doch auch jetzt ringt er noch mit seinen Auffassungen, etwa in Ms 173 (90r), wenn er notiert: „Hier könnte man nun fragen, was ich denn eigentlich will, wieweit ich die Grammatik behandeln will.“ In den Bemerkungen, in denen er erklärt, dass alles, was ein Sprachspiel beschreibt, zur Logik gehört, scheint er jedoch direkt auf diesen inneren Konflikt zu antworten und zu beginnen, ihn aufzulösen. Um zu verstehen, was es heißt, dass jede Beschreibung eines Sprachspiels zur Logik gehört, müssen wir noch einmal einen Blick auf den Begriff des Sprachspiels werfen, dessen bekannteste Charakterisierung in den PU enthalten ist: „Ich werde auch das Ganze: der Sprache und der Tätigkeiten, mit denen sie verwoben ist, das ‚Sprachspiel’ nennen.“ (PU 7) Auch viele weitere Nachlassbemerkungen heben die wesentliche Verknüpfung der Begriffe des Sprachspiels und der Praxis hervor, z. B.: Das Wort ‚Sprachspiel‘ betont hier, daß Sprechen ein Teil / Teilvorgang gewisser / von gewissen Tätigkeiten / Handlungen ist. (Ms 152: 48)⁶⁸ Die Begründung aber, die Rechtfertigung der Evidenz / des Sprachspiels kommt zu einem Ende; – das Ende aber ist nicht, daß uns gewisse Sätze unmittelbar als wahr einleuchten, also eine Art Sehen unsererseits, sondern unser Handeln, welches am Grunde des Sprachspiels liegt. (Ms 175: 4v-5r)⁶⁹ Ein Sprachspiel beschreiben heißt, Handlungen der Menschen beschreiben; also eine Beschreibung der Art geben, wie wir es öfters getan haben. (Ms 119: 147r)⁷⁰
Wenn die Beschreibung eines Sprachspiels die Beschreibung der Handlungen von Personen ist, und wenn alles, was ein Sprachspiel beschreibt, zur Logik gehört,
Erstmals notiert 1936. Erstmals notiert 1936. Erstmals notiert 1937.
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dann gehört die Beschreibung der Handlungen von Personen zur Logik. Wittgenstein will natürlich nicht sagen, ein Philosoph solle einzelne Menschen in ihrem Alltag beobachten, ihre Handlungen beschreiben und diese Beschreibungen schließlich „Logik“ nennen. Wir dürfen an dieser Stelle nicht vergessen, dass, wie wir bereits gesehen haben, die Logik sich gar nicht beschreiben lässt, so dass es irreführend wäre, die Beschreibung der Handlungen der Menschen „Logik“ zu nennen. Vielmehr lässt sich sagen, dass sich die Logik in derartigen Beschreibungen zeigt. Wir dürfen ebenfalls nicht übersehen, dass Wittgenstein nicht nur an unseren Handlungen interessiert ist, sondern auch an den Regeln, die diese Handlungen leiten. Noch immer sieht er seinen Ausgangspunkt in der Sprache, und wie jedes Spiel wird Sprache nicht nur gebraucht, sondern beinhaltet auch gewisse Regeln. In diesem Sinne notiert Wittgenstein in Ms 172 (16): „Es ist ein logischer Satz, denn er beschreibt ja die begriffliche (sprachliche) Situation.“ Um zu sehen, von welchem Satz die Rede ist, müssen wir den Kontext heranziehen. Dabei werden wir Zeugen eines Dialogs über ein epistemisch-mathematisches Sprachspiel: Wann sagt man, Ich weiß daß … x … = … ?⁷¹ Wenn man die Rechnung geprüft hat. Was ist das für ein Satz: ‚Wie sähe denn hier ein Fehler aus!‘? Es müßte ein logischer Satz sein. Aber es ist eine Logik, die nicht gebraucht wird, weil, was sie lehrt, nicht durch Sätze gelehrt wird. – Es ist ein logischer Satz, denn er beschreibt ja die begriffliche (sprachliche) Situation. (Ms 172: 16)
Ein Gesprächspartner sagt, „Wie sähe denn hier ein Fehler aus!“ sei ein logischer Satz. Der andere stellt das in Frage mit der Begründung, dass wir Rechnen nicht durch Sätze lernen, sondern dass uns die Technik des Rechnens beigebracht wird – in den meisten Fällen in der Schule – und wir so die Praxis des Rechnens erlernen. Der erste Gesprächspartner erwidert hierauf, der Satz beschreibe dennoch die sprachliche Situation und müsse folglich ein logischer sein. Hier ist es wichtig, sich zu erinnern, dass die Bemerkungen in den letzten Manuskripten nicht annähernd so überarbeitet sind wie etwa in den PU. Es handelt sich um Notizbücher, die Wittgenstein bei sich trug, und es kann gut sein, dass wir ihm in einem Fall wie diesem bei einem Selbstgespräch zusehen. Es ist jedoch nicht von der Hand zu weisen, dass Wittgenstein beides betrachtet: die Handlung bzw. die Praxis und den sprachlichen Ausdruck, die Regel die diese Praxis leitet. Sprachspiele beinhalten beides, Sprache und Handlung. Dieser Zusammenhang wird auch in der Flussbettmetapher deutlich, die Gegenstand des
Es geht um die Gleichung 12 x 12 = 144.
4.2 Logik in den späten Manuskripten
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folgenden Abschnitts sein wird und Wittgensteins Logikverständnis weiter verdeutlicht.
4.2.5 Die Flussbettmetapher In den späten Manuskripten wird Wittgensteins Bestreben, den Rahmen unseres Denkens und Schließens abzustecken, sehr deutlich. Dieser Rahmen besteht aus (sprachlichen wie nicht-sprachlichen) Überzeugungen, die für uns feststehen und die wir nicht sinnvoll bezweifeln können. Wittgenstein verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff des Weltbildes sowie die Flussbettmetapher. Beide werden in diesem Abschnitt diskutiert. Dazu werde ich die Flussbettmetapher zunächst als Ganzes zitieren und im Anschluss abschnittsweise besprechen: Aber mein Weltbild habe ich nicht, weil ich mich von seiner Richtigkeit überzeugt habe; auch nicht, weil ich von seiner Richtigkeit überzeugt bin. Sondern es ist der überkommende Hintergrund, auf dem ich zwischen wahr und falsch unterscheide. Die Sätze, die dies Weltbild beschreiben, könnten zu einer Art Mythologie gehören / könnte man mythologisch nennen. Und ihre Rolle ist ähnlich der von Spielregeln, und das Spiel kann man auch rein praktisch, ohne ausgesprochene Regeln lernen. Man könnte sich vorstellen, daß gewisse Sätze von der Form der Erfahrungssätze gefroren / erstarrt wären und als Leitung für die nicht gefrorenen / erstarrten funktionierten; und daß sich dies Verhältnis mit der Zeit änderte, indem flüssige Sätze erstarrten und feste / gefrorene flüssig würden. Die Mythologie kann wieder in Fluß geraten, das Flußbett der Gedanken sich verschieben. Aber ich unterscheide zwischen der Bewegung / dem Fließen / Strömen des Wassers im Flußbett und der Verschiebung dieses; obwohl es eine scharfe Trennung der beiden nicht gibt. Wenn aber Einer sagte ‚Also ist auch die Logik eine Erfahrungswissenschaft‘, so hätte er unrecht. Aber dies ist richtig, daß der gleiche Satz einmal als von der Erfahrung zu prüfen, einmal als Regel der Prüfung behandelt werden kann. Ja das Ufer jenes Flusses besteht zum Teil aus hartem Gestein, das keiner, oder einer unmerkbaren Änderung unterliegt, und teils aus Sand, der bald hier bald dort weg- und angeschwemmt wird. (Ms 174: 21r-22r)
Die Flussbettmetapher fasst wesentliche Aspekte der Logik in Wittgensteins Denken zusammen. Sie beginnt mit dem Begriff des Weltbildes: Wir wählen nicht bewusst das richtige Weltbild aus einer Reihe möglicher Weltbilder aus, sondern unterscheiden vielmehr erst vor dem Hintergrund unseres Weltbildes, was richtig und was falsch ist. Das Weltbild ist somit „der überkommene Hintergrund, vor dem [wir] zwischen wahr und falsch unterscheide[n]“. Das Wort „überkommen“ ist hier zentral, weil es auf eine Tradition verweist – auf etwas, das an die nächste
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Generation weitergegeben, tradiert, wird. Wir werden nicht bereits mit einem Weltbild geboren, sondern lernen es von unseren Eltern, unseren Lehrern, und der Gesellschaft, in der wir leben; wir werden gleichsam in ein Weltbild hineingeboren. Dieses Weltbild wird durch Sätze beschrieben, die Wittgenstein logische Sätze nennt. Die Rolle der logischen Sätze ist vergleichbar den Regeln eines Spiels – ein Vergleich, der uns sehr vertraut ist, denn Wittgenstein hat ihn schon früher in Bezug auf grammatische Regeln gezogen. Hier jedoch sind es logische Sätze, die das Weltbild beschreiben. An dieser Stelle betont Wittgenstein die Bedeutung der Praxis: „[…] und das Spiel kann man auch rein praktisch, ohne ausgesprochene Regeln lernen.“ Es geht hier nicht um einzelne Sprachspiele, sondern um die logischen Sätze, die den Rahmen unseres Denkens und Schließens definieren, und die wir, vergleichbar den Regeln eines Spiels, rein praktisch erlernen können. Wir lernen nicht eine Menge von Sätzen auswendig, sondern uns in der Welt zu verhalten und innerhalb der Welt zu handeln. Zum Beispiel wird uns nicht beigebracht, dass es Stühle gibt, sondern wir lernen, Stühle zu identifizieren, uns auf sie zu setzen, sie herbeizuholen, auf sie zu klettern und dergleichen: „Das Kind lernt nicht, daß es Bücher gibt, daß es Sessel gibt etc. etc., sondern es lernt Bücher holen, sich auf Sessesl (zu) setzen etc.“ (Ms 176: 35v) Dies hat jedoch zur Folge, dass Sätze wie „Stühle existieren“, „Stühle sind physikalische Objekte“, „Stühle sind dazu da, sich auf sie zu setzen“ logische Sätze sind, denn sie gehören zum Rahmen unseres Denkens und Schließens; und wenn jemand behaupten wollte, Stühle seien keine physikalischen Gegenstände, würden wir denken, diese Person wisse nicht, was ein Stuhl ist, oder was der Ausdruck „physikalischer Gegenstand“ bedeutet, oder wozu wir Stühle alltäglich benutzen, oder die Person sei verrückt, oder die Person sei ein Idealist – doch selbst wenn dies der Fall sein sollte, würde er oder sie vermutlich Stühle zum Sitzen gebrauchen. Gemäß unseres Weltbildes, d. h. gemäß unserer Logik, sind Stühle physikalische Objekte, weil wir sie wie physikalische Objekte verwenden. Dennoch lernen wir logische Sätze nicht ausschließlich durch unser Handeln in der Welt, sondern begegnen ihnen zum Teil als Sätzen. Beispiele hierfür sind: „Die Welt ist rund“, „Es gab einmal ein römisches Reich“, „2 + 2 = 4“, „ ‚p ∧ ¬p‘ ist kontradiktorisch“: Wir lernen als Kinder Fakten, z. B. daß jeder Mensch ein Gehirn hat, und wir nehmen sie gläubig hin. Ich glaube, daß es eine Insel, Australien, gibt von der und der Gestalt, usw. usw., ich glaube, daß ich Urgroßeltern gehabt habe, daß die Menschen, die sich für meine Eltern ausgaben, wirklich meine Eltern waren, etc. Dieser Glaube mag nie ausgesprochen, ja der Gedanke, daß es so ist, nie gedacht werden. […] Was in Lehrbüchern, der Geographie z. B. steht, halte ich im allgemeinen für wahr. Warum? Ich sage: Alle diese Fakten sind hundertmal bestätigt worden. Aber wie weiß ich das? Was ist
4.2 Logik in den späten Manuskripten
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meine Evidenz dafür? Ich habe ein Weltbild. Ist es wahr oder falsch? Es ist vor allem das Substrat alles meines Forschens und Behauptens. (Ms 174: 34r-35r)
Gerade weil wir nicht alles, mit dem wir konfrontiert werden, selbst überprüfen, sondern das meiste, das in Büchern steht oder uns von Lehrern beigebracht wird, als gegeben akzeptieren, vergleicht Wittgenstein das Weltbild mit einer Mythologie. Es besteht aus logischen Sätzen, an die wir wie an einen Mythos glauben. Diese Überlegungen führen zu einem weiteren wichtigen Teil der Flussbettmetapher: Wittgensteins Unterscheidung zwischen logischen und empirischen Sätzen. Die entsprechende Textpassage soll zur Erinnerung hier noch einmal angeführt werden: Man könnte sich vorstellen, daß gewisse Sätze von der Form der Erfahrungssätze gefroren / erstarrt wären und als Leitung für die nicht gefrorenen / erstarrten funktionierten; und daß sich dies Verhältnis mit der Zeit änderte, indem flüssige Sätze erstarrten und feste / gefrorene flüssig würden.
Wittgenstein unterscheidet hier zwischen logischen Sätzen und Erfahrungssätzen. In seinen Schriften bis in die PU und darüber hinaus hatte er zwischen grammatischen Sätzen und Erfahrungssätzen unterschieden. Die Gegenüberstellung ist also nicht neu, nur die Terminologie hat sich geändert (s. 4.2.2.). Für Wittgenstein ist Logik zu keiner Zeit empirisch. Im Gegenteil ermöglicht erst die Logik als Rahmen unseres Denkens und Schließens alles Empirische. Vereinfacht gesagt entspricht die Logik in der Flussbettmetapher dem Bett, die Empirie dem Wasser des Flusses. Doch wie aus der Metapher ebenso hervorgeht, gibt es darüber hinaus auch Sätze von der Form von Erfahrungssätzen. Dabei handelt es sich um logische Sätze, die auf den ersten Blick Erfahrungssätze zu sein scheinen. Einige Beispiele wurden schon genannt: „Stühle existieren“, „Die Erde ist rund“, „Es gab einmal ein römisches Reich“. Alle diese Sätze sind wie Erfahrungssätze gebildet, haben jedoch die Funktion und den Status von logischen Sätzen. Die Flussbettmetapher unterscheidet also Sätze, die als logische Sätze fungieren – dem Flussbett – und Sätze, die nicht nur wie Erfahrungssätze aussehen, sondern tatsächlich Erfahrungssätze sind – dem Wasser im Fluss. Weiter erläutert Wittgenstein: „Aber ich unterscheide zwischen der Bewegung / dem Fließen / Strömen des Wassers im Flußbett und der Verschiebung dieses; obwohl es eine scharfe Trennung der beiden nicht gibt.“ Warum, so mag man sich fragen, gibt es keine scharfe Trennung zwischen ihnen? Die Antwort lautet, dass sowohl Flussbettsätze von der Form von Erfahrungssätzen flüssig werden als auch Erfahrungssätze erhärten und so zu Flussbettsätzen werden können. Nehmen wir als Beispiel den Satz „Die Erde ist rund“. Dies ist heute ein logischer Satz von der
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Form eines Erfahrungssatzes, doch war vor einigen Jahrhunderten ein falscher Erfahrungssatz, nämlich als man glaubte, die Erde sei flach. Damals war der Satz „Die Erde ist flach“ ein Satz des Flussbetts. Unser logische Rahmen hat sich an dieser Stelle verschoben. Die Bewegung unseres Weltbildes macht die Logik jedoch nicht empirisch: „Wenn aber Einer sagte ‚Also ist auch die Logik eine Erfahrungswissenschaft‘, so hätte er unrecht. Aber dies ist richtig, daß der gleiche Satz einmal als von der Erfahrung zu prüfen, einmal als Regel der Prüfung behandelt werden kann.“ Obwohl sich das Flussbett verändern kann und auch tatsächlich verändert, muss es ein Flussbett geben, um den Fluss zu ermöglichen. Zur Logik gehört alles, was Teil des Flussbettes ist. Logik zu betreiben heißt in diesem Sinne festzustellen, welche Sätze Flussbettsätze sind und in welcher Weise sich das Flussbett verändert; in diesem Sinne ist Wittgensteins Untersuchung in den späten Manuskripten eine rein logische. Der Satz „Die Erde ist rund“ war einmal ein Satz, der durch die Erfahrung zu überprüfen war. Heute ist es ein Satz, der bei der Überprüfung empirischer Sätze unverrückbar feststeht. Dennoch besteht das Flussbett nicht nur aus Sätzen, die zwischen fest und flüssig oszillieren, sondern auch aus hartem Gestein: „Ja das Ufer jenes Flusses besteht zum Teil aus hartem Gestein, das keiner, oder einer unmerkbaren Änderung unterliegt, und teils aus Sand, der bald hier bald dort weg- und angeschwemmt wird.“ Was zum harten Gestein gehört, beantwortet Wittgenstein in anderen Bemerkungen der letzten Manuskripte: „Die Sätze der Mathematik, könnte man sagen, sind Petrefakten. – Der Satz ‚Ich heiße …‘ ist dies nicht.“(Ms 177: 6r) Mathematische Sätze wie „2 + 2 = 4“ oder „a² + b² = c²“ gehören folglich zum harten Gestein. Weiter heißt es: Aber von denen, die wie ich die überwältigende Evidenz haben, wird auch er als unumstößlich betrachtet. Und das nicht aus Gedankenlosigkeit. Denn, daß die Evidenz überwältigend ist, besteht eben darin, daß wir uns vor keiner anderen entgegenstehenden Evidenz beugen müssen. Wir haben also hier einen Widerhalt ähnlich wie den, der die Sätze der Mathematik unumstößlich macht. (Ms 177: 6r) Wenn der Satz ‚12 x 12 = 144‘ vom Zweifel ausgenommen ist, dann müssen’s auch nichtmathematische Sätze sein. (Ms 177: 5r)
Demnach gehören einige Sätze von der Form von Erfahrungssätzen zum harten Gestein, einige zum Sand des Flussbettes. Einiges, das für uns feststeht, kann sich mit der Zeit verändern, so dass sich das Flussbett verschiebt, ohne dass das Weltbild insgesamt aus den Fugen gerät. Beispiele finden sich leicht in der wissenschaftlichen Forschung. Nehmen wir etwa den Satz „Kein Mensch war je auf
4.3 Zusammenfassung
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dem Mond“: Zu Wittgensteins Zeit war dies ein logischer Satz, heute ist es ein falscher Erfahrungssatz. Entsprechend hat sich das Flussbett verschoben, ohne weitreichende Konsequenzen für unser Weltbild als ganzes mit sich zu ziehen. Sollte sich jedoch ein Satz wie „Jeder Mensch hat ein Gehirn“ plötzlich als falsch erweisen, würde unser ganzes Weltbild in seinem Kern erschüttert werden. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Logik in den letzten Manuskripten nicht rein propositional ist, sich jedoch je nach Bedarf propositional ausdrücken lässt. Darüber hinaus zeigt sie sich in unserem Handeln und Sprechen. Alles, was für uns feststeht, und was wir nicht mit guter Begründung in Zweifel ziehen können, gehört zur Logik. Es kann sich dabei um Regeln oder Definitionen handeln, wie z. B. „Jeder Stab hat eine Länge“, oder um logische Sätze im herkömmlichen Sinn des Wortes, z. B. „ ‚p ∧ ¬p‘ ist kontradiktorisch“, oder aber um Sätze von der Form von Erfahrungssätzen, die die Funktion von logischen Sätzen haben. Dass wir diese Sätze nicht in Zweifel ziehen, zeigt sich in unserem Handeln. So stehen wir morgens auf ohne zu befürchten, unsere Füße könnten über Nacht verschwunden sein, und ohne die Existenz des Zimmers zu bezweifeln, in dem wir uns befinden, etc. Die Logik zeigt sich in unserem Handeln, in diesem Fall in unserem Aufstehen, doch sie lässt sich auch propositional ausdrücken mit dem Satz „Ich habe zwei Füße“.⁷²
4.3 Zusammenfassung Eine wichtige Entwicklungsstufe von Wittgensteins Grammatikbegriff ist mit Wittgensteins Brown Book Korpus abgeschlossen. Aufgabe dieses Kapitels war es, Wittgensteins Anwendung und evtl. weitere Entwicklung dieses Begriffes in den PU sowie den späten Manuskripten zu skizzieren. Die Tatsache, dass Wittgenstein in den PU erneut von Grammatik im Allgemeinen spricht, obwohl er diese Redeweise im Brown Book Korpus bereits aufgegeben hatte, verlangte eine Erklärung, denn sie scheint auf den ersten Blick meiner im dritten Kapitel vorgestellten Lesart zu widersprechen. Meine Antwort stützt sich auf die Auffassung der PU als einem polyphonen Album, in dem Wittgenstein verschiedene Stimmen zu Wort kommen lässt, nicht als allwissender Erzähler auftritt, dem Leser die Beantwortung der aufgeworfenen Fragen überlässt und seine Bemerkungen wie „Landschaftskizzen“ (PU Vorwort) in einem Album komponiert. Diese Lesart hat Pichler (2004) ausführlich erläutert und begründet. Versteht man die PU als ein solches
Vgl. Ms 174: 32r-32v: „Warum überzeuge ich mich nicht davon, dass ich noch zwei Füße habe, wenn ich mich vom Sessel erheben will? Es gibt kein warum. Ich tue es einfach. So handle ich.“
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4 Die Philosophischen Untersuchungen und Wittgensteins späte Manuskripte
Album, das den „Niederschlag“ (PU Vorwort), im chemischen Sinne, von Wittgensteins Bemerkungen ab 1929 präsentiert, so wird verständlich, dass die Grammatik im allgemeinen Sinn darin eine Rolle spielen muss, da sie Wittgensteins Denken bis mindestens ins Big Typescript maßgeblich geprägt hat. Lesern, die mit dieser Auffassung der PU als einem Album nicht einverstanden sind, habe ich zusätzlich eine andere Erklärung angeboten: Wittgensteins Gebrauch von „Grammatik“ nimmt in den PU, insbesondere in deren Urfassung, gegenüber dem Big Typescript radikal ab. Darüber hinaus verschiebt er sich eindeutig von Grammatik im allgemeinen zu Grammatik im partikulären Sinn. In den ersten 188 Bemerkungen der PU, d.i. deren Urfassung, finden sich lediglich zwei Instanzen von Grammatik im allgemeinen Sinn. Beide sind sowohl Einschübe in einen schon vollständigen Satz als auch klare Anspielungen auf Bemerkungen des Big Typescript. Dass Wittgenstein versucht ist, den Ausdruck von Grammatik im allgemeinen Sinn zu vermeiden, wird außerdem daraus ersichtlich, dass er, anstelle von „Regel der Grammatik“ oder „Satz der Grammatik“, in den PU fast ausschließlich die Formulierung „grammatischer Satz“ wählt, und auch dies nur äußerst selten. Die einzige substantivische Verwendung von „Grammatik“ in diesem Kontext ist erneut eine klare Anspielung auf das Big Typescript. Hinzu kommt, dass Wittgenstein während seiner Arbeit an den PU zum Teil das Big Typescript durchgesehen hatte. Hätte er sein darin zum Ausdruck gebrachtes Grammatikverständnis beibehalten, so wäre anzunehmen, dass er deutlich mehr Bemerkungen daraus in die PU übernommen hätte, als dies der Fall ist. Dass er es nicht tut, wurde in diesem Kapitel durch das Aufzeigen der Quellen der Grammatik-Bemerkungen der PU im Nachlass dargelegt. Wittgensteins Verwendungen von Grammatik im allgemeinen Sinn in den PU deute ich demzufolge als die „Eierschalen“ (Ts 229: 455) seiner alten Auffassung. Neben diesen Begründungen ist vor allem entscheidend, dass man Wittgensteins im vorherigen Kapitel beschriebene Ablehnung der Theorie ernst nimmt. Wenn man das tut, so ist eine theoretisch motivierte Lesart der PU kaum vertretbar. In den späten Manuskripten lässt sich schließlich eine terminologische Verschiebung von „Grammatik“ zu „Logik“ feststellen. Die Tatsache, dass Wittgenstein gegen Ende seines Lebens kaum noch das Wort „Grammatik“ verwendet, spricht für die These, dass der Grammatikbegriff keine große Rolle mehr in seinem Denken spielt. Tatsächlich findet sich eine Vielzahl von Bemerkungen, die den Gebrauch eines Wortes behandeln, nicht etwa dessen Grammatik. Bezüglich des Logikbegriffes lässt sich beobachten, dass Wittgenstein ihn in vielerlei Hinsicht in der Art und Weise gebraucht, wie er früher „Grammatik“ verwendet hatte. Dennoch dürfen wir nicht über diese terminologische Verschiebung hinwegsehen und davon ausgehen, dass Wittgenstein mit „Grammatik“ und „Logik“ dasselbe meint. Beide Begriffe lassen sich in seinen Schriften
4.3 Zusammenfassung
219
nicht ohne Weiteres gegeneinander austauschen. Logik in Wittgensteins Texten verstehe ich als den Rahmen unseres Denkens und Schließens. Gemäß den späten Manuskripten offenbart sich dieser Rahmen in der Art und Weise, in der wir täglich sprechen und handeln. Anstatt einen Third Wittgenstein mit einem erweiterten Grammatikbegriff zu proklamieren, vertrete ich die Auffassung, dass Wittgenstein auf die Wurzeln seines Denkens zurückgeht und das „Logik“ nennt, was immer Logik für ihn war, was er lange Zeit jedoch „Grammatik“ genannt hatte. Anders gesagt: Wittgenstein vertritt in seinen letzten Manuskripten nicht einen erweiterten Grammatikbegriff, sondern hat davon abgelassen, Logik „Grammatik“ zu nennen. Auf die Logik stoßen wir nicht allein in den (grammatischen) Regeln unserer Sprache, sondern vor allem in unserem Handeln, unserem Verhalten, unserer Praxis. Obgleich Wittgenstein bereits in den 1930er Jahren zu dieser Ansicht neigte, tritt sie erst in den letzten Manuskripten in den Vordergrund. Dies hat einige Wittgensteinforscher verleitet, hier eine Wende in seinem Denken sehen. Tatsächlich aber erstreckt sich die allmähliche Entwicklung der Bedeutsamkeit des Praxisbegriffes über mehr als ein Jahrzehnt. Zwar lassen sich in den späten Manuskripten zweifellos Verschiebungen und Änderungen in Wittgensteins Denken ausfindig machen, doch die Proklamation einer „dritten Phase“ seiner Philosophie gründet sich meines Erachtens auf ein tiefgreifendes Missverständnis seiner Arbeit. In den späten Manuskripten schließt sich einerseits der Kreis zum TLP, denn Wittgenstein hatte bereits in seiner Frühphilosophie die Unbeschreibbarkeit der Logik behauptet. Die Betonung der Bedeutung der Praxis für die Logik hat sich andererseits erst in Wittgensteins späteren Überlegungen entwickelt. Sie klingt bereits im Big Typescript an und scheint in den späten Manuskripten ihre Vollendung zu finden. Im Big Typescript musste alles, was in der Logik „business“ ist, in der Grammatik gesagt werden. (Ts 213: 526) In den späten Manuskripten hingegen zeigt sich alles, was in der Logik „business“ ist, in der Praxis der Sprache. Kjell S. Johannessen (1988: 359) hat bereits drei Zitate aus Wittgensteins Gesamtwerk gegenübergestellt, die die Entwicklung von Wittgensteins Terminologie deutlich zum Ausdruck bringen: Im TLP heißt es: „Die Logik muß für sich selber sorgen.“ (TLP: 5.473) In den Notizen der frühen 30er Jahre lesen wir: „[…] die ganze Sprache muss für sich selbst sprechen.“ (Ms 109: 294) In den späten Manuskripten schließlich schreibt Wittgenstein „[…] die Praxis muß für sich selbst sprechen.“ (Ms 174: 30v) Dazwischen liegen allmähliche Übergänge, die sich vermittels der Betrachtung des Grammatikbegriffs und seinen Veränderungen nachvollziehen lassen.
Epilog Wenn die Biene einmal von der Erde verschwindet, hat der Mensch nur noch vier Jahre zu leben. Keine Bienen mehr, keine Bestäubung mehr, keine Pflanzen mehr, keine Tiere mehr, keine Menschen mehr. Albert Einstein
https://doi.org/10.1515/9783110565164-009
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Personenindex Aelius Donatus 20 Ambrose, Alice 18, 46, 150 f. Anscombe, Elisabeth 105, 185, 187, 196 f. Ariso, Jóse María 25 Aristoteles 20 Arrington, Robert L. 3, 48, 154 Aue, Maximilian A. E. 105 – 107, 110 f. Baker, Gordon 3, 31, 86 f., 108, 110, 113 – 115, 176 f., 183, 186, 199 Barrett, Cyril 24 Bazzocchi, Luciano 62 Beaney, Michael 2 Biesenbach, Hans 24, 98, 162 f. Biggs, Michael 59, 105 Boethius de Dacia 20 Böhnert, Martin 206 Börne, Ludwig 21 Bouwsma, Oets, Kolk 24 Brito, Rudolphus 20 Bronzo, Silver 61 Brouwer, Luitzen 66 f. Citron, Gabriel 27 Coffey, Peter 105 Conant, James 7, 60, 179 Cook, John W. 25 Diamond, Cora 7, 60 Drury, Maurice 24, 39 Einstein, Albert 220 Engelmann, Mauro L. 3 f., 32 f., 68 – 72, 78, 80, 82 – 89, 91, 95 f., 114, 142, 149, 153 f., 167, 169, 177, 182 Engler, Fynn Ole 66 Erbacher, Christian 8, 62, 109, 112 Ernst, Paul 162 f. Feigl, Herbert 67 Forster, Georg 2 f., 31, 200 Freud, Sigmund 177 Fritz Patrick, P. Josef 25 Garver, Newton 2 f., 33, 142 Giesewetter, Stefan 171 Glock, Hans-Johann 63 f. Grimm, Jacob und Wilhelm“ 19
https://doi.org/10.1515/9783110565164-011
Hacker, Peter 3, 5, 7, 17, 31, 86 f., 108, 110, 113 – 115, 164 – 166, 175 – 177, 183, 186, 192 f., 199 Harris, Suzy 25 Harrold, Charles F. 25 Hasenjäger, G. 92 Herder, Johann Gottfried 21 Hering, Ewald 83 Hilmy, Stephen 108, 113, 170, 184, 186, 192, 195 Hintikka, Jaakko und Merril B. 69, 72, 78 f., 85, 88, 91 Husserl, Edmund 79 Immler, Nicole L. 84 Iven, Mathias 66 Janik, Allan 25 Johannessen, Harald 24 Johannessen, Kjell S. 16, 207, 219 Jones, Owen 24 Keicher, Peter 1, 59, 105, 110 – 112, 187 Kenny, Anthony 7, 108, 114 Keynes, John Maynard 66 f. Kienzler, Wolfgang 7, 24 f., 45, 67 – 70, 72, 77 – 80, 99, 105, 109, 112 f., 142, 169 Kilwardby, Robert 20 King, John 27 f. Klagge, James 8, 59, 69, 179 Kreisel, Georg 106 Krüger, Heinz Wilhelm 53, 109 f., 113 Kuusela, Oskari - 198 – 200 Lee, Desmond 2, 35, 59, 86 Leinfeller, Elisabeth 26 Letourneur, Jérôme 189 Luckhardt, C. Grant 110 f., 105 – 107 Luther, Martin 21 Mach, Ernst 25, 68, 80 Majetschak, Stefan 8, 64, 80, 163, 177 Malcolm, Norman 24, 105 Marion, Mathieu 67 Mauthner, Fritz 26 McGinn, Mary 2 f. McGuinness, Brian 25, 61, 66, 69, 91, 110 f., 149, 151
Personenindex
Monk, Ray 67, 92, 151 Moore, G. E. 26 – 31, 33, 59, 98, 147, 150 f., 169 Mormann, Thomas 92 Moyal-Sharrock, Danièle 7, 197 – 201 Nedo, Michael 59 f., 67 f., 73, 107 – 112 Newman, John Henry 10, 24 – 26, 35, 47, 57, 81 Newman, Max 24 Nordmann, Alfred 59, 69 Novalis 21 Nyman, Heikki 197 Paul, Denis 67 Pearson, Karl 10, 24 – 26, 35, 47 57, 81 Pichler, Alois 1, 14, 40, 59 f., 67, 71 f., 103, 105, 109, 111, 113 f., 117, 132, 150 – 152, 155, 170, 172, 182, 184, 186 – 189, 192, 196 f., 217 Priscian 20 Ramsey, Frank 66 – 72, 81 Reszke, Paul 206 Rhees, Rush 59 f., 106, 108 f., 112, 150, 152, 185, 190, 193 Rheinwald, R. 92 Rogers, Brian 27 Roos, Heinrich 19 f. Rothhaupt, Josef 82 f., 105, 108 – 112, 116 Schlick, Moritz 8, 59, 66, 68, 85, 87, 94, 96 f., 99, 109
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Schmidt, Franz 21 Schulte, Joachim 1, 4, 7, 12, 53, 59, 105 – 108, 110, 117, 144, 149, 179, 184 f., 198 Sedmak, Clemens 2, 5, 79, 112, 115, 117, 124, 126 f., 164 f., 195, 198 Sharpe, Egon 25 Skinner, Francis 150 f. Sluga, Hans 7, 30 Smith, Deirdre C. P. 40, 138, 155 Smith, Jonathan 106 f. Sokrates 179 Somavilla, Ilse 84 Spiegelberg, Harald 77 – 79 Sraffa, Pierro 142, 149, 167, 169 Stegmüller, Wolfgang 7 Stenius, Erik 64 Stern, David 7 f., 26 f., 29, 31, 59, 78 f., 85 Stetter, Christian 3, 46, 64, 88 Thompson, James 7, 69, 72, 78 – 80 Thrax, Dionysius 20 Toulmin, Stephen 25 Venturinha, Nuno 1, 198 von Savigny, Eike 175, 183, 188 von Wright, G. H. 1, 62, 69, 103, 105 – 107, 109 f., 150, 184 f., 195 – 197 Watson, W. H. 110 f. Weiler, Gershon 26 Weiss, Thomas 116
Sachindex Album 14 f., 113, 178, 182, 185 – 188, 195, 204, 217 f. Alltagssprache, Umgangssprache 9, 11 f., 21, 26, 33, 59, 61 – 64, 74 f., 85 – 91, 95 f., 101 f., 123, 172, 208 – 210 Bedeutung (eines Wortes) 13 f., 32, 34, 36 f., 40 – 42, 44, 46, 65, 94, 97 – 99, 118, 134, 143, 148, 155 – 158, 161, 163, 167, 169 – 171, 174, 176, 181, 195, 198, 205, 209 Beschreibung des Sprachgebrauchs 9, 13, 32, 35 – 36, 168 f, 171, 173, 175, 178, 181, 203 Elementarsatz 65, 70 f, 75 f, 60, 96 Erlösendes Wort, Erlösung 8, 14, 163, 172, 177, 181, 209 Familienähnlichkeit 94, 146 Farben, Farbwörter 27, 39, 43ç45, 50, 55, 70, 82 f, 94 f., 127 – 130, 132, 135, 138, 145, 199, 202, 204 Farbenoktaeder 70, 72, 80 – 84, 94 f., 203 Flussbett 212 f., 215 – 217 Geschäftsbuch 13, 37 – 39, 140, 142, 164, 173, 180, 183 Grenze der Logik 65, 136 f., 208 Grenze der Sprache 13, 64 f. 72, 130, 133, 136, 138 f., 180, 207 f. Handeln
15 f., 207, 210 f., 214, 217, 219
Kalkül 12 f., 43, 75, 97 – 101, 122 – 127, 131 – 133, 139, 141, 144 f., 165 f., 173, 177, 180, 189, 209 Konventionen 93, 100 f., 129 f Logische Notwendigkeit 208 f Logische Unmöglichkeit 203, 208 f
13, 137 f., 180, 13, 83, 137 f, 180,
https://doi.org/10.1515/9783110565164-012
Metalogik, metalogisch 12 f, 133, 136, 138 f., 148, 180 Metaphysik metaphysisch 1 f, 26, 32, 87, 136, 138 f. Methode 12, 14, 19, 25 f., 60, 70, 102, 134, 142, 159, 163 f., 172, 177 – 179, 181, 187 f. Phänomenologie, phänomenologisch 11 f., 43, 46, 59, 68 – 70, 72 – 85, 87 – 91, 95, 97, 101 f., 108, 141, 165 f. – phänomenologische Notation/Sprache 11, 69 f., 72, 76, 78 – 81, 84 f., 88, 90, 95, 97, 102, 141 Praxis 9, 16, 21, 124, 203, 205 – 207, 209 – 212, 214, 219 – Praxis der Sprache 9, 16, 124, 205 – 207, 210, 219 Raum 9, 13 f., 44, 64 f., 77, 79, 82 f, 89, 95 f., 98, 101, 132, 136 f., 141, 154, 167 – 171, 173 f, 180 – 182, 188, 208 f. Spiel 13, 36, 44, 89, 97, 99 f., 121, 124 – 127, 130 – 132, 134, 143 – 145, 155, 170, 180, 209 f, 212 – 214 – Ballspiel 13, 126, 180 – Preisschießen 13, 126, 143 – 145, 180 – Schach 13, 43 f., 94, 97 – 101, 125 f., 130 f., 143, 145 f., 155, 180 – Sprachspiel 13, 124, 126 f., 132 f., 150, 180, 187, 203, 210 – 212, 214 – Tennis 13, 126, 143 f., 180 Sprachkritik 26, 32, 64 Sprachlogik 60, 63 f., 162 f. Syntax 5, 9, 11 f., 17, 20 – 23, 58, 60, 62 – 66, 71 – 76, 81, 83 f., 86 – 91, 94, 96 – 100, 102 – 104, 141, 162 f., 167, 174, 208 System 9, 13, 20, 23, 43 f., 47, 64, 75, 86, 95, 96 – 99, 118, 122, 126, 142, 165, 169, 172 – 177, 180, 188, 208 f.
Sachindex
Theorie der Grammatik 9, 14, 171 – 173, 178 f., 181, 183 Therapie 26, 172, 177, 179, 188 Third Wittgenstein“ 2, 7, 15, 197, 199, 201, 219 Typentheorie 91 f., 183 Weltbild
213 – 217
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Wiener Kreis 66, 68, 79 f. Willkürlichkeit der Grammatik 29, 65, 97, 100, 123, 127 f., 130, 195, 200 Wirklichkeit 1, 12 f., 20, 49, 75, 77, 89, 93, 96, 99 – 101, 116, 122 – 124, 127 – 136, 138 – 140, 160, 180, 201 – Übereinstimmung mit der Wirklichkeit 132 f., 139