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German Pages 464 Year 2012
Volkswirtschaftslehre Mikro- und Makroökonomie von
Prof. Dr. Hanno Beck
Oldenbourg Verlag München
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2012 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Telefon: (089) 45051-0 www.oldenbourg-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Lektorat: Thomas Ammon Herstellung: Constanze Müller Titelbild: Kai Felmy Einbandgestaltung: hauser lacour Gesamtherstellung: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. ISBN 978-3-486-71317-6 eISBN 978-3-486-71653-5
Vorwort Der Einstieg in eine Wissenschaft ist ebenso ein Abenteuer wie der Versuch, ein einführendes Buch über eine Wissenschaft zu schreiben – in diesem Sinne ist dieses Buch ein doppeltes Abenteuer. Die Ideen in diesem Buch sind nicht neu, sondern vielfach erprobt und diskutiert, dieses Buch ist aber der Versuch, diese Ideen so einfach und unterhaltsam wie möglich darzustellen, für alle Nebenfächler, Neu- und Quereinsteiger und interessierten Laien. Aus diesem Grund verzichtet dieses Buch auf jegliche Vorkenntnisse ebenso wie auf Mathematik, und versucht zu jeder Idee die praktischen Anwendungen aufzuzeigen; gerne auch mit etwas skurrilem Einschlag und Augenzwinkern. Ein Abenteuer ist dieser Einstieg hoffentlich im positiven Sinne: Sie werden viele neue Ideen kennenlernen, einige werden Ihnen einleuchten, an anderen werden Sie sich vielleicht stoßen, sie hinterfragen oder anzweifeln – das alles ist gut, solange Sie sich damit auseinander setzen, denn wir lernen Dinge nur, indem wir sie anwenden. In diesem Sinne lade ich Sie dazu ein, die Ideen dieses Buches bei jeder Gelegenheit einem Realitätstest auszusetzen, ob im Alltag oder beim Studium der Zeitung – seien Sie neugierig und mutig, stürzen Sie sich in das Abenteuer. Für mich ist das Abenteuer einer Einführung in die VWL mit der Veröffentlichung dieses Buches vorerst zu Ende – für den Leser beginnt es nun, ich hoffe, dass es ein spannendes, interessantes und lehrreiches Abenteuer wird. Genießen Sie es. Die Liste derjenigen, denen ich zu Dank verpflichtet bin, ist lang und wird vermutlich nie vollständig sein: Zunächst danke ich Herrn Thomas Ammon vom Oldenbourg-Verlag, der sich mit viel Engagement, Einsatz, Gelassenheit und jederzeit höchst professionell um das Projekt gekümmert hat, ebenso wie Frau Lea Ruschmeyer und Frau Sophia Simon aus dem wirtschaftswissenschaftlichen Lektorat des Oldenbourg-Verlages, die sich ebenfalls sehr für das Buch engagiert haben. Prof. Dr. Agnes Sputek danke ich ebenso für das gewissenhafte Korrekturlesen wie meinem akademischen Lehrer, Prof. Dr. Aloys Prinz (dem ich noch viel mehr verdanke). Natürlich gehen alle Fehler zu meinen Lasten.
Vorwort
VI
Mein Dank geht ebenfalls an die Hochschule Pforzheim, die mich bei diesem Projekt unterstützt hat; sowie an meine Kollegen in Pforzheim; Danke Euch allen für die vielen inspirierenden Diskussionen und Eure Geduld mit mir. Kai Felmy hat die wunderbaren Cartoons beigesteuert, welche die Ideen dieses Buches ein wenig heiterer darstellen sollen, Tanja Kittner hat viele der Motive fotografiert, mit denen dieses Buch illustriert ist – beiden sei ganz herzlich gedankt (ebenso wie unserem wunderbaren Fotomodell Ruthie, Sie finden sie auf Seite 341). Gedankt sei auch all denen, die ich nicht explizit erwähne, die aber indirekt durch Debatten oder ihre Freundschaft und Verbundenheit immer eine Hilfe waren, meine Familie und meine Freunde – Euch allen ein großes Dankeschön. Schön, dass ich Euch habe. Mit Euch kann man Abenteuer wagen.
Pforzheim, im Mai 2012
Hanno Beck
Inhaltsverzeichnis Vorwort
V
Mikroökonomie 1
Ökonomisches Denken: Erste Ideen
2
So funktionieren Märkte
25
3
Der ökonomische Werkzeugkasten: Elastizitäten, Konsumenten- und Produzentenrente
51
Anwendungen: Mindestlöhne, Höchstmieten und Jeans 2. Wahl
73
5
So funktionieren Unternehmen
91
6
So funktioniert das Angebot
115
7
Kartelle, Halsabschneider und Firmenkäufer: Dem Wettbewerb auf die Beine helfen
149
Leuchttürme und Umweltschutz: Ökonomisches Marktversagen
173
Rauchen, Alkohol und Umverteilung: politisches Marktversagen
197
Die Achillesferse der Marktwirtschaft: Sozialpolitik
219
4
8 9 10
3
Makroökonomie 11
Was ist Makroökonomie?
241
12
Was ist Wohlstand?
245
13
Was ist Inflation?
267
14
Was ist Wachstum?
281
15
Was ist Arbeitslosigkeit?
297
16
Was ist Konjunktur?
315
17
Was macht der Staat?
327
18
Was ist Geld?
355
19
Der Kreislauf der Volkswirtschaft: Makroökonomische Theorie
393
Inhaltsverzeichnis
VIII
20
Krisen und ihre Therapie: Makroökonomische Politik
415
Literatur
447
Abbildungsverzeichnis
449
Stichwortverzeichnis
451
Mikroökonomie
1
Mikroökonomie – das Beste aus seinem Leben machen Die Mikroökonomie versucht Fragen zu beantworten, die Ihnen fast täglich über den Weg laufen: Wie bezahlt man Taxifahrer oder Ärzte? Warum ist Kaffee am Frankfurter Hauptbahnhof so teuer? Warum sollten wir Tokio Hotel nicht zur Bundeswehr schicken? Mikroökonomie ist aus dieser Perspektive eigentlich nichts anderes als angewandter gesunder Menschenverstand – sie soll uns dabei helfen, das Beste aus unserem Leben zu machen. Doch nicht nur das: Mikroökonomie hilft uns zu verstehen, warum manche Dinge knapp sind, wie man diese Knappheit beseitigen kann, warum und wie der Staat in unser Leben eingreifen sollte und wo er dies vielleicht nicht tun sollte; sie ist also auch praktische Politikberatung. Und: Sie erfahren endlich, wie es dazu kommen konnte, dass die Sowjetunion ein Monster aus Kugellagern gebaut hat.
Lernziele Haben Sie sich nie gefragt, wie es sein kann, dass Sie in den Geschäften fast immer das bekommen, was Sie kaufen möchten? Wie kann es sein, dass eine Volkswirtschaft von 80 Millionen Menschen im Alltag so reibungslos funktioniert? Sie haben Hunger – also gehen Sie ein Brot kaufen. Sie haben Durst? Her mit dem Bier. Das wirkt auf Sie so selbstverständlich, aber das war es nicht immer – nur vor wenigen Jahren herrschte in einem Teil unseres Landes immer wieder Knappheit an vielen Dingen. Keine Frage – der Aufbau unseres Wirtschaftssystems entscheidet darüber, wie gut es uns geht. Also müssen wir zunächst verstehen, welche Möglichkeiten man hat, um ein Wirtschaftssystem aufzubauen. Dazu werden wir uns in einem ersten Schritt ein Grundvokabular an ökonomischen Begriffen erarbeiten, die Sie beherrschen müssen, danach werden wir uns damit beschäftigen, wie Märkte als Wirtschaftsform funktionieren und warum Ökonomen glauben, dass Märkte die bessere Alternative zu Planwirtschaften sind. Danach werden wir diskutieren, wie Politik in Märkten funktioniert und welche Folgen wirtschaftspolitische Maßnahmen für die Wohlfahrt eines Landes haben. Wenn Sie diese Analyse verstanden haben, können Sie diese Methode auf sehr viele aktuelle wirtschaftspolitische Probleme anwenden, ein paar Anwendungsbeispiele bietet der Text, weitere finden Sie im Internet. Wenn wir verstanden haben, wie Märkte funktionieren, werden wir uns einem zentralen Akteur auf den Märkten widmen, den Unternehmen, und versuchen zu verstehen, wie Unternehmen funktionieren (den anderen zentralen Akteur, die Konsumenten, behandeln wir nicht detailliert, die so genannte Haushaltstheorie ist ein wenig komplexer und hätte den Umfang des Buches überdehnt). Die letzten vier Kapitel des ersten Abschnittes werden wir auf Bereiche verwenden, in denen Märkte nicht funktionieren – hier ist der Staat als Bewahrer des Wettbewerbs (Wettbewerbspolitik), als Anbieter öffentlicher Güter, als wohlmeinender Vater, der uns vor uns selbst schützen will und als Anbieter sozialer Sicherheit gefragt.
Ökonomisches Denken: Erste Ideen
1
„Economics is making best out of life“ (George Bernhard Shaw) Was ist Ökonomie? Was ist Ökonomie? Was ist ökonomisches Denken? Nach herkömmlicher Meinung ist Ökonomie alles, was irgendwie mit Geld zu tun hat – und hier irrt die herkömmliche Meinung. Das obige Zitat von George Bernhard Shaw kommt der Idee der Ökonomie recht nahe: Ökonomie bedeutet, das Beste aus seinem Leben zu machen. Ökonomie ist also praktische Lebenshilfe: Es geht darum, den Menschen zu helfen, mit weniger Aufwand ein besseres Leben zu führen. Damit ist auch klar, dass es bei der Ökonomie in erster Linie nicht um Geld geht, sondern um Wohlbefinden: Ökonomen wollen Menschen helfen, ihr Wohlbefinden zu steigern – in der oft spröden Sprache der Ökonomen nennt man das dann „Nutzenmaximierung“. Darum geht es also: Ökonomen wollen Menschen den Weg zeigen, wie wir mit weniger Aufwand mehr Wohlbefinden erreichen. Wie kann ich mit weniger Arbeit mehr produzieren? Wie soll ich meine knapp bemessene Zeit aufteilen zwischen Freizeit und Arbeit, zwischen Hobby und Familie? Was kann ich tun, um meine Ziele rascher und leichter zu erreichen? Insofern ist Ökonomie ein Stück praktische Lebenshilfe. Die Ausprägung dieses Ziels findet sich im sogenannten ökonomischen Prinzip, das es in zwei Ausprägungen gibt: entweder man versucht mit möglichst wenig Aufwand ein gegebenes Ziel erreichen (Minimalprinzip) oder man versucht mit einem gegebenen Aufwand den größtmöglichen Ertrag zu erreichen (Maximalprinzip). Was machen Volkswirte? Aber Ökonomie, vor allem die Volkswirtschaftslehre, ist mehr als das, sie ist auch Ratgeber für Politik, Wirtschaft und Unternehmen. Politikern soll diese Disziplin helfen, Demokratien und Volkswirtschaften zu organisieren, Unternehmen soll sie helfen, ihre Produktion zu organisieren, an den Bedürfnissen der Menschen auszurichten und zu verbessern. Volkswirte beraten die Politik bei der Ausgestaltung von Programmen, sie versorgen sie mit Ideen, Theorien und empirischen Befunden zu den Problemen, mit denen Politiker täglich konfrontiert werden. Was tun gegen Arbeitslosigkeit? Wie soll man die Rentenversicherung ausgestalten? Wie entsteht Inflation und was hat sie für Folgen? Warum soll der Staat Sozialpolitik betreiben und wie soll diese aussehen? Volkswirte versorgen auch Verbände und Nicht-Regierungsorganisationen mit Zahlen und Ratschlägen, sie machen Prognosen über die Entwicklung der Wirtschaft und warnen vor wirtschaftlichen Fehlentwicklungen. Sie erforschen, wie und warum Versicherungen funktionieren (oder auch nicht funktionieren), sie beraten Verkäufer bei Auktionen (spektakulär war beispielsweise die Unterstützung einiger Ökonomen bei der UMTS-Auktion des Jahres 2000), sie erforschen Märkte, suchen nach Wegen zur Verbesserung des Transport-
Ein bekannter deutscher Volkswirt: Prof. Dr. Dres. h.c. Hans-Werner Sinn
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Teil 1: Mikroökonomie
wesens, fragen, warum sich manche Länder so gut entwickeln und andere so schlecht, fragen nach den Ursachen von Wirtschaftskrisen oder beschäftigen sich mit Umweltschutz und den Folgen der Gesetzgebung. Volkswirte arbeiten in Unternehmen, in Verwaltungen, in der Politik, in Forschungseinrichtungen und in Verbänden. Ein guter Volkswirt ist vielseitig einsetzbar, einer hat es sogar zum Bundespräsidenten gebracht (wer war das?). Muss ich mich damit beschäftigen? Gut, jemand, der kein Interesse an diesen Fragen hat, wird sich schwer davon überzeugen lassen, wie wichtig es ist, über diese Dinge Bescheid zu wissen. Dennoch: wer ein wenig daran interessiert ist, was in der Welt passiert, wer sich eine eigene, fundierte Meinung zum Schicksal seines Heimatlandes und der Welt bilden will, muss sich mit den Ideen der Volkswirte auseinandersetzen. Als Wähler, als Bürger, als Betroffener – wer nicht versteht, warum die Welt so ist, wie sie ist, ist ihr rat- und schutzlos ausgeliefert. Und die Theorien der Volkswirte sollen helfen, ein paar Ideen darüber zu gewinnen, wie die Welt funktioniert – und den interessierten Bürger in einen mündigen Bürger zu verwandeln, vielleicht sogar einen engagierten Bürger. Doch selbst wer an all dem nicht interessiert ist und nicht zur Wahl geht (auch das können Ökonomen erklären – warum Menschen nicht wählen gehen), profitiert von den Ideen der Ökonomen. Ökonomie lehrt uns, wie Menschen ticken und was passiert, wenn Menschen auf Anreize reagieren. Wer später als Jurist, Techniker, Sozialwissenschaftler oder in welcher Position auch immer Personalverantwortung hat, kann deswegen von den Ideen der Ökonomen profitieren. Viele Ideen und Einsichten der Ökonomen helfen auch im Alltag, wie wir an einigen Stellen dieses Buches sehen werden. Genügend Gründe, um sich mit Volkswirtschaftslehre zu beschäftigen. Das wollen wir tun, indem wir zuerst einige grundlegende ökonomische Ideen kennen lernen.
Arbeitsauftrag 1 Suchen Sie weitere Beispiele, wo der Rat von Volkswirten gefragt ist. Kennen Sie prominente Volkswirte? Wo arbeiten Volkswirte? Wo könnten Ihnen die Ideen von Volkswirten nützen?
Menschen reagieren auf Anreize. Wenn der Satz von Shaw, dass Ökonomie bedeutet, das Beste aus seinem Leben zu machen, das Ziel der Volkswirte beschreibt, so fasst dieser Satz die Ideen der Ökonomen perfekt zusammen: Die grundlegende Arbeitshypothese der Ökonomen ist, dass Menschen auf Anreize reagieren. Sie tun etwas, wenn man ihnen eine Belohnung in Aussicht stellt, und sie unterlassen etwas, wenn man ihnen unangenehme Konsequenzen androht. Wer Kinder hat oder sich an seine eigene Kindheit erinnert, weiß, wie realitätsnah diese Idee ist. Wer als Politiker, Chef oder Vorgesetzter will, dass die Bürger oder Angestellten sich in einer bestimmten Weise verhalten, muss die richtigen Anreize setzen. Will der Staat, dass seine Bürger weniger rauchen, so bestraft er Raucher mit einer Steuer; will
1 Ökonomisches Denken: Erste Ideen
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der Gesetzgeber, dass die Menschen den öffentlichen Nahverkehr nutzen, so kann er Zuschüsse an die Bahn zahlen oder das Benzin verteuern. Hinter dieser Idee steht die Vorstellung vom sogenannten homo oeconomicus, einem rationalen Entscheider, der auf Anreize reagiert und unter Abwägung der Vor- und Nachteile immer versuchen wird, durch seine Entscheidungen seinen Nutzen zu maximieren. Ökonomen unterstellen bei ihren Theorien also (zumeist), dass Menschen rational handeln und versuchen, bei gegebenen Anreizen das Beste aus ihrem Leben zu machen. Das dürfte eine Annahme sein, die zu sagen wir 95 bis 99 Prozent auch recht robust ist. Nichtsdestotrotz hat sich in den vergangenen Jahren eine Spezialdisziplin mit dem Namen Behavioral Economics (verhaltenswissenschaftliche Ökonomie) etabliert, die sich mit der Frage beschäftigt, wie rational Menschen wirklich sind und sich dabei der Erkenntnisse der Psychologie bedient. Vielleicht sind Menschen nicht immer perfekte Problemlöser und Egoisten, für die Ideen dieses Buches – und den Alltag – aber ist diese Arbeitshypothese recht plausibel und belastbar. Immerhin: Aus Experimenten mit Tieren wissen wir, dass diese in der Regel recht rational handeln.
Im Tierreich: Rationale Ratten und das Trompetentierchen Die Forschungsdisziplin der Behavioral Economics stellt die Rationalitätsannahme der Ökonomen mittlerweile heftig in Frage – sind wir Menschen doch nicht so rational? Mag sein, Ratten jedenfalls sind es. Durch einen raffinierten Versuchsaufbau haben Ökonomen die Konsumgewohnheiten von Ratten untersucht, mit recht rationalen Ergebnissen: Konnte die Ratte zwischen Kirschlimonade und Malzbier wählen, so waren ihre Konsumgewohnheiten eindeutig abhängig vom Preis der beiden Getränke (in Form der Mühen, welche die Ratte für das jeweilige Getränk aufwenden musste); wurde Kirschlimonade teuer, griff die Ratte zum Malzbier – und umgekehrt. Die Nachfrage der Ratte nach Wasser – ein überlebensnotwendiges Grundnahrungsmittel – hingegen war völlig unabhängig vom Preis. Ähnliche Ergebnisse erhielt man bei Tauben und Schlangen. Sogar Kleinstlebewesen wie das Blaue Trompetentier (Stentor Coeruleus), ein Wirbeltierchen, machen ihre Nahrungsaufnahme offenbar von der Mühe abhängig, die sie hatten, um die jeweilige Nahrung zu bekommen (also dem Preis der Nahrung): Wenn die bevorzugte Nahrung schwer zu erreichen war, begnügte sich das Trompetentierchen mit der zweitbesten Nahrung. Wurde die bevorzugte Nahrung leichter zu erreichen (sie wurde also billiger), dann spuckte es die zweitbeste Nahrung aus und konzentrierte sich auf das bessere Futter. Ein ganz schön ökonomisches Verhalten, obwohl, wie ein Autor gemeinerweise anmerkte, das arme Trompetentierchen beinahe nichts habe, was man als Gehirn oder Nervensystem identifizieren könne. Was glauben Sie: Wie rational sind Menschen in Wirklichkeit?
Was soll das heißen – ich habe kein Gehirn? © Roland Birke/OKAPIA
Teil 1: Mikroökonomie
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Denksportaufgabe 1 Als die Engländer noch in Indien herrschten, versuchten sie, eine Kobra-Plage zu bekämpfen, indem sie für jede gefangene Kobra eine Prämie aussetzten. Was waren die Folgen dieser Politik? Waren die Engländer erfolgreich? Was hätten Sie gemacht?
Die Kobra ist an allem schuld.
In der Politik wird oft versucht, statt mit Anreizen mit moralischen Appellen zu arbeiten – das beste Beispiel ist die Debatte um zu hohe Managergehälter: Hier appellieren die Politiker an die Banker, sich bei den Gehältern zu mäßigen. Das mag ja richtig sein und lobenswert, doch ohne entsprechende Anreize darf man nicht unbedingt erwarten, dass die Banker diesem Appell nachkommen werden – also müssen entsprechende Anreize her. Wie diese aussehen können, ist wiederum Geschmackssache, aber Ökonomen können dabei helfen, die richtigen Anreize auszusuchen, die erstens wirksam sind und zweitens die Kosten für alle Beteiligten minimieren. Das ist wirksamer als Politik, die auf moralische Appellen vertraut. Also: Wer das Verhalten seiner Mitmenschen beeinflussen will, muss die entsprechenden Anreize setzen. Und wer das Verhalten seiner Mitmenschen verstehen will, muss fragen, welchen Anreizen diese ausgesetzt sind. Eine Alternative zu Anreizen und Apellen, nämlich Zwang, mögen Ökonomen nicht sonderlich: Zwang bedeutet immer, dass Menschen versuchen, diesen Zwängen auszuweichen, was hohe Kontrollkosten nach sich zieht; schlimmstenfalls kriminalisiert der Staat seine Bürger, weil sie dem Zwang durch illegale Hintertürchen zu entkommen suchen. Und es gibt noch ein weiteres Argument gegen Zwang: Man beraubt Menschen ihrer Freiheit. Das bringt uns zu unserem nächsten zentralen Begriff: Freiheit.
In der Praxis: Das Taxifahrerproblem Bei einem stichprobenartigen Test der Prager Taxifahrer hat eine Prager Tageszeitung in sechs von zehn Fällen teils deutliche Preisüberhöhungen festgestellt. Redakteure der Zeitung hatten sich als ausländische Touristen ausgegeben. Im Extremfall wurde ihnen das Achteinhalbfache des erlaubten Betrages in Rechnung gestellt. Solche Probleme rufen Ökonomen auf den Plan: Wie kann man einen Taxifahrer in einer fremden Stadt bezahlen, dass er seine Kunden nicht anlügt, zugleich aber auch nicht in die Versuchung kommt, so zu rasen, dass das Leben seiner Passagiere gefährdet ist? Die herkömmliche Bezahlung – nach der Anzahl der gefahrenen Kilometer – ist wenig anreizkompatibel, da sie dafür sorgt, dass der Taxifahrer Umwege fährt und die Fahrt möglichst lange herauszögert. Vereinbart man vor Antritt der Fahrt eine feste Summe (ein Fixum), so hat der Fahrer zwar keinen Anreiz mehr, zu trödeln, allerdings wird er
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nun rasen wie ein Verrückter, da er auf diesem Weg seinen Stundenlohn maximieren kann – je schneller er seine Passagiere abliefert, umso eher hat er Freizeit, ohne dass seine Einnahmen sinken. Gut für den Fahrer, schlecht für den Passagier, der um sein Leben fürchten muss. Auch Idee Nummer drei ist nicht vielversprechend: Eine Erfolgsprämie für schnelles Erreichen des Ziels führt zwar dazu, dass der Fahrer keine Umwege mehr macht, sondern den Kunden schnurstracks zum Ziel bringt; allerdings hat man dann wieder das Problem, dass der Fahrer rasen wird. Vielleicht hilft diese Variante: Man kombiniert einen festen Betrag (ein Fixum) mit einer Erfolgsprämie und einem Bonus bei Einhalten der Verkehrsregeln und körperlicher Unversehrtheit des Passagiers. So ähnlich machen es auch meistens die Helden in amerikanischen Filmen, die dem Taxifahrer versprechen, dass es etwas extra gibt, wenn sie den Flughafen oder Bahnhof rechtzeitig erreichen. Haben Sie noch weitere Ideen, wie man einen Taxifahrer bezahlen könnte? Und wie würden Sie einen Arzt bezahlen – kann man die obigen Ideen auf die Bezahlung von Medizinern oder Managern übertragen? Was haben Ärzte und Taxifahrer gemeinsam? Folgen Sie diesem Taxi!
Diskussion Welche Politik schlagen Sie vor, um die Zahl der Raucher zu reduzieren? Welche Vor- und Nachteile haben diese Lösungen? Soll der Staat überhaupt den Bürgern vorschreiben, ob und wie viel sie zu rauchen haben? Gelten die von Ihnen gefundenen Argumente auch für andere Produkte, beispielsweise Alkohol, fettes Essen oder Gewaltfilme?
Freiheit als Norm. Es gibt also noch einen Grund, warum Ökonomen es bevorzugen, Anreize zu setzen: Ökonomen bevorzugen lenkende Maßnahmen, die den Bürgern die Freiheit der Entscheidung lassen. Freiheit ist für viele Menschen ein eigener Wert – der Mensch soll so wenig als möglich unter Zwängen leiden. Das ist ein wohl anerkannter Grundsatz, den man aber nicht teilen muss – Freiheit ist eine so genannte Norm. Eine Norm ist das, was sein soll, was man als Ziel anstrebt – ohne dass jeder dieses Ziel teilen muss (Sie können auch fordern, dass alle Menschen einem Herrscher gehorchen sollten – das wäre auch eine Norm, wenngleich keine sehr konsensfähige). Im Gegensatz zu einer Norm gibt es auch so genannte positive Aussagen, die sagen, wie etwas ist, nicht, wie es sein soll (das „positiv“ ist also nicht wertend gemeint, als Gegensatz zu „negativ“). Ein Beispiel dazu: Alle Menschen sollen möglichst frei leben – das ist eine Norm. Aber nicht alle Menschen leben derzeit frei – das ist eine objektive Feststellung, eine positive Aussage. Normen sind also Aussagen darüber, wie die Welt sein
Das schreckt ab!
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sollte (wobei hier jeder Mensch andere Vorstellungen davon hat), positive Aussagen geben an, wie die Welt wirklich ist. Man kann sich das recht einfach merken: Aussagen, in denen ein „soll“ vorkommt („alle Menschen sollen frei sein“), sind Normen, also Werturteile und damit letztlich Meinungssache; alle Aussagen, die etwas beschreiben („nicht alle Menschen sind frei“), sind positive Aussagen, die beschreiben, wie etwas beschaffen ist. Für einen Wissenschaftler, aber auch für Journalisten oder alle Menschen, die gerne diskutieren, ist es wichtig, Norm und positive Aussagen zu trennen. Man darf und soll seine Meinung ja sagen, aber man sollte auch immer kenntlich machen, dass es sich um eine Meinung und keinen objektiven Zustand handelt (bei Journalisten nennt man das Trennung von Kommentar und Nachricht).
In der Praxis: Das freieste Land der Welt Das kanadische Fraser-Institut (http://www.freetheworld.com/) veröffentlicht jedes Jahr eine Liste, auf der Staaten nach Maßgabe ihrer ökonomischen Freiheiten gelistet sind. Dabei wird die wirtschaftliche Freiheit anhand einer Kennziffer, die von Null bis zehn reicht, gemessen. Diese Kennziffer berücksichtigt die Offenheit des Landes gegenüber dem Ausland, die Intensität des Wettbewerbs im Inland und den Schutz des Privateigentums. Im Jahr 2011 galt Hong Kong als das freieste Land der Welt (9,01 Punkte von 10), gefolgt von Singapur und Neuseeland. Deutschland landet mit einem Wert von 7,75 auf Platz 21; dahinter auf Platz 42 Frankreich. Das Schlusslicht dieser Liste bildete 2011 Simbabwe. Ein interessanter Aspekt: Die Länder mit hoher wirtschaftlicher Freiheit sind zugleich auch die Länder mit höherem Wohlstand. Die Vereinigten Staaten von Amerika sind 2011 auf Platz 10 zurückgefallen.
Hier lebt es sich frei
Effizienz und Effektivität. Neben dieser normativen Zielsetzung hat Freiheit in den Augen der Ökonomen noch einen weiteren Vorteil: Sie kann helfen, Politik effizienter zu machen. Ein einfaches Beispiel hierzu: Um die Umwelt besser zu schützen, kann die Regierung beschließen, dass jeder Bürger nur noch eine bestimmte Menge an Kilometern pro Jahr fahren darf. Diese Politik wäre – einmal angenommen, sie ließe sich ohne Probleme durchsetzen und überwachen – effektiv; d.h. sie würde sofort und sicher wirken (man könnte auch sagen, sie ist treffsicher); würde aber die Bürger in ihrer Freiheit einschränken. Doch sie wäre nicht sonderlich effizient, weil sie nicht die unterschiedlichen Bedürfnisse der Menschen berücksichtigt: für den einen ist es extrem wichtig, viel zu fahren, der andere kann leicht darauf verzichten. Also wäre es doch gut – effizient – wenn derjenige, dem der Verzicht wenig ausmacht, auf mehr verzichtet, der andere, der auf das Auto angewiesen ist, keinen so großen Verzicht leistet. Effektive Politik bedeutet also, etwas sehr sicher zu erreichen, effiziente Politik ist es, wenn wir unser Ziel mit möglichst wenig Aufwand oder Verlusten erreichen (das
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ist wieder das Minimalprinzip) oder mit gegebenem Aufwand ein möglichst großen Schritt in Richtung unseres Ziels machen (Maximalprinzip). Welche Politik bietet sich hier an? Ein Gebot oder Verbot (also Zwang) schränkt alle Bürger gleichermaßen ein, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, dass deren Bedürfnisse sehr unterschiedlich sind – alle werden über einen Kamm geschert. Es ist also effektiv (wir können sicher sein, dass weniger gefahren wird), aber nicht effizient (Radfahrer werden genauso behandelt wie Vielfahrer). Viel besser (effizienter) ist es, wenn diejenigen, denen der Verzicht aufs Auto leicht fällt, auf viel Kilometer verzichten, zugunsten derjenigen, die dringend auf ihr Auto angewiesen sind. Das wäre effizient: Man erreicht ein bestimmtes Ziel mit möglichst wenig Nutzeneinbußen (das nennen wir dann Nutzenmaximierung). Erreichen ließe sich das beispielsweise durch eine Steuer auf den Benzinverbrauch: Jeder Bürger hat nun die Freiheit, so viel zu fahren, wie er will – er muss nur die Steuer zahlen. Wer dringend auf das Auto angewiesen ist, zahlt eben entsprechend mehr Steuern, darf aber fahren; wer kein Auto braucht, verzichtet leichten Herzens. Unter dem Strich lassen sich – vorausgesetzt, man wählt den richtigen Steuersatz –auf diesem Weg genau so viele Kilometer einsparen wie im Falle eines einschränkenden Gebotes oder Verbotes – aber mit weniger Einbußen bei der Wohlfahrt der Bürger. Genau diesem Problem werden wir uns im Kapitel zur Umweltpolitik noch einmal genauer widmen. Mit Blick auf die Effizienz von Maßnahmen – also die Wohlfahrt der Bürger – ist es also besser, den Bürgern wenig Vorschriften oder Verbote zu machen, sondern die Anreize so zu setzen, dass sie die Freiheit haben, selbst zu entscheiden – das ist effizient und reduziert die Wohlfahrtsverluste aus den staatlichen Interventionen. Dabei haben wir noch nicht einmal darüber gesprochen, dass Verbote oder Gebote, welche die Freiheit einschränken, zu Ausweichreaktionen führen, die wiederum der Staat abfangen muss; auch das ist teuer und ineffizient.
Diskussion In welchen Fällen sollte der Staat trotz der Vorteile freiheitsbewahrender Lösungen lieber Verbote oder Gebote aussprechen? Wann sind diese sinnvoll, wann sind Steuern oder andere monetäre Anreize vorteilhafter und warum?
Eigentum. Ein wichtiger Anreiz ist Privateigentum – für Ökonomen ein wichtiges Konzept. Warum das so ist, ist rasch erklärt: Privateigentum, also das Recht, eine Sache zu besitzen und darüber zu verfügen, ist der wichtigste Anreiz in einer wie auch immer organisierten arbeitsteiligen Wirtschaft. Stellen Sie sich einen Moment vor, Sie dürften die Früchte Ihrer Arbeit – Ihren Lohn, das geschaffene Werk – nicht behalten, Sie hätten also keine Eigentumsrechte. Wer würde noch arbeiten, wenn alles, was er in mühevol-
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Symbol eines wirtschaftlich nicht ganz so erfolgreichen Systems.
ler Arbeit erwirtschaftet, ihm anschließend weggenommen wird? Genau das meinen Ökonomen, wenn sie darauf verweisen, wie wichtig Privateigentum ist: Verliert man das Recht, über sein Eigentum zu verfügen, so hat man keinen Anreiz mehr, zu arbeiten. Fehlendes Privateigentum führt obendrein dazu, dass sich niemand mehr darum kümmert – was soll man ein Haus instand halten, das einem nicht gehört? Warum soll man einen Wagen pflegen, den man nicht sein eigen nennt? Die Folgen fehlenden Privateigentums konnte man noch bis in die neunziger Jahre in den Staaten des früheren Ostblocks besichtigen, wo fehlende Eigentumsrechte dazu führten, dass ganze Städte verfielen. Wir werden später sehen, dass Privateigentum in einer Marktwirtschaft eine Schlüsselrolle spielt. Zudem bedeutet Privateigentum auch Freiheit – wer mir mein Eigentum wegnimmt, greift in meine Freiheit ein, etwas zu besitzen oder zu erwerben.
Denksportaufgabe 2 Ein interessantes sozialistisches Experiment: Wir stellen am Straßenrand fahrbereite Autos ab, die jeder nutzen kann, der gerade ein Auto braucht. Nach der Nutzung soll man das Auto einfach wieder am Straßenrand abstellen – für den nächsten Bürger, der ein Auto benötigt. Wie geht dieses Experiment wohl aus? Und warum?
Ökonomische Freiheit ist im deutschen Grundgesetz an verschiedenen Stellen geregelt.
In der Praxis: Ökonomie im Grundgesetz Kernideen der Ökonomen finden sich auch im deutschen Grundgesetz. Hier finden sich mehrere Bestimmungen zum Thema Freiheit: So bestimmt Artikel 2 GG, dass jeder das Recht hat auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt. Art. 9.3 GG enthält das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, dieses Recht ist für jedermann und alle Berufe gewährleistet. Zudem haben alle Deutschen das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen (Art. 12 GG). Ganz wichtig ist auch die Vertragsfreiheit, gewährleistet als Ausfluss der allgemeinen Handlungsfreiheit durch Art. 2 Abs. 1 GG – jeder Deutsche hat das Recht, Verträge jeden Inhalts abzuschließen, mit jedem Partner, in jeder gewünschten Form. Artikel 14 wiederum gewährleistet das Eigentum und das Erbrecht.
Arbeitsauftrag 2 Artikel 14 Grundgesetz enthält eine Klausel, die besagt, dass Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen. Artikel 14.3 und 15 GG gehen sogar noch weiter
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und sehen eine Enteignung zum Wohle der Allgemeinheit vor. Diskutieren Sie, unter welchen Umständen eine solche Enteignung trotz möglicher negativer Folgen angemessen sein kann.
Knappheit. Eine weitere wichtige Vokabel, mit der sich Ökonomen beschäftigen, ist Knappheit. Knappheit ist eigentlich der Grund dafür, dass es Ökonomen gibt, denn ohne Knappheit müsste man sich nicht bemühen, aus den knappen Mitteln das Beste zu machen. Genau das ist ja der Job von Ökonomen: Sparsam mit knappen Mitteln so umzugehen, dass man das Beste aus ihnen herausholt.
Denksportaufgabe 3 Wie würde eine Welt ohne Knappheit aussehen? Gibt es einen Begriff dafür? Und was wäre dann immer noch knapp?
Vermutlich ist dem Menschen ein Gefühl für Knappheit angeboren, wie einfache Experimente zeigen1: Man lässt ein paar Kinder in ein Zimmer voller Spielzeug und stellt fest, dass diese keines der dort liegenden Spielzeuge bevorzugen. Nun variiert man den Versuchsaufbau ein wenig: Ein Spielzeug kommt hinter eine Plastiktrennwand – das Kind kann das Spielzeug noch sehen, aber nicht mehr erreichen. Es kommt, was alle Eltern kennen: Das Kind ist auf einmal fixiert auf das Spielzeug, das es nicht erreichen kann, das knappe Spielzeug. Experimente mit Erwachsenen zeigen ähnliche Ergebnisse: Man lässt Probanden den Geschmack von Keksen beurteilen. Reicht man ihnen eine fast leere Keksdose zum probieren, dann bewerten sie die Kekse positiver als wenn man ihnen die gleichen Kekse in einer vollen Dose reicht. Die optische Wahrnehmung, dass es nur noch wenige Kekse gibt (die Dose fast leer ist), führt dazu, dass man die Kekse als wertvoller, schmackhafter ansieht. Menschen reagieren auf Knappheit – vermutlich ein Überbleibsel aus der Evolution, aus Zeiten, in denen Knappheit lebensbedrohlich sein konnte. Wichtiger sind allerdings die ökonomischen Folgen von Knappheit, die sogenannte Knappheitsrente. Hierzu ein historisches Beispiel: Nach dem Wüten der Pest im Europa des 15. Jahrhunderts stiegen die Löhne und das Prinzip der Grundherrschaft, in dem die Bauern Leibeigene der Fürsten sind, löste sich auf. Und ein wichtiger Grund dafür war Knappheit: Mit der Pest war nicht mehr der Boden, das Land, der knappe Produktionsfaktor, sondern die Arbeit. Das führte dazu, dass die Fürsten, deren Macht auf dem Besitz von Land basierte, ihre Macht nun teilen mussten, um Arbeiter zu
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Cialdini, Robert B.: Influence. The power of persuasion, Quill, William Morrow, New York, 1993.
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Teil 1: Mikroökonomie
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bekommen. Als Arbeit knapp wurde (durch die Pest), verbesserten sich die Machtverhältnisse zugunsten der Arbeiter, die nun im Besitz des knappen Gutes (nämlich der Arbeitskraft) waren (knapp relativ betrachtet zum vorhandenen Boden).
Die Ratte ist an allem schuld.
Das ist die Idee der Knappheitsrente: Bei jedem Tauschgeschäft fällt stets ein Vorteil für alle daran Beteiligten an, eine sogenannte Rente (es muss ein Vorteil für alle am Tausch beteiligten vorhanden sein, sonst würden sie ja nicht tauschen). Bei jedem Tausch ist nur die Frage, wie die Summe aller dieser Vorteile unter den Tauschpartnern verteilt wird. Dabei geht dieser Vorteil, die Rente, zu einem größeren Teil an denjenigen, der im Besitz des knappen Gutes ist, er eignet sich diese Rente an. Warum ist klar: Wer das knappe Gut besitzt, das Gut, das alle wollen, hat Macht und kann Geschäfte (einen Tausch) zu seinem Vorteil gestalten. Als mit der Pest die Bauern in den Besitz des knappen Produktionsfaktors kamen, konnten sie einen größeren Ertrag des Tausches Arbeit gegen Lohn für sich beanspruchen, das führte zur Auflösung der Leibeigenschaft. Das soll aber nicht heißen, dass die Gegenseite keinen Vorteil aus diesem Tausch ziehen würde – wäre dies der Fall, dann würde sie auf das Geschäft nicht eingehen. Sobald jemand freiwillig tauscht, zeigt er damit, dass er aus diesem Tausch einen Vorteil erzielt, sonst würde er das nicht machen. Ein weiteres Beispiel illustriert die Idee der Knappheitsrente: Warum ist Kaffee am Frankfurter Hauptbahnhof so teuer? Die häufigste Antwort auf diese Frage ist, dass dies daran liegt, dass dort so viele Menschen sind, die einen Kaffee wollen – aber leider ist diese Antwort nicht ganz richtig. Denn wenn der Kaffee dort so dringend gebraucht wird und sich so gute Preise für ihn am Bahnhof erzielen lassen, warum gibt es nicht sofort mehr Anbieter, die den Preis nach unten drücken? Ganz einfach deswegen, weil nicht der Kaffee, sondern der Platz am Bahnhof das knappe Gut ist – es gibt nur wenige Standorte, die so ergiebig sind. Damit ist auch klar, wer sich beim Verkauf des Kaffees die Knappheitsrente aneignet: Nicht der Verkäufer im Kaffeeladen, sondern der Besitzer des Bahnhofsgeländes, der den Platz für teure Miete an den Kaffeeshop vermietet. Also auch hier gilt: Wer im Besitz des knappen Gutes ist, eignet sich die Knappheitsrente an.
Diamanten – ein knappes Gut!
Damit ist auch die Antwort auf Arbeitsauftrag 2 klar: Der Besitz eines knappen Gutes bedeutet ökonomische Macht, und damit möglicherweise auch politische Macht, und wenn diese Macht zu groß wird, ist es denkbar, dass der Staat einschreitet. Wenn der Besitzer der einzigen Wasserquelle weit und breit diese unglaubliche Macht, die ihm der Besitz dieser Quelle verleiht, missbraucht, ruft das den Staat auf den Plan.
Denksportaufgabe 4 Warum sind Diamanten wertvoller als Wasser – obwohl man sie nicht trinken kann? Und wann wird ein Glas Wasser teurer sein als ein Diamant?
1 Ökonomisches Denken: Erste Ideen
Opportunitätskosten. Kommen wir zur nächsten ökonomischen Grundidee, den Opportunitätskosten: Nehmen wir einmal an, Sie können sich mit einem Job 20 Euro die Stunde dazuverdienen. Zugleich aber müssten Sie zu Hause ihre Wohnung aufräumen. Sollten Sie das machen, wenn Sie eine Haushaltshilfe finden, die Sie 10 Euro die Stunde kostet? Sicherlich nein: Gehen Sie eine Stunde arbeiten statt eine Stunde Wohnung putzen, und bezahlen Sie stattdessen die Haushaltshilfe, so stellen Sie sich unter dem Strich 10 Euro besser. Wenn Sie die Wohnung eine Stunde lang selbst putzen, so verzichten Sie darauf, in dieser Stunde arbeiten zu gehen und 20 Euro zu verdienen. Diese 20 Euro nennt man in der Sprache der Ökonomen Opportunitätskosten (in diesem Fall Opportunitätskosten der Hausarbeit): Wenn Sie eine Handlung A unternehmen, so verzichten Sie zugleich darauf, B zu tun – und der Ertrag von B, der entgangene Nutzen aus B, das sind Ihre Opportunitätskosten. Aber Vorsicht: Das Argument, beides zu machen, gilt hier nicht, denn jede Stunde, die Sie den Haushalt machen, könnten Sie theoretisch auch arbeiten gehen. Opportunitätskosten sind also die Kosten der nächstbesten Alternative, auf die Sie verzichten, wenn Sie sich für etwas entscheiden. Opportunitätskosten fallen also immer an, egal, was Sie machen. In unserem Beispiel haben wir hier mit Geld und Lohn argumentiert, aber das gilt grundsätzlich für jeden Nutzen, den Sie aus einer Tätigkeit ziehen: Wenn Sie ins Kino gehen, verzichten Sie darauf, an diesem Abend Sport zu machen; die Opportunitätskosten des Kinobesuchs sind also der Nutzen aus dem Sport, den Sie an diesem Abend hätten machen können. Damit wird klar, warum es immer Opportunitätskosten gibt: Weil es immer Knappheit gibt. Wenn man unbegrenzt Zeit hätte, dann könnte man den Sport ja nachholen. Aber da unser Zeitbudget endlich ist, bedeutet der Gang ins Kino immer den Verzicht auf alles andere, was man zu dieser Zeit hätte machen können. Ein Tag Kino mehr bedeutet auf das gesamte Leben gerechnet ein Tag weniger Sport.
In der Praxis: Tokio Hotel und die Wehrpflicht Ein Schock für alle Fans: Wie eine deutsche Boulevard-Zeitung meldet, sollen Bill und Tom Kaulitz von der Pop-Gruppe Tokio Hotel zur Bundeswehr. Das könnte teuer werden für die Jungs: Statt mit ihrer Musik Millionen zu verdienen, sollen sie für einen bescheidenen Sold durch den Schlamm robben – ein klarer Fall von extrem hohen Opportunitätskosten. Die allgemeine Wehrpflicht ist ein Lieblingskind konservativer Politiker, und ein Argument für sie lautet stets, dass sie billiger sei als eine Berufsarmee. Volkswirtschaftlich gesehen ist diese Aussage falsch – das wird sofort klar, wenn man an die Opportunitätskosten eines Wehrpflichtigen denkt: Wer seinen Wehrdienst leistet, verzichtet darauf, ein Jahr lang mit einer anderen Tätigkeit Geld zu verdienen – damit entpuppt sich die Wehr-
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pflicht für ihn als teurer Spaß. Die Wehrpflichtigen bezahlen Ihren Wehrdienst mit einem Jahreseinkommen, das sie ansonsten in ihrem angestammten Beruf erwirtschaftet hätten. Auch für die Volkswirtschaft als Ganzes wird das teuer: sie verzichtet auf die Leistungen, welche die Wehrpflichtigen erbracht hätten, wenn sie nicht der Fahne gedient hätten. Wir können auch sagen, wie teuer das für die Volkswirtschaft als Ganzes ist: In Geld gemessen verzichtet sie auf Leistungen mit dem Wert dessen, was man den Wehrpflichtigen gezahlt hätte, wenn sie statt ein Gewehr zu tragen gearbeitet hätten. Die deutschen Bürger sind bereit, Tokio Hotel sagen wir eine Million pro Jahr für Ihre Leistungen zu zahlen? Dann verzichten wir auf Leistungen im Wert von einer Million, wenn Bill und Tom dienen müssen statt zu musizieren. Billig ist die Wehrpflicht allerdings für den Finanzminister, weil er den Soldaten kaum etwas zahlen muss: Die volkswirtschaftlichen Kosten, nämlich die Opportunitätskosten, bleiben bei den Wehrpflichtigen hängen. Bill und Tom verzichten auf viel Geld, das ihre Musik bringt, und ihre Fans verzichten auf diese Musik, nur damit der Finanzminister ein wenig Geld spart. Was eine Berufsarmee volkswirtschaftlich gesehen so billig macht ist die Freiwilligkeit: Wer sich freiwillig für den Beruf des Soldaten entscheidet, bekundet damit, dass er für sich, seine Arbeitskraft und seine Zeit keine bessere Option hat – und somit der richtige Mann für diesen Job ist. Allerdings hat in der Bundesrepublik das Modell Wehrpflicht bis auf weiteres nun ausgedient – zur Freude aller Tokio-Hotel-Fans.
Arbeitsauftrag 3 Politiker schlagen immer wieder vor, eine allgemeine Dienstpflicht einzuführen, bei der alle Jugendlichen – also auch die Frauen – einen einjährigen Zwangsdienst ableisten sollen. Was halten Sie aus ökonomischer Sicht von diesem Vorschlag?
Arbeitsteilung. Die nächste Idee ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit: Niemand backt heutzutage seine Brötchen noch selbst, und niemand denkt im Ernst daran, sein Auto selbst zu bauen. Arbeitsteilung ist die Grundlage jeder halbwegs modernen Gesellschaft und der größte Wohlstandsmotor, den man sich vorstellen kann (jedenfalls, wenn wir annehmen, dass eine Steigerung der Produktion die Wohlfahrt eines Landes erhöht – darüber sprechen wir im zweiten Teil noch einmal). Das Prinzip ist einfach: Jeder konzentriert sich auf das, was er am besten kann, und tauscht die Ergebnisse seiner spezialisierten Arbeit gegen andere Produkte. Warum Arbeitsteilung wohlfahrtsfördernd ist, liegt auf der Hand: Zum einen gibt es Arbeiten, die eine starke Spezialisierung erfordern, Übung und Erfahrung – das geht
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nicht ohne Spezialisierung. Zum anderen entstehen bei Arbeitsteilung oft sogenannte Größenvorteile: Wer sich auf eine Aufgabe konzentriert, ist produktiver als jemand, der viele verschiedene Aufgaben zugleich machen muss. Nehmen Sie ein einfaches Beispiel im Haushalt: Um ein Hemd zu bügeln, holt man nicht das Bügeleisen und das Bügelbrett aus dem Keller – das lohnt sich erst, wenn es viele Hemden zu bügeln gilt, und je mehr Hemden man bügelt, um so mehr lohnt sich dieser anfängliche Aufwand. Wer Autos bauen will, benötigt eine Riesenfabrik – das würde sich für ein paar hundert Wagen (oder gar nur einen) nicht lohnen. Noch wichtiger ist in diesem Zusammenhang die Idee der komparativen Vorteile: Indem sich jeder auf das konzentriert, was er am besten kann, maximiert man den Güterberg, den man herstellen kann. Auch hier ist ein einfaches Beispiel hilfreich: Ein Professor ist der bessere Forscher als sein Assistent, und er wird auch – aufgrund der Erfahrung und Übung – schneller kopieren können als der Assistent. Dennoch ist es sinnvoll, dass der Professor sich ganz auf die Forschung konzentriert und den Assistenten kopieren schickt, weil der Professor beim Forschen einen größeren Vorsprung hat als beim Kopieren. Obwohl der Assistent also nicht so gut kopieren kann wie sein Chef, ist es sinnvoll, dass er sich auf das Kopieren konzentriert – er hat beim Kopieren das, was man einen komparativen Vorteil nennt. Warum auch sollte man den Professor kopieren schicken, wenn er in derselben Zeit forschen könnte, wo er viel produktiver ist als der Assistent – noch produktiver als beim Kopieren? Sie sehen, hier lauert die Idee der Opportunitätskosten. Die Idee des komparativen Vorteils stammt von dem englischen Ökonom David Ricardo – und gilt für die Arbeitsteilung zwischen allen Menschen, auch zwischen Nationen. Hierzu ein einfaches, klassisches Beispiel. Benötigte Zeit zur Herstellung von 1 KG Brot
Käse
Ausland
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Deutschland
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2
Tabelle 1 zeigt die Idee der komparativen Vorteile. Zwei Länder, Deutschland und das Ausland, stellen zwei Produkte her – Brot und Käse. Deutschland benötigt zur Herstellung von einem Kilo Brot eine Stunde, zur Herstellung von einem Kilo Käse zwei Stunden. Das Ausland benötigt zur Herstellung von einem Kilo Brot drei Stunden, zur Herstellung von einem Kilo Käse vier Stunden. Das Ausland hat also bei beiden Produkten einen absoluten Nachteil, es benötigt sowohl mehr Zeit für die Käseherstellung als auch für die Herstellung von Brot. Auffällig ist allerdings, dass dieser Nachteil bei Brot größer ist als bei Käse: Die Herstellung von Käse dauert im Ausland doppelt so lange wie in Deutschland, die Herstellung von Brot dreimal
Tabelle 1: Die Idee der komparativen Vorteile
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so lange. Deutschland hat also bei der Herstellung von Brot einen komparativen Vorteil (das Ausland einen komparativen Nachteil). Nehmen wir nun einmal an, dass jedes Land 12 Stunden Arbeitszeit zur Verfügung hat. Wenn Deutschland sich auf seinen komparativen Vorteil konzentriert, kann es zwölf Kilo Brot herstellen; das Ausland kann, wenn es sich auf seinen komparativen Vorteil konzentriert, drei Kilo Käse herstellen. In insgesamt 24 Stunden Arbeit können beide Länder also zwölf Kilo Brot und drei Kilo Käse herstellen. Versuchen Sie nun Ihr Glück: Sie werden keine andere Kombination finden, bei der beide Länder zusammen in 24 Stunden mehr Güter herstellen können als die, dass Deutschland sich auf Brot und das Ausland sich auf Käse spezialisiert. Indem sich jedes Land auf seinen komparativen Vorteil konzentriert, haben wir die Produktion beider Länder maximiert. Wenn Deutschland sich beispielsweise auf Käse konzentriert, kann es sechs Kilo Käse herstellen; wenn das Ausland sich zugleich auf Brot spezialisiert, kann es vier Kilo Brot herstellen – das ist wenig vorteilhaft. Eigentlich trivial: Jeder konzentriert sich auf das, was er relativ gesehen am besten kann. Doch was, wenn die Deutschen auch Käse essen wollen? Sollten Sie dann auch Käse produzieren? Müssen sie nicht. Denn nun passiert folgendes: Die Deutschen erkennen, dass sie auf zwei Kilo Brot verzichten müssten, wenn sie einen Käse produzieren – das sind die Opportunitätskosten der Käseherstellung, gemessen in Broteinheiten (die Deutschen benötigen zwei Stunden, um einen Käse herzustellen, in der selben Zeit hätten sie zwei Kilo Brot hergestellt). Im Ausland sind diese Opportunitätskosten niedriger: Wollen die Ausländer einen Käse herstellen, so benötigen sie dazu vier Stunden, sie verzichten also darauf, eineindrittel (1,33) Kilo Brot herzustellen (in drei Stunden stellen sie ein Brot her, bleibt noch eine Stunde übrig, in der sie dann ein drittel Brot herstellen können). In Opportunitätskosten gerechnet ist Käse also im Ausland billiger als im Inland. Das bringt die Deutschen auf
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eine Idee: Sie stellen in zwei Stunden zwei Brote her und tauschen sagen wir anderthalb Brote gegen einen Käse – und sparen damit ein halbes Brot. Warum sollten die Ausländer diesen Tausch machen? Ganz einfach: Wenn die Ausländer ihr Brot selbst herstellen wollten, dann müssten sie auf dreiviertel Käse verzichten (die Herstellung des Brotes dauert drei Stunden, in den drei Stunden kann man drei viertel Käse herstellen; für den ganzen Käse braucht man vier Stunden). Statt ihr Brot selbst herzustellen, produzieren Sie einen Käse und tauschen diesen gegen die anderthalb Brote von den Deutschen – ein eindeutiger Gewinn, denn in vier Stunden können sie nur eineindrittel Brote herstellen.
Köpfe: David Ricardo Mit nur 21 Jahren und 800 Pfund in der Tasche versucht der junge David Ricardo (1772–1823) sein Glück an der Börse – 20 Jahre später gehört er zu den reichsten Männern Englands. Einen seiner größten Gewinne macht er mit der Spekulation auf britische Kriegsanleihen, die er kurz vor der Schlacht von Waterloo erwirbt: Die Engländer gewannen die Schlacht, die britischen Staatsanleihen steigen rasant im Kurs und machten Ricardo reich. Sein Berufskollege und Freund Thomas Malthus, ebenfalls ein berühmter Ökonom, hatte auf Ricardos Rat ebenfalls Anleihen gekauft, verlor aber am Vorabend der Schlacht die Nerven und verkaufte. David Ricardo ist vor allem wegen seiner Idee des komparativen Vorteils bekannt, eine auch heute noch wichtige Theorie zur Erklärung von Außenhandel. Weniger bekannt, aber ebenso wichtig ist seine Idee der so genannten Ricardo-Äquivalenz, die besagt, dass die Schulden von heute die Steuern von morgen sind, ein Motto, das sich beispielsweise auf der Homepage des Steuerzahlerbundes findet – und dem wir im zweiten Teil des Buches wieder begegnen werden.
Das Ergebnis dieser Arbeitsteilung ist Außenhandel. Damit ist klar: Außenhandel – heutzutage spricht man auch von Globalisierung – ist nichts anderes als Arbeitsteilung auf internationaler Ebene. Im Inland verstehen wir sofort, dass es wohlfahrtsfördernd ist, wenn sich jeder auf seine Stärken konzentriert und man anschließend die Ergebnisse dieser Spezialisierung untereinander tauscht – doch sobald eine Grenze zwischen dem Tausch steht, haben Menschen oft Schwierigkeiten, diese Idee zu akzeptieren. Wir wollen den Außenhandel hier aber zunächst außen vor lassen, wichtig ist, dass die Idee des komparativen Vorteils stets gilt, sie ist unabhängig davon, welche Nationalität die Menschen haben, die sich spezialisieren und untereinander tauschen. Und wichtig ist, dass Arbeitsteilung das mächtigste Prinzip ist, das Ökonomen kennen – ohne Arbeitsteilung würden wir heute noch in Höhlen leben. Aber wie wir gesehen haben, macht Arbeitsteilung nur Sinn, wenn man anschließend die Früchte seiner Arbeit auch tauschen kann. Damit kommen wir zu der Idee von Märkten.
David Ricardo
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Die Fabel von der Iowa-Autofabrik Der Ökonom David Friedman erzählt gerne die Geschichte von der Iowa-Autofabrik: In Iowa, wo viel Getreide angebaut wird, hatten die Farmer Mühe, sich mit ihrem Getreideanbau am Leben zu halten. Da kam eines Tages ein Geschäftsmann und unterbreitete ihnen ein Angebot: Er werde ihre gesamte Ernte aufkaufen und in seiner Fabrik aus dem Getreide Autos herstellen. Natürlich schaute jedermann ungläubig, doch egal – die Farmer lieferten ihr Getreide an den Fabriktoren ab und wurden bezahlt. Und ein paar Wochen später rollten fabrikneue Autos aus den Werkhallen – ein echtes Wunder. Die örtlichen Politiker und die örtliche Presse waren voll des Lobes für den findigen Unternehmer, hatte er doch die Farmer in Lohn und Arbeit gebracht und zudem das ländliche Iowa mit neuen Wagen versorgt. Doch ein findiger Journalist wollte wissen, wie man aus Getreide Autos herstellt, schlich sich bei Nacht in die Fabrik und fand – nichts. Der clevere Unternehmer stellte die Autos gar nicht selbst her, sondern verfrachtete den Weizen nach Asien, tauschte ihn dort gegen Autos und importierte diese zurück nach Iowa. Im Grunde genommen hatte er schon aus Weizen Autos gemacht, aber nicht mittels Maschinen, sondern mittels eines einfachen Gütertausches. Diese Fabel legt den Kern von Außenhandel offen: Außenhandel ist nichts anderes als der Austausch von Gütern im beiderseitigen Einvernehmen und Interesse – und insofern grundsätzlich wohlstandsfördernd. Man kann sich Außenhandel in der Tat vorstellen wie eine riesige Maschine: Vorne stecken wir inländische Güter hinein, und hinten kommen andere Güter heraus – ausländische Güter eben. Damit ist auch klar, warum wir exportieren: Wir exportieren nicht, um Arbeitsplätze zu schaffen, sondern um andere Güter zu importieren. Exporte – also die Hingabe von Waren an das Ausland – sind nur dann sinnvoll, wenn diese auch wieder mit Importen – also mit anderen Waren bezahlt werden.
Zoll ist manchmal nicht so toll.
Eine erste Idee von Märkten. Märkte sind also der (oft nur gedachte) Ort, an dem Menschen die Ergebnisse ihrer Arbeit untereinander tauschen. Sie entstehen durch die Spezialisierung – erst wenn man die Ergebnisse seiner Arbeit gegen andere Güter tauschen kann, macht Arbeitsteilung Sinn, und nur dann kann sie ihre wohlfahrtsfördernden Wirkungen entfalten. Märkte sind also Spezialisierung, Ausnutzung von komparativen Vorteilen und Tausch, mit dem Ziel, Knappheit zu überwinden. Doch Märkte sind kein Selbstläufer, sie benötigen einige Voraussetzungen, die Sie jetzt bereits (und teilweise aus dem deutschen Grundgesetz) kennen:
Freiheit. Märkte benötigen Freiheit bei der Berufswahl – nur dann kann jeder selbst entscheiden, worauf er sich spezialisieren will. Doch nicht nur das: Märkte funktionieren nur, wenn die Menschen, die auf ihnen tauschen, die Freiheit haben, selbst darüber zu entscheiden, mit wem sie was zu welchem Preis tauschen. Warum ist klar: Wenn ich nicht
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selbst darüber entscheiden kann, was ich mit den Ergebnissen meiner Arbeit mache, werde ich erst gar nicht arbeiten. Das ist die oben bereits erwähnte Vertragsfreiheit.
Anreize. Der letzte Satz zeigt, wie wichtig Anreize auf Märkten sind: Man arbeitet nur, wenn man die Früchte seiner Arbeit auch selbst genießen kann, man tauscht nur, wenn man auch die Vorteile aus diesem Tausch selbst genießen kann und die Vorteile aus dem Tausch die Mühen der Produktion überwiegen. Ein Markt, auf dem den Menschen die Ergebnisse Ihrer Arbeit weggenommen werden, existiert nicht.
Eigentum. Diesen Anreiz garantiert natürlich Eigentum. Solange ich selbst darüber entscheiden kann, was ich mit den Ergebnissen meiner Arbeit machen kann und die Gewinne aus dem Tausch behalten darf, werde ich mich spezialisieren und Handel betreiben. Sobald der Staat – oder wer auch immer – den Menschen die Verfügungsgewalt über die Ergebnisse ihrer Arbeit oder ihres Tausches entzieht, brechen Märkte zusammen.
Knappheit. Eine Frage haben wir beim obigen Beispiel zu den komparativen Vorteilen ausgeklammert, nämlich die Frage, zu welchem Preis etwas getauscht wird. Die Verteilung der Spezialisierungsgewinne richtet sich – wie wir bereits gesehen haben – nach den Knappheitsverhältnissen und den daraus resultierenden Machtverhältnissen: Wer im Besitz des knappen Gutes ist, eignet sich die Knappheitsrente an, er wird einen höheren Preis fordern und kann sich einen größeren Anteil an den Vorteilen der Spezialisierung sichern. Allerdings kann er – trotz aller Knappheit – nicht so viel fordern, dass sein Geschäftspartner sich durch den Tausch schlechter stellt. Warum ist klar: Solange Freiheit auf dem Markt herrscht, wird niemand einen Tausch zu seinen Ungunsten eingehen. Tauschen werden die Menschen nur, wenn dieser Tausch sie unter dem Strich besser stellt als vorher. Aber klar ist: Nur derjenige wird von Märkten belohnt, der etwas dazu beiträgt, Knappheit zu beseitigen.
Diskussion Ein Extrembeispiel: Ein Bürger besitzt die Rechte an der einzigen Wasserquelle weit und breit – wer trinken will, muss bei ihm kaufen. Wenn die Menschen jetzt hohe Preise zahlen, um zu trinken, haben sie dann ein Geschäft zu ihrem Nachteil abgeschlossen?
Damit haben wir eine erste Idee von Märkten: Märkte sind Orte, an denen Menschen knappe Güter, die Ergebnisse ihrer Arbeit tauschen, und damit Märkte funktionieren, benötigen sie Freiheit, Anreize und Privateigentum. Die Verteilung der Spezialisierungsgewinne richtet sich nach den Knappheitsverhältnissen – wer das knappe Gut besitzt, zieht den höheren Gewinn aus dem Handel. Wir werden in den kommenden Abschnitten sehen, warum das auch richtig so ist. Allerdings machen unsere Überlegungen zur
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Knappheit und zu der Gefahr der Macht durch Knappheit klar, dass Märkte auch Rahmenbedingungen benötigen:
Begrenzung von Macht. Es darf keine übermäßige Macht durch Knappheit entstehen (denken Sie an das Beispiel von dem Bürger, der die einzige Wasserquelle besitzt). In einem modernen Sozialstaat gilt es deswegen auch, Schwächere vor übermäßiger Macht zu schützen.
Rationales Verhalten. Märkte setzen voraus, dass Menschen sich rational und verantwortungsbewusst verhalten. Diese Annahme des homo oeconomicus wird von Psychologen oft angezweifelt; die bereits erwähnten Behavioral Economics beschäftigen sich mit dem Verhalten von Menschen und der Frage, ob dieses Verhalten immer rational ist. Wenn Menschen sich aber irrational verhalten, dann kann man die Ansicht vertreten, dass der Staat eingreifen muss und sie (möglicherweise auch vor sich selbst) schützen muss. Aus diesem Grund beispielsweise sind Kinder nicht geschäftsfähig: Wenn die sechsjährige Tochter im Internet einen Rolls Royce ordert, ist klar, dass dieses Geschäft keinen Bestand haben kann, weil man Kindern unterstellt, dass sie nicht wissen, was sie da tun. Was bei Kindern einfach klingt, wird bei Erwachsenen schwieriger: Wann soll der Staat Erwachsene vor sich selbst schützen, wann wissen Erwachsene nicht, was sie tun, und welche Folgen kann das haben, wenn der Staat manche Bürger aus diesem Grund in seinen Freiheiten beschneidet? Diese heikle Frage werden wir in Kapitel 9 untersuchen.
Geschäfte zu Lasten Dritter. Gehen Geschäfte zu Lasten Dritter, so muss der Staat eingreifen. Wenn A und B vereinbaren, dass sie sich das Auto von C unter den Nagel zu reißen und teilen, so ist das zwar ein Geschäft, aber natürlich justiziabel. Ein Geschäft, ein Tausch, ist nur wohlfahrtsfördernd, wenn die Konsequenzen aus diesem Geschäft auch von denjenigen getragen werden, die diesen Tausch beschlossen haben. Wer entscheidet, muss immer die Konsequenzen dieser Entscheidung tragen (dabei hilft das Privateigentum – warum?). Ein ganz wichtiger
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Punkt ist in diesem Zusammenhang der Umweltschutz: Eine Fabrik, die ein umweltbelastendes Produkt verkauft, ohne sich um die Kosten der Umweltverschmutzung zu kümmern, macht Geschäfte zu Lasten Dritter – hier muss der Staat eingreifen. Dieses Phänomen der externen Effekte untersuchen wir in Kapitel 8. Damit ist klar, dass der Staat in bestimmten Bereichen eingreifen muss, um die Funktionsfähigkeit von Märkten zu sichern:
Schutz vor übermäßigen Machtpositionen. Hier geht es – neben dem Fall des Besitzers der einzigen Wasserquelle in der Wüste – auch darum, für genügend Konkurrenz auf dem Markt zu sorgen. Gibt es nur einen Anbieter von Wasser, so hat dieser Macht; also muss der Staat dafür sorgen, dass solche Alleinanbieter nicht entstehen. Das wichtigste Instrument zur Vermeidung solcher Machtpositionen ist die Wettbewerbspolitik, die wir in Kapitel 7 kennen lernen werden.
Schutz Schwächerer. Der Schutz vor übermäßiger Marktmacht muss auch darauf abstellen, Schwächere zu schützen. Knappheit darf nicht zu Ausbeutung oder Missbrauch führen. Hier liegt auch eine Aufgabe der Sozialpolitik, auch darüber werden wir in Kapitel 9 und 10 sprechen.
Konsumentenschutz. Auch hier geht es darum, die schwächeren Teilnehmer am Markt zu schützen. Solche Schwächen können beispielsweise entstehen durch so genannte Informationsasymmetrien, wie wir sie beim Taxifahrerproblem kennen gelernt haben (der Taxifahrer weiß, wie weit das Ziel wirklich entfernt ist, im Gegensatz zum Passagier), oder durch unverantwortliches, irrationales Verhalten. Ein Beispiel für letzteres Problem sind Drogenabhängige, bei denen man vermuten muss, dass sie nicht mehr frei in ihren Entscheidungen sind. Inwieweit Rauchen oder Alkoholkonsum in diese Kategorie fallen, ist umstritten; das ist ein Thema für Kapitel 9 und die so genannten meritorischen Güter.
Schutz Dritter. Natürlich dürfen Geschäfte auf dem Markt nicht zu Lasten Dritter gehen – hier muss der Staat eingreifen. Das wichtigste Beispiel hierfür ist natürlich der Umweltschutz, den wir in Kapitel 8 behandeln.
In der Diskussion Muss der Staat Raucher und Menschen, die gerne Alkohol trinken, vor sich selbst schützen? Sind Raucher und Trinker irrational und wissen nicht, was sie sich antun?
Was kann der Markt nicht? Wie wir noch sehen werden, sind Märkte extrem leistungsfähige Veranstaltungen – aber sie sind keine Alleskönner. Eine große Achillesferse der Märkte ist ihre Leistungsorientierung: Auf Märkten wird jeder nur nach seiner Leistung bezahlt, wobei „Leistung“ sich darüber
Werden hier Gewinne zu Lasten Dritter erwirtschaftet?
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definiert, wer einen Beitrag zur Überwindung von Knappheit leistet. Wer viel zu bieten hat, wer in Besitz eines knappen Gutes ist, wird am Markt reich belohnt, wer nichts zu verkaufen hat, bekommt auch nichts. Das muss auch so sein, denn letztlich ist es der Anreiz, mit Tauschgeschäften seinen Wohlstand zu erhöhen, der Menschen dazu anspornt, zu arbeiten und zu tauschen. Wer Knappheit beseitigt, wird dafür reich belohnt – dieser Anreiz führt dazu, dass Knappheit verschwindet. Was aber ist mit den Menschen, die – aus welchen Gründen auch immer – nichts anzubieten haben, was sie auf dem Markt tauschen können? Die keinen Beitrag leisten können zur Überwindung von Knappheit? Manche Menschen haben einfach Pech im Leben, nichts gelernt, das Falsche gelernt, sind gesundheitlich beeinträchtigt oder können aus sonstigen Gründen nicht genug erwirtschaften, was sie am Markt tauschen können. Wenn wir unsere Gesellschaft nur nach reinen Marktprinzipien organisieren würden, dann hätten solche Menschen keine Chance, zu überleben. Was also die Idee angeht, dass jedem Bürger das Überleben (oder ein Mindesteinkommen) gesichert sein sollte, so versagt der Markt. Damit haben wir einen weiteren wichtigen Bereich identifiziert, in dem der Staat eingreifen muss, nämlich die Sozialpolitik: Er muss sich um die soziale Sicherheit seiner Bürger kümmern. Dieses Postulat findet sich ebenfalls im deutschen Grundgesetz – nämlich als Sozialstaatsprinzip in Artikel 20 GG. Mit all diesen Bereichen, in denen man aktiv etwas dafür tun muss, dass Märkte funktionieren oder ihre blinden Flecke bekämpft werden, müssen wir uns näher beschäftigen. Dazu muss man aber erst einmal verstehen, wie Märkte funktionieren und welche Möglichkeiten sie bieten. Im nächsten Schritt geht es deswegen darum, sich näher mit Märkten und ihrer Funktionsweise zu beschäftigen.
1 Ökonomisches Denken: Erste Ideen
Zusammenfassung 1. Ökonomen helfen Menschen, das Beste aus ihrem Leben zu machen, und sie gehen davon aus, dass Menschen auf Anreize reagieren. Wer das Verhalten der Menschen beeinflussen möchte, tut dies am besten, indem er die richtigen Anreize setzt. 2. Eine weitere wichtige Idee der Ökonomen ist Arbeitsteilung: Indem sich jeder auf das spezialisiert, was er am besten kann, steigert man die Wohlfahrt einer Gesellschaft. Spezialisierung bedeutet, dass man das tut, was die geringsten Opportunitätskosten mit sich bringt – deswegen sollte der Golf-Champion nicht seinen Rasen selbst mähen. 3. Arbeitsteilung allerdings ist nur sinnvoll, wenn man die Ergebnisse seiner spezialisierten Arbeit auf Märkten gegen andere Dinge tauschen kann. 4. Märkte funktionieren allerdings nur, wenn den Teilnehmern auf den Märkten garantiert ist, dass sie die Ergebnisse ihrer Arbeit und ihrer Tauschgeschäfte auch behalten dürfen (Privateigentum), und Märkte funktionieren nur, wenn jeder die Freiheit hat, zu tauschen was er will und mit wem er will (Freiheit). 5. Märkte sind keine Selbstläufer: So kann Knappheit zu übermäßiger Marktmacht führen, die politisch und gesellschaftlich nicht akzeptabel ist – dann muss der Staat eingreifen. Weiterhin muss der Staat eingreifen, um Schwächere zu schützen, um Konsumenten zu schützen und um Dritte davor zu bewahren, dass Geschäfte zu ihren Lasten abgeschlossen werden. Ebenfalls eingreifen muss der Staat bei der sozialen Absicherung seiner Bürger, diese kann der Markt nicht gewährleisten.
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So funktionieren Märkte
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Warum Märkte? Jedes Lehrbuch für Ökonomie beschäftigt sich mit Märkten und Marktwirtschaften – warum eigentlich? Eigentlich geht es Ökonomen auch nicht um Märkte, sondern darum, das Beste aus dem Leben zu machen. Und bezogen auf eine Volkswirtschaft bedeutet das, dass man die Wohlfahrt dieser Volkswirtschaft so gut als möglich steigern soll – „maximieren“ nennen Ökonomen das. Aber wie? Natürlich durch Arbeitsteilung und Tausch, wie wir gesehen haben. Aber diese Idee wirft ein Problem auf: Wie organisiert man einen Tausch zwischen 80 Millionen Menschen? Das sind 80 Millionen Menschen, die sich auf etwas spezialisieren, es herstellen, auf dem Markt anbieten und gegen andere Dinge tauschen, die andere Menschen herstellen – wie will man denn das organisieren? Wie organisiert man 80 Millionen Menschen? Auch wenn das für Sie nichts Ungewöhnliches ist – wie kann es eigentlich sein, dass man in den Geschäften (fast) immer (fast) alles bekommt, was man sucht? Woher weiß ein Unternehmen, was für Schuhe Sie kaufen wollen, welches Eis Sie bevorzugen und wann Ihnen nach einem Buch ist? So banal Ihnen diese Erfahrung vorkommen mag – eigentlich ist es ein Wunder, dass in einer entwickelten Volkswirtschaft mit vielen Millionen Menschen immer genau das angeboten wird, was die Menschen haben wollen. Also: Wie organisiert man eine Gesellschaft mit vielen Millionen Arbeitnehmern, Arbeitgebern und Konsumenten, eine Gesellschaft mit vielen Millionen Wünschen? Wie organisiert man den Tausch zwischen all diesen Menschen? Wie schwierig diese Aufgabe ist, kann man erahnen, wenn man einmal überlegt, wie man sich in einer Wohngemeinschaft oder einer Familie organisiert: Wer wäscht, wer putzt, wer geht einkaufen und wer kümmert sich um das Bad? Was brauchen wir zum Abendessen, was für das Wochenende? Was bei drei oder vier
Viele Menschen – viele Wünsche.
Teil 1: Mikroökonomie
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Personen noch überschaubar ist, wird schon bei 20, 30 Personen zu einer unlösbaren Aufgabe, erst recht bei 80 Millionen oder mehr. Die meisten von uns haben sich über diese Frage nie Gedanken gemacht, weil es für uns selbstverständlich ist, in den Geschäften immer das zu finden, was wir auch wünschen. Aber was muss man eigentlich dazu tun? Also, was müssen wir für Probleme lösen, wenn wir eine arbeitsteilige Wirtschaft organisieren wollen, wenn sich 80 Millionen Menschen Arbeit teilen und Güter tauschen?
Da wäre zunächst die Steuerung: wir müssen festlegen, welche Güter produziert werden sollen.
Wenn wir wissen, was wir produzieren wollen, müssen wir in einem nächsten Schritt festlegen, wie und mit welchen Mitteln wir diese Dinge herstellen wollen. Man kann beispielsweise ein paar Schuhe von Hand fertigen oder mit einer Maschine, und wir müssen entscheiden, was die bessere, günstigere Methode ist. Das ist die sogenannte Allokation.
In einem nächsten Schritt müssen wir festlegen, an wen das, was wir produziert haben, verteilt werden soll, und wie diejenigen, die das hergestellt haben, entlohnt werden sollen (Verteilung).
Weiterhin wollen wir sicherstellen, dass sich unsere Produktion, unsere Wirtschaft anpasst, wenn sich die Wünsche der Konsumenten oder die Produktionsbedingungen ändern (Anpassung); und wir wollen, dass die Menschen Anreize haben, neue Produkte oder Produktionstechniken zu erfinden (Innovationsfunktion).
Nicht zuletzt wollen wir auch verhindern, dass einzelne Menschen zu große Macht erlangen; aber wir wollen auch sicherstellen, dass der Staat nicht zu mächtig wird (Kontrolle). Kurz gefasst: wenn wir versuchen, eine Arbeitsteilung unter 80 Millionen Bürgern zu organisieren, müssen wir zunächst entscheiden, was wir produzieren, wie wir es produzieren und wie wir die Ergebnisse dieser Arbeit
2 So funktionieren Märkte
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unter uns aufteilen. Und dann wollen wir noch sicherstellen, dass wir nicht den technischen Fortschritt behindern und uns an eine sich ändernde Welt anpassen können, und wir wollen private und staatliche Macht kontrollieren. Das klingt nach einer fast unlösbaren Aufgabe. Grundsätzlich gibt es zwei Methoden, diese Probleme zu lösen – Märkte und Planwirtschaften, dezentral oder zentral. Schauen wir uns zunächst eine Methode an, von der man wohl zu Recht behaupten kann, dass sie nicht funktioniert hat; eine Methode, die fast 40 Jahre im Ostblock angewendet wurde – mit eher bescheidenen Ergebnissen, wie man heute sagen kann. Wie funktioniert eine Planwirtschaft? Planwirtschaft. Der real existierende Sozialismus hatte auf die Frage nach der Organisation einer Volkswirtschaft eine einfache, auf den ersten Blick einleuchtende Antwort: Der Staat war natürlich zuständig für die Versorgung mit Brot, Wasser, Schuhen, Kleidung und allen anderen Gütern unseres Bedarfs. Das klingt logisch: Wenn ich eine Reihe von Arbeiten zu erledigen habe – Brot backen, Schuhe herstellen oder Kleider nähen – dann organisiert man das einfach, indem man diese Aufgaben einzelnen Personen zuweist und die Ergebnisse dieser Arbeiten kontrolliert und verteilt. So macht man das beispielsweise in der Familie: Einer wäscht ab, einer kocht, einer bügelt, und das Familienoberhaupt bestimmt, kontrolliert und belohnt oder bestraft. Warum also nicht auch eine Volkswirtschaft so organisieren? Das wäre also die erste Antwort auf unsere Frage, die wir uns in diesem Abschnitt ansehen wollen: Der Staat organisiert die Wirtschaft von oben herab, zentral, weswegen man diese Wirtschaftsform auch Zentralverwaltungswirtschaft nennt.
Arbeitsauftrag 4 Wer in der ehemaligen DDR einen neuen Wagen (einen Trabant) wollte, musste Wartezeiten von teilweise mehr als zehn Jahren hinnehmen. Und obwohl der Trabant kein sonderlich gutes Auto war, nahmen viele Bürger diese Wartezeiten ohne Murren hin. Warum?
Mit Blick auf die Aufgaben, die wir bei der Organisation einer Volkswirtschaft zu erledigen haben, lässt sich der Ansatz der Planwirtschaft wie folgt zusammensetzen:
Steuerung: Der Staat bestimmt, was produziert werden soll. Die Wünsche der Bürger wird er dabei vermutlich nicht erfüllen; möglicherweise will er das auch gar nicht. Das ist ein politischer Vorteil der Planwirtschaft: Der Staat bestimmt, was die Bürger konsumieren sollen, und diesen Bedarf kann er in seinem Sinne und nach seinen Vorstellungen und Normen festlegen. Wer also als Staatenlenker nicht will, dass die Menschen Rauchen, stellt einfach die Tabakproduktion ein.
Heißbegehrte sozialistische Rennpappe mit langen Lieferzeiten: Der Trabant
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Teil 1: Mikroökonomie
Allokation: Der Staat legt auch fest, wie und womit produziert werden soll. Es ist fraglich, ob er damit immer die kostengünstigste, effizienteste Produktionsweise findet; zumal keine Anreize zu einer günstigen Produktion existieren. Das wiederum liegt am fehlenden Privateigentum: Wer produziert, aber die Erträge der Produktion nicht behalten darf, wird sich keine Mühe geben, Verschwendung zu vermeiden. Da sind sie wieder, unsere Anreize.
Verteilung: Das ist der Punkt an der Zentralverwaltungswirtschaft respektive dem Sozialismus, der vermutlich dafür verantwortlich ist, dass der Sozialismus auf viele Menschen eine so hohe Anziehungskraft ausübt. Der Staat legt nämlich fest, wie die produzierten Güter verteilt werden und wer welche Gehälter erhält. Das klingt für viele Menschen verführerisch: Der Staat kann Einkommen und Güter unter den Menschen verteilen, nicht Leistung, sondern Bedarf entscheidet darüber, wer was bekommt. Also kein Leistungsdruck, keine Ellenbogengesellschaft, jeder bekommt das, was er braucht, eine harmonische Gemeinschaft von Menschen arbeitet zusammen und teilt ohne Neid und Gier. So verführerisch sich das anhört – die Realität sah anders aus: Einmal abgesehen davon, dass durch die Planwirtschaft Not und Mängel entstanden sind, die dazu geführt haben, dass man weniger verteilen konnte, gab es auch in den sozialistischen Gesellschaften eine Schicht von Reichen, die sich das aneigneten, von dem sie vorgaben, dass es dem Volk und den Arbeitern gehöre. Und nicht nur das: wer entscheidet denn darüber, wer wie viel bekommt? Möchten Sie, dass jemand anderes darüber entscheidet, was Ihnen zusteht? Und wenn Sie alles bekommen, was Sie haben wollen: Denken Sie an die Anreize. Wenn jedem ein Einkommen nach seinen Bedürfnissen zugesprochen wird, warum soll man dann noch arbeiten gehen? Die Idee des Sozialismus baut letztlich auf einem sehr optimistischen Menschenbild auf: Er unterstellt, dass Menschen auch ohne Anreize arbeiten werden, weil sie sich mit ihrer Arbeit selbst verwirklichen. Will man auf dieser Annahme ein ganzes Wirtschaftssystem aufbauen, eine ganze Nation?
Was die Anpassung und die Innovation angeht, muss man davon ausgehen, dass – auch wegen der bedarfsgerechten Verteilung der Güter und Einkommen und der fehlenden Eigentumsrechte – es keine Anreize gibt, Innovationen zu finden oder sich einer ändernden Umwelt anzupassen. Im Gegenteil: Meldet ein Betrieb, dass er nun das Bier schneller und preisgünstiger herstellen kann, so muss er damit rechnen, dass er höhere Leistungsvorgaben von der Planungskommission bekommt – mehr Arbeit als Dank für Erfindungsreichtum, das klingt nicht nach einem guten Anreiz. Also meldet man lieber nicht, dass man einen Weg gefunden hat, etwas schneller herzustellen.
Was die Kontrolle angeht, so ist die Bilanz des Sozialismus eindeutig: Private Macht gibt es keine, da alle Macht beim Staat liegt. Will heißen: Machtkontrolle des Staates gibt es in diesem System nicht.
2 So funktionieren Märkte
Wie kann man sich einen solchen zentralen Planungsprozess vorstellen? In etwa so:
Zuerst liefern die Betriebe des Landes der zentralen Planungskommission Daten über ihre Produktionsfaktoren (Arbeiter, Maschinen, Vorräte usw.). Ohne das geht es nicht: wer planen will, was produziert werden soll, muss wissen, was er zur Verfügung hat, um damit zu produzieren.
Dann muss die Planungskommission wissen, was produziert werden soll. Zu diesem Zweck melden die Ministerien der zentralen Kommission die Bedarfe an bestimmten Gütern und Produktgruppen.
Die Planungskommission erstellt dann Planbilanzen, die festlegen, welche Güter hergestellt werden sollen und wie sie hergestellt werden sollen. In so genannten Bedarfsbilanzen werden die Einsatzmengen festgelegt, die nötig sind, um diese Produkte herzustellen. Wer beispielsweise 10 000 Kästen Bier herstellen will, muss diese Zahl aufschlüsseln: Er braucht bei 24 Flaschen je Kasten 240 000 Flaschen und bei ein-LiterFlaschen 240 000 Liter Bier. Dann muss man aufschlüsseln, wie viel Hopfen, Malz und Gerste man für diese 240 000 Liter benötigt, wie viel Glas er für die Flaschen, wie viel Papier für die Etiketten und so weiter. Anschließend werden diese Pläne auf ihre Realisierbarkeit hin überprüft.
Fachabteilungen überarbeiten die Pläne mehrfach und erstellen einen endgültigen Plan für alle Betriebe der Volkswirtschaft. Die Betriebe bekommen Produktionsvorgaben in Form zahlreicher Kennziffern und Normen, die sie erfüllen müssen. Also: die Glasbläser des Landes werden angewiesen, 240 000 Flaschen herzustellen, die Bauern werden angewiesen, genügend Hopfen und Gerste anzubauen, damit das für 240 000 Liter Bier reicht.
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Teil 1: Mikroökonomie
Man muss kein sonderlicher Skeptiker sein, um die Probleme dieses Verfahrens zu erahnen:
Planungsschleifen. Wer ebenjene 10 000 Kästen Bier herstellen will, muss auch die Produktionspläne für alle Fabriken erstellen, die an der Produktion der Bierkästen beteiligt sind. Die Glasbläser müssen ausrechnen, wie viel Quarzsand sie brauchen, wie viel Heizöl, um die Öfen zu befeuern, wie viel Personal, um die Flaschen herzustellen. Die Bierhersteller müssen ausrechnen, wie viel Hopfen, Gerste und Malz sie benötigen. Sind wir dann fertig? Leider nein: Jetzt müssen die Bauern ausrechnen, wie viel Saatgut und wie viel Land sie brauchen, um die benötigten Mengen an Hopfen und Gerste herzustellen. Und: Sie brauchen auch Personal und Maschinen. Also müssen die Maschinenhersteller ausrechnen, wie viele Maschinen sie herstellen müssen, um den Bedürfnissen der Bauern nachzukommen – und zu diesem Zweck berechnen, wie viel Personal und Öl sie benötigen, und wie viel Bier die Arbeiter trinken wollen, die diese Maschinen herstellen. Sie sehen, wo das endet: der Planungsprozess ist in seiner Komplexität schlichtweg nicht beherrschbar – das zeigte sich auch in der Realität.
Wünscheraten. Man muss diesen Planungsprozess so bezeichnen: Eine zentrale Planungskommission bestimmt, was produziert werden soll – aber woher weiß sie das? Natürlich kann man die Bürger befragen, aber woher wollen die Bürger im Winter, wenn sie nach ihren Wünschen befragt werden, wissen, wie viel Eis sie im Sommer essen wollen? Die Hoffnung, die Bedarfe und Wünsche der Bürger zentral zu erahnen und zu planen, ist illusorisch und diktatorisch.
Verzerrte Informationen. Was machen Sie als Arbeiter, wenn Ihr Chef Sie fragt, wie viele Bierkästen Sie in einem Jahr herstellen können? Klarer Fall: Sie werden lügen – je mehr Sie Ihre Leistungsfähigkeit herunter reden, umso weniger wird Ihr Chef von Ihnen verlangen, was Ihren Arbeitsaufwand reduziert. Man muss also davon ausgehen, dass die Daten, welche die Planungskommission von den Betrieben erhält, strategisch gefälscht sind. In der Realität passierte das auch: Die Betriebe spielten ihre Leistungsfähigkeit herunter, um laxere Planvorgaben zu bekommen; bekamen sie diese, konnten sie später mit einer Übererfüllung ihrer Pläne glänzen. Zugleich aber meldeten die Betriebe übertriebene Bedarfe an Produktionsmitteln an, die man ihnen zuteilte, und die sie dann unter der Hand schwarz gegen andere Dinge tauschten – auch das zerstörte die Planbilanzen.
Tonnenideologie. Wie genau kann man den Betrieben vorschreiben, was sie zu produzieren haben? Verfügt die Planungsbehörde, dass 1000 Kilo Schrauben produziert werden sollen, so wird die Fabrik wenige große, schwere Schrauben liefern. Werden hingegen 10 000 Schrauben bestellt, so liefert die Fabrik ganz kleine Schrauben, die wenig Material verbrauchen. Wer solche Pannen verhindern muss, muss ganz genau
2 So funktionieren Märkte
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vorschreiben, wie die Produkte aussehen sollen – wie viel Alkohol soll das Bier enthalten? Wie viel Gerste soll verwendet werden? Das ist unmöglich. Unter dem Strich ist der Versuch, eine ganze Volkswirtschaft von oben herab zu lenken, zum Scheitern verurteilt – das zeigt auch die Geschichte.
In der Praxis: Der Goliath des Sozialismus Goliath war laut Bibel ein Riese, der von seinem körperlich unterlegenen Gegner David mit einer Steinschleuder getötet wurde. Neuere Forschungen wollen wissen, dass es ihn wirklich gegeben hat; eine Störung der Hirnanhangsdrüse, so die Theorie, hätte einen Menschen auf Riesengröße wachsen lassen können. Es gibt tatsächlich einen Goliath, und zwar in der Moskauer „Ausstellung der volkswirtschaftlichen Errungenschaften“, gefertigt aus Kugellagern – aber warum? In der damaligen Sowjetunion wurden zwar massenhaft Kugellager hergestellt, aber nur 14 verschiedene Sorten – das hatte die zentrale Planungsbehörde so veranlasst. In westlichen Industriestaaten wurden zur selben Zeit Tausende verschiedener Arten von Kugellagern hergestellt. Es gab also in der Sowjetunion zwar viele Kugellager, aber nur wenige Sorten, die in dieser Menge nicht gebraucht wurden. Und was macht man mit den vielen überflüssigen Kugellagern? Klar, einen Goliath bauen. (Quelle: o.V.: Auf Kugeln gebaut, Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 269 vom 19. November 2009) © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.
Diese Überlegungen zeigen, dass der Sozialismus und sein Wirtschaftssystem nicht sehr leistungsfähig sein können – Zeit, eine Alternative zu untersuchen. Was, wenn man gar nichts plant? Dann handelt es sich um eine Marktwirtschaft. Marktwirtschaft. Also, was ist die Alternative zu einer zentralisierten Planung? Natürlich das Gegenteil, eine dezentrale Planung von unten. Am besten wäre es doch, wenn in einem ersten Schritt die Bürger selbst ihren Bedarf an Gütern anmelden – aber wie könnte das geschehen? Und dann müssen die Wünsche der Bürger den Unternehmen mitgeteilt werden, die sich nun untereinander einigen müssen, wer was wie produziert – wie wäre es, wenn man diese Aufgabe den Unternehmen überlässt? Aber wie? Die Idee, wie diese Aufgabe zu bewältigen ist, stammt vom englischen Nationalökonomen Adam Smith.
Auf Kugeln gebaut.
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Köpfe: Adam Smith Im Alter von vier Jahren wird der junge Adam Smith von Zigeunern entführt, glücklicherweise aber gerettet. Smith (1723–1790) gilt als der Vater der Nationalökonomie. Von ihm stammt das Bild von der unsichtbaren Hand der Marktwirtschaft, die wie von Zauberhand dafür sorgt, dass die Unternehmen genau das herstellen, was die Bürger wollen. Sein Buch „Der Wohlstand der Nationen“ ist wohl eines der wichtigsten Bücher in der Geschichte der Ökonomie. Nach Smith ist der Eigennutz der Motor allen wirtschaftlichen Handelns; und Arbeitsteilung der Motor des Fortschritts. Doch diese Arbeitsteilung benötigt den Tausch – Menschen, so Smith, folgen einem natürlichen Trieb, Waren zu kaufen und zu verkaufen. Doch Smith war mehr als ein Ökonom: eines seiner wichtigen Werke ist die „Theorie der ethischen Gefühle“, die so etwas wie eine moralische Betrachtung des Kapitalismus ist. Adam Smith
Der Mann hat es immerhin auf die 20-Pfund-Note geschafft. Das gelingt nicht jedem Ökonom.
Smiths Idee ist so einfach wie genial: Wir brauchen ein Meldesystem für die Wünsche der Menschen, und dieses Meldesystem ist der Preis eines Gutes. Indem Menschen angeben, welchen Preis sie bereit sind, für ein Gut zu bezahlen, verraten sie auch die Dringlichkeit ihrer Wünsche und die Reihenfolge, in der sie diese Wünsche erfüllt sehen möchten: Güter, für die sie bereit sind, einen hohen Preis zu zahlen, stehen ganz oben auf der Wunschliste, Dinge, für die Menschen wenig zahlen wollen, sind nicht so begehrt. Der Preis eines Gutes ist wenn Sie so wollen eine Art Stimmzettel, mit dem die Konsumenten darüber abstimmen, welche Güter sie am liebsten kaufen wollen. Das geniale an diesem Stimmzettel ist dabei, dass er zugleich zeigt, was die Menschen gerne kaufen wollen, als auch die Dringlichkeit ihrer Wünsche sichtbar macht. Ganz wichtig dabei sind die Anreize: Die Idee, Preise, also die Zahlungsbereitschaft der Konsumenten als Signal für deren Bedürfnisse zu wählen, funktioniert nur, wenn die Konsumenten den Preis der Güter, die sie kaufen, auch selbst zahlen – wer anderer Leute Geld ausgibt, ist großzügiger und bietet höhere Preise als jemand, der seinen Konsum aus der eigenen Brieftasche bezahlen muss. Da sind sie wieder, unsere Anreize.
In der Praxis: Anderer Leute Geld Der Bundesrechnungshof, dessen Mitglieder richterliche Unabhängigkeit besitzen, ist sozusagen der Aufpasser über das Finanzgebaren des Bundes. Er prüft die Rechnung sowie die Wirtschaftlichkeit und Ordnungsmäßigkeit der Haushalts- und Wirtschaftsführung des Bundes. (Art. 114 Abs. 2 Satz 1 und 2 Grundgesetz). Seine Bemerkungen wirken immer wieder wie Berichte aus der Folterkammer
2 So funktionieren Märkte
des Steuerzahlers. Ein paar Beispiele gefällig? Wie geht der Staat mit anderer Leute Geld um? In etwa so: Die Bundeswehr mietete laut Bundesrechnungshof Flugzeugschlepper, die für das Schleppen ihrer Kampfflugzeuge ungeeignet sind und zahlte dafür 2,7 Millionen Euro. Die Deutsche Rentenversicherung Bund (DRV) hatte jahrelang zu viel Bürofläche in Anspruch genommen und somit vermeidbare Kosten von mehr als 18 Millionen Euro pro Jahr produziert. Die Bundespolizei hatte 40 Transporthubschrauber vorrätig, obwohl diese jährlich nur zu 10 Prozent ausgelastet waren. Und der Bund ignorierte, dass sich die Deutsche Bahn AG nicht an vertragliche Vereinbarungen hielt und er dadurch einen Nachteil von mindestens 190 Millionen Euro erlitt. Weitere aktuelle Beispiele finden Sie auf www.bundesrechnungshof.de.
Arbeitsauftrag 5 Warum sagen Ökonomen, dass staatliche Stellen nicht sparsam mit Geld umgehen? Welche Anreize könnte man setzen, damit Staatsbedienstete sorgfältiger mit dem ihnen anvertrauten Geld umgehen?
Mit den Preisen zeigen die Konsumenten also ihre Zahlungsbereitschaft für bestimmte Produkte – das gibt den Unternehmen Hinweise, was sie produzieren sollen. Aber warum sollten die Unternehmen den Konsumenten diesen Gefallen tun? Ganz einfach: Der Preis eines Gutes bestimmt zugleich den Gewinn des Unternehmers – je dringlicher der Wunsch der Konsumenten nach einem Gut ist, um so eher kann er höhere Preise fordern, was tendenziell sein Einkommen erhöht (wie genau das funktioniert, sehen wir in
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Teil 1: Mikroökonomie
Kapitel 6). Indem er den Konsumenten also das verkauft, was sie sich am meisten wünschen, erhöht er sein Einkommen – das ist sein Anreiz. Hier sehen wir auch, wie wichtig Privateigentum in einem solchen System ist: Wenn die Produzenten nicht das Geld, das sie durch den Verkauf ihrer Waren erhalten, behalten dürfen (genau das ist ja Privateigentum), warum sollten sie dann den Konsumenten den Gefallen tun, das zu produzieren, was sich diese wünschen? Und den Konsumenten muss man natürlich erlauben, das, was sie kaufen zu behalten – sonst brauchen sie erst gar nicht ihre Zahlungsbereitschaft über den Preis zu bekunden. Sie sehen – Privateigentum spielt in diesem System eine wichtige Rolle. Aber nicht nur das, auch Freiheit ist in diesem System unabdingbar, nämlich die Freiheit, zu kaufen, bei wem man will, und zu verkaufen an wen man will. Zwingt der Staat die Konsumenten, bei einem bestimmten Unternehmen zu kaufen, dann kann sich das Unternehmen sparen, auf die Preisforderungen der Konsumenten einzugehen – und schon funktioniert unsere Marktwirtschaft (um nichts anderes handelt es sich hier) nicht mehr. Deswegen muss es in einer Marktwirtschaft für die Konsumenten immer die Möglichkeit geben, unter vielen Angeboten auszuwählen, damit die Unternehmen nicht Mondpreise fordern, und das herstellen, was die Kunden wünschen. Und damit es diese vielen Angebote gibt, muss es viele verschiedene Unternehmen geben, die um die Gunst der Konsumenten rangeln – und das nennen die Ökonomen dann Wettbewerb. Wettbewerb spielt in marktwirtschaftlichen Systemen eine derart wichtige Rolle, dass wir ihm ein eigenes Kapitel (Kapitel 7) widmen werden. Hier steckt auch ein weiterer Trick der Marktwirtschaft: Solange viele Unternehmen versuchen, den Kunden etwas zu verkaufen, werden sie versuchen, dem Konkurrenten das Geschäft wegzunehmen, indem sie ihn unterbieten. Als Konsequenz bedeutet das, dass bei ausreichendem Wettbewerb die Konsumenten das Gut immer zu einem möglichst günstigen Preis bekommen. Wettbewerb hilft also immer den Kunden, und nur den Unternehmen, die findiger, innovativer und günstiger sind als die Konkurrenz. Das erklärt, warum vor allem Unternehmen und Unternehmerverbände über „ruinösen Wettbewerb“ klagen. Als Konsument sollte man da immer misstrauisch werden. Wie heißt es so schön: Die Klage ist der Gruß der Kaufleute. Aber Vorsicht: Bisweilen liest man in der Presse, dass die Preise „ins Bodenlose“ fallen, und ein „ruinöser Wettbewerb“ zu befürchten ist. Das ist so nicht richtig, denn es gibt natürlich eine Untergrenze für den Preis, und das sind die Produktionskosten des Gutes (denen wir ebenfalls ein eigenes Kapitel widmen werden; Kapitel 5). Wollen die Bürger für ein Gut weniger zahlen, als es in der Herstellung kostet, dann wird es nicht am Markt angeboten, weil sich das für die Unternehmen nicht lohnt. Das klingt hart, ist aber richtig: Warum soll eine Wirtschaft Sachen herstellen, die in der Produktion mehr kosten, als sie den Käufern wert sind? Wir werden diesen Gedanken im nächsten Kapitel noch einmal aufgreifen.
2 So funktionieren Märkte
Mit Blick auf die Aufgaben, die wir bei der Organisation einer Volkswirtschaft zu erledigen haben, können wir den Ansatz der Marktwirtschaft wie folgt zusammenfassen:
Steuerung: Die Konsumenten bestimmen, was produziert werden soll. Sie artikulieren ihre Wünsche, indem sie ihre Zahlungsbereitschaft bekunden, die sich in den Preisen zeigt, die sie bereit sind, für ein Gut zu zahlen. Sie stimmen mit der Brieftasche ab.
Allokation: Die Unternehmen entscheiden anhand der Preise selbst, was sie produzieren und wie. Dabei können wir getrost davon ausgehen, dass sie versuchen werden, das anzubieten, was die Konsumenten am dringendsten verlangen, und dass sie so kostengünstig wie möglich arbeiten – je günstiger die Herstellung des Produktes ist, um so mehr Gewinn bleibt bei ihnen hängen. Es gibt also erhebliche Anreize, so kostengünstig wie möglich zu produzieren und Verschwendung zu vermeiden. Wie genau sich dieser Prozess abspielt, untersuchen wir näher im 6. Kapitel.
Verteilung: Das haben wir bereits angesprochen – die Verteilungsseite ist die Achillesferse der Marktwirtschaft. Die Einkommen und Erträge aus der Arbeit und dem Handel werden nur nach Leistung verteilt: Wer viel arbeitet, wer im Besitz eines knappen Gutes ist, wer etwas anbietet, was viele Menschen wollen, bekommt viel. Wer nichts anzubieten hat auf dem Markt, bekommt auch nichts. Diese Logik ist zwingend, denn erst der Anreiz, dass man etwas für seine Arbeit bekommt, bewegt die Menschen, die Unternehmen dazu, zu arbeiten. Würde man Einkommen ohne Leistung verteilen, würde dieses System nicht mehr funktionieren. Das soll aber nicht heißen, dass wir die Menschen schutzlos dem Treiben der Märkte ausliefern wollen oder müssen – hier bedürfen Märkte also einer Ergänzung, hier ist der Staat gefordert. Wie das funktionieren kann, schauen wir uns in Kapitel 8 – 10 näher an.
Auch die Anreize zur Anpassung und zur Innovation leben in einer Marktwirtschaft davon, dass die Menschen die Erträge ihrer Arbeit erhalten und behalten dürfen. Der Anreiz auf Gewinne beflügelt sowohl den Forscherdrang als auch den Willen, sich an eine wandelnde Welt anzupassen. Wer Produkte herstellt, die niemand mehr will, geht ebenso Pleite wie jemand, der seine Produktion nicht ausreichend modernisiert. Und die Aussicht auf Gewinne macht Erfindern Beine – wer zuerst den neuen Softdrink erfindet, der jedem schmeckt, kann sich eine neue Villa leisten. Es ist die Aussicht auf Gewinne, die den Konsumenten Dinge beschert, die ihnen das Leben erleichtern oder schöner machen. Und diese zukünftigen Gewinne entstehen natürlich durch die hohen Preise, welche die Konsumenten für neue Erfindungen zu zahlen bereit sind. Das stellt auch sicher, dass technischer Fortschritt sich nur lohnt, wenn die Konsumenten diesen wollen. Erfindet ein Unternehmer etwas nutzloses, so werden die Menschen dafür nichts zahlen, weswegen sich diese Erfindung nicht lohnt – und deswegen sich diese auch nicht durchsetzen wird.
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Teil 1: Mikroökonomie
Was die Kontrolle angeht, so ist eine dezentrale Marktwirtschaft ein guter Schutz gegen einen übermächtigen Staat – unabhängige Unternehmen bedeuten auch mehr Freiheit für unabhängige Bürger; und jedes Unternehmen, jeder Bürger und Konsument, der frei entscheiden kann, bedeutet weniger Macht für den Staat. Allerdings lauert hier auch eine Gefahr: Wie wir im 7. Kapitel sehen werden, besteht auf Märkten immer die Gefahr, dass Unternehmen zu mächtig werden – dass also keine staatliche, aber private Macht droht. Deswegen ist es eine permanente Aufgabe des Staates, dafür zu sorgen, dass es nicht zu einer Ansammlung privater Macht auf Märkten kommt – das ist die Aufgabe der so genannten Wettbewerbspolitik. Damit haben wir in Grundzügen erarbeitet, wie Märkte funktionieren. Eine wichtige Erkenntnis ist, dass es vor allem die Preise sind, die Märkte funktionsfähig machen: Sie erfüllen insgesamt vier wichtige Funktionen:
Signalfunktion: Der Preis zeigt die Knappheit eines Gutes und damit die Intensität der Bedürfnisse der Konsumenten an. Diese Funktion geht Hand in Hand mit der
Anreizfunktion: Hohe Preise setzen für die Produzenten Anreize, das zu produzieren, was die Konsumenten wollen. Das führt unmittelbar zur
Lenkungsfunktion: Der Preis sorgt dafür, dass dort produziert wird, wo der höchste Ertrag zu erwarten ist. Unter dem Strich ergibt das die
Marktausgleichsfunktion: Der Preis sorgt für einen Ausgleich von Angebot und Nachfrage am Markt; er ändert sich solange ein Angebotsoder Nachfrageüberschuss existiert. Kein Wunder, dass wir in den folgenden Kapiteln immer wieder über den Preis sprechen werden. Um Märkte noch besser zu verstehen und zu analysieren, ist es hilfreich, ein paar einfache grafische Darstellungen einzuführen, nämlich die Angebotskurve und die Nachfragekurve.
Nachfragekurve. Wir haben gesehen, dass Märkte aus zwei Parteien bestehen – den Konsumenten und den Produzenten, also dem Angebot und der Nachfrage. Lassen Sie uns zuerst eine einfache Darstellung der Nachfrageseite entwickeln. Zu diesem Zweck stellen wir uns vor, alle Konsumenten sind auf einem Platz, unserem Markt, versammelt. Nun wollen wir die Nachfrage nach einem Gut, sagen wir einem Bier, ermitteln. Zu diesem Zweck rufen wir laut einen Preis aus – wer auf dem Markt will bei einem Preis von sagen wir 5 Euro ein Bier? Da das viel Geld für ein Bier ist, findet sich in unserem Beispiel nur ein trinkfreudiger Bürger, der bereit ist, so viel für ein Bier zu bezahlen. Wir notieren das in unserer Tabelle 2. Nun senken wir unseren Preis, den wir fordern und fragen, wie viele Konsumenten denn vier Euro für ein Bier bezahlen – es finden sich jetzt fünf Personen, die für ein kühles Nass so viel Geld bezahlen wollen, auch das notieren wir in der Tabelle. Derjenige, der ein Bier für fünf Euro haben wollte, nimmt natürlich auch eines für vier Euro, und vier weitere Konsumenten finden sich, die bereit sind, für ein Bier vier Euro zu zahlen. Der Rest ist rasch erklärt: wir fragen systema-
2 So funktionieren Märkte
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tisch alle Preise ab und notieren in der Tabelle, wie viele Biere zu welchem Preis nachgefragt werden. Die fertige Tabelle beschreibt dann unsere Nachfragefunktion – alle Kombinationen von Preisen und den dazugehörigen nachgefragten Mengen. Preis
Nachgefragte Menge
5
1
4
5
3
10
2
20
1
30
Um das Ganze anschaulicher zu machen, stellen wir das in einer Grafik dar (vgl. Abbildung 1): auf der senkrechten Achse tragen wir den Preis ab, den wir fordern, auf der waagrechten Achse die dazugehörige Nachfrage – auf diese Weise erhalten wir jeweils einen Punkt, der eine Kombination von Preis und dazugehöriger Menge darstellt. Wenn wir diese Punkte miteinander verbinden, so erhalten wir die Nachfragekurve. Sie zeigt uns an, zu welchem Preis unseres Gutes welche Nachfrage herrscht. Wollen wir nun als Bierbrauer wissen, wie viel Bier wir absetzen können, wenn wir drei Euro verlangen, dann werfen wir einen Blick auf die Nachfragekurve, starten mit dem Zeigefinger an der senkrechten Linie beim Preis von drei Euro, wandern waagrecht nach rechts, bis wir auf die Nachfragekurve stoßen, gehen von dort aus senkrecht hinunter und finden auf der waagrechten Achse die dazugehörige nachgefragte Menge (10 Bier). Solche Grafiken werden uns durch das komplette Buch begleiten, deswegen ist es wichtig, dass Sie verstehen, wie man sie konstruiert und liest. Aber warum sinkt die Nachfragekurve in unserer Abbildung von links oben nach rechts unten? Intuitiv ist es das, was wir erwarten: Je billiger ein Gut wird, umso größer wird die Nachfrage nach diesem Gut. Aber warum? Hierfür sind zwei Effekte verantwortlich. Da wäre zunächst einmal der so genannte Substitutionseffekt: Wenn ein Gut teurer wird, dann schwenkt man um auf ein billigeres Gut – wir trinken Wein statt Bier, oder wie Ökonomen sagen: Wir substituieren (ersetzen) Bier durch Wein. Wird Bier also teurer, so sinkt die Nachfrage nach Bier, weil die Menschen dann verstärkt zu Wein greifen statt zu Bier (das funktioniert auch bei Gütern, die nicht gegeneinander austauschbar sind: Wird Alkohol teurer, dann kaufe ich mir vielleicht einen neuen Fernseher und trinke dafür weniger). Mit steigendem Preis sinkt also die Nachfrage, ganz so, wie unsere Kurve das beschreibt. Dann wäre da noch der Einkommenseffekt. Der funktioniert so: Wenn ein Gut billiger wird, dann kann man bei gleichem Einkommen mehr davon kaufen – und wenn man das tut, dann steigt die Nachfrage nach diesem Gut. Wird ein Gut also billiger, so steigt die Kaufkraft unseres Einkommens, da
Tabelle 2: Die Nachfrage nach Bier Preis 5
N
4 3 2
1 1
5 10 20 30 Nachgefragte Menge
Abbildung 1. Die Nachfragekurve
Teil 1: Mikroökonomie
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wir mit dem gleichen Einkommen nun mehr von diesem Gut kaufen können. Beide Effekte kommen zum gleichen Ergebnis: Steigt (sinkt) der Preis für ein Gut, so sinkt (steigt) die Nachfrage nach diesem Gut. Wohlgemerkt ist das eine verallgemeinernde Annahme, das muss nicht heißen, dass sich die Nachfragekurve bei jedem Gut so verhält.
Arbeitsauftrag 6 Suchen Sie nach Gütern, bei denen die Nachfrage nicht mit steigendem Preis sinkt. Wie sieht die Nachfragekurve dann aus? Können Sie sich Fälle vorstellen, in denen die Nachfrage mit steigenden Preisen steigt?
Angebotskurve. Wenn Sie verstanden haben, wie man eine Nachfra-
Preis A
5 4
3 2
1 1
5 10 20 30 Angebotene Menge
Abbildung 2: Die Angebotskurve
gekurve entwickelt, dann ist die Herleitung der Angebotskurve nun ein Klacks – die funktioniert nämlich ganz genau so. Wir fragen wieder auf dem Markt nach – diesmal allerdings die potentiellen Produzenten: Wie viel von dem betreffenden Gut bieten sie an, wenn wir einen Preis von einem Euro zahlen? In unserem Beispiel ist das mager: Für einen Euro wird gerade mal ein Bier angeboten – wir notieren das in unserer Tabelle 3. Wenn wir bereit sind, zwei Euro zu zahlen, sieht das schon besser aus – dann werden fünf Biere angeboten. Den Rest der Prozedur kennen Sie bereits: Wir fragen für alle Preise ab, wie viel die Unternehmen anbieten wollen, tragen die Werte in unsere Tabelle ein und zeichnen mit Hilfe der Tabelle unsere Angebotskurve in die nebenstehende Abbildung.
2 So funktionieren Märkte
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Preis
Angebotene Menge
1
1
2
5
3
10
4
20
5
30
Tabelle 3: Das Angebot an Bier
Wie Sie sehen, steigt mit steigendem Preis für das Gut auch die angebotene Menge. Die Intuition hinter diesem Verlauf der Angebotsfunktion ist einfach: Je mehr die Konsumenten bereit sind, für ein Produkt zu zahlen, um so größer wird der Gewinn für den Verkäufer sein, was weitere Verkäufer in den Markt lockt – das Angebot steigt (die Rolle der Kosten vernachlässigen wir hier zunächst, das klären wir in Kapitel 5). Wir werden in Kapitel 5 und 6 eine weitere Erklärung kennen lernen, die uns verrät, warum die Angebotskurve aufwärts steigend ist. Für die weiteren Erläuterungen reicht die Idee der steigenden Gewinne erst einmal aus.
Arbeitsauftrag 7 Suchen Sie nach Gütern, bei denen das Angebot nicht mit steigendem Preis steigt. Wie sieht die Angebotskurve dann aus? Können Sie sich Fälle vorstellen, in denen das Angebot mit steigenden Preisen sinkt?
Denksportaufgabe 5 Das Diamantenpreisrätsel. Diamanten sind unzerstörbar, und jedes Jahr werden neue Diamanten gefördert und verkauft. Das bedeutet, dass das Angebot an Diamanten jährlich zunimmt – jedes Jahr werden es mehr Diamanten, die weltweit im Umlauf sind, da die alten Diamanten ja nicht vom Markt verschwinden (eben weil sie unverwüstlich sind). Trotzdem sinkt der Preis für diese Steine nicht. Suchen Sie nach Erklärungen.
Der Weg ins Gleichgewicht. Wenn wir nun das Angebot und die Nachfrage hergeleitet haben, fehlt nur noch ein letzter Schritt: Wir müssen die beiden zusammenbringen. Das machen wir in Tabelle 4, wo wir die Daten zu Angebot und Nachfrage zusammengefasst haben. Wir sehen, dass bei einem Preis von 3 Euro die angebotene Menge genau der nachgefragten Menge entspricht – das ist das Marktgleichgewicht. In Abbildung 3, in der wir beide Kurven eingezeichnet haben, lässt sich auch zeigen, wie der Weg in dieses Gleichgewicht aussieht.
Die besten Freunde der Mädchen
Teil 1: Mikroökonomie
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Tabelle 4: Angebot und Nachfrage Preis N
A
5
3 2
1
5
10 20 30 Menge
Abbildung 3: Das Gleichgewicht
So wurde im 19. Jahrhundert gearbeitet: Wie hat hier die Angebotskurve an Arbeit ausgesehen (vgl. Arbeitsauftrag 8)?
Preis
Nachgefragte Menge
Angebotene Menge
1
30
1
2
20
5
3
10
10
4
5
20
5
1
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Nehmen wir einmal an, der Preis, den die Anbieter fordern, beträgt 5 Euro – zu diesem Preis bieten sie 30 Stück an. Allerdings werden die Konsumenten zu diesem Preis nur ein Stück nachfragen – wir haben das, was Ökonomen einen Angebotsüberschuss nennen. Und wenn das Angebot größer ist als die Nachfrage, dann wird den Produzenten nichts weiter übrig bleiben, als die Preise zu senken, damit sie mehr verkaufen. Jetzt passieren zwei Dinge zugleich: Ein sinkender Preis sorgt dafür, dass erste Anbieter aus dem Markt ausscheiden – zu diesem Preis wollen sie einfach nicht anbieten. Die Produzenten reduzieren den Preis auf sagen wir drei Euro, das Angebot sinkt damit von 30 auf zehn. Damit bewegen wir uns auf der Angebotskurve nach unten (das ist eine ganz wichtige Idee: sinkt der Preis, so bedeutet das in unserer Grafik, dass wir auf der Angebotskurve nach unten wandern – wir kommen gleich noch einmal darauf zurück). Mit sinkendem Preis aber werden zugleich viele Konsumenten mehr Interesse für das Produkt zeigen, die Nachfrage steigt, und wenn der Preis auf drei Euro fällt, dann steigt sie laut unserer Tabelle und Grafik auf 10 Stück. Damit bewegen wir uns auf der Nachfragekurve nach unten; auch das ist wichtig: Ein Rückgang des Preises und ein damit einhergehender Anstieg der Nachfrage bedeutet, dass wir uns auf der Nachfragekurve nach unten bewegen.
2 So funktionieren Märkte
Da bei dem neuen Preis die angebotene Menge gleich der nachgefragten Menge ist, gibt es jetzt für beide Seiten keinen Grund mehr, das Verhalten zu ändern – wir haben ein Marktgleichgewicht; die Gleichgewichtsmenge ist 10, der Gleichgewichtspreis beträgt drei Euro. Liegt der Preis unter dem Gleichgewichtspreis – sagen wir bei zwei Euro, so herrscht ein Nachfrageüberschuss – zu diesem Preis wollen die Kunden 20 Stück kaufen, die Unternehmen aber nur 5 Stück anbieten – die Nachfrage übersteigt das Angebot. Jetzt passiert wieder das gleiche: Die Konsumenten sind bereit, mehr zu zahlen, weswegen der Preis steigt. Der steigende Preis lockt neue Anbieter an und das Angebot steigt (Bewegung auf der Angebotskurve nach oben). Gleichzeitig bedeutet ein steigender Preis, dass einige Konsumenten das Gut nicht mehr nachfragen, die Nachfrage sinkt (Bewegung auf der Nachfragekurve nach oben). Und der ganze Prozess endet natürlich im Gleichgewicht, bei drei Euro (warum?).
Arbeitsauftrag 8 In welchen Fällen kommt es nicht zu einem Anpassungsprozess ins Gleichgewicht? Wie müssen Angebots- und Nachfragekurve in diesem Fall aussehen? Erklären Sie, warum diese Kurven so aussehen müssen.
In der Praxis: Der Schweinezyklus Das englische Magazin „The Economist“ berichtet 2008 vom chinesischen Markt für Schweine und fragt, warum die Preise für Schweine im Reich der Mitte so sehr schwanken. Die Erklärung, die das Magazin anbietet, ist schulbuchmäßig: Wenn in einem Jahr viele Schweine auf dem Markt sind, herrscht ein Angebotsüberschuss, und die Preise sinken. Frustriert von den geringen Erlösen, beschließen die Bauern, für das kommende Jahr nur wenige Schweine zu züchten. Das Problem dabei: Wenn alle Bauern so denken, wird es im Jahr darauf nur wenige Schweine geben, so dass das Angebot knapp ist, ein Nachfrageüberschuss entsteht und die Preise entsprechend steigen. Das lockt natürlich wieder eine Menge Bauern an, die für das kommende Jahr viele Schweine züchten – mit dem Ergebnis, dass die Preise wieder abstürzen. Im Ergebnis schwanken die Preise dramatisch von Jahr zu Jahr – und das ganze wird in der Literatur als „Schweinezyklus“ bezeichnet. Die Ursache für diesen Zyklus ist der Umstand, dass das Angebot nicht sofort auf eine Änderung der Preise reagieren kann – die Aufzucht eines Schweins dauert zu lange. Solche Schweinezyklen gibt es überall dort, wo das Angebot lange benötigt, um sich an eine Veränderung der Preise anzupassen – beispielsweise auf dem Arbeitsmarkt, wenn die Ausbildung für einen gefragten Beruf sehr lange dauert.
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Teil 1: Mikroökonomie
Arbeitsauftrag 9 Erklären Sie, wie es zu Lehrerschwemmen oder Ärztemangel kommen kann.
Verschiebung der Kurven. Ok, jetzt haben wir ein einfaches Modell, mit dem wir Märkte abbilden können – aber was machen wir damit? Natürlich Politik betreiben. Bereits mit Hilfe dieser einfachen Grafik können wir wirtschaftspolitische Probleme untersuchen. Doch bevor wir das tun, brauchen wir noch eine wichtige Unterscheidung, nämlich die zwischen endogenen und exogenen Variablen (das klingt gefährlicher, als es ist). Ausgangspunkt unserer Überlegungen ist folgender: Was, wenn auf einmal – warum auch immer – die Konsumenten mehr oder weniger nachfragen, obwohl sich der Preis nicht geändert hat? Wie können wir das denn in unserem Diagramm darstellen? In unserem Diagramm haben wir nämlich eine entscheidende Annahme versteckt, nämlich die Annahme, dass sich nichts ändert außer dem Preis und der Menge. Das nennt man auch ceteris-paribus-Annahme, das kann man mit „unter ansonsten gleichen Umständen“ übersetzen. Gemeint ist damit folgendes: Das Diagramm gilt nur unter der Annahme, dass sich ansonsten nichts verändert. Warum, ist klar: Wir haben zu einem bestimmten Zeitpunkt nach der Nachfrage gefragt und diese aufgezeichnet. Was aber, wenn sich nun etwas Entscheidendes ändert – es wird eiskalt, die Regierung führt eine Biersteuer ein, ein Bierskandal erschüttert die Republik? Klar, unsere Konsumenten werden ihre Biernachfrage ändern, unsere mühsam gezeichnete Kurve ist nicht mehr gültig, weil wir einen (oder mehrere) ganz entscheidende Umweltparameter geändert haben. Wir haben die ceteris-paribus-Bedingung verletzt. Also brauchen wir eine neue Kurve. Die können wir ganz einfach herleiten, indem wir wieder auf unsere Tabelle zurückgreifen. Nehmen wir an, wir haben unsere alte Nachfragekurve hergeleitet, als wir im Sommer nach der Zahlungsbereitschaft der Konsumenten gefragt haben. Doch jetzt wird es Winter, weswegen die Leute weniger Bier trinken wollen (ersatzweise können wir auch annehmen, dass Wein billiger geworden ist oder der Bierskandal die Republik erschüttert und die Menschen nun mehr Wein, dafür aber weniger Bier trinken). Dann ist unsere alte Nachfragekurve nicht mehr gültig (zweite Spalte in der Tabelle 5), sondern die gesunkene Nachfrage sei nun durch die dritte Spalte in der Tabelle dargestellt (wir haben also eine neue Umfrage gemacht, nachdem die Temperatur gefallen ist oder der Bierskandal bekannt geworden ist). Egal bei welchem Preis – die Konsumenten trinken nun weniger Bier. Wenn wir nun in unsere Grafik übertragen, ergibt sich die nachfolgende Abbildung 4.
2 So funktionieren Märkte
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Preis
Alte Nachfrage
Neue Nachfrage
5
1
0
4
5
1
3
10
5
2
20
10
1
30
20
Tabelle 5: Biersteuer, Bierskandal: Die Nachfrage nach Bier sinkt.
In Abbildung 4 können wir nun gut erkennen, was passiert, wenn sich die Nachfrage ändert, obwohl sich der Preis nicht ändert. In unserem Beispiel (es wird Winter, der Bierskandal oder die Biersteuer kommen, oder Wein wird billiger, weswegen die Leute von Bier zu Wein wechseln) sinkt die Nachfrage nach Bier, und die Nachfragekurve verschiebt sich nach links, von N zu N‘. Zu jedem Preis ist die Nachfrage gegenüber der alten Situation gesunken. Wichtig dabei ist die Unterscheidung zwischen einer Verschiebung der Nachfragekurve und einer Bewegung auf der Nachfragekurve: Wenn sich die Nachfrage ändert, weil sich der Preis ändert, so ist das eine Bewegung auf der Nachfragekurve (wie wir bereits gesehen haben), wenn sich aber die Nachfrage ändert, obwohl sich der Preis nicht ändert, dann ist das eine Verschiebung der Nachfragekurve. Natürlich wird sich nach einer Verschiebung der Nachfragekurve auch der Preis ändern, aber nur der Gleichgewichtspreis – und den können wir erst ermitteln, wenn wir die Angebotskurve hinzunehmen; wie wir das weiter unten machen werden.
Preis
Damit können wir leicht unterscheiden, wann es zu einer Verschiebung der Nachfragekurve kommt und wann wir uns auf der Nachfragekurve bewegen: Wenn die Nachfrage auf eine Änderung des Preises reagiert, ist das eine Bewegung auf der Kurve – das nennen Ökonomen eine Veränderung einer endogenen Variable. Endogen deswegen, weil diese Variablen (der Preis, die Menge) durch das Modell selbst erklärt werden (endogen ist griechisch und bedeutet so viel wie „im Inneren erzeugt“). Unsere Grafik ist ja nichts anders als ein Modell zur Darstellung von Märkten, das uns den Zusammenhang zwischen Preis und Menge (das sind dann die endogenen Variablen) erklärt. Und wenn sich eine dieser Variablen ändert, dann bewegen wir uns auf der Kurve. Wenn sich aber irgendetwas ändert, was nicht durch das Modell erfasst ist – das Wetter, der Preis des Weins, Biersteuer, Bierskandal, die Trinkgewohnheiten der Menschen – dann nennt man das die Veränderung einer exogenen Variable, und das führt zu einer Verschiebung der Kurve. Wenn wir also eine exogene Variable verändern, dann heben wir die ceterisparibus-Annahme auf – es ist jetzt eben nicht mehr alles konstant, sondern eine oder mehrere Umweltvariablen haben sich geändert.
1
Wenn also beispielsweise der Staat eine Aufklärungskampagne macht und die Konsumenten überzeugt, dass Bier ungesund ist, dann werden diese
5
N
4 3 2
N’
1
5 10 20 30 Nachgefragte Menge
Abbildung 4: Biersteuer, Bierskandal: Verschiebung der Nachfragekurve nach links
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weniger Bier trinken. Die Kampagne ist eine exogene Variable, die nicht in unserem Schaubild erfasst ist – also bedeutet das eine Verschiebung der Nachfragekurve (nach links in diesem Fall). Findet eine Fußballweltmeisterschaft statt, dann verschiebt sich die Nachfragekurve nach rechts (warum?) – wieder eine Veränderung einer exogenen Variablen. Diese Verschiebung der Kurve kann sowohl auf der Nachfrageseite als auch auf der Angebotsseite stattfinden, am besten, Sie trainieren das anhand einiger Beispiele.
Arbeitsauftrag 10 Erklären Sie, welche Kurve sich bei folgenden Ereignissen wie verschiebt:
Aufgrund des heißen Sommers essen die Leute mehr Eis Der Ölpreis steigt, deswegen fahren die Menschen weniger Auto; gleichzeitig steigen die Produktionskosten der Unternehmen
Der Staat führt eine Steuer auf Zigaretten ein; jeder Produzent muss ab sofort einen Cent je verkaufter Zigarette an den Staat abführen.
Die Apfel-Ernte fällt wegen des harten Winters schlechter aus als gewöhnlich
Ein Traum wird wahr: Wissenschaftler haben die Möglichkeit geschaffen, Menschen zu beamen; also per Knopfdruck an jeden Ort der Welt zu transportieren (Beam me up, Scotty) Preis N
N’
P2
2
P1
1
M1
M2
Wenn Sie verstanden haben, wann und wie sich eine Angebots- oder Nachfragekurve verschiebt, dann können wir in einem weiteren Schritt untersuchen, was mit unserem Marktgleichgewicht passiert, wenn sich eine der Kurven verschiebt. Das können wir uns in zwei ganz einfachen Beispielen anschauen.
A
Menge
Abbildung 5: Der Gebrauchtwagenmarkt nach dem Mauerfall
Der Fall der Mauer und der Gebrauchtwagenmarkt. Als im Jahr 1989 die Mauer fiel, überrannten DDR-Bürger unter anderem die fränkische Stadt Hof – sie wurde zur Haupteinkaufsstadt für das gesamte südliche Ostdeutschland. Besonders die Autohändler machten das Geschäft ihres Lebens und verkauften all ihre Gebrauchtwagen. „Selbst die Rostmühlen wurden noch an den Mann aus der DDR gebracht“, ließen sich Autohändler zitieren – allerdings eher hinter vorgehaltener Hand; die Presse sprach von „Chaostagen in Hof “. Welche Folgen hatte der Mauerfall für den westdeutschen Gebrauchtwagenmarkt? Dazu nutzen wir die nebenstehende Abbildung. Zuerst überlegen wir, was sich ändert – es kommen Tausende neuer Kunden auf den Markt dazu, die aus dem Osten nach Hof strömen. Das ist ganz offensichtlich ein Ereignis, das die Nachfragekurve betrifft. Zweitens ist klar, dass das Ereignis „Mauerfall“ respektive „neue Kunden stoßen auf den Markt“ keine Variable ist, die wir bisher durch das Modell erfasst haben –
2 So funktionieren Märkte
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also ist es eine exogene Variable; das bedeutet, dass wir die Nachfragekurve in der Abbildung verschieben müssen. Bleibt noch der letzte Schritt: Wohin verschieben wir die Nachfragefunktion? Offensichtlich nach rechts, denn zu jedem bisher herrschenden Preisniveau gibt es jetzt einige Menschen mehr, die Interesse an einem Gebrauchtwagen haben – also muss ich zu jeder alten Preis-Mengen-Kombination die neue, zusätzliche Nachfrage dazu addieren (theoretisch könnten wir vorher eine neue Tabelle anfertigen, dann sieht man es unmittelbar). Damit ist die neue Nachfragekurve N` die alte Nachfragekurve plus die neu hinzugekommene Nachfrage. In unserer Abbildung passiert also nun folgendes: Die neuen Konsumenten stoßen nach dem Mauerfall auf den Markt (Verschiebung der Nachfragekurve). Damit ist das alte Gleichgewicht (mit der Ziffer 1 gekennzeichnet) nicht mehr gültig. Zum alten Gleichgewichtspreis P1 ist die Nachfrage jetzt größer als das Angebot (das Angebot zum Preis P1 ist M1, die neue Nachfrage nach Öffnung der Mauer zum Preis P1 erhalten Sie, wenn Sie von der senkrechten Achse vom Preis P1 waagrecht nach rechts gehen, bis Sie auf die neue Nachfragekurve N‘ stoßen und von dort aus senkrecht nach unten gehen, dort können Sie dann die neue Nachfrage zum Preis P1 ablesen). Jetzt kommt es zum Anpassungsprozess: Da zum alten Gleichgewichtspreis die Nachfrage größer ist als das Angebot, steigt der Preis, und der steigende Preis lockt neue Anbieter auf den Markt – bei höheren Preisen kommen immer mehr Autobesitzer auf die Idee, ihren Wagen als Gebrauchten zu verkaufen. Das ist eine Bewegung auf der Angebotskurve. Zugleich dämpft dieser Preisanstieg die Kauflust vieler ursprünglich interessierter Kunden, die bei steigenden Preisen Abstand nehmen von ihrem Vorhaben – das ist eine Bewegung auf der neuen Nachfragekurve N‘ nach oben. Diese Bewegungen enden in Punkt Nummer 2 beim neuen Gleichgewichtspreis P2 und der neuen Gleichgewichtsmenge M2. Denn bei diesem Preis entspricht das Angebot wieder der Nachfrage, und es besteht keine Notwendigkeit mehr, dass sich der Preis verändert. Im Ergebnis sehen wir, dass die Preise für Gebrauchtwagen und die angebotene Menge an Gebrauchtwagen gestiegen sind. Zusammengefasst erzählt unsere Abbildung also folgende Geschichte: Nach dem Mauerfall steigt die Nachfrage nach Gebrauchtwagen (Verschiebung der Nachfragekurve), wodurch die Nachfrage größer wird als das Angebot, deshalb steigen die Preise, das lockt weitere Anbieter auf den Markt (Bewegung auf der Angebotskurve nach oben) und dämpft die Kauflaune der Kunden (Bewegung auf der neuen Nachfragekurve nach oben), und dieser Prozess endet dort, wo wir einen neuen Gleichgewichtspreis erreichen (Punkt 2). Sie sehen: Die Ergebnisse der Grafik decken sich mit der Intuition. Aber oft überlagern sich verschiedene Effekte, so dass man nicht unmittelbar sehen kann, welche Konsequenzen bestimmte Entwicklungen haben werden. Lassen Sie uns das anhand eines aufwendigeren Beispiels erörtern.
Der Gebrauchtwagenmarkt
Teil 1: Mikroökonomie
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Steigende Lebensmittelpreise. Im Jahr 2008 kam es zu einem starken Anstieg der Lebensmittelpreise auf dem Weltmarkt. Mehrere Dinge ereigneten sich gleichzeitig:
In Australien gab es aufgrund des schlechten Wetters eine Missernte In China und Indien stieg die Nachfrage nach Fleisch, weil mit steigenden Einkommen die Menschen mehr Fleisch nachfragen. Die Herstellung von Fleisch, also die Aufzucht von Kühen, benötigt aber mehr Getreide als die Herstellung von Brot.
Zudem stieg weltweit die Nachfrage nach staatlich subventionierten Biokraftstoffen (eben weil diese subventioniert wurden). Die steigende Nachfrage nach diesen Treibstoffen und die Subventionen führten dazu, dass die Landwirte mehr Raps auf Kosten anderer Agrarrohstoffe anbauen, was deren Preise trieb. Diese Entwicklungen lassen sich in Abbildung 6 darstellen.
Preis
N’ A’ N A
P2
P1
M1 M2
Die steigende Nachfrage nach Fleisch und der damit verbundene höhere Bedarf an Getreide zur Herstellung der Futtermittel für die Kühe verschiebt die Nachfragekurve nach rechts von N auf N´. Zugleich verschiebt sich die Angebotskurve nach links (von A zu A‘): Die Missernte in Australien verknappt das Angebot; und die höhere Nachfrage nach Biodiesel führt dazu, dass die Bauern mehr Raps und weniger Getreide herstellen, was dessen Angebot ebenfalls verknappt. Beide Ereignisse führen dazu, dass sich die Angebotskurve A nach links (oben) auf A´ verschiebt. Im Ergebnis sehen wir, dass sich zwar das Angebot aufgrund der steigenden Preise etwas ausweitet (das wiederum ist eine Bewegung auf der Angebotskurve), aber unter dem Strich die Preise gestiegen sind.
Menge
Abbildung 6: Steigende Preise auf dem Getreidemarkt
Die Abbildung kann man auch nutzen, um ein paar Ideen zu entwickeln, wie man der Lebensmittelpreiskrise Herr werden kann. Eine erste Möglichkeit besteht darin, das Angebot zu erhöhen, also die Produktion zu forcieren.
2 So funktionieren Märkte
Neue Düngetechniken entwickeln, Brachland aktivieren, die die Subvention des Biodiesels beenden oder aber die Möglichkeiten der Gentechnik nutzen – all das erhöht das Angebot und verschiebt die Angebotskurve zurück nach rechts, woraufhin die angebotene Menge steigt und die Preise wieder sinken. Die Nachteile liegen auf der Hand. Möglichkeit Nummer zwei besteht darin, die Nachfrage zu reduzieren und damit die Nachfragekurve nach links zu verschieben – beispielsweise indem man versucht, seine Bürger auf vegetarische Nahrung einzuschwören (weniger Fleisch bedeutet wie wir gesehen hatten, dass weniger Getreide in die Aufzucht von Tieren wandert). In der Realität allerdings haben Politiker zu anderen Maßnahmen gegriffen – Exportbeschränkungen und Preiskontrollen. Wir werden in Kapitel 4 sehen, dass diese Maßnahmen nicht funktionieren, respektive sogar eher nach hinten losgehen. Doch zuvor wollen wir uns eine weitere Anwendung unserer Angebots- und Nachfrage-Kurven ansehen: Drogenpolitik.
Arbeitsauftrag 11 Regelmäßig zu den Feiertagen steigen die Benzinpreise; was Medien zum Anlass nehmen, empört auf die „Abzocke“ der Mineralölfirmen hinzuweisen. Gibt es eine andere Erklärung für den Anstieg der Benzinpreise? Was passiert mit der Nachfrage nach Benzin zu den Feiertagen, was mit der Angebotskurve? Stimmt der Vorwurf der „Abzocke“?
Drogenpolitik. So ungewöhnlich die Idee klingt – aber was können Ökonomen über Drogenmärkte sagen? Mehr als man vermutet. Die erste Idee ist einfach: Wie sieht die Nachfragekurve eines Drogenabhängigen aus? Normalerweise nehmen wir an, dass mit steigendem Preis die Nachfrage sinkt. Das stimmt so bei Drogenabhängigen nicht: Sie können nicht einfach beliebig ihre Nachfrage reduzieren, genau das ist ja das Wesen der Sucht. Steigt
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Teil 1: Mikroökonomie
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GS7 erfasste Fälle
Rauschgiftdelikte
300.000 Rauschgiftdelikte (730.000)
250.000
Heroinfälle Cannabis und Zubereitungen
200.000 150.000 100.000 50.000
Abbildung 7: Rauschgiftdelikte in Deutschland (Quelle: Bundeskriminalamt; Polizeiliche Kriminalitätsstatistik PKS. Jahrbuch 2010; S. 230)
2010
2009
2008
2007
2006
2005
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2003
2002
2001
2000
1999
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1995
1994
1993
0
also der Preis, so werden die Süchtigen ihre Nachfrage nicht senken. Das bedeutet, dass die Nachfragekurve die Form hat, wie sie in der folgenden Abbildung zu sehen ist: Sie ist eine Senkrechte. Diese Kurve hat eine klare Aussage: Steigt der Preis (bewegen wir uns an der Senkrechten Achse nach oben), so ändert sich die nachgefragte Menge nicht (wir bewegen uns auf der waagrechten Achse nicht vom ursprünglichen Punkt auf der Mengenachse weg). Für die Angebotskurve können wir guten Gewissens annehmen, dass diese die herkömmliche Form hat: Mit steigenden Preisen werden sich immer mehr Menschen finden, die Drogen anbauen und anbieten. Mit diesen Ideen können wir nun Drogenpolitik betreiben. Hier gibt es zwei unterschiedliche Ansätze der Drogenpolitik: Man kann zum einen versuchen, die Nachfrage zu reduzieren, zum anderen kann man das Angebot eindämmen. Nachfrage kann man reduzieren, indem man beispielsweise Aufklärungspolitik betreibt und damit den Nachwuchs für die Dealer vom Markt nimmt. In diesem Fall wird sich die Nachfragekurve langfristig nach links verschieben (von N auf N`). Nehmen wir an, dass sich die Angebotskurve nicht verändert (es gilt die Angebotskurve A), dann sehen wir, dass die verkaufte Menge Drogen von m1 auf m2 zurück geht (natürlich, schließlich ist die Zahl der Drogenkonsumenten zurückgegangen) und der Preis gefallen ist (von p1 auf p3). Keine Frage, sinkt die Zahl der Drogenkonsumenten, so reagieren die Dealer mit Preisnachlässen. Was aber mit einer Politik, die auf der Angebotsseite ansetzt? Beispielsweise droht man den Dealern höhere Strafen an, das sollte doch Dealer abschrecken, oder? Ein Blick in unsere Abbildung weckt Zweifel: Schafft man es tatsächlich, die Zahl der Dealer zu verringern, indem man höhere Strafen androht, so verschiebt sich unsere Angebotskurve nach links (von A auf A’). Doch wie wir sofort sehen, bleibt das gewünschte Ergebnis aus (es gilt ja
2 So funktionieren Märkte
weiterhin die alte Nachfragekurve N, weil wir jetzt Strafpolitik als Alternative zur Aufklärung untersuchen): Im neuen Gleichgewicht, den Schnittpunkten der alten Nachfragekurve N und der neuen Angebotskurve A’ (nach erhöhter Strafandrohung an die Dealer) ist zwar der Preis der Drogen auf p2 gestiegen, aber die konsumierte Menge ist unverändert. Natürlich: Da die Drogenabhängigen nicht auf steigende Preise reagieren, passiert hier nichts – außer dass sie nun höhere Preise für ihren Stoff zahlen müssen (sprich: die Beschaffungskriminalität steigt). Das passiert also: Höhere Strafandrohungen führen zwar dazu, dass einige Dealer aussteigen, doch die anderen Dealer machen weiter. Allerdings fordern sie nun angesichts des höheren Risikos einen höheren Preis (man kann das auch als Risikoprämie bezeichnen), und diesen sind die Abhängigen auch bereit, zu bezahlen (das zeigt die besondere Gestalt ihrer Nachfragefunktion). Die Verschärfung der Strafandrohungen führt also lediglich dazu, dass die Abhängigen höhere Preise zahlen, mit denen sie ihren Dealern das höhere Risiko abgelten. Wegen der höheren Drogenpreise steigt die Beschaffungskriminalität, die Bürger fühlen sich unsicherer, rufen nach höheren Strafen für Dealer, die Angebotskurve verschiebt sich weiter nach oben, die Beschaffungskriminalität steigt weiter – Sie sehen, wo das hin führt. In dieser einfachen Analyse bewirkt verschärfte Strafverfolgung und -androhung eher das Gegenteil dessen, was man bezweckt. Wir werden in einem nächsten Schritt diese Analyse etwas verfeinern, dazu benötigen wir allerdings noch zwei wichtige ökonomische Werkzeuge. Die schauen wir uns im nächsten Kapitel an.
In der Presse 1: Heroin an Süchtige? „Der Bundesrat tritt für eine kontrollierte Heroinabgabe an Schwerstabhängige ein, stößt damit aber bei der Union auf Widerstand. Patienten, die älter als 23 Jahre und seit mindestens fünf Jahren abhängig sind, sollten den Stoff Diamorphin in speziellen Einrichtungen erhalten können, heißt es in einer am Freitag von der Länderkammer beschlossenen Gesetzesinitiative. Hintergrund sind Modellprojekte in den Städten Frankfurt am Main, Bonn, Hamburg, Hannover, Karlsruhe, Köln und München, die von Experten als erfolgreich eingestuft werden.“ (Quelle: Ärzteblatt von Freitag, 21. September 2007; http://www. aerzteblatt.de/v4/news/news.asp?id=29900) Näheres finden Sie unter www.heroinstudie.de.
Denksportaufgabe 6 Was würde passieren, wenn der Staat Heroin gratis an Süchtige verteilt? Was halten Sie von dieser Idee?
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Preis N’ p
N
A’
A
2
p1 p3
m2
m1
Menge
Abbildung 8: Drogenabhängige und Drogenpolitik
Sehen so die Folgen einer falschen Drogenpolitik aus?
Teil 1: Mikroökonomie
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Zusammenfassung 1. Eine arbeitsteilige Wirtschaft kann man entweder zentral als Planwirtschaft oder dezentral als Marktwirtschaft organisieren. In einer Marktwirtschaft werden Bedarfe über den Preis bestimmt, der die Zahlungsbereitschaft der Konsumenten signalisiert; jeder Produzent entscheidet anhand der Preise selbst, was er wie produziert. Das Privateigentum an den Gewinnen ist der Anreiz, dass produziert und getauscht wird. In einer Planwirtschaft legt eine zentrale Kommission fest, was von wem wie produziert wird; spezifische Anreize zur Produktion gibt es keine. 2. Märkte werden über das Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage bestimmt. Die Nachfrage steigt mit sinkenden Preisen, das Angebot sinkt mit sinkenden Preisen. Gibt man Anbietern und Konsumenten Gelegenheit, sich zu koordinieren, so findet sich zum Schluss ein Marktgleichgewicht, in dem zu einem Gleichgewichtspreis die nachgefragte Menge gleich der angebotenen Menge ist. 3. Wer Prozesse auf Märkten analysieren will, nimmt dazu das AngebotsNachfrage-Diagramm. Dabei geht man in drei Schritten vor: Zuerst untersucht man, ob eine Maßnahme / Veränderung der Umwelt die Angebotskurve oder die Nachfragekurve betrifft. In Schritt Nummer zwei untersucht man, in welche Richtung die betreffende Änderung die jeweilige Kurve verschiebt. Dann verschiebt man die Kurve und bestimmt das neue Gleichgewicht. Abschließend erklärt man den Befund verbal.
Der ökonomische Werkzeugkasten: Elastizitäten, Konsumentenund Produzentenrente Um was geht es? Unser Ziel ist es, wirtschaftspolitische Maßnahmen wie Drogenpolitik, Mindestlöhne, Höchstpreise oder was auch immer zu beurteilen, und zu diesem Zweck brauchen wir zwei Konzepte, die uns später eine detailliertere Analyse ermöglichen. Die beiden Konzepte, die zur Grundausstattung eines jeden Ökonomenwerkzeugkasten gehören, sind die Elastizität und die Konsumenten- und Produzentenrente. Lassen Sie uns mit der Elastizität beginnen. Wozu Elastizitäten? Wirtschaftspolitik in Marktwirtschaften sollte darauf aufbauen, die Anreize der Menschen zu beeinflussen (wie wir bereits im ersten Kapitel diskutiert haben). Damit wir aber wissen, welche Anreize funktionieren, müssen wir natürlich wissen, ob und wie sie wirken. Nehmen Sie beispielsweise die Idee, den Drogenkonsum über Strafandrohungen zu reduzieren: Süchtige lassen sich nicht von diesem Anreiz abschrecken, weil sie süchtig sind – sie können gar nicht auf diesen Anreiz reagieren. Ihre Nachfrage nach Drogen ist das, was Ökonomen unelastisch nennen. Oder denken Sie an die rationalen Ratten: Ihre Nachfrage nach Malzbier und Kirschlimonade war in Versuchen abhängig der Mühe, die es ihnen machte, an diese Getränke zu kommen (also deren Preis); ihre Nachfrage nach dem Grundnahrungsmittel Wasser hingegen war völlig unabhängig von diesem Preis – auch das ist eine unelastische Nachfrage. Das ist also die Idee der Elastizität: Wir suchen nach einer Maßzahl, mit der wir feststellen können, ob und in welcher Stärke Menschen auf Anreize – beispielsweise staatliche Politik – reagieren. Und die wichtigsten Anreize sind natürlich Preisänderungen, denn die Preise sind der zentrale Anreiz in einer Marktwirtschaft, wie wir gesehen haben. Reagieren Menschen sehr stark auf Änderungen der Preise, so können wir Wirtschaftspolitik betreiben, indem wir die Preise verändern, reagieren sie gar nicht – wie im Falle unserer Süchtigen – funktioniert die Politik, den Preis zu ändern, nicht oder nur schlecht, die Politik muss über andere Maßnahmen nachdenken. Wenn wir über Wirtschaftspolitik und deren Folgen diskutieren, dann ist es also hilfreich zu wissen, wie Angebot und Nachfrage auf wirtschaftspolitische Maßnahmen – respektive Preisänderungen – reagieren. Und diese Maßzahl ist die Elastizität. Wie misst man die Elastizität? Die erste Idee ist einfach: Wenn wir wissen wollen, wie die Nachfrage auf eine Veränderung des Preises reagiert, dann geben wir einfach an, wie stark sich die nachgefragte Menge verändert
3
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Teil 1: Mikroökonomie
hat, wenn sich der Preis geändert hat. Also: Steigt der Preis um sagen wir einen Euro, dann sinkt die nachgefragte Menge beispielsweise 100 Stück. Klingt gut, ist es aber nicht: Wenn das Unternehmen statt einer Million Stück nur noch 999.900 Stück absetzt, dann ist das anders zu beurteilen, als wenn es statt 200 Stück nur noch 100 Stück absetzt. Klarer Fall: Es ist geschickter, wenn wir den Rückgang der nachgefragten Menge in Prozent angeben; sinkt die Nachfrage um 10 Prozent, dann ist das anders zu beurteilen, als wenn sie um 90 Prozent sinkt. Wäre das unsere Maßzahl: Sinkt der Preis um einen Euro, dann sinkt die Menge um so und soviel Prozent? Nein, und warum ist rasch geklärt: Ein Preisrückgang von einem Euro ist viel, wenn das Produkt zwei Euro kostet und wenig, wenn das Produkt 50.000 Euro kostet. Also ist es sicherlich geschickter, wenn wir die Veränderung des Preises nicht in Euro-Beträgen angeben, sondern – wie auch die Veränderung der nachgefragten Menge – in Prozent. Und das ist unsere Maßzahl, die Elastizität, genauer gesagt die Preiselastizität der Nachfrage: Sie gibt an, um wie viel Prozent sich die Nachfrage ändert, wenn der Preis sich um einen bestimmten Prozentsatz verändert. Jetzt müssen wir das Ganze nur noch etwas präziser machen. Dazu setzen wir einfach die beiden Prozentzahlen ins Verhältnis zueinander: Wir dividieren die prozentuale Änderung der nachgefragten Menge (wie wir gesehen haben, nutzt die absolute Menge nichts) durch die prozentuale Änderung des Preises (auch hier haben wir gesehen, dass die absolute Veränderung des Preises wenig Aussagekraft hat). Das also ist unsere Preiselastizität der Nachfrage: Die prozentuale Veränderung der nachgefragten Menge dividiert durch die prozentuale Veränderung des Preises. Ein einfaches Beispiel: Steigt der Preis um sagen wir fünf Prozent und die nachgefragte Menge sinkt daraufhin um 10 Prozent, so teilen wir 10 durch 5 und erhalten als Maßzahl 2 – die Elastizität ist also 2. Wie muss man diese Maßzahl interpretieren? Am einfachsten ist es, wenn man einmal annimmt, dass sich der Preis um ein Prozent ändert und die nachgefragte Menge um zwei Prozent – dann ist unsere Elastizität auch zwei. Jetzt ist die Interpretation einer Elastizität von zwei einfach – und so allgemeingültig: Die Preiselastizität der Nachfrage gibt an, um wie viel Prozent sich die nachgefragte Menge ändert, wenn sich der Preis um ein Prozent ändert. Nehmen wir noch einmal das obige Beispiel: Steigt der Preis um sagen wir fünf Prozent und die nachgefragte Menge sinkt daraufhin um 10 Prozent, so beträgt die Elastizität zwei. Das bedeutet: Steigt der Preis um ein Prozent, so sinkt die Nachfrage um zwei Prozent. Bezogen auf das Beispiel stimmt das auch: Der Preis steigt um fünf Prozent, die nachgefragte Menge sinkt um das doppelte (das Zweifache). Fehlt nur noch eine Kleinigkeit, das lästige Minus: Wenn der Preis steigt, dann sinkt die Nachfrage, also muss ein Minus vor die prozentuale Veränderung der Nachfrage. Damit ist die Preiselastizität der Nachfrage also minus zwei; nämlich minus 10 Prozent dividiert durch plus fünf Prozent (der Preis steigt ja, also muss da ein Plus hin).
3 Der ökonomische Werkzeugkasten: Elastizitäten, Konsumenten- und Produzentenrente
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Das also ist unsere Elastizität: die prozentuale Veränderung der nachgefragten Menge, dividiert durch die prozentuale Veränderung des Preises. In einem nächsten Schritt wollen wir diese Zahl einmal in einer Grafik anhand unserer Nachfragekurve darstellen – das wird uns Aufschluss darüber geben, in welchem Zusammenhang die Elastizität und die Nachfragekurve stehen. Das sehen wir in der nebenstehenden Abbildung. Nehmen wir an, der Preis sinkt von 5 auf 4 Euro; laut Nachfragekurve steigt die nachgefragte Menge von 90 auf 100. Damit können wir die Elastizität ausrechnen: Der Rückgang des Preises von 5 auf 4 bedeutet einen Rückgang des Preises um 20 Prozent (20 Prozent von 5 ist genau 1); der Anstieg der Menge von 90 auf 100 bedeutet einen Anstieg um 11,11 Prozent (11,11 Prozent von 90 ist 9,999, also fast 10). Unsere Elastizität beträgt dann also 11,11 dividiert durch minus 20, macht minus 0,55. Das bedeutet: sinkt der Preis um ein Prozent, so steigt die nachgefragte Menge um 0,55 Prozent. So also berechnet man die Elastizität – jedenfalls fast. Ein kleines Problem gibt es allerdings dabei: Nehmen wir einmal an, wir berechnen die Elastizität in Abbildung 9 nicht wie oben für den Fall, dass der Preis von 5 auf 4 Euro sinkt, sondern von 4 auf 5 Euro steigt (und die nachgefragte Menge von 100 auf 90 sinkt). Berechnen wir erneut die Elastizität: Der Preis steigt um 25 Prozent (25 Prozent von vier ist eins), die Menge sinkt um 10 Prozent (10 Prozent von 100 Euro sind 10). Damit ist unsere Elastizität minus 10 dividiert durch 25, also minus 0,4. Oben allerdings hatten wir gesehen, dass die Elastizität minus 0,55 beträgt, wenn der Preis von 5 auf 4 Euro sinkt – wie erklärt sich diese Diskrepanz? Ganz einfach: Die Prozentzahlen beziehen sich auf unterschiedliche Ausgangswerte. Sinkt der Preis um einen Euro von 5 auf 4 Euro, dann sind das 20 Prozent von 5 Euro; steigt er um einen Euro von 4 auf 5 Euro, so sind das 25 Prozent von 4 Euro. Das gleiche Problem ergibt sich auf der Mengenseite. Das ist natürlich ein Problem: Je nachdem, ob der Preis sinkt oder steigt, ergibt sich eine andere Elastizität. Um dieses Dilemma zu beheben, wenden wir einen einfachen Trick an. Der Trick ist einfach: Die Unterschiede in der Berechnung der Elastizität entstehen dadurch, dass man die Veränderung des Preise (die in beiden Fällen die gleiche ist) auf jeweils unterschiedliche Werte (einmal 5, einmal 4) bezieht. Um dieses Problem auszuschließen, nehmen wir einfach den Durchschnitt der beiden Werte, in unserem Beispiel also beim Preis die Zahl 4,5 (das ist genau die Hälfte zwischen 4 und 5). Und den gleichen Trick wenden wir auf der Mengenseite an. Und so berechnen wir dann unsere Elastizität, die in der Fachsprache Bogenelastizität heißt (siehe folgende Abbildung): 1. zuerst berechnen wir die prozentuale Veränderung des Preises: ein Euro (die Preisveränderung), dividiert durch den durchschnittlichen Preis (also 5 plus 4 dividiert durch 2, das ergibt die Hälfte, also 4,5) 2. dann berechnen wir die prozentuale Veränderung der Menge: zehn Stück (die Veränderung der nachgefragten Menge), dividiert durch
Preis N 5
4
90
100
Menge
Abbildung 9: Elastizität und Nachfragekurve
Teil 1: Mikroökonomie
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die durchschnittliche Menge (also 100 plus 90 dividiert durch 2, das ergibt die Hälfte, also 95)
Preis
3. Anschließend dividieren wie die Zahl aus 2. durch die Zahl aus 1.; das ergibt die Bogenelastizität.
5 4,5 4
90 95 100 Menge Abbildung 10: Berechnung der Bogenelastizität
Bei der Bogenelastizität spielt es also keine Rolle mehr, ob der Preis sinkt oder steigt; indem wir zur Berechnung der prozentualen Veränderung des Preises (und der Menge) die absolute Veränderung auf den Durchschnitt beziehen, eliminieren wir diese Fehlerquelle. Deswegen lautet die korrekte Interpretation der Bogenelastizität: Sie gibt an, um wie viel Prozent sich die Nachfrage ändert, wenn sich der Preis um ein Prozent ändert (wir vermeiden hier also die Begriffe „steigen“ und „fallen“, sondern sprechen nur von „ändern“). Das Minuszeichen allerdings bleibt erhalten, weil sich grundsätzlich nichts daran ändert, dass Preis und Menge sich gegensätzlich entwickeln – steigt (sinkt) der Preis, dann sinkt (steigt) die Menge. Eine der beiden Prozentzahlen wird also immer ein Minus tragen, damit wird die Preiselastizität der Nachfrage immer negativ sein.
Arbeitsauftrag 12 Berechnen Sie die Elastizitäten in der Tabelle. Erstellen Sie zu diesem Zweck eine Excel-Tabelle – das erleichtert Ihnen das Leben ungemein.
Oscar
Tabelle 6: Übungstabelle zur Berechnung von Elastizitäten
Angela
Preis
Nachgefragte Menge
Preis
Nachgefragte Menge
2
20
2
19
4
15
4
18
6
12
6
18
8
11
8
12
10
5
10
4
Jetzt bleibt noch eine Frage offen: In welchen Zusammenhang stehen die Nachfragekurve und die Elastizität? Kann man der Nachfragekurve ansehen, welche Elastizität vorliegt? Ein wenig schon, wie die folgende Abbildung 11 zeigt. Hier sind zwei Nachfragekurven eingezeichnet; eine dunkle und eine helle Nachfragekurve; wobei letztere flacher verläuft. Anhand der Achsenwerte können wir nun die Elastizität zwischen den Preisen 4 und 5 Euro ausrechnen. Bei der dunklen Nachfragekurve N1 beträgt
3 Der ökonomische Werkzeugkasten: Elastizitäten, Konsumenten- und Produzentenrente
die Elastizität minus 0,19; bei der hellen Nachfragekurve N2 minus 1,6.1 Wie wir sehen, verläuft die helle Kurve mit der betragsmäßig größeren Elastizität flacher als die dunkle Kurve. Das ist logisch, denn die Nachfrageelastizität ist ja ein Maß dafür, wie stark die nachgefragte Menge sich ändert, wenn sich der Preis ändert – und das ist eindeutig bei der hellen Kurve der Fall – ändert sich der Preis um einen Euro, dann ändert sich die Menge dort um 40 Stück, bei der dunklen Kurve ändert sich die Nachfrage nur um 4 Stück, und genau das bringen die Kurven zum Ausdruck. Wir können also festhalten, dass der absolute Betrag der Elastizität (wir ignorieren also das Minuszeichen) umso kleiner (größer) ist, je steiler (flacher) die Kurve verläuft.2 Die Abbildung zeigt zwei extreme Nachfragekurven, die diesen Gedanken verdeutlichen. Die Nachfragekurve N2 ist eine Senkrechte – ändert sich der Preis, dann ändert sich die Nachfrage gar nicht – das kennen wir schon von der Nachfrage nach Drogen. Die Elastizität beträgt in diesem Falle Null, Ökonomen sprechen von einer vollständig unelastischen Nachfrage. Das Gegenteil dazu ist die helle Nachfragekurve, die eine Parallele zur Mengenachse ist. Hier ist die Nachfrageelastizität unendlich groß (würde sich der Preis nur um eine kleine Einheit ändern, würde die Nachfrage sofort unendlich groß werden oder völlig entfallen); Ökonomen sprechen von einer vollständig elastischen Nachfrage. Diese Bezeichnungen sind einleuchtend: Ist die Nachfrage unelastisch, dann reagiert sie nur wenig auf eine Veränderung des Preises, reagiert sie sehr heftig, ist sie elastisch. Wir können sogar eine mathematische Grenze definieren, welche die elastische von der unelastischen Nachfrage trennen, und das ist die eins (lassen Sie uns im folgenden das Minus vernachlässigen). Ist die Nachfrageelastizität kleiner als eins, so sprechen Ökonomen von einer unelastischen Nachfrage. Auch das ist einleuchtend: Ist die prozentuale Veränderung der Menge geringer als die prozentuale Veränderung des Preises, und dividieren wir die beiden Prozentzahlen durcheinander, dann kommt dabei ein Wert kleiner als Eins heraus. Die gleiche Überlegung gilt für eine Elastizität größer als Eins: Die prozentuale Änderung der nachgefragten Menge ist größer als die prozentuale Änderung des Preises, und wenn wir die prozentuale Mengenänderung durch die prozentuale Preisänderung dividieren, dann kommt dabei ein Wert heraus, der größer als Eins ist. Die Grenze, also eine Elastizität von Eins, bezeichnet man als isoelastische 1
2
Ok, hier die Berechnung: Der Preis ändert sich in beiden Fällen um 22 Prozent, nämlich ein Euro dividiert durch (5+4)/2 Euro. Die Menge bei der dunklen Kurve ändert sich um 4,35 Prozent (die Nachfrage ändert sich um 4 Stück, bezogen auf (90+94)/2 macht das 4,35 Prozent). Die Menge bei der Kurve N2 ändert sich um 36,36 Prozent (die Nachfrage ändert sich um 40 Stück, bezogen auf (130+90)/2 macht das 36,36 Prozent). Das macht dann 4,35/22 = 019 bei der dunklen Kurve und 36,36/22 = 1,6 (die Minuszeichen haben wir jetzt aus Bequemlichkeit weggelassen). Eine Warnung an mathematisch versiertere Leser: Die Elastizität ist aber nicht gleich der Steigung einer Kurve. Um diesen Unterschied zu erläutern, braucht man etwas mehr Mathematik; man schlage dazu in fortgeschrittenen Lehrbüchern unter dem Stichwort „Punktelastizität“ nach.
Preis
55
N1
5
N2
4
90 94 Menge
130
Abbildung 11: Elastische und unelastische Nachfrage
Preis N2
N1
Menge
Abbildung 12: Völlig elastische Nachfrage (N1), völlig unelastische Nachfrage (N2)
Teil 1: Mikroökonomie
56
Nachfrage: ändert sich der Preis um sagen wir zehn Prozent, und ändert sich die Menge daraufhin ebenfalls um zehn Prozent, dann beträgt die Elastizität Eins und ist isoelastisch.
Arbeitsauftrag 13 Beobachten Sie Ihr eigenes Konsumverhalten – wie reagieren Sie auf eine Veränderung der Preise Ihrer bevorzugten Produkte? Registrieren Sie diese überhaupt immer? Und wenn nein, warum kann das dennoch ein ökonomisches Verhalten sein, nicht alle Preise aller Produkte ständig zu beobachten?
Weitere Elastizitäten. Ein letztes Wort, bevor wir uns zwei Anwendungen zur Idee der Elastizität ansehen: Die Nachfrageelastizität, die wir hier berechnet haben (auch als Preiselastizität der Nachfrage bezeichnet) ist eigentlich negativ, da ja die Nachfrage in der Regel sinkt, wenn der Preis steigt, respektive steigt, wenn der Preis sinkt. Eine der beiden Größen ist also in der Regel immer negativ. Wenn wir also von nun ab von der Preiselastizität der Nachfrage sprechen, so sprechen wir immer nur von den absoluten Werten und ignorieren das Minuszeichen, das eigentlich dazu gehört. Bei einigen anderen Elastizitäten hingegen spielt das Vorzeichen der Elastizitäten eine wichtige Rolle und darf nicht ignoriert werden.
Wie elastisch ist das alles?
Andere Elastizitäten? Genau. Die Idee der Elastizität kann man universell auf viele andere Zusammenhänge anwenden, denn das grundsätzliche Konzept ist immer das gleiche: prozentuale Veränderung einer Variable (reagierende Variable) dividiert durch die prozentuale Veränderung einer anderen Variable (die auslösende Variable). Genauso ist auch die Nachfrageelastizität definiert: prozentuale Veränderung der Nachfrage (reagierende Variable) dividiert durch prozentuale Veränderung des Preises (auslösende Variable). Dieses Konzept lässt sich auf andere Sachverhalte ausweiten, beispielsweise:
Die Preiselastizität des Angebots. Das ist die prozentuale Veränderung der angebotenen Menge dividiert durch die prozentuale Veränderung des Preises. Eine Angebotselastizität von beispielsweise 2 besagt dann, dass sich die angebotene Menge um 2 Prozent ändert, wenn sich der Preis um ein Prozent ändert. Diese Elastizität dürfte in der Regel stets positiv sein (warum?).
Die Einkommenselastizität der Nachfrage. Das ist die prozentuale Veränderung der Nachfrage, dividiert durch die prozentuale Veränderung des Einkommens. Eine Einkommenselastizität von 2 besagt, dass sich die Nachfrage um 2 Prozent ändert, wenn sich das Einkommen um ein Prozent ändert. Hier spielt das Vorzeichen der Elastizität eine wichtige Rolle: In der Regel nehmen wir an, dass die Nachfrage nach einem Gut steigt, wenn das Einkommen steigt – dann ist die Einkommenselastizität positiv (ist die Einkommenselastizität größer als eins, spricht man von superioren Gütern). Es gibt aber auch Güter, die mit steigen-
3 Der ökonomische Werkzeugkasten: Elastizitäten, Konsumenten- und Produzentenrente
57
dem Einkommen immer weniger nachgefragt werden, beispielsweise Schuhreparaturen (wenn das Einkommen steigt, werden die Menschen eher neue Schuhe kaufen statt die alten noch einmal reparieren zu lassen). In diesem Fall – man spricht auch von inferioren Gütern – ist die Einkommenselastizität negativ.
Die Kreuzpreiselastizität. Das ist die prozentuale Veränderung der Nachfrage nach Gut 1, dividiert durch die prozentuale Veränderung des Preises von Gut 2. Die Kreuzpreiselastizität gibt damit die Beziehung zwischen zwei Gütern wider. Steigt beispielsweise die Nachfrage nach Coca-Cola um 2 Prozent, wenn der Preis von Pepsi um ein Prozent steigt, dann beträgt die Kreuzpreiselastizität von Coke zu Pepsi 2 und ist positiv – gut für Coke, schlecht für Pepsi (solche Güter nennt man auch Substitutionsgüter, weil man das eine Gut durch das andere ersetzen, also substituieren kann). Es gibt aber auch Güter, bei denen die Kreuzpreiselastizität negativ sein kann: Steigen die Preise für Kameras, dann sinkt die Nachfrage nach Filmen. Solche Güter nennt man komplementär. Es gibt noch viele weitere Elastizitäten, die sich alle nach dem gleichen Prinzip berechnen lassen und in der Praxis sehr nützlich sind. Beispielsweise im Marketing ist die Kenntnis der Elastizitäten sehr wichtig, die Preiselastizität der Nachfrage sagt den Unternehmen, was sie im Falle einer Preiserhöhung zu erwarten haben; die Kreuzpreiselastizität sagt ihnen, was passiert, wenn die Konkurrenz die Preise verändert, und die Einkommenselastizität sagt ihnen, was passiert, wenn eine Rezession kommt und die Einkommen ihrer Kunden sinken.
Arbeitsauftrag 14 Nennen Sie Beispiele für Güter, deren Einkommenselastizität positiv (negativ) ist. Nennen Sie Beispiele für Güter mit positiven (negativen) Kreuzpreiselastizitäten. Gibt es Güter mit einer positiven Preiselastizität der Nachfrage?
Nicht nur in der Marktforschung, auch in der Wirtschaftspolitik spielen Elastizitäten eine wichtige Rolle, wie wir gleich sehen werden. Die Kreuzpreiselastizität beispielsweise findet Anwendung in der Wettbewerbspolitik und im Wettbewerbsrecht – sie zeigt, wie intensiv der Wettbewerb in einer Branche ist. Die Preiselastizität der Nachfrage zeigt, wie abhängig die Konsumenten von einem Produkt sind – was möglicherweise dem Anbieter Ausbeutungschancen eröffnet, was den Staat dazu veranlassen kann, einzuschreiten. Im Falle von Drogen beispielsweise ist die Preiselastizität der Nachfrage Null, was bedeutet, dass der Konsument keine Freiheit mehr hat zu entscheiden, ob er Drogen konsumieren will oder nicht – er muss. Das ist eine Rechtfertigung für einen staatlichen Eingriff, den wir uns nun noch einmal etwas detaillierter anschauen können.
Welche Kreuzpreiselastizität hat denn dieses Produkt?
Teil 1: Mikroökonomie
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Denksportaufgabe 7 Sie sind Besitzer einer Eisdiele und untersuchen, wie sich die Nachfrage nach Eiscreme mit steigenden Temperaturen verändert. Um das Verhalten der Kunden in einer Kennzahl zu beschreiben, verwenden Sie die Temperaturelastizität der Eisnachfrage – wie berechnet sich diese Elastizität?
Eine gutgehende Eisdiele
Eine Anwendung: Ein zweiter Blick auf Drogenpolitik. Im vorherigen Kapitel haben wir bereits über Drogenpolitik gesprochen und gesehen, dass es zwei Ansatzpunkte in der Drogenpolitik gibt: Die Angebotsseite und die Nachfrageseite. Nachfrageseitige Politik besteht darin, Aufklärungspolitik zu betreiben und damit die Nachfragekurve nach links zu verschieben; Politik auf der Angebotsseite bedeutet, dass man die Strafen für Dealer erhöht und damit die Angebotskurve nach oben verschiebt. Diese Politikoptionen haben wir bereits durchgespielt und interessante Ergebnisse erhalten, nun können wir dieses Problem noch einmal etwas differenzierter betrachten, indem wir zwischen harten und weichen Drogen unterscheiden – mit Hilfe des Konzepts der Elastizitäten. Harte Drogen sind solche, bei denen die Nachfrage vollständig unelastisch ist, die Nachfragekurve also eine Senkrechte ist. Weiche Drogen hingegen zeichnen sich dadurch aus, dass die Konsumenten nicht süchtig sind, also auf Preisveränderungen reagieren – die Nachfrage ist elastischer, die Nachfragekurve hat also eine positive Steigung, so wie die Nachfragekurve Nw in Abbildung 13. Die Nachfragekurve NH ist also die uns bereits bekannte Nachfrage nach harten Drogen, und ist das Aufklärungsprogramm erfolgreich, so wird sich diese langfristig nach NH1 verschieben; die konsumierte Menge sinkt, der Preis sinkt von P1 auf P2, solange die Angebotskurve A unverändert bleibt, und die Menge sinkt von m1 auf m2.
Preis NW
NH1
NH
NW1
A
p¹ p³ p² m² m³ m¹
Abbildung 13: Aufklärungspolitik bei harten und weichen Drogen
Und jetzt der interessante Vergleich: Aufklärungspolitik bei weichen Drogen verschiebt ebenfalls die Nachfragekurve Nw nach Nw1, die konsumierte Menge sinkt in der Tat, aber der Preis sinkt nicht wie bei den harten Drogen auf P2, sondern auf P3, der höher liegt. Zudem zeigt die Grafik, dass die konsumierte Menge nicht so stark sinkt wie im Falle der Aufklärungspolitik bei harten Drogen – sie sinkt nur auf m3 statt auf m2 wie im Falle der harten Drogen. Der Grund dafür ist einfach: mit der Verschiebung der Nachfragekurve sinkt die Nachfrage nach weichen Drogen und die Anbieter senken ihre Preise. Anders aber als im Falle der harten Drogen (bei denen die Nachfrage auf die sinkenden Preise nicht reagiert, weil sie unelastisch ist), führt der Rückgang des Preises bei elastischer Nachfrage dazu, dass diese wieder ein wenig ansteigt, was den positiven Effekt der Aufklärungspolitik konterkariert. Das Ergebnis: Bei weichen Drogen senkt Aufklärungspolitik die konsumierte Menge weniger als bei harten Drogen, ist also weniger wirksam.
3 Der ökonomische Werkzeugkasten: Elastizitäten, Konsumenten- und Produzentenrente
59
Wie sieht es mit der Politik auf der Angebotsseite aus? Erhöhen wir die Strafen für Drogenhandel, so verschiebt sich die Angebotskurve A nach A1, das passiert in Abbildung 14. Was bei harten Drogen passiert, wissen wir bereits: Der Preis steigt auf p2, aber die konsumierte Menge ändert sich nicht, da die Nachfrage ja unelastisch ist. Anders hingegen bei weichen Drogen (Nachfragekurve Nw): Verschiebt sich die Angebotskurve nach links, so steigt der Preis der Drogen auf P3, dadurch sinkt auch die Nachfrage (die ja nicht vollkommen unelastisch ist), und die konsumierte Menge sinkt auf m2. Das Ergebnis: Strafverfolgung ist bei harten Drogen wirkungslos, zeigt aber bei weichen Drogen Wirkung. Als Fazit gilt es also festzuhalten, dass Drogenpolitik auch differenzieren muss nach der Art der Drogen, um die es geht.
Preis
Es bleibt noch eine heikle Frage: Soll der Staat weiche Drogen verbieten – oder zulassen? Bei harten Drogen gibt es ein gutes Argument für staatliche Eingriffe – wer süchtig ist, ist nicht mehr Herr seiner eigenen Handlungen. In Kapitel 2 hatten wir gesagt, dass Märkte nur dann funktionieren, wenn Freiheit und rationales Handeln vorliegen. Ein Süchtiger hat nicht mehr die Freiheit, nein zu sagen, und man muss auch bezweifeln, dass sein Verhalten noch rational ist. Möglicherweise handeln Menschen ja auch schon irrational oder zumindest unverantwortlich, wenn sie beginnen Drogen zu nehmen. Das sind Gründe, mit denen man staatliche Eingriffe bei harten Drogen rechtfertigen kann (aber nicht muss, es gibt Menschen, die dies dennoch ablehnen). Aber wie ist das bei weichen Drogen, von denen man nicht süchtig wird? Die Konsumenten haben die Freiheit, nein zu sagen (ihre Nachfrage ist elastisch, sie sind also nicht süchtig), und es kann durchaus rational sein, ein wenig Rausch zu genießen, auch wenn es nicht sonderlich gesund ist. Soll der Staat also weiche Drogen zulassen? Ökonomisch können wir diese Frage nicht beantworten, diesen Punkt werden wir noch einmal in Kapitel 9 aufgreifen, wenn wir über Alkohol und Tabak sprechen.
Abbildung 14: Strafverfolgung bei harten und weichen Drogen
Wir werden im nächsten Kapitel noch einige Beispiele anschauen, in denen die Elastizität für die Wirtschaftspolitik eine wichtige Rolle spielt – doch zuvor benötigen wir noch ein weiteres wichtiges Konzept für die Wirtschaftspolitik, die Konsumenten- und Produzentenrente. Zum Abschluss aber noch eine nette betriebswirtschaftliche Anwendung der Elastizität – die Geschichte vom Baumwollkapselwurm.
In der Praxis: Der Baumwollkapselwurm Zwischen 1915 und 1918 zerstörte der Baumwollkapselwurm (Anthonomus grandis), der aus Mexico in die Vereinigten Staaten eingeschleppt wurde, die Baumwollernten der Farmer im Örtchen Enterprise (Alabama). Im Dezember 1919 wurde an der Kreuzung von College und Main Street, im Herzen des Geschäftsviertels der Stadt, ein Denkmal errichtet, das an den Wurm erinnert. Die Statue wurde in Italien angefertigt und kostete knapp 1800 Dollar. Es ist die einzige Statue weltweit, die zu Ehren eines Schädlings errichtet
NW
NH
p²
A1 A
p3 p¹
m²
m¹
Teil 1: Mikroökonomie
60
Der gemeine Baumwollkapselwurm
A
A’
P2
N
B
P1
0
A
M2
M1
Menge
Abbildung 15: Der Baumwollkapselwurm und die Elastizitäten.
wurde. Der Grund: zunächst einmal sorgte der Wurm dafür, dass die Farmer ihre Baumwollmonokultur beendeten und auch andere Produkte anbauten, was sie von solchen Katastrophen unabhängiger machte (im Jargon der Finanzbranche nennt man das „Diversifizierung“). Der zweite mögliche Grund hat wohl etwas mit Elastizitäten zu tun: Geht das Angebot an Baumwolle wegen des Wurmbefalls zurück (die Angebotskurve verschiebt sich nach links), und geht die Nachfrage nur gering zurück (weil sie unelastisch ist), führt das dazu, dass der Preis für Baumwolle steigt, weil die Konsumenten bereit sind, höhere Preise zu zahlen (eben weil ihre Nachfrage unelastisch ist). Das führt dann dazu, dass zwar die verkaufte Menge an Baumwolle sinkt, aber der Preis überproportional steigt – unter dem Strich steigen dadurch die Umsätze. Statt 100 Tonnen Baumwolle zu einem Dollar verkauft man dann 60 Tonnen zu zwei Dollar; der Umsatz steigt – dank des Baumwollkapselwurms und der unelastischen Nachfrage. Sie finden das Denkmal unter http://www.cityofenterprise.net/Default.asp?ID=91.
Und so wirkt der Baumwollkapselwurm: Die Zerstörung der Ernten verschiebt die Angebotskurve A nach links auf A’; die Nachfragekurve bleibt unverändert (Die Angebotskurve ist eine Senkrechte, weil das Angebot kurzfristig völlig unelastisch ist – man kann nur einmal im Jahr ernten). Die Umsätze der Farmer vor dem Schädlingsbefall belaufen sich auf M1 mal P1; eben verkaufte Menge mal Umsatz. Nach dem Einfall des Wurms sinkt die verkaufte Menge auf M2, der Preis steigt auf P2, der neue Umsatz ist M2 mal P2. Aus der Geometrie wissen wir, dass man die Fläche eines Rechtecks berechnet, indem man seine Länge mit der Breite multipliziert. Deswegen können wir sagen, dass der Umsatz der Farmer vor dem Schädlingsbefall durch das Rechteck dargestellt wird, das sich ergibt, wenn man die Punkte 0, P1, A und M1 miteinander verbindet (nämlich Länge des Rechtecks, also die Menge, mal dessen Breite, also der Preis). Der neue Umsatz ergibt sich dann durch das Rechteck 0, P2, B und M2 (also M2 mal P2), und wie man sehen kann, ist dieses Rechteck größer als das alte Rechteck, der neue Umsatz also größer. Das liegt aber nur daran, dass die Nachfragekurve steil ist. Versuchen Sie es: Zeichnen sie die Nachfragekurve in der Grafik flacher (ist die Nachfrage also elastisch), dann wird das neue Rechteck, das sich ergibt, wenn sich die Angebotskurve verschiebt, kleiner als das alte Rechteck (also der alte Umsatz). Konsumenten- und Produzentenrente: Um was geht es? Mit der Idee der Konsumenten- und Produzentenrente wollen wir uns ein Instrument schaffen, mit dessen Hilfe wir die Wohlfahrtswirkungen von Wirtschaftspolitik untersuchen wollen. Wie wir bereits im ersten Kapitel gesehen haben, ist es das Ziel der Volkswirte, den Menschen zu helfen, das Beste aus ihrem Leben zu machen, ihren Nutzen, ihre Wohlfahrt zu maximieren. Mit dem Instrument der Konsumenten- und Produzentenrente können wir untersu-
3 Der ökonomische Werkzeugkasten: Elastizitäten, Konsumenten- und Produzentenrente
chen, welche Folgen Wirtschaftspolitik auf Märkten für die Wohlfahrt der Bürger hat. Wenn wir also im nächsten Kapitel beispielsweise Mindestlöhne einführen, dann können wir anhand dieser Werkzeuge erkennen, wer von dieser Maßnahme profitiert und wer nicht, und wir können sehen, ob wir die Gesamtwohlfahrt des Landes damit steigern oder reduzieren. Konsumenten- und Produzentenrente sind also ein einfaches Mittel, um die Wohlfahrtsfolgen der Politik für alle Bürger des Landes sichtbar zu machen und zu analysieren. Doch bevor wir das machen, müssen wir natürlich erst erklären, wie man eine Konsumenten- und Produzentenrente ermittelt. Die Konsumentenrente. Die Konsumentenrente soll zeigen, wie Bürger von der Teilnahme an einem Markt profitieren. Dazu machen wir eine erste Überlegung: Wie können wir den Nutzen messen, den ein Konsument von einem Produkt hat, das er auf dem Markt gekauft hat? Am einfachsten über seine Zahlungsbereitschaft: Wir fragen ihn, was er bereit wäre, für dieses Gut zu bezahlen. Ist er beispielsweise willens, für ein Buch maximal 5 Euro zu bezahlen, dann können wir den Nutzen, den er von diesem Buch hat, mit 5 Euro ansetzen. Wenn er aber Glück hat und das Buch nicht für 5, sondern für sagen wir 2 Euro erwirbt, dann steigert das sein Wohlbefinden (seine Wohlfahrt) erheblich: Obwohl er bereit gewesen wäre, 5 Euro zu zahlen, muss er nur 2 Euro zahlen – der Kauf des Buches hat seine Wohlfahrt unter dem Strich um 3 Euro gesteigert (er hat 2 Euro gezahlt, aber seinen Nutzen um 5 Euro gesteigert – wir hatten ja gesagt, dass seine Zahlungsbereitschaft den Nutzen repräsentiert, den er aus dem Buch zieht). Und dieser Anstieg seiner Wohlfahrt um 3 Euro, das ist seine Konsumentenrente. Diese Idee lässt sich auch anhand unserer Nachfragekurve in Abbildung 16 erläutern, und zwar für alle Teilnehmer auf einem Markt. Dazu wollen wir vereinfachend annehmen, dass jeder unserer Käufer auf unserem Markt jeweils nur ein Stück des Gutes (unseres Buches) kaufen will (diese Annahme ändert nichts an den Ergebnissen unserer Überlegungen). Dann wäre da unser erster Käufer: Er ist bereit, 5 Euro für das Buch zu zahlen – das ist seine Zahlungsbereitschaft. Das zeichnen wir nun in Abbildung 16 als Punkt A ein; er zeigt, dass bei einem Preis von 5 Euro Käufer A genau ein Buch kauft. Lassen Sie uns annehmen, dass zu diesem Preis nur er genau ein Buch kauft. Den Nutzen von Kunde A können wir nun in Abbildung 16 ablesen: Es ist das Rechteck, das wir erhalten, wenn wir die Punkte 0, 5, A und 1 miteinander verbinden. Die Begründung dafür ist eine geometrische: Die Fläche eines Rechtecks berechnet sich, indem man seine Länge mit der Breite multipliziert. In unserem Fall ist die Länge des Rechtecks der Preis, den Konsument A bereit ist zu zahlen, also 5 Euro; die Breite des Rechtecks ist die Anzahl der nachgefragten Bücher, also eins, macht zusammen einen Nutzen von fünf Euro mal einem Buch, also 5 Euro (würde Konsument A zwei Bücher kaufen, dann wäre sein Nutzen natürlich 10, und das Rechteck doppelt so breit). Neben dem Nutzen des Buches für den Konsumenten können wir nun in der Abbildung auch seine Konsumentenrente einzeichnen. Muss er für das Buch – wie in Abbildung 16 eingezeichnet – vier Euro zahlen, so beträgt seine Konsumentenrente ein Euro (vier Euro Preis minus
61
Teil 1: Mikroökonomie
62
Preis 5 1
4
seine maximale Zahlungsbereitschaft von fünf Euro). Dieser eine Euro ist Rechteck Nummer 1 in Abbildung 16, respektive dessen Fläche – ein Buch mal ein Euro (Höhe mal Breite). Die rechteckige Fläche (mit der Ziffer 1 gekennzeichnet) zwischen dem Punkt A (der die Zahlungsbereitschaft des Kunden A markiert) und dem Preis von vier Euro repräsentiert also die Konsumentenrente des Kunden A. Das ist der Nettowohlfahrtsgewinn, den er beim Kauf des Buches erfährt.
A B
2
3
3 2
0
5 3 4 Nachgefragte Menge
2
1
Abbildung 16: So entsteht die Konsumentenrente
Nun ergänzen wir unsere Abbildung, indem wir einen weiteren Konsumenten hinzunehmen: Unser Preis waren 4 Euro, unser Käufer A kauft ein Buch. Jetzt kommt Käufer B hinzu: 5 Euro waren ihm zu teuer, weswegen er zu diesem Preis kein Buch kaufen würde, aber bei 4 Euro greift er zu. Damit werden zu einem Preis von 4 Euro insgesamt zwei Bücher nachgefragt; jeweils eines von A und von B – das können wir auch auf der Achse der Abbildung ablesen. Den Nutzen, den B aus dem Buch zieht, das zu er vier Euro kauft, können wir wieder in der Abbildung ablesen: Kauft Käufer B das Buch zu 4 Euro, so ist seine Konsumentenrente gleich Null – vier Euro ist ihm das Buch wert, vier Euro bezahlt er. Erst wenn der Preis des Buches sinkt, auf sagen wir drei Euro, dann hat er eine positive Konsumentenrente, sie beträgt dann vier Euro Nutzen minus drei Euro Preis gleich ein Euro; also das Rechteck Nummer 3. Ist der Preis aber auf drei Euro gesunken, dann passiert auch etwas mit der Konsumentenrente von Käufer A: Muss er auch nur drei Euro zahlen (was wir hier unterstellen wollen), so steigt seine Konsumentenrente auf fünf minus drei Euro, also zwei Euro; in der Abbildung dargestellt durch das Rechteck Nummer 1 plus Rechteck Nummer 2. Rechteck 1 ist die alte Konsumentenrente bei einem Preis von vier Euro, Rechteck 2 ist der Zugewinn an Konsumentenrente, der entsteht, wenn der Preis des Buches sinkt. Die gesamte Konsumentenrente, also die Konsumentenrente beider Käufer, beträgt bei einem Preis von drei Euro genau drei Euro: zwei Euro für Käufer A, ein Euro für Käufer B – das sind alle drei Rechtecke zusammen.
Preis A 5 1
N B
4 2 3
C
3 4 5
6
D
2
0
1
2
3
4 5 Nachgefragte Menge
Abbildung 17: Die Konsumentenrente und die Nachfragekurve
Nun erweitern wir unsere Abbildung, indem wir weitere Konsumenten mit noch geringerer Zahlungsbereitschaft hinzufügen: Käufer C ist bereit, drei Euro zu zahlen, Käufer D ist das Buch sogar nur zwei Euro wert. Bei einem Preis von vier oder fünf Euro kaufen weder C noch D, bei einem Preis von drei Euro kauft C (seine Konsumentenrente ist dann allerdings Null), bei einem Preis von zwei kauft auch D (seine Konsumentenrente ist nun Null, die Konsumentenrente von C beträgt bei einem Preis von zwei Euro ein Euro, Rechteck Nummer 6). Bei einem Preis von zwei Euro steigt die Konsumentenrente von A auf drei Euro (Rechtecke 1,2 und 4), die von B auf zwei Euro (Rechtecke 3 plus 5). Verbinden wir nun die Punkte miteinander, welche in der Grafik die Zahlungsbereitschaft der verschiedenen Konsumenten repräsentieren, dann erhalten wir unsere altbekannte Nachfragekurve. Natürlich: die Nachfragekurve, so wie wir sie im vorherigen Kapitel kennen gelernt haben, ist ja
3 Der ökonomische Werkzeugkasten: Elastizitäten, Konsumenten- und Produzentenrente
63
nichts anderes als eine grafische Darstellung der Zahlungsbereitschaft, des Kaufwillens aller Konsumenten. Und mit Hilfe dieser Nachfragekurve können wir nun die gesamte Konsumentenrente aller Käufer zu verschiedenen Preisen ablesen: bei einem Preis von vier Euro beträgt sie ein Euro (Rechteck Nummer 1, die Konsumentenrente von Käufer A), bei einem Preis von drei Euro genau drei Euro (Rechteck 1, 2, und 3) und bei einem Preis von zwei Euro sechs Euro (alle Rechtecke). Bei einem Preis von zwei Euro hat Käufer C eine Konsumentenrente von einem Euro (das Rechteck 6), Käufer D kauft zwar das Buch, stellt sich dabei aber Null auf Null. Damit können wir die Konsumentenrente aller Konsumenten bei einem gegebenem Preis P ermitteln, indem wir alle die Rechtecke zusammenzählen, die durch den jeweiligen Preis und die gestrichelte Nachfragekurve eingehüllt sind. Alle Konsumenten, deren Zahlungsbereitschaft auf der Nachfragekurve oberhalb des herrschenden Preises liegt, haben eine Konsumentenrente in Höhe ihrer Zahlungsbereitschaft minus des geltenden Preises – und das ist eben genau die Strecke zwischen dem Punkt, der ihre Zahlungsbereitschaft repräsentiert und dem Preis. Das also wird unsere Leitidee für die kommenden Analysen sein: Wenn wir wissen wollen, wie eine Veränderung der Verhältnisse auf einem Markt die Wohlfahrt der Konsumenten beeinflusst, dann schauen wir einfach, wie sich die Fläche zwischen dem jeweils geltenden Preis und der Nachfragekurve verändert, also unsere Konsumentenrente. Wird diese Fläche kleiner, so verlieren die Konsumenten offensichtlich einen Teil ihrer bisherigen Wohlfahrt. Das können Sie leicht überprüfen: Steigt in Abbildung 17 der Preis von zwei auf vier Euro, so sinkt unsere Konsumentenrente (die Fläche zwischen Preis und der blauen Nachfragekurve wird kleiner): Käufer B, C, und D kaufen das Produkt nun gar nicht mehr und verlieren damit ihre Vorteile – C beispielsweise war bereit, drei Euro zu zahlen und hat das Gut für zwei Euro bekommen; dieser Vorteil geht ihm nun verloren, weil das Buch nun zu teuer für ihn ist. A kauft zwar weiterhin das Buch, muss aber nun vier statt zwei Euro zahlen, was einen Teil seiner Konsumentenrente vernichtet. Preiserhöhungen reduzieren also immer die Wohlfahrt der Konsumenten (ihre Konsumentenrente). Nun lassen Sie uns noch einen letzten Schritt machen, um die Darstellung der Konsumentenrente grafisch einfacher zu machen: Wenn nun nicht vier, sondern 80 Millionen Konsumenten in unsere Grafik einzeichnen, dann werden die Rechtecke, die deren Nutzen darstellen, sehr klein, so klein, dass man sie nicht mehr auseinander halten kann. Muss man auch nicht: Stellen Sie sich einfach vor, dass die rechteckigen Säulen zu Linien werden und 80 Millionen Linien nebeneinander liegen, dann verschwinden die weißen Dreiecke in Abbildung 17 (die jeweils zwischen den Punkten A, B, C und D liegen) und wir erhalten Abbildung 18, die allgemein übliche Darstellung der Konsumentenrente: Hier zählen wir jetzt nicht mehr die einzelnen Rechtecke zusammen, sondern betrachten einfach die Fläche, die von der
5 4 3 2 1 1
2
3 4 5 Nachgefragte Menge
Abbildung 18: Die Konsumentenrente
Teil 1: Mikroökonomie
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Nachfragekurve und dem geltenden Preis eingeschlossen wird – so wie wir es oben definiert haben. Das also ist die Konsumentenrente: Grafisch erhalten Sie die Konsumentenrente, indem sie die Fläche zwischen der Nachfragekurve und dem jeweils geltenden Preis betrachten, und die Größe dieser Fläche ist ein Maß dafür, wie groß die Wohlfahrt ist, die die Konsumenten aus dem Kauf des Gutes zum jeweiligen Preis ziehen. Warum ist klar: Je größer der Abstand zwischen Nachfragekurve und Marktpreis, umso höher ist der wirtschaftliche Vorteil, den die Käufer aus dem Kauf des Produktes ziehen (denn umso größer ist der Abstand zwischen Zahlungsbereitschaft und tatsächlich gezahltem Preis), und umso größer ist auch die Fläche zwischen Nachfragekurve und Preis, also die Konsumentenrente. Jede wirtschaftspolitische Maßnahme, die den Preis eines Gutes erhöht, muss also zwangsläufig zu Lasten der Konsumentenrente gehen. Darauf werden wir zurückkommen. Doch vorher müssen wir noch die Produzentenrente erklären.
Denksportaufgabe 8 Die Fertigung des europäischen Flugzeugs Airbus war immer wieder Gegenstand hitziger Debatten darüber, ob die europäischen Regierungen den Airbus subventionieren dürfen. Amerikanische Forscher argumentieren, dass europäische Subventionen auf den Airbus die Konsumentenrente steigern – allerdings die Konsumentenrente der amerikanischen Konsumenten. Erklären Sie, warum. Was wird mit der Konsumentenrente der europäischen Konsumenten passieren, wenn der Staat Airbus subventioniert? Und warum mögen die Amerikaner trotzdem keine europäischen Subventionen auf den Airbus?
Die Produzentenrente. Bisher haben wir nur auf die Wohlfahrt der Konsumenten geschaut, aber auch die Produzenten sind ein Teil unserer Gesellschaft – wir müssen also auch über deren Wohlfahrt sprechen; zumal jeder Konsument auch irgendwo ein Produzent ist (selbst wer angestellt ist, ist ein Produzent respektive ein Anbieter von Arbeit – diesen Gedanken brauchen wir bei den Mindestlöhnen wieder). Also schauen wir uns an, wie wir die Wohlfahrt eines Produzenten messen und darstellen können – mit Hilfe der Produzentenrente. Wir können dieses Verfahren aber abkürzen, denn es funktioniert genauso wie bei der Konsumentenrente, nur eben auf der Angebotsseite. Hier verfliegen Amerikaner europäische Subventionen
Abbildung 19 erklärt die Idee der Produzentenrente. Nehmen wir an, dass es vier Produzenten auf dem Markt gibt, A, B, C, und D, die jeweils unterschiedliche Produktionskosten haben. A ist bereit, das betreffende Gut für einen Euro anzubieten, B will mindestens zwei Euro, C drei Euro, und D bietet erst ab einem Preis von vier Euro an. Bei einem Preis von einem Euro bietet also nur A an, bei einem Preis von zwei Euro bieten sowohl A als auch
3 Der ökonomische Werkzeugkasten: Elastizitäten, Konsumenten- und Produzentenrente
B an, so dass das Gesamtangebot auf zwei steigt, bei einem Preis von vier Euro beträgt das Gesamtangebot vier (Nehmen wir zur Vereinfachung an, dass jedes Unternehmen aufgrund von Kapazitätsbeschränkungen nur jeweils ein Stück herstellen kann). Wir verbinden wieder die vier Punkte und erhalten so die Angebotskurve.
Preis 5
Beträgt der Preis, den die Produzenten auf dem Markt für ihr Gut bekommen, einen Euro, so wird nur A anbieten, er wird keine Produzentenrente erhalten. Aber Vorsicht: A macht schon einen Gewinn, bei einem Preis von einem Euro erhält er seine Kosten plus einen Gewinn in Höhe seiner Opportunitätskosten. Wenn er seine Opportunitätskosten nicht erhält, dann wechselt er die Industrie und bietet etwas an, bei dem er einen höheren Ertrag erhält – seine Opportunitätskosten sind ja gerade die Erträge, die er in einer anderen Branche erzielen könnte. Steigt der Preis nun aber auf zwei Euro (wir wollen annehmen, dass jeder Produzent nur zu diesem einheitlichen Marktpreis verkauft; eine Annahme, die wir bei den Jeans zweiter Wahl dann lockern werden), so erwirtschaftet Produzent A zusätzlich zu seinem bisherigen Gewinn eine Produzentenrente in Höhe von einem Euro – das ist das Rechteck Nummer 1. Wie im Falle der Konsumentenrente nämlich können wir die Kosten der Unternehmen sowie ihre Produzentenrente grafisch darstellen; es sind die Rechtecke, die sich aus der Multiplikation der Höhe (Euro-Preis) und der Breite (Menge) ergeben. Steigt der Preis nun auf drei Euro, so steigt die Produzentenrente von A um einen Euro (um Rechteck 2) auf zwei Euro.
2
Allerdings bietet bei einem Preis von drei Euro auch nun Anbieter B an, und er erhält eine Produzentenrente von einem Euro (Rechteck 3). Er hätte schon für zwei Euro angeboten, aber ohne eine Rente abzuschöpfen, bei drei Euro bekommt er quasi durch den Marktpreis einen Euro zusätzlich geschenkt. Auch Produzent C wird bei drei Euro anbieten, seine Produzentenrente allerdings ist Null (warum?).
4 4
5
2
3
C B
1 1
A 1
2
Diesen Gedanken vervollständigen wir in Abbildung 20: Anstatt vier Anbietern nehmen wir nun an, dass sehr viele Anbieter auf dem Markt sind; die Rechtecke, welche die Produzentenrente darstellen, werden so viele und sind so eng beieinander, dass die weißen Zwischenräume aus der vorherigen Abbildung verschwinden – und so erhalten wir unsere Produzentenrente; nämlich die Fläche zwischen dem jeweils gültigen Preis und der Angebotskurve. Die Produzentenrente gibt uns darüber Auskunft, welchen Vorteil ein Produzent aus einem gegebenen Marktpreis zieht. Dabei ist diese Produzentenrente umso größer, je höher der Preis ist (warum?).
3 4 5 Angebotene Menge
Abbildung 19: So entsteht die Produzentenrente
Preis A
5
Steigt der Preis nun auf Vier Euro, so steigt auch Anbieter D ein (mit einer Produzentenrente von Null), und die Produzentenrente der anderen Anbieter steigt weiter. Die Summe aller Produzentenrenten bei einem Preis von vier Euro wird dargestellt durch die Rechtecke 1 bis 6 – also die Fläche zwischen dem Preis und der Angebotskurve.
D
6
3
65
4 3 2 1 1
2
3 4 5 Angebotene Menge
Abbildung 20: Die Produzentenrente
Teil 1: Mikroökonomie
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Arbeitsauftrag 15 Suchen Sie Beispiele dafür, wo Sie selbst durch Teilnahme an der Marktwirtschaft Ihre Konsumentenrente steigern. Versuchen Sie, die Höhe Ihrer Konsumentenrente bei einem Produkt Ihrer Wahl zu bestimmen. Sind Sie auch bisweilen Produzent? Wie hoch ist dann Ihre Produzentenrente?
Hier bahnt sich ein Konflikt an: Höhere Preise bedeuten höhere Produzentenrenten, also höhere Wohlfahrt für die Produzenten, aber (wie wir bereits gesehen haben) auch geringere Konsumentenrente, also weniger Wohlfahrt für die Konsumenten. Unser Ziel als Volkswirt besteht aber darin, die Summe der Konsumenten- und Produzentenrente zu maximieren – also die Gesamtwohlfahrt aller Bürger zu maximieren, und Bürger sind eben die Konsumenten und die Produzenten. Aber bei welchem Preis ist denn die Summe der Konsumenten- und Produzenten maximal? Die Antwort auf diese Frage gibt Abbildung 21. Dort haben wir die Konsumentenrente (helle Fläche) und die Produzentenrente (dunkle Fläche) eingezeichnet; und zwar für den Fall, dass der Gleichgewichtspreis gilt. Versuchen Sie nun Ihr Glück: Suchen Sie eine Preis-Mengen-Kombination, bei der die Summe aus Konsumenten- und Produzentenrente größer ist als im Fall des Gleichgewichts – Sie werden scheitern. Wenn dem aber so ist, dann bedeutet das, dass wir die Gesamtwohlfahrt von Konsumenten und Produzenten maximieren, wenn wir den Gleichgewichtspreis und die Gleichgewichtsmenge wählen – also das Ergebnis, das ein freier Markt ohnehin erzielt. Damit wäre klar: Märkte sind wohlfahrtsmaximierend; jedenfalls dann, wenn sie auch die Nebenbedingungen erfüllen, die wir in Kapitel 2 besprochen haben. Preis
Preis
N
A
4
1
30
1
3
2
20
5
3
10
10
4
5
20
5
1
30
5
N
A
2 1
Abbildung 21: Konsumentenrente, Produzentenrente und Marktgleichgewicht
1
5
10 Menge
20
30
Warum das so sein muss, und warum das aus volkswirtschaftlicher Sicht logisch ist, lässt sich leicht erklären; zu diesem Zweck steht neben der Grafik noch einmal Tabelle 4: Angebot und Nachfrage, aus der wir die Angebotsund die Nachfragekurve hergeleitet haben. Was passiert, wenn der Preis für das Gut nicht 3 Euro (das ist der Gleichgewichtspreis) beträgt, sondern
3 Der ökonomische Werkzeugkasten: Elastizitäten, Konsumenten- und Produzentenrente
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sagen wir zwei Euro? Die Nachfrage ist dann größer als das Angebot. Volkswirtschaftlich betrachtet ist es dann sinnvoll, die Produktion zu erhöhen, denn solange wir uns links von der Gleichgewichtsmenge befinden und die Nachfragekurve oberhalb der Angebotskurve liegt, bedeutet das, dass die Konsumenten mehr für das Produkt zahlen wollen, als es in der Herstellung kostet – also ist eine Ausweitung der Produktion (und damit des Konsums) sinnvoll. Klar: Solange mir das Produkt 5 Euro wert ist, es aber in der Herstellung nur einen Euro kostet, sollte man es herstellen, sollte man mehr davon herstellen. Und indem wir das tun, steigern wir die Gesamtwohlfahrt unserer Bürger: Die Konsumentenrente und die Produzentenrente steigen, solange wir uns von links der Gleichgewichtsmenge nähern. Aber was ist, wenn wir uns rechts von der Gleichgewichtsmenge befinden? Dann liegt die Angebotskurve über der Nachfragekurve, was bedeutet, dass die Herstellungskosten des Gutes über der Wertschätzung der Konsumenten für dieses Gut liegen. In diesem Fall ist es sinnvoll, die Produktion zu senken, denn wer ist schon dafür, Güter für vier Euro herzustellen, die den Kunden aber nur zwei Euro wert sind? Wenn wir also die produzierte Menge in diesem Fall senken – uns also in Richtung Gleichgewichtsmenge bewegen – reduzieren wir diese Verschwendung und erhöhen dadurch die Gesamtwohlfahrt unseres Landes. Damit ist klar: Die Wohlfahrt unserer Volkswirtschaft – dargestellt durch Konsumenten- und Produzentenrente – maximieren wir, solange wir exakt die Menge herstellen, die im Gleichgewicht produziert wird. Und da diese Menge – wie wir im vorherigen Kapitel gesehen haben – bei einem freien Preissystem automatisch entsteht, bedeutet das, dass eine Marktwirtschaft die Wohlfahrt eines Landes maximieren kann. Damit haben wir sozusagen eine theoretische Rechtfertigung für die Vorliebe der Ökonomen für Märkte – sie sind wohlfahrtsmaximierend. Eine Anwendung. Lassen Sie uns die neuen Erkenntnisse der Konsumenten- und Produzentenrente in einem einfachen Beispiel anwenden. Im Jahr 2008 stiegen die Lebensmittelpreise stark an, weswegen einige Länder Sorge hatten, dass die Bevölkerung nicht mehr zu günstigen Preisen versorgt werden kann. Aus diesem Grund verfügten einige Staaten Exportverbote von Agrarprodukten, mit dem Argument, dass die eigene Bevölkerung hungere, während zugleich die eigenen Bauern ins Ausland exportieren. Was ist von dieser Politik zu halten? Abbildung 22 zeigt diese Situation. In der Ausgangssituation exportieren die Anbieter zum Preis P1einen Teil ihrer Ernte ins Ausland – sie produzieren also mehr, als sie im Inland verkauften. In der Grafik bedeutet das, dass die Produzenten zum Preis P1die Menge m1 produzieren, die Konsumenten zu diesem Preis aber nur die Menge m2 konsumieren respektive nachfragen; die Differenz m1 minus m2 sind die Exporte ins Ausland. Wie Sie sehen, muss der Preis im Inland dann über dem Gleichgewichtspreis liegen: Wäre das nicht der Fall und es würde der Gleichgewichtspreis herrschen, dann würden die inländischen Konsumenten alle inländische Produktion zu diesem Preis aufkaufen und es wäre nichts mehr für den Export übrig. Ein höherer Preis aber bedeutet, dass ein
p
Nachfrage
Angebot
E 1
p p2
B
F C
A
m2 m3 m1
Abbildung 22: Nahrungsmittelkrise und Exportverbote
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Teil 1: Mikroökonomie
Teil der Produktion nicht im Inland zu verkaufen ist und deswegen ins Ausland geht, wo die Zahlungsbereitschaft höher ist. Würde der Preis unterhalb des Gleichgewichtspreises liegen, würde man Nahrungsmittel importieren (warum?). Lassen Sie uns in einem ersten Schritt die Produzenten- und Konsumentenrente anschauen, wenn es keine Exportbeschränkungen gibt und der Preis p1 gilt. Die Konsumentenrente (die Fläche zwischen Preis und Nachfragekurve) wird dann durch die Fläche E repräsentiert; die Produzentenrente (Fläche zwischen Preis und Angebotskurve) ist dann Fläche A plus B plus F plus C. Sie sehen, der Export verschafft den Produzenten eine höhere Produzentenrente (bei einem Preis von P2, also dem Gleichgewichtspreis ohne Außenhandel, wäre die Produzentenrente nur die Fläche A). Nun führen wir ein Exportverbot ein – kein Produzent darf mehr Nahrungsmittel ins Ausland bringen. Damit entsteht im ersten Moment ein Überschussangebot (in Höhe des vorherigen Exportüberschusses), was zu einem Rückgang des Preises führt. Der Preis sinkt (wie im vorherigen Kapitel beschrieben) auf sein Gleichgewichtsniveau p2; die Menge auf die Gleichgewichtsmenge m3. Was wird aus der Produzenten- und Konsumentenrente? Die Konsumentenrente steigt nun – sie ist jetzt Fläche E plus B plus F – eben die Fläche zwischen Nachfragekurve und dem nun geltenden Gleichgewichtspreis. Die Konsumenten gewinnen also die Flächen B und F an Wohlfahrt hinzu. Dabei können wir zwei Effekte unterscheiden: Die Konsumenten, die auch vorher Lebensmittel gekauft haben zu dem hohen Preis, müssen jetzt für die gleichen Nahrungsmittel weniger zahlen (Fläche B). Der zweite Effekt betrifft diejenigen, die zum alten Preis P1 keine Lebensmittel gekauft haben, weil sie ihnen zu teuer waren: Jetzt, zum Gleichgewichtspreis kaufen sie ein und beziehen aus diesem Geschäft eine Konsumentenrente, welche durch das Dreieck F dargestellt ist. Das klingt eigentlich ganz gut: Diejenigen, die vorher viel bezahlt haben, bezahlen nun weniger, und einige, die vorher gar nicht gekauft haben, kaufen nun und haben einen Vorteil daraus. Also doch eine gute Sache?
In der Presse 2: Teure Lebensmittel „Die Hungerrevolte in Haiti und die oft gewalttätigen Demonstrationen gegen steigende Lebensmittel- und Benzinpreise in 30 Ländern der Welt haben die Regierungen aufgeschreckt. In dieser Woche veranstaltet die UN-Agrarorganisation FAO deshalb in Rom einen Gipfel, auf dem es um die globale Nahrungsmittelkrise gehen wird. ...so vielfältig die Gründe für den rapiden Anstieg der Preise sind, so unterschiedlich sind die Vorstellungen, wie der Krise begegnet werden kann. Der Washingtoner Thinktank Ifpri (International Food Policy Research Institute) hat nun in Vorbereitung des Gipfels acht Forderungen an die internationale Politik erarbeitet... Den meisten Forderungen würden sich die Institutionen der UN, die
3 Der ökonomische Werkzeugkasten: Elastizitäten, Konsumenten- und Produzentenrente
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Weltbank und der Internationale Währungsfonds (IWF) wohl anschließen. Bei der IWF- und Weltbanktagung vor wenigen Wochen wurden einige Vorschläge, wie eine verstärkte direkte Lebensmittelund Bargeldhilfe für die Ärmsten, und die Ablehnung von Exportverboten oder hohen Exportzöllen bereits formuliert. Joachim von Braun, Ifpri-Geschäftsführer, schlägt kurzfristig eine Ausweitung direkter Unterstützungsprogramme für Arme vor... Das Ifpri fordert des Weiteren, Exportschranken sofort aufzugeben, weil Bauern, wenn sie von den steigenden Preisen nicht profitieren können, ihre Produktion nicht ausweiten werden. Es sollte schnelle Hilfsprogramme geben, um die Menge der produzierten Lebensmittel zu erhöhen – vor allem durch Kleinkredite für Bauern, oder die Ausgabe von Saatgut und Dünger.“ (Dagmar Dehmer: Nahrungsmittel-Gipfel: Den Hunger stillen, in: Tagesspiegel vom 2.06.2008)
Mitnichten, denn nun müssen wir nach der Produzentenrente fragen. Die alte Produzentenrente beim Preis P1 ist Fläche A plus B plus F plus C – die gesamte Fläche zwischen der Angebotskurve und dem Preis. Werden nun die Exportrestriktionen eingeführt, der Preis sinkt auf p2, die Menge auf die Gleichgewichtsmenge, dann ist die neue Produzentenrente nur noch die Fläche A; die Produzenten verlieren die Flächen B, F und C. Die Flächen B und F, welche die Produzenten verlieren, sind exakt jene Flächen, welche die Konsumenten gewinnen – das ist also nur eine Umverteilung von Wohlfahrt von den Produzenten zu den Konsumenten. Die Preise sinken zum Wohle der Konsumenten und zum Nachteil der Produzenten. Die Nettowohlfahrt insgesamt berührt das nicht. Wohl tut das aber das Dreieck C – das ist der Verlust an Produzentenrente, der nicht an die Konsumenten geht, sondern schlichtweg verloren geht. Das ist der Teil der Produktion, den man vorher ins Ausland verkauft hat und daran eine Produzentenrente verdient hat; jetzt fällt dieser Teil weg, weil die Produzenten zum herrschenden Preis p2 weniger produzieren, und damit sinkt die Wohlfahrt, welche die Produzenten damit erwirtschaftet haben – das ist das Dreieck C. Vergleichen Sie noch einmal: Gegenüber der Situation mit Exporten sinkt die Gesamtwohlfahrt des Landes netto um die Fläche C – das ist der Anteil an Produzentenrente, den die Produzenten verlieren, ohne dass die Konsumenten dabei etwas gewinnen. Netto betrachtet machen die Exportrestriktionen das Land als Ganzes ärmer. Nun kann man ja einwenden, dass das nicht so schlimm ist, weil man ja letztlich die Konsumenten auf Kosten der Produzenten besser stellt – und die können das vertragen. Können Sie? Das kommt darauf an. Unter „Unternehmen“ verstehen die meisten Menschen stets große Gesellschaften mit hohen Schornsteinen und dicken Gewinnen. Doch das muss nicht so sein: Im Falle der Exportverbote für Lebensmittel sprechen wir eher von Schwellenländern, und hier meinen wir mit „Produzenten“ dann die kleinen Bauern mit einem Ein-Mann oder Ein-Familien-
Hier wird Produzentenrente geschaffen
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Betrieb. Die Exportverbote schädigen dann keinen Großkonzern, sondern den Kleinbauern von Nebenan. Der Begriff „Produzent“ ist in diesen Grafiken stets neutral zu verstehen, er besagt nur, dass dieser der Anbieter des Gutes ist, nichts über seine Größe, sein Einkommen, seine Religion – was auch immer. Und wir werden im nächsten Kapitel sehen, dass der Produzent bisweilen auch der kleine Mann auf der Straße ist. Bis dahin hat das untenstehende Praxis-Beispiel noch eine nette Übungsaufgabe bereit: Versuchen Sie einmal, die Ticket-Vergabepolitik zur WM 2006 in einem AngebotsNachfragediagramm darzustellen und die Konsumenten- und Produzentenrente zu bestimmen. (Ein Tipp: Die Angebotskurve ist eine Senkrechte, da Sie die Anzahl der Spiele nicht vermehren können).
In der Presse 3: Tickets für die WM „Von den drei Millionen Karten zur Fußball-WM 2006 sind nur knapp eine Million im freien Verkauf gelandet. ... Doch zu hoch darf der Preis offenbar nach Ansicht des Komitees auch nicht sein. Vermutlich steht dahinter der Gedanke, daß „echte” Fans eben nicht soviel für Tickets zahlen können und daß eine Weltmeisterschaft mit zu hohen Ticketpreisen rasch als „Bonzen-WM” einen erheblichen Imageschaden erleiden könnte ... Man will aus einem Turnier, das nur Platz für eine begrenzte Anzahl von Zuschauern hat, eine Volksveranstaltung machen, wohl auch um den Charakter des Fußballs als Volkssport zu wahren. Die Folgen dieser ... Entscheidung sind lehrbuchmäßig: Die Nachfrage liegt deutlich über dem ... Angebot, weswegen es zu einer Mangelwirtschaft à la DDR kommt. Das knappe Kontingent an Karten muß rationiert und per Dekret zugeteilt werden. Das Komitee hat sich zu einem Verteilungsmechanismus entschlossen, der fair ist, da jeder die gleichen Chancen hat: Die Tickets werden verlost. Doch auch diese Lösung hat ihre Tücken. Eine Lotterie, bei der so attraktive Werte verlost werden und die darüber hinaus auch nichts kostet, zieht auch den Nichtfußballfan an. Er wittert die Gelegenheit, seine bei der Lotterie günstig gewonnenen Karten zum echten Marktpreis weiterzuverkaufen – im Volksmund nennt man dies dann Schwarzmarkt. Daß der Deutsche Fußball-Bund mit dieser Lösung Schwierigkeiten hat, ist auch klar. In der ersten Runde werden die Karten fair verlost, doch am Ende der Veranstaltung sind es dann doch wieder allein die wohlhabenden Fans, die zu den Spielen pilgern. Und noch schlimmer: Den Mehrertrag, den die Karten auf dem Schwarzmarkt erbracht hätten, hätten sich die Veranstalter dann auch gleich selbst in die Tasche stecken und von Anfang an hohe Preise fordern können. Also ist die Reaktion des DFB zwingend: Er verbietet den Gewinnern der Karten, diese an Dritte zu verkaufen, um so potentielle Schwarzhändler zu entmutigen, an der Verlosung teilzunehmen. Das hat zwei Effekte: Es schreckt die Schwarzhändler ab und macht die Karten wegen ihrer mangelnden Übertragbarkeit weniger attraktiv, was die Nachfrage nach ihnen
3 Der ökonomische Werkzeugkasten: Elastizitäten, Konsumenten- und Produzentenrente
und somit den Nachfrageüberschuß reduziert. Das wiederum verärgert die Fans – durchaus zu Recht.“ (Quelle: Hanno Beck: Fußballtickets unter Wert, in: Text: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 04. Februar 2005) © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.
Zusammenfassung 1. Die Preiselastizität der Nachfrage ist ein Instrument, mit dessen Hilfe wir feststellen können, wie stark die Nachfrage auf eine Veränderung des Preises reagiert. Je größer die Elastizität, desto stärker reagiert die Nachfrage auf eine Veränderung des Preises. 2. Berechnet wird die Preiselastizität der Nachfrage, indem man die prozentuale Veränderung der Menge durch die prozentuale Veränderung des Preises dividiert. Das Ergebnis ist eine dimensionslose Zahl. Das hat den Vorteil, dass wir nun die Reaktion der Nachfrage ganz unterschiedlicher Güter problemlos miteinander vergleichen können. 3. Und so berechnen Sie die Nachfrageelastizität: Zuerst dividieren Sie die absolute Veränderung der nachgefragten Menge (um wie viel Stück sinkt die Nachfrage?) durch den Mittelwert der alten und der neuen Nachfrage. Also: Sinkt die Nachfrage von 100 auf 90 Stück, so dividieren Sie 10 durch 95 (also 100 plus 90, geteilt durch 2). Das ist die prozentuale Veränderung der Menge. Dann dividieren Sie die absolute Veränderung des Preises durch den Mittelwert des alten und des neuen Preises. Also: Sinkt der Preis von 5 auf 4 Euro, so dividieren Sie 1 durch 4,5 (also 5 plus 4, geteilt durch 2). Das ist die prozentuale Veränderung des Preises. Im letzten Schritt dividieren Sie die prozentuale Veränderung der Menge durch die prozentuale Veränderung des Preises – das ist dann die Elastizität (Exakt gesagt die Bogenelastizität). 4. Und so interpretieren Sie die Elastizität: Eine Elastizität von X bedeutet, dass die Nachfrage sich um X Prozent verändert, wenn der Preis sich um ein Prozent verändert. 5. Weitere Elastizitäten werden grundsätzlich nach der gleichen Formel berechnet: Sie dividieren die Veränderung einer Variablen (der Nachfrage, des Angebotes usw.) in Prozent durch die Veränderung der auslösenden Variable in Prozent. 6. Die Konsumenten- und die Produzentenrente sind Hilfsmittel, mit deren Hilfe man die Folgen wirtschaftspolitischer Maßnahmen für Konsumenten und Produzenten untersuchen kann. Sie zeigen die Wohl-
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fahrtsgewinne, welche die Konsumenten (Produzenten) dadurch erzielen, dass sie auf dem Markt tauschen. 7. Die Konsumentenrente ist die Fläche zwischen dem gültigen Preis und der Nachfragekurve; die Produzentenrente die Fläche zwischen dem gültigen Preis und der Angebotskurve. 8. Es lässt sich zeigen, dass die Summe von Konsumenten- und Produzentenrente, also die Gesamtwohlfahrt einer Volkswirtschaft, im Marktgleichgewicht maximal ist. Das erklärt, warum Ökonomen Märkte bevorzugen – sie maximieren die Wohlfahrt eines Landes; allerdings immer unter den einschränkenden Bedingungen, die wir in den vorherigen Kapiteln diskutiert haben.
Anwendungen: Mindestlöhne, Höchstmieten und Jeans 2. Wahl Um was geht es? Wir haben nun ein paar Instrumente aus dem Werkzeugkasten der Ökonomen kennen gelernt – höchste Zeit, sie zu benutzen. Aber das machen wir nicht aus reiner Freude an diesen Werkzeugen, sondern aus politischem Interesse: In diesem Kapitel werden wir uns damit beschäftigen, welche Folgen Wirtschaftspolitik für die Wohlfahrt der Konsumenten und der Produzenten hat. Wenn diese Politik die Summe aus Konsumenten- und Produzentenrente reduziert, dann ist sie aus volkswirtschaftlicher Perspektive schlecht. Aber Vorsicht: Wir können uns als Politiker dennoch für diese Maßnahme entscheiden, und zwar dann, wenn wir glauben, dass die volkswirtschaftlichen Kosten dieser Maßnahme (gemessen an Verlust von Konsumenten- und Produzentenrente) geringer sind als ihre gesellschaftlichen oder politischen Vorteile. Doch man sollte diese Analyse stets machen, aus einem einfachen Grund: Man weiß dann wenigstens um die Kosten dieser Maßnahme. Und die nun folgenden Analysen werden es uns erleichtern, die Folgen vieler wirtschaftspolitischer Maßnahmen schärfer zu erfassen und zu erkennen. Preisdifferenzierung. Unser erstes Beispiel ist nicht politisch, sondern betriebswirtschaftlich motiviert. Ausgangspunkt unserer Überlegungen ist eine geldsparende Beobachtung: Viele Markenartikelhersteller bieten ihre Produkte zusätzlich unter einem anderen Namen, aber zu einem wesentlich geringeren Preis an. Eine ähnliche Beobachtung sind die Jeans zweiter Wahl: Da werden Markenjeans wegen kleiner Mängel als Exemplare zweiter Wahl verkauft – um die Hälfte billiger, da gibt es die Kinotage, Paperbacks statt der gebundenen Bücher und verbilligte Eintrittspreise für Rentner, Studenten oder Familien. Was haben alle diese Beobachtungen gemeinsam? Das kann Abbildung 23 erklären. Lassen Sie uns das Beispiel der Jeans zweiter Wahl aufgreifen. Das Ziel der Jeans-Produzenten ist natürlich, so viel Jeans so teuer wie möglich zu verkaufen. Verkaufen die Produzenten nur erstklassige Jeans zum Gleichgewichtspreis, dann erhalten sie die uns bereits bekannte Produzentenrente, die sich aus den Flächen D und E zusammensetzt. Die Konsumentenrente sind die Flächen A, B und C – wie gehabt. Jetzt hat unser Produzent eine Idee: Wie wäre es, wenn er statt einem Preis, der für alle Kunden gilt, verschiedene Preise verlangt? Offensichtlich gibt es (und die Nachfragekurve zeigt dies ja auch) viele Konsumenten, die bereit wären, mehr als den Gleichgewichtspreis zu zahlen – aber es nicht müssen, weil es ja nur einen Marktpreis gibt. Zu dumm, dass man nicht den Konsumenten, die bereit sind, einen höheren Preis zu zahlen, auch einen höheren Preis abnehmen kann. Würden
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Teil 1: Mikroökonomie
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die nämlich herausfinden, dass man das gleiche Produkt anderen Kunden billiger verkauft, würden sie wohl kaum den Produzenten auf die Nase binden, dass sie bereit wären, auch einen höheren Preis zu zahlen.
p N A
A
pt B pb
C E
D
mt
mG
Abbildung 23: Jeans 2. Wahl
Und welche davon ist jetzt 2. Wahl?
Aber vielleicht geht es doch – nämlich dann, wenn man aus dem einen Produkt zwei verschiedene Produkte macht, zumindest in den Augen der Konsumenten. Wie das geht? Beispielsweise über Jeans zweiter Wahl: Man erklärt einfach, dass ein Teil der Jeans leichte Mängel aufweist und dass man sie wegen dieser Mängel billiger verkauft. Ob diese Jeans tatsächlich leichte Fehler haben oder nicht, ist völlig unerheblich – wichtig ist nur, dass die Konsumenten es glauben und jetzt die gleichen Jeans als zwei unterschiedliche Produkte wahrnehmen: Die „guten“, teuren Jeans ohne Makel und die Jeans mit Fehlern, die ein markenbewusster Mensch nicht kauft (auch weil sie mit einem Stempel entsprechend gekennzeichnet sind, so hat man das in der Tat schon gemacht). Gelingt dieses Täuschungsmanöver, dann passiert folgendes in Abbildung 23: Jetzt verkauft der Hersteller die teuren Jeans ohne Makel zum Preis pt an alle markenbewussten Kunden, die ihrem Style nie billige Fehlerjeans antun würden. Das sind alle Konsumenten, die auf der Nachfragekurve oberhalb von pt liegen. Sie kaufen nun also die Menge mt zum Preis pt, ihre Konsumentenrente ist die Fläche A. Alle anderen Konsumenten, die nicht bereit sind, den Preis pt für ein paar Jeans zu bezahlen, kaufen die Billigversion mit den (angeblichen) Fehlern zum Preis pb. Der Hersteller verkauft also zum Preis pb die Menge mG minus mt. (die Menge mt wird ja zum höheren Preis pt an die Markenbewussten verkauft). Die Konsumentenrente der Konsumenten, welche die Billig-Jeans kaufen, ist dann die Fläche C. Die gesamte Konsumentenrente der Konsumenten ist also nun die Fläche A plus die Fläche C; die Fläche B ist den Konsumenten verloren gegangen. Genauer gesagt ist sie den Konsumenten verloren gegangen, die jetzt die teuren Jeans kaufen: Vorher haben sie den Gleichgewichtspreis pb gezahlt wie alle Konsumenten, jetzt zahlen sie pt. Die Differenz zwischen diesen beiden Preisen, pt minus pb, ist der Verlust dieser Konsumenten an Rente, also die Fläche B. Was ist mit den Produzenten? Deren Rente setzt sich wie folgt zusammen: Sie verkaufen mt Jeans zum Preis pt, die Produzentenrente, die sie daraus schöpfen, ist die Fläche B plus D (Fläche zwischen dem Preis und der Angebotskurve; aber natürlich nur für die tatsächlich verkaufte Menge). Aus dem Verkauf der Billig-Jeans schöpfen sie noch zusätzlich eine Produzentenrente von E. Das Ergebnis: Die Produzenten haben durch diesen geschickten Schachzug ihre Produzentenrente um die Fläche B erweitert – auf Kosten der Konsumenten natürlich.
In der Presse 4: Preisdifferenzierung „Viele Markenhersteller produzieren neben ihren Premium-Produkten auch für Discounter und Supermärkte. ... Bei Erzeugnissen tierischen Ursprungs erkennen Käufer am sogenannten Identitätskenn-
4 Anwendungen: Mindestlöhne, Höchstmieten und Jeans 2. Wahl
zeichen, ob zwei verschiedene Produkte von ein und demselben Produzenten stammen. Es besteht aus einer Länder- und einer Herstellerkennung und muss auf jeder Packung, meist auf der Rückseite, erscheinen. Beispiel Butter: Sowohl auf der Discountbutter von Edeka als auch auf der „Sachsenmilch“-Butter steht das Identitätskennzeichen ´SN 016´. Die ersten beiden Buchstaben, die Länderkennung, stehen für das Bundesland Sachsen. Die Zahl dahinter ist die Herstellerkennung. Im Beispiel steht „016“ für die Sachsenmilch AG – beide Butter-Packungen stammen also von der Sachsenmilch. Für das Discountprodukt zahlt der Kunde allerdings 20 Cent weniger. Die Preisunterschiede zwischen Marke und Discountprodukt sind enorm. Doch kauft man auch die gleiche Qualität? Hawesta stellt zum Beispiel neben dem eigenen Heringsfilet noch vier weitere Produkte her, die als Handelsmarken bis zu 50 Prozent billiger sind. Der Hersteller bestätigte der Umschau jedoch, dass die Rezeptur des Markenproduktes nicht identisch ist mit der der Handelsmarken. Beim Umschau-Geschmackstest ging es deshalb um die Frage, ob die teuren Marken bei unterschiedlicher Rezeptur besser schmecken als bei den billigeren No-Name-Produkten. Die Probanden haben den Preisunterschied jedoch nicht herausgeschmeckt. (Quelle: Umschau | MDR FERNSEHEN | 25.09.2007)
Genau das ist der Trick der Preisdifferenzierung: Man macht aus einem Produkt zwei Produkte, die in den Augen der Konsumenten verschieden sind. Die Kunden mit der hohen Zahlungsbereitschaft kaufen das teure Produkt (die fehlerfreien Jeans), weil sie die Marke möchten, die Kunden mit geringerer Zahlungsbereitschaft greifen zum günstigen Produkt (den Jeans zweiter Wahl), weil sie es günstiger haben wollen. Und der Produzent schneidet sich auf diesem Weg ein Stück der Konsumentenrente heraus – bezahlt von den Konsumenten, die das teure Produkt kaufen und es ohne Preisdifferenzierung zum niedrigeren Gleichgewichtspreis gekauft hätten.
In der Praxis: Preise für Online-Musik Die amerikanischen Ökonomen Ben Shiller und Joel Waldvogel haben Studenten nach ihrer Zahlungsbereitschaft für verschiedene Songs auf der Musik-Online-Plattform I-Tunes gefragt. Das Ergebnis: Der zu dieser Zeit vom Anbieter verlangte Preis von 99 Cents war zu gering; man hätte ihn schätzungsweise auf fast anderthalb Dollar erhöhen können, um die Umsätze zu maximieren. Noch besser allerdings, so die Ökonomen, wäre eine fixe Grundgebühr von rund 20 Dollar plus ein Preis von 37 Cents pro Song – das würde die Produzentenrente um 30 Prozent steigern; auch die Konsumentenrente würde geringfügig steigen, da nun viele Kunden Songs herunter-
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laden würden, die sie bei einem höheren Preis pro Lied nicht kaufen würden. (Ben Shiller, Joel Waldvogel: Music for a song: an empirical look at uniform song pricing and its alternatives; NBER Working Paper 15390; October 2009)
Der iPod: Nie war Jazz billiger
Diese Strategie funktioniert allerdings nur, wenn es dem Hersteller gelingt, aus einem Produkt zwei verschiedene Produkte zu kreieren. Ein weiteres Beispiel dafür sind Paperbacks statt gebundenen Büchern – hier wird der Markt in zwei verschiedene Märkte unterteilt, indem das Paperback später erscheint (Kinotage funktionieren genauso). Wer das Buch rasch möchte, ist bereit, den höheren Preis zu zahlen. Auch bei Gitarren ist diese Strategie zu beobachten: Da gibt es beispielsweise die teuren Markengitarren und die billigeren Produkte anderen Namens, die vom gleichen Hersteller stammen. Eine andere Möglichkeit besteht darin, nicht die Produkte unterschiedlich zu machen, sondern die Kunden voneinander zu trennen – billigerer Eintritt für Rentner oder Studenten, von denen man vermutet, dass ihre Zahlungsbereitschaft geringer ist (wegen ihres geringeren Einkommens), teurer Eintritt für Normalverdiener. Hier ändert man nicht das Produkt, sondern teilt die Konsumenten, was nur funktioniert, weil man Rentner und Studenten mittels Ausweis identifizieren kann.
Denksportaufgabe 9 Warum zahlen Frauen beim Friseur einen höheren Preis, auch wenn es Männer mit Föhnwelle und Frauen mit kurzen Haaren gibt? Suchen Sie weitere Beispiele zur Preisdifferenzierung. Wie kann Ihnen E-Bay bei der Preisdifferenzierung helfen?
Der Friseur für Sie und Ihn: Waschen, schneiden, legen – geht das auch billiger?
Höchstpreise. Wenden wir uns nun einer eher volkswirtschaftlichen und politischen Anwendung zu – den Höchstpreisen. Die Idee von Höchstpreisen ist stets, Konsumenten vor zu hohen Preisen zu schützen, weil sie sich sonst bestimmte Dinge – Benzin, Lebensmittel, eine Wohnung – nicht mehr leisten können. Stimmt das? Funktioniert das? Schauen wir uns zuerst an, welche Folgen solche Höchstpreise haben, dann wollen wir sehen, ob es nicht bessere Ideen gibt, wie man Konsumenten beschützen kann. Lassen Sie uns das am Beispiel von Höchstmieten erörtern. Die Idee ist einfach: Werden Wohnungen zu teuer, können sich viele Menschen ein Dach über dem Kopf nicht mehr leisten. Führt man aber Höchstmieten ein, so verhindert man diese unerfreuliche Entwicklung. Oder? Abbildung 24 stellt die Idee der Höchstmieten dar. Schauen wir uns das einmal an.
4 Anwendungen: Mindestlöhne, Höchstmieten und Jeans 2. Wahl
In der Ausgangslage, solange es keinen Höchstpreis gibt, wird zum Gleichgewichtspreis p die Menge von m0 Wohnungen vermietet. Nun führt der Staat eine Höchstmiete ein, die nur unterhalb des Gleichgewichtspreises sinnvoll ist (warum?). Ist diese Höchstmiete ph nun bindend, so dürfen die Vermieter nicht mehr als diese Höchstmiete verlangen. Was passiert? Die Nachfrage steigt wegen des gesunkenen Preises von m0 auf m2; das Angebot hingegen sinkt von m0 auf m1 (zu dieser Miete werden viele Vermieter nicht mehr vermieten). Es entsteht eine Überschussnachfrage in Höhe von m2 minus m1. Was passiert mit Konsumenten- und Produzentenrente? Beginnen wir mit den Konsumenten: Die alte Konsumentenrente vor Einführung der Höchstmiete war die Fläche D und B. Mit Einführung der Höchstmiete werden aber nun nur noch m1 Wohnungen vermietet, allerdings zur Höchstmiete. Die neue Konsumentenrente setzt sich also zusammen aus den Flächen A und D, die Konsumenten verlieren die Fläche B. Das sind alle diejenigen Mieter, die vor der Einführung der Höchstmiete eine Wohnung hatten, daraus auch eine Konsumentenrente (B) erzielten, jetzt aber aufgrund der Knappheit keine Wohnungen mehr bekommen und diese Rente verlieren. Mehr Glück haben da diejenigen, die noch eine Wohnung haben, sie zahlen nun statt dem Marktpreis die niedrigere Höchstmiete und erhöhen damit ihre Konsumentenrente um die Fläche A. Es gibt also zwei Arten von Mietern im Höchstpreisregime: Die Profiteure, die nun das Glück haben, an eine billige Wohnung zu kommen und die Pechvögel, die unter der höchstpreisbedingten Wohnungsknappheit leiden, weil sie keine Wohnung mehr bekommen. Was ist mit den Vermietern, also den Produzenten? Ihre alte Produzentenrente war die Fläche A, E und C, die neue Produzentenrente ist nur noch E. C ist die Produzentenrente, die all jenen Vermietern verloren geht, die nun zur Höchstmiete keine Wohnung mehr anbieten und deswegen auf die Mieteinnahmen (und die damit verbundene Produzentenrente) verzichten.
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p N
A
D B
p A ph
C Höchstmiete
E m1
m0
m2
Abbildung 24: Höchstmieten
Menge
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Wer noch eine Wohnung vermietet, erhält statt der Gleichgewichtsmiete nur noch die Höchstmiete – er verliert das Rechteck A; ihm bleibt nur noch das Dreieck E. Zählen wir nun zusammen, so stellen wir fest: Das Rechteck A wird durch die Höchstmiete von den Produzenten an die Konsumenten umverteilt (weniger Mieteinnahmen für die Vermieter, billigere Wohnungen für die Mieter), die Dreiecke B und C gehen komplett verloren – das ist die Wohlfahrt all derjenigen, die nun keine Wohnung mehr haben oder vermieten und deswegen die Wohlfahrt, die sie daraus erhielten, dass sie gemietet oder vermietet haben, nun verlieren. Unter dem Strich ist eine Höchstmiete also wohlfahrtsvernichtend, sie vernichtet Wohlfahrt in Höhe der beiden Dreiecke B und C. Ist dieser Wohlfahrtsverlust den politischen Preis wert, dass man dafür Mieter besser schützt? Das ist sicherlich Ansichtssache, aber ein paar Argumente muss man dazu noch bedenken. Erstens ist mit den Höchstmieten nicht sichergestellt, dass auch wirklich die Bedürftigen an die billigen Wohnungen kommen – die Höchstmiete alleine ist sozial blind, da sie nicht danach fragt, wer denn die billige Wohnung bekommt. Und bei Zeiten knapper Wohnungen (und nur dann macht die Höchstmiete Sinn), in denen sich die Vermieter aussuchen können, an wen sie vermieten, muss man befürchten, dass sie vorzugsweise an zahlungskräftige Klientel vermieten, von denen man als Vermieter weniger Ärger erwartet. Das Ergebnis: der wohlhabende Ingenieur bekommt die billige Wohnung – das ist sicher nicht das, was die Befürworter von Höchstpreisen im Sinn haben.
Macht keinen Spaß: tanken
In der Presse 5: Teures Benzin Die Rekordpreise für Benzin im Jahr 2008 haben Politiker des linken Lagers auf den Plan gerufen. So forderte der saarländische SPD-Vorsitzende Heiko Maas in der „Bild am Sonntag“, dass die Bundeskanzlerin der Preistreiberei ein Ende setzen und für bezahlbare Spritpreise sorgen solle. Der Fraktionschef der Linkspartei, Gregor Gysi, forderte, „die Abzockerei der Energiekonzerne“ zu stoppen. Die Kanzlerin müsse klarstellen, ob die Koalition Sprit-, Heizöl- und Gaspreise begrenzen wolle. Was halten Sie von dieser Idee? Stellen sie Höchstpreise für Benzin und ihre Folgen für Konsumenten- und Produzenterente grafisch dar. (Quelle: A.Hellemann, B. Kellner: Staat soll Sprit-Preise festlegen. Bild.de vom 27.04.2008. URL: http://www.bild.de/geld/wirtschaft/ sprite/sollen-vom-staat-festgelegt-werden-4383062.bild.html)
Und einen weiteren Punkt müssen wir beachten: Die Knappheit von Wohnungen, die durch die Höchstmiete entsteht, führt dazu, dass sich die Mieter um die wenigen freien Wohnungen prügeln. Und was macht man, wenn man die Wohnung unbedingt will? Klar, man bezahlt dem Vermieter heim-
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lich, unter dem Tisch, eine höhere Miete – das führt dazu, dass die Miete letztlich illegal doch auf den Gleichgewichtspreis steigt. Will man dagegen vorgehen, muss man jeden Bürger kriminalisieren, der versucht, mittels zusätzlicher Zahlungen die Höchstmiete zu umgehen. Klingt nicht gut. Gibt es eine Alternative? Natürlich, die gibt es immer. Wie wäre es damit: Der Staat zahlt jedem Bürger, dem Geld zur Miete fehlt, einen Zuschuss – aber nur den bedürftigen Mietern. Das verhindert erstens, dass wohlhabende Menschen von dieser Maßnahme profitieren, zweitens entsteht dadurch keine Wohnungsknappheit. Ein weiterer Vorteil: die Kosten dieser Maßnahme werden vom Steuerzahler getragen, also von der Allgemeinheit – und da gehören sie auch hin. Wer Höchstmieten einführt, versucht, die Kosten dieser Sozialpolitik auf die Vermieter abzuwälzen – und das müssen nicht immer die ganz Wohlhabenden sein (viele Freiberufler beispielsweise haben Wohnungen, die sie vermieten, die Miete soll Ihre Altersvorsorge sein). Das Steueraufkommen hingegen wird nach Leistungsfähigkeit erhoben – wer viel verdient, zahlt auch viel, und beteiligt sich dementsprechend auch stärker an der Finanzierung der Mietbeihilfen für die Bedürftigen. Wir werden diese Idee noch einmal aufgreifen, wenn wir über die Soziale Marktwirtschaft sprechen. Mindestpreise. Die zweite Möglichkeit, wie der Staat in Märkte eingreifen kann, besteht darin, Mindestpreise einzuführen (also das genaue Gegenteil der Höchstpreise). Hier geht es dann in der Regel darum, Produzenten zu schützen und ihnen auf diesem Weg ein Mindesteinkommen zu sichern. Das prominenteste Beispiel sind die Mindestlöhne: Der Staat, so die Idee, soll eine Lohnuntergrenze festlegen, damit Arbeitnehmer ein Mindestauskommen gesichert ist. Lassen Sie uns diese Idee mit Hilfe von Abbildung 25 untersuchen. Die Konsumenten- und Produzentenrente ohne Mindestlohn sind wieder die Flächen zwischen den Kurven und dem Gleichgewichtspreis – die Konsumentenrente setzt sich zusammen aus den Flächen A, B, D; die Produzentenrente aus den Flächen E und C. Aber Vorsicht: Die Produzenten sind in dieser Grafik die Arbeitnehmer, sie sind die Anbieter, sie bieten Arbeit an. Die Unternehmen hingegen sind die Konsumenten, sie kaufen Arbeitsleistung bei den Arbeitnehmern ein. Nun führen wir einen Mindestlohn ein. Was passiert? Wird ein Mindestlohn eingeführt, so muss er über dem Gleichgewichtspreis liegen, sonst ist er wirkungslos (warum?). Greift der Mindestlohn, dann sinkt die Nachfrage der Unternehmen nach Arbeit von A0 (der Gleichgewichtsmenge) auf A1 – diese Menge Arbeit fragen die Unternehmen zum Mindestlohn nach. Die Nachfrage nach Arbeit sinkt also; weil sie für Unternehmen teurer wird. Zugleich aber steigt das Angebot an Arbeit, weil der Mindestlohn es für mehr Arbeitnehmer attraktiv macht, sich um einen Job zu bemühen; das Angebot an Arbeit steigt auf A2. Damit entsteht ein Angebotsüberschuss, also Arbeitslosigkeit in Höhe von A2 minus A1. Wie Sie
Lohn N Imin
A
D A
B
E
C
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A1
A0
A2
Abbildung 25:Mindestlöhne
Arbeit
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sehen, gibt es dabei zwei Sorten von Arbeitslosen: Diejenigen, die ihren bisherigen Job verlieren, weil die Lohnkosten steigen (das ist die Menge A0 minus A1), und diejenigen, sie sich jetzt, bei höherem Lohn, arbeitslos melden, weil sie zum höheren Lohn auch arbeiten wollen (A2 minus A0).
In der Praxis: Mindestlöhne „In Deutschland gibt es nur verbindliche Mindestlöhne für einzelne Branchen und Berufe, aber keinen branchenübergreifenden gesetzlichen Mindestlohn. Anfang 2012 galten Mindestlöhne in vier Baubranchen (Bauhauptgewerbe, Maler- und Lackierergewerbe, Elektrohandwerk, Dachdecker), für Sicherheitsdienstleistungen, für die Abfallwirtschaft, für Bergbauspezialarbeiten, die Gebäudereinigung, die Pflegebranche sowie bei Wäschereidienstleistungen.... Grundlage für die oben genannten branchenspezifischen Mindestlöhne bietet das sogenannte ´Arbeitnehmer- Entsendegesetz´“. In das Arbeitnehmer- Entsendegesetz können Branchen auf Wunsch der Arbeitgeber und Gewerkschaften aufgenommen werden. Die Arbeitnehmerverbände und Gewerkschaften einer Branche müssen sich auf einen tariflichen Mindestlohn einigen und gemeinsam beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales die sogenannte ´Allgemeingültigkeit´ beantragen. Nur wenn mindestens die Hälfte aller Arbeitnehmer bei tarifgebundenen Arbeitgebern beschäftigt sind und ein öffentliches Interesse besteht, kann der Tarifvertrag als allgemeingültig erklärt werden. Er gilt dann für alle Arbeitnehmer und Arbeitgeber dieser Branche... Am 1. Januar 2011 lagen die Mindestlöhne in Deutschland zwischen 6,53 Euro pro Stunde für Mitarbeiter im Objektschutz in den neuen Ländern sowie in Berlin, Rheinland-Pfalz, Saarland und Schleswig-Holstein und 13,40 Euro (Baugewerbe im früheren Bundesgebiet)… (Quelle: Statistisches Bundesamt: http://www.destatis.de/jetspeed/ portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/Content/Statistiken/VerdiensteArbeitskosten/Mindestloehne/AktuellD,templateId=renderPrint. psml; zuletzt aufgerufen am 13.02.2012)
Arbeitsplatz mit Aussicht
Beginnen wir nun mit den Konsumenten, also in diesem Fall den Unternehmen, die Arbeit nachfragen. Ihre alte Konsumentenrente waren die Flächen A, B, D. Die neue Konsumentenrente beträgt nun – wie stets – die Fläche zwischen dem gültigen Preis (das ist der Mindestlohn) und der Nachfragekurve. Das ist die Fläche D, die Unternehmen verlieren also die Flächen A und B. Die Fläche B ist die Konsumentenrente, welche die Unternehmen verlieren, die vorher Arbeitnehmer beschäftigt haben und dies aufgrund des gestiegenen Lohnes nicht mehr tun – sie verlieren ihre Konsumentenrente, die sie bei diesem Geschäft erzielt haben. Die Fläche A ist die Konsumentenrente, die denjenigen Unternehmen verloren geht, die zwar auch nach der Einführung des Mindestlohnes Arbeitnehmer beschäftigen, aber dafür jetzt den höheren Mindestlohn bezahlen.
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Mindestlöhne in Deutschland am 1. Januar 2012 Früheres Bundesgebiet und Land Berlin
Neue Länder ohne Berlin
EUR/Std.
EUR/Std.
8,33
8,33
Werker, Maschinenwerker
11,05
10,00
Fachwerker, Maschinisten, Kraftfahrer
13,40 Berlin: 13,25
10,00
Werker, Hauer
11,53
11,53
Hauer, Facharbeiter mit Spezialkenntnissen
12,81
12,81
Dachdecker
11,00
11,00
Elektrohandwerk
9,801
8,652
Innen- und Unterhaltungsreinigungsarbeiten
8,82
7,33
unter anderem Glas- und Fassadenreinigungsarbeiten
11,33
8,88
ungelernte Arbeitnehmer
9,75
9,75
gelernte Arbeiter, Gesellen
11,75
9,75
Pflegebranche
8,75
Mindestlöhne
Abfallwirtschaft Bauhauptgewerbe
Bergbauspezialarbeiten
Gebäudereinigung
Maler und Lackierer
Sicherheitsdienstleistungen
6,53 bis
Wäschereidienstleistungen im Objektkundengeschäft
7,801
7,75 8,603
6,53 6,752
1
Ohne Berlin. Einschließlich Berlin. 3 Bundeslandspezifische Regelungen. Mindestlohn in Euro je Stunde: Baden-Württemberg: 8,60; Bayern: 8,14; Nordrhein-Westfalen: 7,95; Hessen: 7,50; Niedersachsen: 7,26; Bremen: 7,16; Hamburg: 7,12; Rheinland-Pfalz, Saarland, Schleswig-Holstein: 6,53 2
Tabelle 7: Mindestlöhne in Deutschland 2012 (Quelle: Statistisches Bundesamt: http://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesamtwirtschaftUmwelt/VerdiensteArbeitskosten/Mindestloehne/Tabellen/MindestlohnDeutschland.html?nn=50678)
Die neue Produzentenrente, also die Wohlfahrt der Arbeitnehmer, setzt sich aus den Flächen A und E zusammen. A entsteht dadurch, dass diejenigen Arbeitnehmer, die nach Einführung des Mindestlohnes noch einen Job haben, jetzt einen höheren Lohn als den vorherigen Gleichgewichtslohn erhalten. Das ist die Fläche A, die sie den Unternehmen (also den Nachfragern nach Arbeit) abnehmen; das ist also eine Umverteilung von Wohlfahrt von den Unternehmen an die Arbeitnehmer. Die Fläche C hingegen ist ein Verlust an Produzentenrente – das sind die Arbeitnehmer, die nach Einfüh-
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rung des Mindestlohnes keinen Job mehr haben und deswegen die bis dahin erhaltene Rente verlieren. Unter dem Strich sehen wir, dass die Flächen B und C durch den Mindestlohn verloren gehen – ein Mindestlohn ist also definitiv wohlfahrtsreduzierend, und diese Reduktion von Wohlfahrt entsteht dadurch, dass nach Einführung des Mindestlohens die Beschäftigung sinkt. Aber rechtfertigt die Umverteilung der Fläche A von den Unternehmen zu den Arbeitnehmern vielleicht diese Wohlfahrtseinbußen? Vielleicht, aber ob die Arbeitnehmer als Gruppe einen Zuwachs an Wohlfahrt haben, hängt davon ab, dass ihr Zuwachs an Wohlfahrt durch den Mindestlohn, also die Fläche A, größer ist als der Verlust, den sie erleiden, nämlich die Fläche C. Ist dem so? Das kommt drauf an, unter anderem auf die Elastizität der Nachfrage nach Arbeit. Dazu schauen wir uns einmal Abbildung 26 an. Lohn A Imin A
B
N
I C
A1
A0
A2 Arbeit
Abbildung 26: Mindestlöhne und elastische Nachfrage nach Arbeit
In Abbildung 26 haben wir die Nachfragekurve nach Arbeit sehr flach eingezeichnet, sie reagiert also sehr stark auf eine Veränderung des Preises (also des Lohns) – sie ist elastisch. Die Analyse ist wieder die gleiche wie in der vorherigen Abbildung: Die Arbeitgeber (die Arbeitsnachfrage) verlieren die Flächen A und B, die Arbeitnehmer (Arbeitsangebot) gewinnen die Fläche A und verlieren C. Man sieht sofort, dass C wesentlich größer ist als A – unter dem Strich verlieren die Arbeitnehmer also bei der Einführung eines Mindestlohns. Der Verlust derjenigen Arbeitnehmer, die nach Einführung des Mindestlohnes keinen Job mehr (und damit auch keine Produzentenrente) haben, ist größer als der Gewinn derjenigen, die ihre Arbeit behalten und jetzt zu einem höheren Lohn arbeiten. Der Grund dafür ist der starke Rückgang der Nachfrage nach Arbeit, sobald der Lohn steigt – genau das macht ja eine elastische Nachfrage aus, und genau das macht das Dreieck C so groß. Anders wäre das, wenn die Nachfrage nach Arbeit unelastisch wäre, die Nachfragekurve also steil wäre – dann wird die Fläche A größer als die Fläche C. Bleibt nur noch die Frage, welches das relevante Szenario ist. Sie ahnen es – in vielen Fällen die Variante in Abbildung 26. Mindestlöhne sind eher bei niedrigen Einkommen notwendig, also bei Arbeitsplätzen, die nur gering bezahlt werden. Das sind aber vielfach Arbeitsplätze, die sich relativ leicht durch Maschinen ersetzen lassen, einfache Arbeiten für gering Qualifizierte. Steigen also die Löhne für einfache Arbeiten durch einen Mindestlohn, so wechseln die Unternehmen rasch von Arbeit zu Maschinen – und vergrößern das Dreieck C. Will heißen: Mindestlöhne versagen vermutlich vor allem dort, wo sie am dringendsten benötigt werden. Möglicherweise weniger elastisch ist die Arbeitsnachfrage bei personengebundenen Dienstleistungen – Raumpflege, Altenpflege oder ähnliches. Hier allerdings ist die Konkurrenz aus dem Ausland auch hoch, da solche Tätigkeiten zumeist nur wenig Ausbildung voraussetzen. Damit wird der Mindestlohn zu einem Schutz vor ausländischen Arbeitnehmern, die ansonsten in den heimischen Arbeitsmarkt drängen (wenn der Deutsche genau so viel kostet wie der Ausländer, warum soll man dann den Ausländer nehmen?). Das ist
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ein Thema für ein eigenes Buch – die Angst vor Ausländern auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Wir sind aber noch nicht fertig – es gibt noch einige andere Fragezeichen bei Mindestlöhnen:
Wenn Mindestlöhne die Existenz der Arbeitnehmer sichern sollen – was von deren Befürwortern als Argument genannt wird –, dann sollte es für alle Branchen nur einen einheitlichen Mindestlohn geben, es sei denn, man unterstellt, dass sich die Lebenshaltungskosten je nach Beruf unterscheiden. In der politischen Praxis werden aber unterschiedliche Mindestlöhne je nach Branche gefordert – damit ist klar, dass es hier nicht um Existenzsicherung geht.
In der Bundesrepublik gibt es bereits eine Existenzsicherung, die dafür sorgt, dass kein Bürger hungern muss oder obdachlos ist. Man kann sich darüber streiten, ob diese Existenzsicherung ausreichend ist, doch unbestreitbar übernimmt sie die Funktion eines Mindestlohnes. Aus dieser Perspektive ist ein Mindestlohn nicht nötig.
Wenn Mindestlöhne die Existenz der Menschen sichern sollen, was ist dann mit Selbständigen? Genügend Selbständige laufen ebenfalls Gefahr, mit ihrem Einkommen kaum über die Runden zu kommen – warum greift der Staat hier nicht ein? Sind nur Bürger schützenswert, die in einer Festanstellung leben? Das ist ein eklatanter Widerspruch in der Debatte um Mindestlöhne.
Auch gilt das gleiche wie bei den Höchstmieten: Wenn die Gattin des Chefarztes eine mindestlohnbezahlte Stelle ergattert, dann ist das nett für sie, entspricht aber wohl kaum der Intention der Befürworter von Mindestlöhnen.
Wenn Unternehmen höhere Löhne zahlen, so werden sie versuchen, die gestiegenen Produktionskosten durch steigende Preise abzufangen. Gelingt ihnen das, dann zahlen die Konsumenten der jeweiligen Produkte die Mindestlöhne in Form höherer Produktpreise.
Es bleibt ein letztes Argument: Es geht nicht um Existenzsicherung, sondern um „faire“ Löhne, darum, dass man für seine Arbeit, gemessen an der Anstrengung und der Mühe, zu wenig bekommt. Das klingt einleuchtend, verkennt aber den Charakter eines Lohnes: Er wird nicht nach Mühen gezahlt, sondern nach dem Beitrag des Arbeitenden zur Beseitigung von Knappheit (das hatten wir ja bereits). Das ist wie bei Klausuren; Ihr Dozent gibt Ihnen keine Note dafür, dass Sie sich bemüht haben, sondern dafür, dass sie Fragen richtig beantwortet haben. Würde man Menschen nach Mühen bezahlen, müsste man beispielsweise auch Menschen einen Lohn zahlen, die mit viel Schweiß etwas herstellen, was niemand will. Und abgesehen davon: Wer legt denn fest, wie hoch eine Mühe ist, und wie viel sie wert ist? Sind die Mühen einer Herz-Operation mehr oder weniger als das Teeren einer Fahrbahn bei 40 Grad im Schatten? Natürlich, das klingt hart: Löhne werden nur nach Maßgabe der Beseitigung von Knappheit bezahlt, nicht nach Mühen. Das soll
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nicht heißen, dass wir nicht versuchen wollen, jedem Bürger einen fairen Anteil an unserem Wohlstand zukommen zu lassen – aber wir können dazu einen anderen Weg gehen. Unter dem Strich sind das viele Fragezeichen – gibt es eine bessere Lösung? Einfacher und fairer ist es, bedürftige Menschen direkt aus Steuermitteln zu unterstützen – dann wird diese Aufgabe aus Steuermitteln gezahlt und an diejenigen, die sie auch benötigen. Das ist allerdings ein Thema für ein eigenes Buch: Wie stockt man Geringverdienern den Lohn auf, ohne dass die Anreize zum Arbeiten verloren gehen und ohne dass die Unternehmen sich das staatliche Geld einverleiben? Grundsätzlich ist das möglich – recherchieren Sie einfach mal Ideen wie Kombilöhne oder negative Einkommensteuer. Dieser Gedanke ist der gleiche wie im Fall der Höchstmieten – wir werden ihn uns noch einmal in Kapitel 10 grundsätzlich ansehen.
In der Praxis: Wie reagieren die Deutschen auf Mindestlöhne? Ein gesetzlicher Mindestlohn in Höhe von 7,50 Euro würde die Preise für Konsumgüter und Dienstleistungen um bis zu 40 Prozent erhöhen. Das sagt eine Studie des Münchener Ifo-Instituts und TSN Emnid im Auftrag der Initiative Soziale Marktwirtschaft (INSM). Die meisten Deutschen seien nicht bereit, diese Preiserhöhungen hinzunehmen, schreiben die Forscher und zitieren ein paar Beispiele: So sind 69 Prozent der Befragten nach Einführung eines Mindestlohns nicht bereit, die um bis zu 40 Prozent höheren Kosten eines Friseurbesuchs zu zahlen. Sie würden seltener zum Friseur gehen oder Schwarzarbeit akzeptieren. Sollten die Preise für einen Urlaub in Deutschland durch einen flächendeckenden Mindestlohn um bis zu 15 Prozent steigen, wie das Institut beispielsweise etwa für einen Urlaub an der Ostsee berechnet, dann würden 65 Prozent der Befragten ihren Urlaub in Deutschland einschränken oder gleich ins Ausland fahren. Gleiches Gilt auch für Fernseher: Die könnten durch einen Mindestlohn von 7,50 Euro um 15 Prozent teurer werden, weswegen 55 Prozent der Befragten dann auf den Kauf eines Fernsehers aus einheimischer Produktion verzichten wollen. Das Fazit der Forscher: Ein Mindestlohn von 7,50 Euro erhöht die Schwarzarbeit, schwächt deutsche Hersteller und begünstigt ausländische Produkte. (http://www.insm-tagebuch.de/wp-content/uploads/2008/08/insmmindestlohnstudie.pdf)
Steuern. Lassen Sie uns noch eine weitere Anwendung untersuchen – was können wir mit Hilfe unseres Instrumentariums über Steuern lernen? Nehmen wir den einfachen Fall einer Verbrauchsteuer, beispielsweise auf Alkohol oder Tabak. Unsere Analyse kann uns einige Fragen beantworten: Welche Folgen hat eine Steuer für die Wohlfahrt eines Landes? Und wer trägt die
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Last der Steuer? Wie wir sehen werden, muss das nicht derjenige sein, der die Steuer bezahlt. Klingt verwirrend, klärt sich aber rasch auf. Dazu verwenden wir Abbildung 27.
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Zuerst müssen wir überlegen, welche Folgen eine Verbrauchsteuer in unserem Diagramm hat. Dazu wollen wir annehmen, dass die Produzenten des Produktes – sagen wir Zigaretten – diese Steuer an den Staat abführen müssen. Also: Für jede Zigarette, die der Produzent verkauft, muss er einen festen Betrag – sagen wir einen Cent – an den Fiskus abführen. In der Grafik führt das dazu, dass sich die Angebotskurve nach oben verschiebt. Klar: Die Einführung einer Steuer ist die Veränderung einer exogenen Variable, und die verschiebt wie wir bereits gelernt haben die Kurve. Jeder Produzent wird nun die gleiche Menge an Zigaretten nur noch für den alten Preis plus die Steuerlast verkaufen. Die Menge m1 beispielsweise hat der Produzent vor Einführung der Steuer zum Preis Pn verkauft; kommt nun die Steuer, so wird er die gleiche Menge nur noch zum Preis Pn plus den Steuersatz t verkaufen; also zum Preis Pb. Aber Vorsicht: das ist der Preis, zu dem der Produzent nun anbietet, das bedeutet nicht, dass er zu diesem Preis auch diese Menge absetzen kann – wenn das den Konsumenten zu teuer ist, muss er mit dem Preis runter und wird auch dementsprechend weniger anbieten. Genau diese Überlegung wird unser Schaubild zeigen.
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B
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Menge
Abbildung 27: Eine einfache Verbrauchsteuer
Also: Die Steuer verschiebt die Angebotskurve um den Steuersatz t nach oben, das neue Marktgleichgewicht ist nun nicht mehr m0 und p, sondern m1 und Pb, wobei Pb für den Bruttopreis, also Preis inklusive Steuer steht. Das ist der Preis, den die Kunden an der Ladentheke zahlen. Natürlich, denn die Konsumenten interessiert nur der Bruttopreis (oder achten Sie bei Ihren Einkäufen darauf, was das Produkt ohne Mehrwertsteuer kosten würde?), und ihre Nachfrage bleibt unverändert. Was passiert nun mit der Konsumentenrente? Die neue Konsumentenrente ist die Fläche zwischen dem Bruttopreis (das ist ja auch der Preis, den die Konsumenten zahlen) und der Nachfragekurve (also Fläche E); verglichen mit dem Marktgleichgewicht ohne Steuer (da wäre die Konsumentenrente die Fläche zwischen dem Gleichgewichtspreis und der Nachfragekurve) verlieren die Konsumenten also die Flächen B und C (die alte Konsumentenrente war BCE). Die Fläche C repräsentiert den Wohlfahrtsverlust all jener Konsumenten, die zum alten Preis (ohne Steuer) noch geraucht haben und jetzt, beim steuerbedingten höheren Preis Pb das Rauchen einstellen. Sie verlieren ihre Konsumentenrente in Höhe der Fläche C. Die Fläche B repräsentiert den Wohlfahrtsverlust aller Raucher, die auch nach der Einführung der Steuer weiter rauchen (ihre Zahlungsbereitschaft dokumentiert durch die Nachfragekurve, liegt über dem Preis Pb), allerdings dabei den höheren Preis zahlen. Die Differenz zwischen dem alten Preis ohne Steuer, den sie vorher gezahlt haben, und dem neuen Preis, den sie nun zahlen, ist ihr Verlust an Konsumentenrente.
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Früher waren das mal 5 Mark!
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Wie sieht es bei den Produzenten aus? Ihre alte Produzentenrente, die Fläche zwischen dem alten Gleichgewichtspreis und der Angebotskurve (Fläche ADF), sinkt nun um die Flächen A und D, denn die neue Produzentenrente ist die Fläche zwischen dem für die Produzenten relevanten Preis ohne Steuer (das ist der Netto-Preis Pn) und der Angebotskurve. Der Bruttopreis ist für die Produzenten nicht relevant, da sie ja die Differenz zwischen Brutto und Netto, die Steuer, an den Fiskus abführen müssen. Die Fläche D repräsentiert den Wohlfahrtsverlust all jener Produzenten, die zum neuen NettoPreis Pn nun nicht mehr anbieten, weil es sich für sie nicht mehr lohnt. Vor Einführung der Steuer war der Marktpreis höher als ihre Produktionskosten, und die Differenz zwischen ihren Kosten (repräsentiert durch die Angebotskurve) und dem alten Preis war ihre Produzentenrente. Nun scheiden sie aufgrund des gesunkenen (Netto-)Preises aus dem Markt aus und verlieren diese Produzentenrente. Die Fläche A repräsentiert den Wohlfahrtsverlust all jener Produzenten, die auch nach Einführung der Steuer weiter produzieren. Vor der Steuer haben sie den Marktpreis p erzielt, jetzt bekommen sie nur noch den neuen, niedrigeren Nettopreis, das schmälert ihre Produzentenrente um die Fläche A. Fassen wir zusammen, so stellen wir fest, dass die Konsumentenrente um die Flächen B und C, die Produzentenrente um die Flächen A und D sinkt. Hier gibt es also keine Verschiebung von Wohlfahrt vom Angebot zu Nachfrage (oder anders herum) wie in den vorherigen Beispielen. Aber das bedeutet nicht, dass diese Flächen den Totalverlust aus der Steuer repräsentieren. Die Flächen B und A repräsentieren nämlich das Steueraufkommen, das dem Staat aus der Steuer zufließt. Warum ist rasch geklärt: Das Steueraufkommen errechnet sich aus dem Steuersatz (das ist die Differenz zwischen Brutto- und Nettopreis) mal der verkauften Menge Zigaretten. Den Steuersatz können wir sofort an der Senkrechten Achse ablesen (das ist Pb minus Pn), die verkaufte Menge ist die Menge m1. Das Rechteck mit der Höhe Pb minus PN mal der Breite m1 ergibt dann also das Steueraufkommen – das sind genau die beiden Flächen A und B. Der gesamte Wohlfahrtsverlust aus der Steuer mindert sich also um diese beiden Flächen, da diese an den Staat gehen – das ist also nur eine Umverteilung von den Konsumenten und den Produzenten an den Staat. Was bleibt, sind die Flächen D und C – das ist ein echter Wohlfahrtsverlust: einige Konsumenten rauchen nun nicht mehr, was ihre Wohlfahrt schmälert (Dreieck C), einige Produzenten verkaufen nicht mehr, was ihre Wohlfahrt schmälert (Dreieck D), und der Staat hat davon auch nichts. Diesen Wohlfahrtsverlust nennt man in der Fachliteratur Zusatzlast oder Excess burden. Und der Haken an einer Steuer: (fast) jede Steuer hat einen excess burden; jede Steuer führt also stets zu einem Rückgang der Wohlfahrt. Dieser entsteht immer dadurch, dass als Folge der Steuer einige Konsumenten ausweichen werden – sie werden weniger konsumieren, auf andere Produkte ausweichen, die ihnen weniger wert sind als das besteuerte Produkt, das sie nun nicht mehr kaufen (wenn dem nicht so wäre, dann würden sie diese Produkte schon ohne Steuer kaufen). Und diese Ausweichreaktionen sind
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natürlich Wohlfahrtsverluste. Nehmen Sie beispielsweise Zigaretten: Steigt die Steuer auf Filterzigaretten, werden einige Raucher auf Selbstgedrehte ausweichen – das schmälert ihre Wohlfahrt (sie würden lieber Filterzigaretten rauchen), aber der Staat hat nichts davon, da er ja weniger Steuern auf Filterzigaretten einnimmt. Zugleich produzieren die Anbieter weniger Filterzigaretten, was ihre Wohlfahrt schmälert, ohne dass der Staat davon etwas hat – denn sie zahlen deswegen ja weniger Steuern auf die Produktion von Filterzigaretten. Die einzige Steuer ohne Excess burden ist die sogenannte Kopfsteuer – schauen Sie sich dazu das Beispiel aus Nottingham an.
In der Praxis: Die Kopfsteuer in Nottingham In Großbritannien versuchte sich die Regierung Thatcher in den 1990er Jahren daran, die alte Kopfsteuer aus dem Jahre 1381 als Kommunalsteuer wieder einzuführen – jeder Bürger sollte unabhängig von seinem Einkommen oder seinem Status einen festen Steuerbetrag zahlen. Die Bürger waren wenig begeistert: Als Räuber verkleidete Bürger stürmten – ausgerechnet in Nottingham (Robin Hood lässt grüßen) – das Rathaus, in Plymouth prügelten sich Einwohner, die eine Gemeinderatssitzung sprengen wollten, mit Polizisten und in London wurden Abgeordnete vor dem Parlament von Demonstranten eingekreist. „Die Regierung hat dem Volk den Krieg erklärt“, brachte es ein konservativer Abgeordneter auf den Punkt. Das Volk nahm diese Kriegserklärung an – und gewann. Steuertheoretisch hat die Kopfsteuer einen großen Vorteil: sie erzeugt keinen Excess burden. Das liegt daran, dass man dieser Steuer nicht ausweichen kann wie bei anderen Steuern. Die Nachfragekurve nach Köpfen ist, wenn sie so wollen, eine senkrechte Gerade. Verschieben Sie nun die Angebotskurve durch die Steuer wie gehabt nach links oben, dann sinkt die Nachfrage nicht (weil sie komplett unelastisch ist), deswegen entstehen nicht die Dreiecke D und C wie in Abbildung 27, die den Excess burden repräsentieren; es entsteht kein Excess burden. Die Steuerlast wird komplett den Konsumenten aufgebürdet. Warum die Bürger diese steuertheoretisch optimale Steuer nicht mögen, ist klar: Die meisten Menschen finden es nicht fair, wenn der einfache Arbeiter die gleiche Steuerlast hat wie der Millionär. Verteilungspolitisch betrachtet ist die Kopfsteuer eine Katastrophe.
Neben diesem excess burden birgt unsere Analyse noch eine weitere interessante Erkenntnis: Die Steuer wird zwar von den Produzenten gezahlt (er überweist also das Geld an die Steuerbehörden), aber getragen wird sie von Produzenten und Konsumenten gemeinsam – „getragen“ bedeutet hier, dass man die wirtschaftliche Last dieser Steuer trägt. Die Raucher verlieren aufgrund der Steuer einen Teil Konsumentenrente, das bedeutet, dass sie einen Teil der Steuerlast erdulden müssen, also tragen. Den anderen Teil tragen
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die Produzenten, sie verlieren aufgrund der Steuer die Fläche A. Eigentlich einleuchtend: auch wenn der Tankwart die Steuer an das Finanzamt abführt (also zahlt) ist klar, dass bei dieser Steuer auch der Autofahrer blutet, und zwar durch höhere Spritpreise. Unsere Analyse zeigt uns also auch, wer dabei in welchem Umfang blutet – das bestimmt sich durch den Verlust an Konsumenten- und Produzentenrente. Doch wovon hängt es ab, wer welchen Anteil an der Steuer trägt? Das erläutert Abbildung 28. pb
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Abbildung 28: Steuern bei unelastischer Nachfrage
Abbildung 28 ist die gleiche Abbildung wie Abbildung 27, mit nur einem Unterschied: Die Nachfragekurve ist sehr steil eingezeichnet, die Nachfrage ist also unelastisch. Man sieht sofort, was passiert: Verglichen mit Abbildung 27 fallen die Flächen B und C nun sehr groß aus, was bedeutet, dass die Konsumenten einen größeren Teil der Steuer tragen werden. Warum ist klar: Je unelastischer die Nachfrage ist, je weniger die Konsumenten also auf das betreffende Produkt verzichten können, um so eher sind sie bereit, den steuerlich bedingten Preis zu zahlen – eben weil sie nicht ausweichen können. Die Produzenten können also ruhigen Herzens die Steuer zu großen Teilen auf den Preis draufschlagen, wohlwissend, dass ihre Kunden nicht ausweichen können und zahlen werden. Im Extremfall, bei völlig unelastischer Nachfrage, zahlen die Konsumenten die gesamte Steuer, die Produzenten gar nicht. Zugleich allerdings gibt es auch keinen Excess burden (schauen Sie sich dazu noch einmal die Kopfsteuer an). Zugleich zeigt Abbildung 28, dass bei unelastischer Nachfrage das Steueraufkommen, also die Fläche A plus B, größer wird. Je unelastischer also die Nachfrage nach dem Gut, das der Staat besteuert, umso höher die Steuereinnahmen des Fiskus. Das ist eine Erklärung dafür, warum vor allem Alkohol, Tabak und Benzin besteuert werden – das sind Güter, bei denen die Nachfrageelastizität eher gering ist, zur Freude des Finanzministers.
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In der Presse 6: Tabaksteuer „In Deutschland hat Finanzminister Hans Eichel mehrfach an der Steuerschraube gedreht. Und sie jetzt wohl zu fest angezogen. `Die Tabaksteuereinnahmen werden deutlich zurückgehen`, erwartet Ernst Brückner, Hauptgeschäftsführer beim Verband der Cigarettenindustrie (VdC). ... Auf mindestens eine halbe Milliarde Euro beziffert Roland Berger die Mindereinnahmen des Staates allein in diesem Jahr. Grund: Die zu starken und zu schnellen Erhöhungen werden zu einem erheblichen Einbruch des legal versteuerten Zigarettenkonsums führen. Am gestiegenen Gesundheitsbewußtsein liegt das nicht. Allen Warnungen auf den Zigarettenpackungen zum Trotz (`Rauchen in der Schwangerschaft schadet Ihrem Kind´)... Es wird weiter geraucht. Nun aber verstärkt illegal. Deutsche Raucher, so fürchtet die Tabakindustrie, werden in großem Stil auf Schmuggelware umsteigen. .... Viele Raucher, die nicht den Weg in die Illegalität gehen, werden auf Substitute umsteigen. Auf Feinschnitt oder Sticks. Billige Dreh- und Steckzigaretten verzeichnen hohe Zuwächse, ebenso die zigarettenähnlichen Billigzigarillos, die vom Gesetzgeber weniger stark besteuert werden.... Die großen Tabakkonzerne versuchen gegenzusteuern. So führt Reemtsma in diesen Tagen die preiswerte Marke `JPS red´ bundesweit ein. Die Packung ist 40 Cent billiger als Reemtsmas Premiummarke Davidoff. „ (Quelle: Henning Peitsmeier: Rauchen ohne Eichel, F.A.S. vom 07.03.2004, Nr. 10 / Seite 41) © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.
Arbeitsauftrag 16 Wie viel versteht der „Spiegel“ von Ökonomie? In der Oktober-Ausgabe 2010 des „Spiegel“ beklagt die Autorin, dass die Provision, welche Makler von Mietern für die Vermittlung einer Wohnung bekommen, nur von den Mietern gezahlt wird. „Warum in München wie … in etlichen Bundesländern die Provision zwischen den Parteien geteilt wird, in Berlin und Hamburg aber nur der Käufer zahlt…“, kann die Autorin nicht erklären. Können Sie ihr helfen? Warum könnte das so sein? Was halten Sie von der Forderung der Autorin, gesetzlich zu verfügen, dass die Provision zwischen Mieter und Vermieter geteilt wird und warum? Verwenden Sie dazu das Konzept der Konsumenten- und Produzentenrente. Erläutern Sie Ihre Argumentation grafisch und verbal.
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Zusammenfassung 1. Viele Produzenten bieten ein und dasselbe Produkt (möglicherweise leicht abgeändert) unter verschiedenen Namen und zu verschiedenen Preisen an, um auf diesem Weg einen größeren Teil der Konsumentenrente abzuschöpfen. 2. Höchstpreise, also staatliche Obergrenzen für Preise, sind unter dem Strich immer wohlfahrtsreduzierend. Zugleich findet eine Umverteilung von Wohlfahrt von den Produzenten zu den Konsumenten statt. Ein besserer Weg, um soziale Härten steigender Preise abzufangen, sind gezielte staatliche Transfers für Bedürftige. 3. Mindestpreise, beispielsweise Mindestlöhne, führen ebenfalls zu einer Reduktion von Wohlfahrt; hier findet eine Umverteilung von Wohlfahrt von der Nachfrageseite zur Angebotsseite statt. Auch hier sind direkte Transfers zu bevorzugen, sie sind zielgerichteter und werden über die Steuern von der Allgemeinheit finanziert. 4. Die Last von Steuern wird auf Konsumenten und Produzenten verteilt. Dabei gilt als Faustregel: Je unelastischer die Nachfrage (das Angebot), umso mehr trägt die Nachfrage (das Angebot) die Last der Steuer in Form eines Verzichtes auf Konsumentenrente (Produzentenrente).
So funktionieren Unternehmen Um was geht es? Wir haben jetzt eine erste Idee gewonnen, wie Märkte funktionieren und was passiert, wenn der Staat direkt in Märkte eingreift. Allerdings haben wir uns dabei darauf beschränkt (sehr plausible) Annahmen darüber zu machen, wie die Angebots- und die Nachfragekurve verlaufen. In den nächsten beiden Kapiteln wollen wir uns die Angebotskurve etwas näher anschauen und verstehen, wie sie entsteht. Das hilft uns zum einen besser dabei zu verstehen, wie Märkte funktionieren, zum anderen lernen wir dabei, wie Unternehmen ticken und was passiert, wenn der Staat nicht direkt in den Preismechanismus eingreift, sondern sich in das Geschäft der Unternehmen einmischt. Letzteres wird uns helfen zu verstehen, warum so viele Unternehmer immer über hohe Steuern und staatliche Einmischung klagen und wann eine solche Politik zu Arbeitslosigkeit führen kann – oder wann sie gut ist und Arbeitsplätze schafft. Unabhängig davon sollte man als Techniker, Jurist, Sozialwissenschaftler, Politiker, Wähler und Staatsbürger wenigstens eine Vorstellung davon haben, wie Unternehmen funktionieren: Ohne Unternehmen gibt es keine Arbeitsplätze, ohne Unternehmen müssten wir unsere Autos, Seife, Zeitung und Flugzeuge jeder für sich selbst herstellen. Und sobald ein Bürger etwas anfertigt, erstellt und anbietet, ist auch er ein Unternehmen – es kann also auch für Sie persönlich wichtig sein zu wissen, wie ein Unternehmen funktioniert. Was ist ein Unternehmen? Die letzte Bemerkung beantwortet diese Frage eigentlich schon: Jeder Bürger, der etwas auf dem Markt anbietet, was er hergestellt hat, ist ökonomisch betrachtet ein Unternehmer. Die meisten Menschen denken bei dem Wort „Unternehmen“ an Großkonzerne, Aktiengesellschaften und ähnliches – das wäre viel zu kurz gedacht. Es würde auch
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beispielsweise der Wirtschaftsstruktur der Bundesrepublik Deutschland nicht gerecht werden: Mehr als 80 Prozent aller Arbeitsplätze in Deutschland, so eine Faustregel, werden von so genannten kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) geschaffen, nicht von den Großkonzernen, die aufgrund ihrer Größe das Bild der Unternehmen in den Medien prägen. Und alle die Gesetze und Ideen, die wir uns im Folgenden ansehen, gelten auch für das kleinste Ein-Mann- oder Ein-Frau-Unternehmen. Vereinfacht gesagt kann man sich ein Unternehmen wie einen Trichter vorstellen: Oben schüttet man eine Menge Zutaten hinein (Material, Öl, Maschinen, Arbeitskraft – die Produktionsfaktoren oder den so genannten Input), dann passiert etwas im Inneren des Trichters (das ist der Produktionsprozess) und am unteren Ende kommt ein fertiges Produkt heraus, das man am Markt anbietet (das ist der so genannte Output).
So ähnlich wird Wirtschaft in der Schule unterrichtet.
In der Praxis: Unternehmerfeindliche Schulbücher Freies Unternehmertum und Marktwirtschaft haben in der Bundesrepublik eher ein schlechtes Image, könnte man meinen. Ist dem so? Ja, sagen einige Kritiker und sehen die Ursache dafür auch in den deutschen Schulbüchern. Diese, so hat beispielsweise eine Studie ergeben, seien eher wirtschaftsfeindlich getrimmt, manche Inhalte in den Schulbüchern grenzen an „ideologischer Manipulation“; wie es der deutsche EU-Kommissar Günther Verheugen gegenüber einer Zeitung formulierte. In den Schulbüchern der Deutschen, so die Kritik, herrsche ein wirtschaftsfeindlicher Geist, Verständnis für Unternehmertum, Markt und Wettbewerb gebe es nicht. Wenn überhaupt Unternehmertum in den Büchern behandelt werde, sei die Beschreibung oft nicht sachlich oder vorurteilsfrei. Natürlich gab es sofort eine Gegenstudie, die den deutschen Schulbüchern bescheinigte, „erstaunlich differenziert“ mit Wirtschaft umzugehen. Allerdings könne man sehen, dass Firmenchefs in diesen Büchern nicht immer das beste Image haben. Werfen Sie einmal ein Blick in Ihre alten Schulbücher – was ist Ihre Einschätzung? (Etwas mehr finden Sie beim Institut der Deutschen Wirtschaft (www.iwkoeln.de) unter http://www.iwkoeln.de/infodienste/iwd/ archiv/beitrag/27608?highlight=schulb%2583%25C2%25BCcher)
Unternehmen müssen Gewinne machen. Damit können wir auch eine erste wichtige Erkenntnis über Unternehmen mitnehmen: Unternehmen müssen Gewinne machen. Warum? Ganz einfach: Einen Gewinn macht ein Unternehmen dann, wenn die Kosten der Produktionsfaktoren kleiner sind als die Erlöse für das fertige Produkt. Natürlich: Nur wenn der Wert dessen, was man unten aus dem Trichter herausholt, größer ist als die Kosten der Zutaten, die man oben hineingeschüttet hat, wird man sich auf ein solches Unternehmen einlassen. Oder würden Sie einen Kuchen backen, der schlechter schmeckt als die Einzelzutaten? Der Gewinn eines Unterneh-
5 So funktionieren Unternehmen
mens ist der Beleg dafür, dass hier Werte geschaffen werden, dass ein Unternehmen aus einzelnen Produktionsfaktoren etwas Neues schafft, das mehr wert ist als die Summe seiner Einzelteile. Ein Unternehmen, das Verluste macht, verschwendet wertvolle Ressourcen und vernichtet Werte. Wer aus teuren Zutaten einen Kuchen herstellt, der nicht schmeckt, verschwendet diese Zutaten und täte besser daran, etwas anderes damit anzufangen. Also: Gewinne sind nichts Böses, etwas, dass man den dicken, Zigarre rauchenden Kapitalisten wegnehmen muss, sondern eine notwendige Veranstaltung – erinnern wir uns an die Funktionsweise einer Marktwirtschaft, und jetzt sehen wir, welche Rolle Gewinne dort spielen: Gewinne entstehen ja dadurch, dass die Konsumenten einen Bedarf an einem Gut anmelden und bereit sind, hohe Preise zu zahlen. Die hohen Preise ermöglichen es dem Unternehmer, einen Gewinn zu machen, wenn er das betreffende Gut anbietet – und wenn er diesen Gewinn behalten darf (hier begegnen wir wieder unseren Eigentumsrechten), wird er genau das produzieren, was die Konsumenten wünschen. Sollte aber die Herstellung dieses Gutes teurer sein als der Preis, den der Hersteller für das Gut erzielen kann, bedeutet das, dass die Wertschätzung der Konsumenten für das Produkt nicht groß genug ist – es lohnt sich nicht, es herzustellen. Und das ist auch richtig so, denn ansonsten würde man etwas herstellen, das teurer ist als die Wertschätzung der Konsumenten für dieses Produkt, und das wäre Verschwendung. Sie sehen, Gewinne spielen in einer Marktwirtschaft eine wichtige Rolle – ohne sie funktioniert ein Markt nicht, und ohne Gewinne droht Verschwendung. Wie funktioniert ein Unternehmen? Im Folgenden wollen wir den Trichter „Unternehmen“ öffnen und untersuchen, was da passiert – was passiert zwischen dem Moment, wenn die Produktionsfaktoren das Werkstor passieren und dem Moment, in dem das fertige Produkt im Laden angeboten wird? Das ist der so genannte Produktionsprozess, also der Vorgang, aus den Einzelzutaten (dem Input) das Gesamtkunstwerk, das fertige Produkt (den Output) zu machen. Dieser Produktionsprozess unterliegt bestimmten Gesetzmäßigkeiten, die mehr oder weniger universell gelten, für alle produktiven Tätigkeiten – schon alleine deswegen lohnt es sich, diese Gesetzmäßigkeiten näher zu erforschen. Um sie direkt kennen zu lernen, spielen Sie am besten das Gummibärchen-Spiel.
In der Praxis: Das Gummibärchen-Spiel Mit einem einfachen Spiel lassen sich ein Produktionsprozess und dessen Gesetzmäßigkeiten simulieren. Dazu stellt man zwei Stühle in einer Entfernung von sagen wir fünf Metern auf. Auf den einen Stuhl legt man Gummibärchen (ok, Schokolade geht auch). Das Produkt, das unser Unternehmen herstellt, ist einfach: Es ist der Transport einzelner Gummibärchen von einen Stuhl zum anderen (genau genommen ist das also eine Dienstleistung). Jetzt macht man eine Tabelle, Tabelle 8, und geht wie folgt vor: Zuerst transportiert nur
93
Teil 1: Mikroökonomie
94
ein „Arbeiter“ die Bärchen von Stuhl A nach Stuhl B, und zwar einen festen Zeitraum, sagen wir 15 Sekunden. Dann schreibt man auf, wie viele Bärchen er in dieser Zeit transportiert hat. Dann lässt man zwei Arbeiter zugleich Bärchen transportieren, wieder 15 Sekunden lang, und schreibt das Produktionsergebnis auf. Zusätzlich schreibt man nun noch den Durchschnittsertrag auf (wie viele Bärchen haben die beiden pro Kopf transportiert) und den Grenzertrag (wie viele zusätzliche Bärchen wurden transportiert, wenn man einen weiteren Arbeiter angeheuert hat?). Das gleiche macht man nun mit, drei, vier, fünf oder noch mehr Arbeitern und schreibt die Ergebnisse auf. Das Ergebnis ist eine Tabelle mit Produktionsergebnissen, die man nun mit den Ideen der Produktionstheorie vergleichen kann und aus der man eine Produktionsfunktion aufzeichnen kann. Zusätzlich kann man das Ganze variieren: Einmal lässt man die Arbeiter eine Kette bilden und die Bärchen weiterreichen, einmal lässt man sie jeden für sich die Bärchen transportieren. So kann man auch feststellen, welche Produktionstechnologie effizienter ist.
Nehmen wir einmal an, wir haben einen typischen Produktionsprozess protokolliert, dessen Ergebnisse wir in Tabelle 8 zusammengefasst haben. Wir haben die Zahl der Arbeiter variiert (das ist die erste Spalte; das sind im Gummibärchen-Spiel die Zahl der Personen, die Bärchen transportieren) und dazu aufgeschrieben, wie viel Ertrag die jeweilige Menge der Arbeitnehmer bringen (das ist die zweite Spalte; das wäre dann die Zahl der transportierten Bärchen). Sie lesen diese Tabelle also wie folgt: Ein Arbeiter (das ist unser Input) hat in der vorgegebenen Arbeitszeit (sagen wir ein Tag) 3 Produkte hergestellt; zwei Arbeitnehmer haben es zusammen auf 5 Produkte gebracht – und so weiter.
Ein Gummibärchen
Jetzt brauchen wir zwei neue Fachbegriffe, die aber recht einfach sind. Da wäre zunächst einmal der Durchschnittsertrag (die dritte Spalte). Das ist einfach, wie es der Name auch sagt, der durchschnittliche Ertrag je Arbeitnehmer. Nehmen wir beispielsweise die dritte Zeile: Zwei Arbeitnehmer transportieren (produzieren) zusammen 5 Stück, das macht pro Arbeitnehmer im Durchschnitt 2,5 Stück (also 5 Stück dividiert durch zwei Arbeitnehmer). Drei Arbeiter produzieren zusammen 8 Stück, das macht im Schnitt pro Arbeiter 2,66 Stück. Das sind aber immer nur Durchschnittswerte, sie sagen nichts darüber aus, ob denn unter diesen Arbeitern einer ist, der sehr fleißig ist und 6 Stück herstellt und zwei Faulpelze, die jeweils nur ein Stück herstellen – auch hier stellt im Schnitt jeder 2,66 Stücke her. Es fehlt noch die letzte Spalte, das ist der so genannte Grenzertrag. Das ist der zusätzliche Ertrag, der entsteht, wenn man einen zusätzlichen Arbeiter einstellt. Erhöhen wir die Zahl der Arbeiter von einem auf zwei, so steigt unser Produktionsergebnis (unser Output) von 3 auf 5 Stück – also werden zwei Stück zusätzlich hergestellt, wenn wir einen zusätzlichen Arbeiter ein-
5 So funktionieren Unternehmen
95
stellen, und das ist der Grenzertrag. Holen wir nun einen dritten Arbeiter hinzu, so steigt unser Ausstoß auf 8 Stück; das sind drei Stücke zusätzlich, die wir erhalten, wenn wir einen Arbeitnehmer zusätzlich einstellen: der Grenzertrag beträgt dann drei. Arbeiter (Input)
Gesamtertrag (Output)
Durchschnittsertrag
1
3
2
5
2,5
2
3
8
2,66
3
4
12
3
4
5
17
3,4
5
6
23
3,83
6
7
26
3,71
3
8
28
3,5
2
9
29
3,2
1
10
29,5
2,95
0,5
Grenzertrag 3
Wie Sie sehen, ist der Verlauf des Grenzertrages recht speziell: Zunächst steigt er deutlich an. Stellt man zum ersten Arbeiter einen zweiten ein, so steigt der Grenzertrag; stellt man einen weiteren Arbeiter ein, so steigt der Grenzertrag nochmals, und er wird noch größer, wenn wir einen dritten Arbeiter einstellen. Warum? Hier hilft uns die Idee Arbeitsteilung (der Spezialisierung), die wir bereits im 2. Kapitel kennen gelernt haben: Spezialisierung kann der Schlüssel zu höherer Produktivität sein, wenn zwei sich zusammentun, können sie mehr erreichen als zwei Einzelkämpfer. Einer alleine kann wenig heben, aber zwei Mann können mit einem Flaschenzug arbeiten; kommt ein dritter hinzu, können weitere Aufgaben untereinander verteilt werden, was die Gesamtproduktion insgesamt deutlich steigert (ein Beispiel dafür wäre es, wenn Sie im Gummibärchen-Spiel eine Kette bilden – das macht bei zwei Personen den Transport schneller). In unserer Tabelle sehen wir, dass die Grenzerträge – also die zusätzlichen Erträge eines weiteren Arbeiters – sogar bis zu Arbeiter Nummer sechs zunehmen (im Gummibärchen-Spiel werden Sie feststellen, dass diese Grenzerträge anfangs vor allem dann steigen, wenn die Spieler eine Kette bilden, das geht anfangs schneller. Wird die Kette aber zu lang, dann verlangsamt sich die Sache wieder). Mit jedem Arbeiter, den wir einstellen, steigern wir den zusätzlichen Ertrag (was natürlich auch dem Gesamtertrag steigert). Stellen wir Arbeiter Nummer sieben ein, so verbuchen wir nach wie vor eine Zunahme des Gesamtertrages, aber der Grenzertrag sinkt. Auch das ist intuitiv einleuchtend: Irgendwann muss dieser unbegrenzte Zuwachs an Produktivität ja mal abnehmen – so etwas lässt sich nicht belie-
Tabelle 8: Ein fiktiver Produktionsprozess
Teil 1: Mikroökonomie
96
big steigern. Ganz schlimm wird es dann sogar bei Arbeiter Nummer zehn: Hier sinkt der Grenzertrag auf 0,5; möglicherweise wird er später sogar negativ (beispielsweise, weil die vielen Arbeiter sich nun gegenseitig im Weg stehen, eine Erfahrung, die Sie auch beim Gummibärchen-Spiel machen, wenn zu viele Personen gleichzeitig die Bärchen transportieren sollen und sich dabei gegenseitig behindern).
Denksportaufgabe 10 Was ist mit Blick auf gute Noten die bessere Strategie: Drei Tage lang 8 Stunden pro Stück lernen oder sechs Tage lang jeweils vier Stunden lernen? Welche Rolle spielen dabei sinkende Grenzerträge des Lernens? Suchen Sie weitere Beispiele für steigende und sinkende Grenzerträge.
Schon wieder eine Nachtschicht?
Dieses Muster lässt sich universell in vielen Produktionsprozessen beobachten: Zunächst steigen die Grenzerträge, doch dieser Zuwachs des zusätzlichen Ertrags je weiterem Input wird immer geringer, die Grenzerträge sinken, bis sie möglicherweise sogar negativ werden. Stellen Sie sich beispielsweise eine Lerngruppe vor: Lernen zwei Studenten zusammen statt alleine, so dürfte der Grenzertrag in Form besserer Noten steigen, da einer vielleicht etwas weiß, was der andere nicht weiß. Kommt ein dritter hinzu, so steigt der Grenzertrag vielleicht noch mehr, weil man nun einzelne Aufgaben – kopieren, zusammenstellen, Literatur suchen – auf drei Köpfe verteilen kann und der dritte Mann noch ein paar Dinge erklären kann, welche die beiden anderen nicht kennen. Kommen nun Nummer vier und fünf hinzu, so werden die Noten vielleicht noch besser, doch der Zuwachs dürfte geringer ausfallen – so viele Wissenslücken gibt es da nicht mehr zu schließen (hoffen wir es einmal). Und spätestens wenn die Lerngruppe aus zehn Personen besteht, dürfte effektives und effizientes Lernen schwierig werden – zu viele Meinungen, zu viele Privatgespräche, die Noten werden schlechter, der Grenzertrag negativ. Man kann bei diesem Muster schon fast von einer Gesetzmäßigkeit sprechen, vom Gesetz der erst steigenden, dann sinkenden Grenzerträge, eine Beobachtung, die der Ökonom Johann Heinrich von Thünen auf seinen landwirtschaftlichen Mustergütern gemacht hat.
5 So funktionieren Unternehmen
97
Köpfe: Johann Heinrich von Thünen Thünen (1783–1850) war ein deutscher Agrar- und Wirtschaftswissenschaftler, Sozialreformer und Landwirt. Er kombinierte seine theoretischen Kenntnisse der Mathematik mit praktischen Erfahrungen aus seinem landwirtschaftlichen Betrieb. Sein Gut Tellow wird durch seine Beobachtung der Natur, seine landwirtschaftlichen Versuche und die detaillierte Buchführung zu einem Musterbetrieb, der Besucher aus dem In- und Ausland anzieht. Thünen hat sich auch frühzeitig mit modernen Themen beschäftigt, so mit umweltpolitischen Problemen wie der Nutzung natürlicher Ressourcen, also dem, was man heute „Nachhaltigkeit“ nennt. Doch nicht nur das: Er beteiligte seine Arbeiter am jährlichen Gewinn des Gutes. Er entwickelte auch eine Formel für einen gerechten Lohn; dieser naturgemäße Lohn war für ihn die Wurzel aus Existenzminimum und Durchschnittsprodukt je Arbeiter – sie steht auf seinem Grabstein.
Johann Heinrich von Thünen
Für unsere weiteren Überlegungen ist es hilfreich, die Daten aus Tabelle 8 in grafischer Form darzustellen, das sieht dann aus wie in Abbildung 29 – das ist die grafische Darstellung unserer Tabelle, die so genannte Produktionsfunktion, die uns den Zusammenhang zwischen der eingesetzten Menge an Produktionsfaktoren (in diesem Fall Arbeitnehmer) und dem Ertrag zeigt. Auf der senkrechten Achse trägt man den Ertrag ab, auf der waagrechten Achse den dazugehörigen Input, der nötig ist, um den jeweiligen Ertrag zu erzielen. Dann verbindet man die jeweiligen Produktionspunkte miteinander (beispielsweise 3 Arbeitnehmer und ein Ertrag von 8 Einheiten, 4 Arbeit-
35 Ertrag 30 28 29
26
29,5
25 23
20 17
15 12
10 8 5
5 3
0 0
2
4
6 Arbeitnehmer
8
10
12
Abbildung 29: Die Produktionsfunktion (die Daten stammen aus Tabelle 8)
Teil 1: Mikroökonomie
98
nehmer und ein Ertrag von 12). Sie lesen diese Grafik dann wie die Angebots- und Nachfragefunktionen: Auf der senkrechten Achse lesen Sie den Ertrag ab (beispielsweise 5), gehen dann nach rechts auf die Kurve, gehen von dort aus senkrecht nach unten und lesen auf der waagrechten Achse den dazu gehörigen Arbeitseinsatz ab (2 Arbeiter). Man kann in der Grafik die erst steigenden und dann sinkenden Grenzerträge erkennen: Am Anfang, bei den ersten Arbeitnehmern, wird die Kurve steiler, ihre Steigung nimmt zu – das sind die steigenden Grenzerträge; mit jedem zusätzlichen Arbeiter steigt der Ertrag stärker als vorher. Sie sehen auch am Ende der Kurve die sinkenden Grenzerträge, da wird die Kurve flacher1. In der Literatur wird dieser Verlauf auch als S-förmiger Verlauf der Produktionsfunktion bezeichnet. Das ist wie gesagt ein idealtypischer Verlauf, der so aber mehr oder weniger auf die meisten Produktionsprozesse zutrifft. Aber es gibt durchaus Produktionsprozesse mit konstanten Grenzerträgen oder mit Grenzerträgen, die sofort anfangen zu sinken. Produktionsprozesse mit dauerhaft steigenden Grenzerträgen hingegen kann es nicht geben (warum? Denken Sie einfach an die Steigung, die eine solche Kurve haben müsste).
In der Praxis: Noch einmal das Gummibärchen-Spiel Sie können das Gummibärchen-Spiel variieren, indem Sie technischen Fortschritt einführen: Dank einer neuen Erfindung ist es nun möglich, zwei statt einem Bärchen pro Gang zu transportieren. Was passiert mit den Erträgen, was mit der Produktionsfunktion? Sie können aber auch den Staat einführen, der die Unternehmen besteuert und deswegen jedes dritte transportierte Bärchen als Steuerzahlung beansprucht. Welche Folgen hat das für das Unternehmen, was passiert mit der Produktionsfunktion? Zeichnen Sie die jeweilige Produktionsfunktion.
Mehrere Gummibärchen
Produktionsfunktion und Kosten. Jetzt haben wir etwas darüber gelernt, wie ein Produktionsprozess aus ökonomischer Perspektive ausschaut, was also im Inneren des Trichters „Unternehmen“ passiert – aber damit sind wir noch nicht am Ende. Unser Ziel ist es ja zu verstehen, wann ein Unternehmen wie viel von einem Produkt produziert, und dazu reichen die Kenntnisse der Produktionsfunktion nicht aus; sie sind nur Voraussetzung. Als nächstes müssen wir natürlich verstehen, welche Rolle die Kosten der Produktion spielen bei der Entscheidung eines Unternehmens, zu produzieren. Und diese Kosten hängen entscheidend von der Produktionsfunktion ab, wie wir gleich sehen werden. Doch zuvor müssen wir einige kurze Definitionen kennen lernen – was gibt es denn für Arten von Kosten? 1
Für die mathematisch versierten Leser: Die Grenzerträge sind die Steigung der Kurve.
5 So funktionieren Unternehmen
Da sind zunächst einmal die Fixkosten. Das sind Kosten, die immer anfallen, unabhängig davon, wie viel das Unternehmen produziert. Ein einfaches Beispiel kennen Sie von Ihrem Mobiltelefon, wenn Sie dort eine Grundgebühr zahlen: Unabhängig davon, wie viele Minuten Sie telefonieren (das ist sozusagen das Produkt, das Sie herstellen), die Grundgebühr zahlen Sie immer in der gleichen Höhe; sie ist fix. Was bei einem Unternehmen Fixkosten sind, richtet sich auch nach dem Zeithorizont. Auf kurze Frist beispielsweise sind die Personalkosten fix, weil man nicht so rasch Mitarbeiter entlassen kann; die Personalkosten sind dann unabhängig von der Höhe der Produktion. Wenn hingegen langfristig die Produktion sinkt, wird man Personal abbauen – dann schwanken auch die Personalkosten mit der Produktion und sind nicht fix.
Die zweite Kostenkategorie sind Kosten, deren Höhe direkt von der Produktion abhängt, so genannte variable Kosten – das sind in unserem Telefonbeispiel die Kosten, die je Gespräch anfallen (der Minutenpreis). Bei Unternehmen sind das beispielsweise die direkten Bestandteile des Produktes; will ein Tischler mehr Tische herstellen, so braucht er mehr Holz, die Kosten dafür sind variabel; ihre Höhe richtet sich nach der Zahl der produzierten Tische. Die Summe aus variablen und fixen Kosten sind die Gesamtkosten.
Dann gibt es noch die Durchschnittskosten (das ist das Äquivalent zu den Durchschnittserträgen), also die Kosten je produzierter Einheit. Diese ermitteln Sie, indem sie die gesamten Kosten (also fixe Kosten plus variable Kosten) durch die Anzahl der produzierten Stücke dividieren. Also: Wenn Sie 100 Tische herstellen und die Gesamtkosten 1000 Euro sind, kostet ein Tisch im Durchschnitt 10 Euro (1000 Euro dividiert durch 100 Tische)
Es bleiben noch die Grenzkosten – auch das kennen Sie auch schon aus der Produktionstheorie: Das sind die zusätzlichen Kosten, die anfallen, wenn Sie eine zusätzliche Einheit herstellen. Also: Sie haben 100 Tische produziert und Gesamtkosten in Höhe von 1000. Stellen Sie nun einen weiteren Tisch her und Ihre Kosten steigen beispielsweise auf 1050 Euro, so betragen Ihre Grenzkosten 50 Euro. Wie aber eigentlich ermittelt ein Unternehmen seine Kosten? Ganz einfach: Man zählt zusammen, was man für alle Inputs, also alle Zutaten, bezahlt hat. Wenn wir also Tische herstellen und dafür zehn Arbeiter und zehn Meter Holz benötigen, dann zählen wir die Löhne für alle Arbeiter zusammen (das sind die Kosten der Arbeit) und rechnen hinzu, was wir für das Holz bezahlt haben; zusammengenommen ergibt das unsere Gesamtkosten. So simpel das ist – diese Idee zeigt uns nun den Zusammenhang zwischen Produktionsfunktion und Kosten(funktion). Erinnern wir uns: Die Produktionsfunktion zeigt uns den Zusammenhang zwischen der eingesetzten Menge an Produktionsfaktoren (in unserem Beispiel Arbeitnehmer) und dem Ertrag. Sie beantwortet also die Frage, wie viel Tische (Output) ich erhalte, wenn ich eine bestimmte Zahl von Arbeitern (Input) einsetze.
99
Teil 1: Mikroökonomie
100
Bei der Kostenfunktion, die wir nun ermitteln wollen, ist die Fragestellung hingegen, wie hoch meine Kosten sind, wenn ich einen bestimmten Output herstellen will. Vereinfacht gesagt: Wenn ich wissen will, wie viel Holz ich benötige, um drei Tische herzustellen, ziehe ich die Produktionsfunktion zu Rate; will ich wissen, wie teuer drei Tische sind, brauche ich die Kostenfunktion. Dabei stehen die beiden Funktionen in unmittelbarem Zusammenhang: In beiden Fragestellungen taucht die Anzahl der produzierten Tische auf. Doch nicht nur das: Die Produktionsfunktion fragt ja nach der Anzahl der Produktionsfaktoren, die man benötigt, die Kostenfunktion nach den Kosten dieser Produktionsfaktoren, also der Zahl der Produktionsfaktoren mal ihrem Preis. Ein einfaches Beispiel macht das deutlich: Nehmen wir an, wir benötigen drei Arbeiter, um sechs Tische herzustellen – diesen Zusammenhang gibt die Produktionsfunktion wider. Wenn diese drei Arbeitnehmer nun jeweils zehn Euro kosten (und es fallen keine weiteren Kosten an), dann betragen die Gesamtkosten der sechs Tische 30 Euro – und das ist genau der Zusammenhang, den die Kostenfunktion darstellt. Damit haben wir einen einfachen Weg, um aus der Produktionsfunktion die Kostenfunktion herzuleiten, der in Abbildung 30 dargestellt ist. Wir starten mit der Produktionsfunktion auf der linken Seite (a). Sie zeigt uns, wie viel Ertrag wir bekommen, wenn wir eine bestimmte Menge Arbeiter einsetzen. Von der Produktionsfunktion kommen wir zur Kostenfunktion, indem wir erstens die Achsen tauschen: Der Ertrag, der in der Produktionsfunktion auf der senkrechten Achse steht, wandert jetzt im rechten Teil (b) in Abbildung 30 von auf die waagrechte Achse. Der Grund für diesen Achsentausch ist ein formaler: In der Mathematik ist es eine Konvention, dass man bei solchen Funktionen diejenige Größe, die man frei wählen kann, auf die waagrechte Achse schreibt. Bei der Produktionsfunktion sind wir frei, die Zahl der Arbeiter zu wählen, und diese Wahl bestimmt dann unseren Ertrag. Bei der Kostenfunktion ist die Fragestellung anders herum: Wir wählen den Ertrag, die gewünschte Produktionsmenge frei aus, daraus leiten sich dann automatisch die Kosten ab. Wenn wir das gemacht haben, müssen wir nun noch die senkrechte Achse der Kostenfunktion beschriften – da müssen nun die Kosten hin. Die kennen wir jetzt auch: Es ist die Zahl der Arbeiter, multipliziert
35
120 Ertrag
29,5
30
80
23
20
60
0 0 (a)
60
20
8 5 3
0 0 2
50
40
12
10 5
80 70
17
15 Abbildung 30: Von der Produktionsfunktion (a) zur Kostenfunktion (b) (die Daten zu den Grafiken stammen aus Tabelle 8; als Lohn für die Arbeiter wurde ein Euro angenommen)
100 90
26
25
Kosten
100
28
4
6
Arbeitnehmer
8
10
12 (b)
40 30 20 10
5
Ertrag
10 15 20 25 30 35
5 So funktionieren Unternehmen
101
mit dem Lohn, den wir ihnen zahlen (in der Grafik wurde der Einfachheit halber unterstellt, dass die Arbeiter einen Lohn von einem Euro bekommen und keine weiteren Kosten anfallen – dann ändert sich die Steigung und Form der Kurve nicht). Damit haben wir also ein Vorgehen, wie wir von der Produktionsfunktion zur Kostenfunktion kommen: Zuerst vertauschen wir die Achsen – der Ertrag wandert von der senkrechten auf die waagrechte Achse; die Zahl der Produktionsfaktoren von der waagrechten auf die senkrechte Achse. Dann müssen wir nun noch die Produktionsfaktoren mit ihrem Preis bewerten und diese Zahl an die senkrechte Achse der Kostenfunktion schreiben und wir sind fertig.
Selbstversuch Sie können den Zusammenhang zwischen Produktionsfunktion und Kostenfunktion nachvollziehen, indem Sie ein Blatt Papier nehmen und mit einem dicken Filzstift zunächst eine Produktionsfunktion aufzeichnen, welche den typischen S-förmigen Verlauf hat, den wir bereits kennen gelernt haben. Wenn Sie nun unterstellen, dass der Input den Preis von eins hat, dann erhalten Sie ja die Kostenfunktion, indem Sie einfach die beiden Achsen vertauschen. Das können Sie ganz einfach erreichen, indem Sie das Blatt wie folgt umdrehen: Die linke obere Ecke ziehen Sie nach rechts unten, die rechte untere Ecke wandert nach links oben. Jetzt sehen Sie die Rückseite des Blattes, und wenn der Filzstift dick genug ist, sehen Sie die Konturen der von Ihnen eingezeichneten Produktionsfunktion – die jetzt zu einer Kostenfunktion geworden ist, weil auf der Rückseite des Blattes durch das Wenden die Achsen vertauscht sind. Sie erkennen nun auch, dass aus dem S-förmigen Verlauf der Produktionsfunktion der Verlauf der Kostenfunktion geworden ist. Dieser Trick funktioniert aber nur, solange Sie annehmen, dass der Preis für den Produktionsfaktor eins ist (warum?).
Wie Sie anhand der Abbildung (und mit Hilfe des Selbstversuches) erkennen können, ist die Form der Kostenfunktion vorgegeben durch die Form der Produktionsfunktion; hat diese die typische S-Form, dann hat die Kostenfunktion die Form eines umgedrehten S (klar, vertauschen wir die Achsen, dann dreht sich das S einfach um). Ist die Produktionsfunktion hingegen das, was man linear nennt – die Grenzerträge sind konstant, jeder zusätzlich eingesetzte Produktionsfaktor bringt stets den gleichen zusätzlichen Ertrag –, dann ist die Produktionsfunktion und ebenso die Kostenfunktion eine Gerade. Wenn also die Gestalt der Kostenfunktion bestimmt ist durch die Gestalt der Produktionsfunktion, so können wir nun ein paar Zusammenhänge herleiten:
Der Selbstversuch
Teil 1: Mikroökonomie
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Sinkende Grenzkosten. Wenn Sie die Kostenfunktion in Abbildung 31 näher anschauen, dann stellen Sie fest, dass ihre Steigung zu Beginn abnimmt, die Kurve wird am Anfang flacher. Das sind die sinkenden Grenzkosten, die sich unmittelbar durch die steigenden Grenzerträge der Produktionsfunktion ergeben. Der Zusammenhang ist einfach: Wenn der zusätzliche Ertrag pro eingesetztem Produktionsfaktor anfangs zunimmt (die Grenzerträge also steigen), die Kosten je Produktionsfaktor aber konstant sind, dann werden die zusätzlichen Kosten einer weiteren produzierten Einheit sinken; das sind die sinkenden Grenzkosten. Klar: Man setzt einen weiteren Arbeiter ein, der den gleichen Lohn kostet wie die bisherigen Arbeiter, der aber einen höheren zusätzlichen Ertrag bringt – dann sinken die zusätzlichen Kosten dieses Arbeiters pro Einheit Output, die er erbringt.
Steigende Grenzkosten. In der Produktionsfunktion gehen die steigenden Grenzerträge aber mit zunehmender Produktion in sinkende Grenzerträge über; dann werden gemäß den vorherigen Überlegungen zu den sinkenden Grenzkosten diese nun spiegelbildlich steigen.
Fixkosten. Die Fixkosten haben wir in unserem Beispiel bisher vernachlässigt, sie lassen sich aber recht einfach in die Kostenfunktion integrieren: Da sie unabhängig von der tatsächlichen Produktion anfallen, bedeutet das, dass die Einführung von Fixkosten die gesamte Kostenfunktion nur nach oben verschiebt – bei jeder produzierten Menge steigen die Kosten um den gleichen, fixen Betrag. Berücksichtigt man das alles, dann hat unsere Kostenfunktion die Gestalt der Funktion in Abbildung 31, die sich wiederum aus Tabelle 9 ergibt. In dieser Tabelle haben wir die Zahlen aus dem Beispiel zur Produktionsfunk-
220 Kosten
200
200
190 180
180 170
160
160 150
140
140 130
120
120 110
Abbildung 31: Die Kostenfunktion (die Daten stammen aus Tabelle 9)
Ertrag
100 0
5
10
15
20
25
30
35
5 So funktionieren Unternehmen
103
tion (aus Tabelle 8) aufgegriffen und angenommen, dass die fixen Kosten 100 Euro betragen und pro Arbeiter ein Lohn von 10 Euro fällig wird. Dann ergeben sich die Kosten bei beispielsweise zwei Arbeitern aus 100 Euro fixe Kosten plus zwei mal zehn Euro je Arbeiter; macht 120 Euro Gesamtkosten. Und zwei Arbeiter – das entnehmen Sie aus Tabelle 8 – erwirtschaften einen Ertrag von fünf. AN
GE
GK
VK
DK
GRK
1
3
110
10
36,6
10
2
5
120
20
24
5
3
8
130
30
16,25
3,33
4
12
140
40
11,6
2,5
5
17
150
50
8,8
2
6
23
160
60
6,95
1,67
7
26
170
70
6,54
3,34
8
28
180
80
6,43
5
9
29
190
90
6,55
10
10
29,5
200
100
6,78
20
(AN = Arbeitnehmer; GE = Gesamtertrag; GK = Gesamtkosten; VK = variable Kosten; DK = Durchschnittskosten; GRK = Grenzkosten. Die Daten zu den Arbeitnehmern und dem Gesamtertrag stammen aus Tabelle 8; zu den Kosten wurden Fixkosten von 100 und Lohnkosten von 10 je Arbeitnehmer angenommen)
Die Berechnung der Grenzkosten in Tabelle 9 müssen wir noch kurz erläutern. Die Grenzkosten sind die zusätzlichen Kosten einer zusätzlich produzierten Einheit. Wenn Sie aber in Tabelle 9 hinsehen, stellen Sie fest, dass wir mit jedem Arbeiter, den wir hinzufügen, nicht eine Einheit mehr, sondern zwei, drei oder noch mehr zusätzliche Einheiten mehr produzieren. Die Definition der Grenzkosten bezieht sich aber immer nur auf eine zusätzliche Einheit (mathematisch gesehen ist das die Steigung der Kostenfunktion). Wenn wir statt einem Arbeiter zwei beschäftigen, dann beträgt der zusätzliche Ertrag zwei Stücke – wir wollen aber die zusätzlichen Kosten für nur ein zusätzliches Stück. Also behelfen wir uns mit einem kleinen Trick: Wir berechnen sozusagen die durchschnittlichen Grenzkosten. Wenn wir statt einem Arbeiter zwei beschäftigen, dann steigen die Kosten um zehn Euro, der zusätzliche Ertrag sind zwei Stücke – also betragen die Grenzkosten für jedes der beiden zusätzlichen Stücke jeweils fünf Euro – wir teilen die Grenzkosten also unter den zusätzlichen Produktionsstücken auf. Also rechnen wir wie folgt: Wenn wir statt drei Arbeitnehmern vier beschäftigen, so beträgt der zusätzliche Ertrag vier Stücke, die zusätzlichen Kosten betragen zehn, also teilen wir die zusätzlichen Kosten durch die zusätzlichen vier Stücke, macht je Stück Grenzkosten von 2,5.
Tabelle 9: Von der Produktionsfunktion zur Kostenfunktion
Teil 1: Mikroökonomie
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Abbildung 32: Die Durchschnittskostenfunktion (die Daten stammen aus Tabelle 9)
40 Durchschnittskosten 36,67
35 30 25
24,00
20 16,25 15 11,67 8,82
10
6,43 6,78
6,96 5
6,54 6,55
0 0
5
10
15
20
25
30
35
Ertrag
Im Folgenden wollen wir uns die Durchschnittskosten und die Grenzkosten näher ansehen – beginnen wir mit den Durchschnittskosten (die in Abbildung 32 abgebildet sind). Wie Sie sehen, sinken die Durchschnittskosten zunächst, erst mit steigender Produktion (ab dem achten Arbeitnehmer) steigen sie wieder. Der Grund für dieses Verhalten sind die Fixkosten, respektive die so genannte Fixkostendegression. Das erklärt sich so: Hat man hohe Fixkosten und produziert man nur drei Stücke, so werden diese gesamten Fixkosten zuzüglich der variablen Kosten auf diese drei Stücke umgelegt – die Durchschnittskosten betragen dann 36,6 Euro (110 Euro dividiert durch drei Stück). Produziert man nun fünf Stücke (man stellt also einen Arbeiter mehr ein), so werden die fixen Kosten nun nicht mehr auf drei, sondern auf fünf Stücke verteilt – 100 Euro Fixkosten plus 20 Euro variable Kosten macht 120 Euro; umgelegt auf fünf Stücke ergibt das nun Durchschnittskosten von 24 Euro. Die sinkenden Durchschnittskosten entstehen also dadurch, dass die gleichen 100 Euro Fixkosten nicht von drei Stücken, sondern von fünfen getragen werden. Dieser Effekt wird umso stärker, je höher die Produktion steigt: verteilen sich die 100 Euro Fixkosten auf 100 produzierte Stücke, so beträgt der Fixkostenanteil, den jedes Stück trägt, nur noch einen Euro. Das ist die Fixkostendegression: die stets gleich bleibenden Fixkosten werden auf eine immer größere Ausbringungsmenge verteilt, wo sie dann umso weniger ins Gewicht fallen. Klar: Wenn man extra eine Fabrik baut, dann ist es einleuchtend, dass man besser 100.000 Stück herstellt statt nur ein Stück. Irgendwann allerdings läuft dieser Effekt aus; wenn man 100 Euro Fixkosten bereits auf eine Ausbringungsmenge von einer Million Stück verteilt, fällt der Effekt einer weiteren produzierten Einheit nicht mehr sonderlich ins
5 So funktionieren Unternehmen
Gewicht. Sobald aber dieser Effekt ausläuft, beginnen die Durchschnittskosten zu steigen, und zwar wegen der steigenden Grenzkosten. Wie wir ja gesehen haben, steigen die Grenzkosten ab einer bestimmten Ausbringungsmenge (wegen des sinkenden Grenzproduktes), das führt zu steigenden Durchschnittskosten. In Abbildung 32 steigen die Durchschnittskosten ab dem neunten Arbeitnehmer wieder. Aber was, wenn die Fixkosten riesig sind? Dieser Effekt der Fixkostendegression ist ja umso größer und dauert umso länger an, je größer der Fixkostenblock ist. Im Extremfall sind die Fixkosten einer Branche so hoch, dass die Durchschnittskosten immer weiter sinken, egal, wie hoch die Produktion ist. Wenn dies der Fall ist, dann kann ein Unternehmen seine durchschnittlichen Kosten pro Stück senken, indem es immer mehr herstellt (und so von der Fixkostendegression profitiert) und mit dieser Mehrproduktion den Markt überschwemmen, so dass am Ende nur ein Anbieter übrig bleibt. Das ist ein so genanntes natürliches Monopol (ein Monopol liegt vor, wenn es nur einen Anbieter am Markt gibt – das werden wir uns in Kapitel 6 näher ansehen).
Produktionsfunktion und Politik: Die Bundesnetzagentur Seit 2005 heißt die Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post in Bonn Bundesnetzagentur (www.bundesnetzagentur. de). Die Bundesnetzagentur hat die Aufgabe, durch Liberalisierung und Deregulierung für die weitere Entwicklung auf dem Markt für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und dem Eisenbahninfrastrukturmarkt zu sorgen. In der Energiebranche überwacht sie die Betreiber von Energieversorgungsnetzen (Netzbetreiber). Sie genehmigt die Netzentgelte für die Durchleitung von Strom und Gas, verhindert oder beseitigt Hindernisse beim Zugang zu den Energieversorgungsnetzen für Lieferanten und Verbraucher. Im Telekommunikationsmarkt kontrolliert sie die Marktmachtstellung der nach wie vor dominanten Deutschen Telekom und reguliert die Entgelte für Endnutzerleistungen (Öffentlicher Telefondienst), sowie den Zugang zu öffentlichen Telefonnetzen (Festnetz / Mobilfunk) und zu öffentlichen Breitband-IP-Netzen. Bei der Bahn übernimmt die Bundesnetzagentur die Aufsicht über den Wettbewerb auf der Schiene und ist verantwortlich für einen diskriminierungsfreien Zugang zur Eisenbahninfrastruktur. Sie achtet auf die Einhaltung der Zugangsvorschriften zur Eisenbahninfrastruktur, insbesondere hinsichtlich der Erstellung des Netzfahrplans, der Entscheidungen über die Zuweisung von Zugtrassen, des Zugangs zu Serviceeinrichtungen sowie der Benutzungsbedingungen, der Entgeltgrundsätze und der Entgelthöhen.
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Teil 1: Mikroökonomie
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Auf diesem Bild haben wir ein natürliches Monopol versteckt.
„Natürlich“ heißt dieses Monopol deswegen, weil es praktisch automatisch entsteht – nur durch die hohen Fixkosten. Beispiele für solche Monopole sind die Telekommunikation, die Bahn oder das Stromnetz – alles Branchen, die leitungsgebunden sind und deswegen einen gigantischen Fixkostenblock (nämlich das Netz) vor sich herschieben. Noch bevor man das erste Telefonat vermittelt, den ersten Strom verkauft oder den ersten Zug fährt, muss man ein unglaublich teures Netz aufbauen, und diese Kosten entstehen unabhängig von der Zahl der vermittelten Telefonate, des gelieferten Stroms und der transportierten Passagiere – das sind die Fixkosten. Hier ist klar, dass am Ende nur ein Anbieter übrig bleiben wird, und dass es wenig Sinn hat, zwei Schienennetze oder Elektrizitätsnetze nebeneinander zu unterhalten – hier muss der Staat eingreifen. Und die Ursache dafür sind die hohen fixen Kosten, die zu sinkenden Durchschnittskosten führen. Produktionstechnologie macht hier Politik. Wenn Sie nun aufgepasst haben, werden Sie Einspruch erheben: In der Telekommunikation gibt es doch viele verschiedene Anbieter, ebenso beim Strom, und auch auf den Schienen fahren Züge verschiedener Anbieter – aber wie ist das möglich? Vereinfacht gesagt, indem man den Wettbewerb nicht um das Netz, sondern im Netz veranstaltet. Das erreicht man, indem man den Besitzer des Netzes (die Telekom, die Bahn) dazu zwingt, potentiellen Wettbewerbern Netzkapazitäten anzubieten. Will also Vodafone Telefongespräche anbieten, so kann es Leitungskapazitäten von der Telekom mieten und mit Hilfe der so gemieteten Kapazitäten Gespräche anbieten und der Telekom Konkurrenz machen. Auch bei der Bahn funktioniert das so: Wenn der private Wettbewerber eine Bahnstrecke befahren will, so muss die Deutsche Bahn ihm die Möglichkeit bieten, diese Strecke auch zu befah-
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20
20,00
Grenzkosten 15
10
10,00 5,00
5
3,33
2,50 3,33 Abbildung 33: Die Grenzkostenfunktion (die Daten stammen aus Tabelle 9)
5,00
1,67 2,00
0 0
5
10
15
20 Ertrag
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30
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ren – gegen ein entsprechendes Entgelt, versteht sich. In der Realität ist das alles natürlich noch wesentlich komplizierter, aber vom Prinzip her funktioniert das so. Und die Bundesnetzagentur ist sozusagen der Schiedsrichter in diesem Verfahren. Sie sehen in Abbildung 32 aber auch, dass die Durchschnittskosten in unserem Beispiel wieder steigen – das passiert, sobald der Effekt der Fixkostendegression nachlässt (rechnen Sie Tabelle 9 noch einmal nach unter der Annahme, dass die Fixkosten nur 50 betragen oder Null sind, dann wird dieser Effekt noch besser sichtbar). Warum aber steigen die Durchschnittskosten, wenn dieser Effekt ausläuft? Das lässt sich leicht erklären, wenn man die Grenzkosten (Abbildung 33) beachtet: Diese sinken zunächst (wegen des steigenden Grenzproduktes in der Produktionsfunktion, wie wir bereits gesehen hatten), und steigen dann wieder (mit sinkendem Grenzprodukt). Und diese steigenden Grenzkosten sind auch die Ursache dafür, dass die Durchschnittskosten irgendwann wieder steigen (wenn der Effekt der Fixkostendegression nachlässt). Da die Grenzkosten die Kosten der nächsten, zusätzlich produzierten Einheit sind, stehen sie in einem engen Zusammenhang zu den Durchschnittskosten: Betragen die Durchschnittskosten beispielsweise 30 Euro und die Grenzkosten 35 Euro, so bedeutet das, dass unsere Produktion an diesem Punkt im Durchschnitt 30 Euro kostet, und jetzt stellen wir eine weitere Einheit her, die 35 Euro kostet (das sind ja genau die Grenzkosten), also mehr als der bisherige Durchschnitt. Wenn wir aber zu einem Durchschnitt von 30 einen weiteren Wert hinzufügen, der größer als 30 ist – dann muss der Durchschnitt steigen. Solange also die Grenzkosten größer sind als die Durchschnittskosten, werden die Durchschnittskosten steigen, wenn wir eine weitere Einheit produzieren. Umgekehrt gilt: Liegen die Grenzkosten unter den Durchschnittskosten, so sinken die Durchschnittskosten, wenn man eine weitere Einheit produziert (man fügt dem Durchschnitt eine weitere Einheit hinzu, die billiger ist als der Durchschnitt, also muss der Durchschnitt sinken). Diese Überlegungen bringen uns zu einer weiteren Erkenntnis, was den Verlauf der Kostenkurven angeht: Solange die Grenzkosten geringer sind als die Durchschnittskosten, werden die Durchschnittskosten sinken, sobald eine weitere Einheit produziert wird. Liegen die Grenzkosten über den Durchschnittskosten, so wird eine weitere produzierte Einheit dazu führen, dass die Durchschnittskosten steigen. Damit können wir einen letzten Zusammenhang zwischen Durchschnittskosten und Grenzkosten herstellen: Liegen die Grenzkosten (die Grenzkostenfunktion) unter (über) den Durchschnittskosten (der Durchschnittskostenfunktion), dann sinken (steigen) die Durchschnittskosten bei steigender Produktion. Abbildung 34 zeigt diesen Zusammenhang: Solange die Funktion der Grenzkosten (GRK) unter der Durchschnittskostenfunktion (DK) liegt, sinken die Durchschnittskosten, wenn wir uns auf der Mengenachse nach rechts bewegen (also die Produktion erhöhen). Doch sobald die GRK-Kurve über der DK-Kurve liegt,
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35 Durchschnittskosten
Grenzkosten
30 25
24,00 20,00
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15 11,67 10,00
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6,54
5,00
5
Abbildung 34: Durchschnittskosten und Grenzkosten im Zusammenhang. (Die Daten stammen aus Tabelle 9)
6,96
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6,43
5,00 2,50
2,00
1,67
6,78 6,55
3,33
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steigen die Durchschnittskosten, wenn wir uns weiter nach rechts bewegen. Ab Durchschnittskosten von etwas mehr als 6,43 steigen die Durchschnittskosten wieder, und dort schneidet auch die Grenzkostenfunktion die Durchschnittskostenfunktion. Damit ist klar, dass der Schnittpunkt der Grenzkostenfunktion mit der Durchschnittskostenfunktion ein besonderer Punkt ist: Dort ist das Minimum der Durchschnittskosten. Klar: Sind die Grenzkosten geringer als die Durchschnittskosten, so sinken die Durchschnittskosten bei steigender Produktion; sind die Grenzkosten größer als die Durchschnittskosten, so steigen diese. Dann muss der Schnittpunkt der beiden Kurven logischerweise der Punkt sein, an dem die Durchschnittskosten ihren Tiefpunkt erreichen. Dieser Punkt wird im nächsten Kapitel noch einmal wichtig werden. Doch bevor wir uns der endgültigen Idee zuwenden, wie das Angebot von Unternehmen zustande kommt, lassen Sie uns noch einmal ein paar Gedanken sammeln zu einem heiklen Problem, das untrennbar mit den Unternehmen verbunden ist: Mit der Bezahlung ihrer Manager. Wie bezahlen wir Manager? Keine Frage, wer ein Unternehmen lenkt, will, soll auch dafür bezahlt werden aber wie und vor allem wie hoch? Vor allem die Höhe der Managergehälter ist arg in die Kritik geraten – was rechtfertigt denn so hohe Gehälter? Hier werden verschiedene Argumente genannt:
Knappheit. Ein Argument ist die Knappheit der Talente (das kennen wir aus Kapitel 1): Es gibt nur wenige Menschen, welche die Fähigkeit besitzen, große Unternehmen erfolgreich zu lenken – und diese Knappheit muss eben entsprechend bezahlt werden. Zahlen die deutschen Unternehmen nicht genug, so das Argument, dann gehen die wenigen
5 So funktionieren Unternehmen
Talente eben ins Ausland. Kritiker halten diesem Argument entgegen, dass es nicht gerade viele Deutsche in den Führungsebenen ausländischer Konzerne gibt – das kann bedeuten, dass deutsches ManagementTalent im Ausland wenig gefragt ist oder aber, dass die Bezahlung in Deutschland einfach besser ist als im Rest der Welt.
Risiko. Führungsaufgaben sind stets Schleudersitze – geht etwas schief, ist der Vorstand schnell weg vom Fenster, und dieses Risiko lässt man sich – neben der hohen Arbeitsbelastung (die ohne Frage enorm ist) und der großen Verantwortung – entsprechend vergüten. Allerdings ist für dieses Risiko auch die Möglichkeit, einen neuen Job zu bekommen, entscheidend: Wer nach dem Rauswurf rasch einen neuen Job bekommt, trägt kein hohes Risiko. Und wenn die Idee mit den knappen Managertalenten stimmt, sollte das eigentlich kein Problem sein.
Leistung. Vom ökonomischen Standpunkt aus ist die Sache klar: wenn ein Manager den Gewinn eines Unternehmens steigert, dann sollte man ihn an diesem Erfolg beteiligen – fair genug. Die Frage dabei ist allerdings erstens, wie man Erfolg definiert und über welchen Zeitraum wir sprechen – vor allem letzteres ist der Knackpunkt an dieser Debatte.
Anreize. Nur entsprechend entlohnte Manager werden sich auch für das Unternehmen entsprechend ins Zeug legen. Dabei ist ein fixes Gehalt nicht leistungsförderlich, so die Idee: Wer ein Fixgehalt bezieht, tut nur das nötigste und bummelt. Wer jedoch am Erfolg eines Unternehmens direkt beteiligt ist, legt sich dementsprechend ins Zeug. Das ist grundsätzlich richtig (hier sehen Sie wieder, wie wichtig unsere Anreize sind, die wir in Kapitel 1 kennen gelernt haben; denken Sie dazu auch an das Taxifahrer-Problem), doch es beantwortet nicht die Frage, wie wir die Teilhabe am Erfolg definieren. Zudem kann hier ein weiteres Problem auftauchen, nämlich dass asymmetrische Anreize entstehen: Geht es gut, verdient der Manager viel, geht es schief, sucht er sich einen neuen Job; das Geld, welches das Unternehmen verliert, ist ja nicht seines. Bei dieser Konstellation kann es leicht dazu kommen, dass die Manager übermäßige Risiken eingehen, die nicht mehr im Interesse des Unternehmens sind. Vor allem die letzte Überlegung zeigt den Weg zur theoretisch richtigen Entlohnung von Führungskräften: Man muss den Manager so stellen, als ob er der Eigentümer des Unternehmens wäre – geht es dem Unternehmen gut, geht es ihm gut, geht es dem Unternehmen schlecht, geht es ihm auch schlecht. Das ist vereinfacht gesagt die Idee des so genannten Shareholder value. Diese einfache Idee leidet in der Praxis allerdings daran, dass man den Manager ja nicht auf ewig an das Unternehmen binden kann und er ja monatlich respektive jährlich bezahlt werden will – wie also definieren wir den Erfolg eines Unternehmens vor allem mit Blick auf die zeitliche Sicht? Nach zehn Tagen Erfolgsprämien ausschütten ist sicherlich genau so übertrieben wie zehn Jahre auf die erste Prämie warten. Im Grunde genommen braucht man hier zeitlich gestaffelte Regelungen, bei denen der Manager für verschiedene (Teil-)erfolge bezahlt (respektive bestraft) wird, die zeitlich
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gestaffelt sind. Doch je länger der Zeitraum wird, den man ansetzt, um den Erfolg eines Managers zu messen, um so größer wird ein weiteres Problem: Kann, darf, muss man einem Manager, der vor zehn Jahren einmal Vorstand war, ankreiden, dass das Unternehmen zehn Jahre, nachdem er von Bord gegangen ist, pleite macht? Das kann durchaus sein, muss aber nicht, und wird schwer nachzuweisen sein.
In der Praxis: Shareholder value und Stakeholder value Die Idee des Shareholder value ist nach der Finanzkrise des Jahres 2008 massiv in die Kritik geraten. Die Grundidee besteht darin, dass ein Unternehmen, das erfolgreich ist, auch ein wertvolles Unternehmen ist – keine Frage. Danach reicht es also, die Leistung eines Managers daran zu messen, ob es ihm gelingt, den Wert seines Unternehmens zu steigern. Messen kann man den Wert eines Unternehmens an der Börse, wenn es dort notiert ist: Je größer die Marktkapitalisierung des Unternehmens – Zahl der Aktien des Unternehmens mal deren Preis (dem Aktienkurs) – ist, um so wertvoller, sprich erfolgreicher ist das Unternehmen, um so besser war der Manager (dabei unterstellen wir, dass ein erfolgreiches Unternehmen einen höheren Aktienkurs aufweist, weil die Aktien eines erfolgreichen Unternehmens an der Börse begehrt sind). Als Ergebnis dieser Idee kam man zu dem Ergebnis, dass man die Bezahlung der Vorstände an die Entwicklung des Aktienkurses koppeln müsse. Was in der Theorie gut klingt, führte in der Praxis zu Auswüchsen, bei denen die Manager alles taten, um den Börsenwert des Unternehmens zu steigern. Hier hat man wohl das Pferd vom falschen Ende her aufgezäumt: Eigentlich soll der Unternehmenswert gesteigert werden, was dann den Börsenwert erhöht – wer aber stattdessen den Börsenwert steigert, kann nicht automatisch davon ausgehen, dass dies auch den Erfolg des Unternehmens erhöht. Hinzu kam erschwerend, dass viele Vorstände eher auf die kurzfristige Wertsteigerung ihres Unternehmens schielten, was nicht immer die langfristig beste Strategie ist. Als Alternative zum Shareholder Value wird der so genannte Stakeholder Value genannt – hier sollen die Interessen aller berücksichtigt werden, die mit dem Unternehmen zu tun haben: Kunden, Mitarbeiter, Kreditgeber, Lieferanten, der Staat, Umwelt. Auf lange Frist sollten sich die beiden Ideen eigentlich annähern: Ein Unternehmen kann nur erfolgreich sein, wenn die Mitarbeiter und die Kunden zufrieden sind, und die Kreditgeber sowie der Staat keinen Kummer bereiten.
Gut, es bleibt die Frage nach der moralischen Rechtfertigung – kann man dazu etwas als Ökonom sagen? Schwierig. Nähern wir uns dieser Frage zunächst von einem rein ökonomischen Standpunkt, so ist die Antwort einfach: Jeder Unternehmensführer bekommt das, was er verdient, und was er
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verdient, entscheiden die Eigentümer des Unternehmens. Wenn also die Eigentümer des Unternehmens der Ansicht sind, dass dieser Vorstand das horrende Gehalt wert ist, dann ist das völlig in Ordnung, schließlich ist es ihr Unternehmen und auch ihr Geld. Niemand regt sich interessanterweise über die hohen Gagen und Gehälter von Sportlern, Schauspielern oder Künstlern auf – obwohl man auch hier fragen müsste, ob diese gerechtfertigt sind. Moral ist eine Kategorie, die sich rationalen, objektiven Betrachtungen entzieht – man kann gerne der Meinung sein, dass viele Managergehälter übertrieben sind, aber darf man seine Vorstellungen von „richtigen“ Gehältern anderen Menschen aufzwingen? Darf man Unternehmen vorschreiben, welche Gehälter sie zahlen dürfen respektive nicht zahlen dürfen?
In der Diskussion Welche Möglichkeiten sehen Sie, Manager zu entlohnen? Welche Anreize muss und kann man setzen? Welche Lösung ist fair? Und wer darf eigentlich darüber entscheiden, was Manager verdienen?
Aber zweifelsohne stellt sich bisweilen heraus, dass der ein oder andere Manager überbezahlt war – und nun? Natürlich darf man empört sein und diesen auffordern, redlich zu sein und sein Gehalt zurück zu geben (obwohl Sie auch nie Ihr Geld zurückbekommen, wenn Ihnen der Film nicht gefallen hat), doch darf man es ihm wegnehmen? Wenn man jetzt gesetzlich das Geld zurückholt, zerstört man den Glauben in das Privateigentum und in die Gültigkeit der Vertragsfreiheit – und wir wissen aus dem ersten Kapitel, welche Folgen das haben kann. Die Schuld für diese falsche Entlohnung muss man eher bei den Eigentümern suchen, die sich auf dieses Gehalt eingelassen haben, sie sollten auch diese Suppe auslöffeln. Solange diese Fehl-
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entscheidung ihr eigenes Geld kostet, ist das in Ordnung und richtig. Womit wir bei einem letzten Punkt bei dieser Debatte wären: Wer sind denn die Eigentümer vieler großer Unternehmen?
Seid verschlungen, ihr Millionen. © dpa-Report
Bei manchen mittelständischen Unternehmen ist das einfach, diese sind oft noch in Familienbesitz. Wenn hier ein Manager überbezahlt wird, kostet das ein Stück des Familienvermögens oder des Erbes – unter dem Strich kein Problem. Schwieriger wird das bei den richtig großen Unternehmen, die beispielsweise im Deutschen Aktienindex Dax notiert sind – wem gehören die denn? Vereinfacht gesagt gehören diese Unternehmen vielen Einzeleigentümern, die nur einen kleinen Anteil, einige wenige Aktien an dem Unternehmen halten. Und genau hier kann das Dilemma liegen: Besitzt man beispielsweise 10 Aktien der Deutschen Bank, so ist man theoretisch betrachtet ein Miteigentümer der Deutschen Bank – aber wird nur wenig Einfluss auf die Geschäftspolitik haben. Und vielleicht auch nicht danach trachten: Um sich einen fundierten Einblick in die Prozesse eines solchen großen Unternehmens zu verschaffen, muss man sich lange einarbeiten, auf die Hauptversammlung des Unternehmens gehen, wo solche Dinge unter allen Aktionären diskutiert werden, und dort seine Meinung los werden – obwohl man mit seinen zehn Aktien keinen messbaren Einfluss auf die Geschäftspolitik und das Abstimmungsergebnis hat. Warum sich also die Mühe machen? Wenn sich aber alle Klein-Eigentümer keine Mühe machen, dann wird das Unternehmen quasi führungslos – wenn sich niemand darum kümmert, dann gehört es auch niemandem. Dieses Vakuum kann dazu führen, dass ein Unternehmen zum Selbstbedienungsladen für die Angestellten mutiert, die von niemandem ernsthaft kontrolliert werden, weil niemand sich die
600 500 400 300 200
Durchschnittliche Vorstandsbezüge je Kopf Durchschnittliche Personalkosten je Kopf Durchschnittlicher Aktienkurs
100
19 87 19 88 19 89 19 90 19 91 19 92 19 93 19 94 19 95 19 96 19 97 19 98 19 99 20 00 20 01 20 02 20 03 20 04 20 05
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Abbildung 35: Vorstandsbezüge und Aktienkurse (indexiert) (Quelle: Schmidt, R./Schwalbach J.: Zur Hölle und Dynamik der Vorstandsvergütung in Deutschland, ZfB Special Issue 1/2007, S. 111–122, Abbildung 1, S. 119)
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Mühe macht, zu kontrollieren – warum soll man sich bei zehn Aktien die Mühe machen, die Gehaltslisten der Manager zu kontrollieren? Selbst wenn die sich nun zu viel Gehalt genehmigen, senkt das den Wert meiner Aktien nur geringfügig, zu wenig, als dass ich einen Anreiz habe, mich einzumischen. Ein echtes Dilemma. Bei familiengeführten Unternehmen wird dieses Problem weniger auftauchen: Wenn es Ihr Unternehmen ist, bedeutet jede Gehaltserhöhung für das Management einen geringeren Gewinn für den Eigentümer – Sie werden als Eigentümer also recht genau hinschauen, was Ihr Management verdient. Das ist sie wieder, die Anreizwirkung des Privateigentums. Ein Ausweg aus diesem Dilemma der Aktionärsdemokratie (gibt es dieses Problem auch bei Demokratien generell?) besteht darin, dass man Agenten mit der Wahrung der eigenen Interessen beauftragt, beispielsweise die Bank oder so genannte Fondsgesellschaften, welche für viele Kunden Geld verwalten. Diese gehen auf die Hauptversammlung des Unternehmens und stimmen (hoffentlich) im Sinne derjenigen ab, deren Aktien (also Stimmrechte) sie vertreten. In den vergangenen Jahren haben Fondsgesellschaften dies öffentlichkeitswirksam gemacht: Diese Unternehmen sammeln von Anlegern Geld ein und kaufen von diesem Geld Anteile an Unternehmen (unter anderem). Geht es den Unternehmen gut, steigen die Aktien (siehe die Idee des Shareholder value), und das kommt dann auch den Kunden der Fondsgesellschaften zugute, in deren Namen die Fondsgesellschaften das Geld investieren. Deswegen sind diese Gesellschaften in den vergangenen Jahren auf Hauptversammlungen der Unternehmen gegangen und haben diese kritisiert – im Interesse ihrer Kunden.
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Zusammenfassung 1. Eine Produktionsfunktion gibt den systematischen Zusammenhang zwischen dem Einsatz der Produktionsfaktoren und dem daraus resultierenden Ertrag wider. Dabei gilt in der Regel das Ertragsgesetz: Die zusätzlichen Erträge (Grenzerträge) steigen zunächst aufgrund besserer Arbeitsteilung und so genannter Synergien; doch mit steigender Ausbringungsmenge sinken sie wieder. 2. Von der Produktionsfunktion gelangt man zur Kostenfunktion, indem man die Produktionsfaktoren mit ihren Preisen bewertet und den Zusammenhang umdreht (also die Achsen vertauscht): Fragt man in der Produktionsfunktion danach, welchen Ertrag man mit welchem Input erzielt, so fragt man bei der Kostenfunktion danach, mit was für einem Ertrag welche Kosten (= Input mal Preis) verbunden sind. 3. Die Grenzkosten sinken zunächst, da man anfangs die gleiche zusätzliche Ausbringungsmenge mit einem geringeren zusätzlichem Einsatz von Produktionsfaktoren herstellen kann (als Folge der steigenden Grenzerträge); mit steigender Produktion sinken die Grenzerträge, weshalb die Grenzkosten dann steigen müssen. 4. Die Durchschnittskosten (Kosten je produziertem Stück) sinken zunächst wegen der Fixkostendegression: ein gleich bleibender Block von fixen Kosten wird auf eine immer größere Ausbringungsmenge verteilt. Je nach Größe dieser Kosten läuft dieser Effekt aber aus; dann steigen die Durchschnittskosten wegen der steigenden Grenzkosten. Das Minimum der Durchschnittskosten liegt dort, wo die Grenzkosten gleich den Durchschnittskosten sind. 5. Die Rechtsform eines Unternehmens spielt auch eine Rolle für deren Kosten, speziell wenn die Eigentümer des Unternehmens wenig Anreize haben, die angestellten Manager zu beaufsichtigen und deren Bezahlung zu kontrollieren. Hinzu kommt das Problem, dass sich bei einer erfolgsorientierten Entlohnung (welche grundsätzlich anreizkompatibel ist) nur schwer festlegen lässt, wie und über welchen Zeitraum man Erfolg misst.
So funktioniert das Angebot
6
Um was geht es? Wir haben jetzt eine erste Idee davon gewonnen, wie Märkte funktionieren und was passiert, wenn der Staat direkt in Märkte eingreift. Und wir haben gesehen, wie Unternehmen ticken, wie die Produktions- und Kostenzusammenhänge aussehen. Aus diesem Wissen können wir nun das Angebotsverhalten der Unternehmen herleiten, und dieses Wissen wird uns helfen, die Angebotskurve zu bestimmen, die wir in den vorherigen Kapiteln bereits verwendet haben – ohne sie korrekt herzuleiten. Dieses Verständnis der Angebotskurve wird uns helfen, besser zu verstehen, was an Märkten schief gehen kann, wenn man Unternehmen falsch anfasst, und wir werden aus diesem Verständnis der Angebotskurve herleiten, was passiert, wenn es zu wenig Wettbewerb gibt und zum Schluss nur ein Unternehmen, das so genannte Monopol, übrig bleibt. Dann können wir uns in einem nächsten Schritt fragen, was die Politik dagegen tun muss und uns mit der Wettbewerbspolitik beschäftigen. M
GEL
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1
12
12
12
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5
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8
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Gewinnmaximierung. Lassen Sie uns zunächst aus dem, was wir bisher erfahren haben, die Angebotskurve eines Unternehmens herleiten. Dabei wird uns Tabelle 10 helfen. Dort haben wir in einem fiktiven Verkaufsprozess die verkaufte Menge M, den Gesamterlös (GEL), den Durchschnittserlös (DEL) und den Grenzerlös (GREL) eingetragen. Der Gesamterlös (oder auch Umsatz) ist die verkaufte Menge mal ihrem Preis, der Durchschnittserlös ist der Erlös je verkaufter Einheit und der Grenzerlös ist der zusätzliche Erlös einer weiteren verkauften Einheit – das funktioniert genauso wie bei den Kosten und den Erträgen. Aber eine Sache müssen Sie natürlich wissen, damit Sie diese Tabelle erstellen können, nämlich den Preis. Da sich der Erlös – und aus ihm auch der Grenz- und Durchschnittserlös – erst ergibt, wenn man den Preis weiß, geht es nicht ohne.
Tabelle 10: Gesamterlös (GEL); Durchschnittserlös (DEL) und Grenzerlös (GREL)
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Teil 1: Mikroökonomie
Wie Sie erkennen, haben wir in der Tabelle eine ganz spezielle Annahme gemacht: Der Preis beträgt in unserem Beispiel immer 12 Euro, egal, wie viel der Produzent herstellt. Als Konsequenz sind sowohl der Durchschnittserlös als auch der Grenzerlös konstant und betragen stets 12 (warum?). Das klingt harmlos, ist aber eine ganz wichtige Annahme, sie besagt, dass der Produzent den Preis seines Gutes nicht beeinflussen kann, indem er mehr oder weniger herstellt. Ob er also eines oder zehn Stücke herstellt und anbietet – der Preis bleibt stets unverändert, auch wenn er seine Produktion verzehnfacht. Diese Annahme ist also nur haltbar, wenn wir unterstellen, dass unser Anbieter ein so kleiner Fisch im Markt ist, dass eine Verdopplung seines Angebotes keinen Einfluss auf den Preis hat. Bei einem großen Anbieter, der beispielsweise die Hälfte des Marktes beliefert, wäre das unrealistisch; wenn dieser sein Angebot verdoppelt, würde der Preis vermutlich heftig sinken. Diese Annahme werden wir später machen, wenn wir über das Monopol reden. Da aber alle unsere Ergebnisse der folgenden Überlegungen darauf aufbauen, dass der Preis bei einer Veränderung der produzierten Menge unverändert bleibt, unterstellen wir in der folgenden Analyse, dass wir stets von einem sehr kleinen Anbieter sprechen, der keinen Einfluss auf dem Markt hat – man spricht dann auch von einem Preisnehmer. Der Gesamtmarkt, den wir uns dann anschauen, besteht aus sehr vielen kleinen Unternehmen, die alle einen so kleinen Anteil am Gesamtmarkt haben, dass es für den Marktpreis keinen Unterschied macht, ob einer dieser vielen kleinen Anbieter seine Produktion erhöht oder reduziert – im Vergleich zu der am gesamten Markt gehandelten Menge ist diese Menge so gering, dass dies keinen Einfluss auf den Marktpreis hat. Wir unterstellen also im Folgenden das, was Ökonomen als vollkommene Konkurrenz (bisweilen wird auch der Begriff Polypol verwendet) bezeichnen: Ein Markt mit vielen kleinen Anbietern, von denen jeder Einzelne so klein ist, dass er keinen Einfluss auf den Marktpreis hat. Zusätzlich gehen wir davon aus, dass das Produkt, das auf dem Markt gehandelt wird, vollkommen austauschbar ist, egal von welchem Anbieter es kommt (andernfalls könnte sich ein Produzent durch Design, Service o.ä. einen Marktvorsprung verschaffen und einen anderen Preis fordern als den Marktpreis) – man spricht dann auch von einem homogenen Gut. Zusätzlich gehen wir davon aus, dass die Konsumenten keine Probleme bei der Beschaffung von Informationen über den Markt haben (das nennt sich dann vollkommene Markttransparenz). Wir lassen damit alle Aspekte beiseite, die unsere Analyse komplizieren und die Ergebnisse verwässern würden, um uns zunächst einmal auf eine wesentliche Idee zu konzentrieren. Danach werden wir schrittweise diese sehr restriktiven Annahmen ein wenig lockern. Das bedeutet also, dass alle unsere folgenden Überlegungen nur für diesen Spezialfall gelten, dass wir es mit vollkommener Konkurrenz zu tun haben – viele kleine Unternehmen, die keine Marktmacht haben, ein homogenes
6 So funktioniert das Angebot
Produkt und vollkommene Markttransparenz. Später werden wir diese Annahmen lockern und schauen, was passiert. Wie also wird sich ein Unternehmen verhalten? In erster Linie wird es versuchen, bei gegebener Kostenfunktion und gegebenem Preis seinen Gewinn zu maximieren. Gehen wir einmal davon aus, dass die Kostenfunktion gegeben ist, auch der Preis ist vorgegeben, da wir es hier ja mit einem Preisnehmer zu tun haben. Also bleibt nur eine Stellschraube, an der unser Unternehmer drehen kann, und das ist die produzierte Menge. Also wird er ein einfaches Kalkül machen: Er wird die Grenzkosten einer weiteren produzierten Einheit abwägen gegen deren Grenzerlös. Schauen wir uns das einmal an: Nehmen wir einmal an, der Preis beträgt 12 Euro, und bei einer produzierten Menge von 100 Stück betragen die Grenzkosten 8 Euro. Damit ist die Entscheidung einfach: Produzieren wir ein weiteres Stück, so steigen unsere Kosten nach Maßgabe der Grenzkosten um 8 Euro (das ist ja genau die Definition der Grenzkosten), die zusätzlichen Erlöse dieser weiteren produzierten Einheit (das sind die Grenzerlöse) betragen aber 12 Euro – also sollten wir dieses zusätzliche Stück produzieren. Warum ist klar: Wenn die zusätzlichen Erträge einer produzierten Einheit 12 Euro sind, die damit verbundenen Kosten aber nur 8 Euro betragen, dann macht das einen zusätzlichen Gewinn von 4 Euro. Klarer Fall: Solange die zusätzlichen Erlöse der nächsten produzierten Einheit (die Grenzerlöse) größer sind als die mit der Produktion dieses Stückes verbundenen zusätzlichen Kosten (die Grenzkosten), sollten wir die Produktion ausweiten, mehr herstellen – das erhöht unseren Gewinn. Liegen hingegen die Grenzkosten über den Grenzerlösen, so können wir unseren Gewinn dadurch steigern, indem wir die Produktion senken – etwas für 12 Euro verkaufen, was 14 Euro an zusätzlichen Kosten verursacht hat, ist wenig sinnvoll; unterlässt man das, steigert man seinen Gewinn. Damit haben wir unsere Gewinnmaximierungsformel gefunden: Solange die
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Grenzkosten geringer sind als die Grenzerlöse, produzieren wir mehr (und erhöhen damit unseren Gewinn); sind die Grenzkosten größer als die Grenzerlöse, so senken wir unsere Produktion (und erhöhen damit ebenfalls unseren Gewinn). Also muss das Gewinnmaximum unseres Anbieters dort liegen, wo die Grenzerlöse gleich den Grenzkosten sind. Wenn Sie nun noch einmal einen Blick auf Tabelle 10 werfen, so stellen Sie fest, dass in unserem speziellen Falle, wo die Höhe der produzierten Menge keinen Einfluss auf den Preis hat, der Grenzerlös stets dem Preis entspricht. Natürlich: Jede weitere produzierte Einheit wird zum gleichen Preis, zu 12 Euro, verkauft, damit ist der zusätzliche Erlös jeder zusätzlich verkauften Einheit immer gleich 12 Euro, also dem Preis. Damit wäre die so genannte Preis-Grenzkosten-Regel perfekt: Ein Unternehmen maximiert seinen Gewinn, indem es diejenige Menge produziert, deren Grenzkosten ihren Grenzerlösen entsprechen, und bei vollkommenen Wettbewerb entspricht der Preis den Grenzerlösen, weswegen die gewinnmaximale Produktion dort ist, wo der Preis den Grenzkosten entspricht. Und mit dieser Regel können wir nun die Angebotskurve eines Unternehmens herleiten.
In der Praxis: Konferenzen und Meetings Keiner mag sie, jeder geht hin: Konferenzen und Meetings werden von uns oft als Zeitverschwendung empfunden – aber warum? Dazu muss man nur das Kalkül Grenzkosten gleich Grenzerlöse anwenden: Wenn wir eine weitere Stunde diskutieren, verbessert das die Ergebnisse unserer Entscheidung derart, dass diese weitere Stunde Konferenz gerechtfertigt ist? Ist also der Grenzerlös der Konferenz größer als ihre Grenzkosten? Oft dürften hier die Grenzerlöse abnehmen: die ersten Bemerkungen zu einem Thema sind oft hilfreich, der zehnte Beitrag liefert oft nur noch einen geringen zusätzlichen Ertrag (wenn überhaupt). Die Grenzkosten der Konferenz lassen sich leicht schätzen: Wenn acht Personen eine Stunde länger in der Konferenz sitzen, dann sind das acht Mannstunden, respektive ein ganzer Arbeitstag an Mehrarbeit. Und dann kann man sich überlegen: würde man selbst einen ganzen Arbeitstag für das in der Konferenz diskutierte Problem verwenden? Bleibt nur noch eine Frage: Warum geht man dann überhaupt auf Konferenzen und Meetings?
Die gewinnmaximale Angebotsmenge eines Unternehmens. Abbildung 36 hilft uns bei diesem Vorhaben: Auf der waagrechten Achse tragen wir die produzierte Menge ab, auf der senkrechten Achse den Preis, die Grenzkosten und die Durchschnittskosten. Die waagrechte, dunkle Linie ab dem Punkt P repräsentiert den Preis, und da dieser unabhängig von der produ-
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zierten Menge ist (das war ja unsere entscheidende Annahme), verläuft sie parallel zur waagrechten Achse – egal, wie viel wir produzieren, der Preis P bleibt immer der gleiche. Die Grenz- und die Durchschnittskostenkurve kennen Sie ja bereits. Zuerst finden wir die gewinnmaximale Produktionsmenge, indem wir den Schnittpunkt von Preis und Grenzkostenkurve suchen – also den Punkt, wo die dunkle Preis-Linie die Grenzkosten-Linie schneidet. Die dazu gehörige Produktion lesen wir nun auf der waagrechten Achse ab: Wenn der Produzent die Menge MG herstellt, maximiert er seinen Gewinn, denn die Grenzkosten dieser produzierten Menge entsprechen genau dem Preis (genau das sagt der Schnittpunkt der GK-Kurve mit dem Preis ja aus). Wir können in dieser Grafik auch den Umsatz ablesen, den er macht: Der Umsatz ist ja die verkaufte Menge mal dem Preis. Multipliziert man die verkaufte Menge MG (das ist die Strecke auf der waagrechten Achse von ihrem Anfang bis zum Punkt MG) mit Ihrem Preis (das ist die Strecke auf der senkrechten Achse von ihrem Beginn bis zum Punkt P), so erhält man den Umsatz. Das ist geometrisch gesprochen die Fläche des Rechtecks, das durch die Punkte 0, P, B und MG beschrieben wird, denn die Fläche eines Rechtecks erhält man, indem man die Länge (in unserem Fall die produzierte Menge, also die Strecke von 0 bis MG) mit seiner Höhe (das ist hier der Preis, also die Strecke von 0 bis P), multipliziert. Um nun den Gewinn zu erhalten, müssen wir von diesem Umsatz die Kosten abziehen, und auch die kann man in der Abbildung einzeichnen – es sind die Kosten pro Stück, multipliziert mit der produzierten Anzahl aller Stücke. Natürlich: Wenn ein Stück im Schnitt zehn Euro kostet (genau das sind ja die Durchschnittskosten) und ich zehn Stück herstelle, dann sind die Gesamtkosten eben hundert Euro (zehn Stück mal zehn Euro). In unserer Grafik machen wir nun folgendes: Wir multiplizieren die produzierte Menge (also die Strecke vom Punkt 0 bis MG) mit den Kosten pro Stück (das ist die Strecke von 0 bis zum Punkt A; eben genau die Durchschnittskosten, die ich
P; GRK; DK GRK
P
B DK
A 0
C MG
M
Abbildung 36: Das gewinnmaximale Angebot bei perfektem Wettbewerb
Teil 1: Mikroökonomie
120
mit Hilfe der Durchschnittskostenfunktion ablesen kann), und das Produkt sind dann die Gesamtkosten respektive die Fläche, die durch die Punkte 0, A, C und MG beschrieben wird. Damit können wir den Gewinn ermitteln: Ziehen wir vom Umsatz, also der Fläche, die durch die Punkte 0, P, B und MG beschrieben wird, die Kosten ab (das ist die Fläche, die durch die Punkte 0, A, C und MG beschrieben wird), dann bleibt der Gewinn übrig, das ist in Abbildung 36 die Fläche, die durch die Punkte A, P, B und C beschrieben wird. Aus diesen Überlegungen können wir noch eine weitere Erkenntnis herleiten: was passiert, wenn der Preis nur noch so hoch ist wie die Durchschnittskosten? Das beschreibt Abbildung 37; hier ist der Preis genau so hoch wie die durchschnittlichen Kosten; der Preis ist genau so hoch, dass er dort liegt, wo die Grenzkosten die Durchschnittskosten schneiden (was, wie wir bereits wissen, das Minimum der Durchschnittskosten ist). Also wenden wir wieder unsere Gewinnanalyse an: Der Umsatz ist Menge mal Preis, das ist die Fläche 0ABC. Die Kosten sind die Kosten pro Stück (Durchschnittskosten) mal der produzierten Menge, also die Fläche 0ABC. Die Kosten sind also genau so hoch wie der Umsatz, weswegen kein Gewinn mehr übrig bleibt. Diesen Punkt nennt man auch Betriebsminimum.
P;GRK; DK GRK
DK A 0
P
B
C
M
Abbildung 37: Das Betriebsminimum
Aber Vorsicht, das bedeutet nicht, das der Produzent jetzt aus dem Markt ausscheidet; denn er macht immer noch einen Gewinn – zumindest in bilanzieller Hinsicht: In seinen Kosten – die ja sein Angebot bestimmen, sind auch seine Opportunitätskosten enthalten, also der Gewinn, den er erzielen würde, wenn er nicht dieses Produkt anbieten würde, sondern ein anderes. Die Entlohnung für den Arbeitseinsatz des Unternehmers, für seine Maschinen und alles, was er persönlich in das Unternehmen steckt – das alles steckt ökonomisch betrachtet in den Kosten mit drin, ist aber aus steuerlicher und bilanzieller Sicht ein Gewinn. Klar: Ihre Opportunitätskosten können Sie nicht von der Steuer absetzen, was aber nicht bedeutet, dass Sie diese nicht berücksichtigen müssen. Und dieser Gewinn muss mindestens so hoch sein wie der Gewinn in jeder anderen Branche (sehen wir einmal von unterschiedlichen Risiken, steuerlichen Regelungen und persönlichen Vorlieben ab). Warum ist klar: Würde unser Unternehmer mit seiner Produktion nicht mindestens das erzielen, was er in einer anderen Tätigkeit verdienen würde, dann würde er die Branche wechseln. Die ökonomischen Kosten eines Unternehmers beinhalten also auch immer die Opportunitätskosten. Solange ein Unternehmer mindestens diese erwirtschaftet, wird er anbieten. Sinken aber die Erlöse unter dieses Durchschnittskostenminimum, so wird er seine Produktion einstellen; dann reichen die Erträge nicht mehr aus, um die Opportunitätskosten zu decken (schlimmstenfalls auch nicht mehr die Kosten für den Input).
6 So funktioniert das Angebot
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In der Praxis: Der Fall Nokia Vom Gummistiefelproduzenten zum erfolgreichen Technologiekonzern: Bevor Nokia, einer der bekanntesten Hersteller von Mobiltelefonen, ein erfolgreicher Technologiekonzern wurde, produzierte er Gummistiefel – ein langer Weg vom Gummistiefelproduzenten zum hippen Handy-Hersteller. Der Grund für diese Wandlung sind natürlich die Opportunitätskosten: Vielleicht hätte Nokia ja auch überleben können, wenn es weiter Gummistiefel produziert hätte, doch wenn die Gewinne im Geschäft mit Mobiltelefonen deutlich höher sind als im Gummistiefel-Geschäft (das sind die Opportunitätskosten der Gummistiefel-Produktion), dann ist es nur richtig, die Branche zu wechseln. Auch aus Verbrauchersicht war das die richtige Entscheidung: Die hohen Gewinne im Mobilfunkgeschäft zeigen, dass den Konsumenten die Mobiltelefone wichtiger sind als Gummistiefel, also sollte man auch statt der Gummistiefel Telefone herstellen. Allerdings war Nokia nicht der einzige Konzern, der dem Ruf der hohen Gewinne gefolgt ist, weswegen die Gewinnmargen bei der Herstellung von Mobiltelefonen heute auch nicht mehr das sind, was sie mal waren – wiederum zum Vorteil der Verbraucher, die jetzt ihre Telefone billiger bekommen.
Die Idee vom Deckungsbeitrag. Aber Halt – zumindest kurzfristig kann es sein, dass der Preis unter das Durchschnittskostenminimum sinkt, ohne dass der Anbieter den Markt verlässt, nämlich dann, wenn dieser Zustand nur vorübergehend ist. Abbildung 38 erläutert das und verrät uns, warum Hotels auch außerhalb der Saison geöffnet haben oder Kinos auch montags Filme zeigen. Wie Sie sehen, haben wir in der Abbildung eine weitere Kurve eingezeichnet, und zwar die variablen Durchschnittskosten (VDK). Das sind die variablen Kosten pro Stück, also die Durchschnittskosten ohne die Fixkosten (weswegen man die Kurve der variablen Durchschnittskosten einfach erhält, indem man von der Durchschnittskostenkurve die Fixkosten abzieht, damit verschiebt sich die Kurve nach unten). Also: Wenn die Fixkosten 100 Euro betragen und die variablen Kosten pro Stück 20 Euro, so sind die gesamten Durchschnittskosten bei einer Produktion von zwei Stücken 70 Euro (100 plus zweimal 20; geteilt durch zwei); die variablen Stückkosten jedoch 20 Euro (40 Euro variable Kosten dividiert durch zwei produzierte Stücke). Liegt der Preis nun unterhalb des Stückkostenminimums (in der Grafik bei P), so erhalten wir nun das Rechteck PDCB als gesamten Verlust der Produktion: Der Umsatz ist wieder Preis mal Menge, also die Strecke OMG mal Strecke OP; macht das Rechteck OPBMG; die gesamten Kosten sind die Durchschnittskosten OD mal der produzierten Stückzahl OMG; das macht das Rechteck ODCMG. Zieht man die beiden Rechtecke voneinander ab (Umsatz minus Kosten), so erhält man einen Verlust in Höhe von PDCB.
P, GRK; DK; VDK GRK
D P E 0
DK
C VDK B A
MG
M
Abbildung 38: Warum Hotels außerhalb der Saison geöffnet sind – der Deckungsbeitrag
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Teil 1: Mikroökonomie
Das ist genau das Ergebnis obiger Überlegungen: Sinkt der Preis unter das Durchschnittskostenminimum, dann macht das Unternehmen einen Verlust. Jetzt aber ein kluger Gedanke: Langfristig lassen sich die Fixkosten nur vermeiden, wenn man den Geschäftsbetrieb ganz einstellt – was aber, wenn der Preis nur kurzfristig unter das Stückkostenminimum rutscht? Die erste Idee ist natürlich, in diesem Fall die Produktion solange einzustellen, bis der Preis wieder über dem Durchschnittskostenminimum liegt – und diese Idee ist falsch, und der Grund dafür sind die Fixkosten. Wenn man den Geschäftsbetrieb vorübergehend einstellt – beispielsweise ein Hotel, das außerhalb der Saison schließt, weil dann nur wenige Gäste kommen – vermeidet man zwar die variablen Kosten (Personal, Heizung etc.), aber die fixen Kosten verschwinden ja nicht (beispielsweise die Kosten für das Gebäude selbst). Aber Vorsicht: Selbst wenn das Gebäude dem Unternehmer selbst gehört, dann kostet das trotzdem Geld, nämlich die Opportunitätskosten. Also eine einfache Idee: Man bietet auch weiterhin an, und zwar solange die Erlöse aus diesem Angebot größer sind als die damit verbundenen variablen Kosten; ist dies der Fall, dann bezahlt man mit diesem Überschuss der Erlöse über die variablen Kosten einen Teil der Fixkosten – das ist der so genannte Deckungsbeitrag. Ein einfaches Beispiel: Die fixen Kosten des Hotels seien 100 Euro, die variablen Kosten des Personals belaufen sich auf 50 Euro. Solange also so viele Gäste kommen, dass man Erlöse von sagen wir 55 Euro hat, wird man das Hotel offen lassen – die Erlöse decken neben den variablen Kosten einen Teil der Fixkosten (in unserem Beispiel 5 Euro). Genau dieser Deckungsbeitrag ist in Abbildung 38 dargestellt: Die Erlöse sind nach wie vor das Rechteck OPBMG; die gesamten variablen Kosten ergeben sich, indem man die variablen Stückkosten (VDG) mit der produzierten Menge OMG multipliziert, das macht das Rechteck OEAMG. Rechnet man nun ohne die Fixkosten, so bedeutet das, dass die Produktion in Höhe von MG einen Deckungsbeitrag in Höhe des Rechtecks EPBA erwirt-
6 So funktioniert das Angebot
123
schaftet – Erlöse minus die variablen Kosten. Und das ist der Deckungsbeitrag, der einen Teil der Fixkosten deckt. Eines ist allerdings wichtig: Die Strategie, unterhalb des Durchschnittskostenminimums anzubieten, ist nur eine zeitlich begrenzte Option, langfristig muss ein Unternehmen mindestens einen Preis erwirtschaften, der dem Gesamtkosten entspricht, sonst geht es pleite.
Arbeitsauftrag 17 Suchen Sie weitere Beispiele von Unternehmen, die ihr Angebot kurzfristig aufrechterhalten, obwohl die Erlöse nicht die Gesamtkosten decken.
Das Angebot eines Unternehmens. Nach diesem kleinen Ausflug in die Welt der Kostenrechnung (dort spielt der Deckungsbeitrag eine wichtige Rolle) können wir nun das Gesamtangebot eines Unternehmens herleiten; dabei hilft uns Abbildung 39. Sie zeigt uns die Grenzkostenkurve sowie die Durchschnittskostenkurve und verschiedene Konstellationen von Preis und produzierter Menge. Beträgt der Preis einen Euro, dann wird der Anbieter gemäß seiner Preis-Grenzkosten-Regel die Menge m1 anbieten; dort entsprechen die Grenzkosten exakt dem Preis (also dem Grenzerlös). Steigt der Preis nun auf zwei Euro, so wird er sein Angebot auf m2 ausdehnen, denn hier entsprechen die Grenzkosten der Produktion wieder dem Preis. Ähnliches gilt für weitere Preissteigerungen – steigt der Preis, so passt der Unternehmer seine angebotene Menge nach Maßgabe seiner Grenzkosten an. Wenn Sie genau hinschauen, bemerken Sie, dass wir bereits fertig sind, denn was wir nun haben ist ein Zusammenhang zwischen Preis und produzierter Menge: Steigt der Preis, so steigt nach Maßgabe der Grenzkosten die produzierte (und damit auch angebotene) Menge. Und genau das ist unsere Angebotsfunktion. Das bedeutet: Die Angebotsfunktion eines Unternehmen ist seine Grenzkostenfunktion. Allerdings beginnt das Angebot erst im Stückkostenminimum, denn wie wir gesehen hatten, macht das Unternehmen Verlust, wenn der Preis langfristig unter dem Minimum der Stückkosten liegt; in diesem Fall wird das Unternehmen nicht anbieten. Glücklicherweise (aber nicht zufälligerweise) hat diese Angebotsfunktion genau die Form, die wir bereits in Kapitel 2 angenommen hatten – mit steigenden Preisen steigt das Angebot. Wenn Sie sich nun noch daran erinnern, wie wir die Grenzkostenkurve hergeleitet haben, dann wissen Sie jetzt auch, dass die Form der Angebotskurve auch durch die Gestalt der Produktionsfunktion bestimmt wird. Eigentlich trivial: Das Angebot hängt auch von den Produktionsbedingungen ab. Zum Gesamtangebot eines Marktes ist es nun nur noch ein kleiner Schritt (denn bisher haben wir nur die Angebotskurve eines Unternehmens herge-
Preis GRK D
4 C
3
DK B
2
1 0
A
m 1 m2 m 4
m
Abbildung 39: Das Angebot eines Unternehmens
124
Teil 1: Mikroökonomie
leitet): Dazu müssen wir einfach nur alle Angebotsfunktionen der einzelnen Anbieter addieren und erhalten damit das Gesamtangebot auf einem Markt.
Arbeitsauftrag 18 In Kapitel 4 hatten wir gesehen, dass die Einführung einer Steuer die Angebotskurve nach oben verschiebt. Dies können wir nun überprüfen: Nehmen Sie die Daten aus Tabelle 9 und überlegen Sie, wie sich die Angebotskurve (also die Grenzkosten) verändert, wenn man verschiedene Steuern einführt. Man kann eine Steuer auf die Produktionsfaktoren einführen oder aber Sozialversicherungsbeiträge, dann müssen Sie einen entsprechenden prozentualen Aufschlag auf die variablen Kosten machen und beobachten, was mit den Grenzkosten (und den Durchschnittskosten) passiert. Eine andere Möglichkeit wäre eine Steuer auf die Fixkosten (beispielsweise eine Gewerbekapitalsteuer); hier müssen Sie einen Aufschlag auf die Fixkosten machen. Was passiert mit der Produktion? Was passiert mit der Angebotskurve? Und was wird voraussichtlich mit der Beschäftigung passieren?
Das Monopol. Damit haben wir eine erste Idee entwickelt, wie das Angebot eines Unternehmens entsteht. Allerdings haben wir zu diesem Zweck eine wichtige Annahme gemacht: Wir hatten gesagt, dass der Anbieter den Preis seines Produktes nicht beeinflusst, egal, wie viel er herstellt. Das wird, wie wir festgestellt hatten, nur bei vollkommenem Wettbewerb der Fall sein, wenn also viele kleine Anbieter ein identisches, absolut gleichwertiges Produkt anbieten. Diesen Fall nennt man auch Polypol. Natürlich ist dieser Fall nicht sehr realistisch, aber er hat uns geholfen, eine erste Idee zu entwickeln, wie das Angebot eines Unternehmens entsteht. In einem nächsten Schritt nehmen wir nun einmal das Gegenteil an, wir unterstellen, dass es nur einen einzigen Anbieter am Markt gibt – das ist ein so genannter Monopolist.
6 So funktioniert das Angebot
125
Dann ändert sich eine wichtige Annahme: Ändert der Monopolist seine Angebotsmenge, so wird sich auch der Preis ändern. Natürlich: Wenn der einzige Anbieter eines Produktes die produzierte respektive angebotene Menge verdoppelt, so verdoppelt sich das Gesamtangebot auf dem Markt – das kann nicht ohne Folgen für den Preis bleiben. Das schauen wir uns einmal in einem einfachen Beispiel in Tabelle 11 an. Dort haben wir die Menge M, den Preis P, die Gesamterlöse GEL, die Durchschnittserlöse DEL und die Grenzerlöse GREL eingetragen. M
P
GEL
DEL
GREL
1
10
10
10
10
2
9
18
9
8
3
8
24
8
6
4
7
28
7
4
5
6
30
6
2
6
5
30
5
0
7
4
28
4
–2
8
3
24
3
–4
9
2
18
2
–6
10
1
10
1
–8
Der Unterschied zu den Zahlenbeispielen bei vollkommenen Wettbewerb ist offensichtlich: Steigt die angebotene Menge, dann sinkt der Preis, den der Monopolist nehmen kann – ganz so, wie wir es vermutet haben. Die zweite Auffälligkeit betrifft die Durchschnittserlöse: Diese entsprechen jetzt dem jeweiligen Preis, den der Monopolist nehmen kann. Das muss auch so sein, solange der Monopolist das Produkt nur an alle Kunden zu einem einheitlichen Preis verkaufen kann (was wir hier annehmen wollen), denn dann kostet jedes verkaufte Stück den gleichen Preis, was zugleich der durchschnittliche Erlös je verkaufter Einheit ist – eben der Durchschnittserlös. Das bedeutet, dass die Kurve der Durchschnittserlöse zugleich die komplette Nachfragekurve darstellt: Zu jedem Preis P gibt sie die Menge an Produkten an, die am Gesamtmarkt verkauft werden, und das ist exakt die Definition der Nachfragekurve. In Abbildung 40 ist mit Hilfe der Daten von Tabelle 11 die Kurve der Durchschnittserlöse gezeichnet; Sie sehen, dass diese in der Tat auch wie eine Nachfragefunktion aussieht – bei sinkendem Preis steigt die abgesetzte Menge. Und da diese abgesetzte Menge die komplette am Markt angebotene Menge ist (schließlich ist unser Monopolist der einzige Anbieter), handelt es sich um die Nachfragefunktion für den Gesamtmarkt. Kommen wir zu den Grenzerlösen, die ebenfalls in Abbildung 40 aus Tabelle 11 abgeleitet worden sind: Auffällig ist, dass diese stets unter den Durch-
Tabelle 11: Ein Monopolist
Teil 1: Mikroökonomie
126
12 10
Preis
10
9
8
8
8
7
6
6
6 5 4
4
4 2
2
2
1
0 -2 -4 -6
Abbildung 40: Durchschnittserlöse und Grenzerlöse im Monopol (Die Daten stammen aus Tabelle 11)
3
0 1
2
3
4
5
6
Durchschnittserlöse
7 -2
8
9
10
11
-4
Grenzerlöse
-6
-8
-8
-10 Menge
schnittserlösen liegen, und das lässt sich auch begründen. Wenn der Monopolist den Preis um einen Euro senkt, so sinkt sein Durchschnittserlös genau um diesen Euro – jedes Stück wird nun im Durchschnitt um einen Euro billiger verkauft. Sein Grenzerlös hingegen unterliegt zwei Einflüssen: Zum einen steigt er um die Menge der Produkte, die er nun wegen des gesunkenen Preises mehr absetzen kann (das ist der Mengeneffekt); das erhöht erst einmal seine Erlöse. Zum anderen aber sinkt der Grenzerlös, weil der Monopolist all die Stücke, die er zuvor für den höheren Preis verkauft hat, nur für den neuen, geringeren Preis absetzen kann (das ist der Preiseffekt; erinnern Sie sich: wir hatten unterstellt, dass er alle Stücke nur zum gleichen Preis verkaufen kann). Das können Sie in Tabelle 11 ablesen: Senkt der Monopolist seinen Preis von zehn auf neun Euro, so steigt der Absatz von einem auf zwei Stück. Das wäre ein zusätzlicher Erlös von neun Euro (für das eine Stück, das er mehr verkauft), aber da er das erste Stück, das er zuvor für zehn Euro verkauft hat, nur noch für neun Euro verkaufen kann, sinkt der zusätzliche Erlös um diesen einen Euro – macht unter dem Strich einen Grenzerlös von acht Euro. Damit liegt der Grenzerlös unter dem Durchschnittserlös. Und dies gilt immer: Sinkt der Preis, so steigen die Durchschnittserlöse nach Maßgabe der zusätzlich abgesetzten Einheiten. Die Grenzerlöse steigen zwar nach Maßgabe der zusätzlich abgesetzten Einheiten (das ist der Mengeneffekt), aber durch den sinkenden Preis wird von diesem zusätzlichen Erlös stets ein kleines Stück wieder abgeknapst, weswegen der Grenzerlös immer unter dem Durchschnittserlös liegen wird. Genau diese Konstellation haben wir in Abbildung 41 eingezeichnet: Die obere Kurve sind die Durchschnittserlöse (DEL), welche wie wir gesehen hatten zugleich die Nachfragekurve darstellen, und unterhalb dieser Kurve
6 So funktioniert das Angebot
liegt die Grenzerlöskurve (GREL). Mit diesen Kurven können wir nun den Gewinn des Monopolisten maximieren. Dazu müssen wir uns nur an die Maxime der Gewinnmaximierung erinnern, die auch für Monopolisten gilt: Der Gewinn ist dort maximal, wo die Grenzerlöse gleich den Grenzkosten sind. Es gelten die gleichen Überlegungen, die wir bei vollkommenem Wettbewerb zum Thema Gewinnmaximierung angestellt haben, bis auf einen Unterschied: Beim vollkommenen Wettbewerb war der Grenzerlös gleich dem Preis, das gilt für das Monopol nicht mehr. Aber wir haben die Grenzerlöskurve hergeleitet, also zeichnen wir in die Abbildung 41 nur noch die Grenzkosten (GK) ein (wie diese Kurve aussieht, wissen wir bereits, in der Abbildung haben wir aus Vereinfachungsgründen den absteigenden Teil der Grenzkostenkurve weggelassen und sie als Gerade gezeichnet) und suchen den Schnittpunkt der beiden Kurven – dort sind die Grenzkosten gleich den Grenzerlösen. Von diesem Punkt aus gehen wir nach oben auf die Nachfragefunktion (also die Kurve der Durchschnittserlöse), und können dann an den Achsen die gewinnmaximale Menge des Monopolisten und den dazugehörigen Preis ablesen. Das ist das Gewinnmaximum des Monopolisten, auch zu Ehren seines geistigen Vaters Cournotscher Punkt genannt.
127
Preis Nachfrage = DEL
C
pM
GK
GREL pW
MM
MW
Menge
Abbildung 41: Der Cournotsche Punkt
Und so ermitteln wir grafisch das Gewinnmaximum des Monopolisten: Wir suchen den Schnittpunkt der Grenzkostenkurve mit der Grenzerlöskurve und gehen von diesem Punkt aus nach unten – das ist die Menge, bei der Grenzkosten gleich den Grenzerlösen sind (also die Menge MM). Den dazugehörigen Preis lesen wir ab, indem wir von dieser Menge wieder nach oben auf die Nachfragekurve (die ja den Durchschnittserlösen entspricht) gehen und von dort aus nach links gehen um den zugehörigen Preis abzulesen (also den Preis PM). Wir können dieses Ergebnis sogar mit dem Ergebnis vergleichen, das sich bei vollkommenem Wettbewerb ergibt. Das ist möglich, weil bei vollkommenem Wettbewerb die Angebotskurve ja die Grenzkostenkurve wäre (das haben bereits hergeleitet), die bereits in der Grafik eingezeichnet ist – der Schnittpunkt der Grenzkostenkurve mit der Nachfragekurve wäre also das Marktgleichgewicht bei vollkommener Konkurrenz; als Menge haben wir dann die Menge MW und als Preis den Preis PW. Wir sehen im Ergebnis das, was wir intuitiv erwartet hätten: Der Preis des Monopolisten ist höher als bei vollkommenem Wettbewerb und die verkaufte Menge liegt niedriger. Und in einem letzten Schritt können wir sogar die Wohlfahrtsverluste zeigen, die dieses Monopol im Vergleich zum Wettbewerb mit sich bringt, und zwar mit Hilfe der Konsumenten- und Produzentenrente. Dazu brauchen wir Abbildung 42. In dieser Abbildung sind wieder der Grenzerlös und die Grenzkosten eingezeichnet, die Angebotsmenge im Monopol ist wieder MM (der Preis PM); die Angebotsmenge bei Wettbewerb ist MW (der dazugehörige Preis PW). Nun
Preis Nachfrage = DEL GK
A pM pW
B
C
D
E GREL MM
MW
Menge
Abbildung 42: Wohlfahrtsverluste im Monopol
128
Teil 1: Mikroökonomie
können wir Konsumentenrente und Produzentenrente im Monopol mit derjenigen bei Wettbewerb vergleichen; beginnen wir mit der Konsumentenrente. Die Konsumentenrente bei Wettbewerb ist die Fläche zwischen Nachfragekurve und dem Preis PW, also die Flächen A plus B plus C. Die neue Konsumentenrente im Monopol ist nun die Fläche zwischen Nachfragekurve und dem Monopolpreis PM, also die Fläche A. Wie man sieht, sinkt die Konsumentenrente um die Flächen B und C. Die Fläche C repräsentiert alle Konsumenten, die das Produkt zum niedrigen Wettbewerbspreis gekauft haben und dabei noch einen Nutzenzuwachs (eine Konsumentenrente) hatten und jetzt aufgrund des gestiegenen Preises im Monopol dies Produkt nicht mehr kaufen (und damit ihre Konsumentenrente verlieren). Die Fläche B repräsentiert alle diejenigen Konsumenten, die das Gut nach wie vor kaufen, jetzt aber zu einem höheren Preis (dem Monopolpreis) und deshalb eine Reduktion ihrer Konsumentenrente um die Fläche B hinnehmen müssen. Diese Fläche B geht – Sie ahnen es – an die Produzenten. Verglichen mit der Produzentenrente bei Wettbewerb (Fläche zwischen Angebotskurve, also Grenzkostenkurve und Wettbewerbspreis, also D plus E) ändert sich die neue Produzentenrente des Monopolisten (Fläche zwischen Monopolpreis und Angebotskurve) jetzt: Der Monopolist gewinnt Fläche B hinzu und verliert Fläche E. Fläche B sind die Mehreinnahmen, die der Monopolist durch den höheren Preis erhält – das Geld, das er den Konsumenten abzwackt, die das Gut immer noch kaufen. Fläche E ist die Produzentenrente, die er verliert, weil er nun weniger herstellt (das ist die Produktion, die er nicht mehr an die Konsumenten verkauft, denen das Produkt jetzt zu teuer geworden ist). Unter dem Strich sehen wir, dass die Gesamtwohlfahrt um die Flächen C und E sinkt; die Konsumenten verlieren B und C, wovon B an die Produzenten geht, deren Gesamtrente steigt (wäre das nicht der Fall, dann würden sie einfach zum Wettbewerbspreis anbieten). Kurz gesagt: Monopole reduzieren die Gesamtwohlfahrt eines Landes. Darüber hinaus sind Monopole auch politisch gefährlich, da sie zu unangemessenen Machtpositionen führen können: Ein großes Unternehmen, das im Besitz einer knappen Ressource ist – letztlich entstehen Monopole durch Knappheit – hat gegenüber einer Regierung erhebliches Drohpotential. Es gibt also genug Gründe, warum wir uns im nächsten Kapitel damit beschäftigen müssen, wie man mit solchen Machtpositionen umgeht.
Arbeitsauftrag 18 Überlegen Sie, wodurch Monopole entstehen können. Welche Optionen hat der Gesetzgeber, dies zu verhindern? Sind manche Monopole unvermeidbar? Gibt es Monopole, die weniger schlimme Folgen haben? Monopole, die man als Gesetzgeber ignorieren kann?
6 So funktioniert das Angebot
129
Monopolistische Konkurrenz. Nun kennen wir was die so genannten Marktformen angeht, die beiden Extremfälle: ganz viele kleine Anbieter, die keinen Einfluss auf den Markt und den Preis haben, und ein einziger Anbieter, der den Markt komplett beherrscht. Die Realität allerdings wird – wie so meist – irgendwo dazwischen liegen, und eine Möglichkeit, diese Realität abzubilden, ist das Modell der monopolistischen Konkurrenz. Die Grundidee dieses Ansatzes besteht darin, dass jedes Unternehmen innerhalb bestimmter Grenzen einen deutlichen Einfluss auf den Preis seines Produktes hat, aber außerhalb dieser Grenzen unter Wettbewerbsdruck steht. Hier geht es also um Unternehmen, die sich durch Markenbildung, eine besondere Ausstattung oder Variation des Produktes eine gewisse Alleinstellung am Markt geschaffen haben, deren Marktposition aber nicht so stark ist, dass man von einem echten Monopol sprechen könnte. Ein gutes Beispiel dafür ist sagen wir ein Bier, das sich durch eine eigene Rezeptur und hohen Marketing-Aufwand von anderen Biersorten unterscheidet, weswegen die Kunden nicht sofort den Anbieter wechseln werden, wenn er den Preis anhebt. Die Grundidee der monopolistischen Konkurrenz besteht darin, dass die Produkte der verschiedenen Hersteller nun nicht mehr vollkommen identisch (homogen) sind, sondern sich in Ausstattung, Qualität, Marke und ähnlichen Faktoren leicht unterscheiden (das war nämlich eine Annahme bei unserem Modell der vollkommenen Konkurrenz – dass die Produkte jedes Herstellers identisch sind). Dieser Unterschied versetzt den Anbieter in die Lage, in einem begrenzten Rahmen seinen eigenen Preis zu setzen, also wie ein Monopolist zu agieren. Er wird also das machen, was jeder Monopolist macht: die produzierte Menge so wählen, dass Grenzkosten gleich den Grenzerlösen sind, wohl wissend, dass er die Grenzerlöse durch seine eigene Angebotsentscheidung über den Preis mit bestimmt. Damit wird das Schaubild, in dem wir monopolistische Konkurrenz beschreiben, exakt so aussehen wie bei einem Monopolisten (also wie in Abbildung 41). Aber es gibt einen entscheidenden Unterschied zum Monopolisten: Der Produzent in der monopolistischen Konkurrenz ist nicht alleine. Seine Nachfragekurve ist schon die Gesamtnachfrage, aber nur die Nachfrage nach seinem speziellen, individuellen Produkt. Wenn aber Konkurrenten wittern, dass ein Anbieter mit seinem Produkt noch Monopolgewinne einfährt (also Gewinne, die höher sind als ihre Opportunitätskosten), dann werden sie versuchen, ihm Konkurrenz zu machen, indem sie ein ähnliches Produkt an den Markt bringen. Wie kann man sich das vorstellen? Unser Bierbrauer beispielsweise hat die Idee, ein Light-Bier anzubieten, mit einer neuen, speziellen Rezeptur, die sein Bier neu und unverwechselbar macht. Ist er mit diesem Bier alleine am Markt, so ist er nun Monopolist für LightBier und kann seinen Gewinn gemäß des Cournotschen Punktes bestimmen. Die anderen Bierhersteller erkennen nun aber, dass im Geschäft mit dem Light-Bier bessere Renditen möglich sind als mit dem herkömmlichen Gerstensaft – womit ihre Opportunitätskosten des Bierbrauens steigen. Deswegen werden sie auch in das Geschäft mit dem Light-Bier einsteigen und
Nachahmer gibt es überall
Teil 1: Mikroökonomie
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eine eigene Light-Sorte anbieten – auf einmal hat eine gute Idee viele Nachahmer. Durch das gesteigerte Angebot der Nachahmer werden etliche Konsumenten vom ursprünglichen Anbieter des ersten Light-Biers zur erwachten Konkurrenz wechseln und auf diesem Weg den Erstanbieter die Nachfrage wegnehmen, weswegen er den Preis senken muss (ein Rückgang der Nachfrage führt ja automatisch zu einem Rückgang der Grenzerlöse, und da weiterhin Grenzerlöse gleich Grenzkosten das gewinnmaximale Angebot bestimmt, muss unser Anbieter die Menge und den Preis senken). Der Zustrom weiterer Nachahmer wird sich solange fortsetzen, solange es in diesem Marktsegment einen Gewinn zu erwirtschaften gibt, der größer ist als in anderen Marktsegmenten – solche Übergewinne rufen stets Nachahmer auf den Plan, was den Preis des einzelnen Anbieters weiter senken wird. Wir können sogar genau den Punkt bestimmen, an dem der Zustrom von Nachahmern stoppt: Das wird genau dann der Fall sein, wenn der Preis den Durchschnittskosten entspricht. Warum wird klar, wenn Sie noch einmal an unsere Überlegungen zur Betriebsminimum denken: Wenn der Preis den Durchschnittskosten entspricht, sind die Erlöse gleich den Gesamtkosten (Stückkosten mal produzierte Menge); damit gibt es keine Gewinne mehr (aber die Opportunitätskosten sind natürlich in den Kosten enthalten). Jetzt lohnt es sich für Nachahmer nicht mehr, in das gleiche Marktsegment zu stoßen.
Gesunde Konkurrenz
Das Ergebnis unseres monopolistischen Wettbewerbs: Die verschiedenen Anbieter bieten mehr oder weniger unterschiedliche Varianten ein und desselben Produktes an, maximieren ihre Gewinne nach Maßgabe der Grenzkosten gleich Grenzerlös-Regel; erhalten aber zum Schluss nur einen Preis in Höhe ihrer durchschnittlichen Stückkosten – solange der Preis darüber liegt, strömen weitere Anbieter in dieses Segment. Diese Entwicklung können Sie jedes Mal bewundern, wenn ein Anbieter eine neue Produktvariante (Light, Multivitamin, fettarm) entdeckt. Ein anderes Beispiel sind die so genannten Smoothies, spezielle Fruchtsäfte mit dem Image gesünder, naturbelassener zu sein – mittlerweile gibt es Legionen dieser Säfte in allen Varianten, von vielen verschiedenen Anbietern. Vermutlich kann die Idee der monopolistischen Konkurrenz recht viele Phänomene auf Märkten ganz gut erklären; das dürfte eine recht realistische Sicht auf Konkurrenzprozesse auf vielen Märkten sein. Aber nicht alle Märkte ticken nach diesem Muster – was ist denn, wenn es nur einige wenige Anbieter am Markt gibt? In der monopolistischen Konkurrenz gibt es schon mehrere Anbieter – was aber, wenn es nur drei oder vier Anbieter für ein Produkt gibt? Kommen wir zu einer ganz anderen Marktform. Oligopole. Eine letzte wichtige Marktform, die wir uns näher ansehen wollen, ist das so genannte Oligopol – das ist ein Markt mit nur wenigen Anbietern, so wenigen Anbieter, dass diese voneinander wissen und die Aktionen ihres Konkurrenten beobachten können. Diese so genannte stra-
6 So funktioniert das Angebot
tegische Reaktionsverbundenheit führt zu einem interessanten Problem, was die Preisbildung auf einem solchen Markt angeht: Wenn mein Konkurrent mich beobachten kann und sieht, was ich tue, dann kann ich mir bereits bei meiner Entscheidung überlegen, wie mein Konkurrent auf meine Aktion antworten wird und damit meine eigene Entscheidung auf Basis des vermuteten Verhaltens meines Konkurrenten treffen. Ein einfaches Beispiel: Auf unserem Markt seien nur zwei Anbieter, Eral und Asso. Sie verkaufen ein homogenes Produkt, Benzin, so dass es ihnen nicht möglich ist, sich von der Konkurrenz über Design, Formel oder andere Ausstattungsmerkmale abzusetzen (auch wenn sie es probieren, denken Sie einmal an die verschiedenen „Super Plus“-Angebote an der Zapfsäule). Beide haben sagen wir zwei Optionen, was ihre Preisgestaltung angeht: sie können teuer anbieten und billig. Wer billig anbietet, zieht mehr Nachfrager auf sich und macht die größeren Gewinne, allerdings nur, wenn der Konkurrent seinen Preis nicht auch senkt. Senken beide ihren Preis, so hat keiner mehr einen Vorteil aus dem billigeren Preis, und beiden machen weniger Gewinne. Wenn beide aber einen hohen Preis fordern, dann verteilt sich die Nachfrage gleichmäßig auf die beiden Anbieter und beide machen höhere Gewinne. Auf den ersten Blick können wir gar nicht erkennen, was auf einem solchen Markt passieren wird: Wird es zu einem knallharten Konkurrenzkampf kommen, bei dem sich beide Anbieter unterbieten, oder werden beide einen (stillschweigenden oder ausgehandelten) Burgfrieden schließen und beide höhere Preise verlangen – zu Lasten der Verbraucher? Spieltheorie. Ein solches Problem nennt man ein spieltheoretisches Problem: Verschiedene Spieler – in diesem Fall zwei – haben verschiedene strategische Optionen (billig oder teuer) und müssen bei der Wahl ihrer Strategie berücksichtigen, dass ihre Handlung eine Gegenhandlung bei ihrem Gegenspieler hervorruft. Ein solches Problem ist nicht trivial und nicht einfach zu lösen, aber man kann sich das Leben erleichtern, indem man eine so genannte Auszahlungsmatrix entwirft, die in Tabelle 12 dargestellt ist.
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Asso
teuer
billig
teuer
500, 500
300, 700
billig
700, 300
400, 400
Eral
Tabelle 12: Kartelle und Gefangenendilemma
Es ist nur ein Spiel
In unseren vereinfachten Beispielen beschränken wir uns auf zwei Spieler, so dass wir die ganze Situation in einer solchen Matrix darstellen können. Eral bezeichnen wir als den Zeilenspieler; Asso als den Spaltenspieler. Da jeder Spieler in unseren Beispiel jeweils zwei Handlungsoptionen hat, die wir ab sofort Strategien nennen (teuer oder billig anbieten), bekommt Eral zwei Zeilen, Asso zwei Spalten. Damit ergeben sich insgesamt vier mögliche Ausgänge unseres Spiels, je nachdem, welcher Spieler welche Strategie wählt. In den dadurch entstehenden vier Feldern tragen wir die Erlöse ein, die der jeweilige Spieler mit seiner Strategie macht, allerdings unter Berücksichtigung der Strategie seines Gegenspielers. Also: Wenn Eral sich entschließt, teuer anzubieten, und Asso auch teuer bleibt, dann bekommen beiden einen (angenommenen) Erlös von 500. Wenn Asso allerdings die hohen Preise von Eral damit beantwortet, dass er billig anbietet, dann laufen die Kunden von Eral zu Asso über, weswegen Eral Kunden verliert, seine Erlöse sinken auf 300, Asso hingegen gewinnt Kunden hinzu, seine Erlöse steigen auf 700. Die erste Zahl in den vier Feldern stellt also jeweils den Erlös (ab sofort nennen wir das Auszahlung) des Zeilenspielers dar, die zweite Zahl die Auszahlung des Spaltenspielers. Das dritte Feld unserer Matrix, links unten, erklärt sich dann rasch: Wenn Asso teuer anbietet und Eral daraufhin mit einer Billig-Strategie antwortet, dann laufen die Kunden von Asso zu Eral; Eral erhält 700 und Asso 300 – das ist einfach der umgekehrte Fall des rechten, oberen Feldes unserer Spielmatrix. Das rechte untere Feld stellt den Fall dar, wenn beide Unternehmen billig anbieten – dann machen beide natürlich weniger Gewinn, sagen wir 400 (lassen Sie sich nicht irritieren, dass die Zahlen sich nicht zu 1000 addieren, das muss nicht sein, wir haben die Zahlen einfach einmal so angenommen). Und jetzt die alles entscheidende Frage: Welches Ergebnis wird sich bei dieser Konstellation einstellen? Wenn Sie ein wenig überlegen, dann kommen Sie rasch zu dem Resultat, dass beide billig anbieten werden – obwohl beide ihre Auszahlung erhöhen würden, wenn beiden den hohen Preis fordern. Warum das so kommt, ist klar: Wenn einer von ihnen die Strategie „teuer“ wählt, kann der andere seinen Gewinn erhöhen, wenn er daraufhin billig anbietet. Und noch schlimmer: „billig“ bringt immer das beste Ergebnis, egal, was der andere Spieler tut. Wählt der andere Spieler „teuer“, so ist „billig“ die bessere Strategie, wählt der andere Spieler „billig“, dann ist die eigene Auszahlung größer, wenn man auch selbst „billig“ wählt. „Billig“ ist das, was man eine dominante Strategie nennt – egal, was der andere Spieler tut, „billig“ ist immer die beste Strategie.
6 So funktioniert das Angebot
In der Presse 7: Preiskrieg an der Tankstelle „Die Mineralölgesellschaft Aral hat einen dramatischen Preisverfall an den deutschen Tankstellen ausgemacht, der auf eine Aktion des Konkurrenten DEA zurückgehen soll. Für die Autofahrer könnte sich der verschärfte Wettbewerb positiv auswirken. Die Benzinpreise seien bereits um rund 13 bis 15 Pfennig gesunken, klagte der Vorsitzende des Marktführers Aral, Günter Michels…. ‚Wann der Spuk zu Ende ist, wissen wir nicht‘, sagte der Manager. Ausgelöst wurde der Preiskrieg seiner Meinung nach durch die Tankstellenkette DEA, die seit Mitte März über eine Bonuskarte ihren Kunden einen Preisnachlass von einem Pfennig je Liter gewährt. ‚Damit versucht erstmals eine Markengesellschaft, sich dauerhaft auf das Preisniveau der freien Tankstellen zu begeben und damit Marktanteile zu gewinnen‘, sagte der Aral-Chef. Die Aktion des Konkurrenten habe in den letzten Wochen eine Preisspirale nach unten ausgelöst, die mit einem dramatischen Margenverfall für alle Beteiligten verbunden sei.“ (Quelle: Spiegel Online vom 05.04. 2000, http://www.spiegel. de/auto/aktuell/0,1518,71967,00.html)
Damit haben wir ein Ergebnis unserer Wettbewerbssituation: Beide Anbieter werden billig anbieten – sehr zur Freude der Konsumenten. Damit wäre aber auch klar: Gleichförmige Preisbewegungen in einem solchen Markt rühren also nicht von Absprachen her, sondern kommen aufgrund der strategischen Anreize zustande. Und noch schlimmer: Selbst wenn die beiden Unternehmen diese Situation erkennen und sich hoch und heilig in die Hand versprechen, den hohen Preis zu wählen, prophezeit Tabelle 12, dass trotzdem beide billig anbieten werden. Die Logik dieser dominanten Strategie ist unerbittlich. Das einzige, was das ändern kann, ist die Zeit (wenn Sie jetzt also das Argument anführen, dass die beiden doch langfristig sich darauf einigen werden, hohe Preise zu nehmen, dann ist das eine gute Idee, der wir noch nachgehen werden, hier aber nehmen wir zunächst einmal an, dass dieses Spiel nur ein einziges Mal gespielt wird – damit funktioniert dieses Argument nicht). Doch bevor wir uns diesen Aspekt anschauen, müssen wir überlegen, wie man denn solche Spiele grundsätzlich löst, denn nicht immer findet man das Ergebnis so einfach wie in diesem Beispiel.
Der Klassiker zum selbst lösen Das Beispiel aus Tabelle 12 ist das so genannte Gefangenendilemma. Der Name kommt aus folgendem Beispiel: Zwei Verbrecher, A und B, werden bei einem Juwelendiebstahl erwischt. Die Polizei kann beide sofort wegen dem Besitz von Handfeuerwaffen für ein Jahr einsperren; den Diebstahl kann sie nicht nachweisen. Der Kommissar macht beiden nun ein Angebot: wenn einer gesteht, während der andere leugnet, wird er frei gelassen. Der andere hingegen kriegt 20 Jahre.
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Wenn aber beide gestehen, bekommen beide acht Jahre. Wenn Sie aber dicht halten, kann das Gericht ihnen nur die Handfeuerwaffen nachweisen, beide kommen mit einem Jahr Gefängnis davon. Wie sieht die Matrix aus, was wird das Ergebnis sein? Weitere Beispiele für Gefangenendilemmata sind Wettrüsten, Werbekriege oder internationaler Umweltschutz. Wie sehen diese Spiele in einer Matrix aus? Von wegen Absprache, so war das nicht gedacht.
Nash-Gleichgewicht. Schauen wir uns zu diesem Zweck in Tabelle 13 ein etwas anderes Beispiel an. Der Markt für zivile Großraumflugzeuge ist geprägt durch extrem hohe Fixkosten, weswegen hier die Tendenz zum natürlichen Monopol besteht (das kennen Sie bereits aus Kapitel 5). Wir wollen vereinfachend annehmen, dass nur Platz für einen Anbieter am Markt ist; bietet also nur Airbus oder nur Boeing an, dann macht der jeweilige Anbieter einen Gewinn von 100; der andere bekommt (da er nichts anbietet) nichts. Wenn aber beide anbieten, ist der Markt zu klein, also werden beide mit Verlusten in Höhe von 10 nach Hause geschickt; und wenn keiner produziert, wird auch keiner etwas verdienen. Das Ergebnis ist dann die Auszahlungsmatrix in Tabelle 13. Airbus Boeing produzieren
Tabelle 13: Airbus gegen Boeing
nicht produzieren
produzieren
nicht produzieren
–10, –10
100, 0
0, 100
0, 0
Wenn Sie nun versuchen, dieses Spiel mit bloßem Nachdenken zu lösen, merken Sie, dass es schwierig wird. Also gehen wir einen systematischeren Weg, wir lösen das Spiel einfach Spieler für Spieler. Beginnen wir mit dem Zeilenspieler (Boeing) und fragen uns, was Boeing tun, soll, wenn Airbus produziert (wir lesen also sozusagen die zweite Spalte von oben nach unten). Klare Sache: Dann sollte Boeing nicht produzieren, denn 0 als Auszahlung ist besser als minus zehn (der Verlust, den Boeing sonst machen würde). Also machen wir auf der linken Seite des linken unteren Matrixfeldes, wo diese Situation eingetragen ist, einen Strich vor der Null, die ja die Auszahlung für Boeing darstellt, für den Fall, dass Boeing nicht produziert. Nun fragen wir uns, was Boeing tun sollte, wenn Airbus nicht produziert (wir lesen also die dritte Spalte von oben nach unten) – dann sollte Boeing produzieren, wir machen dementsprechend im rechten oberen Matrixfeld links neben der 100, welche die Auszahlung von Boeing präsentiert, wieder einen Strich.
6 So funktioniert das Angebot
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Nun fragen wir uns, was Airbus machen sollte, wenn Boeing produziert (wir lesen also die zweite Zeile der Matrix). Dann sollte Airbus natürlich nicht produzieren, weswegen wir nun einen weiteren Strich machen, jetzt aber auf der rechten Seite der Zahlen, neben der Null, welche die Auszahlung für Airbus repräsentiert (also in dem Kasten, der für die Kombination „Boeing produziert“, „Airbus produziert nicht“ steht). Dann stellen wir uns die letzte Frage: Was soll Airbus machen, wenn Boeing nicht produziert? Produzieren, natürlich, also machen wir im linken unteren Feld der Matrix einen Strich rechts neben der 100. Wenn Sie die Striche nun korrekt eingezeichnet haben, sehen Sie, dass es insgesamt vier Striche gibt, aber nur in zwei Feldern jeweils zwei Striche sind, nämlich im rechten oberen Feld und im linken unteren Feld – das sind die beiden Gleichgewichte in diesem Spiel. Das Ergebnis ist intuitiv einleuchtend: Entweder Boeing wird produzieren oder Airbus – jede andere Situation wird auf Dauer keinen Bestand haben, weswegen diese beiden Situationen Gleichgewichte sind, so genannte NashGleichgewichte. In einem Nash-Gleichgewicht wählen beide Spieler ihre bestmögliche Strategie, gegeben, dass der Gegenspieler ebenfalls seine bestmögliche Strategie wählt. In einem Nash-Gleichgewicht gibt es für keinen der Spieler einen Anreiz, seine Strategie noch zu ändern. Das Gleichgewicht im Gefangenendilemma ist übrigens auch ein NashGleichgewicht, aber ein besonderes, nämlich eines in dominanten Strategien. Wir hatten ja gesehen, dass beide Spieler hier eine dominante Strategie hatten – egal was der Gegenspieler macht, man hat nur eine Strategie, die das beste Ergebnis für einen persönlich erbringt. Auch hier tut jeder das Beste, gegeben die Strategie seines Gegenspielers. Allerdings ist nicht jedes Nash-Gleichgewicht ein Gleichgewicht in dominanten Strategien, wie wir im Beispiel mit den Flugzeugbauern gesehen haben. Hier gibt es keine dominante Strategie: Ändert der Gegenspieler seine Strategie, so sollte man seine eigene auch ändern.
Köpfe: John Nash Es gibt nur wenige Ökonomen, denen sowohl die Ehre zuteil wird, einen Nobelpreis zu erhalten und in einem Hollywood-Streifen verewigt zu werden, vermutlich nur einen: John Nash. Nach einem Studium der Mathematik weckte ein Kurs über International Economics Nashs Interesse an ökonomischen und spieltheoretischen Themen. Seine zeitweise psychische Erkrankung wurde von Hollywoood in dem Film „A beautiful mind“ verfilmt. Allerdings stimmen in diesem Film nur die wichtigsten Punkte; viele Einzelheiten sind unterhaltsam, aber frei erfunden. In den neunziger Jahren erholte sich Nash von seiner Krankheit; 1994 erhielt er den Nobelpreis für Ökonomie.
John Nash
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Sequentielle Spiele. Wie Sie sehen, gibt es nun zwei Gleichgewichte, und ohne weitere Annahmen können wir nicht sagen, welches der beiden Gleichgewichte denn zustande kommen wird. Hier hilft unsere Darstellung als Matrix nicht weiter. Müssen beide Spieler ihre Strategie gleichzeitig wählen, ohne die Strategie des Gegenspielers zu kennen, dann gibt es keine weitere Lösung – wir können ohne zusätzliche Annahmen nicht sagen, welches der beiden Gleichgewichte realisiert wird. Anders aber wird das, wenn die Spieler nacheinander ihre Strategien wählen, das bezeichnet man als sequentielles Spiel. Dann lässt sich das Spiel als Baum darstellen und von hinten nach vorne lösen, so wie wir das in Abbildung 43 gemacht haben. Dabei wollen wir annehmen, dass Boeing zuerst über seine Strategie entscheiden darf. Auch wenn das Ergebnis sofort klar ist, wenn man annimmt, dass einer der beiden Beteiligten zuerst ziehen kann – lassen Sie uns das Spiel einmal korrekt lösen, indem wir von hinten anfangen. Ganz unten in der Abbildung sind alle möglichen Kombinationen von Ergebnissen respektive Auszahlungen dieses Spiels angegeben. Da Boeing unseren Annahmen zufolge den ersten Zug machen darf, schaut er sich nun zunächst alle Kombinationen von Auszahlungen an und pickt sich diese heraus, bei der er die höchste Auszahlung hat – das ist (100, 0), also die zweite Auszahlungskombination in der Abbildung. Nun muss sich Boeing nur fragen, was zu tun ist, damit diese Kombination zustande kommt. Geht man nun einen Schritt in der Abbildung nach oben, von den Auszahlungen zu Airbus, so sieht man sofort, dass die Kombination (100, 0) nur dann zustande kommt, wenn Airbus sich für „nicht produzieren“ entscheidet. Jetzt muss Boeing sich nur noch fragen, welche Strategie es wählen muss, damit Airbus „nicht produzieren“ wählt (also in der Abbildung einen Schritt weiter nach oben gehen), und sieht sofort, dass dies nur passiert, wenn Boeing „produzieren“ als Strategie wählt – womit man am Ziel ist. Boeing macht den ersten Zug, produziert, woraufhin Airbus sich
Boeing
Abbildung 43: Boeing und der first-mover-advantage
produzieren
Nicht produzieren
Airbus
Airbus
produzieren
Nicht pr.
produzieren
Nicht pr.
-10, -10
100, 0
100, 0
0, 0
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notgedrungen für „nicht produzieren“ entscheidet und das für Boeing beste Ergebnis zustande kommt. Wir haben das Spiel von hinten nach vorne gelöst, indem wir zuerst gefragt haben, welches Ergebnis wir haben wollen und dann durch den Spielbaum nach oben gewandert sind um herauszubekommen, was wir dafür tun müssen. So trivial das in diesem Beispiel aussieht, so kompliziert wird das, wenn es mehrere Spieler oder Strategien gibt oder wenn so ein Spiel über mehrere Runden geht – dann macht sich diese Technik, ein Spiel von hinten zu lösen, bewährt. Das macht der untenstehende Selbstversuch deutlich.
Selbstversuch: Der Blitzrechner Die Strategie, ein Spiel von hinten zu lösen, kann man dazu anwenden, auf Partys als Blitzrechner zu glänzen. Gespielt wird das Spiel von zwei Personen; es geht darum, Zahlen von eins auf 100 aufzuaddieren. Jeder der beiden Spieler muss abwechselnd eine Zahl zwischen eins und zehn nennen (die Null ist nicht erlaubt). Die genannten Zahlen werden zum Spielstand hinzu addiert. Nennt Spieler eins beispielsweise die fünf und Spieler zwei die vier, dann ergibt das zusammen neun. Jetzt ist wieder Spieler eins dran, er nennt die 10 – macht dann 19 – Spieler zwei nennt die 10, das macht dann 29. Das Spiel wird solange gespielt, bis die Summe von 100 erreicht ist, und gewonnen hat derjenige, mit dessen Zahl die Summe 100 erreicht wird. Ist der Spielstand beispielsweise bei 98, so gewinnt der Spieler, der jetzt am Zug ist, indem er die zwei nennt. Dieses Spiel gewinnt man ganz sicher, wenn man es von hinten löst: Derjenige gewinnt, der zum Schluss auf 100 aufaddieren kann. Also darf der Gegner mit seiner Zahl maximal auf 99 kommen – dann kann man die eins nennen und gewinnt. Auf der anderen Seite muss die Zahl, die der Gegner nennt, mindestens 90 sein, denn dann kann man mit der 10 das Spiel für sich entscheiden. Daraus folgt, dass man im vorletzten Durchgang das Spiel gewinnt, wenn man eine Zahl nennt, die den Spielstand auf 89 bringt. Ist der Spielstand nämlich 89 und der Gegner ist am Zug, so kann er maximal auf 99 aufaddieren, und man gewinnt. Da der Gegner aber mindestens die eins nennen muss, beträgt der Spielstand dann 90 und man gewinnt auch. Daraus folgt nun weiter, dass man das Spiel bereits dann gewonnen hat, wenn man auf einen Spielstand von 78 aufaddieren kann. Nennt man eine Zahl, die den Spielstand auf 78 bringt, so kann der Gegner maximal auf 88 kommen, indem er seine Zahl nennt, und man kann auf 89 ergänzen. Er muss aber mindestens die eins nennen, damit kann man mit der 10 auf die 89 ergänzen und gewinnen. Lösen Sie das Spiel weiter nach hinten, so kommen Sie zu einem einfachen Ergebnis: Wer mit der Eins beginnt und dann darauf achtet, dass sich die Zahl des Gegners und die eigene Zahl sich stets zur 11 aufaddieren, gewinnt das Spiel immer. Also: Sie starten mit der eins, Ihr Gegner nennt beispielsweise die neun – dann nennen Sie die zwei (neun plus zwei macht elf), das addiert sich (zusammen mit der eins) auf zwölf. Jetzt nennt Ihr Geg-
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ner die fünf, Sie ergänzen die sechs (fünf plus sechs macht elf) – der Spielstand ist nun auf 23. So treiben Sie das Spiel weiter, sie kommen dann automatisch auf der 67, 78, 89 raus. Hier gewinnt man ein Spiel, indem man es von hinten nach vorne löst.
In diesem Beispiel hat Boeing einen so genannten first-mover-advantage: Wer den ersten Zug machen kann, gewinnt das Spiel. Hier kann man sich nun eine Menge Strategien vorstellen, wie man sich einen solchen Vorteil sichern kann. Beispielsweise kann Boeing eine Anzahlung auf die Maschinen machen, die man braucht um zu produzieren, oder öffentlich bereits teure Werbung für das neuen Flugzeug machen, obwohl noch keine einzige Schraube verplant ist – alles kostspielige Ausgaben, die dem Wettbewerber klar machen sollen, dass man auf jeden Fall einen Flieger bauen wird, andernfalls wären diese teuren Ausgaben ja umsonst. Glaubt Airbus diese mit teuren Investments untermauerte Drohung, dann bleibt dem Unternehmen nichts anderes übrig, als nicht zu produzieren (wir müssen gleich noch einmal darüber nachdenken, ob oder wann eine solche Drohung glaubwürdig ist).
Das ganze Leben ist ein Quiz, …
Es muss aber nicht immer von Vorteil sein, als erster am Zug zu sein. Stellen Sie sich dazu einmal eine Quiz-Show vor, in der sie gegen einen anderen Kandidaten antreten. Beide Kandidaten müssen immer jeweils die gleiche Frage beantworten, die der Quizmaster stellt (der Quizmaster stellt eine Frage, die beide Kandidaten beantworten müssen). Angenommen, die letzte Frage naht, und Sie liegen einen Punkt in Führung. Jetzt ist es ganz klar von Vorteil für Sie, nicht als erster antworten zu müssen. Muss zuerst Ihr Kontrahent antworten, so gewinnen Sie mit einer einfachen Strategie: Sie geben die gleiche Antwort wie Ihr Kontrahent. Hat er richtig geantwortet, bekommt er einen Punkt, Sie aber auch – und Sie haben Ihre Führung ins Ziel gerettet. Lag er falsch, dann bekommt er keinen Punkt. Sie zwar auch nicht, aber Ihr Vorsprung bleibt unverändert. In einer solchen Situation ist es also klar von Vorteil, nicht zuerst ziehen zu müssen; hier hat man einen first-mover-disadvantage. Generell kann man vermuten, dass der Führende in einem Wettbewerb eher einen Vorteil hat, wenn er als zweiter am Zug ist – er muss dann einfach nur die Strategie des Zweitplazierten kopieren um in Führung zu bleiben. Glaubwürdigkeit und Drohungen. Wir hatten bereits gesehen, dass eine Möglichkeit, sich einen first-mover-advantage zu sichern, darin besteht, sich zu einer Handlung zu verpflichten – Boeing macht also schon Werbung für das neue Flugzeug, noch bevor man die erste Schraube gekauft hat und versucht, sich dadurch einen Vorteil zu sichern. Aber wie glaubhaft ist eine solche Verpflichtung? Das bringt uns zu einem neuen Problem, das auch wettbewerbspolitische Implikationen hat. Ein einfaches Beispiel dazu: Ihnen gehört die einzige Eisdiele im Ort, doch Sie werden von einem Konkurrenten bedroht. Sie können im Falle eines
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Eintrittes des Konkurrenten ihre Preise senken, um diesen abzuschrecken, allerdings sinken dann Ihre Gewinne von 200 Euro vor Eintritt des Konkurrenten auf 70 Euro. Oder Sie fordern gemeinsam mit dem neuen Konkurrenten einen hohen Preis – ihre Gewinne sinken dann aber auf 100 Euro, da ein Teil Ihrer Verkäufe nun an die Konkurrenz geht. Bleibt ihr Konkurrent dem Markt fern, so sind seine Gewinne Null. Im Falle des angedrohten Preiskampfes macht er Verluste von 10 Euro; im Falle eines weiterhin hohen Preises macht er Gewinne in Höhe von 20 Euro. Bleibt er dem Markt fern und Sie senken die Preise dennoch, so betragen Ihre Gewinne 130 Euro. Ist die Drohung eines Preiskampfes glaubwürdig? Wird ihr Konkurrent den Markteintritt wagen? Um diese Frage zu beantworten, brauchen wir eine Auszahlungsmatrix – das ist Tabelle 14. Wenn Sie das Spiel wieder konsequent lösen, ist der Fall klar: Ihre Drohung als eingesessener Anbieter ist unglaubwürdig, Ihr Konkurrent wird anbieten. Beginnen wir wieder mit dem Zeilenspieler (also dem Eisdielenbesitzer): Wenn der Konkurrent an den Markt geht, sollten Sie einen hohen Preis fordern, das bringt 100 Euro und ist besser als die 70 Euro, die im Falle eines Preiskampfes winken (also machen wir einen Strich vor die 100). Bleibt der Konkurrent dem Markt fern, sollten Sie auch einen hohen Preis fordern – der hohe Preis ist die dominante Strategie (machen Sie einen Strich links von der 200). Was macht der Konkurrent? Wenn Sie einen hohen Preis fordern, wird er an den Markt gehen (Strich neben der 20); wenn Sie einen Kampfpreis nehmen, wird er nichts tun (Strich neben die Null). Ergebnis: Nur im Kästchen „hoher Preis, Markteintritt“ finden sich auf beiden Seiten Striche – das ist das Gleichgewicht. Konk.
Markteintritt
nichts tun
hoher Preis
100, 20
200, 0
Preiskampf
70, –10
130, 0
Sie
Die Idee hinter diesem Gleichgewicht ist klar: Ist der Konkurrent erst einmal am Markt, dann wäre der Kampfpreis mit Verlusten für Sie verbunden – deswegen fordern Sie trotz der Drohung den hohen Preis. Das weiß auch Ihr Konkurrent, weswegen er an den Markt kommen wird. Die Drohung des Preiskrieges ist also eine unglaubwürdige Drohung. Ähnlich verhält es sich mit der Drohung von Boeing, auf alle Fälle zu produzieren, weil man bereits Geld ausgegeben hat, um später zu produzieren. Warum ist klar: Das bereits investierte Geld ist futsch, egal, ob Boeing nun baut oder nicht, es sollte also bei der Entscheidung keine Rolle mehr spielen – sunk is sunk, weg ist weg, sagen Ökonomen. Geld, das man bereits versenkt hat, spielt keine Rolle mehr dafür, ob man weiter Geld versenkt, es sei denn, man will dem schlechten Geld noch gutes hinterherwerfen.
Tabelle 14: eine unglaubwürdige Drohung
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Glaubwürdiger wäre möglicherweise, wenn Boeing bereits im Vorfeld der geplanten Produktion Werbung macht – produziert man das Flugzeug dann nicht, leiden der Ruf und die Reputation bei den Kunden, das kann dann möglicherweise noch mehr Geld kosten. Perfekt wäre es, wenn Boeing einen Vertrag mit einem Dritten abschließt, und verspricht, diesem Dritten viel Geld zu zahlen, falls man nicht produziert. Ist dieser Vertrag juristisch durchsetzbar, dann ist diese Drohung glaubwürdig; wenn Boeing jetzt nicht produziert, verliert das Unternehmen noch mehr Geld, als wenn es nicht produziert, dann wird produzieren zur dominanten Strategie. Damit wäre der Plan klar, wie Boeing sich im Spiel in Tabelle 13 den first-mover-advantage verschafft: Es verkauft einige Flugzeuge schon, bevor es überhaupt das erste hergestellt hat und verpflichtet sich dazu, Konventionalstrafe zu zahlen, wenn es nicht liefert. Damit ist eindeutig klar, dass Boeing bauen muss (wenn die Konventionalstrafe hoch genug ist), und Airbus wird mit Blick auf den Spielbaum in der Abbildung nicht produzieren. Mit dieser Maßnahme hat Boeing eine glaubhafte Verpflichtung zum Handeln geschaffen und damit das Spiel gewonnen. Diese Strategie, sich selbst glaubhaft zu etwas verpflichten, findet sich in vielen Lebenslagen. Wer seinen Gegner davon überzeugen will, dass er es ernst meint, erklärt seine Absichten öffentlich und setzt damit seinen guten Ruf aufs Spiel – wenn man nun einen Rückzieher macht, blamiert man sich, was den Zwang, die ursprünglich verkündeten Absichten einzuhalten, verstärkt. Wenn eine Politikerin ihren Wählern vor der Wahl erklärt, dass sie unter keinen Umständen mit einer anderen Partei koalieren wird, dann erhöht dieses öffentliche Bekenntnis den Druck, sich nach der Wahl auch entsprechend zu verhalten, auch wenn die Gunst der Stunde dazu einlädt, dieses Versprechen zu brechen. Wie bindend dieses Versprechen nach der Wahl sein kann, hat die betreffende hessische Politikerin erfahren, als sie selbiges brechen wollte.
Bombenstimmung bei Dr. Seltsam © picture alliance
Im Kino: Dr. Seltsam oder wie ich lernte, die Bombe zu lieben Die Ideen der Spieltheorie haben es längst bis ins Kino geschafft – nicht nur durch John Nash. Der Film „Dr. Seltsam oder wie ich lernte, die Bombe zu lieben“ handelt davon, dass die Russen im kalten Krieg eine perfide Weltuntergangsmaschine entwickelt haben – diese vernichtet die ganze Welt, sobald irgendwo auf der Welt Radioaktivität in Folge einer Bombenexplosion freigesetzt wird – der perfekte Vergeltungsschlag. Nun kann man sich spieltheoretisch leicht ausrechnen, dass diese Drohung nicht ernst gemeint ist: Da der Weltuntergang auch den Russen schaden würde, ist die Strategie, die Weltuntergangsmaschine nicht zu starten, dominant (solange man die Welt eben nicht untergehen lassen will); die Amerikaner können also unbesorgt die ersten Atombomben auf Moskau werfen. Das wissen auch die Russen im Film, also haben sie die Maschine darauf programmiert, eigenständig loszugehen und sie so programmiert, dass sie nicht mehr abzustellen ist. Selbst wenn die
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Russen jetzt noch zurückrudern wollten – sie können es nicht. Das ist eine glaubwürdige Drohung, womit die Amerikaner nun besser beraten sind, keinen Atomkrieg anzuzetteln. Der Punkt geht an die Russen. Pech nur, dass bei den Amerikanern ein verrückter General klammheimlich Flugzeuge mit Atombomben gen Moskau geschickt hat, und das letzte lässt sich nicht mehr per Funk zurückholen (das Funkgerät ist defekt). So grotesk der Film ist, er war inspiriert durch die Kuba-Krise des Jahres 1962, in dem es genau um solche Strategien ging, als die Russen versuchten, Raketen auf Kuba zu stationieren. Nun kann man in der Realität keine Weltuntergangsmaschine programmieren, aber man kann etwas anderes machen: Wenn es einem der Kontrahenten gelingt, bei seinem Gegner als völlig verrückter Brandstifter zu wirken, der bereit ist, nur aus Zorn und Rage die ganze Welt anzuzünden, dann gewinnt diese Drohung an Glaubwürdigkeit, und man schreckt vor einem Krieg zurück, weil man nicht weiß, ob der Gegner nicht doch bereit ist, aus Wut oder Dummheit die ganze Welt inklusive sich selbst zu vernichten. Vielleicht kann diese Idee erklären, warum die Welt beispielsweise so viel Angst vor dem kleinen Nordkorea (das über Atomwaffen verfügt) hat.
Denksportaufgabe 11. Als die spanischen Eroberer in Südamerika landeten, verbrannten sie zuerst ihre Schiffe – wieso?
Strategische Handelspolitik. Lassen Sie uns ein letztes Mal das Beispiel Boeing nutzen, um eine weitere praktische Anwendung der Spieltheorie zu diskutieren, welche den europäischen Steuerzahler viel Geld gekostet hat. Nehmen wir einmal an, dass – aus welchem Grund auch immer – man in Europa der Meinung ist, dass man einen europäischen Flugzeugbauer haben sollte. Nun ist aber nur für einen Flugzeugbauer Platz am Markt, wie wir festgestellt haben – was also tun? Wir gehen wieder von Tabelle 13 aus und stellen fest, dass wir kein eindeutiges Gleichgewicht finden. Noch schlimmer: Wenn Boeing bereits am Markt ist, sollte Europa keinen eigenen Hersteller ins Rennen schicken – was also tun? Airbus
produzieren
nicht produzieren
produzieren
–10, 10
100, 0
nicht produzieren
0, 120
0, 0
Boeing
Tabelle 15: Strategische Handelspolitik
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Als Politiker kommt man auf eine einfache Idee: Man verspricht Airbus Subventionen, wenn das Unternehmen produziert – egal, ob es Gewinne macht oder nicht. Nehmen wir einmal an, die Subvention beträgt 20 Euro, dann verändert sich die Matrix aus Tabelle 13 in die Matrix in Tabelle 15: Airbus bekommt auf jeden Fall 20 Euro dazu, wenn es produziert (aus dem Verlust von –10 wird dann ein Gewinn von +10; aus einem Gewinn von 100 wird dann ein Gewinn von 100+20=120). Sie sehen, was nun passiert: „produzieren“ wird für Airbus zur dominanten Strategie, Airbus wird auf alle Fälle produzieren. Für Boeing bleibt angesichts dieser Lage dann nur noch übrig, die Produktion einzustellen – Airbus gewinnt, mit einer Subvention von 20 Euro hat man sich den gesamten Markt in Höhe von 100 gesichert. Diese Idee, die unter dem Namen „strategische Handelspolitik“ firmiert, war mit eine Begründung für die Subventionen an Airbus – Sie sehen, mit nur wenig Spieltheorie kann man große Summen bewegen. Allerdings ist das Konzept der strategischen Handelspolitik nicht ohne Kritik: Zum einen muss man konstatieren, dass hier eine Wettbewerbsverzerrung stattfindet, wenn man die heimische Produktion subventioniert, die Arbeitsplätze, die man damit schafft, werden auf dem Rücken der ausländischen Arbeitnehmer geschaffen (zudem kostet eine Subvention immer Wohlstand, das können Sie mit Hilfe der Produzenten- und Konsumentenrente zeigen; das funktioniert ähnlich wie im Falle der Steuern aus Kapitel 4). Und da das Ausland sich das natürlich auch nicht gefallen lässt, ist klar, was passiert: Das Ausland subventioniert ebenfalls, und es kommt zu einem Subventionswettlauf, der in einem Gefangenendilemma endet (wie würde denn diese Spielmatrix aussehen?).
In der Praxis: Airbus gegen Boeing Die beiden Luftfahrtkonzerne Airbus und Boeing bekriegen sich schon seit langem – jeder wirft dem anderen vor, unberechtigte Subventionen zu beziehen, wodurch der Wettbewerb auf dem Weltmarkt verzerrt sei. Kein Wunder, dass man sich gegenseitig bei der Welthandelsorganisation (WTO) verklagt hat. Diese kritisiert unter anderem staatliche Forschungs- und Entwicklungszuschüsse in dreistelliger Millionenhöhe, die Airbus seit Mitte der neunziger Jahre erhalten hat. Auch Kosten für den Bau von Straßen sowie die Erschließung und Bereitstellung von Grundstücken hätten die Airbus-Länder Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Spanien übernommen. Airbus argumentiert, dass Boeing ebenfalls verdeckte staatliche Hilfen erhalte; das Langstreckenflugzeug Boeing 787 sei die am meisten subventionierte Maschine aller Zeiten. Insgeheim haben sich die Vertreter der Konzerne und ihrer Mutterländer wohl darauf eingestellt, dass die Subventionspraxis auf beiden Seiten als Verstoß eingestuft wird. Die Folge können Sanktionen wie Strafzölle sein, die EU und USA gegeneinander verhängen. Auch in anderen Ländern verfolgt man diesen Streit aufmerksam: Schwellenländer wie Russland und China planen ebenfalls, eine eigene Flugzeugindustrie aufzubauen.
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Arbeitsauftrag 19 Wie sieht die Matrix in Tabelle 15 aus, wenn Boeing ebenfalls Subventionen erhält?
Wiederholte Spiele. Bisher sind wir – ohne es so offen anzusprechen – stets von einmaligen Spielen ausgegangen: Man spielt einmal gegeneinander, und dann ist Schluss. Das ist in vielen Fällen wenig realistisch, oftmals tritt man mehrmals gegen einen anderen Spieler an, oder man spielt das gleiche Spiel immer wieder gegen verschiedene Gegner. Unser Eisdielenbesitzer in Tabelle 14 beispielsweise muss sich nicht nur einmal eines möglichen Konkurrenten erwehren, sondern mehrmals. Viele Gefangenendilemmata werden ebenfalls wiederholte Male gespielt: der Rüstungswettlauf, der Preiskrieg, die Verabredung zum Kartell, ja selbst die Absprache zwischen den beiden Verbrechern, die gefasst werden und gestehen sollen, kann sich häufiger ereignen. Und dann können sich die Ergebnisse unserer Spiele deutlich ändern. Nehmen wir beispielsweise unseren Eisdielenbesitzer, der sich gegen eindringende Konkurrenz wehren muss. Die Ausgangslage ist klar (und in Tabelle 14 beschrieben): Dringt ein neuer Konkurrent in den Markt ein, dann wird unser Eisdielenbesitzer etwas von seinen Gewinnen abgeben müssen, aber er wird keinen Preiskampf anzetteln, da sich das für ihn nicht lohnt, und da das der potentielle Wettbewerber weiß, wird er in den Markt eintreten. Das ist das Ergebnis eines einmaligen Spiels. Was aber, wenn unser Eisdielenbesitzer anders denkt? Wo ein Konkurrent angelockt wird, drohen weitere zu kommen, die jedes Mal den Gewinn schmälern. Wenn unser Eisdielenbesitzer dieses Spiel also nicht einmalig ansieht, sondern es als wiederholtes Spiel begreift, das er immer wieder gegen andere, neue potentielle Wettbewerber spielen wird, dann ändert sich sein Kalkül: Warum sollte es dann nicht lohnend sein, einen Preiskampf anzuzetteln? Warum sollte er? Ganz einfach: Gelingt es ihm, einen neuen Wettbewerber über den Preiskampf wieder aus dem Markt zu drängen, so sind alle potentiellen Nachahmer gewarnt: Wenn sie versuchen, in den Markt einzusteigen, müssen sie damit rechnen, dass der Eisdielenbesitzer ihnen über einen Preiskampf Verluste beschert und werden deswegen den Eintritt in den Markt unterlassen. Indem der Eisdielenbesitzer einmal hart geblieben ist und dafür eine kurzfristige Gewinnminderung hingenommen hat, hat er sich für die Zukunft alle potentiellen Konkurrenten vom Hals geschafft – niemand wird es mehr wagen, in seinen Markt einzudringen, da er weiß, dass dann ein Preiskampf droht. Damit hat sich der Eisdielenbesitzer eine Reputation aufgebaut, die ihm in den folgenden Spielen nutzen wird. Sie sehen, sobald aus einem einmaligen Spiel ein wiederholtes Spiel wird, können sich die Ergebnisse des Spiels grundlegend ändern.
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Allerdings muss man dabei eine wichtige Unterscheidung machen, nämlich ob ein Spiel unendlich oft gespielt wird oder ob es ein klar definiertes Ende gibt, die Anzahl der Spielrunden also feststeht. Der einfachere Fall ist der, in dem es eine vorher fest angesetzte Runde an Spielen gibt – dann ändert sich im Prinzip gar nichts. Warum? Ganz einfach: Nehmen Sie einmal an, Sie spielen das Gefangenendilemma (so wie in Tabelle 12) sagen wir zehn Mal. Um zu erkennen, was passiert, lösen wir das Spiel jetzt von hinten (so, wie wir es bei den sequentiellen Spielen gelernt haben), und fangen mit Runde zehn an. In Runde zehn ist beiden Spielern klar, dass dies die letzte Runde ist – also macht es Sinn, die Strategie zu wählen, die man auch bei einem einmaligen Spiel gewählt hätte. Das ist auch richtig so, denn das zehnte Spiel ist ja das letzte und damit ein einmaliges Spiel, was vorher war, interessiert nicht mehr. Also wird man in der letzten Runde nicht mehr kooperieren, um seine Auszahlung zu maximieren. Was aber passiert in Runde neun? Ganz einfach: Jetzt ist das neunte Spiel, das letzte Spiel und wird auch dementsprechend behandelt. Die Idee, im neunten Spiel noch zu kooperieren, damit der Gegenspieler ebenfalls kooperiert, ist nicht klug: Wir wissen doch, dass er im letzten Spiel nicht mehr kooperieren wird, also wird es ihm egal sein, was wir im vorletzten Spiel machen. Im Gegenteil: Weil er weiß, dass im letzten Spiel keiner der beiden kooperieren wird, warum sollte er dann im vorletzten Spiel kooperieren? Er kann sich ja jetzt einen Vorteil verschaffen, indem er bereits im neunten Spiel nicht kooperiert. Da Sie das aber auch wissen, werden Sie ebenfalls nicht im neunten Spiel kooperieren. Das Ergebnis: im neunten Spiel wird nicht kooperiert. Das bringt uns dann zum achten Spiel, das nun das letzte ist – und Sie erkennen, wie die Argumentation weiter geht: Wenn ich weiß, dass mein Gegenüber im neunten Spiel nicht kooperieren wird, besteht für mich kein Anlass, im achten Spiel zu kooperieren, und für ihn auch nicht. Das Ergebnis: Wenn wir uns durch alle Runden nach vorne hangeln, kommen wir zu dem Ergebnis, dass bei endlich wiederholten Spielen bereits ab dem ersten Spiel das Ergebnis zustande kommt, das auch bei einmaligen Spielen zustande kommen würde. Die Geschichte des Films „Nur 48 Stunden“ illustriert diese Idee recht anschaulich.
Im Kino: „Nur 48 Stunden“ Im Film „Nur 48 Stunden“ schließen der Polizist Jack Cates (Nick Nolte) und der Gauner Reggie Hammond (Eddie Murphy) einen Pakt: Jack holt Reggie, der zur Zeit im Gefängnis sitzt, aus dem Knast, damit er ihm bei der Suche nach einem anderen Verbrecher hilft, den beide hinter Gittern sehen wollen (Reggie will sich an dem anderen Gauner rächen). Allerdings ist von Anfang an klar, dass Reggie nach Ablauf der 48 Stunden wieder in den Knast zurückgeht – oder aber, sobald der andere Verbrecher geschnappt ist. Der Film bezieht seine Spannung aus der Ungewissheit, ob sich beide an ihre Vereinbarung halten werden. Spieltheoretisch betrachtet kann
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diese Vereinbarung nicht zustande kommen: Wenn Reggie weiß, dass er nach 48 Stunden wieder zurück ins Gefängnis muss, wird er sich sagen wir nach 47 Stunden einfach aus dem Staub machen. Das weiß aber auch Jack, weshalb er Reggie am besten schon nach 46 Stunden wieder einlochen wird, um die drohende Flucht zu verhindern. Das wiederum kann sich auch Reggie ausrechnen, weswegen er lieber schon nach 45 Stunden versuchen wird, zu fliehen. Das aber wiederum führt dazu, dass Jack ihn schon nach 44 Stunden einsperrt – und so weiter. Das Ergebnis: Jack wird Reggie erst gar nicht aus dem Knast holen, weil dieser sofort versuchen wird, zu fliehen. Das 48-mal wiederholte Spiel „Gauner und Polizist wollen kooperieren“ wird also in der ersten Runde genau so ausgehen wie in der letzten Runde. Der einzige Grund, warum diese Kooperation doch zustande kommt, ist darin zu sehen, dass beide ja das Interesse haben, den Verbrecher hinter Gittern zu sehen. Da sie aber nicht mit Sicherheit wissen, wann sie ihn schnappen (und Reggie wieder zurück ins Gefängnis muss), ist das Ende des Spiels nicht gewiss. Deswegen gehen beide diesen Pakt ein, in der Hoffnung, dass sie noch vor ihrem Gegenüber erkennen werden, wann das Spiel vorbei ist (also der andere Gauner gefasst ist). Erkennt Reggie zuerst, dass die letzte Spielrunde vorbei ist, kann er türmen, erkennt Jack zuerst, dass das Spiel vorbei ist, kann er Reggie rechtzeitig einsperren, bevor dieser türmen kann. Es ist also die Unsicherheit darüber, wann das Spiel vorbei ist, die dazu führt, dass die Handlung des Films überhaupt in Gang kommt und die beiden kooperieren.
Anders hingegen wird das, wenn das Spiel kein bestimmtes Ende hat oder unendlich läuft: Jetzt sind grundsätzlich alle Ergebnisse möglich. Schauen wir uns dazu noch einmal den Eisdielenbesitzer aus Tabelle 14 an. Wir hatten gesehen, dass dessen Drohung, einen Preiskrieg anzuzetteln, in einem einmaligen Spiel nicht glaubwürdig war. Bei einem mehrmaligen Spiel hat er Gelegenheit, sich eine Reputation als Kampfpreis-Fanatiker aufzubauen, aber sollte die Zahl der Spiele endlich sein, wäre diese Drohung ebenfalls nicht glaubwürdig – in der letzten Runde würde er den hohen Preis fordern, das führt dazu, dass er auch in der vorletzen Runde den hohen Preis fordert, und so weiter. Aber da wir nicht wissen, wie oft dieses Spiel noch gespielt wird, kann er sich jetzt in aller Ruhe eine Reputation als Starrkopf aufbauen, die für sorgt, das alle potentiellen Konkurrenten lieber die Segel streichen, als sich mit ihm anzulegen. Ein ähnliches Spiel um Reputation werden wir noch einmal in der Makroökonomie kennen lernen, wenn wir über die Strategien von Notenbanken sprechen. Gemischte Strategien. Man muss sich nicht immer für eine Strategie entscheiden. Dazu ein einfaches Beispiel: Sie treten an im Elfmeterschießen gegen Manuel Neuer. Tabelle 16 illustriert diese interessante Aufgabe.
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Teil 1: Mikroökonomie
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Neuer
rechts
links
rechts
-, +
+, -
links
+, -
-, +
Sie
Tabelle 16: Gemischte Strategien beim Elfmeterschießen
Wie Sie rasch erkennen, gibt es hier kein Gleichgewicht in reinen Strategien – wenn Sie nach rechts schießen und Herr Neuer sich nach links wirft, ist das gut für Sie, schlecht für Herrn Neuer (deswegen ein + für Sie und ein – für Herrn Neuer); wenn sich Herr Neuer aber nach rechts wirft und Sie nach rechts schießen, ist das gut für Herrn Neuer, schlecht für Sie (deswegen ein + für Herrn Neuer, ein – für Sie). Wenn dieses Spiel aber mehrmals gespielt wird, dann gibt es eine einfache Lösung: Sie schießen ab und an nach rechts, dann wieder ab und an nach links, Sie verfolgen also eine gemischte Strategie. Das Problem dabei: Sobald Herr Neuer ein Muster in Ihrer Strategie erkennt (Sie schießen beispielsweise dreimal nach links, dann zweimal nach rechts, dann wieder dreimal nach links usw.), werden Sie das Spiel verlieren, weil Herr Neuer dieses Muster zu seinem Vorteil ausnutzen kann (das gilt natürlich auch anders herum für Herrn Neuer – auch er sollte kein Muster in seiner Strategie haben). Damit liegt nahe: Eine einfache Lösung ist es, dem Zufall die Auswahl der Ecke zu überlassen, beispielsweise, indem man vor jedem Schuss eine Münze wirft. Damit wird Ihr Verhalten als Schütze für den Torwart unberechenbar. Herr Neuer sollte die gleiche Strategie wählen (warum?).
6 So funktioniert das Angebot
Zusammenfassung 1. Das Angebot eines Produzenten bestimmt sich nach der Regel Grenzerlöse gleich Grenzkosten. Bei vollkommenem Wettbewerb, also vielen Anbietern ohne Einfluss auf den Marktpreis (Polypol), entsprechen die Grenzerlöse dem Preis, weswegen die Anbieter nach der Regel Preis = Grenzkosten ihren Gewinn maximieren. 2. Im Monopol entspricht der Grenzerlös nicht dem Preis, da der Monopolist mit der Höhe seines Angebots das komplette Marktangebot verändert. Das Gewinnmaximum im Monopol ist dort, wo sich Grenzerlöskurve und Grenzkostenkurve schneiden. 3. Eine realistischere Marktform ist die monopolistische Konkurrenz, in der jeder Anbieter einen begrenzten Spielraum zur Anhebung der Preise hat. Aufgrund der Konkurrenz wird der Preis für diesen Anbieter aber so weit sinken, bis der den Durchschnittskosten entspricht. 4. Eine weitere Marktform ist das Oligopol, in dem wenige Anbieter miteinander konkurrieren; wobei die Handlung des einen Anbieters eine unmittelbare Rückwirkung auf die anderen Anbieter hat. Solche Probleme, bei denen eine Handlung Rückwirkungen auf andere hat und man diese Rückwirkungen in seine eigene Entscheidung einbezieht, werden in der Spieltheorie behandelt. 5. Wenn in einem Spiel beide Akteure bei gegebener Strategie des Gegners ihre beste Strategie verfolgen, so spricht man von einem Nash-Gleichgewicht. 6. Manche Spiele lassen sich nur lösen, indem man eine Annahme darüber macht, in welcher Reihenfolge die Spieler ziehen (sequentielle Spiele). Dabei kann es von Vor- oder Nachteil sein, zuerst zu handeln. 7. Bei wiederholten Spielen muss man unterscheiden zwischen endlich und unendlich wiederholten Spielen. Bei endlich wiederholten Spielen kommt das gleiche Ergebnis zustande wie bei einmaligen Spielen; bei unendlich oft wiederholten Spielen ist das Ergebnis unbestimmt.
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Um was geht es? Bisher haben wir erarbeitet, wie Märkte funktionieren und warum sie wohlfahrtsfördernd sind. Dann haben wir uns im zweiten Teil der Frage gewidmet, wie Unternehmen funktionieren und was passiert, wenn es sehr viele Unternehmen (Polypol), nur ein Unternehmen (Monopol), wenige Unternehmen (Oligopol) gibt oder wenn es viele Unternehmen mit unterschiedlichen Produkten gibt (monopolistische Konkurrenz). Wir wissen nun also, wie Märkte funktionieren, warum sie funktionieren, warum sie gut für eine Volkswirtschaft sind, und wir wissen, wie Unternehmen ticken. Doch damit sind wir nicht am Ende: Wie wir im ersten Abschnitt gesehen haben, funktionieren Märkte nur dann richtig und sind gesellschaftlich akzeptabel, wenn ein paar Voraussetzungen gegeben sind: Begrenzung von Macht, die durch Knappheit entstehen kann, Schutz Schwächerer, keine Geschäfte zu Lasten Dritter (im Zweifelsfall lesen Sie das noch einmal in Kapitel 2 nach). Nun kann es aber passieren, dass – wodurch auch immer – eine Machtposition eines einzelnen Anbieters entsteht. Der alleinige Besitzer der Wasserquelle, der Monopolist, der große Konzern, der einen so großen Marktanteil besitzt, dass er die Preise diktieren kann – all das sind Machtpositionen, die wir zum einen nicht gesellschaftlich akzeptieren wollen und zum anderen auch die Funktionsfähigkeit unseres Marktes aushebeln. Wir haben ja bereits an einigen Stellen festgestellt, dass Märkte nur funktionieren, wenn es keine Machtpositionen gibt, aber Monopolisten oder marktbeherrschende Unternehmen haben eine solche Machtposition. Und wenn Sie sich nun an die Aufgaben erinnern, die wir lösen müssen, wenn wir eine arbeitsteilige Wirtschaft organisieren müssen (das können Sie noch einmal in Kapitel 2 nachlesen), dann verstehen Sie auch, welche Schäden solche Machtpositionen anrichten können:
Die Allokationsfunktion funktioniert nur noch eingeschränkt: Zwar hat der Monopolist (oder das marktmächtige Unternehmen) immer noch Interesse daran, möglichst kostengünstig zu produzieren, doch ohne die Konkurrenz, die ihn bedroht, wird es nicht mehr so dringend, so effizient und günstig wie möglich zu sein. Im Zweifelsfall reicht man die Kosten des Schlendrians einfach an die Kunden weiter, die ja nicht auf andere Anbieter ausweichen können.
Die Verteilungsfunktion des Marktes wird durch Marktmacht verzerrt: Das Einkommen des Monopolisten oder marktmächtigen Unterneh-
Wir können Wettbewerb
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mens beruht dann (unter Umständen) nicht mehr auf Leistung und Verdienst, sondern auf Macht (wir können auch die Umverteilung von Wohlstand ansatzweise grafisch zeigen, das ist nämlich das Rechteck B in Abbildung 42). Problematisch allerdings wird es, wenn die Machtposition aufgrund eigener Verdienste entstanden ist, also verdient ist – mit diesem Problem werden wir uns noch einmal auseinandersetzen müssen.
Die Anpassungsfunktion und die Innovationsfunktion des Marktes werden bei Marktmacht tendenziell ausgehebelt: Wer den Markt beherrscht, muss sich nicht um Innovationen, Verbesserungen oder Kundenwünsche kümmern – zum Nachteil aller Konsumenten. Die Ruhmeshalle der Wirtschaftsgeschichte ist voll von ehemaligen Großunternehmen, die aufgrund ihrer eigenen Arroganz und Überheblichkeit neue Trends in ihrem Geschäft verschlafen haben.
Die Kontrollfunktion versagt bei zu großer Marktmacht – das kann zum gesellschaftlichen und politischen Problem werden. Ein Unternehmen, das zu groß und mächtig ist, kann der Politik seine Gangart diktieren. Und droht ein solches Unternehmen zu scheitern, dann muss die Politik möglicherweise auch eingreifen – wie kompliziert das ist, hat die Bankenkrise des Jahres 2007 und die Debatte um Banken, die zu groß sind, um unterzugehen, eindrucksvoll gezeigt. Damit ist klar: Wir müssen dafür Sorge tragen, dass eine ausreichende Menge an Unternehmen untereinander um die Kunden konkurriert, diese Konkurrenz verhindert die Entstehung von Machtpositionen – und das nennt man Wettbewerb. Ohne diesen Wettbewerb versagt unser Marktmodell, all seine Vorzüge sind dahin. Wettbewerb kontrolliert unternehmerische Macht, sorgt für Anreize zur Anpassung und Innovation, stellt sicher, dass Konsumenten nicht ausgebeutet werden und sorgt für effiziente Produktion (Allokation). Und die Politik, die man betreibt, um den Wettbewerb zu sichern, nennt sich Wettbewerbspolitik.
Arbeitsauftrag 20 Suchen Sie Beispiele von marktmächtigen Unternehmen. Wodurch ist deren Machtposition entstanden? Wie geht der Gesetzgeber mit diesen Unternehmen um? Suchen Sie auch nach Unternehmen, deren Marktmacht verschwunden ist. Warum haben sie ihre Machtposition verloren?
Warum ist Wettbewerb kein Selbstläufer? Nun könnte man ja auf die Idee kommen, sich zu fragen, warum wir überhaupt Wettbewerbspolitik brauchen. Liegt der Wettbewerb den Menschen nicht im Blut, wollen sie nicht immer miteinander konkurrieren? Gibt der Wettbewerb nicht genügend Anreize, sich immer anzustrengen? Grundsätzlich ja, aber dennoch
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gibt es in Sachen Wettbewerb einige Probleme, die sich nicht von selbst lösen:
Den Anreiz, sich dem Druck des Wettbewerbs zu entziehen, haben Produzenten immer: Marktmacht kann dadurch entstehen, dass sich die Produzenten in einem Markt zusammenschließen, um die Konsumenten auszubeuten und sich gegenseitig nicht mehr Konkurrenz zu machen. Man verabredet gemeinsame Preiserhöhungen, und wenn alle Produzenten mitmachen, dann geht das zu Lasten der Kunden. Diese Form von Wettbewerbsbeschränkungen geschieht über Kartelle und Absprachen; das ist der erste Bereich der Wettbewerbspolitik, dem wir uns widmen müssen.
Marktmacht kann auch entstehen, indem ein Produzent seine Konkurrenten durch unfaire Maßnahmen vom Markt drängt, seine Abnehmer oder Lieferanten ausbeutet. Diese Form der Wettbewerbsbeschränkungen nennt man Behinderungs- und Verdrängungspraktiken, das ist Nummer zwei auf der wettbewerbspolitischen Aufgabenliste.
An Nummer drei dieser Liste steht die Entstehung von Marktmacht durch Konzentration: Unternehmen schließen sich zusammen, kaufen andere Unternehmen auf, und am Ende dieses Prozesses steht ein marktmächtiges Unternehmen mit entsprechenden Folgen.
Machtpositionen können aber auch auf natürlichem Weg wachsen, durch langjährige Arbeit, Spezialisierung, spezielle Erfindungen oder auch Glück. Das ist ein besonderer Fall, den wir im Rahmen der Wettbewerbspolitik gesondert diskutieren müssen. Und: Es ist ein schwieriger Fall.
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In der Praxis: Das Bundeskartellamt Das Bundeskartellamt hat die Aufgabe, den Wettbewerb in Deutschland zu schützen. Das Amt ist eine selbständige Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie und hat seinen Sitz in Bonn. Die kartellrechtlichen Entscheidungen werden von zwölf Beschlussabteilungen getroffen, deren Zuständigkeiten überwiegend nach Wirtschaftszweigen abgegrenzt sind. Unterstützt werden die Beschlussabteilungen unter anderem durch die Grundsatzabteilung, die in speziellen Fragen des Kartellrechts berät. Die Beschlussabteilung ist bei ihrer Entscheidungsfindung unabhängig und weisungsfrei; ihre Entscheidungen sind Mehrheitsentscheidungen. Auf der Ebene der Bundesländer sorgen die bei den Wirtschaftsministerien der Bundesländer angesiedelten Landeskartellbehörden für den Schutz des Wettbewerbs. Gesetzlich geregelt ist der Schutz des Wettbewerbs im 1958 erlassenen Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB), auch Kartellgesetz genannt, welches die Kartellbehörden anwenden. Neben dem deutschen findet allerdings auch das europäische Wettbewerbsrecht Anwendung, das in Artikel 101 bis 109 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union geregelt ist. Zuständig auf europäischer Ebene ist die Generaldirektion Wettbewerb der europäischen Kommission, die den Auftrag hat, das Wettbewerbsrecht in der EU durch zu setzen. (http://ec.europa.eu/dgs/competition/index_de.htm; http://www.bundeskartellamt.de/wDeutsch/index.php)
Damit haben wir die drei wichtigsten Arbeitsbereiche der Wettbewerbspolitik genannt, die sich auch in dieser Form im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) wieder finden, und mit denen wir uns nun ausführlich beschäftigen müssen. Kartelle und Absprachen. Der erste Problembereich behandelt Absprachen, Kartelle, stillschweigende Übereinkünfte der Unternehmen, den Preisen ein wenig auf die Sprünge zu helfen. Das kann auf unterschiedlichem Weg geschehen:
Da wäre zunächst das Kartell. Die Unternehmen einer Branche beschlieDas Bundeskartellamt in Bonn
ßen vertraglich, den Preis oder andere Wettbewerbsparameter gemeinsam zu fixieren.
Finden solche Absprachen ohne förmliches Vertragswerk statt, so spricht man von Absprachen. Der Volksmund nennt das auch Frühstückskartell.
Manchmal allerdings sind Absprachen gar nicht nötig, wenn die Unternehmen den Markt überblicken, ihre Konkurrenten kennen und deren Verhalten beobachten können, kann es auch zu abgestimmten Verhaltensweisen kommen: Man hebt gemeinsam die Preise an, ohne dass man
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darüber sprechen müsste; sozusagen eine stillschweigende, augenzwinkernde Übereinkunft zulasten der Verbraucher. Grundsätzlich zielen alle diese Verhaltensweisen auf das gleiche Ergebnis, nämlich auf eine Abstimmung zentraler Wettbewerbsparameter. Lassen Sie uns das einmal ganz kurz analysieren, und lassen Sie uns dabei davon ausgehen, dass die Unternehmen sich über den Preis ihrer Produkte absprechen, um ihren Gewinn zu maximieren. Was kommt dabei heraus? Das Ergebnis dieser Absprachen (wenn sich alle Anbieter daran beteiligen) kennen Sie bereits Abbildung 42: Die Unternehmen werden ihre gesamte Produktion behandeln wie die Produktion eines einzigen Unternehmens und werden den Preis wählen, den auch ein Monopolist wählen würde. Das leuchtet unmittelbar ein, denn das Kartell unserer Unternehmer tritt ja nach außen auf wie ein einziges Unternehmen. Damit haben wir auch eine weitere Antwort auf die Frage, warum wir Kartelle nicht mögen: Wir mögen Kartelle nicht, weil sie wie oben bereits besprochen den Wettbewerb und seine Wirkungen untergraben, und wir mögen Kartelle nicht, weil sie – wie ein Monopol – zu Wohlfahrtsverlusten führen (das haben wir Abbildung 42 ja bereits erarbeitet) und vor allem die Konsumenten teuer zu stehen kommen.
In der Praxis: Das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) Das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) gilt als das Grundgesetz der Wettbewerbspolitik in Deutschland und als wirtschaftliches Gegenstück zum Grundgesetz. Im ersten Teil werden unter anderem Wettbewerbsbeschränkungen geregelt (wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen und abgestimmte Verhaltensweisen, Marktbeherrschung und wettbewerbsbeschränkendes Verhalten, Zusammenschlusskontrolle); der zweite Teil hat die Kartellbehörden zum Gegenstand, der vierte Teil geht um die Vergabe öffentlicher Aufträge.
Allerdings taucht im Kartell ein delikates Problem auf: Wie verteilt man die Gewinne aus dieser Vereinbarung? Eigentlich doch danach, wie viel jedes der am Kartell beteiligten Unternehmen verkauft, oder? Klingt plausibel, wirft aber ein Problem auf: Wie viel darf jeder im Kartell produzieren? Wenn im Kartell der Gewinn von der Höhe der verkauften Produkte abhängt, dann ist das für jeden Anbieter ein Anreiz, etwas billiger anzubieten, das erhöht den Absatz, aber zulasten der anderen Kartellbrüder. Und schon laufen wir in ein spieltheoretisches Dilemma hinein: Kann ein Kartell überhaupt stabil sein? Wenn man das Kartell als einmaliges Spiel betrachtet, muss man Zweifel daran hegen. Tabelle 17 illustriert das Problem.
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Eral
teuer
billig
teuer
10, 10
5, 20
billig
20, 5
7, 7
Asso
Tabelle 17: Kann ein Kartell funktionieren
Nehmen wir einmal an, unsere beiden Anbieter Eral und Asso einigen sich darauf, ein Kartell zu bilden und einen hohen Preis statt einem niedrigen Preis zu fordern. Fordern beide einen hohen Preis, so erwirtschaften beide höhere Gewinne, wenn aber einer der beiden den hohen Preis fordert, während der andere billig anbietet, dann macht der Anbieter mit dem billigen Preis höhere Gewinne. Das Ergebnis kennen Sie bereits: Es entsteht ein Gefangenendilemma, bei dem am Ende herauskommt, dass beide den niedrigen Preis nehmen – zum Wohle der Konsumenten, zum Ärger der Kartellbrüder. Spieltheoretisch kann ein Kartell also nur funktionieren, wenn man es als unendlich wiederholtes Spiel begreift, denn dann ist – wie wir bereits gesehen haben – jedes Ergebnis möglich, die Spieler versuchen, eine Reputation als kooperativer Spieler aufzubauen. In der Praxis beobachten wir in der Tat, dass manche Kartelle recht instabil sind; denken Sie beispielsweise an das Ölkartell der OPEC, der Organisation erdölexportierender Staaten, die versucht, den Ölpreis unter Kontrolle zu halten.
In der Praxis: Fiese Kartellbehörden und die Bonusregelung Wie können Wettbewerbsbehörden ein Kartell zum Einsturz bringen? Wie wäre es damit: Man bietet demjenigen Kartellsünder, der als erster reuig gesteht, Straffreiheit an, alle anderen Mitglieder des Kartells werden hingegen saftig bestraft. Genau das bietet das Bundeskartellamt in Form der so genannten Bonusregelung an: Es kann Kartellteilnehmern, die durch ihre Kooperation dazu beitragen, ein Kartell aufzudecken, die Geldbuße erlassen oder reduzieren. Erlassen wird die Geldbuße, wenn sich der Kartellsünder erstens als erster Kartellbeteiligter an das Bundeskartellamt wendet, bevor dieses über genügend Beweismittel verfügt, um einen Durchsuchungsbeschluss zu erwirken; wenn er zweitens das Bundeskartellamt durch mündliche und schriftliche Informationen und Beweismittel in die Lage versetzt, einen Durchsuchungsbeschluss zu erwirken; wenn er drittens nicht alleiniger Anführer des Kartells war oder andere zur Teilnahme an dem Kartell gezwungen hat und wenn er viertens ununterbrochen und uneingeschränkt mit dem Bundeskartellamt zusammenarbeitet. Spieltheoretisch ist das clever: Wie sieht ein Spiel aus, bei dem zwei Kartellmitglieder gegeneinander spielen und entscheiden müssen, ob sie ihre Kartellmitgliedschaft gestehen oder aber weiterhin zum Kartell halten? Welches Ergebnis erwarten Sie?
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Wettbewerbspolitische Maßnahmen gegen Absprachen. Was also kann der Gesetzgeber tun gegen Kartelle oder unerlaubte Absprachen? Grundsätzlich sind Kartelle in der Bundesrepublik verboten, das ist in Paragraph 1 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (das Sie bereits kennen gelernt haben) geregelt. Dort heißt es: „Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, die eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs bezwecken oder bewirken, sind verboten.“ Abgestimmte Verhaltensweisen sind also explizit durch das Verbot erfasst. Auch auf europäischer Ebene ist das geregelt, und zwar in Artikel 101 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union. Dort heißt es: „Mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar und verboten sind alle Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, welche den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind und eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Gemeinsamen Marktes bezwecken oder bewirken...“. Grundsätzlich gilt dabei, dass die nationalen Kartellbehörden zuständig sind, solange nicht der zwischenstaatliche Handel von der Wettbewerbsbeschränkung betroffen wird – dann übernimmt die EU. Natürlich ergibt sich hierbei ein Problem: Wie weist man den Unternehmen eine Kartellbildung oder gar abgestimmte Verhaltensweise nach? Das ist nicht so einfach, wie beispielsweise der legendäre Teerfarben-Fall zeigt.
In der Praxis: der Teerfarben-Fall In den 60er Jahren trafen sich die wichtigsten europäischen Teerfarbenhersteller regelmäßig zu einem „Informationsaustausch“. Eines der Unternehmen kündigte bei einem dieser Treffen an, seine Preise zu einem Stichtag um 8 Prozent zu erhöhen. In den folgenden
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Wochen kündigten weitere Hersteller Preiserhöhungen für denselben Tag an, so dass schließlich am Stichtag alle Anbieter gleichzeitig ihre Preise um genau 8 Prozent erhöhten. Das Bundeskartellamt versuchte, eine Geldbuße zu verhängen, und scheiterte zunächst vor Gericht: Der Bundesgerichtshof erklärte, dass der Vertragsbegriff in diesem Fall nicht anwendbar sei. Der Europäische Gerichtshof kassierte dieses Urteil wieder ein.
Wie der Teerfarben-Fall zeigt, kann man das Kartellverbot einfach umgehen, indem man sich formlos auf ein bewusstes Parallelverhalten verständigt. Nach dem Teerfarbenfall allerdings wurde in der zweiten Novelle des GWB im Jahr 1973 das vertragliche Verbot von Wettbewerbsbeschränkungen (also § 1 GWB) um ein Verbot abgestimmten Verhaltens ergänzt. Vertragliche Vereinbarungen müssen nun nicht mehr abgegrenzt werden von einem abgestimmten Verhalten. Damit ist rechtlich klar, dass es ausreicht, wenn sich Unternehmen augenzwinkernd darauf verständigen, sich wie ein Kartell zu verhalten. Aber damit hat man nicht alle Probleme gelöst, am schwierigsten ist es wohl, dieses abgestimmte Verhalten nachzuweisen: Was, wenn der Markt so klein (also die Anzahl der Anbieter überschaubar), so transparent und so hart umkämpft ist, dass jeder Anbieter bei seinen Handlungen die Handlungen seiner Konkurrenten mit einbezieht und dadurch gleichförmiges Verhalten entsteht? Dann sind es nicht die Absprachen, die zu einem kartellähnlichen Verhalten führen, sondern die Zwänge des Marktes – aber wie will man das eine vom anderen unterscheiden? Man muss sich also in solchen Fällen sehr genau die Umstände, den Markt, das Verhalten der Unternehmen anschauen und überlegen, ob das beobachtete Verhalten der Unternehmen in einem solchen Marktumfeld plausibel ist.
In der Praxis: Ärger an der Zapfsäule Das Bundeskartellamt hat sich im Frühjahr 2011 in einer umfangreichen Untersuchung dem Preisgebaren der Ölmultis in Deutschland gewidmet. Das Fazit: Die fünf großen Tankstellenbetreiber in Deutschland machen sich gegenseitig keinen wesentlichen Wettbewerb, sie bilden ein marktbeherrschendes Oligopol. Es bedürfe bei solchen Marktstrukturen nicht zwingend einer Absprache, die Unternehmen verstünden „sich ohne Worte“, das führe zu überhöhten Preisen. Das Kartellamt macht dabei aus, dass die fünf marktbeherrschenden Unternehmen – auf sie entfallen bundesweit rund 65 Prozent des Kraftstoffabsatzes – über ein System der Preisbeobachtung und –meldung verfügen, das zeitnahe Reaktionen auf Preisänderungen möglich mache. Die oligopolistische Marktstruktur versetze die großen Mineralölkonzerne in die Lage, die Preise an der
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Tankstelle nahezu einheitlich zu bewegen. In nahezu allen Fällen seien Aral oder Shell die Initiatoren von zumeist flächendeckenden Preiserhöhungsrunden, das jeweils andere Unternehmen passe seinen Preis nach exakt drei Stunden an, die übrigen Oligopolisten folgen in festen Zeitkorridoren. (Ausführlich dazu: Bundeskartellamt: Sektoruntersuchung Kraftstoffe; Abschlussbericht Mai 2011, URL: http://www.bundeskartellamt.de/wDeutsch/download/pdf/Stellungnahmen/2011-05-26_Abschlussbericht_final2.pdf)
Wenn Sie an unsere Überlegungen zur Spieltheorie denken und daran denken, dass bei unendlich oft wiederholten Spielen (wie sie in solchen Oligopolen möglich sind) jedes Ergebnis herauskommen kann, ahnen Sie ein wenig von den Schwierigkeiten, denen sich die Kartellbehörden hier gegenüber sehen. Nur in glücklichen Fällen sind die Unternehmen so dumm, Spuren zu hinterlassen – nicht gelöschte E-Mails, entlassene (und deshalb rachsüchtige) Mitarbeiter, enttäuschte (und deshalb ebenfalls rachsüchtige) Lebensabschnittspartner oder abgeheftete Briefe sind die besten Freunde der Kartellbehörden. Legendär das Telefonat der Bosse zweier amerikanischer Luftfahrtgesellschaften, das in der New York Times abgedruckt wurde, in dem der eine der beiden Chefs vorschlug, sein Kontrahent möge doch seine *******-Preise um 20 Prozent anheben, er werde dann nachziehen. Das ging allerdings schief. ****, möchte man meinen.
In der Praxis: der Bußgeldkatalog des Kartellamts Wer erwischt wird, wie er gegen das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen verstößt, muss Strafe zahlen. Das Bußgeld bemisst sich dabei nach einem zweistufigen Verfahren: Zuerst wird ein Grundbetrag ermittelt. Dieser richtet sich nach der Schwere und der Dauer des Verstoßes und kann bis zu 30 Prozent des für die gesamte Dauer der Zuwiderhandlung zugrunde gelegten tatbezogenen Umsatzes betragen (also nicht nur der zusätzliche Umsatz, den man durch den Rechtsverstoß eventuell gemacht hat). In der zweiten Stufe werden so genannte Anpassungsfaktoren berücksichtigt; so kann der Grundbetrag zum Zwecke der Abschreckung um bis zu 100 Prozent erhöht werden. Weiterhin können erschwerende Umstände berücksichtigt werden, beispielsweise Vorsatz, grobe Fahrlässigkeit, Wiederholungstäter oder eine besonders aktive Rolle im Kartell. Mildernde Umstände gibt es ebenfalls, beispielsweise das Verhalten nach der Tat. Weiterhin behält sich das Bundeskartellamt vor, im Rahmen des Bußgeldverfahrens oder eines gesonderten Verfahrens den wirtschaftlichen Vorteil aus der Tat abzuschöpfen.
Zu den Absprachen zählen auch so genannte vertikale Vereinbarungen zwischen Unternehmen, die auf verschiedenen Wirtschaftsstufen tätig sind. Ein
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Wer gegen Gesetze verstößt, muss Strafe zahlen.
Beispiel dafür sind Vertriebsvereinbarungen zwischen Hersteller und Händler. Hier geht es beispielsweise um die Preisbindung der zweiten Hand, bei der die Verkäufer vom Hersteller dazu verpflichtet werden, einen festgesetzten Preis zu nehmen (bis auf Verlagserzeugnisse ist das in der Bundesrepublik verboten; es gibt nur noch die Möglichkeit einer unverbindlichen Preisempfehlung für Markenartikel). Auf europäischer Ebene geht es dabei um Export- und Reimportverbote, mit deren Hilfe nationale Märkte von der Konkurrenz abgeschottet werden sollen. So bestimmte der Elektronik-Produzent Grundig beispielsweise den Großhändler Consten zu seinem Alleinvertreter in Frankreich und dem Saarland und verpflichtete sich, keine anderen Personen im Vertriebsgebiet zu beliefern. Zugleich verpflichtete sich Consten, keine Grundig-Geräte zu exportieren. Durch den Alleinvertriebsanspruch von Consten wurde der französische Markt abgeschottet; Grundig-Geräte waren in Frankreich teurer als in der Bundesrepublik – eine deutliche Wettbewerbsbeschränkung. Ein letzter Punkt: Wie so immer im Leben gibt es auch im Kartellrecht Ausnahmen, auch Ausnahmen vom Kartellverbot. So verfügt Paragraph 2 GWB, dass Vereinbarungen zwischen Unternehmen oder aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen nicht verboten sind, wenn sie zur Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung oder zur Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts beitragen und die Verbraucher angemessen an dem dabei entstehenden Gewinn beteiligt sind. Beispiele für diese Ausnahmen können Vereinbarungen über den gemeinsamen Einkauf sein, über die wechselseitige Spezialisierung, über die gemeinsame Produktion oder die gemeinsame Forschung und Entwicklung. Dann gibt es auch noch die Mittelstandskartelle des Paragraphen 3, der Paragraph 2 näher präzisiert und die Voraussetzungen einer Ausnahme als gegeben ansieht, wenn durch die Absprache der Wettbewerb auf dem Markt nicht wesentlich beeinträchtigt wird und die Vereinbarung oder der Beschluss dazu dient, die Wettbewerbsfähigkeit kleiner oder mittlerer Unternehmen zu verbessern –wie auch immer man das auslegen mag.
Arbeitsauftrag 21 Diskutieren Sie die Vor- und Nachteile einer Preisbindung der zweiten Hand – darf ein Unternehmen den Händlern vorschreiben, welchen Preis sie von ihren Kunden verlangen sollen?
Behinderungs- und Verdrängungspraktiken. Wenden wir uns der zweiten Methode zu, wie man den Wettbewerb beschränken kann. Unter Behinderungs- und Verdrängungsstrategien versteht man alle Handlungen eines Unternehmens, die dazu geeignet sind, tatsächliche oder potenzielle Mitwettbewerber oder Lieferanten und Abnehmer in ihrer Handlungsfreiheit zu beschränken. Entscheidend bei diesen Handlungen ist, dass sie eine gewissen Marktmacht des Unternehmens voraussetzen, das solche Prakti-
7 Kartelle, Halsabschneider und Firmenkäufer: Dem Wettbewerb auf die Beine helfen
ken anwendet, also das, was das Gesetz eine marktbeherrschende Stellung nennt. Wie die folgenden Beispiele zeigen werden, sind es nicht die unternehmerischen Praktiken per se, die zu einer Behinderung des Wettbewerbs führen – erst in Kombination mit Marktmacht werden sie zu einem Problem. Wenn ein Unternehmen sich weigert, seine Produkte an einen bestimmten Händler zu liefern, so ist das unproblematisch, solange der Händler genügend Alternativen hat, andere, gleichwertige Produkte in sein Sortiment zu nehmen. Eine Lieferverweigerung ist also per se nicht problematisch, sie wird aber problematisch, wenn ein marktmächtiges Unternehmen sich weigert, einen Händler zu beliefern, weil dieser sich nicht so verhält, wie es das Unternehmen wünscht. Es ist also die Kombination von Marktmacht und Lieferverweigerung, welche die Kartellbehörden auf den Plan ruft. Missbrauch liegt also nur vor, wenn ein Unternehmen Marktmacht hat und nur aufgrund dieser Macht andere Unternehmen oder auch Kunden von Unternehmen so behindert oder benachteiligt, wie es bei wirksamem Wettbewerb nicht möglich wäre. Im Einzelnen unterscheidet man bei Behinderungs- und Verdrängungspraktiken folgende Strategien:
Boykott und Lieferverweigerung; Preisdiskriminierungen; Preismissbrauch und Kampfpreisstrategien; Ausschließlichkeitsbindungen und Kopplungen.
Schauen wir uns diese Strategien einmal näher an. Beim Boykott und der Lieferverweigerung geht es darum, die Freiheit anderer Unternehmen auf vor- oder nachgelagerten Wirtschaftsstufen zu beschränken: Beim Boykott weigert sich ein Unternehmen, dem anderen seine Waren abzunehmen, um es zu günstigeren Abnahmebedingungen zu zwingen. Bei der Lieferverweigerung wird eine Firma nicht mit Waren versorgt, um bestimmte Bedingungen des Lieferanten durchzusetzen. Unternehmen versuchen also, ihre Abnehmer oder Lieferanten zu einer bestimmten Preis- oder Vertriebspolitik zu zwingen. Ein Beispiel dazu ist der Fall der Phonak Hörgeräte.
In der Praxis: Teure Hörgeräte Die Phonak GmbH, einer der führenden Anbieter von Hörgeräten in Deutschland, wurde 2009 vom Kartellamt zu einer Strafe von 4,2 Millionen Euro verurteilt. Den Ärger des Kartellamtes hatte sich Phonak zugezogen, als sie mit Liefersperren gegen einen Händler vorging, damit dieser seine Weiterverkaufspreise anhebt. Dieser Händler hatte zuvor die Preise für Hörgeräte sämtlicher Hersteller im Internet veröffentlicht; seine Preise für Phonak-Hörgeräte lagen zum Teil sehr deutlich unterhalb der bis dato im Markt üblichen Preisuntergrenze. Darüber beschwerten sich andere Hörgeräteakustiker aus ganz Deutschland bei Phonak über den Preisbrecher, wo-
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raufhin Phonak gegen diesen mit Liefersperren vorging. Laut Bundeskartellamt ist der Vertrieb von Hörgeräten sowohl bei den Herstellern als auch im Vertrieb, bei den Hörgeräteakustikern, durch mangelnden Preiswettbewerb gekennzeichnet. Die einseitige Vorgabe von unverbindlichen Preisempfehlungen sei zwar nach geltendem Recht grundsätzlich zulässig, doch dürfe ein Unternehmen zur Durchsetzung dieser Preisempfehlungen dem Abnehmer keine Nachteile androhen oder zufügen (oder Vorteile gewähren). Diese Liefersperre sei ein solcher Nachteil, befand das Kartellamt.
Das entscheidende an diesen Verhaltensweisen ist, dass sie nur dann wettbewerbspolitisch bedenklich sind, wenn sie von marktbeherrschenden Unternehmen ausgeübt werden. Wenn ein Unternehmen sich weigert, zu bestimmten Konditionen zu liefern oder beliefern, so ist das unbedenklich, wenn es sich um ein kleines Unternehmen handelt. Wenn aber ein marktbeherrschendes Unternehmen so etwas tut, dann kann es durch dieses Verhalten seine Marktmacht zum eigenen Vorteil ausnutzen. Das deckt sich auch mit unseren Überlegungen aus dem ersten Kapitel: Macht hat, wer im Besitz des knappen Gutes ist (also das marktmächtige Unternehmen); und diese Macht kann er zum Nachteil anderer ausnutzen, weswegen die Politik aufpassen muss, dass dessen Machtposition nicht zu groß wird. Auch hier muss das Kartellamt genau hinhören!
Strategie Nummer zwei sind Preisdiskriminierungen. Hier geht es darum, dass gleiche Handelspartner unterschiedlich behandelt werden. Das muss man von der Preisdifferenzierung unterscheiden, die wir bereits im 4. Kapitel kennen gelernt haben. Eine Preisdifferenzierung kann aber wettbewerbsschädlich sein, wenn sie von marktmächtigen Unternehmen angewendet wird – dann spricht man von Diskriminierung. Ein Beispiel dafür liefert der Fall mit den teuren Werbezeiten.
In der Praxis: Teure Werbezeiten Die Sendergruppen RTL und Pro7Sat.1 beschäftigen sogenannte Werbezeitenvermarkter – das Unternehmen IP Deutschland GmbH vermarktet Werbezeiten für RTL; SevenOne Media vermarktet Werbezeiten für Pro7Sat.1. Die Vermarkter zogen den Ärger des Kartellamtes auf sich, indem sie sogenannte Share-Deals anboten. Das sind Rabatte, die den Werbeagenturen eingeräumt werden, welche die Werbezeiten bei den Sendern buchen. Die Agenturen bekamen erhebliche Rabatte und sonstige Rückvergütungen, wenn diese bestimmte hohe Anteile ihres Werbebudgets bei RTL respektive Pro7Sat.1 buchten. Dadurch hatten die Agenturen hohe Anreize, große Teile ihrer Werbung bei den beiden großen Sendergruppen zu buchen, statt bei den kleinen, marktschwächeren Sendern. Dadurch werde der Fernsehwerbemarkt für die kleineren, marktschwächeren
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Sender abgeschottet und der Marktzugang erschwert, stellte das Kartellamt fest. Angesichts eines gemeinsamen Marktanteils von mehr als 80 Prozent auf dem Fernsehwerbemarkt verstoße dieses Rabattsystem gegen deutsches und europäisches Kartellrecht. Das Kartellamt verhängte Geldbußen in Höhe von 261 Millionen Euro. Werbezeitenvermarkter
Hier wird besonders deutlich, wie schwierig es ist, zwischen einer ganz üblichen Geschäftsstrategie – differenzierte Rabattsysteme – und missbräuchlichem Ausnutzen von Marktmacht zu unterscheiden. Ohne die Marktmacht von ProSieben und RTL wären die Rabatte völlig problemlos.
Arbeitsauftrag 22 Suchen Sie Beispiele für Geschäftspraktiken, die bei entsprechender Marktmacht zu Wettbewerbsbeschränkungen führen können, bei ausreichendem Wettbewerb hingegen völlig unproblematisch sind.
Auch Preismissbrauch und Kampfpreise sind Strategien, die nur ein Problem werden, wenn es um marktbeherrschende Unternehmen geht. Bei Kampfpreisstrategien versuchen Unternehmen, die Konkurrenz über niedrige Preise aus dem Markt zu fegen – da wäre beispielsweise der Fall Netto. Preismissbrauch liegt vor, wenn ein marktbeherrschendes Unternehmen Preise verlangt, die es bei wirksamem Wettbewerb nicht erzielen könnte. Auch das ist schwer nachzuweisen, denn wenn man einem Unternehmen vorwirft, dass es aufgrund mangelnden Wettbewerbs Preise nehmen kann, die es bei funktionierendem Wettbewerb nicht verlangen könnte, muss man ja wissen, wie hoch denn der Preis bei funktionierendem Wettbewerb wäre. Aber wenn kein Wettbewerb herrscht, woher will man dann wissen, welcher Preis der „richtige“ Wettbewerbspreis wäre?
In der Praxis: Edeka, Netto und Das Kartellamt Einen Schuss vor den Bug bekam 2007 das Edeka-Tochterunternehmen Netto Marken-Discount, als das Kartellamt befand, dass es gegen das Verbot des nicht nur gelegentlichen Verkaufs unter Einstandspreis verstoßen habe. Netto hatte 2006 und 2007 Milchprodukte teilweise bis zu 40 Prozent unter den Einstandspreisen angeboten. Innerhalb von zehn Wochen hatte Netto mindestens vier einwöchige Werbeaktionen im gesamten Verkaufsgebiet durchgeführt – das waren nach Auffassung des Kartellamtes keine „nur gelegentlichen“ Einzelaktionen, sondern andauernde Aktionen, die geeignet seien, kleine und mittlere Wettbewerber der Edeka zu behindern.
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Auch ein Fall für das Kartellamt: Netto
Kopplung und Ausschließlichkeitsbindungen. Hier geht es darum, dass ein Marktteilnehmer auf einer nachgelagerten Wirtschaftsstufe in seiner Freiheit eingeschränkt wird – ein Händler darf nicht an Dritte verkaufen oder ein Abnehmer darf keine anderen Produkte verkaufen. Dadurch werden andere Abnehmer oder Lieferanten daran gehindert, mit dem gebundenen Unternehmen Geschäfte zu machen – zum Nachteil der Konsumenten. Bei Ausschließlichkeitsbindungen (ähnlich wie bei Alleinvertriebsbindungen und Alleinvertriebsrechten) verpflichtet sich der Händler, keine Ware von anderen Lieferanten zu beziehen; oder der Lieferant verpflichtet sich, seine Waren an keinen anderen Händler zu liefern. Die wettbewerbsbeschränkende Wirkung dieser Vereinbarung liegt auf der Hand: Verpflichtet sich der Händler, keine andere Ware zu beziehen, hält das die Konkurrenz anderer Hersteller vom Markt fern; verpflichtet sich der Lieferant, an niemand anderen zu liefern, dann ist potentiellen Konkurrenten auf der Verkaufsebene der Zugang zum Markt ebenfalls erschwert. Aber auch hier kommt es wieder darauf an, dass derjenige, der diese Bindungen durchsetzt, Marktmacht hat. Bei Kopplungsverträgen verpflichtet sich der Abnehmer, neben dem Produkt weitere Waren oder Dienstleistungen abzunehmen, die üblicherweise nicht zusammen mit dem ursprünglichen Produkt gekauft werden. In der Regel vermutet man bei solchen Kopplungsverträgen, dass der Anbieter seine Marktmacht dadurch auf weitere Produkte übertragen will –man spricht hier auch von Hebelwirkung.
In der Praxis: Microsoft und der Media Player Die Europäischen Wettbewerbshüter sahen eine missbräuchliche Kopplungsbindung im Fall Microsoft: Das Softwareunternehmen hatte seinen Media Player, ein Programm zum Abspielen von Musik, zusammen mit seinem Betriebssystem Windows verkauft und damit nach Ansicht der Europäischen Kommission versucht, die Wettbewerbschancen konkurrierender Softwareunternehmen einzuschränken. In einem ähnlichen Fall hatten bereits die amerikanischen Wettbewerbsbehörden dem Unternehmen untersagt, den InternetBrowser Explorer an das Betriebssystem Windows 95 zu koppeln. Solche Kopplungen wirken wie eine Marktzutrittsschranke, und dieses Verhalten wird umso problematischer, als bei der Verbreitung von Software so genannte Netzwerkexternalitäten auftreten (siehe dazu Kapitel 7). Microsoft wurde in diesem Verfahren gezwungen, die Schnittstellen zu seinem Betriebssystem offen zu legen, damit die Konkurrenz Software anbieten kann, die mit Windows hinreichend kompatibel ist.
Wettbewerbspolitische Maßnahmen gegen Behinderungs- und Verdrängungspraktiken. Grundsätzlich sind der Missbrauch von Marktmacht, unbillige Behinderung sowie Diskriminierung im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen verboten. Dabei unterscheidet das Gesetz zwischen sogenanntem Behinderungsmissbrauch und Ausbeutungsmissbrauch.
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Behinderungsmissbrauch liegt vor, wenn ein marktbeherrschendes Unternehmen versucht, seine Konkurrenten mit gezielten Kampfpreisstrategien aus dem Markt zu verdrängen – hier geht es also um die Behinderung von Konkurrenten. Beim Ausbeutungsmissbrauch hingegen versucht ein marktbeherrschendes Unternehmen von seinen Abnehmern oder Lieferanten unangemessene Geschäftsbedingungen oder unangemessen hohe Preise zu fordern – hier geht es also um vor- oder nachgelagerte Wirtschaftsstufen. Generell gilt dabei: Eine missbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung durch ein oder mehrere Unternehmen ist verboten (§ 19 GWB). Dabei gilt es nun, zwei Fragen zu beantworten: Erstens, was ist ein marktbeherrschendes Unternehmen und zweitens, was ist missbräuchliches Verhalten? Als marktbeherrschend definiert das Gesetz, wenn ein Unternehmen auf seinem Markt keinem oder nur unwesentlichem Wettbewerb ausgesetzt ist. Dabei geht man recht pragmatisch vor: Man vermutet Marktbeherrschung, wenn ein Unternehmen einen Marktanteil von mindestens einem Drittel hat; mehrere Unternehmen gelten als marktbeherrschend, wenn drei oder weniger Unternehmen zusammen einen Marktanteil von 50 Prozent erreichen, oder fünf oder weniger Unternehmen zusammen einen Marktanteil von zwei Dritteln erreichen. Das klingt aber einfacher, als es ist, denn die entscheidende Frage ist natürlich, welches der relevante Markt für ein Unternehmen ist. Ein einfaches Beispiel: Nehmen wir an, man stellt Nachforschungen an, ob ein Anbieter von Bier marktbeherrschend ist. Um den relevanten Markt abzugrenzen, müssen wir nun folgende Fragen stellen: Welches ist der sachlich relevante Markt; Bier, alkoholische Getränke, Getränke? Und was ist der räumlich relevante Markt – die Heimatstadt des Anbieters, sein Bundesland, die ganze Republik oder gar Europa? Je nachdem, wie Sie diese Frage beantworten, bekommen Sie ganz andere Antworten auf die Frage, ob der Bieranbieter marktbeherrschend ist. In den Paragraphen 19 und 20 sind missbräuchliches Verhalten sowie Diskriminierung und unbillige Behinderung näher beschrieben und definiert. Paragraph 21 untersagt den Aufruf zu Liefersperren oder Bezugssperren; weiterhin dürfen Unternehmen anderen Unternehmen keine Nachteile androhen oder zufügen und keine Vorteile versprechen oder gewähren, um sie zu wettbewerbsbeschränkendem Verhalten zu veranlassen.
In der Praxis: Eine Klatsche für die Apotheker Das deutsche Apothekerwesen ist ein ganz besonderes – aber nicht geschützt vor dem Zugriff des Kartellamtes. Wegen eines verbotenen Boykottaufrufs verhängte dieses 2009 Geldbußen in Höhe von rund 1,2 Millionen Euro gegen die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände, verschiedene Landesapothekerverbände und einige natürliche Personen. Die Apothekerverbände hatten ihre
Alles läuft bestens
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Haben Sie etwas gegen Wettbewerb?
Mitglieder, die Apotheker, aufgefordert, vom Pharmagroßhändler Gehe keine Produkte mehr zu kaufen. Der Grund: Celesio, die Muttergesellschaft von Gehe, hatte im April 2007 das Unternehmen DocMorris übernommen. DocMorris betreibt eine Versandapotheke und wird von vielen Apothekern als ein unerwünschter Wettbewerber angesehen – daher der Boykottaufruf. Diesen Boykottaufruf sah das Kartellamt als kartellrechtswidrig an, da er in der Absicht geschah, ein anderes Unternehmen ohne sachliche Rechtfertigung zu beeinträchtigen. Der Boykott solle Celesio respektive Gehe Nachteile zufügen, um dadurch die eingesessenen Apotheker vor aufkommendem Wettbewerb zu bewahren.
Konzentration. Der letzte große Themenkreis, den man sich ansehen muss, wenn man über Wettbewerbsbeschränkungen spricht, ist die Konzentration: Unternehmen werden entweder durch Wachstum, durch Zusammenschluss (Fusion) oder Kauf anderer Unternehmen (Akquisition) marktmächtig. Dabei kann man nun wieder verschiedene Arten der Konzentration unterscheiden:
Horizontale Konzentration liegt vor, wenn zuvor rechtlich selbständige Unternehmen der gleichen Produktionsstufe zu einem Unternehmen verschmolzen werden. Wenn also beispielsweise ein Bierhersteller eine andere Brauerei kauft, so ist das horizontale Konzentration.
Vertikale Konzentration liegt vor, wenn sich zwei Unternehmen zusammenschließen, die zuvor in einer Käufer-Verkäufer-Beziehung standen. Wenn also die Brauerei eine Kneipe kauft oder einen Hopfenlieferanten, dann ist das eine vertikale Konzentration.
Von diagonaler Konzentration spricht man, wenn Unternehmen fusionieren, die weder auf dem gleichen Markt tätig sind noch in irgendeiner Käufer-Verkäufer-Beziehung zueinander stehen. Wenn also der Bierhersteller einen Schuhproduzenten kauft, dann ist das diagonale Konzentration. Entsteht Konzentration durch Zusammenschlüsse und Aufkäufe, so spricht man von externer Konzentration; wird ein Unternehmen durch Wachstum so groß, so nennt man dies interne Konzentration. Während ein Eingriff bei externem Wachstum recht einfach ist – man untersagt einfach eine Fusion oder einen Firmenkauf –, so ist das bei interner Konzentration schwieriger: Wenn ein Unternehmen einfach dadurch, dass es so gut ist, wächst, soll, darf, kann man es dann dafür bestrafen? Im Extremfall müsste man dann ein Unternehmen, das durch Wachstum marktmächtig geworden ist, entflechten beziehungsweise zerschlagen. Das ist eine extreme Maßnahme, die erstens mit dem Eigentumsrecht der Inhaber kollidiert (darüber haben wir in Kapitel 1 hinreichend gesprochen) und zweitens natürlich negative Anreize gibt; sagt eine solche Maßnahme doch allen potentiellen Unternehmensgründern, dass man sich besser nicht zu sehr anstrengt, weil das Unternehmen sonst zerschlagen wird.
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In der Praxis: Konzentration unter Tankstellen Das Bundeskartellamt untersagte 2009 der Total Deutschland GmbH, Berlin, das ostdeutsche Tankstellennetz der OMV Deutschland GmbH, Burghausen, zu übernehmen, da der Zusammenschluss die Verstärkung marktbeherrschenden Stellungen erwarten lasse. Insbesondere würde Total mit der Übernahme des OMV-Netzes durch Total nicht nur der Marktanteil des marktbeherrschenden Oligopols der Anbieter auf bis zu 85 Prozent anwachsen, sondern es würde auch einer der stärksten Wettbewerber ausgeschaltet, argumentierte das Kartellamt. Überhaupt sieht das Kartellamt diesen Markt sehr kritisch: Obwohl der Markt für Kraftstoffe sehr transparent sei, gebe es kaum Preiswettbewerb, die Tankstellen beschränkten sich lediglich darauf, mit angeblichen oder tatsächlichen Qualitätsmerkmalen zu werben. Zudem beobachte man Preissetzungsmuster wie etwa höhere Preise zu Beginn der Reisezeit, die von den Kraftfahrern oft als Ergebnis von Absprachen missverstanden würden.
Wettbewerbspolitische Maßnahmen gegen Konzentration. Internes Wachstum unterliegt keinerlei Beschränkungen – ein Unternehmen, das aus eigener Kraft zu groß wird, wird zum Fall für die Missbrauchsaufsicht, die wir im vorherigen Abschnitt erörtert haben. Bei externem Wachstum greift das GWB mittels der Zusammenschlusskontrolle, die alle Unternehmenszusammenschlüsse oberhalb gewisser Bagatellgrenzen auf ihre Wettbewerbswirkungen überprüft. Dabei gilt grundsätzlich, dass ein Zusammenschluss untersagt wird, wenn man erwartet, dass dadurch eine marktbeherrschende Stellung entsteht oder verstärkt wird, es sei denn, die beteiligten Unternehmen weisen nach, dass durch den Zusammenschluss der Wettbewerb verbessert wird (§ 36 Abs. 1 GWB). Das äußerst komplizierte Verfahren geht ungefähr wie folgt vor sich:
Zunächst muss es sich um einen Zusammenschluss handeln, was genau darunter zu verstehen ist, ist in § 37 GWB geregelt.
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So genannte Aufgreifschwellen sorgen dafür, dass kleinere Bagatellfälle nicht berücksichtigt werden. Hier schaut man auf die Umsätze der an der Fusion beteiligten Unternehmen – wenn diese zu gering sind, wird die Fusion nicht weiter verfolgt. Beispielsweise müssen die beteiligten Unternehmen Umsatzerlöse von mehr als 500 Millionen Euro aufweisen.
Der Zusammenschluss kann untersagt werden, wenn er zur Entstehung oder Verstärkung einer marktbeherrschenden Stellung führt. Das Kartellamt prüft dabei in einem zweistufigen Verfahren: Zuerst untersucht man, welche Märkte vom Zusammenschluss betroffen sind, grenzt also den oder die relevanten Märkte ab. Dann achtet man auf die Marktanteile der Zusammenschlusspartner und die Verteilung der Marktanteile auf die Wettbewerber.
Ein Zusammenschluss, bei dem eine marktbeherrschende Stellung entsteht oder verstärkt wird, wird nicht untersagt, wenn die Unternehmen nachweisen, dass der Zusammenschluss zugleich Verbesserungen der Wettbewerbsbedingungen mit sich bringt und diese Verbesserungen die Nachteile der Marktbeherrschung überwiegen (Abwägungsklausel). Mit dieser Regelung soll die Kartellbehörde eine umfassende wettbewerbspolitische Würdigung des Zusammenschlusses vornehmen.
Untersagt die Kartellbehörde einen Zusammenschluss, dann bleibt den Unternehmen noch der Ausweg über die sogenannte Ministerklausel (§ 42 GWB): Der Bundeswirtschaftsminister kann den Zusammenschluss genehmigen, wenn der Wettbewerbsbeschränkung erhebliche gesamtwirtschaftliche Vorteile oder sonstige Vorteile des Gemeinwohls durch den Zusammenschluss gegenüberstehen. Hier geht es zumeist um die Sicherung von Arbeitsplätzen. Wenn Zusammenschlussvorhaben von gemeinschaftsweiter Bedeutung sind, werden sie von der Europäischen Kommission in Brüssel geprüft. Ein Zusammenschluss hat gemeinschaftsweite Bedeutung, wenn bestimmte Umsatzschwellenwerte – die deutlich über denjenigen des deutschen Wettbewerbsrechts liegen – überschritten werden. Lassen Sie uns zum Abschluss des Kapitels über Wettbewerbspolitik ein besonderes wettbewerbspolitisches Problem ansprechen, die so genannten Netzwerkexternalitäten. Hier geht es darum, dass aufgrund ökonomischer Besonderheiten eine herausragende Machtposition im Wettbewerb entstehen kann, die aus wettbewerbspolitischer Sicht bedenklich ist (eine weitere Besonderheit, die natürlichen Monopole und deren wettbewerbspolitische Behandlung, haben Sie bereits kennen gelernt). Dazu müssen wir zunächst verstehen, was Netzwerkexternalitäten sind. Netzwerkexternalitäten. Was haben Video-Systeme, Schreibmaschinentastaturen, Steckdosen, Telefone und Software gemeinsam? Sie unterliegen alle einem besonderen ökonomischen Effekt, den Netzwerkexternalitäten. Netzwerkeffekte treten auf, wenn der Nutzen eines Gutes für den einzelnen steigt, wenn die Anzahl der Nutzer des Gutes zunimmt. Das lässt sich am
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Beispiel eines Telefons erörtern: Wenn es nur ein Telefon auf der Welt gäbe, so wäre es für seinen Besitzer ohne Wert. Kauft nun eine weitere Person ein Telefon, so bringt der Besitz eines Apparates einen wesentlich höheren Nutzen für beide Besitzer eines Apparates. Das ist bemerkenswert: Weil ein Mensch ein Telefon kauft, steigt der Nutzen des anderen Besitzers eines Telefons (ohne, dass der Zweitkäufer des Telefons das so beabsichtigt hätte). So funktionieren Netzwerkgüter: Je mehr Personen ein Telefon (das Netzwerkgut) besitzen, umso höher wird der Nutzen des Telefons für alle anderen Besitzer von Telefonapparaten (des Netzwerkgutes). Denn jeder weitere Benutzer eines Telefons erhöht den Personenkreis derer, die man per Telefon erreichen kann, und damit auch den Nutzen des eigenen Telefons. Ein weiteres Beispiel für Netzwerkeffekte ist das Internet. Erst der Anstieg der Nutzerzahlen machte das Netz der Netze für Laien und Geschäftsleute interessant, da sich nun genügend Kunden und Gleichgesinnte im Netz tummelten, so dass sich der Ausflug ins Netz lohnte. Und je mehr Menschen ins Internet gehen, umso größer ist der Nutzen des Netzes für alle diejenigen, die bereits im Netz sind. Gleiches gilt für Betriebssysteme: Die Anzahl der Anwendungsprogramme, die auf einem bestimmten Betriebssystem laufen, hängt vor allem von der Zahl der potenziellen Nutzer dieser Programme ab. Und die wird bei dem Betriebssystem am größten sein, das die weiteste Verbreitung aufweist. Und je mehr Programme auf einem Betriebssystem laufen, desto attraktiver wird das betreffende Betriebssystem für potenzielle Neueinsteiger. Auch Standards wie die Steckdose sind Beispiele für Netzwerkexternalitäten: Je mehr Produzenten von Elektrogeräten sich dazu entschließen, einen genormten Stecker an ihre Produkte zu schrauben, umso mehr Bauherren werden die entsprechend genormte Steckdose in ihrem Haus einbauen; und umso größer wird der Nutzen der Elektrogeräte für alle potentiellen Käufer, umso mehr Käufer werden sich für ein Elektrogerät mit dem entsprechenden Stecker entscheiden – und am Ende dieser Veranstaltung steht eine einheitliche Steckdose in allen Bauten. Auch die Schreibmaschinentastatur ist ein Beispiel für Netzwerkexternalitäten: Je mehr Menschen die Standardtastatur (das so genannte QWERTY-Layout1) verwenden, umso größer ist der Nutzen für alle Personen, die diese Tastatur gelernt haben, da es immer mehr Maschinen geben wird, die dieses Layout verwenden. Wenn Sie alle diese Beispiele betrachten, dann fällt Ihnen auf, dass dieser Effekt oft dazu führt, dass zum Schluss nur ein Anbieter (oder im Falle der Tastatur, der Steckdose etc. ein Standard) übrig bleibt: Es gibt nur eine Tastatur, nur eine Steckdosenform (zumindest national), nur ein Betriebssystem, das mehr oder weniger den kompletten Markt dominiert, nur ein Video-System. Gewinner im Rennen um den Netzwerkeffekt wird derjenige, der zuerst etwas erreicht, was man die kritische Masse nennen könnte (im Internet-Geschäft spricht man vom „Gorilla“). 1
Lassen Sie sich nicht vom Blick auf Ihre Tastatur verwirren: Die deutsche Tastatur hat ein QWERTZ-Layout, das Y und das Z haben gegenüber dem angelsächsischen Layout die Plätze getauscht.
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Es kann nur einen geben.
Lassen Sie uns das am Beispiel der Internet-Auktionsplattform E-Bay erörtern – auch solche Plattformen haben Netzwerkeffekte: Je mehr Verkäufer auf der Plattform ihre Produkte anbieten, umso größer ist der Nutzen für alle potentiellen Käufer auf der Plattform (weil es ein größeres Angebot gibt), aber auch für alle anderen Verkäufer auf der Plattform (weil es mehr Käufer auf die Plattform lockt). Damit ist klar: Je mehr Käufer und Verkäufer sich auf einer Plattform finden, um so mehr werden weitere Käufer und Verkäufer angelockt, was wiederum weitere Käufer und Verkäufer anlockt. Diese Idee erklärt, warum von vielen Internet-Auktionsplattformen, die im Jahr 2000 hoffnungsfroh an den Start gegangen sind, nur eine übrig geblieben ist, nämlich E-Bay: Die Sogwirkung dieses Netzwerkeffektes war so groß, dass alle Käufer und Verkäufer auf E-Bay gelockt wurden und alle anderen Auktionsplattformen austrockneten. E-Bay wurde zum einzig überlebenden, zum Gorilla. Die gleiche Argumentation funktioniert auch für soziale Netzwerke wie Xing, Wer kennt wen oder Facebook und erklärt, warum Facebook zu einer solchen Erfolgsgeschichte werden konnte und warum Myspace auf dem Rückzug ist. Sobald der Kreis der Nutzer eines Produktes mit Netzwerkexternalitäten also einen bestimmten Punkt überschritten hat, ist der Nutzenvorsprung, den dieses System bietet, so groß, dass es eine Sogwirkung entwickelt und beständig neue Nutzer anzieht. Ab diesem kritischen Punkt geht es zumeist schnell und explosionsartig mit den Nutzerzahlen bergauf: Das Produkt wird aufgrund der steigenden Nutzerzahlen so attraktiv, dass es weitere Nutzer anzieht, die das Produkt noch attraktiver machen, bis zum Schluss alle auf dieses Produkt wechseln. Ob VHS, Betriebssysteme, Telefone, Medien (auch der Fernseher lebt von Netzwerkexternalitäten), Standards – am Ende bleibt nur einer (respektive ein System) übrig. Das kann zu einem Problem werden, weil sich nicht notwendigerweise die technisch beste Lösung durchsetzt, sondern die Lösung des finanzkräftigsten oder marktmächtigsten Anbieters, oder aber die Lösung des ersten Anbieters, der zuerst die kritische Masse an Nutzern erreicht: Ist man als erster Anbieter am Markt, so kann man die kritische Masse an Nutzern einsammeln, noch bevor sich diesen eine Alternative stellt. Bis die Konkurrenz an den Markt kommt, ist selbiger bereits verlaufen – der Erstanbieter hat dann schon so viele Kunden, dass jeder Neukunde sich für dessen System entscheiden wird.
In der Praxis: VHS oder Video 2000? Erinnern Sie sich noch an Video 2000 oder Betamax? Das sind Videosysteme, die es in Zeiten gab, als Videorekorder ein noch junges Produkt waren. Damals gab es drei verschiedene Systeme, mit denen man Videocassetten abspielen konnte: VHS, Betamax und Video 2000. VHS überlebte diesen Wettlauf, und zwar aufgrund der Netzwerkexternalitäten: Wenn man sich einen Film ausleihen wollte, so
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musste man stets darauf hoffen, dass man den Film im richtigen Format – VHS, Video 2000 oder Betamax – bekam. Die Filmindustrie musste jeden Film, den sie als Video vermarkten wollte, in drei verschiedenen Formaten herstellen. Heute ist diese Balkanisierung der Systeme vorbei, VHS hat das Rennen gemacht, von dem einige Leute behaupten, es sei im Vergleich zu den anderen Systemen noch nicht einmal das technisch beste. Und der Grund dafür sind Netzwerkexternalitäten: Ab einem bestimmten Zeitpunkt war die Anzahl der Filme, die man sich für VHS-Rekorder ausleihen konnte, größer als bei den anderen Systemen. Das hatte zur Folge, dass jeder, der sich einen neuen Videorekorder anschaffen wollte, natürlich einen VHSRekorder wählte – wegen der größeren Auswahl bei den Filmen, nicht wegen der technischen Überlegenheit des Systems. Mit steigender Anzahl der Besitzer von VHS-Rekordern wurden diese auch für alle Besitzer und potenzielle Neubesitzer dieser Rekorder attraktiver, da man jetzt ja noch mehr Filme darauf abspielen konnte. Auch für die Filmfirmen wurde VHS immer attraktiver, ihre Filme auf VHS zu vermarkten, denn hier war schließlich der größere Käuferkreis. Das Ergebnis: VHS überlebte. Dieser Kampf der Systeme findet immer wieder aufs Neue statt, zuletzt zwischen Blu-Ray und HDDVD, zwei Technologien für optische Speichermedien: HD-DVD wurde 2008 eingestellt.
Wettbewerbspolitisch gesehen ist das natürlich ein Problem, da ein Anbieter ein Monopolist ist – mit all den bereits diskutierten Folgen. Der Alleinanbieter kann dann nicht nur den Markt ausbeuten, er kann auch seine Marktmacht auf andere Bereiche ausdehnen – so hat der Softwarekonzern Microsoft, der seine Marktmacht einer Netzwerkexternalität bei den Betriebssystemen verdankt, seinerzeit den Markt für Internet-Browser völlig verschlafen, dann aber einfach dank seiner Marktmacht andere Anbieter erfolgreich verdrängt. Wettbewerbspolitisch eine unschöne Sache. Ein weiteres Problem von Netzwerkexternalitäten entsteht dann, wenn die Wechselkosten sehr hoch sind: Hat sich einmal ein Standard (beispielsweise das QWERTY-Layout auf der Tastatur) etabliert, und es ist aufwendig und teuer, diesen Standard auf einen neuen zu wechseln (also eine neue Tastatur zu lernen), dann werden die Nutzer bei dem alten Standard bleiben, auch wenn er der technisch schlechtere ist. Das nennt sich Lock-in inferiorer Technologien – man bleibt in einer schlechteren Technologie gefangen. Ein schönes Beispiel für diesen Lock-in ist die Schreibmaschinen-Tastatur: Deren Layout wurde zu Zeiten der mechanischen Schreibmaschinen geschaffen. Dabei wurde die Anordnung der Buchstaben auf der Tastatur bewusst so gewählt, dass sich die Typenhebel, welche die Buchstaben auf das Papier pressten, nicht verhaken konnten, was immer dann passierte, wenn der Benutzer zu schnell tippte. Also wurden die Buchstaben bewusst so angeordnet, dass man nicht zu schnell tippen konnte – ein Design, das in
In diesem Bild haben wir zwei Netzwerkeffekte versteckt.
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Zeiten des Laserdruckers keine Berechtigung mehr hat. Doch der Wechsel auf ein neues, schnelleres Tastaturlayout ist teuer für diejenigen, die bereits die QWERTY-Tastatur beherrschen, all ihr bisheriges Können wäre entwertet. Wer also schon Schreibmaschine schreiben kann, hat kein Interesse daran, eine neue Tastatur zu lernen. Wer aber eine neue Tastatur lernen will, wird Opfer des Netzwerkeffektes: Solange nur wenige Menschen die andere Tastatur nutzen, wird es wenig Hersteller geben, die solche Tastaturen anbieten, und nur wenige Arbeitgeber, die Arbeitsplätze mit diesen Tastaturen anbieten – also lernt man die alte Tastatur und bleibt gefangen im alten, schlechteren Standard.
In der Praxis: Die Dvorak-Tastatur Es gibt eine Reihe von alternativen Vorschlägen für die Belegung von Tastaturen, die bekannteste davon ist die nach ihrem Erfinder benannte Dvorak-Tastatur, die für ergonomischeres Tippen und eine hohe Schreibgeschwindigkeit kreiert wurde. Doch es ist nicht ganz klar, ob die Dvorak-Tastatur wirklich besser ist: Eine Studie der USNavy von 1944, die große Vorteile der Dvorak-Tastatur zeigt, wurde von den Ökonomen S. J. Liebowitz und Stephen E. Margolis heftig kritisiert. (S. J. Liebowitz; Stephen E. Margolis: the fable of the keys; Journal of Law & Economics vol. XXXIII, April 1990). Zwar wurde dieser Aufsatz von Anhängern der Dvorak-Tastatur angezweifelt, aber zumindest ein Punkt an der Studie, welche die Vorteilhaftigkeit der Dvorak-Tastatur belegt, ist bemerkenswert: Sie fand unter der Leitung von August Dvorak selbst statt.
Netzwerkexternalitäten sind im Grunde genommen ein Spezialfall von so genannten Externalitäten, die wir uns im nächsten Kapitel ansehen wollen. Es geht um eines der wichtigsten Themen in der Wirtschaftspolitik: Umweltschutz.
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Zusammenfassung 1. Damit Märkte ihre wohlfahrtsfördernde Wirkung entfalten können, muss sichergestellt sein, dass keine Macht einzelner Anbieter entsteht; es muss also ausreichend Wettbewerb um die Brieftaschen der Konsumenten herrschen. Leider ist Wettbewerb kein Selbstläufer, da Anbieter immer versuchen werden, dem Druck des Wettbewerbs auszuweichen. 2. Die erste Strategie zur Beschränkung des Wettbewerbs sind Absprachen, Kartelle, oder stillschweigende Übereinkünfte der Unternehmen, um den Wettbewerb zu beschränken. Grundsätzlich ist das in Deutschland verboten, wobei der Nachweis solcher Strategien oft schwierig ist. 3. Die zweite Strategie zur Beschränkung des Wettbewerbs sind Behinderungs- und Verdrängungsstrategien, also alle Handlungen eines Unternehmens, die dazu geeignet sind, tatsächliche oder potenzielle Mitwettbewerber oder Lieferanten und Abnehmer in ihrer Handlungsfreiheit zu beschränken. Solche Strategien sind aber nur dann wettbewerbsgefährdend, wenn sie von marktmächtigen Unternehmen verwendet werden. 4. Strategie Nummer drei ist die Konzentration von Marktmacht, entweder durch internes Wachstum oder durch den Aufkauf von Unternehmen (Konzentration). Internes Wachstum unterliegt keinerlei Beschränkungen, ein Unternehmen, das aus eigener Kraft zu groß wird, wird zum Fall der Missbrauchsaufsicht. Bei externem Wachstum greift das GWB mittels der Zusammenschlusskontrolle. 5. Eine wettbewerbspolitische Besonderheit sind Netzwerkexternalitäten, also der Effekt, dass der Nutzen eines Gutes steigt, je mehr Menschen dieses Gut nutzen. Klassische Beispiele für Netzwerkgüter sind Telefone, Standards, Auktionsplattformen oder soziale Netzwerke. Netzwerkexternalitäten können zu wettbewerbspolitischen Problemen führen, weil am Ende oft nur ein einziger Anbieter übrig bleibt.
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Leuchttürme und Umweltschutz: Ökonomisches Marktversagen
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Um was geht es? Wir haben bisher viel davon gesprochen, wie Märkte funktionieren und wie wir sie funktionsfähig erhalten. Aber Märkte funktionieren nicht immer, es gibt Fälle, in denen Märkte nicht funktionieren – Ökonomen sprechen hier von Marktversagen. Ein wichtiger Grund für Marktversagen liegt vor, wenn der Preismechanismus nicht funktioniert. Das liegt nahe: Wie wir gesehen haben, ist der Preismechanismus der Drehund Angelpunkt für Märkte, und wenn dieser versagt, dann versagen auch die Märkte. Diese Form des Marktversagens werden wir bei den öffentlichen Gütern und bei den externen Effekten (hier vor allem beim Umweltschutz) kennen lernen. Der zweite wichtige Grund für Marktversagen ist darin zu sehen, dass man die Ergebnisse, die der Markt liefert, aus welchen Gründen auch immer nicht akzeptiert. Der wichtigste Fall ist natürlich die Verteilung: Wie wir gesehen haben, ist der Markt auf dem sozialen Auge blind, er verteilt die Einkommen nur nach Leistung – und wo wir das aus politischen, ethischen oder weltanschaulichen Gründen nicht akzeptieren, müssen wir eingreifen und die Ergebnisse des Marktes korrigieren. Ein weiterer politisch motivierter Eingriff in die Märkte sind Güter wie Alkohol, Tabak, Kunst oder Rundfunk, wo wir ebenfalls aus weltanschaulichen Gründen meinen, eingreifen zu müssen (dabei handelt es sich um so genannte meritorische oder demeritorische Güter – was das im einzelnen ist, werden wir dann noch sehen). Der Knackpunkt an dieser Form des Marktversagens besteht darin, dass man keine objektiven Aussagen darüber machen kann, welche dieser Eingriffe in welchem Ausmaß gerechtfertigt sind. Kategorie
Beschreibung
Beispiele
Ökonomisches Marktversagen
Der Preismechanismus funktioniert nicht
Öffentliche Güter: Leuchttürme; Verteidigung Externe Effekte: Umweltschutz
Politisches Marktversagen
Der Preismechanismus funktioniert, doch die Ergebnisse des Marktes sind gesellschaftlich unerwünscht und sollen deswegen korrigiert werden
Meritorische (demeritorische) Güter: Rundfunk, Alkohol, Tabak Umverteilung: Sozialpolitik
Tabelle 18: Arten von Marktversagen
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Teil 1: Mikroökonomie
Wenn Sie so wollen, gibt es also zwei Formen des Marktversagens: das ökonomische Marktversagen, bei dem der Preismechanismus nicht funktioniert, und das, was wir politisches Marktversagen nennen können, wo der Markt zwar funktioniert, wir aber die Ergebnisse des Marktes aus normativen (wenn Sie so wollen, politischen) Gründen ablehnen (das werden wir uns im nächsten Kapitel anschauen). Tabelle 18 gibt Ihnen einen Überblick über die beiden Arten von Marktversagen und ihre Ausprägungen – die wir uns nun im Weiteren anschauen wollen. Beginnen wir mit den öffentlichen Gütern. Ein öffentliches Gut bei der Arbeit.
Öffentliche Güter. Wie wir gesehen hatten, kommt es zu Marktversagen, wenn der Preismechanismus nicht funktioniert. Ein wichtiger Grund für das Versagen des Preismechanismus kann darin bestehen, dass man die potentiellen Käufer eines Produktes nicht zur Kasse bitten kann, weil man sie nicht von der Nutzung des Gutes ausschließen kann. Ein einfaches Beispiel hierzu: Stellen Sie sich vor, Sie wohnen an einer Küste, an der viele Schiffe fahren. Leider haben die Schiffe ein Problem, nämlich gefährliche Klippen, welche ein Passieren der Küste in der Nacht unmöglich machen. Da kommt Ihnen eine fantastische Geschäftsidee: Was, wenn Sie einen Leuchtturm bauen, der es den Schiffen ermöglicht, auch bei Nacht und Nebel die Küste zu passieren? Sie fragen bei den Schiffseignern, den Reedern, herum, ob das eine gute Idee wäre und ob sie bereit wären, dafür zu bezahlen, was diese natürlich bejahen. Sie bauen also den Leuchtturm. Doch als Sie anschließend bei den Reedern vorsprechen, um das Geld zu kassieren, erleben Sie eine böse Überraschung: keiner will zahlen. Und auf einmal merken Sie, dass Sie einen Fehler gemacht haben. Sie sehen sofort, was hier schief läuft: Selbst wenn die Schiffe das Licht des Leuchtturms nicht bezahlen, so können sie es doch nutzen; der Eigentümer des Leuchtturms kann niemanden von der Nutzung des Leuchtturms ausschließen, auch wenn er es gerne möchte (er könnte versuchen, das Licht auszuschalten, wenn ein Schiff kommt, das nicht bezahlt hat, doch was, wenn direkt daneben ein Schiff fährt, das für den Leuchtturm bezahlt hat?). Dieses Phänomen nennt man Nicht-Ausschließbarkeit vom Konsum, und es macht es dem Besitzer eines solchen Gutes unmöglich, seine Kunden zur Kasse zu bitten. Wenn er das aber nicht kann, dann wird er dieses Gut auch nicht anbieten. Bei solchen Gütern wird ein privates Angebot nicht zustande kommen, und der Grund dafür ist klar: Der Preismechanismus versagt hier, weil man die Kunden nicht von der Nutzung des Gutes ausschließen kann. Der Leuchtturm respektive dessen Dienstleistung, das Licht, hat noch eine weitere bemerkenswerte Eigenschaft: Es spielt keine Rolle, wie viele Schiffe das Licht nutzen, wenn ein Schiff das Licht des Turms nutzt, beeinträchtigt es damit nicht den Nutzen anderer Schiffe, die dieses Licht ebenfalls nutzen. Dieses Phänomen nennt man Nicht-Rivalität im Konsum. Wirft man diese beiden Eigenschaften des Leuchtturms, die Nicht-Ausschließbarkeit und die Nicht-Rivalität in einen Topf, so sieht man, dass man vier Arten von Gütern
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erhält, je nachdem, ob eine der beiden Eigenschaften oder beide erfüllt ist. Diese vier Arten von Gütern sind in Tabelle 19 aufgelistet; lassen Sie uns die einzelnen Kategorien einmal näher anschauen. Ausschluss Rivalität ja
nein
möglich
nicht möglich
Hose, Hamburger Private Güter
Umwelt, Straße Allmende
2
4
Fernsehen; Autobahn (?)
Verteidigung; Leuchtturm Öffentliche Güter
3
1
Die Tabelle enthält in den vier Quadranten, die wir mit den Ziffern eins bis vier bezeichnet haben, die vier Arten von Gütern, die durch die Kombination der beiden Kriterien entstehen können. Im rechten unteren Quadranten (Nummer eins) finden sich die klassischen öffentlichen Güter, die dadurch gekennzeichnet sind, dass man die Konsumenten nicht von der Nutzung ausschließen kann und dass deren Konsum nicht rivalisierend ist. Das klassische Lehrbuchbeispiel sind die Landesverteidigung und unser Leuchtturm. Prüfen Sie es: Man kann einen einzelnen Bürger nicht von der Dienstleistung der Armee ausschließen – wenn der Ernstfall eintritt und die Armee verteidigen muss, dann kann sie nicht nur die Bürger verteidigen, die auch bezahlt haben – die anderen werden automatisch mit verteidigt. Damit wäre das Kriterium der Nicht-Ausschließbarkeit erfüllt. Auch das Kriterium der Nicht-Rivalität ist erfüllt: Wenn die Armee die Landesgrenzen verteidigt, spielt es keine Rolle, wie viele Bürger im Hinterland wohnen. Der Nutzen, den die Bürger aus der Landesverteidigung erzielen, wird nicht dadurch geschmälert, dass zugleich auch andere Bürger verteidigt werden. Damit ist klar: Bei einem öffentlichen Gut funktioniert der Preismechanismus nicht, deswegen wird es kein privates Angebot geben, und deswegen muss der Staat eingreifen.
Denksportaufgabe 12 Suchen Sie nach weiteren Beispielen für öffentliche Güter. Kann Umwelt auch ein privates Gut sein?
Um den Gegensatz klar zu machen, schauen wir uns als nächstes die Güter im linken oberen Quadranten (Nummer zwei) an; das sind die so genannten privaten Güter. Nehmen Sie beispielsweise die Hose: erstens kann der Verkäufer der Hose jeden Kunden von der Nutzung der Hose ausschließen, falls dieser nicht bezahlen will, und zweitens besteht Rivalität im Konsum – wenn ein Kunde die Hose an hat, kann kein zweiter sie nutzen. Die privaten
Tabelle 19: Arten von Gütern
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Güter sind der Standardfall in einer Ökonomie; hier funktioniert der Marktmechanismus, da der Preismechanismus funktioniert; staatliches Eingreifen ist also nicht nötig.
Exklusion schwierig: Feuerwerk
Im Selbstversuch: Spiele mit öffentlichen Gütern Kann ein privates Angebot an öffentlichen Gütern zustande kommen – und wann wird das nicht der Fall sein? Spielen Sie dazu selbst ein einfaches Spiel: Vier Spieler bekommen jeweils fünf Euro, und sollen von diesem Geld einen Teil in ein gemeinsames Vorhaben, ein öffentliches Gut, investieren (also etwas von dem Geld dem Spielleiter geben). Der Clou dabei: Jeder Euro, der in das öffentliche Gut investiert wird, wird verdoppelt (das ist der Nutzen des öffentlichen Gutes, das der Spielleiter mit dem Geld herstellt). Investiert jeder seine kompletten fünf Euro, so sind das vier mal fünf, also 20 Euro, die dann vom Spielleiter auf 40 Euro verdoppelt werden, das ist der Ertrag aus dem öffentlichen Gut. Anschließend werden diese 40 Euro zu gleichen Teilen auf die vier Teilnehmer verteilt, so dass am Ende dieses Spiels jeder Teilnehmer 10 Euro erhält. Wenn aber ein Spieler (der so genannte Trittbrettfahrer) nichts investiert, so werden dreimal fünf Euro, also 15 Euro, in das öffentliche Gut investiert, diese werden dann auf 30 Euro verdoppelt und wieder auf alle Teilnehmer verteilt, auch auf den Teilnehmer, der nichts investiert hat – das ist ja gerade der Charakter des öffentlichen Gutes, dass man niemanden vom Konsum dieses Gutes (in diesem Fall den Auszahlungen) ausschließen kann. Damit erhält der Trittbrettfahrer 7,50 Euro aus dem öffentlichen Gut, zusammen mit seinen 5 Euro, die er nicht investiert hat, kommt er auf 12,50 Euro und stellt sich damit besser als im ersten Fall. Die anderen Spieler allerdings kommen nur auf 7,50 Euro, das ist weniger als für den Fall, dass alle Spieler kooperieren. Die Ergebnisse von Experimenten: Im Schnitt riskieren Versuchspersonen bei solchen Experimenten 40 bis 60 Prozent ihres Einsatzes – das deckt sich nicht mit der Idee eines rein egoistischen Menschen. Allerdings zeigen die Experimente, dass es ein Trittbrettfahrerproblem gibt. Unterscheidet man zwischen einem einmaligen Spiel oder einem Experiment, bei dem die Versuchspersonen in mehreren Runden hintereinander in ein öffentliches Gut investieren, so zeigt sich, dass in den ersten Runden die Kooperationsbereitschaft der Versuchspersonen ähnlich hoch ist wie in einmalig durchgeführten Experimenten; mit zunehmender Spieldauer allerdings sinkt die Kooperationsbereitschaft deutlich. Was sind Ihre Ergebnisse?
Kommen wir zum Quadranten Nummer drei, links unten. Das sind besondere Güter: Ein Ausschluss vom Konsum ist möglich, es liegt aber keine Rivalität im Konsum vor. Das Paradebeispiel dafür ist das Fernsehen: Über eine Verschlüsselung kann man jederzeit jeden Nutzer vom Fernsehen ausschließen (was Pay-TV-Sender beispielsweise auch tun), doch eine Rivalität
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im Konsum liegt nicht vor – für die Nutzer der Sendung ist es unerheblich, wie viele andere Zuschauer sich diese Sendung ebenfalls anschauen. Das wirft ein interessantes ökonomisches Problem auf: Man kann zwar die Nutzer vom Konsum ausschließen, doch ökonomisch gesehen ist das unnötig, da die Zahl der Nutzer keinen Einfluss auf deren Nutzen hat (man kann sogar im Gegenteil behaupten, dass der Nutzen einer Sendung für den einzelnen Nutzer um so höher wird, je mehr andere Zuschauer diese Sendung sehen, weil man dann am nächsten Tag darüber miteinander sprechen kann.). Ökonomisch gesprochen bedeutet das, dass die Grenzkosten der Produktion (Sie wissen noch aus Kapitel 5, was das ist) hier Null sind: Wird die Sendung von einem weiteren Zuschauer gesehen, so steigen die Kosten der Herstellung dadurch nicht. Im Gegenteil: Je mehr Zuschauer die Sendung hat, umso geringer werden die Kosten je Zuschauer, also die Durchschnittskosten je Zuschauer. Betriebswirtschaftlich gesehen sollte man also so viele Zuschauer wie möglich anlocken, was natürlich am besten geht, wenn man gar keinen Preis nimmt. Ein interessanter Fall, und Sie wissen auch aus dem Alltag, wie die Fernsehsender das Problem gelöst haben: Sie verlangen kein Geld von ihren Zuschauern, sondern finanzieren sich über Werbeeinnahmen (Die Werbeeinnahmen sind ein weiterer Grund dafür, mehr Zuschauer zu gewinnen, da mit der Zahl der Zuschauer die Höhe der Werbeeinnahmen steigt). Zumindest zeigt diese Betrachtung einen wichtigen Punkt: Fernsehen ist kein öffentliches Gut, wie bisweilen in der Literatur behauptet wird, denn ein Ausschluss vom Konsum ist möglich – damit ist eines der Kriterien für ein öffentliches Gut nicht erfüllt (auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist kein öffentliches Gut, nur aus der Tatsache, dass niemand von der Nutzung ausgeschlossen wird, kann man nicht schließen, dass es ein öffentliches Gut ist, was zählt ist die Tatsache, dass man die Zuschauer von der Nutzung ausschließen kann). Damit funktioniert auch grundsätzlich ein Fernsehangebot über den Markt. Die Inhalte, die am Markt allerdings offeriert werden, finden nicht immer den Beifall einiger Interessengruppen – diesen Punkt werden wir unter der Rubrik „politisches Marktversagen“ bei den so genannten meritorischen Gütern ansprechen. Kommen wir zum letzten Quadranten; Nummer vier rechts oben. Diese Güter zeichnen sich dadurch aus, dass ein Ausschluss vom Konsum nicht möglich ist, zugleich aber Rivalität im Konsum vorliegt. Ein perfektes Beispiel dafür sind Umweltgüter, sagen wir das Gut „saubere Luft“: Man kann niemanden von der Benutzung der Luft ausschließen, aber wenn einer die Luft verpestet, dann schmälert das den Nutzen aller anderen Menschen, die diese Luft atmen. Das klingt zuerst etwas unverständlich, dafür müssen wir zwei Dinge berücksichtigen: Erstens haben Sie nun sicher im Hinterkopf, dass der Staat ja den Unternehmen verbietet, die Luft zu verschmutzen. Das ist richtig, aber das ist ja schon eine Lösung des Problems, und zwar eine staatliche; hier sprechen wir davon, dass eine Marktlösung nicht möglich ist, weil eben ein Ausschluss von der Nutzung nicht möglich ist. Solche Güter
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nennt man auch Allmende-Güter, und sie können zu einem tragischem Ergebnis führen, schauen wir uns das einmal am Beispiel des Fischfangs an.
Rivalität im Konsum: Fischfang
Elinor Ostrom
Jeder Fischer kann auf See fahren und so viel Fisch fangen, wie möglich – er kann nicht von der Nutzung der See ausgeschlossen werden. Obwohl alle Fischer wissen, dass ihre Existenz davon abhängt, dass sie ihre Fischgründe nicht überfischen, ist es für jeden einzelnen Fischer rational, so viel Fisch wie möglich aus der See zu holen (denken Sie an das Spiel mit den öffentlichen Gütern und den Trittbrettfahrern). Wenn die Fischgründe aber zunehmend überfischt werden, entsteht Rivalität im Konsum: Jeder Fisch, den der eine Fischer aus der See holt, kann nicht mehr von einem anderen Fischer gefangen werden. Und weil man niemanden von der Nutzung der See ausschließen kann und jeder Fischer so viel wie möglich fängt, werden die Fischbestände ausgerottet, was dann dazu führt, dass alle Fischer ihre Existenzgrundlage verlieren. Das ist die Tragödie der Allmende.
Köpfe: Elinor Ostrom Anfangs wollte man die Politikwissenschaftlerin nicht zum Ökonomiestudium zulassen – dann wurde aus ihr die erste Frau, die einen Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhielt. Ostrom hat sich jahrzehntelang vor Ort damit beschäftigt, wie Menschen Probleme wie die Tragödie der Allmende lösen. Schweizer Almbauern beispielsweise schützen ihre Almwiesen vor Überweidung, indem sie Nutzungsregeln vereinbaren und einen „Gewalthaber“ wählen, der diese überwacht. An der türkischen Riviera haben die Fischer einst ihre Jagdgründe fast zerstört, doch dann einigten sich alle auf eine Regel: Die Fanggründe werden so aufgeteilt, dass jeder Fischer ein Gebiet erhält, in dem er allein fischen darf. Wer wo Fische fangen darf, wird per Los entschieden. So bekommt jeder Fischer einmal die guten, mal die weniger guten Gegenden ab. Angesichts dieser Beobachtungen plädiert Ostrom dafür, nachhaltige Lösungen im Umgang mit Ressourcen eher von den Bürgern selbst als vom Staat zu erwarten. Allerdings funktionieren solche privaten Lösungen nicht immer: Die verschwundenen Bewohner der Osterinseln beispielsweise haben wohl ihre Äcker übernutzt. Vermutlich hängt die Fähigkeit, solche Konflikte ohne staatliche Hilfe zu lösen, auch von der Größe der betroffenen Gruppen ab – je mehr Menschen die Allmende nutzen, um so schwerer wird eine private Lösung.
Noch eine letzte Idee zu den vier verschiedenen Arten von Gütern: Wie Sie sehen, steht die Autobahn im dritten Quadranten, mit einem Fragezeichen versehen – wieso? Zuerst einmal muss man konstatieren, dass ein Ausschluss vom Konsum möglich ist – jeder, der schon einmal im Ausland Autobahngebühr oder Maut gezahlt hat, kann das bestätigen (von der Nutzung einer normalen Straße hingegen kann man die Bürger kaum ausschließen). Aber wie sieht es mit der Rivalität im Konsum aus? Das kommt darauf an: Morgens im Berufsverkehr liegt mit Sicherheit Rivalität vor, das nennt
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man auch Stau. Wer hingegen nachts um vier die A60 fährt, wird von Rivalität im Konsum keine Spur entdecken. Rivalität im Konsum ist also auch von den äußeren Umständen und der Knappheit eines Gutes abhängig. Vor sagen wir 400 Jahren hätte man die Umwelt eher zu den öffentlichen Gütern im Quadranten Nummer eins eingeordnet – damals gab es so viel sauberes Wasser und saubere Luft im Überfluss, dass es keine Rivalität im Konsum gab. Wenn ein Mensch seinen Unrat in den Fluss warf, so spielte das keine große Rolle, da es ja mehr als genug sauberes Wasser gab. Heute, wo saubere Umwelt knapper wird und die Zahl der Menschen, die ihren Müll in den Fluss kippen, immer größer wird, wird die Umwelt zu einem Gut mit Rivalität im Konsum. Und dieses Problem ist so gravierend, dass wir uns damit näher beschäftigen müssen, nämlich mit der Umweltpolitik. Umweltpolitik: Externe Effekte. Was haben das Rauchverbot in Gaststätten, die gesetzlich verordnete Nachtruhe und Umweltverschmutzung gemeinsam? In allen drei Fällen geht es hier um so genannte externe Effekte. Externe Effekte zeichnen sich durch folgende Besonderheiten aus: 1. Eine Person A schädigt eine andere Person B. Also: der Raucher schädigt den Nichtraucher, wenn er in geschlossenen Räumen raucht; der Nachbar, der nach 22 Uhr laute Musik hört, schädigt die Nachbarn, die schlafen wollen, und die chemische Fabrik, die Gifte in den Fluss kippt, schadet allen Anwohnern des Flusses und den Nutzern des Grundwassers. 2. Wichtig ist, dass der Schaden der zweiten Person B – wenn wir keine gesetzlichen Maßnahmen ergreifen – vom Schädiger (Person A) nicht berücksichtigt wird. Der Raucher berücksichtigt bei seiner Entscheidung für oder gegen die Zigarette nicht den Schaden, den er dem Nichtraucher im gleichen Raum zufügt, die Fabrik berücksichtigt bei ihrer Produktionsentscheidung nicht den Schaden, den sie dem Fluss und damit dessen Anwohnern zufügt. 3. Zudem wird der Geschädigte – Person B – nicht vom Schädiger in irgendeiner Weise entschädigt. Der Raucher zahlt dem eingenebelten Nichtraucher keine Entschädigung, die Fabrik zahlt den Anwohnern des Flusses keine Entschädigung für übelriechendes, verschmutztes Wasser. Diese drei Punkte definieren einen externen Effekt. Testen Sie die Bedingungen für die Raucher, Ruhestörer, Umweltverschmutzer, oder Ihren Nachbarn, der Sie während der Vorlesung mit Geschwätz stört – das alles sind externe Effekte (das britische Magazin The Economist hat auch den Lärm von Kindern in Zügen oder Flugzeugen als externen Effekt ausgemacht). Doch warum ist das ein volkswirtschaftliches Problem? Ganz einfach: Wenn der Schädiger bei seiner Handlung nicht die Kosten des Geschädigten berücksichtigt, dann wird er zwar seinen privaten Nutzen maximieren, den gesamtwirtschaftlichen Nutzen aber reduzieren. Nehmen wir die Umweltverschmutzung als Beispiel: Eine Firma stellt ein Produkt
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Produktion externer Effekte
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Teil 1: Mikroökonomie
her, das in der Herstellung sagen wir 100 Euro kostet (das sind die Gesamtkosten, wie wir sie aus Kapitel 5 kennen, das nennen wir ab sofort auch private Kosten). Nun verschmutzt er aber bei der Herstellung des Produktes den örtlichen Fluss, und die Reinigung koste sagen wir einmal 50 Euro – das sind die externen Kosten der Herstellung, das ist der externe Effekt (das sind die so genannten externen Kosten oder sozialen Kosten). Wenn der Hersteller diese externen Kosten seiner Herstellung nicht berücksichtigt, so wird er das Produkt zu 100 Euro verkaufen, und es werden alle Konsumenten kaufen, deren Zahlungsbereitschaft über 100 Euro liegt. Doch gesamtwirtschaftlich gesehen sollte das Produkt 150 Euro kosten, also die privaten Kosten plus die externen Kosten, denn nur dann zahlen die Kunden auch den Preis dafür, der dem tatsächlichen Ressourcenaufwand für dieses Produkt entspricht (tatsächlich hat das Produkt ja 100 Euro private Kosten gekostet plus die Kosten der Umweltverschmutzung, also 50 Euro). Wenn das Produkt aber 150 Euro kostet, dann kaufen es nur diejenigen Konsumenten, deren Zahlungsbereitschaft über 150 Euro liegt. Alle diejenigen Konsumenten hingegen, denen das Produkt zwischen 100 und 149 Euro wert ist, werden darauf verzichten – und das ist gesamtwirtschaftlich betrachtet auch richtig so, denn sonst konsumieren sie ein Produkt, das ihnen nur 100 Euro (bis 149 Euro) wert ist, das aber volkswirtschaftlich gesehen 150 Euro kostet – und das wäre ein Verlust an gesamtwirtschaftlicher Wohlfahrt, weil wir etwas herstellen und verkaufen, das mehr kostet, als es den Konsumenten wert ist. Der Grund für diesen Wohlfahrtsverlust sind die externen Kosten, respektive der Umstand, dass diese externen Kosten nicht Eingang in die private Kostenkalkulation des Unternehmens finden. Das führt dazu, dass dieses bei seiner Handlung nicht die wahren, gesamtgesellschaftlichen Kosten berücksichtigt, sondern nur seine privaten Kosten. Nehmen wir noch einmal das Beispiel der Raucher: Wenn ein Raucher in Gegenwart eines Nichtrauchers raucht, dann schädigt er diesen, doch er berücksichtigt die Kosten dieser Schädigung nicht. Er rechnet also nur den Nutzen seines Rauchens gegen seine privaten Kosten – Tabak, Zeit, die eigene Gesundheit – auf; die Kosten jedoch, die dem betroffenen Nichtraucher entstehen, berücksichtigt er nicht. Würde er diese in seine Kalkulation mit einbeziehen, so wären die Kosten seines Rauchens höher, und möglicherweise würde er dann zu dem Ergebnis kommen, dass er nicht rauchen sollte. Eigentlich ein klarer Fall: Wenn man einen Teil der Kosten einer Handlung – wo auch immer diese anfallen – nicht berücksichtigt, kommt man zu falschen Entscheidungen. Politik: Gebote, Verbote und Standards. Was kann die Politik dagegen tun? Hier gibt es mehrere Instrumente, fangen wir mit dem nahe liegenden an: Gebote und Verbote. Bei sehr kostspieligen externen Effekten – Quecksilber im Fluss oder giftige Dämpfe in der Luft – verbietet man dieses Verhalten komplett. Das ist eine sehr effektive Lösung, d.h. man kann sicherstellen, dass man das gewünschte Ergebnis (keine Gifte mehr in der Umwelt) auf alle Fälle erreicht (wir wollen dabei unterstellen, dass man das durchset-
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zen und überwachen kann). Das ist bei extrem giftigen Stoffen sicherlich die richtige Reaktion, doch es gibt auch Stoffe, die bis zu einem bestimmten Grenzwert kaum schädlich sind. Also führt man Grenzwerte ein, in der Hoffnung, dass dadurch das Gesamtvolumen, das an diesen Stoffen in die Umwelt abgegeben wird, so gering bleibt, dass der Umwelt kein ernsthafter Schaden entsteht. Man führt also eine legale Höchstgrenze ein, bis zu der Unternehmen Schadstoffe in die Umwelt ausstoßen können. Solche Grenzwerte für Schadstoffe – man spricht auch von Standards – werden also erlassen in der Hoffnung, dass bei Einhaltung der Grenzwerte die Umweltbelastung insgesamt in den gewünschten Grenzen gehalten wird oder die Selbstheilungskräfte der Natur ausreichen, um damit fertig zu werden. Der Vorteil an dieser Lösung ist, das sie vermutlich effektiv sein wird: Man überlegt sich zuvor, wie viel Schadstoffe insgesamt das Öko-System verträgt und bestimmt einen dementsprechenden Grenzwert für die Emission des jeweiligen Schadstoffes. Wird der Grenzwert von allen Beteiligten eingehalten, so ist man erfolgreich. Aber Grenzwerte haben einen Nachteil: Sie nehmen keinerlei Rücksicht auf die unterschiedliche Vermeidungsfähigkeit derjenigen, die diese Stoffe emittieren. Darauf kommen wir gleich noch einmal zurück. Politik: Öko-Steuern. Die nächste Idee, wie man für mehr Umweltschutz sorgen kann, kennen Sie sicher bereits: Man erhebt Steuern auf den Verbrauch von Umweltressourcen respektive auf die Nutzung von Produkten, welche die Umwelt belasten. Abbildung 44 erklärt die Idee dieser Steuern. Zunächst einmal haben wir da wieder die Nachfragekurve N und die Angebotskurve A. Allerdings hat die Angebotskurve in dieser Abbildung eine Besonderheit: Es sind nur die privaten Kosten, also nur die Kosten der Produktion, welche der Anbieter bei seinem privaten Kalkül berücksichtigt. Da wir aber bei der Herstellung der Produktion einen externen Effekt haben, nämlich die Umweltverschmutzung, deren Kosten der Anbieter nicht in seinem Kalkül berücksichtigt, gibt es neben dieser herkömmlichen Angebotskurve die gesamtwirtschaftliche Angebotskurve AG, die neben den privaten Kosten der Produktion auch die externen Kosten (der Umweltverschmutzung) enthält. Der Abstand zwischen der privaten Angebotsfunktion und der gesamtwirtschaftlichen Angebotsfunktion sind die Kosten der Umweltverschmutzung. Das erste, was wir in der Grafik sehen, ist, dass unsere eingangs gestellte Überlegung richtig ist: Wenn der Produzent bei der Herstellung und der Preiskalkulation nicht die externen Kosten der Umweltverschmutzung berücksichtigt, wird er zu viel herstellen und diese Überproduktion zu einem zu geringen Preis anbieten. Das zeigt Abbildung 44 deutlich: Wenn der Produzent bei seinem Angebotskalkül neben den privaten Kosten auch die Kosten der Umweltverschmutzung berücksichtigen würde, dann wäre die obere Angebotskurve AG für ihn relevant und er würde statt MP zu einem Preis von PP die Menge MS zum Preis PS verkaufen – also weniger
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Preis S
AG
A
PS PP
N
MS
MP
Menge
Abbildung 44: Öko-Steuern versus Umweltstandards
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Angebot zu einem höheren Preis (ignorieren Sie erst einmal die Linie S, die besprechen wir gleich). Damit liegt auch die Idee der Öko-Steuer auf der Hand: Wenn wir dafür sorgen, dass die volkswirtschaftlich richtige Angebotskurve zur Angebotskurve wird, die für den Anbieter relevant ist, haben wir den externen Effekt beseitigt; es wird genau die Menge angeboten, die volkswirtschaftlich optimal ist. Und da wir bereits gelernt haben, dass die Einführung von Steuern die Angebotskurve nach oben verschiebt, ist die Lösung klar: Wir führen eine Steuer ein, die exakt so hoch ist, dass sie die private Angebotskurve um den Betrag der externen Kosten nach oben verschiebt und internalisieren damit den externen Effekt; wir machen aus dem externen Effekt, der nicht in dem internen Kalkül des Anbieters berücksichtigt ist, eine private Kostenkomponente des Anbieters (die Steuer muss er im Gegensatz zum externen Effekt berücksichtigen) und beseitigen damit den externen Effekt. Das ist die Logik einer so genannten Pigou-Steuer (benannt nach ihrem Erfinder), die im modernen Sprachgebrauch bisweilen auch als Öko-Steuer bezeichnet wird (Sie sehen, die Idee ist bereits uralt). Auch die Steuer auf Benzin ist in diesem Sinne eine Pigou-Steuer: Sie soll den Verbrauch von Benzin verteuern, und zwar um den Betrag der externen Kosten der Umweltverschmutzung, welche die Verbrennung von Benzin verursacht. Allerdings gibt es Leute, die sagen, das eigentliche Ziel der Öko-Steuer sei es, mehr Steuereinnahmen zu erzielen – was problematisch ist: Sinkt aufgrund der Steuer der Verbrauch von Benzin, so schont das die Umwelt, senkt aber die Erträge aus der ÖkoSteuer.
Köpfe: Artur Cecil Pigou Artur Cecil Pigou (1877–1959) dient als überzeugter Pazifist im ersten Weltkrieg als Sanitäter; die Erlebnisse an der Front prägen sein Leben und werden oft als Auslöser für seinen Rückzug aus allen sozialen Beziehungen gedeutet. Mit der Zeit ist er immer weniger dazu bereit, ökonomische Probleme außerhalb des Hörsaals zu diskutieren. Er ist begeisterter Alpinist und gilt als wenig frauenfreundlich. Neben seiner Forschung zu den externen Effekten und deren Internalisierung leistet er wissenschaftliche Beiträge zu natürlichen Monopolen, zur Ungleichheitsmessung und zu Geld und Konjunktur.
Cecil Pigou © picture-alliance/ MaryEvans Picture Library
Der große Vorteil solcher Steuern besteht darin, dass sie den Unternehmen die Freiheit lassen, zu produzieren, solange sie brav die Steuern bezahlen. Und solange die Steuern auch den externen Kosten der Produktion entspre-
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chen, ist das wohlfahrtsoptimal: Wenn den Konsumenten das Produkt den um die externen Kosten (die Steuer) erhöhten Betrag wert ist, dann sollen sie dieses auch kaufen können. Und wer gerne viel Auto fährt, der zahlt eben mehr Steuern, fährt aber weiter – solange die Steuer die externen Schäden dieser Handlung deckt, entsprechen die Kosten seiner Handlung seinem Nutzen, und das ist wohlfahrtsoptimal. In der Abbildung sehen Sie auch den oben besprochenen Standard eingezeichnet: Es ist die senkrechte Linie S, welche durch den Punkt geht, wo sich Nachfragekurve und gesamtwirtschaftliche Angebotskurve schneiden. Mit dem Standard legen wir praktisch die Menge an Produkten fest, die produziert (respektive konsumiert) werden darf (wie viel das ist, wissen wir ja aus der Betrachtung der sozialen Kosten), die Menge an Produkten, bei der die Menge von Emissionen ausgestoßen wird, die wir als zulässige Höchstgrenze, also als Standard, definiert haben. Sie sehen: Wenn wir den richtigen Standard wählen, erreichen wir genau wie bei der Steuer das gesamtgesellschaftliche Wohlfahrtsoptimum. Aber natürlich gibt es da Unterschiede, und die schauen wir uns jetzt an.
In der Praxis: Kosten-Nutzen-Analyse Sicherlich werden Sie sich gefragt haben, woher man weiß, wie hoch die Steuer sein muss oder welchen Standard man wählen muss, um die richtige Produktionsmenge zu erhalten. Ehrlich gesagt weiß man das nicht, man kann es nur vermuten. In der Praxis versucht man diese Vermutungen mit so genannten Kosten-Nutzen-Analysen zu untermauern, die man auch nutzt, um den Nutzen und die Kosten öffentlicher Projekte und Ausgaben zu ermitteln. Man versucht dabei, die Kosten und den Nutzen von Maßnahmen, von Politik in Geld zu messen. Da diese oft mit Unsicherheiten verbunden sind, berechnet man mit Hilfe von Wahrscheinlichkeiten deren Erwartungswerte. Da die Folgen einer Maßnahme sich meistens über einen längeren Zeitraum erstrecken, muss man zudem die Kosten und den Nutzen der späteren Jahre abzinsen. Dieser Ansatz ist also in mehrerer Hinsicht problematisch: Man weiß weder die genauen Folgen einer Maßnahme, noch kann man deren Wert in Euro exakt berechnen (was ist der Wert eines Baums oder von frischer Luft?), und die Abzinsung ist ebenso problematisch (wie viele Jahre müssen wir in die Zukunft blicken? Welchen Zinssatz müssen wir unterstellen?). Viele Unbekannte, viele Fragezeichen – aber immer noch besser als raten.
Auch wenn man also das gleiche Ausmaß an Produktion – und damit an Umweltschutz – sowohl mit einer Steuer als auch mit einem Standard erreichen kann, gibt es einen entscheidenden Unterschied, der für Ökonomen sehr interessant ist. Der Standard ist sehr effektiv (man könnte auch treffsicher sagen): Wir können durch die Festlegung von Grenzwerten exakt die
Immer genau abwägen: Die Kosten-Nutzen-Analyse
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Teil 1: Mikroökonomie
Menge an Schadstoffen festlegen, die wir in die Umwelt blasen. Das Kabinett beschließt (beraten von Experten), dass Autos (oder Fabriken) eine bestimmte Menge an ausgestoßenen Schadstoffen nicht überschreiten dürfen, dieser Wert wird Gesetz und damit auch eingehalten – fertig. Man kann also mittels eines Standards direkt die gewünschte Menge an Schadstoffemissionen erreichen. Bei der Steuer funktioniert das leider nicht so exakt, da wir nicht genau wissen, wie die Menschen auf die Steuer reagieren. Wenn die Nachfrage nach dem besteuerten Gut unelastisch ist, werden die Konsumenten dieses trotz der Steuer – und des dadurch gestiegenen Preises – weiter konsumieren; die Produktion sinkt also nur wenig, und damit auch der Ausstoß an Schadstoffen. Ein Standard ist also effektiver als eine Steuer, da man mit dessen Hilfe einwandfrei das Ausmaß an Emissionen festlegen kann, das man haben will. Bei der Steuer hingegen ist unsicher, wie stark die Produktion und damit der Schadstoffausstoß sinken. Doch die Steuer hat auch einen entscheidenden Vorteil gegenüber dem Standard: Der Standard nimmt keine Rücksicht auf die Dringlichkeit der Bedürfnisse, welche die Konsumenten der besteuerten Produkte haben oder auf die individuellen Kosten der Vermeidung der Umweltverschmutzung, welche die Fabriken haben. Das Beispiel der Öko-Steuer auf Benzin illustriert dieses Argument: Die Steuer lässt jedem Autofahrer die Freiheit, weiterhin Auto zu fahren. Wenn es ihm sehr wichtig ist (seine Nachfrage unelastisch ist), dann wird er den höheren Benzinpreis zahlen, wenn er wenig Wert auf den Sonntagnachmittagsausflug auf die Autobahn legt, wird er aufs Rad umsteigen. Wohlfahrtstheoretisch betrachtet ist das prima: Diejenigen, denen es leicht fällt, ihr Verhalten zu ändern, tun das auch (wodurch der Schadstoffausstoß sinkt); diejenigen, die keinen Verzicht leisten wollen oder können, können weiterhin Auto fahren, wenngleich sie nun mehr dafür zahlen müssen. Beim Standard ginge das nicht, da man dann ja die Anzahl der gefahrenen Kilometer pro Person begrenzen müsste (nur so können Sie das exakte Ausmaß an Emissionen bestimmen). Dieses Argument gilt auch bei Unternehmen, die Schadstoffe in die Umwelt blasen – ein Beispiel dazu: Zwei Fabriken verschmutzen einen Fluss mit ihren Abwässern. Fabrik A ist technisch sehr versiert, was die Vermeidung von Abwässern angeht; Fabrik B hingegen tut sich aus technischen Gründen schwer, Abwässer zu vermeiden, es ist entsprechend teuer für sie, sauber zu produzieren. Ein Standard zwingt nun beide Fabriken, eine bestimmte Menge an Abwässern zu vermeiden – unabhängig davon, wie hoch die damit verbundenen Kosten für die Fabriken sind. Fabrik A erfüllt diesen Standard leicht (und könnte sogar noch mehr Emissionen vermeiden); für Fabrik B hingegen wird es teuer und bitter. Dabei wäre es doch viel einfacher, wenn Fabrik A mehr Abwässer vermeidet (was für sie recht kostengünstig wäre) und Fabrik B dementsprechend mehr Abwässer produziert und dadurch Kosten spart.
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Der Natur ist es egal, aus welchem Abflussrohr die Abwässer kommen, entscheidend ist nur die Summe der Abwässer. Für unsere Volkswirtschaft aber macht es einen bedeutenden Unterschied, wer die Abwässer vermeidet: Wenn A mehr vermeidet und B weniger, senkt das die gesamtwirtschaftlichen Kosten der Vermeidung, ohne dass man Abstriche am Umweltschutzziel machen muss, solange insgesamt die gewünschte Menge vermieden wird. Bei der Steuer funktioniert das: Eine Steuer auf Schadstoffemissionen führt dazu, dass Unternehmen, die kostengünstig vermeiden können, viel Schadstoffe vermeiden; Unternehmen hingegen, für die Vermeidung teuer wird, zahlen lieber die Steuer. Das ist unter dem Strich effizienter als der Standard, aber nicht so effektiv, da wir ja bei der Steuer nicht genau wissen können, wie viel Schadstoffe die Unternehmen letztlich vermeiden werden. Das klingt nach einem Dilemma: Der Standard kann helfen, dass eine genau vorgegebene Schadstoffmenge erreicht wird, was die Steuer nicht kann; dafür ist die Steuer effizienter, weil sie die unterschiedlichen Kosten der Vermeidung besser berücksichtigt. Muss man sich nun zwischen diesen beiden Polen entscheiden? Gott sei Dank nein, es gibt eine elegante Lösung, beide Instrumente miteinander zu verbinden – womit wir zum Kyoto-Protokoll kommen. Politik: Handelbare Emissionsrechte. Die Idee dieser Emissionsrechte – und damit des Kyoto-Protokolls – lässt sich anhand unseres Beispiels mit den Autos recht schön illustrieren. Stellen wir uns einmal vor, wir wollten dem Umweltproblem, das die Autofahrer verursachen, durch einen Standard zu Leibe rücken: Dazu müssen wir verfügen, dass eine bestimmte Menge an gefahrenen Kilometern nicht überschritten werden darf (nehmen wir einmal an, das reicht, um den CO2-Ausstoß zu reglementieren). Nun muss man dieses Kontingent an erlaubten Kilometern unter den Bürgern aufteilen, sagen wir, wir machen das pro Kopf: Jeder Deutsche erhält also eine bestimmte Anzahl an Kilometern, die er pro Jahr fahren darf (unterstellen wir, dass der Staat auch die Einhaltung dieser Kilometerzahl überwachen kann, das ist ja nur ein Gedankenexperiment). Hier ist sofort klar, dass das zwar effektiv, aber nicht effizient ist: Manche Menschen brauchen mehr Kilometer, andere fahren überhaupt kein Auto; eine Verteilung der Kilometer pro Kopf ist also keine clevere Sache. Aber wir wissen, was passieren würde: Diejenigen, die keine Kilometer brauchen (oder weniger, als sie bekommen haben), werden diese im Internet zum Verkauf anbieten, und diejenigen, die mehr Kilometer brauchen, als ihnen zugewiesen wurden, werden diese Kilometer kaufen. Es wird sich also (auf E-Bay?) ein schwunghafter Handel mit den erlaubten Kilometern entwickeln, und am Ende der Veranstaltung werden die Kilometer genau bei denjenigen sein, die sie am dringendsten brauchen (und deswegen am meisten dafür bezahlen werden). Genau das ist die Idee des Kyoto-Protokolls.
Das Ergebnis der Welt-Klima-Konferenz
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In der Praxis: das Kyoto-Protokoll Das Kyoto-Protokoll, das 2005 in Kraft getreten ist, legte erstmals völkerrechtlich verbindliche Zielwerte für den Ausstoß von Treibhausgasen in den Industrieländern fest. Es legt fest, dass die industrialisierten Länder von 2008 bis 2012 ihre Emissionen um im Schnitt fünf Prozent reduzieren sollen; ausgehend vom Niveau des Jahres 1990. Das Kyoto-Protokoll sieht dabei mehrere so genannte „flexible Mechanismen“ vor, mit dem die Unterzeichnerstaaten ihre Ziele erreichen können: Da wäre zum einen der Handel mit Emissionsrechten, den wir weiter unten erläutern. Dann gibt es die Idee des Joint Implementation und des Clean development mechanism (CDM), bei denen ein Land Maßnahmen zur Reduktion der Emissionen in einem anderen Land durchführen kann und sich diese Reduktion auf die eigene Emissionsbilanz anrechnen lassen kann. Vereinfacht gesagt: Deutschland verbessert seine Emissionsbilanz dadurch, dass es Emissionen in Afrika vermeidet. Weiterhin enthält das Protokoll die Idee des burden sharing, bei dem eine Gruppe von Staaten ihre Reduktionsziele gemeinsam verfolgen kann. So hat sich die Europäische Union als Staatenverbund zu einer Reduktion um 8 Prozent verpflichtet, wobei die einzelnen Mitgliedsstaaten einen jeweils unterschiedlichen Beitrag zur Erreichung dieses Ziels leisten. So leisten beispielsweise Luxemburg und Deutschland etwa einen höheren Beitrag zur Emissionsreduktion als Spanien oder Griechenland.
Lassen Sie uns das an einem einfachen Beispiel festmachen, dazu nutzen wir Tabelle 20. In unserer fiktiven Stadt, nennen wir sie einmal Springfield, gibt es zwei Fabriken, die Simpsons Inc. und die Burns Corp. In Tabelle 20 sind ihre Produktionskosten aufgelistet, und zwar in Abhängigkeit von der Menge an Schadstoffen, die sie dabei emittieren. Dabei ist grundsätzlich klar: Je weniger Schadstoffe die beiden in die Luft blasen dürfen, umso teurer wird die Produktion, da man ja sinkende Schadstoffemissionen nur mit teurerer Technik erreichen kann. Also: Wenn Simpson beispielsweise seine Emissionen von fünf auf vier Tonnen Schadstoffe senken muss, dann steigen seine Produktionskosten von 100 Euro auf 120 Euro; wir können auch sagen, dass seine Grenzkosten der Vermeidung (die zusätzlichen Kosten, die entstehen, wenn er eine Tonne zusätzlich vermeidet, dritte Spalte), in diesem Fall 20 Euro betragen. Die Burns Corp. ist da besser aufgestellt, wie Betriebswirte sagen würden: Darf Burns statt 5 Tonnen Schadstoffen nur noch 4 Tonnen emittieren, so steigen seine Kosten von 50 Euro auf 60 Euro; seine Grenzkosten der Vermeidung betragen also 10 Euro (fünfte Spalte). Sie sehen, dass für Burns die Vermeidung von Schadstoffen offenbar billiger ist als für Simpson. Das wird gleich eine wichtige Rolle spielen.
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Simpson Inc.
Burns Corp.
Gesamtrechnung
t
Kosten
Grenzkosten
Kosten
Grenzkosten
t
externe Kosten
Gesamtkosten
1
240
50
130
35
2
30
400
2
190
40
95
20
4
40
325
3
150
30
75
15
6
60
285
4
120
20
60
10
8
106
286
5
100
10
155
305
50
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(in der ersten Spalte steht die Anzahl der Emissionen in Tonnen, die Kosten sind die jeweiligen Produktionskosten der beiden Fabriken, die Grenzkosten sind die Grenzkosten der Vermeidung, also die zusätzlichen Kosten, die entstehen, wenn man eine Tonne Emissionen vermeidet. Unter der Rubrik Gesamtrechnung steht zunächst die Gesamtmenge aller Emissionen von Burns und Simpson in Tonnen, dann die externen Kosten, welche diese Emissionen anrichten, dann die Gesamtkosten der Produktion beider Fabriken, also private plus externe Kosten)
Aber bisher haben wir nur über die privaten Kosten der beiden Unternehmen gesprochen – in der Spalte „Gesamtrechnung“ stehen zunächst die sozialen Kosten der Umweltverschmutzung, die externen Kosten in Abhängigkeit von der insgesamt emittierten Schadstoffmenge (siebte Spalte). Wenn beispielsweise Burns und Simpson jeweils 5 Tonnen Schadstoffe in die Umwelt entlassen, dann macht das zusammen 10 Tonnen (die in der sechsten Spalte stehen), und diese 10 Tonnen verursachen der Umwelt einen Schaden von 155 Euro (die stehen in der siebten Spalte; beispielsweise sind das die Kosten für die Reinigung des Flusses, in den die beiden ihre Abwässer entlassen oder die Kosten der ärztlichen Behandlung der Bürger, deren Gesundheit durch die schlechte Luft beeinträchtigt wird. Zur Ermittlung dieser Kosten verwenden wir eine Kosten-Nutzen-Analyse). Jetzt können wir die gesamten Kosten der Produktion berechnen (das ist die letzte Spalte in Tabelle 20): Wenn Burns und Simpson jeweils 5 Tonnen Schadstoffe emittieren, dann betragen ihre Produktionskosten insgesamt 150 Euro (100 Euro für Simpson und 50 Euro für Burns; das sind die privaten Kosten) plus 155 Euro externe Kosten, macht zusammen 305 Euro an Kosten der Gesamtproduktion. Sie sehen hier recht schön den Unterschied zwischen den privaten Kosten der Produktion und den sozialen Kosten – die 150 Euro entsprechen der unteren Angebotskurve A in Abbildung 44; die Gesamtkosten von 305 Euro der oberen Kurve AG; und der Abstand zwischen den beiden Kurven entspricht den externen Kosten von 155 Euro. Aus unserer Tabelle können wir entnehmen, dass die optimale Emission von Schadstoffen sechs Tonnen beträgt – dann ist die Summe von Vermeidungskosten bei den Unternehmen und gesellschaftlichen Vorteilen aus der Vermeidung am geringsten (nämlich 285: Die Kosten der Umweltverschmutzung sinken auf 60). Würden wir die Emissionen von 6 auf 4 Tonnen reduzieren, so würden zwar die Kosten der Umweltschäden sinken (von 60 auf
Tabelle 20: Umweltprobleme in Springfield
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40 Euro); der Grenzertrag der Vermeidung beträgt also 20 Euro. Gleichzeitig aber steigen die Grenzvermeidungskosten bei Burns um 20 Euro und bei Simpson um 40 Euro (wir nehmen an, jeder von beiden muss eine Tonne reduzieren), und damit sind die Grenzkosten der Vermeidung größer als deren Grenznutzen – wir zahlen 60 Euro, um Umweltschäden in Höhe von 20 Euro zu vermeiden. So ungewohnt das in ihren Ohren klingen mag: Es gibt also ein optimales Ausmaß an Umweltverschmutzung, und das liegt in diesem Fall bei 6 Tonnen. Wenn man dieses Argument überspitzt, wird diese Idee sofort deutlich: Niemand erwägt ernsthaft, Autofahren ganz zu verbieten – obwohl dadurch das Ausmaß der Emissionen um das Maximum gesenkt würde. Dass man dies dennoch nicht tut, liegt daran, dass die Kosten dieses Verzichts deutlich über den Erträgen für die Umwelt liegen würden. Und sobald man diesen Gedanken akzeptiert, akzeptiert man, dass es ein optimales Niveau an Umweltverschmutzung gibt, und das liegt in unserem Fall bei 6 Tonnen. Und die Frage ist nun, wie wir dort hinkommen. Jetzt können wir zunächst einen Standard einführen und festlegen, dass jedes Unternehmen nur noch drei Tonnen Schadstoffe ausstoßen darf – das macht zusammen die optimalen 6 Tonnen, das wäre dann unser Standard. Die gesamten Vermeidungskosten von Simpson und Burns betragen dann 50 Euro für Simpson und 25 Euro für Burns – wenn Simpson seine Schadstoffemissionen von zuvor 5 auf drei Tonnen reduziert, kostet ihn das 50 Euro; Burns kostet das 25 Euro; macht zusammen 75 Euro für die Reduktion des Schadstoffausstoßes von insgesamt 10 auf 6 Tonnen. Geht es auch billiger? Ja, in der Tat. Zunächst einmal verfügt der Stadtrat von Springfield, dass insgesamt nur 6 Tonnen emittiert werden dürfen – jedes Unternehmen bekommt drei Tonnen. Damit stellen wir sicher, dass auch exakt die Menge an Schadstoffen emittiert wird, die wir zulassen wollen. Doch jetzt kommt der Trick: zwar darf jedes Unternehmen nun – wie beim Standard – nur drei Tonnen emittieren, doch die Unternehmen dürfen untereinander handeln – wer die insgesamt vier Tonnen, die nun vermieden werden sollen, vermeidet, spielt für den Stadtrat (und für die Umwelt) keine Rolle. Der Stadtrat gibt Burns und Simpson jeweils drei Zettel, die sie dazu berechtigen, pro Zettel eine Tonne Schadstoffe in die Luft zu blasen. Der Clou daran ist, dass diese Zettel handelbar sind. Warum? Ganz einfach, wenn diese Zettel – die so genannten Verschmutzungsrechte – handelbar sind, wird Simpson folgendes Angebot an Burns machen: Simpson zahlt Burns bis zu 30 Euro, wenn Burns statt der erlaubten drei Tonnen nur zwei Tonnen emittiert und das Recht, eine Tonne Schadstoffe zu emittieren, an Simpson verkauft. Simpsons Vorschlag ist gut durchdacht: Wenn er Burns weniger als 30 Euro zahlt, damit dieser eine Tonne Schadstoffe mehr reduziert, dann ist das immer noch billiger, als wenn er selbst die Tonne Schadstoffe reduziert, denn das kostet ihn 30 Euro. Oder anders aus-
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gedrückt: Wenn Simpson statt drei Tonnen vier Tonnen Schadstoffe emittieren darf, dann sinken seine Kosten um 30 Euro, also ist er bereit, Burns bis zu 30 Euro dafür zu zahlen, dass er diese Tonne einspart. Und Burns wird einwilligen: Wenn er statt der erlaubten drei Tonnen nur zwei Tonnen emittiert, dann steigen seine Kosten um 20 Euro – wenn Simpson ihm mehr als diese 20 Euro zahlt, dann ist das für ihn ein Geschäft. Wenn Sie nun noch einen Schritt weitergehen, kann man fragen, ob Burns bereit ist, eine weitere Tonne an Simpson zu verkaufen: Simpson ist bereit, maximal 20 Euro für das Recht zu bezahlen, eine weitere Tonne zu emittieren; Burns wird aber 35 Euro verlangen, damit er eine weitere Tonne vermeidet – aus diesem Geschäft wird also nichts.
In der Praxis: Handel mit Verschmutzungsrechten In der Europäischen Union wurde der Handel mit Emissionszertifikaten, auch Emissionsrechtehandel genannt, 2005 für bestimmte Branchen eingeführt. Weitere solche Systeme gibt es in den Vereinigten Staaten, Kanada und Australien. In Deutschland ist die Deutsche Emissionshandelsstelle (www.dehst.de) im Umweltbundesamt für den Emissionshandel sowie die anderen Mechanismen (Joint Implementation und Clean Development Mechanism) des Kyoto-Protokolls zuständig. Sie teilt den Unternehmen eine bestimmte Menge an Emissionsberechtigungen zu und verringert deren Menge im Lauf der Zeit nach den gesetzlichen Vorgaben. Die Erstzuteilung der Emissionszertifikate erfolgte kostenlos. Erfüllt ein Unternehmen seine Verpflichtung zur Reduktion der Emissionen nicht, werden Strafen fällig, die in der ersten Handelsperiode 40 Euro pro Tonne Kohlendioxid betrugen. Die nicht erreichte Minderungsverpflichtung muss im Folgejahr zusätzlich erbracht werden. Im Lauf der ersten Handelsperiode entstanden mehrere Börsenplätze für den Handel mit Emissionsrechten. Der größte Handelsplatz ist die Londoner European Climate Exchange (ECX), die mittlerweile fast 80 Prozent des Handelsvolumens stemmt, gefolgt von der Osloer Nord Pool, der Pariser PowerNext und der Leipziger EEX.
Damit hätten wir ein Ergebnis: Simpson kauft von Burns das Recht, eine Tonne Schadstoffe zu emittieren, für einen Betrag von mehr als 20 und weniger als 30 Euro. Deswegen darf er statt der ursprünglich erlaubten drei Tonnen nun vier Tonnen emittieren, während Burns statt der erlaubten drei Tonnen nun nur zwei Tonnen emittiert und das Recht an der dritten Tonne an Simpson verkauft. Unter dem Strich sind das dann immer noch insgesamt sechs Tonnen Emissionen (vier von Simpson, zwei von Burns), doch die Gesamtkosten der Vermeidung sind nun im Vergleich zu dem Standard gesunken. Erinnern wir uns: Beim Standard mussten sowohl Simpson als auch Burns ihre Emission um jeweils zwei Tonnen senken, was Kosten von insgesamt 75 Euro verursacht hatte. Jetzt reduziert Simpson seine Emissio-
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nen nur um eine Tonne von 5 auf 4 Tonnen – das macht Vermeidungskosten von 20 Euro –, während Burns nun statt 5 Tonnen 2 Tonnen emittiert, was ihm Vermeidungskosten von 45 Euro verursacht. Die Gesamtkosten der Vermeidung betragen damit 65 Euro – günstiger als im Falle des Standards. Warum diese Lösung günstiger ist, liegt auf der Hand: Jetzt muss nicht jedes Unternehmen die gleiche Menge an Schadstoffen vermeiden, sondern das Unternehmen, das günstiger vermeiden kann, vermeidet mehr und verkauft die dadurch ersparten Schadstoffmengen an die Unternehmen, bei denen die Vermeidung teurer ist. Genau so funktioniert der Handel mit Verschmutzungsrechten: Der Handelssaal der deutschen Börse in Frankfurt/ Main, hier kann man auch heiße Luft handeln.
1. Zuerst legt die Regierung fest, wie hoch die Gesamtmenge an Verschmutzungsrechten sein soll; damit entscheidet sie, wie hoch die Schadstoffmenge insgesamt ist, welche alle Unternehmen zusammen emittieren dürfen. Diese Schadstoffmenge wird in Form von Verschmutzungsrechten verbrieft. 2. Dann werden die Verschmutzungsrechte den Unternehmen zugeteilt – nach welchen Verfahren das geschehen kann, werden wir gleich erörtern. 3. Danach können die Unternehmen in Verhandlungen treten: Unternehmen mit hohen Grenzvermeidungskosten (wie Simpson) kaufen weitere Verschmutzungsrechte; Unternehmen mit niedrigen Grenzvermeidungskosten (Burns), verkaufen diese. Dadurch bildet sich ein Preis für die Verschmutzungsrechte, der durch Angebot und Nachfrage bestimmt wird. Dabei gilt ein einfaches Kalkül: Sind die Grenzkosten der Vermeidung geringer (höher) als der Preis der Verschmutzungsrechte, dann wird man seine Verschmutzungsrechte anbieten (weitere Verschmutzungsrechte nachfragen). Das Ergebnis dieses Handels wird sein, dass die Unternehmen, welche günstig vermeiden, Verschmutzungsrechte, die man ihnen zugeteilt hat, sparen und auf dem Markt verkaufen; die Unternehmen, für die es teuer ist, zu vermeiden, werden zusätzliche Verschmutzungsrechte kaufen. Am Ende werden die Unternehmen am meisten vermeiden, die dies am billigsten können, während wir zugleich über die Zuteilung der Verschmutzungsrechte sicher gestellt haben, dass exakt jene Menge an Schadstoffen emittiert wird, die wir politisch festgelegt haben. Sie sehen, diese Lösung vereint in sich tatsächlich die Vorteile der Steuer mit den Vorteilen des Standards. Aber ganz ohne Nachteile ist diese Lösung natürlich nicht – folgende Probleme werden dadurch aufgeworfen:
Zunächst einmal haben wir bei dieser Politik das gleiche Problem wie beim Standard: Wie hoch sollen wir die Menge der Nutzungsrechte festlegen? Legen wir sie zu niedrig fest, dann passiert wenig, legen wir sie zu hoch fest, schießen wir übers Ziel hinaus und laden uns übermäßige Kosten auf. Wenn der Stadtrat in unserem Beispiel 10 Tonnen als Standard festlegt, wird nichts passieren, wenn er 2 Tonnen festlegt, sind die
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Grenzkosten der Vermeidung größer als der Grenznutzen, was ebenfalls wohlfahrtsmindernd wäre.
Das nächste Problem ist auch nicht ohne: Nach welchem Verteilungsschlüssel verteilen wir die Verschmutzungsrechte? Nach der Größe der Unternehmen? Nach dem Windhund-Verfahren – wer zuerst kommt, mahlt zuerst? Nach der bisherigen Verschmutzung? Das hätte den Nachteil, dass wir alle Unternehmen belohnen, die bisher viel verschmutzt haben.
Problem Nummer drei ist die Laufzeit der Verschmutzungsrechte – für welchen Zeitraum sollen diese gelten? Dabei entsteht ein Dilemma: Je länger diese Rechte gelten, umso besser ist die Planungssicherheit für die Unternehmen; sie wissen, wie hoch ihre Belastung aus den Umweltschutzauflagen sein werden. Andererseits bedeutet eine lange Laufzeit, dass der Staat sich auf einen langen Zeitraum festlegen muss – hat er die falsche Menge an Verschmutzungsrechten gewählt, und diese laufen über einen langen Zeitraum, so dauert es lange, bis man den Irrtum korrigieren kann.
Dann muss man auch das Entstehen so genannter „hot spots“ vermeiden: In einem Gebiet, das bereits hochgradig belastet ist, sollte man nicht noch weitere Verschmutzungsrechte hinzukaufen können.
In der Praxis: Zuteilung der Emissionsrechte Am Anfang des Emissionshandels müssen die Emissionsberechtigungen natürlich zugeteilt werden. Die ökonomisch beste Methode wäre eine Auktion gewesen – dieses Verfahren behandelt alle Unternehmen gleich und sorgt dafür, dass die Emissionsrechte dort landen, wo sie am dringendsten benötigt werden. Allerdings wäre das für viele Unternehmen sehr teuer geworden. Alternativ hätte man auch anhand so genannter Benchmarks zuteilen können: man stellt den durchschnittlichen Verbrauch an CO2 in jeder betroffenen Branche fest und teilt anhand dieser Benchmarks dann tatsächliche Verschmutzungsrechte zu. Allerdings kann die Abgrenzung der Branchen und Tätigkeiten Schwierigkeiten bereiten. Methode Nummer drei ist das Grandfathering: Man teilt die Rechte anhand historischer Daten zu. Dies ist die in der Bundesrepublik Deutschland für die erste Handelsperiode gewählte Methode, die im so genannten nationalen Allokationsplan festgestellt wurde. Welchen Nachteil hat diese Methode?
Politik: Eigentumsrechte. Bisher haben wir nur staatliche Lösungen des Umweltschutzproblems kennen gelernt. Lassen Sie uns in einem letzten Schritt nachdenken, ob es auch andere Lösungsmöglichkeiten für externe Effekte gibt, nämlich private Lösungen. Lassen Sie uns das anhand des Beispiels des Raucherschutzes erörtern – wie kann man das Problem lösen, das
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sich stellt, wenn ein Raucher und ein Nicht-Raucher in einem Raum sitzen? Wir hatten ja gesehen, dass hier ein klassischer externer Effekt entsteht: Der Raucher berücksichtigt bei seiner Entscheidung zu rauchen nicht die Kosten, die dem Nichtraucher entstehen. Wie kann man dieses Problem lösen, ohne gleich den Staat einzuschalten? Nehmen wir einmal an, ein Raucher und ein Nichtraucher sitzen zusammen in einer Kneipe und streiten sich darum, ob hier geraucht werden darf oder nicht. Und unter zivilisierten Menschen sollte eine Einigung ohne Staat möglich sein, und zwar dergestalt, dass man sich auf Ausgleichszahlungen einigt. In Tabelle 21 haben wir einmal die Leidensfähigkeit von Raucher und Nichtraucher in Euro ausgedrückt; wobei wir einmal zwei verschiedene Situationen respektive Kneipen unterstellen wollen. Lassen Sie uns mit Kneipe A anfangen. Wie Sie der Tabelle entnehmen, ist der Nichtraucher in Kneipe A bereit, sich die frische Luft 5 Euro kosten zu lassen – er wäre also bereit, dem Raucher 5 Euro dafür zu zahlen, dass er nicht raucht. Der Raucher in dieser Kneipe allerdings ist sehr fixiert auf seine Zigarette: er wäre bereit, 20 Euro dafür zu zahlen, dass er eine rauchen darf. Was wird passieren?
Tabelle 21: Das Nichtraucher-Raucher-Problem
Kneipe A
Kneipe B
Nichtraucher zahlt für frische Luft
5
15
Raucher zahlt, um eine Zigarette zu rauchen
20
10
Alles, was wir nun machen müssen, ist, Eigentumsrechte zu verteilen. Nehmen wir für einen Moment an, dass der Raucher das Recht hat, die Luft zu verqualmen – das war die geltende Regelung vor den neuen Nichtrauchergesetzen. Solange das Rauchen in Kneipen erlaubt war, gehörte die Luft in den Kneipen also den Rauchern, war ihr Eigentum. Jetzt können der Raucher und der Nichtraucher in Verhandlungen treten: Der Nichtraucher wäre bereit, 5 Euro an den Raucher zu zahlen, damit er nicht raucht. Das ist diesem aber zu wenig, er ist ja bereit, 20 Euro für das Recht zu zahlen, zu rauchen – also lehnt er ab und raucht. Was aber, wenn wir die Eigentumsrechte umverteilen? Mit der Einführung des Rauchverbots in Kneipen hat man genau dies getan – jetzt gehört die Luft in den Kneipen den Nichtrauchern, sie dürfen entscheiden, was mit der Luft geschieht. Wenn der Raucher und der Nichtraucher nun wieder verhandeln, passiert in Kneipe A folgendes: Dem Nichtraucher ist die frische Luft 5 Euro wert, der Raucher ist bereits, bis zu 20 Euro zu zahlen – also wird der Raucher dem Nichtraucher mindestens 5 Euro und maximal 20 Euro zahlen, damit er eine Zigarette rauchen kann, und der Nichtraucher wird annehmen. Das Ergebnis: Es wird geraucht. Ein bemerkenswerter Befund: Unabhängig davon, ob die Luft dem Raucher gehört oder dem Nichtraucher – als Ergebnis kommt in beiden Fällen raus, dass geraucht wird. Das gilt auch für die Kneipe B: Hier ist der Nichtraucher
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bereit, 15 Euro für saubere Luft zu zahlen, dem Raucher ist die Zigarette 10 Euro wert. Was passiert? Gehört die Luft dem Raucher, dann wird der Nichtraucher ihm bis zu 15 Euro dafür bieten, dass dieser nicht raucht – und wenn es mehr als 10 Euro sind, wird er auch akzeptieren. Gehört die Luft dem Nichtraucher, dann wird der Raucher ihm maximal zehn Euro für das Recht bieten, eine Zigarette zu rauchen, doch der Nichtraucher wird ablehnen (man müsste ihm schon mindestens 15 Euro bieten, doch das ist es dem Raucher nicht wert). Auch hier kommen wir unabhängig davon, wer das Recht an der Luft hat, immer zum gleichen Ergebnis: Es wird nicht geraucht. Das Ergebnis dieser Überlegungen ist in der Literatur als Coase-Theorem bekannt: wenn Bürger privat verhandeln können, so spielt es für das Ergebnis der Verhandlungen keine Rolle, wer die Eigentumsrechte besitzt – das Ergebnis der Verhandlungen wird stets das gleiche sein. Und nicht nur das: das Ergebnis wird auch effizient sein: Wenn dem Raucher – wie in Kneipe A – das Rauchen wichtiger ist als dem Nichtraucher die frische Luft, wird er rauchen; wenn wie in Kneipe B dem Nichtraucher die frische Luft mehr wert ist als die Zigarette, dann wird nicht geraucht werden. Unabhängig davon, wer das Recht hat, über die Luft zu verfügen. Übertragen wir diese Ergebnisse auf externe Effekte im allgemeinen, so erkennen wir, dass externe Effekte durch fehlende Eigentumsrechte entstehen – würden die Luft oder das Wasser jemandem gehören, so könnte er ja seine Rechte geltend machen, wenn jemand die Luft oder den Fluss verschmutzt, und dem Verschmutzer verbieten, sein Eigentum zu schädigen (oder eine Entschädigung einfordern). Dabei zeigt das Coase-Theorem, dass es sogar gleichgültig wäre, wem die Luft oder das Wasser gehören, wenn Verhandlungen wie im Falle unserer Raucher möglich wären, käme immer das gleiche Ergebnis zustande, das zudem effizient wäre. Da aber aufgrund ihres besonderen Charakters es gar nicht richtig möglich ist, dass jemand die Luft oder das Wasser besitzt, hat sich der Staat das Eigentum an diesen Gütern angeeignet und verbietet die Verschmutzung. Der Staat ist also der Eigentümer der Umweltgüter, er darf entscheiden, was damit passiert. So elegant das Coase-Theorem auch ist – natürlich hat es auch Schwachstellen:
Da wären zunächst einmal die so genannten Transaktionskosten der Verhandlungen – das sind die Kosten, alle Beteiligten an einen Tisch zu bringen, zu verhandeln, die Ergebnisse der Verhandlung umzusetzen und zu überwachen. In unserem Raucherbeispiel war es noch recht einfach und überschaubar, zu verhandeln, doch je mehr Parteien involviert werden, umso schwieriger wird es, alle Interessen unter einen Hut zu bringen und mit allen zu verhandeln. Und das alles zu organisieren und zu überwachen. Solche Verhandlungslösungen sind also nur etwas für kleine Gruppen.
Oftmals sind die verschiedenen Betroffenen aber gar nicht gut organisierbar, beispielsweise weil sie räumlich weit verstreut sind, oder gar nicht klar ist, wer alles betroffen ist.
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Das Coase-Theorem klammert Verteilungsprobleme aus – wenn man Eigentumsrechte zuordnet, entscheidet man damit auch über Einkommen und Wohlstand. In unserem Beispiel haben wir ja gesehen, dass von den Eigentumsrechten abhängt, wer hier wen bezahlen muss. Damit entstehen erhebliche Verteilungskonflikte, die solche Verhandlungen enorm erschweren.
Noch ein Problem, das Karl Marx nicht gelöst hat.
In der Praxis: Scheidungsrecht Es gibt zwei verschiedene Arten von Scheidungsrecht: Man kann eine Scheidung nur zulassen, wenn beide Partner zustimmen, oder aber es reicht, wenn einer der beiden Partner die Scheidung will. Wenn Sie nun an das Coase-Theorem denken, dann ist klar, dass die Art des Scheidungsrechtes keine Rolle für die Anzahl der Scheidungen spielt, denn die Art des Scheidungsrechtes ist nichts anderes als eine Zuordnung an Eigentumsrechten. Wenn beide Parteien der Scheidung zustimmen müssen, dann wird der scheidungswillige Partner versuchen, dem anderen mit einer Zahlung zur Scheidung zu überreden – jetzt ist nur entscheidend, wem von beiden das Ende der Ehe respektive die Fortführung mehr wert ist. Der scheidungsunwillige Partner hält nun das Eigentum an der Ehe. Wenn nur ein Partner reicht, um die Scheidung einzureichen, dann wird der scheidungsunwillige Partner versuchen, den anderen durch Zugeständnisse und Wohlverhalten zum Bleiben zu überreden; auch hier entscheidet dann wieder, ob die Abneigung gegen die Ehe größer ist als die Zugeständnisse des Scheidungsunwilligen. Nun hat der scheidungswillige Partner nun das Eigentum an der Ehe. Ökonomisch gesehen macht es für die Anzahl der Scheidungen also keinen Unterschied, welches Scheidungsrecht herrscht.
Die öffentlichen Güter und die Externalitäten – das alles waren Beispiele für ökonomisches Marktversagen, also Fälle, in denen der Preismechanismus versagt. Wir wollen es dabei bewenden lassen und uns der zweiten Art von Marktversagen zuwenden, nämlich den Fall, wo wir die Ergebnisse der Marktprozesse nicht akzeptieren wollen. Ein heikles Thema.
8 Leuchttürme und Umweltschutz: Ökonomisches Marktversagen
Zusammenfassung 1. Man kann beim Marktversagen unterscheiden zwischen ökonomischen Marktversagen (der Preismechanismus funktioniert nicht) und politischem Marktversagen (der Preismechanismus funktioniert, aber die Ergebnisse des Marktes sind politisch nicht akzeptabel). 2. Der klassische Fall ökonomischen Marktversagens sind öffentliche Güter, von deren Konsum man niemanden ausschließen kann und bei denen keine Rivalität im Konsum besteht. 3. Ein weiterer Fall von Marktversagen sind externe Effekte: Eine Person schädigt eine andere Person, ohne dass sie die Kosten ihrer Handlung in ihr ökonomisches Kalkül mit einbezieht. 4. Externe Effekte, vor allem Umweltprobleme, können durch Standards oder Steuern behoben werden. Standards sind effektiv, aber nicht effizient; Steuern sind effizient, aber nicht effektiv. 5. Eine dritte Möglichkeit, Umweltprobleme zu lösen, sind handelbare Emissionsrechte; bei denen jedem Unternehmen eine bestimmte Menge an Emissionsrechten zugewiesen wird, dies es dann nutzen oder frei verkaufen kann. Diese Lösung vereinigt die Effizienz der Steuer mit der Effektivität des Standards, ist aber auch nicht ohne Probleme. 6. Eine weitere Lösung solcher Probleme sind die Zuweisung von Eigentumsrechten und private Verhandlungen nach dem Coase-Theorem. Das Ergebnis dieser Überlegung: Solange Menschen verhandeln können, macht es für das Ergebnis keinen Unterschied, wer das Eigentum an der Sache besitzt, über die verhandelt wird.
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Rauchen, Alkohol und Umverteilung: politisches Marktversagen Um was geht es? Bisher haben wir Marktversagen diskutiert, das dadurch entsteht, dass der Preismechanismus nicht funktioniert – also das, was man Marktversagen aus ökonomischen Gründen nennen könnte. Doch es gibt auch Fälle, in denen der Staat in Märkte eingreift, obwohl der Preismechanismus funktioniert. In bestimmten Fällen will man nicht die Ergebnisse dieses Marktes akzeptieren, und greift deswegen korrigierend ein. Das muss per se nichts schlimmes sein, aber man muss sich nur darüber im Klaren sein, dass hier politische Aspekte den Ausschlag für das Eingreifen des Staates geben – die Märkte selbst funktionieren. Man muss also zum einen klar machen, dass es politischer Wille ist, der die Ergebnisse des Marktes nicht akzeptiert, dann muss man sich überlegen, wie man am besten in den betreffenden Markt eingreift (falsche Politik ist immer noch falsch, auch wenn sie mit guten Absichten daher kommt) und man muss sich über die Folgen dieser Eingriffe im klaren sein. Aber nochmals: Letztlich ist es Aufgabe der Politik, darüber zu entscheiden, wo man in funktionierende Märkte eingreifen soll. Das bedeutet aber auch, dass sie erstens die Verantwortung dafür übernehmen muss und den Wählern auch klar machen muss, dass sie dies tut und warum. Die beiden Hauptkategorien des politischen Marktversagens sind die so genannten meritorischen und demeritorischen Güter sowie die Blindheit des Marktes gegenüber sozialen Belangen; eine dritte Kategorie ist das politische Marktversagen. Lassen Sie uns mit den meritorischen Gütern beginnen. Meritorische Güter. Sicher haben Sie auch schon oft genug gehört, wie schädlich Alkohol ist und wie ungesund das Rauchen – und dennoch trinken und rauchen Sie vielleicht. Das ist eigentlich unvernünftig: Obwohl man weiß, dass es schädlich ist, trinkt man Wein und Bier und steckt sich die nächste Kippe an. Als Ökonom unterstellt man den Menschen aber rationales Handeln: man überlegt sich zuvor, was die Kosten des Rauchens und Trinkens sind (also die Gesundheitsgefahren), wägt das ab gegen den Nutzen und entscheidet sich dann bewusst dafür oder dagegen. Ökonomisch gesehen gibt es hier kein Problem. Aber warum besteuert der Staat dennoch Zigaretten und Alkohol? Von den ergiebigen Steuererträgen abgesehen, die wir bereits im 5. Kapitel kennen gelernt haben, wird oftmals ein weiterer Grund angeführt: Man wolle die Menschen vor sich selbst schützen. Hier wird also das Argument von der Gesundheitsschädlichkeit des Rauchens und Trinkens bemüht: Weil es den Menschen schadet, will man sie mit Steuern, Appellen oder gar Geboten
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davon abbringen – in ihrem eigenen Interesse. Um das Argument auf den Punkt zu bringen: Es gibt Güter, deren Konsum den Menschen schaden kann, und der Staat greift hier ein, um die Menschen vor diesem Schaden zu bewahren. Der Preismechanismus funktioniert in diesen Märkten ausgezeichnet, alleine die Ergebnisse des Marktes – die Menschen rauchen und trinken – stoßen auf Kritik. Wohlgemerkt: Hier geht es nicht um Argumente wie die Schädigung von Nichtrauchern – das wäre ein externer Effekt und dementsprechend zu behandeln. Auch das Argument, dass Raucher den Sozialkassen hohe Kosten auferlegen, spielt hier keine Rolle (es ist auch übrigens nicht ganz richtig, denn da Raucher früher sterben, entlasten Sie im Gegenzug die Rentenkasse. Und Menschen, die aufgrund ihres gesunden Lebenswandels sehr alt werden, belasten die Krankenkassen viel mehr, weil im Alter die Arztbesuche zunehmen). Es geht hier ausschließlich um die Idee, dass Menschen etwas tun, was in den Augen anderer Menschen nicht gut für sie ist – wie auch immer man das definieren und festlegen mag. So vertraut diese Ideen für Sie klingen mögen – man muss dieses Argument kritisch hinterfragen. Wenn wir einen aufgeklärten, eigenverantwortlichen Menschen unterstellen, bedeutet es, dass der Staat besser weiß als seine Bürger, was gut für sie ist. Wenn sich ein Mensch bewusst und freiwillig dafür entschieden hat, zu rauchen oder zu trinken – hat dann der Staat das Recht, es ihm zu verbieten? Wenn man noch nicht volljährig ist, dann sind es die Eltern, die einem vorschreiben, was gut oder nicht gut ist – mit dem Argument, dass man es als Kind oder Jugendlicher eben noch nicht wissen kann. Das ist auch durchaus vernünftig, aber ab welchem Zeitpunkt ist man erwachsen und vernünftig genug, selbst zu entscheiden, was für einen selbst gut oder schlecht ist? Bei den Eltern endet das mit der Volljährigkeit, beim Staat – nie. Denn genau diese Rolle nimmt der Staat hier gegenüber seinen volljährigen, erwachsenen Bürgern ein: Er weiß besser als seine Bürger, was gut für sie ist und greift deswegen lenkend ein, so wie es zuvor die Eltern getan haben. Aus diesem Grund nennt man dieses Handeln des Staates auch paternalistisch respektive Paternalismus; abgeleitet von dem lateinischen Wort „Pater“, also Vater. Der Staat benimmt sich hier also wie ein wohlwollender Vater, der seinen Kindern – den Bürgern – sagt, was gut oder schlecht für sie ist und lenkend eingreift. Ob man das gut oder schlecht findet, hängt ab vom Menschenbild, das man hat: Sind die Menschen aufgeklärt, rational, eigenverantwortlich und erwachsen genug, selbst zu entscheiden? Oder sind sie eben unvernünftig, wie kleine Kinder, und der Staat muss hier korrigierend eingreifen? (und ist der Staat rationaler als die Bürger, die er beaufsichtigt?) Das muss jeder für sich selbst entscheiden, allerdings darf man hierbei nicht einen beliebten Fehler machen und von sich auf andere schließen: Nur weil man selbst Nichtraucher ist und die Gefahren des Rauchens als hoch erachtet, darf man dann diese Meinung zum Maßstab für andere Menschen machen?
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In der Praxis: Die Naschsteuer Keine Frage: Schokolade und Bonbons sind nicht gerade Schlankmacher, und obendrein können sie noch die Zähne ruinieren. Was liegt also näher als den Deutschen die schlechte Angewohnheit, zu viel Süßes oder Fast Food zu essen, mittels einer Steuer auszutreiben? Genau darüber denken Politiker nach, sie diskutieren eine „Naschsteuer“ auf Süßigkeiten. Zumindest könne man den Mehrwertsteuersatz etwa für Süßigkeiten auf 19 Prozent erhöhen – bislang gilt für die meisten Lebensmittel der ermäßigte Satz von 7 Prozent. Auch in der französischen Regierung denkt man darüber nach: Sie will der Fettleibigkeit den Kampf ansagen und diskutiert die Einführung von Sonderabgaben auf besonders fett- und zuckerhaltige Lebensmittel wie Cola, Chips und Hamburger. Unter den deutschen Verfechtern der Naschsteuer fand sich auch ein prominenter Politiker, dessen Leibesumfang ein gutes Argument für eine solche Steuer war.
Solche Güter, bei denen der Staat eingreift, weil er der Ansicht ist, dass deren Konsum den Menschen schadet, nennt man demeritorische Güter – und die Paradebeispiele sind Alkohol und Zigaretten. Aber es gibt diese Güter auch im positiven Sinne, Güter, von denen der Staat annimmt, dass sie gut für den Bürger sind und dass er sie zu wenig konsumiert, diese Güter nennt man meritorische Güter. Diese Güter subventioniert der Staat, in der Hoffnung, dass die Bürger daraufhin mehr davon konsumieren. Als Beispiele für solche Güter gelten Kunst, Bildung oder der Öffentlich-Rechtliche Rundfunk. Man kann es gar nicht klar genug sagen: Die Idee der meritorischen und demeritorischen Güter besteht darin, dass der Staat lenkend in die Vorlieben seiner Bürger eingreift, weil er mit ihrem Handeln, so wie es ist, nicht zufrieden ist. Überspitzt gesagt behauptet er also, dass er weiß, was gut für
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seine Bürger ist – besser, als diese selbst es wissen. Überspitzt gesagt findet der Staat, dass seine Bürger zu viel rauchen und zu wenig ins Theater gehen – deswegen besteuert er Tabak und subventioniert Theater. Darüber lässt sich natürlich streiten. Erstens muss man fragen, woher der Staat besser weiß als seine Bürger, was gut für sie ist – denn letztlich stehen hinter dem Staat auch nur Menschen. Die Gefahr ist also groß, dass unter dem Deckmantel der Meritorik Politiker ihre eigenen Vorlieben und Werturteile ihren Bürgern überbraten – überspitzt gesagt: wenn in der aktuellen Regierung viele Nichtraucher sind, dann steigen die Tabaksteuern, sind die Raucher am Kabinettstisch in der Überzahl, dann steigen sie nicht. Man muss also befürchten, dass nicht die Sorge um den Bürger, sondern die Wert- und Vorurteile der Politiker darüber entscheiden, wann der Staat in die Gewohnheiten seiner Bürger eingreift. Zweitens muss man bei der Debatte um die Meritorik fragen, welches Menschenbild dahinter steht: Wer in die Vorlieben seiner Bürger eingreift mit dem Argument, dass sie nicht wissen, was gut für sie ist, unterstellt ihnen überspitzt gesagt, das sie zu dumm sind selbst zu erkennen, was gut für sie ist. Ist das wirklich so? Können Menschen nicht erkennen, was gut für sie ist; sind ihre Entscheidungen verzerrt? Und wer entscheidet darüber, welches die „richtige“ Entscheidung ist? Man kann sich auch auf den Standpunkt stellen, dass man jedem Menschen die Freiheit lassen muss, zu tun, was er will – auch wenn das für Außenstehende unvernünftig erscheinen mag. Aber wie gesagt: Das ist Meinungssache und ein Werturteil (also normativ, erinnern Sie sich an unsere Überlegungen zur Freiheit als Norm), objektiv lässt sich diese Frage nicht beantworten. Drittens muss man befürchten, dass unter dem Deckmäntelchen der Meritorik Interessengruppen ihr eigenes Süppchen kochen. Bei aller Liebe für die schönen Künste: Aber wer profitiert am meisten davon und wer bezahlt es? Wer eine Karte für die Oper subventioniert, weil seiner Ansicht nach die Menschen zu wenig in die Oper gehen, obwohl das gut ist, muss auch sagen, wie er das finanziert. Wird es über allgemeine Steuern finanziert, so zahlt auch der kleine Mann für den Opernbesuch des wohlhabenden Kulturfreundes – das muss man nicht gut finden. Die Profiteure dieser Förderung – die betuchten Opernfreunde – freuen sich natürlich darüber, aber man sollte fragen, ob sie denn nicht in der Lage sind, ihre Karten auch selbst zu bezahlen. Will man auch Menschen mit geringem Einkommen zu einem Opernbesuch verhelfen, dann wäre ein direkter Zuschuss zur Karte wesentlich billiger und fairer: Wer ein geringes Einkommen hat, bekommt verbilligte Karten, wer viel verdient, zahlt den vollen Preis. Das klingt besser als die Idee, subventionierte Opernkarten auch an Millionäre abzugeben. Aber verstehen Sie das nicht falsch: Dies soll keine Kritik an der Einrichtung der Oper sein – wer gerne in die Oper geht, soll, kann darf dies auch tun; doch es muss die Frage erlaubt sein, wer das bezahlen soll. Und Ökonomen plädieren in der Regel dafür, dass diejenigen, welche etwas nutzen, auch
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dafür bezahlen. Eine ähnliche Überlegung gilt auch für den ÖffentlichRechtlichen Rundfunk: Hier werden pro Jahr mehr als sieben Milliarden Euro Zwangsgelder eingezogen, von arm und reich (wobei sich der Beitrag nicht nach dem Einkommen richtet – als Steuer würde das kein Bürger akzeptieren, das ist nämlich eine Kopfsteuer, die wir auch schon kennen gelernt haben), und diejenigen, die viel die Programme der ÖffentlichRechtlichen schauen, tun dies auf Kosten aller anderen Gebührenzahler, welche zwar zahlen müssen, aber lieber RTL oder SAT 1, also die privaten Sender schauen.
Diskussion: Muss das sein? Suchen Sie nach Beispielen, wo der Staat in Märkte eingreift, die funktionieren. Mit welchen Argumenten tut er das und spielt die Idee der Meritorik dort eine Rolle? Und was halten Sie davon? Darf der Staat seine Bürger bevormunden, oder muss er sich vor sich selbst schützen?
Marktversagen oder Politikversagen? Lassen Sie uns eine weitere Variante des politischen Marktversagens diskutieren – das Versagen der Märkte für Stimmzettel. Vieles von dem, was in der Politik läuft, lässt sich möglicherweise dadurch erklären, dass auch eine Demokratie Funktionsstörungen haben kann. Und diese Funktionsstörungen werden unter dem Begriff „Neue Politische Ökonomie“ diskutiert. Man untersucht einfach den politischen Betrieb mit Hilfe der Instrumente der Ökonomie – und was kommt dabei heraus? Schaut man sich zunächst einmal den Wähler an, so ergibt sich ein interessanter Befund: Wählen gehen lohnt sich nicht. Warum? Ganz einfach: Wer seine Stimme qualifiziert abgeben will, muss sich über die Programme aller zur Wahl stehenden Parteien informieren, gegeneinander abwägen und dann eine rationale Entscheidung treffen. Das ist extrem aufwendig, vor allem angesichts der Tatsache, dass die eigene Stimme nur eine unter vielen Millionen ist, also nur einen geringen Einfluss auf das Wahlergebnis hat. Ökonomisch betrachtet ist das wenig sinnvoll: man verbringt Stunden damit, sich über alle Parteiprogramme zu informieren, geht wählen – und hat einen verschwindend geringen Einfluss auf das Wahlergebnis. Aus individueller Perspektive betrachtet ist das in den wenigsten Fällen lohnend. Eigentlich kennen Sie dieses Dilemma bereits: Den Aktionären der Unternehmen geht es genauso, wenn Sie über das Gehalt des Vorstands entscheiden sollen – das haben wir bei der Debatte um den Shareholder-Value bereits gesehen. Diese Überlegungen helfen zu erklären, warum die Werbung der Politiker immer mehr der Werbung für Waschmittel oder sonstige Konsumartikel ähneln („Wir in Europa“; „Deutschland kann mehr“): Man verkauft keine komplizierten Ideen oder Argumente, sondern ein schönes Produkt, einen
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Der Staat greift ein: Schutz Minderjähriger
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flotten Kandidaten oder eine einfache, einleuchtende Ideologie („Mehr Steuern für Reiche“). Dadurch entbindet man den Wähler von der Notwendigkeit, die Parteiprogramme zu studieren, er muss sich nur überlegen, wen er hübscher findet, welche Werbung ihn mehr anspricht oder welche Ideologie seinem Weltbild entspricht. Wahlwerbung in Form von Waschmittelslogans sorgt dafür, dass der Wähler nicht mehr den mühsamen Weg gehen muss und in stundenlanger Muße die Parteiprogramme zu studieren und zu bewerten. Man entscheidet mit Bauchgefühl, wenig Aufwand, der dem geringen Ertrag der eigenen Wahlstimme – was ist eine Stimme bei 62 Millionen Wahlzetteln? – gerecht wird. Für die Politiker sind die Anreize ebenfalls klar: Sie wollen wiedergewählt werden, also die Zahl der Stimmen maximieren, die sie für ihre Politik erhalten. Und das führt dazu, dass einzelne Interessengruppen einen überproportionalen Einfluss auf die Politik gewinnen.
In der Praxis: Politik und das Beach-Location-Game Ein 100 Meter langer Strand ist rechts und links durch Felsen begrenzt. Der Strand ist gleichmäßig gefüllt mit Badegästen. An diesem Strand wollen zwei Eisverkäufer möglichst viel Eis an den Feriengast bringen. Wo werden sie sich mit ihrem Stand aufstellen? Rein rechnerisch wäre es am besten, wenn sie sich den Strand in eine rechte und eine linke Hälfte von jeweils 50 Meter aufteilen und ihren Eisstand in der Mitte dieser Hälften – bei 25 Meter und bei 75 Meter – aufbauen. Beiden haben dann gleich große Einzugsgebiete und werden gleichviel Eis verkaufen, und der Weg ist für alle Badegäste am geringsten. Wenn aber ein Eisverkäufer mehr Eis verkaufen möchte als sein Konkurrent, so wird er ein wenig weiter in Richtung Mitte rücken, um dem Eisverkäufer in der anderen Strandhälfte Kunden abzujagen. Wenn der Eisverkäufer in der anderen Strandhälfte das bemerkt, so wird er ebenfalls in Richtung Mitte wandern. Das Ergebnis dieses Prozesses wird sein, dass am Ende beide Eisverkäufer ihren Stand in der Mitte des Strands aufschlagen werden. Dieses Gedankenspiel kann erklären, warum politische Parteien im Wettbewerb um Wählerstimmen immer mehr in die politische Mitte rücken und ununterscheidbar werden: Je weiter man sich vom linken (oder rechten) Rand zur Mitte bewegt, um so mehr Wähler kann man erreichen – die Parteien verhalten sich wie die Eisverkäufer. Diese Erklärung könnte helfen zu verstehen, warum sich beispielsweise die deutschen Sozialdemokraten zeitweise mehr zur politischen Mitte bewegten – indem sie als sozialdemokratische Partei die Agenda 2010 ins Leben riefen. Allerdings ist dieses Kalkül nicht aufgegangen, weil mit der Linkspartei sozusagen ein neuer Eisverkäufer auftaucht, der nun die Kunden (Wähler am linken Rand abfischt). Literatur dazu: (Harold Hotelling, Stability of competition, Economic Journal 1929, pp. 41–57)
9 Rauchen, Alkohol und Umverteilung: politisches Marktversagen
Den geringen Anreizen der Bürger, sich umfassend über Politik zu informieren, stehen nämlich hohe Anreize einzelner Bevölkerungsgruppen gegenüber, Einfluss auf die Politik zu nehmen. Einzelne Interessengruppen – umgangssprachlich auch Lobbies genannt – haben große Vorteile davon, sich in die Politik einzumischen und Vergünstigungen, Subventionen oder sonstige politische Leckerli von der Politik zu erstreiten. Warum ist klar: Hier geht es um zumeist kleine Gruppen, die alle von politischen Geschenken profitieren, weswegen man sie auch leicht organisieren und ihnen politische Schlagkraft verleihen kann. Haben Sie sich beispielsweise nie darüber gewundert, dass es in Deutschland ein Ministerium gibt, das die Landwirtschaft im Titel führt, obwohl es nur noch wenige Landwirte in Deutschland gibt? Das erklärt sich über die Anreize, denen Verbraucher und Landwirte ausgesetzt sind: Die wenigen Landwirte profitieren allesamt, wenn der Staat sie beschenkt, und zwar erheblich. Dem stehen viele Verbraucher gegenüber, die sich erstens nicht organisieren lassen (wie sollen der Kartoffelkonsument in München und der Apfelesser in Hamburg denn zusammenfinden?) und zweitens nur geringe Nachteile davon haben, wenn der Staat sein Füllhorn über einer Interessengruppe ausschüttet. Das ist das subtile an der Politik: Wenn ein Minister freudestrahlend vor die Presse tritt und verkündet, dass man ein paar Millionen für die gebeutelten Bauern, Autobauer, Banken, Schauspieler oder Zuckerrübenhersteller spendiert, so profitiert davon eine spezielle Bevölkerungsgruppe spürbar. Die Rechnung aber bezahlen alle Bürger über ihre Steuererklärung. Doch erstens steht im Steuerbescheid nicht explizit, dass ein Teil der Steuer dafür verwendet wurde, den Milchbauern zu helfen (obwohl das so ist), und zweitens machen die Hilfen für die Milchbauern nur einen kleinen Teil der Steuerrechnung aus – lohnt es sich für den Wähler, deswegen auf die Barrikaden zu gehen? Eher nein. Und genau das ist das perfide daran: Für die Lobby-Organisation lohnt es sich erheblich, um die Gunst der Politiker zu buhlen, und der Widerstand der anderen Wähler wird gering sein, weil sie sich erstens nicht gut organisieren können, zweitens die Kosten, die man ihnen damit auferlegt oft nicht spüren oder sehen und drittens diese Kosten für sie persönlich so gering sind, dass es sich nicht lohnt, dafür auf die Barrikaden zu gehen. Unter dem Strich sehen wir eine Asymmetrie in der Organisierbarkeit und Dringlichkeit der Interessen: Während Lobbies und Interessenvereinigungen sich gut organisieren lassen und deutlich davon profitieren, wenn der Staat ihnen beispringt, lassen sich die Wähler und Steuerzahler, die das alles bezahlen, schlecht organisieren und die Kosten, die ihnen dadurch entstehen, sind erstens oft nicht sichtbar und zweitens pro Kopf zu gering, als dass man dafür auf die Straße gehen würde. Und das erklärt, warum es reicht, wenn 300 Milchbauern vor den Landtag ziehen – und schon macht die Regierung ein paar Millionen locker. Die Lobbies sind zufrieden, und die Wähler werden diese Subventionen nicht per Stimmzettel bestrafen, nicht zuletzt vermutlich deswegen, weil sie auch darauf hoffen, dass ihre Branche auch einmal an der Reihe sein wird, wenn es darum geht, staatliche Leckerli zu verteilen.
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Und wo bitteschön ist hier die Mitte?
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Wenn diese politischen Mechanismen so stimmen, könnte das erklären, warum der Staat in vielen Bereichen interveniert – nicht, weil der Markt dort versagt, sondern weil man die Ergebnisse des Marktes nicht akzeptiert und die Politiker über eine entsprechende Politik die Wahlen gewinnen wollen. Die protestierenden Gruppen sind zufrieden, und der Wähler merkt gar nicht, dass er die Zeche zahlt und stimmt deswegen weiter für seine Partei.
Arbeitsauftrag 23 Suchen Sie nach Fällen, wo der Staat in Märkte eingreift, um einzelnen Interessengruppen zu helfen. Überzeugen Sie die Argumente, mit denen dieser Eingriff gerechtfertigt wird? Oder werden hier einzelne Interessengruppen bedient; versuchen Politiker, ihre Ausgangslage für die nächste Wahl zu verbessern? Die beste Literatur dafür ist die ständig aktualisierte Fassung der öffentlichen Liste über die Registrierung von Verbänden und deren Vertretern, die vom Präsidenten des Deutschen Bundestages geführt wird; (URL: http://www.bundestag.de/dokumente/parlamentsarchiv/sachgeb/lobbyliste/lobbylisteaktuell.pdf).
Diese Idee, dass politische Mechanismen für Eingriffe in Märkte verantwortlich sind, werden wir im zweiten Teil des Buches wieder aufgreifen, wenn wir darüber sprechen, welche Rezepte es gegen Arbeitslosigkeit gibt. Hier sei es erst einmal genug; Zeit, sich der letzten Kategorie von politischem Marktversagen zu widmen.
Schröder rettet Holzmann (vorläufig)
Armut und Reichtum. Hier können wir auf Erläuterungen zurückgreifen, die wir bereits im 2. Kapitel gemacht haben – und sie sinnvoll ergänzen. Wir haben ja bereits gesehen, dass Märkte auf dem sozialen Auge blind sind, sie verteilen ihre Belohnungen nur nach Maßgabe der Leistung, die jemand am Markt erbringt; und diese Leistung ist die Beseitigung von Knappheit. Ist er im Besitz eines knappen Gutes, dann wird er hoch entlohnt (wir wissen auch, warum), hat er nichts zu bieten, dann erhält er keinen Lohn. Dieser Mechanismus ist für einen Markt unabdingbar, denn die Belohnung ist der Anreiz dafür, dass man auf dem Markt tätig ist; würde dieser Anreiz entfallen, würde der Markt nicht mehr funktionieren. Aus politischer, gesellschaftlicher Sicht, aber auch aus ethischer Sicht ist das kein schönes Ergebnis, denn was ist mit den Menschen, die nicht im Besitz knapper Güter sind? Ihnen kann der Markt nicht weiter helfen. Das ist also schon eine Form von Marktversagen, allerdings kein Versagen des Marktmechanismus, sondern ein Versagen des Marktes, das bereitzustellen, was gesellschaftlich erwünscht ist: eine Existenzgrundlage für alle Bürger. Keine Frage, es besteht Konsens darüber, dass eine Gesellschaft keines ihrer Mitglieder im Regen stehen lässt; auch wenn manche Bürger nicht die Fähigkeit haben, sich über den Markt selbst zu ernähren, so soll doch für sie gesorgt werden. Das ist zum einen ein Gebot der Ethik, Moral oder Religion, ein Wertekonsens
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der meisten Staatswesen, zum anderen auch eine Frage der Solidarität: Jeder steht für den anderen ein, wenn Not auftritt, was zugleich bedeutet, dass jeder darauf zählen kann, dass ihm geholfen wird, wenn er selbst in Not gerät. Zudem kann eine Schicht von Menschen, die vom Wohlstand eines Landes ausgeschlossen wird, leicht zu politischen Unruhen führen. Aus dieser Perspektive sind die Ergebnisse des Marktes, die rein auf die Leistung des einzelnen am Markt abstellen, politisch und gesellschaftlich nicht akzeptabel, weswegen man sie korrigiert. Wir wollen im Folgenden darüber nachdenken, warum einzelne Menschen nicht in der Lage sind, sich über den Markt zu ernähren; das wird uns Hinweise geben, wie wir diesem Problem begegnen können.
In der Praxis: Armut in Deutschland – die Datenquellen Wer etwas über Armut in Deutschland erfahren will, braucht dazu natürlich Zahlen. Die sind nicht so einfach zu beschaffen, wie man sich das immer vorstellt. Eine häufig verwendete Datenbasis ist das sozio-ökonomische Panel (SOEP), eine vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) seit 1984 regelmäßig durchgeführte Erhebung. Eine weitere Quelle für Daten ist die amtliche Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS), die allerdings nur alle fünf Jahre durchgeführt wird und der so genannte Mikrozensus, eine stichprobenartige Befragung. Eine weitere Datenquelle sind die Statistics on Income and Living Conditions (EU-SILC), eine amtliche Statistik, die EU-weite Vergleiche erlaubt. Offizieller Lieferant von Daten ist natürlich das Statistische Bundesamt (www.destatis.de); weitere Quellen zu allgemeinen wirtschaftspolitischen Fragestellungen liefern die deutschen Forschungsinstitute wie das ifo-Institut (www.ifo. de), das DIW (DIW-Berlin.de), das Institut der deutschen Wirtschaft (www.iwkoeln.de), das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung (http://www.rwi-essen.de/), das Institut für Wirtschaftsforschung Halle (http://www.iwh-halle.de/) oder das Zentrum für europäische Wirtschaftsforschung (www.zew.de). Ausführliche Berichte zu Fragen der Einkommensverteilung (und vieles mehr) finden sich in den Gutachten des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de); die wohl umfangreichste Quelle zur deutschen Armutsforschung ist wohl der Armuts- und Reichtums-Bericht der Bundesregierung, zu finden im Internet unter (http://www.bmas.de/DE/ Service/Publikationen/forschungsbericht-der-3-armuts-und-reichtumsbericht-der-bundesregierung.html).
Ursachen von Armut. Eine der Hauptursachen (wenn nicht die Hauptursache) für Armut in Deutschland ist Arbeitslosigkeit. Das ist nicht verwunderlich: Wer kein Einkommen hat, wird arm. Vor allem Langzeitarbeitslosigkeit – die Dauer der Arbeitslosigkeit überschreitet ein Jahr – führt zu
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Armut. Ein zweiter, wichtiger Grund für Armut ist die Scheidung; vor allem, wenn Kinder im Spiel sind. Der Grund ist einfach: Leben mehrere Personen in einem Haushalt zusammen, entstehen (wie bei den Unternehmen) Fixkostendegressionen – Waschmaschine, Herd und all die anderen Dinge müssen nur einmal angeschafft werden und die Miete steigt mit der Größe der Wohnung unterproportional. Bricht ein Haushalt durch Trennung oder Scheidung auseinander, so braucht man zwei Wohnungen, zwei Waschmaschinen und so weiter – zwei komplette Haushalte. Darüber hinaus kann der Partner, der die Erziehung der Kinder übernimmt, nicht oder nur eingeschränkt arbeiten gehen, unter anderem, weil die Betreuungsmöglichkeiten für kleine Kinder außerhalb des Haushalts in Deutschland nicht besonders gut ausgebaut sind. Das Resultat: Alleinerziehende haben mithin das größte Armutsrisiko. Weitere wichtige Ursachen von Armut sind private Lebensumstände wie Krankheit oder Invalidität; aber auch unglückliche private Lebensumstände: Der Verlust des Partners oder enger Angehöriger beispielsweise kann bei sensibleren Menschen dramatische Folgen haben, man gibt sich auf, bisweilen kommt noch Alkohol ins Spiel – und dann führt die Spirale geradewegs nach unten. Versucht man, die Ursachen der Armut etwas allgemeiner zu erfassen, so ist eine Ursache von Armut das, was Ökonomen „Employability“ nennen, also die Möglichkeit, jemanden zu beschäftigen: Es gibt – aus welchem Grund auch immer, Pech, Krankheit, Lebensumstände – Menschen, die keiner geregelten Arbeit nachgehen können. Möglicherweise sind sie körperlich oder geistig krank oder aber ihre Gemütsverfassung oder Sozialisation lassen das nicht zu. Das ist tragisch, und keine Frage, diesen Menschen wollen wir helfen; auch wenn wir die Frage, wie wir dies tun, noch einen Moment zurückstellen wollen. Eine zweite Frage danach, was Menschen arm macht, ist die Frage nach der so genannten „earnings capacity“, nach den Einkommenserzielungsmöglichkeiten eines Menschen. Wonach bestimmt sich die Fähigkeit eines Menschen, am Markt Einkommen zu erzielen? Früher waren vor allem Geschicklichkeit und Muskelkraft gefragt; wer stark und handwerklich begabt war, war reich. Heute sind es eher geistige und soziale Fertigkeiten, die man benötigt: Wer eine rasche Auffassungsgabe hat, komplizierte Zusammenhänge durchschauen und wiedergeben kann, hat bessere Chancen am Arbeitsmarkt als der wortkarge, muskelbepackte Hufschmied. Die „earnings capacity“, die Fähigkeit, ein Einkommen zu erzielen, ist also an die individuellen Fertigkeiten und Fähigkeiten des Einzelnen gebunden. Doch welche Fähigkeiten bringen ein hohes Einkommen? Diejenigen natürlich, die am gefragtesten sind, und das sind jene, die am besten dabei helfen, Knappheit zu reduzieren. Und das, was Knappheit ist, definiert sich auch im aktuellen Umfeld und Kontext. Die „earnings capacity“ eines Menschen hängt also zum einen von seinen individuellen Fähigkeiten, zum anderen aber auch von den Bedürfnissen der Gesellschaft ab, in der er zu Hause ist.
9 Rauchen, Alkohol und Umverteilung: politisches Marktversagen
Wer zur richtigen Zeit mit den richtigen Fähigkeiten lebt, braucht vor Armut keine Angst zu haben. Wer jedoch zur falschen Zeit mit den falschen Fähigkeiten lebt, ist davon schon eher betroffen.
In der Praxis: Äquivalenzprinzip oder Leistungsfähigkeitsprinzip? Wie sollte man die Leistungen, welche der Staat seinen Bürgern erbringt, finanzieren? Hier gibt es zwei Prinzipien: Das Äquivalenzprinzip postuliert, dass diejenigen, die viel vom Staat profitieren, auch viel an ihn zahlen: Wer viel (wenig) einzahlt, erhält auch viele (wenige) Leistungen. Das Gegenteil einer äquivalenten Finanzierung ist eine Finanzierung gemäß dem Leistungsfähigkeitsprinzip : Jeder Bürger leistet seinen Beitrag zu den staatlichen Leistungen nach Maßgabe seiner Leistungsfähigkeit, also nach der Höhe seines Einkommens. Wer viel verdient, soll viel zur Solidargemeinschaft beitragen. Beide Prinzipien haben ihre Vor- und Nachteile: Die Finanzierung nach dem Äquivalenzprinzip hat weniger Widerstand von Seiten der Beitragszahler zur Folge, weil sie wissen, dass ihren Zahlungen auch Gegenleistungen gegenüberstehen. Das Leistungsfähigkeitsprinzip hat demgegenüber den Vorteil, dass es einer in westlichen Gesellschaften weit verbreiteten Idee der Gerechtigkeit und Solidarität entgegenkommt: Wer viel hat, möge auch mehr geben. Ein einfaches Beispiel illustriert die beiden Ideen: Wenn der Staat Kindergärten baut, sollten dann diejenigen, deren Kinder dieser Einrichtungen nutzen, auch dafür bezahlen – sagt jedenfalls das Äquivalenzprinzip. Doch jetzt werden einige von Ihnen sicherlich sofort innere Widerstände gegen die Idee eines bezahlten Kindergartens entwickeln: Was ist mit den Kindern ärmerer Familien – wie sollen die das denn bezahlen? Wäre es nicht eher gerecht, dass derjenige, der es sich leisten kann, dafür bezahlt, während die ärmeren Kinder davon freigestellt werden? Das wäre jedenfalls die Forderung, wenn man nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip vorgeht. So merkwürdig das klingt, auf ihre Art sind beide Wege der Finanzierung gerecht – der Bezahlkindergarten für alle ist aus Gesichtspunkten der Äquivalenz gerecht, Bezahlkindergärten für Reiche und freie Kindergärten für Arme führen aus der Perspektive der Leistungsfähigkeit zu Gerechtigkeit. Der Vorteil der äquivalenten Finanzierung besteht darin, dass keine Finanzierungslücken entstehen. Bei einem Kindergarten, der sich nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip finanziert, wird das nur der Fall sein, wenn die Leistungsfähigen in einem solchen Umfang zur Kasse gebeten werden, dass es ausreicht, aus deren Beiträgen auch die Nichtzahler mitzufinanzieren. Hier kollidieren also zwei Ziele miteinander: Das Umverteilungsziel lässt sich mit Hilfe des Leistungsfähigkeitsprinzips recht gut erreichen, wer aber eine wirtschaftlichere Finanzierung anstrebt, wird unwillkürlich beim Äquivalenzprinzip landen. Leider lassen sich beide Prinzipien nicht miteinander in Einklang bringen. Welche Form der Finanzierung halten Sie für fair und gerecht?
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Teil 1: Mikroökonomie
Was ist Armut? Was genau ist eigentlich Armut? Die erste Assoziation, die man zu diesem Begriff hat, ist eine existenzielle Notlage – arm ist, wer nicht genügend Mittel zum Überleben hat. Dies wird auch als physisches Existenzminimum bezeichnet, ein Minimalstandard, der zum körperlichen Überleben unabdingbar ist und Güter wie Nahrung, Kleidung oder Unterkunft umfasst. Sieht man von den wohnsitzlosen Menschen ab, so ist das physische Existenzminimum in der Bundesrepublik eigentlich jedem Bürger gesichert. Das ist der elementarste und unmittelbarste Ausdruck unseres Wohlfahrtsstaats und unserer Solidarität: Die Gemeinschaft lässt niemanden verhungern, gleichgültig, warum er in diesen Zustand gekommen ist. Gott sei Dank geht es uns in der Bundesrepublik so gut, dass wir eher über ein so genanntes soziokulturelles Existenzminimum sprechen. Es gehört zu unseren Grundnormen, Menschen in Würde leben zu lassen – und dazu gehört mehr als Essen, Kleidung und ein Dach über dem Kopf. Menschen sollen auch am sozialen Leben teilhaben – arm ist nach dieser Idee, wem die nötigen Mittel fehlen, um am sozialen Leben teilzuhaben. Aber was braucht der Mensch zur Teilhabe am sozialen Leben? Braucht er ein Telefon? Sicher. Einen Fernseher? Vermutlich auch. Was ist mit Theaterbesuchen? Kino? Konzerte? Videorekorder? PCs mit Internetanschluss? Das Problem am soziokulturellen Ansatz liegt darin, dass sich der gesellschaftlich notwendige Bedarf nach dem Lebensstandard der Gesellschaft richtet und nicht immer eindeutig bestimmt werden kann. Zudem definiert sich der notwendige soziokulturelle Bedarf sehr individuell. Der Sportler hat andere existentielle Bedürfnisse als der Kulturmensch oder der Naturfreund. Abgesehen davon, dass sich der soziokulturelle Mindestbedarf ständig wandelt, wird man kaum Einigkeit darüber erzielen, was als ein solcher sozial unabdingbarer Bedarf anzusehen ist. Relativer Armutsansatz. Eine andere Möglichkeit, Armut zu definieren, besteht darin, sie im Verhältnis zum Wohlstand der Bevölkerung zu sehen: Arm ist derjenige, der weniger als die anderen hat. Dies ist der so genannte relative Armutsansatz, den wir uns einmal näher anschauen wollen. Die in diesem Konzept zumeist verwendete Definition von Armut zielt auf das Durchschnittseinkommen einer Volkswirtschaft ab. Danach gilt jemand als arm, wenn sein Einkommen (welches Einkommen wir nehmen, diskutieren wir weiter unten) weniger als 60 Prozent (manche Quellen nehmen auch 50 Prozent) des Durchschnittseinkommens beträgt (oder man nimmt statt dem Durchschnitt den so genannten Median, das ist der Wert, der die der genau in der Mitte aller beobachteten Werte liegt: Wenn man die gesamten Einkommen aller Bürger der Höhe nach anordnet, dann haben 50 Prozent der Bürger weniger und 50 Prozent mehr als das Medianeinkommen.). Am besten, wir machen uns das anhand eines einfachen Beispiels klar. Dazu brauchen wir Tabelle 22.
9 Rauchen, Alkohol und Umverteilung: politisches Marktversagen
Person
Einkommen 2009
Einkommen 2010
Einkommen 2011
Tick
1
10
16
Trick
2
20
2
Track
3
30
3
Durchschnitt
2
20
7
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Tabelle 22: Armut in Entenhausen
In unserer fiktiven Volkswirtschaft gebe es drei Bürger, Tick, Trick und Track. Im Jahr 2009 verdient Tick nur einen Euro, Trick zwei Euro, und Track drei Euro. Das macht ein Durchschnittseinkommen von 2 Euro (wir addieren alle Einkommen, das macht insgesamt 6, und dividieren dies durch die Zahl der Einkommensbezieher, das sind drei, macht einen Durchschnitt von 2). Damit ist Tick arm, wenn wir zugrunde legen, dass jemand, der nur 50 Prozent des Durchschnittseinkommens verdient, als arm gilt. Tick verdient einen Euro, das Durchschnittseinkommen beträgt zwei Euro, also hat Tick gerade nur die Hälfte des Durchschnittseinkommens. Damit ist einer von dreien in Entenhausen arm, das macht eine Armutsquote von 33 Prozent. Jetzt passiert etwas Nettes: Der reiche Onkel der drei (der wohnt aus steuerlichen Gründen im Ausland) beschließt, jedem der drei Racker das Einkommen zu verzehnfachen; im nächsten Jahr verdient also Tick 10 Euro, Trick 20 Euro und Track 30 Euro – das Durchschnittseinkommen hat sich also auf 20 Euro verzehnfacht. Und trotzdem: Wenn wir nun wieder hinschauen, sehen wir, dass Tick immer noch arm ist, denn sein Einkommen beträgt nun 10 Euro, aber das Durchschnittseinkommen beträgt nun 20 Euro, und Tick hat immer noch nur die Hälfte des Durchschnitts und bleibt arm. Obwohl sich also das Einkommen aller Beteiligten verzehnfacht hat, hat sich an der Armutsquote nichts verändert. Im folgenden Jahr aber passiert etwas Spannendes: Zuerst sinkt das Einkommen der drei wieder auf die Werte von 2009, da das Geschenk des Onkels nur vorübergehender Natur war. Doch es passiert noch etwas: Tick hat ein Buch geschrieben über Armut in Entenhausen, das auf den Bestsellerlisten gelandet ist – sein Einkommen steigt auf schwindelerregende 16 Euro. Rechnen wir nun wieder das Durchschnittseinkommen aus, so kommen wir auf 7 Euro (16 plus 2 plus 3, dividiert durch 3 Köpfe). Tick ist definitiv nicht mehr arm, aber was ist mit Trick und Track? Beide verdienen nun deutlich weniger als die Hälfte des Durchschnittseinkommens und gelten demnach als arm – unsere Armutsquote liegt nun bei 66 Prozent, denn zwei von drei Bürgern sind nun arm. Ein schräger Befund: Obwohl Tick reicher geworden ist, steigt die Armut. Und noch skurriler: Nehmen wir Tick das Geld einfach weg und verbrennen es, sinkt unsere Armutsquote wieder. Der Grund für dieses merkwürdige Verhalten der Armutsquote liegt darin, dass es sich nicht um eine Armutsquote handelt, sondern um ein Verteilungsmaß. Diese Kennziffer zeigt uns,
Der reiche Onkel © Disney
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wie die Einkommen in einer Gesellschaft verteilt sind. Armut wird in diesem Konzept zu einem statistischen Phänomen; denn wo immer es einen Durchschnitt gibt, gibt es Personen, die unterdurchschnittlich verdienen. Damit die Armut nach diesem Konzept verschwindet, muss die Einkommensverteilung gleichförmig sein – wenn alle Personen das gleiche Einkommen haben, verdient niemand mehr unterdurchschnittlich.
In der Praxis: Armutsbekämpfung in Deutschland Wer arbeitsfähig ist, aber über kein oder ein zu geringes Einkommen verfügt, hat ein Anrecht auf Arbeitslosengeld II, das der Staat gewährt, um den Lebensunterhalt zu sichern. Dabei handelt es sich um einen pauschalen Betrag, mit dem alle notwendigen Bedarfe gedeckt werden sollen, beispielsweise Nahrungsmittel, Kleidung, Körperpflege und Hausrat. Gesonderte Bedarfe wie etwa die Erstausstattung einer Wohnung oder die Finanzierung einer Klassenfahrt werden gesondert gewährt; die Kosten für Miete und Energie werden gesondert erstattet. Auch eine Teilnahme am kulturellen Leben und Kontakte zur Umwelt sind darin berücksichtigt – der Staat will auf diesem Weg ein menschenwürdiges Leben ermöglichen. Grundsätzlich haben alle erwerbsfähigen Arbeitsuchenden, die hilfebedürftig sind, ein Recht auf diese staatliche Grundsicherung. Wer die Altersgrenze erreicht hat oder wegen Erwerbsminderung auf Dauer aus dem Erwerbsleben ausscheidet und seinen Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten kann, erhält die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Kinder und Erwachsene, die unter 65 Jahren sind und zeitweise voll erwerbsgemindert sind, erhalten die so genannte Hilfe zum Lebensunterhalt.
9 Rauchen, Alkohol und Umverteilung: politisches Marktversagen
Armut als Mangel an Verwirklichungschancen. Nach dieser Idee, die auf den Nobelpreisträger Amartya Sen zurück geht, lässt sich Armut als ein Mangel an Verwirklichungschancen interpretieren. Verwirklichungschancen sind die Möglichkeiten oder Fähigkeiten von Menschen, ein Leben zu führen, für das sie sich selbst entschieden haben, und das die Grundlagen ihrer Selbstachtung nicht in Frage stellt. Die Verwirklichungschancen eines Menschen werden bestimmt durch seine individuellen Potenziale wie sein Einkommen oder sein Vermögen, seine Güterausstattung oder seine Gesundheit oder Bildung. Ob ein Mensch aber seine individuellen Potenziale in Verwirklichungschancen umsetzen kann, hängt auch von den gesellschaftlich bedingten Chancen ab. Das sind unter anderem soziale Chancen (der Zugang zum Bildungs- und Gesundheitssystem sowie zu angemessenem Wohnraum), die ökonomischen Chancen (beispielsweise die Integration in oder Ausgrenzung vom Erwerbsleben), der soziale Schutz (soziale Sicherheit und Schutz vor Kriminalität), der ökologische Schutz, politische Chancen und Teilhabe am politischen Leben. Der Staat kann vor allem an letzterem ansetzen, indem er versucht, die gesellschaftlichen Bedingungen zu verbessern, die es dann jedem Menschen erlauben, im Rahmen seiner Möglichkeiten das zu werden, was er gerne sein würde. Darüber hinaus kann er natürlich versuchen, die individuelle Ausstattung des einzelnen zu verbessern, um seine Startchancen zu verbessern. Gleichheit und Umverteilung. Die Überlegungen zur relativen Armut stoßen uns noch auf ein weiteres Problem, das der Markt ebenfalls nicht bewältigen kann: Gleichheit. Märkte verteilen Einkommen grundsätzlich nach der Leistung (also Beseitigung von Knappheit), und da Menschen eine unterschiedliche Leistungsfähigkeit haben, haben sie auch unterschiedliche Einkommen. Diese Einkommensunterschiede können – aus politischer und gesellschaftlicher Sicht – zu groß werden, so dass der Staat korrigierend eingreifen muss. Auch hier liegt also kein Marktversagen in dem Sinne vor, dass der Preismechanismus oder der Wettbewerb nicht funktionieren, alleine die Ergebnisse des Wettbewerbs sind aus unserer Sicht nicht akzeptabel. Politisch gesehen ist also gewünscht, dass die Ungleichheit innerhalb der Bevölkerung nicht zu groß wird. Dabei kann man sicherlich sagen, dass eine zu ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen zu sozialem Unfrieden führen können – auch wenn man sicherlich keinen Konsens darüber finden wird, was denn „zu groß“ bedeuten soll. Auf der anderen Seite kann man sicherlich auch sagen, dass eine zu große Umverteilung der Markteinkommen dazu führt, dass die Anreize, zu arbeiten und sich anzustrengen zu gering werden – dann wird vielleicht die Einkommensverteilung gleicher, aber alle werden ärmer. Zwischen diesen beiden Polen bewegt sich also die Politik der gezielten Umverteilung: Fällt sie zu gering aus, dann gibt es Unfrieden und Unruhen, fällt sie zu hoch aus, dann gibt es keine Anreize mehr, zu arbeiten (und vermutlich Schwarzarbeit und Steuerflucht). Aber welches das richtige Niveau an Umverteilung ist, kann niemand objektiv sagen.
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Doch nicht nur das: Schon die Messung von Ungleichheit ist mit einigen Schwierigkeiten behaftet. Eine Maßzahl für die Gleichheit einer Gesellschaft haben wir jetzt bereits kennen gelernt, nämlich die Armutsdefinition nach dem relativen Armutskonzept: Arm ist, wer weniger als 50 Prozent (oder 60 Prozent) des Durchschnittseinkommens (oder Medianeinkommens) verdient. Doch so einleuchtend diese Kennziffer auch wirken mag, sie wirft einige Probleme auf:
Warum 50 Prozent oder 60 Prozent? Genauso gut kann man 40 oder 70 Prozent ansetzen, oder 53,3 Prozent – dafür gibt es keine objektive Erklärung. Und wer mit Zahlen mogeln will, nimmt einfach den Prozentsatz, der die Ergebnisse bringt, die einem politisch genehm sind oder mediale Aufmerksamkeit erregen.
Median- oder Durchschnittseinkommen? So technisch das klingt, so wichtig wird das für die Ergebnisse; je nachdem, ob man den Median oder den Durchschnitt nimmt, ändern sich die Ergebnisse deutlich.
Welches Ausmaß an Gleichheit ist denn richtig? Sind 10 Prozent Arme nach relativer Einkommensdefinition viel? Wenig? Richtig? Auch das entzieht sich einer objektiven Würdigung.
In der Praxis: Viermal Armut in der Bundesrepublik Zählt man die verschiedenen Möglichkeiten, relative Armut zu messen, zusammen, so kommt man auf verschiedene Möglichkeiten: 50 oder 60 Prozent des Einkommens als Schwelle; den normalen Durchschnitt (das arithmetische Mittel) oder den Median als Referenzwert für das Durchschnittseinkommen. Wie viel Unterschied kann das ausmachen? Eine ganze Menge: Für das Jahr 1998 lassen sich so vier verschiedene Armutsquoten ermitteln. Setzt man 50 Prozent des Durchschnittseinkommens an, so belief sich die Armutsquote auf 10,1 Prozent, wählte man stattdessen das Medianeinkommen, dann waren es 5,7 Prozent. War man der Ansicht, dass arm ist, wer 60 Prozent des Durchschnittseinkommens hat, dann waren es 19,6 Prozent; wählte man stattdessen das Medianeinkommen, dann waren es 12,4 Prozent. Und „richtig“ sind ja irgendwie alle vier Zahlen – die Spannweite der Armut liegt damit zwischen 5 und 20 Prozent. Auch die Datenerhebung spielt eine wichtige Rolle bei der Bestimmung der Armutsgrenze: Je nachdem, welche Datenquelle man nutzt, können die Ergebnisse recht unterschiedlich ausfallen: Laut EU-SILC lag die Armutsgrenze 2006 bei 781 Euro, bei der EVS 2003 waren es 980 Euro, der Mikrozensus ermittelte für 2005 eine Armutsgrenze von 736 Euro, und das SOEP legte diese Grenze für 2006 auf 880 Euro fest. Die Armutsquote schwankt damit je nach Erhebung zwischen 13 und 18 Prozent. Die Ursache dieser Schwankungen liegt in den unterschiedlichen Stichproben und in den unterschiedlichen Einkommensbegriffen, die diesen Stichproben zugrunde liegen.
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Lassen Sie uns noch ein anderes Maß für die Einkommensverteilung kennen lernen, den so genannten Gini-Koeffizienten. Dazu konstruieren wir zuerst die so genannte Lorenzkurve (Abbildung 45): Man reiht auf der waagrechten Achse die Einkommensbezieher nach der Höhe Ihrer Einkommen aneinander, beginnend mit den Beziehern der niedrigsten Einkommen. Ganz links stehen diejenigen mit den geringsten Einkommen, ganz rechts diejenigen mit dem höchsten Einkommen. Auf der senkrechten Achse trägt man die dazugehörigen Einkommen ab. Der von links gesehen erste Punkt auf der Lorenzkurve ist also der Bürger mit dem geringsten Einkommen; auf der senkrechten Achse kann man dann sein dazugehöriges Einkommen ablesen. Geht man nun einen Punkt weiter und nimmt den zweiten Bürger mit dem zweitniedrigsten Einkommen dazu, so erhält man einen neuen Punkt, der das gemeinsame Einkommen der beiden Bürger mit dem geringsten Einkommen zeigt. Fährt man nun mit diesem Verfahren fort, so erhält man die Lorenzkurve. Den in der Grafik eingetragenen Punkt auf der Lorenzkurve liest sich wie folgt: Die 30 Prozent der ärmsten Einkommensbezieher verfügen zusammen über 20 Prozent der gesamten Einkommen. Wenn die zehn Prozent der ärmsten Einkommensbezieher über 10 Prozent der Einkommen verfügen, die 20 Prozent der ärmsten Einkommensbezieher über 20 Prozent der Einkommen und so weiter, dann wären die Einkommen komplett gleich verteilt – die Lorenzkurve wäre dann die in der Grafik eingezeichnete gestrichelte Diagonale. Die Fläche zwischen der Lorenzkurve und der Linie der absoluten Gleichverteilung sagt also etwas über die Gleichheit der Verteilung aus: je größer diese Fläche ist, umso ungleicher sind die Einkommen verteilt, denn umso größer ist die Abweichung von einer völlig symmetrischen Einkommensverteilung (also der Diagonalen). Eine Maßzahl für diese Fläche ist der sogenannte Gini-Koeffizient – je größer dieser Koeffizient ist, umso größer ist die Fläche und umso ungleicher ist die Einkommensverteilung. Ist der GiniKoeffizient Null, so ist die Fläche zwischen der tatsächlichen Lorenzkurve und der Kurve der absoluten Gleichverteilung Null – die Einkommen sind absolut gleich verteilt. Ist der Gini-Koeffizient eins, so hat die Fläche zwischen der Lorenz-Kurve und der Kurve der absoluten Gleichverteilung ihre maximale Größe erreicht – damit hat dann auch die Einkommensverteilung das Maximum an Ungleichheit erreicht.
In der Presse 8 „`Die gegenwärtige Debatte läuft in völlig falschen Bahnen‘, sagt Bert Rürup, der Vorsitzende des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. `Argumente und Fakten werden verkürzt und populistisch zugespitzt`, kritisiert Rürup. Zwar sieht auch der Darmstädter Ökonom, dass die Verteilung der Bruttoeinkommen in den vergangenen Jahren ungleicher geworden ist. Aber die Spreizung der Nettoeinkommen habe deut-
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Einkommen
20 30 Einkommensbezieher Abbildung 45: Die Lorenzkurve
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lich weniger zugenommen. … Für die Verteilung der Nettoeinkommen in Deutschland ergibt sich ein Gini-Koeffizient von rund 0,32. Kurz nach der Wiedervereinigung lag der Gini-Koeffizient noch unter 0,26. `Die zentrale Ursache dafür ist die Massenarbeitslosigkeit`, erklärt Grabka (Markus Grabka ist Verteilungsforscher am DIW). Sie hat dazu geführt, dass sich Deutschland im internationalen Vergleich verschlechtert hat. In der angelsächsischen Welt weisen die Vereinigten Staaten die höchste Ungleichheit aus; der betreffende Gini-Wert liegt über 0,40. In Europa liegt Deutschland im Mittelfeld, zeigt der Sachverständigenrat in seinem diesjährigen Gutachten unter Berufung auf eine Studie, die Daten des Jahres 2000 auswertet. Die Niederlande und Norwegen haben demnach bei den Nettoeinkommen eine leicht ungleichere Verteilung. Nur in Finnland und in Schweden sind die Nettoeinkommen stärker ausgeglichen. Die Markteinkommen werden in allen westlichen Industriestaaten durch die gewaltige Umverteilungsmaschinerie der Steuerund Sozialsysteme nivelliert. Ohne diese, bei einer Betrachtung der reinen Markteinkommen, läge der Gini-Koeffizient in Deutschland über 0,5 – die Umverteilung reduziert die Ungleichheit mithin um rund 20 Basispunkte.“ (Quelle: Plickert, Philip: „Die Umverteilung der Einkommen funktioniert“, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18.12.2007, Nr. 294 / Seite 13; URL: http://www.faz.net/artikel/C30770/gerechtigkeitsdebatte-die-umverteilung-der-einkommen-funktioniert-30108223. html) © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.
Für die Bundesrepublik bewegt sich der Gini-Koeffizient für Markteinkommen zwischen 0,5 und 0,4. Für die Nettoeinkommen – also die Einkommen nach den staatlichen Umverteilungsmaßnahmen – liegt er bei 0,26 bis 0,32. Der staatliche Eingriff in die Markteinkommen trägt also zu einer massiven Reduktion der Ungleichverteilung bei. Aber jetzt fragen Sie sich natürlich: Ist das viel oder wenig?
In der Diskussion: Die Lohnquote In der Praxis wird oftmals die Lohnquote als verteilungspolitischer Indikator bemüht. Die Lohnquote ist der Anteil der Arbeitnehmerentgelte am Volkseinkommen – man nimmt also die Lohneinkommen und dividiert sie durch das gesamte Volkseinkommen. In der Bundesrepublik lag die Lohnquote 2009 bei 66 Prozent, will heißen: 66 Prozent aller Einkommen in der Bundesrepublik sind Einkommen aus unselbständiger Arbeit, der Rest ist Entlohnung für eingesetztes Kapital und Unternehmerlohn. Als verteilungspolitischer Zeuge ist die Lohnquote ungeeignet, sie macht lediglich Aussagen über die
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funktionelle Verteilung der Einkommen (für was gibt es diese Einkommen?), nicht aber über die personelle Verteilung (wer bekommt diese Einkommen?). So erhalten auch Arbeiter Zinsen oder Gewinneinkommen (beispielsweise in Form von Dividenden, also Gewinnbeteiligungen durch Aktien; Rentner erhalten Zinseinkommen), so dass die Lohnquote kaum dazu taugt, den klassenkämpferischen Gegensatz zwischen „Arbeitnehmerschaft“ und „Kapital“ zu schüren (zumal heute mehr denn je zu fragen ist, was eigentlich ein Arbeiter ist). Zudem führt die Lohnquote leicht in die Irre: Steigt das (Millionen-)Gehalt eines Vorstands eines Unternehmens, der nur angestellt ist, so steigt die Lohnquote, da es sich ja um Arbeitseinkommen handelt. Darüber hinaus muss man bei der Betrachtung der Lohnquote berücksichtigen, wie sich der Anteil der Arbeitnehmer verändert – je mehr Arbeitnehmer und umso weniger Selbständige, umso höher vermutlich die Lohnquote. Um diesem Umstand gerecht zu werden, berechnet man auch die so genannte bereinigte Lohnquote.
Schwer zu sagen, das kommt auf den Vergleich zu anderen Ländern an und auf Ihren Standpunkt. Dabei dürfen Sie nicht vergessen: Bei einem GiniKoeffizient von Null würde jeder Bürger das gleiche verdienen. Wenn wir also den Gini-Koeffizienten interpretieren, müssen wir immer im Hinterkopf haben, dass diese Methoden der Messung der Verteilung als Referenzwert einen Zustand der absoluten Gleichverteilung haben. Diese Indikatoren beschreiben uns nur einen Zustand der Verteilung, aber sie geben uns keinen Hinweis darauf, welches Ausmaß an Verteilung denn nun das „richtige“ ist. Und noch weniger kann er uns sagen, wie wir denn umverteilen wollen – dazu ein paar letzte Gedanken. Ein paar praktische Probleme bei der Umverteilung. Also – nach welchen Kriterien sollen wir umverteilen? Wenn wir eine komplette Gleichver-
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teilung erreichen wollten, müssten wir jedem Menschen den gleichen Einkommensbetrag zahlen. Wir nehmen das Nationaleinkommen, teilen es durch die Bevölkerungszahl, und das Ergebnis ist der Betrag, den wir jedem Bürger zukommen lassen. Eine absolute Gleichverteilung pro Kopf klingt zwar rein rechnerisch gerecht, würde aber auf Proteste stoßen, denn sie berücksichtigt nicht die verschiedenen Bedürfnisse der einzelnen Köpfe – ein Rentner braucht ein anderes Einkommen als ein kleines Kind oder ein Erwachsener. In der Tat: Rentner haben einen anderen Bedarf als Kinder, Kranke benötigen andere Mittel als Berufstätige, und diese haben andere Bedarfe als Arbeitslose. Vor allem die Anzahl der Haushaltsmitglieder ist entscheidend: Großfamilien leben pro Kopf gerechnet günstiger als Ein-Personen-Haushalte – das liegt vor allem an der Miete, der Haushaltseinrichtung und der Lebenshaltung. Eine Fünf-Zimmer-Wohnung ist auf den Quadratmeter gerechnet billiger als das Ein-Zimmer-Appartement. Auch bei vielen anderen Ausgaben des täglichen Lebens leben Familien günstiger: Großpackungen bei den Lebensmitteln, gemeinsame Nutzung des Autos, gemeinsame Arbeiten im Haushalt – als Familie lebt man pro Kopf günstiger. Das sieht man auch so in der Sozialpolitik, weswegen man bei der Ermittlung von Bedarfen so genannte Regelsatzmultiplikatoren verwendet, mit deren Hilfe der Bedarf eines Haushaltes ermittelt wird.
In der Praxis: Regelsatzmultiplikatoren Will man in der Sozialpolitik die unterschiedlichen Bedarfe von Familien und Singles berücksichtigen, so verwendet man sogenannte Regelsatzmultiplikatoren, die man auch Äquivalenzskala nennt. Sie geben an, welches relative Gewicht ein Haushaltsmitglied im Vergleich zur ersten erwachsenen Person des Haushalts erhält. Für jede Person des Haushaltes gibt es einen ihrem Alter (und ihrem damit ihrem vermuteten Bedarf) entsprechenden Multiplikator. Für die erste erwachsene Person liegt er beispielsweise bei eins, für minderjährige Kinder liegt er unter eins, weil man unterstellt, dass Kinder einen geringeren Bedarf haben als Erwachsene. Der Gesamtbedarf der Familie wird ermittelt, indem man den Bedarf des Einzelnen – hier gibt es einen fixen Betrag, den Regelsatz, der gesetzlich definiert ist und über die Zeit angepasst wird – mit seinem persönlichen Multiplikator (seiner persönlichen Äquivalenzziffer) multipliziert. Die erste erwachsene Person erhält also exakt den festgelegten Betrag (er wird ja nur mit eins multipliziert), die minderjährigen Kinder erhalten einen Betrag, der darunter liegt – der Bedarfsbetrag wird bei ihnen mit einer Zahl kleiner als eins multipliziert. Der Gesamtbedarf des Haushaltes ergibt sich dann aus der Summe der äquivalenzzifferngewichteten Regelsätze plus die Kosten von Unterkunft und Heizung.
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Allerdings wird die Berücksichtigung der Bedarfe eines Haushaltes immer nur schematisiert und nie vollständig sein: Wir müssen in die Berechnung des Umverteilungsbedarfes persönliche Lebensumstände, Krankheit, Schicksalsschläge und andere Unwägbarkeiten des Lebens, die den Bedarf des Bedürftigen bestimmen, mitberücksichtigen. Doch solche individuelle Bedarfe lassen sich kaum schematisieren, weswegen man rasch bei einer Betrachtung von Einzelfällen landet. Da erheben sich zwei Fragen: Kann erstens ein Staat jedem seiner Bürger nach Abschätzung seines individuellen Bedarfes das nötige Einkommen zukommen lassen? Und lässt sich zweitens objektiv sagen, was denn der tatsächliche Bedarf eines Bedürftigen ist? Einzelfallgerechtigkeit kann dann rasch zu mehr Ungerechtigkeit führen – eine schwierige Gratwanderung. Und das sind nicht die einzigen Probleme, denn man muss auch über den Zeitraum sprechen, innerhalb dessen die Umverteilung stattfindet. Ein Beispiel: Am 1. Dezember gewähren wir dem Studenten einen Zuschuss zum Lebensunterhalt, weil er wenig verdient. Am 1. Januar des Folgejahres tritt eben jener Student nach Abschluss seines Studiums eine Stelle bei einer Unternehmensberatung an und verdient 50.000 Euro im Jahr. Hätte man den Zuschuss im Dezember noch gewähren sollen? Oder sollte man den Zuschuss wieder zurückfordern, jetzt, wo der Jungakademiker zu einem stattlichen Einkommen gekommen ist? Denkt man dieses Beispiel weiter, so kommt man rasch darauf, dass Bedürftigkeit unter Umständen auch nur ein temporäres Problem ist. Doch wie soll man damit umgehen? Soll man dem Bedürftigen mit Verweis auf seinen späteren Reichtum raten, sein Konto zu überziehen oder ihm die Hilfe nur als Darlehen gewähren? Die Beantwortung dieser Frage hängt einzig davon ab, wie weit wir Gerechtigkeit definieren. Der eine wird auf die akute und aktuelle Bedürftigkeit verweisen und gegen die Kreditlösung votieren, der andere wird die gewährte Hilfe vehement wieder zurückfordern. Welches die richtige Lösung ist, hängt von der individuellen Vorstellung von Gerechtigkeit ab.
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Zusammenfassung 1. Eine politische Kategorie des Marktversagens sind meritorische und demeritorische Güter: Der Staat befindet, dass bestimmte Güter gut (meritorische Güter) oder schlecht (demeritorische Güter) für seine Bürger sind. Der Markt funktioniert hier einwandfrei, lediglich die Ergebnisse des Marktes werden von der Politik nicht akzeptiert. Die Entscheidung darüber, was meritorisch oder demeritorisch ist oder ob der Staat überhaupt eingreifen soll, ist rein normativ und lässt sich nicht objektiv-wissenschaftlich begründen. 2. Ebenfalls eine politische Kategorie des Marktversagens ist das politische Marktversagen: Für den einzelnen Wähler lohnt es sich nicht, sich umfassend politisch zu informieren, kleine, homogene Interessengruppen hingegen haben ein hohes Interesse, politische Entscheidungen in ihrem Sinne zu beeinflussen, und Politiker haben hohe Anreize, dem Drängen einzelner Interessengruppen nachzugeben. 3. Marktversagen liegt bei der Frage der Einkommensverteilung vor – Märkte verteilen nur nach Leistung, wer diese nicht erbringen kann, muss von staatlicher Seite unterstützt werden. Dabei ist es allerdings schwierig festzustellen, wer in welchem Umfang hilfsbedürftig ist und wie viel man an wen umverteilt. Auch die Definition von Armut unterliegt vielen Schwächen und auch politischen Einflüssen.
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Um was geht es? Wie wir gesehen haben, sind Märkte kein Selbstläufer, sondern benötigen in einigen Fällen ergänzende Eingriffe durch den Staat; und wir haben auch einige dieser Fälle nun kennen gelernt. Die Frage, die es nun zu beantworten gilt, ist, wie der Staat eingreifen soll. Natürlich kann man auch darüber diskutieren, wo der Staat eingreifen soll – in den Fällen des ökonomischen Marktversagens ist das kein großer Streitpunkt, beim politischen Marktversagen vermutlich schon eher. Doch wir wollen diese Frage hier einmal beiseitelassen und uns nur darauf konzentrieren, wie denn ein staatlicher Eingriff aussehen soll, wenn man mit dem Ergebnis nicht zufrieden ist. Über dieses „wie“ gibt es unzählige Abhandlungen und Ideen, wir wollen uns hier eine prominente, spezifisch deutsche Idee anschauen, die seit Jahren das Leitmotiv für die deutsche Wirtschaftspolitik darstellt (oder dies zumindest in Sonntagsreden ist) – die Soziale Marktwirtschaft. Dass das „Sozial“ in „Soziale Marktwirtschaft“ groß geschrieben wird, ist kein Schreibfehler, sondern soll zum Ausdruck bringen, dass es sich hier um ein inhaltlich geschlossenes Konzept handelt, das einen eigenen Namen verdient – und Eigennamen schreibt man groß.
Köpfe: Walter Eucken Walter Eucken (1891–1950) ist wohl einer der wichtigsten deutschen Ökonomen und hat die Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik entscheidend geprägt. Der Sohn des Literaturnobelpreisträgers Rudoph Eucken war Frontoffizier im Ersten Weltkrieg; 1925 wurde er nach Tübingen als Professor für Nationalökonomie berufen, 1927 ging er nach Freiburg. Während der nationalsozialistischen Zeit, bis 1944, traf sich Eucken mit Professoren und Pfarrern der bekennenden Kirche im so genannten Freiburger Konzil, wo sie über Ethik und Widerstand diskutierten. Zusammen mit anderen Professoren und Dietrich Bonhoeffer, dem führenden Kopf der bekennenden Kirche, arbeitete Eucken an einem Entwurf zur Neuordnung von Staat, Wirtschaft und Recht. Nach dem Krieg gehörte er zu den Beratern Ludwig Erhards, der mit der Vorbereitung der Währungsreform beauftragt war. Überliefert von Eucken ist ein Zwischenfall aus dem Jahr 1934, als ein nationalsozialistischer Redner in der Universität Heidelberg den versammelten Studenten und Professoren erklärte, dass die alte Nationalökonomie jüdisch, schwächlich, liberalistisch und nicht zu gebrauchen sei. Ein Mann stand auf, schüttelte seine Fäuste und rief „Ich protestiere!“. Es war Walter Eucken.
Walter Eucken Quelle: Walter Eucken Institut
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Geprägt wurde dieser Begriff vom Ökonom Alfred Müller-Armack, der unter Sozialer Marktwirtschaft eine dritte wirtschaftspolitische Form verstand, bei der der Markt zwar das „tragende Gerüst“ darstellt, die aber eine bewusst gesteuerte, sozial gesteuerte Marktwirtschaft sein soll. Einer der führenden Köpfe um die Idee der Sozialen Marktwirtschaft war der deutsche Ökonom Walter Eucken. Das Verdienst, die Ideen der Sozialen Marktwirtschaft in Deutschland umgesetzt zu haben, gehört dem deutschen Wirtschaftswunder-Politiker Ludwig Erhard.
So sehen Wunder aus: Ludwig Erhard
Ihre theoretischen Wurzeln hat die Soziale Marktwirtschaft in der so genannten Freiburger Schule; benannt nach der Universität, auf der Leute wie Walter Eucken und der Jurist Franz Böhm in den dunkelsten Stunden Deutschlands, während der Zeit der Hitler-Diktatur, darüber nachdachten, wie das deutsche Wirtschafts- und Gesellschaftssystem nach dem Ende des tausendjährigen Reiches aussehen sollten. Ein zu dieser Zeit lebensgefährliches intellektuelles Unterfangen. Vielleicht erklärt auch der Eindruck des totalitären Staates, in dem diese Leute lebten, ihre Vorsicht gegenüber staatlichen Lösungen – diese Menschen haben erlebt, welche Folgen ein starker Staat haben kann und wussten, warum sie zentralistischen Lösungen mit einem starken Staat misstrauten. Darüber hinaus waren sie der Auffassung, dass offene, große Gesellschaften als passende Wirtschaftsverfassung Märkte und Wettbewerb brauchen; und dass Märkte wohlfahrtssteigernd sind – darüber haben wir in Kapitel 2 hinreichend nachgedacht. Dennoch sah man die Schwächen der Marktwirtschaften, weswegen die Idee der Sozialen Marktwirtschaft darin besteht, die Idee freier, effizienter und wohlfahrtssteigender Märkte zu verbinden mit dem sozialen Ausgleich, mit der Solidarität. Aber wie? Die Grundidee der Sozialen Marktwirtschaft besteht darin, dass der Staat wie ein Schiedsrichter nur die Rahmenbedingungen vorgibt, innerhalb derer sich die Wirtschaft abspielt – und solange diese Rahmenbedingungen klug gestaltet sind, funktionieren die Märkte und liefern damit effiziente, wohlfahrtsverbessernde Ergebnisse. Und dort, wo der Wettbewerb nicht die gewünschten Ergebnisse liefert, greift der Staat ein, allerdings ohne dabei die Funktionsfähigkeit der Märkte zu stören, ohne den Rahmen zu beschädigen. Lassen Sie uns zuerst den Rahmen erörtern, in dem die Wirtschaft funktionieren soll. Zu diesem Zweck hatte Eucken so genannte konstituierende Prinzipien entwickelt:
Zunächst einmal benötigt eine Wirtschaftsordnung ein funktionierendes Preissystem. Warum ist klar: Ohne freie Preisbildung keine Märkte, und ohne Märkte keine Wohlfahrt. Die Rolle der Preise für eine Marktwirtschaft haben wir hinlänglich im 2. Kapitel erörtert.
Darüber hinaus muss allen Anbietern und Konsumenten der freie Zugang zu den Märkten gesichert sein; sonst funktioniert der Wettbewerb ebenfalls nicht mehr und es kann zu Machtstellungen kommen.
Ebenfalls notwendig ist Privateigentum, denn erst Privateigentum schafft die für eine Marktwirtschaft notwendigen Anreize. Auch diesen Anreiz kennen Sie bereits zur Genüge.
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Ein weiteres wichtiges Element der Eucken`schen Wirtschaftsordnung ist Vertragsfreiheit – wenn nicht jeder Verträge abschließen kann mit wem er will, ist der freie Austausch von Waren und Dienstleistungen nicht möglich.
Ebenfalls notwendig ist Haftung: Jeder ist für das, was er tut oder unterlässt, auch verantwortlich. Auch diese Forderung ist für eine effiziente Wirtschaftsordnung notwendig – wir haben ja bereits gesehen, dass es zu Verschwendung führt, wenn Menschen anderer Leute Geld ausgeben. Wer keine Haftung übernehmen muss, ist falschen Anreizen ausgesetzt, und die Folgen falscher Anreize haben wir bereits hinreichend kennen gelernt.
Eine weitere Forderung ist das so genannte Primat der Währungspolitik. Hier geht es darum, das Preisniveau stabil zu halten. Wenn die Preise nicht mehr als Knappheitsindikatoren funktionieren, sondern durch eine falsche Politik inflationär verzerrt werden, versagen Märkte, weil sie ihres wichtigsten Instruments beraubt werden. Die Folgen einer falschen Geldpolitik – Inflation und Hyperinflation – werden wir uns im zweiten Teil des Buches ansehen, dann wird auch klar, warum eine solide Wirtschaftsordnung so etwas nicht zulassen kann.
Die letzte Forderung ist die nach einer Konstanz der Wirtschaftspolitik – Politiker sollen nicht permanent ihre Politik verändern und damit die Konsumenten und Unternehmen verunsichern. Wer investieren, konsumieren und arbeiten will, braucht eine verlässliche, stabile Umgebung – und dafür sollen Politiker sorgen. Heute würde man von einer Politik der ruhigen Hand sprechen. Die meisten dieser Forderungen sollten Ihnen sehr bekannt vorkommen – darüber haben wir lange im ersten und zweiten Kapitel diskutiert. Und Sie wissen auch aus diesen Überlegungen, dass viele dieser Prinzipien im Grundgesetz verankert worden sind. Zwar ist die Soziale Marktwirtschaft nie ausdrücklich und per Gesetz zur Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik gemacht worden, doch sie sehen, dass sich Ihre Ideen in vielen Artikeln des Grundgesetzes wieder finden. Keine Frage: Die Soziale Marktwirtschaft ist die Wirtschaftsform der Bundesrepublik Deutschland. Doch mit diesen konstituierenden Prinzipien sind nicht alle Probleme beseitigt. Wie wir in den vergangenen Kapiteln gesehen haben, gibt es Fälle, in denen Märkte versagen oder aber die Ergebnisse der Märkte politisch nicht akzeptabel sind – hier sollte also der Staat eingreifen. Dies wird in ergänzenden Prinzipien berücksichtigt, die auch regulierende Prinzipen heißen. Hier geht es um
Monopolkontrolle. Wie wir in Kapitel 7 gesehen haben, ist Wettbewerb kein Selbstläufer, sondern muss durch Wettbewerbspolitik sichergestellt werden. Das war auch den Vätern der Sozialen Marktwirtschaft klar, weswegen sie wirtschaftliche Machtkonzentrationen durch Monopole, Kartelle und andere Formen der Marktbeherrschung verhindern wollten. Die Entstehung monopolistischer Machtpositionen soll verhindert werden, und zwar nicht nur durch Kartellverbote, sondern – was weit
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wichtiger ist – durch die Anwendung der konstituierenden Prinzipien, die für hinreichenden Wettbewerb sorgen sollen.
Einkommenspolitik. Für Eucken und seine Mitstreiter war es auch notwendig, die Einkommensverteilung, welche durch die Märkte entsteht, zu korrigieren; beispielsweise durch eine entsprechende Steuerpolitik. Auch diese Idee ist Ihnen nicht neu; darüber haben wir im vorherigen Kapitel ausführlich gesprochen.
Wirtschaftsrechnung zur Korrektur externer Effekte. Obwohl die Idee der Sozialen Marktwirtschaft mehr als 60 Jahre alt ist, enthält sie schon die Idee, dass externe Effekte ein Eingreifen des Staates erfordern – oder um es direkter zu formulieren: Die Idee staatlicher Politik zum Schutz der Umwelt ist kein Kind der achtziger Jahre oder der Moderne, sondern mehr als 60 Jahre alt.
Vorkehrungen gegen anormales Verhalten des Angebots. Insbesondere auf dem Arbeitsmarkt sah man die Gefahr, dass es zu einer anormalen Reaktion des Angebots kommen könnte, dass also mit sinkendem Preis das Angebot steigt. Das kann dann passieren, wenn Arbeiter gerade genügend verdienen, um zu überleben und dann der Lohn sinkt. Dann kann es dazu kommen, dass man mehr Arbeit anbietet, um zu überleben, das würde dann dazu führen, dass der Lohn aufgrund des gestiegenen Angebotes noch weiter sinkt (schauen Sie sich einfach einmal die Lösung zu Arbeitsauftrag 8 an). Diese marxistische Idee ist aus zwei Gründen heutzutage nicht mehr ganz so aktuell: Zunächst einmal ist dieses anormale Angebotsverhalten nur bei sehr niedrigen Löhnen zu erwarten; für weite Teile des Arbeitsmarktes in den industrialisierten Ländern trifft dies nicht mehr zu. Wo dies nicht zutrifft, hilft eine einfache Maßnahme: man führt ein gesichertes Mindesteinkommen, eine Grundsicherung ein, dass jeder erhält, unabhängig davon, ob er arbeitet oder nicht. Wo man eine solche Grundsicherung einführt, entfällt die Notwendigkeit, bei sinkenden Löhnen mehr Arbeit anzubieten. Sie sehen, die regulierenden Prinzipien versuchen die Funktionsmängel der Marktwirtschaft, die wir hinreichend erörtert haben, zu beheben. Wichtig bei der Sozialen Marktwirtschaft ist dabei, dass all diese Prinzipien ihre Kraft nur dann entfalten, wenn sie alle zusammen installiert werden. Das ist also die Idee der Sozialen Marktwirtschaft: Die Effizienz der Märkte verbinden mit der Idee des sozialen Ausgleichs. Allerdings soll dieser soziale Ausgleich, die Solidarität der Gesellschaft mit denjenigen, die der Markt ausgrenzt, strikt nach dem so genannten Subsidiaritätsprinzip erfolgen, das aus der katholischen Soziallehre stammt und das man am besten beschreiben könnte mit dem Satz „Hilf Dir selbst, dann hilft Dir Gott“. Will heißen: grundsätzlich ist jeder Bürger für sein Wohlergehen selbst verantwortlich; er hat die Freiheit, aber auch die Pflicht, für sich zu sorgen. Der Staat soll nur helfend eingreifen, wenn der Einzelne oder seine Familie sich nicht mehr selbst helfen kann. Dieses Prinzip soll verhindern, dass Menschen sich selbst
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aufgeben oder sich auf die Solidarität der Gesellschaft verlassen, anstatt sich selbst zu helfen. Dabei sieht dieses Konzept eine klare Aufgabenteilung vor: Wichtig ist zunächst die Schaffung des Ordnungsrahmens durch die konstituierenden und regulierenden Prinzipien – das soll sicherstellen, dass die Märkte der Sozialen Marktwirtschaft funktionieren. Das ist die so genannte Ordnungspolitik. Im Rahmen der so genannten Prozesspolitik soll die Politik dann dort eingreifen, wo die Ergebnisse des Marktes nicht zufrieden stellend sind, allerdings – und das ist eine extrem wichtige Bedingung – ohne dabei den Preismechanismus zu stören. Zwei wohlbekannte Beispiele können diese Idee deutlich machen:
Nehmen wir zunächst die Mindestlöhne, die wir ja in Kapitel 4 hinreichend erörtert haben. Im Falle der Mindestlöhne funktioniert diese Idee wie folgt: Statt direkt in den Preismechanismus einzugreifen (also die Löhne zu verändern und Mindestlöhne einzuführen), überlässt man die Löhne dem Marktmechanismus. Da allerdings dieser Marktmechanismus dazu führt, dass einige Menschen nicht genug verdienen, um zu überleben, schreitet jetzt der Staat ein und unterstützt diese Menschen mit Transfers – das ist der soziale Ausgleich, den der Markt nicht leisten kann. Dieses direkte Eingreifen hat mehrere Vorteile: Zunächst einmal wird nur denjenigen geholfen, die Hilfe nötig haben (vom Mindestlohn profitiert auch der Millionärssohn); das ist die Idee des Subsidiaritätsprinzips. Zweitens sorgt diese Idee dazu, dass die Kosten der Solidarität (nämlich die staatlichen Transfers) via Steuern von allen Bürgern bezahlt werden, und nicht nur von denjenigen, die zufällig Unternehmen sind und deswegen Mindestlöhne zahlen sollen oder zufällig die Güter kaufen, die aufgrund der Mindestlöhne teurer werden. Und drittens vermeidet diese Lösung die Arbeitslosigkeit, die durch Mindestlöhne entsteht.
Ein anderes Beispiel ist die Idee, über Mietpreisbindungen für ein billiges Wohnungsangebot zu sorgen. Das ist ein Eingriff in die Preisbildung, der zu einem Nachfrageüberschuss führt, der zu einem Wohnungsschwarzmarkt führt. Darüber hinaus ist diese Maßnahme nicht sehr zielgenau, da dann jeder in den Genuss der billigen Wohnungen kommen kann – unabhängig davon, ob er arm oder reich ist. Stattdessen sieht die Idee der Sozialen Marktwirtschaft vor, den bedürftigen Menschen mittels eines direkten Einkommenstransfers unter die Arme zu greifen – wer seine Miete nicht alleine bezahlen kann, wird vom Staat unterstützt. Das ist zielgenauer und mit Blick auf die Effizienzgewinne, die Märkte versprechen, volkswirtschaftlich gesehen billiger. Diese Beispiele sollten Ihnen klar machen, dass es in der Sozialen Marktwirtschaft nie darum geht, ob man den Menschen hilft, sondern wie. Das wird in der oft emotionalen Debatte um Mindestlöhne und Sozialpolitik oft unterschlagen: Wer gegen Mindestlöhne ist, ist nicht dagegen, dass Menschen ein Überleben gesichert ist, er fragt nur, wie man dieses Ziel effizienter und besser erreichen könnte.
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In der Praxis: Öko-Soziale Marktwirtschaft, Neoliberalismus und Nachhaltigkeit Das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft wird von seinen Befürwortern als eine offene Konzeption verstanden, die sich jederzeit um neue Ziele, Grundsätze und Konzepte erweitern lässt. In den vergangenen Jahren gab es eine Fülle von neuen wirtschaftspolitischen Konzeptionen, was zu einem gepflegten Begriffswirrwarr geführt hat. Die Ideen der Sozialen Marktwirtschaft werden oft auch unter dem Begriff Ordoliberalismus geführt, da hier die Einführung einer Ordnung (lat.: ordo) einen hohen Stellenwert hat. Schwer davon abzugrenzen ist die Idee der Öko-sozialen Marktwirtschaft, da grundsätzlich sowohl das Soziale als auch der Schutz der Umwelt bereits ein fester Bestandteil der Sozialen Marktwirtschaft sind. Man muss die Debatte um die Öko-Soziale Marktwirtschaft wohl dahingehend deuten, dass man den wirtschaftspolitischen Schwerpunkt noch mehr auf den Umweltschutz setzen will; konzeptionell betrachtet braucht die Soziale Marktwirtschaft den Zusatz „öko“ eigentlich nicht, da er ja in den regulierenden Prinzipien bereits enthalten ist. Ebenfalls unscharf definiert ist der Begriff der Nachhaltigkeit; laut Literatur wird eine nachhaltige Entwicklung den Bedürfnissen der heutigen Generation gerecht, ohne die Möglichkeiten und Bedürfnisse der nächsten Generation zu gefährden. Salopp übersetzt könnte man sagen, dass man die Welt so hinterlassen soll, wie man sie vorzufinden wünscht. Unter dem Begriff der Nachhaltigkeit werden Ziele und Prinzipien wie eine Verbesserung der Umweltqualität, ressourcenschonende Produktionsmethoden, mehr Gerechtigkeit zwischen den Generationen – beispielsweise durch eine entsprechende Gestaltung der Rentensysteme und der Staatsverschuldung – oder auch ethische Prinzipien wie Gerechtigkeit und Verantwortung zusammengeführt. Für die Soziale Marktwirtschaft ist eine solche Erweiterung des Zielkatalogs grundsätzlich kein Problem, teilweise finden sich diese Ziele bereits in den Schriften der Ordoliberalen. Ebenfalls an Begriffsschärfe verloren hat der Begriff des Neoliberalismus. Ursprünglich steht dieser Begriff für eine Neuauflage des klassischen Liberalismus mit der Forderung des staatlichen Eingriffs, um Machtpositionen zu verhindern und für den sozialen Ausgleich zu sorgen. Heutzutage wird dieser Begriff eher als Synonym für alle negativ und sehr emotional besetzten Assoziationen verwendet, die Kritiker der Marktwirtschaft mit ihr assoziieren – beispielsweise soziale Kälte, Ungerechtigkeit oder Gier. Mit Blick auf die Soziale Marktwirtschaft, die ihre Wurzeln im Neoliberalismus hat, muss man konstatieren, dass diese Verwendung falsch ist – Neoliberalismus ist eben nicht soziale Kälte und Profitmaximierung, sondern der Versuch einer planvollen und effizienten Sozialpolitik. Die Verwendung des Begriffs „Neoliberalismus“ durch Kritiker der Marktwirtschaft deutet darauf hin, dass man hier mit
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den Begrifflichkeiten wenig sorgfältig umgeht – bleibt nur zu hoffen, dass dieser laxe Umgang mit Definitionen und Begriffen nicht auf den Umgang mit den Fakten abfärbt.
Lassen Sie uns zum Abschluss dieses Kapitels und dieses Teils des Buches mit den Ideen der Sozialen Marktwirtschaft im Hinterkopf noch zwei konkrete Probleme der Wirtschaftspolitik untersuchen, die uns in den kommenden Jahren noch viel beschäftigen werden: die Rentenpolitik und die Gesundheitspolitik. Lassen Sie uns mit der Rente beginnen. Sozialpolitik I: Rente. Eines der wichtigsten wirtschaftspolitischen Themen in den kommenden Jahren wird die Altersvorsorge, die Rente, sein. Grund genug, sich damit näher zu beschäftigen. Dazu muss man zuerst einmal fragen, warum Altersvorsorge ein Fall für die Politik ist – gemäß den Ideen der Sozialen Marktwirtschaft sollte man das doch dem Markt überlassen – es sei denn, es gibt ein paar Probleme, die der Markt nicht zufrieden stellend löst.
In der Praxis: Ein grandioses Leben oder: warum ist alt werden ein Risiko? Er hatte Affären mit Marilyn Monroe, Rita Hayworth, Jayne Mansfield und Anita Ekkberg, und er verfügte als Erbe einer der reichsten brasilianischen Familien über ein immenses Vermögen, das er mit vollen Händen ausgab – leider mit zu vollen Händen, so dass Jorge Guinle die letzten 20 Jahre seines Lebens in sehr bescheidenen Verhältnissen verbringen musste. „Das Geheimnis eines guten Lebens liegt darin, ohne einen Cent in der Tasche zu sterben – aber ich habe mich wohl verkalkuliert“, lautete Guinles Fazit. Diese Geschichte illustriert sehr schön, welche Probleme das Älterwerden aufwirft: Man muss für das Alter sparen, in dem man nicht mehr arbeiten kann, aber trotzdem ein Einkommen braucht – weiß aber nicht, wie lange dieser Zeitraum ist.
Es gibt mehrere Argumente, warum die Altersvorsorge nach staatlichen Eingriffen verlangt:
Da ist zunächst das Trittbrettfahrerproblem: Kaum eine westliche Gesellschaft wird jemanden verhungern lassen, wenn er in eine Notlage gerät, selbst wenn diese selbst verschuldet ist. Also kann man auf die Idee kommen, nicht für das Alter vorzusorgen (und das Geld zu verleben) und darauf zu vertrauen, dass der Staat einen im Alter nicht verhungern lässt. Um dieses Verhalten zu verhindern, muss man die Menschen zwingen, Altersvorsorge zu betreiben.
Eine der Partnerinnen von Jorge Guinle, Marilyn Monroe. © dpa-Bildarchiv
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Das zweite Argument ist die sogenannte Minderschätzung des zukünftigen Bedarfes. Wenn Menschen systematisch ihren Bedarf im Alter unterschätzen, dann werden sie zu wenig für ihr Alter sparen. Das wäre ein Grund, Menschen zu verpflichten, eine Mindestsumme für ihr Alter zurückzulegen. Allerdings ist dieses Argument paternalistischer Natur (das haben wir bei der Meritorik bereits kennen gelernt); niemand kann sicher sagen, dass jemand anderes seinen zukünftigen Bedarf falsch einschätzt. Das Problem ist nur: Hat sich jemand dann doch verschätzt, ist es zu spät, die Uhr kann man nicht zurück drehen.
Dann wäre da das Problem mangelnder Willensstärke: Wenn Menschen den Versuchungen der Gegenwart erliegen, sparen sie nicht für die Zukunft. Also muss man diese Willensschwäche bekämpfen, indem man die Menschen dazu zwingt. Aber auch dieses Argument ist eher paternalistischer Natur.
Ein vierter Punkt betrifft die Sicherheit der Altersvorsorge: Für das Alter spart man über lange Zeiträume. Das bedeutet hohe Risiken auf, Unsicherheit über die Höhe der zukünftigen Rente und viele Informationsmängel über die geeignete Form der Altersvorsorge. Und: Man kann Fehler, die man in der Jugend gemacht hat, nicht mehr korrigieren. Diese Argumente sprechen also dafür, über eine allgemeine Verpflichtung zur Altersvorsorge nachzudenken; streng genommen aber rechtfertigt nur die Gefahr von Trittbrettfahrertum eine verpflichtende Altersvorsorge, und dann auch nur zu einer Altersvorsorge, die im Alter das Existenzminimum sichert.
In der Diskussion: Wie viel Rente ist nötig? Darf man die Bürger dazu zwingen, mehr als das Existenzminimum für ihr Alter vorzusorgen? Wenn das Existenzminimum gesichert ist, fällt man niemandem zur Last; dennoch ist die Altersvorsorge in vielen Staaten an das Einkommen der Versicherten gekoppelt – je höher das Einkommen, desto mehr muss man für das Alter vorsorgen (zumeist aber nur bis zu einer bestimmten Grenze). Darf der Staat die Bürger zwingen, mehr als nötig vorzusorgen?
Diese Argumente machen zudem keine Aussage darüber, wie man diese verpflichtende Rentenversicherung organisieren sollte: Warum sollte das nicht privat möglich sein? In der Realität finden sich sowohl private als auch staatliche Vorsorgeformen; die schauen wir uns einmal kurz an. Private Altersvorsorge. Private Altersvorsorge erfolgt in der Regel über Versicherungen oder Vermögensverwalter (Fondsgesellschaften), die das Geld ihrer Kunden gewinnbringend anlegen; manche Bürger nehmen ihre Altersvorsorge auch selbst in die Hand. Über Versicherungen, Vermögens-
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verwalter und Finanzmärkte, mit deren Hilfe man für das Alter vorsorgen kann, werden wir im zweiten Teil des Buches sprechen. Steuerfinanzierung. Finanziert man die Altersvorsorge staatlich, so kann man dies natürlich über Steuern machen: Alle Bürger zahlen gemäß ihrer Leistungsfähigkeit Steuern, aus denen eine Rente gezahlt wird. Dieses Verfahren ist einfach, zudem wird durch die Steuer jeder Bürger an der Finanzierung der Altersvorsorge beteiligt. Da das deutsche Steuersystem vor allem auf die Leistungsfähigkeit abstellt, beteiligt sich zudem jeder Bürger nach Maßgabe seiner individuellen Leistungsfähigkeit an der Finanzierung der Staatsrente. Fraglich ist in diesem System die Höhe der zu zahlenden Rente. Hier kann man natürlich über die Höhe der Renten auch Umverteilungspolitik betreiben; das kann allerdings rasch teuer werden und die Anreize zur Eigenvorsorge dramatisch reduzieren – je höher die Umverteilung wird, um so gravierender werden diese Probleme. Nutzt man eine steuerfinanzierte Rente nur dazu, eine Basisrente zu garantieren, wäre damit das Trittbrettfahrerproblem beseitigt.
In der Praxis: Das Grundgesetz der Sozialpolitik Das Sozialgesetzbuch (SGB) ist sozusagen das Grundgesetz der Sozialpolitik in der Bundesrepublik. In insgesamt zwölf Büchern sind die wichtigsten Bereiche der deutschen Sozialpolitik geregelt. Neben Definitionen und Verfahrensvorschriften (erstes Buch) sind dort geregelt: Die Grundsicherung für Arbeitssuchende (zweites Buch); die Arbeitsförderung (drittes Buch), die Sozialversicherungen (Allgemeine Vorschriften im vierten Buch) die Krankenversicherung (fünftes Buch), die Rentenversicherung (sechstes Buch), die Unfallversicherungen (siebtes Buch), Kinder- und Jugendhilfe (achtes Buch), die Pflegeversicherung (elftes Buch) und die Sozialhilfe (zwölftes Buch)
Das Grundgesetzbuch der Sozialpolitik: Sozialgesetzbuch VI
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Rentnergeneration 1
Rentnergeneration 2
Rentnergeneration 3
zahlt für
zahlt für
zahlt für
wird zu
Abbildung 46: Das Umlageverfahren
Beitragszahlergeneration 1
wird zu Beitragszahlergeneration 2
wird zu Beitragszahlergeneration 3
Umlageverfahren. Im Umlageverfahren zahlt die aktive Generation der Arbeitnehmer ihre Rentenbeiträge in die Rentenversicherung ein; mit diesem Geld erwerben sie Ansprüche auf eine spätere Rente. Die eingezahlten Rentenbeiträge werden an die aktuelle Rentnergeneration ausgezahlt. Wird die aktuelle Beitragszahlergeneration zur Rentnergeneration von Morgen, so müssen die zukünftigen Arbeitnehmer mit ihren Beiträgen dann die Rente dieser Generation bezahlen. Im Prinzip ist das Umlageverfahren damit eine versteckte Staatsverschuldung: Der Staat leiht sich das Geld der aktuellen Beitragszahlergeneration und bezahlt damit die heutigen Rentner. Im Gegenzug verspricht er den heutigen Beitragszahlern, ihre gezahlten Beiträge später wieder zurückzuzahlen, wenn diese in Rente gehen. Ersetzen Sie „Rentenbeiträge“ durch „Kredit“ und „Rente“ durch „Rückzahlung des Kredits“ und Sie sehen, dass es sich in der Tat um Staatsverschuldung handelt. Die Rentenbeiträge sind Schulden, die der Staat bei der aktuellen Beitragszahlergeneration aufnimmt. Abbildung 46 beschreibt dieses Verfahren. Wie Sie sehen, benötigt jede Rentnergeneration eine aktuelle Beitragszahlergeneration, die den heutigen Rentnern ihre Rente zahlt. Den Anspruch auf diese haben die Rentner in der Vergangenheit durch ihre eigenen Beitragszahlungen erworben. Allerdings ist das Argument „meine Kinder zahlen später Deine Rente“ nicht ganz richtig: Wer heute Rente bezieht, hat diese selbst bezahlt, nämlich mit seinen Beiträgen. Und die Kinder, die ja morgen Beitragszahler sein sollen, zahlen diese Beiträge ja auch nur, weil man ihnen dafür eine Gegenleistung verspricht – ihre zukünftige Rente. Also: wir zahlen mit unseren Beiträgen unsere eigene Rente. Das Problem bei diesem Verfahren liegt auf der Hand: Sobald aufgrund geburtenschwacher Jahrgänge die Zahl der Rentner die Zahl der Beitragszahler übersteigt, müssen immer weniger Beitragszahler immer mehr Renten finanzieren. Das ist die sogenannte Demographieanfälligkeit des Umlageverfahrens: Bei schrumpfender Bevölkerung stehen zu vielen Rentnern zu wenig Beitragszahler gegenüber, welche zu hohe Beiträge zahlen müssten, um die Rentenansprüche der aktuellen Rentnergeneration zu finanzieren. Das Umlageverfahren kennt dabei Gewinner und Verlierer: Gewinner ist die sogenannte Erstgeneration. Gemeint ist damit folgendes: Im Umlage-
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verfahren gibt es eine Rentnergeneration, die zwar Renten erhält, aber nie Beiträge gezahlt hat – nämlich die Generation, die Rentner sind, wenn das Verfahren gestartet wird. Das ist die Erstgeneration. Das ist eine praktische Sache, beispielsweise nach einem Krieg, wenn alle Ersparnisse und Vermögensansprüche vernichtet sind, aber Rentner da sind, denen man nun irgendwie eine Rente zahlen muss. Ein Beispiel für die Erstgeneration waren diejenigen Bürger, die bei der Einführung der Pflegeversicherung in der Bundesrepublik bereits pflegebedürftig waren: Sie erhielten umgehend Leistungen aus der Versicherung, ohne je eingezahlt zu haben. Politisch ist das nett, weil man sofort Leistungen ausschütten kann – in Wahlkampfzeiten eine gute Sache. Verlierer dieses Systems sind die Menschen der Letztgeneration: Sie haben zwar Beiträge gezahlt, erhalten aber keine Rente mehr, wenn das System stoppt. Wenn man das Umlageverfahren beenden will, bleiben Beitragszahler übrig, die zwar Beiträge zahlen müssen, um die Ansprüche der aktuellen Rentner zu befriedigen, aber selbst keine Rente mehr erhalten. Deswegen ist es so schwierig, dieses System zu beenden, denn die Letztgeneration wird sich dagegen wehren. Das Umlageverfahren lässt sich also einfach starten, aber nur schwer beenden. Wenn überhaupt, dann kann man das Umlageverfahren nicht auf einen Schlag beenden, sondern muss die Ansprüche der Rentner über mehrere Generationen schrittweise reduzieren und die Last der Letztgeneration auf mehrere Generationen zu verteilen – das nennt sich dann Ausschleichen. Im Grunde genommen passiert das jedes Mal, wenn die Ansprüche der zukünftigen Rentner gekürzt werden.
In der Diskussion: Wie fair ist das Umlageverfahren? Was halten Sie vom Umlageverfahren? Werden Sie zu den Gewinnern oder den Verlierern dieses Systems gehören?
Die dritte Form der Altersvorsorge ist das Kapitaldeckungsverfahren: Man legt regelmäßig einen Betrag auf die Seite, der sich über Jahre hinweg verzinst, und im Rentenalter lebt man von diesen Ersparnissen. Im Unterschied zum Umlageverfahren, bei dem es keine individuellen Sparkonten für den einzelnen Rentner gibt, spart beim Kapitaldeckungsverfahren jeder spätere Rentner auf eigene Rechnung, in ein eigenes Konto. Als einen Vorteil dieses Verfahrens sehen Ökonomen die positiven Wirkungen auf das Wachstum, da man in diesem Verfahren mehr spart – auf diese Zusammenhänge gehen wir im zweiten Teil des Buches näher ein. Möglicherweise ist aber auch dieses Verfahren anfällig für eine schrumpfende Bevölkerung, dies jedenfalls ist die Idee der sogenannten AssetMeltdown-Hypothese: Kapital wird in Zukunft weniger wert sein, wenn es aufgrund einer geringeren Bevölkerung auch weniger Nachfrage nach Kapital gibt. Allerdings kann die Nachfrage nach Kapital auch aus dem Ausland
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kommen, zudem kann man ja auch einen Teil seiner Ersparnisse in ausländischen Vermögenswerten anlegen. Sodann ist fraglich, inwieweit sich der Wert einer Vermögensanlage nicht nur nach der Nachfrage, sondern nach deren Rentabilität bestimmt – und die hängt nicht notwendigerweise von der Bevölkerungszahl ab. Studien prognostizieren einen demographiebedingten Rückgang der Kapitalrendite in der Bundesrepublik von einem bis anderthalb Prozentpunkten. Damit wäre das Kapitaldeckungsverfahren zwar nicht immun gegen eine alternde Bevölkerung, aber deutlich resistenter als das Umlageverfahren.
Die Rente von Norbert Blüm ist sicher!
In der Praxis: Rente in Deutschland Die Gesetzliche Rentenversicherung in der Bundesrepublik ist grundsätzlich eine Pflichtversicherung, die im Umlageverfahren organisiert ist. Versicherungspflichtig sind alle abhängig Beschäftigten, aber auch bestimmte Selbstständige sowie andere besondere Personengruppen. Personen, die eine geringfügige Beschäftigung (dauerhaft oder kurzfristig) ausüben oder die als Angehörige ihrer Berufsgruppen über ein eigenes System der Altersvorsorge verfügen (zum Beispiel Beamte, Richter oder Berufssoldaten), unterliegen nicht dieser Versicherungspflicht. Die Beiträge zur Rentenversicherung werden von den Beitragszahlern und ihren Arbeitgebern zu gleichen Teilen gezahlt (wer sie trägt, hängt von der Überwälzung ab, das funktioniert ähnlich wie in Kapitel 4 bei den Steuern beschrieben). Der Beitragssatz ist unabhängig von der Höhe des Einkommens immer gleich, allerdings müssen die Rentenversicherten nur bis zu einer Einkommenshöchstgrenze, der sogenannten Beitragsbemessungsgrenze, Beiträge entrichten. Neben der gesetzlichen Rente gibt es noch die betriebliche Altersvorsorge, die über fünf verschiedene Durchführungswege (Direktzusage, Unterstützungskasse, Direktversicherung, Pensionskasse und Pensionsfonds) abgewickelt wird. Die dritte Säule der Alterssicherung in der Bundesrepublik ist die private Altersvorsorge mit Kapitalmarktprodukten. In den vergangenen Jahren hat der Staat damit begonnen, die private Altersvorsorge mit Zuschüssen und steuerlichen Anreizen zu fördern (sogen. Riester-Rente, Rürup-Rente).
Reformoptionen. Keine Frage, die gesetzliche Rente nach dem Umlageverfahren ist nicht nur in die Jahre, sondern auch in die Krise geraten. Lassen Sie uns zum Abschluss dieses Abschnitts ein wenig über die möglichen Reformoptionen sprechen. Zu diesem Zweck gehen wir aus von einer einfachen Idee, nämlich, dass die Einnahmen der Rentenversicherung gleich ihren Ausgaben sein sollten – dann haben wir kein Problem mit unserem Rentensystem. In einer Gleichung geschrieben also: Einnahmen = Ausgaben
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Lassen Sie uns diese Gleichung etwas näher ausführen. Die Einnahmen der gesetzlichen Rentenversicherung ergeben sich derzeit wie folgt: Jeder Versicherungspflichtige zahlt einen festen Prozentsatz auf sein Einkommen. Das bedeutet, dass sich die Gesamteinnahmen des Rentenversicherungssystems ergeben, indem man die Einkommen aller Versicherungspflichtigen mit dem Beitragssatz multipliziert. Die Einnahmen der Rentenversicherung ergeben sich also, indem man die Zahl der Versicherungspflichtigen mit ihrem Einkommen und ihrem Beitragssatz multipliziert. Als Gleichung also: Einnahmen der Rentenversicherung = Anzahl der Versicherungspflichtigen × Lohn × Beitragssatz Auch die Ausgaben der Rentenversicherung lassen sich rasch bestimmen: Das ist die Anzahl aller Rentner, multipliziert mit der jeweiligen gezahlten Rente. Also: Ausgaben der Rentenversicherung = Anzahl der Rentner × Rente So, wenn wir das nun in die Ausgangsgleichung einsetzen, erhalten wir die Gleichung, die alle Finanzierungsprobleme der Rentenversicherung erläutert: Anzahl der Versicherungspflichtigen × Lohn × Beitragssatz = Anzahl der Rentner × Rente Alles, was auf der linken Seite der Gleichung steht, ist für die Einnahmen der Rentenversicherung verantwortlich; die rechte Seite für die Ausgaben. Wer die Finanzen der Rentenversicherung ins Lot bringen will, muss entweder auf der linken Seite die Einnahmen erhöhen oder auf der rechten Seite die Ausgaben kürzen. Und mit Hilfe dieser Gleichung können wir nun alle Reformoptionen der Rentenversicherung diskutieren:
Wir können auf der Einnahmeseite den Lohn erhöhen, was aber nur gelingen wird, wenn auch die Produktivität der Beschäftigten steigt. Denn nur wenn die Arbeitnehmer produktiver sind, kann man ihnen auch einen höheren Lohn zahlen.
Ein weiterer Weg zu mehr Einnahmen ist natürlich die Anhebung der Beitragssätze. Das ist allerdings eine Belastung für die Beschäftigung, da die Beiträge auf den Arbeitslohn erhoben werden und entweder höhere Lohnkosten tendenziell zu Beschäftigungsverlusten führen, oder aber die Nettolöhne sinken, was die Versicherten sicherlich nicht mögen.
Cleverer wäre es, die Zahl der Versicherten zu erhöhen. Das wird in der Politik immer wieder diskutiert: Beamte und Selbstständige zahlen bisher nicht in die gesetzliche Rentenversicherung ein; ebenso Schwarzarbeiter. Gelingt es, Personen, die bisher nicht in die Sozialversicherungen eingezahlt haben, zu Beitragszahlern zu machen, dann steigen die Einnahmen. Doch leider hat diese Lösung einen Haken: Die neuen Bei-
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tragszahler sind zugleich potenzielle Leistungsempfänger, das heißt, sie finden sich auch auf der rechten Seite der Gleichung wieder, und das führt zu einem späteren Zeitpunkt wieder zu neuen Ausgaben. Die Zahl der Versicherten zu erhöhen ist nur eine gute Lösung, wenn diese mehr einzahlen, als sie später erhalten werden – weswegen die potentiell neu Versicherungspflichtigen diese Idee nicht mögen.
Auf der Ausgabenseite gibt es auf den ersten Blick nur zwei Optionen, und Option Nummer eins besteht darin, die Zahl der Rentner zu reduzieren, was irgendwie keine richtige Option ist. Option Nummer zwei besteht darin, die Rentenzahlungen, also das Rentenniveau zu senken – was der Rentnergeneration nicht gefällt. Hier zeigt sich der Generationenkonflikt, den das Umlageverfahren bei schrumpfender Bevölkerung beschwört: Entweder die aktuellen Beitragszahler (die junge Generation) zahlen mehr Beiträge (Einnahmen verbessern sich auf der linken Seite) oder die Rentnergeneration (die Alten) erhalten weniger Rente (Ausgaben sinken auf der rechten Seite); und leider ist das hier ein Nullsummenspiel – was die eine Seite gewinnt, verliert die andere Seite.
Eine letzte Möglichkeit, auf der Ausgabenseite ein wenig zu kürzen, besteht in der Kürzung so genannter versicherungsfremder Leistungen. Hinter diesem Wortungetüm verbirgt sich die Idee, dass es bestimmte Leistungen gibt, die nicht von der Rentenversicherung finanziert werden und deswegen gestrichen werden sollten. Das Problem an diesem Ansatz ist allerdings, dass die Rentenversicherung keine richtige Versicherung im eigentlichen Sinne des Wortes ist, sondern absichtlich und bewusst Leistungen gewährt, die nicht durch den Versicherungsgedanken gedeckt sind. Würde man alle diese Leistungen aus der Rentenversicherung entfernen, dann bräuchte man keine staatliche Rentenversicherung mehr, sondern könnte das Ganze dann von der Allianz erledigen lassen. Damit ist die Idee der Streichung versicherungsfremder Leistungen nur der Versuch, eine Streichliste mit objektiven Kriterien zu rechtfertigen; ein Versuch, der leider misslingt.
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Unter dem Strich überzeugen nur wenige Optionen – was also ist zu tun? Viele Ökonomen plädieren für eine einfache Arbeitsteilung im Rentensystem: Aus Steuergeldern wird eine Basisrente finanziert, die verhindert, dass die Menschen im Alter hungern – das löst das Trittbrettfahrerproblem und sichert einen sozialen Mindeststandard. Den Rest der Altersvorsorge überlässt man privater Initiative – wer mag, sichert sich gut ab, wer nicht, wird sich mit der Staatsrente zufrieden geben müssen. Nichtsdestrotz ist auch klar, dass das aktuelle Rentensystem mehr Einnahmen und weniger Ausgaben braucht. Es deutet sich an, dass die Politik dabei den Weg der Arbeitszeitverlängerung wählen wird: Wer später in Rente geht, zahlt länger ein (gut für die Einnahmenseite) und bekommt eine kürzere Zeit Rente (gut für die Ausgabenseite). Und wer trotzdem früher in Rente gehen will, muss Abschläge an seiner Rente hinnehmen. Das ist im Kern die Idee der „Rente mit 67“.
Arbeitsauftrag 24 Versicherungsfremde Leistungen. Stellen Sie die Leistungen zusammen, die von der gesetzlichen Rentenversicherung gewährt werden. Welche Leistungen halten Sie für gerechtfertigt, welche Leistungen würden Sie streichen und warum?
Politik II: Gesundheit. Lassen Sie uns zum Abschluss noch einen kurzen Blick auf den zweiten großen, teuren und wichtigen Bereich in der Sozialpolitik werfen, nämlich die Gesundheitspolitik. Und lassen Sie uns auch hier wieder mit der Frage starten, warum überhaupt eine eigene Politik für das Gesundheitswesen notwendig ist – schließlich haben wir ja auch keine eigene Bäckerpolitik oder Friseurpolitik. Ein paar der Argumente kennen Sie bereits aus der Diskussion um die Rente, einige hingegen sind neu:
Da ist zunächst das Trittbrettfahrerproblem: Niemand wird einem Menschen eine Behandlung verweigern, wenn er krank an der Pforte des Krankenhauses erscheint. Also können auch hier Trittbrettfahrer auf die Idee kommen, sich nicht zu versichern und die Solidarität der Gemeinschaft auszunutzen. Um dieses Verhalten zu verhindern, muss man die Menschen zwingen, eine Krankenversicherung abzuschließen.
Auch bei der eigenen Gesundheit kann man den zukünftigen Bedarf fälschlicherweise zu gering einschätzen – wer 18 oder 20 ist, kann sich nicht vorstellen, wie hoch die Arztrechnung später einmal werden kann. Wenn Menschen systematisch diesen Bedarf unterschätzen, dann werden sie zu wenig vorsorgen. Das ist ein Grund, Menschen zu einer Krankenversicherung zu verpflichten.
Auch das Problem mangelnder Willensstärke kennen Sie bereits: Man will sich gerne versichern, doch die guten Vorsätze scheitern. Also muss eine verpflichtende Krankenversicherung her.
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Ein weiteres Argument für eine Krankenversicherung liegt in der Höhe der Kosten, die möglicherweise entstehen können: Manche Behandlungen sind zu teuer, als dass man sie aus eigener Tasche zahlen könnte; also muss eine Versicherung her.
Ein weiteres Problem einer Krankenversicherung ist die sogenannte adverse Selektion. Stellen wir uns einmal dazu vor, dass es zwei Gruppen von Versicherten gibt: Sehr gesunde Menschen (die wir als gute Risiken bezeichnen) und weniger gesunde Menschen (das sind die schlechten Risiken). Die guten Risiken sind natürlich billig für die Versicherung, die schlechten Risiken sind teuer. Wenn die Versicherung aber nichts darüber weiß, wer ein gutes oder ein schlechtes Risiko ist, so wird sie eine Prämie fordern, die den guten Risiken zu teuer ist (sie wären eigentlich billiger) und für die schlechten Risiken zu billig (sie müssten gemessen an ihrem Risiko eigentlich mehr zahlen). Im Endergebnis führt das dann dazu, dass die guten Risiken die Versicherung nicht nehmen, die schlechten Risiken hingegen in Scharen zur Versicherung strömen. So kann keine Versicherung funktionieren – das ist adverse Selektion. Vor allem die beiden letzten Punkte sind interessant, da sie uns zeigen, wie eine Versicherung funktioniert: Eine Versicherung ist ein Zusammenschluss Gleichgesinnter, die sich gegen einen drohenden Unglücksfall absichern wollen. Dabei gilt folgende Vereinbarung: Jeder zahlt etwas in den großen Topf ein, und wer Pech hat und ein Unglück erleidet, wird aus diesem Topf entschädigt. Der Clou an dieser Idee besteht darin, dass jeder gegen solche Unglücksfälle geschützt ist, obwohl er als einzelner mit den Folgen dieses Unglücks überfordert wäre. Es ist die Masse der Teilnehmer an der Versicherung, die das möglich macht. Solange man davon ausgeht, dass nicht jeder der Versicherten Pech hat, kann man aus den Beiträgen aller bequem die Schäden der wenigen kompensieren, bei denen das Unglück, also der so genannte Versicherungsfall, eintritt. Eine Versicherung ist also eine Solidargemeinschaft, in der jeder Versicherte für den anderen einsteht, in dem Wissen, dass dann auch ihm geholfen wird, wenn er Pech hat. Diese einfache Solidargemeinschaft wird durch zwei wichtige Eckpfeiler festgezurrt: erstens durch die Vereinbarung, was jemand im Schadensfall bekommt, und zweitens durch die Vereinbarung, wie viel Geld jeder in diesen Topf namens Versicherung legen muss. Was erhält also der Versicherte im Schadensfall? Die erste Idee besteht natürlich darin, ihm den entstandenen Schaden zu ersetzen. Im Falle der Krankenversicherung zahlt man dem Versicherten also die Behandlung. Gibt es mit dieser Regelung Probleme? Möglicherweise schon: Ersetzt man dem Versicherten, der einen Schaden erleidet, alle Kosten, so muss man sich nicht darüber wundern, dass dieser alle Schäden geltend machen wird, die nicht bei drei auf den Bäumen sind. Zahlt man den Patienten im Falle der Krankenversicherung jede nur denkbare Behandlung, so muss man sich nicht darüber wundern, dass diese auch das (bezahlte) Vollprogramm einfordern – überspitzt gesagt könnte man sagen, dass man dann wegen seiner leichten Kopfschmerzen von der Kasse eine Kur einfordert. Darauf kann
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man mit zwei Möglichkeiten reagieren: Man definiert einen Leistungskatalog, den die Versicherung zahlt (Positivkatalog) – alles darüber hinaus muss der Patient selbst tragen. Je mehr man dabei diesen Leistungskatalog einschränkt, umso günstiger wird zwar die Versicherung, umso unzufriedener werden verständlicherweise die Versicherten. Allerdings gibt es dann immer noch Probleme mit zu großer Nutzung, weil man als Patient dann zumindest alle Leistungen ausreizen kann, die der Katalog bietet, egal ob man sie braucht oder nicht. Da man dafür (vermeintlich) nicht bezahlt, kann man sie ja vorsichtshalber mitnehmen. Eine andere Möglichkeit, eine Übernutzung der Versicherung zu vermeiden, besteht in einem so genannten Selbstbehalt: Der Versicherte muss einen Teil der Kosten selbst tragen, das führt dazu, dass er nun auf die Kosten seiner Behandlung achtet; zugleich bringt diese Maßnahme aber auch Unzufriedenheit mit sich, vor allem bei denjenigen, denen ein solcher Selbstbehalt in der Brieftasche weh tut. Trotzdem könnte sich der Selbstbehalt (so etwas gibt es ja auch beispielsweise bei Kfz-Versicherungen) als günstig erweisen, nämlich dann, wenn dadurch die übermäßige Nutzung der Leistungen zurück geht und damit die Versicherung für alle Versicherten billiger wird.
In der Diskussion: Selbstbehalt oder Vollkaskomentalität? Was halten Sie von der Idee, dass Versicherte einen Teil der Behandlungskosten selbst tragen sollen? Wie könnte man diesen Selbstbehalt ausgestalten? Gibt es eine Möglichkeit, diesen Konflikt zwischen Effizienz (Selbstbehalt) und sozialem Ausgleich (Arme sollen nicht übermäßig belastet werden) zu lösen? Denken Sie dabei an die Ideen der Sozialen Marktwirtschaft – wie würde diese Konzeption das Problem lösen?
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Teil 1: Mikroökonomie
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Hoffentlich krankenversichert
Diese Selbstbeteiligung kann einen Problem abhelfen, das alle Versicherungen grundsätzlich haben, nämlich das Problem des so genannten moral hazard (moralisches Risiko). Damit ist ein einfacher Umstand gemeint: Wenn ich weiß, dass ich versichert bin, werde ich mich erstens riskanter verhalten, da ich jetzt ja versichert bin – die Existenz der Versicherung führt also dazu, dass ich mehr riskiere, auf Kosten der Versicherung. Das ist das so genannte ex-ante-moral hazard – ich ändere aufgrund der Tatsache, dass ich versichert bin, mein Verhalten schon bevor der Schadensfall eintritt. Weiterhin werde ich, wenn der Schaden dann eingetreten ist, alle Leistungen in Anspruch nehmen, welche die Versicherung zahlt (das so genannte ex-postmoral hazard); solange ich nicht selbst zahlen muss, ist mir das egal. Eine Selbstbeteiligung kann dieses Verhalten zumindest reduzieren. Wie gesagt: dieses Problem haben grundsätzlich alle Versicherungen. Ein weiteres Problem bei dieser Versicherung besteht darin, welchen Beitrag ein Versicherter für seine Versicherung zahlen soll. Bei normalen Versicherungen richtet sich der Beitrag nach dem potentiellen Risiko, dass der Versicherte einen Schadensfall melden wird. Also: Wer einen sehr schnellen Wagen fährt und in der Vergangenheit durch viele Unfälle aufgefallen ist, zahlt einen höheren Beitrag zur Kfz-Versicherung als jemand, der 40 Jahre unfallfrei einen Kleinwagen durch die Straßen navigiert hat. Das klingt auch sinnvoll und fair: Wer potentiell höhere Ansprüche an die Versicherung richten wird, soll auch höhere Beiträge zahlen. Überträgt man diesen Gedanken auf die Krankenversicherung, so muss man alle Raucher, Übergewichtigen, Risikosportler und Leistungstrinker verstärkt zur Kasse bitten; den Müsliessern, Nichtrauchern und Joggern hingegen einen Nachlass gewähren. Versicherungstheoretisch betrachtet ist das auch richtig, führt aber politisch zu zwei Problemen:
Bestimmte Risikogruppen (chronisch Kranke) oder finanzschwache Bürger würden sich möglicherweise keine Versicherung mehr leisten können – das würde aber dem Solidaritätsgedanken widersprechen, dass wir keinen Menschen ohne medizinische Hilfe lassen, die er sich ohne Versicherung nicht mehr leisten könnte.
Weiterhin kann ein verteilungspolitisches Problem entstehen: Tendenziell lässt sich vermuten, dass Menschen mit höherem Einkommen gesünder leben: gesündere Jobs, mehr Geld für eine gute Ernährung und das Wissen um die Wichtigkeit einer guten Ernährung – wer reich ist, kann gesünder leben und weiß auch, warum er das soll und wie. Dann würden also die Menschen mit sinkendem Einkommen höhere Beiträge zur Krankenversicherung zahlen. Ökonomisch und versicherungstechnisch wäre das korrekt; (verteilungs-) politisch eher ungewünscht. Was kann man dagegen tun? Wenn Sie die Idee der Sozialen Marktwirtschaft im Kopf haben, dann kennen Sie die Antwort: Man lässt die Märkte ihre Arbeit tun, greift nicht in den Preismechanismus ein und korrigiert anschließend die Ergebnisse. Konkret würde das also wie folgt aussehen: Man erhebt von allen Versicherten Beiträge zur Krankenversicherung
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gemäß ihres Risikos – wer ungesund lebt, isst und ist, zahlt höhere Beiträge, wer stets gesund ist und lebt, zahlt weniger. Um die oben erörterten negativen Folgen für die Verteilung zu beseitigen, zahlt der Staat im zweiten Schritt steuerfinanzierte Zuschüsse zur Krankenversicherung an alle diejenigen, die sich ihre Beiträge nicht leisten können oder chronisch krank sind. Diese Lösung hat zwei Vorteile: Zunächst einmal wird die Krankenversicherung gemäß der echten Risiken finanziert; zudem wird die anschließend notwendige Umverteilung aus allgemeinen Steuermitteln finanziert; also von allen Bürgern nach Maßgabe ihrer individuellen Leistungsfähigkeit. Natürlich muss man diese Idee noch ein wenig hin- und herwenden, aber ihre grundsätzliche Logik hat für Ökonomen Charme.
In der Diskussion: Kopfpauschale oder Bürgergeld? In der Debatte um die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung sind vor allem zwei Prinzipien heiß debattiert worden: Aus dem konservativen Lager kam die Idee einer Kopfpauschale – jeder Bürger zahlt einen einheitlichen Beitrag zur Krankenversicherung. Aus der linken politischen Ecke hingegen kam die Idee des Bürgergeldes: Jeder Versicherte solle einen prozentualen Aufschlag auf sein Einkommen als Beitrag zur Krankenversicherung zahlen. Diskutieren Sie die Vor- und Nachteile dieser Lösungsansätze.
Mit der Bezahlung der Versicherung ist es allerdings nicht getan, es gibt noch ein weiteres Problem: Der Arzt weiß besser als der Patient, welche Behandlung nötig ist, und der Patient muss ihm vertrauen. Und hier entsteht das Problem: Wenn der Arzt sein Einkommen dadurch maximiert, dass er dem Patienten möglichst viele Behandlungen angedeihen lässt, dann muss man befürchten, dass er dem Patienten alle möglichen und unmöglichen, vor allem unnötigen Behandlungen aufschwätzen wird und dadurch sein Einkommen maximiert. Und der Patient kann sich kaum wehren, schließlich weiß er ja nicht, welche der Behandlungen nun nötig sind und welche nur dem Geldbeutel seines Arztes dienen. Diese asymmetrische Verteilung der Informationen – der Arzt weiß viel, der Patient wenig – führt zum so genannten principal-agent-Problem, das in vielen Bereichen des Lebens auftritt: Der Principal (in diesem Fall der Patient) bezahlt den Agenten (den Arzt), damit dieser für ihn arbeitet (hier: ihn heilt), ohne genau feststellen zu können, ob denn der Agent auch wirklich im Interesse des Principals arbeitet oder aber in die eigene Tasche wirtschaftet. Dieses Problem gibt es beispielsweise auch im Arbeitsleben, wenn der Chef nicht hinreichend kontrollieren kann, ob seine Angestellten sich wirklich anstrengen oder aber faulenzen. Das Ziel des Principal ist es, dass seine Interessen vom Agenten optimal vertreten werden; doch der Agent hat auch seine eigenen Ziele (der Arzt will sein Einkommen erhöhen), und diese Interessenkollision führt zum Principal-Agent-Problem. Im Falle der Kran-
Der Deutsche Bundestag, auch eine Art Principal.
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kenversicherung wird dieses Problem verschärft, wenn die Versicherung ohne Rücksicht alle Behandlungen bezahlt – dann ist es dem Patienten egal, was der Arzt ihm auf die Rechnung schreibt.
Denksportaufgabe: Taxifahrer relodaded Erinnern Sie sich an die Frage, wie man einen Taxifahrer bezahlt? Interpretieren Sie die Situation zwischen Ihnen und dem Taxifahrer als Principal-Agent-Problem. Wenn Sie nun wissen, wie man einen Taxifahrer bezahlen kann – wie kann (oder muss) man nun einen Arzt bezahlen?
Zusammenfassung 1. Das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft versucht, die Effizienz des Marktes mit der Idee des sozialen Ausgleichs und der Korrektur von Marktversagen zu kombinieren. Dabei gilt: So viel Markt wie möglich, so viel Staat wie nötig. Eingriffe sollen aber stets so erfolgen, dass der Preismechanismus nicht verletzt wird. Sämtliche Kategorien des Marktversagens werden von dieser Konzeption berücksichtigt.
Taxifahrer und Fahrgast: Ein Principal-Agent-Verhältnis.
2. Es gibt mehrere Gründe, warum der Staat sich in die Altersvorsorge seiner Bürger einmischen soll: Trittbrettfahrerprobleme, Minderschätzung zukünftigen Bedarfs, Willensschwäche oder Sicherheit der Altersvorsorge. Allerdings rechtfertigen all diese Argumente lediglich eine Verpflichtung, für eine Mindestrente vorzusorgen. 3. Das Alterssicherungssystem in der Bundesrepublik Deutschland beruht auf drei Säulen: privater Altersvorsorge, betriebliche Altersvorsorge und das gesetzliche Umlageverfahren. Letzteres ist anfällig für eine Veränderung der Altersstruktur und Bedarf der Reform – entweder man kürzt die Ausgaben oder verbreitert die Einnahmebasis. 4. Die Argumente für den staatlichen Eingriff in die Rentenpolitik rechtfertigen auch staatliche Eingriffe im Gesundheitswesen; daneben sind es auch die potentiell zu hohen Kosten einer Behandlung und die adverse Selektion, die staatliche Eingriffe rechtfertigen. 5. Ein weiteres Problem einer Krankenversicherung ist moral hazard: Die Existenz einer Versicherung führt dazu, dass Menschen risikofreudiger werden, und im Schadensfall werden sie jede Behandlung in Anspruch nehmen, wenn sie diese nicht zahlen müssen. Ein möglicher, aber umstrittener Ausweg aus diesem Dilemma ist ein Selbstbehalt.
Makroökonomie
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Makroökonomie – das große Ganze im Blick In der Makroökonomie geht es ums große Ganze: Zinsen, Inflation, Sozialprodukt – all die Sachen, von denen Sie jeden Tag in den Nachrichten hören, werden in diesem Kapitel erklärt. Warum ist Inflation schlecht für uns, was ist Geld, wie entsteht Arbeitslosigkeit und wie konnte es passieren, dass eines Sonntags in den siebziger Jahren die Bürger nicht mehr ihr Auto benutzen durften? Während in der Mikroökonomie also das einzelne Unternehmen, der einzelne Bürger im Mittelpunkt steht, konzentriert man sich in der Makroökonomie auf alle Unternehmen, auf alle Konsumenten – eben auf das große Ganze. Der Staat wird hier noch einmal eine ganz andere Rolle spielen als in der Mikroökonomie. Und Sie erfahren, warum eines Tages die Bundesregierung beschloss, den Bürgern Geld dafür zu zahlen, dass sie ihre Autos zerstören.
Lernziele Sie hören jeden Tag davon in den Medien, von Konjunktur, Inflation, Arbeitslosigkeit und all diesen Sachen – Zeit, dass Sie diese Konzepte kennen lernen. Dazu werden wir uns zunächst die elementaren Konzepte der Makroökonomie ansehen:
Was ist Wohlstand, wie definieren und messen wir ihn? Was ist Inflation, wie messen wir sie und warum kann sie zum Problem werden?
Was ist Wachstum, und warum gibt es Staaten, die reich sind, während andere Staaten arm sind. Was macht Ländern wohlhabend, gibt es eine Formel für Wohlstand?
Wie entsteht Arbeitslosigkeit, welche Ursachen kann sie haben? Und was können wir dagegen tun?
Welche Rolle spielt der Staat in einer Volkswirtschaft, wo greift er in das Wirtschaftsgeschehen ein?
Was ist Geld, und welche Rolle spielt es in einer modernen Volkswirtschaft? Wenn wir diese elementaren Konzepte erarbeitet haben, werden wir in den letzten zwei Kapiteln mit Hilfe dieser Konzepte ein erstes Modell erarbeiten, das uns erklären soll, wie es dazu kommen kann, dass Volkswirtschaften in kurzer Zeit abstürzen können, und was man dagegen tun kann.
Was ist Makroökonomie? „Wirtschaftswissenschaft ist die einzige Disziplin, in der jedes Jahr auf dieselben Fragen andere Antworten richtig sind“ Danny Kaye
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Zum Einstieg: ein rabenschwarzer Tag. Der 24. Oktober des Jahres 1929 war ein Tag, der die Welt in ihren Grundfesten erschütterte – nichts würde jemals wieder so sein, wie es war. An der New Yorker Wall Street, der wichtigsten Börse der Welt, begann die Börse an diesem schwarzen Donnerstag mit einer Talfahrt: Um halb elf, so schreibt der Wirtschaftshistoriker John Kenneth Galbraith, war die Börse von „blinder, hoffnungsloser Angst erfüllt“. Am Nachmittag, nachdem sich einige damals namhafte Banker getroffen hatten, um eine Stützungsaktion zu organisieren, trat ein Bankier vor die Presse und erklärte, dass es an der Börse einen „etwas unglücklichen Verlauf “ gegeben habe – das war eher geschmeichelt. In den folgenden Tagen wackelte die Börse, doch erst der 29. Oktober sollte als der schlimmste Tag des New Yorker Aktienhandels in die Geschichte eingehen: In den ersten Handelsminuten fielen die Kurse mancher Werte alle zehn Sekunden um einen Dollar. Die letzte Notiz des Börsentickers an diesem Tag um kurz nach halb sechs: „Gesamtumsatz heute 16 410 000 (Aktien). Gute Nacht“. Die Talfahrt, zu der die amerikanische Börse angesetzt hatte, sollte fast drei Jahre dauern, und mit der Börse stürzte auch die amerikanische Wirtschaft ab und riss fast die gesamte Weltwirtschaft mit in die Tiefe. Auch wenn Ihnen das merkwürdig vorkommen mag – aber der große Börsenkrach des Jahres 1929, der eine Weltwirtschaftskrise nach sich zog, hat die Welt dauerhaft verändert, bis heute. Er hat auch die ökonomische Theorie nachhaltig verändert, die sich in dieser Weltwirtschaftskrise blamierte – der damals herrschenden Theorie zufolge hätte es zu einer solchen Krise nicht kommen dürfen. Diese Krise war die Geburtsstunde einer neuen ökonomischen Theorie, eigentlich einer neuen Disziplin: der Makroökonomie.
Depression … © picture-alliance/akg
Was ist Makroökonomie? Im ersten Teil des Buches haben wir uns mit dem beschäftigt, was Ökonomen Mikroökonomie nennen: Die Entscheidungen einzelner Menschen, Unternehmen auf einzelnen Märkten. In der Makroökonomie geht es nicht um das Kleine, den einzelnen (das mikroskopische), sondern das große Ganze (das makroskopische). Hier sprechen wir nicht von einzelnen Konsumenten (wie in der Mikroökonomie), sondern von allen Konsumenten einer Volkswirtschaft, nicht von einem einzelnen Markt (für Eis, Schuhe oder I-Pods), sondern von allen Märkten zusammen. Wir fragen nicht danach, was auf dem Markt für Schuhe passiert, sondern was auf allen Märkten des Landes passiert; wir interessieren uns nicht für das Schicksal und das Verhalten eines einzelnen Unternehmens, sondern das aller Unternehmen. Macht das einen Unterschied? Offensichtlich ja. Die erste Intuition sagt uns eigentlich, dass es keinen Unterschied macht, ob man ein Unternehmen
… und Börsenkrach © picture-alliance/akg
Teil 2: Makroökonomie
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oder viele Unternehmen, einen Konsumenten oder viele Konsumenten betrachtet – schließlich unterliegen sie alle den gleichen Anreizen, und die Idee, dass Menschen auf Anreize reagieren, müssen wir auch in diesem Kapitel nicht über Bord werfen. Und doch – scheinbar ist es so, dass sich das Ganze anders verhalten kann als die Summe seiner Einzelteile. Nehmen wir doch einmal die Weltwirtschaftskrise: Im Zuge dieser Krise fiel das Sozialprodukt, also die Gesamtproduktion einer Volkswirtschaft (eine genaue Definition folgt noch), in den meisten Volkswirtschaften der Welt drastisch; Massenarbeitslosigkeit war die Folge. Aber eigentlich ist das unlogisch: Menschen wollen doch in der Regel mehr Güter konsumieren, also muss man auch mehr Güter herstellen und will auch mehr Güter herstellen – aber warum hat man es in der Krise nicht getan? Wieso sinkt die Produktion von Gütern, obwohl doch alle Menschen mehr Güter herstellen wollen? Am fehlenden Arbeitswillen kann es nicht liegen, denn die Menschen haben damals wie verrückt nach Arbeit gesucht – aber keine bekommen. Das ist verwirrend: Wenn alle Menschen bereit sind, mehr zu arbeiten, und alle Menschen mehr Güter konsumieren wollen, die man mit Hilfe dieser Arbeit herstellt – warum haben wir dann Massenarbeitslosigkeit und ein sinkendes Sozialprodukt? Rein mikroökonomisch können wir nicht erklären, was hier passiert, denn der Mikroökonom kommt zu dem Ergebnis, dass eine solche Rezession eigentlich nicht auftreten dürfte. Wenn jeder mehr konsumieren und produzieren will – warum sollte man dann genau das Gegenteil tun? Beispiele dieser Art gibt es in Hülle und Fülle:
Japan versank Mitte der Neunziger Jahre in einer langen Krise, von der sich das Land bis heute kaum erholt hat. Zuvor wurde Japan noch als Musterbeispiel für eine moderne westliche Wirtschaftsordnung gepriesen (Die Bücher, in denen davor gewarnt wurde, dass Japan die neue ökonomische Weltmacht werde und den Europäern die Arbeitsplätze wegnehme, finden Sie heute nicht einmal mehr im Antiquariat. Stattdessen wird jetzt vor der chinesischen Gefahr gewarnt. Schauen wir mal, wie es diesen Büchern in ein paar Jahren ergehen wird).
In den siebziger Jahren kam es zu schweren Einbrüchen des Wachstums in den westlichen Industrienationen, als die Organisation der erdölexportierenden Staaten (OPEC) die Ölpreise drastisch anhob, in Deutschland gab es sogar Sonntagsfahrverbote. Die negativen Folgen dieser Ölpreisschocks kann man noch heute in den Statistiken sehen.
Europa litt in den siebziger und frühen achtziger Jahren unter der so genannten Eurosklerose – hohe Arbeitslosigkeit und geringes Wachstum prägten den Kontinent; begleitet von einem Rückfall in nationale Egoismen statt einem Fortschritt der europäischen Einigung. Im Gegensatz dazu beeindruckten die vier sogenannten Tigerstaaten – Südkorea, Taiwan, Hong Kong und Singapur – mit hohen Wachstumsraten und einer erstaunlichen ökonomischen Dynamik.
Mitte 2008 wurde die Welt von einer Finanz- und Immobilienkrise gebeutelt, die zu einem Einbruch der Aktienkurse und des Wachstums
11 Was ist Makroökonomie?
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in vielen Industriestaaten führte. Ängste wurden laut, dass nach 1929 die zweite Weltwirtschaftskrise mit entsprechenden Folgen bevorstehe. Dieses Beispiel ist nicht nur wegen seiner Aktualität interessant, sondern auch deswegen, weil man hier jetzt die Lehren, die man aus der Krise 1929 gezogen hatte, in der Politik entsprechend berücksichtigen konnte.
Im Jahr 2009 wird die Europäische Union von der Schuldenkrise ihrer Mitgliedsstaaten erschüttert – einzelne Staaten haben sich überschuldet und gefährden den Zusammenhalt der Europäischen Währungsunion. Alle diese Beispiele – die wir uns in diesem Teil des Buches näher anschauen werden – sind Beispiele für makroökonomische Krisen, bei denen die klassische mikroökonomische Theorie, wie wir sie im ersten Teil des Buches kennen gelernt haben, nicht alle Fragen beantworten kann. Hier muss also ein etwas anderer Denkansatz her, die Makroökonomie. Die makroökonomischen Ziele. Die obigen Beispiele zeigen auch schon, welches die Ziele einer makroökonomischen Theorie und Politik sind:
Wohlstand. Das ist das oberste Ziel: Jede Politik hat letztlich das Ziel, den Wohlstand eines Landes zu erhöhen. Da unterscheidet sich die Makroökonomie nicht von der Mikroökonomie: Ökonomie ist, das Beste aus dem Leben zu machen, im Fall der Makroökonomie das Beste aus dem Leben aller Bürger. Aber Vorsicht: Verwechseln Sie auch hier nicht Wohlstand mit Geld oder Gütern. Mehr Wohlstand kann, muss aber nicht mit mehr Gütern verbunden sein. Was es genau mit diesem Ziel auf sich hat, schauen wir uns im 12. Kapitel an.
Preisniveaustabilität. Hier geht es darum, die katastrophalen Folgen der so genannten Inflation zu verhindern. Mit Inflation ist der Anstieg aller Preise einer Volkswirtschaft gemeint – was das genau bedeutet, schauen wir uns im 13. Kapitel an.
Wachstum. Dieses Ziel ist nahe liegend: Je mehr wir wachsen, umso größer sind die Chancen, dass wir den Wohlstand unserer Volkswirtschaft erhöhen. Aber auch hier gilt, dass wir Wachstum zwar zumeist in Gütern messen, dass Wachstum aber auch alles umfasst, was nicht oder nur schwer messbar ist. Das schauen wir uns im 14. Kapitel an.
Beschäftigung. Dieses Ziel hat in der Politik wohl den höchsten Stellenwert, obgleich man als Ökonom dazu sagen muss, dass das Ziel „mehr Arbeit“ vor allem aus mikroökonomischer Perspektive eigentlich kein Ziel ist: Das Ziel muss es doch sein, seinen Wohlstand mit weniger Arbeit zu erwirtschaften. Niemand arbeitet mehr, wenn er das gleiche Ergebnis auch mit weniger Arbeit erreichen kann. Mehr Beschäftigung ist aber aus makroökonomischer Sicht sinnvoll, wenn man mit mehr Beschäftigung auch mehr Wohlstand schaffen will. Ein weiterer Aspekt des Ziels „mehr Arbeit“ ist die gesellschaftliche und soziale Komponente der Beschäftigung – auch darüber werden wir im 15. Kapitel sprechen.
Die Ölkrise in den 1970er Jahren, mit nur einem PS auf der Straße.
Teil 2: Makroökonomie
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Die makroökonomischen Variablen. Aus dieser Liste der makroökonomischen Ziele leiten sich auch die makroökonomischen Variablen ab, mit denen wir arbeiten werden:
Das Sozialprodukt werden wir verwenden, um die Wohlfahrt einer Volkswirtschaft zu messen – auch wenn wir wissen, dass diese Maßzahl recht unvollkommen ist.
Die Inflationsrate werden wir zur Messung der Preisniveaustabilität verwenden; auch hier gibt es einige kritische Aspekte, die wir beispielsweise bei der Teuro-Diskussion kennen lernen werden.
Die Arbeitslosenquote werden wir als Maßstab dafür verwenden, ob wir Bundesagentur für Arbeit
das Beschäftigungsziel erreicht haben. Diese vier Ziele und die sie bestimmenden Variablen werden wir in den folgenden Kapiteln näher untersuchen – das bildet dann die Voraussetzung für die Suche nach der Antwort, wie man diese Ziele mit Hilfe der Politik erreichen kann. Lassen Sie uns mit der Frage starten, was Wohlstand ist.
Arbeitsauftrag 25 Suchen Sie weitere Beispiele für makroökonomische Krisen und Phänomene.
Zusammenfassung 1. Während Mikroökonomie sich mit einzelnen Konsumenten und Unternehmen beschäftigt, untersucht die Makroökonomie Volkswirtschaften als Ganzes – also die Summe aller Konsumenten, Unternehmen und den Einfluss des Staates auf die Gesamtwirtschaft. 2. Ziel makroökonomischer Politik ist es, die Wohlfahrt eines Landes zu maximieren, also für Wachstum zu sorgen, die Inflationsraten niedrig zu halten und die Beschäftig hoch. 3. Beispiele für makroökonomische Phänomene sind (oder waren) die große Depression 1929, die Wachstumsschwächen in Europa oder Japan oder die Schuldenkrise der Europäischen Union des Jahres 2009.
Was ist Wohlstand? Wohlstand beginnt dort, wo der Mensch anfängt, mit dem Bauch zu denken. (Norman Mailer, amerikanischer Schriftsteller) Um was geht es? Das oberste Ziel allen ökonomischen Überlegungen liegt – wie wir bereits im ersten Teil des Buches gelernt haben – darin, das Beste aus seinem Leben zu machen. Für den einzelnen – also mikroökonomisch betrachtet – bedeutet das, aus den gegebenen Mitteln das Beste herauszuholen; für die Politik, die das gesamte Land im Auge hat – also makroökonomisch betrachtet –, bedeutet das, darauf zu achten, dass es genügend dieser Mittel gibt. Es geht also darum, den Wohlstand aller Bürger zu steigern. Doch um eine Politik zu finden, die dies möglich macht, müssen wir den Begriff Wohlstand messbar machen. Wie soll man überprüfen, ob eine Politik wohlfahrtsfördernd ist, wenn man nicht weiß, wie man Wohlstand misst? Nun gibt es wohl kaum einen Menschen, der nicht der Meinung ist, dass man die Wohlfahrt eines Landes maximieren sollte, doch die Meinungen darüber, was Wohlstand ist, gehen weit auseinander. Und genau darüber werden wir in diesem Kapitel sprechen: Was ist Wohlstand, wie kann man ihn definieren und welche Probleme ergeben sich bei der Messung? Was ist Wohlstand? Also, was ist eigentlich Wohlstand? Die erste Idee, die einem durch den Kopf schießt, ist natürlich der Besitz an vielen Gütern: Wer ein Haus hat, Autos, Kleidung, was auch immer, der ist wohlhabend, lebt im Wohlstand. Das ist auch die Variante, die wir uns im Folgenden näher betrachten werden – nach dieser Idee definiert sich Wohlfahrt nach der Anzahl der Güter, die wir produzieren und besitzen. Wem dieser Begriff jetzt zu eng ist, hat völlig Recht: Wohlfahrt ist wesentlich mehr als Hab und Gut, Wohlfahrt ist ein Leben in Freiheit, ohne Angst, in Zufriedenheit und Gelassenheit – Wohlstand ist es, ein Leben so zu führen, wie man es führen möchte. Das Problem an diesem Ansatz besteht allerdings darin, dass man ihn nicht messbar machen kann – und was wir nicht messen können, lässt sich schlecht für eine wohlfahrtsorientierte Politik nutzbar machen. Darum wollen wir im weiteren Verlauf dieses Buches folgendermaßen vorgehen: Wir werden Wohlstand anhand der Gütermenge messen, die eine Volkswirtschaft herstellen kann – wohl wissend, dass dieser Ansatz viel zu eng ist, um der eigentlichen Bedeutung des Wortes Wohlstand gerecht zu werden. Also werden wir im Anschluss an die nun folgende Definition und Messung von Wohlstand uns zuerst einige Gedanken darüber machen, was bei dieser Form der Wohlstandsmessung schief gehen kann, anschließend werden wir zumindest ansatzweise versuchen, dem Begriff Wohlstand etwas näher zu Leibe zu rücken, indem wir fragen, was denn Menschen glücklich macht. Lassen Sie uns aber zunächst einmal überlegen, wie man denn Wohlstand misst, wenn man darunter die Menge aller Güter versteht, die ein Volk herstellt. Wir müssen also über das Sozialprodukt sprechen.
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Teil 2: Makroökonomie
In der Diskussion Was ist für Sie Wohlstand, was macht Sie wohlhabend?
Das Sozialprodukt. Die Idee ist also folgende: Wir nehmen einmal an, dass wir den Wohlstand einer Volkswirtschaft dadurch erhöhen können, indem wir die Menge der Güter erhöhen, die diese Volkswirtschaft produziert – je mehr wir herstellen, um so mehr können wir konsumieren, um so wohlhabender sind wir (obwohl wir wissen, dass materielle Dinge eben nicht alles sind, was es zu mehr Wohlstand braucht). Und wenn wir eine Politik betreiben wollen, mit deren Hilfe wir die Wohlfahrt eines Landes – also seine Güterproduktion – erhöhen wollen, dann müssen wir diese in einem ersten Schritt zunächst einmal messen. Und diese Güterproduktion wollen wir Sozialprodukt nennen, genauer gesagt spricht man vom Bruttoinlandsprodukt. Das können wir wie folgt definieren:
Wir erfassen den so genannten Bruttowert der Produktion; d.h. den Wert aller hergestellten Endprodukte; nicht enthalten in dieser Bruttogröße ist die Abnutzung der Maschinen, die zur Herstellung dieser Güter benutzt werden – das sind die Abschreibungen, die wir uns später noch genauer anschauen werden.
Inlandsprodukt bedeutet, dass wir die Produktionsvorgänge im Inland erfassen; also auch die Produktion von Ausländern, die im Inland arbeiten. Zudem wollen wir uns auf einen bestimmten Zeitraum einigen, innerhalb dessen diese Produktion erfolgt – das ist natürlicherweise ein Jahr.
Wir erfassen nur den Wert der Endprodukte; der Wert so genannter Vorleistungen, die in ein Endprodukt einfließen, wollen wir heraus rechnen.
Natürlich müssen wir diese Produktion auch bewerten – das machen wir, indem wir den Wert dieser Produkte zu ihrem Marktpreis ansetzen. Schauen wir uns diese Punkte etwas näher an. Die erste Frage lautet natürlich: Wie misst man die Produktion eines gesamten Landes? Hier gibt es drei verschiedene Methoden der Messung, die – anders kann es gar nicht sein – jeweils zum gleichen Ergebnis führen: Sie können die gesamte Produktion eines Landes über die Entstehungsrechnung, die Verwendungsrechnung oder die Verteilungsrechnung ermitteln. Die erste Idee, wie man die Produktion eines Landes misst, ist nahe liegend: Man zählt einfach sämtliche Produkte zusammen, die in einem Jahr verbraucht worden sind und erhält damit das Sozialprodukt– das ist die Verwendungsrechnung. Wir gehen also in jeden Haushalt dieses Landes und zählen, was da an Gütern konsumiert worden ist (Dienstleistungen betrachten wir dabei auch als Güter, die man konsumiert), zudem zählen wir alles zusammen, was Unternehmen an Gütern verbraucht haben und was die Unternehmen investiert haben (mit diesem Begriff werden wir uns auch noch näher beschäftigen). Haben wir damit wirklich alle Güter erfasst, die
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das Land produziert hat? Nicht ganz, wir müssen zwei kleine Korrekturen vornehmen: Erstens haben die Fabriken des Landes möglicherweise einige Dinge produziert, die sie noch nicht verkauft haben, die also noch im Lager schmoren. Da das auch zur Produktion eines Landes zählt, müssen wir diese (im betreffenden Jahr neu produzierten) Lagerbestände zum Konsum der Haushalte dazu rechnen. In der Statistik spricht man von Vorratsveränderungen. Die zweite Korrektur betrifft das Ausland: Unsere Haushalte werden auch Güter konsumieren, die sie im Ausland gekauft haben (so genannte Importe) – das ist natürlich keine Produktion des Inlandes, deswegen ziehen wir die Importe vom Konsum ab. Im Gegensatz dazu zählen wir die Exporte des Landes, also das, was die Fabriken ins Ausland verkaufen, zu unserer Produktion dazu, denn das ist ja eine Produktionsleistung des Inlandes, obwohl diese Güter nicht von den inländischen Konsumenten verbraucht werden. Damit haben wir die gesamte Produktion unseres Landes, das Sozialprodukt, bestimmt: Es ist die Summe aller Güter und Dienstleistungen, welche die Bürger gekauft haben, plus die Vorratsveränderungen, plus die Exporte, minus die Importe. Abgekürzt kann man das wie folgt schreiben: Sozialprodukt = Summe aller Ausgaben + Vorratsveränderungen + Exporte – Importe Das können wir nun etwas mehr aufschlüsseln, indem wir fragen, wer denn da eigentlich was konsumiert. Die Summe aller Ausgaben kann man unterteilen in drei verschiedene Arten:
Da wären zum einen die so genannten Konsumausgaben – das ist also der Konsum der Bürger – Lebensmittel, Wäsche, Gebrauchsgegenstände, Dienstleistungen; alles, was man so zum Leben benötigt.
Dann gibt es die Investitionsausgaben, die von den Unternehmen getätigt werden: Das sind alle Ausgaben zum Kauf von Produkten, mit deren Hilfe man im nächsten Jahr mehr produzieren kann – also beispielsweise Maschinen. Hier greifen wir noch zu einem kleinen Trick: Die Vorratsveränderungen, die ja auch ein Teil der Produktion des betreffenden Jahres sind, verbuchen wir einfach als Lagerinvestitionen. Das ist auch nicht verkehrt, schließlich werden diese Güter (noch nicht) konsumiert und verbleiben bei den Unternehmen, also liegt es nahe, sie den Unternehmen als Investition zuzuschlagen.
Dann sind da noch die Staatsausgaben, also alles, was der Staat an Geld ausgibt. Wegen der besonderen Rolle des Staates ist es sinnvoll, dass man sie getrennt von den Ausgaben der Konsumenten und der Unternehmen ausweist. Wenn wir diese drei Arten der Ausgaben in die obige Definition des Sozialproduktes einsetzen, erhalten wir
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Sozialprodukt = Konsum + Investitionen + Staatsausgaben + Exporte – Importe Diese Gleichung definiert also das Sozialprodukt, die Menge aller in einer Periode hergestellten Güter, von der Verwendungsseite: Es ist dann die Summe aller Ausgaben der Bürger (der Konsum), der Unternehmen (Investitionen) und des Staates, plus der hergestellten Exportgüter minus der konsumierten Importgüter (der Saldo, also Exporte minus Importe, wird auch als Außenbeitrag bezeichnet). Diese Definition wird uns später noch einmal nützlich sein. Abbildung 47 zeigt Ihnen, wie die Deutschen ihr Sozialprodukt im Jahr 2010 verwendet haben: Wie Sie sehen, macht der private Konsum einen Löwenanteil aus; das sind die Waren- und Dienstleistungskäufe der inländischen privaten Haushalte für Konsumzwecke. Neben den tatsächlichen Käufen, zu denen unter anderem Entgelte für häusliche Dienste gehören, sind auch bestimmte Käufe enthalten, die man unterstellt, wie zum Beispiel der Eigenverbrauch der Unternehmer, der Wert der Nutzung von Eigentümerwohnungen oder so genannte Naturalentgelte für Arbeitnehmer (zum Beispiel Freifahrten für Bahnangestellte oder der Haustrunk für die Angestellten der Brennerei). Ebenfalls unter die Rubrik „Konsum“ fallen übrigens die Staatsausgaben – das ist der Wert der Güter, die der Staat selbst herstellt, inklusive der Ausgaben für Güter, die als soziale Sachtransfers an private Haushalte gehen. Mit den Staatsausgaben werden wir uns noch in einem eigenen Kapitel beschäftigen. Die Bruttoinvestitionen untergliedern sich in Ausrüstungen (Maschinen, Geräte, Fahrzeuge), Bauten (Wohnbauten, Nichtwohnbauten) und sonstige Anlagen (beispielsweise Software, Urhe-
Außenbeitrag 5,2%
Bruttoinvestitionen 17,5 %
2 498,80 Mrd. EUR Konsum 77,3%
Abbildung 47: Verwendung des Bruttoinlandsproduktes 2010 (Quelle: Statistisches Bundesamt: Statistisches Jahrbuch 2011; Wiesbaden 2011; S. 633. URL: http://www.destatis.de/DE/ Publikationen/StatistischesJahrbuch/ StatistischesJahrbuchKomplett.pdf?)
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berrechte, Nutztiere und Nutzpflanzungen) – über die Bedeutung des Wortes „brutto“ werden wir noch sprechen, wenn wir über Abschreibungen sprechen.
In der Praxis: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung Die Berechnung des Sozialproduktes ist Bestandteil der so genannten volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, die ein umfassendes, übersichtliches Gesamtbild des wirtschaftlichen Geschehens in der Bundesrepublik geben soll und vom statistischen Bundesamt in Wiesbaden durchgeführt wird. Neben der Inlandsproduktsberechnung gehören zur volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung die InputOutput-Rechnung, die Finanzierungsrechnung, die Erwerbstätigenrechnung, die Arbeitsvolumenrechnung und die Vermögensrechnung. Die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung erfolgt dabei nach einem einheitlichen Europäischen Standard, dem Europäischen System Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen (ESVG) 1995, wo Definitionen, Konzepte und vieles mehr einheitlich geregelt ist. Die Daten der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen werden von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Medien und Verwaltung genutzt; sie dienen als Grundlage für Gutachten, Wachstumsprognosen, Steuerschätzungen, Rentenanpassungen, Tarifverhandlungen und vieles mehr. Auch auf internationaler Ebene benötigt man die Daten der VGR, so beispielsweise bei der Berechnung der Mitgliedsbeiträge der EU-Staaten an die EU und im Rahmen der gemeinsamen europäischen Währungspolitik.
Denksportaufgabe 13 Was kann denn alles schief gehen, wenn wir das Sozialprodukt auf der Entstehungsseite messen – welche Probleme hat diese Idee?
Aber man kann die Menge der hergestellten Güter auch auf anderem Weg messen – nicht darüber, was die Menschen konsumieren, sondern einfach, indem wir uns an die Werkstore der Unternehmen stellen und zählen, was denn da so rausgeht – das ist die so genannte Entstehungsrechnung. Also: Wir zählen den Wert der Produktion aller Unternehmen zusammen – das nennt man Bruttoproduktionswert. Allerdings würden wir den Wert unseres Sozialproduktes überschätzen, wenn wir an allen Werkstoren die Waren zusammenzählen, wegen der so genannten Vorleistungen. Was ist damit gemeint? Stellen wir uns dazu vor, dass es nur zwei Unternehmen in unserer Volkswirtschaft gibt: Unternehmen A produziert Reifen und liefert diese an
Statistisches Bundesamt: Hier wird das Sozialprodukt gezählt.
Teil 2: Makroökonomie
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Hier wird Sozialprodukt geliefert und geleistet.
Unternehmen B, das damit Autos herstellt. Der Produktionswert der Reifen beträgt 100 Euro, der Wert der Autos 210 Euro. Würden wir uns nun – so ist die Idee der Entstehungsrechnung – an die Werkstore stellen und den Wert der Produktion messen, dann kämen wir auf 310 Euro (100 Euro beim Reifenwerk, 210 Euro beim Autohersteller); der Wert der konsumierten Güter wäre allerdings nur 210 Euro, denn das sind die Autos, welche die Konsumenten von den Unternehmen kaufen. Da muss offensichtlich ein Fehler vorliegen, und der ist leicht zu finden: Der Wert der Reifenproduktion steckt ja im Verkaufspreis der Autos drin; und wenn wir nun den Wert der gesamten Produktion des Landes ermitteln wollen, indem wir den Wert der produzierten Güter an den Werkstoren erfassen, dann erfassen wir den Produktionswert der Reifen zweimal – einmal am Werkstor des Reifenherstellers, einmal am Werkstor des Automobilherstellers. Wir müssen also den Wert der Reifen – man spricht hier von Vorleistungen – aus dem Verkaufspreis der Autos herausrechnen, um Doppelzählungen zu vermeiden. Wenn wir also von der Summe der Produktionswerte alle Vorleistungen abziehen, erhalten wir die so genannte Bruttowertschöpfung. Diese müssen wir nur noch um eine kleine Unebenheit korrigieren, da wir den Wert der hergestellten Güter bei den Unternehmen zu ihrem Herstellungswert messen (wir greifen die Warenströme sozusagen gedanklich noch vor dem Werkstor ab, direkt, wenn sie aus der Werkhalle kommen). Doch der Herstellungspreis der Güter ist oft nicht gleich ihrem Marktpreis, nämlich dann, wenn der Staat diese Güter besteuert oder subventioniert. Also müssen wir zu den Herstellungskosten die Gütersteuern addieren (da sie das Produkt teurer machen) und die Subventionen abziehen (da sie die Güter billiger machen); dann erhalten wir die Marktpreise der Güter. Damit haben wir das Sozialprodukt von der Entstehungsseite her definiert: Sozialprodukt = Produktionswert – Vorleistungen + Gütersteuern – Subventionen Wichtig daran ist, dass hier der gleiche Wert herauskommen muss wie bei der Verwendungsrechnung, da wir ja den gleichen Tatbestand nur an unterschiedlicher Stelle messen: Bei der Verwendungsrechnung messen wir den Wert der konsumierten Güter, bei der Entstehungsrechnung den Wert der gleichen Güter, nur nicht hinter dem Verkaufsschalter, sondern am Werkstor (also vor dem Verkaufsschalter). Jetzt sehen Sie auch, dass wir die Gütersteuern in der Tat bei der Entstehungsrechnung hinzu addieren müssen: Würden wir bei der Entstehungsrechnung nicht die Steuern draufschlagen (die Subventionen abziehen), dann hätten wir Preisunterschiede bei der Erfassung der Waren am Werkstor (wo noch keine Steuern und Subventionen drauf sind) und der Erfassung an der Ladenkasse (wo diese in den Preisen enthalten sind). Abbildung 48 zeigt Ihnen, welche Branchen und Sektoren was zur Entstehung des deutschen Inlandsproduktes beigetragen haben (das sind sozusagen die Warenströme, die man an den Werkstoren der Landwirte, des Baugewerbes, des Handels usw. gemessen hat).
12 Was ist Wohlstand?
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Landwirtschaft 0,9% Produzierendes Gewerbe 23,7%
Baugewerbe 4,1%
Dienstleister 23,6% 2 498,80 Mrd. EUR
Handel und Verkehr 17,2%
Finanzierung und Vermietung 30,4%
In der Praxis: Entstehungsrechnung und die Dienstleistungsgesellschaft Mit Hilfe der Entstehungsrechnung kann man auch sehen, wie die Zusammensetzung der Produktion eines Landes ist, da diese Rechnung ja die Produktion in den unterschiedlichen Wirtschaftsbereichen erfasst. In der Praxis gliedert man diese Wirtschaftsbereiche in drei Sektoren, den primären, sekundären und tertiären Sektor. Der primäre Sektor umfasst Branchen wie die Landwirtschaft und Bergbau (also Rohstoffgewinnung); der sekundäre Sektor beinhaltet die Industrie, der tertiäre Sektor enthält alle Dienstleistungen. Schaut man sich die relativen Anteile dieser Sektoren am gesamten Sozialprodukt an, so kann man die Produktionsstruktur eines Landes analysieren. Noch interessanter wird es, wenn man sich die Entwicklung der Wirtschaftsstruktur über viele Jahre hinweg ansieht: Dann, so die Theorie der Drei-Sektoren-Hypothese, erkennt man, dass der primäre Sektor einen zunehmend geringeren Anteil hat, der sekundäre Sektor anfänglich steigt, mittlerweile aber längst zugunsten der Dienstleistungen sinkt, deren Anteil am Sozialprodukt in den vergangenen Jahren stetig zugenommen hat – da ist sie also, die viel beschworene Dienstleistungsgesellschaft. Dieses Phänomen einer sich ständig wandelnden Wirtschaftsstruktur – Ökonomen sprechen vom Strukturwandel – wird uns in den folgenden Kapiteln noch beschäftigen.
Bleibt noch die dritte Möglichkeit, das Sozialprodukt, die Menge der in einer Volkswirtschaft hergestellten Güter, zu bestimmen, nämlich über die
Abbildung 48: Entstehung des Sozialproduktes 2010 (Quelle: Statistisches Bundesamt: Statistisches Jahrbuch 2011; Wiesbaden 2011; S. 633. URL: http://www.destatis.de/DE/ Publikationen/StatistischesJahrbuch/ StatistischesJahrbuchKomplett.pdf?)
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0 1800
(Quelle: Die Sozialstruktur Deutschlands. Aktuelle Entwicklungen und theoretische Erklärungsmodelle. Gutachten im Auftrag der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung, S. 17. URL: http://library.fes.de/pdf-files/ wiso/07619.pdf)
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Abbildung 49: Die Drei-SektorenHypothese in Deutschland: Erwerbstätige in Prozent nach Produktionssektoren
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primärer Sektor sekundärer Sektor teritärer Sektor
Verteilungsrechnung. Der grundliegende Gedanke ist einfach: Man kann den Wert der Produktion bestimmen, indem man diese am Werkstor zählt (Entstehungsrechnung), an der Ladenkasse (Verwendungsrechnung) oder aber, indem man die Verdienste der Bürger zusammen zählt, und das ist eben die Verteilungsrechnung. Wieso funktioniert das? Jedes Produkt, das hergestellt wird, ist ja die Schaffung eines Wertes, und dieser Wert fließt ja dem- oder derjenigen zu, der diesen Wert geschaffen hat. Wenn unser Auto beispielsweise 210 Euro kostet, dann gehen von diesem Kaufpreis 100 Euro an den Besitzer der Reifenfabrik (der die Reifen im Wert von 100 geliefert
Unternehmens- und Vermögenseinkommen 33,7%
1 901,25 Mrd. EUR
Abbildung 50: Verteilung des Volkseinkommens 2010 (Quelle: Statistisches Bundesamt: Statistisches Jahrbuch 2011; Wiesbaden 2011; S. 633. URL: http://www.destatis.de/ DE/Publikationen/ StatistischesJahrbuch/html)
Arbeitnehmerentgeld 66,3%
12 Was ist Wohlstand?
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hat), und sagen wir 40 Euro an den Besitzer der Autofabrik, der diese als Gewinneinkommen verbucht, und die restlichen 70 Euro gehen an die Arbeitnehmer, die diese als Lohneinkommen verbuchen. Und das gilt für alle Produkte: Wenn man diese verkauft, dann geht ein Teil an den Unternehmer als Gewinneinkommen, ein Teil an die Arbeitnehmer als Lohneinkommen; und die Summe von Lohn- und Gewinneinkommen bildet dann wieder den Wert aller produzierten Produkte ab – das Sozialprodukt. Also: Sozialprodukt = Lohneinkommen + Gewinneinkommen Und auch hier gilt: das auf diesem Weg ermittelte Sozialprodukt muss identisch sein mit dem Sozialprodukt der Verwendungsrechnung und dem Sozialprodukt der Entstehungsrechnung. Allerdings muss man zur Verteilungsrechnung anmerken, dass man die Daten hierfür nicht auf direktem Weg beziehen kann. Deswegen werden wir unten einen Umweg kennen lernen, wie man diese Zahlen näherungsweise berechnen werden. Lassen Sie uns die drei Wege über ein Beispiel illustrieren; wir verwenden dazu Abbildung 51. Reifenhersteller
Autohersteller
Verkaufserlöse
100
Löhne
80
Gewinn
20
p beliefert
Verkaufserlöse
210
Löhne
70
Vorleistungen
100
Gewinn
40
Unser Reifenhersteller beliefert den Automobilhersteller mit Reifen im Wert von 100 Euro; zur Herstellung der Reifen zahlt er 80 Euro Löhne an seine Arbeitnehmer; 20 Euro bleiben als Gewinn für ihn übrig, damit zahlt er seine Maschinen, das ist sein Unternehmerlohn. Der Autohersteller fügt an die Reifen noch ein Auto an und verkauft dieses für 210 Euro; dabei zahlt er 70 Euro Löhne, 100 Euro für die Reifen und 40 Euro bleiben ihm als Gewinn. Unser Sozialprodukt berechnet sich nun wie folgt:
Nach der Verwendungsrechnung zählen wir den Wert aller gekauften Güter zusammen – wenn wir nur einen Wagen herstellen und für 210 Euro verkaufen, dann macht das ein Sozialprodukt von 210 Euro.
Nach der Entstehungsrechnung zählen wir alle Produktionswerte zusammen – 100 Euro Reifenproduktion plus 210 Euro Autoproduktion – und ziehen davon die Vorleistungen – 100 Euro für Reifen – ab, macht ein Sozialprodukt von 210 Euro.
Nach der Verteilungsrechnung erhalten die Arbeitnehmer 80 Euro in der Reifenfabrik und 70 Euro in der Automobilfabrik; macht 150 Euro Lohneinkommen. Die Unternehmer verdienen 20 Euro in der Reifenproduktion und 40 Euro in der Automobilproduktion, macht zusammen 60
Abbildung 51: Eine einfache Volkswirtschaft
Teil 2: Makroökonomie
254
Euro Gewinneinkommen. Zählen wir die Gewinneinkommen und die Lohneinkommen zusammen, kommen wir auf 150 plus 60 Euro, also 210 Euro. Sozialprodukt, Nationaleinkommen und Volkseinkommen. Nun haben wir bisher eher nebulös vom Inlandsprodukt respektive vom Wert aller produzierten Waren und Dienstleistungen gesprochen – das können wir noch ein wenig präzisieren und zugleich einen Weg finden, wie wir Zahlen zur Verteilungsrechnung bekommen. Zunächst ermitteln wir das Bruttoinlandsprodukt, das sind alle Waren und Dienstleistungen, die im betreffenden Zeitraum (in der Regel ein Jahr) im Inland hergestellt worden sind. Das erhalten wir aus der Verwendungs- oder der Entstehungsrechnung.
Historischer Grenzpfosten: Früher endete hier das deutsche Inlandsprodukt
Was aber, wenn uns nicht das Sozialprodukt interessiert, das im Inland hergestellt wurde, sondern das von Inländern hergestellt wurde? Der Unterschied zwischen beiden Konzepten sind die Ausländer, die in Deutschland und die Deutschen, die im Ausland leben. Wenn wir die Einkommen, welche Ausländer im Inland erwerben (also der Wert der Güter, die sie in Deutschland herstellen) herausrechnen und die Einkommen der Deutschen aus dem Ausland (also der Wert der Güter, welche die Deutschen im Ausland herstellen) hinzurechnen, dann haben wir den Wert aller Waren und Dienstleistungen, die von Deutschen hergestellt worden sind, das so genannte Bruttonationaleinkommen (früher nannte man das Bruttosozialprodukt). Der Unterschied zwischen Bruttoinlandsprodukt und Bruttonationaleinkommen liegt also in der Fragestellung: Das Bruttoinlandsprodukt verrät uns, wie viel Waren und Dienstleistungen auf deutschem Boden hergestellt wurden (von Deutschen und Ausländern im Inland), das Bruttonationaleinkommen hingegen zeigt an, wie viel Waren und Dienstleistungen alle deutschen Staatsbürger hergestellt haben (im In- und Ausland). Welche von beiden Zahlen Sie verwenden, hängt natürlich von der Fragestellung ab. Wenn wir uns noch einmal darauf besinnen, warum wir das Sozialprodukt berechnen, kommen wir auf eine weitere Idee: Wir berechnen das Sozialprodukt, um etwas über unseren Wohlstand zu erfahren; und das Sozialprodukt verrät uns, wie viel wir im jeweiligen Jahr geleistet haben. Dieses „was wir geleistet haben“ ist allerdings nicht identisch mit „was wir konsumieren können“. Der Punkt ist nämlich der: Bei der Herstellung des Sozialproduktes haben wir auch Maschinen genutzt, die bei der Herstellung abgenutzt wurden. Und diesen Verschleiß müssen wir berücksichtigen – das sind die so genannten Abschreibungen. Ein einfacher Vergleich macht diese Idee deutlich: Wenn Sie überlegen, ob Sie mit dem Auto oder mit der Bahn fahren sollen, vergleichen Sie den Preis des Bahntickets mit dem Preis, den Sie für das Benzin zahlen müssten. Doch dieser Vergleich ist nicht vollständig, denn Sie müssen den Verschleiß am Auto berücksichtigen (beispielsweise die Abnutzung der Reifen, des Motors etc.) und die Kosten dieses Verschleißes in Ihren Vergleich mit einbeziehen. Diese Abnutzungen sind ja echte Kosten, da Sie die abgenutzten Teile (Rei-
12 Was ist Wohlstand?
255
fen, Motor) später wieder erneuern müssen, was entsprechend Geld kostet. Da Sie aber den Motor oder die Reifen nicht nach einer Fahrt komplett erneuern müssen, werden Sie den Verschleiß anteilig auf die Kosten einer einzelnen Fahrt umlegen. Genau das sind Abschreibungen: Man legt die Kosten der Abnutzung anteilig auf die Gesamtlaufzeit des Autos (der Maschinen) um, und diese jährliche anteilige Berechnung der Abnutzung nennt man Abschreibung. Wenn wir also von unserem Sozialprodukt diesen Verschleiß unserer Maschinen – korrekterweise spricht man hier vom Anlagevermögen – abziehen, erhalten wir das Nettosozialprodukt, das ist der Teil des Güterbergs, über den wir verfügen können, wenn wir den Verschleiß des Anlagevermögens berücksichtigen. Deswegen haben wir bei der Entstehungsrechnung von Bruttoinvestitionen gesprochen, das sind alle Investitionen inklusive der Abschreibungen, also des Geldes, das sie ausgeben müssen, um Ihre Maschinen wieder zu ersetzen. Die Nettoinvestitionen sind die Investitionen ohne die Abschreibungen, also das, was wir per Saldo zusätzlich investiert haben, nachdem wir zuerst den Verschleiß der Maschinen ersetzt haben. Doch das ist nicht das Sozialprodukt, wie es uns Bürgern zur Verfügung steht, denn auch hier hat der Staat noch seine Hände im Spiel: Erst wenn wir vom Nettonationalprodukt die Steuern abziehen, die auf den Gütern liegen und die Subventionen hinzuzählen, dann haben wir den Wert aller Waren und Dienstleistungen, welche die Bürger konsumieren können. Warum ist klar: Was sie an Steuern zahlen, können sie nicht konsumieren, was sie an Subventionen erhalten, erhöht ihre Konsummöglichkeiten. Diese so ermittelte Größe – Nettonationalprodukt minus Steuern plus Subventionen – nennt man dann Volkseinkommen; das ist das, was den Bürgern tatsächlich in die Tasche fließt. Und dieses Volkseinkommen können wir nun noch einmal unterteilen in Arbeitnehmerentgelte (Bruttolöhne und -gehälter der Arbeitnehmer einschließlich Sozialbeiträge der Arbeitgeber) und den Unternehmens- und Vermögenseinkommen – das wäre dann das Volkseinkommen von der Verteilungsseite her; nämlich alle Einkommen der Arbeitnehmer und der Unternehmens- und Kapitalbesitzer. Abbildung 52 fasst noch einmal alle Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Berechnungsarten des Sozialproduktes zusammen und zeigt Ihnen auch die Zahlen für das deutsche Sozialprodukt. Dabei nutzt man die unterschiedlichen Berechnungsmethoden für unterschiedliche Fragestellungen: Wenn Sie daran interessiert sind, wie sich die gesamtwirtschaftliche Produktion entwickelt, dann gibt das Bruttoinlandsprodukt eine Antwort; wer nach den Konsummöglichkeiten der Bürger fragt, schaut sich das verfügbare Einkommen an (das allerdings klammert die Bereitstellung öffentlicher Güter durch den Staat aus) oder das Nettosozialprodukt. Der BIP-Deflator. Können wir nun mit Hilfe des Sozialproduktes feststellen, wie wohlhabend wir sind? Leider nicht ganz, denn unsere Rechnung hat
Hier landet das Volkseinkommen.
Teil 2: Makroökonomie
Land- und Forstwirtschaft, Fischerei 19,5 Konsumausgaben der privaten Haushalte 1 403,5
Baugewerbe 92,6 Handel, Gastgewerbe und Verkehr 385,3 Finanzierung, Vermietung und Unternehmensdienstleister 681,8
Abbildung 52: Berechnung des deutschen Sozialproduktes (Zahlen für 2010; in Mrd. Euro) (Quelle: Statistisches Bundesamt: Statistisches Jahrbuch 2011; Wiesbaden 2011; S. 633. URL: http://www.destatis.de/ DE/Publikationen/StatistischesJahrbuch/ StatistischesJahrbuchKomplett.pdf?)
Öffentliche und private Dienstleister 528,8
Bruttowertschöpfung
Produzierendes Gewerbe ohne Baugewerbe 531,9
=
Verwendung
Konsumausgaben der privaten Organisationen ohne Erwerbszweck 41,2
Konsumausgaben des Staates 486,7
Private Konsumausgaben
=
Entstehung
Verteilung
Arbeitnehmerentgelt 1 259,7
Unternehmens- und Vermögenseinkommen 461,6
Volkseinkommen
256
+ Produktionsund Importabgaben an den Staat abzüglich Subventionen vom Staat 277,5
+
Bruttoinvestitionen 437,2
Abschreibungen 353,2
+
+
–
Gütersteuern abzüglich Gütersubventionen 258,9
Außenbeitrag (Exporte abzüglich Importe) 130,2
Saldo der Primäreinkommen aus der übrigen Welt 33,1
einen Schönheitsfehler. Nehmen wir einmal an, wir stellen in diesem Jahr genau den gleichen Güterberg her wie im vergangenen Jahr, aber die Preise, zu denen wir diesen Berg kaufen und verkaufen, sind drastisch gestiegen. Dann würde unser Sozialprodukt steigen, ohne dass wir notwendigerweise von einem Anstieg des Wohlstands sprechen können. Die Preise, zu denen wir also das Sozialprodukt bewerten, können unsere Rechnung verzerren. Wir müssen also den Einfluss der Preise ausschalten, und das tun wir, indem wir das reale Sozialprodukt berechnen. Das, was wir bisher berechnet haben, war das so genannte nominale Sozialprodukt (nominal = zum Nennwert). Wenn wir aber den Einfluss der Preise heraus rechnen, dann bekommen wir den realen Wert, das reale Sozialprodukt. Doch wie rechnen wir den Einfluss der Preise auf unser Sozialprodukt heraus? Ganz einfach, indem wir die Preise konstant halten und ignorieren, dass diese sich auch verändern können. Klar: Wenn sich die Preise nicht ändern, dann können Sie auch nicht die Berechnung unseres Sozialproduktes stören. Wir können also definieren:
Das nominale Sozialprodukt ist Wert aller produzierten Waren und Dienstleistungen, multipliziert mit ihrem aktuellen Preis;
12 Was ist Wohlstand?
257
Das reale Sozialprodukt hingegen ist der Wert aller produzierten Waren und Dienstleistungen zu konstanten Preisen Am besten, wir schauen uns anhand eines Beispiels an, wie das funktioniert. Unterstellen wir einmal, wir haben eine Volkswirtschaft, in der nur zwei Produkte hergestellt werden – Schokolade und Kekse. In Tabelle 23 sind die Preise und Mengen für drei hintereinander folgende Jahre angegeben. Preis Schokolade
Menge Schokolade
Preis Kekse
Menge Kekse
2008
1€
10
2€
20
2009
1,20 €
15
2,20 €
25
2010
1,50 €
16
2,50 €
24
In unserem ersten Schritt berechnen wir das nominale Sozialprodukt für die drei Jahre; also die Menge der produzierten Güter mal ihrem Preis. Das macht dann für Schritt eins: Berechnung des nominalen Sozialproduktes 2008:
10 Schokolade × 1 €
+
20 Kekse × 2 €
=
50 €
2009:
15 Schokolade × 1,20 €
+
25 Kekse × 2,20 € =
73 €
2010:
16 Schokolade × 1,50 €
+
24 Kekse × 2,50 € =
84 €
Wie Sie sehen, sehen Sie nichts: nominal, also in aktuellen Preisen gerechnet, ist das Sozialprodukt zwar jedes Jahr gestiegen, doch in 2010 ist die Kekse-Produktion real, also in Gütern gemessen, gesunken, während die Schokoladen-Produktion nur um eine Tafel gestiegen ist. Schwer zu sagen, ob das ein Wohlfahrtszuwachs ist, der Anstieg der Preise übertüncht diesen Rückgang der Produktion. Um herauszubekommen, was mit unserer Wohlfahrt (also der Güterproduktion) passiert ist, berechnen wir nun im zweiten Schritt das reale Sozialprodukt. Dabei erklären wir 2008 zum so genannten Basisjahr; das heißt wir nehmen einfach die Preise dieses Jahres als Ausgangspunkt und halten diese konstant. Nun berechnen wir das reale Sozialprodukt, also das Sozialprodukt bei konstanten Preisen, indem wir einfach die Güterproduktion der Jahre 2009 und 2010 mit den Preisen des Basisjahres 2008 bewerten: Schritt zwei: Berechnung des realen Sozialproduktes 2009:
15 Schokolade × 1 €
+
25 Kekse × 2 €
=
65 €
2010:
16 Schokolade × 1 €
+
24 Kekse × 2 €
=
64 €
Wie Sie sehen, fällt der Anstieg des realen Sozialproduktes nicht so stark aus wie der Anstieg des nominalen Sozialproduktes, der auch davon getragen war, dass die Preise gestiegen sind. Rechnen wir diesen Einfluss der Preise raus (das genau ergibt ja das reale Sozialprodukt), sehen wir, dass das Sozi-
Tabelle 23: Sozialprodukt in einer einfachen Volkswirtschaft
Teil 2: Makroökonomie
258
alprodukt von 2008 auf 2009 gestiegen ist; von 2009 auf 2010 aber real gesunken ist – das ist der Einfluss der gesunkenen Keks-Produktion. Zwar steigt die Schokoladen-Produktion von 2009 auf 2010 um eine Tafel, doch wenn man diese Tafel mit dem Preis von einem Euro bewertet (dem Preis aus 2008), und der Rückgang der Keks-Produktion mit zwei Euro zu Buche schlägt (der Preis von 2008), dann sehen Sie, dass wir unter dem Strich einen Euro an realem Sozialprodukt verlieren. Mit einer letzten Berechnung können wir den Einfluss der Preise auf das Sozialprodukt auch sichtbar machen, dazu müssen wir nur das jeweilige reale und das jeweilige nominale Sozialprodukt gegenüberstellen. Das nominale Sozialprodukt im Jahr 2009 war 73, das reale Sozialprodukt 2009 war 65. Der Unterschied zwischen diesen beiden Sozialprodukten entsteht nur durch die unterschiedlichen Preise, die man bei der Berechnung der beiden Größen verwendet; also können wir den Einfluss der Preise ganz einfach dadurch ausdrücken, indem wir die beiden Sozialprodukte zueinander ins Verhältnis setzen, sprich: Durcheinander dividieren. Teilen wir 73 durch 65, so erhalten wir die Zahl 1,123, die uns den Einfluss der veränderten Preise auf das reale Sozialprodukt angibt – und diese Zahl nennt man BIPDeflator. Multiplizieren wir das reale Sozialprodukt mit dem BIP-Deflator, so erhalten wir das nominale Sozialprodukt; dividieren wir das nominale Sozialprodukt durch BIP-Deflator, so erhalten wir das reale Sozialprodukt. Mit Hilfe des BIP-Deflators lässt sich also das reale (nominale) Sozialprodukt rasch und einfach in das nominale (reale) Sozialprodukt umrechnen. In der Praxis multipliziert man den BIP-Deflator aus praktischen Gründen mit dem Wert 100. Das ist also Schritt drei: Berechnung des BIP-Deflators 2008:
(50 € / 50) € × 100
=
100
2009:
(73 € / 65) € × 100
=
112
2010:
(84 € / 64) € × 100
=
131
Sie sehen hier noch eine weitere Besonderheit: da 2008 unser Basisjahr war, in dem wir das reale und das nominale Sozialprodukt mit den gleichen Preisen bewerten, ist in diesem Jahr das reale gleich dem nominalen Sozialprodukt und der BIP-Deflator damit gleich eins. Und der BIP-Deflator des Jahres 2009 zeigt uns nun an, dass die Preise gegenüber dem Vorjahr im Schnitt um 12 Prozent gestiegen sind: Hätten sich die Preise 2009 nicht verändert, dann hätte das Sozialprodukt bei 65 gelegen, stattdessen müssen wir diesen Wert mit 1,12 multiplizieren, um das tatsächliche nominale Sozialprodukt zu erhalten – also muss der Einfluss der Preise ebenjene 12 Prozent betragen. Stellt man die gleichen Überlegungen für das Jahr 2010 an, dann sehen Sie sofort, dass der Anstieg der Preise gegenüber dem Basisjahr 31 Prozent beträgt. Aber Vorsicht: gegenüber 2009 sind die Preise um 17 Prozent gestiegen – nämlich von 112 auf 131, das macht 17 Prozent. Sie sehen also, dass wir aus dem BIP-Deflator eine Maßzahl für den Anstieg der durchschnittlichen Preise errechnen können; das ist dann
12 Was ist Wohlstand?
259
Schritt vier: Berechnung der Inflationsrate: 2009:
12 Prozent von 2008 auf 2009
2010:
((131 – 112) / 112) * 100 =
17 Prozent von 2009 auf 2010
Eine andere Maßzahl für Preissteigerungen werden wir uns im nächsten Kapitel anschauen – hier wollen wir es einmal dabei bewenden lassen. Lassen Sie uns in einem letzten Schritt noch einmal danach fragen, ob unser BIP denn nun eine geeignete Maßzahl ist, um unsere Wohlfahrt zu messen.
Arbeitsauftrag 26 Programmieren Sie die Berechnung des BIP-Deflators in einer Tabellenkalkulation.
Das BIP als Wohlfahrtsindikator. Wir haben ja bereits bei den ersten Überlegungen zum BIP festgestellt, dass Wohlfahrt und Wohlstand mehr ist als nur Güter und Produktion – insofern ist das BIP von vornherein ein äußerst unvollständiges Mittel, um Wohlstand zu messen. Doch leider gibt es noch weitere Mängel an der Konzeption des BIP:
Wenn Sie die Logik des BIP durchschaut haben, dann erkennen Sie, dass Katastrophen wie eine Flut oder Unfälle das BIP erhöhen, da der Wiederaufbau ja etwas kostet und damit dazu beiträgt, das BIP zu erhöhen. Das klingt nicht sonderlich sinnvoll: Ein Deichbruch erhöht das BIP und damit unsere Wohlfahrt? Natürlich nicht, da der Deichbruch zwar dazu führt, dass der Wiederaufbau das BIP erhöht; aber zugleich hat er ja Vermögen vernichtet (also die Häuser, die Straßen) – und das ist natürlich wohlfahrtsmindernd.
Das BIP erfasst nicht, mit welchem Zeitaufwand die Güter hergestellt worden sind. Wenn wir ein BIP von 75 Euro in 40 Stunden Arbeit herstellen, so ist das besser als wenn wir dazu 80 Stunden benötigen. Die Freizeit eines Volkes als wesentliches Element der Wohlfahrt ist also nicht im BIP erfasst. Wenn also die durchschnittliche Arbeitszeit einer Gesellschaft sinkt, dann unterschätzt das BIP den Wohlfahrtszuwachs, wenn der Güterberg zugleich gestiegen ist.
Ebenfalls nicht erfasst ist die so genannte Schattenwirtschaft, also die Schwarzarbeit. Güter und Dienstleistungen, die nicht über die offiziellen Statistiken laufen, werden nicht im BIP erfasst – erhöhen aber unbestreitbar die Wohlfahrt eines Landes. Ebenso wenig erfasst, aber wohlfahrtsfördernd sind ehrenamtliche Tätigkeiten und Tätigkeiten im Haushalt. Der Klassiker: heiratet der Professor seine Haushaltshilfe, die er vorher offiziell bezahlt hat, dann sinkt das BIP, sobald sie seine Gattin ist und nicht mehr bezahlt wird – obwohl sie nach wie vor die gleiche Tätigkeit ausübt.
Ebenso wenig erfasst ist der produktionsbedingte Verschleiß der Umwelt: Wenn wir das gleiche Sozialprodukt herstellen, einmal mit einer Zerstö-
260
Teil 2: Makroökonomie
rung unserer Umwelt, einmal ohne die Umwelt zu zerstören, dann ist klar, welche Variante die umweltfreundliche und wohlfahrtsverträglichere ist. Ein Ausweg aus diesem Mangel der Sozialproduktsberechnung ist die umweltökonomische Gesamtrechnung.
Das BIP berücksichtigt ebenso wenig Aspekte wie die Gesundheit der Bürger, die Qualität des Bildungssystems, die Alphabetisierung, die Säuglingssterblichkeit – eine ganze Batterie von Hinweisen darauf, wie gut es einem Volk geht, wie wohlhabend es ist.
In der Praxis: Umweltökonomische Gesamtrechnung Die Umweltökonomische Gesamtrechnung versucht, die Nachhaltigkeit der Politik zu analysieren, indem sie umweltbezogene Indikatoren untersucht. Zu diesen Indikatoren zählen beispielsweise die Energieproduktivität des Landes, die Emission von Treibhausgasen, der Anteil erneuerbarer Energien am Gesamtenergieverbrauch, die Inanspruchnahme der Fläche, die Schadstoffbelastung der Luft und viele andere Aspekte mehr. Die Entwicklung dieser Indikatoren für die Bundesrepublik können Sie im Indikatorenbericht des Statistischen Bundesamtes einsehen. (Tabelle auf https://www-genesis. destatis.de/genesis/online/logon?language=de&sequenz=tabelleErg ebnis&selectionname=91111-0001)
Der Deutsche Wald: Vergesst mich nicht, wenn Ihr Euer Sozialprodukt berechnet!
Nun muss man zur Ehrenrettung der Sozialproduktberechnung sagen, dass das Sozialprodukt in der Regel hoch korreliert ist mit vielen anderen Wohlfahrtsindikatoren wie jene, die im letzten Punkt der Aufzählung genannt sind. Wenn ein Volk viele Güter produziert, dann hat es auch tendenziell ein gutes Bildungssystem, geringere Säuglingssterblichkeit oder eine höhere Gesundheit seiner Bürger. Aber gibt es alternative Ansätze zur Bestimmung der Wohlfahrt eines Landes? Möglicherweise.
In der Praxis: Sozialprodukt und Goldmedaillen Wer wissen will, wie Nationen bei sportlichen Großereignissen abschneiden, sollte auf das Bruttoinlandsprodukt achten: Studien zeigen, dass es einen starken Zusammenhang gibt zwischen dem Sozialprodukt eines Landes und seinem Abschneiden bei Sportereignissen wie den Olympischen Spielen. Ein Grund dafür kann sein, dass sich ein reiches Land bessere Trainingsbedingungen leisten kann, bessere ärztliche Betreuung und modernere Methoden. Allerdings gibt es auch Hinweise darauf, dass steigender Wohlstand eines Landes sich negativ auf die sportlichen Erfolge (beispielsweise im Fußball) auswirken kann – möglicherweise, weil die Anreize immer geringer werden, sich zu plagen. Wer wenig hat, für den ist Sport eine gute Möglichkeit, der Armut zu entkommen.
12 Was ist Wohlstand?
261
(Robert Hoffmann, Lee Chew Ging, Bala Ramasamy: The socio-economic determinants of international soccer performance, Journal of Applied Economics, Vol. V, No. 2 (Nov 2002), 253–272)
In der Diskussion Sollten wir auf die Berechnung des Sozialproduktes verzichten? Wie sollten wir die Berechnung des Sozialproduktes verändern?
Glücksforschung. In den vergangenen Jahren haben sich Ökonomen darauf besonnen, was das Ziel aller Ökonomie ist: Das Beste aus seinem Leben zu machen; Menschen glücklich zu machen. Wohlhabend ist man, wenn man glücklich ist, oder? Also ist die neue Disziplin der Glücksforschung angetreten, herauszufinden, was Menschen wohlhabend, respektive glücklich macht. Bei der Glücksforschung befragt man Menschen, wie glücklich oder zufrieden sie sind und untersucht, mit welchen Faktoren mehr Glück einhergeht – sind Menschen glücklicher, wenn ihr Einkommen steigt, oder wenn die Arbeitslosigkeit sinkt? Man befragt also Menschen nach ihrem Glücksbefinden und schaut, welche Faktoren denn zusammen mit einem höheren Glücksempfinden auftreten. Aber wie misst man Glück? Subjektive Maßzahlen für Glück findet man durch Befragungen, in denen man das Wohlbefinden oder die Glücksgefühle von Menschen abfragt (solche Umfragen sind beispielsweise Eurobarometer, European Social Survey, European Quality of Life Survey, European Social Surveys, Latinobarometers, Asiabarometers). Man fragt Menschen, wie zufrieden sie insgesamt mit ihrem Leben sind: sehr, einigermaßen oder nicht allzu glücklich? Eine andere Möglichkeit besteht darin, das Wohlbefinden der Menschen in mehreren Dimensionen abzufragen (Wie oft in den vergangenen 30 Tagen fühlten Sie sich Glücklich? Zufrieden? Lebendig? In guter Laune? Traurig? Nervös? Hoffnungslos?) Diese Fragen werden oft gestellt, haben aber einige Probleme:
Verlässlichkeit. Die Antwort auf die Fragen, wie glücklich man ist, dürfte zum einen stark durch gegenwärtige Eindrücke oder Stimmungen verzerrt sein. Wer am Morgen vom Chef einen Rüffel bekommen hat, antwortet abends auf die Frage nach seiner Zufriedenheit anders als jemand, der am Morgen ein Erfolgserlebnis hatte. Zudem hat das Wort „Glück“ oder „Zufriedenheit“ für Menschen eine unterschiedliche Bedeutung – auch das kann zu Verzerrungen der Umfragen führen.
Vergleichbarkeit. Die Auffassung von Glück unterliegt auch kulturellen Unterschieden, das erschwert einen Vergleich zwischen verschiedenen Nationen oder Kulturen.
Auch hier kann man das Sozialprodukt messen.
262
Teil 2: Makroökonomie
Kausalität. Wenn eine Studie beispielsweise herausfindet, dass glückliche Menschen tendenziell häufiger verheiratet sind als unglückliche Menschen, dann sagt das noch nichts über die Kausalität aus: Macht Heirat glücklicher oder heiraten glückliche Menschen häufiger?
Anzahl der Einflussfaktoren. Die Anzahl der Faktoren, die das Wohlbefinden eines Menschen, sein Glück, beeinflussen, dürfte gegen Unendlich gehen. Vernachlässigt man in einer Untersuchung wichtige Faktoren, die zum Glück beitragen, so erhält man verzerrte Ergebnisse. Diese Kritikpunkte lassen sich durch sorgfältiges Design der Studien wenn schon nicht eliminieren, so doch reduzieren. Nimmt man diese Einwände in Kauf, so kann die Glücksforschung nun einige Aussagen darüber treffen, welche persönlichen Eigenschaften das Wohlbefinden von Menschen wie beeinflussen. Für Ökonomen interessanter allerdings ist der Zusammenhang zwischen Einkommen und Glück, und hier zeigt sich genau das, was man auch erwartet: Menschen in reicheren Nationen sind glücklicher; je entwickelter ein Land ist, umso glücklicher sind seine Einwohner. Auf einzelwirtschaftlicher Ebene zeigt sich ebenfalls, dass ein hohes Einkommen glücklicher macht, allerdings gibt es auch Anzeichen dafür, dass der Grenznutzen des Einkommens abnehmend ist: mit steigendem Einkommen sinkt dessen Einfluss auf das Wohlbefinden der Menschen.
In der Praxis: Wer ist glücklich? Fasst man die Ergebnisse der Glücksforschung zusammen, so lässt sich festhalten, wer am glücklichsten ist: Glück und Zufriedenheit sind tendenziell größer für Frauen, Menschen mit vielen Freunden, junge und alte Menschen, Verheiratete und in Partnerschaft Lebende, Gesunde, besser Gebildete, Selbständige, Menschen mit höherem Einkommen, religiöse Menschen, Menschen mit niedrigem Blutdruck, Menschen, die mindestens einmal die Woche Sex mit dem gleichen Partner haben, konservative Wähler, ehrenamtlich Tätige, Menschen, die Sport betreiben und Menschen in westlichen Nationen. In Europa haben neun Länder (Dänemark, Finnland, Frankreich, Italien, Luxemburg, Niederlande, Spanien, Schweden und Großbritannien) in den vergangenen Jahren einen positiven Glückstrend erfahren, in Österreich und Irland hat sich das Glücksbefinden der Bürger nicht geändert, in Deutschland, Griechenland und Portugal hat es sich verschlechtert. (Literatur: Dolan, Paul; Peasgood,Tessa; White, Mathew (2008): Do we really know what makes us happy? A review of the economic literature on the factors associated with sujective well-being, in: Journal of Economic Psychology 29; pp. 94–122 und Blanchflower, David G. (2008): Happiness Economics, in: NBER Reporter Number 2, pp. 7–10)
12 Was ist Wohlstand?
Ein verstörender Befund allerdings ist, dass trotz steigendem realen Sozialprodukt in einigen westlichen Staaten die Zufriedenheit der Bevölkerung insgesamt (also das durchschnittliche Glücksgefühl) leicht gesunken ist. Dieser Befund wird in der Literatur als Easterlin-Paradox diskutiert: Obwohl das pro-Kopf-Sozialprodukt in den westlichen Staaten in den vergangenen 50 Jahren gestiegen ist, ist das durchschnittliche Glücksbefinden mehr oder weniger konstant geblieben – macht Geld also nicht glücklich? Eine Erklärung für diesen Befund könnte sein, dass sich in den vergangenen Jahren die Bedeutung des Wortes „Glück“ geändert hat – dann wäre der obige Befund ohne Aussagekraft. Für dieses Argument spricht der Befund, dass ein höheres Einkommen auf einzelwirtschaftlicher (individueller) Ebene durchaus zu mehr Glück führt.
263
Glücksgefühle – das geht auch ohne höheres Einkommen!
Eine andere Erklärung zielt darauf ab, dass ein höheres Einkommen nur bis zu einer bestimmten Schwelle auch mehr Glück generiert, danach werden andere Dinge – Freunde, soziale Beziehungen, Familie – wichtiger. Nimmt man diesen Gedanken ernst, so müsste man für entwickelte Volkswirtschaften das Wachstumsziel in Gestalt eines steigenden Sozialproduktes radikal in Frage stellen, da Wachstum ja nur ein Mittel zum Zweck – mehr Zufriedenheit der Bevölkerung – sein sollte. Eine Erklärung für das Easterlin-Paradox könnte ein Status-Effekt sein: Unser Glück hängt nicht nur von unserem Einkommen ab, sondern auch vom Einkommen des Nachbarn; und wenn dieser ebenfalls mehr verdient, dann macht uns unser steigendes Einkommen nicht glücklicher. In der Tat lässt sich zeigen, dass das Glückempfinden der Menschen sinkt, wenn das Einkommen der Nachbarn steigt. Allerdings zeigen Studien auch, dass Menschen eine Aversion gegen Ungleichheit haben; so sinkt das Glücksempfinden, wenn die Ungleichheit hoch ist, wobei dieser Effekt in Europa ausgeprägter ist als in den Vereinigten Staaten. Eine andere Erklärung wäre, dass Menschen sich an ein Anspruchsniveau gewöhnen – steigt das Einkommen, so steigen auch die Ansprüche an das Leben, der Grad der Zufriedenheit bleibt dann gleich oder sinkt sogar. Ein Anstieg des Einkommens im ersten Jahr führt zu mehr Zufriedenheit, doch man gewöhnt sich an den neuen Lebensstandard, an das höhere Einkommen und passt seine Erwartungen an das Leben nach oben an. Das hat zur Folge, dass der Zufriedenheitsschub durch das höhere Einkommen nur temporär ist, nach einigen Jahren hat man sich daran gewöhnt und ist wieder genau so zufrieden wir vor dem Gehaltsanstieg. Diese Idee legt den Gedanken nahe, dass das Leben eine Tretmühle ist und Menschen dazu verdammt sind, immer neuen Zielen hinterherzulaufen, wenn die alten Ziele erreicht sind. Steigt unser Einkommen, so sind wir temporär glücklicher, doch nach einer Weile gewöhnen wir uns an den neuen Zustand und haben höhere Erwartungen – womit wir dann genau so glücklich sind wie zuvor. Exemplarisch zeigt eine Studie über Lottogewinner: Ihr Gewinn verschafft ihnen, verglichen mit Nicht-Lotto-Gewinnern, keinen dauerhaften Zuwachs an
Glück braucht Unterstützung.
Teil 2: Makroökonomie
264
Zufriedenheit. Allerdings ist die Stichprobengröße dieser Studie mit 22 Gewinnern recht gering1. Ein weiterer wichtiger Faktor für das Glücksempfinden der Menschen ist übrigens Arbeitslosigkeit: Auf einer Skala von eins („sehr unzufrieden“) bis vier („sehr zufrieden“) führt Arbeitslosigkeit zu einem Rückgang der persönlichen Zufriedenheit von 0,33 Punkten. Eine Ursache für den negativen Einfluss der Arbeitslosigkeit auf das Wohlbefinden ist der Verlust an Selbstachtung; wer arbeitslos ist, fühlt sich nutzlos, vermisst eine feste Aufgabe, einen Sinn in seinem Leben. Hinzu kommt, dass Arbeitslose zumeist in einem schlechteren gesundheitlichen Zustand sind und der Umstand, dass Arbeitslosigkeit eine Art soziales Stigma erzeugen kann, unter dem der Arbeitslose leidet.2
In der Diskussion Was ist Glück? Was macht Sie glücklich? Kann oder soll man anderen Menschen dabei helfen, glücklich zu werden? Und wenn ja, wie?
Politische Implikationen und Kritik. Nimmt man die Ergebnisse der Glücksforschung und vor allem das Easterlin-Paradoxon ernst, dann ergibt sich eine interessante politische Implikation: Wenn Einkommen nicht glücklich macht, dann wäre dies ein Argument für eine höhere Besteuerung des Einkommens, um dadurch die Menschen zu weniger Arbeit und mehr Freizeit zu bewegen. Diese Forderungen zeigen die politische Gefahr, die in den Ergebnissen der Glücksforschung lauert: Sie laden zu einer Wirtschaftspolitik ein, die sich an dem ausrichtet, von dem man vermutet, dass es die Menschen glücklich macht. Überspitzt gesagt könnte das zu einer Art „Glücksdiktatur“ führen, die dem einzelnen zunehmend den Raum nimmt, nach seiner eigenen Meinung glücklich zu werden, mit dem Argument, dass der Staat besser wisse, was den Menschen glücklich mache. Diese Debatte kennen wir von der Diskussion um die meritorischen Güter. Berücksichtigt man all die statistischen Probleme, die im Rahmen der Glücksforschung auftreten, so bleiben am Schluss viele Ergebnisse, die Kritikern zufolge wenig überraschend, aber auch nicht sonderlich zielführend sind: Arbeitslosigkeit macht unglücklich, Geld ist nicht alles, perfektes Glück gibt es nicht. Mit Blick auf die vielen statistischen Probleme, die sich bei der Klärung der Ursachen von Glück ergeben, sollte man die Erkenntnisse der Glücksforschung mit Vorsicht interpretieren. Je spezieller die 1
2
Brickman, Philip, Dan Coates, and Ronnie Janoff-Bulman (1978): “Lottery Winners and Accident Victims: Is Happiness Relative?” Journal of Personality and Social Psychology, 36(8): 917–27. Di Tella, Rafael; MacCulloch, Robert J.; Oswald, Andrew J.: Preferences overinflations and unemployment: Evidence from surveys of happiness, in: American Economic Review 91 (2001), pp. 335–341
12 Was ist Wohlstand?
Ergebnisse der Studien werden, umso problematischer ist die statistische Basis, je gesicherter die Erkenntnisse der Glücksforschung sind, umso trivialer werden sie. Dabei wollen wir es erst einmal bewenden lassen, was die Wohlfahrtsmessung angeht, wenden wir uns einem weiteren Problem zu: Wie messen wir die Veränderung der Preise?
In der Praxis: Glückliches Bhutan Das Königreich Bhutan (http://www.bhutan.gov.bt/government/ gnh.php) ist wohl das einzige Land der Welt, das nicht das Bruttosozialprodukt, sondern das Bruttoglücksprodukt (Gross national happiness product) als oberstes Staatsziel ausgegeben hat. Auf der Homepage des Reiches finden sich verschiedene Diskussionsbeiträge zum Glück des Landes.
Zusammenfassung 1. Ziel makroökonomischer Politik ist es, den Wohlstand einer Volkswirtschaft zu erhöhen. Dabei ist „Wohlstand“ grundsätzlich umfassend zu verstehen, es geht also nicht nur um materielle Dinge. Allerdings lassen sich nur die materiellen Dinge erfassen, zählen und messen, weswegen sich Ökonomen zumeist darauf beschränken, den Wohlstand einer Volkswirtschaft zu messen, indem sie den Güterberg messen, den diese Wirtschaft herstellt. 2. Diesen Güterberg, die Summe aller in einer Volkswirtschaft hergestellten Produkte und Dienstleistungen, nennt man das Sozialprodukt eines Landes. Es kann auf drei Arten berechnet werden: Entstehungsrechnung, Verwendungsrechnung und Verteilungsrechnung. 3. Um das Sozialprodukt zu messen, muss man die hergestellten Güter zählen und zusammenfassen, das geht nur, wenn man diese Güter auch mit Preisen bewertet. Da nun aber ein Anstieg der Preise den Güterberg erhöht, ohne dass sich dadurch notwendigerweise der Wohlstand einer Volkswirtschaft erhöht, rechnet man mittels des BIP-Deflators diese Preissteigerungen aus dem Sozialprodukt heraus. 4. Das Sozialprodukt als Indikator von Wohlstand ist vielfältiger Kritik ausgesetzt: Es berücksichtigt nicht immaterielle Wohlstandsindikatoren wie Wohlbefinden, Gesundheit, Freiheit (ist aber zumeist recht eng mit diesen Indikatoren korreliert), es vernachlässigt den Verbrauch von Umweltressourcen (die umweltökonomische Gesamtrechnung versucht diesen Mangel auszugleichen), Schattenwirtschaft wird ebenso nicht erfasst wie die Zeit, die ein Volk braucht, um den betreffenden Güterberg herzustellen.
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Teil 2: Makroökonomie
5. Als Alternative zum Sozialprodukt versuchen Ökonomen, mittels der Glücksforschung das Wohlbefinden einer Nation zu untersuchen – man befragt die Menschen regelmäßig nach ihrem Glücksbefinden und versucht daraus Rückschlüsse zu ziehen, welche Politik Menschen glücklich macht. Allerdings ist auch dieser Ansatz nicht ohne Kritik.
Was ist Inflation? Nichts hat das deutsche Volk – dies muss immer wieder ins Gedächtnis gerufen werden – so erbittert, so hasswütig, so hitlerreif gemacht wie die Inflation (Stefan Zweig, Die Welt von Gestern, Frankfurt 1955, S. 359).
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Um was geht es? Das Jahr 1922 hat sich tief ins kollektive Gedächtnis der Deutschen eingebrannt – innerhalb weniger Monate wurde das Vermögen vieler Bürger vernichtet. Der Grund dafür war die Inflation: Die Regierung hatte die Notenpresse angeworfen, um die Kriegsschulden und Reparationen zu bezahlen, und das Ergebnis waren Inflationsraten von astronomischer Höhe. Millionen, Billionen standen auf den Geldscheinen, mit denen man sein Brot bezahlte – eine Zigarre kostete 50 Milliarden, die Karte für den Zirkus 10 Millionen Mark, der Eintritt für ein Schülerkonzert 250.000 Mark. Als der Spuk vorbei war, waren breite Schichten der Bevölkerung enteignet und die noch junge Republik aufs äußerste diskreditiert. Das bereitete den Boden für das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte. In der Presse: „Das Geld stapelte sich einen Meter hoch im Büro“ Die geldknappe Wochenzeitung „The Zimbabwean“ war der Star auf dem Werbefestival in Cannes – hatte die Zeitung doch Billionen ausgegeben für ihre Werbekampagne. Die regimekritische Zeitung erscheint nicht in Zimbabwe, sondern im benachbarten Südafrika. Zimbabwe selbst steht vor dem Ruin, die jährlichen Inflationsraten liegen teilweise über 200 Prozent. Also druckte Zimbabwe angesichts der galoppierenden Preise schließlich Banknoten im Nennwert von 100 Billionen Dollar – die wegen der weiter fortschreitenden Inflation rasch wertlos waren. Aber was machen mit den vielen Billionen-Geldscheinen? Der Zimbabwean sammelte die wertlosen Scheine der (später abgeschafften) Währung ein, bedruckte sie mit Slogans wie „Kämpft gegen das Regime, das das Land gelähmt hat“, oder „Es ist billiger, auf Geld zu drucken als auf Papier“, und verteilten die wertlosen Scheine als Werbeflyer. Beteiligten zufolge stapelte sich das wertlose Geld während der Kampagne meterhoch in den Büros. Auch andere wussten aus der Katastrophe Geld zu schlagen und verkauften die skurrilen Geldscheine auf E-Bay, wo sie als Souvenirs reißenden Absatz fanden. Viele Ökonomen, so berichtet das „Wall Street Journal“, legten sich eine Zimbabwe-Geldnote in die Brieftasche, um sie bei Bedarf in Diskussionen zu zücken und auf die extremen Folgen von Inflation hinzuweisen. (Quellen: Patrick Mcgroarty and Farai Mutsaka: How to turn 100 Trillion Dollars into five and feel good about it; Wall Street Journal Online, May 11, 2011; URL http://online.wsj.com/article/SB10001424 052748703730804576314953091790360.html und o.V.: Trillion Dollar Campaign from Zimbabwe, The Zimbabwean; URL: http://www. thezimbabwean.co.uk)
Inflationsgeld aus Deutschland: Endlich Millionär.
Auch Zimbabwe hat jede Menge Millionäre. © epa-Bildfunk
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Teil 2: Makroökonomie
Inflation, also der beständige Anstieg aller Preise, ist eine der schlimmsten Geißeln einer modernen Wirtschaft: Stellen Sie sich vor, dass die Preise für alle Güter und Dienstleistungen, die Sie täglich kaufen, jeden Tag steigen. Am Montag kostet das Brot noch fünf Euro, am Freitag sind es schon 20 Euro; und den Montag drauf sind es 80 Euro, und am Ende des Monats sind es dann 1000 Euro. Sie sehen, das wirft mehrere Probleme auf, die wir kurz erläutern müssen:
Wenn Sie nicht verhungern wollen, müssen auch Ihr Gehalt, Ihre Rente oder Ihre sonstigen Bezüge ständig angepasst werden – im Extremfall müssen Sie Ihr Gehalt jeden Tag neu verhandeln. Doch wenn das Gehalt dauernd steigt, dann steigen über die Lohnkosten automatisch die Preise der Güter; das riecht nach einem Teufelskreis.
Doch nicht nur das: Sie sollten Ihr Gehalt auch jeden Tag abholen und sofort ausgeben, sonst ist es eine Woche später kaum noch etwas wert. Stellen Sie sich vor: Sie erhalten am Montag (das Brot kostet 5 Euro) 20 Euro Gehalt; beschließen aber, das Geld erst am Freitag auszugeben. Montags hätten Sie noch vier Brote für Ihr Gehalt bekommen, am Freitag (das Brot kostet nun 20 Euro) bekommen Sie nur noch ein Brot. Die reale Kaufkraft Ihres Geldes (also dessen Fähigkeit, Güter zu kaufen) ist dramatisch gesunken – Sie bekommen weniger Brot je Euro. Und je länger Ihr Geld untätig in der Brieftasche liegt, umso weniger wird es wert. Mit anderen Worten: Inflation ist wie eine Steuer auf die Haltung von Bargeld; also wird derjenige zum Verlierer, der im Besitz des Bargelds ist.
Durch diese Inflationssteuer, wie man Inflation auch bezeichnen kann, entstehen eine Menge zusätzlicher Kosten: Die Menschen geben Ihr Bargeld sofort aus, rennen also häufiger auf die Bank, um Ihr Geld abzuheben und die Unternehmen müssen ständig ihre Waren mit neuen Preisschildern auszeichnen. Das ist aufwendig und kann rasch kostspielig werden.
Doch nicht nur das: Wenn Sie an den ersten Teil des Buches denken, dann wird Ihnen rasch klar, dass Inflation für eine Marktwirtschaft gefährlich ist: Schließlich sind es die Preise, die darüber entscheiden, was wo und wann produziert wird. Der Preis ist der Dreh- und Angelpunkt einer Marktwirtschaft – aber was, wenn die Preise ohne Unterlass steigen? Niemand kann mehr erkennen, warum der Preis eines einzelnen Gutes steigt: Steigt er, weil dieses Produkt mehr nachgefragt wird (man also mehr produzieren sollte) oder aber weil alle Preise steigen? In einer Wirtschaft, in der alle Preise so rasch und drastisch steigen, ist der Preis nicht mehr der Lenkungsmechanismus, den ein funktionierender Markt braucht. Inflation kann dazu führen, dass Märkte zusammenbrechen.
Ebenfalls schlimm sind die Umverteilungseffekte einer Inflation: Die Besitzer von Bargeld verlieren, die Besitzer von Sachwerten gewinnen (die Sachwerte werden ja immer mehr wert). Also: Der Hausbesitzer ist vor Inflation geschützt, der Sparer, der sein Geld auf dem Sparkonto
13 Was ist Inflation?
angelegt hat, verliert im schlimmsten Fall alles. Stellen Sie sich das einmal vor: Da haben Sie Ihr ganzes Leben lang Geld zurückgelegt für Ihren Ruhestand und das auf einem Sparkonto angelegt – sagen wir 250.000 Euro. Jetzt kommt es zur Inflation, und schon nach einem Jahr bekommen Sie für das Geld, das Sie all die Jahre mühsam angespart haben, nur noch eine Eintrittskarte in ein Schülerkonzert. Eine Lebensleistung ist vernichtet. Dieses Argument gilt auch für Rentenzahlungen, wenn diese nicht an die Inflation angepasst werden.
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Mehr Inflation, mehr Steuern
Genauso ergeht es Menschen, die Geld verliehen haben: Am Montag leihen Sie einem Bekannten 20 Euro, für die er sich vier Brote kaufen kann. Am Freitag zahlt er Ihnen das Geld zurück – aber nun bekommen Sie nur noch ein Brot für das gleiche Geld. Wer in einer Inflation Geld verleiht, verliert es, wer sich Geld leiht, gewinnt – die Inflation entschuldet ihn lautlos.
Selbst bei moderaten Inflationsraten gibt es einen negativen Umverteilungseffekt, die so genannte kalte Progression: Steigt Ihr Einkommen inflationsbedingt, so geraten Sie aufgrund des gestiegenen Einkommens in eine höhere Steuerklasse mit einem höheren Steuersatz – Sie zahlen prozentual betrachtet mehr Steuern, weil Ihr Einkommen gestiegen ist, aber leider nicht die Kaufkraft Ihres Einkommens. Sie sehen, es gibt genügend Gründe, sich vor Inflation zu fürchten. Genau so fürchten muss man übrigens Deflation, also die Situation, in der alle Preise sinken – warum, werden wir später noch sehen (ein dritter Fall ist die sogenannte Disinflation, damit bezeichnet man sinkende Inflationsraten). Über die Ursachen von Inflation sprechen wir später, zunächst einmal müssen wir definieren, was Inflation eigentlich ist. Vereinfacht gesagt bedeutet Inflation, dass alle Preise steigen, das so genannte Preisniveau also. Es geht also nicht darum, dass einzelne Preise steigen, sondern dass alle Preise steigen. Aber wie messen wir das?
Arbeitsauftrag 27 Wo bemerken Sie in Ihrem Alltag die Folgen der Inflation?
Die Inflationsrate. Wir brauchen also ein Werkzeug, mit dessen Hilfe wir messen können, wie stark alle Preise ansteigen. Die Idee ist einfach: Da es schwer sein wird, die Preise aller Güter zu berücksichtigen, definieren wir uns einen Warenkorb, von dem wir vermuten, dass er repräsentativ ist für unsere Verbraucher, und schauen uns an, wie sich der Preis dieses gesamten Warenkorbes entwickelt. Und das ist die Inflationsrate. Schauen wir uns das einmal mit Hilfe eines einfachen Beispiels an. In Tabelle 24 ist nochmals unsere Modellökonomie aus dem vorherigen Kapitel dargestellt; lassen Sie uns nun die Inflationsrate ausrechnen.
Früher kostete die kleine Salami nur 5 Mark, heute 5 Euro
Teil 2: Makroökonomie
270
Tabelle 24: Eine Modellökonomie
Preis Schokolade
Menge Schokolade
Preis Kekse
Menge Kekse
2008
1€
10
2€
20
2009
1,20 €
15
2,20 €
25
2010
1,50 €
16
2,50 €
24
In Schritt Nummer eins müssen wir zunächst den Güterkorb definieren, dessen Preisentwicklung wir bestimmen wollen – das seien in unserem Beispiel 10 Tafeln Schokolade und 20 Rollen Kekse. Das ist der Güterkorb, von dem wir annehmen, dass er für den Konsum unserer Bürger repräsentativ ist. Nun wollen wir die Preisentwicklung dieses Güterkorbs über die Jahre hinweg bestimmen. Dazu müssen wir den Preis des gesamten Warenkorbs im Basisjahr 2008 bestimmen; das sind: 10 Tafeln Schokolade á 1 €
+
20 Rollen Kekse á 2 €
=
50 €
Wie hat sich nun der Preis dieses Warenkorbs ein Jahr später entwickelt? Das können wir ganz einfach feststellen, indem wir in Schritt Nummer zwei in 2009 den Wert des gleichen Warenkorbs ermitteln – wir nehmen also die gleiche Menge an Schokolade und Keksen und bewerten sie mit den Preisen des Jahres 2009; das gleiche tun wir für das Jahr 2010: 10 Tafeln Schokolade á 1,20 €
+
20 Rollen Kekse á 2,20 €
=
56 €
10 Tafeln Schokolade á 1,50 €
+
20 Rollen Kekse á 2,50 €
=
65 €
Das Ergebnis: Unser Warenkorb von 10 Tafeln und 20 Rollen hat sich in 2009 von 50 auf 56 und 2010 von 56 auf 65 Euro verteuert – das ist Inflation. Nun ist es aber unpraktisch, diesen Sachverhalt in Form des Preises eines Güterkorbs anzugeben, weswegen man in Schritt Nummer drei das Ganze indexiert, wobei wir wieder 2008 als das Basisjahr annehmen. Mit anderen Worten: Wir setzen den Wert des Warenkorbs in 2008 mit dem Wert 100 an und passen den Wert der beiden anderen Jahre daran an: 2009:
(56 Euro / 50 Euro) × 100
=
112
2010:
(65 Euro / 50 Euro) × 100
=
130
Die Logik des Indexierens ist einfach: Der Wert von 2009, 56 Euro, verhält sich zu dem Wert von 2008, 50 Euro, genauso wie 112 zu 100 – wir ersetzen einfach die beiden Euro-Werte durch zwei Werte, die das gleiche Verhältnis zueinander haben und lassen die Euro-Bezeichnung weg. Das ist ein Index. Mit Hilfe dieses Index können wir dann auch in Schritt Nummer vier die Inflationsrate ausrechnen, das ist einfach die prozentuale Veränderung des Index: 2009:
((112 – 100) / 100) × 100
=
12 Prozent
2010:
((130 – 112) / 112) × 100
=
16 Prozent
Und diese Prozentzahlen, das ist unsere Inflationsrate, die Sie aus den Nachrichten kennen, sie zeigt uns also an, um wie viel Prozent der Wert eines
13 Was ist Inflation?
271
vorher festgelegten Güterkorbs im vergangenen Jahr gestiegen ist – also die durchschnittliche Wertentwicklung aller Waren in diesem Korb (natürlich können Sie die Inflationsrate auch direkt ausrechnen, indem Sie die prozentuale Steigerung des Wertes ausrechnen – steigt der Wert von 50 Euro auf 56 Euro, so sind das auch 12 Prozent. Der Index hat aber bei anderen Berechnungen viele Vorteile).
In der Praxis: Der Verbraucherpreisindex für Deutschland Mieten, Nahrungsmittel, Bekleidung, Kraftfahrzeuge, Friseurbesuche, Reinigung oder Reparaturen; Waren für Single-Haushalte, Rentnerehepaare oder Großfamilien – das alles wird im Verbraucherpreisindex (VPI) für die Bundesrepublik Deutschland berücksichtigt. Alle Haushaltstypen, alle Regionen und sämtliche dort nachgefragten Waren und Dienstleistungen werden zur Berechnung des VPI herangezogen. Man versucht, in dem Warenkorb, den man zur Berechnung des VPI heranzieht, alle Waren und Dienstleistungen zu berücksichtigen, die für die Konsumenten in Deutschland relevant sind; darüber hinaus wird der Warenkorb ständig aktualisiert. Jeden Monat notieren etwa 600 Preiserheber in 188 Gemeinden die Preise der gleichen Produkte in denselben repräsentativen Geschäften. Rund 300 000 Einzelpreise werden auf diesem Weg monatlich ermittelt. Die einzelnen Güter werden in verschiedene Güterarten eingeteilt, die durchschnittliche Preisentwicklung jeder Güterart wird mit ihrer Bedeutung für die Haushalte gewichtet – je größer der Ausgabenanteil für eine Güterart im Budget der Haushalte, um so stärker wird diese Güterart gewichtet und hat dementsprechend einen größeren Einfluss auf die Höhe der Inflationsrate. Die Gewichtung der Güterarten (im so genannten Wägungsschema dargestellt; vgl. Abbildung 53) ermittelt das Statistische Bundesamt mit Hilfe der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe, in der rund 60 000 Personen über ihre Einnahmen und Ausgaben befragt werden. Der Warenkorb
Arbeitsauftrag 28 Programmieren Sie die Berechnung des Verbraucherpreisindex in einer Tabellenkalkulation
Je nachdem, welches Ziel Sie mit der Ermittlung der Inflationsrate verfolgen, gibt es verschiedene Inflationsraten:
Der Harmonisierte Verbraucherpreisindex (HVPI) wird seit 1997 berechnet und für internationale Vergleiche genutzt. Er wird für die Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU), für Norwegen, Island und für die Schweiz berechnet. Zusätzlich wird er zum Verbraucherpreisin-
Teil 2: Makroökonomie
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Wägungsschema Verbraucherpreisindex 2005 = 100 Angaben in Promille
Beherbergungsund Gaststättendienstleistungen 43,99
Andere Waren und Dienstleistungen 74,47
Bildungswesen 7,40
Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke 103,55 Alkoholische Getränke, Tabakwaren 38,99 Bekleidung und Schuhe 48,88
Freizeit, Unterhaltung und Kultur 115,68
2 407,20 Mrd. EUR Wohnung, Wasser, Strom, Gas und andere Brennstoffe 308,00
Verkehr 131,90
Abbildung 53: Die Gewichtung von Gütergruppen im VPI (Quelle: Statistisches Bundesamt; http:// www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/ GesamtwirtschaftUmwelt/Preise/ Verbraucherpreisindizes/ WarenkorbWaegungsschema.html)
Nachrichtenübermittlung 31,00
Gesundheitspflege 40,27
Hausrat (u.a. Möbel, Haushaltsgeräte, Haushaltswaren) 55,87
dex für die Europäische Währungsunion (VPI-EWU), zum Europäischen Verbraucherpreisindex (EVPI), zum Verbraucherpreisindex für den Europäischen Wirtschaftsraum (VPI-EWR) zusammengefasst. Die Europäische Zentralbank nutzt beispielsweise den VPI-EWU für ihre Währungspolitik zur Beurteilung der Preisstabilität innerhalb der Eurozone.
Der Index der Erzeugerpreise gewerblicher Produkte misst die Entwicklung der Preise für die Produkte des Bergbau, des Verarbeitenden Gewerbes und der Energie- und Wasserwirtschaft.
Die Erzeugerpreisindizes für Dienstleistungen messen die Entwicklung der Preise für unternehmensnahe Dienstleistungen.
Der Index der Außenhandelspreise misst die Entwicklung der Preise aller Waren, die zwischen Deutschland und dem Ausland gehandelt werden
Baupreisindizes zeigen die Entwicklung der Preise für den Neubau und die Instandhaltung von Bauwerken. Dies sind nur einige Beispiele; eine weitere Variante ist die so genannte Kerninflationsrate (core inflation), bei der man die Preise von Gütern her-
13 Was ist Inflation?
273
aus rechnet, die extrem stark schwanken – vor allem die Energiepreise. Die Idee dahinter ist, dass stark schwankende Preise für Energie die Inflationsrate zu stark verzerren würden, also klammert man sie bei der Berechnung der Inflationsrate aus.
In der Praxis: Wer nutzt die Inflationsrate? Die Inflationsrate wird von vielen Parteien genutzt: Die Europäische Zentralbank (EZB) nutzt sie als Grundlage für ihre Geldpolitik, die Tarifpartner orientieren ihre Lohnforderungen an der erwarteten Inflationsrate, und für die Prognose verwenden sie die aktuelle Inflationsrate. Die Regierung nutzt den HVPI bei Budgetentscheidungen, die Kapitalmärkte für Gewinnprognosen, Zinsprognosen und Wechselkursprognosen.
An der Fülle der verschiedenen Inflationsraten erkennt man schon, dass dieses Konzept Grenzen hat – was sind die Kritikpunkte an der Inflationsrate?
Was, wenn sich die tatsächlich konsumierten Mengen der Menschen ändern? Ein Beispiel: In unserem Warenkorb aus dem obigen Beispiel haben wir 10 Tafeln Schokolade als Menge angesetzt, weil wir vermutet haben, dass dies die durchschnittlich verbrauchte Menge an Schokolade in den Haushalten unserer Bürger ist. Was aber, wenn die Bürger auf einmal statt Schokolade mehr Kekse essen? Dann hilft es ihnen nichts, wenn Schokolade billiger wird, weil sie weniger Schokolade essen. Die Inflationsrate sinkt wegen des gesunkenen Schokoladenpreises, doch im Geldbeutel spüren das die Bürger dann nicht.
Dieses Argument kann man auch anders herum sehen: Wenn Schokolade zu teuer wird, weichen die Bürger auf billigere Produkte aus (vielleicht Obst) – dann steigt die Inflationsrate zwar wegen des steigenden Schokoladenpreises, aber den Bürgern tut das nicht so weh.
Aus diesen Überlegungen leitet sich der nächste Kritikpunkt her: Die Inflationsrate gibt nur die durchschnittliche Teuerung für den Durchschnittshaushalt wider – sie sagt nur wenig darüber aus, inwieweit die steigende Inflationsrate Sie persönlich betrifft, es sei denn, Ihre Konsumgewohnheiten entsprechen exakt der Zusammensetzung des Warenkorbs, der zur Berechnung der Inflationsrate genutzt wird. Wer wissen will, wie sehr seine persönliche Inflationsrate von der offiziellen abweicht, kann auf www.destatis.de den dort bereitgestellten persönlichen Inflationsrechner ausprobieren.
Was, wenn unsere Bürger auf einmal neben den Keksen und der Schokolade Kaugummi entdecken? Neue Güter werden bei der Berechnung der Inflationsrate erst berücksichtigt, wenn sie Eingang in den Güterkorb finden – deswegen muss der Güterkorb regelmäßig einer Revision unterzogen werden.
Lohnverhandlungen zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretungen © dpa
274
Teil 2: Makroökonomie
Ebenso fehlt der technische Fortschritt: Ein Rechner kostet heute zwar weniger als vor fünf Jahren, aber seine Leistung ist um ein vielfaches höher. Die Änderung der Qualität eines Gutes wird also nicht berücksichtigt. Zu diesem Zweck gibt es so genannte hedonische Methoden, spezielle Verfahren zur Qualitätsbereinigung. Sie sind besonders geeignet für technische Güter, deren Qualität sich rasch ändert.
In der Praxis: Die Teuro-Diskussion Die Einführung des Euro im Jahr 2002 hat in der Wahrnehmung vieler Bürger dazu geführt, dass die Preise vieler Güter überdurchschnittlich gestiegen sind – deshalb wurde der Euro zum Teuro abgestempelt. Das Statistische Bundesamt hingegen konnte in der Verbrauchspreisstatistik keinen besonderen Anstieg der Teuerung erkennen – die Wahrnehmung des Euro als Teuro sei eher eine psychologische Angelegenheit. Um das zu belegen, hat es den Index der wahrgenommenen Inflation (IWI) entwickelt, der versucht, die subjektive Inflationswahrnehmung der Konsumenten aufzuzeigen. Dabei hat man sich auf drei wesentliche Annahmen gestützt: Erstens bewerten Menschen Preissteigerungen höher als Preissenkungen, zweitens nimmt man Preissteigerungen häufig gekaufter Produkte viel stärker wahr, und drittens vergleichen Konsumenten aktuelle Preise nicht immer mit den Preisen von vor genau einem Jahr, sondern oft auch mit Preisen, die weiter als ein Jahr zurückliegen, und dementsprechend fällt die Inflation in der Wahrnehmung höher aus. Abbildung 54 zeigt in der Tat, dass die von den Konsumenten wahrgenommene Inflation besonders stark um den Zeitpunkt der Euro-Einführung deutlich von der tatschlichen Inflation abweicht.
In der Diskussion War der Euro für Sie ein Teuro? Und wenn ja, bei welchen Gütern? Und wo war er das nicht?
Preisindex der Lebenshaltung und BIP-Deflator. Im vorherigen Kapitel haben wir ja auch den BIP-Deflator als Maßzahl für die Entwicklung der Preise kennen gelernt – was unterscheidet ihn von der Inflationsrate? Der BIP-Deflator hält die Preise konstant, während sich die Waren und die Mengen ändern; beim Preisindex ist der Warenkorb (und damit die Mengen und die Waren) konstant, während sich die Preise ändern. Das kann Folgen haben: Wird beispielsweise eine komplette Ernte vernichtet, so steigen die Preise für das betreffende Produkt. Im Preisindex schlägt sich das voll nieder, im Deflator passiert nichts, da die Ernte dann nicht mehr Bestandteil des BIP ist.
13 Was ist Inflation?
275
% 10 8
Index der wahrgenommenen Inflation
6 4 2 0
Verbraucherpreisindex des Statistischen Bundesamtes
-2 Jan 97 Jan 98 Jan 99 Jan 00 Jan 01 Jan 02 Jan 03 Jan 04 Jan 05
Beim BIP-Deflator werden die Preise aller in Deutschland produzierten Güter verwendet; der Preisindex ermittelt die Preise in Deutschland konsumierter Güter. Das kann schon einen Unterschied ausmachen, wenn Sie beispielsweise an den Preis von Rohöl denken, einem der wichtigsten deutschen Konsumgüter. Der Deflator erfasst alle Preise; der Preisindex nur die Preise der Güter, die im jeweiligen zugrunde liegenden Warenkorb erfasst sind. Welch der beiden Kennzahlen Sie nehmen, hängt von der Fragestellung ab; in der Praxis sind die Unterschiede zwischen dem BIP-Deflator und dem Preisindex zumeist recht gering. Inflationsbereinigung. Mit Hilfe unseres bisherigen Wissens können wir uns nun eine einfache, aber sehr wichtige Technik aneignen, die sogenannte Inflationsbereinigung. Die Grundidee ist einfach: Wenn die Preise beständig steigen, kann man die Preise des Vorjahres nur noch bedingt mit den heutigen Preisen vergleichen. Ein einfaches Beispiel: Nehmen wir an, Ihr Einkommen des Jahres 2009 beträgt 10 Euro, und das einzige Gut, das Sie kaufen können, kostet 5 Euro. Sie können mit diesen 10 Euro (die wir ab sofort Nominaleinkommen nennen) also zwei Produkte einkaufen; die Kaufkraft ihres Einkommens (das preisbereinigte Einkommen oder das Realeinkommen) beträgt also zwei. Jetzt steigen im Jahr darauf die Preise um 10 Prozent, das Produkt kostet also nun 5,50 Euro; die Inflationsrate beträgt damit zehn Prozent. Wenn Sie nun wissen wollen, um wie viel Prozent Ihr Nominaleinkommen steigen muss, damit dessen Kaufkraft unverändert bleibt, müssen Sie einfach das Einkommen des Jahres 2009 inflationieren, also die Inflationsrate zum aktuellen Preis hinzurechnen. Zehn Prozent von zehn ist eins, diese eins addieren wir zur zehn hinzu und erhalten elf Euro. Steigt Ihr Einkommen um zehn Prozent (also von zehn auf elf Euro), so ist die Kaufkraft Ihres Einkommens nun unverändert, denn mit elf Euro können Sie genau zwei Güter à 5,50 Euro kaufen. Ihr Realeinkommen,
Abbildung 54: Der Euro, wahrgenommene und tatsächliche Inflation (Quelle: Statistisches Bundesamt; http:// www.destatis.de/DE/Publikationen/ STATmagazin/Preise/2007__10/2007__10 WahrgenommeneInflation.html)
276
Teil 2: Makroökonomie
die Kaufkraft Ihres Einkommens, ist damit in 2010 unverändert geblieben. Vereinfacht gesagt inflationieren Sie einen Wert, indem Sie diesen mit dem Wert eins plus Inflationsrate multiplizieren (also Zehn mal 1,1). Oft aber interessiert uns der Weg anders herum: Sie verdienen heute elf Euro; das heutige Preisniveau beträgt 5,50 Euro. Und nun die Frage: Wie viel wäre denn mein heutiges Einkommen vor einem Jahr wert gewesen, als die Preise noch niedriger lagen? Mit elf Euro hätten Sie 2009 mehr als zwei Güter kaufen können, da die Preise ja nicht 5,50 Euro, sondern 5 Euro waren. Wie hoch wäre also die Kaufkraft meines Einkommens vor einem Jahr gewesen? Das lässt sich ausrechnen: Das Nominaleinkommen des Jahres 2009 haben wir inflationiert und zum Realeinkommen 2010 gemacht, indem wir es mit eins plus die Inflationsrate multipliziert haben. Also müssen wir spiegelbildlich das Einkommen 2010 durch eins plus die Inflationsrate dividieren und erhalten das Realeinkommen des Vorjahres. Wenn wir elf Euro durch eins plus zehn Prozent, also 1,1 dividieren, erhalten wir zehn Euro, und das ist das des Jahres 2009, das die gleiche Kaufkraft hat wie ihr Einkommen in 2010. Prüfen Sie es: Mit elf Euro können Sie 2010 zwei Güter (á 5,50 Euro) kaufen; mit zehn Euro können Sie 2009 ebenfalls zwei Güter (á 5 Euro) kaufen – damit ist die Kaufkraft Ihres Einkommens unverändert.
In der Presse 9: Die Milliardärsschwemme Ein deutsches Magazin schrieb 2004 einen Artikel über die Zunahme der Superreichen – 13 Milliardäre habe es 1982 in den USA gegeben, 2004 seien es 371; und das Durchschnittsvermögen der reichsten Amerikaner sei in dieser Zeit von 1,4 Milliarden Dollar auf knapp 3 Milliarden Dollar gestiegen. „Weltweit wächst die Zahl der Superreichen seit Jahren nahezu ungebremst“, lautet das Fazit des Magazins – aber stimmt das? Der amerikanische Verbraucherpreisindex belief sich 1982 auf 47,5; 2004 lag er bei 109,7; mit anderen Worten: die Preise haben sich in diesem Zeitraum mehr als verdoppelt; sie sind um den Faktor 2,3 gestiegen. Eine Milliarde Dollar ist damit verglichen zu 1982 heute nur noch 432 Millionen Dollar wert (eine Milliarde dividiert durch 2,3) oder anders herum betrachtet muss man heute mehr als zwei Milliarden besitzen, um die gleiche Kaufkraft zu haben wie ein Milliardär des Jahres 1982. Die steigende Inflation erhöht also automatisch die Zahl der Milliardäre, weswegen es 2004 automatisch mehr Milliardäre geben wird. Das Durchschnittseinkommen der Milliardäre ist inflationsbereinigt mehr oder weniger konstant geblieben. Zudem produziert Inflation auch automatisch mehr Milliardäre: Zu Zeiten der deutschen Hyperinflation waren alle Deutschen Millionäre, genützt hat ihnen das wenig.
Wir können also einen Wert inflationieren, indem wir ihn mit der Inflationsrate hochrechnen; und wenn wir ihn durch die Inflationsrate dividieren,
13 Was ist Inflation?
haben wir diesen Wert preisbereinigt (deflationiert). Dazu noch ein realistischeres Beispiel: Der Ölpreis betrug 1980 rund 40 Dollar; 2008 stand Öl auf 110 Dollar – das sind die nominalen Preise. Der Verbraucherpreisindex in Amerika stand 1980 auf 47,5 bis 2006 ist er auf 112 geklettert. Das allgemeine Preisniveau hat sich seit 1980 also mehr als verdoppelt (112 / 47,5 = 2,36). Jetzt können wir den Ölpreis von 1980 inflationieren – 40 Dollar mal 2,36 macht 94,4 Dollar; d.h. der Ölpreis von 1980 entspricht einem Ölpreis von 94,4 Dollar in 2008. Wenn wir hingegen den Ölpreis 2008 preisbereinigen, ergibt sich: 110 Dollar heute sind in Preisen von 1980 gerechnet 46,7 Dollar (110 / 2,36); der heutige Ölpreis entspricht also einem Preis von 46,7 Dollar in 1980. Die politische Botschaft dieser Rechnerei besagt also, dass der heutige Ölpreis in 2008 verglichen mit den achtziger Jahren gar nicht so weit entfernt ist, wie man es vermutet hätte. Wer mit Blick auf die 110 Dollar heute auf die 40 Dollar in 1980 verweist und damit Panik schürt, begeht einen sachlichen Fehler. Die Methode der Preisbereinigung wird in vielen Feldern benötigt:
Wenn man die Entwicklung der Löhne über die Zeit analysieren will, muss man natürlich die preisbereinigten Löhne beobachten, die sogenannten Reallöhne. Wer nur auf die Nominallöhne schielen würde, würde den Anstieg der Löhne überzeichnen, weil er die Inflation ignoriert. Dabei ist klar: Wenn die Preise stärker steigen als die Löhne, sinken die Reallöhne – man kann mit seinem nominalen Einkommen nur noch einen geringen Güterberg einkaufen. Deswegen fordern die Gewerkschaften in den Lohnverhandlungen auf mindestens einen Inflationsausgleich beziehungsweise konstante Reallöhne. Auch die Arbeitgeber achten auf die Reallöhne: Steigen die Löhne, ohne dass die Güterpreise steigen, dann sinkt der Gewinn des Unternehmers (er ist es ja, der die Güter verkauft). Anders herum: Wenn die Preise der verkauften Güter steigen, die Löhne aber konstant bleiben, dann sinken die Reallöhne und die realen Produktionskosten sinken – dementsprechend kann das Unternehmen mehr herstellen. Dieser Zusammenhang wird uns später noch einmal beschäftigen; vor allem im Zusammenhang mit der sogenannten Phillips-Kurve.
Auch die Zinsen – also der Preis für die Überlassung von Kapital, müssen wir inflationsbereinigen. Denken Sie an den Zusammenhang, den wir zu Beginn des Kapitels erörtert haben: Je länger man jemandem sein Geld verleiht, um so weniger wird es real wert, da die Inflationsrate daran nagt. Also verlangt man einen höheren Zins, um die Folgen der Inflation zu kompensieren. Dabei ist der Zins, der sich ergibt, wenn man die Inflationsrate herausrechnet, der Realzins. Als Faustregel gilt: der Realzins in Prozent ergibt sich (fast), wenn man vom Nominalzins, also dem Zins vor Inflationsbereinigung (das ist der Zins, den die Bank von Ihnen verlangt), die Inflationsrate abzieht. Wenn die Bank also von Ihnen fünf Prozent Zinsen verlangt und die Inflationsrate zwei Prozent beträgt, dann liegt der Realzins bei rund drei Prozent.
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Wird immer wertvoller: Ein volles Fass mit Öl.
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Teil 2: Makroökonomie
In der Praxis: Indexierte Kontrakte Das Problem bei Lohnforderungen und Zinsforderungen besteht darin, dass man die Inflationsrate nicht im Voraus kennt. Nehmen wir an, Sie wollen Geld verleihen und erwarten eine Inflationsrate von zwei Prozent und fordern deswegen einen Zins von fünf Prozent, weil Sie einen realen Zins von drei Prozent für das Darlehen fordern. Beläuft sich die Inflationsrate aber nun überraschend auf fünf Prozent, dann haben Sie das Nachsehen. Ein Ausweg aus diesem Dilemma sind indexierte Kontrakte: Man vereinbart, dass der Zinssatz des Darlehens an die Inflationsrate gekoppelt wird – steigt die Inflationsrate, dann steigt auch der Zinssatz, den Sie als Gläubiger erhalten. Diese Indexierung schützt Sie also als Gläubiger vor überraschender Inflation. In der Praxis macht man das über sogenannte Inflationsindexierte Anleihen (auch Inflationsanleihe, inflation-linked Bond, oder Inflation-indexed bond genannt), die auch von Staaten begeben werden; Deutschland begab 2006 die erste inflationsindexierte Anleihe. In Italien hatte man in der Nachkriegszeit auch die Lohnkontrakte indexiert – die Löhne wuchsen nach der sogenannten scala mobile im Einklang mit der Inflationsrate. Das Problem daran war, dass die scala vermutlich zu einer Lohn-PreisSpirale führte – steigende Inflationsraten führten zu steigenden Löhnen führten zu steigenden Inflationsraten und so weiter.
13 Was ist Inflation?
Zusammenfassung 1. Inflation ist eine der wichtigsten makroökonomischen Zielvariablen. Eine Marktwirtschaft, wie wir sie im ersten Teil des Buches kennen gelernt haben, funktioniert bei hoher Inflation nicht mehr, weil dann das Preissystem gestört ist. 2. Inflation bringt hohe wirtschaftliche und soziale Kosten mit sich: Kreditgeber verlieren ihr Vermögen, Schuldner werden von ihren Schulden befreit, schlimmstenfalls wird das inflationäre Geld nicht mehr akzeptiert, die Wirtschaft fällt zurück in das Stadium einer Tauschwirtschaft, in der man nur noch Güter gegen Güter tauscht. 3. Die Inflationsrate (Preisindex der Lebenshaltung) wird berechnet, indem man zuerst einen Güterkorb festlegt, der die durchschnittlichen Konsumgewohnheiten der Bürger widerspiegeln soll; anschließend beobachtet man die Wertentwicklung dieses Güterkorbs. Ob man persönlich unter der Inflation leidet, bestimmt sich dann daraus, wie sehr dieser Güterkorb den eigenen, persönlichen Konsumgewohnheiten entspricht. 4. Mit Hilfe der Inflationsrate kann man nun nominale Variablen um die Inflation bereinigen, also zu realen Variablen machen. Nominale Variablen können durch Inflation so verzerrt sein, dass sie keinen guten Anhaltspunkt für wirtschaftspolitische Überlegungen bieten. 5. Im Unterschied zum BIP-Deflator wird beim Preisindex der Lebenshaltung die Zusammensetzung des Güterkorbs festgelegt und nicht mehr verändert – beim BIP-Deflator hingegen werden die Preise fixiert, die Zusammensetzung des untersuchten Güterkorbs (in diesem Fall das komplette Sozialprodukt) ändert sich jedes Jahr.
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Was ist Wachstum? Wenn du nicht wächst, wirst du kleiner. Jüdisches Sprichwort
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Um was geht es? Bis hierhin haben wir gelernt, wie man die Wohlfahrt eines Landes erfassen kann. Doch das ist eigentlich nur die Voraussetzung für die wirkliche Arbeit eines Ökonomen: Wir wollen doch das Beste aus unserem Leben machen, das Beste aus dem Leben aller Menschen machen, und dazu wollen wir ihre Wohlfahrt erhöhen. Nun haben wir gesehen, dass der Güterberg, den wir produzieren, nicht gleichzusetzen ist mit Wohlfahrt, doch dass er zumindest eine wichtige Komponente der Wohlfahrt ist und in der Regel auch viele andere Indikatoren der Wohlfahrt wie Gesundheit, Lebenserwartung oder Zufriedenheit zumindest einen engen Zusammenhang zu diesem Güterberg, den wir Sozialprodukt nennen, besteht. Also, so die Idee, werden wir die Wohlfahrt eines Landes steigern, wenn wir diesen Güterberg größer machen, und dieses „größer machen“ nennen wir Wachstum. Damit haben wir eine recht pragmatische Definition von Wachstum: Wachstum ist der Anstieg des realen Sozialproduktes, also des Güterbergs abzüglich der Preissteigerungen. Allerdings verträgt auch diese Definition noch eine Verfeinerung: Wenn wir nur wachsen, weil die Bevölkerung wächst, dann bedeutet das nicht notwendigerweise einen Wohlfahrtszuwachs. Wenn die Bevölkerung um eine Million Personen wächst, dann wächst auch der Güterberg, den diese Bevölkerung herstellt (wir gehen davon aus, dass diese Menschen auch produzieren), doch wenn diese Million Menschen weniger produzieren, als sie selbst zum Leben benötigen, dann sinkt die Wohlfahrt der Gesamtbevölkerung. Das korrekte Wachstumsmaß ist also nicht das Wachstum des realen Sozialprodukts, sondern das Wachstum des realen Sozialprodukts pro Kopf. Steigt dieses, dann steigt auch die Gesamt-
Reales Sozialprodukt pro Kopf (Dollar pro Kopf; logarithmische Darstellung) 30000 20000 10000
5000 3000 2000 1000 1960
Abbildung 55: Reales pro-KopfWachstum von Industrienationen und Schwellenländern im Vergleich, logarithmische Darstellung
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Industriestaaten
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95
Schwellenländer
(Quelle: IMF, world economic outlook 2003; p. 95; http://www.imf.org/external/ pubs/ft/weo/2003/01/pdf/chapter3.pdf)
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Teil 2: Makroökonomie
wohlfahrt eines Volkes, weil nun rein rechnerisch betrachtet jeder Bürger mehr konsumieren kann (über die Verteilung dieses Wachstums haben wir bereits im ersten Teil des Buches gesprochen). Empirie. Wie sieht es denn aus mit dem Pro-Kopf-Wachstum weltweit? Abbildung 55 zeigt ein interessantes Bild, sie vergleicht das reale Sozialprodukt pro Kopf in Industrienationen und sogenannten Schwellenländern, also Ländern, die diesen Industrienationen hinterher hinken. Das Ergebnis ist deutlich: Das Pro-Kopf-Sozialprodukt lag in den Industrienationen in den vergangenen 50 Jahren deutlich höher als in den Schwellenländern, zudem zeigt sich in den Industrienationen ein größeres Wachstum als in den Schwellenländern (bitte beachten Sie, dass die Skala logarithmiert ist, der Abstand beispielsweise zwischen 2000 und 3000 ist in etwa genauso groß wie zwischen 20000 und 30000; dadurch erscheint das Wachstum flacher, als es in Wirklichkeit ist. Zumeist macht man das aus Darstellungsgründen, wenn die Grafik sonst zu hoch werden würde).
In der Praxis: Internationaler Wohlfahrtsvergleich mit Big Macs Um zu verstehen, was Wachstum treibt und was nicht, empfiehlt es sich, den Wohlstand und das Wachstum verschiedener Staaten miteinander zu vergleichen – wenn Land A reicher ist als Land B, dann liegt es nahe zu fragen, was A anders macht als B und ob B dieses Verhalten kopieren sollte. Also vergleicht man das reale Bruttoinlandsprodukt verschiedener Länder miteinander – aber wie? Die erste Idee ist einfach: Um die Sozialprodukte verschiedener Länder miteinander vergleichbar zu machen, rechnet man das jeweilige nationale Sozialprodukt mit Hilfe des jeweiligen Wechselkurses in eine einheitliche Währung um (zumeist in Dollar). Klingt gut, ist aber zu einfach: Erstens schwanken Wechselkurse zu stark, so dass sich bei dieser Methode je nach Erhebungszeitraum recht unterschiedliche Ergebnisse einstellen werden. Zweitens unterscheiden sich die Preise in den einzelnen Staaten deutlich; als Faustregel kann man sagen, dass die Preise für viele Güter und Dienstleistungen umso niedriger sind, je geringer das Pro-Kopf-BIP eines Landes ist. Das bedeutet aber, dass man den Lebensstandard eines armen und eines reichen Landes nicht vergleichen kann, ohne diese Preisunterschiede zu berücksichtigen – ein Chinese kann sich nicht einen Haarschnitt in New York leisten, muss er aber nicht, weil der Friseur in China entsprechend billiger ist. Und diesen Unterschied in den Preisen der Lebenshaltung muss man bei einem internationalen Wohlfahrtsvergleich berücksichtigen, und das geschieht über so genannte Kaufkraftparitäten. Vereinfacht gesagt definiert man zur Berechnung der Kaufkraftparitäten einen gemeinsamen Güterkorb, von dem man unterstellt, dass er so in allen Ländern konsumiert wird, und bewertet diesen Güterkorb mit einheitlichen Durchschnittspreisen. Aus den einheitlich gepreisten Güterkörben lässt sich dann der
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Wechselkurs ermitteln, bei dem der Güterkorb in beiden Ländern das gleiche kosten würde – das ist die Kaufkraftparität. Das britische Magazin „The Economist“ hat diese Idee der Kaufkraftparitäten vereinfacht, indem man den Kaufkraftparitätenkurs zwischen zwei Ländern anhand des Preises eines Big Mac in den beiden Ländern berechnet. Es berechnet den Wechselkurs, bei dem ein Big Mac beispielsweise in Amerika und China den gleichen Preis hat und vergleicht diesen Kaufkraftparitäten-Wechselkurs mit dem tatsächlichen Wechselkurs, um zu ermitteln, ob eine der beiden Währungen über- oder unterbewertet ist. In der Vergangenheit hat der Big-MacIndex erstaunlich gut angezeigt, ob der Wechselkurs eines Landes in der Zukunft steigen oder fallen wird.
Der BigMac, ein typischer Wirtschaftsindikator.
Abbildung 55 verrät uns, dass es große Unterschiede im Wohlstand und Wachstum von Volkswirtschaften gibt – und die Frage, die uns als Ökonomen natürlich interessiert, ist warum. Warum wachsen manche Volkswirtschaften schneller als andere, warum sinkt das Wachstum in manchen Ländern? Was ist das Rezept für mehr Wachstum und mehr Wohlfahrt? Und was kann die Politik tun, um mehr Wachstum zu erzeugen? Das ist eine der Kernfragen der gesamten Makroökonomie. Für die Bundesrepublik Deutschland beispielsweise zeigt Ihnen Abbildung 56 den Verlauf des Wachstums der vergangenen 60 Jahre. Sehr schön erkennt man, dass es in den Aufbaujahren noch recht leicht war zu wachsen, und 10
Bruttoinlandsprodukt preisbereinigt, verkettet *) Veränderung gegenüber dem Vorjahr in % 8,2
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Durchschnitt 1950–1960
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Durchschnitt 1960–1970
Durchschnitt 1970–1980
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Durchschnitt 1980–1991
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Durchschnitt 1991–2001
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*) Die Ergebnisse von 1950 bis 1970 (Früheres Bundesgebiet) sind wegen kozeptioneller und definitorischer Unterschiede nicht voll mit den Ergebnissen von 1970 bis 1991 (Früheres Bundesgebiet) und den Angaben ab 1991 (Deutschland) vergleichbar. Die preisbereinigten Ergebnisse von 1950 bis 1970 (Früheres Bundesgebiet) sind in Preisen von 1991 berechnet. Die Ergebnisse von 1971 bis 1991 (Früheres Bundesgebiet) sowie die Angaben ab 1991 (Deutschland) werden in Preisen des jeweiligen Vorjahres als Kettenindex nachgewiesen.
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Abbildung 56: Wirtschaftswachstum in der Bundesrepublik Deutschland Quelle: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen. Wichtige Zusammenhänge im Überblick, Statistisches Bundesamt, Wiesbaden 2011, S. 10 (URL: http://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/ VolkswirtschaftlicheGesamtrechnungen/Zusammenhaenge.pdf?_blob=publicationFile)
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dass dann, mit zunehmender Industrialisierung der Bundesrepublik, die durchschnittlichen Wachstumsraten sinken; ein Muster, das sich für etliche Volkswirtschaften findet. Aber vielleicht sollten wir an dieser Stelle noch einmal kurz inne halten: Warum sollten wir uns mehr Wachstum wünschen?
Mehr Wachstum bedeutet eine größere Güterproduktion und damit mehr Konsummöglichkeiten für die Bürger – solange wir Wohlstand über den Güterberg definieren, der uns zur Verfügung steht, ist Wachstum wohlfahrtsfördernd.
Die Unzulänglichkeiten des Ansatzes, Wohlfahrt über den Güterberg zu messen, kennen wir bereits – dennoch ist es sinnvoll, auf Wachstum abzustellen: Beispielsweise lassen sich viele Ziele wie Umweltschutz, mehr Bildung, höhere Lebensqualität leichter durchsetzen, wenn man auf einem gewissen Wohlstandniveau lebt. Wer hungrig ist, macht sich weniger Sorgen um die Umwelt und hat weniger Skrupel, den Regenwald zu roden.
Mehr Güterproduktion bedeutet auch einen größeren Verteilungsspielraum – je wohlhabender wir sind, umso leichter können wir diesen Wohlstand zwischen unseren Bürgern umverteilen.
In der Presse 10: die afrikanische Tragödie Knapp die Hälfte der Bevölkerung des afrikanischen Kontinents lebt unterhalb der Armutsgrenze. Während der Rest der Welt zwischen 1960 und 2002 im Schnitt um zwei Prozent pro Jahr gewachsen ist, war das Wachstum in Afrika miserabel: von 1974 bis Mitte der Neunziger Jahre war es negativ; zwischen 1990 und 1994 war es ein Minuswachstum von 1,5 Prozent. Als Konsequenz dessen ist die Zahl der in Armut lebenden Menschen in Afrika in diesem Zeitraum von 140 Millionen auf 360 Millionen gestiegen. Die Ökonomen Elsa Artadi und Xavier Sala-i-Martin haben nach den Gründen für diese unterschiedliche Entwicklung geforscht und ein paar Hinweise gefunden (The Economic Tragedy of the XXth Century: Growth in Africa, NBER Working Paper No. 9865). Einer der Gründe war der Mangel an Investitionen: Während in den OECD-Staaten die Investitionen zwischen 20 und 25 Prozent des Sozialproduktes lagen, sind sie in Afrika seit 1975 auf 8,5 Prozent gefallen. Der ökonomischen Entwicklung in Afrika zusätzlich abträglich war die Tatsache, dass in Afrika mehr Investitionen vom Staat getätigt wurden als in den OECD-Staaten – vermutet man, dass staatliche Investitionen tendenziell unproduktiver sind als private Investitionen (über die Gründe dafür haben wir im ersten Teil des Buches nachgedacht), dann hilft das den Unterschied im Wachstum zu erklären. In Zahlen: OECDStaaten haben im betrachteten Zeitraum im Schnitt zwischen 25 bis 30 Prozent ihres Sozialproduktes investiert; in Afrika waren es 8,5 Prozent. In Afrika kamen auf einen Dollar private Investitionen
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50 Cents staatliche Investitionen, in den OECD-Staaten waren es 30 Cents. Ein weiterer Grund für die Unterschiede im Wachstum zwischen Afrika und entwickelten Staaten sind Erziehung und Gesundheit: Im Schnitt besuchen 42 Prozent der afrikanischen Bevölkerung eine Grundschule (OECD-Staaten: 100 Prozent). Auch die Gesundheit spielt eine wichtige Rolle: Die Ökonomen schätzen beispielsweise, dass die Wachstumsrate in Afrika ohne Malaria 1,25 Prozentpunkte höher ausgefallen wäre. Ein weiterer wichtiger Wachstumstreiber ist der Außenhandel, den man über den so genannten Offenheitsgrad messen kann (je größer der Wert, desto offener ist ein Land gegenüber dem Ausland). In Afrika betrug dieser in der Vergangenheit 0,1, in den OECD-Staaten 0,65. Hätte Afrika in den vergangenen 40 Jahren einen ähnlich hohen Offenheitsgrad gehabt wie die OECD, so wäre die jährliche Wachstumsrate um 67 Basispunkte höher ausgefallen, schätzen die Ökonomen.
Wir wollen also uns im Weiteren damit beschäftigen, welche Faktoren zu mehr Wachstum führen, um Ideen zu bekommen, wie man den Wohlstand von Nationen fördern kann. Und an Nummer eins der Wachstumstreiber steht das, was Ökonomen Produktivität nennen. Was ist das?
In der Diskussion Was bedeutet Wachstum für Sie? Wo und wie profitieren Sie davon? Wo würden Sie auf Wachstum verzichten?
Die Produktion, also der Güterberg, ist als Wohlfahrtsmaß auch deswegen nur bedingt geeignet, weil wir fragen müssen, mit welchem Aufwand er hergestellt worden ist. Wenn wir unser Sozialprodukt statt mit 40 Stunden Arbeit pro Woche mit 20 Stunden pro Woche herstellen, ist das natürlich besser. Genau das ist Produktivität: Die Fähigkeit, einen bestimmten Güterberg mit einem bestimmten Einsatz von Produktionsfaktoren herzustellen. Entscheidend ist also die Produktivität, die wir erhalten, wenn wir die Menge der hergestellten Güter durch die dazu benötigten Produktionsfaktoren dividieren. Dabei können wir zwischen verschiedenen Arten der Produktivität unterscheiden:
Die gesamtwirtschaftliche Arbeitsproduktivität erhalten wir, indem wir das (preisbereinigte) Bruttoinlandsprodukt durch die Anzahl der Erwerbstätigen oder die Anzahl der geleisteten Arbeitsstunden dividieren. Steigt die Arbeitsproduktivität, dann haben wir pro Arbeitnehmer (oder pro Arbeitsstunde) mehr Güter hergestellt. Die Unterscheidung zwischen BIP je Erwerbstätigem oder je geleisteter Arbeitsstunde macht beispielsweise Sinn, wenn die Teilzeitarbeit zunimmt.
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Afrika
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Teil 2: Makroökonomie
Die Kapitalproduktivität ermittelt man, indem man das Bruttoinlandsprodukt durch den sogenannten Kapitalstock dividiert. Unter dem Kapitalstock versteht man das jahresdurchschnittliche Bruttoanlagevermögen. Das sind alle produzierten Vermögensgüter, die länger als ein Jahr wiederholt oder dauerhaft in der Produktion eingesetzt werden (Wohnbauten und Nichtwohnbauten; Fahrzeuge, Maschinen und sonstige Ausrüstungen; immaterielle Anlagen, wie z.B. Software sowie Nutztiere und Nutzpflanzungen). Steigt die Kapitalproduktivität, so bedeutet das, dass unsere Maschinen leistungsfähiger geworden sind und mehr herstellen können.
Die Arbeitsproduktivität und die Kapitalproduktivität werden auch als partielle Faktorproduktivitäten bezeichnet, da man hier nur die Produktivität eines einzelnen Produktionsfaktors untersucht – im Gegensatz zur totalen Faktorproduktivität. Diese ist der Teil des Wachstums, der sich nicht durch Veränderungen im Einsatz von Arbeit und Kapital erklären lässt.
In der Praxis: Die Solow-Zerlegung In der Praxis ist es schwieriger, als man vermutet, die verschiedenen Produktivitäten zu messen; vor allem die totale Faktorproduktivität. Ein bekannter Ansatz ist die sogenannte Solow-Zerlegung, benannt nach ihrem Erfinder: Man zerlegt das Wachstum des BIP in drei Komponenten: den Wachstumsbeitrag des Produktionsfaktors Arbeit, den Wachstumsbeitrag des Produktionsfaktors Kapital und ein Restkomponente (das Solow-Residuum). Diese Restkomponente wird auch als Maß für den technischen Fortschritt genutzt: Wenn man den Beitrag der Arbeit und des Kapitals zum Wachstum über die ersten beiden Komponenten heraus gerechnet hat, so die Idee, dann muss der Rest des Wachstums durch technischen Fortschritt zustande gekommen sein. Für die Bundesrepublik Deutschland zeigt diese Solow-Zerlegung von 1992 bis 2001 dass der Wachstumsbeitrag des Produktionsfaktors Arbeit negativ ist, weil die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden gesunken ist. In den Vereinigten Staaten hingegen hat der Produktionsfaktor Arbeit erheblich zum Wirtschaftswachstum beigetragen.
Entscheidend für uns ist eine einfache Frage: Was erhöht die Produktivität eines Landes? Wenn wir es schaffen, den gleichen Güterberg mit weniger Arbeitseinsatz oder weniger Kapitaleinsatz herzustellen, dann steigert das unsere Wohlfahrt – keine Frage. Überlegen Sie einmal: Wenn Sie für die gleiche Klausur nicht hundert Stunden, sondern nur fünfzig Stunden lernen müssen, aber dennoch die gleiche Note bekommen, dann haben Sie Ihre Lernproduktivität gesteigert (verdoppelt) – das erhöht doch Ihre Wohlfahrt, oder? Lassen Sie sich nicht von Ihrer Intuition täuschen, dass wir ja mehr
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Arbeitsplätze benötigen und dass ein Anstieg der Produktivität dazu führen kann, dass man das gleiche Sozialprodukt mit weniger Arbeitsplätzen herstellen kann – diesem Problem werden wir uns im nächsten Kapitel noch einmal widmen. Grundsätzlich gilt: Wenn wir es schaffen, mehr Güter mit weniger Aufwand herzustellen, dann ist das eine gute Sache. Und jetzt müssen wir fragen, welches die Faktoren sind, die uns zu mehr Produktivität und damit zu mehr Wachstum verhelfen. Wir werden uns nun verschiedene Faktoren ansehen:
Investitionen und Kapital, Bildung, Offenheit gegenüber anderen Staaten Institutionen und Geschichte und Geographie.
Köpfe: Robert M. Solow Geboren 1924, war Solow das erste Kind seiner in die Vereinigten Staaten eingewanderten Familie, das eine Universität besuchen durfte. Wie viele Kinder der Weltwirtschaftskrise, so sagt er, war er neugierig darauf, wie Gesellschaften funktionieren, weswegen er zuerst Soziologie und Anthropologie studierte, bevor er auf die Ökonomie stieß. Von 1942 bis 1945 war er als Soldat in Nordafrika und Sizilien – drei Jahre, die wie er sagt, seine Persönlichkeit formten. Später arbeitete er lange Jahre an der wirtschaftswissenschaftlichen Abteilung des M.I.T. „Hätte ich meine Studenten vernachlässigt, hätte ich 25 Prozent mehr wissenschaftliche Artikel schreiben können“, sagt er – doch er habe seine Entscheidung nicht bereut. Musste er auch nicht: 1987 erhielt er für seine Arbeiten über Wirtschaftswachstum den Nobelpreis für Ökonomie.
Robert M. Solow
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Investitionen und Kapital. Ein ganz wichtiger Wachstumstreiber ist das, was Ökonomen Investitionen nennen. Wie wir ja bei der Definition des Sozialproduktes gesehen haben, können die Bürger ihr Geld entweder für Konsum ausgeben oder aber für Investitionen (klammern wir einmal die Staatsausgaben, die Exporte und die Importe aus). Konsum ist vereinfacht gesagt der Kauf von Produkten, die nur dem Verbrauch dienen. Wenn Sie also beispielsweise Lebensmittel kaufen, dann dienen diese ausschließlich dem Verbrauch. Bei einer Investition ist das anders: Eine Investition ist der Kauf von einem Produkt, mit dessen Hilfe man neue, weitere Produkte herstellen kann. Eine Maschine beispielsweise ist eine klassische Investition: Man kauft sie, um damit andere Produkte herzustellen. Damit ist auch klar, warum eine Investition die Wohlfahrt eines Landes erhöht: Mit dem Kauf der Maschine in diesem Jahr kann man im nächsten Jahr mehr neue Produkte herstellen. Hätte man statt der Maschine ein Konsumgut gekauft, dann würde das Wachstum im kommenden Jahr nicht so hoch ausfallen, da wir ja keine Maschine hätten, um mehr herzustellen. Sie sehen: Investitionen erhöhen die Möglichkeiten, mehr herzustellen und damit unser Wachstum. Maschinen erzeugen Wachstum
Aber Sie haben auch gleich die Kehrseite einer Investition gesehen: Wer investieren will, muss auf Konsum verzichten. Das einfachste Beispiel für diesen Konflikt finden Sie in der Landwirtschaft: Ich kann das Getreide, das ich dieses Jahr ernte, essen – das ist dann Konsum. Wenn ich das gleiche Getreide aber wieder als Samen pflanze (das ist die Investition), verzichte ich auf diesen Konsum, kann dafür aber im Gegenzug im kommenden Jahr mehr Getreide ernten. Sie sehen, eine Investition hat also immer Opportunitätskosten, und zwar den entgangenen Konsum. Und je mehr wir heute auf Konsum zugunsten der Investitionen verzichten, umso mehr haben wir morgen, wenn die Investitionen den gewünschten Ertrag abwerfen. Einfacher gesagt: Wer für morgen investieren will, muss heute verzichten, also sparen. Wenn wir das, was wir nicht in Konsum stecken, investieren, steigern wir also unser Wachstum. Und den Bestand all dessen, was uns hilft, mehr zu produzieren, nennen wir Kapital. Das sind vor allem Maschinen zur Herstellung anderer Güter, aber im weiteren Sinne auch Patente, Technologien, Know-how aber auch die Infrastruktur eines Landes – das Verkehrsnetz, Strom, all das, was Unternehmen bei der Produktion unterstützt. Dabei sollte man die Rolle der Infrastruktur für das Wachstum eines Landes nicht unterschätzen: Sie schafft die Voraussetzungen dafür, dass Unternehmen produzieren können. Klar ist auch, dass Maschinen und Infrastruktur nicht nur die Menge der Güter erhöhen, die wir produzieren können, Sie machen unsere Produktion in der Regel auch effizienter, will heißen: Sie erhöhen die Produktivität eines Landes, und darauf kommt es uns ja auch an. Eine weitere wichtige Komponente des Kapitals ist das so genannte Humankapital, also Bildung. Bildung. Natürlich ist Bildung ein ganz wichtiger Meilenstein auf dem Weg zu mehr Wohlstand und Wachstum: Wer eine gute Ausbildung hat, ist produktiver, kann mehr herstellen, steigert das Wachstum, und erhält wegen
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seiner guten Ausbildung (und der damit verbundenen höheren Produktivität) auch ein höheres Gehalt. Bildung ist auch notwendig, um Maschinen zu bedienen, die zu einer höheren Produktivität verhelfen; Bildung ist das Zaubermittel für die Beseitigung von Armut und Hunger. Abbildung 57 zeigt Ihnen, was Sache ist: In den Industrienationen hat die Anzahl der Teilnehmer an der Sekundarschulausbildung (laienhaft gesprochen ist das jede Schulausbildung, die zwischen der Grundschule und der Universität liegt) stetig zugenommen und liegt mittlerweile sogar über 100 Prozent – wenn es also 100 Menschen gibt, die in dem Alter sind, das für diese Bildungsmaßnahme vorgesehen ist, dann nehmen fast 110 Menschen an dieser Ausbildung teil (dass es mehr als 100 Prozent sind, liegt an Nachzüglern und dem zweiten Bildungsweg). In den Schwellenländern nimmt gerade einmal die Hälfte aller Menschen, die vom Alter her diese Bildungsstufe besuchen könnten, an ihr auch teil. Armut ist ein Mangel an Ausbildung. Offenheitsgrad. Ein weiterer Wachstumstreiber ist die so genannte Offenheit eines Landes – also das Ausmaß, in dem ein Land wirtschaftliche Beziehungen zum Ausland unterhält. Dabei gilt als Faustformel: Je offener ein Land gegenüber dem Ausland ist, umso wohlhabender ist es. Abbildung 58 verschafft Ihnen einen Überblick: Industrienationen zeigen über die vergangenen vierzig Jahre hinweg eine deutlich höhere Offenheit gegenüber dem Ausland als Schwellenländer (wie genau man diese Offenheit misst, wollen wir hier nicht weiter vertiefen; vereinfacht gesagt schaut man sich die Imund Exporte an und die Verflechtungen der Kapitalmärkte). Warum sollte ein Land reicher werden, wenn es sich dem Ausland öffnet? Wenn Sie an den ersten Teil des Buches denken und an den komparativen Vorteil, dann wird es klar: Außenhandel ist nichts anderes als Spezialisierung auf internationaler Ebene, also Arbeitsteilung. Und wie wir im ersten Teil des Buches erörtert haben, ist Spezialisierung grundsätzlich wohlfahrtserhöhend. Das liegt eigentlich auf der Hand: Wenn wir es akzeptieren, dass wir innerhalb unserer eigenen Grenzen eine Spezialisierung auf unterschiedliche Produkte und Berufe haben, weil dies die Wohlfahrt unseres Landes erhöht – warum soll sich das ändern, nur weil jetzt auf einmal eine Grenze zwischen den Beteiligten ist? Niemand würde auf die Idee kommen, dass der Außenhandel zwischen Rheinland-Pfalz und Hessen schädlich ist für die Beteiligten (warum sollten sie dann auch freiwillig tauschen?); warum sollte sich das nun ändern, wenn dieser Handel zwischen Rheinland-Pfalz und Nigeria stattfindet? Keine Frage: natürlich wirft Außenhandel eine Menge Fragen und Probleme auf (deren Diskussion leider den Rahmen dieses Buches sprengt), doch grundsätzlich gilt, dass Außenhandel die Wohlfahrt eines Landes erhöht. (Die Bundesrepublik Deutschland ist als langjähriger Exportweltmeister einer der größten Profiteure der Globalisierung; Nordkorea hingegen ist wenig offen – die Unterschiede liegen auf der Hand). Eigentlich liegt das auch nahe: Wenn ein Land nur Rohstoffe hat, wie soll es diese Rohstoffe in
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Schulausbildung
100 80 60 40 20 0 1960 65 70 75 80 85 90 95
Abbildung 57: Schulausbildung in Industrienationen und Schwellenländern; Teilnahme an Sekundarschulausbildung in Prozent eines Jahrgangs (dunkle Linie = Industriestaaten; helle Linie = Schwellenländer) (Werte über 100 Prozent entstehen dadurch, dass in den Industrienationen auch ältere Menschen an solchen Bildungsmaßnahmen teilnehmen, beispielsweise Erwachsenenbildung) (Quelle: IMF, world economic outlook 2003; p. 95; http://www.imf.org/external/pubs/ft/ weo/2003/01/pdf/chapter3.pdf)
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Offenheit
20 18 16 14 12 10 8 1960 65 70 75 80 85 90 95
Abbildung 58: Offenheit von Industrienationen (dunkle Linie) und Schwellenländern (helle Linie) (Offenheit: Prozentsatz der Jahre, in denen das betreffende Land als offen definiert wird) (Quelle: IMF, world economic outlook 2003; p. 95; http://www.imf.org/ external/pubs/ft/weo/2003/01/pdf/ chapter3.pdf)
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andere Produkte verwandeln, wenn nicht über den Handel mit anderen Staaten? Es ist der Handel, der es Staaten ermöglicht, andere Produkte, Technologien oder Know-How ins Land zu bekommen, was wiederum die Produktivität im Inland steigert. Ähnliches gilt für Migration: Wenn Inländer ins Ausland gehen, um dort zu arbeiten, senden sie in der Regel einen Teil ihres Einkommens nach Hause – was die Wohlfahrt des Inlandes steigert. Wenn sie darüber hinaus im Ausland neue Fertigkeiten erwerben und mit diesen Fertigkeiten bewaffnet nach Hause kommen, erhöhen Sie das Humankapital des Inlandes und damit dessen Produktivität und Wohlstand. Ein Problem allerdings entsteht dann, wenn die Migranten nicht mehr nach Hause wollen – wenn vor allem die gut ausgebildeten, klugen Menschen aus ihrem Land fliehen, weil sie anderswo ein besseres Leben erwarten, dann schadet das natürlich dem Heimatland, weil diesem die gut ausgebildeten Arbeitnehmer fehlen. Das Ganze nennt man dann auch Brain-Drain.
In der Diskussion Wo spüren Sie die Folgen der Globalisierung? Wo profitieren Sie davon, wo erleben Sie Nachteile?
Empirisch ist das Fazit eindeutig: Je offener eine Volkswirtschaft ist, umso wohlhabender ist sie – trotz des Negativimages, das der Globalisierung anhaftet. Aber wie gesagt: Eine detailliertere Diskussion dieses Themas ist einem eigenen Buch vorbehalten.
Wann geht der nächste Flug nach Hause?
Institutionen. Ein weiterer Wachstumstreiber, der oft verkannt wird ist das, was Ökonomen Institutionen nennen. Eine der wichtigsten Institutionen kennen Sie bereits: es sind die im ersten Abschnitt des Buches diskutierten Eigentumsrechte. Eigentumsrechte sind wie wir gesehen haben ein wichtiger Anreiz, ein zentrales Element einer marktwirtschaftlichen Rahmenordnung. Institutionen sind der Rahmen, den die Politik der Wirtschaft, den Bürgern und der Gesellschaft vorgibt – und wie wir aus der Debatte um die Ordnungspolitik sehen, spielt der Rahmen für die wirtschaftliche Entwicklung eine wichtige Rolle. Hier gibt es neben den Eigentumsrechten eine Menge Elemente, die man diskutieren muss:
Da wären beispielsweise die politischen Freiheiten. Wie wir gesehen haben, spielt Freiheit für Märkte eine wichtige Rolle – und wirtschaftliche Freiheit geht zumeist eng einher mit politischer Freiheit. Und in der Tat gelten Diktaturen jeglicher Couleur selten als Wohlfahrtsmaschinen.
Auch Kriminalität und Korruption sind Wachstumsbremsen: Welches Unternehmen will in einem kriminalitätsgebeutelten Land investieren, wo Entführungen, Sachbeschädigung, Schmiergelder und Diebstahl die Produktion teuer und riskant machen? Und wo nicht investiert wird, wächst auch nichts, wie wir bereits gesehen haben.
14 Was ist Wachstum?
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Der öffentliche Sektor ist ein wichtiger Akteur im Wohlstandschauspiel: Je effizienter die Ausgaben des Staates sind – für Infrastruktur, Schulen und was auch immer – umso wohlhabender ist ein Land. Wenn aber der Staat einen Großteil der ihm anvertrauten Mittel verschwendet, dann geht es dem Land dementsprechend schlecht. Dabei dürfte die Effizienz des Staatsapparates auch etwas mit dem Funktionieren der Demokratie zu tun haben – eine Regierung, die offensichtlich die Steuergelder der Bürger verschwendet, wird rasch abgewählt. Damit ist klar, dass auch das politische System ein wichtiger Faktor in der Wachstumsformel ist.
Auch das Ausmaß der Regulierung spielt für das Wachstum eines Landes eine wichtige Rolle: Wenn der Staat jede Kleinigkeit in umfangreichen Gesetzen regelt, muss man befürchten, dass dies den Investitionsdrang und die Unternehmerlust vieler Bürger lähmt. In den Augen dieser Kritik – auf die wir später noch einmal eingehen werden – erstickt der Staat den Unternehmergeist mit Gesetzen, Vorschriften und Regulierungen und gefährdet damit das Wachstum des Landes. Diese Idee ist Teil des sogenannten angebotspolitischen Credos, das wir noch näher kennen lernen werden. All diese Überlegungen sind recht plausibel und zeigen sich auch in Abbildung 59: Hier sehen Sie den Zusammenhang zwischen dem realen ProKopf-Einkommen eines Landes (in der Grafik wieder in logarithmischer Form dargestellt) und dessen Institutionen (wobei man hier versucht hat, all das, was wir besprochen haben plus noch einiges mehr, zu messen – je höher die Zahl, umso besser sind die verschiedenen Institutionen in dem betref-
12 Industriestaaten Schwellenländer
8
6
4
2 –2,0
–1,6
–1,2
–0,8
–0,4
0,0
0,4
0,8
Qualität der Institutionen
1,2
1,6
2,0
Reales BIP pro Kopf
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Abbildung 59: Der Zusammenhang zwischen Einkommen und Institutionen (dunkel = Industrienationen; hell = Schwellenländer) (Quelle: IMF, world economic outlook 2003; p. 95; http://www.imf.org/external/ pubs/ft/weo/2003/01/pdf/chapter3.pdf)
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fenden Land ausgeprägt). Die hellen Rechtecke repräsentieren Schwellenländer, die dunklen Rechtecke Industrienationen. Das Ergebnis ist eindeutig: Wer gute Institutionen hat, hat ein höheres Einkommen.
Arbeitsauftrag 29 Suchen Sie weitere Institutionen, die als Wachstumstreiber und Wachstumshindernisse wirken – wie wirken diese auf eine Volkswirtschaft?
Geschichte und Geographie. Ein weiterer Einflussfaktor auf das Wachstum eines Landes ist dessen Geschichte und dessen geographische Lage. Keine Frage, das sind alles Aspekte, die für die Produktivität eines Landes und seinen Wohlstand eine wichtige Rolle spielen. Lassen Sie uns nur kurz ein paar Ideen dazu entwickeln:
Die geographische Lage eines Landes kann in vielerlei Hinsicht bedeutend sein: erstens lebt es sich im Zentrum Europas sicherlich besser und wohlhabender als an den Rändern, wo man lange Wege zu den Nachbarn hat. Zweitens dürfte auch die Nachbarschaft zu reichen Ländern abfärben; je weiter man von den wohlhabenden Zentren entfernt liegt, umso länger wird der Wohlstand brauchen, um auch ins Hinterland zu kommen. Nicht zuletzt spielt auch das Klima eine Rolle: In Staaten mit extremen Temperaturen lebt es sich ungünstiger und unproduktiver als in Staaten mit wohltemperierten Klima. Und nicht zuletzt verdanken viel Staaten ihren Reichtum ihrer geographischen Lage: Ihre Heimat ruht auf riesigen Ölfeldern.
Keine Frage, auch die Historie eines Landes spielt eine Rolle: Vergangene Kriege oder Besatzungszeiten haben ebenso wie Traditionen einen Einfluss auf das Wirtschaftswachstum. Dabei ist die Wirkungsrichtung nicht immer eindeutig: Man kann beispielsweise argumentieren, dass ein Erbe vieler afrikanischer Staaten aus der britischen Besatzungszeit der Rechtrahmen und das Rechtssystem der Briten ist, das – wie wir nun wissen – wachstumsfördernd sein kann. Das soll allerdings keine Rechtfertigung für die Besetzungen sein.
Studien legen nahe, dass auch die Religiosität eines Landes eine Rolle für die Produktivität spielen kann – wer Angst vor der Hölle hat, verhält sich im Geschäftsleben korrekter und betrügt weniger, das macht das Miteinander einfacher, billiger und stabiler. Studien zeigen, dass der Glaube an ein Leben nach dem Tod, an ein Paradies in irgendeiner Form oder an die Hölle sich positiv auf das Wirtschaftswachstum auswirkt. Wobei auch die Reihenfolge bemerkenswert ist: Am stärksten beflügelt der Glaube an die Hölle das Wachstum. Deutlich schwächer sind der Effekt des Glaubens an den Himmel und der Effekt des bloßen Glaubens an ein Leben nach dem Tod. Auch religiöse Gebote wie beispielsweise ein Zinsverbot haben einen Einfluss auf das Wachstum einer Volkswirtschaft.
14 Was ist Wachstum?
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Diese Art Einflussfaktoren auf Wachstum und Wohlfahrt eines Landes gibt es noch zu hunderten, und ihre Wirkungsrichtung ist oftmals nicht eindeutig. Das liegt auch daran, dass letztlich das Gesamtpaket entscheidet, wie eine Volkswirtschaft abschneidet – aus der Summe tausender Kleinigkeiten erwächst ein großer Trend. Politische Konsequenzen. Nach dieser Bestandsaufnahme kommen wir zur eigentlichen Frage: was machen wir damit? Eigentlich ist die Marschrichtung klar: Wir müssen überlegen, welche Politik wir machen müssen, um das Wachstum und die Produktivität unserer Volkswirtschaft zu steigern. Dabei kann man nun recht einfach vorgehen: Wenn wir wissen, was das Wachstum und die Produktivität einer Volkswirtschaft steigert, dann müssen wir einfach nur eine Politik betreiben, die diese wachstumsfördernden Faktoren unterstützt. Ein wirtschaftspolitisches Konzept, das sich zum Ziel gesetzt hat, Wachstumsschwächen und damit einhergehende Massenarbeitslosigkeit zu bekämpfen, ist die so genannte Angebotspolitik. Die Grundidee der Angebotspolitik besteht darin, die Wachstumsbedingungen einer Volkswirtschaft dadurch zu verbessern, indem man die Produktionsbedingungen verbessert, die Anpassungsfähigkeit des privaten Sektors erhöht und generell die Bedingungen auf der Angebotsseite verbessert. Prominenteste Vertreter der Angebotspolitik in der Politik waren der damalige amerikanische Präsident Ronald Reagan (seine Version der Angebotspolitik hieß Reaganomics) und die damalige britische Premierministerin Margaret Thatcher (hier hieß das Thatcherismus); die bundesrepublikanische Regierung unter der Führung von Helmut Kohl hatte sich zumindest in Reden solchen Ideen verschrieben, wenngleich sich dieser Anspruch in den Augen von Kritikern nicht mit der politischen Realität deckte. Im Einzelnen schlagen Angebotspolitiker unter anderem folgende Maßnahmen vor:
Bürokratieabbau und Deregulierung sollen die Produktionsbedingungen verbessern und zu mehr Investitionen führen, die dann mehr Wachstum ermöglichen.
Die Kosten der Produktion sollen reduziert werden, beispielsweise indem man die Lohnnebenkosten senkt und die Löhne sich an der Produktivität der Unternehmen orientieren. Je niedriger die Löhne, umso mehr wird produziert, umso höher wird das Wachstum.
Das Steuersystem soll vereinfacht werden und mit niedrigen Steuertarifen ausgestattet werden, damit Investitionen wieder attraktiver werden.
Es sollen mehr Anreize zum Arbeiten geschaffen werden, indem man die Sozialsysteme reformiert und die Kosten der Sozialpolitik (und die damit einhergehende Steuerbelastung, die negative Arbeitsanreize gibt) reduziert.
Der Wettbewerb soll als Produktivitätstreiber und Anreiz gesichert werden.
Das Gutachten zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung wird übergeben. Über die Richtung herrscht noch Uneinigkeit. © dpa
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Teil 2: Makroökonomie
Öffentliche Unternehmen sollen privatisiert werden, da Privatunternehmen effizienter sind (darüber haben wir bereits im ersten Teil des Buches gesprochen). Unter dem Strich kann man zusammenfassend sagen, dass Angebotspolitiker vor allem auf die Kraft des Wettbewerbs als Anreiz zu mehr Produktion, Investition und Wohlstand setzen, ebenso wie auf die entsprechenden Anreize auf der Unternehmensseite: Wenn ein Unternehmen günstig investieren kann, wird es das auch tun und mit diesen Investitionen das Wachstum der gesamten Volkswirtschaft steigern. Wenn aber Arbeit und Investitionen zu teuer sind, so die Idee, wird niemand investieren, niemand arbeiten und damit auch niemand wohlhabend werden.
In der Praxis: Die Fünf Weisen und die Angebotspolitik Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, die so genannten „Fünf Weisen“, die jedes Jahr dem amtierenden Bundeskanzler (in unserem Bild die Kanzlerin) ein dickes Gutachten zur wirtschaftlichen Lage übergeben, beschreiben die Idee der Angebotspolitik in Ihrem Jahresgutachten 1997/98 so: „Auch angebotsorientierte Wirtschaftspolitik muss die grundlegenden Kreislaufzusammenhänge der Volkswirtschaft beachten. Aber: Die Führungsrolle wird auf der Angebotsseite gesehen…Aus der Sicht der angebotsorientierten Wirtschaftpolitik ist Wachstum das Ergebnis des Bemühens der Menschen, die Ressourcen der Volkswirtschaft in effizienter Weise zu nutzen, um damit mehr Wohlstand und mehr Lebensqualität zu gewinnen, nicht dagegen eine staatliche Veranstaltung.“
Im Gegensatz dazu sehen Angebotspolitiker viele Anreize entwickelter Volkswirtschaften als kontraproduktiv an: Zu hohe Steuern zerstören die Anreize, zu investieren und zu arbeiten, zu hohe Sozialtransfers sorgen dafür, dass zu wenige Menschen arbeiten wollen, weil es sich bequemer auf Staatskosten lebt, zu hohe Bürokratie untergräbt Eigenverantwortlichkeit und Eigeninitiative. Das ist harter Stoff für den gelernten Sozialdemokraten – was muss man davon halten?
Arbeitsauftrag 30 Kennen Sie weitere Vertreter der Angebotspolitik? Was sind ihre Forderungen? Was halten Sie davon? Welche Folgen haben die Ideen der Angebotspolitik für die Einkommen – lang- und kurzfristig?
Zunächst einmal muss man konstatieren, dass die grundsätzlichen Wirkungszusammenhänge, welche die Angebotspolitiker postulieren, logisch
14 Was ist Wachstum?
295
konsistent und richtig sind: Ist Arbeit zu teuer, investiert niemand, stimmen die Anreize nicht, arbeitet niemand, und das Resultat ist fehlendes Wachstum und Massenarbeitslosigkeit. So weit ist das richtig. Doch die entscheidende Frage ist natürlich, wie viel Anreize man benötigt, wann die Steuern zu hoch sind und wann die Sozialsysteme zu sehr dazu führen, dass die Bevölkerung das Arbeiten einstellt. Natürlich leugnen auch Angebotspolitiker nicht die Notwendigkeit von Sozialpolitik, Regulierung und Steuern – es ist wie so oft alles nur eine Frage des Maßhaltens. Und die Diagnose der Angebotspolitiker muss man dahingehend interpretieren, dass sie der Ansicht sind, dass man den Bogen überspannt hat, was Fehlanreize und hohe Belastungen der Angebotsseite angeht. Wenn man sich also über Angebotspolitik streitet, dann geht es weniger um die Frage, ob deren Argumente richtig oder falsch sind, sondern darum, ob die von ihnen beschriebenen Missstände wirklich die Ursache von Wachstumsschwäche und Massenarbeitslosigkeit sind. Im Jargon der Ärzte würde man sagen: Wenn die Diagnose richtig ist, dann stimmt auch die Therapie. Auf die Frage, ob diese Diagnose richtig ist, werden wir in späteren Kapiteln noch einmal zurückkommen – dort werden wir der Angebotspolitik noch einmal begegnen und uns ihr noch einmal näher widmen.
In der Praxis: Die Grenzen des Wachstum Über die Grenzen des Wachstums wurde das erste Mal offiziell im Jahr 1972 diskutiert, als der Club of Rome, eine Vereinigung von Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Kultur, Wirtschaft und Politik, seinen Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ veröffentlichte. Die Autoren berechneten mittels Computersimulationen Szenarien, in denen sie aufzeigten, was passiert, wenn die Menschheit weiter ungebremst wächst – eine Katastrophe. Dabei wurden die Variablen Industrialisierung, Bevölkerungswachstum, Unterernährung, Ausbeutung von Rohstoffreserven und die Zerstörung von Lebensraum untersucht. Diesem aufsehend erregenden Bericht folgten viele weitere Berichte, eine 30-Jahres-Aktualisierung erschien 2004 mit beunruhigenden Befunden: Seit 1900 seien die Meeresspiegel um 10 bis 20 Zentimeter gestiegen, Gletscher verschwinden, die Eisdecken der arktischen See werden immer dünner. Der Bericht enthält auch Vorschläge zur Verbesserung: Man solle den Planungshorizont verlängern, mehr über die Folgen menschlichen Verhaltens auf das ÖkoSystem lernen, schneller auf Signale der Umwelt reagieren, die Nutzung nicht-erneuerbarer Ressourcen reduzieren, alle Ressourcen mit größerer Effizienz nutzen und das exponentielle Wachstum der Menschen und der Maschinen reduzieren. Trotz all der düsteren Szenarien hat der Bericht auch eine positive Botschaft: Die Notwendigkeit, die industrielle Welt in ihre nächste Entwicklungsstufe zu führen sei keine Katastrophe, sondern eine bemerkenswerte Chance.
Staatliche Anreize fördern den Bau von Windkraftanlagen.
Teil 2: Makroökonomie
296
Zusammenfassung 1. Wachstum ist ein weiteres wichtiges Ziel makroökonomischer Politik, da man eine Zunahme des produzierten Güterbergs als eine Verbesserung des Wohlstandes eines Landes ansieht. Auch hier gilt aber das beim Sozialprodukt bereits gesagte: Natürlich geht es auch um immaterielle Aspekte, um Lebensqualität und Umweltschutz, doch auch hier ergeben sich wieder Probleme bei der Erfassung und Bewertung; zugleich aber geht Wachstum zumeist auch einher mit einer Verbesserung der sonstigen Lebensbedingungen. 2. Die wichtigsten Faktoren, die das Wachstum einer Volkswirtschaft bestimmen, sind der Kapitalstock, die Ausbildung der Bevölkerung, das Rechtssystem und die Infrastruktur, seine Offenheit gegenüber dem Ausland, seine Geschichte und Geographie sowie seine Institutionen. 3. Eine politische Konsequenz aus diesen Überlegungen ist die Angebotspolitik, welche die langfristigen Wachstumsbedingungen eines Landes stärken will, durch Deregulierung, Setzung von Anreizen, ein einfacheres Steuersystem und mehr Wettbewerb.
Was ist Arbeitslosigkeit? Elender ist nichts als der behagliche Mensch ohne Arbeit, das Schönste der Gaben wird ihm Ekel. Johann Wolfgang von Goethe Um was geht es? Eigentlich muss man das nicht weiter erläutern: Arbeitslosigkeit ist eines der beherrschenden Themen in den Medien; bisweilen scheint es, dass das Schicksal des gesamten Landes nur von der Beschäftigung abhängt – und da ist ökonomisch gesehen auch etwas dran. Wenn wir Wohlstand über die Menge der Güter definieren, die wir herstellen und konsumieren können, dann brauchen wir dazu Arbeit, Arbeit nämlich, um diese Güter herzustellen. Und je mehr wir arbeiten, um so mehr stellen wir her, umso wohlhabender sind wir. Von diesem Standpunkt aus betrachtet muss man sich allerdings wundern: Wieso müssen wir überhaupt über Arbeitslosigkeit sprechen? Arbeit ist doch nichts anderes als Anstrengungen, die man unternimmt, um Knappheit zu überwinden, um mehr Wohlstand zu schaffen. Wenn aber jeder mehr Wohlstand schaffen will und Knappheit existiert, warum soll es dann Arbeitslosigkeit geben? Solange Menschen mehr Wohlstand haben wollen – was auch meistens der Fall ist – ist es doch nötig zu arbeiten, und damit kann es doch keine Arbeitslosigkeit geben. Und selbst wenn wir nicht mehr Güter herstellen wollen, weil wir genug haben und Menschen deswegen nicht mehr arbeiten – was sollte denn schlimm daran sein? Wenn wir genug haben, hören wir auf zu arbeiten und genießen die Früchte unserer bisherigen Arbeit. Auch wenn Ihnen dieser Gedanke seltsam erscheint: Wir arbeiten doch nur, um Knappheit zu überwinden, und solange es Knappheit gibt, gibt es auch Arbeit. Und wenn es keine Knappheit mehr gibt (und damit auch keine Arbeit), so ist das dann doch nicht schlimm (in der Bibel nennt man diesen Zustand übrigens Paradies).
In der Diskussion: Das Ende der Arbeit In einem Interview mit einer Zeitung sagt der amerikanische Buchautor Jeremy Rifkin: „Langfristig wird die Arbeit verschwinden. … die Computer und Informationstechnik von heute machen immer mehr Menschen ganz überflüssig. Selbst die billigste menschliche Arbeitskraft ist teurer als die Maschine.“ Was halten Sie von dieser Aussage?
Sind Sie nun hinreichend verwirrt? Schließlich decken sich diese Überlegungen kein bisschen mit dem, was Sie täglich in den Medien lesen und was Ihnen Ihre Intuition sagt. Keine Frage, wir müssen uns mit dem Phänomen Arbeitslosigkeit näher beschäftigen. In der Realität sehen wir doch jede Menge Menschen ohne Arbeit, und dennoch kann man nicht davon reden,
15
Teil 2: Makroökonomie
298
dass es keine Knappheit, keinen Mangel an Gütern gebe. Und die Kosten dieser Arbeitslosigkeit sind hoch:
Wie die obigen Überlegungen gezeigt haben, ist jeder Arbeitslose ein Mensch, der nicht dazu beiträgt, die Knappheit mit seiner Arbeit zu überwinden. Jeder Arbeitslose ist volkswirtschaftlich gesehen ein Verlust an produktiver Kraft. Ein Teil der volkswirtschaftlichen Kosten der Arbeitslosigkeit sind also die Opportunitätskosten des Nichtstuns.
Auch dem Staat entstehen Kosten, da er die Arbeitslosen finanziell unterstützt. Das waren 2007 rund 35 Milliarden Euro, die der Staat für das Arbeitslosengeld I (Alg I) und das Arbeitslosengeld II (Alg II), jeweils einschließlich der abgeführten Sozialversicherungsbeiträge zahlte.
Jeder Arbeitslose, der kein Einkommen hat, zahlt auch keine Steuern und Sozialbeiträge an den Staat. Diese Einnahmeausfälle des Staates wegen Arbeitslosigkeit beziffern Experten auf 33 Milliarden Euro. Dieser Betrag ergibt sich aus dem niedrigeren Steueraufkommen und aus den geringeren Sozialbeiträgen. So hat der Staat im Jahr 2007 wegen Arbeitslosigkeit rund 10 Milliarden Euro weniger Lohn- und Einkommensteuern eingenommen. An Verbrauchsteuern sind dem Fiskus knapp 3 Milliarden Euro entgangen, da Arbeitslosigkeit in der Regel mit geringerem Konsum einhergeht. Abbildung 60 zeigt Ihnen die so genannten gesamtfiskalischen Kosten der Arbeitslosigkeit, also die direkten Ausgaben der Unterstützung der Arbeitslosigkeit plus die entgangenen Einnahmen (zusätzlich sehen Sie die Ausgaben für Arbeitsmarktpolitik sowie die Pro-Kopf-Kosten der Arbeitslosigkeit und die Arbeitslosigkeit selbst, jeweils indexiert).
Gar nicht zu beziffern, aber sicherlich nicht zu vernachlässigen sind die privaten und sozialen Kosten der Arbeitslosigkeit: Arbeitslosigkeit bedeutet entgangenes Einkommen, bedeutet unerfüllte Wünsche, bedeutet auf lange Frist ein Verlust der Qualifikationen und der Selbstachtung. Für viele Menschen ist Arbeitslosigkeit ein Verlust der Lebensqualität,
Gesamtfiskalische Kosten der Arbeitslosigkeit und Ausgaben für Arbeitsmarktpolitik 2001 bis 2007 92
91
88
84
82
77 68
Gesamtfiskalische Kosten der Arbeitslosigkeit (in Mrd. Euro)
110 Abbildung 60: Fiskalische Kosten der Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik (Quelle: Hans-Uwe Bach und Eugen Spitznagel: Kosten der Arbeitslosigkeit sind gesunken, in: IAB Kurzbericht, 14/2008; http://doku.iab.de/ kurzber/2008/kb1408.pdf)
100 90
Pro-Kopf-Kosten der Arbeitslosigkeit* 22
22
21
19
17
16
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Registrierte Arbeitslosigkeit* Ausgaben für Arbeitsmarktpolitik (in Mrd. Euro)
2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 * Indexwerte (2001 = 100)
15 Was ist Arbeitslosigkeit?
der oft auch mit gesundheitlichen Problemen einhergeht. Das kann auch Folgen für eine Gesellschaft haben – nicht zuletzt hat auch die Massenarbeitslosigkeit in Folge der Weltwirtschaftskrise die Bürger Deutschlands in die Arme radikaler Parteien und Demagogen getrieben. Sie sehen, es gibt mehr als genug Gründe, sich mit dem Phänomen Arbeitslosigkeit zu beschäftigen. Lassen Sie uns mit einer einfachen Frage beginnen: Wer ist denn eigentlich arbeitslos? Dazu brauchen wir ein paar einfache Definitionen:
Arbeitslos ist nach der deutschen Statistik, wer im Alter von 15 bis in der Regel 64 Jahren ist, bei der Agentur für Arbeit als arbeitsuchend registriert ist, keine Beschäftigung hat oder weniger als 15 Wochenstunden arbeitet und eine versicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende Beschäftigung sucht. Er muss dabei der Arbeitsagentur zur Vermittlung zur Verfügung stehen. Wer arbeitsunfähig ist oder in so genannten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen beschäftigt ist, gilt nicht als arbeitslos.
Die Arbeitslosenquote ist die Zahl der Arbeitslosen, dividiert durch die Zahl der Erwerbstätigen. Dabei kann die Zahl der Erwerbstätigen unterschiedlich abgegrenzt werden: Man kann die Zahl der Arbeitslosen beziehen auf alle zivilen Erwerbspersonen (das sind die abhängigen Erwerbstätigen und die Selbstständigen und mithelfenden Familienangehörigen) oder auf alle abhängigen zivilen Erwerbspersonen (das sind die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten einschließlich Auszubildender, die geringfügig Beschäftigten und die Beamten).
Für internationale Vergleiche verwendet man auch die Definition der Erwerbslosigkeit nach den Kriterien der International Labour Organization (ILO). Als erwerbslos gilt hier jede Person im Alter von 15 bis 74 Jahren, die in diesem Zeitraum nicht erwerbstätig war, aber vier Wochen vor der Befragung aktiv nach einer Tätigkeit gesucht hat. Auf den zeitlichen Umfang der gesuchten Tätigkeit kommt es dabei nicht an. Die Zahl der Erwerbslosen wird per Stichprobe ermittelt und hochgerechnet. In dieser Definition ist die so genannte stille Reserve automatisch erfasst (das sind alle Menschen, die eigentlich Arbeit suchen, sich aber nicht arbeitslos gemeldet haben), geringfügig Beschäftigte hingegen werden von dieser Definition nicht erfasst, ebenso wie Arbeitslose, die sich nur zum Bezug von Arbeitslosengeld arbeitslos gemeldet haben. Diese Unterschiede führen dazu, dass die Arbeitslosenquote, über die die Bundesagentur für Arbeit berichtet, und die Erwerbslosenquote der ILO auseinander klaffen können. In der ILO-Arbeitsmarktstatistik sind Erwerbslose enthalten, die die Bundesagentur für Arbeit nicht als arbeitslos zählt. Allerdings gelten in der Statistik der Bundesagentur für Arbeit auch Personen als arbeitslos, die nach Definition der ILO-Arbeitsmarktstatistik nicht erwerbslos sind
299
Teil 2: Makroökonomie
300
2009
2010
Erwerbspersonen1, 2
Mill.
43,40
43,30
Erwerbstätige Inländer2, 3
Mill.
40,17
40,37
Erwerbstätige im Inland4
Mill.
40,27
40,48
Selbstständige5
Mill.
4,41
4,42
Arbeitnehmer
Mill.
35,86
36,07
Mill.
0,86
0,85
Mill.
10,00
9,89
Dienstleistungen
Mill.
29,41
29,74
Erwerbslose2
Mill.
3,23
2,95
%
7,8
7,1
Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte6
Mill.
27,38
27,71
Ausschließlich geringfügig entlohnte Beschäftigte6
Mill.
4,93
4,92
Registrierte Arbeitslose
Mill.
3,42
3,24
%
8,2
7,7
Mill.
0,30
0,36
Mill.
0,68
-
nach Wirtschaftssektoren4
Land-, Forstwirtschaft, Fischerei Produzierendes Gewerbe (inkl. Baugewerbe)
Erwerbslosenquote2 Daten der Bundesagentur für Arbeit
Registrierte Arbeitslosenquote7 Tabelle 25: Der deutsche Arbeitsmarkt 2009 und 2010 (Angaben in Millionen Personen)
Gemeldete Stellen Gesamtwirtschaftliches
Stellenangebot8
Alle Werte sind gerundete, soweit nicht anders angegeben, Jahresdurchschnittsergebnisse. 1 Alle auf dem Arbeitsmarkt aktiven Inländer (Erwerbslose und Erwerbstätige). 2 Gemäß internationalem Erwerbsstatus-Konzept der International Labour Organisation (ILO). 3 Erwerbstätige mit Wohnort in Deutschland. 4 Erwerbstätige mit Arbeitsort in Deutschland. 5 Einschließlich mithelfende Familienangehörige. 6 Stichtag 30. Juni. 7 Anteil der Arbeitslosen an allen zivilen Erwerbspersonen. 8 Erhebung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. - = Nichts vorhanden. (Quelle: statistisches Bundesamt; http://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/ destatis/Internet/DE/ZahlenFakten/GesamtwirtschaftUmwelt/Arbeitsmarkt/Erwerbstaetigkeit/Erwerbstaetigenrechnung/Tabellen/ArbeitnehmerWirtschaftsbereiche.html)
Wer ist arbeitslos? Die nächste Frage, die uns im Zusammenhang mit der Arbeitslosigkeit interessiert ist die Frage danach, wer denn eigentlich arbeitslos ist. Fasst man die Daten zum deutschen Arbeitsmarkt zusammen, so ergibt sich folgender Befund:
15 Was ist Arbeitslosigkeit?
Ein Großteil der deutschen Arbeitslosen ist das, was die Statistiker „Langzeitarbeitslose“ nennen, also Personen, die länger als ein Jahr arbeitslos sind. Das hat vermutlich mehrere Gründe: Zum einen sind nach einem Jahr Arbeitslosigkeit oftmals die berufsspezifischen Kenntnisse – das Humankapital – entwertet; wer mehr als ein Jahr nicht mehr in seinem Beruf gearbeitet hat, verliert sowohl seine Fertigkeiten und Kenntnisse als auch den Anschluss an die Entwicklung seines Berufsfeldes – das macht ihn für potentielle Arbeitgeber unattraktiv; die nehmen lieber jemanden, der frisch von der Ausbildung oder aus einem anderem Job kommt. Doch nicht nur das: Langzeitarbeitslosigkeit führt oftmals zu einem Verlust des Sozialkapitals, man verlernt alle die Fähigkeiten, die man für einen Arbeitsplatz braucht – Pünktlichkeit, regelmäßig früh aufstehen, der Umgang mit Kollegen – so etwas kommt einem rasch abhanden, wenn man länger als ein Jahr zum Nichtstun verdammt ist. Darüber hinaus droht auch der Verlust des Selbstbewusstseins, und dementsprechend resigniert geht man in das Vorstellungsgespräch hinein – mit entsprechendem Resultat. Und es kommt noch schlimmer: All diese Folgen müssen nicht zwangsläufig eintreten, doch Personalchefs vermuten, dass dem so sein könnte – und ziehen den Bewerber vor, der sich frisch von der Schulbank oder aus einem anderen Job bewirbt. Langzeitarbeitslosigkeit wird so zum Teufelskreis.
Der zweite wichtige Grund für Arbeitslosigkeit in Deutschland ist eine geringe oder fehlende Ausbildung – je geringer der Ausbildungsstand, um so höher das Risiko, arbeitslos zu werden.
Arbeitslosigkeit in Deutschland ist auch regional verteilt: vor allem in Ostdeutschland und in einigen westdeutschen Zentren – beispielsweise dem Ruhrgebiet – ist sie deutlich höher als beispielsweise im Großraum München oder in der Region Stuttgart. Sie sehen, offenbar gibt es ein Muster für Arbeitslosigkeit, das es zu entschlüsseln gilt. Arbeitslosigkeit ist kein zufälliges Phänomen, denn dann würde es jeden treffen, egal welche Ausbildung, welcher Wohnort und welches Alter. Die Tatsache, dass dem nicht so ist, deutet darauf hin, dass es bestimmte Ursachen der Arbeitslosigkeit gibt – und die sollten wir uns einmal näher ansehen. Wodurch entsteht Arbeitslosigkeit? Sucharbeitslosigkeit und saisonale Arbeitslosigkeit. Diese Variante der Arbeitslosigkeit ist unproblematisch: Nicht immer findet man direkt eine neue Stelle und geht nahtlos von einem Schreibtisch zum nächsten; oft gibt es Wartezeiten, manchmal nimmt man sich ganz bewusst ein paar Monate, bevor man einen neuen Job antritt. Dies ist die so genannte Sucharbeitslosigkeit (oder friktionelle Arbeitslosigkeit), die deswegen unproblematisch ist, weil sie sich definitionsgemäß rasch selbst erledigt. Wenn man will, kann man diese Form der Arbeitslosigkeit noch reduzieren, erstens, indem man die Stellenvermittlung verbessert und zweitens, indem man die Anreize steigert, rasch eine neue Stelle zu finden – beispielsweise indem man die Laufzeit der Arbeitslosenversicherung reduziert. Der Mechanismus ist klar: Je
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Peter Hartz und Gerhardt Schröder und die Hartz-Reform © picture-alliance
Teil 2: Makroökonomie
kürzer der Zeitraum ist, in dem die Arbeitslosenversicherung Lohnersatzleistungen zahlt, um so rascher wird man sich beeilen, eine neue Stelle zu finden (das Argument, dass man keine neue Stelle findet, spielt hier keine Rolle, da es sich ja definitionsgemäß nur um Sucharbeitslosigkeit handelt). Doch ganz so einfach ist es dann auch nicht: je kürzer der Zeitraum ist, der dem Arbeitslosen verbleibt, um eine neue Stelle zu finden, umso rascher muss er eine neue Stelle finden, und das kann dazu führen, dass er eine Stelle annehmen muss, die nicht zu seinen Fähigkeiten passt. Im schlimmsten Fall muss der Atomphysiker dann als Tankwart antreten, um seine Miete zu zahlen, womit seine ganze Ausbildung umsonst war. Und damit das nicht passiert, muss man den Menschen Gelegenheit geben, in Ruhe nach einer Stelle zu suchen, die dem eigenen Ausbildungsniveau entspricht – und die Zahlung von Arbeitslosengeld macht diese Suche möglich. Die entscheidende Frage ist dabei natürlich, wie lange man die Arbeitslosenhilfe zahlen soll – wer sie unbegrenzt zahlt, stellt sicher, dass niemand eine Stelle unterhalb der eigenen Möglichkeiten annehmen muss, riskiert allerdings auch, dass er Menschen ein Leben lang dafür bezahlt, dass er nach einer geeigneten Stelle sucht. Will man das verhindern und akzeptiert die Idee, dass man Arbeitssuchenden ein Zeitlimit setzen muss, dann ist nur noch die Frage, wie viel Zeit man einem Arbeitslosen zur Suche einräumen soll.
In der Diskussion: Hartz, aber herzlich Das wohl wichtigste und umstrittenste deutsche Reformprojekt der vergangenen Jahre waren die so genannten Hartz-Reformen. Ein Element der Hartz-Reformen war die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe: In Vor-Hartz-Zeiten erhielten Arbeitslose nach einem Jahr Arbeitslosigkeit die so genannte Arbeitslosenhilfe, die als Prozentsatz des Einkommen bemessen wurde und zeitlich nicht begrenzt war. Mit Hartz änderte sich das schlagartig: Nun bekommt man nach einem Jahr Arbeitslosigkeit das so genannte Arbeitslosengeld II, eine Grundsicherung, die unabhängig vom vorherigen Einkommen für jeden Bezieher gleich ist (allerdings werden die persönlichen Lebensumstände berücksichtigt). Will heißen: Vor Hartz war die relative Einkommensposition eines Arbeitslosen gesichert, da seine Unterstützung sich ja nach dem vorherigen Gehalt berechnete. Jetzt steht man als arbeitsloser Manager oder Atomphysiker nach einem Jahr auf dem gleichen Einkommensniveau wie ein ungelernter arbeitsloser Arbeiter. Was halten Sie von dieser Regelung – ist sie fair? Notwendig? Wie würden Sie die Absicherung von Arbeitslosen ausgestalten?
Ebenfalls recht unbedenklich und der Sucharbeitslosigkeit verwandt ist die so genannte saisonale Arbeitslosigkeit, die bei Berufen auftritt, die man nur zu bestimmten Jahreszeiten ausüben kann – beispielsweise am Bau oder in
15 Was ist Arbeitslosigkeit?
der Landwirtschaft. Da diese Arbeitslosigkeit nur saisonal bedingt ist, erledigt sie sich sozusagen von alleine und ist damit eher unproblematisch. In den Statistiken wird sie deswegen auch oft herausgerechnet; das sind dann die saisonbereinigten Zahlen, von denen Sie bestimmt auch schon mal in den Nachrichten gehört haben. Lohnbedingte Arbeitslosigkeit. Spannender ist schon eine andere Spielart der Arbeitslosigkeit, die so genannte lohnbedingte oder auch hochlohnbedingte Arbeitslosigkeit. Um zu verstehen, was hier passiert, machen wir eine Anleihe beim ersten Teil des Buches und schauen uns einmal einen Arbeitsmarkt an, wie wir ihn dort kennen gelernt haben. Abbildung 61 zeigt diesen Arbeitsmarkt: Mit steigenden Löhnen steigt das Angebot an Arbeit (die Arbeitnehmer sind bereit, mehr zu arbeiten), die Nachfrage hingegen sinkt (die Unternehmen stellen weniger Mitarbeiter ein). Wo sich Angebot und Nachfrage treffen, erhalten wir den Gleichgewichtslohn L und eine Beschäftigung in Höhe von A0. Das kennen wir alles aus dem ersten Teil des Buches. Und wir wissen auch aus dem ersten Teil, dass Arbeitslosigkeit in Höhe von A2 minus A1 entsteht, wenn der tatsächliche Lohn (das sei LA) über dem gleichgewichtigen Lohn liegt. Keine große Sache, sollte man meinen: Wenn die Löhne über dem Gleichgewichtsniveau liegen, dann entsteht Arbeitslosigkeit. Das Resultat dieser einfachen Überlegungen allerdings ist spektakulär: Wenn der Lohn dem Gleichgewichtslohn entspricht, dann gibt es keine Arbeitslosigkeit in dem Sinne, dass jemand Arbeit sucht und nicht findet – der Grund, warum er in dieser Welt keine Arbeit findet liegt daran, dass er nicht bereit ist, zu dem herrschenden Lohnniveau zu arbeiten. Damit wäre seine Arbeitslosigkeit freiwilliger Natur. Wenn der Arbeitsmarkt nur einen Lohn von 100 zahlt, der Arbeitslose aber mindestens 120 verlangt, dann bekommt er keine Arbeit, gilt zwar als arbeitslos, könnte aber – so die Lesart dieser Grafik – sofort eine Arbeit bekommen, wenn er 100 als Lohn akzeptieren würde. Nach der Philosophie der Grafik allerdings wäre diese Arbeitslosigkeit freiwillig – man könnte ja zu einem geringeren Lohn arbeiten. Das klingt zynisch angesichts von Millionen Langzeitarbeitslosen, hat aber eine innere Logik: Lässt man eine freie Lohnbildung zu, so werden am Ende genau diejenigen eine Arbeit finden, die bereit sind, für den jeweiligen Lohn zu arbeiten. Aber ein Blick auf die Arbeitsmarktstatistiken zeigt, dass diese Logik der Erdung bedarf – was kann man zu der Idee sagen, dass die Arbeitslosen ja nur „freiwillig“ arbeitslos sind? Punkt Nummer eins ist natürlich das Argument, dass die Löhne im Wettbewerb so niedrig werden können, dass sie den Arbeitnehmern nicht mehr den Lebensunterhalt sichern. Dieses Problem haben wir bereits im ersten Teil des Buches besprochen und wir wissen nun auch, wie wir es lösen müssen. Klar ist auch: hohe Löhne werden dort gezahlt, wo Knappheit herrscht (auch das wissen wir aus dem ersten Teil), und wer knappe Talente hat, wird auch einen hohen Lohn bekommen (er erhält eben die Knappheitsrente).
303
L N LA L
A1
A0
A2
Abbildung 61: Ein einfacher Arbeitsmarkt
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Teil 2: Makroökonomie
Wenn also die Arbeitslosen für den herrschenden Lohn nicht arbeiten wollen, weil diese Löhne ihnen nicht den Lebensunterhalt sichern, dann bietet sich der Weg über Lohnsubventionen oder ergänzende Sozialhilfe an: Man stockt das Einkommen des Niedriglohnverdieners von staatlicher Seite her auf. Kein triviales Problem, aber grundsätzlich eine machbare Lösung.
In der Praxis: Kombilöhne Die Idee, die Einkommen von Niedriglohnbeziehern von staatlicher Seite her aufzustocken, ist bereits in verschiedenen Varianten getestet worden, die man am besten unter dem Stichwort „Kombilöhne“ zusammenfassen kann. Die Idee von Kombilöhnen ist es, zum einen zu verhindern, dass Menschen eine Arbeit nicht annehmen, weil ihr Einkommen durch den Bezug von Sozialleistungen höher wäre; zum anderen geht es darum, die Einkommen von Niedriglohnbeziehern aufzustocken. Diese Idee ist in verschiedenen Varianten getestet worden, beispielsweise als „Hamburger Modell“ oder als Mainzer Modell“. Ein anderer Vorschlag ist die „aktivierende Sozialhilfe“ des Münchener ifo-Instituts. Eine andere Idee ist die so genannte negative Einkommensteuer, bei der man den Tarif der Einkommensteuer einfach in den negativen Bereich fortsetzt: Wer mit seinem Einkommen unterhalb einer bestimmten Schwelle liegt, bekommt dieses prozentual vom Staat aufgestockt. Die Schwierigkeit solcher Ansätze besteht darin, die Balance zwischen Arbeitsanreizen und hinreichenden Sozialtransfers zu wahren – Arbeit muss lohnender sein als Nichtstun.
Ein Argument gegen solche Lösungen ist, dass solche Transfers letztlich in den Taschen der Unternehmen landen: Den Arbeitern sei es egal, wie hoch ihr Lohn ist, da sie ja den Rest vom Staat aufgestockt bekommen, und die Unternehmen kommen so an billige Arbeitskräfte. Diesen Effekt kann man durch entsprechende Setzung von Anreizen verhindern: Solange der Lohn, zu dem man die Arbeitnehmer einstellen kann, unter dem Gleichgewichtslohn liegt, ist die Nachfrage nach Arbeit größer als das Angebot, und die Löhne steigen automatisch in Richtung Gleichgewicht (so wie wir das in Kapitel 3 gesehen haben). Wir müssen also nur dafür sorgen, dass ein Einkommen aus Arbeit für den Arbeitnehmer immer mehr wert ist als Einkommen aus der staatlichen Kasse, dann wird er sich nicht auf das oben beschriebene Geschäft einlassen. Zugegeben, einfach ist das nicht, aber es lohnt sich, darüber nachzudenken. Doch ist damit klar, dass unsere Arbeitslosigkeit in der Tat nur freiwillig ist? Vielleicht nicht, denn nun müssen wir über Punkt Nummer zwei sprechen: Was, wenn die tatsächlichen Löhne in Abbildung 61 ja gar nicht im Gleichgewicht liegen, sondern darüber? Dann entsteht automatisch Arbeitslosigkeit. Was aber könnte dazu führen, dass die Löhne über dem Gleichgewicht liegen? Hier gibt es mehrere Ideen:
15 Was ist Arbeitslosigkeit?
Ein erstes Argument kennen Sie bereits – die Mindestlöhne. Setzt der Staat Mindestlöhne oberhalb des Gleichgewichts an, dann entsteht Arbeitslosigkeit. Über die Lösungsmöglichkeiten haben wir nun lange nachgedacht.
Idee Nummer zwei sind so genannte Effizienzlöhne: Nach dieser Theorie zahlen Arbeitgeber höhere Löhne als am Markt üblich, um ein Druckmittel gegenüber ihren Arbeitnehmern zu haben, wenn diese bummeln. Bummelt ein Arbeitnehmer zu sehr, dann riskiert er, seinen Job zu verlieren und damit ein Einkommen, das über dem Marktlohn liegt. Damit sind die Opportunitätskosten des Bummelns sehr hoch – würde man jetzt arbeitslos werden, bekäme man am Arbeitsmarkt nur den Marktlohn, der geringer ist als der Lohn, den man aktuell bekommt; also überlegt man sich die Sache mit dem Bummeln.
Eine weitere Idee ist die so genannte Insider-Outsider-Theorie. Hier unterscheidet man zwischen Insidern, die einen Job haben, und den arbeitslosen Outsidern. Für ein Unternehmen ist es teuer, ständig neue Mitarbeiter zu suchen, einzuarbeiten und weiterzubilden, weswegen er ihn nicht sofort entlassen wird. Damit wird ein Mitarbeiter zum Insider, er hat eine gewisse Machtposition gegenüber dem Arbeitgeber, und diese Macht kann er in höhere Lohnforderungen umsetzen. Der Arbeitgeber ist bereit, höhere Löhne als die Marktlöhne zu zahlen, weil es zu teuer und aufwendig wäre, den alten Mitarbeiter zu entlassen, einen neuen zu suchen und einzuarbeiten. Das gilt umso mehr, wenn die Insider aufgrund ihrer Verhandlungsmacht in der Lage sind, einen besseren Kündigungsschutz durchzusetzen, der es noch teurer macht, sie zu entlassen. Die Outsider hingegen wären bereit, für den Marktlohn zu arbeiten, bekommen aber nach dieser Lesart gar keine Chance dazu.
Möglicherweise liegen die Löhne auch aus Fairnessaspekten über den Marktlöhnen: Wir wissen aus der Forschung, dass Menschen Wert auf Fairness legen, und Arbeitnehmer wollen fair behandelt werden – das kann auch höhere Löhne bedeuten. Der Arbeitgeber zahlt also dieser
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306
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Idee nach höhere Löhne, weil er seine Arbeitnehmer fair behandeln will und er weiß, dass diese sich dann mehr anstrengen. Aber diese Idee lässt Fragen offen: Wenn aber die Arbeitnehmer aus Fairnessaspekten einen höheren Lohn verlangen, warum ist dieser dann nicht in der Arbeitsnachfrage schon enthalten?
Möglicherweise spielen auch die Gewerkschaften eine Rolle: Wenn sie vor allem Wert darauf legen, dass die Einkommen der Arbeitnehmer (will heißen: ihrer Beitragszahler) steigen, dann werden sie höhere Löhne verlangen. Die Arbeitgeber tun sich möglicherweise leicht damit, diese höheren Löhne zu zahlen – werden sie zu hoch, dann geht man eben ins Ausland oder stellt die Produktion ein. Dass durch diese höheren Löhne Arbeitslosigkeit entsteht oder zumindest nicht abgebaut wird, interessiert nach dieser Lesart niemanden, da die Arbeitslosen ja nicht am Verhandlungstisch der Gewerkschaften und Arbeitgeber sitzen – die werden dann eben mit Lohnersatzleistungen ruhig gestellt. Zugegeben, keine dieser Theorien klingt wirklich schmeichelhaft, was nicht heißen muss, dass sie nicht auch einen wahren Kern enthalten. Aber klar ist auch: Keine dieser Theorien kann einen Absolutheitsanspruch erheben, möglicherweise spielen sie alle eine Rolle bei der Erklärung von Arbeitslosigkeit. Und damit sind wir noch nicht am Ende, was die möglichen Erklärungsansätze für Arbeitslosigkeit angeht.
Arbeitsauftrag 31 Suchen Sie Zahlen zu den Lohnkosten und Lohnnebenkosten der Bundesrepublik und anderer Länder. Sind die deutschen Löhne im internationalen Vergleich zu hoch?
Kapitalmangel und technischer Fortschritt. Ein weiterer Kandidat zur Erklärung von Arbeitslosigkeit ist die so genannte Kapitalmangelarbeitslosigkeit. Die Idee ist einfach: Vielleicht gibt es deswegen Arbeitslosigkeit, weil wir nicht genug Maschinen haben, um all diese Menschen zu beschäftigen. Nach dieser Lesart müssen wir mehr investieren, das hat zur Folge, dass mehr Menschen beschäftigt werden, um diese Investitionen herzustellen und die frisch gebauten Fabriken anschließend am Laufen zu halten. Sie bemerken die angebotspolitische Idee, die dahinter steckt? Eher das Gegenteil ist die Idee, dass technischer Fortschritt Arbeitsplätze vernichtet – der Stammtischklassiker: Wenn irgendwann alles von Maschinen gemacht wird, wer soll dann noch arbeiten? Gegen diese Idee gibt es einige Einwände:
Erstens muss ja irgendjemand die Maschinen herstellen und pflegen – das schafft Arbeitsplätze. Nehmen Sie beispielsweise das Internet: Es macht zwar zunehmend den guten alten Postboten überflüssig, doch dafür gibt es heute Web-Designer oder Netzwerkadministratoren – Jobs,
15 Was ist Arbeitslosigkeit?
an die vor 20 Jahren niemand gedacht hätte. Will heißen: Technischer Fortschritt macht den einen Arbeitsplatz überflüssig, schafft aber auch einen neuen Arbeitsplatz.
Zweitens lassen sich viele Dinge nicht technisch erledigen, vor allem personengebundene Dienstleistungen, also Haareschneiden, Massage oder Pflege. Und wenn wir weniger Zeit benötigen, um Briefe auszutragen, gewinnen wir Arbeitskraft und Zeit, um mehr solcher Dienstleistungen anzubieten. Denken Sie an die Bemerkungen zu Beginn dieses Kapitels: Arbeit gibt es genug, jedenfalls solange es Knappheit gibt. Und wenn es keine Knappheit mehr gibt – umso besser. Wir werden in Zukunft auch völlig neue Produkte und Berufe entdecken, die Arbeit schaffen werden – deswegen müssen wir nicht auf Gedeih und Verderb alles dafür tun, dass der Beruf des Heizers wegen der Einführung der E-Lok nicht ausstirbt.
Die letzte Bemerkung wirft die Frage nach der relevanten Alternative auf: Wenn technischer Fortschritt also Arbeitsplätze zerstört, sollen wir ihn abschaffen? Wenn wir den Computer verbieten, schaffen wir sicherlich tausende „neuer“ Arbeitsplätze (in Wirklichkeit sind es ja nur die alten Arbeitsplätze), aber ist es das, was wir wollen?
Ein Ökonomenwitz Ein Amerikaner kommt in ein fremdes Land und sieht, wie man dort mit Schaufeln und Eimern einen Damm errichtet. Neugierig fragt er den Vorarbeiter, warum man denn keine Bulldozer und Bagger dafür nehme. „Weil meine Männer dann ihre Arbeit verlieren würden“, antwortet der Vorarbeiter. „Ah“, sagt der Amerikaner, „Ihr wollt gar keinen Damm bauen, sondern Arbeitsplätze schaffen. Da habe ich eine Idee für Euch: Werft die Schaufeln weg und baut den Damm mit Löffeln – das schafft noch mehr Arbeit.“
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Teil 2: Makroökonomie
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35 30 25 20 15 10 Abbildung 62: Lohnnebenkosten in Deutschland in Prozent des Bruttoeinkommens (Quelle: Statistisches Bundesamt; Datenreport 2008; S. 137)
Lohnnebenkosten insgesamt Gesetzliche Lohnnebenkosten Nicht gesetzliche Lohnnebenkosten
5 0 1965
1975
1985
1995
2005
Früheres Bundesgebiet, Ergebnisse der Arbeitskostenerhebungen im Produzierenden Gewerbe.
Regulierung und Lohnnebenkosten. Ein enger Verwandter der Kapitalmangelarbeitslosigkeit ist die Idee, dass hohe Lohnnebenkosten für Arbeitslosigkeit sorgen. Warum ist klar: Je höher Lohnnebenkosten sind, umso teurer wird Arbeit, und umso produktiver muss der Arbeitnehmer sein. Würden wir die Lohnnebenkosten senken, so wäre Arbeit billiger, und die Unternehmer stellen mehr Arbeitnehmer ein, die vorher zu teuer waren. Auch hier erkennen Sie die angebotspolitische Handschrift dieser Idee. Wie viel Lohnebenkosten machbar und verkraftbar sind und ab wann es wirklich beschäftigungsschädlich wird, lässt sich objektiv nicht sagen – Abbildung 62 gibt Ihnen einen Eindruck davon, wie sich diese Kosten in den vergangenen 40 Jahren entwickelt haben. Was für die Lohnnebenkosten gilt, gilt auch für die Regulierung: Wenn der Staat alle Investitionen strikt reglementiert, dann vergeht vielen Investoren die Lust auf das Investieren, und ohne Investitionen fehlt das Kapital, das man benötigt, um die vorhandenen Arbeitskräfte zu beschäftigen. Arbeitslosigkeit entsteht nach dieser Lesart also dadurch, dass Investitionen und Arbeit zu teuer sind und niemand mehr Arbeitnehmer beschäftigen mag. Wenn wir dieser Idee Glauben schenken, dann müssen wir also nach angebotspolitischer Manier die Lohnnebenkosten senken und die dichte Regulierungshecke beschneiden, die viele Investitionen verhindert. Strukturwandel. Das dürfte eine der wichtigsten Erklärungen für Arbeitslosigkeit sein, und die Idee lässt sich rasch aus dem obigen Beispiel mit dem Internet und den Briefträgern entwickeln: Das Internet verdrängt vielleicht den Arbeitsplatz des Briefträgers, doch dafür schafft es einen neuen Arbeitsplatz für den Web-Designer oder den Netzwerk-Administrator. Doch kann der Briefträger so eben mal Web-Designer werden? Falls nicht, hat er ein Problem: Briefträger werden nicht mehr gebraucht, und für die neuen Jobs ist er nicht geeignet. Das ist das entscheidende Problem: Die neuen Arbeits-
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plätze müssen nicht zwingend die Stellen sein, welche die ehemaligen Besitzer der alten Arbeitsplätze antreten können. Dieses Problem begegnet uns, sobald wir über das sprechen, was Ökonomen Strukturwandel nennen: Unsere Konsumgewohnheiten ändern sich, und mit ihnen auch die Produktionsstruktur unseres Landes, neue Industrien entstehen, alte Industrien gehen unter – die Struktur unserer Wirtschaft wandelt sich beständig, durch neue Produkte, Technologien, Gewohnheiten, Moden – was auch immer (denken Sie an die drei-Sektoren-Hypothese und Abbildung 49). Und dieser Wechsel zeigt sich auch auf dem Arbeitsmarkt: Die Ansprüche an Arbeitnehmer ändern sich, neue Kenntnisse sind gefragt, altes Know-How ist hinfällig. Und die entscheidende Frage ist, ob diejenigen, deren Arbeitsplatz durch diesen Strukturwandel verschwindet, ohne Probleme in einen anderen Beruf mit neuen Anforderungen wechseln können. Und hier gibt es Hindernisse:
Abbildung 63: Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik nach Regionen; 2010 (Quelle: Bundesagentur für Arbeit; http:// www.pub.arbeitsagentur.de/hst/services/ statistik/000000/html/start/karten/ aloq_kreis_jahr.html)
Teil 2: Makroökonomie
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Oft sind die Qualifikationen für neue Jobs nicht diejenigen, welche die Besitzer der alten Jobs haben – aus einem Kohlearbeiter mit 30 Jahren Berufserfahrung macht man nur in den seltensten Fällen einen Netzwerkadministrator.
Oft fehlt auch die räumliche Mobilität: Wer seine Arbeit in Hamburg verliert, dort aber Haus, Hof, Kinder und Partner hat, kann und will nicht ohne weiteres auf die neue Stelle nach München wechseln.
Möglicherweise weiß man auch oft gar nicht, wo und in welcher Branche es neue Arbeitsplätze gibt. Mit anderen Worten: Arbeitslosigkeit entsteht nach dieser Idee dann, wenn sich die Wirtschaftsstruktur wandelt, und die neuen Arbeitsplätze, die dabei entstehen, nicht von den Inhabern der alten Arbeitsplätze besetzt werden – diese bleiben dann als Opfer des Strukturwandels auf der Strecke. Abbildung 63 zeigt, dass diese Form der Arbeitslosigkeit in Deutschland durchaus ein Problem sein dürfte: Wie Sie auf der Abbildung erkennen können, ist Arbeitslosigkeit in Deutschland offenbar auch ein regionales Problem mit einem Nord-Süd und einem Ost-West-Gefälle – es gibt also Regionen, in denen die Arbeitslosigkeit deutlich höher ist als in anderen Teilen der Republik. Vor allem der Osten Deutschlands ist davon betroffen, was an dem abrupten Wechsel des Wirtschaftsregimes nach dem Mauerfall liegt. Das kann man auch als Problem des Strukturwandels begreifen: Die alten Arbeitsplätze des Sozialismus sind verloren gegangen, und nun fehlt es dem Osten auch an beruflicher und regionaler Mobilität, um in neue Jobs zu kommen. Nach dieser Lesart sind es auch die Ballung und der Untergang regional konzentrierter Industrien, die zu Arbeitslosigkeit führen. Stimmt die Idee von der strukturellen Arbeitslosigkeit, so liegen auch die politischen Ideen auf der Hand: Man muss die Mobilität der Arbeitnehmer fördern. Beispielsweise durch
Ausbildungshilfen und Weiterbildung Umzugshilfen Anreize, den Job zu wechseln Lohnersatzleistungen, die die Anreize zu einem Wechsel respektive zur Aufnahme eines neuen Jobs fördern
Eine Verbesserung der Arbeitsvermittlung Eine andere, oft genannte Alternative zu dieser Politik ist es, den Strukturwandel aufzuhalten, beispielsweise indem man eine Industrie, die eigentlich nicht mehr rentabel ist, subventioniert, um Arbeitsplätze zu erhalten. Überspitzt gesagt bedeutet das, dass man Menschen dafür bezahlt, dass sie etwas herstellen, was zu diesem Preis niemand mehr will (wenn Sie nun in den Kategorien der Konsumentenrente und Produzentenrente denken, finden Sie rasch heraus, dass solche Subventionen wohlfahrtsreduzierend sind). Diese Politik ist höchstens geeignet, die Anpassungslasten der Wirtschaft zeitlich zu strecken, auf Dauer kann das gar nicht funktionieren, spätestens, wenn dem Staat das Geld ausgeht, ist Schluss. Zudem stellt sich die Frage,
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warum man das viele Geld für die Subventionen nicht lieber dafür nimmt, neue Arbeitsplätze zu schaffen, statt alte zu erhalten. Im Extremfall subventioniert man dann Industrien, die kein Mensch mehr braucht.
Arbeitsauftrag 32 Suchen Sie Beispiele für Strukturwandel und davon betroffene Berufe oder Regionen. Was würden Sie in diesen Fällen als Politik vorschlagen?
Hysterese. Die Idee mit dem Strukturwandel könnte helfen, ein weiteres Phänomen auf dem deutschen Arbeitsmarkt zu erklären, das seinerseits wieder helfen kann die Frage zu beantworten, warum Menschen arbeitslos sind. Dazu werfen wir einen Blick auf die Entwicklung der deutschen Arbeitslosenquote in den vergangenen 40 Jahren (Abbildung 64). Abbildung 64 bietet einen interessanten Befund, wenn man genauer hinschaut: Die deutsche Arbeitslosenquote ist seit den siebziger Jahren kontinuierlich gestiegen, und zwar in Schüben: Der erste Schub kam Anfang der siebziger Jahre, als die Arbeitslosigkeit von einem auf mehr als vier Prozent stieg, Danach fiel sie zwar wieder, aber nicht mehr auf das alte Ausgangsniveau – es bleib ein Sockel von Arbeitslosigkeit zurück. Das gleiche wiederholt sich dann in den achtziger Jahren: Die Arbeitslosigkeit steigt wieder an, fällt anschließend auch wieder, aber nicht mehr auf das alte Niveau – auf den Sockel von Arbeitslosigkeit, den man in den siebziger Jahren aufgebaut hat, satteln die achtziger Jahre einen weiteren Sockel drauf. Eine dritte Wiederholung dieses Geschehens sehen wir in den neunziger Jahren, als – auch durch die deutsche Wiedervereinigung bedingt – die Arbeitslosigkeit wie-
12 10 8 6 4 2 0 1970 1980 1986 1988 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004
Abbildung 64: Die Entwicklung der Arbeitslosenquote in Deutschland in Prozent seit 1970 (Quelle: Sachverständigenrat)
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Teil 2: Makroökonomie
der ansteigt und bis Ende der neunziger Jahre wieder sinkt, aber einen dritten Sockel von Arbeitslosigkeit auf die beiden ersten Sockel draufpackt. Vereinfacht gesagt ergibt sich folgendes Bild: Nach jedem Anstieg der Arbeitslosigkeit sinkt sie zwar wieder, aber nicht auf das alte Ausgangsniveau, das zu Beginn des jeweiligen Anstiegs herrschte – jede Krise hinterlässt also einen zusätzlichen Sockel an Arbeitslosigkeit, der in der folgenden Besserung nicht wieder abgebaut wird. Deswegen spricht man von Sockelarbeitslosigkeit; in der Wissenschaft nennt man das Hysterese. Das ist ein erschreckender Befund, denn er sagt uns, dass jede Krise Spuren in der Arbeitsmarktstatistik hinterlässt, die nicht mehr verschwinden, dass jede Krise die Zahl der Arbeitslosen dauerhaft erhöht – was passiert da? Eine mögliche Erklärung ist diese: Wenn in einer Krise Arbeitnehmer ihren Arbeitsplatz verlieren und nicht innerhalb kurzer Zeit einen neuen Arbeitsplatz finden, dann rutschen sie in die Langzeitarbeitslosigkeit hinein – mit all den Folgen, die wir bereits erörtert haben. Und wenn sie erst einmal in dieser Falle sitzen, gibt es nur noch wenige Wege heraus, und das Ergebnis ist, dass jede Krise ein paar Langzeitarbeitslose mehr zurück lässt. Und je länger sie arbeitslos sind und je mehr sich die Struktur unserer Wirtschaft wandelt (und damit ihre Fähigkeiten überflüssig macht), um so geringer werden ihre Chancen, noch einmal einen Arbeitsplatz zu finden. Nach dieser Lesart ist es also eine Kombination von Strukturwandel und seinen Problemen, gepaart mit den verhängnisvollen Mechanismen der Langzeitarbeitslosigkeit, die dazu führen, dass jede Krise das Niveau der Arbeitslosigkeit dauerhaft weiter hebt. Erst in den vergangenen Jahren scheint es, dass dieser Kreislauf durchbrochen werden konnte. Bleibt noch eine Frage: Was kann solche Krisen auslösen? Wir müssen noch über eine letzte Form der Arbeitslosigkeit sprechen, eine Form, die so wichtig ist, dass wir ihr ein eigenes Kapitel widmen: Was ist eigentlich konjunkturelle Arbeitslosigkeit?
In der Diskussion Was würden Sie gegen die Arbeitslosigkeit in Deutschland tun? Was tut die Politik – lesen Sie dazu die aktuellen Zeitungen.
15 Was ist Arbeitslosigkeit?
Zusammenfassung 1. Arbeitslosigkeit ist aus mehreren Gründen wohlfahrtsschädlich: Jeder Mensch, der arbeitet, trägt zur Erhöhung des Wohlstands bei, jeder Arbeitslose ist verschenkter Wohlstand. Darüber hinaus hat Arbeitslosigkeit auch negative Folgen für die davon betroffenen: Sie haben kein Einkommen, oftmals leiden sie auch darunter, ohne Beschäftigung zu sein. 2. Es gibt verschiedene Arten und Ursachen von Arbeitslosigkeit: friktionelle Arbeitslosigkeit ist temporär, ebenso wie saisonale Arbeitslosigkeit und damit ein geringes Problem. Umstrittener ist, inwieweit in Deutschland Arbeitslosigkeit durch zu hohe Löhne entsteht; hier gibt es verschiedene Erklärungsversuche, wie es dazu kommen kann. Ebenfalls eine Ursache ist der Mangel an Kapital und Maschinen, um alle verfügbaren Arbeitskräfte zu beschäftigen. 3. Arbeitslosigkeit entsteht auch durch Strukturwandel: Alte Branchen lösen sich auf, neue Branchen entstehen, und der Übergang von den alten auf die neuen Arbeitsplätze ist oftmals schwierig und führt zu Arbeitslosigkeit. 4. Besonders problematisch ist die sogenannte Sockellohnarbeitslosigkeit (Hysterese): Mit jedem Wirtschaftsabschwung steigt die Arbeitslosigkeit, bei anschließenden Aufschwung jedoch sinkt sie nicht wieder auf das alte Niveau, sondern es bleibt ein Sockel an zusätzlichen Arbeitslosen, der durch den Abschwung entstanden ist.
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Was ist Konjunktur? Konjunkturprognosen sind die verstoßenen Kinder der Wettervorhersage Sprichwort Um was geht es? Das Wort „Konjunktur“ gehört zum festen Bestandteil der deutschen Sprache – doch was versteht man eigentlich darunter? In der Umgangssprache sagt man auch, dass etwas „Konjunktur“ hat, also gerade gefragt ist; mit Konjunktur bezeichnet man auch den Zustand der Wirtschaft, ohne dabei hinreichend konkret zu werden. In diesem Kapitel wollen wir einmal konkret werden und uns anschauen, was Konjunktur ist – und welche Konsequenzen sich aus der Idee einer Konjunktur ergeben. Die dabei wohl wichtigste Konsequenz aus der Idee der Konjunktur, die antizyklische Konjunkturpolitik, werden wir uns allerdings erst in den folgenden Kapiteln anschauen. Was ist Konjunktur? Vereinfacht gesagt bezeichnet man mit Konjunktur den Zustand einer Wirtschaft. Wirtschaften, so die Idee, neigen dazu, periodisch zu schwanken: Mal geht es allen gut, es herrscht Vollbeschäftigung, es wird viel produziert, mal geht die Produktion zurück, die Arbeitslosigkeit steigt, die Produktion sinkt. Wirtschaft ist also kein langer ruhiger Fluss, sondern ein häufiges Auf und Ab, eine Achterbahnfahrt. Und jetzt müssen wir diese Achterbahnfahrt ein wenig genauer beschreiben – was genau schwankt denn da eigentlich und wie? Vielleicht kann Abbildung 65 hier etwas weiter helfen. Der Abbildung entnehmen Sie, dass das Wachstum unseres Sozialproduktes – unseres Wohlfahrtsmaßstabs – offenbar alles andere als gleichförmig ist. Aber was man gut erkennen kann ist, dass sich Phasen höherer Wachstumsraten abwechseln mit Phasen geringen Wachstums oder sogar mit einem Rückgang des Sozialproduktes. Die Bundesrepublik ist also nicht gleichförmig und regelmäßig gewachsen, sondern in Schüben und mit Krisen. Mitte der sechziger Jahre sehen wir den ersten Einbruch, dann wieder in den siebziger und den achtziger Jahren und in den neunziger Jahren und auch wieder in diesem Jahrzehnt. Dieses Hin und Her im Wachstum, diese periodische Wiederkehr von Boom und Krise – das sind Konjunkturschwankungen. Eine mögliche Definition von Konjunkturschwankungen wäre also, auf die Wachstumsraten des Sozialproduktes abzustellen. Eine andere Möglichkeit wäre es, auf den Auslastungsgrad einer Volkswirtschaft abzustellen: Jede Volkswirtschaft hat eine natürliche Kapazität, eine Produktionsleistung, die sie in einer Periode erbringen kann – Ökonomen bezeichnen das als Produktionspotenzial. Nun gibt es Phasen, in denen dieses Produktionspotenzial auch ausgenutzt wird – man produziert so viel wie man auch produzieren kann –, und Phasen, in denen man – warum auch immer – weniger produziert, als es das Produktionspotenzial zulassen würde. Und diese Schwankungen im Auslas-
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Teil 2: Makroökonomie
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Abbildung 65: Wachstumsraten des preisbereinigten Bruttoinlandsproduktes in der Bundesrepublik Deutschland 1950–2008 (Veränderung gegenüber dem Vorjahr in Prozent) (Quelle: Norbert Räth: Rezessionen in historischer Betrachtung, in: Wirtschaft und Statistik 3 / 2009, S. 203–208; hier: S. 205)
1970
1975
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tungsgrad des Produktionspotenzials nennt man dann Konjunkturschwankungen. Zumeist schwanken zusammen mit den Wachstumsraten des BIP und dem Auslastungsgrad des Produktionspotenzials auch andere wichtige volkswirtschaftliche Variablen, die wir bereits kennen gelernt haben. Mit Hilfe dieser Variablen kann man einen idealtypischen Konjunkturzyklus beschreiben, den man vereinfacht gesagt in vier Phasen unterteilen kann (vgl. Abbildung 66):
In einem Aufschwung steigen die Wachstumsraten des BIP und auch der Auslastungsgrad des Produktionspotenzials. Dementsprechend sinkt die Arbeitslosenquote, weil mehr Produktion mehr Beschäftigung bedeutet. Zugleich steigt die Inflationsrate – warum, werden wir in einem späteren Kapitel erörtern.
Im Boom erreichen BIP, Auslastungsgrad und Inflation ihren Höhepunkt, die Wirtschaft fängt an, sich zu überhitzen. Arbeitskräfte werden knapper.
Es folgt der Abschwung, in dem Wachstum, Auslastungsgrad und Inflation sinken; die Arbeitslosigkeit steigt.
Die Rezession bildet dann den Boden der Konjunkturentwicklung, auf sie folgt dann irgendwann der Aufschwung.
Sozialprodukt
Nicht immer läuft ein solcher Konjunkturzyklus so idealtypisch ab, zwei interessante Abweichungen sind in der Grafik eingezeichnet:
Inflation „New Economy“
Ende des vorherigen Jahrhunderts dachte man, dass man die Inflation
„jobless growth“ Arbeitslosigkeit Aufschwung
Boom
Abschwung
Aufschwung
Abbildung 66: ein idealtypischer Konjunkturzyklus
besiegt habe: Viele Volkswirtschaften wuchsen und schufen neue Arbeitsplätze, ohne dass die Inflation stieg – „New Economy“ nannte man dieses Szenario, in dem man glaubte, man habe die Inflation gezähmt (Schuld daran sollten unter anderem neue Technologien wie das Internet sein). Ein Irrtum, wie sich herausstellte: Wie Sie nun wissen, misst Inflation nur den Anstieg der Güterpreise – was aber, wenn statt
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der Güterpreise die Preise von Vermögensgegenständen steigen? Das kann eben so problematisch sein, wird aber von der Inflationsrate nicht registriert. Und genau dieses zeigte sich rasch: Nicht die Güterpreise waren gestiegen, sondern die Preise für Vermögensgegenstände, beispielsweise Aktien, mit der Folge, dass es eine gigantische Spekulationsblase an der Börse gab. Die Folgen waren nicht weniger heftig als bei normaler Inflation.
Noch hässlicher ist das Szenario des „jobless growth“, also des Wachstums ohne Arbeitsplätze. Das passiert, wenn die Wirtschaft wächst, ohne dass dabei neue, zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen werden. Das bedeutet, dass auch in einem Aufschwung nicht die Arbeitslosigkeit abgebaut wird – das klingt ein wenig nach der Idee der Hysterese, die wir im letzten Kapitel kennen gelernt haben.
In der Presse 10: Wellbleche, Buchstabensalat und Doppel-Dips Konjunkturzyklen müssen nicht notwendigerweise so idealtypisch verlaufen wie oben beschrieben, und in der Presse haben sich blumige Bezeichnungen für verschiedene Formen von Konjunkturschwankungen eingebürgert, die sich alle letztlich am Verlauf des Sozialproduktes orientieren. Von Wellblechkonjunktur beispielsweise spricht man, wenn das Sozialprodukt in kleinen Zyklen auf und ab schwankt, so dass sich das Bild eines Wellblechs ergibt. Manchmal werden auch Buchstaben gewählt: ein V steht für einen scharfen Abschwung und einen ebenso raschen Aufschwung; ein U für eine eher sanftere Bewegung; das W steht für ein doppeltes ab und auf. Eine weitere Bezeichnung ist der so genannte double-dip, der Doppel-Abschwung – nach einem kurzen Aufschwung folgt ein erneuter Absturz der Wirtschaft.
Wenn Sie nun noch einmal einen Blick auf Abbildung 65 werfen, können wir die Idee der Konjunkturschwankung noch etwas präzisieren, indem wir sie gegen einen anderen bekannten Begriff, gegen das Wachstum, abgrenzen. Wenn Sie sich die Abbildung einmal etwas schärfer anschauen, werden Sie bemerken, dass die Wachstumsraten zwar schwanken, dass sich aber eine Art Trend zeigt: die Wachstumsraten werden tendenziell immer kleiner. Das ist offenbar ein langfristiges Phänomen – und mit diesem Gedanken lassen sich nun Begriffe wie Konjunktur, Wachstum und Struktur gegeneinander abgrenzen:
Konjunktur sind kurzfristige Schwankungen der wirtschaftlichen Aktivität. Genauer gesagt kann man darunter Schwankungen im Auslastungsgrad des Produktionspotenzials verstehen.
Wachstum hingegen meint eine langfristige Tendenz, den Anstieg des Produktionspotenzials. Das ist also der Unterschied: Wenn wir einmal kurzfristig weniger produzieren, als wir eigentlich können, dann ist das
Buchstabensalat: Wo ist denn hier ein „W“
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Teil 2: Makroökonomie
ein konjunkturelles Phänomen, wenn aber die Menge der Güter, die wir produzieren können (also unser Produktionspotenzial), langfristig steigt, dann ist das Wachstum.
Aber was ist dann Struktur? Unter Struktur versteht man die sektorale und regionale Produktionsstruktur einer Volkswirtschaft – deren Zusammensetzung bestimmt natürlich auch das Wachstum. Für die weitere Analyse ist es enorm wichtig, diese drei Phänomene gegeneinander abzugrenzen, denn konjunkturelle Schwankungen erfordern eine ganz andere Politik als Wachstumsschwächen oder strukturelle Veränderungen. Mit dieser Unterscheidung können wir auch eine weitere Spielart der Arbeitslosigkeit identifizieren: konjunkturelle Arbeitslosigkeit. Das ist der Teil der Arbeitslosigkeit, der im Zuge eines Abschwungs entsteht und im anschließenden Aufschwung wieder verschwindet. Konjunkturelle Arbeitslosigkeit entsteht also im Verlauf der zyklisch schwankenden Wirtschaftsaktivität, sie verläuft in Wellen. Vereinfacht gesagt kennen wir damit zwei Arten der Arbeitslosigkeit: Diejenige, die durch mangelnde Mobilität, Suchprozesse, Strukturwandel, Anpassungskosten und andere Einflussfaktoren entsteht; die also Abbildung 61 zum Trotz unfreiwillig ist (d.h., es kommt nicht zu einem Ausgleich von Angebot und Nachfrage am Arbeitsmarkt), und die Arbeitslosigkeit, die durch Konjunkturschwankungen entsteht. Im Folgenden wollen wir die erste Form der Arbeitslosigkeit als strukturelle Arbeitslosigkeit bezeichnen – die Ideen zur Bekämpfung dieser Form der Arbeitslosigkeit haben wir bereits im vorherigen Kapitel unter dem Begriff Angebotspolitik kennen gelernt und werden sie später noch einmal vertiefen. Die zweite Form der Arbeitslosigkeit firmiert unter dem Begriff konjunkturelle Arbeitslosigkeit und erfordert einen anderen Ansatz zur Bekämpfung, den wir später als antizyklische Konjunkturpolitik kennen lernen werden. Damit man also die richtige Politik zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit anwendet, muss man also zunächst untersuchen, welche Form der Arbeitslosigkeit vorliegt – ist es strukturelle Arbeitslosigkeit, so muss man über Angebotspolitik nachdenken, ist es konjunkturelle Arbeitslosigkeit, so bietet sich antizyklische Konjunkturpolitik an. Aber wie kann man zwischen den beiden Arten von Arbeitslosigkeit unterscheiden? Drei Ansätze wollen wir uns kurz anschauen:
Die Nairu (non accelerating inflation rate of unemployment) ist die Arbeitslosenquote, bei der die Inflationsrate einer Volkswirtschaft konstant bleibt. Sie fragt also, bis zu welchem Wert die Beschäftigung im Aufschwung steigen kann, ohne dass die Inflationsrate ansteigt. Die Nairu bildet damit so eine Art Grenzwert: Bis zu dem Wert der Nairu kann man Arbeitslosigkeit mit Hilfe von Konjunkturpolitik beseitigen; will man die Arbeitslosigkeit darüber hinaus weiter senken, ohne höhere Inflationsraten zu haben, muss man andere Mittel zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit wählen – beispielsweise indem man in den Instrumen-
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tenkasten der Angebotspolitiker greift. Studien deuten darauf hin, dass die Nairu in der Bundesrepublik Deutschland in den vergangenen 20 Jahren gestiegen ist, was darauf hindeutet, dass der deutsche Arbeitsmarkt zunehmend strukturelle Probleme hat.
Die Beveridge-Kurve stellt für jedes Jahr der Vakanzquote (also der prozentualen Zahl der offenen Stellen) die Arbeitslosenquote gegenüber (Abbildung 67). Dabei kann man folgendes Muster erwarten: Steigt die Arbeitslosigkeit, sinkt die Vakanzquote – und anders herum. Solange man sich auf dieser Kurve bewegt, riecht das nach konjunktureller Arbeitslosigkeit – steigende Arbeitslosigkeit, sinkende Zahl offener Stellen. Verschiebt sich allerdings die Kurve nach rechts, so bedeutet das, dass bei gleichbleibender Zahl offener Stellen die Arbeitslosigkeit zugenommen hat – das deutet auf ein strukturelles Problem hin. Wie Sie der Abbildung entnehmen, deuten die Daten für die Bundesrepublik eher auf letzteres hin: Jeder Punkt in der Abbildung entspricht einem Jahr, und man sieht, dass sich die Kurve mit den Jahren zunehmend nach rechts verschiebt, denn der rechte Teil der Kurve repräsentiert die achtziger und neunziger Jahre.
Ein ähnliches Konzept verfolgt die Okun-Kurve, sie stellt der Kapazitätsauslastung in Prozent die Arbeitslosenquote gegenüber. Auch hier ist eine Bewegung auf der Kurve ein konjunkturelle Angelegenheit: Sinkt (steigt) die Auslastung der Wirtschaft, dann steigt (sinkt) die Arbeitslosigkeit und anders herum. Verschiebt sich die Kurve hingegen nach rechts, dann steigt bei konstanter Kapazitätsauslastung die Arbeitslosigkeit, was auf strukturelle Probleme hindeutet. Die drei Phänomene – Wachstum, Konjunktur und Struktur stehen in einem engen Zusammenhang: Die Produktionsstruktur eines Landes bestimmt dessen Produktivität und damit auch sein Wachstum; und wenn 4 Quote der offenen Stellen
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1) Bis 1990: Offene Stellen/registrierte Arbeitslose in vH der abhängigen zivilen Erwerbspersonen, ab 1991: Offene Stellen/registrierte Arbeitslose in vH aller zivilen Erwerbspersonen 2) Bis 1990 einschließlich Berlin-West, ab 1991 ohne Berlin
Abbildung 67: Die Beveridge-Kurve für die Bundesrepublik Deutschland 1976–1998 (Quelle: Jahresgutachten: 2005/06 „Die Chancen nutzen – Reformen mutig voranbringen“, hrsg. vom Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, S. 166.)
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sich die Produktionsstruktur eines Landes ändert, dann ändert sich auch dessen Produktivität. Das meinen Politiker auch, wenn sie davon sprechen, aus ihrem Land eine „Wissensgesellschaft“ oder eine „Dienstleistungsgesellschaft“ zu machen: Ein Wandel der Wirtschaftsstruktur von einer Agrargesellschaft zu einer Industriegesellschaft (oder von einer Industriegesellschaft zu einer Dienstleistungsgesellschaft) ist ja nur dann sinnvoll, wenn er mehr Wohlstand, also auch mehr Wachstum verspricht. Und zumindest für den ersten Teil trifft das zu: Nationen, die den Sprung von der Agrargesellschaft zur Industriegesellschaft geschafft haben, sind heute wohlhabender. Allerdings bringt dieser Wandel auch das uns bereits bekannte Problem des Strukturwandels mit sich, mit allen negativen Begleiterscheinungen. Die Konjunktur spielt in diesem Konzert ebenfalls eine wichtige Rolle, sie rankt sich wie Efeu um einen wachsenden Baum (nämlich das Wachstum): In Aufschwung- oder Boom-Zeiten erleichtert sie den Strukturwandel, denn in einer boomenden Wirtschaft findet sich rascher ein neuer Arbeitsplatz. Ein Abschwung kann den gegenteiligen Effekt haben: Erstens erschwert er den Strukturwandel, und zweitens – das ist schlimmer – kann er negative langfristige Folgen haben, wenn er zu lange dauert. Man muss sich das wie eine Erkältung vorstellen: richtig behandelt, dauert sie 14 Tage und hinterlässt keine Spuren, wenn aber etwas schief läuft, man sie ignoriert, wird daraus eine Grippe oder eine schlimmere handfeste Krankheit, die im schlimmsten Fall dauerhafte Spuren hinterlässt. Denken Sie einmal an die Langzeitarbeitslosen: Verliert jemand in einem Abschwung seinen Arbeitsplatz, dann sinken seine Chancen auf einen neuen Arbeitsplatz um so mehr, je länger er arbeitslos ist, und wird er langzeitarbeitslos, so kann das dann zum strukturellen Problem werden. Aus dem Schnupfen (dem konjunkturellen Abschwung) ist eine handfeste Krankheit (Langzeitarbeitslosigkeit) geworden. Das erklärt, warum wir im Falle eines Abschwungs als Politiker nicht tatenlos an der Seitenlinie stehen dürfen. Aber auch ein zu heftiger Aufschwung, eine Überhitzung, kann negative Folgen für eine Volkswirtschaft haben, wie bei einer Maschine, die zu lange überdreht wird: Die Preise steigen zu stark, wir bekommen also Inflation oder die Unternehmen investieren zu viel im Glauben, dass man ewig so weiter wachsen werde und tätigen dann Fehlinvestitionen. Keine Frage, spätestens seit 1929 wissen wir, dass wir den zyklischen Schwankungen unserer Wirtschaft nicht tatenlos zusehen können. Doch damit wir etwas dagegen tun können, müssen wir erst einmal verstehen, woher diese Schwankungen kommen.
Auch die Sonne beeinflusst die Konjunktur.
Wie entstehen Konjunkturschwankungen? Die auf den ersten Blick skurrilste Erklärung für das Entstehen von Konjunkturschwankungen stammt vom Ökonomen William Stanley Jevons – er machte Sonnenflecken für die Entstehung von Konjunkturzyklen verantwortlich. Das klingt merkwürdig, hat aber eine richtige Idee: Sonnenflecken, so Jevons, beeinflussen die Ernte der Bauern und damit deren Produktion und Ertrag – und wenn es schlechte (gute) Ernten gibt, dann folgt eine Rezession (ein Boom). Man mag sich über den Einfluss von Sonnenflecken auf die Ernte (und damit auf
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321
die Konjunktur) streiten, aber die Idee ist grundsätzlich richtig: Konjunkturschwankungen können durch äußere Ereignisse entstehen, durch externe Schocks, wie Ökonomen sagen. Singuläre Ereignisse wie Missernten, Naturkatastrophen, Kriege oder Erfindungen sorgen für Schwankungen in der wirtschaftlichen Aktivität; zu Rezessionen oder Aufschwüngen. In einer moderneren Variante spricht man von der Real Business-Cycle-Theorie: reale Ereignisse, die von außen an die Wirtschaft herangetragen werden, und die Wirtschaft reagiert auf diese äußeren Einflüsse und passt Produktion, Arbeitseinsatz, Konsum und Investitionen an diese Ereignisse an. Konjunkturschwankungen sind in dieser Interpretation also die Reaktion der Wirtschaft auf äußere Ereignisse. Eine andere Idee besteht darin, dass Konjunkturschwankungen durch die Geldpolitik der Notenbank und durch zu niedrige Zinsen ausgelöst werden. Vereinfacht gesagt passiert hier folgendes: Wenn die Notenbank zu viel Geld in Umlauf setzt (wie sie das macht, werden wir noch sehen), dann werden Unternehmen aufgrund der niedrigen Zinsen mehr investieren (Zinsen sind ja der Preis für Kredite, und je billiger ein Kredit ist, um so eher nimmt man einen auf und investiert das geliehene Geld) – das führt zu einem Aufschwung und damit zu einem Boom. Wenn aber die Zinsen später wieder steigen (beispielsweise weil die Notenbank die Zinsen anhebt, um die Inflation zu bekämpfen), dann sinken die Investitionen wieder und es kommt zu einem Abschwung. Wie das genau funktioniert, sehen wir uns später genauer an. Eine weitere Ursache von Konjunkturschwankungen können Schwankungen in der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage sein. Deren Komponenten – Konsum, Investitionen, Staatsausgaben und Exporte minus Importe – kennen wir ja bereits. Und wenn eine dieser Komponenten – aus welchem Grund auch immer – sinkt oder steigt, sinkt oder steigt die gesamtwirtschaftliche Nachfrage, was zu einer Rezession oder einem Boom führen kann. Wie genau das funktioniert, schauen wir uns ebenfalls später an. Ein letzte mögliche Erklärung für Konjunkturschwankungen ist politischer Natur: Politiker, so die Idee, wollen wieder gewählt werden. Deswegen werden sie in einem Wahljahr alles tun, um die Wirtschaft des Landes anzutreiben (welche Mittel es da gibt, sehen wir später). Das bedeutet, dass es in Wahljahren zu einem Aufschwung kommt, und wenn die Politiker ihre Wohltaten wieder kassieren, kommt es zu einem Abschwung. Konjunkturschwankungen sind nach dieser Lesart also die Folge von versuchter Wählerbestechung durch Politiker.
Arbeitsauftrag 33 Suchen Sie nach Erklärungen, warum es zu Konjunkturschwankungen kommt.
Die Fussball-WM in Deutschland: Euphorie und Wirtschaftswachstum
Teil 2: Makroökonomie
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Konjunkturindikatoren. Nun wissen wir, dass die Wirtschaft schwankt, wir haben ein paar Ideen darüber, warum das der Fall sein kann – was fehlt, ist das wann. Also wann schwankt die Konjunktur, oder genauer gefragt: Können wir voraussehen, wann es zu einer Rezession oder zu einem Boom kommt? Ein wenig Voraussicht wäre schon gut: Wenn wir wissen, dass wir in eine Rezession steuern, dann können wir uns darauf vorbereiten oder entsprechend gegensteuern. Es wäre also hilfreich, eine Art Frühwarnsystem zu haben, und das gibt es in der Tat – das sind die so genannten Konjunkturindikatoren. Ihre Idee ist einfach: Man versucht, mit Hilfe weniger Kennzahlen einen Eindruck von der aktuellen Konjunktursituation zu bekommen.
War am „casual Friday“ tabu: Der Anzug.
In der Diskussion: Konjunktur im Alltag – kurze Röcke und leere Züge Mit ein wenig Beobachtungsgabe kann man ein wenig über den aktuellen Konjunkturstand eines Landes in Erfahrung bringen. Nimmt man beispielsweise beim Gang durch die Innenstadt wahr, dass viele Geschäfte schließen und viele Büroräume leer stehen, so deutet das auf eine Rezession hin, ebenso wie der Umstand, wenn die Pendlerzüge morgens leerer werden und die Staus in die Innenstadt kürzer werden (warum?). Ein alter Ökonomen-Witz besagt, dass in einer Rezession die Röcke der Damen länger werden. Vielleicht ist dabei auch etwas dran: In einer Rezession wird die Stimmung gedämpfter, man riskiert weniger und ist weniger experimentierfreudig. Tatsache ist jedenfalls, dass im großen Internet-Boom zu Beginn des Jahrtausends in vielen Büros die Kleidung lässiger wurde, manche Unternehmen führten einen „casual Friday“ ein, in dem man lockerer gekleidet ins Büro kam. Als aus dem Boom die Krise wurde, verschwanden in vielen Büros wieder die Polo-Shirts und krawattenlosen Hemden; auch der casual Friday ist kein großes Thema mehr. Kennen Sie andere Hinweise im Alltag auf die konjunkturelle Lage Ihrer Heimat?
Diese Kennzahlen teilt man zum einen ein in qualitative und quantitative Indikatoren. Quantitative Indikatoren sind solche, die sich aus harten Zahlen ergeben, aus Statistiken, Der Nachteil dieser Indikatoren ist, dass sie oft erst recht spät zur Verfügung stehen, da es eine Weile dauert, bis die Statistiken zur Verfügung stehen. Deswegen weicht man auch auf qualitative Indikatoren aus, bei denen man einzelne Personen oder Unternehmen befragt, und aus den Umfrageergebnissen Rückschlüsse auf die gesamtwirtschaftliche Lage zieht. Sehr hilfreich ist eine Einteilung der Konjunkturindikatoren in vor-, gleich- und nachlaufende Indikatoren. Vorlaufende Indikatoren zeigen das Nahen eines konjunkturellen Wendepunktes an, gleichlaufende Indikatoren zeigen das aktuelle Konjunkturbild an, und nachlaufende
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Indikatoren zeigen die Spätfolgen einer konjunkturellen Entwicklung auf. Tabelle 26 gibt eine Übersicht. Aktienkurse, Geschäftserwartungen, Konsumerwartungen Vorlaufende Indikatoren
Auftragseingänge, Baugenehmigungen; Veränderung der Auftragseingänge Auftragsbestände, Preise, Lagerbestände
Gleichlaufend
Nettoproduktion, Einzelhandelsumsätze Auslastungsgrad, Produktion
Nachlaufend
Beschäftigte, offene Stellen, Konkurse, Kurzarbeit Veränderung der Beschäftigtenzahl
Vorlaufende Indikatoren, auch Frühindikatoren genannt, gehen einer konjunkturellen Wende zeitlich voraus. Das sind beispielsweise
Die Börsenkurse. An der Börse, so sagt der Volksmund, wird die Zukunft gehandelt. In der Tat bestimmen sich die Börsenkurse auch über die Zukunftserwartungen der Märkte. Erwartet man beispielsweise, dass die Gewinne der Unternehmen steigen, dann werden auch die Aktien der betreffenden Unternehmen steigen – das ist ein Hinweis darauf, dass der Aktienmarkt einen Konjunkturaufschwung erwartet. Das kann, muss aber nicht richtig sein, aber immerhin: Die Börsenkurse bilden die Erwartungen vieler Marktteilnehmer ab, und wenn man vermutet, dass sich die Mehrheit nicht irren kann, ist das ein Anhaltspunkt.
Ein weiterer wichtiger Indikator sind die Geschäftserwartungen und die Konsumerwartungen. Man befragt Unternehmen oder Konsumenten nach ihren Erwartungen für die kommenden Monate – sind diese optimistisch, so erwarten sie einen Aufschwung.
Zeitlich hinter den Börsenkursen und den Erwartungen liegen Indikatoren wie die Auftragseingänge oder die Zahl der Baugenehmigungen. Der Zusammenhang ist klar: Steigen die Auftragseingänge oder die Baugenehmigungen, dann werden die Unternehmen in den kommenden Monaten viele Aufträge abarbeiten und die Baubranche viele Projekte starten – das spricht also für einen Aufschwung.
Noch näher dran am aktuellen Konjunkturgeschehen sind die Zahl der aktuellen Aufträge oder die Lagerbestände. Wenn die Lager leer sind, dann haben die Unternehmen keinen Spielraum mehr, was auf dicke Auftragsbücher hindeutet; zumindest wird man in den kommenden Monaten die Lager wieder auffüllen; das alles spricht für einen Aufschwung. Daten zu Konjunkturindikatoren finden Sie unter http://www.destatis.de/ DE/ZahlenFakten/Indikatoren/Konjunkturindikatoren/Konjunkturindikationen.html.
Tabelle 26: Beispiele für Konjunkturindikatoren
Teil 2: Makroökonomie
324
Logo des ifo-Institutes
In der Praxis: Konjunkturindikatoren der Forschungsinstitute Viele wissenschaftliche Forschungsinstitute versuchen mit selbst entwickelten Indikatoren, ihre Konjunkturprognosen zu verbessern. Der wohl bekannteste Indikator ist das ifo Geschäftsklima. Rund 7000 Unternehmen aus verschiedenen Branchen machen jeden Monat eine Einschätzung ihrer gegenwärtigen Geschäftslage und ihrer Erwartungen für die nächsten sechs Monate. Die Geschäftslage sollen sie als „gut“, „befriedigend“ oder „schlecht“ einstufen; die Geschäftserwartungen für die nächsten sechs Monate als „günstiger“, „gleich bleibend“ oder „ungünstiger“. Dann bildet man den Saldo aus den Antworten – bei der Geschäftslage die Differenz der Prozentanteile der Antworten „gut“ und „schlecht“, bei den Erwartungen die Differenz der Prozentanteile der Antworten „günstiger“ und „ungünstiger“. Aus den beiden Salden wird ein transformierter Mittelwert gebildet und indexiert – das ist dann das ifo-Geschäftsklima. Ein weiterer bekannter Index sind die ZEW-Konjunkturerwartungen. Hier werden monatlich bis zu 350 Finanzexperten über ihre Erwartungen befragt. Der Indikator gibt die Differenz der positiven und negativen Erwartungen für die künftige Wirtschaftsentwicklung (auf Sicht von sechs Monaten) in Deutschland wieder. Ein Indikator, der auf der Konsumseite ansetzt, ist das GFK-Konsumklima des Marktforschungsunternehmens GFK. Grundlage bei diesem Index sind monatliche Befragungen zur Stimmung der Konsumenten. Dabei geht es zum einen um die gesamtwirtschaftliche Situation und zum anderen um die Lage der Haushalte selbst. Ein nicht mehr benutzter Indikator ist das Harvard-Barometer, das zwischen 1919 und 1941 veröffentlicht wurde. Das Barometer gelangte zu trauriger Berühmtheit, als es den Absturz der Weltwirtschaft 1929 nicht vorhersagte. (Details finden Sie unter http://www.cesifo-group.de/portal/page/ portal/ifoHome/a-winfo/d1index/10indexgsk/_indexgsk?item_ link=gsk-publ.htm; http://www.zew.de/de/publikationen/Konjunkturerwartungen/konjunkturerwartungenberechnung.php3; http://www.gfk.com/imperia/md/content/presse/methodenbeschreibung_gfk-konsumklimaindex.pdf)
Die gleichlaufenden Indikatoren zeigen die aktuelle konjunkturelle Situation, also das reale BIP, die Industrieproduktion, die Kapazitätsauslastung und den Im- und Export. Nachlaufende Indikatoren beschreiben die Spätfolgen der konjunkturellen Entwicklung. So reagieren die Preise und die Arbeitslosigkeit mit einer Verzögerung auf eine Verschlechterung der Konjunktur: Arbeitgeber zögern Entlassungen so lange als möglich hinaus, damit sie im Aufschwung nicht wieder für teures Geld neue Arbeitskräfte suchen müssen (denken Sie an die Ideen der Insider-Outsider-Theorie), und auch Kündigungsschutzregelungen oder Kurzarbeit verzögern mögliche
16 Was ist Konjunktur?
Entlassungen, weswegen die Arbeitslosenquote der Konjunktur hinterher hinkt. Gleiches gilt für die Inflationsrate: Wenn wegen eines Rückgangs der Nachfrage die Preise sinken, so dauert das eine Weile, bis die Preissenkungen durch die Handelsstufen bei den Endverbrauchern ankommen; zudem haben viele Verträge, in denen Preise bestimmt werden (auch Arbeitsverträge), eine längere Laufzeit und können nicht sofort angepasst werden. Als Ergebnis hinken auch die Preise der Konjunktur etwas hinterher.
In der Diskussion: Versager im Elfenbeinturm Die große Finanzmarktkrise des Jahres 2008 und der darauf folgende Konjunktureinbruch haben den Ökonomen wenig Freunde beschert: Niemand, so der Vorwurf, habe diesen Einbruch vorausgesehen. Ökonomen und Prognostiker wurden von den Medien zu Versagern abgestempelt. Möglicherweise verkennt diese Kritik aber das Geschäft der Konjunkturprognosen. Eine solche Prognose muss man sich vorstellen wie jemand, der einen Wagen fährt, dessen Windschutzscheibe schwarz ist und der deswegen lenkt, indem er in den Rückspiegel schaut und hofft, dass die Straße im weiteren Verlauf genau so fortgeführt wird wie sie im Rückspiegel aussieht. Genau das ist eine Prognose: Man schaut sich die Vergangenheit an und hofft, dass alle Zusammenhänge aus der Vergangenheit auch für die Zukunft gelten. Wenn aber etwas Unvorhergesehenes passiert, das so in der Vergangenheit noch nie vorgekommen ist (die erste Kurve auf der bisher geraden Straße), dann versagen die meisten Prognosetechniken. Wie soll man auch etwas vorhersehen, das unvorhergesehen geschieht? Das funktioniert nur bei Hellseherei. Im Nachhinein zu sagen, dass man doch hätte sehen können, was passieren wird, ist ein wenig so, als würde man nach dem Einlauf der Pferde erklären, dass es doch klar war, dass Pferd Nummer eins gewinnt. Solange man nicht vorher auf das Pferd gewettet hat, ist das billiges Gerede. Wer sagt, dass man die Krise doch hätte kommen sehen müssen, muss sich also auch fragen lassen, ob er denn vor der Krise entsprechend investiert hat – wer das gemacht hat, hätte Millionengewinne einstreichen können. Keine Frage – im Nachhinein ist man immer klüger. Das bedeutet aber nicht, dass man es vorher gewusst hat. Was halten Sie von der Kritik an den Ökonomen?
325
Teil 2: Makroökonomie
326
Zusammenfassung 1. Unter einem Konjunkturzyklus versteht man ein typisches Muster der wirtschaftlichen Aktivität eines Landes, bestehend aus einem Abschwung, einer Rezession, einem Aufschwung und einem Boom. Jede Phase ist gekennzeichnet durch eine typische Entwicklung der wichtigsten makroökonomischen Indikatoren Arbeitslosigkeit, Wachstum und Inflation. 2. Ursachen für Konjunkturzyklen gibt es viele: Äußere Ereignisse und Schocks, Politik, Erwartungen – das alles hat Einfluss auf das Auf und Ab einer Volkswirtschaft. 3. Ökonomen versuchen das Auf und Ab der Wirtschaft mittels Konjunkturindikatoren zu prognostizieren. Diesen Versuchen liegt die Idee zugrunde, dass bestimmte wirtschaftliche Kennziffern in verschiedenen Phasen des Konjunkturzyklus stets gleich verhalten.
Was macht der Staat? Alle menschlichen Einrichtungen sind unvollkommen – am allermeisten staatliche. Otto von Bismarck (1815–98), preuß. Staatsmann
17
Um was geht es? Im ersten Teil dieses Buches haben wir einige Argumente dafür kennen gelernt, warum wir einen Staat brauchen. Dieser Staat muss natürlich finanziert werden, und über seine Gesetze und Ausgaben greift er aktiv ins Wirtschaftsgeschehen ein. Und das immer mehr: Vor allem seit dem zweiten Weltkrieg ist der Staat als wirtschaftspolitischer Akteur so stark gewachsen, dass er – ob er will oder nicht – einen entscheidenden Einfluss auf das Wachstum, die Struktur und die Konjunktur eines Landes hat – und deswegen müssen wir uns anschauen, was der Staat macht und machen kann. Im Folgenden müssen wir also untersuchen, wo und auf welche Art der Staat Einfluss auf das Wirtschaftsgeschehen nimmt, bevor wir in den späteren Kapiteln klären, inwieweit er denn Einfluss nehmen kann und muss. Dabei ist es hilfreich, sich an den Tätigkeiten des Staates zu orientieren, der vereinfacht gesagt nur zwei Dinge macht: Geld ausgeben und Geld eintreiben. Das ist im Kern das Wesen des Staates: Er treibt von seinen Bürgern Geld ein, um dieses für die vielfältigen Aufgaben auszugeben, die er wahrnimmt. Tabelle 27 zeigt Ihnen den offiziellen Querschnitt durch diese Aufgaben des Staates – das ist der Entwurf für den Haushalt der Bundesrepublik Deutschland für das Jahr 2011. Da stellt man den Ausgaben die Einnahmen gegenüber, wobei Sie sehen, dass eine spezielle Einnahmenart die Nettokreditaufnahme ist – der werden wir uns noch einmal etwas ausführlicher widmen. In Tabelle 28 erfahren Sie etwas über die Ausgabenbereiche des Bundes. Soll 2011 Ausgaben (Mrd. €)
305,8
Veränderung gegenüber Vorjahr in %
0,7
Einnahmen (Mrd. €)
257
Veränderung gegenüber Vorjahr in %
–0,9
Steuereinnahmen (Mrd. €)
229,2
Veränderung gegenüber Vorjahr in % Finanzierungssaldo (Mrd. €)
Kassenmittel (Mrd. €) Bereinigung um Münzeinnahmen (Mrd. €)
1,3 –48,8 – –0,4
(Quelle; Bundesfinanzministerium; URL http://www.bundesfinanzministerium.de/ nn_53848/DE/BMF_Startseite/Publikationen/Monatsbericht_des_BMF/2011/07/ uebersichten-und-termine/ut1-finanzwirtschaftliche_lage/Finanzwirtschaftliche_Lage. html?__nnn=true)
Tabelle 27: Der Bundeshaushalt 2011 (Soll-Werte)
Teil 2: Makroökonomie
328
Ist 2010 in Mio. €
Soll 2011 in Mio. €
54 227
55 490
5 887
6 149
Verteidigung
31 707
32 147
Politische Führung, zentrale Verwaltung
6 240
6 376
Finanzverwaltung
3 727
4 166
Bildung, Wissenschaft, Forschung, Kulturelle Angelegenheiten
14 896
16 933
BAföG
1 382
1 544
Forschung und Entwicklung
8 940
9 471
Soziale Sicherung, Soziale Kriegsfolgeaufgaben, Wiedergutmachungen
163 431
160 005
Sozialversicherung
78 046
77 655
7 927
13 446
Grundsicherung für Arbeitssuchende
35 920
34 190
darunter: Arbeitslosengeld II
22 246
20 400
3 235
3 600
881
679
Erziehungsgeld/Elterngeld
4 586
4 389
Kriegsopferversorgung und -fürsorge
1 900
1 748
Gesundheit, Umwelt, Sport, Erholung
1 255
1 580
Wohnungswesen, Raumordnung und kommunale Gemeinschaftsdienste
2 114
2 098
Wohnungswesen
1 356
1 353
Ernährung, Landwirtschaft und Forsten sowie Energie- und Wasserwirtschaft, Gewerbe, Dienstleistungen
5 678
6 497
811
740
1 319
1 350
805
1 770
Allgemeine Dienste
Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Darlehen/Zuschuss an die Bundesagentur für Arbeit
Arbeitslosengeld II, Leistungen des Bundes für Unterkunft und Heizung
Wohngeld
Regionale Förderungsmaßnahmen Kohlenbergbau Gewährleistungen
17 Was macht der Staat?
329
Ist 2010 in Mio. €
Soll 2011 in Mio. €
Verkehrs- und Nachrichtenwesen
11 735
11 735
Straßen (ohne GVFG)
6 341
5 926
Wirtschaftsunternehmen, Allgemeines Grund- und Kapitalvermögen
16 073
15 999
Bundeseisenbahnvermögen
5 223
5 283
Eisenbahnen des Bundes/Deutsche Bahn AG
4 304
3 877
Allgemeine Finanzwirtschaft
34 249
35 462
Zinsausgaben
33 108
35 343
Ausgaben zusammen
303 658
305 800
(Quelle; Bundesfinanzministerium;URL http://www.bundesfinanzministerium.de/ nn_53848/DE/BMF__Startseite/Publikationen/Monatsbericht__des__BMF/2011/07/ uebersichten-und-termine/ut1-finanzwirtschaftliche__lage/Finanzwirtschaftliche__ Lage.html?__nnn=true)
Wir werden also zuerst über die Ausgaben des Staates sprechen, dann über die Einnahmen, mit denen er diese Ausgaben finanziert. Lassen Sie uns mit den Ausgaben beginnen.
In der Praxis: Wie misst man den Einfluss des Staates? Es ist eigentlich unmöglich zu bestimmen, wie groß der Einfluss des Staates auf die Wirtschaft ist. In der Praxis behilft man sich mit verschiedenen Kennzahlen, die Kennziffern staatlicher Aktivität in Relation setzen zum Sozialprodukt eines Landes. Die Staatsquote beispielsweise ist definiert als Quotient aus Staatsausgaben und Sozialprodukt – sie gibt damit an, wie viel Prozent des Sozialproduktes in der ein oder anderen Form durch die Hände des Staates gewandert sind. Ökonomen fordern oft, die Staatsquote zu senken, da zu viele staatliche Ausgaben die wirtschaftliche Dynamik bremsen (denken Sie an die Überlegungen zu den Anreizen, mit anderer Leute Geld sparsam umzugehen, die wir in Kapitel zwei kennen gelernt hatten). Ebenfalls mehr Wachstumsdynamik versprechen sich Ökonomen von der Senkung der Steuerquote, die sich als Quotient von Steuereinnahmen und Sozialprodukt bestimmt – das sind also die Steuereinnahmen des Staates in Prozent vom Sozialprodukt. Allerdings umfasst diese Quote nicht alle Ansprüche des Staates, da die Beiträge zu den Sozialversicherungen hierin nicht erhalten sind. Deswegen ermittelt man auch die Abgabenquote, das sind die Steuern plus die Beiträge zu den Sozialversicherungen in Prozent des Sozialproduktes. Ein Vergleich der Staatsquoten, Steuer-
Tabelle 28: Bundesausgaben nach Aufgabenbereichen
Teil 2: Makroökonomie
330
quoten und Abgabenquoten für verschiedene Länder ist schwierig, da die Quoten Ausgaben und Einnahmen für gleiche Ziele unterschiedlich widerspiegeln: So werden beispielsweise in Deutschland die Sozialsysteme zum großen Teil über Beiträge finanziert, die Steuerquote ist also relativ niedrig. Dagegen werden die Sozialsysteme in den skandinavischen Ländern überwiegend über das Steuersystem getragen. In der Staatsquote der USA fehlen die Aufwendungen für die soziale Vorsorge fast ganz, da diese von den Bürgern zum größten Teil privat finanziert wird. Abbildung 68 gibt Ihnen einen Überblick über die Entwicklung der drei Quoten. Was soll das heißen, weniger Staat?
In der Diskussion Finden Sie, dass der Staat in Deutschland zu viel eingreift? Wie begründen Sie Ihre Meinung? Wo greift der Staat in das Wirtschaftsgeschehen ein, ohne dass man es direkt in Zahlen messen kann?
Die Ausgaben des Staates. Welche Ausgaben muss der Staat tätigen? Diese Frage lässt sich am besten anhand der Aufgaben beantworten, die dem Staat zufallen; die meisten davon kennen wir aus dem ersten Teil des Buches:
Der Staat tätigt Ausgaben für die Bereitstellung öffentlicher und meritorischer Güter. Wo also (ökonomisches oder politisches) Marktversagen vorliegt, greift der Staat ein und tätigt Ausgaben.
Der größte Batzen der staatlichen Tätigkeiten und Ausgaben fällt für sozialpolitische Maßnahmen an – der Staat ändert die Ergebnisse des
55 50 45 40 Abbildung 68: Steuer-, Abgaben- und Staatsquote in der Bundesrepublik Staatsquote: Ausgaben des Staates in der Abgrenzung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR). Ab 1970 in der Abgrenzung des Europäischen Systems Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen (ESVG 1995). 2006 bis 2009 vorläufiges Ergebnis; Stand: August 2010. 2010: Vorläufiges Ergebnis; Stand: Mai 2011 (Quelle: Bundesministerium der Finanzen)
35 Steuerquote Abgabenquote Staatsquote
30 25 20 1975
1980
1985
1990
1995
2000
2005
17 Was macht der Staat?
331
Marktes bezüglich der Einkommensverteilung, greift bei der Gesundheits- und Altersvorsorge ebenso ein wie bei der Absicherung gegen Arbeitslosigkeit und beim Kampf gegen Arbeitslosigkeit.
Eine weitere spezielle Aufgabe des Staates ist die Wahrung einheitlicher Lebensverhältnisse – in einem geeinten Land sollen die Lebensverhältnisse zwischen den einzelnen Regionen nicht zu weit auseinanderdriften. Diese Politik firmiert in den Lehrbüchern unter der Rubrik „Finanzausgleich“.
Eine weitere – im Rahmen des ersten Teils bisher nicht angesprochene Aufgabe ist die Stabilisierung der Wirtschaft: Kommt es zu heftigen Ausschlägen der Konjunktur und zu einem drastischen Einbruch der Wirtschaft – so wie beispielsweise 1929 –, so soll der Staat korrigierend und unterstützend eingreifen. Diese Idee ist das Resultat der Krise von 1929; wir werden sie uns mit allen Plus- und Minus-Punkten in den späteren Kapiteln näher anschauen. Für dieses Kapitel ist nur eines wichtig: Für diese Aufgabe braucht man Geld. Mit diesem Wissen im Rücken können wir uns ansehen, wie das in der Realität aussieht. Abbildung 69 zeigt Ihnen, wofür der Staat Geld ausgibt. Wie Sie sehen, machen Arbeit und Soziales den Löwenanteil aus, gefolgt von der Bundesschuld – das sind die Zinsen, die der Bund auf seine Schulden zahlen muss. Damit müssen wir uns in diesem Kapitel noch einmal näher auseinandersetzen. Auch mit den anderen Posten könnte – und sollte – man sich intensiv und detailliert auseinandersetzen, aber das würde den Rahmen
Familie (Epl. 17) 2,1 % Bildung und Forschung (Epl. 30) 3,8 %
Sonstige 9,5 %
Gesundheit (Epl. 15) 5,1 %
Wirtschaft und Technologie (Epl. 09) 2,0 % Allgemeine Finanzverwaltung (Epl. 60) 3,8 % Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (Epl. 12) 8,1 %
Arbeit und Soziales (Epl. 11) 42,9 % Verteidigung (Epl. 14) 10,3 % Bundesschuld (Epl. 32) 12,4 %
Abbildung 69: Die Ausgaben des Bundes nach Einzelplänen 2011. (Gesamtausgaben: 307,4 Milliarden Euro) (Quelle: Deutscher Bundestag, Drucksache 17/2501; Finanzplan des Bundes 2010 bis 2014)
Teil 2: Makroökonomie
332
dieses Buches sprengen. Hier wollen wir uns kurz eine besondere Ausgabenart ansehen, die quer durch alle Ressorts läuft – die so genannten Subventionen.
In der Praxis: Haushaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland Die Erstellung eines Haushaltes durch den Staat ist eine komplizierte und langwierige Angelegenheit, die zudem vielen Rechtsvorschriften unterliegt. Die Allgemeine Lastentragungsregel (Art 104 Abs 1 GG) beispielsweise besagt, dass Bund und Länder gesondert die Ausgaben tragen, die sich aus der Wahrnehmung ihrer Aufgaben ergeben. Ökonomisch gesehen eine sehr sinnvolle Regelung (warum?). Weiterhin besagt das Grundgesetz (Art 109 Abs. 2 GG), dass Bund und Länder bei der Haushaltserstellung den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung tragen müssen – wie immer man das auslegt. Der jährliche Haushalt des Bundes wird in einem jährlichen Haushaltsgesetz festgestellt; weiterhin gibt es noch ein Haushaltsgrundsätzegesetz (HGrG) und eine Bundeshaushaltsordnung. Bei der Erstellung des Haushaltes gibt es eine Fülle von Haushaltsgrundsätzen, die zu beachten sind, beispielsweise: Der Haushalt muss vollständig sein (Art 110 Abs. 1 Satz 1 GG), er muss ausgeglichen sein, Lücken müssen notfalls über Kredite geschlossen werden (Art 110 Abs 1 Satz 2 GG); er muss festgestellt sein, bevor das Haushaltsjahr beginnt (Art 110 Abs 2 Satz 1 GG), er muss den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit (§ 6 HGrG; § 7 BHO) ebenso entsprechen wie den Grundsätzen der Haushaltswahrheit und Haushaltsklarheit.
Haushaltsdebatte im Bundestag
Subventionen sind Gelder, welche der Bund gezielt ausgibt, um private Unternehmen und Wirtschaftszweige zu fördern. Dabei unterscheidet man zwischen Finanzhilfen (das sind Geldleistungen des Bundes an Stellen außerhalb der Bundesverwaltung) und Steuervergünstigungen (spezielle steuerliche Ausnahmeregelungen, durch die der öffentlichen Hand Mindereinnahmen entstehen). Dann gibt es noch so genannte mittelbar wirkende Subventionen, also Hilfen, die bestimmte Güter und Leistungen für private Haushalte billiger machen, aber mittelbar der entsprechenden Branche nützen (beispielsweise Hilfen für den Wohnungsbau). Abbildung 70 gibt Ihnen einen Überblick über die Entwicklung der Finanzhilfen, der Steuervergünstigungen und der Subventionen als Ganzes – wiederum als Quoten in Prozent des Sozialproduktes berechnet. Warum verteilt ein Staat Subventionen, warum schustert er privaten Unternehmen Extra-Gelder zu? In einer Marktwirtschaft, wie wir sie im ersten Teil des Buches kennen gelernt haben, sollte so etwas nicht stattfinden – das Insolvenzrisiko gehört zu einem Unternehmen wie der Gewinn. Warum also subventioniert der Staat Unternehmen? Hier kann man zwischen drei Motiven unterscheiden:
17 Was macht der Staat?
333
9,0 Quote Steuervergünstigungen (Bund) zu Steuereinnahmen (Bund) Quote Finanzhilfen (Bund) zu Ausgaben (Bund) Quote Subventionen zu Bruttoinlandsprodukt (nominal)
8,0 7,0
4,0
7,5
7,8
7,4
7,3
5,2
8,2
4,4
4,2
5,6
5,6
6,9
5,7
4,9
4,8
3,0
5,3
5,2
4,1 4,9
4,0
4,0
3,9
4,4
3,2
3,9
2,9
2,7
2,3
2,2
2,1
2,1
1,1
1,0
1,0
0,9
2,0 1,1
1,0
7,6
6,6
6,0 5,0
8,0
8,0 7,4
1,0
1,0
1,2
1,1
1,1
1,1
1,1
1,1
1,1
1,1
1,1
2,1 1,2 0,9
0 in % 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010
Da wäre zum einen die Strukturerhaltung: eine Branche droht im Zuge des allgemeinen Strukturwandels zu verschwinden – und dies will man mit Hilfe der Subventionen verhindern. Wer bösartig ist, kann das unter Der Rubrik „Rettet die Faustkeilindustrie“ verbuchen, denn es muss schon die Frage erlaubt sein, ob man wirklich jede Branche für alle Zeiten fördern muss.
Die Strukturanpassung zielt darauf ab, den für die Unternehmen und deren Arbeitnehmer schmerzhaften Strukturwandel abzufedern, indem man übergangsweise das Tempo des Strukturwandels mittels Subvention abfedert – ihn aber nicht dauerhaft verhindert.
Bei der Strukturgestaltung geht es darum, die Wirtschaftsstruktur mittels Subventionen im Sinne der Politiker zu entwickeln; beispielsweise, indem man mehr „grüne“ Technologie fördert oder die Ansiedelung von bestimmten Branchen erreichen will. Tabelle 29 und Tabelle 30 geben Ihnen einen Eindruck davon, wie und wofür der Staat Subventionen verteilt. Was ist von diesen Strategien zu halten? Die Idee der Strukturerhaltung steht auf tönernen Füßen – denkt man diese konsequent zuende, dann darf keine Branche, die einmal entstanden ist, wieder verschwinden – dann müssen wir auch noch in tausend Jahren die Faustkeilindustrie oder Hufschmiede subventionieren. Das kann nicht sinnvoll sein: Wenn eine Branche nicht mehr lohnend produzieren kann, muss man fragen, wieso sie weiter produzieren soll. Wenn wir an den ersten Teil des Buches denken und über die Konsumenten- und Produzentenrente nachdenken, erkennen wir sofort, dass die Subventionierung einer nicht rentablen Branche wohlfahrtsreduzierend ist: Wir stellen etwas zu Kosten her, die über der Wertschätzung der Konsumenten liegen (im ersten Teil Abbildung 21). Um es platt zu formulieren: Wir bezahlen mit den Subventionen eine Branche dafür, dass sie etwas herstellt, was zu diesem Preis niemand haben will. Warum macht man so etwas? Darauf gibt es verschiedene Antworten:
Abbildung 70: Subventionsquoten in der Bundesrepublik 1993–2008 (Quelle: 22. Subventionsbericht der Bundesregierung; URL: http://dip21. bundestag.de/dip21/ btd/17/004/1700465.pdf)
Teil 2: Makroökonomie
334
2010 Finanzhilfen RegE
Steuervergünstigungen
Insgesamt
1 145
404
1 549
1 661
0
1 661
1 554
—
1 554
2.2. Rationelle Energieverwendung und erneuerbare Energien
538
0
538
2.3. Technologie- und Innovationsförderung
396
—
396
2.4. Hilfen für bestimmte Industriebereiche
55
—
55
2.5. Regionale Strukturmaßnahmen
472
533
1 005
2.6. Gewerbliche Wirtschaft allgemein
346
9 544
9 890
3 468
10 077
13 545
Bezeichnung
1.
Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz
2.
Gewerbliche Wirtschaft (ohne Verkehr)
2.1. Bergbau darunter Absatz- und Stilllegungungshilfen für die Steinkohlenindustrie
Summe 2.
Tabelle 29: Finanzhilfen des Bundes und der auf den Bund entfallenden Steuervergünstigungen
3.
Verkehr
669
1 853
2 522
4.
Wohnungswesen
909
1 651
2 560
5.
Sparförderung und Vermögensbildung
608
1 155
1 763
6.
Sonstige Finanzhilfen und Steuervergünstigungen2
0
2 500
2 500
6 799
17 640
24 439
Summe 1. bis 6.3 1
Abweichungen in den Summen durch Runden. Überwiegend Steuervergünstigungen, die unmittelbar privaten Haushalten zugute kommen, aber das Wirtschaftsgeschehen in wichtigen Bereichen beeinflussen. 3 Steuervergünstigungen geschätzt. (Quelle: 22. Subventionsbericht des Bundes; http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/17/ 004/1700465.pdf) 2
Idee Nummer eins ist die Sicherstellung einer strategisch wichtigen Produktion; das Paradebeispiel ist hier Kohle, auch für Agrargüter wird dieser Punkt oft angeführt. Stellt man die Subvention und damit die Produktion dieser Güter ein, so die Idee, macht man sich vom Ausland abhängig und hat im Krisen- und Kriegsfall keine Kohle und keine Nahrungsmittel. Einmal abgesehen davon, dass diese Idee voraussetzt, dass wir uns mit der gesamten Welt im Krieg befinden (sonst könnten wir ja
17 Was macht der Staat?
335
2009 Soll Mio. €
vH
1756,6 0,0
17,6 0,0
II. Gewerbliche Wirtschaft (darunter Darlehen)
4928,7 133,1
49,4 31,4
III. Verkehr (ohne ÖPNV-Mittel nach RegG) (darunter Darlehen)
1508,1 0,0
15,1 0,0
IV. Wohnungswesen (darunter Darlehen)
828,2 290,4
8,3 68,5
V. Städtebau (darunter Darlehen)
957,0 0,6
9,6 0,1
Summe der Finanzhilfen (I. bis V.) (darunter Darlehen)
9978,6 424,2
100,0 100,0
I.
Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (darunter Darlehen)
(Quelle: 22. Subventionsbericht der Bundesregierung; http://dip21.bundestag.de/dip21/ btd/17/004/1700465.pdf)
Kohle und Lebensmitteln von neutralen oder verbündeten Staaten beziehen), muss man erstens fragen, warum sich die Bundesrepublik beispielsweise so von russischem Gas abhängig macht, ohne etwas dagegen zu unternehmen, und zweitens muss man fragen, ob nicht eine Krisenbevorratung eine günstigere Möglichkeit wäre (es sei denn, Sie erwarten einen hundertjährigen Krieg). Bei den Nahrungsmitteln kommt hinzu, dass in einigen subventionierten Bereichen die Produktion über dem Verbrauch liegt – wieso soll man das subventionieren?
Argument Nummer zwei ist das Standardargument – die Sicherung von Arbeitsplätzen. Mit all dem, was wir bisher über Arbeit gelernt haben, können Sie dieses Argument rasch selbst entzaubern: Arbeit gibt es mehr als genug, und in Opportunitätskosten gerechnet ist es viel zu teuer, Menschen dafür zu bezahlen, dass sie etwas herstellen, was für diesen Preis niemand will (Rettet die Faustkeilindustrie). Ökonomisch betrachtet ist es also sinnvoll, die alten Industrien sterben zu lassen und das Kapital und die Arbeiter in neue Branchen zu überführen. Das Problem dabei haben wir auch schon kennen gelernt: Der Strukturwandel. Natürlich ist es nicht so leicht, teilweise unmöglich, die Menschen aus den alten in die neuen Jobs zu bringen – keine Frage, hier muss die Politik eingreifen. Aber da gibt es bessere Maßnahmen als die Erhaltung einer sterbenden Industrie; das ist ein Thema für die bereits diskutierten Anpassungshilfen.
Eine dritte Erklärung, warum Politiker sterbende Branchen subventionieren, ist eher politischer Natur: Wenn eine große Branche, die sich auch noch regional ballt (Kohle, Stahl, Werften) und deren Arbeitnehmer und Arbeitgeber gut organisierbar sind, in Schwierigkeiten gerät,
Tabelle 30: Finanzhilfen der Länder 2009
336
Frau Schaeffler kämpft um ihr Unternehmen. © dpa
Teil 2: Makroökonomie
üben diese einen massiven politischen Druck auf die Politik aus, zu helfen – hier ziehen die Arbeitnehmer und die Arbeitgeber der Branche ausnahmsweise an einem Strang, da sie das gleiche Interesse haben (ein anschauliches Beispiel dafür ist das Unternehmen Schaeffler). Einer solchen Lobby kann sich der Staat kaum erwehren, zumal die Kosten solcher Rettungsaktionen auf den Schultern aller Steuerzahler abgeladen werden, was diese nicht merken – wann haben Sie das letzte Mal gehört, dass ein Minister vor die Presse tritt und verkündet, dass die Mehrwertsteuer erhöht wird, weil man so viel Geld für Kohle, Bauern oder andere Subventionsabenteuer ausgegeben hat? Kurzum: Der Schrei nach öffentlichen Geldern ist laut und nachdringlich, doch diejenigen, die diese Eskapaden bezahlen, bemerken das teils nicht richtig, weswegen ihr Murren in der Regel leise ausfällt. Oder wann haben Sie das letzte Mal gehört, dass Steuerzahler sich gegen die Rettung einer maroden Branche aussprechen, oder gar dagegen demonstrieren? Nach dieser Lesart sind Subventionen eher politisches Opium statt ökonomischer Medizin.
In der Praxis: Auch wir sind Schaeffler „…wir betonen: Diese Initiative ist aus den Reihen der Belegschaft entstanden“, hieß es auf der mittlerweile geschlossenen Homepage der Initiative „Auch wir sind Schaeffler“ (http://www.auch-wir-sindschaeffler.de/index.php), die gegründet wurde, als das Unternehmen in eine schwere Krise geriet. Die Mitarbeiter von Schaeffler hätten beschlossen, einen Beitrag zu leisten, damit das Unternehmen wieder das sichere Ufer erreiche. Man fordere, dass die Politik staatliche Unterstützungen zur Verfügung stellt, damit das Unternehmen die „…derzeitigen Unwägbarkeiten des Finanzmarktes hinter sich lassen kann“. Die Witwe des Unternehmensgründers, Maria-Elisabeth Schaeffler, marschierte zusammen mit ihren Arbeitnehmern auf Protestmärschen mit – „Das Vermögen der Familie steckt in unserer Firma“, heißt es auf der Homepage. Hier ziehen in der Tat Unternehmer und seine Arbeitnehmer an einem Strang.
Wie sieht es mit der Strukturanpassung, den Anpassungshilfen, aus? Grundsätzlich ist die Idee richtig und angesichts der Probleme einer sich beständig wandelnden Wirtschaftsstruktur notwendig – nach dieser Lesart sind solche Subventionen also dazu gedacht, die sozialen Härten des Strukturwandels abzufedern. Brüche in der Entwicklung einer Branche, die einhergehen mit regionalen Fehlentwicklungen und sozialen Härten sollen auf diesem Weg abgefedert werden. Allerdings liegt die Betonung bei diesen Subventionen auf der Idee der Anpassungshilfe – nach einem hinreichend langen Zeitraum zur Anpassung sollten diese Hilfen auch wieder verschwinden. Anpassungshilfen sollten nach einiger Zeit entbehrlich werden. Klingt gut in der Theorie, leidet aber in der Praxis daran, dass viele Anpassungssubventionen in der Praxis rasch zur Dauersubvention mit Erhaltungscha-
17 Was macht der Staat?
rakter werden. Wenn nicht von Anbeginn an klar festgelegt ist, dass die Subventionen nur vorübergehend sind und nach einer bestimmten Zeit wieder auslaufen, besteht die Gefahr, dass die Subventionsempfänger sich angesichts der staatlichen Hilfen zurücklehnen, statt sich dran zu machen, sich mit den Folgen des Strukturwandels auseinanderzusetzen. Und wenn die Subventionen dann auslaufen sollen, ist rasch die oben bereits erwähnte Koalition aus Arbeitsplatzbesitzern und Firmenbesitzern am Start und fordert die einstmals zeitlich begrenzten Subventionen als Gewohnheitsrecht ein. Unter dem Strich ist die Idee der Anpassungssubventionen richtig, in der Praxis aber schwierig umzusetzen. Bleibt noch die Idee der Strukturgestaltung: Der Staat soll die Struktur der Wirtschaft in seinem Sinne, zugunsten der Gesamtwirtschaft entwickeln. Was kann man sich darunter vorstellen?
Ganz oben auf der Liste vieler Politiker steht da die Forschungs- und Technologieförderung: Der Staat, so die Idee, soll Forschung fördern, die für die Privatwirtschaft zu riskant wäre, in besonders wichtigen branchenübergreifenden Schlüsseltechnologien helfen.
Eine weitere Idee ist die staatliche Förderung „grüner“ Technologien, also die Subventionierung des Umweltschutzes.
Ein weiteres oft gepflegtes Argument ist die Entwicklung regionaler Wirtschaftsstrukturen – man will vermeiden, dass eine Region zu stark hinter andere Regionen des Landes zurückfällt und es zu einer regionalen Ballung von Arbeitslosigkeit oder gar zu einer Entvölkerung von Regionen kommt. Es würde den Rahmen dieses Buches sprengen, all diese Argumente im Detail durchzugehen, aber ein paar grundsätzliche Ideen wollen wir kurz dazu anschauen. Grundsätzlich liegt diesen Ideen ein wichtiges ökonomisches Argument zugrunde, nämlich die Idee der externen Effekte (die Sie aus dem 8. Kapitel bereits kennen). Grundlagenforschung kommt vielen Branchen zugute, ohne dass der Forscher das berücksichtigt; Umweltschutz ist ohnehin ein externer Effekt, und auch auf regionaler Ebene kann es zu externen Effekten kommen. Insofern gibt es durchaus Argumente für solche Subventionen, doch sie sind nicht ungefährlich:
Speziell bei der Förderung von Technologien muss man fragen, woher der Staat wissen will, welches die richtige, forschungswürdige Forschung ist. Weiß er natürlich nicht, ebenso wenig wie private Forschungsinstitute oder Unternehmen. Insofern besteht die Gefahr, dass staatliche Forschungsförderung auf das falsche Pferd setzt.
Das kann privaten Forschern auch passieren, doch es gibt zwei wichtige Unterschiede zwischen dem staatlichen Forscher und dem privaten: Erstens hat der private Forscher höhere Anreize, sorgfältig, effizient und ergebnisorientiert zu forschen (Sie wissen aus dem ersten Teil, warum), und zweitens forscht jedes private Institut und Unternehmen ein wenig anders und setzt andere Forschungsschwerpunkte. Wenn ein oder zwei private Forscher in technologischen Sackgassen enden, ist das nicht wei-
337
338
Teil 2: Makroökonomie
ter schlimm, da es ja genügend andere Unternehmen gibt, die in andere Richtungen geforscht haben. Wenn aber der Staat beschließt, eine Technologie zu fördern, und damit irrt, dann laufen alle Pferde in die falsche Richtung, dann ist man in einer kompletten Sackgasse, wenn es keine private Forschung gibt. Kurzum: Bei Forschung ist es wenig sinnvoll, alle Eier in einen Korb zu legen und nur eine Forschungsrichtung zu fördern – deswegen organisiert man Forschung am besten dezentral. Wenn staatliche Forschungsförderung zentral erfolgt, wird das gefährlich.
Nicht zuletzt gibt es auch hier wieder politische Probleme: Unter dem Deckmantel der Technologieförderung, Regionenförderung oder des Umweltschutzes kann man munter Wahlgeschenke verteilen und Erhaltungssubventionen zahlen – mit den entsprechenden Kosten und Folgen für den Steuerzahler. Sie sehen, es ist gar nicht so einfach, Subventionen wirtschaftlich gut und sinnvoll auszugestalten. Das wissen auch die Politiker, weswegen die Bundesregierung 2006 subventionspolitische Leitlinien verabschiedet hat, die Sie in Abbildung 71 studieren können.
Arbeitsauftrag 34 Studieren Sie die subventionspolitischen Leitlinien der Bundesregierung. Untersuchen und begründen Sie die einzelnen Leitlinien – welchen Zweck sollen sie erfüllen?
In der Diskussion Welche Subventionen für welche Branchen finden Sie gerechtfertigt und warum? Welche Subventionen würden Sie abschaffen?
17 Was macht der Staat?
339
Die Einnahmenseite: Steuern. Lassen Sie uns nun die Einnahmenseite des Staates anschauen; beginnen wir zuerst mit den Steuern. Dazu müssen wir zunächst abklären, was denn eigentlich eine Steuer ist. Eine Steuer ist gekennzeichnet durch folgende Merkmale:
Es ist eine Geldleistung, sie wird in Geld bezahlt. Das muss nicht notwendigerweise sein, in früheren Zeiten wurden Steuern auch als sogenannte Naturalabgaben geleistet, beispielsweise in Form des Zehnten, also eines Anteils an der Ernte.
Eine Steuer ist kein Entgelt für eine bestimmte Gegenleistung des Staates. Bei Gebühren und Beiträgen hingegen steht der Zahlung eine konkrete Leistung gegenüber (beispielsweise die Ausstellung des Personalausweises).
Die Steuer wird von einem sogenannten öffentlich-rechtlichen Gemeinwesen auferlegt; das können Bund, Länder oder Gemeinden sein (oder öffentlich-rechtlich anerkannte Religionsgemeinschaften)
Die Steuer wird durch ein Gesetz erhoben. Die Steuer hat in der Regel den Zweck, dem Staat Einnahmen zu verschaffen; sie kann aber auch Lenkungsfunktionen haben (denken Sie an die Pigou-Steuer aus Kapitel 8). An diese Definition einer Steuer schließt sich sofort die nächste Frage an: Was sind die Ziele der Besteuerung? Ziel Nummer eins ist natürlich die Beschaffung von Einnahmen für die vielfältigen Staatsaufgaben. Wäre dies das einzige Ziel der Steuererhebung, dann wäre auch klar, wie man besteuern sollte: effizient und effektiv; und so, dass die Steuer das Wirtschaftsgeschehen und die Märkte möglichst nicht verändert. Allerdings ist klar, dass dies utopisch ist: Ein Staat, der Steuern erhebt, greift massiv in die Wirtschaft ein und verändert die Bedingungen auf den Märkten. Aus dieser Erkenntnis resultiert eine einfache Idee: Wenn der Staat schon über Steuern Märkte und Wirtschaft (zwangsläufig) beeinflusst, warum dann nicht im Sinne des Staates und einer aktiven Wirtschaftspolitik beeinflussen? Daraus haben sie drei verschiedene Ziele staatlicher Steuererhebung (und Finanzpolitik allgemein) entwickelt:
Unter Allokation versteht man eine Korrektur der Marktergebnisse – Paradebeispiel sind hier die Steuern auf demeritorische Güter (die Sie aus dem ersten Teil kennen) wie Alkohol und Tabak. Der Staat korrigiert also mittels Steuern die Marktergebnisse. Das können auch die Steuern zur Internalisierung externer Effekte sein, wie wir bereits gesehen haben (Pigou-Steuern).
Unter dem Begriff Distribution sammelt man alle Maßnahmen, die dazu dienen, die Einkommens- und Vermögensverteilung eines Landes zu beeinflussen – dies geht über direkte Zahlungen (sogenannte Transfers) ebenso gut wie über Steuern. Über die Motive und Aspekte dieses Themas haben wir bereits im ersten Teil des Buches gesprochen.
Abbildung 71: Die subventionspolitischen Leitlinien der Bundesregierung (Kabinettsbeschluss vom März 2006) (degressive Ausgestaltung: die Subventionen werden im Zeitablauf gekürzt) (Quelle: 21. Subventionsbericht der Bundesregierung; S. 9)
340
Teil 2: Makroökonomie
Die Idee der Stabilisierung zielt darauf ab, mittels Steuern (oder Staatsausgaben) eine Wirtschaft vor zu starken Konjunkturschwankungen zu schützen – diese Idee werden wir in späteren Kapiteln noch einmal genauer analysieren. Mit diesen Zielen im Blick kann man fragen, welche grundsätzlichen Dinge man bei der Erhebung von Steuern beachten sollte. Darüber kann man Berge von Literatur schreiben, wir wollen hier nur einen kurzen Blick darauf werfen, was man alles beachten kann (oder muss oder soll):
Fiskalische Aspekte: Das Steuersystem soll den Staat mit ausreichenden Einnahmen versorgen; darüber hinaus muss der Staat in der Lage sein, bei kurzfristigem Mittelbedarf diesen Mehrbedarf rasch und einfach zu beschaffen.
Sozialpolitische Grundsätze: Eine Steuer soll gerecht sein, was zunächst einmal bedeutet, dass sie allgemein ist (jeder muss sie zahlen, der den Steuertatbestand erfüllt); dass sie gleich ist (gleiche Tatbestände werden gleich besteuert) und dass sie verhältnismäßig ist (ungleiche Sachverhalte dürfen ungleich besteuert werden).
Wirtschaftspolitische Grundsätze: Steuern sollen nach Möglichkeit eine Wirtschaft automatisch stabilisieren (das werden wir unter dem Stichwort automatische Stabilisatoren später genauer kennen lernen), sie sollen das Wachstum einer Volkswirtschaft nicht behindern (hier setzen die Ideen der Angebotspolitiker an) und sie sollen nicht den Wettbewerb zwischen dem In- und dem Ausland und innerhalb des Inlandes verzerren (hier treffen wir wieder auf die Ideen der Ordoliberalen aus dem ersten Teil des Buches).
Steuertechnische Grundsätze: Eine Steuer muss allgemeinverständlich, nachvollziehbar und eindeutig sein (Transparenz), sie muss praktikabel sein, sie soll nicht ständig geändert werden, die Erhebungskosten sollen
17 Was macht der Staat?
341
nicht zu hoch sein, Widersprüche, Überschneidungen und Doppelbesteuerung sollen vermieden werden. Das hört sich einfacher an, als es ist, wie das Beispiel der überforderten Finanzämter zeigt.
In der Presse: Das Steuerrecht überfordert die Finanzämter „30. November 2009. Viele Finanzämter sehen sich nicht mehr in der Lage, das Steuerrecht anzuwenden. In Niedersachsen forderte ein Finanzamt Steuerpflichtige auf, Einspruch gegen die eigenen Bescheide einzulegen und ihre Steuerlast selbst auszurechnen. Auch in Nordrhein-Westfalen zeigt sich die Finanzverwaltung überfordert: Dort lässt man die Erklärungen einfach liegen. So mancher Unternehmer wartet so auf eine erkleckliche Summe, die ihm das Finanzamt eigentlich zurückerstatten müsste, es aber nicht kann. Da die Finanzverwaltung eine Sache der Länder ist, ist es möglich, dass es woanders besser läuft.“ (Quelle: Manfred Schäfers: Das Steuerrecht überfordert die Finanzämter, in: F.A.Z.; URL: http://www.fazfinance.net/Aktuell/Wirtschaftund-Konjunktur/Das-Steuerrecht-ueberfordert-die-Finanzaemter-1842.html)
Für die Bundesrepublik – und den Finanzausgleich – ist es noch hilfreich zu wissen, dass die Steuern unterschiedlichen Verwaltungsebenen zufließen:
Die Gemeinschaftssteuern fließen in unterschiedlichem Ausmaß allen Körperschaften, also Bund, Länder und Gemeinden zu.
Reine Bundessteuern fließen nur dem Bund zu, hier sind unter anderem Verbrauchssteuern (ohne die Biersteuer) oder Versicherungssteuern zu nennen.
Den Ländern fließen u. a. die Erbschaftsteuer, die KfZ-Steuer, die Biersteuer und die Spielbankenabgabe zu.
An die Gemeinden gehen die Gewerbesteuern, die Grundsteuern und die Grunderwerbsteuer sowie Bagatellsteuern wie beispielsweise die Hundesteuer. An der Gewerbesteuer sind allerdings der Bund und die Länder über die Gewerbesteuerumlage beteiligt. Eine Übersicht über das Aufkommen dieser Steuern finden Sie in Tabelle 31. Das Thema Steuern ist derart umfangreich und kompliziert, dass ihm eigene Vorlesungen gewidmet sind. Uns soll dieser kurze Einblick hier genügen, wir wollen uns kurz noch einer weiteren Möglichkeit widmen, wie die Regierung zu Geld kommen kann – über Staatsverschuldung.
Hundesteuer? Ich? Wieso?
Teil 2: Makroökonomie
342
2010 Steuerart Mio. €
Veränd. ggü. VJ. in %
127 904
–5,4
Veranl. Einkommensteuer1
31 179
18,0
Nicht veranl. Steuern v.
12 982
4,1
I.
Gemeinschaftl. Steuern
Lohnsteuer Ertrag1
Abgeltungssteuer2
8 709
–30,0
Körperschaftssteuer1
12 041
67,9
Steuern vom Umsatz
180 042
1,7
davon: Umsatzsteuer
136 459
–3,8
43 582
24,2
372 857
0,6
Versicherungssteuer
10 284
–2,5
Tabaksteuer
13 492
0,9
Kaffeesteuer
1 002
0,5
Branntweinsteuer
1 990
–5,3
2
–8,6
422
–5,4
22
–14,4
Energiesteuer
39 838
0,0
Stromsteuer
6 171
–1,7
Kraftfahrzeugsteuer3
8 488
—
Solidaritätszuschlag
11 713
–1,8
pausch. Einfuhrabgaben
2
–24,7
sonstige Bundessteuern
0
0,0
93 426
4,6
1
—
Erbschaftssteuer
4 404
–3,2
Grunderwerbsteuer
5 290
8,9
0
—
1 412
–6,5
Einfuhrumsatzsteuer Gemeinschaftl. Steuern insgesamt II.
Bundessteuern
Alkopopsteuer Schaumweinsteuer Zwischenerzeugnissteuer
Bundesteuern insgesamt III. Ländersteuern
Vermögenssteuer
Kraftfahrzeugsteuer3
Rennwett- und Lotteriesteuer
17 Was macht der Staat?
343
2010 Steuerart
Veränd. ggü. VJ. in %
Mio. €
Feuerschutzsteuer
326
0,8
Biersteuer
713
–2,3
12 146
–25,8
34 550
6,6
Grundsteuer A
357
0,2
Grundsteuer B
10 840
2,5
0
—
742
10,6
46 489
5,6
4 378
21,5
529 296
1,0
Ländersteuern insgesamt IV. Gemeindesteuern
Gewerbesteuern (100 v. H.)
Grunderwerbsteuer Sonstige Gemeindesteuern Gemeindesteuern insgesamt V.
Zölle
Zölle (100 v. H.) Steuereinnahmen insgesamt 1
Abweichungen in den Summen durch Runden. Überwiegend Steuervergünstigungen, die unmittelbar privaten Haushalten zugute kommen, aber das Wirtschaftsgeschehen in wichtigen Bereichen beeinflussen. 3 Steuervergünstigungen geschätzt. (Quelle: Bundesministerium der Finanzen; URL http://www.bundesfinanzministerium. de/nn_4158/DE/BMF__Startseite/Service/Downloads/Abt__I/0602221a6009__Steuerarten__2006_E2_80_932010,templateId=raw,property=publicationFile.pdf) 2
In der Diskussion Sind die Steuern in der Bundesrepublik zu hoch? Begründen Sie Ihre Meinung. Welche Steuern würden Sie senken, abschaffen oder erhöhen?
Die Einnahmenseite: Staatsverschuldung. Der Staat kann sich nicht nur über Steuern Geld verschaffen, sondern auch dadurch, indem er es sich leiht – und das nennt man Staatsverschuldung. Im Unterschied zur Steuer allerdings muss der Staat dieses Geld später mit Zinsen zurück zahlen – die Zinsen sind der Preis für die zeitweilige Überlassung des Geldes und bisweilen auch eine Belohnung für das Risiko, Geld zu verleihen, weiß man doch nie, ob man es auch wieder sieht – geht der Gläubiger, also in diesem Fall der Staat, pleite, sieht man das Geld nie wieder. Und dass Länder pleite gehen können, zeigt die Geschichte: ob Deutschland, Argentinien oder Russland – immer wieder haben Staaten die Rückzahlung ihrer Schulden verweigert
Tabelle 31: Steuereinnahmen der Bundesrepublik nach Steuerarten
Teil 2: Makroökonomie
344
und damit de facto pleite gemacht. Wie das funktioniert, werden wir uns noch anschauen, zuvor müssen wir erst einmal fragen, wie man Staatsverschuldung misst und warum und wie sich Staaten verschulden können, dürfen, oder müssen.
In der Presse 11: Argentinien ist pleite „Die argentinische Regierung setzt alles auf eine Karte. Bis Ende dieses Jahres will das Land, das 2001 seine Zahlungsunfähigkeit erklärte und seither keine Zinsen mehr auf Anleihen im Wert von rund 80 Milliarden Dollar zahlt, die Umschuldung dieser Kredite vollziehen. Doch dagegen laufen die Gläubiger Sturm. Das Angebot der argentinischen Regierung würde nämlich bedeuten, dass viele rund drei Viertel ihres eingesetzten Kapitals verlieren – ein Forderungsverzicht, den bislang noch kein Land durchsetzen konnte. Die Argentinier aber geben sich siegessicher: »Wer das Angebot nicht akzeptiert, muss vor Gericht ziehen«, beschied der argentinische Wirtschaftsminister Roberto Lavagna kühl.“ (Quelle: Anne Grüttner: Wie pfändet man ein Land?, in: Die Zeit vom 09.09.2004 Nr. 38; Zeit Online; URL: http://www.zeit.de/2004/ 38/G-Argentinien)
Argentinien, manchmal pleite.
Bei der Messung der Staatsverschuldung muss man unterscheiden zwischen dem laufenden Defizit und dem kumulierten Kreditvolumen. Das laufende Defizit ist die sogenannte Nettoneuverschuldung, das ist derjenige Teil der jährlichen Staatsausgaben, der nicht über Steuern, sondern über Kredit finanziert wird (das ist die Summe aller Kredite minus der Kredite, die getilgt werden). Sobald also der Staat mehr ausgibt, als er einnimmt, entsteht ein Defizit. Der Schuldenstand ist die Summe aller in der Vergangenheit angehäuften Defizite – er wächst mit jedem Jahr, in dem sich der Staat netto neu verschuldet. Beide Größen alleine ermöglichen allerdings keine sinnvollen Aussagen über die ökonomische Bedeutung der Staatsverschuldung für ein Land, weswegen man sie auf das Sozialprodukt bezieht – die Defizitquote gibt das Haushaltsdefizit in Prozent des BIP an; die Schuldenstandsquote den Schuldenstand in Prozent des BIP. Tabelle 32 und Tabelle 33 geben Ihnen einen Überblick, wie diese Quoten im internationalen Vergleich aussehen.
17 Was macht der Staat?
345
1980
1985
1990
1995
2000
2005
2007
2008
2009
2010
2011
2012
Deutschland
30,3
39,5
41,3
55,6
59,7
68
64,9
66,3
73,4
75,7
75,9
75,2
Belgien
74,1
115,2
125,7
130,4
107,9
92,1
84,2
89,6
96,2
98,6
100,5
102,1
Griechenland
22,3
47,9
71
97
103,4
100,3
105
110,3
126,8
140,2
150,2
156
Spanien
16,8
42,3
43,6
63,3
59,3
43
36,1
39,8
53,2
64,4
69,7
73
Frankreich
20,7
30,6
35,2
55,5
57,3
66,4
63,8
67,5
78,1
83
86,8
89,8
Irland
69
100,6
93,1
82,1
37,8
27,4
25
44,3
65,5
97,4
107
114,3
Italien
56,9
80,5
94,7
121,5
109,2
105,8
103,6
106,3
116
118,9
120,2
119,9
Niederlande
45,3
69,7
76,8
76,1
53,8
51,8
45,3
58,2
60,8
64,8
66,6
67,3
Österreich
35,3
48
56,1
68,3
66,5
63,9
59,3
62,5
67,5
70,4
72
73,3
Portugal
29,6
56,5
53,3
59,2
48,7
61,7
62,7
65,3
76,1
82,8
88,8
92,4
Slowakei
-
-
-
22,1
50,3
34,2
29,6
27,8
35,4
42,1
45,1
47,4
Finnland
11,3
16
14,1
56,6
43,8
41,7
35,2
34,1
43,8
49
51,1
53
Euroraum
33,5
50,3
56,6
72,5
69,4
70
66
69,7
79,1
84,1
86,5
87,8
Bulgarien
-
-
-
-
72,5
27,5
17,2
13,7
14,7
18,2
20,2
20,8
Dänemark
39,1
74,7
62
72,6
52,4
37,8
27,3
34,1
41,5
44,9
47,5
49,2
-
-
-
49
36,8
47,1
45
47,1
50,9
55,5
57,2
59,6
39,4
61
41,2
72,2
53,2
50,2
40
38,2
41,9
39,9
38,9
37,5
-
-
-
85,4
54,9
61,8
66,1
72,3
78,4
78,5
80,1
81,6
52,7
51,8
33,3
51,2
41
42,5
44,5
52,1
68,2
77,8
83,5
86,6
-
-
-
69,7
63,1
62,7
58,8
61,8
74
79,1
81,8
83,3
Japan
51,5
67,7
68
92,4
142,1
191,6
187,7
194,7
188,9
192,3
195,9
199
USA
42,4
56,1
64,3
71,6
55,1
61,9
62,4
71,5
84,7
92.2
98,4
102,1
Polen Schweden Ungarn Vereinigtes Königreich EU
Tabelle 32: Staatsschuldenquoten im Vergleich (Stand: November 2010) (Quelle: Bundesministerium der Finanzen; URL:http://www.bundesfinanzministerium.de/nn_118468/DE/BMF__Startseite/Publikationen/Monatsbericht__des__BMF/2010/12/statistiken-und-dokumentationen/01-finanzwirtschaftliche-entwicklung/tabellen/ Tabelle__S15.html)
Teil 2: Makroökonomie
346
1980
1985
1990
1995
2000²
2005
2007
2008
2009
2010
2011
2012
Deutschland
–2,9
–1,1
–1,9
–3,2
–1,2
–3,3
0,3
0,1
–3
–3,7
–2,7
–1,8
Belgien
–9,4
–10,1
–6,7
–4,5
0
–2,8
–0,3
–1,3
–6
–4,8
–4,6
–4,7
Griechenland
–
–
–14
–9,1
–3,7
–5,2
–6,4
–9,4
–15,4
–9,6
–7,4
–7,6
Spanien
–
–
–
–6,5
–1,1
1
1,9
–4,2
–11,1
–9,3
–6,4
–5,5
–0,1
–3
–2,4
–5,5
–1,5
–2,9
–2,7
–3,3
–7,5
–7,7
–6,3
–5,8
Irland
–
–10,7
–2,8
–2,1
4,7
1,6
0
–7,3
–14,4
–32,3
–10,3
–9,1
Italien
–7
–12,4
–11,4
–7,4
–2
–4,3
–1,5
–2,7
–5,3
–5
–4,3
–3,5
Niederlande
–3,9
–3,6
–5,3
–4,3
1,3
–0,3
0,2
0,6
–5,4
–5,8
–3,9
–2,8
Österreich
–1,6
–2,7
–2,5
–5,8
–2,1
–1,7
–0,4
–0,5
–3,5
–4,3
–3,6
–3,3
Portugal
–6,9
–8,4
–6,1
–5
–3,2
–5,9
–2,8
–2,9
–9,3
–7,3
–4,9
–5,1
Slowakei
–
–
–
–3,4
–12,3
–2,8
–1,8
–2,1
–7,9
–8,2
–5,3
–5
Finnland
3,8
3,5
5,4
–6,2
6,8
2,7
5,2
4,2
–2,5
–3,1
–1,6
–1,2
Euroraum
–
–
–
–5
–1,1
–2,5
–0,6
–2
–6,3
–6,3
–4,6
–3,9
Bulgarien
–
–
–
–7,4
–0,5
1
1,1
1,7
–4,7
–3,8
–2,9
–1,8
Dänemark
–2,3
–1,4
–1,3
–2,9
2,3
5,2
4,8
3,2
–2,7
–5,1
–4,3
–3,5
Polen
–
–
–
–4,4
–3
–4,1
–1,9
–3,7
–7,2
–7,9
–6,6
–6
Schweden
–
–
–
–7,4
3,6
2,2
3,6
2,2
–0,9
–0,9
–0,1
1
Tschechien
–
–
–
–13,4
–3,7
–3,6
–0,7
–2,7
–5,8
–5,2
–4,6
–4,2
Vereinigtes Königreich
–3,2
–2,8
–1,8
–5,9
1,2
–3,4
–2,7
–5
–11,4
–10,5
–8,6
–6,4
EU
–
–
–
–5,1
–0,4
–2,5
–0,9
–2,3
–6,8
–6,8
–5,1
–4,2
Japan
–
–1,4
2
–4,7
–7,6
–6,7
–2,4
–2,1
–6,3
–6,5
–6,4
–6,3
–2,3
–4,9
–4,1
–3,2
1,5
–3,2
–2,8
–6,2
–11,2
–11,3
–8,9
–7,9
Frankreich
USA
Tabelle 33: Defizitquoten im internationalen Vergleich (Quelle: Bundesministerium der Finanzen; Stand: Mai 2010; URL: http://www.bundesfinanzministerium.de/nn_118468/DE/BMF__ Startseite/Publikationen/Monatsbericht__des__BMF/2010/12/statistiken-und-dokumentationen/01-finanzwirtschaftliche-entwicklung/tabellen/Tabelle__S14.html)
17 Was macht der Staat?
347
In der Praxis: Die Schuldenuhr Wer wissen will, wie hoch die Staatsverschuldung ist, besucht den Bund der Steuerzahler in Berlin oder geht zumindest auf seine Homepage (http://www.steuerzahler.de/), dort hat der Bund eine Schuldenuhr installiert, auf der man den Zuwachs der Staatsverschuldung pro Sekunde sehen kann sowie die Staatsverschuldung pro Kopf. Seit 2008 läuft diese Uhr schneller und schneller; in Amerika, wo es eine solche Uhr für die amerikanische Staatsverschuldung gibt, musste man an der Uhr eine neue Ziffer installieren, weil die Verschuldung zu groß für die alte Uhr wurde. Wer etwas über die Steuereinnahmen wissen will, kann ebenfalls beim Bund der Steuerzahler nachsehen, dort hat man auch eine Steueruhr installiert, die zeigt, wie die Steuereinnahmen über das Jahr hinweg sprudeln. Zu jeder Zeit können Sie aktuell ablesen, wie viel Geld in diesem Jahr schon an den Fiskus geflossen ist, wie hoch die Steuereinnahmen pro Sekunde und pro Kopf sind.
Aber warum soll sich ein Staat verschulden? Grundsätzlich können wir hier zwischen vier Argumenten unterscheiden:
Rentabilität: Auch in der Privatwirtschaft ist es durchaus üblich, dass man lohnende Investitionen per Kredit finanziert: Man leiht sich heute Geld, investiert dieses in ein lohnendes Projekt (bei Gemeinden können das beispielsweise Wasser- und Heizkraftwerke sein), und aus den Erträgen des Projektes kann man den Kredit und die fälligen Zinsen tilgen und behält noch etwas Gewinn übrig. Diese Form der Staatsverschuldung ist relativ unproblematisch – solange das geliehene Geld in Projekte investiert wird, die später zusätzliche Erträge abwerfen, kann der Staat seine Verpflichtungen später locker zurückzahlen. Wenn Sie allerdings einen Blick auf Abbildung 72 und Abbildung 73 werfen, werden Sie feststellen, dass das Investitionsmotiv im deutschen Staatshaushalt eine zunehmend kleinere Rolle spielt – das Schwergewicht der öffentlichen Ausgaben liegt eindeutig auf den Sozialausgaben. Das soll keine Missbilligung dieser Ausgaben sein, aber mit Blick auf die deutsche Staatsverschuldung ist das insofern bedenklich, als mit den Schulden immer weniger Investitionen finanziert werden, die eine spätere Rückzahlung der Schulden ermöglichen.
Eine weitere Begründung für eine Verschuldung des Staates ist das sogenannte „pay as you use“-Argument: Baut der Staat beispielsweise eine Autobahn, so wird diese nicht nur von der aktuellen Generation genutzt, sondern auch von späteren Generationen – dann ist es nur recht und billig, wenn diese einen Teil der Autobahn mit finanzieren. Also verschiebt man einen Teil dieser Lasten über Verschuldung in die Zukunft, wo sie dann von den Generationen abgetragen wird, die ja auch die Autobahn nutzen.
Die Schuldenuhr des Bundes beim Bund der Steuerzahler © dpa
Teil 2: Makroökonomie
348
In eine ähnliche Kategorie fallen historische Sonderlasten: Die deutsche Wiedervereinigung ist eine solche Sonderlast, deren Kosten man nicht einer einzigen Generation auferlegen konnte – also beteiligt man die zukünftigen Generationen daran, indem man einen Teil der Lasten per Verschuldung in die Zukunft verschiebt.
Ein weiteres Argument für Staatsverschuldung ist die so genannte konjunkturelle Verschuldung: In einer Rezession sinken die Staatseinnahmen teilweise automatisch, zudem kann der Staat durch Konjunkturprogramme, deren Funktionsweise wir später erörtern werden, versuchen, die Konjunktur anzuschieben – das alles führt zu steigenden Staatsausgaben und sinkenden Staatseinnahmen, und diese Lücke, so die Idee, kann man zumindest vorübergehend durch Schulden stopfen. Damit ist auch klar, dass diese Form der Verschuldung nur temporär sein sollte; sie sollte in einem Aufschwung automatisch sinken, respektive zurück geführt werden. Aus diesem Grund wird auch unterschieden zwischen einer konjunkturellen Verschuldung des Staates und einer strukturellen, also nicht konjunkturell bedingten Verschuldung. Die Beurteilung der Staatsverschuldung hängt also wesentlich davon ab, welche Art und Motive diese hat. Welche Probleme kann eine zu hohe Staatsverschuldung mit sich bringen? Da wäre zum einen die Zinslast: Je höher die Verschuldung wird, umso größer wird der Anteil der Zinszahlungen, die der Staat für die Schulden zahlen muss. Und je mehr Zinsen der Staat zahlen muss, umso weniger Spielraum
Subventionen 3% Zinsen 6%
Investitionen 3%
Arbeitnehmerentgelt 16 %
Sozialleistungen 56 %
Sonstige 16 % Abbildung 72: Struktur der öffentlichen Ausgaben in Deutschland 2006 (Quelle: Monatsbericht des Bundesministeriums der Finanzen; Januar 2008, S. 39)
17 Was macht der Staat?
349
– 0,7
Sonstige – 4,0
Investitionen
1,0
Zinsen
Abbildung 73: Veränderung der Ausgabenstruktur der öffentlichen Ausgaben in Deutschland 1981 bis 2006; Veränderungen der Ausgabenanteile in Prozentpunkten
– 1,1
Subventionen – 4,5
Arbeitnehmerentgelt
9,4
Sozialleistungen –5
–3
–1
1
3
5
7
9
11
hat er bei der Gestaltung seiner Ausgaben. Werden die Kredite für investive Zwecke genutzt, die später Erträge bringen, so ist das kein Problem, weil man mit diesen Erträgen die Zinsen bedienen kann. Andernfalls muss der Staat mit steigender Verschuldung einen immer größeren Teil seiner Einnahmen dafür ausgeben, seine Zinsen zu zahlen. Je höher die Verschuldung eines Staates wird, um so misstrauischer werden die Gläubiger, also jene Institutionen, die dem Staat das Geld leihen – bedenkt man, dass auch Staaten pleite gehen können, werden sie höhere Zinsen fordern, um für dieses Risiko entschädigt zu werden. Das kann zu einem Teufelskreis führen: Der Staat hat eine hohe Verschuldung, muss deswegen immer höhere Zinsen zahlen, was seinen Ausgabenspielraum weiter einengt. Eine hohe Staatsverschuldung kann weiterhin zu einem sogenannten crowding-out führen: Der Staat nimmt mehr Kredite auf, was zu einem Anstieg des Zinsniveaus führt; und die steigenden Zinsen führen dazu, dass weniger private Investitionen getätigt werden. Stimmt dieses Argument, dann werden durch steigende Staatsverschuldung private Investitionen von staatlichen Investitionen verdrängt. Mit Blick auf die bereits erörterten Ideen bezüglich der Rentabilität privater und staatlicher Investitionen kann dies zu dauerhaften Wachstumseinbußen führen. Der Anstieg der Zinsen hat auch Folgen für die Einkommensverteilung, da er die Einkommen der Bezieher von Kapitalvermögen erhöht (deren Einkommen sind ja die Zinsen aus dem Kapital, das sie verleihen). Damit steigt die Entlohnung von Kapital relativ gesehen zur Entlohnung von Arbeit. Unterstellt man, dass eher Bezieher höherer Einkommen auch die Besitzer von Kapital sind (was nicht zwingend der Fall ist), dann hätte die Staatsverschuldung auch Folgen für die personelle Einkommensverteilung. Allerdings muss man dabei berücksichtigen, dass diejenigen, die dem Staat gegen Zinsen Geld leihen, dieses Geld auch an jemand anderen verleihen könnten – sie würden also so oder so Zinseinnahmen erzielen. Unzweifelhaft hat Staatsverschuldung auch Folgen für die so genannte intergenerationale Einkommensverteilung, also die Verteilung der Lasten zwischen den Generationen, die allerdings nicht trivial sind, hier muss man genauer hinschauen:
(Quelle: Monatsbericht des Bundesministeriums der Finanzen; Januar 2008, S. 39)
350
Teil 2: Makroökonomie
Verschuldet sich der Staat nur im Inland, so kann man überspitzt sagen, dass es keine Lastenverschiebung in die Zukunft gibt: Wenn der Staat heute einen Teil des Sozialproduktes beansprucht, so muss er diesen Teil Sozialprodukt auch der heutigen Generation wegnehmen – die reale Last der Staatsverschuldung, der Konsumverzicht, kann nicht in die Zukunft verschoben werden, es findet lediglich ein Transfer von Ressourcen von den Bürgern an den Staat statt. Auch die spätere Rückzahlung der Kredite und Zinsen ist keine reale Last, denn diese Gelder werden ja an die inländische Bevölkerung zurückgezahlt. Ein Teil der späteren Generationen zahlt die Kredite an den anderen Teil zurück; unter dem Strich aber entstehen der gesamten Generation keine Lasten. In der Finanzwissenschaft bringt man diese Idee mit dem Zitat „Wir schulden uns das Geld selbst“ auf den Punkt.
Anders ist das allerdings bei einer Verschuldung des Staates im Ausland: Jetzt kann ein realer Transfer von Ressourcen erfolgen. Man leiht sich aus dem Ausland Geld, mit dem man ausländische Waren kauft (also seine realen Konsummöglichkeiten erweitert). Die spätere Rückzahlung dieses Kredits kann letztlich nur wieder über reale Güter erfolgen, das Ausland holt sich also später einen Teil des Sozialproduktes, den es uns geliehen hat, wieder in Form von unserem Sozialprodukt zurück, und den Verzicht auf diesen Teil des Sozialproduktes müssen dann unsere Kinder leisten. Verschulden wir uns also im Ausland, so tun wir das tendenziell zu Lasten späterer Generationen.
Ein weiterer intertemporaler Verteilungseffekt der Staatsverschuldung hängt davon ab, wofür der Staat die Kredite ausgibt: Finanziert er mit den Krediten Konsum, so kann die Staatsverschuldung zu Lasten der Investitionen gehen; damit wird das zukünftige Wachstum der Wirtschaft reduziert, mit der Folge, dass zukünftige Generationen ein geringeres Wachstum haben werden. So einfach diese Argumente jetzt klingen, so schwer ist es in der Praxis, „gute“ von „schlechter“ Staatsverschuldung zu unterscheiden und festzustellen, welche Staatsverschuldung tragbar ist und ab wann ein Staat in die Katastrophe rutscht. Klar ist nur, dass viele Staaten mittlerweile erkannt haben, dass ihre Schuldenlast auf Dauer nicht mehr tragbar wird; nicht zuletzt auch deswegen, weil politische Mechanismen dazu führen, dass Staaten sich eher verschulden als Steuern zu erhöhen oder zu sparen. Der Grund dafür ist naheliegend: Höhere Steuern kosten ebenso Wählerstimmen wie Ausgabenkürzungen; mehr Schulden hingegen wirken auf den ersten Blick nicht sonderlich schmerzhaft – man vertagt den notwendigen Verzicht auf spätere Zeiten, wenn die Geschäfte besser laufen, die Zinsen niedriger und die Wähler vernünftiger sind und und und. Man muss sich nur selbst beobachten, wenn es darum geht, Verzicht zu leisten oder mehr zu arbeiten – zu gerne nur vertagt man das auf später, und den Politikern geht es da nicht anders. Aber auch Politiker haben Verantwortungsbewusstsein, und aus diesem Bewusstsein heraus und dem Wissen, dass Politiker, die Schulden
17 Was macht der Staat?
vermeiden sollen, letztlich wie der wurstbewachende Mopps sind, hat zu der Idee verfassungsrechtlicher Schuldenbremsen geführt. Die Idee ist einfach: Die Politik beschränkt ihren Drang nach Krediten durch verfassungsrechtliche Vorgaben. Ein erster – gescheiterter Versuch war der alte Artikel 115 Grundgesetz.
In der Presse 12: Der problematische Artikel 115 Der Artikel 115 des Grundgesetzes ist einer der wohl am meisten geschundenen Artikel des Grundgesetzes. In der alten Fassung lautet er: „Die Einnahmen aus Krediten dürfen die Summe der im Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben für Investitionen nicht überschreiten.“ Auf den Punkt gebracht besagte der Artikel in dieser Form, dass sich der Staat nur für Investitionen verschulden solle – angesichts der obigen Überlegungen ein naheliegender Schluss. In der Realität sah das freilich anders aus: Der Präsident des Rechnungshofes, Engels, wird in einer Zeitung zitiert, dass in elf von 25 Haushaltsjahren die Regelkreditgrenze zum Teil erheblich überschritten wurde, vor allem in den Haushaltsjahren 2002 bis 2006. Im September 2005 sprach der damalige Bundesfinanzminister Eichel (SPD) von elf verfassungswidrigen Länderhaushalten (in den Länderverfassungen gibt es dem Artikel 115 vergleichbare Regelungen). Laut dem Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, der den Bundeshaushalt 2006 als grundgesetzwidrig einstufte, hat sich Artikel 115 Grundgesetz, auch wenn er prinzipiell sinnvoll sei, nicht als wirksame Verschuldungsgrenze erwiesen. Einer der Gründe des Versagens dieses Artikels war der Zusatz „Ausnahmen sind nur zulässig zur Abwehr einer Störung des
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352
Teil 2: Makroökonomie
gesamtwirtschaftliche Gleichgewichts“, eine Einladung zum Mogeln. Über den Sinn dieses Zusatzes sprechen wir später noch einmal. (Manfred Schäfers: Der missbrauchte Artikel 115, in Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 15.2.2007. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.
Auch der Politik war wohl bewusst, dass Artikel 115 in dieser Form versagt hat, weswegen 2009 die Schuldenbremse erfunden wurde. Kernidee war, dem Drang der Politik nach mehr Schulden nachhaltig Fesseln anzulegen. Im Detail wurde folgendes vereinbart:
Der Haushalt soll ohne Einnahmen aus Krediten ausgeglichen werden. Der Bund darf sich nur noch in Höhe von 0,35 Prozent des Bruttoinlandsproduktes strukturell, also dauerhaft, verschulden.
Auch die Idee der Konjunkturpolitik wird berücksichtigt: Eine konjunkturbedingte Erhöhung der Kreditaufnahme im Abschwung muss im Aufschwung wieder ausgeglichen werden.
Aber auch hier gibt es eine Hintertür, nämlich eine Ausnahmeregelung für Naturkatastrophen oder andere außergewöhnliche Notsituationen. Diese Neuregelung soll für Bund und Länder ab dem Jahr 2011 gelten. Übergangsweise dürfen der Bund noch bis einschließlich 2015 und die Länder bis einschließlich 2019 von diesen Vorgaben abweichen. Da aber einige
17 Was macht der Staat?
Bundesländer finanziell zu schwach sind, um diese Vorgaben zu erfüllen, soll es „Konsolidierungshilfen“ für die ärmere Bundesländer Bremen, Berlin, Saarland, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein geben.
In der Diskussion Wo macht sich die Staatsverschuldung für Sie persönlich bemerkbar? Finden Sie, man soll sie reduzieren? Und wenn ja, wie?
353
Teil 2: Makroökonomie
354
Zusammenfassung 1. Der Staat greift in das wirtschaftliche Geschehen ein, indem er Steuern erhebt und die Steuereinnahmen anschließend wieder ausgibt. Grundsätzlich greift der Staat dort ein, wo der Markt versagt, so bei öffentlichen Gütern und externen Effekten (ökonomisches Marktversagen), aber vor allem auch bei sozialpolitischen Zielsetzungen (politisches Marktversagen). Weitere staatliche Aufgaben ergeben sich aus der Aufgabe der Wahrung einheitlicher Lebensverhältnisse und der Stabilisierung der Wirtschaft bei Konjunkturschwankungen. 2. Eine besondere Kategorie der Ausgaben sind Subventionen, Gelder, welche der Bund gezielt ausgibt, um private Unternehmen und Wirtschaftszweige zu fördern. Dies tut er entweder, um eine Wirtschaftsstruktur zu erhalten, zu gestalten oder aber an geänderte Lebensumstände anzupassen. 3. Auch Steuern beeinflussen den Gang der Wirtschaft. Ziele der Steuererhebung sind die Allokation (Korrektur der Marktergebnisse), die Distribution (eine Änderung der Vermögens- und Einkommensverhältnisse) und die Stabilisierung bei Konjunkturschwankungen. 4. Eine weitere Einnahmenkategorie des Staates sind Schulden. Grundsätzlich gibt es Argumente für Staatsverschuldung: die Finanzierung rentabler Investitionen (beispielsweise Infrastruktur), eine generationengerechte Nutzung von staatlichen Investitionsobjekten (pay-as-you-use) oder historische Sonderlasten. Auch aus konjunkturellen Gründen kann sich ein Staat verschulden.
Was ist Geld? Ein solch Papier, an Gold und Perlen statt, ist so bequem, man weiß doch was man hat, man braucht nicht erst zu markten noch zu tauschen, kann sich nach Lust in Lieb und Wein berauschen; Will man Metall, ein Wechsler ist bereit, und fehlt es da, so gräbt man eine Zeit. (Johann Wolfgang Goethe; Faust, der Tragödie zweiter Teil, erster Akt) Um was geht es? Nachdem wir einige Begriffe und Grundlagen der Makroökonomik geklärt haben, können wir uns langsam der makroökonomischen Theorie nähern – wie funktionieren Volkswirtschaften als Ganzes, und wie kann die Politik dafür sorgen, dass wir Wohlstand, Wachstum, hohe Beschäftigung und niedrige Inflationsraten bekommen? Und warum erreichen wir diese Ziele nicht automatisch? Niemand will weniger Wohlstand, mehr Inflation und mehr Arbeitslosigkeit – wie kann so etwas also passieren? Eine wichtige Rolle bei der Beantwortung dieser Frage spielt das Geld – also müssen wir uns damit auseinandersetzen. Dazu müssen wir zuerst ergründen, was Geld eigentlich ist und wie es entsteht; danach können wir erste Ideen darüber entwickeln, wie Geld wirkt. Zuvor allerdings müssen wir uns anschauen, wo und wie Geld und Kapital gehandelt werden – spätestens seit den Ereignissen des Jahres 2008 ist klar, dass keine makroökonomische Theorie mehr ohne einen Blick auf die Finanzmärkte auskommt. Was also sind Finanzmärkte? Warum benötigen wir Finanzmärkte? Finanzmärkte sind der Dreh- und Angelpunkt jeder modernen Volkswirtschaft; ohne sie ist eine moderne arbeitsteilige Wirtschaft kaum denkbar. Finanzmärkte sorgen dafür, dass Menschen, die Geld sparen wollen (Anleger), dieses Geld Menschen leihen können, die es benötigen, um zu investieren (Investoren); sie ermöglichen, dass das knappe Kapital dorthin gelenkt wird, wo es am dringendsten benötigt wird. Insofern unterscheiden sich Finanzmärkte nicht von allen anderen Märkten: Es gibt ein Angebot an Kapital (die Anbieter sind Menschen, die sparen wollen und für ihre Ersparnisse eine rentable Anlagemöglichkeit suchen) und eine Nachfrage (die Nachfrager sind Menschen bzw. Unternehmen etc., die Kapital benötigen, um damit zu investieren). Ohne Kapitalmärkte ginge das nicht, denn sie erfüllen folgende Funktionen:
Fristentransformation. Wer sich Geld leihen will, will dieses für einen bestimmten Zeitraum investieren, kann es also erst nach einer bestimmten Zeit zurück zahlen. Ohne Finanzmärkte und ohne Banken und andere Finanzmarktakteure müsste ein Investor einen Anleger suchen, der genau die Menge Geld verleihen will, die er sucht, und genau für den Zeitraum, für den er es benötigt. Finanzmärkte bringen die unterschiedlichen Laufzeitinteressen der Schuldner (Privatpersonen, Unternehmen, Staat) und der Gläubiger (Sparer) in Einklang.
18
Teil 2: Makroökonomie
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Risikotransformation. Nicht jeder Anleger möchte sein Geld einem riskanten Unternehmen zur Verfügung stellen. Finanzmärkte sorgen dafür, dass die unterschiedliche Risikobereitschaft der Schuldner (Privatpersonen, Unternehmen, Staat) und der Sparer in Einklang gebracht werden.
Losgrößentransformation. Nicht jeder Anleger hat genügend Geld, um Großprojekte zu finanzieren. Auf Kapitalmärkten werden kleine Summen gebündelt und in große Projekte eingebracht Es sind also erst die Kapitalmärkte, welche es Investoren ermöglichen, knappes Kapital für Investitionen einzuwerben – und da Investitionen, wie wir gesehen haben, das Wachstum einer Volkswirtschaft fördern, sind Kapitalmärkte grundsätzlich wachstumsfördernd. Und es sind Kapitalmärkte, die es Anlegern ermöglichen, ihre Ersparnisse so anzulegen, wie sie es möchten, zu einem möglichst hohen Ertrag. Dieser Ertrag, die Rendite, ist der Preis, der an den Kapitalmärkten Angebot und Nachfrage in Einklang bringt. Abbildung 74 verdeutlicht diese Idee noch einmal.
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K Abbildung 74: Gleichgewicht auf dem Kapitalmarkt
Das Angebot an Kapital hängt ab von der Rendite (Zinssatz) i für das Kapital: je mehr der Kapitalmarkt für die Überlassung der Ersparnisse bietet, umso mehr Menschen werden Sparen und diese Ersparnisse auf dem Kapitalmarkt anbieten – deswegen steigt die Angebotskurve mit steigender Rendite an. Die Nachfrage nach Kapital hingegen ist umso größer, je billiger Kapital ist – deswegen verläuft die Nachfragekurve von links oben nach rechts unten. Es ergibt sich wieder das aus dem ersten Teil des Buches bereits bekannte Gleichgewicht; die Rendite (der Zins) sorgt also für einen Ausgleich von Angebot und Nachfrage am Kapitalmarkt. Anhand der Überlegungen aus dem ersten Teil des Buches können Sie auch leicht erarbeiten, warum dieses Gleichgewicht wohlfahrtsfördernd ist: Würde bei einem Zins oberhalb des Gleichgewichtzinses mehr gespart (angeboten) als investiert (nachgefragt), so würde das bedeuten, dass die zusätzlichen Kosten des Konsumverzichts (das ist ja das zusätzliche Sparen) höher sind als der dadurch erwirtschaftbare zusätzliche Ertrag der Investition – das wäre nicht wohlfahrtsfördernd.
Arbeitsauftrag 35 Wie würde eine Welt ohne Kapitalmärkte aussehen, wie würde Ihr Alltag aussehen? Wie würden Sie dann für Ihr Alter vorsorgen, wie ein Haus bauen?
Diese Abbildung wird uns im Folgenden helfen, die Folgen staatlicher Fiskalpolitik zu verstehen. Ein Phänomen, das wir bereits kennen, können wir in dieser Grafik erklären: Wenn der Staat nun seine Verschuldung erhöht, dann steigt die Nachfrage nach Kapital; die Nachfragekurve verschiebt sich damit nach oben (das ist wieder die Änderung einer exogenen Variable).
18 Was ist Geld?
357
Daraufhin steigt das Angebot an Ersparnissen, weil der Zins steigt. Und dieser Anstieg des Zinses führt zu dem bereits diskutierten crowding-out: Der Staat erhöht seine Verschuldung, wodurch die Zinsen steigen, was wiederum zu einem Rückgang der privaten Investitionen führt. Jetzt wissen wir also, wozu wir Finanzmärkte benötigen – damit Sparer und Investoren zueinander finden können. Aber wie genau machen sie das? Ganz einfach, indem sie ihre Ersparnisse oder ihre Nachfrage danach auf Finanzmärkten artikulieren. Also: Was sind Finnazmärkte? Was sind Finanzmärkte? Finanzmärkte sind grundsätzlich Märkte wie alle anderen Märkte, nur dass auf ihnen nicht Brot oder Käse, sondern Geld und Kapital gehandelt werden. Was genau ist das, was auf Finanzmärkten gehandelt wird? Vereinfacht gesagt werden hier zwei Kategorien von Gütern gehandelt:
Unternehmensbeteiligungen (Eigenkapital). Wer ein Unternehmen gründen will, benötigt Geld. Eine Möglichkeit, dieses zu bekommen, besteht darin, Anlegern anzubieten, sich an diesem Unternehmen zu beteiligen: Diese geben dem Unternehmer etwas Geld, mit dem er das Unternehmen aufbauen kann, und werden im Gegenzug an den Gewinnen (und leider auch an den Verlusten) beteiligt. Wer sich an einem Unternehmen beteiligt, wird also Mitunternehmer; ob er sein Geld wiedersieht, hängt davon ab, wie erfolgreich das Unternehmen ist. Die wichtigste Form dieser Art von Beteiligungen sind Aktien.
Kredite (Fremdkapital). Die zweite Möglichkeit, an Geld zu kommen, besteht darin, sich dieses zu leihen. Jetzt sieht die Vereinbarung anders aus: Anleger leihen dem Unternehmen Geld, vereinbaren aber zugleich, dass dieses Geld zu einem vorher vereinbartem Zeitpunkt wieder zurück gezahlt wird; inklusive Zinsen als Preis für die Überlassung des Geldes. Man bekommt also das Geld auf jeden Fall zurück, und zwar genau den vorher vereinbarten Betrag; ob das Unternehmen Gewinne oder Verluste macht, ist dabei egal. (So egal dann auch wieder nicht: Geht das Unternehmen in die Insolvenz, kann auch die Kreditrückzahlung teilweise oder vollständig ausfallen. Das ist das sogenannte Kreditrisiko) Der Kreditgeber wird nicht am Erfolg (oder Verlust) des Unternehmens beteiligt. Die wichtigste Form dieser Art von Beteiligungen sind sogenannte Anleihen. Der Markt für Eigenkapital Die wichtigste Form, in der Eigenkapital an Finanzmärkten gehandelt wird, sind Aktien. Eine Aktie ist ein Wertpapier, welches den Anteil an einer Gesellschaft verbrieft. Man überlässt dem Unternehmen Geld und erhält im Gegenzug dafür eine Aktie, die bescheinigt, dass man einen Anteil an diesem Unternehmen hält. Zugleich berechtigt die Aktie zu einem Bezug einer Dividende (das ist der Anteil am Gewinn, den dieses Unternehmen macht) und zur Mitsprache bei bestimmten unternehmerischen Entscheidungen. Der Vorteil einer Aktie liegt in ihrer Handelbarkeit: Wenn man von dem Unternehmen, an dem man via Aktie beteiligt ist, nicht mehr überzeugt ist, kann man diese Aktie einfach am Aktien-
Bankentürme in Frankfurt am Main: Hier treffen sich Angebot und Nachfrage.
Teil 2: Makroökonomie
358
Aktienkurse, realisierte Gewinne und laufende Dividendenzahlungen Januar 1991 = 100, Monatsendstände, log. Maßstab 700 600 500 400 DAX 300
200
150
100 Dividendenzahlungen Abbildung 75: Aktienkurse (gemessen am Deutschen Aktienindex Dax), Gewinne pro Aktie und Dividendenzahlungen im Vergleich (Quelle: Unternehmensgewinne und Aktienkurse, in: Deutsche Bundesbank, Monatsbericht, Juli 2009; S. 16.; http://www.bundesbank.de/download/ volkswirtschaft/monatsberichte/2009/ 200907mb_bbk.pdf)
70 realisierter Gewinn pro Aktie in den vergangenen 12 Monaten 50
1991
95
00
05
2009
markt verkaufen und sich somit seiner Beteiligung entledigen. Eine Aktie hat also zwei Ertragsquellen: Die Dividende und die Kursgewinne, die entstehen, wenn man die Aktie zu einem höheren Preis (der an den Märkten ‚Kurs‘ genannt wird) verkauft, als man sie gekauft hat. Gehandelt werden solche Unternehmensbeteiligungen an verschiedenen Aktienmärkten (New York Stock Exchange, London Stock Exchange, Börse Frankfurt, Börse Paris), die durchschnittliche Wertentwicklung der an den jeweiligen Börsenplätzen gehandelten Aktien werden über Aktienmarktindizes gemessen (Dow Jones-Index; FTSE, Deutscher Aktienindex Dax, CAC-40). Diese Aktienindizes gelten – wie wir bereits gesehen haben – auch als Konjunkturindikatoren: steigen die Kurse, dann sind die Anleger offenbar optimistisch, dass die hinter diesen Aktien stehenden Unternehmen in Zukunft gute Geschäfte machen und deswegen höhere Dividenden zahlen werden (was auch den Kurs der Aktie weiter nach oben treiben sollte). Abbildung 75 zeigt Ihnen diesen Zusammenhang graphisch.
18 Was ist Geld?
In der Praxis: Unternehmenskäufe für den kleinen Mann Wer in Aktien investieren will, braucht eigentlich eine Menge Geld: Wenn eine Aktie eines Unternehmens beispielsweise zum Kurs von 100 Euro gehandelt wird, kann man nicht eben mal mit einer Sparrate von 50 Euro pro Monat groß auf Aktien-Einkaufstour gehen. Und selbst wenn man das tut, dann hat man einen Großteil seines Geldes in wenigen Unternehmen investiert – wenn es diesen Unternehmen schlecht geht, ist rasch das gesamte Ersparte weg. Das ist eine der Grundregeln an Finanzmärkten: Man sollte nie alle Eier (all sein Geld) in einen Korb legen (auf ein Unternehmen oder Investment setzen) – Diversifikation nennt sich die Strategie, sein Geld auf mehrere Investments zu verteilen, um das Risiko eines Totalausfalls zu reduzieren. Wie aber soll man das machen mit wenig Geld? Hier helfen so genannte Investmentfonds: Die Fondsgesellschaft sammelt das Geld vieler Anleger ein und investiert es für diese Anleger an den Aktienmärkten. Ein Investmentfonds ist also eine Art Topf, in den viele Anleger etwas Geld werfen, und mit diesen eingesammelten Geldern wird investiert. So kann man sich als Anleger an vielen Unternehmen weltweit beteiligen, auch wenn man nur wenig Geld investieren mag, und ist dennoch hinreichend diversifiziert, da der Fonds genug Geld hat, um in viele verschiedene Unternehmen zu investieren. An den Gewinnen der Investments wird man entsprechend seiner eingezahlten Gelder beteiligt; die Fondsgesellschaft, die die Gelder einsammelt und investiert, lässt sich allerdings für diese Dienste entlohnen. Die Fondsidee gibt es aber nicht nur für Aktien, sondern auch für alle anderen Formen des Investierens; sie sorgt dafür, dass auch der kleine Mann (oder die kleine Frau) mit wenig Geld weltweit in alle Arten von Investments investieren kann.
Arbeitsauftrag 36 Lesen Sie einen aktuellen Zeitungsbericht zum Handel an der Börse – was sagt er Ihnen über den aktuellen Zustand der Wirtschaft? Sollten Sie jetzt Aktien kaufen?
Der Markt für Fremdkapital. Am Markt für Fremdkapital, der auch Rentenmarkt genannt wird, werden Kredite gehandelt. Vereinfacht gesagt kann man sich das so vorstellen: Der Gläubiger G gibt dem Schuldner S einen bestimmten Geldbetrag (sagen wir 100 Euro) als Kredit; zugleich wird vereinbart, dass dieser Betrag zu einem festgesetzten Zeitpunkt (sagen wir in einem Jahr) wieder zurückgezahlt wird. Für die Überlassung dieses Geldes allerdings zahlt der Schuldner dem Gläubiger zusätzlich einen Zinssatz; beträgt dieser beispielsweise 10 Prozent, so bekommt G am Ende des Jahres 100 Euro (das ursprünglich ausgeliehene Geld) plus zehn Euro Zinsen, macht 110 Euro. Was aber, wenn der Gläubiger nicht bis zum Endes des Jah-
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360
Teil 2: Makroökonomie
res warten will? Dann kann er den Kredit vor Ende der Laufzeit an jemand anderen verkaufen, und zwar auf dem Anleihenmarkt (auch Rentenmarkt genannt). Eine Anleihe ist also ein verbriefter Kredit, ein Zettel, auf dem der Kredit und seine Konditionen (Rückzahlungszeitpunkt, Zinssatz etc.) stehen und den man an der Börse verkaufen kann. Auf diese Art kann sich der Gläubiger sein Geld zurückholen, wenn er es vorzeitig benötigt, ohne dass der Schuldner den Kredit vorzeitig zurück zahlen muss. Das sind also Anleihen: handelbar gemachte Kredite. Der Zins, den ein Gläubiger für eine Anleihe verlangt, hängt von vielen Faktoren ab, unter anderem:
Der Laufzeit der Anleihe. Je länger man sein Geld verleiht, umso höher sollte der Zins sein. Je länger man sein Geld verleiht, umso länger verzichtet man ja auf die Möglichkeit, damit selbst etwas zu tun. Zudem steigt bei langen Laufzeiten das Risiko, dass der Schuldner das Geld nicht zurück zahlen kann – ändern sich die Zeiten, kann sich auch das Risiko erhöhen, dass man sein Geld nicht mehr wiedersieht. Darüber hinaus steigt mit der Dauer, die man sein Geld verleiht, das Risiko, dass die Inflation das geliehene Geld entwertet – und für diese Risiken möchte man entschädigt werden.
Auch der Gläubiger selbst ist ein Risiko – je höher man das Risiko einschätzt, dass er das geliehene Geld nicht zurück zahlt, um so höher wird die Risikoprämie sein, die man verlangt, also der Zins. Die Fähigkeit eines Schuldners, Schulden zurück zahlen zu können, bezeichnet man auch als Bonität, und je besser die Bonität, umso geringer ist der Zins, den der Gläubiger verlangt. Dem deutschen Staat leiht man leichteren Herzens Geld als einem waghalsigen Internet-Unternehmen – was erklärt, warum der deutsche Staat geringere Zinsen zahlt als dieses Unternehmen. Die Bonität eines Schuldners beurteilen auch so genannte Rating-Agenturen.
Ebenfalls wichtig sind die Alternativen: Wenn andere Anlageformen – beispielsweise Aktien – mehr Ertrag bieten, werden die Anleger auf diese Anlageformen ausweichen (wegen der Opportunitätskosten). Wer dann noch einen Kredit aufnehmen will (eine Anleihe begeben will), muss dementsprechend höhere Zinsen bieten. Man unterscheidet am Anleihenmarkt weiterhin nach der Art der Schuldner:
Unternehmensanleihen werden von Unternehmen begeben; sie nehmen auf diese Weise Fremdkapital für ihren Geschäftsbetrieb auf. Finanzunternehmen wie Versicherungen oder Banken besorgen sich über Unternehmensanleihen ebenso Geld wie normale Industrieunternehmen.
Einer der größten Emittenten (so nennt man die Institutionen, die Anleihen auf den Markt werfen, oder begeben, wie man sagt), ist der Staat: Staaten verschulden sich über die Begebung von Staatsanleihen (Bundesanleihen, Gilts, Treasuries) an den Kapitalmärkten.
18 Was ist Geld?
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In der Praxis: Ratings und Risikoprämien Wie beurteilt man die Bonität eines Schuldners? Dazu muss man sich einen umfassenden Überblick verschaffen über seine Geschäfte, seine Bilanz, seine Gewinne, die anderen Schulden, seine Geschäftspläne, die Konkurrenz auf seinem Markt und noch vieles mehr. Natürlich kann niemand bei jeder Anleihe, die er kauft, diese Herkulesaufgabe stemmen – deswegen bieten Rating-Agenturen diese Dienstleistung an. Sie bewerten die Bonität eines Schuldners (respektive eines Emittenten am Anleihemarkt) im Rahmen einer umfassenden Analyse und vergeben dann Bonitätsnoten, die in der Regel mit Buchstaben bezeichnet werden. Ein „AAA“ (sprich: „triple A“) beispielsweise steht für einen Schuldner mit hervorragender Bonität; „CCC“ steht für einen Schuldner mit eher zweifelhafter Bonität. In der Praxis kommt dem Urteil der Rating-Agenturen eine hohe Bedeutung zu, da viele Teilnehmer am Anleihenmarkt ihre Gelder nur an Emittenten mit guter Bonität vergeben – senken die Agenturen ihr Ratings für einen Emittenten, so muss er potentiellen Geldgebern höhere Zinsen für das vermutete höhere Risiko zahlen. Ein so genanntes Downgrading, also eine Verschlechterung des Ratings, kann für ein Unternehmen rasch teuer werden; aber auch für einen Staat, denn auch Staaten werden geratet. Die größten Rating-Agenturen sind Standard & Poor‘s, (http://www.standardandpoors.com/home/ en/us) Moody‘s (http://www.moodys.com/cust/default.asp) und Fitch Ratings (http://www.fitchratings.com/index_fitchratings.cfm).
Im Unterschied zum Kapitalmarkt, an dem Unternehmen, Banken, Staaten, private Haushalte etc. Finanzierungsgeschäfte betreiben, handeln am Geldmarkt die Geschäftsbanken untereinander sowie die Geschäftsbanken mit der Notenbank. Sie handeln dort ebenfalls Kredite, allerdings solche mit recht kurzen Laufzeiten – also ein Tag bis zu zwei oder drei Jahre. In diesem sogenannten Interbankenhandel wird vornehmlich mit Tagesgeld (ein Kredit mit einer Laufzeit von einem Tag), Monatsgeld und Dreimonatsgeld (Laufzeit ein oder drei Monate) mit vereinbarter Laufzeit (Festgeld) oder mit vereinbarter Kündigungsfrist und unbestimmter Laufzeit (Kündigungsgeld) gehandelt. Dazu kommen noch so genannte Geldmarktpapiere (Schatzwechsel und unverzinsliche Schatzanweisungen). Zum Geldmarkt zählt man auch die Geschäfte (Refinanzierung) zwischen der Zentralbank und den Geschäftsbanken. Die Zinsen am Geldmarkt, die Geldmarktsätze, werden wesentlich von den Zinsen bestimmt, zu denen die Zentralbank den Kreditinstituten Geld (man sagt dazu Liquidität) bereitstellt. Wie wir sehen werden, legt die Zentralbank mit ihrer Zinspolitik die Grenzen fest, innerhalb derer sich die Zinsen für Tagesgeld bewegen. Bei den Anleihen werden in der Regel von Unternehmen höhere Zinsen verlangt als von Staaten, weil man davon ausgeht, dass Unternehmen eher pleitegehen als Staaten – die Bonität eines Staates
Logos der großen Rating-Agenturen
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wird also in der Regel höher beurteilt als die eines Unternehmens. Der Abstand zwischen den Zinsen, die man für Unternehmensanleihen bekommt und denen, welche die Staaten zahlen, wird auch Spread genannt, der in der Regel (bei industrialisierten Ländern) positiv ist. Ein letzter Zusammenhang ist am Rentenmarkt sehr wichtig, und zwar der Zusammenhang zwischen dem Kurs einer Anleihe und ihrer effektiven Verzinsung. Ein einfaches Beispiel: Unser Gläubiger hat 100 Euro Kredit vergeben und bekommt dafür einen Zins von zehn Prozent auf 100 Euro, also zehn Euro. Nun will er sein Geld doch vorzeitig zurückhaben (was der Schuldner aber nicht machen will, beispielsweise weil er das Geld gerade in eine Maschine investiert hat), also bietet er den Kredit respektive die Anleihe auf dem Anleihemarkt (Rentenmarkt) an. Dort findet sich auch jemand, der diese Anleihe kaufen will, allerdings will er dafür nicht 100 Euro zahlen (der so genannte Nennwert der Anleihe), sondern nur 80 Euro (das ist der Kurswert der Anleihe). Braucht der Gläubiger nun aber sein Geld ganz dringend, so wird er auf dieses – für ihn nicht so vorteilhafte Geschäft – eingehen. Für den Käufer der Anleihe ist das eine lukrative Angelegenheit: Er hat für 80 Euro eine Anleihe erworben, bekommt aber vom Schuldner der Anleihe dafür zehn Euro an Zinsen – das macht bezogen auf 80 Euro einen Zinssatz von 12,5 Prozent (12,5 Prozent von 80 Euro ergibt 10 Euro). Das ist ein ganz wichtiger Zusammenhang auf Rentenmärkten: Sinkt der Kurs einer Anleihe, so steigt ihre effektive Verzinsung. Der Grund dafür ist der nominale Zinssatz, der auf der Anleihe steht (also die zehn Prozent): Die Zinszahlungen werden bezogen auf den Nennwert der Anleihe (den tatsächlichen Kreditbetrag) ausgerechnet; wenn man aber die Anleihe zu einem Kurs kauft, der unter dem Nennwert liegt, so bekommt man die gleiche Zinszahlung, hat dafür aber weniger Euro eingesetzt. Der ursprüngliche Gläubiger hat 100 Euro hergegeben, um dafür zehn Euro, also zehn Prozent zu erhalten. Der Käufer der Anleihe hat aber nur 80 Euro eingesetzt, bekommt dafür auch 10 Euro; er erhält also eine Verzinsung von 12,5 Prozent auf sein eingesetztes Kapital. Wenn Sie in der Zeitung den Börsenbericht lesen, werden Sie dort oft die Formulierung finden, dass die Kurse der Anleihen (der Preis unserer Kredite) gesunken (gestiegen) sind, während die Renditen gestiegen (gesunken) sind.
In der Praxis: Der kleine Mann als Gläubiger des Staates „Ich schätze die einfachen Dinge im Leben. Essen, schlafen, Geld verdienen“, wirbt eine Schildkröte Namens „Günther Schild“ für Wertpapiere des Bundes. Wer Günther folgen und dem deutschen Staat Geld leihen will, geht im Internet auf www.bundeswertpapiere.de – dort kann man auch als Privatperson dem Staat Geld leihen, indem man Tagesanleihen, Bundesschatzbriefe, Finanzierungsschätze, Bundesobligationen und Bundesanleihen bei der Bundesrepublik Deutschland – Finanzagentur GmbH (Finanzagentur) erwirbt
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(deren Maskottchen Günther ist). Die Finanzagentur ist der zentrale Dienstleister für die Kreditaufnahme und das Schuldenmanagement des Bundes. Zusätzlich ist die Agentur für das Privatkundengeschäft und die Führung des Bundesschuldbuchs zuständig. Der Vertrieb und die Verwahrung von Daueremissionen (Bundesschatzbriefe und Finanzierungsschätze) sind die Hauptaufgabe des Privatkundengeschäfts. Wer also dem Staat Geld leihen will, überweist der Agentur das Geld für den Wertpapierkauf, diese führt den Kauf für den Kunden aus und überträgt die Wertpapiere auf das so genannte Schuldbuchkonto. Der Vorteil für den Kunden: Die Verwaltung dieses Kontos ist kostenlos.
Arbeitsauftrag 37 Lesen Sie einen aktuellen Zeitungsbericht zum Handel am Anleihenmarkt – was sagt er Ihnen über den aktuellen Zustand der Wirtschaft? Sollten Sie jetzt Anleihen kaufen?
Der Markt für Derivate. Der wohl komplexeste Markt für Wertpapiere ist der Markt für Derivate. Unter einem Derivat versteht man ein Wertpapier, das seinen Wert aus dem Wert eines anderen Wertpapiers oder Investments (Basiswert) ableitet. Derivate werden vor allem an Terminmärkten gehandelt – das bedeutet, dass ein Geschäft, das man am Terminmarkt vereinbart, nicht sofort (also Kassa) abgewickelt wird, sondern erst später. Bei Termingeschäften gibt es grundsätzlich zwei Formen:
Kauf per Termin. Man vereinbart heute, eine feste Menge des Basiswertes zu einem bereits festgelegten Preis später zu kaufen. Steigt der Kurs des Basiswertes über den vereinbarten Kaufpreis, so macht man einen Gewinn. Mit dieser Strategie kann sich beispielsweise ein Unternehmen, das Rohstoffe benötigt, gegen steigende Rohstoffpreise absichern – man legt heute bereits den Preis fest, zu dem man später seine Rohstoffe einkauft. Fluggesellschaften beispielsweise nutzen diese Strategie, um sich gegen steigende Kerosinpreise abzusichern.
Verkauf per Termin. Man vereinbart heute, zu einem festgelegten Preis eine bestimmte Menge des Basiswertes später zu verkaufen. Fällt der Preis des Basiswertes unter den vereinbarten Preis, macht man als Verkäufer einen Gewinn, steigt der Preis aber über diesen vereinbarten Preis, wird es für den Verkäufer teuer. Exporteure nutzen diese Strategie beispielsweise, wenn sie wissen, dass sie in ein paar Monaten eine Zahlung eines Kunden in ausländischer Währung bekommen, aber befürchten, dass der Wert dieser ausländischen Währung bis dahin sinkt. Also verkaufen sie schon heute den Währungsbetrag, von dem sie wissen, dass sie ihn in ein paar Monaten bekommen.
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Günther Schild von www.bundeswertpapiere.de
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Die Zahl und Form der an den Kapitalmärkten gehandelten Derivate ist unerschöpflich. Gehandelt werden sie auf alle möglichen Produkte – Aktien, Anleihen, Rohstoffe, Währungen. Auch in der Ausgestaltung gibt es viele Unterschiede, nicht nur bezüglich der Laufzeiten und der vereinbarten Preise, zu denen das jeweilige Geschäft später abgewickelt wird. Unter anderen unterscheidet man:
Optionen geben ihrem Käufer das Recht, einen Basiswert zu einem vorher bestimmten Zeitpunkt zu kaufen (verkaufen). Dabei muss der Käufer der Option das Recht nicht ausüben; der Verkäufer allerdings muss das Geschäft auf Verlangen des Käufers tätigen. Dabei kann man diese Rechte entweder nur am Ende der Laufzeit (Europäische Option) oder während der gesamten Kontraktlaufzeit (Amerikanische Option) ausüben. Optionsscheine sind verbriefte Optionen, die an den Börsen gehandelt werden.
Forwards stellen eine Verpflichtung dar, zu einem bestimmten Zeitpunkt einen Basiswert zu einem fixierten Kurs zu kaufen oder verkaufen, man muss also im Unterschied zu Optionen das abgeschlossene Geschäft tätigen; bei Forwards müssen also beide Seiten dieses Geschäft abwickeln.
Futures sind Forwards, die standardisiert sind und damit einfacher an der Börse zu handeln sind,
Swaps sind Kontrakte, bei denen man vereinbart, Zahlungen auszutauschen, denen ein bestimmter Basiswert zugrunde liegt. Man tauscht dabei lediglich die Zahlungsverpflichtungen aus, die sich aus dem Basiswert ergeben, der Basiswert wechselt nicht den Besitzer. Ein Beispiel: zwei Parteien vereinbaren, auf einen Betrag von sagen wir einer Million Euro Zinsverpflichtungen zu tauschen: Partei A zahlt Partei B einen festen Zinssatz auf diese Million, im Gegenzug zahlt Partei B Partei A einen variablen Zins (der durch den Kapitalmarkt bestimmt wird) auf den gleichen Betrag. Mit solchen Geschäften haben sich zuletzt einige deutsche Kommunen kräftig in die Finanznesseln gesetzt.
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Grundsätzlich eignen sich Derivate für drei Strategien: Man kann sich damit absichern (wie die Fluggesellschaften oder die Exporteure), man kann damit Preisunterschiede zwischen verschiedenen Märkten ausnutzen (Arbitrage) oder aber auf steigende respektive sinkende Preise wetten (Spekulation). Derivate können also als eine Art Versicherung dienen – der Bauer, der seine nächste Ernte heute schon verkauft, um sich vor dem Preisverfall zu sichern, nutzt ebenso Derivate wie ein Unternehmen, das heute schon für Morgen Rohstoffe einkauft, um sich vor Preissteigerungen zu schützen. Aber Derivate ermöglichen es auch, auf solche Entwicklungen mit wenig Geld zu spekulieren – mit unangenehmen Konsequenzen, wenn das danebengeht. Aber deswegen darf man Derivate nicht grundsätzlich ablehnen – es sind eher die Menschen, die sie verwenden, die für die unangenehmen Konsequenzen zuständig sind. Nachdem wir nun wissen, was auf Finanzmärkten gehandelt wird, kommen wir zu einer verblüffend schwierigen Frage: Was ist eigentlich Geld?
In der Praxis: Wie entstehen Finanzkrisen? Spätestens seit Anfang des siebtzehnten Jahrhunderts gibt es Finanzkrisen – damals wurde in Holland wild auf Tulpenzwiebeln spekuliert, inklusive des anschließenden Finanzrauschkaters. Seitdem gab es immer wieder periodische Ausbrüche des Wahnsinns, wie es der Ökonom John Kenneth Galbraith einmal formuliert hat. Ein allgemeines Drehbuch für solche Krisen gibt es nicht, aber ein paar Gemeinsamkeiten. Am Anfang einer solchen Krise steht in der Regel eine zu lockere Geld- oder Kreditpolitik, die Summe der umlaufenden Zahlungsmittel ist, verglichen mit dem zur Verfügung stehenden Güterberg, zu hoch. Gekoppelt ist das mit einem so genannten positiven Schock: Neue Erfindungen (Bahn, Radio, Internet, Immobilienderivate), politische Ereignisse wie ein Kriegsende, Regierungswechsel, eine Deregulierung der Wirtschaft sorgen dann für mehr Optimismus und Investitionen. Als Folge der steigenden Investitionen, der guten Stimmung und des lockeren Geldmantels kaufen die Menschen Aktien, Häuser, Tulpen oder was auch immer. Daraufhin steigen die Preise für diese Vermögenswerte, was die zweite Stufe der Krise zündet: die steigenden Vermögenspreise machen die Menschen reicher, dieser Reichtum steckt weitere Menschen an, ebenfalls in diese Objekte zu investieren. Dadurch steigen die Preise weiter, was man als Bestätigung auffasst, weiter zu kaufen, wodurch die Preise weiter steigen. Irgendwann ist aber klar, dass die Preise nicht in den Himmel wachsen können – dann kommt es zu einem negativen Schock (das können auch externe Ereignisse wie terroristische Attentate, ein Regierungswechsel oder Naturkatastrophen sein), oft kürzt die Notenbank dann die Geldversorgung, dann bricht die Blase in sich zusammen. Und am Ende stehen jede Menge Vermögenswerte, die man für teures Geld gekauft hat und die schlimmstenfalls nur noch Papierwert haben. Bulle und Bär vor der Frankfurter Börse
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Was ist Geld? Im Alltag ist Geld all das, was wir aus der Tasche holen, um zu bezahlen – Bargeld, Kreditkarte, EC-Karte. Für die Praxis stimmt das, aber das muss nicht alles sein: Aus Kriegsgefangenenlagern beispielsweise weiß man, dass dort Zigaretten als Währung fungierten; und diese wurden sogar von Nichtrauchern als Zahlungsmittel akzeptiert. Also was ist Geld? Geld ist alles, was folgende Funktionen erfüllen kann:
Tauschmittel. Um es direkt zu sagen: Ohne Geld gibt es keine arbeitsteilige Wirtschaft. Wer ein Rind in Kartoffeln umtauschen will, muss ohne Geld einen Tauschpartner finden, der Kartoffeln hat und diese gegen ein Rind tauschen will. Hat der potentielle Tauschpartner nur Speere zu bieten, so muss man jemanden finden, der Speere gegen Kartoffeln tauschen will. Ohne Geld gibt es nur eine Tauschwirtschaft, bei der man Güter gegen Güter tauscht. Versuchen Sie das einmal – in einer arbeitsteiligen Wirtschaft mit Millionen von Gütern ist das aufwendig und unmöglich. Erst Geld hat Arbeitsteilung möglich gemacht (oder um es mit dem eingangs stehenden Goethe-Zitat zu sagen: man braucht nicht erst zu markten noch zu tauschen) und ist damit als Erfindung ebenso wichtig wie es wohl das Rad war. Erst Geld macht Arbeitsteilung – und damit Wohlstand – möglich.
Recheneinheit. Geld dient dazu, relative Preise zwischen einzelnen Gütern auszurechnen. Wenn ein Rind drei Sack Kartoffeln kostet, und ein Speer einen Sack Kartoffeln – wie viel Speere kostet dann ein Rind? Was bei drei Gütern noch eine einfache Rechenaufgabe ist, ist bei einer arbeitsteiligen Wirtschaft mit Millionen Gütern unmöglich – hier hilft Geld. Jedes Gut wird in seinem Geldpreis angegeben, was die Umrechnung und den Vergleich einzelner Preise erleichtert.
Wertaufbewahrung. Geld dient der Aufbewahrung von Werten. Das ist ein unglaublicher Fortschritt für die Menschheit gewesen: Ohne Geld könnte man nicht für das Alter vorsorgen oder für Zeiten, in denen man nicht arbeiten kann. Erst Geld macht es möglich, sozusagen auf Vorrat zu arbeiten, und den Ertrag dieser Arbeit zu speichern und später abzurufen. Hier zeigt sich auch wieder, wie gefährlich Inflation ist: Sie zerstört die Wertaufbewahrungsfunktion des Geldes. Mit diesem Kriterienkatalog können Sie nun ihre Umwelt und die Geschichte durchgehen und herausfinden, was alles als Geld fungiert: Neben den Zigaretten können das alle leicht transportierbaren Güter sein, die einen Wert darstellen, nicht leicht herzustellen sind, und allgemein als Zahlungsmittel akzeptiert werden. Das können auch die Sammelbildchen im Pausenhof sein. Man unterscheidet deswegen auch in der Praxis zwischen Warengeld (Zigaretten, Muscheln, Steine, Edelmetalle, knappe Güter) und so genanntem Papiergeld, Geld, dessen Wert sich durch einen aufgedruckten Betrag bestimmt. Da Warengeld in der Handhabung oft recht unpraktisch ist (Zigaretten zerbröseln, Edelmetalle sind schwer), hat sich in den modernen Volkswirtschaften zunehmend das Papiergeld durchgesetzt.
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Papiergeld hat eine interessante Eigenschaft: Geldscheine sind umlauffähig gemachte Schulden. Stellen Sie sich vor, Ihr Freund tut Ihnen einen Gefallen und wäscht Ihr Auto. Leider können Sie ihn nicht unmittelbar dafür entlohnen, weil Sie gerade knapp bei Kasse sind. Also stellen Sie ihm einen Schuldschein aus, dessen Wert dem Wert einer Wagenwäsche entspricht. Wenn Ihr Freund nun den Schuldschein nicht selbst bei Ihnen einlösen will (beispielsweise weil er keinen Wagen hat), so kann er diesen Schuldschein bei einem anderen Freund eintauschen (beispielsweise gegen ein Bier), dann kann dieser Freund die Schuld bei Ihnen einlösen. Sobald Ihr Schuldschein allgemein als Zahlungsmittel akzeptiert wird, ist er Geld – und letztlich steht hinter diesem Geld eine reale Schuld, ein realer Wert. Und solange jeder glaubt, dass der Besitzer dieses Schuldscheins auch diesen Wert erhält, funktioniert das – Ihr Schuldschein ist zu Geld geworden. Hinter jedem Geldschein steht also das Versprechen, dass man den auf ihm aufgedruckten Wert auch in Form realer Güter erhält. Abgrenzen muss man vom Geld den Kredit (die zeitweise Überlassung von Kaufkraft durch einen Gläubiger an einen Schuldner; bei der Rückzahlung und Zinsen vereinbart werden) und die Liquidität (die Fähigkeit mit einem Gut, Verbindlichkeiten zurückzahlen zu können). Und die Idee der Liquidität hilft uns auch weiter bei einer etwas moderneren Definition von Geld. Der Punkt ist doch folgender: Warengeld ist mehr oder weniger von Papiergeld abgelöst worden, doch was genau ist denn Papiergeld? Nur die bedruckten Scheine, die von der Notenbank ausgegeben werden? Das wäre wohl zu eng, denn Sie können ja auch mit einer EC-Karte zahlen, und das sind keine bedruckten Scheine, sondern Nullen und Einsen auf Ihrem Konto. Und nicht nur das: Letztlich sind doch alle Einlagen, die Sie bei der Bank haben, irgendwie Geld, selbst das Sparkonto mit Kündigungsfrist: Wenn das Sparkonto eine Kündigungsfrist hat, dann können Sie zwar nicht direkt damit bezahlen, aber wenn Sie das Konto kündigen und in sagen wir drei Monaten dann das Ersparte ausgezahlt bekommen, dann ist es Geld. Also sind Beträge mit einer bestimmten Laufzeit, die bei der Bank schlummern, Geld – wenn auch sozusagen mit verzögerter Geldeigenschaft, nämlich der Kündigungsfrist. Diese Idee ist die Grundlage für eine in der Praxis sehr gebräuchliche Abgrenzung verschiedener Arten von Geld, genauer gesagt verschiedener Geldmengenaggregate:
Als Geldmenge M1 bezeichnet man das umlaufende Bargeld (ohne die Kassenbestände der Geschäftsbanken) plus täglich fällige Einlagen bei den Geschäftsbanken (also beispielsweise Ihr Girokonto). Das ist das Geld mit der höchsten Liquidität, das unmittelbar zur Bezahlung verwendet werden kann.
Die Geldmenge M2 beinhaltet die Geldmenge M1 plus Einlagen mit einer vereinbarten Laufzeit von bis zu zwei Jahren sowie Einlagen mit einer vereinbarten Kündigungsfrist bis zu drei Monaten. Das ist also eine weitere Definition als M1, da hier jetzt auch Vermögensgegenstände als Geld zählen, die erst in späterer Zeit (drei Monate bis zwei Jahre) ihre Wirkung als Geld entfalten können.
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Die Geldmenge M3 schließlich beinhaltet M2 und zusätzlich so genannte Repo-Geschäfte (das sind befristete Transaktionen auf Grundlage einer Rückkaufvereinbarung; man verkauft Wertpapiere und vereinbart zugleich wieder den späteren Rückkauf), Geldmarktfondsanteile und Geldmarktpapiere (was das ist schauen wir uns später noch an,) sowie Schuldverschreibungen mit einer Ursprungslaufzeit von bis zu zwei Jahren. Diese weit gefasste Abgrenzung von Geld hat die Europäische Zentralbank zu einer zentralen Steuergröße ihrer Politik gemacht. Während also M1 auf die unmittelbare Zahlungsfunktion des Geldes abstellt – Bargeld und Sichteinlagen können sofort als Zahlungsmittel eingesetzt werden –, zielt man bei der Betrachtung von M2 und M3 eher auf die Wertaufbewahrungsfunktion des Geldes.
Arbeitsauftrag 38 Überlegen Sie, mit welchen Zahlungsmitteln Sie schon bezahlt haben. Warum hat das funktioniert (oder auch nicht)?
Aber welches ist nun die „richtige“ Definition von Geld? Wie so oft gibt es hier keine richtige Antwort. Die Grundidee dieser Geldmengendefinitionen ist folgende: Klar ist, dass der Umfang des umlaufenden Geldes einen Einfluss auf die Wirtschaft eines Landes hat – gibt es zu viel Geld, droht Inflation, gibt es zu wenig Geld, lassen sich viele Transaktionen nicht finanzieren, was den Handel, damit die Arbeitsteilung und damit das Wachstum behindern würde. Also wird eine wesentliche Aufgabe der Geldpolitik, welche der Notenbank eines Landes obliegt, sein, dafür zu sorgen, dass die „richtige“ Geldmenge im Umlauf ist (Ökonomen sprechen auch manchmal
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davon, dass der Geldmantel einer Volkswirtschaft richtig bemessen sein muss, also passen muss). Einmal abgesehen davon, dass die Frage nach der „richtigen“ Geldmenge jeden Notenbanker zur Verzweiflung bringt, muss man zuvor eigentlich die Frage klären, welche Geldmenge denn einen Einfluss auf die Wirtschaft des Landes hat. Und die Idee der obigen Geldmengendefinitionen besteht nun darin, dass der Übergang von Ersparnissen, die auf der Bank liegen und nicht als Geld dienen, zu Geld fließend ist. Und wenn man wissen will, wie viel Geld derzeit im Umlauf ist (und damit potentiell die Wirtschaft beeinflusst), dann schaut man sich eben die Geldmenge in verschiedenen Abgrenzungen und unterschiedlicher Liquidität an, also M1, M2 oder M3.
In der Praxis: Die Europäische Zentralbank und M3 Die Europäische Zentralbank (EZB) stellt im Rahmen ihrer geldpolitischen Strategie auf die Wachstumsrate der Geldmenge M3 ab, die auf mittlere Sicht als mit dem Ziel der Preisniveaustabilität vereinbar gilt. Dieser Referenzwert stellt laut EZB eine „natürliche“ Bezugsgröße für die Analyse des Informationsgehalts der monetären Entwicklung im Euro-Währungsgebiet dar. Im Rahmen dieser so genannten monetären Analyse werden auch die Komponenten von M3 (wie der Bargeldumlauf, Termineinlagen o.ä.) untersucht. Auch enger gefasste Aggregate wie M1 liefern der EZB Hinweise auf die realwirtschaftliche Entwicklung. Ein wichtiger Vorteil von M3 gegenüber den anderen Geldmengen besteht darin, dass es auf Umschichtungen weniger stark reagiert: Wenn ein Bankkunde beispielsweise sein Geld vom Girokonto auf das Sparbuch umschichtet, dann sinken M1 und M2, M3 bleibt aber unverändert (warum?).
Wie entsteht Geld? Nachdem wir nun eine Vorstellung davon haben, was Geld ist, wollen wir eine zweite Frage beantworten: Wie entsteht Geld? Die Antwort auf diese Frage wird uns helfen zu verstehen, wie Geldpolitik wirkt. Zu diesem Zweck begeben wir uns weit zurück in die Vergangenheit, als es noch kein Papiergeld gab. Damals gaben die Kunden der Goldschmiede ihr Gold an diese, damit sie entweder Schmuck daraus machten oder es verwahrten. Und als Beleg dafür, dass der Kunde auch sein Gold beim Schmied abgegeben hat, erhielt er von ihm einen Schuldschein, eine Quittung über die beim Schmied abgegebene Menge Gold – nehmen wir im folgenden Beispiel einmal an, dass es sich um Gold im Wert von 1000 Euro handelte. In Abbildung 76 haben wir diesen Sachverhalt in zwei Bilanzen gegossen. Der Goldschmied verbucht auf der linken Seite seiner Bilanz (hier tragen wir die Guthaben ein) das Gold des Kunden als Zugang; auf der rechten Seite hingegen schreiben wir seine Verpflichtungen auf, und da steht die Quittung als Verpflichtung, das sind seine Schulden gegenüber dem Kunden.
Die Europäische Zentralbank in Frankfurt am Main
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Beim Kunden sieht das wir folgt aus: Auf der linken Seite seiner Bilanz (dort, wo seine Guthaben stehen) steht der Verlust von Gold in Höhe von 1000 Euro; dafür bekommt er aber einen Zuwachs an Vermögen, nämlich die Quittung, der einen Wert von 1000 Euro hat. Per Saldo ist das also beim Kunden ein Tausch von Gold gegen Schuldschein, beim Goldschmied von Schuldschein gegen Gold. Goldschmiede Gold +1000 Abbildung 76: Die Entstehung von Geld
Schuldschein +1000
Kunde 1 Schuldschein +1000 Gold –1000
Damit haben wir Papiergeld geschaffen: Da jede Quittung, die der Kunde für sein deponiertes Gold erhält, durch einen entsprechenden Goldposten gedeckt ist, kann der Kunde nun statt mit seinem Gold mit der Quittung zahlen – damit wird die Quittung zum Papiergeld, einer zu 100 Prozent gedeckten Goldwährung (es gibt nur so viel Geld wie es Goldvorräte gibt). Es muss also nicht der Kunde selbst sein, der das Gold später beim Goldschmied zurück holt – er zahlt etwas anderes mit der Quittung, und der Verkäufer, der die Quittung als Gegenleistung erhält, kann diese beim Goldschmied einlösen. Der Vorteil einer solchen vollkommen goldgedeckten Währung liegt auf der Hand: Man kann nur so viel Geld schaffen, wie es Gold gibt, damit ist die Inflationsgefahr geringer als bei reinen Papierwährungen, die wir später kennen lernen werden. Doch nun kommt der Goldschmied auf eine aberwitzige Idee: Er hat nämlich nicht nur einen, sondern viele Kunden, und beobachtet, dass die Kunden nicht alle auf einmal kommen, um ihr Gold wieder abzuholen. Er kann also sicher sein, dass er immer mehr Gold im Keller hat, als er benötigt, um die Abhebungswünsche seiner Kunden zu befriedigen (da auf dem Gold kein Name steht, ist es den Kunden egal, welches Gold sie bekommen). Und selbst wenn ein paar Kunden ihr Gold abgeholt haben, kommen immer wieder neue Kunden, die Gold einlegen – der Keller des Goldschmieds wird stets mit Gold gefüllt sein. Und der Goldschmied hat aufgepasst: Im Schnitt, so hat er beobachtet, reicht es aus, wenn er die Hälfte des Goldes, das er seinen Kunden schuldet, im Keller hat – mehr Abhebungen auf einmal kommen seiner Erfahrung nach nicht vor. Also kommt er auf eine einfache Idee: Er verleiht die Hälfte des Goldes, das in seinem Keller liegt, gegen Zinsen weiter an andere Kunden; an Kunde Nummer zwei. In Abbildung 77 ist dieser Vorgang bilanziert.
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Goldschmiede Gold +1000 Gold –500
Schuldschein +1000
Kunde 2 Gold 500
Verbindlichkeiten gegen Goldschmiede 500
Forderung gegen Kunde 2 500
Also: Auf der linken Seite der Bilanz verliert der Goldschmied 500 Euro in Gold (das Gold, das er Kunde Nummer zwei in die Hand drückt) und erhält dafür im Gegenzug einen Schuldschein des Kunden Nummer zwei, an den er das Gold verleiht – unter dem Strich hat sich das Vermögen des Goldschmieds nicht verändert (lassen Sie uns einmal die Zinszahlungen ignorieren). Der Kunde, dem der Goldschmied das Geld leiht, verbucht auf der linken Seite seiner Bilanz den Zugang von Gold im Wert von 500 Euro; auf der rechten Seite allerdings stehen neue Verbindlichkeiten in Höhe von 500 – das ist das Geld, das er dem Goldschmied nun schuldet. Auf den ersten Blick ist eigentlich nichts passiert, das Gesamtvermögen des Goldschmieds und des Kunden Nummer zwei haben sich nicht verändert. Und doch ist etwas Bemerkenswertes passiert: Die im Umlauf befindliche Menge an Zahlungsmitteln hat sich erhöht. Rechnen wir einmal nach: Im ersten Fall von Abbildung 76 hat sich die Menge der umlaufenden Zahlungsmitteln nicht geändert. Kunde Nummer eins hatte vorher Gold im Wert von 1000 Euro, mit dem er einkaufen konnte; nachdem er das Geld beim Goldschmied deponiert hat, hat er eine Quittung in Höhe von 1000 Euro, mit der er bezahlen kann – der Umlauf an Zahlungsmitteln hat sich nicht geändert, da das Gold ja im Keller des Goldschmied lag und nicht unter die Leute gebracht wurde. Im Fall von Abbildung 77 ist das anders: Immer noch hat Kunde Nummer eins die Quittung in Höhe von 1000 Euro, mit der er zahlen kann, doch nun hat Kunde Nummer zwei Gold im Wert von 500 Euro, mit dem er zahlen kann. Damit hat sich die Menge der umlaufenden Zahlungsmittel auf 1500 Euro (1000 Euro Quittung plus 500 Euro Gold) erhöht. Der Goldschmied hat Geld geschaffen. Aber Vorsicht: Das ist nur Liquidität, also zusätzliche Zahlungsmittel, kein zusätzliches Vermögen, das der Goldschmied hier schafft – die Menge an Gold bleibt ja unverändert. Allerdings ist die so geschaffene Währung nun keine zu 100 Prozent goldgedeckte Währung mehr, sondern nur noch teilweise durch Gold gedeckt (in unserem Beispiel zu 66 Prozent). Und je geringer die Sicherheitsreserve ist, die der Goldschmied hält, umso größer ist die zusätzliche Geldmenge, die er schafft, umso geringer ist der Grad der Golddeckung (umso höher ist aber die Menge zusätzlichen Geldes, die er schafft). Allerdings geht der Goldschmied dabei ein Risiko ein: Wollen auf einmal zu
Abbildung 77: Geldschöpfung
Teil 2: Makroökonomie
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viele Kunden ihr Gold zurück, stellen sie fest, dass es nicht in seinem Keller schlummert, sondern anderweitig verliehen ist – und wenn er dieses Gold nicht zeitig genug eintreiben kann, damit er es den rechtmäßigen Eigentümern zurückgeben kann (oder es vielleicht gar nicht mehr zurück bekommt, weil er es jemandem geliehen hat, der es nicht zurück zahlt), ist der Goldschmied in Schwierigkeiten. Und so abwegig Ihnen das jetzt erscheinen mag – aber genau so funktionieren Banken. Und genau das ist das Problem eines so genannten Bank-Runs.
Bart Simpson ist an allem schuld © picture-alliance/ The Advertising Archives
Im Fernsehen: Bart Simpson und der Bank-Run In einer Folge der amerikanischen Zeichentrickserie „Die Simpsons“ geht der zehn Jahre alte Bart Simpson in eine Bank und flüstert hinter dem Rücken der Kunden Sätze wie: „Was soll das heißen, mein Geld ist weg?“ Oder: „Sie können mich nicht mehr auszahlen?“ Die Kunden vermuten daraufhin, dass die Bank nicht mehr genügend Geld hat, und stürzen alle zum Schalter, um ihr Geld abzuziehen – und bringen die Bank damit zu Fall. Bart hat einen klassischen BankRun ausgelöst, der durch das Geschäftsmodell von Banken möglich ist: Eine Bank nimmt Geld von Kunden und verleiht dieses weiter an andere Kunden. Deshalb sind nicht alle Einlagen der Kunden zu jedem Zeitpunkt in der Bank – genauso wie bei dem Goldschmied in Abbildung 77. Solange nur ein Teil der Kunden einen Teil des Geldes zurückfordert und die Liquiditätsreserve der Bank groß genug ist, ist eine Bank stabil. Sobald aber zu viele Kunden auf einmal ihr Geld von der Bank abziehen und die Sicherheitsreserve nicht mehr reicht, wird die Bank illiquide. Das Fatale daran ist, dass das Geld der Kunden nicht weg ist – die Bank hat es nur gerade an jemand anderen verliehen, und sofern dieses Geld wieder zurückgezahlt wird, ist das eigentlich kein Problem. Würden alle Kunden sich gedulden und nicht auf sofortiger Auszahlung bestehen, würde die Bank nicht zusammenbrechen. Sobald diese ihren Kredit zurückgezahlt haben, können die anderen Kunden ihre Einlagen wiederbekommen. Eine Bank kann also zusammenbrechen, weil die Kunden glauben, dass sie zusammenbricht. Genau diese Situation befürchtete man im Zuge der Finanzkrise des Jahres 2007, als die Kunden anfingen, ihren Banken zu misstrauen und ihr Geld in Sicherheit zu bringen. Damals zog die Bundeskanzlerin vor die Presse und verkündete, dass die Bundesregierung für alle Einlagen der Bankenkunden gerade stehe. Faktisch wäre das der Regierung gar nicht möglich gewesen, aber psychologisch war diese Maßnahme wichtig, um das Vertrauen der Bankkunden wieder herzustellen und dadurch einen Bank-Run zu vermeiden.
Damit haben wir ein paar wichtige Erkenntnisse über moderne Bankensysteme gewonnen:
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Banken schaffen Geld. Je mehr von dem Geld, das man den Banken anvertraut, von diesen weiterverliehen wird (so wie es im Beispiel der Goldschmied gemacht hat), umso mehr Geld schaffen sie. Gebremst wird dieser Prozess durch den Anteil des Geldes, den die Banken als Reserven halten und den Anteil des Geldes, den die Kunden in Bar abziehen
Banken wollen Geld verdienen. Die Banken verlangen für das Geld, das sie verleihen, mehr Zinsen, als sie den Kunden zahlen, die ihr Geld bei der Bank einlegen. Die Differenz zwischen diesen beiden Zinsen macht einen Teil des Gewinns der Banken aus.
Banken haben ein systemisches Risiko. Sobald die Summe, welche die Kunden von der Bank abziehen wollen, deren Sicherheitsrücklagen der Bank übersteigt, kommt es zu einem Bank Run. Verhindern kann das eine Bank lediglich, indem sie erstens genügend Reputation aufbaut und den Kunden das Gefühl vermittelt, dass ihre Einlagen jederzeit sicher sind. Zweitens muss sie ein gewisses Minimum an Reserven vorhalten, und drittens muss sie bei der Vergabe von Krediten vorsichtig sein: Fallen zu viele Kredite, die sie vergeben hat, aus, so kann die Bank die Gelder ihrer Kunden (die sie für eben jene Kredite genutzt haben) nicht zurückzahlen. Letzteres war eine der Ursachen der Finanzkrise des Jahres 2007, der Fall Northern Rock zeigt anschaulich die Folgen unvorsichtiger Kreditvergabe. Wenn Sie diese Idee einer Bank akzeptiert haben, dann ist es Zeit für einen weiteren verwegenen Plan: Was, wenn die Quittungen der Goldschmiede überhaupt nicht durch Gold gedeckt sind? Dann haben wir die Situation in Abbildung 78; und die Goldschmiede heißt dann nicht mehr Goldschmiede, sondern Notenbank – genau so schaffen moderne Notenbanken Geld. Also: Die Notenbank druckt 100 Euro und gibt diese als Kredit an die Bank. Solange das Publikum glaubt, dass hinter diesem Geld jederzeit ein äquivalenter Wert steht und jeder das so geschaffene Geld als Zahlungsmittel akzeptiert, kann dieses auch weiter als Geld fungieren, obwohl kein Gold mehr dahinter steht. Notenbank Kredit an Bank +100
Papiergeld +100
Bank Papiergeld +100
Schulden an Notenbank +100
In Abbildung 78 sieht das dann wie folgt aus: Die Notenbank vergibt einen Kredit an die Bank, den diese natürlich zurückzahlen muss; deswegen ist das ein Guthaben der Notenbank und steht auf der linken Seite. Im Gegenzug für diesen Kredit gibt sie der Bank das Geld – das ist damit also eine Verpflichtung der Notenbank gegenüber der Geschäftsbank; deswegen steht das auf der rechten Seite der Notenbankbilanz. Die Geschäftsbank bekommt 100 Euro an Geld, die ja ein Guthaben sind und deswegen auf der linken
Abbildung 78: So entsteht Papiergeld
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Teil 2: Makroökonomie
Seite der Bilanz erscheinen; allerdings sind die ja nur geliehen, weswegen diesem Vermögenszuwachs auch auf der rechten Seite der Bilanz ein Zuwachs an Schulden gegenüber der Notenbank gegenüber steht. Beide Bilanzen – die der Notenbank und die der Geschäftsbank – verlängern sich um 100 Euro; wir haben Papiergeld geschaffen, das durch kein Gold gedeckt ist. Und so funktionieren moderne Notenbanken, und mit diesem Wissen können wir uns nun anschauen, wie Geldpolitik funktioniert – wie kann die Notenbank die Geldversorgung der Wirtschaft steuern?
In der Praxis: Der Fall Northern Rock und andere Katastrophen Im Jahr 2008 kamen im Zuge der internationalen Finanzkrise mehrere Banken in Finanzierungsschwierigkeiten. In Deutschland beispielsweise erwischte es zuerst die Deutsche Industriebank (IKB), die wegen ihrer Refinanzierungsprobleme in eine Schieflage geriet und nur durch eine konzertierte Hilfsaktion der gesamten Kreditwirtschaft gerettet werden konnte. Auch die Sachsen LB geriet in Refinanzierungsschwierigkeiten und überlebte nur mit Hilfe einer Kreditlinie der übrigen deutschen Landesbanken in Höhe von 17 Milliarden Euro und einer Garantie des Landes Sachsen. In Großbritannien brach der Hypothekenfinanzierer Northern Rock zusammen – innerhalb weniger Tage zogen Anleger fast drei Milliarden Euro ab; inklusive langer Schlangen vor den Schaltern der Bank und tumultartiger Szenen. In den Vereinigten Staaten wurden einige große Hypothekenfinanzierer geschlossen.
In der Diskussion Warum funktioniert Papiergeld, obwohl kein realer Wert hinter diesem Geld steht? Sollten wir wieder eine goldgedeckte Währung einführen? Was wären die Vor- und Nachteile?
Lassen Sie uns mit einer naheliegenden Politik beginnen, die sich aufdrängt, wenn man das Phänomen der Geldschöpfung durch Geschäftsbanken und die daraus resultierenden Probleme verstanden hat: die Mindestreservepolitik. Das Problem der Geldschöpfung ist nämlich folgendes: Wenn unser Goldschmied in Abbildung 77 etwas Gold aus seinem Keller weiterverleiht, dann hat er – wie wir gesehen haben – zusätzliches Geld geschaffen. Was aber, wenn der Kunde, dem er das Gold leiht, dieses wiederum bei einem anderen Goldschmied einzahlt und dafür eine Quittung – also ein neues Zahlungsmittel – erhält? Und dieser Goldschmied verleiht das Gold wieder weiter? Damit werden aus 1000 Euro Gold in einem ersten Schritt 1500 Euro Zahlungsmittel (Abbildung 77), aus denen dann, wenn der nächste Kunde sein Gold wieder bei einem Goldschmied einzahlt und dieser Goldschmied
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wieder sagen wir die Hälfte dieses Goldes verleiht, 1750 Euro werden: 1000 Euro beim ersten Kunden, der die Quittung hält, 500 Euro beim zweiten Kunden, der gegen sein Gold wieder eine Quittung über 500 Euro vom zweiten Goldschmied bekommt, der dann wiederum 250 Euro Gold an den nächsten Kunden verleiht. Im schlimmsten Fall wird das Gold, das ein Kunde beim Goldschmied einreicht, sofort und komplett weiter verliehen, wodurch dann unbegrenzt Geld entstehen kann. Weder wollen wir, dass auf diesem Weg unbegrenzt Geld geschaffen werden kann, noch wollen wir, dass die Banken alles Geld, das sie von ihren Kunden erhalten, weiter verleihen – je weniger sie als Sicherheitsreserve behalten, um so größer wird das Risiko des Bank-Run. Also brauchen wir eine Sicherheitsreserve, welche die Banken halten müssen, damit sie erstens nicht unbegrenzt Geld schöpfen können und zweitens nicht leichtsinnig zu viel Geld verleihen, ohne eine Sicherheitsrücklage zu haben. Und das ist die Mindestreserve, die in Abbildung 79 dargestellt ist. Bank 1 Kredit an Kunde 2 +800
Einlage Kunde 1 1000
Notenbank Mindestreserve von Bank 1 +200
Mindestreserve +200
Das Vorgehen ist einfach: Man verpflichtet die Bank, von jeder Einlage einen bestimmten Prozentsatz als Mindestreserve bei der Notenbank zu hinterlegen. Wenn also die Bank eine Einlage von 1000 Euro hat, dann darf sie davon nur sagen wir 800 Euro weiter verleihen; 200 Euro sind als Mindestreserve bei der Notenbank zu hinterlegen. Von den 1000 Euro werden also 800 als Kredit weitergereicht – wodurch die Bank neues Geld schafft –, aber 200 Euro darf die Bank nicht weiterreichen, sondern muss sie als Mindestreserveeinlage bei der Notenbank hinterlegen (welche auf der rechten Seite der Notenbankbilanz auftaucht, weil die Notenbank diese 200 Euro der Bank natürlich schuldet). Dadurch erreicht man zwei Dinge: Erstens hat die Bank immer ein gewisses Mindestpolster an Reserven, falls doch mehr Kunden als erwartet ihr Geld abziehen wollen – das Risiko eines Bank-Run wird dadurch reduziert (Reserven für den Bargeldabzug werden aber auch freiwillig von den Banken gehalten. Halten die Banken bei der Notenbank mehr als die vorgeschriebene Mindestreserve, so spricht man von Überschussreserven). Zweitens kann nun das Bankensystem als Ganzes nicht mehr unbegrenzt Geld schaffen. Warum? Ohne Mindestreserve könnte folgendes passieren: Die Bank könnte die kompletten 1000 Euro einem Kunden als Kredit geben, der diese wieder bei seiner Bank einzahlen würde. Diese 1000 Euro könnte nun dessen Bank wieder an einen anderen Kunden verleihen, der das dann wie-
Abbildung 79: Mindestreservepolitik
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der bei seiner Bank einzahlt – und so weiter. Die Geldschöpfung wäre unendlich groß. Jetzt sieht das anders aus: Die Bank kann von den 1000 Euro Einlage nur 800 Euro weiter verleihen. Zahlt der Kunde, der sich diese 800 Euro leiht, das Geld bei seiner Bank ein, so kann diese wegen der Mindestreserve (sie beträgt in unserem Beispiel 20 Prozent) nur 640 Euro weiter verleihen (800 Euro minus 20 Prozent Mindestreserve, die sie bei der Notenbank hinterlegen muss). Von den 640 Euro können dann in der nächsten Runde nur noch 512 Euro weiter verliehen werden – und so weiter. Die Verpflichtung, eine Mindestreserve zu hinterlegen, trocknet den Geldschöpfungssumpf der Banken sozusagen langsam aus. Mit einer Erhöhung des Mindestreservesatzes kann die Notenbank also recht wirkungsvoll das Geldangebot einer Volkswirtschaft reduzieren. Probieren Sie es aus: Wenn die Bank statt der 20 Prozent Mindestreserve 80 Prozent Mindestreserve halten muss, sinkt die Geldschöpfungsfähigkeit der Geschäftsbanken dramatisch.
In der Praxis: Die Mindestreserve der Europäischen Zentralbank Die Europäische Zentralbank (EZB) verlangt von Kreditinstituten, auf Girokonten bei den nationalen Zentralbanken Pflichteinlagen zu unterhalten, die als „Mindestreserven“ oder „Reserve-Soll“ bezeichnet werden. Der Mindestreservesatz wurde zu Beginn der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion auf 2 Prozent festgesetzt. Zur Erfüllung ihrer Mindestreservepflicht müssen die Banken Guthaben auf ihren Girokonten bei den nationalen Zentralbanken unterhalten. Dabei kann die Mindestreserve im Monatsdurchschnitt erfüllt werden. Die Mindestreserveguthaben der Kreditinstitute bei der EZB werden verzinst, damit den Banken aus der Mindestreservehaltung kein Nachteil entsteht. Nicht jeder mag die EZB: Occupy Demonstration vor dem EZB-Gebäude in Frankfurt.
Die nächste geldpolitische Strategie ist die so genannte Offenmarktpolitik. Grob gesagt steuert die Notenbank die Geldmenge, indem sie Wertpapiere kauft oder verkauft. Solche Geschäfte können endgültig oder befristet sein; d.h. sie werden nach einer vorher vereinbarten Zeit wieder rückabgewickelt. Abbildung 80 Beschreibt die Wirkungsweise der Offenmarktpolitik. Notenbank Wertpapiere +1000
Abbildung 80: Offenmarktpolitik
Einlagen der Geschäftsbanken +1000
Bank Wertpapiere –1000 Einlagen bei Notenbank +1000
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Vereinfacht gesagt funktioniert das so: Will die Notenbank die umlaufende Geldmenge erhöhen, so kauft sie von den Geschäftsbanken Wertpapiere (die werden auf der linken Seite der Notenbankbilanz dann als Guthaben verbucht), und erhöht im Gegenzug die Einlagen der Geschäftsbanken, sie stellt den Banken als Zentralbank Geld zur Verfügung (das steht dann auf der rechten Seite als eine Erhöhung der Verpflichtungen der Notenbank). Bei den Geschäftsbanken steigen die Einlagen bei der Notenbank (ein Plus auf der linken Seite der Bilanz); im Gegenzug sinkt der Bestand an Wertpapieren um den gleichen Betrag. Mit den gestiegenen Einlagen bei der Notenbank können die Geschäftsbanken nun mehr Kredite vergeben (und diese Einlagen als Mindestreserveeinlagen verwenden), man kann sich aber auch vereinfacht vorstellen, dass die Banken das Geld für die Wertpapiere von der Notenbank in Bar bekommen und weiter verleihen (dann müssen Sie in den Bilanzen „Einlagen“ durch „Bargeld“ ersetzen). Das Ergebnis: Die umlaufende Geldmenge steigt. Die Geschäftsbanken haben Wertpapiere, die kein Zahlungsmittel sind, gegen Einlagen bei der Notenbank getauscht, die ein Zahlungsmittel darstellen.
In der Praxis: Die Offenmarktpolitik der EZB Die EZB setzt Offenmarktgeschäfte ein, um die Zinssätze und die Liquidität am Markt zu steuern und Signale bezüglich ihres geldpolitischen Kurses zu setzen. Die wichtigsten Offenmarktgeschäfte der EZB sind die wöchentlich stattfindenden Hauptrefinanzierungsgeschäfte. Hierbei handelt es sich um befristete Transaktionen, d.h. mit dem Kauf der Wertpapiere wird zugleich der Rückkauf (in der Regel nach einer Woche) vereinbart. Darüber hinaus gibt es regelmäßige Refinanzierungsgeschäfte mit normalerweise dreimonatiger Laufzeit, dadurch werden den Banken zusätzlich längerfristige Mittel zur Verfügung gestellt. Weiterhin gibt es unregelmäßige und nicht standardisierte Feinsteuerungsoperationen in Form von befristeten Transaktionen. Darüber hinaus kann die EZB zu Zwecken der Liquiditätssteuerung Schuldverschreibungen emittieren. Weitere Instrumente sind Devisenswapgeschäfte (das sind Geschäfte, bei denen man Euro gegen eine Fremdwährung kauft (oder verkauft) und gleichzeitig diese Fremdwährung wieder verkauft (oder kauft); allerdings zu einem festgelegten späteren Datum) sowie die Hereinnahme von verzinslichen Termineinlagen. Darüber hinaus gibt es auch endgültige Offenmarkttransaktionen, bei denen die EZB Wertpapiere endgültig am Markt kauft oder verkauft – ohne Rückkaufvereinbarung wie bei den anderen Geschäften.
Neben der Offenmarktpolitik kann man die Geldmenge über die Kosten der Refinanzierung der Banken steuern. Wenn die Notenbank möchte, dass die Geschäftsbanken mehr Geld ausleihen, verbessert sie einfach die Refinanzierungsmöglichkeiten der Banken, d.h. sie bietet ihnen an, sich günstiger
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Zentralbankgeld zu beschaffen. Nehmen die Banken dieses Angebot an, dann erhöhen sie ihre Verschuldung bei der Notenbank (die Einlagen bei der Notenbank steigen; damit wird auch die linke Seite der Bilanz der Geschäftsbanken größer). Damit haben die Banken mehr Mittel, um Kredite zu vergeben, was ja so von der Notenbank gewünscht war. Allerdings kann die Notenbank nur die Zinsen für kurzfristig ausgeliehenes Geld beeinflussen, da sie keine Gelder für lange Laufzeiten verleiht.
In der Praxis: Die Zinspolitik der EZB Das zinspolitische Leuchtfeuer der EZB ist der Zinssatz für die Hauptrefinanzierungsgeschäfte – er soll zinspolitische Signale setzen. Dieser Zinssatz ist eine feste Orientierungsgröße im Bankengeschäft. Darüber hinaus bietet die EZB zwei ständige so genannte Übernachtfazilitäten an, und zwar die Spitzenrefinanzierungsfazilität und die Einlagefazilität. Die Einlagefazilität bietet den Banken die Möglichkeit, täglich fällige Einlagen zu einem vorher festgesetzten Zinssatz bei einer nationalen Zentralbank anzulegen. Damit bildet sie am Markt eine Untergrenze für das Anlegen kurzfristiger Gelder – dieser Zinssatz ist das mindeste, was Banken für die Einlagen anderer Banken anbieten müssen. Die Spitzenrefinanzierungsfazilität hingegen können die Banken nutzen, um über Nacht Kredit gegen notenbankfähige Sicherheiten zu einem im Voraus festgelegten Zinssatz zu erhalten. Damit bildet diese Fazilität die Obergrenze am Markt für Bankengelder – wer dringend kurzfristig Liquidität benötigt, kann sie sich auf alle Fälle bei der EZB zu diesem Zinssatz beschaffen; mehr muss man nicht bezahlen. Damit bilden die beiden Fazilitäten eine Art Zinskorridor, indem sie die kurzfristigen Zinsen nach oben und nach unten begrenzen; der kurzfristige Zins am Markt wird sich innerhalb dieses Korridors bewegen, in dem sich auch der Zinssatz der Hauptrefinanzierungsgeschäfte bewegt.
Mit diesem gesamten Wissen können wir zum Abschluss die vereinfachten Bilanzen der Notenbank und der Geschäftsbanken aufzeichnen. Die vereinfachte Bilanz der Notenbank ist in Abbildung 81 dargestellt. Auf der linken Seite, wo die Aktiva der Bank verbucht werden, finden wir die Kredite, welche die Notenbank an die Geschäftsbanken vergeben hat, sowie die Währungsreserven (das sind Ansprüche, welche die Notenbank gegenüber dem Ausland hat) und sonstige Aktiva, beispielsweise Wertpapiere, welche die Notenbank im Rahmen der Offenmarktpolitik von den Geschäftsbanken kauft. Auf der rechten Seite der Bilanz, also als Verpflichtung der Notenbank (auch Passiva genannt), stehen der Bargeldumlauf (also das Papiergeld) und Einlagen der Geschäftsbanken bei der Notenbank (hier vor allem die Mindestreserve und die Überschussreserven).
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Notenbank Kredite an Banken
Bargeldumlauf
sonstige Aktiva
Einlagen der Geschäftsbanken
Währungsreserven
}
B
Die Bilanz der Geschäftsbanken ist in Abbildung 82 dargestellt. Die Einlagen der Kunden sind natürlich Verpflichtungen, deswegen stehen sie auf der rechten Seite der Bilanz, ebenso wie die Verbindlichkeiten gegenüber der Notenbank. Die Einlagen bei der Notenbank – die Mindestreserven und die Überschussreserven – sind natürlich Guthaben; ebenso wie die Barbestände und die Kredite an Nichtbanken (also an die Kunden). Hier sieht man auch sehr schön, wie sich die jeweiligen Positionen in den beiden Bilanzen entsprechen – was auf der linken Seite der Bankbilanz steht, findet sich auf der rechten Seite der Notenbankbilanz (und umgekehrt). Und man sieht auch die Wirkung der Notenbankpolitik: erhöht die Zentralbank den Bargeldumlauf oder die Einlagen der Banken bei der Notenbank (indem sie Kredite an die Banken vergibt oder Wertpapiere kauft), so schlägt sich das sofort in der Bilanz der Geschäftsbanken nieder, die nun mehr Bargeld oder Zentralbankgeld haben, wodurch sie mehr Kredite vergeben können. Da die Notenbank die Menge des Bargelds sowie die Einlagen der Geschäftsbanken unmittelbar steuern kann, bezeichnet man die rechte Seite der Notenbankbilanz auch als Geldbasis, in Abb. 81 mit „B“ bezeichnet.
Abbildung 81: Die Bilanz der Notenbank
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Bank Barbestände Abbildung 82: Die Bilanz der Geschäftsbanken
Einlagen der Kunden (Giro, Spargelder, Termingelder)
Einlagen bei der Notenbank Verbindlichkeiten gg. Notenbank Kredite an Nichtbanken
Bleibt nur noch eine Frage zu klären: Warum sollen die Banken mehr Kredite vergeben? Oder um anders zu fragen: Welche Folgen kann es eigentlich haben, wenn die Notenbank an der Geldversorgung herumschraubt? Wie also wirkt Geld? Transmissionsmechanismen. Auf den ersten Blick kann Geld doch eigentlich keine realen Wirkungen auf die Geschäftstätigkeit, das Wirtschaftswachstum eines Landes haben – schließlich handelt es sich dabei doch nur um buntes bedrucktes Papier, das, wie wir gesehen haben, durch nichts besichert ist (so jedenfalls bei allen modernen Papierwährungen). Warum sollte eine Volkswirtschaft mehr herstellen, wenn die Zentralbank einfach mehr Papier mit ungedeckten Zahlungsversprechen in Umlauf setzt? Das klingt nach Zauberei, und in der Tat findet sich in der Literatur ein magischer Moment, in dem ein Akteur eine Wirtschaft wiederbelebt, indem er einfach ein mit einem dubiosen Zahlungsversprechen versehenes Papier in Umlauf setzt – es ist bezeichnenderweise der Teufel.
In der Literatur: Goethe, der Teufel und das Geld. Geldschöpfung in Faust, der Tragödie zweiter Teil In seinem „Faust, der Tragödie zweiter Teil“, führt Johann Wolfgang Goethe vor, wie man Geld schöpft. Dem klammen Kaiser wird geholfen, indem der Teufel eine List ersinnt: Er begibt Papiere (also Geldscheine) im Wert von tausend Kronen, die durch die Schätze besichert sind, die überall im Königreich im Boden vergraben sind: Wer ein solches Papier besitzt und einen Schatz im Wert von tausend Kronen findet, darf ihn behalten (andernfalls, so die Logik des Teufels, müsste man ihn ja beim König abliefern, dem ja alle vergrabenen Schätze des Landes gehören). Der Wert des Geldscheins ist also besichert durch ungehobene Schätze, sonst sind sie nur Papier – eine trickreiche List, die im Grunde genommen modernen Notenbanktechniken nicht nachsteht. Man teilt Papier aus, auf dem ein Wert versprochen wird – würden alle Untertanen des Kaisers ihr Papier in die ungehobenen Schätze eintauschen wollen, wäre dieser Trick rasch am Ende. Doch in der Tat akzeptiert die Bevölkerung die Scheine, welche der Teufel hat ausgeben lassen: „Seht Eure Stadt, sonst halb im Tod verschimmelt, wie alles lebt und lustgenießend wimmelt“, jubelt der kaiserliche Schatzmeister. Die Geldschöpfung durch den Teufel hat die Wirtschaft des maroden Reiches belebt.
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Das ist keynesianische Geldpolitik, die wir uns in einem späteren Kapitel ansehen werden. Vorbild für Goethes Idee vom Teufel, der Geld schöpft, war der Schotte John Law, der in seinem Heimatland berühmt wurde als der Mann, der Frankreich ruiniert – mit der Schaffung von Papiergeld.
In der Tat ist es gar nicht so einfach, zu beweisen, dass nur durch das Anwerfen der Geldpresse eine Volkswirtschaft wächst oder reicher wird, und wir werden später sehen, dass diese Effekte möglicherweise nur kurzfristiger Natur sind – wenn sie überhaupt existieren. Aber wie kann durch mehr Papiergeld eine Wirtschaft wachsen? Das ist die Frage nach dem sogenannten geldpolitischen Transmissionsprozess, der untersucht, wie der Weg von der Geldpresse zum Wachstum des Güterbergs aussehen könnte. Hier werden zwei Theorien gehandelt, der kredittheoretische und der vermögenstheoretische Transmissionsmechanismus. Die Idee des kredittheoretischen Transmissionsmechanismus besteht darin, dass umso mehr Investitionen durchgeführt werden, je niedriger die Zinsen sind. Senkt die Notenbank im Rahmen ihrer Politik die Zinsen (und senken die Banken die Zinsen, weil sie billiger an Zentralbankgeld kommen), dann werden mehr Investitionen rentabel, die Unternehmen fragen mehr Kredite nach, mit denen sie neue Maschinen und Produktionskapazitäten finanzieren – die Wirtschaft belebt sich (das passt perfekt zu Abbildung 74: mit sinkenden Zinsen steigt die Nachfrage nach Kapital, um dieses zu investieren). Der Haken an dieser Idee ist natürlich die Kreditnachfrage der Unternehmen: Werden diese mehr investieren, nur weil Kredite billiger geworden sind? Oder bestimmt sich die Investitionsneigung (und damit die Kreditnachfrage) nicht eher nach den Absatzerwartungen der Unternehmen? Im Zweifelsfall führt das dann dazu, dass die Unternehmen trotz sinkender Zinsen nicht investieren. Ein weiteres praktisches Problem für die Geldpolitik besteht darin, dass sie nur – wie wir gesehen haben – die kurzfristigen Zinsen beeinflussen kann; Investitionsentscheidungen jedoch werden anhand der langfristigen Zinssätze getroffen – wer in eine Maschine investiert, braucht das Geld, das er sich dafür leiht, für einen längeren Zeitraum, deswegen achtet er auf die Zinsen für langfristige Kredite. Doch es ist nicht sicher, dass diese sinken, wenn die Notenbank die kurzfristigen Zinsen senkt. Der vermögenstheoretische Transmissionsmechanismus hingegen sieht die Wirkungen der Geldpolitik bei den Vermögen der Menschen. Die Grundidee ist dabei, dass Menschen einen Mix an Vermögensgegenständen – ein so genanntes Portfolio – halten. Dieser Mix ist aber nicht zufällig, sondern richtet sich nach den relativen Erträgen der einzelnen Vermögensgegenstände; verändern sich diese, so ändern die Menschen ihr Portfolio. Ein Beispiel macht die Wirkungsweise der Geldpolitik deutlich. Nehmen wir an, die Notenbank kauft im Rahmen der Offenmarktpolitik Wertpapiere. Durch
Die Tragödie nimmt ihren Lauf: Goethes „Faust“
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diese Käufe steigt die Nachfrage nach Wertpapieren, weswegen deren Preise steigen, die Bürger verkaufen darauf hin ihre Wertpapiere an die Banken (die sie dann weiter an die Notenbank verkaufen) und haben nun mehr Bargeld. Doch was tun mit diesem Bargeld? Sie kaufen damit andere Finanzaktiva (Aktien, Fonds o.ä.), so dass deren Preise ebenfalls steigen. Doch mit deren steigenden Preisen wird es immer weniger attraktiv, diese Aktiva zu kaufen oder zu halten (besser, man verkauft sie), also weicht man auf andere Aktiva aus – beispielsweise Immobilien. Und wenn die Nachfrage nach Immobilien steigt, hat die Baubranche mehr zu tun, was zu einem Anstieg der Wirtschaftstätigkeit führt. Damit wäre die Transmission von den Wertpapierkäufen der Notenbank in den realen Sektor abgeschlossen. Dabei müssen es nicht zwangsläufig Häuser sein, Hauptsache, am Ende dieser Kette von Kaufen und Verkaufen stehen irgendwann Sachaktiva, also Vermögensgegenstände, die zu einem Anstieg der Nachfrage an den Gütermärkten führen. Wenn beispielsweise die Nachfrage nach Aktien steigt, können mehr Unternehmen sich am Aktienmarkt neues Kapital beschaffen und dieses investieren – das steigert ebenfalls die Nachfrage am Gütermarkt, nämlich die Nachfrage nach Investitionsgütern. Beide Transmissionsmechanismen sind theoretisch möglich – wie der Zusammenhang zwischen Geld und der realen Wirtschaftstätigkeit aussieht, wissen wir nicht genau. Doch das ist noch nicht alles: Wir müssen fragen, welchen Zusammenhang es zwischen Geldmenge und Inflationsrate gibt.
In der Diskussion In welcher Form bemerken Sie die geldpolitischen Maßnahmen der EZB bei sich selbst?
Wie wirkt Geld? Geldmenge und Inflation. Auf den ersten Blick scheint der Zusammenhang eindeutig. Stellen Sie sich einmal vor, die Notenbank würde über Nacht die Geldmenge des Landes verdoppeln – was würde pas-
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sieren? Vermutlich folgendes: Die Menschen würden versuchen mehr zu konsumieren, da sie ja mehr Geld in den Taschen haben. Jetzt kommt es darauf an, was die Produzenten machen: Sie können auf die steigende Nachfrage reagieren, indem sie mehr produzieren, oder aber, indem sie die Preise erhöhen. Ersteres können sie nur tun, wenn es noch nicht genutzte Produktionskapazitäten gibt. Wenn sie Letzteres machen, dann steigen infolge der Geldmengenerhöhung lediglich die Preise – wir haben Inflation. Damit haben wir schon die wesentlichen Ideen erfasst, die eines erklären sollen: Wie sieht der Zusammenhang zwischen Geldmenge und Inflation aus? Quantitätstheorie und Geldmengensteuerung. Um diesen Zusammenhang genauer zu beschreiben, brauchen wir ein paar Vorüberlegungen. Im Folgenden ist unsere Grundidee, dass Menschen Geld halten, um Güter zu kaufen, oder anders ausgedrückt: um Transaktionen durchzuführen. Je mehr Güter sie kaufen, je mehr Transaktionen sie tätigen, umso mehr Geld benötigen sie. Klar: Wenn man ein Paar Schuhe pro Jahr kauft, braucht man weniger Geld als wenn man jährlich zehn Paare kauft. Doch dieser Gedanke muss noch nicht ganz richtig sein, wie ein einfaches Beispiel zeigt. Nehmen wir an, in unserer Wirtschaft werden pro Jahr 100 Flaschen Wein hergestellt; das sei unser reales Sozialprodukt. Der Preis beträgt einen Euro je Flasche. Dann beläuft sich unser nominales Sozialprodukt auf 100 Euro (100 Flaschen multipliziert mit einem Euro). Gehen wir davon aus, dass dieses Sozialprodukt auch in irgendeiner Form umgeschlagen wird (also diese Güter allesamt gekauft werden), dann bräuchten wir eine Geldmenge von 100 Euro, um dieses Sozialprodukt zu bezahlen. Oder? Vielleicht nicht unbedingt, wenn man bedenkt, dass jedes Geldstück ja mehrmals zum Bezahlen eingesetzt werden kann: Wenn ich den Euro, mit dem ich für meine Flasche Wein bezahlt werde, anschließend für eine andere Flasche Wein ausgebe, dann habe ich ihn zweimal verwendet, der Euro ist zweimal umgeschlagen worden. Wenn nun jeder Euro zweimal umgeschlagen wird, dann reicht schon eine Geldmenge von 50 Euro, um mein Sozialprodukt (also die 100 Flaschen) zu bezahlen. Jeder Euro wechselt also zweimal den Besitzer, damit halbiert sich die Geldmenge, die man benötigt, um das gleiche Sozialprodukt umzusetzen. Wechselt jeder Euro nun aber viermal den Besitzer, so reicht schon eine Geldmenge von 25 Euro, um das gesamte Sozialprodukt von 100 Euro zu bezahlen. Je häufiger das Geld also seinen Besitzer wechselt, umso weniger Geld brauchen wir, um alle unsere Transaktionen zu finanzieren. Und wir können sogar ausrechnen, wie hoch die Geschwindigkeit ist, mit der das Geld von Hand zu Hand weiter gereicht wird: Dazu teilt man den Wert des Güterbergs, den wir pro Jahr umschlagen, durch die vorhandene Geldmenge. Also: 100 Euro Sozialprodukt geteilt durch eine Geldmenge von 50 (25) Euro macht eine Umlaufgeschwindigkeit von zwei (vier). Im Nachhinein gilt das immer: Wenn wir ein Sozialprodukt von 100 Euro im Jahr verkauft haben, mit einer Geldmenge von 50 Euro, dann ergibt sich automatisch, dass die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes 2 ist. Mit Hilfe der
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Umlaufgeschwindigkeit können wir nun versuchen, einen Zusammenhang zwischen der Geldmenge und der Inflationsrate herzustellen. Dazu eine einfache Überlegung: Die Summe aller Transaktionen, aller Geschäfte, die wir in unserer Volkswirtschaft pro Jahr tätigen, entspricht ja dem in Geldeinheiten ausgedrückten Wert der Güter. Wenn wir also in einem Jahr 100 Flaschen Wein zu einem Preis von einem Euro verkaufen, dann macht das 100 Euro. Und jetzt der springende Punkt: Die Summe aller getätigten Zahlungen in diesem Jahr muss exakt dem Wert aller Transaktionen entsprechen. Ich verkaufe 100 Flaschen zu einem Euro, macht 100 Euro; das ist der Wert aller Transaktionen, und die Summe aller Zahlungen (für diese 100 Flaschen) ergibt sich als Geldmenge mal ihrer Umschlagshäufigkeit – beispielsweise 50 (oder 25) Euro Geldmenge mal zwei (vier). Beide Werte müssen sich zwingend entsprechen. Lassen Sie uns das einmal in einer Gleichung darstellen: Summe aller Zahlungen ≡ Wert aller Transaktionen beziehungsweise Geldmenge × Umschlagshäufigkeit ≡ Menge verkaufter Güter mal Preis Beachten Sie bitte das Zeichen zwischen den beiden Seiten der Gleichung (das ≡), das ist kein Gleichheitszeichen, sondern besagt, dass es sich bei dieser Gleichung um eine definitorische Identität handelt – der in dieser Gleichung beschriebene Zusammenhang gilt immer. Und er ist eigentlich einfach: Wenn ich eine bestimmte Menge Güter kaufe, dann ergibt sich aus der Menge der Güter mal ihrem Preis der Wert meiner Käufe – das ist die rechte Seite der Gleichung. Ich kann aber auch einfach die Summe aller getätigten Zahlungen bestimmen, indem ich die umlaufende Menge Geld multipliziere mit der Häufigkeit, mit der jede Münze ausgegeben wurde – das ist die linke Seite der Gleichung, die zwangsläufig identisch sein muss mit der rechten Seite, denn eine Münze wird ja nur ausgegeben, um eine Transaktion auszuführen. Jetzt machen wir uns das Leben ein wenig einfacher und setzen für die Anzahl der getätigten Transaktionen einfach das reale Sozialprodukt ein (also den gesamten Güterberg, den wir in einem Jahr herstellen; der lässt sich im Gegensatz zu der Anzahl der getätigten Transaktionen bestimmen), für den Preis das allgemeine Preisniveau, und erhalten eine der wichtigsten Gleichungen der Geldtheorie, die Quantitätsgleichung: Geldmenge × Umlaufgeschwindigkeit = Sozialprodukt mal Preisniveau
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An der Interpretation der Gleichung ändert sich dadurch wenig, die Summe aller Zahlungen (linke Seite) muss immer gleich sein der Summe des Wertes aller Käufe oder Verkäufe (rechte Seite). Was können wir nun mit dieser Gleichung anfangen? Eine ganze Menge: Richtig interpretiert, kann man mit dieser Gleichung Geldpolitik betreiben. Zuvor muss man allerdings klar stellen: Diese Formel ergibt sich definitorisch aus den obigen Überlegungen, sie macht keine Aussagen über kausale Zusammenhänge – aber man kann diese nun natürlich in die Formel hineininterpretieren. Und verkürzt gesagt zeigt die Quantitätsgleichung einen einfachen Zusammenhang: Erhöht die Notenbank die Geldmenge, so steigt das Preisniveau, die Veränderung der Geldmenge multipliziert mit der Umlaufgeschwindigkeit des Geldes entspricht der Veränderungsrate des Preisniveaus, also der Inflationsrate, jedenfalls dann, wenn sich das Sozialprodukt nicht verändert. In der naiven, einfachen Version dieser Idee, beispielsweise schon aufgebracht vom Astronomen Nikolaus Kopernikus (1473–1543), haben das im 16. Jahrhundert beispielsweise die Spanier erlebt, als durch die Eroberung der Neuen Welt großen Mengen Gold und Silber ins Land kamen, die damals als Geld dienten.
In der Geschichte: Jean Bodin und das Gleichnis von der Waage Der französische Staatstheoretiker Jean Bodin (1530–1596) erläuterte die Inflation, die in Folge des Zuflusses von Edelmetallen aus den spanischen Kolonien entstand, mit Hilfe des Gleichnisses von der Waage: In der einen Waagschale sei alles Geld, in der anderen alle Güter angehäuft. Das Gleichgewicht der Waage sei gestört, wenn in der einen Schale mehr Geld angehäuft werde; das größere Gewicht der Schale ziehe dann die Preise der Güter (die andere Schale) in die Höhe. Es seien also nicht Gewinngier und Wucher, wenn die Preise steigen, sondern eine „natürliche Folge der verbesserten Ausstattung des Zahlungsverkehrs mit Geldzeichen“. So einfach kann man die Quantitätsgleichung erklären. (Quelle: Willi Albers, HdWW; Band 9; S. 438; Wirtschaftswissenschaft III: Theorienbildung in der Volkswirtschaftslehre, Geschichte)
Mit Hilfe der Quantitätsgleichung können wir den Zusammenhang von Geldpolitik und Inflation etwas genauer untersuchen – fangen wir mit der rechten Seite der Gleichung an. Ziel der Geldpolitik ist es doch, die Inflationsrate, also das Preisniveau niedrig zu halten – über die Gründe dafür haben wir ausführlich im 13. Kapitel gesprochen. Was aber ist mit dem Sozialprodukt? Hier kann (muss man aber nicht) eine entscheidende Annahme machen: Langfristig, so haben wir gesehen, wird die Höhe des Sozialproduktes durch alle Faktoren bestimmt, die das Wachstum einer Volkswirt-
Jean Bodin © picture-alliance/akg-images
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schaft bestimmen und die wir im 14. Kapitel erörtert haben. Wenn dem so ist, dann wird das Sozialprodukt durch viele Faktoren bestimmt, aber nicht durch eines – die Menge des umlaufenden Geldes. Die Geldmenge bestimmt damit langfristig nur das Preisniveau und hat keine realwirtschaftlichen Auswirkungen.
In der Diskussion Kann man das reale Wachstum einer Volkswirtschaft dadurch steigern, indem man die Geldmenge erhöht?
Diese Idee wird auch als klassische Dichotomie (Dichotomie = die Trennung zweier Mengen) bezeichnet: Monetäre Faktoren, also die Geldmenge, haben auf lange Frist keinen Einfluss auf die reale Sphäre, also das Sozialprodukt. Geld ist nach dieser Interpretation nur ein Schleier, der auf den realen Vorgängen der Wirtschaft liegt; eben nur ein Zahlungsmittel. Intuitiv hat diese Ansicht etwas für sich: Warum sollte die Geldmenge, also die Menge bunter Zettel, auf denen Zahlungsversprechen stehen, dazu führen, dass eine Volkswirtschaft mehr produziert? Das Wachstum wird doch bestimmt durch die Infrastruktur, die Arbeit, die man leistet, den Rechtsrahmen und all die anderen Dinge (die wir bereits diskutiert haben) – aber wieso sollte buntes, bedrucktes Papier dazu führen, dass unser Wohlstand steigt? Das wäre ja eine Münchhausen-Politik: Wir drucken einfach Geldsummen auf Papier, bringen dieses in Umlauf und schon werden wir wohlhabender. Wie wir später sehen werden, ist es leider nicht ganz so einfach, doch auf lange Frist muss man diesen Gedanken stets bei sich tragen. Wenn wir für einen Moment die Idee der klassischen Dichotomie akzeptieren, und darüber hinaus annehmen, dass sich die Umlaufgeschwindigkeit auf der linken Seite der Gleichung nicht ändert, dann kommen wir zu einem revolutionären Ergebnis: Eine Erhöhung der Geldmenge führt lediglich zu einem Anstieg des Preisniveaus, d.h. zu Inflation (Geldentwertung). Warum ist deutlich, wenn wir uns noch einmal die Gleichung anschauen: Geldmenge × Umlaufgeschwindigkeit = Sozialprodukt mal Preisniveau Wenn das Sozialprodukt (wegen der klassischen Dichotomie) nicht auf eine Erhöhung der Geldmenge reagiert, und die Umlaufgeschwindigkeit konstant ist, dann folgt aus dieser Gleichung automatisch, dass ein Anstieg der Geldmenge das Preisniveau erhöht – das muss so sein, weil sonst die Gleichung nicht mehr aufgeht. Vereinfacht gesagt passiert also folgendes: Erhöht sich die Geldmenge, so werden die Konsumenten versuchen, mehr zu kaufen, woraufhin lediglich die Preise steigen, da die Produktion nicht ansteigt. Das Ergebnis ist dann eben Inflation.
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Damit haben wir eine geldpolitische Strategie: Wollen wir als Notenbank die Inflationsraten niedrig halten, so müssen wir einfach darauf achten, dass die Geldmenge nicht stärker wächst als die Produktion der Wirtschaft – das hält langfristig die Inflation im Zaum. In der Praxis hat man diese Formel ein wenig verfeinert, indem man sie in Wachstumsraten dargestellt und ein wenig ergänzt hat1: Wachstumsrate Geldmenge + Veränderungsrate der Umlaufgeschwindigkeit = Wachstumsrate des realen Sozialproduktes + unvermeidliche Inflationsrate Oder etwas verkürzt dargestellt (Δ, der griechische Buchstabe Delta, steht für Veränderungen): Δ M + Δ v = Δ Yr + Δ P; wobei M für die Geldmenge, v für die Umlaufgeschwindigkeit, Yr für das reale Sozialprodukt und P für die Inflationsrate steht. Gehen wir die einzelnen Elemente der Gleichung einmal kurz durch:
Die Umlaufgeschwindigkeit v ist entgegen unserer obigen Annahme nicht konstant; vereinfacht kann man sagen, dass sie im Euroraum pro Jahr um ein halbes bis ein Prozent sinkt – das müssen wir bei der Geldmengensteuerung natürlich berücksichtigen. Bestimmt wird die Umlaufgeschwindigkeit durch die Zahlungsgewohnheiten der Konsumenten, durch die Veränderung der Zahlungssysteme und viele andere Aspekte.
Das reale Sozialprodukt wächst jährlich, das muss die Notenbank bei der Bemessung der Geldmenge berücksichtigen – ist zu wenig Geld da, um die durch das Wachstum gestiegene Zahl der Transaktionen zu finanzieren, könnte sich das als wachstumshemmend erweisen, weil dann nicht alle Transaktionen abgewickelt werden könnten.
Die Inflationsrate ist ein vorgegebener Wert, ein Zielwert – man weiß erstens, dass Nullinflation kaum möglich ist, und ein geringes Maß an Inflation, so die Idee, ist auch nicht schädlich. Nehmen wir beispielsweise an, dass die Umlaufgeschwindigkeit um ein Prozent fällt, das Sozialprodukt um zwei Prozent steigt und die Notenbank die Inflationsrate bei zwei Prozent halten will (die EZB definiert Preisstabilität als einen „Anstieg des Harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI) für das Euro-Währungsgebiet von unter 2 Prozent gegenüber dem Vorjahr“), so ergibt sich ein Zielwert für das Wachstum der Geldmenge von fünf Prozent 1
Eine kleine Besonderheit hat die Schreibweise in Veränderungsraten, wie Sie sehen: wenn wir die absoluten Werte (M, v, Y und p) durch ihre Veränderungsraten (ΔM, Δv, ΔY und Δp) ersetzen, wird aus der Multiplikation eine Addition, deswegen addieren wir die einzelnen Variablen, statt sie wie bisher miteinander zu multiplizieren.
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Teil 2: Makroökonomie
(denken Sie daran: da die Umlaufgeschwindigkeit sinkt, brauchen wir deswegen mehr Geld, also müssen wir das eine Prozent dazu addieren). Damit haben wir eine geldpolitische Formel: Liegt das tatsächliche Geldmengenwachstum höher als der Zielwert, müssen wir auf mittlere Sicht mit einer Inflationsrate von mehr als zwei Prozent pro Jahr rechnen und entsprechend gegensteuern. Wächst die Geldmenge hingegen zu wenig, wird die Geldausstattung der Wirtschaft zu eng; wir müssen dementsprechend gegensteuern.
In der Praxis: Geldmengensteuerung weltweit Vor der Europäischen Währungsunion hat die Deutsche Bundesbank die Strategie der Geldmengensteuerung verfolgt, mit gemischten Resultaten: Das von ihr gesetzte Geldmengenziel verfehlte sie sehr häufig, die Inflationsraten hielt sie trotzdem niedrig. In den Vereinigten Staaten gab es ab 1975 die gesetzliche Verpflichtung für die Federal Reserve, die dortige Notenbank, Geldmengenziele anzukündigen, auch hier wurden die Geldmengenziele häufig verfehlt, doch die Inflationsraten sanken. 1982 gab man diese Strategie auf. In Großbritannien hat man diese Strategie von 1976 bis 1992 verfolgt, in Japan von 1975 bis zu Beginn der 90er Jahre. Die Europäische Zentralbank gibt einen Referenzwert für die Geldmenge M3 an. Allerdings stellt dieser Referenzwert kein Geldmengenziel dar, sondern ist eine Bezugsgröße für die so genannte monetäre Analyse, einer der beiden Säulen der geldpolitischen Strategie der EZB. Der Referenzwert für das Wachstum von M3 basiert auf der Definition einer Preisstabilität bei einer Inflationsrate von zwei Prozent und auf den mittelfristigen Annahmen eines Potenzialwachstums des realen BIP von zwei bis 2 ½ Prozent sowie einem Rückgang der Umlaufgeschwindigkeit des Geldes um ein halbes bis ein Prozent, jeweils pro Jahr.
So einfach und charmant die Idee der Geldmengensteuerung ist, so kompliziert wird sie, wenn man sie in die Tat umsetzen will:
Da wäre erst einmal die Frage, welche Geldmenge man denn nun nimmt – M1, M2, M3? In der Praxis hat man oft zu M3 gegriffen, war damit aber auch nicht immer glücklich. In der Praxis haben viele Notenbanken, die der Geldmengensteuerung gefolgt sind, ihre Geldmengenziele oft verfehlt, aber dennoch stabile Inflationsraten erreicht. Abbildung 83 zeigt, wie der langfristige Zusammenhang zwischen M3 und der Inflationsrate aussieht.
In der Praxis hat man auf die jährliche Wachstumsrate der Geldmenge geachtet – doch das war möglicherweise zu kurzfristig gedacht; auf kurze Frist kann es auch rein technisch bedingt zu großen Schwankungen der
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Geldmenge kommen. Gilt die klassische Dichotomie nur auf lange Frist, dann sind zwölf Monate möglicherweise zu kurz gesprungen.
In der Praxis hat es sich als äußerst schwierig erwiesen, die Geldmenge exakt zu steuern. Je schlechter jedoch die Notenbank die Geldmenge steuern kann, umso weniger taugt eine Strategie der Geldmengensteuerung. Die Schwierigkeiten der Geldmengensteuerung haben dazu geführt, dass viele Notenbanken auf andere Strategien umgeschwenkt sind, wir wollen hier kurz zwei Strategien diskutieren: die direkte Steuerung der Inflationsrate und die Taylor-Regel.
14 12 10 8 M3
6
HCPI
4
0 -2
1991Jan... 1991Sep... 1992May... 1993Jan... 1993Sep... 1994May... 1995Jan... 1995Sep... 1996May... 1997Jan... 1997Sep... 1998May... 1999Jan... 1999Sep... 2000May... 2001Jan... 2001Sep... 2002May... 2003Jan... 2003Sep... 2004May... 2005Jan... 2005Sep... 2006May... 2007Jan... 2007Sep... 2008May... 2009Jan... 2009Sep...
2 Abbildung 83: Inflationsrate (HCPI, links) und prozentuale Veränderung der Geldmenge M3 in der Euro-Zone (Quelle: Europäische Zentralbank; http:// sdw.ecb.europa.eu/home.do?chart=t1.2)
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Teil 2: Makroökonomie
Die Idee der direkten Steuerung der Inflationsrate (Inflation targeting) wurde in Neuseeland, Kanada und Großbritannien entwickelt und wird auch zunehmend von Schwellenländern praktiziert. Anders als die Geldmengensteuerung entstammt diese Idee keiner ausgefeilten Theorie, sondern der geldpolitischen Tagespraxis der Notenbanken. Konkret geht man derart vor, dass man ein Inflationsziel definiert (zumeist ein Zielband), das man erreichen will. Dieser Zielwert wird mit der aktuellen Inflationsprognose verglichen – liegt der Prognosewert über (unter) dem Zielwert, so muss man die Geldpolitik restriktiver (expansiver) gestalten, also die Zinsen erhöhen (senken). So einfach das klingt, so schwierig ist das: Zunächst einmal ist eine Prognose der zukünftigen Inflationsrate alles andere als einfach, vor allem, wenn Sie bedenken, dass wir ja noch nicht einmal den genauen Zusammenhang zwischen Geldmenge und Inflationsrate kennen (darüber haben wir unter der Überschrift „Transmissionsmechanismen“ gesprochen). Zudem wissen wir aus Erfahrung, dass eine Maßnahme der Notenbank sich mit etwa ein bis anderthalb Jahren Verzögerung auf die Realwirtschaft niederschlägt. Wenn die Notenbank also heute eine Maßnahme durchführt, so zeigen sich die realen Folgen (die ja auch für die Inflationsrate wichtig sind) erst in einem bis anderthalb Jahren (das kann man sich vorstellen wie das Lenken eines Supertankers: Wenn man das Steuerrad herumreißt, dann dauert es ein paar Kilometer, bis der Tanker darauf reagiert und umschwenkt). Das erleichtert eine Inflationssteuerung nicht gerade. Der Vorteil des Inflation targeting wird von seinen Befürwortern darin gesehen, dass die Notenbank einfach und klar kommunizieren kann, was sie zu tun gedenkt – ein Punkt, der wie wir später sehen werden, wichtig ist.
In der Praxis: Inflationssteuerung und die Bank of England Die englische Notenbank praktiziert das Inflation targeting: Das Finanzministerium gibt ein festes Inflationsziel vor, das bei zwei Prozent liegt. Erreicht die Inflationsrate den Wert von einem oder drei Prozent, so muss der Zentralbankrat eine schriftliche Erklärung über diese Zielverfehlung abgeben. Zudem veröffentlicht die Bank of England vierteljährlich Inflationsprognosen für die kommenden zwei Jahre in Form eines Inflation Report. Für die Inflationsprognose nutzt die Bank eine Vielzahl von Daten und Modellen.
Eine andere, mittlerweile rege diskutierte Strategie ist die so genannte Taylor-Regel, auf die der amerikanische Ökonom John Taylor Anfang der 1990er Jahre gestoßen ist, als er die Zinspolitik der amerikanischen Notenbank untersuchte. Nach dieser Formel bestimmt sich der kurzfristige Zinssatz der Notenbanken durch:
die aktuelle Inflationsrate, durch den langfristigen realen kurzfristigen Zinssatz,
18 Was ist Geld?
die gewichtete Differenz zwischen der aktuellen Inflationsrate und einer Zielinflationsrate und die
gewichtete Outputlücke, also die Differenz zwischen dem aktuellen Sozialprodukt und dem Produktionspotential einer Volkswirtschaft. Taylor erklärte zunächst mit Hilfe dieser Formel die Zinspolitik der amerikanischen Notenbank, doch Ökonomen kamen rasch auf den Gedanken, dass diese Formel nicht nur eine Beschreibung der Zinspolitik der Notenbank sein könnte, sondern auch eine gute Richtlinie für die Geldpolitik. Vereinfacht gesagt also soll die Geldpolitik reagieren, wenn die tatsächliche Inflationsrate über (oder unter) der gewünschten Inflationsrate liegt und wenn die tatsächliche Produktion über (oder unter) der tatsächlichen Produktionskapazität liegt. Gibt es keine Abweichungen vom Inflationsziel und vom Output-Ziel, dann ist der aktuelle Zinssatz gleich dem durchschnittlichen realen kurzfristigen Zinssatz, er ist dann geldpolitisch betrachtet neutral. Viele Ökonomen nutzen heute die Taylor-Regel, um sich ein Bild von der Geldpolitik einer Notenbank zu machen, aber bisher ist keine Notenbank dazu übergegangen, ihre Politik an dieser Formel auszurichten.
In der Praxis: Die geldpolitische Strategie der Europäischen Zentralbank Die geldpolitische Strategie der EZB basiert auf dem so genannten Zwei-Säulen-Ansatz. Die erste Säule ist die wirtschaftliche Analyse, bei der die EZB auf die kurz- bis mittelfristigen Bestimmungsfaktoren der Preisentwicklung achtet. Die EZB überprüft hier beispielsweise die Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Produktion, der Nachfrage und der Arbeitsmarktbedingungen, Preis- und Kostenindikatoren, die Finanzpolitik sowie die Zahlungsbilanz des EuroWährungsgebiets. Auch die Entwicklung der Finanzmärkte und der Preise für Vermögenswerte werden beobachtet. Die zweite Säule ist die monetäre Analyse, hier werden Geldmenge und Liquiditätslage untersucht. Dabei hat die EZB im Rahmen ihrer monetären Analyse einen Referenzwert für M3 fest gelegt. (Sehr) Überspitzt könnte man sagen, dass die erste Säule in Richtung Inflation targeting schielt, die zweite Säule eher der Geldmengensteuerung nahe kommt. Und was hält die EZB von der Taylor-Regel? Das erläutert der Europa-Volkswirt der Bank Goldman Sachs, Thomas Mayer, in einer Kolumne des Manager-Magazins: „Obwohl der Zeitpunkt von Zinsänderungen die Marktteilnehmer oft überrascht hat, lässt sich das Verhalten der Europäischen Zentralbank (EZB) dennoch recht gut mit der sogenannten Taylor-Regel … erklären“. (Quelle für das Mayer-Zitat: Die Goldman-Sachs-Kolumne: Der Spielraum der EZB; Manager-Magazin vom 17.10.2001; http://www. manager-magazin.de/geld/artikel/0,2828,162899,00.html
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Zusammenfassung 1. Entwickelte Volkswirtschaften benötigen funktionierende Finanzmärkte, auf denen Sparer Ihr Geld anbieten, das Investoren dann nachfragen. Auf Finanzmärkten erfolgt eine Fristentransformation, eine Losgrößentransformation und eine Risikotransformation; Finanzmärkte ermöglichen damit Sparen und Altersvorsorge sowie Investieren, also der Aufbau von Unternehmen. Gehandelt werden auf Kapitalmärkten Eigenkapital (Aktien) und Fremdkapital (Anleihen). 2. Geld hat mehrere Funktionen: es ist Tauschmittel, Recheneinheit und ein Medium zur Wertaufbewahrung. Damit gibt es grundsätzlich viele verschiedene Arten von Geld. In der Geldpolitik definiert man Geld auch über seine Liquidität, d.h. darüber, wie rasch man damit Geschäfte tätigen kann. In der Praxis unterscheidet man zwischen verschiedenen Geldmengenaggregaten (M1, M2 und M3). 3. Aus der Entstehung von Geld lassen sich auch die elementaren Kennzeichen einer Bank herleiten: Banken schaffen Geld (was sie aber ohne die Notenbank nicht können), sie wollen Geld verdienen (unter anderem dadurch, indem sie für das Geld, das sie verleihen, mehr Zinsen erhalten, als sie den Kunden zahlen, die ihr Geld bei der Bank einlegen), und Banken haben ein systemisches Risiko. 4. Die Notenbank betreibt Geldpolitik über die Gestaltung der Mindestreserven, Offenmarktpolitik und Zinspolitik. Die Transmission geldpolitischer Impulse in den realen Sektor, also die Wirkungen der Geldpolitik auf das reale Sozialprodukt, erfolgt über die Zinsen (zinstheoretischer Transmissionskanal) oder über Vermögenswerte (vermögenstheoretischer Transmissionsmechanismus) 5. Die Folgen geldpolitischer Impulse für das reale Sozialprodukt lassen sich über die Quantitätsgleichung zeigen. Dabei gibt es zwei Theorien: Ein Anstieg der Geldmenge führt lediglich zu mehr Inflation (klassische Dichotomie), oder aber er führt zu einem Anstieg des realen Sozialproduktes. In der Praxis haben die Notenbanken in den vergangenen Jahren versucht, Geldpolitik zu betreiben, indem sie die Geldmenge steuerten. Mittlerweile ist diese Strategie umstritten.
Der Kreislauf der Volkswirtschaft: Makroökonomische Theorie Eins nämlich sind Anfang und Ende auf der Peripherie des Kreises. Heraklit (griech. Philosoph) Um was geht es? Wir haben jetzt viele Grundlagen der Makroökonomie kennen gelernt, und mit Hilfe dieser Grundkenntnisse können wir nun ein paar elementare makroökonomische Ideen entwickeln, die uns ein wenig darüber verraten, wie Volkswirtschaften funktionieren. Dazu wollen wir in einem ersten Schritt den elementaren Wirtschaftskreislauf kennen lernen. Mit Hilfe dieses Kreislaufs können wir eine erste Erklärung dafür finden, warum Rezessionen überhaupt möglich sind. Natürlich wissen Sie aus den Wirtschaftsnachrichten, dass es Arbeitslosigkeit und Rezessionen gibt – aber so naiv diese Frage auch klingt: warum eigentlich? Wie wir bereits diskutiert haben, wollen Menschen doch grundsätzlich mehr Wohlstand und nicht weniger, und wer mehr Wohlstand will, muss mehr arbeiten. Wie kann es sein, dass Menschen unfreiwillig arbeitslos sind, dass sie mehr Wohlstand schaffen wollen, aber nicht können? Noch verwirrender wird diese Frage, wenn man überlegt, wie man sich eine einfache Volkswirtschaft vorstellen muss – dann nämlich kommt man zu dem Ergebnis, dass Rezessionen theoretisch gesehen gar nicht möglich sind. Diesen überraschenden Gedanken erläutert das nach seinem Erfinder benannte Saysche Theorem, das man am besten anhand eines einfachen Wirtschaftskreislaufes erklärt. Der elementare Wirtschaftskreislauf. Die Grundidee des Sayschen Theorems ist, dass jedem Angebot immer eine entsprechende Nachfrage gegenüber steht. Dazu stellen wir uns zunächst eine ganz einfache Volkswirtschaft vor, die nur aus Haushalten und Unternehmen besteht (Abbildung 84). Unter Haushalten verstehen wir alle Bürger unserer Volkswirtschaft, die Waren kaufen und Leistungen anbieten. Der Kauf von Waren erfolgt auf den Gütermärkten; dort kaufen sie Konsumgüter und Dienstleistungen; Unternehmen kaufen auf diesen Märkten Investitionsgüter wie Maschinen, mit denen sie dann wieder mehr Güter herstellen können. Auf den Faktormärkten werden Leistungen angeboten, das sind in der Regel Arbeit und die Überlassung von Kapital (Ersparnissen). Unternehmen sind in diesem Schaubild keine Personen, sondern Institutionen, in denen Arbeit und Dienstleistungen miteinander kombiniert werden, um daraus Produkte herzustellen. Das stellt sich also wie folgt dar: Ein Haushalt verkauft seine Arbeit an das Unternehmen, das zahlt ihm im Gegenzug dafür einen Lohn, und das Unternehmen stellt aus der Arbeit ein Produkt
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Konsum
Haushalte
• Güter • Dienstleistungen • Maschinen
Unternehmen
Einkommen
Abbildung 84: Das Saysche Theorem
• Löhne, Gehälter • Mieten, Zinsen, Pachten • Gewinne
her, das es dann am Gütermarkt verkauft. Jetzt können Sie erkennen, warum auch die Unternehmer als Personen Haushalte sind: Sie verkaufen eine Leistung – Arbeit und Kapital (ihre Ersparnisse) – an das Unternehmen und bekommen im Gegenzug dafür ein Einkommen – Mieten, Pachten oder eben die Gewinne des Unternehmens. Das Unternehmen ist in dieser Modellwirtschaft also nur der Ort, an dem die verschiedenen Leistungen der Haushalte miteinander kombiniert werden, damit ein neues Produkt entsteht. Somit fließen alle Einkommen, die bei der Produktion und durch den Verkauf von Produkten in den Unternehmen entstehen, letztlich wieder den Haushalten zu, und diese können nun mit ihren Einkommen am Gütermarkt einkaufen. Wenn aber die Haushalte ihr Einkommen komplett ausgeben – und das wollen wir einmal für einen Moment lang annehmen – dann kommen wir zum Kerninhalt des Sayschen Theorems: Jedes Angebot schafft sich seine eigene Nachfrage. Der Grund ist klar: Sobald ein Unternehmen etwas herstellt, benötigt es dazu die Dienste der Haushalte, wofür diese auch bezahlt werden. Und diese Bezahlung – das Einkommen der Haushalte – können diese nun dafür verwenden, die von den Unternehmen produzierten Güter zu kaufen. Und die Höhe der Einkommen reicht auch aus, um alle von den Unternehmen hergestellten Produkte zu kaufen, da sich ja der Wert der Produktion durch die Produktionskosten – also die Löhne, Mieten, Zinsen, Gewinne und Pachten, die an die Haushalte fließen – bestimmt. Kurzum: Immer, wenn ein Unternehmen etwas produziert, schafft es damit automatisch Einkommen in genau der Höhe, die ausreichen, um die produzierten Güter auch zu kaufen. Damit schafft sich jedes Angebot seine eigene Nachfrage. Das klingt zunächst einmal etwas irritierend, aber dazu muss man sich nur überlegen, warum Menschen für andere arbeiten: nur, damit sie von den Einkommen selbst Güter kaufen können, die wiederum mit der Arbeit anderer produziert worden sind. Wenn wir das Geld als Tauschmittel einmal außen vor lassen, so wird dieser Gedanke offensichtlich: Niemand bietet seine Arbeitskraft an, ohne dafür eine entsprechende Gegenleistung in Form eines anderen Gutes oder einer anderen Dienstleistung zu erhalten. Das
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bedeutet, dass jedem Angebot immer eine entsprechende Nachfrage gegenüber steht. Damit kann es gar nicht zu einem Ausfall an Nachfrage kommen, da jedes Gut, das produziert und angeboten wird, immer auch Einkommen und damit Nachfrage in gleicher Höhe schafft. In der Welt des Say`schen Theorems kann es also gar nicht zu einer Rezession, einem Ausfall an Nachfrage kommen: Die Unternehmen können ihre Produktion jederzeit verkaufen, da den von ihnen hergestellten Produkten Einkommen in entsprechender Höhe gegenüberstehen. Es kann zwar zeitweise passieren, dass die Struktur der Nachfrage nicht immer mit der Struktur des Angebotes übereinstimmt, dass die Anbieter also Produkte herstellen, welche die Konsumenten nicht wollen, aber dann greift der Preismechanismus ein: Diese Produkte werden weniger nachgefragt, die Preise dafür sinken, die Unternehmen verlagern daraufhin ihre Produktion auf andere Produkte. Das wäre also nur ein Problem des Strukturwandels, den man am besten über den Preismechanismus regelt.
Köpfe: Jean Baptiste Say Jean Baptiste Say (1767–1832) hatte einen Teil seiner Ausbildung in England erhalten, so dass er die englische Kultur und Sprache ebenso lernte wie die angelsächsische Abneigung gegen einen zu großen staatlichen Interventionismus. Er nahm Anteil an den politischen Umwälzungen der damaligen Zeit, war 1792 Freiwilliger der Revolutionsarmee, 1799 Mitglied des Tribunals, das Gesetze und Maßnahmen diskutieren sollte, bevor sie dem Gesetzgeber vorgelegt wurden, und gehörte als Tribun einem Gremium an, das Napoleon den Weg zum Aufstieg ebnete. Er arbeitete als Unternehmer, Architekt und Ingenieur, später verdingte er sich als Schriftsteller. Seine Ideen deckten sich allerdings nicht mit den Vorstellungen Napoleons, was wohl auch die Publikation seiner Werke behinderte.
Und jetzt der Einwand, der Ihnen vermutlich schon die ganze Zeit auf der Zunge lag: Was, wenn die Menschen ihre Einkommen nicht ausgeben, sondern sparen? Diesen Einwand können wir berücksichtigen, indem wir Abbildung 84 weiterentwickeln zu Abbildung 85. Wenn die Menschen sparen, so bringen sie ihr Geld auf die Bank. Diese leiht es gegen Zinsen an die Unternehmen aus, die mit dem geborgten Geld Investitionen durch Güterkäufe am Markt für Kapitalgüter (also Maschinen etc.) tätigen – die ja auch ein Teil der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage sind. Die Ersparnisse der Konsumenten werden also über die Banken in Investitionsgüternachfrage umgewandelt; Konsumnachfrage wird also durch Investitionsgüternachfrage ersetzt. Und damit fällt durch Sparen keine Nachfrage aus. Wenn die Menschen nun mehr sparen, dann greift wieder der Preismechanismus ein, und der entscheidende Preis ist hier der Zins. Als wir uns in
Jean Baptiste Say
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Kapitel 18 die Funktionsweise der Kapitalmärkte angehsehen haben, haben wir auch festgehalten, dass bei sinkenden (steigenden) Zinsen die Nachfrage nach Kapital steigt (sinkt), und die Unternehmen dann mehr investieren. Genau das passiert hier: Wenn die Konsumenten sparen, bringen sie mehr Geld auf die Bank, das Angebot an Kapital steigt, also steigt das Angebot der Banken an Krediten und die Zinsen – der Preis für diese Kredite – sinken. Die sinkenden Zinsen machen mehr Investitionen attraktiver (die Kredite für die Investitionen werden billiger), zugleich machen sie den Konsum gegenüber dem Sparen attraktiver (bei so geringen Zinsen lohnt es sich nicht, zu sparen). Das ist das Ergebnis des Sayschen Theorems, wenn wir nun Sparen einführen: Wird mehr gespart, dann steigt das Angebot an Kapital (die Angebotskurve in Abbildung 74 verschiebt sich nach rechts), die Zinsen sinken, daraufhin wird mehr investiert (eine Bewegung nach unten auf der Nachfragekurve von Abbildung 74), die Nachfrage nach Investitionen und damit die Gesamtnachfrage steigt. Ergebnis: Durch Sparen entsteht kein Nachfrageausfall, es erfolgt lediglich eine Verschiebung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage von Konsumgütern zu Kapitalgütern. Es bleibt dabei: Ein Ausfall von gesamtwirtschaftlicher Nachfrage ist in dieser Ideenwelt nicht möglich. Ein wichtiger Punkt dabei: Wenn die Zinsen also das Sparverhalten der Menschen bestimmen, dann bestimmen sie auch automatisch den Konsum, denn Menschen können ihr Einkommen nur für Sparen und Konsumieren ausgeben; und wenn die Menschen aufgrund gestiegener Zinsen mehr sparen, dann geht das nur, wenn sie zugleich weniger konsumieren. Der Konsum hängt also in der klassischen Welt vom Zinssatz ab. Diese Ergebnisse ändern sich auch nicht, wenn wir den Staat in diesen Kreislauf einführen: Mittels Steuern nimmt er den Bürgern Geld weg, verteilt es aber über die Bereitstellung öffentlicher Güter, Subventionen oder Transfers wieder an seine Bürger. Sind die Steuereinnahmen größer als die Staatsausgaben, dann hat der Staat einen Überschuss, den er spart, also bei den Banken anlegt (woraufhin die Zinsen sinken und die Investitionen steigen); haben wir ein staatliches Budgetdefizit, dann leiht sich der Staat Geld von seinen Bürgern und gibt dieses aus. Nachfrageausfälle kann der Staat
Sparen
Banken Ersparnisse Kredite
Investitionen
Konsum
Unternehmen Investieren Produzieren
Haushalte Konsum Sparen Abbildung 85: Das Saysche Theorem mit Sparen und Investieren
Einkommen
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auf diese Weise nicht bewirken. Im Gegenteil – er wird nachher eine wichtige Rolle bei der Schaffung von Nachfrage spielen. Bleibt noch eine Idee, um das Saysche Theorem zu torpedieren: Was, wenn die Menschen ihr Geld zum Sparen nicht auf eine Bank bringen, sondern einfach unter ihr Kopfkissen legen? Man bringt das Geld nicht auf die Bank, wo es Zinsen bringt (warum sollte man das tun?), sondern lässt es in der Brieftasche, unter dem Kopfkissen – wird dann diesem Kreislauf Nachfrage entzogen? Grundsätzlich ja, doch auch darauf hat dieses Theorem eine Antwort parat: Wenn auf diesem Weg – Ökonomen sprechen in diesem Fall von Horten – Geld dem Wirtschaftskreislauf entzogen wird, so sinken aufgrund der gesunkenen Nachfrage die Preise, und die gleiche Menge an Gütern wird immer noch verkauft – eben nur zu geringeren Preisen. Es sinken also einfach nur die durchschnittlichen Preise, die Nachfrage bleibt unverändert. In der Welt des Sayschen Theorems kann also schlichtweg keine Nachfrage ausfallen, und damit können auch weder Massenarbeitslosigkeit noch Rezessionen entstehen. Mit diesen Ideen haben wir schon alles beisammen, um das ökonomische Weltbild vor der Zeit der großen Depression zu erläutern, die sogenannte klassische Makroökonomie (auch wenn ihre Vertreter mit dem Wort Makroökonomie vermutlich nicht viel anzufangen gewusst hätten). In wichtigen Punkten zusammengefasst sieht deren Weltbild so aus:
Ein permanenter (oder länger andauernder) Ausfall von Nachfrage ist wegen des Sayschen Theorems nicht möglich; jedes Angebot schafft sich seine eigene Nachfrage.
Ersparnisse werden automatisch angelegt und erhöhen damit das Angebot an Kapital, wodurch die Zinsen sinken. Diese sinkenden Zinsen treiben dann die Investitionsnachfrage, die ebenfalls ein Teil der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage ist.
Allerdings müssen dafür auch die Preise flexibel sein, dann kann auch Horten nicht zu einem längeren Ausfall von Nachfrage führen. Zudem sorgen flexible Preise dafür, dass sektorale Strukturkrisen, also Situationen, in denen die Produkte einer Branche nicht mehr nachgefragt werden, nur vorübergehender Natur sind.
Ein ganz besonderer Preis sind dabei die Löhne – sind diese flexibel, so kann es gar nicht zu unfreiwilliger Arbeitslosigkeit kommen (diesen Punkt haben wir bereits erörtert). Die Höhe der realen (also preisbereinigten) Löhne bestimmt die Höhe der Produktion; bestimmt wird die Höhe der Löhne durch die Entscheidung der Haushalte, Arbeit anzubieten, also letztlich durch deren Opportunitätskosten der Arbeit. Je höher die Löhne, umso teurer ist Freizeit, umso mehr Arbeit wird man anbieten. Hier sehen Sie die Überlegungen des ersten Teils dieses Buches in Aktion. Ganz wichtig dabei ist, dass sich die Haushalte an den realen Löhnen orientieren; sie erkennen also die Folgen der Inflation und preisen diese in ihre Angebotsentscheidung ein – steigen nur die Nominal-
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löhne, während die Reallöhne unverändert bleiben, so erhöhen sie nicht ihr Arbeitsangebot. Dieser Punkt wird uns beim Keynesianismus noch einmal beschäftigen.
Das gilt auch für die Unternehmen; sie verhalten sich so, wie wir es im 5. und 6. Kapitel erörtert haben. Sie maximieren ihre Gewinne und bieten entsprechend der Regel Grenzkosten gleich Grenzerlöse an. Dabei orientieren sich die Unternehmen auch an den realen Größen und nicht an den nominalen Preisen und Löhnen.
Wenn Sie genau hinschauen, erkennen Sie auch die Rolle, die Geld in diesem Konzept spielt: Geld ist nur ein Schleier, der sich auf die Wirtschaft legt, es ist nur ein Tauschmittel, das die Höhe der Preise bestimmt. Pumpen Sie mehr Geld in die Wirtschaft, dann versuchen die Haushalte mit diesem Mehr an Geld mehr einzukaufen, was nur zu steigenden Preisen führt. Die reale Produktion erhöht sich dadurch nicht (an was erinnert Sie das?), und dadurch auch nicht die Beschäftigung. Die Höhe der nominalen Preise wird also durch die Höhe der Geldmenge bestimmt, die realen Variablen – Produktion, Beschäftigung – ändern sich hingegen nicht durch die Menge des umlaufenden Geldes. Diese Vorstellungen passen präzise zur klassischen Dichotomie und zur Quantitätsgleichung.
Damit haben wir in der klassischen Theorie eine klare Rollenverteilung: Die Höhe der Geldmenge bestimmt damit also nur die Höhe der nominalen Preise; die Höhe der realen, also preisbereinigten Löhne bestimmt die Höhe der Beschäftigung und damit der Produktion. Wenn Sie genau hinschauen, werden Sie erkennen, dass diese Konzeption vorwiegend mikroökonomisch geprägt ist; die Ideen aus dem ersten Teil dieses Buches spielen hier die Hauptrolle. Solange Märkte reibungslos funktionieren, so die Idee, kann es nicht zu länger andauernden Krisen kommen. Damit ist diese Theorie eigentlich auch keine makroökonomische Theorie, sondern eine mikroökonomische Erklärung makroökonomischer Prozesse. Streng genommen gab es damals keine makroökonomische Theorie, sie war nach Überzeugung der Klassiker schlichtweg nicht nötig. Aus diesen Überlegungen ergeben sich auch die politischen Forderungen der klassischen Ökonomen:
Preise und Löhne müssen so flexibel wie möglich sein, dann kommt es nicht zu Krisen. Flexible Preise und Löhne sind also eine Art Schockabsorber; Stoßdämpfer, die dafür sorgen, dass Schocks eine Volkswirtschaft nur kurzfristig aus dem Gleichgewicht bringen können.
Staatliche Eingriffe in den Wirtschaftskreislauf sind in dieser Welt gar nicht notwendig; sie sind im Gegenteil eher schädlich, wenn dadurch der Preismechanismus gestört wird und damit die Fähigkeit der Wirtschaft, Schocks zu bewältigen, gemindert wird. Diese Vorstellung deckt sich mit den Ideen im ersten Teil des Buches: Märkte sind effiziente Problemlöser, der Staat sollte nur bei Marktversagen eingreifen.
Krisen und Arbeitslosigkeit entstehen also dadurch, dass die Preise und Löhne nicht ausreichend flexibel reagieren.
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Das ist ein in sich geschlossenes konsistentes System, und wenn man die Annahmen der Klassiker teilt, dann sind die Ergebnisse schlüssig. Doch irgendetwas kann dabei nicht stimmen, sonst wäre es nie zur großen Depression gekommen. Also, was ist schief gelaufen? Die Weltwirtschaftskrise schien die Ideen der klassischen Ökonomen Lügen zu strafen. Wie lässt sich diese Krise erklären? Die Krise bereitete den Weg für einen der wohl wichtigsten Ökonomen des zwanzigsten Jahrhunderts: John Maynard Keynes. Say versus Keynes. Also, wie konnte es zu einer solchen Krise wie 1929 kommen, obwohl doch die damals herrschende Theorie besagte, dass eine solche Krise nicht möglich sei? Ein Ausweg wäre zu sagen, dass diese Krise ja nur temporär ist und sich mit Hilfe der Märkte rasch von selbst erledigen wird. Das kann durchaus sein, aber was nützt eine Theorie, die tröstet, dass eine Krise nur vorübergehend ist, wenn in der Zwischenzeit Menschen arbeitslos werden, wir Wohlfahrt einbüßen und politische Unruhen riskieren? Und wie lange soll denn diese Frist sein? Vermutlich werden sich die meisten Krisen langfristig erledigen, doch wie Keynes es formulierte: Auf lange Sicht sind wir alle tot – was nützt uns dann eine solche Theorie? Also brauchen wir eine andere Theorie, die uns erstens erklären kann, wie eine solche Krise entstehen kann, und zweitens uns Ideen gibt, was wir dagegen tun können. Und diese Idee stammt von John Maynard Keynes. Lassen Sie uns die keynesianische Theorie mit Hilfe ihrer wichtigsten Bausteine erörtern, die da wären: Unsicherheit, einkommensabhängige Konsumnachfrage, die Investitionsnachfrage, Horten sowie starre Preise.
Unsicherheit. Unsicherheit ist ein elementarer Bestandteil der keynesianischen Theorie. In der klassischen Theorie gibt es keine Unsicherheit bezüglich der Zukunft; wenn sich die Situation ändert, passen sich die Menschen rasch und effizient an die geänderten Umstände an. Keynes hingegen postuliert, dass Menschen unter Unsicherheit leiden, sie wissen oft nicht, was sie erwartet, und müssen Entscheidungen treffen, ohne genau zu wissen, was dabei herauskommt. Diese Unsicherheit kann dazu führen, dass Menschen Entscheidungen vertagen, sich zurückhalten, oder sogar panikartig reagieren.
Konsumnachfrage. Die Nachfrage nach Konsumgütern ist bei Keynes abhängig vom Einkommen – je höher das Einkommen, desto höher die Konsumnachfrage. Dabei kann man unterstellen, dass die Menschen jeweils einen bestimmten Anteil ihres Einkommens konsumieren; gemessen wird dies anhand ihrer Konsumquote c. Wenn man beispielsweise das Einkommen um 100 Euro steigt, und von diesem Anstieg 80 Euro konsumiert, so beträgt die marginale Konsumquote c= 0,8. Hier liegt ein wichtiger Unterschied zur Klassik: In der Klassik wird der Konsum vom Zins bestimmt, weil das Sparen vom Zins abhängt; bei Keynes wird der Konsum vom Einkommen bestimmt, und damit wird das Sparen automatisch ebenfalls vom Einkommen bestimmt (denn was die Menschen nicht konsumieren, sparen sie).
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John Maynard Keynes © picture-alliance/ United Archives/Top Foto
Köpfe: John Maynard Keynes Die Bedeutung von Keynes‘ Werk wird bisweilen mit der Wirkung von Luther für die Kirche verglichen – er hat die Wirtschaftstheorie nachhaltig beeinflusst. Er selbst war durchaus auch dieser Ansicht: „Sie sollten wissen, dass ich an einem Buch schreibe, das …die Art und Weise, wie die Welt über ökonomische Problemstellungen nachdenkt, revolutionieren wird“, schrieb er 1935 dem Schriftsteller George Bernhard Shaw. Keynes, der aus einer uralten englischen Familie stammt, zeigte schon früh seine Begabungen für Mathematik und Geschichte. Im ersten Weltkrieg arbeitete er im Schatzamt und entwickelte dort das System der alliierten Kriegsanleihen zur Finanzierung des Krieges. Enttäuscht über die Reparationspolitik der Siegermächte, die er für falsch hielt, quittierte er seinen Dienst beim Schatzamt; sein Buch über die seiner Meinung nach dramatischen Folgen der Reparationen, welche die Deutschen zahlen mussten, machte ihn schlagartig berühmt. Nach dem ersten Weltkrieg verdiente sich Keynes ein Vermögen durch Spekulationen an der Börse. Während der Depression wurde Keynes einer der gefragtesten Experten in Sachen Krisenbewältigung; seine Ideen bereiteten den Weg für Roosevelts New Deal in Amerika. Keynes war ein Liebhaber der Künste und ein Buchliebhaber: er finanzierte den Bau eines Theaters in Cambridge, hatte eine exquisite Sammlung seltener Bücher und impressionistischer sowie expressionistischer Gemälde. Keynes war sich des Einflusses von Ökonomen durchaus bewusst: „Praktiker, die sich frei von intellektuellen Einflüssen glauben, sind für gewöhnlich die Sklaven irgendeines verblichenen Ökonomen“, schrieb er. Gegen Ende seines Lebens allerdings scheint er sich aber auch wieder den Ideen der Märkte geöffnet zu haben, die er in seinen Schriften kritisiert. So sagte er bei einem Essen bei der Bank von England: „Bei Problemlösungen vertraue ich zunehmend auf jene unsichtbare Hand, die ich noch vor zwanzig Jahren versucht habe, aus dem ökonomischen Denken zu vertreiben.“. Kurios auch das Zitat aus einem Brief an seine Frau, eine damals berühmte Balletttänzerin: „Warum sind alle Ökonomen verrückt?“.
Die Nachfrage nach Investitionen. Die Nachfrage nach Investitionen hängt bei Keynes auch ab vom Zins. Allerdings spielen dabei die Erwartungen der Investoren und die Rentabilität der Investitionen eine wichtige Rolle: Investoren machen sich ein Bild davon, was eine bestimmte Investition an Erträgen abwirft, und wenn dieser Ertrag höher ist als der aktuelle Zins, dann investieren die Unternehmen. Wenn also der aktuelle Zins, zu dem man sich Geld ausleihen kann, sagen wir drei Prozent beträgt und ein spezifisches Investitionsobjekt fünf Prozent abwirft, dann wird der Unternehmer investieren. Hier kommen nun die Erwartungen und die Unsicherheit ins Spiel: Erwarten die Unternehmen schlechte Zeiten, in denen die Investitionen wenig Erträge abwerfen, dann werden sie bei unveränderten Zinsen weniger investieren. Das ist ein deutlicher Unterschied zur Klassik: Dort investieren die Unterneh-
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men weniger, wenn die Zinsen steigen. Bei Keynes hingegen können die Investitionen – und damit die Investitionsgüternachfrage – alleine dadurch sinken, dass die Unternehmen schlechtere Zeiten erwarten und sich deswegen eine Investition nicht mehr lohnt.
Horten. Bei Keynes kann es dazu kommen, dass die Haushalte Geld horten, also nicht konsumieren und auch nicht auf die Bank bringen. Nach klassischer Lesart ist das unvernünftig, denn wer sein Geld unters Kopfkissen legt, verzichtet auf die Zinsen, die er auf der Bank (auf den Kapitalmärkten) bekommen würde. Die Opportunitätskosten des Hortens (die entgangenen Zinsen) halten die Haushalte also davon ab, ihr Geld zu horten. Warum aber sollten Menschen Geld horten? Eine Möglichkeit ist Unsicherheit: In Zeiten hoher Unsicherheiten neigen Menschen dazu, einen Teil ihres Vermögens in Geld zu halten, statt auszugeben oder auf die Bank zu bringen oder anzulegen. Eine weitere Möglichkeit sind die Erwartungen der zukünftigen Kursverläufe: Wenn man erwartet, dass die Erträge der Unternehmen sinken, dann werden auch die Erträge dieser Unternehmen sinken und damit die Kurse ihrer Wertpapiere (Aktien oder auch Anleihen). Wer aber sinkende Kurse erwartet, wird nicht investieren, sondern warten, bis die Kurse gefallen sind. Damit haben wir eine rationale Erklärung dafür, warum Menschen trotz der Opportunitätskosten des Hortens das Geld nicht auf die Bank bringen: Unsicherheit und Pessimismus.
Starre Preise und Löhne. In der Klassik bringen flexible Löhne und Preise alle Märkte wieder ins Gleichgewicht. Unterstellt man aber wie Keynes, dass Löhne und Preise starr sind, kann es rasch zu Krisen kommen. Mit diesen Bausteinen können wir nun eine erste Erklärung dafür anbieten, wieso trotz des Sayschen Theorems Krisen wie 1929 entstehen können. Wie spielt sich das Ganze nun ab? Ausgangspunkt einer solchen Krise können exogene Ereignisse oder Schocks sein – ein Börsenkrach, schlechte Nachrichten aus der Politik, drohende Kriege oder ähnliches. Diese Ereignisse haben zur Folge, dass sich die Unsicherheit erhöht und die Menschen ihre Erwartungen anpassen: Die Unternehmen reduzieren ihre Gewinnerwartungen und werden deswegen weniger investieren; die Konsumenten rechnen mit schlechten Zeiten, konsumieren weniger und sparen mehr. In der Klassik würde das dazu führen, dass die gestiegenen Ersparnisse zu sinkenden Zinsen und die sinkenden Zinsen zu mehr Investitionen führen, die dann den Ausfall der Konsumnachfrage kompensieren. Doch in der keynesianischen Welt funktioniert das nicht. Zum einen werden die Unternehmen trotz der sinkenden Zinsen nicht mehr investieren, weil sich ihre Erwartungen verschlechtert haben. Damit wird der Ausfall von Konsumnachfrage nicht durch steigende Investitionsnachfrage ersetzt. Doch nicht nur das: Wenn die Konsumenten aufgrund der gestiegenen Unsicherheit einen Teil ihres Einkommens nicht auf die Bank bringen, sondern horten, führt dies auch zu einem Nachfrageausfall, der nicht durch sinkende Zinsen (und damit steigende Investitionen)
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aufgefangen wird. Damit ist das Saysche Theorem ausgehebelt: Es kommt zu einem Ausfall von Nachfrage. Und es kommt noch schlimmer: Wenn der Konsum sinkt, dann werden die Unternehmen ihre Ertragserwartungen nach unten revidieren und weniger produzieren. Damit stellt Keynes das Saysche Theorem auf den Kopf: Nicht das Angebot bestimmt die Nachfrage, sondern die Nachfrage (respektive die Erwartungen bezüglich der Nachfrage) bestimmen das Angebot. Wenn die Unternehmen weniger Absatz erwarten, dann werden sie weniger produzieren. Jetzt kommt die einkommensabhängige Nachfrage nach Konsumgütern ins Spiel: Wenn die Unternehmen die Produktion reduzieren, sinken die Löhne und Gewinne, also die Einkommen, wenn aber die Einkommen sinken, sinkt aufgrund der einkommensabhängigen Konsumnachfrage der Konsum. Wenn dieser sinkende Konsum nun wiederum dazu führt, dass die Unternehmen ihre Produktion weiter senken, damit sinken die Einkommen weiter, was weiter zu sinkender Produktion führt – und so weiter. Auf diesem Weg kann eine Spirale nach unten entstehen, in der sinkender Konsum zu sinkender Produktion führt, die zu sinkenden Einkommen führt, woraufhin weiter der Konsum sinkt – es zeichnet sich eine Spirale nach unten ab, die wir uns im Zusammenhang mit dem elementaren Multiplikator noch einmal genauer ansehen werden. Nun würde in der klassischen Welt dieses Szenario durch sinkende Preise und Löhne verhindert: Wenn die Nachfrage sinkt, dann ist sie kleiner als das Angebot, woraufhin die Preise sinken und die Nachfrage wieder steigt – das verhindert einen dauerhaften Ausfall der Nachfrage. Ähnlich funktioniert das auf dem Arbeitsmarkt: Wenn durch den Rückgang der Produktion die Arbeitslosigkeit steigt, werden die Löhne sinken, was Arbeit wieder attraktiver macht, die Unternehmen stellen mehr ein, und das Problem ist gelöst. In der keynesianischen Welt hingegen nimmt man an, dass Löhne und Preise zumindest kurzfristig nach unten starr sind – damit ist dieser Ausweg aus der Krise verbaut. Fertig ist der Ausfall von Nachfrage, die keynesianische Rezession. Eine Anwendung: Das Sparparadoxon. Eine der berühmtesten – und umstrittensten – Anwendungen des Keynesianismus ist das so genannte Sparparadoxon. Es besagt dass, wenn alle Bürger mehr sparen wollen, die gesamtwirtschaftliche Ersparnis am Ende geringer wird. Das ist paradox: alle wollen mehr sparen, und am Ende stehen weniger Ersparnisse. Wie kann das passieren? In etwa so:
In der Ausgangslage kommt es zu einem Anstieg des Sparens, möglicherweise in Form eines so genanntes Angstsparens: Die Bürger haben Angst vor einer Rezession und wollen mehr Sparen.
Jetzt aber wird der Zusammenhang zwischen Ersparnis und Zinsen unterbrochen: Entweder die Bürger horten das Geld, dann fallen die Zinsen nicht und die Investitionen steigen nicht; oder aber die Unternehmen haben ebenfalls schlechte Erwartungen und investieren nicht, obwohl wegen der gestiegenen Ersparnis die Zinsen sinken. In beiden
19 Der Kreislauf der Volkswirtschaft: Makroökonomische Theorie
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Fällen passiert das Gleiche: Der Konsum sinkt, aber die Investitionen füllen nicht die dadurch entstehende Lücke. Deswegen kommt es zu einem Ausfall von Nachfrage
Die Unternehmen passen nun ihr Angebot an die gesunkene Nachfrage an; die Produktion sinkt, das Volkseinkommen sinkt, die Einkommen sinken, der Konsum sinkt weiter. Und da die Löhne und Preise starr sind, kommt es zu einem Rückgang des Volkseinkommens und Unterbeschäftigung.
Das Ergebnis: Die Bürger wollten mehr Sparen; treiben dadurch die Wirtschaft in eine Rezession, das Volkseinkommen sinkt, damit auch die gesamtwirtschaftliche Ersparnis (wer weniger Einkommen hat, spart absolut gesehen dann auch weniger). Unter den strengen Prämissen des Keynesianismus stimmt das Ergebnis: Der Wunsch nach mehr Ersparnis führt zu gesamtwirtschaftlich gesehen weniger Ersparnissen. Doch natürlich ist diese Idee nicht frei von Kritik. Zuerst einmal ist Sparen einzelwirtschaftlich gesehen notwendig – ohne Sparen keine Altersversorgung. Aus dieser Perspektive betrachtet ist es verantwortungslos, Sparen als volkswirtschaftlich schädlich darzustellen. Aber auch gesamtwirtschaftlich gesehen ist Sparen keineswegs unbedingt schädlich, wie wir bereits in Kapitel 18 erörtert haben: Sparen ist die Voraussetzung für mehr Investitionen und damit für mehr Wohlstand. Welche von beiden Ansichten über das Sparen ist denn nun richtig? Vermutlich beide. Kurzfristig kann in der Tat Sparen den erörterten keynesianischen Nachfrageausfall bewirken; aber Keynes vernachlässigt die längerfristigen Folgen des Sparens, einen Anstieg der Investitionen und den damit verbundenen Anstieg des Produktionspotentials. Vereinfacht könnte man sagen, dass Keynes‘ Analyse auf kürzere Frist bestimmend ist, längerfristig aber mehr Sparen mehr Investitionen und mehr Investitionen mehr Wohlstand bedeuten.
In der Diskussion Was spricht für oder gegen mehr Ersparnisse – für Sie persönlich und für die Wirtschaft als Ganzes? Wie geht die aktuelle Politik mit dem Thema Sparen um?
Der Multiplikator. Eine weitere wichtige Idee von Keynes ist der so genannte Multiplikator. Dessen Idee baut auf der Spirale auf, die bei einer keynesianischen Rezession entstehen kann: Sinkender Konsum führt zu sinkendem Angebot, was zu sinkenden Einkommen führt, was wiederum zu sinkenden Einkommen führt – und so weiter. Aber dieser Mechanismus kann auch in die andere Richtung führen – was passiert denn, wenn wir die Investitionen um eine Milliarde Euro steigern, beispielsweise, wenn der Staat diese Milliarde mehr ausgibt?
In einem ersten Schritt werden die Unternehmen mehr produzieren, und zwar mehr Produktion im Wert von einer Milliarde Euro (das ist ja
Ich soll konjunkturschädlich sein?
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Teil 2: Makroökonomie
der zusätzliche Konsum des Staates). Also zahlen sie auch mehr Gehalt, Zinsen, Gewinne – und zwar genau eine Milliarde mehr (eben den Wert der Produktion).
Diese Milliarde mehr Gehalt führt dazu, dass die Bürger mehr konsumieren, denn ihr Konsum hängt ja von ihrem Einkommen ab, und wenn das steigt, steigt der Konsum. Nehmen wir einmal an, dass die marginale Konsumquote 0,8 beträgt, dass die Konsumenten also von der Milliarde 800 Millionen konsumieren und die restlichen 200 Millionen sparen.
Durch das gestiegene Einkommen von einer Milliarde ist also der Konsum um 800 Millionen gestiegen, was wiederum die Produktion um exakt jene 800 Millionen erhöht. Zwischenergebnis: Die Produktion ist nun um insgesamt 1,8 Milliarden gestiegen – eine Milliarde, die der Staat mehr ausgegeben hat, plus die 800 Millionen von dem zusätzlichen Konsum, der durch die Einkommenserhöhung von einer Milliarde entstanden ist.
Aber damit ist noch nicht Schluss: Wenn die Produktion aufgrund des gestiegenen Konsums um 800 Millionen steigt, dann steigen ja auch die Einkommen wieder um 800 Millionen Euro, was bedeutet, dass bei der Konsumquote von 0,8 von diesen 800 Millionen 640 Millionen konsumiert werden (0,8 mal 800 Millionen). Damit steigt also der Konsum um weitere 640 Millionen. Auf eine Milliarde plus 800 Millionen plus 640 Millionen gleich 2,44 Milliarden Euro.
Dieser Prozess setzt sich jetzt so fort, allerdings erkennen Sie auch, dass er nicht unendlich läuft: In jeder Runde wandern von dem zusätzlich entstehenden Einkommen nur 80 Prozent erneut in den Konsum, weswegen dieser Prozess ein natürliches Ende haben muss. (in der nächsten Runde entstehen nur noch zusätzliche Einkommen von 640 Millionen, von denen dann wieder nur 80 Prozent, also 521 Millionen zusätzlicher Konsum entstehen, und so weiter)
Das Ergebnis dieses Prozesses: Das Volkseinkommen steigt um einen Betrag, der größer ist als die vom Staat eingesetzte Summe. In unserem Beispiel hat der Staat eine Milliarde investiert, die durch diesen Prozess, den so genannten Multiplikatorprozess, das Volkseinkommen um mehr als eine Milliarde gesteigert hat. In unserem Beispiel ist das Volkseinkommen (die Zahl der konsumierten und produzierten Güter) nach der dritten Runde bereits um 2,44 Milliarden Euro gestiegen.
Wir können auch exakt ausrechnen, um wie viel das Volkseinkommen steigen wird; in unserem Beispiel sind das genau fünf Milliarden Euro. Der so genannte Multiplikator ist also fünf: Steigen die Staatsausgaben (oder auch die Investitionen) exogen um eine Milliarde, so steigt das Volkseinkommen dank des Multiplikatoreffektes um fünf Milliarden. (Sie können den Multiplikator ausrechnen, indem Sie von der Zahl eins die marginale Konsumquote abziehen und den Kehrwert des Ergebnisses ausrechnen, also: eins minus 0,8 macht 0,2; und der Kehrwert von 0,2 ist fünf. Die mathematische Herleitung finden Sie in jedem formalen Makroökonomie-Buch).
19 Der Kreislauf der Volkswirtschaft: Makroökonomische Theorie
Stimmt die Idee des Multiplikators, so würde er sich als kraftvoller Verbündeter der Wirtschaftspolitik erweisen: Der Staat pumpt eine Milliarde Euro in die Wirtschaft und das Sozialprodukt steigt um fünf Milliarden Euro – eine gute Sache. Allerdings muss man dazu einschränkend sagen, dass der Multiplikator nur unter den restriktiven Annahmen des keynesianischen Modells funktioniert. Und er gilt auch nur für den Fall, dass eine Wirtschaft unterausgelastet ist, denn nur dann werden die Unternehmen auf die steigende Nachfrage mit steigender Produktion reagieren – herrscht Vollbeschäftigung, dann werden die Staatsausgaben nur Inflation zur Folge haben (die Unternehmen stellen nicht mehr her, sondern erhöhen einfach die Preise). Wie genau das funktioniert, werden wir uns im kommenden Kapitel ansehen, denn nun haben wir fast alle Zutaten zusammen, um uns die beiden Hauptzweige der makroökonomischen Theorie zu erschließen. Wir benötigen nur noch eine einfache Darstellungsform, ein kleines Modell. Das wollen wir uns nun erarbeiten.
In der Presse 13: Wie hoch ist der Multiplikator? „Der Knackpunkt der keynesianischen Ökonomie ist der erhoffte Multiplikator-Effekt: Für jeden Dollar, den der Staat zusätzlich ausgibt, soll die Wirtschaftsleistung um deutlich mehr als einen Dollar steigen, weil diejenigen Unternehmen und Arbeitnehmer, die das Geld erhalten, ihrerseits wieder einkaufen gehen und damit neue Geschäfte anregen. Doch wie hoch ist die Hebelwirkung tatsächlich? Obamas wichtigste Wirtschaftsberaterin…Christina Romer, rechnet mit einem Multiplikator von 1,5. … Andere sind sehr viel pessimistischer. Robert Barro von der Universität Harvard hat jüngst für Furore gesorgt, als er behauptete, der Multiplikator liege tatsächlich unter 1. Das hieße, jeder vom Staat ins System gepumpte Dollar schaffe weniger als einen Dollar Wirtschaftsleistung. Zu diesem Ergebnis kommt Barro nach der Untersuchung von historischen Episoden mit sehr hohem ‚deficit spending‘ für Rüstungsausgaben. ‚Die übliche keynesianische Sicht ist, dass die fiskalische Expansion im Zweiten Weltkrieg den Stimulus geschaffen habe, der uns aus der Großen Depression gebracht hat‘, schreibt Barro im ‚Wall Street Journal‘. Doch während die amerikanischen Rüstungsausgaben 1943/1944 (nach heutigem Wert) 540 Milliarden Dollar erreichten, erhöhte sich das reale BIP nur um 430 Milliarden Dollar. Daraus folgt ein Multiplikator von 0,8. Zu ähnlichen Werten kommt er für die Zeit des KoreaKriegs oder des Vietnam-Kriegs.“ (Quelle: Philip Plickert: Sind wir jetzt alle Keynesianer?; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15. Februar 2009 ; URL: http://www.faz. net/s/RubBA2FEF69D90D49589D58B10299C8647D/Doc~E611FCEDC DC094E919B9C71C9CD236AF6~ATpl~Ecommon~Scontent.html. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv
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Teil 2: Makroökonomie
Das AS/AD-Modell. Das Modell, das wir im Folgenden zur Darstellung makroökonomischer Politikideen nutzen wollen, ist das sogenannte AS/ AD-Modell, wobei AS für „aggregate supply“ (zusammengefasstes, aufsummiertes Angebot) und das AD für aggregate demand (zusammengefasste, aufsummierte Nachfrage) steht. Das Konzept dieses Modells besteht darin, makroökonomische Nachfrage und makroökonomisches Angebot in einem Diagramm darzustellen, und genau das wollen wir nun tun. Fangen wir mit der Nachfragefunktion, der AD-Kurve, an.
Barack Obama: „Yes, we can multiply.“
Die Nachfrage: Die AD-Kurve. Wie sieht eine gesamtgesellschaftliche Nachfragekurve aus? Die mikroökonomische Intuition aus dem ersten Teil des Buches sagt uns, dass mit sinkenden Preisen die gesamtwirtschaftliche Nachfrage steigt – was zwar vom Ergebnis her korrekt ist, aber von der Argumentation her falsch. Der Grund dafür ist der, dass wir uns in der Makroökonomie befinden; wenn wir also von der Nachfrage sprechen, dann meinen wir die Nachfrage nach allen Gütern, also die Nachfrage nach Sozialprodukt; und wenn wir von den Preisen sprechen, dann meinen wir die Durchschnittspreise aller Güter, also das Preisniveau. Das ändert die Argumentation: Sinkende Preise führen nun nicht automatisch zu steigender Nachfrage nach Sozialprodukt. Warum? Ein Argument für die steigende Nachfrage bei sinkenden Preisen war im ersten Teil des Buches der Substitutionseffekt: Wenn der Preis eines Gutes steigt, dann werden andere Güter relativ gesehen billiger, weswegen man von dem teureren Gut weniger konsumiert und stattdessen mehr von anderen Gütern konsumiert. Wird Wein teurer, trinkt man weniger Wein und mehr Bier. Diese Argumentation verfängt jetzt nicht mehr, da wir ja hier von der Nachfrage nach allen Gütern sprechen, nicht von der Nachfrage nach einem einzelnen Gut. Und daher funktioniert dieser Substitutionseffekt nicht mehr: Wenn nun die Preise steigen, dann meinen wir damit die Preise aller Güter – und wenn die Preise aller Güter steigen, dann gibt es keinen Anlass dafür, ein Gut durch ein anderes zu ersetzen. Der Substitutionseffekt funktioniert hier also nicht. Warum also sollte mit sinkendem Preisniveau die Nachfrage nach Sozialprodukt steigen? Wenn Sie sich an den ersten Teil erinnern, kommen Sie auch rasch auf eine Idee, denn da war ja noch der Einkommenseffekt – wenn die Preise sinken, bekommt man für das gleiche Geld mehr Güter, die reale Kaufkraft des Einkommens steigt also, und deswegen kann man mehr konsumieren und fragt mehr nach. Dieser Effekt kann auch makroökonomisch funktionieren, das ist dann der so genannte Vermögenseffekt: Wenn die Preise – die Preise im Durchschnitt – sinken, dann steigt die reale Kaufkraft des Vermögens, das die Menschen halten, dadurch sind sie reicher und können aufgrund ihres gestiegenen Reichtums mehr konsumieren. Dieser Effekt betrifft also den Konsum als Bestandteil der Nachfrage, aber auch die Investitionen reagieren möglicherweise auf sinkende Preise: Wenn die Preise sinken, benötigen die Konsumenten weniger Geld zur Abwicklung ihrer Transaktionen (man kann das gleiche Sozialprodukt mit weniger Geld kaufen), und das über-
19 Der Kreislauf der Volkswirtschaft: Makroökonomische Theorie
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schüssige Geld, das sie nun nicht mehr brauchen, sparen sie. Durch die steigenden Ersparnisse (Rechtsverschiebung der Angebotskurve in Abbildung 74) sinken die Zinsen, und die sinkenden Zinsen führen zu mehr Investitionen, also zu mehr gesamtwirtschaftlicher Nachfrage. Das Ergebnis: Sinkende Preise, steigende Investitionen, also steigende Gesamtnachfrage. Das nennt man auch den Keynes-Effekt. Eine weitere Möglichkeit, wie sinkende Preise zu mehr Nachfrage führen können, ist die außenwirtschaftliche Komponente der Nachfrage, die Exporte. Wenn die Preise im Inland sinken, dann werden inländische Waren relativ zu ausländischen Waren billiger, was zu erhöhter Nachfrage aus dem Ausland führt. Dadurch steigt die Nachfrage nach inländischen Waren. Allerdings hängen alle weiteren Folgen davon ab, ob wir feste oder flexible Wechselkurse unterstellen. Bei flexiblen Wechselkursen führen steigende Exporte zu einer Aufwertung, was wiederum zu einem Rückgang der Exporte führt. Eine andere Möglichkeit, wie die außenwirtschaftliche Komponente ins Spiel kommt, sind die Zinsen. So kann es durch die sinkenden Zinsen infolge des Keynes-Effekts passieren, dass immer mehr Bürger ihr Geld im Ausland anlegen, wo die Zinsen höher sind. Das kann bei flexiblen Wechselkursen zu einer Abwertung der inländischen Währung führen, was zu mehr Exporten und damit steigender Nachfrage führt. Als Ergebnis können wir festhalten: bei sinkendem (steigendem) Preisniveau steigt (sinkt) die gesamtgesellschaftliche Nachfrage nach Sozialprodukt, so wie in Abbildung 86 dargestellt. Das ist die AD-Kurve. In der rechten Seite von Abbildung 86 ist eine Verschiebung der AD-Kurve dargestellt – wie kann es dazu kommen? Grundsätzlich ist die Logik der Verschiebung der Kurve die gleiche wie bei Verschiebungen der Nachfragekurve im ersten Teil, wir müssen nur fragen, was die Verschiebung auslöst. Dazu können wir wieder auf die verschiedenen Komponenten der Nachfrage abstellen:
Preisniveau
Preisniveau AD
Sozialprodukt
AD
AD1
Sozialprodukt
Abbildung 86: Die gesamtwirtschaftliche Nachfragefunktion (links) und Verschiebungen der gesamtwirtschaftlichen Nachfragefunktion (rechts)
Teil 2: Makroökonomie
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Konsum. Ein exogener Rückgang (Anstieg) des Konsums verschiebt die Kurve nach links (rechts). Der Rückgang kann beispielsweise ausgelöst werden durch Angstsparen, einen Börsencrash, Steuererhöhungen oder andere exogener Schocks, die dazu führen, dass verunsicherte Konsumenten weniger konsumieren. Ein Anstieg des Konsums könnte beispielsweise durch Steuersenkungen erfolgen.
Investitionen. Sinken (steigen) die Investitionen, so verschiebt sich die Kurve nach links (rechts). Sinkende Investitionen können entstehen durch steigenden Pessimismus; steigende Investitionen durch neue Technologien oder Steuererleichterungen. Auch die Geldpolitik beeinflusst die Investitionen, da sie die Zinsen beeinflusst.
Nettoexporte. Eine Abwertung (Aufwertung) der inländischen Nachfrage führt zu einem Anstieg (Rückgang) der Nachfrage des Auslandes nach den inländischen Exporten; als Folge davon verschiebt sich die Kurve nach rechts (links).
Staatsausgaben. Steigen (sinken) die Staatsausgaben, so verschiebt sich die Kurve nach rechts (links). Damit hätten wir die gesamtwirtschaftliche Nachfrage in einer Kurve dargestellt, jetzt fehlt noch das Angebot. Das Angebot: Die AS-Kurve. Beim gesamtwirtschaftlichen Angebot werden wir nun zwischen der langen und der kurzen Frist unterscheiden. Langfristig ist der Fall rasch geklärt: Langfristig hängt das gesamtgesellschaftliche Angebot von all denjenigen Faktoren ab, die wir im 14. Kapitel untersucht haben. Je mehr eine Volkswirtschaft wächst, umso größer ist ihr Produktionspotential, und umso größer ist damit ihr Angebot. Aber was ist mit dem Preisniveau? Langfristig gilt in unserem Modell die klassische Dichotomie, d.h. das Angebot einer Volkswirtschaft ist unabhängig vom Preisniveau. Warum auch sollte das der Fall sein? Warum sollte die Menge des umlaufenden Geldes einen Einfluss haben auf die Höhe dessen, was eine Wirtschaft produziert? Sie sehen, diese Ansicht liegt nahe bei den Ideen der Quantitätstheorie aus Kapitel 18. – Geld ist langfristig nur ein Schleier, der über der Wirtschaft liegt, es hat aber keine Folgen auf die realen
Preisniveau
Preisniveau ASL
Abbildung 87: Die langfristige Angebotskurve (links) und eine Verschiebung der langfristigen Angebotskurve
Sozialprodukt
ASL
ASL1
Sozialprodukt
19 Der Kreislauf der Volkswirtschaft: Makroökonomische Theorie
Größen wie Beschäftigung und Produktion. Damit sieht die langfristige Angebotskurve (ASL) so aus wie in Abbildung 87 dargestellt: Egal, wie hoch das Preisniveau ist, das reale Angebot an Sozialprodukt ist unabhängig davon. Damit wissen wir auch, wie man die langfristige Angebotskurve verschieben kann: Eine Verschiebung der langfristigen Angebotskurve nach rechts bedeutet, dass sich das Produktionspotential dieser Volkswirtschaft erhöht hat, dass sie langfristig mehr herstellen kann – also wächst. Und wie man das Wachstum einer Volkswirtschaft stimuliert, wissen wir aus Kapitel 14:
Kapital. Wenn wir das physische Kapital und das Humankapital der Volkswirtschaft steigern, kann sie wachsen, die ASL-Kurve verschiebt sich nach rechts. Das tut sie ebenso, wenn wir mehr Technologie und Innovationen haben.
Offenheitsgrad. Mehr Außenhandel und Direktinvestitionen führen zu mehr Wachstum, wie wir gelernt haben. Je offener unsere Volkswirtschaft ist, umso mehr kann sie wachsen.
Ressourcen und Infrastruktur. Je mehr Ressourcen unsere Wirtschaft hat, je besser die Infrastruktur, umso größer kann das Wachstum sein – all das verschiebt die ASL-Kurve nach rechts. Damit hätten wir das langfristige Angebot geklärt, aber wenn es ein langfristiges Angebot gibt, gibt es auch ein kurzfristiges Angebot. Wie sieht dieses aus? Auch hier müssen wir uns wieder vor einem mikroökonomischen Fehlschluss hüten: Das kurzfristige Angebot steigt zwar mit steigendem Preisniveau, aber nicht aus den Gründen, die wir im ersten Teil dieses Buches kennen gelernt haben. Der Grund dafür ist klar: Wir sprechen hier wieder vom gesamtwirtschaftlichen Angebot, und wenn nun die Preise steigen, dann steigen im Durchschnitt die Preise aller Güter – damit gibt es keinen Grund für einen Unternehmer, seine Produktionsentscheidung zu ändern. Es muss also einen anderen Grund geben, warum bei einem Anstieg des Preisniveaus das Angebot aller Güter (also das Angebot an Sozialprodukt) steigt, so wie in Abbildung 88 dargestellt. Warum also kann das Angebot zumindest kurzfristig steigen, wenn das Preisniveau steigt? Die Kernidee dieser Angebotskurve ist, dass falsche Erwartungen über die zukünftige Inflationsrate zu einem Anstieg des Angebots führen können. Wie ist das zu verstehen? Dazu stellen wir uns einmal vor, wie Lohnverhandlungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern laufen. Dazu müssen wir uns noch einmal den Unterschied zwischen Nominallohn und Reallohn ins Gedächtnis rufen (darüber haben wir in Kapitel 13 gesprochen). Der Nominallohn ist der Lohn ohne Berücksichtigung der Inflationsrate; das ist auch der Lohn, den die Gewerkschaften mit den Arbeitgebern aushandeln. Der Reallohn hingegen gibt die Kaufkraft des Nominallohns an, dieser ergibt sich, indem wir den Nominallohn durch das aktuelle Preisniveau dividieren. Wenn also der Nominallohn beispielsweise 100 Euro beträgt und der Preis für eine Einheit Sozialprodukt zwei Euro, so
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Teil 2: Makroökonomie
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Preisniveau
Preisniveau ASK1
ASK
ASK
p1
p0 Abbildung 88: Die kurzfristige Angebotskurve und die Verschiebung der kurzfristigen Angebotskurve
Sozialprodukt
y0
y1
entspricht die reale Kaufkraft des Lohnes 50 Einheiten Sozialprodukt. Steigt das Preisniveau nun (es entsteht Inflation) auf vier Euro, dann sinkt die Kaufkraft des Lohnes auf 25 Einheiten Sozialprodukt, der Reallohn ist gesunken. Mit diesem Wissen im Hinterkopf können wir uns nun die Verhandlungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern ansehen:
Zu Jahresbeginn handeln die Gewerkschaften mit den Arbeitgebern den Nominallohn aus, dabei spielen auch ihre Inflationserwartungen eine wichtige Rolle: Erwarten sie eine hohe Inflationsrate, so fordern sie dementsprechend auch hohe Nominallöhne. Warum ist klar: Hohe Inflationsraten senken die Reallöhne – ein Lohn von 100 Euro ist bei einer Inflationsrate von zwei Prozent mehr wert als bei einer Inflationsrate von vier Prozent.
Entscheidend bei den Lohnverhandlungen ist also, dass die Gewerkschaften ihren Forderungen ihre erwartete Inflationsrate Pe zugrundelegen; die tatsächliche Inflationsrate P, die sich in diesem Jahr herausbilden wird, ist zu Jahresbeginn natürlich noch nicht bekannt. Lassen Sie uns weiter vereinfachend annehmen, dass die Gewerkschaften für dieses Jahr erwarten, dass die Preise nicht steigen werden, wir also eine Inflationsrate von Null Prozent haben werden. Dementsprechend fordern Sie Nominallöhne sagen wir in Höhe von 100.
Jetzt lassen Sie uns annehmen, dass einen Tag nach den Lohnverhandlungen die Inflationsrate für das gesamte Jahr festgelegt wird; sie ist wider Erwarten positiv. Damit passiert für die Gewerkschaften und Arbeitnehmer etwas Unangenehmes: Ihre Reallöhne sinken unerwartet. Sie hatten eine Inflationsrate von Null erwartet, haben sich aber getäuscht; die steigende Inflationsrate führt jetzt dazu, dass die Kaufkraft ihrer Nominallöhne sinkt – die Reallöhne sinken.
Für die Gewerkschaften ist das unangenehm, da sie erst in einem Jahr wieder die Löhne neu aushandeln können – bis dahin müssen sie damit leben, dass ihr Irrtum über die Höhe der tatsächlichen Inflationsrate dazu führt, dass sie real, also in Kaufkraft bemessen, weniger Lohn bekommen.
19 Der Kreislauf der Volkswirtschaft: Makroökonomische Theorie
Für die Arbeitgeber hingegen ist das eine gute Sache: Da die Preise steigen, können sie ihre Güter teurer verkaufen, die Löhne hingegen steigen nicht – das führt zu steigenden Gewinnen, und in Folge dieser Gewinne stellen sie nun mehr her und stellen mehr Arbeitnehmer ein – diese sind ja durch die sinkenden Reallöhne billiger geworden. Das Ergebnis: Die Beschäftigung und damit auch das Sozialprodukt steigen. Wir haben eine Bewegung nach oben auf der kurzfristigen Angebotskurve.
Das Ergebnis dieses Prozesses: Kurzfristig steigen das Angebot und das Sozialprodukt, weil sich die Gewerkschaften über die Höhe der Inflationsrate irren und diesen Irrtum nicht sofort korrigieren können.
Allerdings ist dieser Effekt nur vorübergehender Natur: Nach einem Jahr kommen neue Lohnverhandlungen, die Gewerkschaften korrigieren ihre Preiserwartungen und fordern entsprechend den geänderten Inflationserwartungen höhere Nominallöhne. Setzen sie diese Forderungen durch, so steigen möglicherweise nicht nur die Nominallöhne, sondern auch die Reallöhne. Daraufhin reduzieren die Produzenten wieder ihre Produktion, weil nun die Reallöhne wieder gestiegen sind; die Beschäftigung und das Sozialprodukt fallen wieder. Eine Bewegung auf der kurzfristigen AS-Kurve (ASK) in Abbildung 88 (links) können wir uns also so vorstellen: Wir starten auf einem beliebigen Punkt der AS-Kurve und lassen nun das Preisniveau steigen – damit verlassen wir die AS-Kurve und bewegen uns nach oben (Pfeil nach oben). Was sich allerdings nicht ändert, sind die Inflationserwartungen der Gewerkschaften, die sind in dieser Kurve eine exogene Variable. Durch den Anstieg der Preise sinken die Reallöhne, und die Gewerkschaften haben keine Möglichkeit, ihren Irrtum rasch zu korrigieren. Die Unternehmen hingegen können auf die sinkenden Reallöhne sofort reagieren, indem sie mehr produzieren und mehr Arbeitnehmer einstellen, das Angebot an Sozialprodukt steigt also, wir bewegen uns nach rechts (Pfeil nach rechts) und landen wieder auf der ASK-Kurve, bei einem höheren Preisniveau und einem höheren Sozialprodukt. Das Ergebnis: Wegen steigender Preise ist das Angebot an Sozialprodukt gestiegen. Allerdings ist dieser Prozess nur kurzfristiger Natur, und wir haben ja auch gesehen warum: Im nächsten Jahr, wenn neue Lohnverhandlungen anstehen, werden die Gewerkschaften ihren Irrtum korrigieren und höhere Löhne verlangen, die so hoch sind, dass sie an die tatsächliche Inflationsrate angepasst werden. Damit steigen nicht nur die Nominallöhne, sondern auch die Reallöhne, weswegen die Unternehmen nun weniger herstellen und weniger Arbeitnehmer beschäftigen – das Angebot an Sozialprodukt sinkt damit langfristig wieder. Da aber die Inflationsrate unverändert hoch bleibt, können wir nicht einfach auf der kurzfristigen ASK-Kurve zurückwandern; das neue Angebot entspricht dem alten Angebot bei einer höheren Inflationsrate. In Abbildung 88 ist dieser Vorgang dargestellt: Wir starten mit dem Volkseinkommen, das wir ab sofort mit Y abkürzen wollen, und zwar mit Y0; das
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Preisniveau beträgt p0. Dann steigt die Inflationsrate, das Preisniveau steigt auf p1, während die Inflationserwartungen der Gewerkschaften unverändert sind, und wir bewegen uns bei steigender Inflationsrate auf das neue, höhere Volkseinkommen Y1; wir bleiben aber auf der ersten, unteren Kurve. Allerdings ist das nur ein temporärer Effekt, wenn die Gewerkschaften nun ihre Inflationserwartungen korrigieren, verändert sich eine exogene Variable in unserem Modell (das kennen wir aus dem ersten Teil des Buches), weswegen sich die AS-Kurve verschiebt. Aber warum verschiebt sie sich nach oben? Ganz einfach: Wenn die Gewerkschaften höhere Inflationsraten erwarten, dann fordern sie höhere Löhne, dann können die Unternehmen die gleiche Produktion wie zuvor nur dann aufrecht erhalten, wenn sie dementsprechend ihre Produkte zu höheren Preisen absetzen können – also muss sich die kurzfristige Angebotskurve nach oben verschieben. Das Ergebnis: kurzfristig wandern wir bei steigenden Preisen von Y0 nach Y1, erhöhen also Sozialprodukt und Beschäftigung, langfristig korrigieren die Gewerkschaften ihre Inflationserwartungen, fordern höhere Löhne, die ASKurve verschiebt sich nach links. Bei welchem Y und p wir dann landen, hängt dann von der dazugehörigen Nachfragekurve ab. Diese Darstellung deckt sich sehr gut mit der Idee der langfristigen Angebotskurve: Kurzfristig steigt das Angebot bei steigenden Preisen, aber langfristig, wenn die Gewerkschaften ihren Fehler korrigieren können, hat der Anstieg der Preise keinen Einfluss auf das Angebot, wir erhalten die senkrechte langfristige Angebotskurve (Abbildung 89).
Preisniveau ASL
ASK1
ASK
Y Abbildung 89: Kurz- und langfristiges Angebot
Damit hätten wir die wesentliche Idee der kurz- und langfristigen Angebotskurve erfasst, jetzt können wir sie noch ein wenig verallgemeinern. Das langfristige Angebot ist unabhängig vom Preisniveau; auf lange Sicht ist Geld nur ein Schleier, der über den realen Tauschvorgängen der Wirtschaft liegt. Das Konzept des kurzfristigen Angebots hingegen besteht also darin, dass das Angebot kurzfristig auf Veränderungen des Preisniveaus reagiert, wenn diese nicht erwartet wurden: Ist die tatsächliche Inflationsrate P höher als die erwartete Inflation Pe, so steigt das Sozialprodukt. Das führt dazu, dass das Angebot kurzfristig auf Veränderungen des Preisniveaus reagiert. Langfristig allerdings werden die Erwartungen bezüglich des Preisniveaus korrigiert und das Sozialprodukt sinkt wieder auf den Ausgangswert, denjenigen Wert, den unsere Volkswirtschaft langfristig erreicht, egal welche Inflationsrate herrscht. Langfristig ist die Angebotskurve dann eine Senkrechte. Dieses Muster ist grundsätzlich das Gleiche, aber es muss nicht unbedingt über die Lohnverhandlungen laufen. Hier ein paar weitere Gründe, warum die kurzfristige Angebotskurve eine positive Steigung hat:
Da wären beispielsweise die so genannten Menükosten. Unternehmen benötigen Zeit, um ihre Preise anzupassen, zudem ist das auch teuer. Man kann nicht jeden Tag neue Preislisten ausdrucken und muss langfristige Verträge einhalten. Also werden die Unternehmer nicht jede Veränderungen des allgemeinen Preisniveaus sofort in ihrer Preisliste nachvollziehen, sondern ihr Angebot nur von Zeit zu Zeit anpassen. Steigt (sinkt) das allgemeine Preisniveau nun über (unter) die starren
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Preise, welche das Unternehmen festgesetzt hat, kann das Unternehmen mehr (weniger) verkaufen und dementsprechend seine Produktion erhöhen (senken). Auch hier sind es letztlich falsche Erwartungen bezüglich der zukünftigen Inflationsrate: Das Unternehmen setzt seine Preise fest und berücksichtigt dabei die zukünftige Inflationsrate. Irrt es sich und die Inflationsrate ist höher als erwartet, hat es seine Waren im Vergleich zu den restlichen Preisen zu billig ausgezeichnet (und kann seine Preise nicht kurzfristig anpassen), weswegen die Nachfrage nach seinem Produkt steigt – es verkauft mehr. Langfristig korrigiert es seinen Irrtum und seine zu niedrigen Preise, weswegen dann sein Absatz und sein Angebot wieder sinken.
Eine weitere Erklärung sind Wahrnehmungsstörungen. Die Produzenten nehmen möglicherweise die Inflation (also den Anstieg aller Preise im Durchschnitt) irrtümlich als eine Veränderung der relativen Preise wahr; sie interpretieren den inflationsbedingten Preisanstieg des eigenen Gutes fälschlich als Produktionsanreiz, weil sie denken, dass nur ihr Produkt teurer geworden ist, obwohl aufgrund der Inflation alle Preise gestiegen sind. Aufgrund dieses Irrtums produzieren sie mehr. Langfristig bemerken sie ihren Irrtum und passen ihre Produktion wieder an; keine langfristige Mehrproduktion bei allgemein steigendem Preisniveau. Auch hier ist es also ein Irrtum über die Höhe der tatsächlichen Inflationsrate, der zeitweise zu einem Anstieg des Angebots führt.
Ein anderer Irrtum könnte in der so genannten Lohnillusion bestehen: Die Arbeitnehmer erkennen irrtümlicherweise nicht, dass die steigenden Inflationsraten ihren Reallohn senken und senken trotz sinkender Reallöhne nicht ihr Arbeitsangebot. Steigt die Inflationsrate, bemerken die Unternehmen, dass die Reallöhne sinken und produzieren mehr, die Arbeitnehmer hingegen erkennen nicht, dass die Reallöhne gesunken sind und bieten weiterhin ihre Arbeitsleistung an. Langfristig allerdings werden sie ihren Irrtum bemerken und höhere Nominallöhne fordern, dann ist auch dieser Effekt zunichte gemacht.
Eine durchaus realistische Erklärung allerdings benötigt keine Irrtümer: Befinden wir uns in einer Rezession, dann sinkt der Verhandlungsspielraum der Arbeitnehmer; sie werden trotz steigender Inflationsraten nicht höhere Nominallöhne fordern können, weil das die aktuelle wirtschaftliche Lage einfach nicht hergibt. Die Inflation senkt die Reallöhne, die Arbeitnehmer schauen zähneknirschend zu und die Beschäftigung steigt. Sobald sich allerdings die wirtschaftliche Lage bessert, werden sie einen lohnpolitischen Nachschlag fordern; setzen sie sich durch, wird auch dieser Beschäftigungseffekt wieder zunichte gemacht und die kurzfristige AS-Kurve verschiebt sich wieder nach links. Mit den in diesem Kapitel entwickelten Ideen können wir uns nun makroökonomische Phänomene und die Wirtschaftspolitik näher anschauen. Lassen Sie uns mit der großen Rezession 1929 beginnen – können wir diese nun mit Hilfe unseres Werkzeugkastens erklären?
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Teil 2: Makroökonomie
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Zusammenfassung 1. Begreift man eine Volkswirtschaft als einen Kreislauf von Gütern und Geldströmen, so ergibt sich das Say’sche Theorem: Jedes Angebot erzeugt Einkommen exakt im Wert der hergestellten Güter, deswegen gibt es stets genügend Einkommen, um das produzierte Angebot auch zu kaufen. Jedes Angebot schafft sich seine eigene Nachfrage. Auch die Idee des Sparens ändert nichts an diesem Befund: Die Ersparnisse wandern auf die Bank, woraufhin die Zinsen sinken, das wiederum stimuliert die Investitionsnachfrage, die ebenfalls ein Bestandteil der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage ist. Wenn in diesem System noch die Preise und die Löhne flexibel sind, können keine gesamtwirtschaftlichen Krisen entstehen. 2. Der Keynesianismus übt vielfältige Kritik an der Idee des Say’schen Theorems: Preise und Löhne sind oft nicht flexibel, und wenn die Produzenten pessimistische Erwartungen haben, dann werden sie trotz sinkender Zinsen nicht investieren. In diesem Fall kommt es zu einer Rezession, wenn sich das Angebot an die sinkende Nachfrage anpasst: Sinkende Nachfrage führt dann zu sinkender Produktion, was zu sinkendem Einkommen und damit wieder sinkendem Konsum führt. 3. Keynesianismus kann beispielsweise erklären, wann Sparen schädlich für eine Wirtschaft sein kann, nämlich dann, wenn es zu einem Ausfall von Nachfrage führt und das Angebot darauf sinkt. Allerdings vernachlässigt diese Sichtweise die langfristige Wirkung von Ersparnissen, nämlich Investitionen und damit Wachstum. 4. Eine weitere keynesianische Idee ist der Multiplikator: Wenn der Staat eine Milliarde Euro in die Wirtschaft investiert, steigt das Sozialprodukt um ein vielfaches. Damit erweisen sich staatliche Ausgabenprogramme als gute Lösung zur Belebung der Nachfrage – vorausgesetzt, die Annahmen der Keynesianer sind richtig und gegeben. 5. Ein einfaches makroökonomisches Modell zur Analyse makroökonomischer Probleme ist das AS/AD-Modell; das die gesamtwirtschaftliche Nachfrage, das gesamtwirtschaftliche Angebot und das langfristige Angebot in ein Modell integriert.
Krisen und ihre Therapie: Makroökonomische Politik
20
„Siehe, sieben reiche Jahre werden kommen in ganz Ägyptenland. Und nach denselben werden sieben Jahre teure Zeit kommen, dass man vergessen wird aller solcher Fülle in Ägyptenland; und die teure Zeit wird das Land verzehren…Nun sehe Pharao nach einem verständigen und weisen Mann, den er über Ägyptenland setze, und schaffe, dass er Amtleute verordne im Lande und nehme den Fünften in Ägyptenland in den sieben reichen Jahren und sammle alle Speise der guten Jahre, die kommen werden, dass sie Getreide aufschütten in Pharaos Kornhäuser zum Vorrat in den Städten und es verwahren, auf dass man Speise verordnet finde dem Lande in den sieben teuren Jahren, die über Ägyptenland kommen werden, dass nicht das Land vor Hunger verderbe.“ Die Bibel, Kapitel 41; Träume des Pharao – Deutung durch Josef Zum Einstieg: Ein rabenschwarzer Tag. Der 24. Oktober des Jahres 1929 war ein Tag, der die Welt in ihren Grundfesten erschütterte – nichts würde jemals wieder so sein, wie es war. Wir haben bereits im 11. Kapitel diese Krise kennen gelernt und gesehen, was passiert ist – jetzt wollen wir versuchen, mit Hilfe des AS/AD-Modells eine einfache Erklärung zu wagen. Dazu benötigen wir Abbildung 90.
Preisniveau ASL AD1
AD0
ASK0
1 2
ASK1
A
Wir beginnen in Punkt A, ausgehend von den Kurven AD, ASK und ASL. In der Ausgangslage befinden wir uns also in einem Gleichgewicht, das langfristige Angebot entspricht dem kurzfristigen Angebot, und beide entsprechen der Nachfrage. Das Sozialprodukt beträgt YL, das ist die Menge an Sozialprodukt, die unsere Volkswirtschaft langfristig herstellen kann. Jetzt passiert etwas unvorhergesehenes, ein exogener Schock – lassen wir den Börsencrash einmal die Rolle dieses Schocks spielen. Was passiert? Der Börsenkrach und die sich verschlechternde Wirtschaft führen zu einem Ausfall von Nachfrage – Angstsparen, ein Verlust von Vermögenswerten, Entlassungen, Unsicherheit – das alles führt zu weniger Konsum, die ADKurve verschiebt sich nach links nach AD1 (das ist Bewegung Nummer 1). Die sinkende Nachfrage führt zu einem Rückgang der Preise, wodurch die Reallöhne steigen. Bei sinkenden Preisen verdienen die Unternehmen weniger Geld, müssen aber nach wie vor unveränderte Nominallöhne zahlen, weswegen sie ihr Angebot einschränken. Das Angebot passt sich also der sinkenden Nachfrage an (wir bewegen uns jetzt auf der ASK0-Kurve nach unten); das Sozialprodukt sinkt auf YR, die Preise sind ebenfalls gesunken. Sie erkennen, dass wir uns jetzt in einer keynesianischen Welt bewegen, in einer klassischen Welt wäre das nicht passiert: Dort hätten die sinkenden Preise zu einem Anstieg der Nachfrage geführt, weswegen die Produzenten ihr Angebot nicht reduziert hätten. Zudem hätte der sinkende Konsum zu
B
YR
YL Sozialprodukt
Abbildung 90: Eine Beschreibung der großen Depression
Teil 2: Makroökonomie
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mehr Sparen und damit zu sinkenden Zinsen beigetragen, was wiederum zu mehr Investitionen und damit zu mehr Nachfrage geführt hätte. In diesem Szenario allerdings passt sich das Angebot der sinkenden Nachfrage an, und der sinkende Konsum führt entweder zu mehr Horten (weswegen die Zinsen nicht sinken) oder aber es wird zwar mehr gespart, aber die Unternehmen investieren trotz gesunkener Zinsen nicht, weil sie schlechte Absatzchancen in den kommenden Jahren erwarten. Das Ergebnis: Sinkendes Sozialprodukt, dazu sinkende Preise und sinkende Beschäftigung. Dieses Ergebnis entspricht genau dem Befund der großen Depression, wie Sie Abbildung 91 entnehmen können. Was passiert nun? Wenn wir den Staat einmal außen vor lassen, dann könnte sich folgendes abspielen: Auf lange Frist erkennen die Gewerkschaften, dass die Inflationsrate niedriger ausgefallen ist, als sie es erwartet haben, dass ihre Reallöhne also deutlich gestiegen sind. Sie werden bei den kommenden Lohnverhandlungen niedrigere Nominallöhne fordern, das verschiebt die ASK-Kurve nach unten (realistischer ist es, wenn wir annehmen, dass die Lohnsteigerungen, welche die Gewerkschaften fordern, geringer ausfallen. Entscheidend ist nur, dass die Zuwächse des Nominallohns geringer ausfallen als der Rückgang der Preise, dann fallen die Reallöhne wieder). Auch die Unternehmen korrigieren ihre Erwartungen, sie ändern ihre zu hoch angesetzten Preise nach unten; oder aber sie erkennen, dass alle Preise gesunken sind, nicht nur die Preise für ihre Güter und werden wieder mehr anbieten (das waren ja noch zwei weitere Erklärungen für die kurzfristige Angebotskurve). Auch hier wird sich im Ergebnis die ASK-Kurve nach unten zu ASK1 verschieben (das ist Bewegung Nummer 2). Die sinkenden Preise, die durch die Verschiebung der ASK-Kurve entstehen, erhöhen wiederum die Nachfrage nach Sozialprodukt; wir bewegen
30 25
Arbeitslosenquote Preisindex Wachstum reales BIP
20 15 10
5 0 -5 -10 Abbildung 91: Arbeitslosigkeit, Inflation und Wachstum während der großen Depression in den USA
-15 -20
1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938 1939 1940
20 Krisen und ihre Therapie: Makroökonomische Politik
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uns auf der AD-Kurve (das Preisniveau ist ja eine endogene Variable) nach unten und landen schließlich in einem neuen Gleichgewicht B, beim alten Volkseinkommen YL und deutlich gesunkenem Preisniveau. Das Ergebnis: kurzfristig fallen die Preise und das Sozialprodukt; langfristig findet die Wirtschaft in ein neues Gleichgewicht bei niedrigeren Preisen und altem Sozialprodukt zurück. Das wäre also eine mögliche Idee, wie eine solche Krise wie die große Depression wieder verschwinden kann: Auf lange Frist regelt sich so eine Krise in dieser Lesart von selbst. Allerdings befinden wir uns mit dieser Lösung definitiv nicht mehr in einem keynesianischen Modell. Damit hätten wir in unserem kleinen Modell die große Depression abgebildet: Ein plötzlicher Ausfall von Nachfrage hat zu sinkenden Preisen geführt, woraufhin auch das Angebot gesunken ist (weil wegen der sinkenden Preise die realen Produktionskosten gestiegen sind). Unser Modell hat aber auch zugleich aufgezeigt, dass sich ein solches Problem langfristig von alleine lösen könnte, wenn die Unternehmen und die Arbeitnehmer ihre Erwartungen anpassen – warum ist das aber 1929 offenbar nicht geschehen? Was fehlt in unserem Modell?
Eine erste Erklärung wäre, dass diese selbständige Anpassung durchaus erfolgen könnte, aber zu lange dauert. Dann wäre das Modell richtig, nur die Dauer, bis sich das Problem von alleine löst, wäre einfach zu lange – auf lange Frist sind wir alle tot, wie Keynes dazu bemerkte. Aus dieser Perspektive gesehen muss der Staat dann eingreifen; wenn dieser Selbstheilungsprozess zu lange dauert, ist das politisch nicht haltbar. Man kann den Arbeitslosen kaum als Trost verkaufen, dass auf lange Frist alles wieder gut werde.
Vielleicht ist aber auch eine deflationäre Spirale entstanden: Die Arbeitslosigkeit, der Börsenkrach, die schlechten Nachrichten – das alles hat die AD-Kurve nicht einmal, sondern mehrmals verschoben, weswegen die Unternehmen und Arbeitnehmer mit der Anpassung sozusagen gar nicht hinterher gekommen sind. AD hat sich also verschoben, daraufhin verschiebt sich ASK, doch während sich ASK verschiebt, verschiebt sich AD erneut, und wir haben immer noch Arbeitslosigkeit und ein zu geringes Sozialprodukt. Das ist eine unangenehme Erklärung, denn sie legt nahe, dass Arbeitslosigkeit neue Arbeitslosigkeit erzeugen könnte und eine Krise sich aus sich selbst heraus ernährt. Auch aus dieser Perspektive scheint es notwendig, dass der Staat eingreift, um diese Spirale nach unten zu stoppen.
Möglicherweise aber hat sich ja auch die ASL-Kurve nach links verschoben. Im Zuge der Krise werden Menschen arbeitslos, büßen ihr Humankapital ein (wer als Programmierer ein Jahr lang arbeitslos war, kann von vorne anfangen – wir haben ja gesehen, dass so Langzeitarbeitslosigkeit entstehen kann), Maschinen werden verschrottet respektive nicht ersetzt, weil keine Nachfrage mehr da ist – kurzum: eine Krise führt zur Vernichtung produktiver Ressourcen und damit zu einem Rückgang des Produktionspotentials. Trifft diese Diagnose zu, so ver-
Die große Depression
Teil 2: Makroökonomie
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schiebt sich die ASL-Kurve nach links, und wenn der oben erläuterte Anpassungsprozess abgeschlossen ist, sind wir zwar wieder in einem neuen Gleichgewicht, aber wir erreichen nicht mehr das Sozialprodukt YL, das wir zuvor hatten. Wir können es nicht mehr erreichen, weil wir unsere Ressourcen, die wir vor der Krise hatten, um YL herzustellen, nun nicht mehr haben. Das muss man sich vorstellen wie eine verschleppte Grippe: Tut man nicht rechtzeitig etwas dagegen, dann wird aus dem Schnupfen eine ernsthafte Erkrankung. Auch dieses Argument spricht dafür, dass der Staat hier aktiv eingreifen sollte. Wie Sie sehen, ist nicht unbedingt sicher gestellt, dass sich die Wirtschaft nach einem Ausfall von Nachfrage von selbst berappelt – aber was kann man dagegen tun? Hier setzt die Idee des Keynesianismus an. Preisniveau ASL AD0
ASK
AD1
YR YL
Sozialprodukt
Abbildung 92: Staatliche Fiskalpolitik
Antizyklische Wirtschaftspolitik. Die Grundidee ist klar: wenn durch den Ausfall von Nachfrage eine Krise entsteht, so kann der Staat diese Krise dadurch abwenden, indem er in diese Lücke springt und Nachfrage entwickelt – der Ausfall der privaten Konsum- oder Investitionsnachfrage wird also durch staatliche Nachfrage kompensiert. Dies kann der Staat natürlich über Fiskalpolitik machen, also eine Erhöhung der Staatsausgaben. Erhöht der Staat seine Ausgaben – die Staatsausgaben sind ja eine Komponente der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage – so verschiebt sich die AD-Kurve wieder nach rechts, so wie in Abbildung 92. In der Ausgangslage befand sich die Wirtschaft in einer Rezession bei einem Sozialprodukt YR; durch die Staatsausgaben verschiebt sich die AD-Kurve nach rechts von AD0 nach AD1, die Preise steigen, durch den Anstieg der Preise sinken die Reallöhne, weswegen das kurzfristige Angebot wieder steigt (wir bewegen uns auf der ASK-Kurve nach oben), wir erreichen schließlich das langfristige Angebot YL. Eine solche expansive Fiskalpolitik kann also eine Rezession, die durch einen Rückgang der Nachfrage entsteht, bekämpfen. Besonders attraktiv wird die expansive Fiskalpolitik des Staates durch den Multiplikatoreffekt, den wir im vorherigen Kapitel kennen gelernt haben: Der Anstieg des Sozialproduktes fällt – wenn die Idee richtig ist – deutlich höher aus als die dazu eingesetzten Staatsausgaben. Aber wie soll der Staat diese Mehrausgaben finanzieren? Die erste Möglichkeit besteht darin, dass er sich das Geld einfach durch höhere Steuern besorgt – er nimmt das Geld den Bürgern ab, um es dann auszugeben. Auf den ersten Blick haben Sie nun sicherlich die Vermutung, dass das nichts bringen kann – rechte Tasche, linke Tasche, der Staat nimmt den Bürgern via Steuern Geld weg, um es dann selbst auszugeben, während die Bürger wegen der Steuern weniger konsumieren. Doch der Eindruck trügt. Wenn der Staat den Bürgern Geld wegnimmt, dann werden sie zwar weniger konsumieren – was also zu einem Ausfall von Nachfrage führt –, aber sie werden auch weniger sparen. Der Staat hingegen gibt alles Geld aus, und das macht den Unterschied: Nimmt der Staat den Bürgern beispielsweise 100 Euro per Steuern weg, so gibt er diese komplett aus. Die Bürger hingegen
20 Krisen und ihre Therapie: Makroökonomische Politik
reduzieren ihren Konsum nur nach Maßgabe ihrer marginalen Konsumquote; beträgt diese beispielsweise 0,8, dann werden sie 80 Euro weniger konsumieren und 20 Euro weniger Sparen. Unter dem Strich steigt dann der Konsum zunächst um 20 Euro, die der Staat mehr ausgibt als die Bürger. Man kann mathematisch zeigen, dass eine Erhöhung der Staatsausgaben, die komplett durch Steuern finanziert ist, einen Multiplikator von eins hat, d.h. wenn der Staat eine Milliarde durch Steuern einkassiert und zur Förderung der Konjunktur ausgibt, steigt das Volkseinkommen um genau eine Milliarde Euro. Dieser Effekt ist zu Ehren seines Entdeckers unter dem Namen Haavelmo-Theorem bekannt. Aber keine Frage – steuerfinanzierte Staatsausgaben sind in unserem Modell nicht so wirkungsvoll, weil die Steuern die private Nachfrage reduzieren. Das legt die zweite Finanzierungsvariante nahe: Kredite. Das ist auch der Kern des so genannten deficit spending (ein Begriff, der übrigens fälschlicherweise Keynes zugeschrieben wird; er stammt von einem seiner Schüler): Der Staat verschuldet sich in schlechten Zeiten, und mit diesem geliehenen Geld ersetzt er die ausfallende private Nachfrage (der Multiplikator ist dann derjenige, den Sie im vorherigen Kapitel kennen gelernt haben). Allerdings muss man dabei beachten, dass diese Idee eine Symmetrie im Ausgabenverhalten erfordert: In der Rezession verschuldet sich der Staat und verhindert mit seinen Ausgaben einen Ausfall von Nachfrage, im Boom allerdings spart der Staat dann, verhindert so ein Überschäumen der Wirtschaft und kann auf diesem Weg auch die Schulden zurückzahlen, die er in der Rezession gemacht hat. Deswegen nennt sich diese Strategie auch antizyklische Fiskalpolitik: In schlechten Zeiten Geld ausgeben, in guten Zeiten Geld sparen. So elegant diese Idee ist, so wirft sie doch Probleme auf:
Zunächst einmal kann es zu Verzögerungen in der Umsetzung dieser Politik kommen: Möglicherweise dauert es zu lange, bis die expansive Fiskalpolitik umgesetzt ist und wirkt. Warum? Zunächst einmal muss die Regierung erkennen, dass eine Rezession droht, dann muss sie Maßnahmen beschließen, dann müssen diese Maßnahmen umgesetzt werden, und dann dauert es eine Weile, bis diese Maßnahmen Wirkung zeigen. Das sind die so genannten Lags, der Erkenntnis-, Entscheidungs-, Umsetzungs- und Wirkungslag. Dieses Argument muss man ernst nehmen: Von der Diskussion über die Entscheidung hin zur Planung, Ausschreibung, und Umsetzung beispielsweise einer Autobahn können locker Jahre vergehen, und dann darf man nicht davon ausgehen, dass mit dem ersten Spatenstich sich auch schon die positiven Folgen der Autobahn einstellen. Im schlimmsten Fall führt das zu so genannter prozyklischer Politik: Man beschließt in der Rezession eine Autobahn zu bauen, um einen Ausfall von Nachfrage zu kompensieren, doch bis es los geht, ist die Rezession bereits vorbei und die zusätzliche Nachfrage, die durch den Bau der Autobahn entfaltet wird, kommt zu spät und führt schlimmstenfalls sogar zu einer Überhitzung der Wirtschaft.
Dieses Konzept sagt in seiner einfachsten Form nichts aus über die Zweckmäßigkeit der zu tätigenden Ausgaben – wer bösartig ist, kann
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Teil 2: Makroökonomie
argumentieren, dass jegliche Staatsausgabe in diesem Modell zu expansiven Effekten führt, auch wenn der Staat morgens Löcher graben lässt, die Nachmittags wieder zugeschüttet werden. Dass dies keine sinnvolle Politik ist, versteht sich auch ohne Modell.
Man darf die Möglichkeiten dieser Politik auch nicht überschätzen – sie kann allenfalls Impulse setzen, eine temporäre Schwäche der Nachfrage überbrücken oder wie eine Art Anschub wirken. Bei strukturellen Problemen, wie wir sie bereits kennen gelernt haben, ist diese Politik komplett wirkungslos. Das kann man sich vorstellen wie bei einem Auto: Wenn es nur eine kleine Verstopfung des Vergasers ist, dann reicht es, den Wagen anzuschieben; wenn aber der Motor kaputt ist, hilft alles Anschieben nicht.
Das wohl wichtigste Problem dieser Politik ist politischer Natur: In der Krise sind Politiker rasch dabei, Schulden zu machen, doch die andere Seite dieses Konzeptes, die Rückführung der Defizite im Boom und das Sparen, werden rasch auf den Altar der Ambitionen zur Wiederwahl geopfert. Das Ergebnis: Der Schuldenberg wird von Rezession zu Rezession größer; mit all den Folgen, die wir bereits diskutiert haben. Ein Ausweg können die so genannten automatischen Stabilisatoren sein.
Ein theoretischer Einwand ist die Ricardianische Äquivalenz (benannt nach David Ricardo, den Sie bereits kennen). Diese besagt, dass alle Schulden des Staates letztlich nur durch höhere Steuern beglichen werden können. Wenn die Bürger dies erkennen, werden sie auf die höhere Staatsverschuldung mit einer Zunahme der Ersparnisse reagieren, weil sie wissen, dass der Staat diese höheren Schulden später bei ihnen über höhere Steuern wieder eintreibt. Wenn sich der Staat also verschuldet, werden die Bürger als Reaktion darauf weniger konsumieren, um sich auf die kommenden Steuererhöhungen vorzubereiten – das dämpft den expansiven Effekt der steigenden Staatsausgaben.
20 Krisen und ihre Therapie: Makroökonomische Politik
Ein weiteres Problem der Staatsverschuldung ist das crowding-out, das Sie bereits in Kapitel 18 kennen gelernt haben: Der Staat nimmt mehr Kredite auf, was zu einem Anstieg der Zinsen führt, wodurch weniger private Investitionen getätigt werden. Steigende Staatsverschuldung verdrängt private Investitionen, was zu einem Rückgang der Nachfrage führt.
In der Praxis: Automatische Stabilisatoren Von automatischen Stabilisatoren spricht man, wenn sich bestimmte Einnahmeposten der öffentlichen Haushalte – Bund, Länder oder Gemeinden – automatisch mit der Konjunkturlage verändern, und zwar in gegenläufiger Richtung. Ein Beispiel dafür ist die Arbeitslosenversicherung: In einem Boom ist die Beschäftigung hoch, viele Arbeitnehmer zahlen in die Versicherung ein, und diese Einzahlungen reduzieren ihr Nettoeinkommen und wirken damit dämpfend auf ihren Konsum; zugleich kann die Arbeitslosenversicherung Überschüsse anhäufen. In der Rezession hingegen steigt die Arbeitslosigkeit, die Beiträge zur Versicherung sinken, statt dessen bekommen die Arbeitslosen Geld von der Arbeitslosenversicherung, was deren Einkommen und damit deren Konsum stabilisiert. Damit wirkt die Arbeitslosenversicherung perfekt antizyklisch: Im Boom entzieht sie Kaufkraft und häuft Überschüsse an, in der Rezession zahlt sie aus und stärkt die Kaufkraft. Weitere automatische Stabilisatoren können im Steuersystem und im Transfersystem des Staates existieren. In der Praxis aber scheitert diese konjunkturpolitisch sinnvolle Einrichtung oft an der Politik: So wurde der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung seit 2006 innerhalb von drei Jahren drei Mal verringert; die Beitragszahler wurden zwischen 2006 und 2009, als die Konjunktur besser lief, um 30 Milliarden Euro jährlich entlastet – obwohl das der Zeitraum gewesen wäre, in dem die Versicherung hätte Überschüsse anhäufen müssen. Die Strafe folgte auf den Fuß: Als sich die Wirtschaft wieder verschlechterte, drohten Defizite, was sofort die Debatte in Gang brachte, die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zu erhöhen; was mitten in der Krise einen Entzug an Kaufkraft und damit geringeren Konsum zur Folge hätte. Die Idee der automatischen Stabilisatoren ist richtig, aber offenbar politisch nur schwer durchzuhalten.
Damit beeinträchtigt das crowding-out die Wirksamkeit der expansiven Fiskalpolitik – und hier kommt die zweite Waffe des Keynesanismus ins Spiel, die Geldpolitik. Was passiert, wenn die Notenbank mehr Geld in den Umlauf bringt?
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In der Presse 14: Milliarden zur falschen Zeit Im Januar 2009, auf dem Höhepunkt der Finanzkrise, beschloss die Bundesregierung ein Konjunkturpaket in Höhe von 50 Milliarden Euro. Mit gemischtem Erfolg: Die Länder beispielsweise riefen bis Ende 2009 gerade einmal 25 Prozent der für sie in diesem Jahr vorgesehenen Mittel ab, bis Ende 2009 waren kaum mehr als zehn Prozent der vorgesehenen Mittel abgeflossen. Dummerweise befand sich die deutsche Konjunktur bereits Mitte 2009 wieder auf Wachstumskurs, so dass das Konjunkturpaket II seine Wirkung zum Teil erst entfaltete, als die deutsche Wirtschaft sich wieder im Aufschwung befand: „Die Mittel aus dem Pakte sind in der Hochkonjunktur geflossen“, lässt sich ein Experte zitieren. (Quelle: Tobias Kaiser: Milliarden zur falschen Zeit, in: Welt am Sonntag Nr. 48 vom 27. November 2001, S. 36.)
Geldpolitik. Wenn Sie ein Verfechter der klassischen Ideen sind und dem Geld nur die Funktion eines Tauschmittels, eines Schleiers, zubilligen, werden Sie sich auf die Quantitätstheorie berufen und sagen, dass bei einer Erhöhung der Geldmenge lediglich die Preise steigen werden. Wenn Sie aber keynesianisch denken, dann kann Geld durchaus einen Einfluss auf das reale Wirtschaftsgeschehen haben. Wie Geld auf die realwirtschaftlichen Bedingungen wirken kann, haben wir bereits bei den Transmissionsmechanismen diskutiert. Wir wollen hier die einfachste Variante nehmen: Ein Anstieg der Geldmenge führt dazu, dass die Konsumenten mehr Geld in der Tasche haben, das sie nicht vollständig zur Finanzierung ihrer Transaktionen benötigen. Deswegen sparen sie einen Teil des Geldes, was die Zinsen senkt und damit die Investitionsnachfrage anregt – und damit steigt die Gesamtnachfrage, die AD-Kurve verschiebt sich nach rechts. In diesem einfachen Modell also hat eine Erhöhung der Geldmenge den gleichen Effekt wie expansive Fiskalpolitik. Steigt die Gesamtnachfrage, so steigt die Beschäftigung, was zu höheren Arbeitseinkommen und damit zu mehr Konsum, also Nachfrage führt.
Bundesbankpräsident Axel Weber und sein Nachfolger Jens Weidmann
Aber die Erhöhung der Geldmenge hat noch einen weiteren Effekt: Sie hält die Zinsen niedrig, erhöht damit die Investitionen (also auch die Nachfrage) und verhindert ein crowding-out. Deswegen wird die Geldpolitik im Keynesiansimus als flankierende Maßnahme eingesetzt, man spricht auch von akkomodierender Geldpolitik. Im Neukeynesianismus, einer Variante des Keynesianismus, ist die Geldpolitik sogar ohne Staatsausgabenerhöhung eine eigenständige Politikvariante, und zwar diejenige Variante, die grundsätzlich zur Rezessionsbekämpfung vorgeschlagen wird.
20 Krisen und ihre Therapie: Makroökonomische Politik
In der Praxis: Die Europäische Zentralbank und akkomodierende Geldpolitik „Eine vorausschauende Geldpolitik muss Risiken für die Preisniveaustabilität frühzeitig entgegentreten…Verschiedene Kommentatoren halten dem Eurosystem vor, mit diesen Zinsschritten ohne Not die konjunkturelle Erholung zu gefährden. Hierzu ist folgendes anzumerken: Mit dem Anheben des Leitzinses auf 2,5 Prozent nimmt das Eurosystem die akkomodierende Geldpolitik der letzten Jahre etwas zurück. Vom Beginn einer restriktiven Phase kann keine Rede sein.“ Aus der Rede von Bundesbankpräsident Axel Weber auf der Frühjahrstagung der FDP-Bundestagsfraktion 2006. (URL: http://www. bundesbank.de/download/presse/reden/2006/20060305weber.php)
Damit hätten wir alle Elemente des Keynesianismus zusammen:
Als Diagnose stellt der Keynesianismus fest, dass die Ursache von Rezessionen und Unterbeschäftigung ein Ausfall von gesamtwirtschaftlicher Nachfrage ist.
Als Politik bietet der Keynesianismus antizyklische Fiskalpolitik und die Geldpolitik an: In Krisenzeiten verschuldet sich der Staat, in guten Zeiten spart er. Unterstützt wird das Ganze von einer flankierenden (oder eigenständigen) Geldpolitik, die (unter anderem auch) ein Zins-Crowding-out verhindert.
Dieses Konzept basiert auf zahlreichen Annahmen, die in Tabelle 34 zusammengefasst sind und mit den Ideen der Klassik verglichen werden.
Keynes 2009: Die Konjunkturpakete der Bundesregierung Mit dem Einbruch der weltweiten Konjunktur im Jahr 2008 sah sich die Bundesregierung veranlasst, zwei keynesianisch inspirierte Konjunkturprogramme aufzulegen. Ende 2008 wurde unter dem Namen „Schutzschirm für Arbeitsplätze“ das erste Konjunkturpaket mit 15 verschiedenen Maßnahmen beschlossen. Mit dem Paket sollten laut Bundesregierung Investitionen und Aufträge in der Größenordnung von rund 50 Milliarden Euro gefördert werden (Abbildung 93 gibt Ihnen eine Übersicht über die Maßnahmen). Anfang 2009 folgte dann das Konjunkturpaket 2, das ebenfalls 50 Milliarden Euro für die Jahre 2009 und 2010 umfasste. Unter anderem wurden in diesem Paket die Einkommensteuer und die Beiträge zur Krankenkasse gesenkt, die Möglichkeiten für Kurzarbeit ausgebaut, weitere Qualifizierungsmaßnahmen beschlossen, die Kfz-Steuer umgestellt und der Ausbau von Breitbandnetzen für das Internet vorangetrieben. Der Star unter den Maßnahmen des zweiten Konjunkturpakets allerdings war die Umweltprämie, eher als Abwrackprämie bekannt:
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Jeder, der einen mindestens neun Jahre alten Pkw verschrottete und einen Neuwagen oder einen Jahreswagen kaufte, erhielt eine Zahlung von 2 500 Euro. Allerdings waren die Mittel für diese Maßnahme auf 1,5 Milliarden Euro beschränkt, weswegen es bei machen Autohäusern zu tumultartigen Szenen kam. Sparsame Bürger ließen sich dafür bezahlen, dass sie ihre noch funktionstüchtigen Autos verschrotteten.
Die Phillips-Kurve. Einen Nebeneffekt des keynesianischen Konzeptes wollen wir uns noch einmal etwas näher anschauen – es geht um die so genannte Phillips-Kurve, die einen Zusammenhang zwischen Inflationsrate und Arbeitslosigkeit postuliert. Dazu benötigen wir Abbildung 94. In der linken Hälfte sehen Sie eine keynesianische Situation: Aufgrund eines Aus-
Klassik
Keynes
Diagnose
Arbeitslosigkeit entsteht durch starre Löhne oder zu hohe Löhne oder durch fehlendes Wachstumspotential.
Arbeitslosigkeit entsteht durch Nachfragemangel.
Angebot und Nachfrage
Say’sches Theorem: Jedes Angebot schafft sich seine eigene Nachfrage.
Das Angebot passt sich an die Nachfrage an.
Sparen
Das Sparen hängt von der Höhe des Zinses ab; damit hängt der Konsum auch vom Zins ab. Ersparnisse werden nicht gehortet, sondern zinsbringend angelegt und dadurch zu Investitionen transformiert. Horten, bei dem man das gesparte Geld nicht anlegt, ist nicht rational, da man nicht auf die Zinserträge verzichtet.
Da der Konsum von der Höhe des Einkommens abhängt, hängt das Sparen ebenfalls vom Einkommen ab. Wird das gesparte Geld gehortet, so werden die Ersparnisse nicht in Investitionen umgesetzt, es entsteht ein Ausfall von Nachfrage. Horten ist unter bestimmten Annahmen möglich und rational.
Preise und Löhne
Sind vollkommen flexibel.
Können starr sein; wenn überhaupt, ändern sie sich nur langsam.
Arbeitslosigkeit
Bei flexiblen Löhnen gibt es keine dauerhafte, unfreiwillige Arbeitslosigkeit.
Arbeitslosigkeit ist nicht die Folge zu hoher oder unflexibler Löhne, sondern von zu geringer Nachfrage.
Geld
Geld ist nur ein Schleier, es hat keinen Einfluss auf die Realwirtschaft, also weder auf die Produktion noch auf die Beschäftigung. (klassische Dichotomie).
Geldpolitik kann zu einer Veränderung von Produktion und Beschäftigung führen; Nicht-Neutralität des Geldes.
Politikempfehlung
Der Staat soll für flexible Preise und Löhne sorgen; ein aktives Konjunkturmanagement ist nicht möglich. Mehr Wohlstand durch Förderung wachstumstreibender Faktoren.
Antizyklische Fiskalpolitik und akkomodierende Geldpolitik ermöglichen eine Steuerung der Konjunktur. Oder aber auch eine eigenständige Geldpolitik ohne Staatsausgabenerhöhung
Tabelle 34: Klassik versus Keynes
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Wer profitiert wie vom Maßnahmenpaket?
Schutzschirm für Arbeitsplätze Sicherheit für Beschäftigte schaffen Berufsbegleitende Weiterbildung verhindert Entlassungen
Bürger entlasten Keine Kfz-Steuer für Neuwagen Handwerkerleistungen besser absetzbar
Schnellere Vermittlung in den Anschlussjob Längere Auszahlung von Kurzarbeitergeld
Entlastungen für Familien Niedrigerer Beitrag zur Arbeitslosenversicherung Erhöhtes Wohngeld Förderung haushaltsnaher Dienstleistungen
Ins Land investieren
Wirtschaft stärken
Bessere Infrastruktur für strukturschwache Kommunen
Finanzierung von Unternehmen sichern (Kreditvergabe)
Schnellere Investitionen in den Verkehr
Belastungen für Autoindustrie begrenzen
Umweltfreundliche Sanierung von Gebäuden vorantreiben
Moderne Fahrzeugtechnologie vorantreiben
Regionale Wirtschaftsstruktur verbessern
Innovative Unternehmen und Branchen stärken Investitionen belohnen (degressive Abschreibungen/Sonderabschreibungen)
falls von Nachfrage hat sich die AD-Kurve nach links verschoben und die Wirtschaft ist in einem kurzfristigen Gleichgewicht bei YR gelandet, produziert also unter dem, was langfristig möglich ist. Jetzt startet der Staat seine expansive Fiskalpolitik und verschiebt damit die AD-Kurve nach rechts von AD1 auf AD2. Das Ergebnis kennen wir bereits: Die Nachfrage steigt, die Preise steigen, dadurch sinken die Reallöhne, das kurzfristige Angebot steigt, wir landen wieder im alten Gleichgewicht; wir haben uns von Punkt A nach Punkt B bewegt. Wenn Sie nun genau hinschauen, sehen Sie, dass von A nach B folgendes passiert ist: Die Inflationsrate ist gestiegen, aber auch das Sozialprodukt, und mit ihm die Beschäftigung; dementsprechend ist die Arbeitslosenquote gesunken. Genau diesen Zusammenhang stellt die rechte Hälfte von Abbildung 94 dar: Auf der horizontalen Achse tragen wir die Arbeitslosenquote ab; auf der vertikalen die Inflationsrate. Dann stellt sich die Bewegung von A nach B aus der linken Hälfte der Abbildung so dar, dass man von A nach links geht – die Arbeitslosigkeit sinkt – und dann nach oben, weil ja zugleich das Preisniveau gestiegen ist. Und genau das ist die Phillips-Kurve: Sie zeigt den Zusammenhang zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit, und wenn die keynesianische Diagnose und Politik zutrifft, dann sollte hier ein inverser
Abbildung 93: Das erste Konjunkturpaket der Bundesregierung, der „Schutzschirm für Arbeitsplätze“ (Quelle: Bundesministerium für Finanzen, 2008. URL: http://www.bundesfinanzministerium.de/nn_54/DE/Wirtschaft_und_ Verwaltung/073_Schutzschirm_arbeitsplaetze_fl_teaser.html?_nnn=true)
Teil 2: Makroökonomie
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Preisniveau
Inflationsrate ASL
AD
ASK
ADⁱ B
p
B
p pⁱ
Abbildung 94: Die Phillips-Kurve
A pⁱ
YR
Y
Sozialprodukt
A
Arbeitslosenquote
Zusammenhang bestehen: Steigt die Inflationsrate, dann sinkt die Arbeitslosigkeit. Wer jetzt optimistisch denkt, interpretiert diese Grafik als eine Art wirtschaftspolitische Speisekarte: Will man weniger Arbeitslosigkeit, so kann man sie sich mit höherer Inflation erkaufen. Legendär ist in diesem Zusammenhang der Ausspruch des damaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt geworden, der sagte: „Mir sind fünf Prozent Inflation lieber als fünf Prozent Arbeitslosigkeit“. Ob dieser Optimismus gerechtfertigt ist, werden wir uns später noch einmal genauer ansehen; jetzt können wir die Phillips-Kurve dazu nutzen, zwischen konjunktureller und struktureller Arbeitslosigkeit zu unterscheiden. Wir greifen hier wieder die Ideen aus dem 16. Kapitel auf, dort hatten wir versucht, mit Hilfe der NAIRU, der Okun-Kurve und der Beveridge-Kurve zwischen konjunktureller und struktureller Arbeitslosigkeit zu unterscheiden. Jetzt können wir das Gleiche mit Hilfe der Phillips-Kurve versuchen. Dabei wollen wir von folgender Idee ausgehen: Wenn die Ursache der Arbeitslosigkeit ein Ausfall von Nachfrage ist (die Arbeitslosigkeit also konjunktureller Natur ist), dann sollte die Phillips-Kurve eines Landes den in Abbildung 94 gezeigten Verlauf haben. Wie sieht also die Phillips-Kurve für die Bundesrepublik Deutschland aus? So wie in Abbildung 95. Jeder Punkt in der Abbildung repräsentiert ein Jahr und die in diesem Jahr beobachtete Kombination von Inflationsrate und Arbeitslosenquote. Wie könnte man diese Kurve beschreiben? Auf den ersten Blick scheint es, als würde die deutsche Phillips-Kurve in der Tat den in Abbildung 94 postulierten Verlauf haben. Bei genauerem Hinsehen allerdings erkennt man, dass sie aus drei Teilen besteht: Der erste Teil ist die linke Hälfte der Kurve, die für die siebziger Jahre galt – in diesem Jahrzehnt scheint es – wenn man die Grafik großzügig interpretiert – einen Zusammenhang zwischen Inflation und Arbeitslosenquote zu geben, der unserer Phillips-Kurve recht nahe kommt. Der zweite Teil der Kurve wird durch die neunziger Jahre repräsen-
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8
Inflationsrate (BIP-Deflator)
7 6
1980
1975
5
1972 4
1990 3
1985 2
1995
Abbildung 95: Die Phillips-Kurve für Deutschland
1
2005 2006
0
2000 –1
0
2
4
6
8
10
Arbeitslosenquote
tiert; es sieht so aus, als ob die Phillips-Kurve sich zum einen nach rechts verschoben hat und auch flacher geworden ist. Der dritte Teil der Kurve liegt ganz rechts außen, die Jahre nach der Jahrtausendwende, hier scheint sich der Phillips-Kurven-Zusammenhang (wenn es ihn denn überhaupt gegeben hat) gänzlich aufzulösen. Unter dem Strich kann man sagen, dass sich die Phillips-Kurve für die Bundesrepublik Deutschland, sofern man von ihr überhaupt sprechen kann, nach rechts verschoben hat und flacher geworden ist. Das weist auf eine strukturelle Komponente in der deutschen Arbeitslosigkeit hin: Vergleicht man die neunziger Jahre mit den siebziger Jahren, so hat bei unveränderter Inflationsrate die Arbeitslosigkeit zugenommen; das deutet darauf hin, dass der Anstieg der Arbeitslosigkeit nichts mit der Inflationsrate zu tun hat und eher strukturelle Ursachen hat. Wir werden die Phillips-Kurve noch einmal aufgreifen; zuvor wollen wir nachschauen, wie der Keynesianismus gewirkt hat. In den sechziger und siebziger Jahren war die Idee, die gesamtwirtschaftliche Nachfrage zu steuern, Standard in der Wirtschaftspolitik. Das lag nicht zuletzt daran, dass es keine Probleme auf der Angebotsseite gab; aber gerade die Angebotsseite sollte in den siebziger Jahren dem Keynesianismus einen schweren Schlag versetzen. Den Höhepunkt der keynesianischen Idee in der Bundesrepublik sah das Jahr 1967, als das reale Sozialprodukt zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik sank – wenn auch nur um 0,1 Prozent. Wirtschaftsminister Karl Schiller (SPD) und Finanzminister Franz Josef Strauß (CSU), die nach Wilhelm Buschs Hundepaar „Plisch und Plum“ genannt wurden, standen vor der heiklen Aufgabe, den Haushalt zu konsolidieren und die Wirtschaft zu beleben. Ihre wirtschaftspolitische Antwort war das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz von 1967, das in seinen Paragraphen die Ideen des Keynesianismus atmete.
(Quelle: Bernd Fitzenberger, Wolfgang Franz, Oliver Bode: The Phillips Curve and NAIRU Revisited: New Estimates for Germany, in: Jahrbücher f. Nationalökonomie und Statistik Lucius & Lucius, Stuttgart 2008 Bd. (Vol.) 228/5+6)
Teil 2: Makroökonomie
428
In der Praxis: Das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz Das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz (StWG) wurde im Juni 1967 verabschiedet. Es sah unter anderem eine Konjunkturausgleichsrücklage vor: „Bei einer die volkswirtschaftliche Leistungsfähigkeit übersteigenden Nachfrageausweitung“ sollten Gelder zur „zusätzlichen Tilgung von Schulden bei der Deutschen Bundesbank oder zur Zuführung an eine Konjunkturausgleichsrücklage veranschlagt werden“; bei einer Abschwächung der allgemeinen Wirtschaftstätigkeit sollten „zusätzlich erforderliche Deckungsmittel zunächst der Konjunkturausgleichsrücklage“ entnommen werden – antizyklische Ausgabenpolitik in Reinkultur. „Die Bundesregierung kann bestimmen, daß bei einer … Abschwächung der allgemeinen Wirtschaftstätigkeit zusätzliche Ausgaben geleistet werden…Zu ihrer Deckung sollen die notwendigen Mittel zunächst der Konjunkturausgleichsrücklage entnommen werden“, heißt es weiter in Paragraph 6 des Gesetzes. Weiter besagt Paragraph 11: „Bei einer die Ziele des § 1 gefährdenden Abschwächung der allgemeinen Wirtschaftstätigkeit ist die Planung geeigneter Investitionsvorhaben so zu beschleunigen, daß mit ihrer Durchführung kurzfristig begonnen werden kann. Die zuständigen Bundesministerien haben alle weiteren Maßnahmen zu treffen, die zu einer beschleunigten Vergabe von Investitionsaufträgen erforderlich sind.“
Arbeitsauftrag 39 Suchen Sie im Gesetzestext des StWG weitere konjunkturpolitische Maßnahmen und erklären Sie, wie diese wirken. Den Text finden Sie im Internet unter der URL: http://bundesrecht.juris.de/bundesrecht/ stabg/gesamt.pdf
„Plisch und Plum“ oder Finanzminister Strauß und Wirtschaftsminister Schiller
Das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz war die Umsetzung des Keynesianismus in die wirtschaftspolitische Praxis; man reagierte auf die Krise 1967 mit schulbuchmäßigem Keynesianismus: Steuersenkungen, Sonderabschreibungen und öffentliche Investitionsprogramme sollten die Nachfrage erhöhen – wie ist dieser Versuch ausgegangen? Auf den ersten Blick war er sehr erfolgreich: Das Gesetz wurde Juni 1967 verabschiedet, und bereits 1968 befand sich die deutsche Wirtschaft wieder auf dem Wachstumspfad; das Sozialprodukt stieg, die Arbeitslosigkeit sank (Abbildung 96). Bei dieser zeitlichen Nähe liegt es auf der Hand, diesen Erfolg dem Gesetz und der keynesianischen Politik zuzuschreiben. Doch wenn Sie einen Moment an die Kritik am Keynesisnismus denken, könnten Ihnen Zweifel kommen: Das Gesetz wurde Juni 1967 verabschiedet – konnte es innerhalb weniger Monate so rasch wirken? Wenn Sie an die
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7
Arbeitslosenquote Wachstum reales BIP
6
5 4
3 2
1 0 –1 –2 1960 1962 1964 1966 1968 1970 1972 1974 1976 1961 1963 1965 1967 1969 1971 1973 1975
Wirkungsverzögerungen denken, die wir bei expansiver Fiskalpolitik mit einbeziehen müssen, dann scheint die These von der Wirksamkeit des Gesetzes gewagt: Als das Gesetz verabschiedet wurde, befand sich die Wirtschaft bereits auf dem Tiefpunkt, und eingedenk der Wirkungsverzögerung staatlicher Ausgabenprogramme muss man zumindest hinterfragen, wie hoch der Beitrag des Gesetzes wirklich war. Zudem wurde der Aufschwung des Jahres 1968 hauptsächlich vom Export getragen und nicht von der inländischen Nachfrage, die man mit dem Gesetz stimulieren wollte. Möglicherweise wäre der Aufschwung auch ohne die staatlichen Maßnahmen gekommen. In den achtziger Jahren allerdings kam die Idee der keynesianischen Globalsteuerung einer Wirtschaft aus der Mode. Dafür waren mehrere Gründe verantwortlich:
Die keynesianischen Ideen wurden zunehmend von Politikern missbraucht, um auf dem Rücken teils fehlerhaft interpretierter Theorien das politisch Nützliche zu tun und Wahlgeschenke zu verteilen. Besonders populär war bei Gewerkschaften die Kaufkrafttheorie des Lohnes, nach der Lohnerhöhungen gut für die Konjunktur seien, da sie ja zu mehr Einkommen und damit zu mehr Nachfrage führen. Diese Ideen werden von Kritikern auch als „Vulgärkeynesianismus“ bezeichnet, die in der Tat nicht durch die Schriften Keynes gedeckt sind. Hören wir dazu Keynes selbst: „Eine Zunahme der Beschäftigung kann sich nur durch eine begleitende Senkung der Reallöhne einstellen. Ich bestreite diese vitale Tatsache nicht, die von klassischen Ökonomen zu recht als unantastbar bezeichnet wurde“. Dennoch – mit dem Verweis auf die Konjunktur ließen sich nun absurde Lohnforderungen durchsetzen; legendär dafür die so genannte „Kluncker-Runde“ 1974, benannt nach dem damaligen
Abbildung 96: Wachstum und Beschäftigung in den sechziger Jahren (in Prozent) (Quelle: Sachverständigenrat)
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Teil 2: Makroökonomie
Gewerkschafts-Chef Heinz Kluncker von der ÖTV (heute Verdi), der mit einem dreitägigen Streik der Müllwerker und Straßenbahner eine Tariferhöhung von 11 Prozent erreichte. Kritiker sagen, dass diese Runde zum Rücktritt des damaligen Bundeskanzlers Willy Brandts beigetragen hat; zudem hat diese Runde dazu beigetragen, die Idee der Kaufkrafttheorie des Lohnes und damit auch den Keynesianismus zu diskreditieren.
Zum Sargnagel des Keynesianismus wurde aber die toxische Kombination von Arbeitslosigkeit und Inflation (Stagflation), die Mitte der siebziger Jahre viele industrialisierte Volkswirtschaften plagte. Und diese Situation eröffnete den Kampf um die theoretische Deutung des Wirtschaftsgeschehens aufs Neue, nur dass sich diesmal der Keynesianismus in der Defensive sah.
In der Presse 15: Daimler und Keynes 2009 Die Zeitschrift „Stern“ beschäftigt sich mit den Lohnkürzungen beim Automobilhersteller Daimler: „Aber was betriebswirtschaftlich sinnvoll ist, kann der Volkswirtschaft insgesamt schaden. Der Teufelskreislauf: Niedrigere Löhne führen zu einer geringeren Kaufkraft, die Konsumenten haben weniger Geld zur Verfügung. Daraufhin sinkt die Nachfrage weiter, die Anbieter müssen ihre Preise senken. So schmelzen die Gewinne bzw. erhöhen sich die Verluste der Unternehmen, und sie geraten noch stärker unter Einsparungsdruck. Weitere Lohnkürzungen oder Entlassungen sind die Folge – die Nachfrage sinkt noch stärker. Ein allgemeiner Preisverfall findet statt, die Wirtschaft gerät in die Deflationsspirale. (Quelle: Sönke Wiese: Warum Lohnverzicht schädlich sein kann; in: Stern Online vom 5. Mai 2009; URL: http://www.stern.de/wirtschaft/ arbeit-karriere/arbeit/massnahmen-gegen-die-krise-warum-lohnverzicht-schaedlich-sein-kann-662876.html)
Dem letzten Einwand wollen wir uns noch einmal näher widmen. Mitte der Siebziger Jahre sahen sich die Volkswirtschaften vieler industrialisierter Staaten von einer ökonomischen Plage erster Güteklasse heimgesucht: Massenarbeitslosigkeit, gepaart mit Inflation, die so genannte Stagflation. Für die keynesianische Theorie, die ja scheinbar nun die Wirtschaft erklären konnte und beherrschbar machte, war diese Kombination eine theoretische Niederlage: Wie wir gleich sehen werden, lässt sich dieses Phänomen in der keynesianischen Theorie nicht erklären. Das kennen wir bereits: Wir haben eine etablierte Theorie, die uns erklärt, wie die Wirtschaft funktioniert, und dann passiert in der Realität etwas, was durch diese Theorie nicht zu erklären ist. War es 1929 noch die klassische Theorie, die durch solche Ereignisse und eine neue Theorie, den Keynesianismus, von ihrem Thron gestürzt wurde, so ging es jetzt dem Keynesianismus an den Kragen – eine neue Idee musste her, um das Dilemma der siebziger Jahre zu erklären und neue Lösungen zu entwickeln. Eine neue Krise, eine neue Theorie.
20 Krisen und ihre Therapie: Makroökonomische Politik
In der Theorie: Keynes und die Erben Eigentlich lässt sich gar nicht so genau sagen, welche Ideen von Keynes stammen und welche von seinen Schülern oder anderen Ökonomen weiter entwickelt wurden. In der Literatur unterscheidet man viele verschiedene Zweige und Interpretationen des Werks von Keynes. Die wohl in der Ökonomie berühmteste Interpretation des Keynesanismus ist das so genannte IS/LM-Modell des britischen Ökonomen John Hicks und seines Kollegen Alvin Hansen, das die Ideen Keynes in zwei Kurven presste. Dieses Modell versucht, in einer Grafik die wesentlichen Ideen Keynes darzustellen. Inwieweit das gelungen ist, ist Gegenstand einer lebhaften Debatte. Keynes selbst hat das Modell gekannt und offenbar keine Einwände erhoben. Das in diesem Buch verwendete AS/AD-Modell lässt sich in das IS/LMModell integrieren; diesen Ansatz finden Sie in vielen Lehrbüchern der Makroökonomie. In der so genannten neoklassischen Synthese werden traditionelle Markttheorie und Keynesianismus miteinander versöhnt; hier unterstellt man funktionierende Märkte und wendet grundsätzlich mikroökonomische Ideen an; wenn inflexible Löhne und Preise die Wirtschaft aus dem Gleichgewicht bringen, wendet man die keynesianischen Ideen an. Damit reduziert sie Keynes auf unflexible Löhne und Preise. Unter dem Begriff „Postkeynesianer“ firmiert ein bunter Haufen von Ideen, teils mit kapitalismuskritischem Einschlag.
Welches war die Krise, die der keynesianischen Theorie zusetzte? Es waren die beiden Ölpreiskrisen der Jahre 1974 und 1980, die der Weltwirtschaft einen Schock versetzten, den wir bis heute in den Statistiken noch nachlesen können. Für die meisten europäischen Länder läuteten die Ölpreiskrisen eine neue, hässliche Ära höherer Inflationsraten und Arbeitslosenraten ein. Was war
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Teil 2: Makroökonomie
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passiert? 1973 erfolgte der erste Schock, als nach dem Jom-Kippur-Krieg die Staaten der Organisation Erdöl exportierender Länder (OPEC) den Vereinigten Staaten und Teilen Europas kein Öl mehr liefern wollten und die Ölpreise massiv anstiegen. Den Industriegesellschaften wurde erstmals schmerzlich bewusst, wie stark sie vom Öl abhängig waren – der Ölpreis vervierfachte sich. Die Fortsetzung kam dann 1979 und 1980: Ausgelöst wurde die zweite Ölpreiskrise unter anderem durch Förderungsausfälle, die Revolution in Iran und den Angriff des Irak auf den Iran. Im Ergebnis verdoppelten sich die Ölpreise nochmals. Wir versuchen nun, diese Situation in Abbildung 97 darzustellen – wir beschreiben damit einen so genannten Angebotsschock. Preisniveau ASL ASK1
AD
ASK0
1
YÖ Y
Sozialprodukt
Abbildung 97: Ein Angebotsschock
Wir starten im Ausgangsgleichgewicht beim Volkseinkommen Y; kurz- und langfristiges Angebot sind gleich der Nachfrage. Nun kommt es zum Ölpreisschock, der die kurzfristige Angebotskurve nach links verschiebt (Bewegung 1). Das geschieht deswegen, weil Öl einer der wichtigsten Produktionsfaktoren unserer Volkswirtschaft ist; steigt der Ölpreis, so steigen die Produktionskosten, die Unternehmen werden die gleiche Menge Sozialprodukt nur zu höheren Preisen anbieten; also verschiebt sich die ASKKurve nach links. Durch die dadurch steigenden Preise sinkt die gesamtwirtschaftliche Nachfrage, wir bewegen uns auf der AD-Kurve nach oben (das Preisniveau ändert sich, das ist eine endogene Variable); als erstes Ergebnis haben wir ein gesunkenes Volkseinkommen (damit einhergehend steigende Arbeitslosigkeit) und steigende Inflationsraten. Da ist sie also, die Stagflation: steigende Arbeitslosigkeit, gepaart mit höherer Inflation – genau das, was den Industrienationen in den siebziger Jahren widerfahren ist. Eine keynesianische Diagnose kann nie zu einem solchen Ergebnis kommen, denn ein Ausfall von Nachfrage führt in unserem Modell immer zu einem Rückgang der Preise, da sich die AD-Kurve nach links unten verschiebt. Eine Stagflation ist also nicht mit einem Ausfall von Nachfrage zu erklären, und noch schlimmer: statt die Wahl zu haben zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit (wie bei der Phillips-Kurve), bekommt man jetzt beides.
20 Krisen und ihre Therapie: Makroökonomische Politik
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Eine Situation wie nach den Ölpreiskrisen ist also mit der keynesianischen Diagnose unvereinbar. Was passiert nun? Es bieten sich mehrere Varianten an:
Eine Möglichkeit besteht darin, dass der Anstieg der Kosten langfristig wieder aufgefangen wird: Der Ölpreis beruhigt sich, oder aber die Unternehmen lernen, Öl durch andere Produktionsfaktoren zu ersetzen. Teilweise ist das auch passiert und passiert immer noch: Abbildung 98 beispielsweise zeigt, dass die Energieintensität pro Einheit BIP in Deutschland stark gesunken ist. Wenn also dieser Kostenschocks verdaut wird, verschiebt sich die ASK-Kurve wieder zurück in das alte Gleichgewicht.
Eine weitere Möglichkeit besteht darin, dass die Krise die Ansprüche der
Kein Scherz: Die Folgen des Sonntagsfahrverbots
Arbeitnehmer reduziert, sie mit einem geringeren Lohn zufrieden sind. Ein solches Absinken der Nominallöhne (und damit auch der Reallöhne) würde die ASK-Kurve ebenfalls wieder zurück nach rechts verschieben.
Das kann aber auch ganz anders ausgehen: Wenn sich die Inflationsrate erhöht hat, dann können die Arbeitnehmer für die Zukunft weiter steigende Preise erwarten. Passen sie aber ihre Inflationserwartungen nach oben an und fordern entsprechend höhere Nominallöhne, verschiebt sich die ASK-Kurve weiter nach links – mit entsprechend negativen Folgen.
Natürlich kann die Regierung durch expansive Fiskalpolitik die ADKurve nach rechts verschieben. Im Endergebnis führt das dazu, dass zwar das Sozialprodukt und damit die Beschäftigung wieder steigen, allerdings um den Preis weiter steigender Inflationsraten. Hier gerät die Regierung in einen Zielkonflikt: Expansive Fiskalpolitik schafft Beschäftigung, führt aber zu Inflation; Nichtstun bedeutet Arbeitslosigkeit, aber auch geringere Inflationsraten. In einer keynesianischen Situation, in der wir zuvor sinkende Preis gehabt haben, mag die Inflation, die mit expansiver Fiskalpolitik einher geht, nicht so problematisch sein – doch wenn man bereits durch den Angebotsschocks höhere Inflationsraten hat, will
Entwicklung der Energieintensität 9
8,7 8,3
Megajoule je Euro BIP
8,0
Abbildung 98: Energieintensität in der Bundesrepublik Deutschland (Megajoule je Erstellung eines Euros BIP)
8,0
8
7,7
7,8 7,6
7,6 7,4 7,2
7
7,0
7,0
6,9
6,9
6,8
6,7
6
5 1990
1991
1992
1993
1994
1995
1996
1997
1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005
(Quelle: Bundesumweltamt: URL: http:// www.umweltbundesamt-daten-zurumwelt.de/umweltdaten/public/document/downloadImage.do;jsessionid=9AF1 CFB84DE8BB31A6963261371DC363?id ent=8666 entnommen aus: Statistisches Bundesamt: Bruttoinlandsprodukt; Arbeitsgemeinschaft Energiebilanzen: Primärenergieverbrauch, Stand 09/2006)
Teil 2: Makroökonomie
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man dann unbedingt noch einen zusätzlichen Inflationsschock draufsetzen?
Eine weitere Politikmöglichkeit besteht darin, Maßnahmen zu ergreifen, welche die Kosten der Unternehmen reduzieren – also Angebotspolitik. Das verschiebt die ASK-Kurve wieder nach links, die Beschäftigung steigt, die Inflation sinkt. Man beantwortet also den Angebotsschock mit Angebotspolitik, die wir bereits aus dem 14. Kapitel kennen. Bevor wir uns noch einmal der Angebotspolitik zuwenden, wollen wir eine Situation kennen lernen, in der keynesianische Politik komplett versagt – diese Situation macht auch deutlich, wo und wann wir Angebotspolitik benötigen und wann wir eher Keynesianer sein können. Dazu verwenden wir Abbildung 99.
Preisniveau ASL ASLV ADo
AD1 C
ASK
0
B
ASK1 A
2
1
Sozialprodukt
YA
YV
Abbildung 99: Das Versagen keynesianischer Politik
In Abbildung 99 sind zwei langfristige Angebotskurven eingezeichnet. ASL ist die langfristige Angebotskurve, die Sie bereits kennen. ASLV ist das langfristige Angebot, das notwendig wäre, um Vollbeschäftigung zu erzielen. Wenn wir im Punkt A starten, befinden wir uns also in einer Situation struktureller Unterbeschäftigung: Wir müssten das Sozialprodukt YV produzieren, um für Vollbeschäftigung zu sorgen, produzieren aber nur YA. Unsere Produktionskapazitäten reichen also nicht aus, um alle diejenigen zu beschäftigen, die Arbeit suchen. Die Distanz YV minus YA ist das, was wir im 15. Kapitel als strukturelle Arbeitslosigkeit erörtert haben – mit all den untersuchten Ursachen und Folgen. Kann uns keynesianische Fiskalpolitik aus dieser Situation befreien? Versuchen wir es: In Schritt Nummer eins erhöhen wir wieder die Staatsausgaben und verschieben dadurch die AD-Kurve nach rechts (von AD0 zu AD1, Bewegung 1). Die Preise steigen, die Reallöhne sinken und wir wandern auf der ASK-Kurve nach oben in Punkt B. Es scheint, als hätten wir gewonnen: Das Sozialprodukt ist gestiegen, die Beschäftigung auch, lediglich das Preisniveau ist gestiegen – ein schulbuchmäßiger Phillips-Kurven-Zusammenhang. Doch das ist nicht das Ende der Geschichte: unser langfristiges Produktionspotential lässt nur die Herstellung eines Sozialproduktes in der Höhe von YA zu, der Anstieg auf YV funktioniert nur zeitweise; beispielsweise, indem die Arbeitnehmer Überstunden schieben, die Maschinen laufen schneller, hochtouriger. Das alles funktioniert auf kurze Frist, auf lange Frist allerdings passiert etwas anderes. Erstens werden die Arbeitnehmer höhere Löhne einfach deswegen fordern, weil sie es können – je knapper Arbeitskräfte, umso höhere Löhne kann man fordern. Und die Arbeitskräfte sind nun knapp, denn wir produzieren über unserer eigentlichen Kapazitätsgrenze YA. Das gleiche gilt auch für das Kapital: Wenn das Kapital knapp ist, weil wir über dem Kapazitätslimit produzieren, werden die Anbieter des Kapitals eine höhere Entlohnung dafür fordern – und auch bekommen. Beide Prozesse führen zu dem gleichen Ergebnis: Die Produktionskosten werden wegen höherer Löhne oder höherer Zinsen steigen und die ASK-Kurve zurück nach links verschieben (das
20 Krisen und ihre Therapie: Makroökonomische Politik
435
ist Bewegung Nummer 2; von ASK0 zu ASK1). Nicht zuletzt verschiebt sich die ASK-Kurve auch deswegen nach links, weil durch die Fiskalpolitik des Staates die Inflationsrate gestiegen und höher als erwartet ausgefallen ist, also werden die Unternehmen und die Arbeitnehmer ihre Inflationserwartungen anpassen, was dann (wie wir bereits gesehen haben), die ASK-Kurve ebenfalls nach links verschiebt. Im Endergebnis landen wir in Punkt C und fallen zurück auf das alte Sozialprodukt YA; alles, was wir erreicht haben, ist ein Anstieg der Inflationsrate. Langfristig hat die keynesianische Fiskalpolitik versagt. Mit diesem Szenario im Rücken können wir nun auch die Phillips-Kurve entzaubern – dazu dient Abbildung 100. In der linken Hälfte haben wir die Politik im AS/AD-Modell, im rechten die Phillips-Kurve. In der linken Seite bewegen wir uns im ersten Schritt von Punkt A nach Punkt B; die Inflationsrate steigt, das Sozialprodukt (und damit die Beschäftigung) steigen auch. Das ist der klassische Phillips-Kurven-Zusammenhang, der in der rechten Hälfte der Abbildung auch mit Hilfe der Kurve Pe1dargestellt ist – das ist nun die kurzfristige Phillips-Kurve, die nur für die aktuellen Inflationserwartungen gilt, welche die Unternehmen und die Arbeitnehmer hatten, bevor der Staat Fiskalpolitik eingesetzt hat. Die Arbeitslosenquote ist gesunken, das Preisniveau von p1 auf p2 gestiegen. Nach dem Einsatz der Fiskalpolitik allerdings erwarten nun die Unternehmen und die Arbeitnehmer höhere Inflationsraten, weswegen – wie gesehen – sich die ASK-Kurve nach oben verschiebt, vom Punkt B zum Punkt C. Damit gilt nun nicht mehr die alte Phillips-Kurve Pe1 mit den alten Inflationserwartungen, sondern die neue Phillips-Kurve Pe2, mit den neuen Inflationserwartungen (die Inflationserwartungen sind auch in der PhillipsKurve eine exogene Variable, weswegen sich die Kurve verschiebt). Wir landen in Punkt C, in dem die gleiche Arbeitslosenquote herrscht wie zu Beginn, lediglich die Inflationsrate ist gestiegen. Der Phillips-KurvenZusammenhang ist zerstört. Preisniveau ASL
Inflation
ASK1
C 2
p
2
ASK p2
B
p1
A
p1
1 AD1
B
C
A
Pe2
Pe1
ADo A
Y YV Sozialprodukt
AN Arbeitslosenquote
Abbildung 100: Die langfristige Phillips-Kurve
Teil 2: Makroökonomie
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Kurz erzählt passiert also folgendes: Der Staat betreibt expansive Fiskalpolitik, woraufhin die Preise steigen, die Reallöhne sinken und die Beschäftigung steigt. Der kurzfristige Phillips-Kurven-Zusammenhang gilt (wir wandern von A nach B). Dann aber entdecken die Arbeitnehmer und Unternehmer, dass die Preise stärker gestiegen sind als erwartet, sie korrigieren ihre Inflationserwartungen nach oben; fordern also höhere Nominallöhne, ändern ihre Preislisten oder erkennen, dass nicht nur der Preis ihrer Güter, sondern alle Preise gestiegen sind – die ASK-Kurve verschiebt sich nach oben, und bei steigenden Preisen sinkt nun wieder die Nachfrage, wir wandern von B nach C. Langfristig ist die Phillips-Kurve damit eine Senkrechte. Die Phillips-Kurve existiert also nur kurzfristig; langfristig funktioniert die Strategie, sich mit Inflation höhere Beschäftigung zu erkaufen, nicht. Und es kann sogar noch schlimmer kommen: Im obigen Szenario existiert die Phillips-Kurve zumindest kurzfristig, aber vielleicht existiert dieser Zusammenhang sogar kurzfristig nicht: Was, wenn wir die Erwartungen der Arbeitnehmer und der Unternehmen berücksichtigen? Abbildung 101 erklärt diesen Zusammenhang.
Inflation
B
C
A
Pe2
Pe1 Arbeitslosenquote Abbildung 101: Die Zerstörung der Phillips-Kurve durch Erwartungen
Die Idee hinter dieser Frage und der Abbildung ist folgende: Wenn die Arbeitnehmer und Unternehmen ihre Inflationserweiterungen an die erhöhten Inflationsraten anpassen, dann verpuffen die Beschäftigungseffekte der Inflation; sie sind dann – wie in Abbildung 99 gesehen – nur vorübergehender Natur. Doch was, wenn die Arbeitnehmer die höheren Inflationsraten vorwegnehmen? Wenn man aus der Vergangenheit weiß, dass staatliche Ausgabenpolitik zu höheren Inflationsraten führt, dann ändert man seine Erwartungen schon, noch bevor es zu diesen hohen Inflationsraten kommt. Genau das passierte in den siebziger Jahren: Die Gewerkschaften antizipierten hohe Inflationsraten und forderten dementsprechend höhere Nominallöhne, um sinkende Reallöhne zu vermeiden. Damit ist die Phillips-Kurve auch auf kurze Frist zerstört, denn die Erwartung höherer Inflationsraten macht den beschäftigungsfördernden Effekt der Fiskalpolitik sofort zunichte. Und so funktioniert das: Die Regierung beschließt, expansive Fiskalpolitik zu machen, was die AD-Kurve nach rechts verschiebt. Normalerweise würde sich jetzt über die steigenden Preise (und sinkenden Reallöhne) ein Beschäftigungseffekt einstellen, wir sollten also zu Punkt B kommen. Doch das passiert nicht, weil die Arbeitnehmer bereits bei der Ankündigung der staatlichen Ausgaben erwarten, dass die Inflationsraten steigen. Das führt dazu, dass die ASK-Kurve sich nach links verschiebt, und zwar zum gleichen Zeitpunkt, zu dem sich die AD-Kurve verschiebt. Wir gehen also nicht über B, sondern landen sofort in Punkt C. Das Ergebnis: Wir bekommen durch die Fiskalpolitik sofort höhere Inflationsraten, aber keine positiven Beschäftigungseffekte; die Phillips-Kurve ist auch kurzfristig eine Senkrechte. Im Unterschied zu der Phillips-Kurve in Abbildung 100 gehen wir hier nicht über den Punkt B nach C, sondern wandern direkt von A nach C.
20 Krisen und ihre Therapie: Makroökonomische Politik
Denksportaufgabe 14 Was passiert in diesem Modell, wenn die Regierung expansive Fiskalpolitik ankündigt, sie aber überraschenderweise nicht durchführt?
Das ist nun eine völlig neue Qualität in der Wirtschaftstheorie: Nicht nur die Politik, sondern auch die Erwartungen der Menschen über diese Politik haben reale Auswirkungen auf die Wirtschaft. Wenn man so will, machen die Erwartungen der Arbeitnehmer die keynesianische Politik wirkungslos: Sobald sie die inflationären Folgen dieser Politik erwarten, nehmen sie diese vorweg und zerstören damit die Wirksamkeit dieser Politik. Schlimmstenfalls führen schon falsche Erwartungen zu steigender Arbeitslosigkeit: Wenn beispielsweise die Arbeitnehmer fälschlicherweise eine höhere Inflationsrate erwarten, so verschiebt sich die ASK-Kurve nach links. Wenn sich dann nicht die AD-Kurve ausreichend nach rechts verschiebt (oder gar nicht nach rechts verschiebt), dann kommt es zu einem Rückgang des Sozialproduktes und damit zu Arbeitslosigkeit. Falsche Erwartungen würden dann zu mehr Arbeitslosigkeit führen. Vereinfacht gesagt kann man sich das so vorstellen: Zu Beginn des Jahres handeln Gewerkschaften und Arbeitgeber die Löhne aus, unter Berücksichtigung der erwarteten Inflationsrate. Wenn sie diese beispielsweise aufgrund der erwarteten Geld- und Fiskalpolitik der Regierung vier Prozent erwarten, werden sie ihre Lohnforderungen dementsprechend daran orientieren. Nun aber passiert es: Aus irgendeinem Grund (die Regierung wechselt und ändert die Fiskalpolitik; die Arbeitnehmer haben sich verschätzt) beträgt die tatsächliche Inflationsrate in diesem Jahr aber nur zwei Prozent. Das hat zur Folge, dass die Reallöhne aufgrund der Inflation nicht so stark sinken, wie die Arbeitnehmer und Unternehmen erwartet haben – will heißen, sie fallen zu hoch aus. Die Arbeitnehmer haben nur Nominallöhne dieser Höhe
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Teil 2: Makroökonomie
akzeptiert, weil sie mit steigenden Preisen in Höhe von vier Prozent gerechnet haben – steigen die Preise nun aber nur um zwei Prozent, so sind die Löhne zu hoch, die Unternehmen werden weniger Arbeitnehmer beschäftigen und ihr Angebot reduzieren. Wir bekommen Arbeitslosigkeit, weil sich die Unternehmen und Gewerkschaften über die Höhe der Inflationsrate geirrt haben. Wie soll man als Politiker damit umgehen? Die Botschaft ist klar: Die Idee, die Erwartungen in die Wirtschaftspolitik mit einzubeziehen, ist ein weiterer theoretischer Schlag gegen den Keynesianismus: Wenn die Arbeitnehmer und Unternehmen korrekt erwarten, dass aufgrund der staatlichen Fiskalpolitik die Inflationsrate steigt, dann wird die Fiskalpolitik komplett wirkungslos. Wer also als Finanzpolitiker eine Rezession bekämpfen will, muss dies überraschend tun – er muss unangekündigt die Staatsausgaben erhöhen, was dann zumindest temporär zu höherer Beschäftigung führt, jedenfalls so lange, bis die Inflationserwartungen sich anpassen. Und es kommt noch schlimmer: Wenn die Unternehmen und Arbeitnehmer falsche Erwartungen bezüglich der Inflationsrate haben, kann es zu Krisen und Unterbeschäftigung kommen. Unter dem Strich ist das ein vernichtendes Urteil für eine aktive Konjunktursteuerung nach Keynes: Zum einen kann keynesianische Politik aufgrund der Zeitverzögerungen dazu führen, dass sie nicht antizyklisch, sondern prozyklisch wirkt, und zum anderen kann sie sogar negative Folgen haben, wenn nämlich die Arbeitgeber und die Unternehmer die Folgen der staatlichen Konjunkturpolitik erwarten oder sich falsche Erwartungen bilden und dadurch die Rezession noch verschlimmern. Damit könnte staatliche Politik zum Auslöser von Krisen werden: Wenn der Staat eine konjunkturpolitische Stop-and-go-Politik verfolgt, die dazu führt, dass die Bürger nur noch raten können, welche Inflationsrate im nächsten Jahr herrschen wird, führt das dazu, dass sie sich zunehmend falsche Erwartungen bilden, was das Risiko erhöht, dass es aufgrund dieser falschen Erwartungen zu Krisen kommt. Der Staat als Krisenbekämpfer wird damit zu einer der Ursachen von Krisen. Das legt eine andere Strategie nahe: Wenn man die Konjunktur schon nicht aktiv steuern kann, so sollte man doch wenigstens versuchen, dafür zu sorgen, dass es nicht aufgrund falscher Erwartungen zu Konjunktureinbrüchen kommt. Nach dieser Idee kann die Politik also nicht die Konjunktur steuern, sondern sich nur darum bemühen, die Wirtschaft stabil zu halten, indem man die Erwartungen stabilisiert. Solange diese nämlich die korrekten Inflationsraten erwarten, kommt es nicht zu Krisen aufgrund falscher Erwartungsbildung. Nach dieser Idee sollte der Staat nicht versuchen, die Wirtschaft feinzusteuern, sondern mit ruhiger Hand durch den Sturm hindurch Kurs halten – und das nennt man dann Verstetigungspolitik. Diese Idee der Verstetigungspolitik manifestierte sich vor allem in der Geldpolitik: hier sollte sich die Notenbank nur noch um die Inflationsrate kümmern und nicht mehr wie im Keynesianismus versuchen, mit der Geld-
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politik Konjunktursteuerung zu betreiben. Dazu sollte sie sich an der Quantitätstheorie orientieren, die wir im 18. Kapitel kennen gelernt haben. Von Milton Friedman, dem geistigen Vater des so genannten Monetarismus, stammt in diesem Zusammenhang die Forderung, die Geldmenge regelgebunden mit einem festen Prozentsatz wachsen zu lassen. Da Wachstum, Beschäftigung und Produktion letztlich unabhängig von der Geldmenge seien, sei die Geldmenge alleine verantwortlich für die Inflationsrate. Und je besser und transparenter die Notenbank ihre Inflationsziele und Geldpolitik einem breiten Publikum begreiflich machen kann, umso mehr sind Konjunkturschwankungen aufgrund von Erwartungsirrtümern ausgeschlossen. Und wenn es der Notenbank gelingt, den Unternehmen und Arbeitgebern zu versichern, dass sie keine überraschende Inflation erzeugt, dann werden diese keine falschen Erwartungen bezüglich der Inflationsrate haben und es kommt nicht zu Konjunkturschwankungen.
Köpfe: Milton Friedman Eine „Bombe“, ein „Messias“, ein „verrückter Gnom“ – Milton Friedman hatte nicht nur Freunde, was angesichts einiger seiner Thesen nicht verwunderlich ist. Für Friedman stand die Freiheit des Einzelnen vor dem Staat, der seine Bürger bevormundet. Die Gegensätze zwischen Friedman und Keynes sind in jeder Hinsicht groß: Keynes war Spross und Vertreter der englischen Oberschicht; Friedman der Sohn jüdischer Einwanderer aus eher bescheidenen Verhältnissen. Auch inhaltlich trennen die beiden Welten: Friedman erachtete seine Lehre als „Konterrevolution“ zum Keynesianismus; seine Ideen vom freien Markt wurden auch unter dem Namen „Chicago-Schule“ bekannt. Umgesetzt wurden Friedmans Ideen in den 80er Jahren unter anderem in den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Chile. Als Friedman 1976 den Nobelpreis erhielt und seinen Preis in Stockholm abholte, kam es auf den Straßen und im Festsaal zu Tumulten: Demonstranten warfen Friedman vor, er stehe als Wirtschaftsberater dem Regime des chilenischen Staatschefs Pinochet zu nahe.
Diese Überlegung gibt uns eine gute Möglichkeit, die Ideen der Spieltheorie in der Praxis auszuprobieren. Dabei wollen wir wieder zwei Spieler annehmen, die Notenbank und die Tarifpartner. Welche Strategieoptionen haben die beiden?
Die Notenbank kann die Inflationsrate konstant halten, ohne Blick auf den Arbeitsmarkt; sie kann aber auch überraschende Inflation erzeugen, die zu einem Rückgang der Arbeitslosigkeit führt (weil die Tarifpartner dann wegen falscher Inflationserwartungen zu niedrige Nominallöhne vereinbaren). Überraschungsinflation führt also dazu, dass die Tarifparteien niedrige Nominallöhne vereinbaren und die überraschende Infla-
Milton Friedman
Teil 2: Makroökonomie
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tion dann zu sinkenden Reallöhnen und damit steigender Beschäftigung führt.
Die Tarifpartner können bei Festlegung der Nominallöhne eine konstante, niedrige Inflationsrate erwarten und dementsprechend niedrige Nominallöhne vereinbaren; oder sie können hohe Nominallöhne fordern, weil sie mit Überraschungsinflation rechnen. Das Ganze sieht dann aus wie in Tabelle 35. Tarifpartner Notenbank
Tabelle 35: Die Notenbank spielt gegen die Tarifpartner
Konstante Inflation erwarten
Überaschungsinflation erwarten
Konstante Inflation
10, 10
0, 15
Überraschungsinflation
15, 0
5, 5
Wenn die Notenbank konstante Inflationsraten liefert und die Tarifpartner diese erwarten, ist das für alle Beteiligten positiv (linker oberer Quadrant); wenn die Tarifpartner Überraschungsinflation erwarten und die Notenbank diese auch liefert, ist das für beide nicht mehr so gut, da die Reallöhne dann durch die hohe Inflation wieder sinken und die Tarifpartner nichts gewinnen, wir dafür aber eine höhere Inflationsrate haben – wir haben nur höhere Inflation, aber nicht mehr Beschäftigung (rechter unterer Quadrant). Gut für die Notenbank hingegen ist es, wenn die Tarifpartner niedrige Inflationsraten erwarten, sie aber eine überraschend hohe Inflationsrate ansetzt, da nun die Reallöhne sinken und die Beschäftigung steigt (was die Notenbank schätzt); für die Tarifpartner bedeutet das sinkende Löhne, was schlecht für sie ist (linker unterer Quadrant). Umgekehrt haben die Tarifpartner einen Vorteil, wenn sie hohe Inflation erwarten und entsprechend hohe Nominallöhne fordern (und durchsetzen), die Notenbank die Inflationsrate aber niedrig hält – dann steigen ihre Reallöhne wegen der hohen Nominallohnforderungen (rechter oberer Quadrant); allerdings wird dann mittel- bis langfristig die Arbeitslosigkeit steigen. Wenn Sie dieses Spiel nun lösen, werden Sie feststellen, dass in dieser Konstellation ein Gefangenendilemma auftritt, in dem die Notenbank hohe Inflationsraten produziert und die Tarifpartner diese erwarten. Aus diesem Dilemma gibt es nur den Ausweg über die wiederholten Spiele: Wird das Spiel mehrmals gespielt – was es ja wird – dann lohnt es sich für die Notenbank, eine Reputation als geldpolitischer Falke aufzubauen, der keine Inflation zulässt. Gelingt ihr das, werden die Tarifpartner in Zukunft stabile Inflationsraten erwarten und dementsprechend keine Fehler bei ihren Nominallohnforderungen machen. Das erklärt, warum moderne Notenbanken so viel Wert darauf legen, in der Öffentlichkeit als glaubwürdige Gegner der Inflation aufzutreten.
20 Krisen und ihre Therapie: Makroökonomische Politik
In der Praxis: Die kopernikanische Wende, das Lambsdorff-Papier und die Wiedergeburt der Angebotspolitik unter Gerhardt Schröder Mitte der siebziger Jahre wechselte der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, das offizielle ökonomische Expertengremium der Bundesregierung, den Schwerpunkt seiner wirtschaftspolitischen Aussagen und stellte die Angebotsseite zunehmend in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Das war ein Paradigmenwechsel des Expertengremiums, das manche als eine „kopernikanische Wende“ bezeichneten. Nicht Geld- und Fiskalpolitik sondern Kosten, Steuern, Sozialabgaben, Arbeitsbeziehungen und Investitionshemmnisse aller Art wurden zum Mittelpunkt der wirtschaftspolitischen Überlegungen. Der Staat war nicht mehr die Lösung, sondern eines der Probleme. Im Jahresgutachten 1976 beispielsweise hieß es, dass „…die nachfrageorientierte Globalsteuerung durch eine mittelfristig angelegte, angebotsorientierte Therapie ergänzt werden“ müsse (Ziffer 284). Und Ziffer 286 enthält das Say`sche Theorem in Reinkultur: „Die Wirtschaftsgeschichte lehrt, dass oft die primären Impulse für die Expansion vom Angebot ausgehen, das selbst die Nachfrage hervorruft.“ Politisch wurde Angebotspolitik in Deutschland das erste Mal ein Thema mit dem so genannten Lambsdorff-Papier von 1982, in dem der damalige Minister Otto Graf Lambsdorff, Mitglied der sozial-liberalen Regierungskoalition, eine politische Wende forderte – was zu einem handfesten Koalitionskrach und zum Regierungswechsel führte. Die folgende Regierung Kohl versuchte, Prinzipien der Angebotspolitik umzusetzen, auch wenn Kritiker davon sprechen, dass es vielerorts beim Versuch blieb. Einen weiteren einschneidenden Auftritt hatten die Ideen der Angebotspolitik, als der sozialdemokratische Kanzler Gerhard Schröder 2003 seine Agenda 2010 auflegte, die viele angebotspolitische Elemente enthielt.
Wer die Kritik am Keynesianismus und die Erkenntnisse zur Phillips-Kurve akzeptiert, dem bleibt nur eine Möglichkeit, Wachstum und Beschäftigung zu steigern: er muss die langfristige Angebotskurve nach rechts verschieben, also Wachstumspolitik betreiben, die wir in Kapitel 14 studiert haben. Genau da setzt die Angebotspolitik an, die wir auch bereits kennen gelernt haben. Ihre Diagnose von Phänomenen wie Arbeitslosigkeit und mangelndem Wachstum ist also eine ganz andere als die des Keynesianismus:
Arbeitslosigkeit entsteht zum einen durch eine mangelnde Flexibilität der Wirtschaft, den Strukturwandel zu bewältigen und exogene Schocks abzufedern.
Hinzu kommen Bürokratie und Regulierung, die Investitionsprojekte verhindern, lähmen oder mobile Industrien in andere Länder treiben.
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Reagan, Kohl, Thatcher: Die Superstars der Angebotspolitik
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Teil 2: Makroökonomie
Ebenfalls negativ wirkt sich die mangelnde Risikobereitschaft der Investoren aus, denen die Erträge ihrer Investitionen gemessen am Risiko zu gering sind.
Staatliche Abgaben verringern die Leistungsmotivation doppelt, zum einen, indem die zur Finanzierung notwendigen Steuern die Motivation für mehr Arbeit und Investitionen reduzieren, zum anderen, indem die Empfänger der staatlichen Leistungen weniger Anreize haben, sich selbst aktiv um Arbeit zu bemühen.
Staatliche Aktivitäten sind grundsätzlich misstrauisch zu beäugen: Zum einen führen sie zu einem erhöhtem Mittelbedarf und damit zu höheren (leistungsfeindlichen) Steuern; zudem verdrängen staatliche Aktivitäten private Aktivitäten, die man grundsätzlich als effizienter betrachtet (darüber haben wir ebenfalls im 2. Kapitel gesprochen). Besonders kritisch sind staatliche Aktivitäten, wenn sie dazu führen, dass die Preisbildung gestört wird; das behindert eine effiziente Nutzung der Ressourcen und senkt die Anpassungsfähigkeit der Wirtschaft. Wenn Sie sich diese Diagnose genau anschauen, werden Sie feststellen, dass die angebotsorientierte Wirtschaftspolitik stark mikroökonomisch fundiert ist; sie fußt auf den Ideen und Ergebnissen des ersten Teils dieses Buchs. Angebotspolitik ist praktizierte Mikroökonomik und sie ist die moderne Version der klassischen makroökonomischen Politik, die wir bereits kennen gelernt haben. Dementsprechend fallen auch die Politikempfehlungen der Angebotspolitiker aus. Generell geht es darum, die Produktionsbedingungen zu verbessern – alles, was die langfristige AS-Kurve nach rechts verschiebt, führt zu mehr Wachstum und damit mehr Beschäftigung. Dazu sollen
die Anpassungsfähigkeit der Wirtschaft verbessert werden und zwar durch Deregulierungen, weniger Bürokratie und weniger Eingriffe des Staates in die Wirtschaft;
die Anreize verbessert werden, indem die Steuerbelastung gesenkt wird und die Sozialpolitik zu mehr Eigeninitiative motiviert;
die Staatsausgaben und damit der Staatsanteil gesenkt werden. Angesichts der Überlegungen zu den Erwartungen der Bürger findet sich in der Regel bei angebotspolitisch orientierten Konzeptionen die Forderung, die Geld- und Fiskalpolitik zu verstetigen, also keine überraschende Inflation zu erzeugen, und den Tarifpartnern durch eine stetige Politik die Möglichkeit zu geben, korrekte Erwartungen zu bilden.
20 Krisen und ihre Therapie: Makroökonomische Politik
In der Literatur: Cicero und die Laffer-Kurve „Man macht sich ja gar keinen Begriff davon, wieviel Steuern alleine durch Abgabensenkung hereingeholt werden können“. Dieses Zitat des römischen Staatsmanns Marcus Tullius Cicero (106–43 v. Chr.) sollte knapp 2000 Jahre später auf einer Papierserviette Einzug ins Weiße Haus halten. Der Ökonom Artur B. Laffer postuliert in seiner Laffer-Kurve genau diesen Zusammenhang: Wenn man die Steuersätze zu stark erhöht, werden die Bürger immer weniger arbeiten, damit weniger Einkommen erzielen und deswegen weniger Steuern zahlen. Senkt man also die Steuersätze, so haben die Bürger mehr Anreize zum Arbeiten, beziehen ein höheres Einkommen und zahlen mehr Steuern – durch eine Senkung der Steuersätze könnte man also die Steuereinnahmen steigern. Einem unbestätigtem Bonmot zufolge erläuterte Laffer diese Idee einem Mitglied der ReaganAdministration während eines Essens auf einer Serviette, die dieses Mitglied dann mit ins Weiße Haus nahm. Serviette hin oder her – die Laffer-Kurve ist ein prominenter steuerpolitischer Baustein in der angebotstheoretischen Konzeption.
Kritik. Was ist von den Ideen der Angebotspolitiker zu halten? Grundsätzlich muss man konstatieren, dass diese Konzeption – wie auch die keynesianische– in sich geschlossen und logisch kohärent ist. Wenn die Diagnose korrekt ist – Arbeitslosigkeit ist eine Folge angebotspolitischer Probleme – dann ist die Therapie zwingend. Insofern geht der Streit zwischen Keynesianern und Angebotspolitikern nicht darum, wer das bessere Konzept hat, sondern welche der beiden Diagnosen stimmt. Die angebotspolitische Konzeption ist allerdings im Gegensatz zum Keynesianismus eher skeptisch, was die Rolle des Staates angeht – man traut ihm weniger zu als die Keynesianer. Ein wenig ist das auch ein Glaubenskrieg: Wer eher an einen starken Staat glaubt, hegt Sympathien für die keynesianische Idee, wer hingegen einen größeren Freiheitsdrang hat und dem Staat misstraut, wird möglicherweise eher zur angebotspolitischen Denkweise tendieren. Aus dieser Perspektive mutet es seltsam an, dass linke Kreise, die in der Regel eher obrigkeitskritisch sind, oft mit dem Keynesianismus sympathisieren. Das liegt wohl daran, dass die Angebotspolitik dem Menschen mehr zumutet und die Sozialpolitik auf Eigenverantwortung zugeschnitten wissen will – zumindest kurzfristig muss man hier auch mit negativen Folgen für die Einkommens- und Vermögensverteilung rechnen. Wer mehr Wert auf Gleichheit, Solidarität und einen starken Sozialstaat legt, muss die angebotspolitischen Ideen als Bedrohung empfinden. Allerdings muss man sagen, dass eine gute Sozialpolitik, die solidarisch ist und zugleich Anreize setzt, durchaus möglich ist. Insofern sind Angebotspolitiker keine Gegner von Sozialpolitik, sondern Gegner schlechter Sozialpolitik. Eine Schwachstelle allerdings teilt die angebotspolitische Konzeption mit dem Keynesianismus: Es kann eine ganze Weile dauern, bis ihre
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Maßnahmen Wirkung zeigen. Für Politiker ist das fatal: Man mutet den Menschen Einschnitte ins soziale Netz zu, die negativen Folgen werden sofort sichtbar, doch die positiven Folgen zeigen sich erst mit Verspätung. Wahltaktisch gesehen eine Katastrophe. Möglicherweise ist das exakt das, was dem Bundeskanzler Gerhard Schröder passiert ist, der mit seiner Agenda 2010 den Deutschen angebotspolitische Zumutungen servierte – und dafür abgewählt wurde. Heute gibt es erste Studien, die zeigen, dass Schröders Reformen positive Effekte auf dem Arbeitsmarkt zeigen. Zu spät für den geschassten Kanzler.
In der Presse 16: Die Agenda 2010 im Jahr 2008 „Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fordern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen“, erklärte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder 2003 im Deutschen Bundestag. Fünf Jahre nach seiner Agenda-Rede zogen Ökonomen und Politiker in den Medien eine erste Bilanz. Karl Lauterbach, SPD-Bundestagsabgeordneter, sah in dem Rückgang der Arbeitslosigkeit seit 2005 „…in erster Linie ein Ergebnis der Arbeitsmarktreformen, die seit 2005 in Kraft sind“. Der Ökonom Klaus Zimmermann vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) nannte die Bilanz insgesamt sehr positiv. Der Aufschwung seit 2005 sei „viel beschäftigungsintensiver“ als er es ohne die Agenda 2010 wäre und bringe auch Problemgruppen wie Ältere und Ungelernte schneller wieder in Arbeit. Der damalige SPD-Chef Kurt Beck sagte, die Agenda 2010 sei der „Auftakt zu einem großen wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Erfolg“ gewesen. Dank der Agenda gebe es eine Million zusätzlicher Arbeitsplätze in Deutschland. Allerdings müsse man „die eine oder andere soziale Verträglichkeit“ wiederherstellen. Fünf Jahre nach dem Inkrafttreten der Agenda-Reformen zog Joachim Möller, der Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, dem Forschungszentrum der Bundesagentur für Arbeit (BA), Bilanz und sprach von einer „verhalten positiven Hartz-IV-Bilanz“. Vor allem die Langzeitarbeitslosigkeit sei deutlich zurückgegangen. „Alles in allem wirkt Hartz IV positiv. An einigen Stellen hakt es aber noch“. (URL: http://www.taz.de/1/politik/deutschland/artikel/1/%5Cdiehartz-gesetze-sind-linke-reformen%5C/; http://www.tagesspiegel. de/politik/deutschland/Agenda-2010; art122,2493826; http://www. tagesschau.de/wirtschaft/hartz126.html)
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In der Presse 17: Keynes versus Angebotspolitik Zwei prominente deutsche Ökonomen führen die Positionen der Keynesianer und der Angebotspolitiker in einem Streitgespräch in einer deutschen Zeitschrift recht anschaulich vor: SPIEGEL: Herr Bofinger, Herr Sinn, weltweit boomt die Wirtschaft, nur in Deutschland kommt sie nicht in Fahrt. Warum? Bofinger: Deutschland leidet an einer gravierenden Schwäche der inländischen Nachfrage. Das hat vor allem damit zu tun, dass Kaufkraft fehlt: Seit Jahren hinken die Lohnerhöhungen hinter den Produktivitätsfortschritten her, das darf nicht so weitergehen. So gerät die Volkswirtschaft immer tiefer in die Krise. Wenn der Bauer will, dass ihm seine Kuh anständig Milch gibt, muss er dafür sorgen, dass sie auch genug zu fressen hat. Sinn: Er darf die Kuh aber auch nicht schlachten. Wir haben hinter Norwegen die höchsten Lohnkosten auf der Welt. Die deutschen Arbeitnehmer sind nicht mehr wettbewerbsfähig. Sie merken das, haben Angst vor Entlassungen und kaufen keine langlebigen Konsumgüter mehr. Aus dem gleichen Grunde investieren die Unternehmer nicht mehr. Die Investitionsgüternachfrage ist viel zu niedrig für einen Exportboom wie diesen. Die Löhne weiterhin kräftig zu erhöhen wäre der falsche Weg. (Quelle: Spiegel-Streitgespräch: Es ist genau andersherum, in: Der Spiegel 50/2004 (6.12.2004), URL: http://www.spiegel.de/spiegel/ print/d-38201312.html)
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Zusammenfassung 1. Keynesianische Politik besteht darin, in einer Rezession (kreditfinanziert) die Staatsausgaben zu erhöhen, um den Ausfall von Nachfrage zu bekämpfen. Zusätzlich findet auch expansive Geldpolitik Anwendung. Allerdings gibt es auch Kritik an dieser Idee: So dauert es möglicherweise zu lange, bis ein solches Konjunkturprogramm angeschoben ist, und es dauert zu lange, bis es seine Wirkungen entfaltet. Zudem müssen in diesem Konzept die in der Rezession gemachten Schulden wieder zurück geführt werden – das gelingt der Politik zumeist nie. Zusätzlich kann es zu einer Verdrängung privater Investitionen durch staatliche Investitionen kommen. 2. Keynesianische Politik ist auch weniger geeignet für einen Angebotsschock, wenn sich die Kosten der Produktion exogen stark erhöhen. In diesem Fall empfiehlt sich Angebotspolitik, welche die Probleme auf der Angebotsseite zu beheben versucht. Sie rät zu Deregulierung, weniger Staat und Steuern, mehr Anreizen und Eigenverantwortlichkeit. 3. Beide Politiken haben ihre Berechtigung, es kommt aber darauf an zu erkennen, wann welche der beiden Politiken besser geeignet ist, die Probleme eines Landes zu bekämpfen. 4. Auch die Erwartungen der Bürger spielen eine wichtige Rolle – falsche Erwartungen können zu einem Einbruch der Beschäftigung führen. Aus diesem Grund ist es der Ansatz der Verstetigungspolitik, Kontinuität in die Politik zu tragen, damit keine falschen Erwartungen entstehen.
Literatur Die in diesem Buch erläuterten Ideen sind Grundkenntnisse in Volkswirtschaftslehre, die Sie in vielen anderen einführenden Büchern finden. In einigen Fällen habe ich diese Ideen nicht in Lehrbuchform, sondern als populärwissenschaftliche Lektüre veröffentlicht. Im Einzelnen sind dies folgende Bücher: Beck, Hanno: Schulden machen oder sparen?, in Forum 2/05, S. 34–37 Beck, Hanno: Das kleine Wirtschafts-Heureka. Ökonomische Geistesblitze für zwischendurch. Frankfurter Allgemeine Buch 2009 Beck, Hanno: Der Alltagsökonom. Warum Warteschlangen effizient sind. Und wie man das Beste aus seinem Leben macht. Frankfurter Allgemeine Buch, 2004 Beck, Hanno; Prinz, Aloys: Die Soziallüge. Fabeln, Mythen und Märchen, die uns die Politik erzählt. Frankfurter Allgemeine Buch, 2004. Beck, Hanno: Die Wirtschaft in Deutschland, Stuttgart, Deutscher Sparkassenverlag 2007. Beck, Hanno; Prinz, Aloys: Abgebrannt. Unsere Zukunft nach dem Schuldenkollaps, Hanser, München 2011. Etwas zu den Lebensläufen der berühmten Ökonomen finden Sie bei: Braunberger, Gerald: Keynes für jedermann: Die Renaissance des Krisenökonomen¸ Frankfurter Allgemeine Buch; 2009 Koesters, Paul-Heinz: Ökonomen verändern die Welt. Wirtschaftstheorien, die unser Leben bestimmen. Goldmann Wilhelm 1999. Reiß, Winfried: Mikroökonomische Theorie. Historisch fundierte Einführung. 6. Auflage, Oldenbourg Verlag Münche, Wien, 2007. Weitere einführende Literatur, die in diesem Buch ebenfalls verwendet wurde: Friedman, David: Der ökonomische Code. Wie wirtschaftliches Denken unser Handeln bestimmt. Eichborn 1999. Musgrave, Musgrave, Kullmer: Die öffentlichen Finanzen in Theorie und Praxis I, UTB, Stuttgart, 6. Auflage, 1994. Horst Siebert: Der Kobra-Effekt, Wie man Irrwege der Wirtschaftspolitik vermeidet; Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 2001. Paul Krugman; Robin Wells: Economics; Palgrave Macmillan; 2nd revised edition; 2009.
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Literatur
Joseph E. Stiglitz; Carl E. Walsh: Economics, Norton & Company; International Student ed., 2006. Paul A. Samuelson: William E. Nordhouse: Economics, Mcgraw-Hill Higher Education; 19th revised edition; 2009. Nicholas G. Mankiw; Mark P. Taylor: Economics; Thomson Learning Services; European Edition; 2006. Tim Harford: The undercover Economist, Little, Brown Book Group, 2006. Pindyk, Robert S.; Rubinfield; Daniel L.: Microeconomics. International Edition, Fifth Edition, Prentice Hall International, London u.a. 2001. Richard McKenzie, Gordon Tullock (Hrsg.): Homo Oeconomicus. Ökonomische Dimensionen des Alltags, Campus Verlag Frankfurt / New York, 1978.
Abbildungsnachweis Leider war es nicht in allen Fällen möglich, die Inhaber der Bildrechte zu ermitteln. Wir bitten deshalb gegebenenfalls um Mitteilung. Der Verlag ist bereit, berechtigte Ansprüche abzugelten. Autor (7, 18, 21, 45, 49, 56, 57, 58, 76, 78, 85, 92, 98, 101, 106, 129, 130, 132, 159, 162, 163, 164, 168, 169, 176, 201, 250, 255, 260, 263, 267, 269, 283, 285, 290, 317, 322, 339, 341, 344, 356, 366, 369, 376, 406) Airbus (64) Bundesagentur für Arbeit (244) Bundeskartellamt (149, 152) Bundeswertpapiere.de (363) Deutsche Börse (190) Deutscher Bundestag (220, 237, 330, 332) Disney (209) dpa Picture-Alliance (5, 112, 140, 182, 225, 230, 241, 267, 273, 287, 293, 302, 336, 347, 372, 385, 400) dtv (227) Frankfurter Allgemeine Zeitung (31) ifo Institut (3) NWB-Verlag (92, 119, 165, 364) Oldenbourg Wissenschaftsverlag (17, 32, 40, 97) ProSiebenSat.1 (160,161) Reclam-Verlag (381) Statistisches Bundesamt (48, 249) thinkstockphotos.de (8, 10, 12, 25, 27, 139, 158, 174, 178, 183, 185, 194, 203, 261, 263, 271, 277, 295) Walter Eucken Institut (219) Wikimedia Commons (395)
Stichwortverzeichnis A Abgabenquote 329 Abschreibungen 254 Abwrackprämie 423 adverse Selektion 234 Afrika 284 Agenda 2010 444 akkomodierende Geldpolitik 422 Aktien 357 Aktionärsdemokratie 113 Alleinerziehende 206 Allmende-Güter 178 Angebotselastizität 56 Angebotskurve 38 Angebotspolitik 293, 441 Angebotsüberschuss 40 Anleihe 360 Anreize 19 Antizyklische Wirtschaftspolitik 418 Äquivalenzprinzip 207 Äquivalenzskala; Siehe Regelsatzmultiplikatoren Arbeitnehmer- Entsendegesetz 80 Arbeitslosengeld II 210 Arbeitslosigkeit konjunkturelle 318 lohnbedingte 303 saisonale 302 strukturelle 318 Arbeitsproduktivität 285 Arbitrage 365 Armut 205, 208 Artikel 115 Grundgesetz 351 Asset-Meltdown-Hypothese 229 Aufklärungspolitik 48 Ausbeutungsmissbrauch 163 Ausschließlichkeitsbindungen 162 Automatische Stabilisatoren 421
Beach-Location-Game 202 Behavioral Economics 5, 20 Behinderungsmissbrauch 163 Behinderungs- und Verdrängungspraktiken 158 Beschaffungskriminalität 49 Betamax 168 Beveridge-Kurve 319 Bhutan 265 Big-Mac-Index 283 Bildung 288 BIP-Deflator 255 Blaues Trompetentier 5 Bodin, Jean 385 Bonität 360 Boykott 159 Brain-Drain 290 Bruttoinlandsprodukt 246, 254 als Wohlfahrtsindikator 259 Entstehungsrechnung 249 reales 256 Verteilungsrechnung 252 Verwendungsrechnung 246 Bruttonationaleinkommen 254 Bruttowertschöpfung 250 Bund der Steuerzahler 347 Bundesnetzagentur 105 Bundesrechnungshof 32 Bundeswertpapiere 362 Bürgergeld 237
C casual Friday 322 Celesio 164 ceteris-paribus-Annahme 42 Cicero, Marcus Tullius 443 Club of Rome 295 Coase-Theorem 193 crowding-out 349, 357, 421
B
D
Bank-Run 372 Bart Simpson 372
Deckungsbeitrag 121 Defizitquote 344
Stichwortverzeichnis
452
Deflation 269 demeritorische Güter; Siehe Meritorische Güter Derivate 363 Deutsche Industriebank (IKB) 374 Diamantenpreisrätsel 39 Dienstleistungsgesellschaft 251 Disinflation 269 DocMorris 164 double-dip 317 Drei-Sektoren-Hypothese 251 Drogenpolitik 47, 58 Durchschnittsertrag 94 Durchschnittskosten 104 Dvorak-Tastatur 170
E earnings capacity 206 Easterlin-Paradox 263 E-Bay 168 Edeka 161 Effektivität 8 Effektiv-Verzinsung 362 Effizienz 8 Effizienzlöhne 305 Eigentumsrechte 290 Einkommenseffekt 37 Einkommenselastizität 56 Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) 205 Einlagefazilität 378 Emissionsrechtehandel 186, 189, 190 Employability 206 endogene Variable 42 Eucken, Walter 219 Europäische Zentralbank 369, 376 Eurosklerose 242 excess burden 86 Existenzminimum physisches 208 soziokulturelles 208 exogene Variable 42 externe Effekte 21, 179, 222
F Facebook 168 Finanzagentur 362 Finanzmärkte 355 Fixkostendegression 104 Fondsgesellschaften 113 Forschungs- und Technologieförderung 337 Forwards 364 Freiheit 7, 18 Friedman, David 18 Futures 364
G Galbraith, John Kenneth 241, 365 Geld 366 Geldbasis 379 Geldmarkt 361 Geldmengenaggregate 367 Gewinne 92 GFK-Konsumklima 324 Gini-Koeffizient 213 Glücksforschung 261 Goethe, Johann Wolfgang 380 Golem 31 Gorilla 167 Grenzertrag 94 Guinle, Jorge 225 Gummibärchen-Spiel 93
H Haavelmo-Theorem 419 harte Drogen 58 Hartz-Reformen 302 Harvard-Barometer 324 Hauptrefinanzierungsgeschäfte 378 Hilfe zum Lebensunterhalt 210 Höchstmieten 76 Höchstpreise 76 homo oeconomicus 5, 20 Horten 397
I ifo Geschäftsklima 324
Stichwortverzeichnis
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Index der wahrgenommenen Inflation; Siehe Teuro inferiore Güter 57 Inflation 267 Umverteilungseffekte 268 Inflationsausgleich 277 Inflationsbereinigung 275 Inflationsindexierte Anleihen 278 Inflationsrate 269 Insider-Outsider-Theorie 305 Interbankenhandel 361 International Labour Organization (ILO) 299 Investitionen 288 Investmentfonds 359 Iowa-Autofabrik 18 isoelastische Nachfrage 55 I-Tunes 75
J Japan 242 Jevons, William Stanley jobless growth 317
320
K kalte Progression 269 Kampfpreise 161 Kapitaldeckungsverfahren 229 Kapitalmangelarbeitslosigkeit 306 Kapitalproduktivität 286 Kartell Bonusregelung 154 Kartellamt Bußgeldkatalog 157 Kaufkraftparität 283 Kerninflationsrate 272 Keynes, John Maynard 399, 400 klassische Dichotomie 386 Kleine und mittlere Unternehmen (KMU) 92 Kluncker-Runde 429 Knappheit 19 Kohle 334 Kohl, Helmut 293 Kombilöhne 84, 304 Komplementärgüter 57 Konjunkturindikatoren 321
konstituierende Prinzipien 220 Konzentration 164 Kopernikus, Nikolaus 385 Kopfpauschale 237 Kopfsteuer 87 Kopplung 162 Kosten-Nutzen-Analyse 183 Kredit 367 Kreuzpreiselastizität 57 Kyoto-Protokoll 185
L Laffer-Kurve 443 Lambsdorff-Papier 441 Law, John 381 Lebensmittelpreise 46 Leistungsfähigkeitsprinzip 207 Lerngruppen 96 Lieferverweigerung 159 Liquidität 367 Lobbyismus 203 Lock-in inferiorer Technologien 169 Lohnillusion 413 Lohnquote 214 Lorenzkurve 213
M Managergehälter 108 Märkte 18 Marktgleichgewicht 39 Marktversagen politisches 197 Marktwirtschaft 31 Maximalprinzip 3 Media Player 162 Menükosten 412 meritorische Güter 21 Meritorische Güter 197, 199 Microsoft 162, 169 Mikrozensus 205 Mindestlöhne 79, 305 Mindestpreise 79 Mindestreservepolitik 374 Minimalprinzip 3 Ministerklausel 166 Mittelstandskartelle 158
Stichwortverzeichnis
454
Monopol 124 moral hazard 236 Müller-Armack, Alfred Murphy, Eddie 144 Myspace 168
220
N Nachfragekurve 36 Nachfrageüberschuss 41 Nachhaltigkeit 224 Nairu 318 Naschsteuer 199 natürliches Monopol 105 Neoliberalismus 224 Netto 161 Nettoneuverschuldung 344 Nettosozialprodukt 255 Netzwerkexternalitäten 162, 166 Neue Politische Ökonomie 201 Neuer, Manuel 145 New Economy 316 Nichtrauchergesetze 192 Nolte, Nick 144 Norm 7 Northern Rock 374 Nutzenmaximierung 3
partielle Faktorproduktivitäten 286 Paternalismus 198 pay as you use 347 Phillips-Kurve 424 Phonak 159 Pigou, Artur Cecil 182 Pigou-Steuer 182, 339 positive Aussagen 7 Preisbindung der zweiten Hand 158 Preisdiskriminierung 160 Preismissbrauch 161 Premium-Produkte vs. no-nameProdukte 74 principal-agent-Problem 237 Private Altersvorsorge 226 Privateigentum 9, 19 Pro7Sat.1 160 Prozesspolitik 223
Q Quantitätsgleichung 384 Quantitätstheorie 383 QWERTY-Layout 167, 169
R O Offenmarktpolitik 376 Hauptrefinanzierungsgeschäfte 377 öffentliche Güter 175 Öffentlich-Rechtlicher Rundfunk 201 Öko-soziale Marktwirtschaft 224 Öko-Steuern 181 Okun-Kurve 319 Ölpreiskrise 431 OPEC 154, 242, 432 Optionen 364 Ordnungspolitik 223 Ordoliberalismus 224 Ostrom, Elinor 178
P Papiergeld 370 Paradies 297
Rating-Agenturen 360, 361 Rauchverbot 192 Reagan, Ronald 293 Real Business-Cycle-Theorie 321 Reallöhne 277 Realzins 277 Regelsatzmultiplikatoren 216 regulierende Prinzipen 221 relativer Armutsansatz 208 Rente 225 steuerfinanziert 227 Rente mit 67 233 Rentenmarkt 359 Rentenversicherung, gesetzliche 230 Ricardianische Äquivalenz 420 Ricardo, David 17 Rifkin, Jeremy 297 RTL 160 Rürup, Bert 213
Stichwortverzeichnis
S Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 294 Say, Jean Baptiste 395 scala mobile 278 Schaeffler 336 Schattenwirtschaft 259 Schmidt, Helmut 426 Schröder, Gerhard 441, 444 Schulbücher, unternehmensfeindliche 92 Schuldenbremse 352 Schuldenstand 344 Schuldenstandsquote 344 Schutzschirm für Arbeitsplätze 423 schwarzer Donnerstag 241 Schweinezyklus 41 Sen, Amartya 211 Shareholder value 110 Smith, Adam 32 Solow, Robert M. 287 Solow-Zerlegung 286 Sonnenflecken 320 Soziale Marktwirtschaft 219 Sozialgesetzbuch (SGB) 227 Sozialismus 27 Sozialpolitik 21, 22 Sozialprodukt; Siehe Bruttoinlandsprodukt Sozio-ökonomisches Panel (SOEP) 205 Sparparadoxon 402 Spekulation 365 Spiegel, Der 89 Spieltheorie gemischte Strategien 145, 146 wiederholte Spiele 143 Spitzenrefinanzierungsfazilität 378 Spread 362 Staatsquote 329 Staatsverschuldung 343 Stabilitäts- und Wachstumsgesetz 428 Stagflation 430, 432
455
Stahl 335 Stakeholder Value 110 Standards 181 Steuern 84, 339 Steuerquote 329 Strukturwandel 335 Subsidiaritätsprinzip 222 Substitutionseffekt 37 Substitutionsgüter 57 Subventionen 332 Sucharbeitslosigkeit 301 superiore Güter 56 Swaps 364
T Tabaksteuer 89 Teerfarben-Fall 155 Terminmärkte 363 Teuro 274 Thatcher, Margaret 87, 293 The Zimbabwean 267 Tick, Trick und Track 209 Tigerstaaten 242 Total 165 Transmissionsmechanismen 381 kredittheoretischer 381 vermögenstheoretischer 381 Trittbrettfahrer 176, 225, 233
U Überschussreserven 375 Umlageverfahren 228 Ausschleichen 229 Demographieanfälligkeit 228 Erstgeneration 228 Letztgeneration 229 Umweltökonomische Gesamtrechnung 260 unverbindliche Preisempfehlung 158
V Verbraucherpreisindex 271 Verbrauchsteuer 85 VHS 168 Video 2000 168 Volkseinkommen 255
Stichwortverzeichnis
456
Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung 249 Vulgärkeynesianismus 429
W Wachstum 317 weiche Drogen 58 Wellblechkonjunktur 317 Weltwirtschaftskrise 1929 241 Werften 335 Wettbewerb 34 Wettbewerbspolitik 21, 36, 221
X Xing
168
Z ZEW-Konjunkturerwartungen 324 Zimbabwe 267 Zinspolitik 377 Zusatzlast 86