Vielleicht das Heitere : Tagebuch aus einem andern Jahr

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Robert Neumann Vielleicht das Heitere Tagebuch aus einem andern Jahr

Robert Neumann VIELLEICHT DAS HEITERE

ROBERT NEUMANN

GESAMMELTE WERKE IN EINZELAUSGABEN

ROBERT NEUMANN

VIELLEICHT DAS HEITERE Tagebuch aus einem andern Jahr

VERLAG KURT DESCH

ROBERT NEUMANN GESAMMELTE WERKE

Als Einzelausgaben erschienen bisher:

Die dunkle Seite des Mondes, 1959 An den Wassern von Babylon - Treibgut, 1960 Olympia, 1961 Die Parodien, 1962 Festival, 1962 Ein leichtes Leben, 1963 Macht, 1964* Der Tatbestand, 1965 Karrieren, 1966 Vielleicht das Heitere, 1968

Deutsche Rechte beim Verlag Kurt Desch GmbH, München Wien Basel Copyright (g) 1968 by Robert Neumann, La Giorgica, Locarno-Monti, Switzerland Gedruckt in der Buchdruckerei Eugen Göbel, Tübingen Gebunden in der GroDbuchbinderei Heinr. Koch, Tübingen Schutzumschlagentwurf von Christel Aumann, München, unter Verwendung eines Fotos von Hans Georg Puttnies, Offenbach Schutzumschlag gedruckt von Poerschke & Weiner, München Printed in Germany 1968

VORWORT

Ein Tagebuch ist keine Autobiographie. Dieses »Tagebuch aus einem andern Jahr« ist nicht eine Fortsetzung der Auto­ biographie »Ein leichtes Leben«. Diese war geschrieben und gedruckt, als jenes »andere Jahr« den Autor mit sich selbst konfrontierte, planlos; eine Autobiographie ist die planvolle Präsentation ihres Autors für andere. Daß der Autor — kein Tagebuchschreiber sonst — in jenem »andern Jahr« überhaupt ein Tagebuch führte (dreihundert­ fünfundsechzig Eintragungen, Wichtiges, Nichtiges, Tag um Tag), hatte einen besonderen Grund: er dachte, er werde in jenem Jahre sterben. An eine Veröffentlichung dachte er fürs erste nicht. Als er an sie ernsthaft dachte, war das Jahr beinahe schon vorüber. Die sich daran schließenden Erwä­ gungen technischer Natur — und moralischer Natur — stehen im Tagebuch selbst, über viele Aufzeichnungen verstreut. Die wichtigsten dieser Probleme und Schwierigkeiten: Das Tagebuch wurde also zunächst nicht mit einem Seiten­ blick auf eine Publikation zu dieser Zeit, in dieser Form ge­ schrieben. Daraus erklärt sich die Maßlosigkeit vieler Äuße­ rungen, die Ungerechtigkeit, ja Bösartigkeit in der Beurtei­ lung vieler Menschen, die Preisgabe von Geheimnissen — all das nur zum kleinen Teil moralisch kompensiert durch den Versuch einer ähnlichen Maßlosigkeit in der Darstellung der Handlungen, Schwächen, Laster des Autors selbst. Kompen­ siert nur zum kleinen Teil—denn es ist fraglich, obMitleidslosigkeit gegenüber sich selbst, ein Akt freien Willens, auf­ rechenbar ist gegen Mitleidslosigkeit gegenüber all jenen anderen, die man nicht nach ihren Wünschen fragt. Eine befriedigende Lösung der sich hieraus ergebenden 5

Bedenken hat der Autor nicht gefunden. Hatte er sich nun einmal zur Veröffentlichung zu seinen und anderer Betrof­ fener Lebzeiten entschlossen, so ergab sich von selbst die Notwendigkeit, nach bestem Vermögen die Wahrheit zu sagen — eine Wahrheit nach des Autors Licht, wie er es sah, was er für wahrhaftig hielt; eine private Wahrhaftigkeit also, mit der sofortigen Einschränkung: wahrhaftig, doch pointiert; ein der Pointe Verfallensein gehört zu des Autors Lastern; eines, von dem er sich freizusprechen geneigt ist, wo ihm das Endprodukt eine Über-Wahrhaftigkeit zu sein scheint, nicht eine Gegen-Wahrhaftigkeit. Doch ist er ein schwacher Mensch. Eines schwachen Menschen Versuch zur Wahrhaftigkeit also: das ist der Sinn dieses Tagebuchs. Wichtig-Ungefälli­ gem aus dem Weg zu gehen, kam danach nicht in Betracht. Sogar Unwichtiges, Geschwätz, Gerücht, Alltägliches weg­ zulassen wäre nicht möglich gewesen, ohne diese Wahrhaf­ tigkeit zu zerstören: Auswahl ist eine Hinauf-Veredelung des Schreibers. So wie hier aufgezeichnet, eingebettet in Nichtigkeiten, verlief das ihm Wichtige. Schließlich: Viele Aufzeichnungen, in ihrer originalen Kurzform verständlich nur für den Autor, mußten erklärt werden — oft ausführlich erklärt. Dadurch reicht dieses Tagebuch eines Jahres weit zurück. Und da seit dem Ende jenes Jahres schon wieder eine Weile vergangen ist und un­ vollendet berichtete Vorgänge inzwischen ihre Abrundung erfahren haben, wurde einiges, wo das nötig war, durch Nachberichte knapp ergänzt. All das ergab eine sehr beträchtliche Erweiterung des ori­ ginalen Materials. Tagebuch — eine Summe kurzer Ewig­ keiten — Gnadenfristen, gegeben einem, der zwischen ge­ packten Koffern zu stehen glaubt. Und das heißt: nicht bloß das Tagebuch eines Jahres. R.N.

VIELLEICHT DAS HEITERE Tagebuch aus einem andern Jahr

JANUAR

1. Januar

Vielleicht das Heitere? Ich habe zu viel Trauriges geschrie­ ben in meinem Leben. Ich sehne mich sehr nach der Heiter­ keit. Wann immer ich etwas notiere — die Melancholie bricht durch. »Melancholie des Humoristen«, gewiß, aber ich bin kein Humorist. Vielleicht ist einfach der ProduktionsImpuls ein melancholischer. Immer trieb mich eine Form von Not an den Schreibtisch. Geldsorgen im Exil — woher die Krämerrechnung bezahlen am nächsten Ersten. Die Hypothek von Pest House bezahlen, als Griselda krank war und nicht in England bleiben wollte. Dazu, seit meinem vierzigsten Geburtstag, immer wieder: das mußt du noch fertig schreiben, rasch, bevor es dir an den Kragen geht. Wie viele Rechnungen, die bezahlt sein wollen in einem Leben. Wie oft ging es mir an den Kragen — wie viele Tode, die man dann doch nicht gestorben ist. Man ist ein Trotzdemnochimmerlebendiger. Deshalb: Warum nicht das Heitere? Gestern abend, Silvester, mit Helga allein, und zuviel ge­ trunken. Champagner, aus der Gabe jener Hamburger Film­ gesellschaft. Seit zehn Jahren suchen sie eine Darstellerin für »Bibiana«, seit zehn Jahren gaben sie mir verbissen eine Weihnachtskiste mit Nürnberger Lebkuchen, seit zehn Jah­ ren aß sie niemand, ich sagte den Leuten das mündlich und schriftlich, lustig und ernst, diskret und rüde — nichts half, ich bekam Lebkuchen. Bis ich mich im Vorjahr bei der Chefsekretärin beklagte — kurzum, keine Lebkuchen mehr, und der geizig verwaltete Champagner reichte bis zur Sil­ vesterflasche. Auch Michael trank ein Gläschen mit Genuß 9

und großem Stolz, und verlangt heute wieder eines, statt Nachmittagskaffee. Er war ein schwieriges Kind, als Helga kam — er hat sich, Gott sei Dank, großartig verändert seither. Wie so ein jun­ ges Weibstück so was zustande bringt — ganz ohne Erfah­ rung und obgleich sie Kinder sonst gar nicht besonders mag, glaube ich. Ich hatte es in der Zeit von Griseldas Krankheit und in dem Jahr allein nach ihrem Tod nicht und nicht schaffen können. Er ist achteinhalb jetzt und frißt Bücher. Kein Buch, das er nicht in drei Stunden zu Ende gelesen hat. Eben schüttet er sich aus vor Lachen beim Lesen einer Ge­ schichte, in der ein Kind sagt: »Ihr seid meine beiden Schmutzbengel — ich wollte sagen Schutzengel.« Es rührt em die Wurzeln des Humors. Unlängst, reizend, zärtlich: »Ich bin so traurig, daß du schon alt bist und bald sterben mußt. Ich werde dann eine ganze Woche weinen. Aber mehr nicht.« So sachlich ist ein Kind. So sehr geschützt durch Emotions-Antitoxine. Hat es die nicht, ist es nicht gesund. Vater-Kind-Gefühle laufen auf einer Einbahnstraße — eine urtriebhafte Emotions-Öko­ nomie der Natur, der wir verhaftet bleiben. Wie jedem Ur­ trieb. Eine demütig machende Erkenntnis. Eine tröstliche Erkenntnis. Um dieses Verhaftetsein sind wir schwächer und stärker als ein elektronisches Gehirn. Ein ruhiger Tag. Spaziergang in kalter Wintersonne. Lei­ der Schnupfen. Über neue Pläne nachgedacht. Es sind wieder einmal zu viele, aber die Fülle möglicher Arbeit ist beglückend. Helga, leidenschaftliche Verwalterin (ich kümmere mich kaum mehr ums Geld, seit sie da ist), bringt eine »Jahres­ bilanz«. Es ist mehr hereingekommen als zuvor, mehr, sicherlich, als für das bescheiden-behäbige Leben hier nötig ist - und wie oft war man bettelarm, und wie oft kam es einem so vor, als wäre man es, und was macht man heute 10

damit (außer daß man Ersparbares für Frau und Kind auf die hohe Kante legt)? Griselda, mit der frühen Weisheit ihres Krankseins, sagte: »Man kriegt alles immer um eine halbe Nummer zu klein.« Ein Teil der umfassenderen Bilanz: daß man isoliert ist. Respektiert von einigen, gehaßt von einigen, ignoriert von vielen. Herzliches kommt von ein paar wirklichen Freun­ dinnen. Kein wirklicher Freund? Ein paar mir Wohl­ gesinnte. Herzuzählen an den Fingern einer Hand. Aber nicht ein Freund. Zu Bett mit Glühwein, des Schnupfens wegen.

2. Januar Nach dunklen Schnupfen-Stunden in herrlichen Vormittag aufgewacht. Leserbriefe über die Autobiographie. Sie ist ein Fetzenteppich des Lebens und Überlebens, aber doch eben des Überlebens, und das wirkt auf manche, als wäre das eine Botschaft der Zuversicht. Die »Zeit« bringt den Aufsatz über »Witz«. Er klingt ernsthaft, und ist doch nur eine Kollektion von zwei Dutzend Witzen - ehrbar gemacht mit Hilfe eines theoretischen Ali­ bis. Abzuwarten bleibt, ob die Leute bemerken werden, daß es mir nicht auf die bieremste Interpretation ankommt, son­ dern auf die Witze selbst. Arbeit: Fernsehspiel »Blinde Passagiere«, auf Grund des dritten der kurzen »Ich-Romane«, 1933 geschrieben und von Zsolnay gedruckt, in dem kleinen Verlag, den er damals für seine jüdisch-linken Autoren in Zürich gründete und alsbald (da die Buchhändler auch außerhalb Deutschlands sich von den Nazis schrecken ließen) in Konkurs gehen ließ. Die Grundidee dieser drei Ich-Romane oder Impersonationen kam natürlich von Freud, via Schnitzlers »Fräulein

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Else« und »Leutnant Gustl«. Nachher kam noch »Schöne Mama« dazu (geschrieben mit Griselda, anonym, das Ge­ heimnis flog acht Jahre später im Zug eines Konflikts mit Thomas Manns Tochter auf), und »Olympia«, und unlängst »Luise«, Hamburger Klosettfrau, Helga gab mir den Auf­ putz des Idioms — und es lockt mich, das diesmal wieder anonym zu publizieren: ist das ein norddeutscher Dialekt, so verdächtigen sie mich nicht der Autorschaft, wie sonst immer, wenn etwas anonym erscheint. Im ganzen sind diese Ich-Romane histrionisch, Verwand­ lungskunst, also den Parodien verwandt. Was man an Weite verliert, an Mobilität, gewinnt man an »Tiefe«, an Einsicht in das Uhrwerk des einen, in den man sich verwandelt — ge­ wänne man an Tiefe, hätte man gewonnen, Casus irrealis, wenn man es ernster (und geduldiger) begonnen hätte, als es je im Bereich meiner Nerven lag.

3. Januar Im Bett geschrieben. Vorwand: Schnupfen. Michael verschlingt »Rote Zora«. Auch tippt er Karto­ thekkarten für Mitglieder der »Banda Isabella«; die Dame ist zwei Jahre jünger als er, bubenhaft und höchst energisch, aber die Höhle, die so eine Bande braucht, um sie heroisch gegen Feinde zu verteidigen, gibt es nur auf dem Mond. Auch spielt Michael sich auf dem Plattenspieler ununter­ brochen die »Weihnachtsgans« vor, und einen unsäglichen Schmarren genannt »Der Sängerkrieg der Heidehasen«, den er natürlich besonders liebt. Später schreibt er einen »Brief an ein Gespenst«. Dabei versucht er zum erstenmal die Schreibmaschine — alle Zeichen kunterbunt. Ich: »Schreib lieber Wörter.« Er: »Nein, das Gespenst versteht das auch so.« Ich habe Helga den letzten »Passagiere«-Abschnitt zu

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lesen gegeben. Sie bringt’s wie immer zustande, alles hoch zu loben und mich gleichzeitig zu totaler Änderung zu ver­ anlassen. Diese habe ich gleich noch abends durchgeführt, zu großem Vorteil. Sehr zufrieden mit mir — und voll über­ zeugt, das aus eigener besserer Einsicht gemacht zu haben.

4. Januar

Nachtrag von gestern: Marlys rief an, mir wortreich für mein letztes Buch dankend — mich aufs Glatteis führend, bis sich herausstellt: ich habe es ihr nicht geschickt. Das hole ich heute nach. Sie hat ein Recht auf meine Bücher. Ich vergesse nicht, wie sehr Marlys mir damals zu helfen versuchte, als es so gar nichtweiterging in dem schwe­ ren Jahr nach Griseldas Tod. Sie könne sich vorstellen, daß ich immerhin doch noch vielleicht trotz allem für diese oder jene Frau in Betracht käme, sagte sie — und sie habe eine Freundin in London, ideal für mich geeignet, die habe sie schon eingeladen. Sie kam. Ein nettes Mädchen wahrschein­ lich. Eine Wienerin, glaube ich, Wunschtraum-Erfüllung für viele Männer — nur ich, ach Gott, kann gerade Wiene­ rinnen auswendig hersagen, und daß ich zwanzig Minuten in Gesellschaft dieser einen aushielt, war ein Akt der Selbst­ zucht. Aber sie habe eine andere entzückende Freundin in Genf, sagte Marlys unverdrossen, eine junge Witwe, die er­ warte uns übermorgen. Ich fuhr tatsächlich mit ihr hin, ein törichter und verzweifelter alter Mann, es war meine erste und letzte Brautfahrt, und die Dame, mit der Marlys mich bekannt machte, war tatsächlich reizend, ernsthaft, in einem tapferen Beruf und mitten im Leben stehend — mehr als »mitten«, sie hatte viele zarte Runzeln, und kein vernünf­ tiger Mensch hätte daran etwas auszusetzen gehabt, auch ich habe ja doch viele Runzeln, und sie war sicherlich zwanzig

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oder beinahe fünfzehn Jahre jünger als ich, also was wollte ich? Sie setzte sich so, daß das hellste Tageslicht auf ihr Ge­ sicht fiel, und sagte: »Damit Sie mich ganz genau sehen.« Sie war gescheit und ernst und trug einen Hut. Ich fragte Marlys: »Warum nimmt sie ihn nicht ab?« Sie sagte: »Sie hat ihn noch nie abgenommen in den zehn Jahren, seit ich sie kenne.« Wir fuhren dann nach Hause. Ich wäre vielleicht nicht so irrational überheblich ge­ wesen, hätte ich nicht inzwischen an Helga geschrieben. Dann kam ja auch bald ihr Telegramm. So war der negative Impuls zu meiner Ehe mit Helga jene Dame mit dem Hut, und die kupplerische Freundin Marlys hinter ihr, und darum gebührt Marlys das Buch und ich habe es ihr gesandt. Die »Süddeutsche« hatte eine jener Neujahrs-Umfragen geschickt. (»Vorsätze fürs neue Jahr« — irgend so was Hoch­ bedeutendes.) Ich sagte Michael, derlei müsse von nun an er beantworten. Er tat es auch (leider ist seine deutsche Ortho­ graphie haarsträubend, da er ja in eine italienische Schule geht), doch waren sie in München humorvoll genug, das so zu drucken, wie er’s geschrieben hatte. Worauf Ludwig Mar cuse ihm heute als Ebenfalls-Beantworter dieser Umfrage einen reizenden Brief schickt. Was für ein netter Mann. Viele Briefe. Keine Arbeit. Diem perdidi.

5. Januar Sonntag, und eine Autofahrt mit Helga und Michael (der pausenlos plappert) durch kalte Sonne nach Ronco, an un­ gezählten neuen Villen vorüber — und keine von ihnen, die mir gehört. Soll wohl nicht sein. Sei’s drum. Ohnedies aller­ lei nutzloser Besitz — und kein Schutz gegen die Entwertung, und nur die aus altem Finanz-Expertentum gewonnene Er­ kenntnis : Wie immer man es tut, ist es schlecht getan.

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Gestern noch ein Brief von Jadwiga aus Warschau, nach langem Schweigen. Sie ist eine der Überlebenden des Lagers Auschwitz, sie machte dort Gedichte, die von Mund zu Mund gingen, und darum haben ihre Mitgefangenen sie geschützt— damit eine am Leben bleibe, zu melden, was geschehen ist. Auch ein Buch hat sie darüber geschrieben (dafür fand sie keinen deutschen Verleger). Da kam ein junger deutscher Schriftsteller nach Warschau - ein Mann mit einem inver­ tierten Ödipuskomplex: Sein Vater, Hitlers Groß-Regisseur, sei erstens unschuldig, weil von Goebbels zu jenem wüsten Film gezwungen, und zweitens seien Hunderttausende wahr­ haft Schuldige unentdeckt, und er werde sie finden, seinem Vater zur Ehre. Er kam vor ein paar Jahren hier vorbei, ein herrisch-wei­ cher, schöner und ernster Mann—er kam mit der Auschwitz Jüdin, für ihn hatte sie ihre Welt verlassen, ihm zulieb war sie tief davon überzeugt, daß der Nazi-Vater des Geliebten unschuldig und ein Opfer gewesen sei; der Sohn deponierte sie sogar im Zug dieser Reise bei diesem Vater, daß sie dort wohne. Dreiviertel-zerstört, hin und her gerissen, um zehn oder fünfzehn Jahre älter als ihr Freund-sie wurde für zwei Wochen unser Gast, und der Ernste und Schöne saß bei mir im Zimmer und sprach von ungeheuren NaziverbrecherEntlarvungen und von Verlagsverträgen in aller Welt. Übermorgen erwartete er die Fotokopien von zehntausend Dokumenten aus Warschau - so lang »übermorgen«, bis ich und Verleger und Staatsanwälte nicht mehr recht dran glaubten und ich die beiden aus den Augen verlor. Nun schreibt Jadwiga wieder aus Warschau und offenbar wieder in elendem Zustand und materiell bedrängt. Ihr Freund, der Nazi-Entlarver, mußte von Warschau fliehen — sein Verleger, der auch all jene Dokumente unter Verschluß hielte, verfolge ihn. Das sei offenbar ein Komplott gewisser Leute in Polen mit den Nazis. Der Flüchtling lebe derzeit in

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Ascona; ein hier grassierender Autor habe sich in einer Zei­ tung über Sohn und Vater denunziatorisch aufgeregt, für Vaters und Sohnes Ehre müsse ich intervenieren; und sie sehne sich sehr hierher zurück. Die arme Frau. Wozu Frauen imstande sind. Wie selten, daß man jemandem helfen kann. Helga liest den großen Parodienband systematisch und zum erstenmal wirklich — mit neuen Augen nach mehr als vier Jahren Lebens mit mir. Ich lese gleichzeitig »Macht«. Jener ferne Autor, der all das geschrieben hat, war exuberant, disziplinlos, satirisch-sentimental und keineswegs so neu-sachlich, wie er glaubte; dazu Bescheid wissend und sehr sich mit Mätzchen schmückend. Plan: »Macht« im Herbst neu aufzulegen.

6. Januar Wie die Briefe kommen, in diesen Tagen um die Jahres­ wende. Diesmal von Marika aus Säo Paulo. Ich war ein »junger Dichter«, nach Jahren des Mißerfol­ ges plötzlich erfolgreich, mit einer Frau, die eine schlechte Geliebte war, weil ich, tolpatschig, unerfahren, ein schlech­ ter Geliebter war. Dabei war es ein gutes Zusammenleben — bis auf eben dieses. »Dieses« war so sehr nicht vorhanden, umstellt von Unlust, daß es für einen jungen Menschen meiner Art beinahe selbstverständlich war, sich nach ande­ ren umzusehn. (Nur daß er es heimlich tat, und heimlich maßlos, war wohl verwerflich — aber was weiß ein junger Mensch davon, was verwerflich ist?) Marika war jung, klein, brünett, hübsch, großäugig und sehr habenswert. Sie war mit dem jungen Geschäftsführer einer Druckerei verheiratet, er war harmlos bürgerlich, aber kein Dummkopf.

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Als ich sie traf, hatte sie von ihm einen Sohn und war hochschwanger mit dem zweiten Kind. Es war vielleicht der Bremsfaktor dieser Schwangerschaft, der Mehr-als-Körperliches zwischen uns wachsen ließ, bevor Körperliches sich er­ füllte. Also ein Zwangsweg ins Erotische in einer Zeit, da wirklich Erotisches mir noch fern war. Sie fand diesen Weg— ich nicht. Ich glaube, ich war in keiner Beziehung zu einer Frau so sehr der Nehmende, so wenig der Gebende. Wir verbrachten Frühsommermonate miteinander in jenem Alpendorf, durch sechs oder sieben Jahre, während ihr Mann seine Druckerei betrieb und meine Frau dem Kind und seiner Schule zulieb in Wien blieb. Es war eine Beinah-Ehe in jenen Monaten und Marika eine große Liebende. All das war so sehr jenseits der Grenzen ihrer bürgerlichen Existenz, so verwegen igno­ rierte sie Entdeckungsgefahren, so bedingungslos las sie mir jede Laune, jeden Wunsch von den Augen ab, ein Anpas­ sungswunder, ein erfüllter Wunschtraum, glorios sich stei­ gernd weit über sich selbst hinaus, wie ich das nie mehr wieder fand (bis ich Helga traf, spät im Leben). Und das hier ihr Denkmal. Liebte ich sie? Habe ich es ihr je gesagt? Ich war zu jung. Und nun schreibt sie mir heute aus Säo Paulo, und ist sechzig Jahre alt, und seit dreißig Jahren habe ich sie nicht gesehn. Was sonst an diesem Tag? Viel gute Arbeit an »Passa­ giere«, mehr als ich eigentlich dürfte. Erschöpft. Dennoch mit Helga einen langen Spaziergang gemacht, um Michael die Wohnung zu überlassen: so kann er die Kinderstunde im Radio genießen, ohne daß ich das hören muß. Dabei habe ich es mir längst abgewöhnt, ein »Dichter« zu sein, um den sakrale Stille zu herrschen hat. Schule der Emigration: zu schreiben, wann sich’s trifft, wo es sich trifft, schreibtischlos auf einem Fensterbrett oder wo immer — Ar­ beit ein Annex des Lebens, nicht umgekehrt.

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Abends liest Helga mir »Boul’-de-Suif« vor, Maupassant, und fragt: liest sie denn gut genug? Daß sie so für mich lese lange Zeit.

7. Januar Erheitert durch Michaels Katastrophe in der Schule. Es ist ihm dort Unsägliches passiert - er war zu verspielt, vor dem letztmöglichen Augenblick auf die Toilette zu gehen. Heim­ kommend bekennt er Helga die Schande (mir nicht), ist aber sofort aufgerichtet, da er nicht bestraft wird, und erklärt Helga wortreich, andere Kinder würden derlei nicht ge­ stehen, sondern — um nicht entdeckt zu werden — ein ganzes Jahr lang ihrer Mutter vorlügen, die Hose sei noch so sauber, daß sie keine neue Wäsche brauchten. Oder aber auch einen weißen Leinwandfleck über das Unsägliche kleben und spä­ ter behaupten, so sei das immer gewesen, man habe die Hose so gekauft.

8. Januar Von Marika geträumt, und ich träume selten. Also heißt das ja wohl: nicht genug, was ich vorgestern über sie nieder­ schrieb. Es konnte nicht gut ausgehen. Wir hatten unsere Quartals-Ehe schon seit einer guten Weile aufgegeben als ich 1934 nach England ging. Bevor meine Frau mir nach­ kam, hatte ich dort eine Freundin - es war nicht wichtig, weder ihr noch mir. Aber da ich meiner Frau, kaum daß sie mit dem Kind nach England gekommen war, wahnwitzi­ gerweise davon erzählte und sie sich sehr erregte, fragte ich sie, warum sie sich gerade über diese eine errege — wo ihr doch nie zuvor eine andere wichtig gewesen sei? Ich dachte,

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sie hätte in all den Jahren schweigend einen Lebensbezirk übersehen, der ihr nichts bedeutete — nun aber stellte es sich heraus: sie hatte nie etwas von all dem gewußt! Wir zogen in eine winterverlassene Landpension. Es war ein Winter der Hölle. Sie kam nicht mehr zur Ruhe und weinte die ganze Zeit. Alle zwei, drei Stunden, tags und nachts, kam sie in mein Zimmer, mit geröteten Augen, und sagte trocken: »Und Anna ist deine Geliebte gewesen.« Und dann wieder: »Und Marianne hat damals auf dem Bahnhof in Salzburg >Du< zu dir gesagt und du wurdest rot.« Und: »Jene vorgeblich Unbekannte damals, eine Komödie habt ihr mir vorgespielt, aber ich habe euch durchschaut.« Und das nächste Mal: »Und Marika tat so, als wäre sie meine Freundin — sie war deine Geliebte!« Sie sagte es trocken, ohne Vorher und Nachher, eine Fest­ stellung und sonst nichts, und wandte sich wieder ihrem Zimmer zu. Wirkliches, Mögliches oder groteskes Hirnge­ spinst — nun es ihr wie Schuppen von den Augen gefallen war, sah sie in jedem weiblichen Wesen, das uns jemals be­ gegnet war, eine meiner Geliebten. Ihr auch nur die klein­ ste Kleinigkeit auszureden — eher versetzte man nicht einen Berg aus bloßem Kalkstein, sondern einen Gebirgszug aus Granit. Schlimm genug — hätte Marika nicht eben damals nach langer Pause einen herzlich plaudernden Familienbrief ge­ schrieben. Ich bekam ihn nicht zu Gesicht, er ging an die Absenderin zurück mit der Drohung: wenn die Hure es wage, noch einmal zu schreiben, werde sie, die Hüterin die­ ser Familie, dem Gatten der Hure die Augen öffnen. Worauf Marika vorsorglich und besonnen zu ihrem Mann ging und ihm alles sagte — besser, er erfuhr es von ihr als nächstens einmal von einer Tigerin. Auch war das zwar für sie der eine und einzige große Ausbruch aus einem Bürger­ leben gewesen, aber sie hatte sich ja doch beschieden und

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war längst heimgekehrt, es war alles vorüber, eingebettet in Isolierschichten der Vergangenheit! Sie sagte es ihm — und er tat etwas Furchtbares. Nicht wies er ihr die Tür, nicht schlug er sie, nicht ließ er sich scheiden — er verzieh ihr und war von Stund ab ein Ver­ ziehenhabender, mit Leidensmiene und neu akquirierter Runzelstim, sie keinen Augenblick vergessen lassend, wel­ cher Gedanke hinter den Runzeln saß: die Erinnerung an seine Großmut und ihr Verbrechen. Es wäre der Augenblick gewesen für sie und mich — wären jene guten Sommer noch lebendig gewesen für sie und mich. Aber ich war inzwischen eine gute Strecke, eine schlimme Strecke weitergegangen; und sie war inzwischen zurück­ gekehrt. Nur für die Tigerin, nur für den redlichen Drucke­ rei-Geschäftsführer gewann das eine posthume Realität. Unter dem Stemzeichen dieser Vergebungs-Erpressung, einer bürgerlichen Tragikomödie, ging Marika mit Mann und Kindern nach Südamerika ins Exil, der Mann kränkelnd — und wer war im Grunde schuld daran, daß er kränkelte, welche Verdüsterung, nicht aus den Gedanken zu bannen, nahm ihm die Tatkraft für den Neuaufbau einer prosperie­ renden Existenz? Für Mann und Kinder werkte Marika sich halb zu Tod. Kuchenbäckerei, Viennese cakes, das hatte sie noch rasch in Wien fürs Exil gelernt, es ging weit über ihre Kräfte. Aber war sie nicht eine, der man verziehen hat? Stand sie nicht unter dem Bann des Schmerzenszuges um die Winkel eines über all dem alt gewordenen schicksalsunfähigen Bürger­ munds? Ihre Glieder täten ihr weh, schrieb sie mir einmal, und gegen Abend konnte man nur weiter, wenn man um sechs ein Glas Whisky trank. Und die beiden Söhne, schrieb sie mir einmal, sind nun groß und haben selbst Kinder. Und, schrieb sie mir einmal, sie habe sich den Arm gebro­ chen und habe jetzt einen steifen Arm, das war schon vor

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fünfzehn Jahren, und das habe sie mir bisher verschwiegen. Und jetzt schickt sie mir Bilder, die mich sehr bewegen: eines von ihr mit Stefanie, meiner ersten Frau, und von meinem Sohn Henry; und Stefanie noch strahlend, schon voraus-überschattet, die Schwerschuhigkeit, das schwer Trappende ihrer späteren Jahre wären damals schon zu sehen gewesen für einen, der sehen kann; und mein Sohn Henry damals, so sehr ähnlich meinem Sohn Michael, wie er vor einer Minute aus meinem Zimmer ging, was für ein strahlendes Kind mein Sohn Henry war, er ist im Krieg ge­ storben, das ist jetzt zwanzig Jahre her; und da ist auch ein Bild von mir selbst, schauerlich anzusehn, schnurrbärtig wie Günter Grass, auf Lebens Höhe, in einer nie gebremsten Exterieur-Verlotterung; und ein Bild von Marika selbst, aus der Zeit, als sie meine Geliebte war, Bild einer schönen, zärt­ lichen jungen Frau, im Badeanzug am Strand jenes Sees damals, es kann ihr nicht leichtgefallen sein, sich von diesem Bild zu trennen, das mehr als ein Bild ist, da schenkt sie mir ihre Jugend, es ist dreißig Jahre alt. Und ich soll ihr nicht nach Hause schreiben: der Verziehenhabende, ein alter Mann nun, darf nicht wissen, daß sie, rückfällige Sünderin, heimlich mit mir in Verbindung steht. An die Anschrift einer Freundin soll ich schreiben — wie das junge Leute tun, heimlich Liebende. Das ist nun aufgeschrieben. Jetzt werde ich nicht mehr von ihr träumen. Und das ihr Denkmal. Herrlicher Tag, der einen auf die Cardada lockt. Ich habe das Skifahren längst aufgegeben — ich brachte es nie weit darin, ich war damals zu schwer, jeder Sturz erschütterte den Berg. So wird’s diesmal ein Sturz zu Fuß, beschämend, aber ich komme glimpflich davon. Michael hat seine erste Skistunde, er stellt sich sehr ungeschickt dabei an, aber er wird zur Ermunterung von Helga und dem Skilehrer hoch gelobt und gibt daraufhin an wie ein Pfau.

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Stundenlang auf der Cimetta in der Sonne. Personenliste des geplanten neuen Romans bedacht. Notizen. Abends groß­ artig müde.

9. Januar

Gradmesser eines Zustands: die Vorgänge dieser Gegenwart sind so viel stiller geworden, daß es aus der Vergangenheit immer lauter herüberhallt. (So viel stiller; es ist eine gute Stille.) So dies: In der Morgenpost der lange Brief eines Ossi Lan­ ger in Preßburg — und wer ist Ossi Langer in Preßburg? Erst während der Lektüre erinnere ich mich: Ein Verwand­ ter. Ein Vetter. Ich kenne ihn gut. Ich habe ihn nur an die fünfzig Jahre nicht mehr gesehen. Mein Großvater Leopold Haugerman, der sich Neumann nannte, ging auf Weisung des Wunderrabbis von Sadagora nach dem Tod der ersten Frau aus der Hohen Tatra in die niedrigeren, westlicheren Karpaten und heiratete dort eine zweite-wann? 1875 etwa? Es muß 1917 gewesen sein, daß ich diese ländliche Verwandtschaft besuchen fuhr — ich war zwanzig alt, Medizinstudent, Weltkrieg Eins, und in Wien gab es nur mehr wenig zu essen, in unserem Haus gar, da mein Vater die Erwerbung von Lebensmitteln im schwar­ zen Handel unter seiner sozialistischen Würde fand. Ich traf die Familien dreier Schwestern meines Vaters dort oben, aber welche von den dreien Langer hieß, weiß ich nicht mehr. War es der Krämer in Turocz — ich schlief in der Extrastube, und der Geruch der hundert geräucherten Würste, die von der Decke hingen, gab mir einen satten Schlaf, und mein einziger Vetter dort hatte den Lebensplan, auf der leeren Kuhweide nebenan mit der ungenützten Mineralwasserquelle ein Kurhaus zu bauen, was sage ich, 22

einen ganzen Ort! Oder hießen jene anderen Langer, die ein paar Kilometer weiter südlich in Pribovce wohnten — reiche Wirtsleute, ich schlief in der leeren Mühle nebenan, da rann­ ten so viele Ratten durchs Zimmer nachts, daß sie mir einen Hund mitgaben zur Wacht, aber den fand ich dann morgens in meinem Bett, die Ratten hatten ihn in die Flucht gejagt. Da gab es ja doch zwei, drei Vettern neben den drei, vier Cousinen. Oder waren es die ein paar Kilometer weiter nach Norden, in Ruttka, die Schwester meines Vaters, eine ver­ sorgte Frau, mit einem ärmlichen, kränklichen kleinen Mann, der Bäcker war - und wie viele Kinder hatten die in jener kleinen Wohnung im Keller, wie viele Vettern, und welcher von denen allen schreibt mir nun? Ich sei ein von Großstadtglanz und akademischem Stu­ dium vergoldeter Jüngling gewesen, jenen Provinz-Vettern gleichermaßen imponierend durch Weltbefahrenheit, Be­ redtheit, Abgebrühtheit in Liebesdingen und wahnsinnige Arroganz — und erinnerte ich mich noch meiner medizini­ schen Heldentat? Einem halbüberfahrenen Huhn hatte ich erfolgreich das Bein geschient; als einem Demonstrationsobjekt chirurgischer Brillanz in der Familie ist dem Huhn dann durch lange Jahre der Wreg aller Hühner erspart ge­ blieben, bis aus der Hauptstadt die Nachricht kam, der Chirurg habe eine blendende Karriere aufgegeben und be­ fasse sich tief enttäuschenderweise jetzt nur mehr mit schrift­ lichen Arbeiten. Doch hatte ich meinen Ruf ja eigentlich schon vor meiner Abreise verscherzt, verrät mir mein Vetter jetzt nach kaum fünfzig Jahren. Sie spielten dort Fußball mit einem aus Lappen geschnürten Bündel; ich aber behauptete arrogant, daheim in Wien einen echten, aufblasbaren Lederball zu besitzen - und derlei Bälle verwende man de rigueur bei internationalen Fußballkämpfen, für jeden Kampf einen neuen Ball! Das aber, schreibt mir mein Vetter, schlug dem

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Fasse den Boden aus. Ich wähnte wohl, den Provinz-Cousins allerlei Lügen und Geflunker aufbinden zu können? Man glaubte mir überhaupt nichts mehr. Jene Enttäuschung mit den schriftlichen Arbeiten kam danach nicht ganz unerwar­ tet, in einem gewissen Sinn. Er schreibt das heiter. Und daß mir jene verhärmte Tante im Jahr neununddreißig wegen der einen Tochter schrieb, die nach England wollte - daran erinnerte ich mich wohl? Dann kamen ja bald die Deutschen. Seine Mutter habe man nicht geholt, die sei vorher noch rasch gestorben. Auch der Mann der Verhärmten sei vorher gestorben. Sie selbst war an die Achtzig, und samt all ihren Kindern mit Mann und Frau und deren eigenen Kindern füllten sie den Deutschen einen ganzen großen offenen Lastkraftwagen. Und es war sonderbar zu denken, daß jener Großvater, 1848 als Revolu­ tionär zum Tod verurteilt, aus Polen hierher in die Freiheit floh, nun aber ließen es sich die Deutschen einen eigenen Lastkraftwagen kosten, um seine Kinder und späten Nach­ fahren nach Polen zurückzuschaffen. Denn nach Auschwitz fährt man von jenem Karpatental direkt. Er aber, mein Vetter, sei in die Wälder gegangen, zu den Partisanen, und habe es überlebt, und auch sein kleiner Bru­ der, ich erinnerte mich wohl noch an ihn, der mit dem spitz­ bübischen Gesicht, habe es überlebt. Zwei Mann hoch, dann nahmen sie Frauen und hatten Kinder, und nun hatten die Kinder schon ihre Kinder. Denn so überlebt sich’s in dieser gar nicht so üblen Welt. Er hatte dann ja auch noch die Schwierigkeiten mit der Partei, in der er einiges Gewicht besaß nach dem Kriege — Schwierigkeiten nicht als ein schlechterer Kommunist, son­ dern als ein besserer Kommunist, sie brachten ihn deshalb auch nicht zu Tode, sondern es kostete nur ein paar Jahre, nun, nicht ganz wenige Jahre, da war er schon wieder frei. Und jetzt ist er rehabilitiert. Und eine Nummer einer Zeit-

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Schrift, genannt »Der Spiegel«, sei unlängst dorthin geraten, da stand etwas über mich, so sahen sie: auch ich hatte es überlebt. Denn, ja, es stirbt sich nicht so hopp-hopp. Leichten Tones schreibt er das, und welcher von den fünf Vettern-Gesichtem, an die ich mich erinnere, ist nun dieser da, ein Trotzdemnochimmerlebendiger gleich mir selbst — während die anderen von den fünfen ausgelöscht sind, und welche sind ausgelöscht — samt den achtzehn weiteren, die ich damals traf — und wie viele sonst kletterten auf den deut­ schen Lastkraftwagen, der über die polnische Grenze fuhr? Dies das neue Stück des Schicksalsteppichs einer Familie.

10. Januar

DasFemsehskript »Blinde Passagiere« zu Ende geschrieben, in kaum drei Wochen. Es ist eine gute Arbeit, glaube ich. Zur Selbstbelohnung: herrlicher Wein. Spät abend. Ich muß das richtigstellen. »Eine gute Arbeit, glaube ich« — aber derlei hab’ ich schon oft geglaubt, bezüg­ lich theatralischer oder Filmarbeiten, und blieb dann mit meiner hohen Meinung einsam auf weiter Flur. Jedes mei­ ner Schauspiele (damals, als junger Mann) wurde aufge­ führt und war ein rauschender Mißerfolg. En suite gespieltvier Aufführungen waren, glaube ich, mein Rekord. Das sei darauf zurückzuführen, daß unsereiner einfach zu kompli­ ziert ist, zu wenig grobschlächtig, hie schwarz, hie weiß, um ein gutes Drama schreiben zu können; zu intelligent, mit einem Wort; ein Dramatiker müsse dumm sein, die meisten meiner Dramatikerfreunde waren dumm — so redete ich mir das zu meinem Tröste ein. Ich rede es mir immer noch gerne ein. Das Stückeschrei­ ben habe ich aufgegeben. Filmskripte, ob gut ob schlecht,

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landen jedenfalls beim Anwalt (wie eben wieder einmal »Karriere«). Aber Fernsehen, Experimentieren, ein neues Medium — das ist eine Lockung. Gewürzt und delikater ge­ macht dadurch, daß ich keinen Fernsehapparat besitze (Mi­ chaels wegen, warum ein Kind süchtig machen) und auch sonst nie ein Femsehstück gesehen habe. Gerade das be­ flügelt die Phantasie! Nett von Monk in Hamburg, daß er mich unter diesen Umständen experimentieren läßt. Letztes Mal hatte er drei Stunden lang kontinuierliche Protest­ anrufe — bis die Telefonzentrale des Norddeutschen Rund­ funks keine mehr annahm. Das war damals die Sache mit dem Santa-Lucia-Gold — der im 16. Jahrhundert gesunkenen spanischen Gallione, der ich auf eine sonderbare Weise auf die Spur gekommen war. Wie ich die Spur verfolgte, immer wieder mit einem Drei­ viertel-Erfolg, der sich dann in Luft auflöste, das steht im »Haus in Kent« — jedes Wort wahr, man hat es mir nie ge­ glaubt, so ist das mit der Wirklichkeit, saug etwas aus den Fingern und jedermann glaubt es dir. Das also, beschlossen wir, fürs Fernsehen zu machen, die wahre Geschichte einer wahren Geschichte, von mir selbst hauptdarstellerisch vorgeführt, sozusagen dokumentarisch. Nur die da oder dort einzublendenden Zwischenschnitte aus meinen beiden alten Verfilmungen der wahren Story wäh­ rend der zwanziger Jahre hatten wir leider nicht. Aus einem zwingenden Grunde: ich hatte sie nie gemacht. »Macht nichts«, sagte Monk, »diese kleinen Nebeneffekte vollziehen wir nach, Schiffsuntergang machen wir mit einem Vier-Mark-fünfzig-Schiffchen aus dem nächsten Spielzeug­ laden. Sie werden staunen, wie mühelos das geht, mit diesen modernen Kameras.« Nur ein paar winzige Außenaufnahmen brauchten wir, zur Erhöhung der Authentizität. Santa Lucia war für solch eine Kleinigkeit ja ein wenig weit, aber der tropische Gar26

ten hier unten auf dem Inselchen vor Brissago war noch viel tropischer. Monk gab mir seinen besten jungen Regisseur — riesengroß und massig, jünglinghaft und ein Enthusiast und damals noch unerfahren, und als der im Sommer für die paar kleinen Zwischenschnitte herunterkam — vier Mark fünfzig, nicht wahr, gegen eine Nein. Zu müd. Fortsetzung nächstens. Wein. Zu Bett.

11. Januar, ein Sonntag

Tiefer, weicher Schnee. Michael höchst tätig im Garten, einen Iglu bauend. Dann kommt er herein, um mich inten­ siv zu fragen: Wieviel habe ich mit dem letzten Buch ver­ dient? Wenn das noch unsicher sei: Woher das Wirtschafts­ geld? Wenn aus Ersparnissen — wieviel mit früherem Buch verdient? Dann noch: Bankwesen, bargeldloser Zahlungs­ verkehr, und wieso sei es unmöglich, »hundert einzuzahlen und dann noch heimlich zwei Nullen dazuzumachen« ? Wie recht er hat. Es ist ein lässiger, guter Tag. Helga hat das Filmskript auch schon zu Ende getippt, sie folgt mir mit dem Tippen auf dem Fuße — erstaunlich, wie sie so was zustande bringt, neben allem andern, das sie zustande bringt. »Macht« zu Ende gelesen. Das wäre in zwei Monaten Arbeit der Stilmätzchen und der sonderbaren EmotionsExzesse zu entkleiden, dann wäre das kein übles Buch. Bleibt die Frage, ob man tatsächlich spät im Leben zwei kostbare, unwiederbringliche Arbeitsmonate an so etwas setzen soll — oder: laß fahren dahin, so schrieb ich das eben damals, mit all diesen Fehlern, wollt ihr’s nicht lesen, so laßt es bleiben. (Eine Lüge, dieser Satz. Als ob ich dem 27

wirklich mit Gelassenheit gegenüberstünde. Lächerliche Pose einer Abgeklärtheit, die mir zu glauben man treuherzi­ ger sein müßte als ich es bin.) Weiter diese Fernsehgeschichte. Eingeborene Santa Luci­ aner Wilde von A.D. 1539 hatten wir keine, also engagierte mein junger Regisseur den Schwimmklub von Bellinzona. Den nächsten geeigneten Bergsee, in dem unser Spielzeug­ boot scheitern sollte, gab es oben am San-Bernardino-Paß. Dort lag noch Schnee. Als ich hinaufkam, zitterten die ent­ kleideten, tiefbraun angestrichenen und mit Nasenringen und kannibalischen Ornamenten ausgestatteten Bellinzonesen teils in, teils vor der Paßherberge. Man wartete, das Spielzeugboot aus Hamburg war noch nicht gekommen. Schließlich kam es in einem Großtransporter. Nein, nicht eine lebensgroße Replika des spanischen Schatzschiffes von 1539, schließlich wollte man ja doch sparen, also hatten die Werkstätten in Hamburg nur die Backbordhälfte voll aus­ gebaut, kaum mehr als sechs Meter lang, samt der beim Scheitern aufs naturalistischste abbrechenden und versin­ kenden Gallionsfigur. Diese hatte ich im Skript. Mit Hilfe eines unsichtbaren Nylonfadens im dramatischen Augenblick vom Spielzeug­ schiffchen zu reißen. Da konnte man in Hamburg nur lächeln. Der Produktionsleiter dachte: Vielleicht nicht echte Handschnitzerei sondern sparsamerweise aus Plastik? Ja, das könnten sie schon machen, antworteten die Plastik­ leute auf seinen Brief. Preiswert. Bei Mindestabnahme von hundertfünfzig Stück. Ab fünftausend war es billiger. Wes­ halb der Transporter nun doch nicht eine Plastik-Gallions­ figur brachte, sondern drei hölzerne. Ich wollte die ganze Gallione dann für den Garten kau­ fen, aber der Produktionsleiter war dafür nicht zu haben. Das müsse fürs erste ins Zeughaus des NDR zurück. (»Fürs erste« war übertrieben. Der Fahrer des Transporters er­

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Härte, er bleibe da. Er hatte sich mit der feueräugigen Kan­ tinenpächterin verlobt, auf der Paßhöhe des San Bernar­ dino. Ein deutscher Sieg.)

13. Januar — Montag - also habe ich da irgendwas falsch datiert. Allerlei Briefe. Siebzehn Antwortbriefe diktiert — und das füllt einen Arbeitstag, an dessen Ende man schlechten Ge­ wissens ist. So viel Zeit vertan. Tiefer Frühnachmittagsschlaf. Später Michael. Später, da er zu Bett gegangen ist, Helga reizend und töricht. Wald­ stein-Sonate im Radio. Schon wieder schläfrig. Muß später noch einmal versuchen, in die Arbeit zu kommen. Was für eine gute Zeit.

14. Januar

Gestern doch nicht mehr zur Arbeit gekommen. Föhn heute. Trotzdem mit Helga nach Locarno hinunter­ gefahren, um sie zum Kaufen von ein paar Sachen für sich selbst zu zwingen. Seit ich ihr Bankvollmacht gab, hat sie sonderbarerweise sich selbst gegenüber einen ans Krank­ hafte grenzenden Geiz entwickelt und kauft sich nichts. (Ein ganz neues Mittel, eine Frau zur Sparsamkeit zu verleiten: Bankvollmacht.) Mich bei dieser Expedition recht elend gefühlt — der Föhn! — und bald wieder heim. Nun, es ist wieder besser, aber wie ist man wackelig. Dabei kann man den Torheiten gegen sich selbst nicht aus dem Weg gehn, und begeht man nicht die eine, so begeht man die andere. Und schöpft eben 29

aus dieser Erkenntnis des Unvermeidlichen seine Gelassen­ heit. Erheiternd - was? Es muß doch auch Erheiterndes ge­ geben haben, heute.

15. Januar

Allerlei Briefe, die Brief-Pest. Nur wenn keine Briefe kom­ men, ist es noch schlimmer. Was hat man sich nach Briefen gesehnt — in Viserbella etwa, im Jahr sechsundzwanzig, kei­ ner wollte etwas von mir drucken, ein Jahr später war eines meiner Bücher weithin berüchtigt; und dann in den Ein­ samkeiten und Verzweiflungen des Exils, da schrieb mir kein Mensch; und dann in den vielen toten Monaten in Cranbrook mit R., als unsere Ehe in Scherben ging. Es gibt zu viele Briefe jetzt. Briefe also, und dann an die Arbeit. Es ist immer dieses Umherhasten, dies gehört noch vollendet, das ist noch gar nicht recht in Angriff genommen, aus dem schaut dich anklagenden Blicks eine Aufgabe an, der du dich entzogen hast, in jenem steckt vielleicht ein Stück nachzulassendes Geld für Helga und Michael, wenn du es in Ordnung bringst. Das zum Beispiel. Der neue Roman kann noch nicht be­ gonnen werden, mit dem Plan muß ich noch eine Weile leben — Tabellen zeichnend, synoptisch und höchst luzid, nachher hält man sich an sie längstens bis zum Schluß von Kapitel zwei. Man hat es zwei dutzendmal erklärt, eine groß­ mannssüchtige Erklärung, als wäre man genialischerweise von seinem Dichterdämon besessen und nicht mehr Herr seines kühlen Kopfs — aber erklärt ist erklärt, und zwar, daß die Romancharaktere, einmal auf die Beine gestellt, ja doch ihr eigenes Leben zu leben beginnen, was scheren sie sich noch um den Romancier, der kann sie dann bloß sanft in 30

diese oder jene allgemeine Weltrichtung zu stoßen ver­ suchen. Sanft, sonst schlagen sie zurück. (Wie im Fall »Inquest«. Was mir zunächst eingefallen war: Da hat einer mit einer Frau, die er so gut wie nicht keimt, eine Nacht geschlafen — am nächsten Morgen kommt ein Polizist zu ihm und sagt, die Frau habe nach seinem Weggehn Selbstmord begangen, übermorgen sei der Inquest, zu dem müsse er kommen. Worauf der Mann die anderthalb Tage daran wendet herauszubekommen, was da passiert ist. Ein guter Romanstoff. Wurde auch ein nicht übler Roman. Aber als ich beinahe am Ende war, stellte sich heraus: Diese Frau steht da, lebendig geworden auf diesen Seiten, und Selbstmord, die begeht ja doch keinen Selbstmord, die denkt nicht daran. Ich war ratlos. Koestler sagte: »Lassen Sie mich das Kapitel schreiben, das ist ganz einfach, der Mann ist im­ potent gewesen, darüber war die Frau so außer sich, daß sie Selbstmord begangen hat — psychologisch, verstehen Sie?« — Ich ließ es ihn dann nicht schreiben. Die Grenzen Koestlers. Und die Grenzen des Romanciers.) Zurück zum Heutigen. Ich habe »Karriere« herausge­ sucht. Das Milieu, das Idiom ist das grenzdeutsch-jüdischprovinzielle, das ich 1917 bei jenem karpatischen Verwand­ tenbesuch kennenlernte. Das Buch hat den Leuten Spaß gemacht, als es erschien. Raddatz von Rowohlt schickte mir kürzlich Kurt Tucholskys Briefe - mich erinnernd an einen Vorgang, den ich völlig vergessen hatte. Tucholsky intervenierte offenbar damals bei mir für Irmgard Keun — zwei Kritiker hatten behauptet, ihr »Kunstseidenes Mädchen« sei ein Plagiat von »Karriere«. Gleichzeitig, so ergibt sich aus diesem Briefband, machte Tucholsky selbst der Keun schwere Vorwürfe wegen dieses angeblichen Plagiats. Ein Unsinn. Und wenn sie sich von mir anregen ließ? Was den literarischen Diebstahl von dem eines Laibes Brot unterscheidet: für diesen ist der Arme

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freizusprechen — für jenen der Reiche. Sie war reich genug. (Auch ich stehle mit Vergnügen, wenn es sich eben trifft.) Eine Abirrung all das. Kurzum: »Karriere« herausge­ sucht. Am meisten machte das damals den Filmleuten Spaß. Die erste Filmoption verkaufte ich der »Fox«, am Tag als Hitler Reichskanzler wurde — und dann verkaufte ich den Film immer wieder, und immer wieder fielen die Rechte an mich zurück. (56 000 Dollar! Von Forrest Judd! Kombiniert mit der dramatischen Produktion am Broadway! Von den 56 000 blieb er mir 56 000 schuldig — und wäre es bloß das einzige, was er mir schuldig blieb!) Jedenfalls, eine Art Not­ pfennig quer durchs Exil, diese Filmrechte der »Karriere«. Derzeit sind sie an einen bayerischen Filmmagnaten ver­ kauft, der mit Vornamen Luggi heißt und vertrauenswürdi­ ger ist als andere deutsche Filmmagnaten: er ist erst seit kurzem dabei, er war Skilehrer. Seine Treuherzigkeit im Vergleich zu anderen Magnaten hat er schon bewiesen: er hatte volle zwei Drittel des vereinbarten Preises für »Kar­ riere« bezahlt, bevor er in Konkurs ging, unlängst. Ein echter Magnat unterschreibt und zahlt überhaupt nichts — erst dann erklärt er sich insolvent. Auch seine LiteraturVertrautheit macht Luggi zu einem Außenseiter. Trifft mich und sagt: »Mein Dramaturg — ein hochgebildeter Mensch. Er behauptet, Sie haben Bücher g’schrieben, er sagt, er hat eins g’lesen, wie heißt’s denn schnell.« Eine so weit­ gehende Intimkenntnis meiner Werke traf ich bei echten Magnaten nie! Man hat nicht umsonst gelebt. Auch hat er dieses letzte Drittel nicht einfach nicht be­ zahlt, sondern die Sache mit Rechten und Pflichten an die »Nora«-Film weiterverkauft, die mir heute schreibt, das stimme vollkommen, doch habe sie die Sache mit Rechten und Pflichten inzwischen an die »Area«-Film weiterver­ kauft, die werde bezahlen. Fein! Also »Karriere« herausgesucht, das Drehbuch, das ein 32

paar gute Szenen enthält. Sind die nun einmal geschrieben — vielleicht passen sie in den kleinen Roman, wenn man den wieder auflegt? Er ist längst vergriffen. Doch bleibt es eine fragwürdige Arbeit, dieses Schreiben und Umschreiben in einem künstlich korrumpierten Idiom. Ein paar Seiten — da lacht man laut. Dann lächelt man nur mehr. Dann ist man des rasch müde gewordenen Scherzes überdrüssig. Das gilt für alle diese Ich-Romane. Die Authentizität des Idioms bezahlt man damit, daß jedes Idiom eine »innere Länge« hat. Überschreitet man die nur um drei Seiten, so hört nie­ mand mehr zu. Darum hat es Schnitzler (und ich nach ihm) nur auf diese kurzen Längen gebracht. Zwei Ausbruchsver­ suche: »Blinde Passagiere«, wo fünf Charaktere sich hinter­ einander decouvrieren, und dann die mehrstimmig instru­ mentierte »Olympia«. Nachteil: das Ganze bekommt zwar mit jedem Stimmwechsel einen neuen Impuls, wird aber künstlich — ein Kunstprodukt. Müßiges Hakenschlagen, all das. Was geht es mich heute noch an. Alles, um nicht mit dem Roman beginnen zu müs­ sen. Abends »Dichtung und Wahrheit«. Ich habe das jahr­ zehntelang nicht in der Hand gehabt. Die Einleitung zum vierten Buch ist eine Rechtfertigung meiner Technik der Autobiographie, scheint mir. Übrigens: mein Mißtrauen gegen die Kontinuität der Zeit hat sich inzwischen sehr vertieft. Die scheinbare Plan­ losigkeit der Struktur war in der Autobiographie noch zu schlau berechnet und kunstvoll. Es ist alles viel kunstloser. Zeit-Seifenblasen, in denen wir unser Leben leben. Sie wer­ den durcheinandergetrieben von einem leichten Wind, in einer heiteren Verwirrung.

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16.Januar Helga hat nun doch endlich ein schönes Kleid gekriegt. Jetzt, wo sie’s hat, freut sie sich darüber wie ein Kind. Sie redet mir zu, das Umschreiben von »Karriere« sein zu lassen und lieber die längst geplante »Kunst, recht zu behalten« zu schreiben. Eine Eristikl Als ob das ein wirklicher Plan wäre. Es wäre der Ersatz einer Spielerei durch eine andere Spielerei. Worauf freu’ ich mich? Auf das Schlafen, eine lange Nacht lang. Auf das Frühstück morgen. Vielleicht ist das aber auch diesmal wieder nur einer jener Tiefpunkte, die man zu überwinden hat. Worauf freu’ ich mich? Auf das Längerwerden der Tage. Auf jede gute, langsame Stunde dieses stillen Lebens. Michael produziert einen Plakatkasten. Text eines der Plakate: »Lind-Schokolade erfrischt und ist sehr genieß­ bar.«

17. Januar

Es war eine schlechte Nacht mit schlechten Träumen. Quer­ durch war ich wach und erinnerte mich daran, wie ich — da war ich noch allein mit Michael — sein Verschlingen unge­ heurer Nahrungsmittelmengen zu verlangsamen versuchte. Er sprach damals nur englisch, und ich sagte: »Don’t be so greedy, eat slowly, think how good it is!« (Was er dann für ein paar Sekunden mit komischer Denkermiene befolgte.) Also: Think how good it is. Nach der schlechten Nacht bin ich heiter erwacht. Wollte liegen bleiben, aber die Ar­ beitssucht trieb mich aus dem Bett. Dann schrieb ich doch noch weiter an »Karriere« und haßte es. Jetzt, abends, müde von zu vieler Arbeit und unzufrieden. 34

Helga liest »Sintflut«. Diese und vielleicht doch auch »Macht« müßten unverändert neu gedruckt werden. Wegen dieser und der anderen noch nicht neu aufgelegten Bücher könnte Helga vielleicht später einmal mit dem Verleger Konflikte haben, fürchte ich plötzlich. Aber das ist vielleicht auch unberechtigt. Meine Zusammenarbeit mit Desch ist so reich an Vorfällen, daß, in aller Freundschaft, meine Ein­ stellung zu ihm häufig und heftig schwankt. Er ist ein Enthusiast des Geschäftemachens, kaum ein brillantes Geschäft am Rand der Literatur, das ihn nicht bei Gelegenheit faszinierte. Er könnte bei seinen universellen Gaben ebenso genial mit alten Möbeln handeln oder meinet­ wegen mit garantiert echten Diamanten (und vielleicht tut er dies und jenes im geheimen, er tut im geheimen vieles) — und doch, und dennoch, er ist ein großartiger Kerl, mit dem man Pferde stehlen kann. Etwa: er bekommt von einem Zuchthauspfarrer ein Romanmanuskript, erkämpft mit Großeinsatz die Begnadigung des Autors, eines waschechten Räubers, und macht ihn generös und enthusiastisch wirklich zu einem Autor. Oder: ist ein Autor einmal sein Autor, so glaubt er an ihn zutiefst und geht für ihn durch dick und dünn, ohne Rücksicht darauf, ob es sich um ein Genie wie mich handelt oder um lächerliche Figuren wie manche andere. Für einen Mann wie mich, von Gegnern umringt, von jungen Trotteln über die Schulter angeschaut, für einen umstrittenen Autor, dem ein Verleger mit unumstrittener literarischer Autorität — aber gibt es den? — den Rücken decken könnte, ist er nicht immer die ideale Konnexion. Und mit ihm habe ich einen Generalvertrag — ich muß ihm geben, was ich schreibe, er muß drucken, was ich ihm gebe, so einfach ist das. So vertrackt ist das. Mitunter ist diese Ehe schwerer als eine Ehe. Die ganze Ambivalenz, die ich hier zu Protokoll gebe, ist ehegleich: mit Irritation, Durch­ schauen und echter Herzlichkeit. 35

Durchschauen, sagte ich - aber er bleibt mir undurchsich­ tig, in einer tiefsten Schicht. Was weiß ich von seiner Müdig­ keit. Was weiß ich, im Grunde, von den Einsamkeiten seiner privaten Existenz? Aus all dem rafft er sich auf zu immer neuen Manifestationen des Optimismus. Dem er geheim mißtraut? Oder den er, sein Mißtrauen überspielend, sich selber glaubt? Nicht zu ergründen. Eine Ehe, mit einem Wort. Ich bekriege ihn, brieflich, und werde wieder in seine Arme sinken, wenn wir einander begegnen, er wird uns rei­ zend und köstlich bewirten, Helga und mich, und ver­ schwinde ich für einen Augenblick, wird er Helga sagen, was für ein toller Kerl ich bin und daß sie sich mit ihm ver­ schwören muß, mich dahin zu bringen, daß ich sehr, sehr viel mehr verdiene, was für mich ein Kinderspiel wäre, ich müßte ja bloß auf ihn hören und —! Und dann nehmen wir voneinander innigsten Abschied, und drei Tage nach seiner Heimfahrt läuft schon wieder das erste Konfliktchen an. Wie kam ich darauf? Helga und Desch, wenn ich nicht mehr da bin. Dabei läßt sich durchaus nicht ausschließen, daß er Helga aufs generöseste behandeln wird — sogar dazu wäre er imstand, so ein Mann ist der.

Helga schenkt mir eine alte Lupe, Michael sieht sie auf meinem Tisch und wundert sich, daß es noch immer Dinge im Haus gibt, die er nicht kennt. Er wolle alle Schränke und Laden durchstöbern dürfen. Er macht sich sofort daran, und da ich ihm sage: dieses Seidentuch, dieses bißchen Schmuck, diese kleinen Gegenstände da haben Griselda gehört, deiner Mutter — interessiert ihn das genau so sehr und so wenig wie alle andern kleinen Dinge. Ohne einen schnelleren Herztakt. Es war ein guter Tag im ganzen. Worauf ich mich freue: auf morgen, was morgen an Gutem bringen mag. Die Zei­ tung kommt morgen, vielleicht steht was von mir in der 36

Zeitung. (Die »Zeit«, einmal wöchentlich. Anderes hab’ ich abgeschafft.) Vielleicht, morgen, nehm’ ich Helga zum Abendessen ins Tamaro, wenn es mir gut geht.

18.Januar Ein sympathischer Brief von Rolf Hochhuth, den ich vori­ gen Monat in Basel traf. Der PEN hatte mich dorthin zu einer Vorlesung eingeladen — und es gab interne Explo­ sionen, bevor ich noch hinfuhr. Sie hatten den offenbar sehr militanten und umstrittenen Shakespeare-Übersetzer Hans Rothe ein- und auf Drängen einer anderen Gruppe wieder ausgeladen, in Deutsch-Schweizer Charme ihm ein Schmerzensgeld von zweihundert Franken für Verdienst­ entgang überweisend, und nun schossen natürlich alle auf alle. (Der lokale Anglist hatte erklärt: »Rothe in Basel? Nur über meine Leiche.«) Mein Telefon hörte nicht auf zu klin­ geln: ich solle aus Solidarität mit dem mir unbekannten Rothe nicht hinfahren — oder, nein, nun erst recht hinfah­ ren, als Schlichter oder trouble shooter des Internationalen PEN, eine Funktion, die ich lächerlicherweise noch immer nicht aufgegeben habe; sie gibt mir die Möglichkeit, mich in viele Dinge einzumischen, die mich nichts angehen. Ich fuhr, ich konnte natürlich überhaupt nichts schlich­ ten, alles an »Literatur« Interessierte in der großmanns­ süchtigen Klein-Weltstadt, einschließlich der Presse und des Rundfunks, stand einander mit blanken Messern gegen­ über, und der PEN dort erwies sich nicht eigentlich als eine Schriftstellerorganisation, sondern eher als ein sordiniert an Schöngeistigem interessiertes Kaffeekränzchen lokaler Industrieller, Anwälte und Ärzte der reichen Upper Hundred mit einem guten Zusatz alleinstehender Damen über­ 37

mittleren Alters, in Nerz gehüllt und mit Schmuck behängt. Eine schüchterne Minorität von Schriftstellern meist lokalen Ruhmes durfte bei diesen Anlässen auch mal die feinen Leute treffen und wußte, in Ecken stehend, die Ehre zu würdigen. Dennoch: Vorlesung! Im traditionellen feinen Hotel. Vor sicherlich fünfunddreißig Personen. Selten hatte ich meine Perlen vor so viele Diamanten gestreut. Nachher gab’s Din­ ner. Dafür hatte der Chairman sich eine feinhumoristische Tischrede auf mich zusammengestellt, die aufs eleganteste aus den Titeln meiner Bücher gestrickt war, er hatte sicher­ lich nichts von all dem gelesen, und Hochhuth — aber nein, das habe ich zu erwähnen vergessen. Hochhuth war schon vorher zu unserem exklusiven Kreis gestoßen. Ich kannte ihn nicht, nun sagte er mir guten Tag, und all die Damen und Herren der Tafelrunde nickten dem von mir der Korona Vorgestellten eisig zu oder ignorierten ihn vollends. Sein »Stellvertreter« war kurz zuvor in Basel herausgekommen, mit entsprechenden Straßendemonstra­ tionen, also waren die wirklich feinen Baseler gegen ihn. Ein sympathischer sehr junger Mann, mit nicht einer Schick­ salslinie im glatten Gesicht. Mit einer sympathischen jun­ gen Frau. Man gebe ihm in der Schweiz nicht die Aufent­ haltsbewilligung, sagte er. Auch mache es ihm Sorge: dieser überdimensionale Erfolg, in den er da unversehens geraten sei. Wie ein neues Stück schreiben, ohne daß Kritiker, Neider, Feinde es verhöhnten: hier stelle es sich heraus, der eintagserfolgreiche Sensationshascher sei bloß ein Nichts­ könner und Dilettant? Die Angst dieses Mannes, in ein Remarque-Schicksal zu stolpern, berührte mich — wie auch der Schicksals-Hinter­ grund seines Engagements: die Eltern der Frau haben, wenn ich ihn recht verstand, der Widerstandsgruppe »Rote Ka­ pelle« angehört und es nicht überlebt. Ich riet ihm, das neue Stück anonym herauszubringen —

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da werde es sich ja herausstellen. (Spätere Lektüre zeigte leider, daß dieser »Stellvertreter« eine ungemein gutge­ meinte, leidenschaftliche Anfängerarbeit ist. Aber was will das besagen, gemessen an der politischen Wichtigkeit?) Nun also Brief von Hochhuth: er könne die Empörung nicht abschütteln darüber, daß man mich in Basel nicht ge­ nug geehrt habe. Der gute Junge. Hat der eine Ahnung.

19. Januar

Der halbe Tag dahin, und noch nichts gearbeitet. Was mich abhält, mit der Arbeit zu beginnen, ist die er­ freulich ein Alibi offerierende Ablenkung durch den Brief jenes Kollegen in Westberlin, mit dem ich in eine schüttere Korrespondenz geraten bin. Er schreibt ausführlich, loyal und überberedt wie stets, und worüber er diesmal überberedt ist — das ist die bevorstehende Publikation des Buches der Hannah Arendt über den Eichmann-Prozeß, nein, über die Schuld gewisser jüdischer Getto- und Judenratfunktionäre, die den Nazis Vorschub geleistet haben sollen, indem sie auf ihren Befehl Register anlegten, Listen, die alsbald die Grundlage der Verschleppungen und Vernichtungen wur­ den. Also (so versichert mir der Kollege, der nebenbei, und das macht ihn noch relativ wortkarg und gehemmt in seiner sachlichen Empörung, ein Intimus jenes Günter Anders ist, der einmal der Gatte der Hannah Arendt war) — also müsse ich, da er es in Ansehung seiner weithin bekannten Freund­ schaft mit dem Ex-Gatten taktvollerweise nicht selber könne, öffentlich gegen diese Hannah Arendt auftreten und die Publikation des Buches wenigstens in Deutschland verhin­ dern. Da gebe es unter Juden überall nur eine Stimme! Die Opfer der Konspiration mit den Mördern zu beschuldigen — das sei ein starkes Stück, noch dazu eben jetzt, da endlich in 39

Frankfurt der große Prozeß anläuft gegen die unsäglichsten Schlächter von Auschwitz. Nun ist es so, daß ich die Eichmann-Reportage der Arendt im »New Yorker« gelesen habe — sie ist bis auf irrelevante Kleinigkeiten sachlich richtig und blitzgescheit und nur mit einer »sophistication« vorgetragen, die aus Anti-Emotionalismus in ein ärgerliches Gegenteil umschlägt und da­ durch nicht nur die Pathetiker, Sentimentalisten und jüdi­ schen Synagogenturmpolitiker vor den Kopf stößt (all die wären jedenfalls zu ignorieren), sondern wohl auch die jenen Höllen Entronnenen und ihre Hinterbliebenen. Dennoch, meine Reaktion ist pro-Arendt—wäre jedenfalls pro-Arendt, gäbe es in Deutschland für ihr Buch eine sach­ liche Leserschaft. Es gibt sie nicht. All das ist hierzulande zu sehr verschmiert, zu sehr alibisüchtig, zu sehr auf der Suche nach einer emotionellen Hintertür, durch alte Nazi-Sippen­ haftgedanken korrumpiert — Unschuldige, Niemaisdabei­ gewesene, die »mea culpa« rufen, kleine Schufte und Feig­ linge, die sich längst wieder ihre bona fides zurechtgebogen haben, und nur die wirklich Schuldigen bleiben hart wie Granit. In diesen Gesinnungsmief das Buch der Arendt zu werfen, die eitle Wahrheit einer sich Distanzierenden (aber doch die Wahrheit) — das ist ein vertracktes Problem, zu dem ich mich, zum Kummer meines Korrespondenten, fürs erste nicht äußern werde. Endlich aufgestanden — nicht ohne mich vorher meiner neuen Süchtigkeit ergeben zu haben: Iced Orange Juice. Über all den Kriegen und Nöten hab’ ich mir derlei persön­ liche Laster nie geleistet. Nun kann ich’s mir leisten, wahr­ scheinlich sollte ich nicht, dürfte ich nicht, wahrscheinlich stört oder zerstört es etwas, das pepsische Equilibrium inne­ rer Sekretion, den gastro-enteritischen Iced-Orange-JuiceSpiegel des anämischen Cholesterins — irgendwas dergleichen

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zerstört es sicherlich, und man frönt des Lasters (oder dem Laster?) schlechten Gewissens. Kurzum, man hat sich Stunde um Stunde mit Nebendin­ gen um die Ohren geschlagen, und dann wartet erst recht nur der innere Ukas: Nachträge zum Gestrigen. Da ist also auch dieser Vogel unlängst in Basel wieder aufgetaucht. Er lebt in Hamburg — ich hatte nun schon seit einer Weile die Verbindung mit ihm verloren. »Ein bedeu­ tender und tragischer Mann«, sagte man mir damals, das ist schon wieder fünf Jahre her, »einer der wenigen über­ lebenden Kämpfer aus dem Warschauer Getto, es hat ihn überallhin verschlagen, in allen Katastrophen war er dabei, schließlich haben ihn die Amerikaner den Nazis abgekauft, mit seiner Frau, einer Opernsängerin.« Der Mann stimmte nicht zu dieser Beschreibung. Ein unjüdisch aussehender Provinzler, war der erste Eindruck. Sprache: das Sudetendeutsch-Wienerisch einer bescheidenen Bürgerschicht, sonderbarerweise gewürzt mit psychoanalyti­ schen Fachausdrücken Jungscher Spielart. Wenn es je eine un-tragische Erscheinung gegeben hat — hier war sie. (Im Gegensatz zu der Frau, in deren zerarbeitetes Gesicht zwar nicht eine Opernsängerinnenvergangenheit, dafür aber aller­ lei Tragik eingeschrieben stand — jüdische Tragik, sie hatte sicher sehr Schlimmes mitgemacht.) »Von seinen Erlebnissen im polnisch-jüdischen Wider­ stand spricht er nicht, er will nicht, daß man ihn danach fragt«, hatte man mir vorher gesagt; nun aber bedurfte es der winzigsten Ermunterung, ihn zum Erzählen zu bringen. Mit verblüffender Beredtheit — Nein. Hier abzubrechen. Ich habe mir eben das Tonband, das ich mit diesem Adolf Vogel und seiner Frau aufnahm, drei Stunden lang vorgespielt. Der Ansatz zu diesem Bericht liegt falsch. Es klingt alles anders, wenn man sich’s anhört. Wobei noch zu untersuchen sein wird, warum meine Er­

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innerung so sehr bereit war, es zu verfälschen. Auf morgen also. Ohnedies spätabends geworden. Der ganze Tag wird einem noch draufgehen mit Niederschrift dieses Tagebuchs. Nicht abzusehen — wenn das so weitergeht.

20.Januar Betreffend Vogel und seine Frau. Ich kannte diesen sudeten­ deutschen Typ, er war der Infektionsträger des National­ sozialismus damals in Österreich (heute in Westdeutschland betätigt er sich als »Heimatvertriebener«; offenbar »be­ tätigt« er sich auch in Südtirol), und die Tonfälle sitzen einem im Ohr, und der da, ein jüdisches Opfer, sah so un­ jüdisch aus wie Knödel mit Sauerkraut. Das war in einem Restaurant in Ascona, wir waren ein Dutzend Menschen an einem langen Tisch, Vogel und seine Frau saßen an fernen Enden, und der Voraus-Beschreibung zuwider begannen sie beide fast ungefragt eine völlig emotionslose, aber geschult pointensichere Erzählfreudigkeit zu entwickeln — alles über ihre Leiden und Abenteuer. War man da wieder einmal einem hineingefallen? Ich hatte die Einzelheiten des Themenkomplexes, von dem die Rede war, eben damals an den Fingerspitzen (es war die Zeit der Arbeit an Hitlerbuch und Hitlerfilm), und was V. und seine Frau sagten, stimmte mit dem mir bekannten Doku­ mentenmaterial genau überein. Nur kam eben das farbige Detail persönlichen Dareinverstricktseins dazu, und auch — das ist eine Reaktion, die ich mir erst im nachhinein voll zum Bewußtsein brachte — mein kleinliches Unbehagen dar­ über, daß dieser untragische Durchschnittsmann in all das in so wichtiger Funktion verwickelt gewesen war, all diese geistesgegenwärtigen Handlungen vollzogen, diese schlauen Antworten gegeben hatte. Ich muß da mitleidslos mit mir

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selbst zu Gericht gehen: Daß er so sehr ein Davongekomme­ ner war — das war, was ich ihm irrational verübelte. Ja, ver­ übelte — erkläre es, wer es erklären kann. Ich hörte scharf hin. Endlich stieß ich auf ein Detail, das verdächtig war. Vogel behauptete, während eines Spitalaufenthalts in War­ schau oder Wilna zwei medizinischen Versuchen ausgesetzt gewesen zu sein: einer Infektion mit Typhusbazillen — und einem Erfrier- und Wiederauftau-Experiment. Typhus, Flecktyphus, das war eben noch möglich, wenn auch sehr unwahrscheinlich in einem Spital außerhalb eines KZ. Aber meine Dokumentation der Erfrier-Experimente kannte einen einzigen Proponenten, den Arzt Rascher im KZ Dachau, einen Schützling Himmlers, seine Korrespondenz mit diesem und mit der »Kanzlei des Führers« war mir bekannt. Er bat damals, die Experimente in den polnischen KZs fortführen zu dürfen, wegen der erfreulich intensiveren Kälte dort und der die Geheimhaltung erleichternden Weite der Landschaft (»die Erfrierenden brüllen«, schrieb Rascher). Er »arbei­ tete« dann auch in Auschwitz — aber Warschau oder Wilna und ein sonst normales Spital? Das war unbekannt. Das stimmte nicht. Ich lud Vogel und seine Frau zu einem zweiten Gespräch hierher nach Hause ein, und dazu erstens Bruno Snell, der Rektor der Hamburger Universität gewesen war; er ist Alt­ philologe, ein gescheiter, menschlicher, unpolitischer Mann, ein »guter Deutscher«, wie er im Buche steht — ich wollte die Reaktion eines völlig Unbefangenen auf Vogels Berichte sehen. Dazu Günther Weisenborn, seine Stärke liegt in seiner unbedingten Honorigkeit, und darüber hinaus war er der einzige hier, der als Widerstandskämpfer in einer Zucht­ haus-Todeszelle gesessen hatte; er war für diesen Fall die ideale Kontrollperson. Und als dritten, nach einem genauen Vorausgespräch über meine Bedenken, lud ich Erich Mosse ein, aus jener Berliner Zeitungsverlags-Dynastie, der Vor-

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nazi-Literatur bekannt als Peter Flamm — er war mit seiner damals verwirrend schönen Frau vor den Nazis nach New York geflohen, hatte dort sein altes Dr.-med.-Diplom her­ vorgekramt und war ein Seelenarzt am Rand der Psycho­ analyse geworden, ein »wilder« Freudianer außenseiteri­ scher, Mossescher Prägung, farbenfreudig erfolgreich, wie das dort drüben nun einmal zur Profession gehört. Heim­ wehkrank wie die meisten seines Schicksals, war er mit vie­ len Dollars für zwei sentimentale Urlaubsmonate in die alten Jagdgründe zurückgekehrt, besessen vonlnformationssucht und sich stürzend auf diesen Fall eines Allesüberlebers, den er entlarven wollte. Ich ließ ein Band laufen — das Band, das ich mir gestern noch einmal anhörte. Es setzt mitten in einem Bericht der Frau ein. Da hatte das Schicksal die beiden Vogels offenbar schon zueinandergespült — er ein aus dem Sudetenland stam­ mender jüdischer Lehrer für zurückgebliebene Kinder, sie eine Wiener Opernsängerin. Sie sind nun, 1941, im Getto von Wilna, im »großen Getto«, dort gibt es Selektionen für »Umsiedlung«, die dafür Ausgewählten, auch die beiden V., werden über die Straße in das angrenzende »kleine Getto« gebracht, und dort war die Lebenserwartung nur mehr höch­ stens drei Tage, dann wurde man in Zügen abtransportiert und ein paar Kilometer landein erschossen. Erfahren habe man das durch eine Lehrerin, die sich, angeschossen, zurück­ schleppte, deren Bericht aber niemand glaubte — nur er, Vogel, der darauf einfach nachts mit seiner Frau quer über die Straße zurück ins relativ gefahrlose große Getto ging. Dort glaubten auch schon andere dran, aber man wähnte, das sei eine verrückte Einzelaktion des Wilnaer Komman­ danten. Frauen und Kinder umbringen, so etwas gab’s doch nicht. Man förderte die Flucht junger Leute in die Wälder — »da hat uns ja auch der Feldwebel Schmidt geholfen, der hat Transporte von je zwanzig Juden ins Getto von Bialystok

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hinübergeschickt, dort, haben wir geglaubt, ist jeder in Sicherheit«. Hier wird Vogel von Mosse auf die Erfrier-Experimente gebracht - wie und wo genau denn das gewesen sei? V.: »In Ponari.« Und wie? V.: Wie es mit den anderen gewesen sei, könne er nicht sagen, die hätten ja alle nicht überlebt - das wisse er, weil sie dann eben nicht mehr da waren. Er, V., war der einzige Überlebende, und das Erfrieren sei schmerzlos gewesen, das Erwecktwerden aber sehr schmerzhaft in den Extremitäten. Und dann habe man ihn im deutschen (!) Spital in Ponari wieder gesundgepflegt — eine sehr nette Schwester, ein net­ ter Arzt. Ich weise nun auf den krassen Gegensatz dieser Darstel­ lung zu den Rascher-Experimenten hin — Topographie und Prozedur. Darauf V.: »Und gleich nachher haben sie mir Typhus injiziert. Und mich wieder gesundgepflegt.« All das klingt gerade wegen seiner Ungeschicklichkeit wie eine Aussage in gutem Glauben. Er hat wahrscheinlich tat­ sächlich Erfrierungen, tatsächlich einen Typhus gehabt. Hat er das »Experiment« im nachhinein dazuerfunden und glaubt es sich selbst? Ich (da ich eben damals von einem Staatsanwalt um die Beschaffung von Anklagematerial gebeten wurde): »Kennen Sie Namen von Mördern?« Vogel: Die meisten der Deutschen seien Halbgötter gewe­ sen, deren Namen man nicht kannte, aber einige habe er wohl gekannt — »Herig zum Beispiel, der hat Kinder erschossen, einmal hab’ ich gesehen, wie er ein kleines Mädchen erschos­ sen hat, weil es sich nach ein paar halbfaulen Kohlblättern bückte, um sie zu essen, die Kohlblätter hatte Herig extra als Falle hingelegt. Das war aber gar nichts gegen die Tomate. Da war eine Tomatenstaude gleich außerhalb des

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Stacheldrahts, auf dem war ein Totenkopf, also elektrisch geladen, so daß man nicht hat durchgreifen können. Ganze Prozessionen hat es gegeben zu der Stelle, die Tomate anschaun, wie sie gewachsen ist und dann langsam geschrumpft. Alles hätt’ ich für die Tomate gegeben, sie hat mich so an Gulasch erinnert.« »Wo war das?« »Bergen-Belsen. Juli vierundvierzig. Da waren die Hol­ länder im Block nebenan. Auch die Anne Frank.« Seine Frau bezeugt das. Nein, sie ergänzt es, sie wider­ spricht ihm in Einzelheiten — Glaubwürdigeres gibt es gar nicht. Und was fange ich nun mit der zu guten, zu litera­ rischen Tomatengeschichte an? (Wozu mir noch einfällt, daß ich in »Inquest« von einem KZ-Häftling erzähle, der sich durch das Beobachten wachsender Radieschen am Leben hält — das schrieb ich 1943, und es war erfunden.) Und wie er von Bergen-Belsen weggekommen sei? V.: »Juli vierundvierzig wurden wir dort namentlich aufgerufen, nach einer Liste, siebzehnhundert Personen, und in Waggons gesetzt. Die anderen waren in Panik. Waggons hat Auschwitz und Vergasung bedeutet, das haben wir da schon gewußt. Aber ich hab’ ihnen gesagt: Personenwagen! Und Konserven haben sie verteilt, so was hat es doch noch nie gegeben! Sogar waschen haben wir uns dürfen. Die Waggonfenster waren verhängt, Stationen oder Orte haben wir nicht gesehen, die müssen überall Umgehungsgeleise gehabt haben — ein einziges Mal eine Stadtsilhouette: Nürn­ berg? Dann plötzlich ein Halt auf freiem Feld, ich glaube, das muß in der Nähe von Linz in Österreich gewesen sein ein Schwimmbad unter freiem Himmel, und der Befehl: Aussteigen, baden! Wir waren natürlich entsetzt, denn Baden heißt ins Gas, das hat jeder gewußt — aber es ist uns nichts geschehen. Dann: Umsteigen! In einen andern Zug. Mit Soldaten, die sehr viel härter und ekelhafter zu uns 46

waren als die im frühem Zug von Bergen-Belsen her. Erst nach einer Weile haben wir gemerkt: das waren Schweizer! Wir waren ausgetauscht, in die Schweiz, die Amerikaner haben das arrangiert, siebzehnhundert Juden gegen Autos und Kaffee. Ich war auf der Liste, weil irgend jemand mei­ nen Namen gekannt haben muß, meine >GesängeStürmerDurchlaßschein< mit drei >s< gedruckt, und weil die Deutschen >Gouvernemang< gesagt haben, haben sie 48

mir das >-ent< nicht geglaubt und >Generalgouvernemang< gedruckt — damit mußten wir reisen! 1941 war das. Die Deutschen haben es aber nur bei einem jüdischen Mädchen bemerkt in unserem Waggon, die haben sie sofort hinaus­ geführt und erschossen. Bei mir haben sie nichts bemerkt, weil ich mit dem kontrollierenden SS-Mann ununterbro­ chen gesprochen hab’, damit er nur auf mein tadelloses Deutsch achtet, nicht auf den Zettel. Aber am besten hat es Mordechai Tennenbaum gemacht — ja, der Tennenbaum natürlich, der dann den Aufstand im Warschauer Getto kommandiert hat, dazu hat uns doch die Partei von Wilna nach Warschau geschickt. Wieso, >wer