Vom neuen Willen zur Kirche: Ein Sammelheft 9783111719016, 9783111227467


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German Pages 91 [96] Year 1924

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Table of contents :
Vorwort
Dom willen zur Kirche
Wie kommen wir zu lebendigen Gemeinden?
Die Bedeutung der Bibel für die Kirche
Protestantismus und Liturgie
Neubelebung der Kirche durch den Kultus?
Kirche und Volksmission
Der Hausbesuch
Jugendbewegung und Kirche (Gemeinde)
Die kirchliche Beerdigung
Inhaltsverzeichnis
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Vom neuen Willen zur Kirche: Ein Sammelheft
 9783111719016, 9783111227467

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Verlag von Alfred Töpelmann in Gießen

Vie Stellung des Apostels Paulus im Urchristentum von

Karl Ludwig Schmidt Dr. theol., ord. Prof, ou b. Univ. Gießen

Rechtfertigung und Zweifel von

Paul Tillich £ic. Iheol., Dr. phil., a. o. Prof. a. d. Univ. Marburg

(Vorträge der theologischen Konfeten) zu Gießen, 39. Folge) (Vktavfonnat — 32 Seiten - erscheint im September 1924

Die deutsche evangelische Theologie seit Schleiermacher Ihre Leistungen und ihre Schäden vierte, vollständig umgearbeitete Auflage der Schrift

von Schleiermacher zu Mtschl Don wo.

GrotzoKtav —

zerdiuand Kattenbusch

152 Seiten -

1924 — geh. 3.50 MK., geb. 4.60 Mk.

Organische Grundlagen der Religion Eine formale Untersuchung von Lic.Or.

Heinrich Adolph

«,6.n

Privatdozent an der Universität

GrotzoKtav —

116 Seiten —

1924 — 2.50 Mk.

vom neuen willen zur Mche Lin Sammelhest auf Anregung und unter Mitwirkung von

Karl Knodt

und

Karl voller

herausgegeben von

Paul Schorlemmer Stiftspfarrer zu Sich

Verlag von HIfreb Opelmann in Gießen 1924

Das Inhaltsverzeichnis befindet sich am Ende des Buches auf Seite 92

ane Rechte, insbesondere das Recht der Übersetzung vorbehalten.

Vorwort. Ls ist unsere erste Pflicht, darauf hinzuweisen, datz dieses Sammel­ heft sein Erscheinen einer Anregung der Herren Pfarrer KatI Knobt zu Wimpfen und Karl Deller zu Mainz-Bretzenheim verdankt. Den Inhalt des Heftes bilden Lebensfragen der Kirche, die zur Zeit die herzen der theologischen und kirchlichen Kreise in besonderem Matze bewegen, in einer Gegenwart, in der der Intellektualismus und der Individualismus ihren Ausweisungsbefehl erhalten haben und, ge­ trieben von der Forderung einer nach dem „Absoluten" und nach wahrer „Gemeinschaft" suchenden Zeit, auch die Theologie wieder die Frage nach der Kirche aufwirft. So ist der Inhalt dieses Heftes aktuell. Aber da die Ausführungen teils prinzipieller Art sind, teils bleibenden praktischen kirchlichen wert besitzen, so ist zu hoffen, datz die Beiträge nicht nur eine bald wieder schwindende Gegenwarts­ bedeutung haben. Der Herausgeber mutz um Entschuldigung bitten, datz er selbst so unbescheiden war, zwei Beiträge zu liefern. Vie Veranlassung dazu lag in der betrüblichen Tatsache, daß mehrere Herren, die wir um Beiträge angegangen hatten, aus verschiebenen Gründen nicht in der Lage waren, mitarbeiten zu können. Obwohl dafür einige andere als Mitarbeiter gewonnen wurden, wäre doch das heft in einem gar zu geringen Umfang ausgegangen. Vies und die Er­ kenntnis, datz gerade die Erörterung des Themas „Bibel und Kirche" hier nicht fehlen darf, hat mich bewogen, einen Vortrag, der diesen Gegenstand behandelt, umzuarbeiten und ihn diesem heft einzuver­ leiben. wir beklagen es, daß durch die Absage einiger, die wir gerne als Mitarbeiter gehabt hätten, so manches Thema, das gerade zur Zeit von ganz besonderer Bedeutung ist, hier nun unerörtert bleibt. Aber wir müssen auf der anderen Seite betonen, datz der Inhalt dieses bescheidenen Heftes selbstverständlich nicht eine alle Fragen der Gegenwart erschöpfende Sammlung sein kann und will, wir bilden uns auch nicht ein, fertige oder gar neue „Ergebnisse" zu bieten,

Vorwort

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sondern wir zeigen die Probleme, wir deuten Linien an, wir wollen zu lebhaftem Meinungsaustausch anregen. Zur Ermöglichung eines solchen Meinungsaustauschs fügen wir auf Anregung von Herrn Pfarrer Karl Knoöt hier ein alphabetisches Verzeichnis der Mit­ arbeiter und ihrer Anschriften hinzu:

Dr. Earl Eichhorn, Pfarrer, Flensunger Hof bei Mücke (Dberh.). Liz. Dr. Heinrich Frick, Universitätsprofessor, Gießen, Senckenberg­ straße 15. Hermann Knoöt, Gberpfarrer, Schlitz (Gberhessen). Karl Knodt, Pfarrer, Wimpfen am Neckar. Wilhelm Kornmann, Pfarrverwalter, Ulrichstein (Gberhessen). D. Heinrich Matthes, Professor, Darmstadt, Heinrichstraße 88. Paul Schorlemmer, Stiftspfarrer, Lich (Gberhessen). Karl Deller, Pfarrer, Mainz-Bretzenheim. Vie Reihenfolge der Beiträge ist so angeordnet, daß der weg von Ausführungen prinzipiellen Inhalts zu Erörterungen spezieller kirch­ licher Fragen gebt. Indessen bringen auch die Artikel prinzipiellen Inhalts stellenweise Erörterungen spezieller Art. Vie einzelnen Bei­ träge sind völlig unabhängig voneinander entstanden. Außer dem Herausgeber hat keiner der Mitarbeiter Einsicht in die Beiträge der anderen gehabt, wo deshalb in den Ausführungen verschiedener Ar­ tikel Berührungen mit anderen Beiträgen sich finden, wußten die Verfasser nichts davon, daß ein anderer den gleichen Gedanken aus­ gesprochen hat wo Gegensätze zu bemerken waren, sind sie unaus­ geglichen geblieben, wir sind nicht eine „Kommission", die Gegen­ sätze zu verdecken sucht. Unser heft ist nicht eine Sammlung von Äußerungen irgend einer bestimmten theologischen oder kirchlichen Gruppe. Aber eine Einheit dürfte doch vorhanden sein, wir sind alle beseelt von dem willen zur Kirche. Gder dürfen wir gar noch be­ stimmter sagen, daß aus allen Erörterungen der eine Ton freudigen Bekenntnisses herausklingt: „Ich glaube an eine heilige christliche Kirche"? Wir grüßen alle, die solches mit uns bekennen. Lich, im herbst 1924.

Paul Schorlemmer.

K. Knobt, Wille zur Kirche

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Dom willen zur Kirche. von Karl Knodt-Wimpfen.

Wer nicht sieht, daß die evangelische Kirche vor der größten Entscheidung steht, in die sie je geführt worden ist, der sieht Nichts. Die römisch-katholische Kirche rüstet sich nicht nur mit neuer Kraft, die verlorne Provinz wiederzugewinnen — das hat sie stets getan und aus ihrem Anspruch heraus, die Universalkirche zu sein, stets gemußt —, sondern sie spricht es durch den Mund ihrer führenden Geister heute auch offen aus, die Zeit zur Rückkehr für die Pro­ testanten und andre abgelenkte Strömungen in das große Hauptbett der katholischen Kirche sei gekommen. Sie arbeitet an dieser ihr heiligen Aufgabe nicht nur mit dem gefährlichen Werkzeug versteckter Propaganda, sondern mit dem gefährlicheren, wenn auch weitaus sympathischeren Mittel eines geistig hochstehenden, tief schürfenden und weit ausgebreiteten Schrifttums zur Verherrlichung des römischen Kirchentums?) Gefährlich ist dieser letztere Kampf vor allem deshalb, weil er uns an derjenigen Kraft arm findet, die alles durchlodert, was drüben geschrieben wird-: am Willen zur Kirche! Solange der Protestantismus seine individualistisch-idealistische Gedankenwelt dem römischen Geist entgegendämmte, war er Meister: das war die Sig­ natur der Vorkriegsjahrzehnte, in denen das Wort von der geistigen Inferiorität des Katholizismus aufkommen konnte. Nun aber hat sich das Bild gewandelt. Rom ist zum geistigen Angriff übergegangen und bestimmt den Kampf, indem es ihn auf demjenigen Roden eröff­ net, den der Protestantismus fast unter den Füßen verloren hat: auf dem Roden des kirchlichen Bewußtseins. Darum muß dieser Kampf von uns mit ganz anderen Mitteln und auf einer ganz anderen Ebene geführt werden, als es landläufig geschieht. Diese Art ist ein­ seitiger Wille zum Protestantismus; was uns aber jetzt vor allem not tut, ist Wille zur Kirche. Die evangelische Kirche muß entscheiden, ’) vgl. besonders die Schriften von Dr. Ernst Michel, Romano Guardini u. a

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K. Knobt

ob sie Kirche sein will oder nicht, Kirche oder, wie bisher, ein lockerer verband geistig verwandter Gruppen. Nur eine evangelische Kirche, in der dieser Wille neu und mächtig erstarkt ist, wird den Angriff, wie es einzig würdig ist, innerlich überwinden können. von solchem Willen ist bis jetzt freilich wenig zu sehen, viel­ mehr dokumentiert sich auf Schritt und Tritt unter uns noch immer die tief eingewurzelte Unlust, uns als Kirche zu fühlen. Die Form­ losigkeit des evangelischen Gottesdienstes, der längst noch nicht das ist, was er sein könnte und müßte, der gänzliche Mangel an kirch­ lichen Symbolen, die das öffentliche und private Leben mit christ­ lichen Erinnerungen und Antrieben durchsetzen, die schematische Ein­ förmigkeit des kirchlichen Amtes, die Abneigung, in der Öffentlichkeit irgendwie als Kirche in Erscheinung zu treten, das ganze uns von der Notzeit der Reformation her noch anhaf­ tende provisorisch-kirchliche Wesen offenbart, daß die Gemeinschaft der evangelischen Kirche sich als Kirche, als gestaltete Form, noch nicht gefunden hat und auch noch nicht recht finden will. Es war ja kein Wunder, daß wir so tief in die Emanzipation von aller kirchlicher Form, in das Subjektive hineingeraten waren. Dahin trieb vor allem die Entfeelung einst lebendig gewesener Formen, die dann als toter Zwang wirken mußten. Und kein größeres Hindernis läßt sich denken für den Formwillen, der ja schöpferisch-lebendiger Gestaltungstrieb ist. Dazu kam verstärkend die Entdeckung und Entbindung der Einzelseele durch die Renaissance. Beides hat zwar nicht die Kirche zerbrochen, das ist unmöglich, wohl aber für lange Zeit den Willen zur Kirche gelähmt. (Es ist ja diese Entwicklung auch in der römischen Kirche vor sich gegangen, doch blieb sie durch deren straffe militärartige Organisation mehr verdeckt und dadurch der äußere kirchliche Bau vor Schaden mehr bewahrt. Nun aber ist die Zeit gekommen, wo mit dieser formwidrigen Tendenz, die innerlich schon überwunden ist, auch äußerlich gebrochen werden muß,' denn dies jammervolle Sein und doch nicht Sein-Wollen ist unsre tiefste Schwäche, fähig, uns taub für den Gottesruf der Stunde zu machen, wie andrerseits ein Erstarken des bewußten Kirchen­ willens uns alle die wachstümlichen Kräfte bringen wird, die wir ersehnen. Gewiß ist der römische Wille zur Kirche noch kein Beweis des Lebens, ja er kann geradezu der Wille zum Antichrist sein, als welchen ihn Luther empfand. Wohl aber ist das Fehlen jedes kirch­ lichen Selbstwillens ein Beweis des Todes. Wit dieser Einsicht befinden wir uns im Widerspruch mit weiten Kreisen bewußter Protestanten. Nach ihrem Urteil ist, was noch an Willen zur Kirche unter uns lebt, ein unevangelisches Rudiment, hier

will« zur Kirche

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herrscht die Auffassung, die seinerzeit auf dem Evangelisch-sozialen Kongreß in Heilbronn sich scharf zugespitzt hat in das Wort Traubs: „wer für die Kirche wirken will, der wirke in der Welt!" Da ist die Kirche nichts als bas rein irdische bresthafte und ungeschickte zufällige Vehikel. Sie ist die bröckelnde, im Grund überflüssige alte Mauer einer engen und veralteten Stadt, deren Bruchstücke die Reformatoren stehen ließen mitten in der neuen weiten lichten Welt. Sie ist die Ruine, die man pietätvoll pflegen und vor der man andächtig träumen mag, in der man aber nicht mehr leben und wirken kann — Romantik! Der längst beschrittene weg zur Kirchenlosigkeit, die Auflösung des Protestantismus als Kirche ist nicht Irrweg und verfall, sondern die ihm innewohnende gesunde Kraft der Befreiung des christlichen Geistes von erstarrter Form. Der Wille zur Kirche ist hier etwas, das überwunden werden muß. Je eher die Kirche zer­ fällt, umso gewaltiger und wuchtiger wird der Geist Christi wirksam. Andre, und ich mit ihnen, sind der Meinung, daß man genau so geistreich sagen könnte: wenn der Kelch zerbricht, wird der wein umso leuchtender strahlen. Cs gehört schon eine geradezu idiotische Ideologie dazu, um nicht zu sehen, daß „Christus ohne Kirche" eine vollkommene Sinnlosigkeit ist, daß die christliche Kirche keine zu­ fällige äußere, sondern eine organische, wachstümliche $orm dar­ stellt. Damit stehen wir vor der ganzen Tiefe christlicher Wirklich­ keit, aus der geschöpft werden muß, ehe wir von „Kirche" reden, was ist die Kirche? Sie ist selbstverständlich — platt, es zu sagen — all das vorhin Erwähnte: sehr irdisches Gefäß, gebrechliches Grgan, bröckelnde Mauer, und zwar ist sie dies nicht bloß in der evangelischen, sondern in allen ihren irdischen Gestaltungen und Ausprägungen. Ja, sie war zu Zeiten noch viel Schlimmeres, und zwar in Zeiten, da die Reformation noch nicht „Gott weiß warum die Kirch erschlug"?) viel wichtiger aber und einzig bedeutsam ist dies: sie ist und war zu allen Zeiten noch viel mehr als das, nämlich gegenwärtige Erscheinungsform des lebendigen Christus, „Leib Christi", bresthafter, sündiger, oft mehr hemmender als gehorsamer Leib, aber eben doch sein Leib, sein lebendiges Kleid. Das ist ihre metaphysische Bedeutung! Und darum, weil sie das ist: geformte und sormgebende Christuskraft, liegt im Begriff der Horm geradezu ihr Sinn, ihr Sein oder Richt-Sein. Das Wesen der Kirche ist ihre Sichtbarkeit! Das hat Rom besser begriffen als wir Evangelischen, wir verwechseln die unsicht­ bare mit der formlosen Kirche! Die unsichtbare Kirche des Bekennt­ nisses, das ist die Geistgestalt der reinen Kirche, die hinter allen *) Paul de Lagarde, Gedichte, S. 82.

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K. Knobt

Erscheinungsformen der sichtbaren Kirche steht, wie das Urbild der gottgewollten Persönlichkeit hinter ihren mangelhaften irdischen Ver­ körperungen. lvie aber das Geistige eines Menschen sich nun einmal gerade in dieser vielleicht sehr unvollkommenen Form verkörpert hat und ohne sie nicht angeschaut werden kann, und wie der Tief­ schauende gerade in dieser Form die Sprache des Geistes lesen wird, so ist es ein Wahn, wenn pseudoevangelische Art aus grobem Miß­ verständnis in dieser Welt der Erscheinung ausschaut nach formlosem Geist, nach unsichtbarer Kirche. Nicht das ist das Pfingstwunder, daß der heilige ® eist erschien — der brütete schon über den Wassern des Chaos —, sondern daß er erschien, zum drittenmal Er­ scheinung ward in sichtbar geordneter menschlicher Gemeinschaft, in der xoptaxTj, der Kirche! Und nicht die unsichtbare, sondern die sicht­ bare Kirche, die Gottestat der dritten (Offenbarung ist der Glaubens­ gegenstand des III. Artikels. In diesem Zusammenhang möchte ich Luthers „eariv“, das er auf die Marburger Tischplatte gemalt hat, als das Zeichen erwählen, unter dem wir uns sammeln wollen, in­ dem ich es anspreche nicht als ein Dokument dogmatischen Starr­ sinns, sondern als Symbol dafür, daß es sich in der christlichen Kirche um Realitäten handelt und nicht um Abstraktionen. 3n diesem Sinn kann Ernst Michel h mit einer gewissen Berech­ tigung von der „protestantischen Irrlehre der unsichtbaren Kirche" sprechen. Nur irrt er, wenn er diese Irrlehre als eine Konsequenz protestantischer Theologie anspricht. Luther selbst war weit davon entfernt, ein solches Kirchenwirrsal in seinem Sinn zu tragen, viel­ mehr lassen seine Schriften darüber eine große Klarheit niemals vermissen, auch wo sie gegen römische Übelstände scharf herziehen. 3um tiefen Unheil ist diese Klarheit im Protestantismus selten ge­ worden, so daß wir meinen, um der evangelischen Reinheit willen aller Kirchenleiblichkeit gegenüber mißtrauisch sein zu müssen. Man braucht aber das Wort von der sichtbaren Kirche nur der angemaßten römischen Ausschließlichkeit zu entkleiden, und es auf alle Kirchen­ gemeinschaften, die das ökumenische Christusbewußtsein besitzen, an­ zuwenden, um zu sehen, auf wie evangelischem Boden man steht. Nicht nur Rom, sondern auch und erst recht die evangelische Kirche hat das Recht, sich als sichtbare Kirche zu fühlen, denn einzig und allein aus dem erneuten elementaren und rei­ nen Willen zur Kirche ist sie entstanden. Es ist von grundlegender Wichtigkeit, daß wir dies Letztere scharf und immer wieder feststellen. Noch immer kehrt unwider­ sprochen im römischen — und protestantischen — Schrifttum, auch da, *) Siehe die obige Bemerkung.

Wille zur Kirche

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wo Luther wohltuend unbefangen gewürdigt wird 9, ausdrücklich oder stillschweigend die Auffassung wieder, daß Luther die Kirche zerschlug und zerschlagen wollte. Sieht darin der Katholik durchweg, aber auch ein Geist wie Lagarde2) eine frevelhafte Tat, so ist eben dies für viele Durchschnittsprotestanten die befreiende Tat, um deren willen allein sie meinen, Luther Verehrung zollen zu müssen. Vie Auf­ fassung ist hier wie dort gleich gründ- und sinnlos. Luther pro­ testierte nicht aus irgendwelchen liberalistischen Tendenzen gegen ihm unbequeme Kirchengewalt, sondern er „protestierte aus der Fülle des neutestamentlichen Heilsbesitzes heraus" gegen die Verweltlichung der Kirche, denn er wollte sie und „sie war ihm lieb, die werte Magd". Luther zerschlug überhaupt weder noch verließ er die Kirche, sondern sie zerschlug sich selbst, indem sie ihn nicht ertrug, ihn entfernte, und zwar als es nicht um peripherische Dinge, sondern um den Kern, um die Seele des Kirchenleibes, um Christus selber ging, der durch den verwilderten Kirchenorganismus gebunden und gelähmt war. hier liegt die tiefe, fast stets verkannte Kluft zwischen reformatorischer Kirche und allen Sekten: daß diese um unwesentlicher Dinge willen sich selber gelöst haben, während jene ungewollt ent­ stand, damit die Kirche noch Kirche Thristi bliebe! (Ein fundamentaler Unterschied! Alle, auch maßlose, Polemik Luthers ändert Nichts daran, daß er gegangen wurde, nicht ging. 3°, sie gerade erweist seinen flammenden Schmerz darüber, daß er sein herz von der Mutter losreißen mußte, die ihn nicht begriff, weil sie Christus vergessen hatte, einem Leibe gleich, der eine zeitlang gegen seine elementaren Lebensbedingungen sündigt. Keineswegs und niemals lag Form­ losigkeit in Luthers Intentionen, vielmehr ein tiefer Mille zur Kirche, als dem, freilich gereinigten, Thristusleib. Er wußte, daß ein Christ die Kirche gar nicht verlassen, noch von ihr ausgestoßen werden kann, so wenig ein Mensch aus seiner Sippengemeinschaft ausgehen kann, weil hier wie dort ein naturhastes Verhältnis vorliegt, das bleibt, auch wenn die äußeren Beziehungen gelöst werden. So ist die evangelische Kirche der Reformation ihrem werden und Mesen nach wirkliche Kirche! Als bloßer „Protestantismus" ist sie ein negatives und uferloses geistiges Prinzip, als Kirche, und nur als solche, hat sie ihr Recht und ihre Notwendigkeit, nämlich als diejenige Kirchengestalt, die (Eins nicht mitgemacht hat und mitmachen darf: die Verwechslung von sichtbarer Kirche und Gottesreich. Und weil wir dem Mesen nach wirklich Kirche sind, müssen wirs auch ganz und mit allen Konsequenzen sein wollen. Der Protestantismus hat sich als Kirche bis heute überhaupt noch nicht erkannt. Aber der ') Wie z. B. von Michel.

’) S. oben.

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K. Hnobt

Wille zur Kirche, zur evangelischen Kirche ist unter uns aufgewacht mit Urgewalt und stark geworden, wir wollen ganz bewußt Kirche sein, das heißt Form sein. Daß so viele Evangelische sich gegen diesen Willen noch sträuben, kommt daher, daß sie ihn überhaupt nur in der römischen Form kennen. Der römisch-katholische Kirchenwille ruht auf der erwähnten Ver­ wechslung von sichtbarer Kirche und Gottesreich. Rom hat vorweg­ genommen, was Ziel der Verheißung ist. Ls sieht im Leibe nicht das Mittel, das Grgan, sondern Gott selber, spricht sich Prädikate zu, die einem Leibe niemals zustehen. Darum ist der römische Wille zur Kirche Wille zur Macht, unbedingter, schrankenloser. Kein Mittel kann verwerflich, kein Bedenken kann hinderlich sein, wo es sich um die Macht der Kirche handelt, denn es handelt sich um die Macht Gottes! Vas ist die absolute Überspannung der Kirchentatsache, die Alleinherrschaft des III. Artikels. 3m jesuitischen System hat dieser Kirchenwille seine schärfste und folgerichtige Ausprägung gefunden und beherrscht als solcher die römische Kirche von heute, nachdem diese im Protestantismus ihre reinigende regulierende Kraft aus­ gestoßen hatte. Gewiß liegt hier für jedes kirchliche Selbstbewußt­ sein die gefährliche Schlinge. Da es sich bis zu einem gewissen Grade als Macht auswirken muß, sie habend als hätte es sie nicht, so lauert die herrsch sucht vor der Tür. Vas konfessionelle Luthertum, in dem noch am meisten Kirchenwille steckt, ist des' Zeuge. Aber uns ist heute die Aufgabe gestellt, den evangelischen Willen zur Kirche rein zur Geltung zu bringen, der sich noch kaum erkannt und dargetan hat: also stärksten Trieb zu eigenwüchsiger Form und Gestalt, stärk­ sten kirchlichen Selbstwillen, doch in steter Bindung an und Beugung unter Christus. Es kann sich dabei in keiner Weise irgendwie um eine schwächliche parallele zu Rom handeln, auch da, wo im Einzelnen viel von ihm gelernt werden kann, sondern um einen aus unserm tiefsten, ganz bewußt erkannten wesen hervorwachsenden stolzen und freudigen Gestaltungswillen. Und an dieser Stelle sehe ich eine Segensspur der als Ganzes nun überlebten „modernen" Theologie, wer ihr weder je mit haut und haar verfallen war, noch auch bloß ihre zersetzenden Negationen gesehen, sondern wirklich hindurchgegangen ist durch sie als durch eine derbe Kur, der bleibt vor der römischen Anbetung der Sichtbarkeit geschützt und kann sich nun umso rückhaltloser dem hingeben, was dieser Theologie so gänz­ lich gefehlt und sie deshalb als Ganzes so unfruchtbar gemacht hat: dem Verständnis für und der Liebe zur sichtbaren Kirche. — wie wird sich nun dieser Wille zur evangelischen Kirchengestalt dartun und betätigen? Mannigfach- aber es werden vor allem zwei

Wille zur Kirche

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Gebiete sein, in denen er sich naturgemäß auswirken wird: der Kultus und die Vorbildung zum Pfarramt. Besonders die letztere muß im

Licht der grundsätzlichen Erwägungen gesehen werden, die wir im vor­ stehenden versucht haben. Ich will mich, unter Beiseitelassung andrer z. T. sehr wichtiger Dinge, über diese beiden Fragen kurz äußern. Beim Suchen nach einer sachgemäßeren Vorbildung der evange­ lischen Geistlichen handelt es sich in der Hauptsache wohl um die rechte, d. i. bessere Verteilung der wissenschaftlichen und kirchlichen Einflüsse. Der Ruf nach einer Änderung dieses Verhältnisses kommt aus der Einsicht, daß die Ausbildung ganz einseitig nach wissenschaft­ lichen Gesichtspunkten, fast gar nicht nach kirchlichen, — und wiederum in ganz einseitig-wissenschaftlicher, sagen wir einmal rein intellektualistischer Art geschah?) Daß in dieser Hinsicht eine Not vorliegt, wird ja wohl heute klar gesehen, wenn auch davor gewarnt werden muß, alle unsre kirchlichen Schmerzen von dieser einen Wunde her­ zuleiten. Es ist wohl jeweils von jeder Universitätstheologie be­ hauptet worden, daß sie kirchlicher Herkunft sei und kirchlich wirkeaber dies wenn auch gewiß subjektiv richtige Urteil wird wohl kaum bestehen, wenn „Kirche" in dem von uns dargelegten Sinn aufgefaßt wird. Jedenfalls zeigen im Allgemeinen die Ergebnisse der seitherigen Erziehung des theologischen Nachwuchses deutlich, wo es in dieser Hinsicht fehlt. Es ist ein widersinniger Zustand, daß ein werdender Pfarrer, der die Universität und damit die Stätte des weitaus größten Teils seiner Vorbildung verläßt, sich eine positive Stellung zu seiner Kirche meist erst erkämpfen muß. hier muß ein gesunder kirchlicher Wille zweierlei fordern: die theologischen Hochschullehrer müssen neben ihrer wissenschaftlichen Be­ fähigung ihre kirchliche nachweisen, und zum zweiten muß die an sich streng wissenschaftliche Ausbildung von vornherein straff unter den Gesichtspunkt des kirchlichen Dienstes gestellt werden. Zum ersten Punkt sei nur gesagt, daß es sich dabei in keiner Weise um Vorwegnahme gewünschter Forschungsergebnisse, überhaupt gar nicht um irgendwelche Knebelung, sondern um Entfesselung von Kräften handeln kann. Denn wahrhaft tiefe und in letzte Wirklich­ keit hineinreichende theologische Ergebnisse können gar nicht geforscht und gefunden werden, wo nicht das entscheidende metaphysische Er­ lebnis der Kirche als eines lebendigen Organismus und als des Aus­ gangspunktes aller Erscheinungen der Geschichte des Christentums gemacht worden ist. Ob dies der Fall sei oder nicht, läßt sich aus Wort und Schrift eines Forschers, weit über jeden landläufigen

’) vgl. darüber die zahlreichen Ausführungen Karl Vetters in verschiedenen Zeitschriften.

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K. Knodt

Gegensatz theologischer Richtungen hinweg, leicht erkennen. Darauf zu achten aber hat die evangelische Kirche, gerade um der Kraft und Tiefe der theologischen Wissenschaft willen, nicht bloß das Recht, sondern die Pflicht. Jede andre Wissenschaft tut auf ihrem Gebiet desgleichen. Daneben dann eine das ganze Studium begleitend« und erhellende bewußte kirchliche Heranbildung! Indem ich fo formuliere, lehne ich klar und scharf jede Rückkehr oder Hinneigung zum Priesterseminar ab. Die werdenden Diener der Kirche von dem freien Wissenschafts­ betrieb fernhalten, weil dieser vielleicht zur Zeit auf falsche Bahnen geraten ist, verrät keinen Willen zur Kirche, sondern Unglauben an die Kirche und Willen zur Herde. Niemals wieder darf die christliche Kirche solcher Diener entraten, die im freien, schweren, inneren Ringen sich ihre Stellung zu ihr neu erkämpfen müssen. Nicht das dürfte ja doch wohl der Mangel in unsrer theologischen Ausbildung sein, daß zu viel Wissenschaft, sondern daß zu wenig Kirche gesehen und erlebt wird. Die Kirche hat sich, gemäß ihrer geschilderten Unlust zum Dasein, auch bei dem Studenten niemals sehen lassen, ihn während seiner Studien­ zeit nirgends bei der Hand genommen und an ihrem Leben bewußt teilnehmen heißen, sondern schamhaft gewartet, ob der junge unreife Mensch sie vielleicht suche. Dann aber hat sie eines Tages verlangt, daß er wisse, warum er ihr diene, daß er es gern und mit Erfolg tue. Das ist der Kirche Sünde, ihre große Sünde! Daß sie hier den Willen zum Sein dokumentiere, kraftvoll dokumentiere, das ist ihre brennende Aufgabe, wie die im einzelnen zu lösen sei, muß hier unerörtert bleiben. Doch wird -er Weg der Differenzierung wohl nicht zu um­ gehen sein. Die derzeitige gleichmäßige schematische Ausbildung unsrer jungen Pfarrer stellt an den Durchschnitt zu hohe, an eine Minderheit von Besonderen zu geringe Anforderungen. In dieser Ausbildung wird ferner die Erziehung zum kultischen Tun eine ganz andere gewichtige Rolle zu spielen haben, als seither. Der neuerwachte Wille zu geformter Lebensgestaltung, den der katho­ lische Theologe Guardini mit Recht als das tiefe Kennzeichen besonders der Jugendbewegung feststelltx) und der drüben eine ganz tiefgründige Bewegung auf liturgische Verinnerlichung hin gezeitigt hat, dieser Wille kann auch für die evangelische Kirche in ihrer Schicksalsstunde von großem Segen werden, wenn er sie nötigt, im Gottesdienst ihre reichen besonderen kultischen Kräfte in vollkommener Form zum Ausdruck zu bringen?) Der neuerwachte Kirchenwille wird hier im

*) vgl. besonders dessen Schrift „Liturgische Bildung". *) vgl. darüber Rudolf Günthers verschiedene Ausführungen in der „Monatsschrift für Gottesdienst und kirchliche Kunst".

Wille zur Kirche

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besonderen zum Formwillen werden und aus der gottesdienstlichen Lahmheit, die wir manchmal beklagen, ruhig und sicher herausführen. Er wird den schulmäßigen und darum wirkungslosen Gottesdienst umwandeln in ein lebendiges Gpfer der Kerngemeinde. Wir werden wieder erleben, was zu erkennen noch vielen Evangelischen fernliegt: daß solcher Gottesdienst der Herzschlag der Kirche, (Quell und Brunnen« stube alles kirchlichen Gemeindelebens bildet. Dieser gottesdienstliche Formwille wird sich darin erweisen, daß sowohl das tastende will­ kürliche Experimentieren, wie auch das sklavische Borgen missalischer Formstücke ein Ende hat. Dafür wird einsetzen ein tiefgründiges Aus­ schöpfen und organisches Aufbauen des gemeinchristlichen und des sonderlich aus der Reformation geflossenen kultischen Gutes. Das erfordert freilich nicht nur äußere liturgische Technik, sondern eine geübte Darstellungskraft geistiger Vorgänge. Zur Schulung hierin geschah bisher von der evangelischen Kirche Nichts. Wenn es geschehen wird, dann werden wir nicht nur anfangen, uns der bisherigen scheinevangelischen Armut an gottesdienstlichen Ausdrucksformen zu schämen, sondern wir werden vor allem auch die uns eigenen erst in ihrer Lebendigkeit erfassen und sinngemäßer gestalten. Wächst dann auch uns aus solcher gottesdienstlichen Neugeburt ein neuer liturgischer Wille, also die Kraft, auch das tägliche Leben in christusmäßige Form hineinzubilden, so wird dies kein Rückfall in Zeremoniendienst, son­ dern, ich möchte sagen, christliche Ausdruckskunst sein, etwas ganz (Dr= ganisches, das uns Evangelischen ganz besonders gut ansteht (Gal. 4, 19: .... „daß Christus in euch gestaltet werde"....): Nur muß dabei immer auf bas Wesentliche geschaut werden. Damit bin ich zu Ende. Es wurde in diesen Ausführungen jede Parallele zum römischen Kirchenwillen scharf abgewiesen. Umso rück­ haltloser und freudiger darf ich jetzt der Gewißheit Ausdruck geben, daß gerade jede Äußerung eigenwüchsigen, aus unserem Wesen stam­ menden Kirchenwillens uns näher zusammenführen wird mit den­ jenigen Kräften drüben, die nicht aus Macht, sondern aus Geist ge­ boren sind. Sie haben nicht die Herrschaft und werden sie noch auf lange nicht haben, aber sie sind da! Dort wie hier sind es Be­ wegungen des kommenden Christus. Darum müssen sie mit Ratur­ notwendigkeit sich finden und stärken. Wo der reine Wille zur Kirche erwacht, da erwacht auch eine neue ökumenische Hoffnung. Ihrer dürfen wir uns freuen. —

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fj. Matther

wie kommen wir zu lebendigen Gemeinden? von Heinrich INatthes.

1. Emil Sülze ist es gewesen, der den Landeskirchen die Hoffnung und die Aufgabe gegeben hat, der Zusammenschluß „lebendiger Ge­ meinden" zu werden, und die Sulzefestschrift trägt den Titel „Leben­ dige Gemeinden"?) Ihm selbst ist der neue große Gedanke aufgegangen aus der theologischen und philosophischen Einsicht in die Wirkungslosigkeit und Dhnmacht der in dem, liberalen Bürgertum wie in den Kreisen der Gebildeten herrschenden idealistischen Religiosität, die er die pan­ theistische Richtung nannte?) Ihren positiven Inhalt haben seine Gedanken durch seine Berührung mit der Brüdergemeine empfangen, in deren Leben er von Jugend an heimisch war?) Dort ist der eigent­ liche (Quellort seiner Gemeindegedanken zu suchen. Lange galt Sulzes Lehre von der lebendigen und selbsttätigen Gemeinde als Utopie, dermaßen, daß sein im Jahre 1891 erschienenes Buch über „Die Gemeinde", so respektvoll es ausgenommen und be­ urteilt ward, erst 1912 eine zweite Ruflage erlebt hat. Rber kaum ein kirchlicher Gedanke hat sich in dem letzten Jahrzehnt, nicht zum wenigsten seit der im Jahre 1910 zu Braunschweig erfolgten Grün­ 's Gießen, Töpelmann 1912. ’) Seine Ausführungen in dem Abschnitt über „Das ungeschichtliche Christen­ tum" lesen sich heute ganz gegenwartsmäßig. (Er hat mit der vollen Klarheit, die uns erst jetzt aufgeht, erkannt, daß „dem poetischen und wissenschaftlichen Pantheismus" die Erkenntnis von der Bedeutung der persönlichen Kräfte und ihrer Betätigung abgeht, und daß das Eindringen gerade dieses Geistes das eigentliche Hemmnis des kirchlichen Gemeindelebens war. *) Ls ist mir unvergeßlich, wie angelegentlich Sülze, als ich im Jahre 1914 kurz vor seinem Tode frühmorgens vor Eröffnung des hannoverschen Deutschen ev. Gemeindetages mit ihm und dem Herrnhuter Dozenten Lic. Reichelt zusammen war, diesen nach dem gegenwärtigen Stand des dortigen Gemeinde­ lebens als dem seiner geistigen Heimat ausforschte.

Lebendige Gemeinden

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düng des sich um Sülze scharenden Deutschen Evangelischen Gemeindetages so durchgesetzt wie dieser, in Wissenschaft und Praxis, wissen­ schaftlich dadurch, daß jedes der drei neueren Lehrbücher zur Prak­ tischen Theologie von $. Niebergall (1918 erschienen), von HL Schian (1922 erschienen) und von J. Meyer (1923 erschienen) ihn in das Zentrum der praktischen Theologie stellt: Niebergall hat einen Ab­ schnitt über „Das Ideal der lebendigen Gemeinde", Schian einen ganzen Abschnitt über „Die Organisation der Kirchengemeinde", auch 3. Meyer behandelt in zwei besonderen Paragraphen „Die Ämter der Einzelgemeinde" und „Die Gemeindeorganisation". Auch in der neuen hessischen Kirchenverfassung erscheint sie vor uns, wenn die erste der „Bestimmungen über die Kirchengemeinde" in § 5 lautet: „Die Kir­ chengemeinde hat die Aufgabe, durch Wort und Sakrament eine Pflanzstätte evangelischen Glaubens und Lebens und eine Gemein­ schaft brüderlicher Liebe und Zucht zu sein". Langsam und unter den größten Schwierigkeiten und Hemmungen sind Sulzes Gedanken praktisch verwirklicht worden. Zuerst seine Forderung der Aufteilung der Massengemeinden der Großstädte in „übersehbare Gemeinden" von höchstens 5000 Seelen, wie schwer und wie langsam sich schon dieser. Gedanke durchsetzte, (obwohl in unsrem Lande dieser schon zuvor Dr. Max Rieger bewogen hat, durch seine Stiftung der Darmstädter Martinskirche die Bedingungen für ein vorbildliches evangelisches Gemeindeleben in einer Dorstadtgemrinde zu schaffen), ist aus D. Schians Schrift über den „gegenwärtigen Stand der Gemeindeorganisation in den größeren Orten Deutschlands" und aus den „Bedenken und Entgegnungen" über „Die Durchführung des Gemeindegedankens in großstädtischen Gemeinden" zu ersehen?) Aber er h a t sich, wenigstens bei uns in Hessen in allen Städten durchgesetzt, zuerst durch Einrichtung von Seelsorge-Bezirken und später durch Organisation von Seelsorge - Gemeinden, die nicht allein ihren eignen Seelsorgepfarrer, sondern auch ihre eigne Gemeindeorganisation (Kirchenvorstand, Gemeindevertretung, kirchliche vereine) haben, wäh­ rend man noch im Jahre 1914 bei dem D. E. Gemeindetage zu Han­ nover in scharfen und tiefgehenden Auseinandersetzungen über „Lokalgemeindetum und personalgemeindetum" gestanden hat ?), welch letzteres dort noch lebhafte Verfechter gefunden hat. Aber bei uns in Hessen

’) Beide als hefte des Deutschen Lvang. Gemeindetages (Leipzig, Hinrichs) erschienen. s) Dgl. „Die Verhandlungen des D. (E. Gemeindetages in Hannover 1914”, die das Referat von D. Mohling und das von mir erstattete ausführliche Kor­ referat nebst der sehr lebhaften klussprache darbieten.

h. Matthes

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hat sich der Gedanke des Eigenlebens jeder Seelsorgergemeindex) so rasch durchgesetzt, daß, obgleich auch schon Übertreibungen und Über­ spitzungen des „Gemeindeprinzips" hemmend wirken, so daß Prälat D. Diehl in seinem Vortrag bei dem Darmstädter Gemeindetag vom 28. Oktober 1923 vom Gemeindebewußtsein zu „Mehr Kirchenbewußtsein" ausrief, niemand das System der Amtswochen der Pfarrer und das perfonalgemeindetum zurückwünschen möchte. 2. Über klar ist es uns auch geworden, daß die Verwirklichung dieses Stücks aus dem Programm E. Sulzes noch nicht der Zauber­ stab zur Hervorbringung der lebendigen Gemeinden ist, sondern nur eine Vorbedingung dafür schafft, daß die eigentlichen lebenschaffenden Faktoren aber erst entdeckt und in Aktion gesetzt werden mußten. Diese Faktoren suchte man lange in den durch die kirchlichen Wahlen zusammengeführten kirchlichen Körperschaften. Aber allgemein war und blieb die Enttäuschung über die im Rahmen der Kirchen­ verfassung von 1874 wirkenden Kirchenvorstände. So viel Aner­ kennung ihre Leistungen zur kirchlichen Vermögensverwaltung und zum Teil auch zur Wahrung der kirchlichen Ordnungen sich erworben haben: die lebendige Gemeinde haben uns die Kirchenvorstände nicht gebracht,' sie dachten auch nicht daran, und wenn einmal ein ge­ wissenhafter Mann vor seiner Einführung in das Kirchenvorsteheramt die tiefer führenden Bestimmungen, die schon in der bisherigen Kirchen­ verfassung vorhanden waren, entdeckte und Bedenken trug, sie auf sein Gewissen zu nehmen, so konnte ihm von dem Pfarrer gesagt werden — es ist vorgekommen — das seien nur Worte, die unmög­ lich Anspruch auf Verwirklichung machen könnten. Sülze selbst hat das gewußt und deutlichst betont, daß von dem die äußere Ordnung wahrenden Amt des Kirchenvorstands das des Pres­ byteriums als Seelsorgeramt zu unterscheiden sei. Die Arbeit der Presbyter beschreibt er in Anknüpfung an „die presbyteriale Zeit" der calvinistischen Kirche — dasselbe gilt auch von dem hessischen Seniorenamt, zumal nach der Kirchenordnung von 16342) —, nach*) wesentlich durch die Initiative des damaligen 1. Stadtpfarrers D. Veite

und der Pfarrers D. waitz; vgl. dessen Schrift: Die Durchführung der Gemeinde­ organisation in den ev. .Gemeinden Darmstadts.

1911.

*) (Es sollte viel mehr beachtet werden, wie sehr sich die Reformvorschläge

Sulzes bis ins Einzeln« auf di« hessische Kirchenordnung von 1634 berufen

können. Nur folgende Sätze seien hervorgehoben: „Damit den Predigern dieses (nämlich ihre Aufgabe als Seelsorger) nicht zu schwer falle, so sollten sie in den

Städten und in allen (!) Dörfern ihr« gewissen, frommen gottseligen Seniores bestellen, also dah einem jeglichen Seniori etliche gewisse Gassen oder Häuser

zugewiesen werden...

Fürs vierte soll ein jeder Senior einen Latalogum

aller derer Seelen, so in den ihm zugeordneten Häusern oder Bezirk befindlich

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dem er ausgeführt hat, wie die Gemeinde in Abteilungen, Duartiere oder Bezirke einzuteilen sei, folgendermaßen: Jeder Presbyter sucht sich in seiner Abteilung die tüchtigsten Hausväter und nimmt sie unter Zustimmung des Presbyteriums zu seinen Mitarbeitern an. So entstehen die Hausväterverbände, also mehrere für jede Gemeinde, je nach der Zahl der Presbyter.... wenn es möglich ist, wird für jedes Haus, in dem noch mehrere Familien wohnen, ein Hausvater bestellt Nie darf die Liebestätigkeit der Gemeinde nur auf die Hilfe gerichtet sein. Sie muß stets dessen eingedenk bleiben, daß ihr Zweck die Erneuerung und die Rettung der Seelen ist. (Die Gemeinde S. 40 u. 41.)

Trotzdem Sülze (S. 43) genau ausführt, wie „sein" Hausväterver­ band gewirkt und was er geleistet hat, galten gerade diese Ideen lange Jahre für die utopischsten in seinem ganzen Gemeindeprogramm, bis uns die Hot der Uriegsjahre und noch mehr der Nachkriegsjahre eine erfreuliche und in mancher Hinsicht überraschende Verwirklichung der Idee des Hausväterverbands brachte. Den Anstoß gab die Ver­ öffentlichung des Aufsatzes von Pastor Brandt in Hildesheim „Unser Hausväterverband" in Nr. 2, 1917, der Zeitschrift „Ver ev. Uirchenvorstand". Darin wird berichtet von der zehn Jahre zuvor erfolgten Gründung eines Hausväterverbandes, dem von 1200 Familien der Gemeinde 700 angeschlossen waren. Aus der Beschreibung ihrer Arbeitsweise seien folgende Sätze hervorgehoben: Der Bezirk wurde in 3 Unterbezirke geteilt und diese den 3 neu­ gewählten Kirchrnvorstehern, tüchtigen frischen Männern aus dem kleineren Bürgerstande, als ihr Arbeitsgebiet, für das sie die Verantwortung über­ nahmen, zugeteilt. Ihnen zur Seite traten je eine Anzahl von Vertrauens­ männern, von denen jeder einen Straßenbezirk, möglichst den, in dem er wohnte, zugewiesen bekam .... Diese Männer erhielten nun den Auftrag, jede evangelische Familie ihres Bezirks aufzusuchen, zum Beitritt in den Hausväterverband aufzufordern, den „Kirchlichen Wegweiser" (eine Zusammen­ stellung aller Gemeindeeinrichtungen, Gottesdienste u. s. w.) zu überreichen, nach Notständen zu forschen, und durch geeignete Gespräche überall anregend, verteidigend und aufmunternd zu wirken. Und ich muß sagen, zu meiner großen Freude haben diese Männer ihre Aufgabe im allgemeinen ausge­ zeichnet begriffen und gelöst und arbeiten in dieser Weise noch immer mit wachsendem Verständnis und Geschick .... Alle 14 Tage haben wir Ver­ sammlung .... was kommt da alles zu Tage! . . .. Die Gäste, die wir in diesen Versammlungen mitunter haben, auch von der Rirchenbehörde, haben

seynd und ihrer aller Namen, auch wie alt ein jeglicher? was sein Thun und Amisgeschäfte seien? ausgezeichnet haben. Zu dem Ende dann auf alle monat­ liche Beilage ... die Prediger und Seniores.. . unaufschieblich ihren Tonvenium halten, von den vorgefallenen Sachen in Verschwiegenheit reden, die vor­ geforderten Personen . . . erinnern, straffen, trösten, zu gütlicher Vergleichung in Mißverständnissen und Ablegung alles Hasses und Grolles ermahnen,

vom neuen willen zur Uirche.

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sich gewundert, war diese einfachen Männer alle; leisten, trotzdem sie doch meist wenig Seit haben .... Kurz, in der Gemeinde ist er seither lebendig geworden, der Besuch der Gottesdienste hat sich gehoben, er herrscht ein kirchlicher Gemeingeist, ein Einstehen für einander, eine gewisse gegenseitige Kontrolle; der ehemals nur eine geographisch« Einheit bildende Bezirk ist eine Gemeinde, ein Grganirmur geworden.

In demselben Jahre 1917 wurde in hessen, wo in nur wenigen Gemeinden seit früherer Zeit evangelische Männervereine bestanden hatten, der versuch gemacht, eine Männerbewegung in die Wege zu leiten, dadurch daß der Vorsitzende des Deutschen ev. Gemeindetagrs, Pfarrer D. Stock, bei dem Landes-Gemeindetag zu Darmstadt am 6. INai einen Vortrag über „Die Kirchengemeinde und die Männer nach dem Kriege" hielt, und daß im folgenden Jahre am 8. und 15. April auf einem oberhessischen Gemeindetag zu Friedberg und einem rheinhessischen Gemeindetag zu Mainz Pfarrer Pabst und Pfarrer Mahr Vorträge hielten über das Doppelthema „Wie gewinnen wir die Männer für das kirchliche Gemeindeleben a) in der Stadt *-), b) auf dem Lande?" Deprimierend aber konnte der Erfolg desweiter­ gehenden Versuches wirken, den die hessische Landesgruppe des D. E. G.-T. gemeinsam mit dem Hauptverein des Evangelischen Bundes machte, die Vertreter der städtischen Kirchengemeinden auf den 26. Juni zu gemeinsamer Beratung über „Die kirchliche Männerfrage", [auf Grund eines Referats von Pfarrer Pabsts einzuladen, denn nur ganz wenige waren vertreten, und außer jenen älteren Männervereinen wie dem von Weisenau waren nur die der Darmstädter Martins­ gemeinde und der Wormser Luthergemeinde als vorhanden zu be­ zeichnen. Die Schwierigkeit hatte im innersten Grunde darin gelegen, daß bei der Mobilmachung der Männer darauf gedrungen ward, sie nicht allein zum Anhören von Vorträgen und zum Festefeiern, sondern zum Seelsorgedienst nach dem Vorbild des althessischen Seniorats mobil zu machen. Umso mehr können wir dafür dankbar sein, daß seit 1918, zumal unter dem Eindruck des Wegfalls des staatlichen Schutzes für die Kirche, in den meisten der hessischen städtischen Einzel­ gemeinden ebenso wie in Hildesheim eine überraschend große Anzahl von Männern bereit war, sich zu „Männervereinen" zusammen­ zuschließen, und daß auch beträchtlich viele sich dem Seelsorgedienst an ihren Brüdern unterzogen haben, vor allem aber, daß die Erkenntnis durchgedrungen ist, daß diese Arbeit der „Vertrauensmänner" das Wesentliche an den Männervereinen ist, wozu wohl das Vorbild der eingebürgerten Frauenvereine wesentlich mit beitrug. ') Auch der Vortrag von D. Pabst ist al; Flugschrift der D. E. Gemeinde­ tages erschienen.

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So haben wir in diesen letzten Jahren ein gutes Stück von der Verwirklichung der Idee der lebendigen Gemeinde erlebt. Gerade dort, wo man bisher den eigentlichen Herd der Unkirchlichkeit sah, in den Städten, sind sie am deutlichsten im Werden. Ihr Dasein wird sogar auch schon in der Steigerung des Kirchenbesuchs offenbar, der nach der kirchlichen Statistik in manchen städtischen Gemeinden schon besser ist als in manchen Dorfgemeinden?) Auch der Austritts­ bewegung gegenüber offenbart sich ihre Wirkung dadurch, daß sie in manchen Stadtgemeinden erfolgreicher abgewiesen worden ist als leider in manchen Dorfgemeinden, in denen man selbstsicher der Meinung sich hingab, auf den alten wegen beharren zu dürfen, während gleich­ zeitig die katholische Kirche durch ihr sog. Laienapostolat erreicht hat, daß ihr in den Jahren van 1919—1921, während die evangelischen Landeskirchen 781 431 „Gläubige" durch die Austrittsbewegung ver­ loren, noch nicht 90000 entzogen werden konnten?) Vas größte Hemmnis für den Fortschritt der Gemeindebewegung ist in der kirchlichen Losung zu suchen, daß „das Wort es tun muß", daß es also auf die Lehre, sei es konservativen, sei es liberalen In­ halts allein ankomme, wobei man vergißt, welche Rolle in der mittelalterlichen Kirche Bischöfe und Päpste und in der lutherischen Kirche die Landesfürsten und Obrigkeiten gespielt haben, die z. B. jene vorzüglichen hessischen Kirchenordnungen von 1538 und 1634 Herausgaben und vor allem auch deren Durchführung durchsetzten. Neuerdings gab man jenem Bedenken den Ausdruck, daß durch die von der Gemeindebewegung geforderte Organisation die „Inner­ lichkeit" Not leide, Organisation müsse notwendig zur „Veräußer­ lichung" führen. 3ur Klärung dieser in der Tat ernsten Frage hat PH. Bachmann viel beigetragen durch seine Schrift „von Innen nach Außen. Gedanken und Vorschläge zur Kirchenfrage der Gegenwart" (Leipzig 1919). Deutlich und bestimmt tritt er dem Irrtum entgegen, daß „das Moment der Unvollkommenheit" „erst im Übergang von der pneumatisch-charismatischen Grundgestalt zur Organisation auf­ trete", und stellt ihm S. 23 die These gegenüber: „Den apostolischen Dienst in seiner geisterfüllten Kraft und Wirksamkeit rechnen wir, wiewohl er in gewissem Sinne .organisiert' ist, doch zur pneumatischen Grundgestalt selbst wie das wort". ’) Dgl. den näheren Nachweis in meiner Flugschrift über „Hebung des Kirchenbesuchr durch Gemeindeleben". Darmstadt, Zedier 1922. 2) Dgl. den Aufsatz über den „Laienapostolat in der katholischen Kirche" in der Nummer vom 1. April der „Luth. Kirchenzeitung", dort wird gesagt: „Die antireligiöse Propaganda hat der katholischen Kirche in Deutschland kaum die haut geritzt."

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Hm meisten sind die grundsätzlichen Bedenken gegenüber der Gemeindebewegung durch die an ihr geübte Kritik Hilberts geklärt worden. 3ii seiner Schrift „Ecclesiola in ecclesia. Luthers Anschau­ ungen von Volkskirche und Freiwilligkeitskirche in ihrer Bedeutung für die Gegenwart" (Leipzig 1920) hat er ein neues Verständnis von Luthers „Deutscher Messe" erschlossen und nachgewiesen, daß der dort von Luther ausgesprochene Gedanke des Zusammenschlusses derer, „die mit Ernst Christen sein wollen", durchaus der Verwirklichung fähig und seine Durchführung dringendste Notwendigkeit sei. Diese Schrift war es vornehmlich, die den Hnstoß zu dem jetzt allgemein, zumal auch in den Kreisen der Inneren Mission, erhobenen Ruf nach der Bildung von „Kerngemeinden" gegeben hat, die Hilbert in „Bibel­ stundengemeinden" sieht, wobei indes festzustellen ist, daß der Ge­ danke der Kerngemeinde Sülze gegenüber nicht neu ist, der schon deut­ lichst von der Gemeinde innerhalb der parochie redet, unter dieser die Schar der Lingepfarrten, unter jener die der „selbsttätigen" Ge­ meindeglieder verstehend?) Noch mehr wird die Lage durch Hilberts Schriftchen „Wie kommen wir zu .lebendigen Gemeinden'?" geklärt. Zwar nimmt er auch hier eine scharf kritische Stellung gegenüber Sülze ein, indem er sagt, daß der versuch, die ganze parochie zu einer lebendigen Kirche aus­ zubauen, fehlschlagen mußte, und daß „all die Bestrebungen, durch Arbeit allein die Kirche lebendig zu machen, ein glattes Fiasko" er­ fahren müssen, um dann abermals zu fordern, daß der eigentliche Gemeindekern, die Bibelstundengemeinde, in den Dienst zu stellen sei. Aber hochwichtig ist sein Zugeständnis, daß „die volkskirchlichen Ar­ beitsorganisationen" im Segen wirken, sogar auch als „seelsorgerliche Mitarbeiter" „im Kindevgottesbieitst!, in den Iugendvereinen, zur seelischen pflege der Armen und Kranken, aber auch zur Be­ grüßung neuzugezogener Gemeindeglieder, zur Mahnung der Tauf­ und Trausäumigen, zur Vrucksachenverteilung und dergleichen mehr", und daß er sagt, „diese Arbeitsorganisationen der Volkskirche könnten nicht von ihrem Kern als solchem ins Leben gerufen und ge­ leitet werden" (S. 24), sondern vielmehr wünscht, daß aus dem Neben­ einander „der Kerngemeinde" und der „Arbeitsorganisationen" ein Ineinanderwirken beider werde, derart daß die „seelsorgerlichen Mit­ arbeiter" in die Bibelstundengemeinschaft, die Bibelstundenleute aber in die Arbeitsorganisationen eintreten. Kann die Gemeindebewegung ein größeres Zugeständnis erwarten ‘) vgl. den Abschnitt „Gemeinde und parochie" a. a. ©. S. 55 und den Abschnitt „Die Gemeinde, dar Kraftzentrum der parochie" in meinen „Aussichten und Aufgaben der evang. Landeskirchen in der Gegenwart". Gießen 1909.

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als dieses? Auch Hilbert erkennt die Mitarbeit der Laien in den Bahnen, die von der Gemeindebewegung eingeschlagen sind, an. Ihr Verfahren wird auch von der Kritik als ein bewährter weg aner­ kannt, um zu lebendigen Gemeinden zu kommen. Man hätte allen Grund, um noch anerkennungsvoller auch zuzugestehen, daß die Haus­ väterverbände, die Männer- und Frauenvereine, soweit sie seelsorgerliche Mitarbeiter haben, „Kerngemeinden" sind. Es bleibt als letztes und schwerstes Bedenken das der Mitarbeit der Leute aus dem liberalen Bürgerstande am kirchlichen Leben, deren Glaubensbekenntnis manchmal derart ist, daß dessen theoretische Konsequenzen 311111 Individualismus unsrer Intellektuellen führt, bei dem viele aus allen Volksschichten von den Akademikern bis zu den Proletariern angelangt sind, und der schließlich nach Rätzels Buch über „Di» soziale Bewegung in Rußland" und nach Mauthners Buch über den Bolschewismus (Stuttgart 1922) in dem Ideendespotismus der Tyrannei und Versklavung des Bolschewismus und des kom­ munistischen Terrors, also in dem Gegenteil der freien Selbstbetäti­ gung, endigen muß. hier läge die tiefste Berechtigung von Hilberts Kritik, wenn nicht Sülze selbst in nicht zu überbietender Schärfe diese Gefahr auch ge­ sehen und das ungeschichtliche und das sogen, unbewußte Christentum, hinter dem letztlich jene pantheistische idealistische Religiosität steht, als vollkommen unfähig zu jeder Gemeinde- und Gemeinschaftsbil­ dung erkannt und bekämpft hätte, wir können also auch in dieser Richtung eine gemeinsame Front einnehmen. Ja, es liegt so, daß die moderne Apologetik, die sich hauptsächlich auf den Kampf gegen die Christus-ferne und kirchenlose Religion eingestellt hat, keinen besseren Rückhalt finden kann als die Sulzeschen Hausväterverbände oder, wie sie sich selbst zu nennen pflegen, die evangelischen Männer­ vereine, da diesen die liebsten Vorträge bei ihren monatlichen Ver­ sammlungen neben denen über ihre praktischen Aufgaben solche apo­ logetischen Inhalts sind, während solche mit evangelistischer Haltung, so notwendig sie zu Erweckungen sind, in diese Kreise nicht recht passen. wir stehen vor der merkwürdigen — und doch gewiß hoch­ erfreulich zu nennenden — Tatsache, daß Salzes Aufruf zum Aufbau lebendiger Gemeinden von den Kreisen verstanden wird, aus denen er selbst stammte, also von den Kreisen des liberalen Bürgertums, nicht der sogen Intellektuellen, die heute noch dieselbe Haltung ein­ nehmen wie die zu Korinth (1. Kor. 1,20), sondern des wahrhaft werktätigen städtischen Bürgerstandes, und daß diese Kreise, weil sie mehr kirchliche Traditionen und mehr Ehrfurcht vor den kirchlichen

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Heiligtümer', bewahrt haben, nicht allein am meisten Hingebung und Geschick in seelsorgerlicher Mitarbeit beweisen, sondern auch, von den in ihrer Arbeit gewonnenen Einblicken in das Volksleben aus, zu­ gänglich und empfänglich sind für apologetisch gehaltene Einführung in das Innerste -es kirchlichen Lebens, in das biblische Ehristentum, während es in nicht wenigen Gemeinden gar nicht leicht ist, die Ge­ meinschaftsleute für die notwendigen kirchlichen helfersdienste zu ge­ winnen, weil diese Dienste dort in dem Rufe der zu nahen Be­ rührung mit dem weltlichen stehen, so daß man sie lieber den „volkskirchlichen" Mitarbeitern überläßt. 3°, es ist durchaus mög­ lich, daß dann, wenn einmal von diesen volkskirchlichen Kreisen aus „Apologetisationen" im größeren Stile versucht werden würden, wie Pastor Müller sie im Juni d. I. nach dem „Protokoll der 3. Apolo­ getenkonferenz in Freudenstadt" beschrieben hat, dieselben Erfolge bei der Arbeiterschaft zu erreichen wären, die er in Westfalen fand, da die Arbeiterschaft schon beginnt, mit zwar noch scheuer Sehnsucht, von ihrem seichten, halb idealistischen, halb materialistischen frei­ religiösen Aufkläricht nach der Ehristusreligion und nach -er Kirche hinzuschauen?) Freilich nicht nach einer bloßen Pre-igtanstalt, in der niemand dafür verantwortlich wäre, daß das gepredigte Wort auch verwirklicht wird, sondern nach einer Gemeindekirche, in -er das Sehnen der Volksseele nach communio in einer Lebens-, Gesinnungs­ und Arbeitsgemeinschaft verwirklicht ist. Luther hat, als er vor der Verwirklichung der von ihm in der „Deutschen Messe" ausgeführten Gedanken der lebendigen Gemeinde stand, gesagt, „er habe nicht die Leute dazu", heute nach 400 Jahren sind wir von dem Herrn der Kirche ein Stück weiter geführt. Wir haben ein Volk, das nicht allein aus seiner wirtschaftspolitischen Schulung, sondern letzten Endes aus dem Gedanken der Kirche selbst — der innere Zusammenhang von wirtschaft und Kirche ist durch M. Weber und E. Troeltsch nachgewiesen — die Idee der Lebens­ und Arbeitsgemeinschaft im Sinne von 1. Kor. 12 ersaßt hat, an sie mit seiner Seele sich sestgeklammert hat und daran entweder seine Neugeburt oder seinen Untergang erleben wird. Uns wächst durch die neue Arbeitsschul-Unterrichtsmethode und nicht zuletzt durch die Ju­ gendbewegung ein neues und neuartig eingestelltes Geschlecht zu, das ’) vgl. die Inhaltsangabe des Rufsatzes von Kleinspohn (in den Sozialist. Monatsheften XXX, 2) — in Nr. 25 der „Veutsch-Lvang. Korrespondenz des Evang. Bundes" sowie die zukunftsfrohen drei hefte von h. Ehrenberg mit dem Titel „Lvang. Laienbüchlein", in dem gesagt wird, daß gerade die evang. Kirche, aber nur, wenn sie lebendig, d. h. eine Arbeitsgemeinschaft wird, die Aussicht auf Gewinnung der Arbeiterschaft hat.

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ganz anders nach lebendigen Gemeinden rufen wird als das durch

seine politischen und wirtschaftlichen Erfolge hart und trunken ge­ wordene Geschlecht der Riten, ein neu Geschlecht, das nach der Ver­ wirklichung von 1. Kor. 12 und Epheser 4, 15.16l)* rufen wird, oder wenn man auf diesen Ruf nicht hören würde, eher zu den Sekten zu gehen bereit wäre, als bei einer toten Kirche zu bleiben. Rber so groß auch die Sehnsucht der Volksseele nach lebendigen Gemeinden ist, wir können nicht zu ihnen kommen ohne durch Christus in neuem Wesen lebendig gewordene Theologen. Richt ohne daß ihnen in Christi Angesichte immer neue Lichter aufgehen, besonders bei dem in dem heutigen Synkretismus immer wieder notwendigen vergleiche Christi mit den andren großen Seelenführern wie Buddha, Sokrates und Goethe. Lin Theologe, der auf der Höhenlage, die diese Namen bezeichnen, stehen bleibt und sich nicht in klarem Be­ wußtsein über sie erhebt, wird notwendigerweise selbst ein Individu­ alist oder Geistesaristokrat, wie es jene waren, und unfähig zum Rufbau und Ausbau volkskirchlicher Gemeinden?) Richt ohne daß den Theologen Christus in neuer 8^« erstrahlt als Herr seiner Kirche und gerade auch der organisierten Kirche, die nach Kalten« buschs Schrift über den „(Quellort der Kirchenidee"3)4 *von 6 Christus selbst stammt, so gewiß Jesus die Zwölfe berufen hat, „daß sie um ihn seien und er sie aussende, zu predigen" (Mark. 3,14), und der seine „Sendboten" als seine lebendige Organisation hinterlassen hat

— auch die hochkirchliche Bewegung, soviel Berechtigung sie gegen­ über der reinen Kultur- und Schulkirche hat, pflegt leider vielfach vorbeizusehen an dem kultischen Erlebnis der paulinischen Gemeinde als dem Erlebnis der Gegenwart unsres Kupwc in seiner Gemeinde (vergleiche 1. Kor. 14, 25)?) Richt ohne daß die Theologen anders von der sichtbaren, d. h. der organisierten und in lebendigen Gliedern wirkenden Kirche lehren3), statt immer wieder sie — durchaus *) Wehrmann sagt in seiner Schrift „Vie Gemeinde, di« Zukunft der Völker", daß jetzt die Zeit der Lpheserbriefr im Kommen sei. ’) In Troeltschs „Soziallehren der christlichen Kirchen" ist nachgewiesen, daß die idealistische Religiosität — er nennt sie Spiritualismus — keine andere soziale Wirkung hat als „Gruppenbildung um Seelenführer lediglich persön­ licher Rrt", politisch gesagt: Klassenbewußtsein, nicht volksbewußtsein. •) Beitrag zur Harnack-Zestgab«. Tübingen 1923. 4) vgl. meinen Rufsatz über „Die deutsch - evangelisch« Messe und das gottesdienstliche Erlebnis" im Maiheft 1912 der Monatsschr. für Gottesdienst und kirchlich« Kunst. 6) Ls gilt zu lehren „Ich glaube an eine heilige christliche Kirche", nicht aber „Ich glaube, daß sie existiert"; vgl. S. 13 meiner Erklärung des III. Rrtikels und mein« Lehrprobe in D. Eberhards „Neuzeitlicher Religionsunterricht". 1924.

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gegen den Sinn von 2.Lor.4,7, wo der Apostel von sich redet — als „irdenes" Gefäß, sondern in der ihr zukommenden