Vertrauen und Vertrauensverlust in antiken Gesellschaften [1 ed.] 9783946317937, 9783946317913


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Vertrauen und Vertrauensverlust in antiken Gesellschaften [1 ed.]
 9783946317937, 9783946317913

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Philipp Brockkötter Stefan Fraß Frank Görne Isabelle Künzer (Hg.)

Vertrauen und Vertrauensverlust in antiken Gesellschaften

Vertrauen und Vertrauensverlust in antiken Gesellschaften Herausgegeben von Philipp Brockkötter, Stefan Fraß, Frank Görne und Isabelle Künzer

Verlag Antike

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2022 Verlag Antike, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Giovanni Battista Fontana, Tod des Laokoon und Trojanisches Pferd, Kupferstich, 30 cm × 44 cm, 1560–1579; British Museum, London, Inv. 1862,0712.495 Umschlaggestaltung: disegno visuelle kommunikation, Wuppertal Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-946317-93-7

Vorwort

Mit dem vorliegenden Sammelband sollen die Ergebnisse einer interdisziplinären altertumswissenschaftlichen Tagung, die vom 14. bis zum 16. März 2019 auf Schloss Rauischholzhausen bei Gießen zum Thema „Vertrauensverlust und Vertrauenskrisen in antiken Gesellschaften“ stattfand, der wissenschaftlichen und zugleich auch einer breiteren allgemeinen Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Für die Publikation wurden über die Konferenzvorträge hinaus zur Abrundung des Bandes einige zusätzliche Beiträge aufgenommen. Auf diese Weise wird der gegenüber der Tagung veränderten Akzentuierung des Sammelbandes Rechnung getragen, indem nun auch Aspekte des Vertrauens und nicht nur seine krisenhaften Erscheinungen gewürdigt werden. Die Konferenz wurde gemeinsam mit Elisabeth Engler-Starck (Gießen) veranstaltet, bei der wir uns für die Mitorganisation und -durchführung bedanken. Der Maria-und-Dr.-Ernst-Rink-Stiftung danken wir für die großzügige Finanzierung der Tagung wie auch der Drucklegung des Sammelbandes. Besonderen Dank schulden wir Prof. Dr. Karen Piepenbrink, die unser Vorhaben von Anfang an mit großem Interesse begleitete. Unser Dank gilt auch allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Tagung, die mit ihren Vorträgen und Diskussionsbeiträgen zu kontroversem Austausch, zur Profilschärfung der vorgebrachten Thesen und damit besonders zum Gelingen des ganzen Unternehmens bei­getragen haben. Abschließend danken wir den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Vandenhoeck & Ruprecht Verlage für die gute Zusammenarbeit im Rahmen der Drucklegung des Sammelbandes. Gießen, im Frühjahr 2021 Philipp Brockkötter Stefan Fraß Frank Görne Isabelle Künzer

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Frank Görne/Isabelle Künzer Vertrauen und Vertrauensverlust in antiken Gesellschaften – Einleitende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Teil I: „Konzeptionen des Vertrauens“ Sven Günther Vertrauen als Diskurskategorie in Xenophons Œuvre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Tim Helmke Speciosa illa quoque Romana fides – Römische Herrschaftsideologie und Vertrauen in der Krise bei Valerius Maximus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Markus Kersten Vertrauen und Verbrechen. Die fides in der Tradition der römischen Epik

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Philipp Brockkötter Auctoritate omnibus praestiti? Generalisiertes Vertrauen und seine Krisen im frühen Prinzipat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Teil II: „ Vertrauen auf dem Prüfstand und Skalierungen der Vertrauenserosion“ Christopher Degelmann Gerüchte, Ruf und Vertrauen im Athen des 5. Jahrhunderts v. Chr. . . . . . . . . 131 Stefan Fraß Ein Herrschaftsdiskurs in 1 Sam 8 als Indikator einer politischen Vertrauenskrise? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Karen Piepenbrink Zur Artikulation von Misstrauen in der öffentlichen Rhetorik der attischen Demokratie und der späten römischen Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175

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Inhalt

Frank Görne Dem Volkstribunen vertrauen. Das tribunizische Veto im ‚Interesse‘ anderer Akteure in der mittleren Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Fabian Knopf Iugurthinisches Geld, Korruption und Marius’ erster Consulat – Eine Vertrauenskrise zwischen Plebs und Nobilität am Ende des 2. Jahrhunderts v. Chr. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Jan Timmer Erwartung und Enttäuschung in der späten römischen Republik . . . . . . . . . . 229 Katarina Nebelin Der Marsch auf Rom und die politischen Vertrauensverlagerungen in der späten Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Ulrich Lambrecht Apparitor fidus? Die Vertrauensfrage im Verhältnis zwischen Iulian und Constantius II. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Teil III: „Vertrauensverlust als Herausforderung“ Sven-Philipp Brandt Der oligarchische Verfassungsumsturz 411 v. Chr. und die Frage nach der Abhängigkeit Athens vom laurischen Silber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Isabelle Künzer Die Selbsttötung als Kampfansage an das Vertrauen – Praktiken der Kontingenzbewältigung und der Restabilisierung verlorenen Vertrauens im antiken Griechenland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Karl Matthias Schmidt Vertrauen dank Vertreibung. Annäherungen an den Anlass des zweiten claudischen Judenediktes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 Babett Edelmann-Singer Neros Machtverlust im Spannungsverhältnis von fides und parricidium . . . . 413 Philipp Brockkötter/Stefan Fraß Vertrauen und Vertrauensverlust in antiken Gesellschaften – Abschließende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447

Vertrauen und Vertrauensverlust in antiken Gesellschaften – Einleitende Bemerkungen Frank Görne/Isabelle Künzer „Hören wir auf mit der medialen und wissenschaftlichen Augenwischerei, die von Vertrauen spricht, aber es gar nicht erfassen, geschweige denn messen und vergleichen kann.“1 Mit diesen klaren Worten hat Ute Frevert die Vertrauensthematik in den Bereich der durch ihre konjunkturelle Reflexion entwerteten wissenschaftlichen Formelwörter eingeordnet.2 Es stellt sich daher die Frage, ob man Vertrauen und dessen Absenz für Gesellschaften der Vergangenheit überhaupt untersuchen kann. Sollte Ute Frevert mit ihrer Einschätzung richtig liegen, fügt sich die Kategorie des Vertrauens in eine ganze Reihe von Begriffen und damit zusammenhängenden Konzepten ein, die für die Forschung zunächst verheißungsvoll klingen, dann jedoch einen ebenso rasanten Auf- wie Abstieg erlebten. Aber wie sieht dies nun mit dem Terminus „Vertrauen“ wirklich aus? Allenthalben ist von Vertrauen und seinen wie auch immer gearteten krisenhaften Erscheinungen die Rede. Vertrauen und seine Derivate wie Surrogate mutierten gleichsam zu Floskeln sowohl im Bereich der persönlich-individuellen Lebensgestaltung als auch des gesellschaftlichen Zusammenlebens allgemein. Gleiches gilt für Politik und Ökonomie. Es scheint keine Lebenssphäre mehr zu geben, für die Vertrauen nicht von eminenter Bedeutung ist. Doch gerade dieser Befund sollte einer Wissenschaft, die sich über einen engen Konnex zur Gesellschaft definiert, Anregung genug für eine Diskussion dieses so vielfältigen Phänomens bieten. Eine wissenschaftlich, aber vor allem auch heuristisch gewinnbringende und weiterführende Analyse erscheint unter diesen Bedingungen erst recht notwendig. Vertrauen ist dabei als metahistorisches Phänomen in gesellschaftlichen Systemen der Vergangenheit und der Gegenwart relevant und wird es gewiss auch in Zukunft bleiben.3 Vor dem Hintergrund erscheint es sinnvoll, das Thema mit einem Beispiel zu eröffnen, das über die Grenzen der Altertumswissenschaften hinaus bekannt ist. In der Vertrauensforschung erscheint die Episode rund um das Trojanische Pferd geradezu als Paradigma für fraglos gegebenes Vertrauen sowie dessen gezieltes und überlegtes Unterminieren.4

1 Frevert 2014, S. 46. 2 Ähnlich Endreß 2010a, S. 29; ders. 2010b, S. 94; ferner Frevert 2003, S. 27; dies. 2014, S. 31 f. 3 Bereits Frevert 2003, S. 66, konstatierte, Vertrauen sei ein zeitlich übergreifendes Phänomen, das in seiner Existenz und Wichtigkeit nicht allein auf moderne Gesellschaften beschränkt werden dürfe. 4 Vgl. zum Beispiel Frevert 2003, S. 10 f.; Endreß 2010b, S. 91 Anm. 2.

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1. „Vertraut nicht dem Pferd, Teukrer […]“ (Verg. Aen. 2,48) – Ein Prüfstein für die Bedeutung von Vertrauensvorstellungen in antiken Gemeinwesen Bekanntlich gelang es dem Mythos zufolge den Griechen erst nach zehnjähriger Belagerung und dank einer List des Odysseus, die Stadt Troja zu erobern. Eine kurze Schilderung der Szene aus griechischer Sicht findet sich im achten Buch der Odyssee Homers.5 Die Griechen hinterließen nach einem vorgetäuschten Rückzug vor den Mauern Trojas ein hölzernes Pferd, das sie als δόλος (lat. dolus), also als Trugmittel, errichtet hatten. In seinem Bauch hielt sich eine kleine Zahl Heroen versteckt, die hoffte, die Trojaner würden das Pferd in die Stadt bringen, so dass sie in der Nacht deren Tore für die Griechen öffnen könnte. Die Trojaner holten es tatsächlich in die Stadt und berieten darüber, ob man es zerstören oder als Weihgeschenk behalten solle. Sie entschieden sich für die zweite Option und damit unbewusst für den Untergang der Stadt. Deutlich umfangreicher und für das Thema des vorliegenden Bandes bedeutsamer ist die Schilderung in Vergils Aeneis, die in wichtigen Punkten von Homers Version abweicht.6 In ihr wird der Blickwinkel der Getäuschten eingenommen. Dabei bemühen sich der Dichter und sein Bericht erstattender trojanischer Heros Aeneas, das Gelingen der Tat, seine Ursachen und Hintergründe plausibel zu machen. Die Erzählung wird im Wesentlichen vom Trojaner Laokoon und dem Griechen Sinon getragen – also von zwei Figuren, die in der nachhomerischen Tradition des Troja-Mythos erstmals Erwähnung finden und die vermutlich erst von Vergil in einen engen Zusammenhang gebracht worden sind.7 Sie erscheinen als Gegensatzpaar: auf der einen Seite der Neptun-Priester Laokoon, der energisch und kraftvoll auftritt, und auf der anderen Seite der methodisch und vorsichtig vorgehende Sinon. Dabei verliert der Mahner Laokoon, der das drohende Unglück erahnt, das Vertrauen seiner Mitbürger, stattdessen erlangt dieses fatalerweise der Grieche, dessen Absicht es ist, den dolus, also eine Täuschung und damit letztlich auch eine Enttäuschung gewährten Vertrauens, zum Erfolg zu bringen. Anders als bei der homerischen Version, in der es um das Ergebnis des für Odysseus ruhmreichen δόλος geht, steht bei Vergil die Entscheidungssituation selbst im Fokus. Die Menge (vulgus) der Trojaner sei, so Aeneas, beim Fund des Pferdes hinsichtlich seiner Bedeutung und Behandlung gespalten gewesen.8 Zwei Vermutungen seien zu diesem Zeitpunkt aufgekommen. Zum einen sei man von einer Heimkehr der Griechen nach Mykene ausgegangen, obwohl sich diese tatsächlich bei Tenedos 5 Hom. Od. 8,492–513. 6 Verg. Aen. 2,1–267. Zu den Abweichungen vgl. Binder 2019, S. 100 f. 7 Zur vorvergilischen Verwendung des Laokoon und des Sinon vgl. unter anderem Austin 1959, S. 18 f.; Gransden 1985, S. 60–63; Manuwald 1985, S. 183–188; Tracy 1987; Horsfall 2008, S. 82 f., 93 f.; Most 2010; Binder 2019, S. 105. 8 Verg. Aen. 2,31–39.

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versteckt gehalten hätten.9 Zum anderen habe es das Gerücht (fama) gegeben, das Pferd sei ein Weihgeschenk für ebendiese Rückfahrt.10 Während der eine Teil bereits zu diesem Zeitpunkt der Auffindung des Pferdes dafür eingetreten sei, dieses in die Stadt zu bringen,11 sei der andere Teil misstrauisch geblieben und habe das Pferd untersuchen oder gar zerstören wollen.12 In diesem kritischen Moment lässt Vergil im Bericht des Aeneas den Neptun-Priester Laokoon mit großem Gefolge auftreten und ihn sich mit einer kurzen und nachdrücklich vorgetragenen Warnung auf die Seite der Misstrauenden stellen.13 Laokoon habe auf den Listenreichtum des Odysseus sowie die Feindschaft mit den Griechen hingewiesen, in dem vermeintlichen Geschenk ein griechisches Trugmittel erkannt und sogar korrekt gemutmaßt, dass sich in dem Bauch des Pferdes Griechen verstecken könnten.14 Nach dem Appell, dem Pferd nicht zu vertrauen (equo ne credite, Teucri),15 habe er schließlich seine Lanze auf das Gebilde geworfen.16 An dieser Stelle mochte sich der römische Leser fragen, wie es trotz richtigen Ratschlags des offenkundig angesehenen Laokoon möglich sein konnte, dass die Trojaner dennoch falsch entschieden. Hier kommt nun Sinon – ein gefangengenommener Grieche – ins Spiel, der sich jedoch aus freien Stücken gestellt habe und vor König Priamos geführt worden sei.17 In der Befragung sei es Sinon mit einer ausgefeilten rhetorischen Strategie gelungen, sich das Vertrauen der Trojaner zu erschleichen.18 Aeneas zufolge seien die arglosen Trojaner mit einer solchen Hinterhältigkeit, wie sie Sinon bewies,

9 Verg. Aen. 2,31–34; zum Versteck der Griechen auf Tenedos vgl. Verg. Aen. 2,21–25. 10 Verg. Aen. 2,17. Zum Zusammenhang von Gerüchten und Vertrauensfragen vgl. auch den Beitrag von Christopher Degelmann im vorliegenden Band. 11 Verg. Aen. 2,32–34. 12 Signifikant ist, dass hier das sich im Nachhinein als sinnvoll erweisende Misstrauen gleichsam proleptisch mit Klugheit assoziiert wird; vgl. Verg. Aen. 2,35–38. 13 Der römische Leser mochte hier an den Auftritt von Senatoren denken, den hauptberuflichen Ratgebern der res publica, die ebenfalls in Begleitung aufs Forum zogen. Hinzu kommt, dass die Rede durchaus Züge altrepublikanischer Rhetorik trägt. Vgl. dazu Lynch 1980, S. 172–174, der Laokoons Warnung mit der Redekunst des älteren Cato in Verbindung bringt. 14 Verg. Aen. 2,43–48. 15 Verg. Aen. 2,48. Geradezu zum geflügelten Wort ist die sich an diese Warnung anschließende Bemerkung des Laokoon vom Danaergeschenk geworden, das auf den Bruch etablierter Vertrauensroutinen und Verhaltenserwartungen abzielt; vgl. Verg. Aen. 2,49 (Übers. Binder/Binder): „Was immer es sei, ich fürchte die Danaer, auch wenn sie Geschenke machen.“ (quidquid id est, timeo Danaos et dona ferentis). Zur Bedeutung von Vertrauensroutinen vgl. die weiteren Ausführungen in dieser Einleitung sowie Möllering 2006, S. 51–76; Endreß 2002, S. 68–72, und ders. 2010a, S. 33. 16 Verg. Aen. 2,50–53. 17 Verg. Aen. 2,57–66. 18 Verg. Aen. 2,69–72, 77–104, 108–144. Zu den rhetorischen Elementen der Rede vgl. Binder 2019, S. 109 f., sowie Lynch 1980. Treffend bringt diesen Vertrauenserwerb Austin 1959, S. 19, auf den Punkt: „Sinon plays upon all his captors’ emotions, leading them from jeering to curiosity, from curiosity to kindness and pity, from pity to trust. And how credulous they were!“ Zum Verhalten des Sinon vgl. auch Anm. 48 f. im Beitrag von Markus Kersten.

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nicht vertraut gewesen.19 Er habe sich als Exilant ausgegeben, der aufgrund der List seines Feindes Odysseus beinahe von den Griechen geopfert worden sei. Die Ursache der Feindschaft sei die Blutsverwandtschaft zu Palamedes gewesen. Dieser habe sich einst gegen den Krieg mit den Trojanern ausgesprochen, so die von Sinon ins Spiel gebrachte fama, und sein Leben infolge einer Intrige des Odysseus verloren.20 In seinem Narrativ ist Sinon also nicht nur ein Geflüchteter, der nun allgemein mit den anderen Griechen verfeindet sei, sondern er ist auch just mit dem Mann verfeindet, der von dem misstrauischen Teil der Trojaner wohl am meisten gefürchtet wird, wie es die explizite Erwähnung des Odysseus durch Laokoon in Verg. Aen. 2,44 nahelegt. Dazu angehalten, die weiteren Geschehnisse aus dem Lager der Griechen zu erläutern, habe Sinon behauptet, die Griechen hätten aus Kriegsmüdigkeit beabsichtigt, heimzukehren, seien aber von ungünstigen Winden an der Abreise gehindert worden, die nach einem Orakelspruch Apollons nur durch ein Menschenopfer zu beruhigen gewesen wären. Von Odysseus angestiftet, habe der Seher Kalchas wiederum nach langem Zögern Sinons Namen genannt und dieser sich dem für ihn vorgesehenen Schicksal der Opferung durch Flucht entzogen.21 Der Erzählung Vergils zufolge ist es also gerade Sinon, dessen fides die Griechen verraten hätten, weshalb dieser nun selbst erfolgreich an die fides des Priamos appellieren kann.22 Der König habe daraufhin vor den Augen der Umstehenden angeordnet, Sinon die Fesseln abzunehmen, und diesen daraufhin in die Mitte der Trojaner aufgenommen.23 Bezeichnend für das geradezu bedingungslose Vertrauen, das sich Sinon inzwischen erschlichen hat, ist in diesem Zusammenhang die Bemerkung des Priamos: „Wer du auch bist, vergiss von jetzt an die dir verlorenen Griechen – du wirst einer der Unseren sein!“24 Von Priamos sodann nach dem Ursprung und der Bedeutung des Pferdes befragt, das Sinon selbst zuvor nur beiläufig erwähnt hatte, habe er sich selbst von dem möglichen Vorwurf freigesprochen, er verrate durch seine folgende Erklärung die Gesetze seiner Heimat, weil er an diese ja nun nicht mehr gebunden sei.25 Im Folgenden bringt Sinon den Raub des Palladiums der Göttin Minerva durch die Griechen mit dem bereits existierenden Gerücht in Verbindung, das Pferd sei ein Weihgeschenk an ebendiese Göttin. Mit der Unterstützung der auf diese Weise versöhnten Göttin hätten die Griechen geplant, zunächst heim- und dann gestärkt wieder zurückzukehren. Laut der Prophezeiung des Kalchas dürfe das Pferd aber 19 Zu diesem Problem eines auf mangelnder Erfahrung beruhenden Vertrauens vgl. Verg. Aen. 2,105 f. 20 Zur vermeintlichen Heimatlosigkeit des Sinon vgl. Verg. Aen. 2,69–72; zu den Hintergründen der Feindschaft mit Odysseus vgl. Verg. Aen. 2,81–100. 21 Vgl. Verg. Aen. 2,105–140. 22 Verg. Aen. 2,141–144. 23 Verg. Aen. 2,145–149. 24 Verg. Aen. 2,148 f. (Übers. Binder/Binder): quisquis es, amissos hinc iam obliviscere Graios: | noster eris. 25 Verg. Aen. 2,157–159. Zu den Fragen, auf die sich Priamos durch Sinon Antworten erhofft, vgl. Verg. Aen. 2,150 f.

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nicht in die Stadt gelangen, da sonst die Trojaner den Krieg gewännen. Sollten diese jedoch nach dem Fund des Pferdes das Weihgeschenk vernichten, werde diese Zerstörung für die Trojaner schädlich sein.26 In Sinons Narration wird also die Handlungsoption, auf der der misstrauische Teil der Gemeinschaft zuvor insistiert hatte und die von Laokoon mit Nachdruck gefordert worden ist, zur eigentlichen Gefahr für die Trojaner. Die Trojaner hätten daraufhin schließlich seiner Lügengeschichte Glauben geschenkt.27 Zusätzliche Glaubwürdigkeit habe die Erklärung Sinons durch die Episode des im Anschluss von Schlangen getöteten Laokoon erhalten. Über das Meer von Tenedos her seien zwei Schlangen herangekommen und hätten den Priester sowie seine beiden Söhne während eines Stieropfers am Neptun-Altar getötet. Danach hätten sie Schutz unter dem Schild des Kultbildes der Minerva gesucht, und die Trojaner hätten diesen Vorfall irrigerweise als Zeichen für den Frevel des Laokoon gedeutet, der mit seinem Lanzenwurf das angebliche Weihgeschenk an Minerva entweiht hätte.28 Daraufhin hätten die Trojaner die Mauern an einer Stelle eingerissen und das hölzerne Pferd so in die Stadt geschafft, da es für die Stadttore zu groß gewesen sei.29 Dabei seien die Warnungen der Kassandra ungehört geblieben. Die Griechen, die sich im Bauch des Pferdes verborgen hätten, seien dann wiederum in der Nacht von Sinon befreit worden.30 Auf den ersten Blick mag es dem Leser Vergils nach dieser Ereignisfolge nachvollziehbar erscheinen, weshalb die Trojaner das vermeintliche Prodigium31 des von Schlangen getöteten Laokoon in dieser mutmaßlich folgerichtigen Weise auslegten und sich dadurch für ihren eigenen Untergang entschieden.32 Allerdings gibt es Inkonsistenzen in der Geschichte Sinons, die den Trojanern hätten auffallen müssen, wenn sie aufmerksamer gewesen wären.33 So gibt dieser zwei einander widersprechende Gründe an, warum die Griechen aufgebrochen seien. Anfangs ist es die Kriegsmüdigkeit, später aber das Gegenteil, denn sie hätten angeblich geplant, nach dem Einholen der omina in Argos wiederzukehren.34 Auch liefert Sinon keine 26 Verg. Aen. 2,162–194. Zum hölzernen Pferd als einem mutmaßlichen Geschenk für Minerva vgl. Verg. Aen. 2,17. 27 Verg. Aen. 2,195 f. 28 Verg. Aen. 2,199–233; explizit zum Vorwurf gegen Laokoon vgl. Verg. Aen. 2,228–231. 29 Diese Episode ist als paralleles Geschehen von Giovanni Battista Fontana in seinem „Tod des Laokoon und Trojanisches Pferd“ betitelten Kupferstich, der das Cover dieses Sammelbandes ziert, eindrücklich ins Bild gesetzt worden; G. B. Fontana: Tod des Laokoon und Trojanisches Pferd, Kupferstich, 30 cm × 44 cm, 1560–1579; British Museum, London, Inv. 1862,0712.495. 30 Verg. Aen. 2,234–264. Zu den mahnenden Worten der Kassandra vgl. Verg. Aen. 2,246 f. 31 Dass sich Vergil bei der Gestaltung der Episode intensiv der Sprache des römischen Prodigien­ wesens bediente, hat Kleinknecht 1944 gezeigt. 32 „Sinon’s tale must be at once fantasy (as the basic ‚facts‘ of the plot require) and altogether credible, to Aen. and to us […]”; Horsfall 2008, S. 128. 33 Auf die Inkonsistenzen ist in der Forschung häufig hingewiesen worden; vgl. unter anderem Gransden 1985, S. 64; Manuwald 1985, S. 196–203; Molyneux 1986; Hexter 1990, S. 110–117; Horsfall 2008, S. 154 f. 34 Verg. Aen. 2,108–109, 176–182; vgl. ferner Manuwald 1985, S. 192.

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Erklärung dafür, dass die Griechen zwar nicht ohne Menschenopfer heimfahren könnten, aber nach seiner Flucht trotzdem abgefahren seien.35 Wieso kann Kalchas einerseits auf Anweisung des Odysseus einen Orakelspruch manipulieren, andererseits aber als zuverlässiger Gewährsmann für den Willen der Göttin Minerva gelten – mit anderen Worten: wieso sollte man als Trojaner dem Spruch eines korrumpierbaren Sehers vertrauen?36 Hinzu kommt, dass ausgerechnet in dem Moment, als die Trojaner das Pferd finden, dessen Bedeutung unklar ist, sich ein vermeintlicher Überläufer der Feinde freiwillig stellt und den Trojanern eine Erklärung liefert. Darüber hinaus bleibt Sinon bezüglich seiner Person so vage wie möglich.37 Priamos spricht Sinons unklare Herkunft sogar an, allerdings ist diese gerade kein Anlass für Skepsis oder Misstrauen gegenüber dem vermeintlichen Deserteur. Vielmehr nimmt der trojanische König den angeblich fahnenflüchtigen Sinon gerade trotzdem in die Bürgerschaft der Trojaner auf und wischt gleichsam mit einer Amnestie sämtliche denkbaren Zweifel beiseite.38 Derartige „Leerstellen“, die Sinon in seiner Rede ließ und die erst bei genauem Hinschauen auffallen, wurden von den Trojanern selbst geschlossen und zu einem plausiblen Narrativ zusammengesetzt.39 Dies begünstigte indes die Fehldeutung des Prodigiums und schließlich die Fehlentscheidung. Genau dieses Schließen von möglichen Leerstellen kann aber durch Vertrauen bewirkt werden. Denn Vertrauen führt zur „Reduktion von Komplexität“40, weil der Vertrauende nicht jede Information nachprüft, die ihm von der Vertrauensperson gegeben wird. Erst mit einsetzendem Vertrauensverlust beginnt er, zu analysieren und gegebenenfalls kritisch zu hinterfragen – besonders dann, wenn er bereits misstraut. Freunden, Mitbürgern, Experten oder Institutionen wird ohne Bedenken vertraut, wenn davon ausgegangen wird, dass von ihnen kein Schaden droht und dass diese das Beste für den Vertrauenden im Sinn haben.41 Sinon hat in seiner Rede alles dafür getan, dass er genau diesen Eindruck gegenüber Priamos und den Trojanern erweckt. Er überlässt seinen Hörern die Entscheidung, ihm zu vertrauen, und drängt sich nicht auf; dreimal lässt er sich um eine Stellungnahme bitten.42 Er konstruiert eine Schicksalsgemeinschaft mit Palamedes, dem vermeintlichen Trojanerfreund, und bringt sich als angeblichen Feind des Odysseus in maximalen Gegensatz zu der Person, der von den Trojanern am meisten misstraut wird.43 Dabei erscheint sein Handeln in 35 36 37 38 39 40 41

Verg. Aen. 2,115–140; Hexter 1990, S. 115. Verg. Aen. 2,115–129, 182–188. Verg. Aen. 2,78, 85–100. Verg. Aen. 2,148 f. Hexter 1990, S. 111–117. Luhmann 2014, S. 8 f. Zum Vertrauen gegenüber diesen Instanzen und zur Frage, inwiefern diesen zu vertrauen ist, vgl. Offe 2001. 42 Verg. Aen. 2,73–75, 105 f., 145–147. 43 Mit Hilfe einer ähnlichen Argumentationsstrategie, die auf Vertrauenserwerb durch Vergemeinschaftung und zugleich Abgrenzung nach außen setzte, versuchte Kaiser Claudius, das Vertrauen in seine Herrschaft zu stabilisieren, indem er auf bereits bestehendes Misstrauen gegenüber fremden Kulten rekurrierte; vgl. konkret den Beitrag von Karl Matthias Schmidt in diesem Band.

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den Augen der Trojaner als tugendhaft und mitleidswürdig.44 Sinon spielt sogar mit einem möglicherweise gegenüber seiner Person begründeten Misstrauen – schließlich stand er einst auf Seiten der Feinde, und diesen misstraut man selbstverständlich –, um dadurch umso nachhaltiger die Vertrauensbereitschaft der Trojaner zu erlangen.45 Mit der Aufnahme in die Bürgerschaft hat Sinon schließlich sein Ziel erreicht, und seine möglichen Absichten werden spätestens jetzt nicht mehr ausreichend überprüft. Letztlich baut er Vertrauen nur zu dem Zwecke auf, dieses gezielt missbrauchen zu können. Denn Sinon ist eine Person, der die Trojaner nicht hätten trauen dürfen. Der Leser, dessen „Mehrwissen“46 von Vergil immer wieder durch entsprechende Hinweise gesichert wird, kann mitverfolgen, wie die Trojaner die Warnsignale überhören. Sinon selbst spricht es an: „Wenn Fortuna schon einen unglücklichen Menschen aus Sinon gemacht hat, so wird die Unverschämte ihn nicht noch zum Windbeutel und Lügner machen.“47 Die Göttin hat ihm kein schlimmes Schicksal beschert, denn dieses ist erfunden, folglich muss sie ihn nicht zum Lügner machen, er ist es bereits.48 Er schafft schließlich mit seiner Rede die Voraussetzung für die Fehldeutung des Prodigiums durch die Trojaner. Laokoon hatte im Gegensatz zu Sinon das Beste für die trojanische Gemeinschaft im Sinn und den dolus der Griechen korrekt erahnt. Aber mit seinem Lanzenwurf gegen das hölzerne Pferd – einem Verhalten, mit dem er möglicherweise auch aufgrund seiner Autorität die Debatte beendet hätte,49 wenn Sinon nicht erschienen wäre –, erschütterte er im Nachgang das Vertrauen in seine Person. Statt die Gegenseite für seine Position zu gewinnen, griff Laokoon der Entscheidung in gewisser Weise vor, denn bereits vor Sinons Auftritt hielt ein Teil der Trojaner das Gebilde für ein Weihgeschenk.50 Im Nachgang erscheint seine Tötung durch die Schlangen als Rache der Göttin Minerva und seine Handlung als gemeinschaftsgefährdend.51 Ohne sein voreiliges Handeln wäre diese Missdeutung durch seine trojanischen Mitbürger hingegen nicht möglich gewesen. Schließlich kamen die Schlangen von der Insel Tenedos her, wo sich die Griechen versteckt hielten, und suchten wie diese Schutz (für ihren dolus) bei der Göttin Minerva.52 Aber mit der gefährlichen Vertrauensverlagerung von Laokoon zu Sinon blieb diese Deutung den Trojanern ver44 45 46 47 48

49 50 51 52

Verg. Aen. 2,145; dazu Binder 2019, S. 109 f. Verg. Aen. 2,101–103. Manuwald 1985, S. 188. Verg. Aen. 2,79 f. (Übers. Binder/Binder): nec, si miserum Fortuna Sinonem | finxit, vanum etiam mendacemque improba finget. Vor diesem Hintergrund ist die Bedeutung des Namens Sinon interessant. Es lassen sich etymologische Ähnlichkeiten sowohl zu dem griechischen Verbum σίνεσθαι (schaden, verletzen) als auch zu dem lateinischen Verb sinuare (krümmen) und dem Nomen sinus (Biegung, Bogen) ausmachen – Die lateinischen Wörter können außerdem mit dem Verhalten von Schlangen in Verbindung gebracht werden. Vgl. Campbell 2017, S. 11, 15. Hexter 1990, S. 113 bezeichnet Sinon aufgrund der Konzeption seiner Rede durch Vergil sogar als „Mr. If Not“ (si … non). Vgl. Austin 1959, S. 18. Verg. Aen. 2,31 f. Verg. Aen. 2, 229–231. Verg. Aen. 2,203–205, 225–227.

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borgen. Dazu hätten sie sein Verhalten, seine Erzählung und den gesamten Gang der Ereignisse intensiver und gezielter überprüfen und hinterfragen müssen. Wer das in ihn gesetzte Vertrauen auf solch offenkundige Weise wie Sinon ausnutzt, dem wird allerdings künftig in der Regel mit Misstrauen oder anderen Surrogaten für das nicht mehr vorhandene Vertrauen begegnet und er kann lediglich darauf hoffen, das Vertrauen mühsam zurückzugewinnen.53 Dem Griechen Sinon, der das in ihn gesetzte Vertrauen massiv missbraucht hatte, konnte dieser Gedanke letzten Endes egal sein. Die Trojaner gingen unter. Aber mit Aeneas überlebte ein trojanischer Heros, der von dem Vertrauensmissbrauch berichten konnte54 und dessen Nachkommen in römischer Vorstellung eines Tages Griechenland erobern sollten, wie es zum Abschluss der Rede Sinons auch angedeutet wird.55

2. Vertrauen und seine Spezifik Das Beispiel zeigt eindrücklich, dass antike Gesellschaften als Lebenswelten betrachtet werden müssen, die sowohl auf der konkreten Handlungsebene als auch im Bereich kursierender Diskurse und Narrative maßgeblich mit Vertrauensfragen konfrontiert wurden. Zwar ist der altertumswissenschaftlichen Forschung dieser Umstand nicht verborgen geblieben, aber die Untersuchungen beschränken sich bisher auf einzelne Epochen oder Fallbeispiele.56 Ziel des vorliegenden Sammelbandes ist es daher, die Kategorie des Vertrauens in einem breiteren Kontext zu verwenden, sie dabei in systematischer Weise für die Analyse antiker Gesellschaften heuristisch nutzbar zu machen und auf diesem Wege einen Beitrag dazu zu leisten, antike Lebenswelten besser zu verstehen. Dabei soll keine „‚Realgeschichte‘ des Vertrauens“57 geschrieben werden, sondern anhand einzelner Aufsätze, die gleichsam als Sondagen zu begreifen sind, ein Panorama dieses Phänomens entfaltet werden, das in seiner Gesamtschau die historische Semantik und Bedeutungstiefe von Vertrauensfragen für antike Gesellschaften zu erfassen vermag. So leicht wie sich von Vertrauen und seiner Relevanz für die menschliche Interaktion sprechen lässt, so komplex ist freilich seine Analyse. Dies dürfte nicht zuletzt daran liegen, dass Vertrauen ein überaus vielschichtiges Phänomen darstellt, das in seinem Sinngehalt und seiner Bedeutsamkeit nur schwer zu erfassen ist.58 Situ53 Zu diesem Phänomen und dem Problem, erodiertem Vertrauen mit Hilfe anderer Instrumente oder Verhaltensweisen entgegenzuwirken, vgl. die weiteren Ausführungen im Rahmen dieser Einleitung sowie den Beitrag von Jan Timmer in diesem Sammelband; vgl. ferner Luhmann 2014, S. 92–102; Endreß 2010a, S. 31, 38; Gambetta 2001, S. 214–217; Sztompka 1995, S. 261 f., 268. 54 Verg. Aen. 2,65 f.: „So höre nun von der Tücke der Danaer, und an der einen Schandtat lerne sie alle kennen.“ (accipe nunc Danaum insidias et crimine ab uno | disce omnis; Übers. Binder/ Binder). 55 Verg. Aen. 2,193 f. 56 Für einen Forschungsüberblick zu diesem Themenfeld vgl. Timmer 2017, S. 25–27. 57 Frevert 2014, S. 46. 58 Endreß 2002, S. 11.

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ationen, in denen Vertrauen nicht mehr vorhanden ist oder aber sukzessive verloren geht, erscheinen als prekär, wie leicht nachvollziehbar ist. Aber was einen Vertrauensverlust wirklich auszeichnet, wie es zur Erosion einer zuvor als zentral und wichtig verstandenen Ressource kommt – oder anders gesagt: die Prozesslogik und Genese des Vertrauensverlustes –, ist alles andere als evident, und in der Forschung stellen Untersuchungen zu diesem Themenspektrum Ausnahmen dar.59 Die in den letzten Jahren im Hinblick auf aktuelle Zeitereignisse mehr und mehr inflationäre Verwendung des Vertrauensbegriffs ist gewiss auch mitverantwortlich dafür, dass man in den Geistes- und Sozialwissenschaften weit davon entfernt ist, zu einem einheitlichen Begriffsverständnis zu gelangen. Aus diesem Grunde wird der theoretische Rahmen in dieser Einleitung auch nicht mehr als erforderlich entfaltet. Genauso wenig liegt den Einzelbeiträgen ein einheitliches Konzept oder eine gemeinsame Begriffsdefinition von Vertrauen zu Grunde. Die Beiträge beleuchten stattdessen aus unterschiedlichen theoretischen und konzeptionellen Perspektiven die Relevanz von Vertrauen sowie die situationsspezifischen Spielregeln von Vertrauensrelationen oder aber die Prozesslogik des Vertrauensverlustes und dessen Konsequenzen. Die Komplexität des Vertrauensphänomens spiegelt sich somit auch in der Vielfalt der methodischen Ansätze und Zugänge zur Thematik wider. Die Bedeutung wie auch die Funktion von Vertrauen für das menschliche Zusammenleben und die Organisation von Individuen in der Welt erscheinen jedermann sofort einsichtig und wohl kaum erklärungsbedürftig. Vertrauen kann geradezu als eine Grundlage gesellschaftlicher Interaktion und Kooperation verstanden werden.60 Dennoch erscheint es sinnvoll, von dieser augenscheinlichen Banalität zu abstrahieren, um verständlich zu machen, welche strukturellen Gegebenheiten und Parameter Vertrauensbeziehungen als solche prägen. Auf dieser Grundlage wird deutlich werden, weshalb Vertrauen als gesellschaftliches Schmiermittel von solcher Wichtigkeit ist. Daher lohnt ein kurzer Blick in die soziologische Vertrauensforschung, die überaus reichhaltig ist und hier nur so weit berücksichtigt wird, wie es für die mit diesem Sammelband verbundenen Anliegen unmittelbar notwendig ist.61 Die folgenden Ausführungen sind aus Gründen gebotener Knappheit auf personales Vertrauen bezogen, können allerdings ebenfalls auf die Kategorie des Systemvertrauens übertragen werden, da jegliche Form von Vertrauen in der Regel Personen und ihrem Handeln entgegengebracht wird. Vertraut man dem System oder bestimmten Institutionen, so vertraut man letztlich Akteuren, die spezifische Funktionen innerhalb dieses Gefüges wahrnehmen.62 59 Vgl. zum Beispiel Endreß 2010a. 60 Offe 2001, S. 245; Endreß 2002, S. 26; Luhmann 2014, S. 1. 61 Für einen Überblick zu theoretischen Ansätzen der Vertrauensforschung vgl. Timmer 2017, S. 14 f.; für Vertrauen als Forschungsparadigma in der Geschichtswissenschaft vgl. ebd., S. 22–27. 62 Zu den beiden Ebenen des Vertrauens vgl. Offe 2001, S. 245; zur Bindung von Vertrauensphänomenen an persönliche Beziehungen vgl. Frevert 2003, S. 216–220. Zum Begriff des Systemvertrauens vgl. Luhmann 2014, S. 64–79; zur Frage nach dem Vertrauen in unterschied-

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Niklas Luhmann schreibt dem Vertrauen die Funktion einer „unerlässlichen Orientierungsvereinfachung[…]“ zu:63 Es ist unmöglich, jegliches Verhalten oder sämtliche Erwartungen anderer Personen zu hinterfragen. Man muss anderen – Individuen wie auch gesellschaftlichen Systemen – vertrauen. Obwohl man darum weiß, dass die betreffenden Personen auch anders handeln könnten, muss man immer wieder in unterschiedlichen Situationen anderen Akteuren und deren Kooperationsbereitschaft oder Wohlwollen Vertrauen entgegenbringen.64 Vertrauen leistet also die Reduktion von sozialer Komplexität, ermöglicht Kooperation und erlaubt damit Kontingenzbewältigung, indem es Erwartungssicherheit produziert oder fingiert.65 Dabei erscheint Vertrauen in der Regel als wertvoll und als überaus positiv einzuschätzendes Gut, nicht zuletzt weil Vertrauen Stabilität gewährleistet, Kalkulierbarkeit herstellt und Orientierung in der Lebenswelt verheißt.66 Vertrauen beruht in jedem Fall auf Freiwilligkeit und kann daher in der Regel nicht erzwungen werden.67 Zugleich stellt Vertrauen aber eine „riskante[…] Vorleistung“ dar.68 Vertrauen ist stets eine äußerst fragile und störanfällige Ressource.69 Es ist in der Regel nicht sicher, dass ein Vertrauensnehmer das in ihn gesetzte Vertrauen rechtfertigt, auch wenn dies der Vertrauensgeber mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit erwarten kann und der Vertrauensnehmer nicht zuletzt aus moralischen Gründen das in ihn sozusagen als Vorleistung investierte Vertrauen nicht enttäuschen sollte.70 Womöglich verliert dennoch eine Vertrauensbeziehung, die unter Umständen sogar auf bedenkenlos

63 64 65 66 67

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liche antike politische Systeme vgl. die Beiträge von Sven-Philipp Brandt, Philipp Brockkötter, Stefan Fraß und Katarina Nebelin. Zum Vertrauen in politisch maßgebliche Akteure vgl. die Aufsätze von Frank Görne und Fabian Knopf im vorliegenden Band. Luhmann 2008, S. 36. Baier 2001, S. 43; Gambetta 2001, S. 209, 212; Luhmann 2014, S. 1; Timmer 2017, S. 16. Zu einer performativen Dimension des Vertrauens in diesem Zusammenhang vgl. Frevert 2003, S. 14 f. Luhmann 2014, S. 9–39; Endreß 2002, S. 11; Sztompka 1995, S. 255; Timmer 2017, S. 19 f. Für die Ambivalenz des Vertrauens vgl. Luhmann 2014, S. 112 f.; Endreß 2012, S. 85–87; Timmer 2016, S. 36–38; ders. 2017, S. 22. Hardin 2001, S. 4 f. Zu den Grundlagen für die Ausbildung von Vertrauen vgl. Timmer 2017, S. 16–18. Dementsprechend ist auch Vergil darum bemüht, seinen Lesern zu zeigen, dass die Trojaner aus freien Stücken dem verräterischen Sinon Glauben schenkten und vertrauten; vgl. die Ausführungen dazu oben. Luhmann 2014, S. 27; ferner Offe 2001, S. 249 f. Zur Kritik an der Position Luhmanns vgl. Endreß 2001, S. 174. Luhmann 2014, S. 35 f.; Timmer 2017, S. 21; anders Hardin 2001, S. 21, 32, der nicht Vertrauen, sondern Vertrauenswürdigkeit als das relevante Gut definiert, das stets auf dem Spiel stehe. Diese Differenzierung dürfte jedoch zu weit gehen, da sich beide Aspekte nicht voneinander trennen lassen: Vertrauen ist ohne die Vertrauenswürdigkeit eines wie auch immer gearteten Gegenübers ebenso wenig denkbar wie das Anerkennen von Vertrauenswürdigkeit ohne die Bereitschaft einer Person, wirklich auch Vertrauen entgegenzubringen. Verantwortlich dafür ist, dass Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit letztlich in einer Kausalverbindung zueinander stehen und sich wechselseitig bedingen; vgl. Hardin 2001, S. 32. Sztompka 1995, S. 255 f.; Offe 2001, S. 254; Pfannkuche 2012, S. 47 f., 52; Timmer 2017, S. 252; ders. 2018, S. 19. Zum Zusammenhang von Vertrauen und Moral vgl. Offe 2001, S. 254; Pfannkuche 2012; Timmer 2017, S. 193–196, 201–203; ders. 2018, S. 88 f.; Baier 2001, S. 72–83.

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hingenommenen Vertrauensroutinen beruht, nach und nach an Tragfähigkeit.71 Eine Situation mangelnden oder aber gänzlich verlorenen Vertrauens wird zumeist mit erhöhter Komplexität und Kontingenzen, gesteigerten Transaktionskosten, erhöhten Risiken und mangelnder Berechenbarkeit in Verbindung gebracht. Es ist zu erkennen, dass Vertrauen Bezugspunkte benötigt. Auch der Prozess des Vertrauensverlustes ist im Kern immer auf Personen oder Strukturen bezogen und erweist sich damit in den Grundzügen seines Wesens als interrelationales Phänomen.72 In diesem Zusammenhang kann es aus heuristischer Sicht nicht darum gehen, das wie auch immer zu messende Quantum des Vertrauens innerhalb einer Beziehung im Nachhinein präzise zu ermitteln:73 Vertrauen ist ein Skalierungsphänomen, dessen soziokulturelle Relevanz sich in Form spezifischer Diskurse und Befunde dokumentiert.74 Somit kann die Frage nach der Quantität des Vertrauens durch Fragen nach der Qualität von Vertrauensrelationen abgelöst werden. In diesem Zusammenhang sollte man also von Graden des Vertrauens oder Nichtvertrauens auf einer Skala sprechen und nicht von der grundsätzlichen Existenz oder aber Nichtexistenz im Sinne alleiniger Ausschließlichkeiten.75

3. Vertrauen als Phänomen und seine prozessuale Transformation – Bemerkungen zur Konzeption des Bandes Der Sammelband ist in drei Teile gegliedert: Ausgehend vom Phänomen des Vertrauens in antiken Gesellschaften (Teil I: „Konzeptionen des Vertrauens“) sollen anhand geeigneter Beispiele der sukzessive Prozess des Vertrauensverlustes, die Prozesslogik der Vertrauenserosion sowie deren komplexe soziopolitische Schattierungen und Einflussfaktoren (Teil II: „Vertrauen auf dem Prüfstand und Skalierungen der Vertrauenserosion“) und schließlich auch die Reaktionen auf verlorenes Vertrauen (Teil III: „Vertrauensverlust als Herausforderung“) abgebildet und thematisch wie auch konzeptionell nachvollziehbar gemacht werden. Auf diese Weise können die Thematik sowohl punktuell-sektoral als auch längsschnittartig behandelt 71 Zum Begriff der Vertrauensroutinen vgl. Möllering 2006, S. 51–76; Endreß 2002, S. 68–72, sowie ders. 2010a, S. 33. Zu den Unterschieden zwischen verschiedenen Vertrauensformen vgl. ebd., S. 30; ders. 2010b, S. 97 f., 102, 108. 72 Luhmann 2014, S. 4; Endreß 2010b, S. 108 f. 73 Dies postuliert jedoch Frevert 2014, S. 43, 46, als eine Voraussetzung für eine wissenschaftlich fundierte Untersuchung des Vertrauens. Eine solche Prämisse zu etablieren, bedeutet im Grunde genommen die Kapitulation vor der Komplexität eines Phänomens. Gerade dadurch beraubt man sich jedoch der Option, einen näheren Zugang zu Gesellschaften zu bekommen. Es erscheint in diesem Zusammenhang daher durchaus als legitim und unvermeidlich, als Historiker mit einem gewissen Vorverständnis, das aus der eigenen Gegenwart stammt, auf die Vergangenheit zuzugreifen. 74 Gambetta 2001, S. 211, definiert Vertrauen als einen „bestimmte[n] Grad der subjektiven Wahrscheinlichkeit, mit der ein Akteur annimmt, dass eine bestimmte Handlung durch einen anderen Akteur oder eine Gruppe von Akteuren ausgeführt wird“. 75 Gambetta 2001, S. 211.

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und individuelle sowie abstrakt-allgemeine Elemente eng miteinander verwoben werden. Gerade dieser Zugriff ermöglicht es, sowohl Vertrauen und Vertrauensverlust als Phänomene typologisch zu systematisieren als auch qualitative Analysen zur längerfristigen Relevanz und soziopolitischen wie soziokulturellen Dimension individueller Erosionsprozesse von Vertrauen zu leisten. Im ersten Teil des Bandes („Konzeptionen des Vertrauens“) sollen zunächst exemplarisch grundsätzliche Vorstellungen und Leitgedanken des Vertrauens entwickelt werden.76 Mit Hilfe der hier bereitgestellten emischen Zugänge wird es leichter gemacht, in der weiteren Folge Vertrauensdefizite sowohl als Teil eines Prozesses wie auch als Phänomen insgesamt zu erfassen und in ihrer grundsätzlichen Relevanz für antike Gesellschaften zu konkretisieren. Vertrauensverlust wird nämlich in der Regel dann thematisiert, wenn sich sukzessive Skepsis an der Vertrauenswürdigkeit etabliert hat.77 Dies setzt freilich voraus, dass im Zuge einer kritischen Bewertung die jeweilige Vertrauensbeziehung gleichsam auf ihre Tragfähigkeit überprüft wurde und dieser Evaluationsprozess nicht sämtliche entstandenen Zweifel beseitigen konnte, vielmehr womöglich negative Grundannahmen über die mangelnde Vertrauenswürdigkeit bestätigte. Infolgedessen erscheint die Vertrauensbasis nicht mehr ausreichend, weil die Erwartung in das Handeln anderer sich als nicht gerechtfertigt herausstellte.78 Es ergibt sich somit ein Unterschied zwischen dem in einer bestimmten Situation tatsächlich vorhandenen Vertrauen und dem für diese konkrete Situation spezifisch erforderlichen Vertrauen.79 Erwartung und Erfahrung divergieren, woraus leicht Enttäuschung und der Abbruch von Kooperationen resultieren.80 Aus diesem Grund übernehmen in einer solchen Situation in der Regel „funktionale[…] Äquivalent[e]“, wie Misstrauen oder Skepsis, die Aufgabe der Komplexitätsreduktion, die zuvor noch durch Vertrauen als Ressource geleistet

76 Vgl. die Beiträge von Philipp Brockkötter, Sven Günther, Tim Helmke und Markus Kersten in diesem Band. 77 Vgl. beispielsweise Baier 2001, S. 42; Beckert u. a. 1998, S. 60; Endreß 2010a, S. 31; ders. 2010b, S. 105 f.; ders. 2012, S. 83; ders. 2001, S. 171, 177. In diesem Zusammenhang weist Ute Frevert darauf hin, dass Vertrauen als Phänomen einzig sprachlich festzustellen sei. Demnach sei Vertrauen nur dort fassbar, wo es zur Sprache komme; vgl. Frevert 2003, 66. Ergänzend dazu ist jedoch zu betonen, dass Vertrauen sich nicht nur in sprachlichen Diskursivierungen offenbart. Auch Praktiken können Dokumente des Vertrauens oder aber des nicht mehr vorhandenen beziehungsweise zu keiner Zeit existenten Vertrauens sein. Daher erscheint es als sinnvoll, Vertrauen als ein Kommunikations- oder Interaktionsphänomen zu fassen. Zu einer solchen interaktionsbezogenen Konzeption des Vertrauens vgl. Endreß 2001, S. 185 f. 78 Zum darauf gründenden Misstrauen Sztompka 1995, S. 260. Zur Notwendigkeit eines „kontinuierlichen Ambivalenzmanagements zwischen Vertrauen und Misstrauen“ vgl. Endreß 2012, S. 88. 79 Beckert u. a. 1998, S. 58. 80 Luhmann 2014, S. 31–64. Gestiegene Erwartungen können dabei ein Schwinden des Vertrauens forcieren; vgl. Hardin 2001, S. 34. Für Enttäuschungen als Grundlage jeden Vertrauensschwunds vgl. Endreß 2012, S. 92. Zum Umgang mit solchen Enttäuschungen am Ende der römischen Republik vgl. den Beitrag von Jan Timmer im vorliegenden Band.

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wurde.81 Gegebenenfalls führen die jeweiligen Umstände sogar dazu, dass sich dem Vertrauen diametral entgegenstehende Phänomene, wie beispielsweise Gerüchte, immer mehr Raum verschaffen82 oder aber dass sich Vertrauen auf andere Akteure verlagert.83 Diesen insgesamt hochkomplexen Vorgang sowie dessen Auswirkungen auf gesellschaftliche und politische Systeme sollen die Beiträge des zweiten Teils („Vertrauen auf dem Prüfstand und Skalierungen der Vertrauenserosion“) untersuchen. Die Vielfalt dieser Thematik schlägt sich auch in der Anzahl der Beiträge nieder, die diesem Bereich zuzuordnen sind. Die Phänomene des Vertrauens und des Vertrauensverlustes zeigen sich in durchaus unterschiedlichen Graden und qualitativen Dimensionen. Aus diesem Grund erscheint es geboten, hier von einem Skalierungsphänomen zu sprechen. Dieses heuristische Mittel kann zudem dazu beitragen, besser zu verstehen, dass „die Resilienzfähigkeit gesellschaftlicher wie interpersonaler Systeme in Fällen erodierten Vertrauens trotz unterschiedlicher Restabilisierungsbemühungen grundsätzlich mehr oder weniger intensiv beeinträchtigt wurde“.84 Ein Vertrauensverlust, der sich auf den ersten Blick als ein punktuelles Ereignis darstellt, tendiert in der Regel zu einer prozesshaften Entwicklung. Ein solcher sukzessiver Erosionsprozess zeigt sich zumeist als „Defizitdiagnose ex post“.85 Direkt involvierte Akteure können demnach also erst im Nachhinein und gleichsam aus einer Metaperspektive eine Situation als für das Vertrauen herausfordernd oder gefährdend bewerten, und erst aufgrund dieser Einschätzung wird evident, dass man zuvor ohne Bedenken und mit einer gewissen Selbstverständlichkeit vertraut hat.86 Dies setzt freilich voraus, dass erschüttertes Vertrauen oder aber Surrogate des Vertrauens expliziert wurden.87 Insgesamt erweist sich allerdings die Diagnose des Vertrauensverlustes häufig als schwierig. Wenn Kooperationen eingestellt wur81 Zu dem Erfordernis, Vertrauen mit Hilfe anderer Ressourcen zu kompensieren, vgl. Luhmann 2014, S. 92–102; das Zitat ebd. S. 92; vgl. ferner Endreß 2010a, S. 31, 38; Gambetta 2001, S. 214–217; Sztompka 1995, S. 261 f., 268. Inwiefern Misstrauen in der griechischen und der römischen Rhetorik überhaupt artikuliert werden konnte, behandelt der Aufsatz von Karen Piepenbrink im vorliegenden Band. 82 Vgl. in diesem Band den Beitrag von Christopher Degelmann, der sich ebenfalls des Verhältnisses von erodiertem Vertrauen, Misstrauen und Gerüchten annimmt. 83 Vgl. in diesem Zusammenhang die Beiträge von Katarina Nebelin und Ulrich Lambrecht. 84 Görne/Künzer 2019; ferner Luhmann 2014, S. 98; Baier 2001, S. 54; Sztompka 1995, S. 268, 272, der auf die zunehmende Akzeptanz einmal etablierter Surrogate des Vertrauens verweist. Vgl. außerdem Beckert u. a. 1998, S. 61–63, besonders S. 63: „Vertrauenserodierende Prozesse entwickeln spirale Aufschaukeleffekte: Unsicherheit führt zur Erosion von Vertrauen, dies führt zur Verstärkung der Unsicherheit usw.“ 85 Görne/Künzer 2019. 86 Besonders deutlich wird dies in der dem Aeneas von Vergil in den Mund gelegten Erzählung über den Umgang mit Sinon und dem Trojanischen Pferd; vgl. dazu die Ausführungen zu Beginn dieser Einleitung. Immanent findet sich der Aspekt einer retrospektiven Reflexion über ein erodiertes Vertrauensverhältnis auch bei Sztompka, Offe und Endreß; vgl. Sztompka 1995, S. 262; Offe 2001, S. 248; Endreß 2010b, S. 105 f.; zu Differenzierungsebenen der Vertrauenserosion vgl. ders. 2010a, S. 33 f. 87 Zu diesem Aspekt vgl. den Beitrag von Karen Piepenbrink in diesem Band.

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den und Kommunikation nicht mehr stattfand, schlug sich dies in der Regel nicht in den Quellen nieder.88 Umso wichtiger ist es, in solchen Fällen aus heuristischer Sicht zwischen Norm und Divergenz, also zwischen üblichen und erwartbaren Praktiken sowie deren konkreter, gegebenenfalls abweichender Ausprägung zu differenzieren. Auf der Grundlage solcher Indizien lassen sich Erosionsprozesse des Vertrauens konkretisieren und somit plausibel machen. Eine mögliche Vertrauenserosion musste nicht zwangsläufig immense oder gar allgemein sichtbare Auswirkungen haben, sondern konnte auf einen einzelnen Aspekt, eine individuelle Beziehung, zugleich aber auch geradezu auf globale Krisen bezogen sein. In jedem Fall geht dieser Prozess auf der zeitlichen Ebene mit einer signifikanten Veränderungsdynamik, in der räumlichen Sphäre mit grundlegenden Fremdheitserfahrungen und im gesellschaftlich-individuellen Bereich mit dem Gefühl der Verunsicherung einher.89 Verlorenes oder erodiertes Vertrauen auszumachen ist unter diesen Bedingungen zwangsläufig stets an die spezifische Sicht von und Bewertung durch Individuen gebunden.90 In diesem Zusammenhang erweist sich die Tendenziösität der erhaltenen antiken Quellen für Altertumswissenschaftler, wie so oft, als eine Herausforderung. In Form mannigfacher Erklärungsmuster instrumentalisierten antike Autoren Vertrauen, dessen Abwesenheit oder aber dessen plötzlichen wie auch allmählichen Verlust. Dabei können die Absichten der Verfasser, die historische Realität sowie deren literarische Repräsentation unter Umständen deutlich voneinander abweichen. Als Korrektiv ist man deshalb auf eine gewisse Repräsentativität der zirkulierenden Diskurse angewiesen, um eine Verwendbarkeit der Kategorie des Vertrauens und damit eine historisch fundierte Untersuchung – unabhängig vom Postulat einer rein literarischen Existenz oder aber fiktionalen Konstruktion des Phänomens – zu gewährleisten. Jedoch dokumentieren Praktiken, Rituale wie auch soziokulturelle Narrative überindividuelle Positionen und ein gleichsam für einen spezifischen Kulturkreis repräsentatives Verständnis bestimmter Phänomene.91 Das Phänomen des Vertrauensverlustes erweist sich in diesem Zusammenhang als Initiator, Motor und Katalysator für vielfältige soziopolitische Wandlungs- und Transformationsvorgänge, die von den Beiträgen des dritten Teils („Vertrauensverlust als Herausforderung“) in den Blick genommen werden. Derartige Strategien, aber auch Chancen und Perspektiven, die mit erodiertem Vertrauen verbunden sein können, unter Umständen sogar Notwendigkeiten, zu problemlösenden Entscheidungen zu gelangen, wurden auch in der soziologischen Forschung bislang

88 Vgl. zu diesem Problemkreis Timmer 2017, S. 29. 89 Endreß 2010a, S. 32 f.; ders. 2012, S. 91 f. 90 Zum Vertrauen als einem Phänomen, das auf subjektiver Wahrnehmung und Perzeption beruht, vgl. Frevert 2003, S. 66; Frevert 2014, S. 34; Pfannkuche 2012, S. 50. Fuhse 2002, S. 414, zieht aus dieser Tatsache die problematische Konsequenz, dass Vertrauen als eine Sinnstruktur zu betrachten sei, die sich nicht aus einer akteurszentrierten Sicht analysieren lasse. 91 Zu diesem Problemkreis vgl. Görne/Künzer 2019 und den Beitrag von Ulrich Lambrecht in diesem Band.

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nicht hinreichend gewürdigt.92 Nicht zuletzt in diesem Abschnitt verspricht der Tagungsband besondere Akzente zu setzen.93 Allzu häufig erscheinen nämlich der Vorgang der Vertrauenserosion und seine Auswirkungen pauschal als ein negativer Prozess. Dies dürfte gewiss auch darin begründet sein, dass den Strategien und Verfahren zur Kontingenzbewältigung und zur erneuten Etablierung von Vertrauensstrukturen nicht in jedem Fall Erfolg beschieden war und einmal entstandenes Misstrauen oder aber verlorenes Vertrauen durch positive Erfahrungen ersetzt werden mussten.94 Auch dieser thematische Bereich wird von den Aufsätzen des dritten Teiles behandelt.

4. Vorstellung der Einzelbeiträge Die Anliegen der innerhalb der Sektionen im Wesentlichen chronologisch angeordneten 16 Einzelbeiträge, die den Zeitraum vom klassischen Griechenland bis in die Spätantike abdecken, seien hier kurz umrissen. In den vier Aufsätzen des ersten Teils zu „Konzeptionen des Vertrauens“ stehen die Fragen im Vordergrund, wie Vertrauen in der antiken Literatur diskutiert wurde und auf welche Weise sich dieses im politischen Diskurs antiker Gemeinwesen widerspiegelt. Sven Günther nimmt in seinem Beitrag die Vertrauenskategorie (πίστις) im Werk des Atheners Xenophon in den Blick. Anhand aussagekräftiger Beispiele aus der Kyropädie, der Anabasis, dem Oikonomikos und anderen Schriften legt er ein konsistentes xenophontisches Ordnungsmodell dar, in dem Vertrauen eine wichtige Rolle spiele. Dessen Grundlage seien individuelle Qualitäten und Leistungen, die unabhängig von der Staatsform dafür sorgten, dass die jeweils geeignete Person oder Institution das Handeln der Gemeinschaft auf das Gemeinwohl ausrichte. Neben anderen in der Zeit der Klassik bedeutsamen politischen und philosophischen Wertvorstellungen und Handlungsmaximen sei gerade auch das Vertrauen in dieser idealen Ordnung realisiert, in der es eine ausdrücklich systemstabilisierende Funktion ausübe. Hingegen sei ein System, in dem sich Misstrauen mehr und mehr Raum verschaffe, nach Xenophon nicht auf Dauer überlebensfähig. Im folgenden Aufsatz widmet sich Tim Helmke der fides-Konzeption bei Valerius Maximus, indem er die Fokalisierung in den Narrativen der Punischen Kriege des 3. Jahrhunderts v. Chr. und der spätrepublikanischen Bürgerkriege analysiert. An der Fokalisierung zeigt er ein spezifisches Verständnis vom Wert der fides auf, das mit der Ideologie der tiberianischen Herrschaft übereinstimme. In der Erzählung von 92 Recht allgemein bleibend Sztompka 1995, S. 260. 93 Vgl. dazu die Beiträge von Sven-Philipp Brandt, Babett Edelmann-Singer, Isabelle Künzer und Karl Matthias Schmidt. 94 Zu einer möglichen moralischen Legitimität eines Vertrauensbruchs vgl. Baier 2001, S. 72–77; für Vertrauen und Misstrauen als ambivalente Phänomene vgl. Endreß 2012, S. 85–87; Timmer 2016, S. 36–38; zu den Gründen einer Persistenz verlorenen Vertrauens und den Schwierigkeiten einer Wiederherstellung vgl. auch Luhmann 2014, S. 118; Baier 2001, S. 54; Sztompka 1995, S. 272; Timmer 2017, S. 21.

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den Kriegen mit Karthago erscheine die fides als ein genuin römisches Wesensmerkmal, das eine Wechselseitigkeit zwischen Vertrauensgeber und Vertrauensnehmer nicht mehr zulasse, weil in der Herrschaftsphase des Tiberius die außenpolitische Position Roms unstrittig sei. Indem die Repräsentanten der fides im Narrativ der Bürgerkriege aber gerade nicht der traditionellen römischen Erwartungshaltung entsprächen, werde die fides in dieser Situation hingegen zu einem Instrument des Valerius Maximus, auf literarischem Wege gezielt von konfliktträchtigen Zeiten abzulenken. Die fides im römischen Epos betrachtet sodann Markus Kersten. Dabei geht er besonders auf die Treubrucherzählungen ein und untersucht diese anhand der vier Gesichtspunkte Recht, Rhetorik, Theologie und Metapoetik. Obwohl dem Epos häufig gleichsam eine Orientierungs- und Reflexionsaufgabe für gesellschaftliche Wertvorstellungen zugesprochen werde, zeige sich, wie die Dichter, besonders seit Lucan, die an sich feste normative Größe der fides in ihren Epen dekonstruieren und die epischen Handlungsträger die römischen Wertbegriffe nach eigenem Gutdünken instrumentalisieren und damit ihres Sinnes entleeren. Infolgedessen gestatteten die vielfältigen Nuancen der fides im römischen Epos keine eindeutige Verlässlichkeit, gegenüber welchen Referenzsubjekten oder Bezugsgrößen sich Treue und Glauben verwirklichen ließen. Die Verwendung des fides-Begriffes in der römischen Epik sei damit eine deutlich andere als die in der augusteischen oder flavischen Herrschaftsrepräsentation. Das epische Vertrauen übernehme regelrecht die Funktion einer spezifisch literarischen Reaktion und eigne sich daher gerade nicht als Medium, schwindendes Vertrauen zu stabilisieren. Anhand einer systematischen Untersuchung sämtlicher relevanter Quellenzeugnisse für die Zeit zwischen 27 v. Chr. und 68 n. Chr. zeichnet Philipp Brock­ kötter im letzten Beitrag der ersten Sektion des Bandes die Verwendung der auctoritas-­Kategorie während der iulisch-claudischen Kaiserzeit nach und arbeitet die Bedeutung dieses Konzeptes für die Vertrauensgenerierung in die Herrschaft der verschiedenen principes heraus. In dieser Zeit sei dem Prinzipat als Herrschaftsform noch wenig Systemvertrauen entgegengebracht worden, weshalb die Kaiser zunächst das Vertrauen der Beherrschten in ihre eigene Herrschaftskonzeption hätten aufbauen müssen. Je stärker ihre persönliche auctoritas, im Sinne von Autorität, wuchs, desto stabiler sei ihre Regentschaft gewesen. Insbesondere die Nachfolger des Augustus hätten sich auf die exempla Augusti bezogen und über solche demonstrativen Bindungen an die Vergangenheit angestrebt, das Vertrauen in ihre Herrschaft zu mehren. Zugleich hätten sie dabei aber auch ihren eigenen Handlungsspielraum begrenzt und es anderen relevanten Akteuren des frühen Prinzipats ermöglicht, Einfluss auf die kaiserlichen Handlungen zu nehmen. In den folgenden Beiträgen des zweiten Teils zu „Vertrauen auf dem Prüfstand und Skalierungen der Vertrauenserosion“ werden Situationen und Gelegenheiten in den Blick genommen, in denen antike Gemeinwesen mit schwindendem Vertrauen konfrontiert wurden. Dabei nehmen die Autorinnen und Autoren öffentliche Diskurse, Verfahren der Vertrauensreflexion sowie konkrete Vertrauensbeziehungen in den Blick, deren Fortsetzung unmittelbar gefährdet war.

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Mit dem Zustandekommen von Gerüchten und Klatsch sowie den Orten, an denen dieses folgenreiche Gerede über Personen des öffentlichen Lebens im Athen des 5. Jahrhunderts v. Chr. maßgeblich zirkulierte, beschäftigt sich Christopher Degelmann. Anhand eines konkreten Fallbeispiels exemplifiziert er die negative Wirkungsweise von Gerüchten und Klatsch für die Meinungsbildung im demokratischen Athen und die politischen Folgen dieses Phänomens. Solches Gerede habe das Potenzial gehabt, den öffentlichen Ruf bekannter Bürger nachhaltig zu schädigen, das Misstrauen in ihre Person zu nähren, und im Fall ihrer politischen Aktivität auch Auswirkungen auf den politischen Entscheidungsprozess gezeitigt. Als Strategie gegen schädliche Gerüchte und Klatsch sei intensive Präsenz in der Öffentlichkeit besonders wirksam gewesen. Auf diese Weise habe man versucht, das Vertrauen der Bürgerschaft in die eigene Person zu stabilisieren. Die Diskussion im alttestamentlichen ersten Buch Samuel über die Einsetzung eines jüdischen Königs (1 Sam 8) ist Thema des Aufsatzes von Stefan Fraß. Er deutet die Passage als Reflex auf eine Vertrauenskrise gegenüber dem Persischen Reich in der Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. Diese sei in der Folge der athenischen Offensive in den Jahren nach der gescheiterten Invasion Griechenlands entstanden und habe die Herrschaft Persiens auch über Judäa in Frage gestellt. Der Diskurs im ersten Buch Samuel sei demnach keine Verfassungsdiskussion, sondern eine Warnung des Autors des ersten Buches Samuel vor den schlimmen Folgen der möglicherweise in Judäa aufkommenden Bestrebungen nach vollständiger Autonomie. Der Text deute also auf das vorübergehend schwindende Vertrauen der Bevölkerung Judäas in die persische Herrschaft hin, das jedoch spätestens mit der gescheiterten Ägyptenexpedition Athens ein Ende fand. Karen Piepenbrink problematisiert in ihrer vergleichenden Studie, inwiefern Misstrauen in öffentlichen Reden im klassischen Athen und im spätrepublikanischen Rom überhaupt artikuliert werden konnte. Anders als in Rom sei man in gerichtlichen und politischen Reden in Athen häufiger bemüht gewesen, Misstrauen in den Wahrheitsgehalt von Aussagen der Gegenseite zu wecken. Piepenbrink identifiziert dabei mehrere Ursachen für die dabei zutage tretenden erheblichen Differenzen. Neben der unterschiedlichen Gestaltung des politischen und sozialen Raumes und der Institutionen, die zu einer anders gearteten öffentlichen Kommunikation in beiden Gemeinwesen geführt hätten, könnten auch grundlegende Unterschiede in Bezug auf Kooperation und Konfliktaustragung sowie epistemologische Spezifika dafür ursächlich gewesen sein. Frank Görne nimmt verschiedene Situationen während der mittleren römischen Republik in den Blick, in denen Volkstribunen im Interesse eines oder mehrerer Protagonisten ein Veto einlegten oder ankündigten. Er greift bei der Analyse dieser Fälle auf die Kategorien „fungierendes Vertrauen“ und „reflexives Vertrauen“ (Martin Endreß) sowie „institutionalisiertes Misstrauen“ (Piotr Sztompka) zurück, um nachzuzeichnen, welche Rolle Vertrauen und Misstrauen beim Einsatz tribunizischer Interzessionen spielten.95 Besondere Bedeutung misst Görne dabei den 95 Zu den Begriffen vgl. Endreß 2002, S. 68–72; Sztompka 1998, S. 25–29.

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Kommunikationsprozessen rund um eine Vetoankündigung bei. Dies werde vor allem bei der Anwendung des ius auxilii deutlich, die notwendigerweise im Interesse einzelner Personen erfolgte. Die öffentliche Kommunikation schuf hier Transparenz und ermöglichte es den anderen Akteuren, zu prüfen, ob das angekündigte Veto im Interesse einer bedrohten Person mit den gemeinschaftlichen Werten vereinbar war oder aber nicht. Die römische Innenpolitik zur Zeit der Iugurtha-Affäre steht im Fokus des Beitrages von Fabian Knopf. Er analysiert das Bellum Iugurthinum Sallusts und deutet die Spannungen zwischen der Senatsaristokratie und der plebs als Vertrauenskrise. Das Agieren der Nobilität im Umgang mit dem numidischen König im Vorfeld der Kriegserklärung und danach habe zu Korruptionsvorwürfen und einem vorübergehenden Verlust des Vertrauens der plebs in die senatorische Spitzengruppe geführt. Trotz dieses episodenhaften Verlusts an Vertrauen in die politische Führungsschicht seien an der soziopolitischen Rolle der Nobilität aber keine dauerhaften Zweifel aufgekommen. Jan Timmer setzt sich in seinem Aufsatz mit der Kategorie der Enttäuschung sowie mit Strategien zur Enttäuschungsabwicklung in der späten römischen Repu­ blik auseinander. Ähnlich wie das Misstrauen bedeute Enttäuschung, dass die künftige Kooperation mit anderen Akteuren aufgrund negativer Erfahrungen in Frage gestellt werde. Jedoch ziele Misstrauen dabei in erster Linie auf Anschlusshandlungen, während die Enttäuschung die emotionalen Konsequenzen betreffe. Sie stehe damit zeitlich am Anfang beginnender Vertrauenserosionen. Gerade in Beziehungen, in denen defektierendes Handeln nicht erwartet würde, sei man jedoch auf Enttäuschungen und deren gegebenenfalls erforderliche Kompensation in der Regel nicht eingestellt gewesen. Von Enttäuschungen seien daher potenzielle Gefahren für die auf Kooperation angewiesene Senatsaristokratie der späten Republik ausgegangen. Um erlittenen Enttäuschungen und entstehenden Vertrauenserosionen zu begegnen, hätten verschiedene Strategien zur Verfügung gestanden, die jedoch nur unter bestimmten politischen Umständen erfolgversprechend gewesen seien. Katarina Nebelin betrachtet in ihrem Beitrag das Phänomen des Marsches römischer Feldherren und ihrer Soldaten auf die Stadt Rom in der Zeit der späten Republik. Sie legt dabei den Fokus auf die Motive der Soldaten und deutet deren Bereitschaft, den Entschluss ihres Feldherrn zu unterstützen und gegen Rom zu ziehen, als Ausdruck erschütterten Systemvertrauens in die Institutionen der res publica. Mit der Vertrauenserosion habe sich eine Verlagerung des Vertrauens auf Seiten der Soldaten hin zu ihrem Feldherrn vollzogen, der für die Soldaten wesentlich wirkmächtiger die res publica repräsentiere. Nach ihrem Selbstverständnis als römische Bürger hätten sie mit ihrem Handeln somit das römische Gemeinwesen und seine Werte verteidigt. Das Verhältnis zwischen dem Augustus Constantius II. und seinem Caesar Iulian steht im Fokus des Beitrages von Ulrich Lambrecht. Diese Beziehung wird in der althistorischen Forschung üblicherweise als durch gegenseitiges Misstrauen geprägt gedeutet. Dagegen bietet Lambrecht eine Interpretation, die dem erforderlichen Vertrauen der beiden Akteure zueinander eine größere Bedeutung beimisst. Basierend

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auf einem elementaren Grundvertrauen habe Constantius II. seinen Cousin zum Caesar ernannt und ihn in Gallien eingesetzt. Eine engmaschige Kontrolle seiner Amtsführung habe zunächst als Äquivalent für mangelndes Vertrauen gedient, das Verhältnis zwischen den beiden Akteuren letztlich aber gestärkt. Constantius II. habe nämlich Vertrauen in die grundsätzliche Leistungsfähigkeit des Caesars entwickeln können, während Iulian im Zweifel Hilfe vom Augustus erhielt. Mit der Zeit sei dabei wiederum auf der Seite Iulians Selbstvertrauen in die eigene Amtsführung entstanden und gewachsen, das ihm als weiteres Surrogat für das Vertrauen in den Augustus gedient habe. Die vier Beiträge des letzten Teils über „Vertrauensverlust als Herausforderung“ gruppieren sich um die Frage, wie in antiken Gemeinwesen gehandelt wurde, wenn ein vorübergehender oder gar dauerhafter Vertrauensverlust gerade einsetzte oder aber bereits erfolgt war. Erodiertes Vertrauen in die Leistungsfähigkeit oder Aufrichtigkeit öffentlicher Funktionsträger und Institutionen sowie das gemeinschaftliche Miteinander insgesamt stellten betroffene Gemeinwesen vor das fundamentale Problem, wie auf die potenziell als bedrohlich wahrgenommene Situationen reagiert werden sollte. In den Beiträgen dieser Sektion werden unterschiedliche Strategien diskutiert, mit denen antike Akteure und Gemeinwesen auf solche Vertrauenskrisen reagierten. Inwieweit die Besetzung der Festung Dekeleia durch die Spartaner eine Rolle bei dem oligarchischen Umsturz in Athen im Jahr 411 v. Chr. spielte, wird von SvenPhilipp Brandt diskutiert. Er stellt dabei die These auf, dass der dauerhafte Verlust Dekeleias zu einem Vertrauensschwund der athenischen Bürgerschaft in die Institutionen der Polis geführt habe. Die durch die Besetzung ausgelöste Lebensmittelknappheit habe unter anderem zur massenhaften Flucht der gut ausgebildeten Bergwerkssklaven in den Minen von Laureion und, damit einhergehend, zu einer spürbaren Qualitätsminderung der attischen Silbermünzen geführt. Dies habe eine höhere Bereitschaft der Athener begünstigt, die eigenen Partizipationsmöglichkeiten innerhalb des politischen Entscheidungsprozesses zu Gunsten einer Oli­ garchie einzuschränken. Isabelle Künzer untersucht in ihrem Beitrag Selbsttötungen von Angehörigen griechischer Gemeinwesen. Gegen bestimmte solcher Suizidfälle seien die Poleis vorgegangen, da sie diese aufgrund spezifischer Konstellationen als bewussten Angriff des Suizidenten auf die Ordnung und mithin als Vertrauensbruch wahrgenommen hätten. Mit der nachträglichen Sanktionierung problematischer Suizide wirkten die griechischen Gemeinwesen dabei einem einsetzenden Vertrauensverlust entgegen und strebten an, ihre Ordnung zu stabilisieren sowie die Verpflichtung sämtlicher Polisbewohner auf diese Prinzipien und Vorstellungen nachhaltig einzuschärfen. Das zweite Judenedikt des princeps Claudius ist das Thema des Beitrages von Karl Matthias Schmidt. Er deutet das kaiserliche Verbot gegenüber den Jüdinnen und Juden, sich in der Stadt Rom und in Italien aufzuhalten, als eine Reaktion des römischen Herrschers auf eine innere Unruhe der jüdischen Gemeinde Roms. Das harte Durchgreifen des princeps sei dabei nicht auf eine persönliche Abneigung gegenüber dem Judentum zurückzuführen, sondern erkläre sich mit einem grund-

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sätzlichen Vertrauensverlust der römischen Nobilität gegenüber fremden Kulten und ihren Praktiken, der sich in den literarischen Quellen seit Cicero nachweisen lasse. Die Verbannung der jüdischen Gemeindemitglieder aus Rom und Italien erscheine damit als Versuch des Claudius, das Vertrauen der römischen Gemeinschaft in die Herrschaftsübung des princeps zu stärken. Babett Edelmann-Singer behandelt den Zusammenhang zwischen dem Machtverlust Neros und der schwindenden fides der römischen Untertanen in seine Person. Gemäß der späteren Historiographie begann dieser Prozess mit dem erzwungenen Selbstmord Agrippinas. Die an der Pisonischen Verschwörung Beteiligten hätten diesem Narrativ zufolge später auch explizit auf diesen Vorfall Bezug genommen. Neben dieser vor allem von Tacitus ausgestalteten postneronischen Erzählung lasse sich aber auch bereits ein zeitgenössischer Diskurs ermitteln. Dieser deute den Vorfall zu einer gleichsam schicksalhaften Rettung Neros nach der Niederschlagung eines Putsches um und fordere fides gegenüber dem princeps ein. Das Ende des Bandes bildet ein Schlusskommentar, der einerseits Bezüge zwischen den Aufsätzen herstellt und andererseits gleichsam als eine Art Synthese eine Summe aus den Einzelbeiträgen zieht. Auf diesem Wege wird der Faden dieser Einleitung nochmals aufgenommen. Zugleich werden im Rahmen des Abschlusskommentars gezielt offene Fragen angesprochen und Perspektiven für die weitere Forschung eröffnet. Der Aufsatzsammelband widmet sich mit der Thematik des Vertrauens und Vertrauensverlustes einem Phänomenkomplex, dessen Bedeutung bei der Untersuchung der Politik, Mentalität und Kultur der antiken Welt bislang wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Nicht zuletzt aus diesem Grunde dürfte der Band insgesamt weiterführende Erkenntnisse verheißen und in diesem Zusammenhang in einer Kombination aus dezidiert emischen wie auch etischen Zugriffen auf antike Gesellschaften neue Erklärungsansätze bereitstellen, deren umfassendes heuristisches Potential es auch in Zukunft weiterzuverfolgen und zu vertiefen gilt.

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Teil I: „Konzeptionen des Vertrauens“

Vertrauen als Diskurskategorie in Xenophons Œuvre Sven Günther

Kann man Xenophon trauen? Diese Frage scheint nur auf den ersten Blick nichts mit dem hier zu behandelnden Thema, Vertrauen als Diskurskategorie in Xenophons Gesamtwerk, zu tun zu haben. Denn sie berührt in zentraler Weise die Herangehensweise an Xenophon, und das auch noch in den verschiedenen Disziplinen wie in der Klassischen Philologie, in der Philosophie und in den Geschichtswissenschaften, im Verlauf der letzten rund zweihundert Jahre. Xenophons schriftstellerische Qualitäten, philosophische Ansichten besonders im Hinblick auf die „Sokratiker“ wie auch historische Zuverlässigkeit standen und stehen auf dem Prüfstand und fanden wie finden ganz unterschiedliche, zeit- und disziplinabhängige Antworten; dabei wurde ihm lange Zeit in allen drei Disziplinen wenig Vertrauen entgegengebracht: Sein Griechisch sei von minderwertiger Qualität, ebenso seine philosophischen Gedanken, und seine historischen Einlassungen zeigten Tendenz zur Moralisierung, zu Personenkult und Dramatisierung.1 Diese Abqualifizierung ist zwar in jüngster Zeit zunehmend hinterfragt worden, so dass man geradezu von einer Renaissance der Xenophon-Forschung sprechen kann. Deutlich wird in diesem Zusammenhang jedoch auch, dass fast immer noch eine Trennung in Disziplinen und früher angewandte Werkkategorien (sokratische, historiographische, politisch-didaktische, technische Schriften) vorherrscht, somit Xenophons Werk als kohärentes System bislang zu wenig Aufmerksamkeit entgegengebracht wird.2 Und hier kommt das Thema des Vertrauens als Diskurskategorie ins Spiel. Denn allein eine kurze Sondage unter gängigen griechischen Termini wie pisteuō („(ver)trauen, glauben, Glauben bzw. Vertrauen finden“), pistis („Treue, Zuverlässigkeit, Vertrauen etc.“) und damit zusammenhängende Derivate und Antonyme mit alpha privativum sowie hypopteuō („argwöhnen, ahnen“), hypoptos („verdächtig, mißtrauisch“) etc. ergeben mehr als 200 Treffer bei der Abfrage im Thesaurus Linguae Graecae (TLG), und zwar über das Gesamtwerk Xenophons hinweg.3 Dass ein derart begriffsbasierter erster Zugang Gefahr läuft, Stellen zu übergehen, die Vertrauens- bzw. Misstrauenssituationen in anderen Worten, Diskurskategorien oder berichteten Praktiken ansprechen, braucht dabei genauso wenig hervorgehoben zu 1 Zu den verschiedenen Urteilen der älteren Forschung vgl. die Herausgebereinleitung zu Flower 2016, besonders S. 2 f.; Günther 2012, S. 83 mit weiterer Literatur. 2 Vgl. dazu die Rezensionen Günther 2017b zu Flower 2016 und Günther 2019b zu Danzig u. a. 2018, die beide als aktuelle Überblickswerke wenigstens teilweise noch die diversen Separierungen in der Anlage der jeweiligen Bände und in einigen der enthaltenen Artikel erkennen lassen. 3 Siehe http://stephanus.tlg.uci.edu, letzter Zugriff: 03.07.2019 für die Stichworte „upopt-“ und „-pist-“.

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werden wie der umgekehrte Fall, dass ein benutzter Terminus nicht direkt auf die Thematik rekurriert, sondern anderweitig Verwendung findet. Es kann hier also lediglich um eine Art erster Bewältigung der offenbar nicht geringen Materialmenge gehen, so dass auch im Folgenden nur ansatzweise ausgewählte Stellen aus einigen signifikanten Schriften diskutiert werden können, wo eine Massierung der Termini aufzufinden ist beziehungsweise eine für die Fragestellung nach einer werkübergreifenden Verwendung der Kategorie exemplarisch erscheinende Diskussion aus Sicht des Verfassers fruchtbar erscheint.

1. Vertrau keinem Perser? Gegenbilder in Xenophons Kyrupädie In der „Erziehung des Kyros“ mit ihrer schillernden Mischung verschiedener Werkgattungen (Biographie, Historiographie, politische Philosophie, Fürstenspiegel, Roman) finden wir durchgängig Gegenbilder vor Augen gestellt, anhand derer Xenophon sein Modell idealer Herrschaft entwickelt.4 Schon gleich zu Beginn ist der xenophontische Kyros d. Ä. nicht etwa ein Objekt historischer Analyse, sondern handelndes Subjekt und für Xenophon ein in der fernen Vergangenheit und noch dazu im „erzfeindlichen“ Perserreich zu lokalisierender Beweis, dass das Problem von allen anderen Herrschaftssystemen wie Demokratien, Oligarchien und Monarchien, aber auch tyrannische Regimen, nämlich ihre Instabilität aufgrund des Ungehorsams der menschlichen Natur, in Kyros seine Lösung erfährt und sogar in ein Imperium mit Herrschaft über verschiedene Völker zu münden vermag.5 Sein Kyros zeichnet sich von Jugend an durch (fast) optimales theoretisches Lernen und praktisches Anwenden, ideales Verhalten und Agieren aus, etwa bei der Generierung von persönlichen Nahbeziehungen in Form von Freundschaftsverpflichtungen, dem Führen und Etablieren einer auf meritokratischen Prinzipien beruhenden Militärordnung oder dem Arrangieren von ausbalancierten Verantwortlichkeiten im neu geschaffenen Imperium. Entscheidend ist dabei seine Rolle als moralisch wie leistungstechnisch perfekt agierender und in eudaimonia, also Glückseligkeit, lebender Anführer, der in jeglicher Hinsicht das Optimum und damit das zu imitierende Beispiel in einer vollkommen austarierten Hierarchie darstellt, so dass sich alle an ihm wie einem Magneten ausrichten und ihren Platz im System nach jeweiliger, jedoch stets in die eine oder andere Richtung entwickelbarer Eignung, Leistung und Befähigung erhalten.6 Alles ist nun an diesem Ordnungsmodell wie einer Familie mit ihrem allmächtigen Vater an der Spitze Spiegel dieses unfehlbaren

4 Die Literatur zur Kyrupädie ist umfangreich. Ein guter erster Zugang findet sich in Tamiolaki 2016. Hier herangezogen wurden insbesondere noch Mueller-Goldingen 1995 und Gray 2011. 5 Xen. Kyr. 1,1,1–6. Zu Xenophons Bewertung von zeitgenössischer Demokratie im Gegensatz zu einem an seinem Herrschaftsmodell orientierten Ideal siehe Günther 2018a mit weiterer Literatur. 6 Dazu zusammenfassend Günther 2018a, S. 230–243.

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Handelns des Anführenden, vom Frühstück bis zur Kommunikation mit den Göttern, welche dem Tüchtigsten natürlich beistehen.7 Was Kyros d. Ä. nun an Vertrauen in Form von Freundschaftsnetzwerken und Verpflichtungsbeziehungen durch geschickte Investitionen und gezielte Vertrauensvorschüsse aufgebaut hat,8 findet nach seinem Tod im achten Buch der Kyrupädie ein jähes Ende unter seinen Nachfolgern und ganz besonders dem zur Zeit Xenophons existierenden Perserreich, das als Spiegel und Projektionsfläche griechischer, vor allem auch athenischer Verhältnisse und Diskurse gelten darf.9 Bezeichnenderweise unter der Rubrik ἐκ τῶν θείων („über die religiösen Angelegenheiten“) berichtet der auktoriale Erzähler über den Verfall hin zu Gottlosigkeit (asebeia) und Ungerechtigkeit (adikia)10 wie folgt: Denn ich weiß, daß früher ein persischer König und seine Untergebenen sogar gegenüber größten Verbrechern ihr Wort hielten, wenn sie ihnen etwas geschworen hatten, oder dazu standen, wenn sie etwas mit Handschlag vereinbart hatten. Wären sie aber nicht so gewesen und hätten sie diesen Ruf nicht gehabt, so hätte kein einziger Mensch Vertrauen zu ihnen gehabt, wie es leider heutzutage keinen Menschen mehr gibt, der ihnen noch traut, nachdem ihre Gottlosigkeit bekannt geworden ist. So hätten denn auch damals die Anführer der Männer, die sich dem jüngeren Kyros anschlossen, kein Vertrauen gehabt. Doch weil sie damals auf den früheren Ruf des Perserkönigs und seiner Untergebenen vertrauten, begaben sie sich in die Hände der Perser, wurden aber, nachdem sie dem Perserkönig vorgeführt worden waren, enthauptet. Außerdem kamen viele Barbaren um, die sich der Expedition angeschlossen hatten, nachdem sie durch unterschiedliche Versprechen betrogen worden waren.11

Als Beispiel für die asebeia (das Beispiel für die adikia folgt im folgenden Paragraphen) wird der Vertrauensverlust besonders seit der Tötung der griechischen, aber auch andersstämmigen Söldner des Kyros d. J. als Herausforderer des obsiegenden 7 Zum Frühstück als Ausdruck des xenophontischen Herrschaftsmodells vgl. Günther 2018b. Zur Begünstigung durch und Kommunikation mit den Göttern vgl. Xen. Kyr. 1,6,5 f., dazu weiter unten, Anm. 26. 8 Einschlägig ist dazu Xen. Kyr. 8,2,15–23 (siehe dazu unten). 9 Xen. Kyr. 8,8,2a und die fortfolgenden Details. Zum Verfall als werkimmanentem Clou und zu der Forschungsdiskussion über den Schluss der Kyrupädie vgl. Mueller-Goldingen 1995, S. 262–271. Ebd., S. 274–279, zur Einordnung der Kyrupädie in Xenophons (sokratisches) Denken und Schriften sowie zur Auseinandersetzung mit Platon. Zur Spiegelung der Erfahrungen Xenophons und athenischer Verhältnisse vgl. etwa Lu 2015, S. 93 f.; Huss 1999, S. 258 (Parallelen von Kyrupädie und Symposion; mit weiterer Literatur). 10 Xen. Kyr. 8,8,5. 11 Xen. Kyr. 8,8,2bf. (Übers. Nickel): […] οἶδα γὰρ ὅτι πρότερον μὲν βασιλεὺς καὶ οἱ ὑπ’ αὐτῷ καὶ τοῖς τὰ ἔσχατα πεποιηκόσιν εἴτε ὅρκους ὀμόσαιεν, ἠμπέδουν, εἴτε δεξιὰς δοῖεν, ἐβεβαίουν. εἰ δὲ μὴ τοιοῦτοι ἦσαν καὶ τοιαύτην δόξαν εἶχον οὐδ’ ἂν εἷς αὐτοῖς ἐπίστευεν, ὥσπερ οὐδὲ νῦν πιστεύει οὐδὲ εἷς ἔτι, ἐπεὶ ἔγνωσται ἡ ἀσέβεια αὐτῶν. οὕτως οὐδὲ τότε ἐπίστευσαν ἂν οἱ τῶν σὺν Κύρῳ ἀναβάντων στρατηγοί· νῦν δὲ δὴ τῇ πρόσθεν αὐτῶν δόξῃ πιστεύσαντες ἐνεχείρισαν ἑαυτούς, καὶ ἀναχθέντες πρὸς βασιλέα ἀπετμήθησαν τὰς κεφαλάς. πολλοὶ δὲ καὶ τῶν συστρατευσάντων βαρβάρων ἄλλοι ἄλλαις πίστεσιν ἐξαπατηθέντες ἀπώλοντο.

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Bruders und Königs Artarxerxes II., den Xenophon selbst miterlebt und in seiner Anabasis beschrieben hat,12 mit den vorigen Zeiten kontrastiert, die sich durch absolutes Worthalten seitens des Perserkönigs und seiner Untergebenen und das daraus resultierende Vertrauen ausgezeichnet hätten. Dies – und nicht etwa Aussicht auf Gewinn etc. – habe sogar den entscheidenden Anstoß und Vertrauensvorschuss für die durch ihre strategoi erwirkte Söldnertätigkeit im Dienste des jüngeren Kyros gegeben. Dieser wird hier nicht nur, wie auch an anderen Stellen, als Abbild des älteren Kyros hervorgehoben,13 sondern durch den Satzbau auch als letzte Bastion des Worthaltens gekennzeichnet: Indem die strategoi der griechischen Söldner nämlich dieses Vertrauen in die beiden Kyroi und deren Untergebene (νῦν δὲ δὴ τῇ πρόσθεν αὐτῶν δόξῃ πιστεύσαντες) fälschlich auf den aktuellen Perserkönig übertragen und sich in dessen Hände begeben, tragen sie Verantwortung für das Desaster und verlieren konsequenterweise das Leben.14 Während in der Kyrupädie das persische Imperium nach dem Tode von Kyros d. Ä. in allen Bereichen (Wirtschaft, Militär, Lebenswandel etc.) zusammenbricht und die persischen Herrscher sogar auf Griechen zur Kriegführung gegen Griechen angewiesen sind15 und gegenüber Göttern, eigenen Verwandten wie anderen weniger Respekt als vorher zeigen16, ist es in der Anabasis namentlich Xenophon höchstpersönlich, welcher die Lücke nach dem Tod des jüngeren Kyros und der unvorsichtigen ersten Anführerriege schließt und sich vor allem als Stabilitätsgarant inszeniert.17 Obschon er auch das eine oder andere Mal die Vertrauensfrage stellen muss,18 ist er es in der Regel, der in seiner Anführerrolle anderen den Spiegel bezüglich Missständen und zweifelhaften Verhaltensweisen vorhält.

2. Vertrauen verlieren – Der Dialog mit Seuthes in der Anabasis Eine derartige und umfangreiche Reflexion in Bezug auf Vertrauen findet sich im siebten Buch der Anabasis, in der Mahnrede des Xenophon an den Odrysenkönig Seuthes ob der ausstehenden Bezahlung für die Söldnerdienste der Griechen,19 welche diese nach langwierigen, als Klimax narrativ gestalteten und in einem Gastmahl mit anschließendem nächtlichen Raubzug mündenden Verhandlungen 12 Vgl. den Episodenkern Xen. an. 2,5,31–6,1. 13 Dazu Günther 2012; zum Lob des jüngeren Kyros vgl. Xen. an. 1,9,1–19. 14 So Xen. Kyr. 8,8,3, wo explizit das frühere Vertrauen in die Perserkönige als Movens der griechischen Anführer nach dem Tode von Kyros d. J. genannt wird, ihrem ehemaligen Gegner, dem namentlich nicht genannten Perserkönig, zu vertrauen, was dieser dann ohne Respekt auf sein Wort gebrochen habe. 15 Xen. Kyr. 8,8,26. 16 Xen. Kyr. 8,8,27. 17 Dazu und zu den anderen Führungspersonen in Xenophons Werk (z. B. Agesilaos) siehe Ferrario 2016, S. 74–79; Buxton 2016, S. 328–332. 18 Siehe dazu etwa gleich unten. Vgl. auch Xen. an. 6,4,1–8; 6,6,3 f. zum gescheiterten Ansiedlungsplan am Kalpes Limen; dazu Lendle 1995, S. 385–390, 402 f. 19 Xen. an. 7,7,20–47.

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400/399 v. Chr. angenommen hatten.20 Dieses Hinauszögern der Geldauszahlung wird maßgeblich auf das Einflüstern eines Griechen namens Herakleides aus Maroneia zurückgeführt, der als trickreich und betrügerisch inszeniert wird.21 Jedoch geht Xenophon nach seiner großen Verteidigungsrede vor den Soldaten22 und dem schrittweisen Anrücken an den Kern des Problems, das heißt Seuthes, durch Konfrontationen mit Anhängern des Königs23, diesen zunächst einmal persönlich an:24 Er komme nicht, um etwas zu fordern, sondern um das Versprechen des Seuthes gegenüber den griechischen Söldnern zum gegenseitigen Vorteil einzulösen.25 In Form eines Paradoxons wird sodann der Macht- und Herrschaftsgewinn des Seuthes auf die Götter als oberste Instanz und ebendiese Söldner, eben nicht die eigene Leistung,26 zurückgeführt, wobei gerade die dadurch gewonnene Herausgehobenheit das unrechte Verhalten des Königs umso offenbarer mache.27 Dieses Paradoxon wird im Folgenden derart weitergeführt und auf die Spitze getrieben, dass die Söldner die Funktion des Wohltäters, des Euergeten gegenüber Seuthes übernommen hätten (umgekehrt zur normal üblichen Rollenverteilung) der König hingegen nicht die übliche und notwendige Dankbarkeit zeige, daher seinen guten Ruf und das Vertrauen aufs Spiel setze.28 Das Wort des Treulosen sei nämlich völlig ohne Effekt, das des Vertrauenswürdigen könne umgekehrt sogar mehr als Gewaltakte und Barzahlung seitens anderer wiegen.29 Letztlich habe Seuthes den Vertrauensvorschuss der griechischen Soldaten, den er ohne Gegen- und Vorleistung erhalten habe, ad absurdum geführt, und er solle doch bitte eine Berechnung vornehmen, was ihm mehr Nachteile bringe: das Ausbezahlen des ausstehenden Soldes oder der Vertrauens-, dadurch auch Ansehens-, Einfluss- und Machtverlust unter den anderen nicht vollständig unter seiner Kontrolle stehenden Truppen und Völkerschaften sowie die Folgekosten eines marodierenden Söldnerheeres in Form von Zerstörungen und Aufwendungen von anderen Söldnern zu dessen Bekämpfung.30 Herakleides selbst – so insinuiert Xenophon – würde so kalkulieren, und im Übrigen sei es jetzt für Seuthes viel leichter, die Summe aufzubringen, da er über eine höhere Vermögenslage (dynamis) als vorher verfüge, da vor allem diese dynamis, 20 Xen. an. 7,1–3. Zum Kontext vgl. Lee 2007, S. 40–42, und den Detailkommentar von Lendle 1995, S. 412–446. 21 Xen. an. 7,3,16–20; 7,5,4–8; 7,6,2–6.42. Dazu die Einzelkommentierungen bei Lendle 1995, besonders S. 437 f., 453 f., 457 f. 22 Xen. an. 7,6,11–38. 23 Xen. an. 7,7,1–19. 24 Vgl. die Kommentierung der Rede (Xen. an. 7,7,20–47) bei Lendle 1995, S. 470–475. 25 Xen. an. 7,7,20 f. 26 Der obligatorische Konnex zwischen Götterwohlwollen, Kommunikation zu diesen und eigener Leistung(sfähigkeit) in Theorie und Praxis (epistēmē) drückt sich an mehreren Stellen in Xenophons Werk aus, so etwa Xen. Kyr. 1,6,5 f.; vect. 6,2 f.; oik. 5,11–20; 21,11 f. Vgl. dazu auch Günther 2018b, S. 265–268. 27 Xen. an. 7,7,22. 28 Xen. an. 7,7,23. 29 Xen. an. 7,7,24. 30 Xen. an. 7,7,25–34.

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nicht die reine Schuldsumme (arithmos) das Verhältnis von Schuldner (Seuthes) und Gläubiger (Söldner) bestimme.31 Nach dieser unverhohlenen Drohung spricht Xenophon auch seinen eigenen potentiellen und teilweise schon eingetretenen Gesichtsverlust beim Heer an, weist jede Auseinanderdividierung zwischen ihm und seinen Soldaten durch Bestechung mittels Geschenken zurück und zeichnet Seuthes das Bild eines guten Herrschers, der aufgrund seiner Tugend (aretē), Gerechtigkeit (dikaiosynē) und edlen Gesinnung (gennaiotēs) im Kontrast zum gierigen Verhalten seitens Herakleides steht.32 Denn nur durch derlei Verhalten verschaffe man sich wahren Reichtum in Form von verlässlichen Freunden, in guten wie schlechten Zeiten.33 Ein derartiger Kapitalsortenwechsel im Sinne Bourdieus findet sich etwa auch in der Kyrupädie, wo Kyros sein „Investment“ in Freunde gegenüber dem Geld hortenden Kroisos wie folgt verteidigt: Als sich dies [sc. das Herbeiholen einer großen Geldsumme von Kyros’ Freunden] herausgestellt hatte, soll Kyros gesagt haben: ‚Siehst du, mein Kroisos, daß auch ich Schätze besitze? Aber du empfiehlst mir, sie bei mir zu horten, mich ihretwegen beneiden und hassen zu lassen und sie besoldeten Wächtern anzuvertrauen. Aber wenn ich meine Freunde reich mache, dann habe ich an ihnen, glaube ich, Schätze und für meine Person wie für meine Güter Beschützer, auf die ich mich mehr verlassen kann als auf besoldete Wächter.34

Dass Seuthes natürlich von Xenophons Argumentation überzeugt wird, den verfemten Herakleides verflucht und sich mit einigem Hin und Her ans Ausbezahlen macht,35 ist dabei weniger wichtig, als dass Xenophon selbst seine Ehre und Anführerrolle rettet, indem er das Vertrauen der Soldaten, das unter Gerüchten eines Seitenwechsels stark gelitten hatte, in seine Person angeblich schlagartig mit Ankunft der Gelder in Form von Vieh und Sklaven wiederherstellt.36 Strukturell ist es also Xenophon höchstpersönlich, der nicht nur den besten theoretischen Berater des Königs Seuthes abgibt und ihn damit vom falschen Weg des Herakleides abbringt, sondern der Seuthes (wie anderen) auch in praxi zum nachahmenswerten Vorbild gereicht, da er es virtuos versteht, Vertrauenskrisen unter Beibehaltung und sogar Ausbau seiner Machtposition zu lösen. Ähnlich Kyros d. Ä. ist Xenophon nun auf 31 32 33 34

Xen. an. 7,7,35 f. Xen. an. 7,7,37–47. Xen. an. 7,7,42. Xen. Kyr. 8,2,19 (Übers. Nickel): ἐπεὶ δὲ τοῦτο φανερὸν ἐγένετο, εἰπεῖν λέγεται ὁ Κῦρος· ὁρᾷς, φάναι, ὦ Κροῖσε, ὡς εἰσὶ καὶ ἐμοὶ θησαυροί; ἀλλὰ σὺ μὲν κελεύεις με παρ᾽ ἐμοὶ αὐτοὺς συλλέγοντα φθονεῖσθαί τε δι᾽ αὐτοὺς καὶ μισεῖσθαι, καὶ φύλακας αὐτοῖς ἐφιστάντα μισθοφόρους τούτοις πιστεύειν· ἐγὼ δὲ τοὺς φίλους πλουσίους ποιῶν τούτους μοι νομίζω θησαυροὺς καὶ φύλακας ἅμα ἐμοῦ τε καὶ τῶν ἡμετέρων ἀγαθῶν πιστοτέρους εἶναι ἢ εἰ φρουροὺς μισθοφόρους ἐπεστησάμην. 35 Xen. an. 7,7,48–54. 36 Xen. an. 7,7,55.

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dem Höhepunkt seiner Stellung angelangt, und das nachfolgende Auslaufen seiner Anführerrolle bis zur Übergabe des Heeres an Thribon gleicht einem mit retardierenden Elementen der Tugenden Xenophons gespickten Epilog. Hingegen verschwindet Seuthes nach seiner Wandlung vom „Tyrannen“ zum geläuterten „König“ ebenso wie der ins Abseits gestellte Herakleides von der Bühne, da ihre Funktionen zur Generierung und zum Beweis des xenophontischen Ordnungsmodells erfüllt sind.

3. Vertrauen schaffen: Vom Tyrannen zum Idealherrscher im Hieron und in den Poroi Während in der Kyrupädie und der Anabasis zeitliche Unterschiede beziehungsweise Personenkontraste die Ordnungsgedanken Xenophons und als deren zentraler Bestandteil „Vertrauen“ zu skizzieren und gegenüber Misstrauen abzugrenzen helfen, arbeitet der Dialog Hieron zwischen dem gleichnamigen Tyrannen Hieron I. von Syrakus und dem Dichter Simonides von Keos mit der Gegenüberstellung von Herrschaftsstilen. Zunächst beschreibt der xenophontische Hieron sein Regieren sowie Nachteile und Unglück, die tyrannische Herrschaft mit sich bringen,37 woraufhin Simonides ihm ein gänzlich anderes Agieren vorschlägt, das demjenigen in der Kyrupädie gleicht, da der jeweilige Herrscher in seiner perfekt organisierten Staatsgemeinschaft insofern aufgeht und glücklich leben (eudaimonia) kann, als er alles zu deren Erhaltung beiträgt und als oberster Lehrer wie Motivator seinen Mitbürgern ein leuchtendes Beispiel gibt.38 In mehreren Aspekten beschreibt der xenophontische Hieron hierbei sein Unglück, das aus beständigem Misstrauen resultiert: Tyrannen seien überall Risiken von Neidern, Unterdrückten, aber auch von sogenannten Freunden ausgesetzt und würden selbst ob ihres Herrschaftsverhaltens beargwöhnt. Im Gegensatz zu Privatpersonen hätten sie beispielsweise nie wirklichen Frieden, da sie in beständigem Krieg mit den Beherrschten stünden und kein Vertrauen in einen Waffenstillstand zum neuen Mutschöpfen haben könnten.39 Ferner sei ihr Hof nicht wie eine Familie mit gegenseitigem Zutrauen etwa zwischen Mann und Frau organisiert, sondern die Tyrannen müssten immer, selbst und gerade auch beim Essen, Misstrauen walten lassen, darob sogar vor dem ersten und obligatorischen Akt, dem Opfer an die Götter, die jeweilige Speisen und Getränke vorkosten lassen.40 Somit wird natürlich die xenophontische Ordnung, welche den besten Herrscher als von den Göttern begünstigt wie zur besten, direkten Kommunikation mit diesen ermächtigt sieht, von ihrer Spitze her gestört.41 Derlei Misstrauen erzeugt dem Tyrannen sodann auch permanente Angst, so dass er am zentralen Akt menschlicher Gemeinschaft, also der Freundschaft (philia), nicht 37 Xen. Hier. 1,1–7,13. 38 Xen. Hier. 8,1–11,15. Zur Einführung in den Hieron vgl. Dillery 2016, S. 206–208; Lu 2015, S. 97–121, zur Frage der Erziehung des selbst die Untertanen erziehenden Herrschers. 39 Xen. Hier. 2,11. 40 Xen. Hier. 4,1 f. 41 Vgl. oben, Anm. 26.

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mehr wie ein normaler freier Bürger teilhaben kann, sondern allein Sklaven und bezahlte Wächter als ebenfalls notorisch unzuverlässige Umgebung um sich hat.42 Dadurch wird die gesellschaftliche Ordnung, wie sie für Xenophon und seine griechische Leserschaft als normal und natürlich konzeptionalisiert worden sein mag, letztlich völlig auf den Kopf gestellt: Ferner Fremden mehr zu trauen, als Bürgern, Ausländern mehr, als Hellenen, wünschen, an Freien Sclaven zu haben, und gezwungen seyn, aus Sclaven Freie zu machen, – siehst du nicht in diesem Allem Beweise eines von Furcht zerrütteten Gemüths?43

Es ist dann an Simonides, diesem Herrschaftsstil des Misstrauens und der Angst, sowohl seitens des Tyrannen als auch seitens der Untergebenen, das Ideal eines harmonischen Staatsorganismus gegenüberzustellen. Der Kernakt lautet hier charis, also das Erweisen von Gunst,44 das wiederum zum Aufbau von Vertrauen und Stabilität führt. Ganz pragmatisch bedeutet dies, unbeliebte respektive potentiell umstrittene Entscheidungen an andere zu delegieren, wie wir dies beispielsweise auch in der Anabasis bei der Aufteilung der Soldauszahlung des Seuthes oder der Kontrolle der Kriegsbeute in der Kyrupädie finden.45 Dem Herrscher obliegt es, Wohltaten zu erweisen, zu investieren und die Untertanen am Erfolg und Gewinn teilhaben zu lassen. Dies gipfelt darin, diese alle als Teil desselben Haushalts (oikos) zu sehen, an dessen Spitze der Herrscher gleich einem allmächtigen, da allgütigen Vater steht.46 Diese Parallelisierung von Staats-, Wirtschafts- und Sozialordnung mit der Führung des (privaten) Haushalts (oikos) ist nicht nur Kernaussage im Oikonomikos,47 sondern manifestiert sich in allen Werken Xenophons an den jeweiligen Protagonisten (Sokrates, Kyros d. Ä., Kyros d. J., Xenophon usw.), selbst in den sogenannten technischen Schriften wie dem Hipparchikos (der Kommandant), dem Kynēgetikos (dort die Jäger)48 und in Peri Hippikēs (der Pferdekundigste).49 Aber auch eine letzte 42 Xen. Hier. 6,1–11. 43 Xen. Hier. 6,5 (Übers. Christian): ἔτι δὲ ξένοις μὲν μᾶλλον ἢ πολίταις πιστεύειν, βαρβάροις δὲ μᾶλλον ἢ Ἕλλησιν, ἐπιθυμεῖν δὲ τοὺς μὲν ἐλευθέρους δούλους ἔχειν, τοὺς δὲ δούλους ἀναγκάζεσθαι ποιεῖν ἐλευθέρους, οὐ πάντα σοι ταῦτα δοκεῖ ψυχῆς ὑπὸ φόβων καταπεπληγμένης τεκμήρια εἶναι. 44 Vor allem Xen. Hier. 8,2; 9,2 f. 45 Vgl. Xen. an. 7,7,56; Kyr. 7,4,12 f. Dazu Günther 2019a, S. 70 f. 46 Xen. Hier. 11,14. 47 Xen. oik. 21,2. 48 Vgl. besonders Xen. kyn. 12 f. 49 Zur Ordnung im Oikonomikos vgl. Föllinger/Stoll 2018; zu den heftig debattierten Kapiteln 12 und 13 im Kynēgetikos vgl. nur L’Allier 2012 (Abwehrversuch Xenophons wegen angeblich sophistischer Schreib- und Argumentationsweise) und Thomas 2018 (Angriff auf Platon), ebenso Dillery 2016, S. 213–216; zum Hipparchikos vgl. Stoll 2010; zur Verbindung von Hippar­ chikos und die Phalanxstrategie um weitere Truppengattungen erweiternden Feldherren in den xenophontischen Hellenika vgl. Toalster 2011, S. 211–215; zum Werk Peri Hippikēs vgl. Dillery 2016, S. 211–213.

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hier anzusprechende Schrift kann in diesem Sinne gelesen werden und zeigt, wie Xenophon zumindest versuchte, sein theoretisches Modell auch auf praktische politische Vorschläge und konkrete historische Situationen herunterzubrechen: die Poroi. Diese „Vorschläge zur Schaffung von Staatseinnahmen“ können an das Ende des für Athen niederschmetternden Bundesgenossenkrieges (357–355 v. Chr.) datiert werden. Obschon die Relevanz wie Relation der vorgeschlagenen Maßnahmen zur praktischen Politik im Athen dieser Jahre, die mit den Reformen des Eubulos verknüpft sind, umstritten ist, sind diese doch sehr konkret: natürliche Ressourcen, die Metöken, die (Schiffs-)Händler und besonders die Silbervorkommen im Laureion als Profitmöglichkeiten zu entdecken und diese durch Investitionen, Infrastrukturmaßnahmen und Regelungen besser als bisher zur Generierung von Einnahmen und Wirtschaftswachstum zu nutzen.50 Im Rahmen dieser Untersuchung zu Vertrauen als Diskurskategorie bei Xenophon ist nun hervorzuheben, dass all diese Vorschläge eine Transformation vom derzeit herrschenden Misstrauen gegenüber Athen (und auch innerhalb der Bürgerschaft) hin zu neuem Vertrauen bewirken sollen. Programmatisch ist hier Xenophons Einleitung: Ich glaube von jeher: Wie die Führer sind, so werden auch die Staaten. Da aber einige der Führer in Athen sagten, sie wüßten genausogut wie andere Menschen, was recht ist, sich aber durch die Armut der Volksmenge gezwungen erklärten, gegen die Staaten eher ungerecht zu sein, deshalb habe ich herauszufinden versucht, ob sich die Bürger etwa aus eigenen Quellen erhalten könnten, woher es auch am gerechtesten wäre. Dabei bin ich überzeugt: Wenn dies geschieht, dann würde zugleich ihrer Armut abgeholfen und dem Mißtrauen der Griechen gegen sie.51

Das für Xenophon typische Denken vom Kopf des Systems her (hier von den absichtlich ungerecht agierenden Politikern, die zur falschen Athener Politik führen)52 und das aktuell vorherrschende Misstrauen (hypoptos) seitens der anderen Griechen wird in der falschen Problembewältigungsstrategie, der Armut (etwa durch außen50 Die Literatur zu den Poroi ist umfangreich: Eine gute Übersicht über die Deutungsversuche liefert die Einleitung bei Audring/Brodersen 2008, S. 23–27; ebenso Dillery 2016, S. 216–218 (jeweils mit weiterer Literatur). Vgl. auch die im folgenden genannte Literatur. Zu den Reformen des Eubulos und dem Zusammenhang mit Xenophons Vorschlägen vgl. Günther 2016, S. 123–125 (mit Nachzeichnung der Debatte und der relevanten Forschungsliteratur). 51 Xen. vect. 1,1 (Übers. Audring/Brodersen): Ἐγὼ μὲν τοῦτο ἀεί ποτε νομίζω, ὁποῖοί τινες ἂν οἱ προστάται ὦσι, τοιαύτας καὶ τὰς πολιτείας γίγνεσθαι. ἐπεὶ δὲ τῶν Ἀθήνησι προεστηκότων ἔλεγόν τινες ὡς γιγνώσκουσι μὲν τὸ δίκαιον οὐδενὸς ἧττον τῶν ἄλλων ἀνθρώπων, διὰ δὲ τὴν τοῦ πλήθους πενίαν ἀναγκάζεσθαι ἔφασαν ἀδικώτεροι εἶναι περὶ τὰς πόλεις, ἐκ τούτου ἐπεχείρησα σκοπεῖν εἴ πῃ δύναιντ’ ἂν οἱ πολῖται διατρέφεσθαι ἐκ τῆς ἑαυτῶν, ὅθενπερ καὶ δικαιότατον, νομίζων, εἰ τοῦτο γένοιτο, ἅμα τῇ τε πενίᾳ αὐτῶν ἐπικεκουρῆσθαι ἂν καὶ τῷ ὑπόπτους τοῖς Ἕλλησιν εἶναι. 52 Vgl. dazu fast wortwörtlich Xen. Kyr. 8,8,5 (Übers. Nickel): „Denn wie die Herren sind, so werden auch meistens ihre Untertanen.“ (ὁποῖοί τινες γὰρ οἱ προστάται ὦσι, τοιοῦτοι καὶ οἱ ὑπ’ αὐτοὺς ὡς ἐπὶ τὸ πολὺ γίγνονται).

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politische Erfolge und Gewinne), zusammengeführt, so dass die Lösung dieses Problems durch konkret wie detailliert dargestellte Schritte auch zur Systembesserung und damit letztlich auch zum Vertrauensgewinn führt.53 Es geht auch hier wieder darum, jedem Bewohner seinen für das Gesamtsystem „Athen“ besten und nützlichsten Platz zuzuweisen, so dass sich etwa die Metöken beispielsweise ganz auf ihre erfolgreiche ökonomische Aktivität, nicht den Kriegsdienst (nur zur Ehrung in der Reiterei und damit weiteren vor allem ökonomischen Motivation) konzen­ trieren oder die Fernhändler (emporoi) und Schiffsherren (nauklēroi) durch Ehrungen als wirtschaftlich potente und nutzbare „Freunde“ gewonnen werden sollen.54 Letztlich geht es um eine Systemformung, die einem Magneten gleich alle anderen Staaten an Athen bindet oder, sofern sie sich dieser Umarmung entziehen respektive entgegenstellen wollen, diese isoliert und damit als leicht zu besiegen zurücklässt.55 Dies mündet allerdings nicht in eine gleichberechtigte Friedensordnung, sondern in eine neue Führungsrolle Athens in Griechenland, die nicht als repressive archē, sondern „freiwillig“ zuerkannte hēgemonia bezeichnet wird: Wenn dem [sc. dem wirtschaftlichen Erfolg von Frieden und Stabilität in Athen] niemand widerspricht, so sollten einige Leute, die die Vorherrschaft für Athen zurückgewinnen wollen und glauben, sie eher durch Krieg als durch Frieden erlangen zu können, zuerst an die Perserkriege denken, ob wir gewaltsam oder durch Verdienste um die Griechen die Vorherrschaft zur See und die Verwaltung der Seebundskasse erlangten.56

Geschickt versteht es Xenophon hier (und im Folgenden), mit Verweis auf die als glorreich erinnerte erste Phase des ersten Delisch-Attischen Seebundes sowie durch die Nutzung des Begriffes hēgemonia diese neue Form der Machtpolitik zu präsentieren, in der Vertrauensschaffung gegenüber innenpolitischen Gruppen wie in der Außenpolitik nicht zum Selbstzweck, sondern vornehmlich nutzenorientiert als 53 Die Diskussion um die Umsetzbarkeit der vorgeschlagenen Maßnahmen ist untrennbar mit der Frage nach den Eubulos-Reformen verknüpft, vgl. oben, Anm. 50. Lu 2015, S. 153–173, hält die Vorschläge in den Poroi und im Oikonomikos nur für sekundär gegenüber dem eigentlichen Kern, der sozialen wie moralischen Erziehung. Schorn 2011 (= 2012) zeigt den idealisierenden Ordnungscharakter der Schrift und die Verknüpfung etwa zu Gedanken in den Memora­ bilien, im Hieron usw. auf; er deutet die Schrift als Versuch, das xenophontische Idealmodell in die Praxis zu tragen, der aber ob des utopischen Charakters scheitern muss. Hingegen meine ich, dass man deutlich zwischen dem ökonomischen Modell und der Darstellung desselben als Verankerung in akzeptierten, jedoch mit neuen Gedanken füllbaren „regulatory frames“ („Ordnungsrahmen“) unterscheiden muss: vgl. dazu etwa Günther 2017a. 54 Xen. vect. 2,1–7; 3,4. Zur am ökonomischen Nutzenaspekt ausgerichteten philia (Freundschaft) vgl. eindrücklich Xen. oik. 20,22–29; dazu Pomeroy 1994, S. 340. 55 Xen. vect. 5,13. 56 Xen. vect. 5,5 (Übers. Audring/Brodersen): […] εἰ δὲ πρὸς ταῦτα μὲν οὐδεὶς ἀντιλέγει, τὴν δὲ ἡγεμονίαν βουλόμενοί τινες ἀναλαβεῖν τὴν πόλιν, ταύτην διὰ πολέμου μᾶλλον ἢ δι’ εἰρήνης ἡγοῦνται ἂν καταπραχθῆναι, ἐννοησάτωσαν πρῶτον μὲν τὰ Μηδικά, πότερον βιαζόμενοι ἢ εὐεργετοῦντες τοὺς Ἕλληνας ἡγεμονίας τε τοῦ ναυτικοῦ καὶ ἑλληνοταμιείας ἐτύχομεν.

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politische Aufgabe zur Stabilisierung und Verbesserung der eigenen Polisordnung definiert wird. Dass er damit nach dem Bundesgenossenkrieg nicht alleinsteht, zeigt ein Blick auf die ungefähr gleichzeitig entstandenen Diskursschriften des Isokrates, den Areopagitikos und die Friedensrede, die innen- wie außenpolitisch Systemvertrauen mit dem Ziel der erneuten hēgemonia Athens erreichen wollen,57 aber auch ein Blick auf die Reden des Demosthenes, die sich um eine verlässliche und vor allem planbare Außen- und Finanzpolitik zu bemühen vorgeben.58

4. Fazit: Vertrauen in Xenophons Ordnungsrahmen Der kurze Durchgang durch einige relevante Stellen im Werk Xenophons, die von Vertrauen sprechen und handeln, hat gezeigt, dass Vertrauen sowohl eine wichtige Kategorie darstellt als auch eine wichtige Funktion in der von Xenophon gezeichneten idealen Ordnung erfüllt. Diese Ordnung ist dabei nicht an eine bestimmte politische Verfassung (etwa Monarchie, Aristokratie, Demokratie) gebunden, sondern überwindet gerade durch ihre meritokratische Grundlage die mit den jeweiligen Typen verbundene Instabilität. Sie weist dem- oder denjenigen mit den besten theoretischen wie praktischen Kenntnissen und Fertigkeiten die Führungsrolle quasi im Konsensverfahren und jedem weiteren Einzelnen abgestuft seine Rolle in der total auf Systemerhalt und -verbesserung ausgerichteten Gesellschaft zu. Wie in einem oikos der allmächtige Vater (vgl. zuvorderst den Oikonomikos) hat die anführende Institution stets das Gemeinwohl als oberstes Handlungsziel zu erfüllen, und die einzelnen Gruppen und Individuen versuchen je nach ihren Möglichkeiten alles, das Gesamtwohl durch Nachahmung des Systemkopfes zu stärken. In einer derart harmonischen Ordnung sind alle zentralen Tugend- und Handlungskonzepte, die im philosophischen wie politischen Diskurs jener Zeit standen, verwirklicht, darunter auch Vertrauen (pistis). Und dieses strahlt auch nach außen aus, zieht andere Staaten wie ein Magnet an und sichert so die „natürliche wie freiwillige“ Führungs57 Zu beiden Reden, zur Datierungsdiskussion und zu der Hauptargumentationslinie siehe Blank 2014, S. 379–436. Vgl. etwa Isokr. or. 8 (de pace), 135 (eigene Übers.): „Das Dritte ist, nichts als größer zu erachten – nach der Frömmigkeit gegenüber den Göttern natürlich –, als in gutem Ruf bei den Griechen zu stehen: Denn den so gestimmten geben sie freiwillig sowohl die Machtstellung als auch die Führungsrolle.“ (τρίτον ἢν μηδὲν περὶ πλείονος ἡγῆσθε, μετά γε τὴν περὶ τοὺς θεοὺς εὐσέβειαν, τοῦ παρὰ τοῖς Ἕλλησιν εὐδοκιμεῖν∙ τοῖς γὰρ οὕτω διακειμένοις ἑκόντες καὶ τὰς δυναστείας καὶ τὰς ἡγεμονίας διδόασιν). – Dillery 1993 hatte sich noch gegen einen solchen Machtgedanken in Xenophons Poroi ausgesprochen; siehe aber schon Schorn 2011, S. 86 mit Anm. 102 (= 2012, S. 714 f. mit Anm. 102) und jetzt Farrell 2016. 58 In der Rede gegen Leptines (Demosth. or. 20) wird gegen die pauschale Abschaffung von Ausnahmen von der Liturgiepflicht argumentiert, in der Symmorienrede (Demosth. or. 14) werden konkrete Reformvorschläge zur Konsolidierung der Finanzierung bezüglich der Flottenrüstung gemacht, um nicht ohne Planung einen Krieg etwa gegen den Perserkönig zu führen. Auch in der Rede gegen Androtion (Demosth. or. 22) und in der Rede gegen Timokrates (Demosth. or. 24) steht die Verlässlichkeit athenischer Institutionen im Fokus. Vgl. dazu Günther 2016, S. 125.

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rolle, die hēgemonia, des Systems. Umgekehrt herrschen im Gegenmodell, das Xenophon an vielen Stellen ausmalt, Angst, Gewaltherrschaft, Einzelnutzen und Misstrauen vor, und dies nicht nur in seinen Projektionen wie in die Zeit von Hieron I. im Hieron oder historischen Erlebnissen wie in der Anabasis, sondern ganz konkret und für alle erfahrbar in der Situation hin zu und nach dem Bundesgenossenkrieg in Athen, wie die Poroi zeigen. Noch weiter: Ein derartig von Misstrauen durchsetztes System ist nach Xenophon zum Scheitern verurteilt, da es in keiner Weise Ordnung aufrechtzuerhalten vermag: daher der Zerfall des Perserreiches nach dem Tode von Kyros d. Ä. in der Kyrupädie, daher der schlechte Zustand Spartas in Xenophons Lakedaimonion Politeia.59 Und auch Athen ist gefährdet, wie nicht nur die Poroi, sondern etwa auch das Symposion zeigen. Dort ist das Lob der Armut seitens des Charmides, eines der späteren „Dreißig“ 404/403 v. Chr., eine unverhohlene Kritik an der vermeintlichen gesellschaftlichen Unausgewogenheit (am Ende des Peloponnesischen Krieges), die Xenophon in folgende Worte des Dialogs zwischen Kallias und eben jenem Charmides kleidet: Dann aber sagte Kallias: ‚Charmides, du bist an der Reihe mit deiner Erklärung, warum du auf deine Armut stolz bist.‘ – ‚Man sagt doch allgemein‘, begann er, ‚daß Zuversicht besser als Furcht und Freiheit besser als Knechtschaft sei; auch sei es besser, bedient zu werden als selber zu dienen, und besser, das Vertrauen der Vaterstadt zu genießen als deren Argwohn auf sich zu ziehen.60

Das gefährdete Systemvertrauen gerade der Begüterten, das sich hier spiegelt, dürfte mit Erfahrungen und Wahrnehmungen des 4. Jahrhunderts v. Chr. gespickt sein.61 Entscheidend scheint mir jedoch zu sein, dass hier wie an vielen anderen Stellen auch, Vertrauen respektive Misstrauen nicht nur mit politischem oder militärischem, sondern gerade auch mit ökonomischem Erfolg beziehungsweise Misserfolg assoziiert oder, wie hier, karikiert wird. Dieser Ein(be)zug der wirtschaftlichen Dimension in den philosophischen wie politischen Diskurs seitens Xenophons reflektiert, wie allumfassend dieser sein Ordnungsmodell gestaltete, macht jedoch auch offenbar, dass diese Ebene des Vertrauens einen Widerhall in der Gesellschaft seiner Zeit erwarten durfte: einer Zeit, die eben nicht allein politisch, sozial-moralisch oder philosophisch dachte und agierte, sondern zudem wirtschaftliche Fragen zu beantworten hatte und diese auch als Vertrauensfragen begriff. 59 Xen. Lak. pol. 14,1–7. Vgl. Rebenich 1998, S. 24–35, zu den Diskussionen um die letzten Kapitel der Schrift; er betont den antiathenischen Charakter, weniger jedoch die Bezüge innerhalb des xenophontischen Gesamtwerks. 60 Xen. symp. 4,29 (Übers. Stärk): ὁ δὲ Καλλίας, Σὸν μέρος, ἔφη, λέγειν, ὦ Χαρμίδη, δι’ ὅ τι ἐπὶ πενίᾳ μέγα φρονεῖς. Οὐκοῦν τόδε μέν, ἔφη, ὁμολογεῖται, κρεῖττον εἶναι θαρρεῖν ἢ φοβεῖσθαι καὶ ἐλεύθερον εἶναι μᾶλλον ἢ δουλεύειν καὶ θεραπεύεσθαι μᾶλλον ἢ θεραπεύειν καὶ πιστεύεσθαι ὑπὸ τῆς πατρίδος μᾶλλον ἢ ἀπιστεῖσθαι. 61 Vgl. Huss 1999, S. 256–267, mit Verweisen. Vgl. auch Xen. oik. 2,1–8, wo der Reiche Kritoboulos von Sokrates ob seiner Lasten, die er als Reicher zu tragen habe, bedauert wird.

Vertrauen als Diskurskategorie in Xenophons Œuvre

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Speciosa illa quoque Romana fides – Römische Herrschaftsideologie und Vertrauen in der Krise bei Valerius Maximus Tim Helmke 1. Einleitung Valerius Maximus widmet sich in seiner unter Kaiser Tiberius publizierten Exempla-­ Sammlung der Konstruktion einer frühkaiserzeitlichen Moral.1 Das Werk bildet zentrale Werte des zeitgenössischen Diskurses als Reflex einer kaiserlichen Sittenpolitik ab, für die er Exempla aus der römischen Frühgeschichte, der Republik sowie der frühen Kaiserzeit liefert und so eine moralische Identität erzeugt.2 Moralische Ideale der maiores werden somit im Kontext des Prinzipats adaptiert und hinsichtlich ihrer Bedeutung aktualisiert.3 Besondere Aufmerksamkeit widmet Valerius Maximus dabei dem Wert der fides,4 wenn im sechsten Buch Vertrauen und Treue in zentralen Bereichen des römischen Lebens thematisiert werden. Er inszeniert damit literarisch „das wahrscheinlich am häufigsten gebrauchte […] Konzept der moralischen und politisch-sozialen Begriffswelt der Römer in der Republik wie in der frühen Kaiserzeit“.5 Der Begriff der fides beschreibt eine asymmetrische Reziprozität des Vertrauens, die in der Hierarchie der Beziehung begründet ist: Eine untergeordnete Seite äußert aktiv ihr Vertrauen gegenüber der passiven Vertrauenswürdigkeit, die von einer mächtigeren Seite ausgeübt wird.6 Wenn „fides das Vertrauen, das in eine Person und ihre fides gesetzt wird,“7 bezeichnet, wird deutlich, dass hier aktives Vertrauen einer untergeordneten Seite konstitutiv ist für dieses moralische Ideal. Ein Blick in die fides-Exempla des Valerius Maximus zeigt, dass diese normative Beziehungsstruktur streng nach den Maßgaben einer römischen Herrschaftsideologie konstruiert und dafür die Hierarchie der fides umgedeutet wird. Dies soll mithilfe einer Analyse der Fokalisierung, die das Wissen betrachtet, das die Erzählung

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Vgl. Krasser 2011, S. 233. Vgl. Wiegand 2013, S. 156; ähnlich Skidmore 1996, S. 20; Krasser 2011, S. 243. Vgl. Bloomer 1992, S. 20. Vgl. Honstetter 1977, S. 38. Auch Lucarelli 2007, S. 17, zählt die fides neben gratia und amicitia zu zum zentralen Wertekanon der Exempla-Sammlung. 5 Hölkeskamp 2004, S. 107. 6 Vgl. Hölkeskamp 2004, S. 113, 116. Heinze 1929, S. 146, 151, sieht darin eine Doppelseitigkeit aus Vertrauen erwecken und Vertrauen geben, weist aber zugleich auch darauf hin, dass es sich nicht um eine strikte Gegenseitigkeit des Vertrauens handle. 7 Hölkeskamp 2004, S. 113.

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an Figuren koppelt, nachgewiesen werden.8 Dazu werden die Kapitel 6,6 de fide publica, das Vertrauen besonders im Kontext der punischen Kriege thematisiert, und 6,8 de fide servorum mit Exempla aus dem Bereich der sozialen Nahbeziehungen in den Blick genommen.9 Im Narrativ der Punischen Kriege etwa wird ein Normkonzept von Vertrauen auf staatlicher Ebene gezeichnet, das fides allein als einen römischen Wissensbestand versteht,10 sodass die Ideologie eines status quo römischer Hegemonie in tiberianischer Zeit inszeniert wird. Die untergeordnete Instanz, die Rom aktiv Vertrauen entgegenbringt, wird dabei lediglich als Projektionsfläche eines römischen Wertekosmos genutzt. Der Wert lässt somit einen differenzierten Blick auf die Republik-Memoria zu.11 Die Fokalisierung der Bürgerkriegserzählung zeigt,12 dass dieses Narrativ das hierarchische Konstrukt umkehrt: Im Kapitel de fide servorum wird fides zu einem Wissensbestand von Sklaven, wenn sie ihre Herren vor Bedrohungen retten. Diese eigentlich marginalisierte Figurengruppe erhält so eine Innensicht in die Krise, ihre Herren – meist Gegner der Triumvirn und der caesarischen Ideologie – werden hingegen ihrer Handlungsmacht beraubt und faktisch aus der Erzählung verbannt. Dieser Wert erhält so den Stellenwert eines Krisenmarkers, indem das Narrativ ideologisch umgedeutet wird.13 Auf diese Weise wird ein Wandel des Vertrauensbegriffs in der Exempla-Sammlung evident, der sich aus der tiberianischen Herrschaftsideologie ergibt.

2. Normative fides im Narrativ des zweiten Punischen Krieges Für Valerius Maximus sind die Narrative der Republik von zentraler Bedeutung, um normative Ideale des zeitgenössischen Wertediskurses zu konstruieren und auf der Grundlage der mores maiorum zu legitimieren.14 Die Erinnerungskultur unter Kaiser Tiberius findet im zweiten Punischen Krieg den geeigneten Stoff für eine Inszenierung von Werten und Emotionen.15 In dieser Absicht wird auch die fides Romana zur Legitimation eines Herrschaftsanspruchs,16 den Valerius in den Exem-

8 Zur Theorie der Fokalisierung vgl. Genette 2010, S. 121–124. 9 Thurn 2001, S. 82, legt dar, dass die fides-Kapitel 6,6–8 ursprünglich ein zusammenhängendes Kapitel zur fides darstellten und die Unterteilung erst durch nachträglich eingefügte Überschriften vorgenommen wurde. Bloomer 1992, S. 17, bemerkt, dass aber die übrigen Kapitelüberschriften – wozu auch die fides-Rubrik generell gehört – vom Autor stammen. Die Übersetzungen der Exempla des Valerius Maximus stammen vom Verfasser dieses Beitrags. 10 Nach Genette 2010, S. 122 f., liegt eine interne Fokalisierung vor. 11 Wiegand 2013, S. 85, weist darauf hin, dass die Republik unter Tiberius nicht mehr als absolutes Ideal gilt. 12 Wiegand 2013, S. 175, weist darauf hin, dass Valerius Maximus keine Periodisierung der verschiedenen Phasen des Bürgerkrieges vornimmt. 13 Vgl. Wiegand 2013, S. 167, 169, und Kapitel 3 des vorliegenden Beitrags. 14 Vgl. Krasser 2011, S. 240. 15 Vgl. Coudry 1998, S. 45; ähnlich Chassignet 1998, S. 55. 16 Vgl. Hölkeskamp 2004, S. 111 f.

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pla des 3. Jahrhunderts v. Chr. formuliert.17 Der vielfach erkannte besondere Wert der Vorfahren für die Exempla-Sammlung bedarf hinsichtlich der Funktionalisierung der fides im Narrativ der republikanischen Kriege jener Zeit einer differenzierten Betrachtung.18 Mithilfe einer Analyse der Fokalisierung soll nachgewiesen werden, dass dieses moralische Ideal für den Wertediskurs unter Tiberius primär der moralischen Selbstvergewisserung eines hegemonialen status quo dient,19 da die fides als ein Wert inszeniert wird, der allein von Römern verhandelt wird. Entsprechend sind die Kriegsnarrative von einem Selbstbewusstsein bestimmt, das sich durch die militärischen Erfolge der republikanischen wie auch der augusteischen Zeit etabliert hatte und das die römische Hegemonie in moralischen Belangen nicht mehr in Frage stellt.20 Anhand der Fokalisierung soll zuerst gezeigt werden, dass Vertrauen für Valerius Maximus als Postulat nach außen gilt: Das fides-Wissen liegt bei den Römern, sodass Rom Vertrauen einerseits aktiv einfordert, andererseits selbst die eigene Vertrauenswürdigkeit beschwört. Verhandelt im Sinne einer Reziprozität wird der Wert jedoch nicht. Im zweiten Schritt soll nachgewiesen werden, dass Valerius dieses Werteverständnis auch auf die Figurenebene überträgt, indem er mit Scipio Africanus einen der summi viri der Republik zum Bezugspunkt der Memoria erhebt.21 In gleicher Weise wird nun in einer Figur sämtliches fides-Wissen konzentriert – ein literarischer Reflex der kaiserzeitlichen Erinnerungskultur, der mit der Inszenierung republikanischer Helden die Republik-Memoria seit Augustus prägt.22 In beiden Fällen wird die Seite des Vertrauenden lediglich zur Projektionsfläche römischer Moral. 2.1 fides civitatis nostrae – Vertrauen und Selbstwahrnehmung Valerius Maximus stellt die fides im Narrativ des Punischen Krieges in den Dienst einer moralischen Selbstvergewisserung und Standortbestimmung.23 Die zentrale Bedeutung von Vertrauens- und Treueverhältnissen für diese Exempla-Reihe macht er bereits in der Praefatio des Kapitels 6,6 de fide publica deutlich, in dem er den Wert der fides und ihre Konstitution in Rom den einzelnen Episoden voranstellt: Nachdem deren Abbild vor aller Augen gestellt worden war, zeigte die ehrwürdige Gottheit der Fides ihre rechte Hand, das sicherste Unterpfand des menschlichen 17 Vgl. Weileder 1998, S. 55 f. 18 Zur besonderen Bedeutung der maiores bei Valerius Maximus vgl. Bloomer 1992, S. 49; Langlands 2008, S. 169; Wiegand 2013, S. 168. 19 Vgl. Weileder 1998, S. 56, 190–194. 20 Weileder 1998, S. 66, 193. 21 David 1998, S. 9, sieht in der Konstruktion einzelner Protagonisten der Vergangenheit als exemplarische Autoritäten einen Mechanismus der frühkaiserzeitlichen Literaturproduktion. 22 Vgl. Gowing 2005, S. 157; ähnlich Skidmore 1996, S. 86. 23 Zur Deutung von Valerius’ Darstellung des zweiten Punischen Krieges als einer fides-Krise vgl. auch Simon 1978, S. 147.

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Wohls. Alle Völker bemerkten, dass sich diese in unserem Staat immer in ihrer Blüte gezeigt hatte; so lasst auch uns einige wenige Exempla in Erinnerung rufen.24

Im Vorwort dieses Kapitels wird zweierlei erkennbar: Erstens betont Valerius mit Nachdruck die Bedeutung der fides. Als Gottheit erkennt er ihr einen großen Stellenwert für die Konstruktion der Exempla zu,25 der in der chiastischen Bezeichnung certissimum salutis humanae pignus seinen Ausdruck findet. Zweitens markiert die Narration die fides an dieser Stelle einleitend als einen bedeutenden Wert einer Exempla-Reihe, die überwiegend Episoden aus den Kriegen gegen Karthago enthält.26 Eine entscheidende Beobachtung für das Verständnis von römischem Vertrauen ermöglicht die Analyse der Fokalisierung, mit der in dieser Praefatio auf die fides zugegriffen wird. Sie eröffnet den Blick auf die Wirkrichtung dieses Wertes und verdeutlicht die strukturelle Eigenschaft der gesamten Exempla-Reihe: Emphatisch konstruiert Valerius bereits den entscheidenden Kontrast, indem er nostra civitate und omnes gentes gegenüberstellt. Dieser Gegensatz bildet die Hierarchie des Wertes ab, in der Rom zur Instanz wird, die über die fides verfügt. Entscheidend ist nun die Frage nach dem Zugriff auf die fides, die durch einen Blick auf die fokalisierenden Instanzen geklärt werden kann: Das Prädikat senserunt zeigt, dass Valerius die römische fides zum Gegenstand einer Außenwahrnehmung macht. Fides wird für ihn zum römischen Gut, das andere Völker erfahren. Dieser Befund macht die Hierarchie deutlich, die dem normativen Kon­strukt einer römischen Vertrauenswürdigkeit zugrunde liegt. Die Ethnizität ist in dieser Darstellung ein Kriterium, das Vertrauen im vorliegenden Diskurs reguliert. Valerius thematisiert ein Verständnis römischer fides, das allein von Rom ausgeht und Rom somit ins Zentrum dieses Werteverständnisses stellt. Dies legt ein zentrales Merkmal des tiberianischen Wertediskurses offen: Die Praefatio macht einen göttlichen wie moralischen Herrschaftsanspruch geltend, der als eine ideologische Tendenz zu verstehen ist.27 Offensichtlich ist dieses fides-Verhältnis für Valerius nicht allein ein asymmetrisch reziprokes Gefüge aus wechselseitigen Abhängigkeiten, wie es Hölkeskamp in seiner Begriffsbestimmung der fides formuliert hat.28 Vielmehr wird hierin Rom zur alleinigen Instanz erhoben, die für die Konstruktion von staatlichen Vertrauensverhältnissen verantwortlich gezeichnet wird. Die Fokalisierung legt eine nichtrömische Perspektive offen, die zur Selbstvergewisserung eines römischen Wertebewusstseins dient. Dieses in der Praefatio konstruierte Bewusstsein des römischen Vertrauens, in der alle anderen Völker als bloß wahrnehmende Instanz 24 Val. Max. 6,6 praef.: Cuius imagine ante oculos posita venerabile fidei numen dexteram suam, certissimum salutis humanae pignus, ostentat. Quam semper in nostra civitate viguisse et omnes gentes senserunt et nos paucis exemplis recognoscamus. 25 Mueller 2002, S. 4, weist auf die Bedeutung der Religion für die Konstruktion der WerteExempla bei Valerius Maximus hin. 26 Vgl. Coudry 1998, S. 52. 27 Vgl. Weileder 1998, S. 64. 28 Hölkeskamp 2004, S. 116, erkennt das aktive Unterwerfen der unterlegenen Seite in die Macht eines anderen als einen „wenigstens dem Prinzip nach freiwilligen […] Akt“.

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verstanden werden, schafft anhand des Kriteriums der Ethnizität eine moralische Hierarchie, die insbesondere das Narrativ der römischen Kriege gegen Karthago und der römischen Expansion im Mittelmeerraum bestimmt.29 Dass Valerius Maximus dabei ein frühkaiserzeitliches Selbstverständnis in seinen Exempla abbildet, macht ein Blick auf die fides deutlich, die Velleius Paterculus in seine Darstellung der römischen Kriege der Republik einbindet. Auch für ihn ist Vertrauen eine römische Tugend, die gegenüber anderen Völkern zum Ausdruck kommt. Er nutzt die Erzählung des Krieges gegen Mithridates dazu, eine dezidiert römische fides zu inszenieren.30 Die Emphase einer von Rom ausgehenden Vertrauenswürdigkeit nach außen prägt somit die Beschreibung republikanischer Kriege. Obgleich die Exempla einer Kategorie bei Valerius Maximus stets in römische und nichtrömische Episoden unterteilt sind,31 zeigen die folgenden Betrachtungen, dass die fides in beiden Fällen nach demselben Muster konstruiert wird. Dass Valerius stets auswärtige Völker zu Rezipienten römischer fides macht, wird zum Leitmotiv des gesamten Kapitels de fide publica. Durch ihre Perspektive lässt Valerius den Leser auf die römische fides blicken. Entsprechend werden die Karthager in die Beschreibung von Kriegshandlungen im ersten Punischen Krieg eingebunden, die auf die Einhaltung dieser Wertestruktur abzielt. So wird erzählt, wie die Punier nach einer Niederlage die Vertrauenswürdigkeit der Römer erfahren: Hervorstechend ist auch jenes Beispiel römischer Treue. Nachdem eine riesige Flotte der Punier vor Sizilien vernichtend geschlagen worden war, berieten deren Befehlshaber entmutigt über Maßnahmen, einen Frieden zu erwirken. Von denen sagte Hamilcar, er wage es nicht, zu den Konsuln zu gehen, um nicht auf dieselbe Weise in Ketten gelegt zu werden, wie sie von ihnen selbst dem Konsul Cornelius Asina angelegt worden waren. Aber Hanno, ein entschiedenerer Wertschätzer des römischen Geistes, meinte, man müsse nichts Derartiges fürchten, und strebte im vollsten Vertrauen zu einer Unterredung mit diesen. […] Beide Konsuln […] sagten: ‚Vor dieser Furcht bewahrt dich, Hanno, die Redlichkeit unseres Staates.‘32

29 Eine moralische Überlegenheit gegenüber anderen Völkern ist bereits erkannt worden von Weileder 1998, S. 135, 153. 30 Vell. 2,23,4 (Übers. Giebel): „Wenn nun aber jemand diese Widerstandsperiode, in der Athen von Sulla belagert wurde, den Athenern ankreidet, dann kennt er freilich die historische Wahrheit schlecht. Die Athener waren nämlich so unerschütterlich treu gegen die Römer, daß diese jedes wahrhaft zuverlässige Verhalten stets rühmend als ‚attische Treue‘ bezeichneten.“ (Si quis hoc rebellandi tempus, quo Athenae oppugnatae a Sulla sunt, imputat Atheniensibus, nimirum veri vetustatisque ignarus est: adeo enim certa Atheniensium in Romanos fides fuit ut semper et in omni re, quidquid sincera fide gereretur, id Romani Attica fieri praedicarent). 31 Zu den Ordnungsprinzipien des Werkes nach römischen und nichtrömischen Exempla vgl. beispielhaft Bloomer 1992, S. 17. 32 Val. Max. 6,6,2: Speciosa illa quoque Romana fides. Ingenti Poenorum classe circa Siciliam devicta duces eius fractis animis consilia petendae pacis agitabant. Quorum Hamilcar ire se ad consules negabat audere, ne eodem modo catenae sibi inicerentur, quo ab ipsis Cornelio Asinae

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Diese Episode bildet das normative Verständnis der fides ab, welches das vorliegende Narrativ bestimmt. Auch hier ist das in der Praefatio geschaffene Selbstverständnis der Römer erkennbar, das sich in der epistemologischen Anlage der Erzählung widerspiegelt: Valerius macht den Karthager Hanno als certior Romani animi aestimator entsprechend der asymmetrisch-reziproken Struktur des Wertes zum Rezipienten einer römischen Vertrauenswürdigkeit, woraufhin dieser den Römern seine maxima fiducia entgegenbringt. Er unterwirft sich auf diese Weise innerhalb einer hierarchischen Ordnung.33 Die Fokalisierung zeigt, dass die Karthager in ihrer Rolle als Rezipienten des römischen Ideals einen Wertezugriff auf das fides-Konstrukt haben. Schließlich wechselt allerdings mit den Worten des Konsuls die epistemologische Struktur. Nun blickt ein Römer mit den Augen eines Karthagers auf die römische fides, indem er Hanno an die Bedeutung der fides civitatis nostrae erinnert. Valerius nutzt den Römer damit als fokale Instanz, die das Wissen über die fides vermittelt. Dem Konsul wird so eine moralische Allsicht zugestanden, sodass das Vertrauen, das die Karthager entgegenbringen, weniger ein selbstständiger Akt ist, sondern vielmehr ein von Rom ausgehendes Postulat an die unterworfenen Gegner. Die fehlende Selbstständigkeit der Karthager, die durch ein römisch gelenktes Wertewissen sichtbar wird, demonstriert somit die römische Herrschaft.34 Die fides legitimiert nicht nur moralisch die römische Herrschaft, sie wird vielmehr zum Indikator römischer Macht.35 Deutlich wird zweierlei: Einerseits nutzt Valerius Hanno dazu, der fides der Römer eine Projektionsfläche zu geben. Anstelle eines eigenen exemplarischen Wertes werden Nichtrömer zu Charaktanten römischer Moral.36 Andererseits determiniert diese Funktion ihre Rolle im vorliegenden Narrativ. Die Erinnerung an die Punischen Kriege ist für Valerius geprägt von einer moralischen Überlegenheit über die Gegner.37 Dieses Selbstverständnis ist die Voraussetzung einer Einbettung in das Narrativ, wie es die fides-Exempla zeigen. Vertrauen wird auf diese Weise zum Spiegel einer römischen Hegemonialstellung und grenzt die Römer in moralischer Weise nach außen ab. Dass diese Stellung Roms für Valerius nicht mehr verhandelt wird, sondern einen hegemonialen status quo darstellt, zeigt das Wertewissen, das den Karthagern zugeschrieben wird und ihre normative Unterordnung abbildet.

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consuli fuerant iniectae. Hanno autem, certior Romani animi aestimator, nihil tale timendum ratus maxima cum fiducia ad conloquium eorum tetendit. […] uterque consul […] ‚istote‘ inquit ‚metu, Hanno, fides civitatis nostrae liberat.‘ Hölkeskamp 2004, S. 116, bezeichnet fides-Beziehungen als Ausdruck von Machtverhältnissen zugunsten einer übergeordneten Instanz. Heinze 1929, S. 151, weist darauf hin, dass etwa ein Patron in einer fides-Beziehung keinen Gegendienst vom Klienten fordert, sondern dieser selbstständig erbracht wird. Hölkeskamp 2004, S. 132, verweist auf die machthaltige Bedeutung der fides im Kontext militärischer Unterwerfung. Als Charaktanten werden Figuren bezeichnet, die in erster Linie dazu dienen, eine zweite Figur zu charakterisieren, vgl. Lahn/Meister 2016, S. 243. Weileder 1998, S. 56, deutet Valerius’ Vorstellung der fides Romana als Ausdruck eines römischen Herrschaftsanspruchs.

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Auch in einem Beispiel aus dem Jahr 200 v. Chr.38 schildert Valerius, wie König Ptolemaios den Römern die tutela für seinen Sohn überträgt, woraufhin der Senat eine Gesandtschaft nach Alexandria schickt, um diesem Wunsch nachzukommen. Als Grund für diese Bemühungen nennt Valerius: „[…] damit man nicht glaubte, dass das Vertrauen in unseren Staat vergeblich ersucht worden sei.“39 Hiermit kennzeichnet er einerseits das Vertrauen als einen Wert, der ausschließlich von den Römern ausgeht. Andererseits legt er die Funktion der nichtrömischen Seite offen: Aus Ptolemaios’ Sicht lässt Valerius den Leser mit existimaretur auf die fides blicken. Diese Instanz wird in der Erzählung als Rezipient des Wertes eingesetzt und dient somit vor allem dazu, ein römisch regiertes Vertrauensverhältnis sichtbar zu machen, was das römische Selbstbewusstsein nach außen in tiberianischer Zeit abbildet,40 das die gesamte Reihe der fides-Exempla prägt.41 Ihr kommt allein die narratologische Funktion einer Folie eines römischen Wertekonstrukts zu. 2.2 Vertrauen als Spiegel römischer Hegemonie Nicht nur auf politischer Ebene ist Vertrauen für Valerius ein Mechanismus der Standortbestimmung in der Republik-Memoria. Auch auf figuraler Ebene schafft er Exempla, die diese Struktur der fides nutzen. Vertrauen wird so in der Figureninteraktion als ein Ideal inszeniert, das normative Hierarchien konstruiert. Ausgangspunkt dieses Wertekonzepts ist die in der Kaiserzeit praktizierte Verehrung der summi viri der Republik auf dem Augustus-Forum, die Gowing zu Recht mit der Exempla-Sammlung des Valerius Maximus vergleicht.42 Entsprechend liegt dem Werk das frühkaiserzeitliche Bestreben zugrunde, Taten und Werte bedeutender Männer in das kollektive Gedächtnis der eigenen Zeit zu überführen.43 Das fides-Konzept des Valerius Maximus legt aufgrund der darin abgebildeten Wertestruktur den Schluss nahe, dass gerade das Vertrauen als Ideal verstanden wird, das zur Inszenierung republikanischer Helden dient. Den bedeutendsten Prota­gonisten dieses Narrativs sieht Valerius Maximus in Scipio Africanus.44 Gleich

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Zur Datierung der jeweiligen Exempla vgl. Bailey 2000a und Bailey 2000b. Val. Max. 6,6,1: ne fides civitatis nostrae frustra petita existimaretur. Vgl. Weileder 1998, S. 62 f., 101. Val. Max. 6,6 ext. 1: […] weil sie der punischen Übermacht nicht länger standhalten konnten, hatten sie auf dem Forum zusammengesammelt, was allen am meisten am Herzen lag, überall leicht entflammbare Dinge drum herum gelegt und angezündet. Um sich nicht vom Bündnis mit uns loszusagen, warfen sie sich selbst auf einen öffentlichen, für alle errichteten Scheiterhaufen. ([…] cum vim Punicam ulterius nequirent arcere, collatis in forum quae unicuique erant carissima atque undique circumdatis accensisque ignis nutrimentis, ne a societate nostra desciscerent, publico et communi rogo semet ipsi superiecerunt). 42 Vgl. Gowing 2005, S. 157. 43 Vgl. David 1998, S. 16. 44 Vgl. Maslakov 1984, S. 489; Bloomer 1992, S. 150, 227.

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zweifach wird dieser in fides-Exempla eingebunden,45 sodass seine Funktion für die Abbildung dieses Wertes analysiert werden muss: Dessen Vorbild folgte der ältere Africanus und entließ, nachdem er ein mit vielen bedeutenden Karthagern besetztes Schiff in seine Macht gebracht hatte, dies unversehrt, weil sie sagten, sie seien als Gesandte zu ihm geschickt worden. Dies tat er, obgleich offensichtlich war, dass jene fälschlicherweise die Bezeichnung der Gesandtschaft anführten, um der drohenden Gefahr zu entgehen, sodass das Vertrauen in einen römischen Feldherrn lieber als getäuscht denn als vergeblich erbeten beurteilt werden solle.46

Dieser Bericht aus dem Jahr 203 v. Chr. stellt das Narrativ des zweiten Punischen Krieges in der frühkaiserzeitlichen Erinnerungskultur in den Dienst eines zeitgenössischen Verständnisses von Vertrauen. Valerius macht Scipio Africanus durch die interne Fokalisierung zum zentralen Protagonisten, sodass das gesamte Exem­ plum von dessen epistemologischer Autorität bestimmt wird. Sämtliches fides-­ Wissen wird über Scipio vermittelt. Der Beiname Africanus verweist dazu leitmotivisch auf die Inszenierung militärischer Überlegenheit in diesem Narrativ.47 Der Feldherr regiert auch entsprechend als Subjekt die Erzählung, wodurch seine Handlungsmacht abgebildet wird. Eindrücklich kommt dabei die moralische Qualität Scipios zum Ausdruck, die er gegenüber den Karthagern zeigt und somit am Kriterium der Ethnizität deutlich wird.48 Der Römer richtet auf der Grundlage seines figuralen Wertezugriffs auf die fides seine Vertrauenswürdigkeit aktiv nach außen und reguliert durch seine epistemologische Funktion zugleich das aktive Entgegenbringen von Vertrauen durch die Karthager, an die aus römischer Perspektive das Postulat der fides gerichtet wird. Indem den Karthagern so die aktive Rolle der Vertrauenden genommen und sämtliches Wertwissen auf Scipio verlegt wird, wird die Funktion der nichtrömischen Seite für das Exemplum deutlich. Valerius nutzt abschließend eine Außenwahrnehmung, die dazu dient, die vorbildhaften römischen Handlungen abzubilden. Das Prädikat iudicaretur verlagert die Rezeption der scipionischen fides nämlich nach außen. Dadurch wird deutlich, dass in der Spiegelung des moralischen Exemplums und der damit erzeugten Außenwahrnehmung römischer Moral ein entscheidendes Motiv liegt, das Valerius der Handlung des Scipio zugrunde legt. Auf der figuralen Ebene gelingt es somit ebenso, durch die Konstruktion eines Gegensatzes aus römi45 Vgl. Val. Max. 6,6,4 und 6,7,1. 46 Val. Max. 6,6,4: Cuius exemplum superior Africanus secutus, cum onustam multis et inlustribus Karthaginiensium viris navem in suam potestatem redegisset, inviolatam dimisit, quia se legatos ad eum missos dicebant, tametsi manifestum erat illos vitandi praesentis periculi gratia falsum legationis nomen amplecti, ut Romani imperatoris potius decepta fides quam frustra implorata iudicaretur. 47 Vgl. Weileder 1998, S. 89. 48 Auf das Kriterium der Ethnizität in der Inszenierung Scipios hat bereits Weileder 1998, S. 153, hingewiesen.

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schem Exemplum und auswärtiger Rezeption Rom von den Karthagern abzusetzen und hierarchisch diesen voranzustellen. Wenn so die fides der Römer eine kollektive Dimension dieses Wertes abbildet, der Rom als moralisches und politisches Referenzsystem versteht,49 dann wird dies durch die funktionale Einbindung der nichtrömischen Seite zu einer Abgrenzung Roms nach außen genutzt. Dieser Befund einer Funktion der Nichtrömer als bloße Projektionsfläche eines römischen Wertekosmos spiegelt die Republik-Memoria im Prinzipat wider: Die Stellung Roms muss nach Valerius Maximus etwa im Punischen Krieg nicht mehr verhandelt werden.50 Nur das Handeln der Römer, nicht mehr die Darstellung dieses römischen Wertekonstrukts selbst bedarf im vorliegenden Narra­ tiv noch einer Legitimation. Nicht nur inhaltlich, sondern auch narratologisch wird dies anhand des fides-Begriffs erkennbar. Scipio wird für Valerius Maximus somit zum Maßstab des Werteverständnisses. Seine moralische Autorität prägt nicht nur Exempla, die Roms Rolle als Hegemonialmacht beschreiben. Zugleich stellt der Feldherr auch eine moralische Instanz republikanischer Ehe-Exempla dar – ein Themenkomplex von besonderer Bedeutung in den Facta et dicta memorabilia, da darin die fides als eheliches Ideal der maiores inszeniert wird.51 Diese Funktion wird in einer Episode über das Vertrauensverhältnis zwischen Scipio und seiner Ehefrau Aemilia deutlich: Um auch die Treue von Ehefrauen zu behandeln: Tertia Aemilia, die Ehefrau des älteren Africanus, Mutter der Gracchen-Mutter Cornelia, war so gutmütig und duldsam, dass sie – obwohl sie wusste, dass eine von ihren Dienerinnen ihrem Ehemann gefällig war – vorgab, nichts zu wissen, damit nicht eine Frau den großartigen Mann, den Eroberer der Welt, Africanus, wegen seiner mangelnden Enthaltsamkeit anklagte. Und sie war so fern von Rache, dass sie nach dem Tod des Africanus die freigelassene Dienerin mit einem ihrer Freigelassenen verheiratete.52

Valerius erzählt, wie Aemilia ihrem Mann mit vorzüglicher comitas und patientia die Treue hält, obwohl sie von dessen Liaison mit einer Dienerin weiß. Scipio wird auf diese Weise zur übergeordneten Instanz eines Vertrauens- und Treueverhältnisses. Zwar beschwört Valerius hierin die Rolle Aemilias als republikanische

49 Vgl. Coudry 1998, S. 52; ähnlich Maslakov 1984, S. 489. 50 Weigand 2013, S. 173, versteht dies als eine Verschiebung der Bedeutung von Ereignissen gemäß der prinzipalen Ideologie. 51 Lucarelli 2007, S. 164, hat mit Blick auf die Kapitel 4,6 de amore coniugali und 6,7 de fide uxorum auf den Wert von Ehe-Exempla hingewiesen. Diesem republikanischen Ideal der Ehe komme in der tiberianischen Gegenwart besondere Bedeutung zu. 52 Val. Max. 6,7,1: Atque ut uxoriam quoque fidem attingamus, Tertia Aemilia, Africani prioris uxor, mater Corneliae Gracchorum, tantae fuit comitatis et patientiae, ut cum sciret viro suo ancillulam ex suis gratam esse, dissimulaverit, ne domitorem orbis Africanum, femina magnum virum, impatientiae reum ageret, tantumque a vindicta mens eius afuit ut post mortem Africani manumissam ancillam in matrimonium liberto suo daret.

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Matrona,53 zugleich macht ein Blick auf Scipio dessen Stellung deutlich: Valerius macht diesen zum „zeitlosen Protagonisten“54, der als domitor orbis, magnus vir und durch die zweifache Bezeichnung als Africanus sowohl für die Expansionspolitik steht55 als auch eine bedeutende Autorität gesellschaftlicher Werteideale darstellt. Verortet Valerius dieses Exemplum allerdings im Raum der sozialen Nahbeziehungen, wird deutlich, dass auch diese eine politische Bedeutung erhalten.56 Scipio ist für die Exempla-Sammlung nicht nur nach außen gegenüber den Karthagern ein Garant römisch zentrierter Vertrauens- und Treueverhältnisse. Auch für die Konstruktion eines idealen sozialen Gefüges, das Valerius nach den Maßgaben des zeitgenössischen Diskurses abbildet, dient Scipio als Referenz. Die von Skidmore erkannte auctoritas republikanischer Protagonisten, die ihnen aufgrund von laus und virtus zukommt,57 macht Valerius am Beispiel der scipionischen fides deutlich: Der Feldherr persönlich figuriert diesen Wert und stellt damit einen Helden dar, der eine moralische Überlegenheit der Römer in ihrer Selbstwahrnehmung par excellence abbildet, die Valerius Maximus dem Leser präsentiert. Scipios moralische Qualitäten werden hier absolut gesetzt, was nicht zuletzt auch die Angleichung von Scipio an Kaiser Tiberius spiegelt, die hier in moralische Hinsicht erkennbar wird.58 Dass Valerius Maximus fides als eine absolute Größe eines explizit römischen Wertekosmos versteht, zeigt ein Blick auf die parallele Überlieferung dieses Ereignisses bei Livius: Für ihn stellt der Bruch des vereinbarten Waffenstillstandes einen Vertrauensbruch dar.59 Obgleich die Karthager gegen das Gebot der fides verstoßen, wird sie als ein Postulat an die gegnerische Seite in diesem Krieg verstanden. Genau wie Valerius Maximus kennzeichnet die livianische Version eine moralische Überlegenheit, da es den Karthagern an Verlässlichkeit im vorliegenden Treue-­Verhältnis fehlt. Allerdings wird im Vergleich beider Episoden deutlich, dass sich sowohl das Narrativ als auch das Verständnis von Vertrauens- und Treueverhältnissen im Verlauf der frühen Kaiserzeit gewandelt hat: In tiberianischer Zeit ist Rom die alleinige Macht im Narrativ des Krieges. Während dieser bei Livius noch als diskursives Ereignis dazu dient, den Wert als römisches Ideal zu markieren, dem die Karthager 53 Zur Funktion Scipios für die Konstruktion eines normativen Geschlechterverhältnisses auf der Grundlage des tiberianischen Wertediskurses vgl. Helmke 2022. 54 Wiegand, S. 163. 55 Vgl. Weileder 1998, S. 89. 56 Lucarelli 2007, S. 135, verortet die weibliche fides zwar als Wert der domus, schreibt dem häuslichen Bereich in der frühen Kaiserzeit jedoch auch eine öffentliche Bedeutung zu. Zur fides als sozialem und politischem Ideal vgl. Hölkeskamp 2004, S. 107 f. 57 Vgl. Skidmore 1996, S. 86; Loutsch 1998, S. 39. 58 Zu Scipios Präfiguration des julisch-claudischen Kaiserhauses vgl. Weileder 1998, S. 264 f. 59 Liv. 30,25,10 (Übers. Hillen): „Scipio erklärte ihnen, obwohl die Karthager nicht nur die Verpflichtung des Waffenstillstands, sondern auch das Völkerrecht in der Person der Gesandten verletzt hätten, werde er ihnen nichts antun, was der Grundsätze des römischen Volkes und seiner eigenen Sitten unwürdig sei, entließ die Gesandten und bereitete sich auf den Krieg vor.“ (Quibus Scipio, etsi non indutiarum modo fides a Carthaginiensibus, sed ius etiam gentium in legatis violatum esset, tamen se nihil nec institutis populi Romani nec suis moribus indignum in iis facturum esse cum dixisset, dimissis legatis bellum parabat).

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nicht gerecht werden können,60 schwindet das Rechtfertigungsbedürfnis in späterer Zeit. Valerius muss offenbar keine Rechenschaft mehr über die Hierarchie eines Vertrauensverhältnisses ablegen. Stattdessen wird die moralische Legitimation der römischen Selbstdarstellung vielmehr auf innerrömische Prozesse bezogen: Im Vordergrund steht dabei die Konstruktion eines Wertekonsenses, der auf der moralischen Selbstbestätigung beruht.61 Die Republik-Memoria wird also dazu genutzt, in erster Linie die moralischen Ideale der Gegenwart und damit auch das politische System des Prinzipats, das diesen zugrunde liegt, zu beschwören.62 Allein der Gegenwartsbezug, durch einen republikanischen Protagonisten inszeniert, und nicht die Vergangenheitsbewältigung verleiht dem Exemplum seine Bedeutung.

3. Vertrauen in der Krise – die Umdeutung der fides Valerius’ Exempla-Sammlung verzeichnet eine große Zahl von fides-Episoden aus der Bürgerkriegszeit.63 Diese Epoche der römischen Geschichte nimmt einen besonderen Stellenwert im Werk ein, da der Bürgerkrieg der 40er-Jahre fast gänzlich ausgeblendet wird, diese Zeit des Umbruchs dann aber mit Octavian ihr Ende erreicht.64 Die Zeit Sullas kann hingegen dezidiert als eine Phase schwerster Unruhen beschrieben werden,65 während die Proskriptionen im Zuge des zweiten Triumvirats zwar häufig erwähnt, aber nicht mit den Urhebern in Verbindung gebracht werden.66 Valerius Maximus verortet in diesem historischen Kontext zahlreiche fidesExempla, deren Figurenbestand er aus der sozialen Gruppe der Sklaven rekrutiert.67 Lucarelli hat aufgezeigt, dass Valerius in diesem Kontext häufig Sklaven zu positiven Exempla stilisiert: Indem sie ihren Herren in Notsituationen des Bürgerkrieges zur Seite ständen, komme einerseits der normative Stellenwert der fides servorum zum Ausdruck; andererseits seien hieraus gesellschaftliche Implikationen bezüglich der Stellung von Sklaven im Narrativ des Bürgerkrieges abzuleiten.68 Mithilfe des narratologischen Analysekriteriums der Fokalisierung wird es möglich, den oben skizzierten Befund einer besonderen Bedeutung der von Sklaven ausgehenden Handlung zu differenzieren. Zweierlei soll im Folgenden gezeigt werden: Erstens lassen sich auf der Grundlage der Wissensvermittlung in der Erzählung die 60 61 62 63 64 65 66 67 68

Vgl. Walsh 1996, S. 87. Vgl. Krasser 2011, S. 250 f. Vgl. David 1998, S. 16 f. Vgl. Lucarelli 2007, S. 225. Gowing 2010, S. 253, versteht die Bürgerkriegszeit im Werk des Valerius als Fundus republikanischer Ideale. Vgl. Bloomer 1992, S. 163, 185; Wiegand 2013, S. 177. Vgl. Bloomer 1992, S. 49; Wiegand 2013, S. 177. Bloomer 1992, S. 171, 223, konstatiert, dass die Urheber der Proskriptionen nicht genannt würden und auch Octavians Verbindung zu diesen nicht erwähnt werde. Lucarelli 2007, S. 220, weist auf den besonderen Stellenwert der sozialen Gruppe der Sklaven hin, die mit 30 Exempla im Werk des Valerius sehr präsent sei. Die Beziehung zu ihren Herren stehe nach der Vater-Sohn-Beziehung und den Ehe-Exempla quantitativ an dritter Stelle. Vgl. Lucarelli 2007, S. 220–225.

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Funktionen von Sklave und dominus analysieren. Die Fokalisierung der Erzählung zeigt, dass die Narration das fides-Wissen allein an die Figur des Sklaven knüpft, während der Herr dagegen in den Exempla innerhalb der sozialen Interaktion epistemologisch marginalisiert wird.69 Es sind nicht mehr Vertreter der römischen Aristokratie, welche Treue- und Vertrauensverhältnisse regulieren.70 Im Gegenteil: Im vorliegenden Narrativ werden stattdessen Sklaven als übergeordnete Instanzen in die Konstruktion von Vertrauen eingebunden, die sowohl die Handlung als auch das Wissen der Erzählung dominieren. Indem zweitens die Analyse der Fokalisierung zeigt, dass durch die epistemologische Gestaltung der Erzählung ganze Figurengruppen marginalisiert werden können, werden sowohl soziale als auch ideologische Implikationen sichtbar: So kann nicht nur ein Normkonstrukt geschaffen werden, das die Gruppe der Sklaven ins Narrativ und damit in Valerius’ Gesellschaftsbild integriert;71 vielmehr platziert ein derartiger fides-Begriff die Sklaven innerhalb der Bürgerkriegskonflikte, in die sie anstelle ihrer Herren eintreten. Auf diese Weise gelingt es Valerius, die Memoria des Bürgerkriegs ideologisch umzudeuten.72 3.1 Sklaven und die einseitige Treue Das Treue- und Vertrauensverhältnis zwischen Sklaven und deren Herren wird für Valerius Maximus erst im Zuge der Bürgerkriege interessant.73 In den Exempla des Kapitels 6,8 de fide servorum wird eine Umkehr einer gesellschaftlichen Hierarchie sichtbar.74 Die sozial niedrig gestellte und homogene Gruppe der Sklaven, die in der gesellschaftlichen Hierarchie gänzlich ihrem Herrn unterworfen ist,75 steht nun hierarchisch über bedeutenden Männern dieser Zeit. Ihnen wird in den Exempla als Reflex einer Neudefinition der amicitia, die einzig auf das bedingungslose Aufopfern des amicus zum Ausdruck seiner fides ausgerichtet ist, die Handlung zugestanden.76 Valerius konstruiert so gesellschaftliche Normen bezüglich der Stellung von Skla69 Ein vergleichbarer Befund innerhalb der Mann-Frau-Interaktion lässt sich auch in der Rubrik 6,7 de fide uxorum erga viros erkennen. Dieser ist als Reflex eines unter Kaiser Tiberius etablierten normkonformen Geschlechterverhältnisses in Valerius’ Erzählung der gesellschaftlichen Umbrüche im Verlaufe des Bürgerkriegs zu verstehen; vgl. Helmke 2022. 70 Lucarelli 2007, S. 225, verortet die fides-Exempla der Sklaven allesamt in inneraristokratischen Krisen der letzten beiden vorchristlichen Jahrhunderte. 71 Vgl. Lucarelli 2007, S. 220. 72 Auf die Umdeutung des Bürgerkriegsnarrativs zugunsten einer Konfliktvermeidung zwischen der Partei der Caesares und dem gegnerischen Lager der Proskriptionsopfer hat bereits Wiegand 2013, S. 169, 173, hingewiesen. 73 Vgl. Lucarelli 2007, S. 218, 225. 74 Zum einheitlichen Muster der Exempla 6,8 de fide servorum vgl. Lucarelli 2007, S. 226. 75 Vgl. Schumacher 2011, S. 601 f. 76 Val. Max. 4,7 praef.: Wirklich loyale Freunde erkennt man allerdings besonders im Unglück, in dem alles, was geleistet wird, sämtlich vom beständigen Wohlwollen herrührt. (Sincerae uero fidei amici praecipue in adversis rebus cognoscuntur, in quibus quidquid praestatur totum a constanti benivolentia proficiscitur). Vgl. auch Lucarelli 2007, S. 218.

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ven.77 Im Folgenden soll jedoch gezeigt werden, dass diese Rollenzuweisung an die Konstruktion eines normativen Wissens dieser sozialen Gruppe geknüpft ist. Das Analysekriterium der Fokalisierung legt zweierlei offen: Einerseits zeigt es deutlich, dass die Instanz der Vertrauenden in allen Fällen marginalisiert wird, da dieser ein figuraler Zugriff auf den Wert fehlt; andererseits wird es auf diese Weise möglich, die Figur des Sklaven innerhalb dieser servus-dominus-Beziehung und damit auch in seiner gesellschaftlichen Funktion, welche die Exempla-Sammlung ihm zuweist, zu verorten. Somit sollen mithilfe der epistemischen Gestaltung der Exempla gesellschaftliche Implikationen nachgewiesen werden, durch die die fides zum Indikator eines gesellschaftlichen Umbruchs wird.78 Dass diese einseitige Zuschreibung von Handlungsmacht die fides in den sozialen Nahbeziehungen kennzeichnet, macht ein Exemplum aus dem Krieg zwischen Marius und Sulla deutlich. Das darin abgebildete Treueverhältnis ist von einer hierarchischen Umkehr der sozialen Beziehung bestimmt. Zwar stellt C. Marius in der Exempla-Sammlung einen favorisierten Protagonisten dieser Zeit dar,79 dennoch wird erzählt, wie er von einem Sklaven getötet wird, der ihm so seine Treue erweist, da er ihn vor der Grausamkeit Sullas bewahrt: Sein Sklave tötete den leicht verwundeten [Marius], durchbohrt von einem Schwert, um ihn vor der Grausamkeit Sullas zu bewahren, obgleich er die ihm in Aussicht gestellten großen Belohnungen sah, wenn er ihn den Siegern ausliefere.80

Die Ermordung des Marius durch den Sklaven macht die hierarchische Anlage des Exemplums deutlich, welche sich auch in der Fokalisierung niederschlägt: Der Sklave entscheidet sich gegen die Belohnung, die ihm für die Auslieferung des Marius in Aussicht gestellt wurde, und tötet seinen Herrn stattdessen. Die Figur des Sklaven ist damit von besonderer Bedeutung für die fides. Der Leser erfährt aus dessen Sicht von der Bedrohung, die von den Gegnern ausgeht, denn der Sklave weiß von deren Bemühungen, Marius in ihre Hände zu bekommen. In diesem Treueverhältnis wird der Sklave mit erheblicher Handlungsmacht ausgestattet und ist seinem Herrn performativ überlegen, was sich deutlich in dessen Ermordung zeigt. Marius hingegen bleibt im gesamten Exemplum konturlos und passiv.81 Am Beispiel der fides wird also erkennbar, dass der Wert in diesem Narrativ eine umfassende Umkehr der hierarchischen Beziehungsstruktur innerhalb der familia erfährt, was die Dyna77 Vgl. Lucarelli 2007, S. 220. 78 Lucarelli 2007, S. 225, weist darauf hin, dass alle Exempla der fides servorum aus den letzten beiden vorchristlichen Jahrhunderten stammen und ebenfalls im Kontext inneraristokratischer Krisen verortet werden. 79 Carney 1962, S. 289, 293 f., hat auf Valerius’ großes Interesse an der Figur des C. Marius hingewiesen und gezeigt, dass dessen Darstellung in der Exempla-Sammlung idealisiert wird. 80 Val. Max. 6,8,2: […] perstrictum servus suus, ut Sullanae crudelitatis expertem faceret, gladio traiectum interemit, cum magna praemia sibi proposita videret, si eum victoribus tradidisset. 81 Carney 1962, S. 320, hat die Passivität des Marius im Krieg mit Sulla als charakteristisches Merkmal herausgestellt.

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mik und Anpassungsfähigkeit dieser Nahbeziehungen verdeutlicht.82 Nicht nur mit Blick auf die Handlung unterliegt Marius hier dem Sklaven, auch die epistemologische Gestaltung inszeniert diesen als übergeordnete Instanz. Durch seine Innensicht wird der Konflikt skizziert. Seine Figur erhält insofern eine entscheidende Bedeutung, als er die Grausamkeit Sullas überliefert und zur Charakterisierung des Marius beiträgt.83 Zugleich wird hier die Grenze der Normtransgression erkennbar. Zwar kann der Sklave bei Valerius Maximus gemäß dem fides-Ideal handeln, in den Konflikt blicken und den Herrn retten. Anders als in den romzentrierten Exempla der hohen Republik wird ihre fides nicht von einer unterlegenen Instanz gespiegelt. Die Fokalisierung dieses Segments zeigt, dass die Funktion des Sklaven in der Erzählung auf seine exemplarische Rolle innerhalb der servus-dominus-Beziehung beschränkt ist. Dieser Aktionsradius und die ihm zugeschriebenen Handlungen zeigen, dass Valerius’ Interesse in der Konstruktion moralischer Ideale innerhalb der sozialen Nahbeziehungen liegt.84 Allerdings macht der Zugriff über das Kriterium der epistemo­logischen Gestaltung der Narration erkennbar, dass Valerius diese Beziehung und den Wert der fides dahingehend neu definiert und aktualisiert, als eine vom Sklaven gelenkte Handlung gegenüber dem Herrn im Narrativ der Bürgerkriege normative Bedeutung erhält.85 Ein Exemplum, das die Vertrauenswürdigkeit und Loyalität eines Freigelassenen gegenüber dem toten C. Cassius beschreibt, macht deutlich, dass die Fokalisierung der Erzählung eng mit der normativen Rolle des libertus in der Beziehung zu seinem Herrn verknüpft ist: Pindarus entzog C. Cassius, der in der Schlacht von Philippi geschlagen und auf seinen eigenen Befehl hin geköpft worden war, heimlich dem Hohn der Feinde und entzog sich dem Anblick der Menschen durch einen freiwilligen Tod, dass nicht einmal der Körper des Toten gefunden wurde.86

Die Anlage des Exemplums verdeutlicht, dass Valerius nicht zwischen Sklaven- und Freigelassenen-Status unterscheidet, wie die Zuordnung dieser Episode in das Kapitel de fide servorum bereits vermuten lässt:87 Emphatisch vorangestellt lenkt der Frei82 Dixon 1997, S. 30, deutet die familia als eine „dynamic unit“ und unterstreicht damit die Anpassungsfähigkeit des Beziehungsgeflechts. Lucarelli 2007, S. 219, deutet Sklaven als wichtigste Gruppe innerhalb der familia, die nicht zur eigentlichen Kernfamilie gehören. 83 Zu diesem generellen Urteil über Marius und Sulla in der Exempla-Sammlung vgl. Bloomer 1992, S. 41, 49. 84 Vgl. Lucarelli, 2007, S. 214. 85 Maslakov 1984, S. 454, deutet dies als Manipulation historischer Exempla. 86 Val. Max. 6,8,4: Pindarus Cassium Philippensi proelio victum […] iussu ipsius obtruncatum insultationi hostium subtraxit seque e conspectu hominum voluntaria morte abstulit ita, ut ne corpus quidem eius absumpti inveniretur. 87 Lucarelli 2007, S. 229, sieht diese Zuordnung als Indiz einer problematischen Integration von Freigelassenen in das römische Normensystem.

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gelassene als Subjekt die Handlung dieses narrativen Segments. So wird auch hier die Umkehr der Handlungsmacht in der libertus-dominus-Beziehung durch subtraxit sichtbar, da Pindarus nun über die sterblichen Überreste seines Herrn verfügt. Diese Tat und sein anschließender Selbstmord mit dem Ziel, das Versteck von Cassius’ Leichnam zu wahren, sind in dieser Erzählung Ausdruck der fides gegenüber dem Herrn. Sie sind demselben Verhaltensrepertoire zuzuordnen, das auch von Sklaven zu erwarten war,88 sodass dies auf eine faktische Gleichsetzung des jeweiligen Status hindeutet. Neben dieser auf die Handlung beschränkten Umkehr der fides-Hierarchie zeigt sich die besondere Bedeutung des Freigelassenen in dieser Passage des Exemplums auch in seiner Funktion als fokalisierende Instanz der Erzählung. Das Wissen wird hier eindeutig an die Figur des Sklaven geknüpft, durch ihn erfährt der Leser von der Bedeutung seiner Loyalität – sowohl die Handlung (subtraxit, abstulit), als auch das Motiv bilden den Wissenshorizont des Freigelassenen innerhalb seiner Beziehung zu seinem Herrn ab. Während Pindarus auf diese Weise einen unverzichtbaren Stellenwert für Valerius’ Erzählung erhält, spielt Cassius in der Position des Vertrauenden weder in narratologischer Hinsicht noch als historischer Protagonist eine Rolle.89 Die epistemologische Anlage der Exempla verdeutlicht die Funktion von Sklaven in den Erzählungen und lässt einen differenzierten Blick auf ihre vorbildhafte Aufopferung für den Herrn in Krisenzeiten zu. Nicht nur als bloßes Vorbild für den dominus in der Erzählung,90 sondern auch als entscheidende Instanz für die Vermittlung des fides-Wissens platziert Valerius diese Figuren. Innerhalb der direkten servus-dominus-Interaktion ermöglicht ihnen ihr Wissen vorbildhaftes Handeln im Sinne einer Normtransgression.91 Einerseits dient dieses Wissen der Affirmation einer sozialen Rolle durch ein normatives Sklavenwissen, das am Beispiel der fides sichtbar wird; andererseits wird ein veränderter fides-Begriff des tiberianischen Wertediskurses im Narrativ der Bürgerkriege deutlich. Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit sind für Valerius keine absoluten Größen, die sich in der servus-dominusInteraktion artikulieren.92 Vielmehr wird dieser Wert innerhalb der sozialen Nahbeziehungen verhandelt und macht einen moralischen Bruch deutlich, wenn Treue zur einseitigen Pflicht des Sklaven wird, der dadurch in eine überlegene Position gegenüber dem Herrn erhoben wird. 88 Lucarelli 2007, S. 226, erkennt die Rettung der domini durch ihre Sklaven als stereotypes Handlungsmuster im vorliegenden Kapitel. 89 Weileder 1998, S. 33 f., hat bereits ausführlich auf die negative Inszenierung des Cassius in der Darstellung des Valerius hingewiesen, was mit dessen Funktion als Verschwörer gegen Caesar begründet wird. Ähnlich negativ beurteilt auch Freyburger 1998, S. 115, die Darstellung des Cassius im vorliegenden Exemplum. Zur ideologischen Ausrichtung dieser Charakterisierung vgl. auch Kapitel 3.2. 90 Vgl. Lucarelli 2007, S. 226. 91 Dieser Befund bestätigt die Beobachtung von Krasser 2011, S. 247, Valerius halte an tradierten sozialen Hierarchien fest und weite lediglich den Referenzraum weiter aus. 92 Lucarelli 2007, S. 228, versteht die fides hingegen als absolute und nicht von äußeren Faktoren beeinflussbare Größe.

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3.2 Die fides und die Konstruktion einer tiberianischen Memoria Die erzählerische Konstruktion von fides-Exempla, die auf einem Wertezugriff von Sklaven basieren, muss als Kennzeichen einer tiberianischen Memoria der ausgehenden Republik verstanden werden. Die Treue- und Vertrauensbeziehungen, die Valerius Maximus in seiner Exempla-Sammlung schafft, markieren ein Bürgerkriegsnarrativ, das einem Lager dieser inneraristokratischen Krise die Handlungsmacht nimmt und sie auf diese Weise weitestgehend aus dem Narrativ verbannt, wenn sie zum bloßen Rezipienten der fides werden. Dies betrifft etwa in den Episoden aus den 40er-Jahren Vertreter aus dem Lager der Widersacher der Triumvirn,93 sodass dies als eine ideologische Umdeutung der Geschichte verstanden werden muss. Diese Figuren haben weder Einfluss auf die erzählte Handlung, noch sind sie offenbar für den zeitgenössischen Wertediskurs relevant. Daher soll gezeigt werden, dass Valerius in seinem Werk, das Tiberius gewidmet ist und diesen daher zum moralischen Referenzpunkt erhebt,94 die Umdeutung seines fides-Begriffs in den Exempla der beiden vorchristlichen Jahrhunderte nutzt, um ideologische Widersacher der Caesares aus dem Narrativ zu tilgen. Treten durch die Umdeutung des fides-Begriffs nun Sklaven in die vorderste Front der Konflikte, von denen Valerius berichtet, hat dies unmittelbar zur Folge, dass der Fokus weniger auf der Darstellung des Bürgerkrieges selbst als vielmehr auf der von gesellschaftlich-sozialen Normen liegt. Das Exemplum eines Antius Restio und seines Sklaven zeigt nachdrücklich die Verlagerung des Interesses im vorliegenden Narrativ:95 Antius Restio, proskribiert von den Triumvirn, […] machte sich in tiefster Nacht heimlich auf die Flucht aus seinem Haus. Einer seiner Sklaven […] beobachtete sein heimliches Verschwinden mit aufmerksamen Augen, folgte seinen hierhin und dorthin irrenden Spuren in wohlwollender Absicht und schlich sich als freiwilliger Begleiter an dessen Seite heran. […] Als er nämlich bemerkte, dass unvermutet blutdürstige Soldaten erschienen, schaffte er seinen Herrn beiseite, errichtete einen Scheiterhaufen und warf einen armen alten Mann darauf, der von ihm gefasst und ermordet worden war. Als die Soldaten dann fragten, wo Antius denn sei, wies er mit der Hand auf den Scheiterhaufen und antwortete, dass jener dort […] ver-

93 Zur Ausblendung der Gegner der Triumvirn vgl. Bloomer 1992, S. 223; Wiegand 2013, S. 167. 94 Val. Max. 1,1 praef.: Dich rufe ich daher für dieses Vorhaben an, Caesar, sicherste Rettung des Vaterlandes, bei dem nach einstimmigem Wunsch von Menschen und Göttern die Herrschaft über Wasser und Land liege, durch dessen himmlische Fürsorge die moralischen Tugenden, über die ich noch sprechen will, in gütigster Weise gepflegt, Vergehen sehr streng geahndet werden. (Te igitur huic coepto, penes quem hominum deorumque consensus maris ac terrae regimen esse voluit, certissima salus patriae, Caesar, invoco, cuius caelesti providentia virtutes, de quibus dicturus sum, benignissime foventur, vitia severissime vindicantur). 95 Lucarelli 2007, S. 227, deutet dieses Exemplum als Höhepunkt des Kapitels de fide servorum.

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brannt werde. Weil das, was er sagte, plausibel klang, schenkte man seinen Worten Vertrauen.96

In mehrfacher Hinsicht ist dieses Exemplum kennzeichnend für Valerius’ fidesExempla der 40er-Jahre: Allein formelhaft wird die Gegnerschaft des Antius Restio durch proscriptus a triumviris konstatiert – eine ausführlichere Erklärung des Konflikts wird nicht gegeben.97 Folgend erzählt Valerius, wie der Sklave dem Herrn auf dessen Flucht vor den Häschern folgt. Nun wechselt die Fokalisierung der Erzählung. Die Wissensvermittlung wird auch hier an die Figur des Sklaven geknüpft. Sogar die Bedrohung des Herrn durch blutdürstige Soldaten wird epistemologisch ebenso dem Sklaven zugeordnet (sensit) wie das nachfolgende Täuschungsmanöver. Seine Tat erscheint nicht nur überraschend und unerwartet,98 sondern mutet zugleich komisch an.99 Gleichzeitig wird Antius, der in diesem Abschnitt lediglich passiv beschrieben wird, gänzlich aus der Erzählung getilgt (amoto domino). Entscheidendes Element dieses Exemplums ist schließlich der abschließende auktoriale Kommentar, der das Verdienst des Sklaven summiert und durch einen Wechsel der Fokalisierung in die auktoriale Allsicht gekennzeichnet ist:100 Seinen Worten wird Vertrauen geschenkt. Er wird somit der direkten servus-dominusInteraktion enthoben, die epistemologisch vom Sklaven regiert wurde. Stattdessen platziert Valerius ihn in einer fides-Beziehung und somit in einem Konflikt mit den Verfolgern aus dem Lager der Triumvirn. In dieser servus-milites-Beziehung lässt Valerius den Sklaven aus seinen epistemologischen Grenzen der Nahbeziehung zwischen diesem und seinem Herrn hinaustreten und schafft eine asymmetrische Reziprozität, wenn die zuvor überlegenen Soldaten nun dem Sklaven gegenüber fides im Sinne von Vertrauen zum Ausdruck bringen, als sie eine wahre Antwort auf ihre Frage nach dem Verbleib des Antius erwarten. Auf diese Weise wird durch 96 Val. Max. 8,6,7: Antius Restio proscriptus a triumviris, […] se penatibus suis intempesta nocte subduxit. Cuius furtiuum egressum servus […] curiosis speculatus oculis ac vestigia huc atque illuc errantia benivolo studio subsecutus lateri voluntarius comes adrepsit. […] nam ut sensit cupidos sanguinis milites supervenire, amoto domino rogum extruxit eique egentem a se conprehensum et occisum senem superiecit. interrogantibus deinde militibus ubinam esset Antius manum rogo intentans ibi illum […] uri respondit. quia veri similia loquebatur, habita est voci fides. 97 Bloomer 1992, S. 224, hat auf die Darstellung der Triumvirn als anonyme Gruppe hingewiesen. 98 Lucarelli 2007, S. 226, konstatiert, dass die Handlungen dieses Sklaven nicht als Pflichterfüllung, sondern als überraschende Taten dargestellt werden. 99 Ähnlich auch Val. Max. 8,1,6: Ebenso entging L. Piso, angeklagt von L. Claudius Pulcher, weil er unseren Verbündeten schwerwiegendes und unerträgliches Unrecht zugefügt hatte, der drohenden Gefahr einer sicheren Niederlage durch zufällige Hilfe: Denn genau zu der Zeit, als darüber das harte Urteil verkündet wurde, brach ein plötzlicher gewaltiger Regen herein und, als er auf dem Boden liegend die Füße der Richter küsste, füllte er seinen Mund mit Schlamm. (Item L. Piso a L. Claudio Pulchro accusatus, quod graves et intolerabiles iniurias sociis intulisset, haud dubiae ruinae metum fortuito auxilio vitavit: namque per id ipsum tempus, quo tristes de eo sententiae ferebantur, repentina vis nimbi incidit, cumque prostratus humi pedes iudicum oscularetur, os suum caeno replevit). 100 Nach Genette 2010, S. 121, liegt eine Nullfokalisierung vor.

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die „Verschränkung von Einlösungserwartung und -druck […] die Einseitigkeit der Machtverhältnisse gewissermaßen“101 ausgeglichen. Der abschließende Erzählerkommentar hebt die normative Aussage des Exemplums bezüglich der Stellung des Sklaven hervor. Gegenüber dem Herrn ist er überlegen; nach außen zwar der normativen Hierarchie unterlegen, ersetzt er aber Antius gegenüber den Verfolgern. Dieser Befund lässt Rückschlüsse auf den Wertediskurs zu: Valerius definiert eine normative Stellung des Sklaven als Ersatz des Herrn im Bürgerkrieg. Im Bestreben, die Seite der Caesares positiv zu inszenieren,102 wird durch die Umdeutung des fides-Begriffs der Konflikt des Bürgerkriegs verlagert. Im normativen Konstrukt des gesellschaftlichen Werteideals, das Valerius in dieser Rubrik entwirft,103 stehen sich nun das Lager der Caesares und ein Sklave gegenüber. Die Proskribierten selbst spielen keine Rolle für die Handlung oder das Werte-Exemplum.104 Die fides unterliegt somit einer Anpassung an die Ideologie des Prinzipats; erst die Verlegung des exemplarischen Fokus macht die Episoden des Bürgerkrieges durch die Ausblendung von Gegnern erzählbar. Dieses Muster wird auch in weiteren Exempla erkennbar. Der Sklave Philocrates tötet seinen Herrn C. Gracchus, um ihn vor dessen Feinden zu bewahren. Anschließend nimmt er sich selbst das Leben.105 Valerius’ vornehmliches Interesse besteht darin, den Sklaven als Vorbild für Gracchus zu stilisieren: Wenn dessen Entschlossenheit der edle junge Mann nachgeahmt hätte, hätte er die drohenden Qualen aufgrund seines eigenen Verdienstes, nicht das des Sklaven, vermieden. Nun kam es dahin, dass der Leichnam des Philocrates ansehnlicher dalag als der des Gracchus.106

Hier zeigt sich, dass anhand der fides nicht nur eine rein performative Umkehr in der Treuebeziehung geschaffen und Gracchus die Handlungsmacht genommen wird, was das Bild des Gracchus in der Exempla-Sammlung bestimmt;107 auch in exemplarischer Hinsicht ist die Hierarchie verkehrt, da der Sklave nun als Vorbild für seinen Herrn inszeniert wird.108 Das auktoriale Urteil des Moralisten zeigt deutlich eine Verlagerung des exemplarischen Interesses auf den Sklaven, wodurch schließlich die Figur des Gracchus moralisch abgewertet wird. Auch hier verschwindet Gracchus 101 Hölkeskamp 2004, S. 117. 102 Vgl. Gowing 2010, S. 253, 257. 103 Lucarelli 2007, S. 218, hat auf eine Neudefinition dieser Nahbeziehungen im Narrativ der Bürgerkriege hingewiesen. 104 In dieser Hinsicht muss die Feststellung von Gowing 2010, S. 254, differenziert werden, Valerius Maximus thematisiere neben den Caesares auch die von den Triumvirn proskribierten Männer. 105 Vgl. Val. Max. 6,8,3. 106 Val. Max. 6,8,3: cuius si praesentiam animi generosus iuvenis imitatus foret, suo, non servi beneficio inminentia supplicia vitasset. nunc conmisit ut Philocratis quam Gracchi cadaver speciosius iaceret. 107 Vgl. auch Val. Max. 4,7,2. 108 Vgl. Lucarelli 2007, S. 226.

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buchstäblich aus der Erzählung, was seiner generell negativen Bewertung bei Valerius entspricht.109 Somit ergreift Valerius im Narrativ des 2. Jahrhunderts Partei und tilgt als Zeichen eines auktorialen Krisenmanagements C. Gracchus in der Position des Vertrauenden aus der tiberianischen Version der Geschichte. In gleicher Weise sorgt auch das auktoriale Urteil über die Sklaven-fides in der oben bereits erwähnten Erzählung von der Ermordung des C. Cassius nach der Niederlage bei Philippi dafür,110 dass auch Cassius als ein Widersacher Caesars zugunsten einer Genealogie der caesarischen Herrschaft ausgeblendet wird: „Wer von den Göttern, Rächer eines sehr schweren Verbrechens, fesselte jene rechte Hand, die entbrannt war, um den Vater des Vaterlandes zu ermorden, mit einer so großen Betäubung […]?“111 Auch hier führt die Übernahme der Handlungsmacht durch den Freigelassenen dazu, in letzter Konsequenz einerseits die Feigheit des ehemaligen dominus zu unterstreichen;112 andererseits sind diese Loyalitätsbezeichnungen hier nicht nur Ausdruck moralischer Auflösungserscheinungen in Krisenzeiten.113 Nachdem zuvor Pindarus als Ausdruck seines figuralen fides-Wissens seinen Herrn vor den Feinden bewahrt hat, indem er ihn ermordete, kann Valerius das damit artikulierte Verständnis von fides in diesem Exemplum als vorbildhaft beschreiben. Die Vertrauenswürdigkeit des Pindarus wird in den Dienst des parens patriae gestellt. Durch die exemplarisch inszenierte Ermordung des Cassius gelingt es, eine weitere Bedrohung der künftigen augusteischen Herrschaft aus dem Narrativ auszublenden, auf die der Moralist bereits mit der Schlacht von Philippi vorausweist.114 Dies konturiert die Bedingungen, unter denen ein derartiges Handeln des Sklaven für Valerius rezipierbar wird. Die Ermordung des Cassius kommt somit der gerechten Strafe für einen Gegner der Caesares zuvor. Cassius in der Position des Vertrauenden wird so aus ideologischen Gründen aus der Erzählung verbannt. Die Vertrauenswürdigkeit des Pindarus wird durch diese auktoriale Rezeption ebenfalls in den Dienst der Prinzipatsideologie gestellt, die maßgeblich dafür verantwortlich ist, dass ein Sklave zum Protagonisten eines fides-Verhältnisses werden kann. Sklaven stehen für Valerius Maximus somit im Zentrum der fides-Beziehungen der späten Republik. Allerdings werden fides-Verhältnisse konstruiert, in denen das aktive Entgegenbringen von Vertrauen durch die hierarchisch untergeordneten domini stets zu deren Ausblendung aus der Erzählung führt. Indem ein abschließender auktorialer Kommentar den Caesaren-Gegnern jegliche Vorbildqualitäten abspricht, werden ideologische Implikationen sichtbar. Sklaven sind für Valerius somit not109 Wardle 1998, S. 227, konstatiert, dass C. Gracchus, abgesehen von seinen rhetorischen Fähigkeiten (vgl. Val. Max. 8,10,1), ansonsten ausschließlich negativ bewertet wird. 110 Vgl. Kapitel 3.1. 111 Val. Max. 6,8,4: quis deorum, gravissimi sceleris ultor, illam dexteram, quae in necem patriae parentis exarserat, tanto torpore inligavit […]? 112 Zur Bewertung des Cassius vgl. Lucarelli 2007, S. 226. 113 So deutet Lucarelli 2007, S. 245, die fides-Exempla des Bürgerkriegsnarrativs. 114 Entsprechend ist der Anachronismus in der Bezeichnung Octavians als divus Augustus (Val. Max. 1,7,1) im Kontext der Schlacht von Philippi zu erklären, vgl. dazu auch Bloomer 1992, S. 224 f.

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wendig, um die Geschichte gemäß der kaiserlichen Ideologie erzählbar zu machen. Diese Figurengruppe steht fortan in vorderster Front der Konflikte. Zugleich werden nicht nur republikanische Ideale, sondern auch deren Vertreter zugunsten von Protagonisten der Kaiserzeit dekonstruiert. Nur zu diesem Zweck konzentriert Valerius Maximus die Vertrauenswürdigkeit in der Gruppe der Sklaven.

4. Fazit Die Gegenüberstellung einer normativen fides der römischen Republik in den Kriegen des dritten vorchristlichen Jahrhunderts mit der Bedeutung von Treue und Vertrauen im Narrativ des Bürgerkrieges hat einen deutlichen Wandel des Begriffs sichtbar gemacht. Es wurde deutlich, dass der Wert der fides in beiden Narrativen jedoch einen Wertediskurs widerspiegelt, der Treue und Vertrauen im Kontext der römischen Herrschaftsideologie konstruiert. Mithilfe der Fokalisierung konnte in der Erzählung nachgewiesen werden, dass die fides in den untersuchten Narrativen des Valerius Maximus nicht mehr als ein bloßes asymmetrisch-reziprokes Wertekonstrukt zu verstehen ist. Stattdessen zeigte eine epistemologische Untersuchung, dass Valerius das fides-Wissen in der Erzählung nach ideologischen Maßgaben organisiert, die den Diskurs der römischen Herrschaft zu tiberianischer Zeit abbilden. Im Narrativ der Punischen Kriege wurde die fides als ein dezidiert römischer Wissensbestand identifiziert. Dass Vertrauenswürdigkeit und Vertrauen für Valerius damit zum einseitigen Konzept römischer Hegemonie werden, macht deutlich: Die Stellung Roms wird in tiberianischer Zeit nach außen nicht mehr verhandelt. Eine Reziprozität aus Treue und Vertrauen ist somit in der Darstellung Roms in der Interaktion etwa mit den Karthagern nicht mehr vorhanden. Dass der Wert bei Valerius ausschließlich als römischer Wissensbestand abgebildet wird, zeigt, dass fides im römischen Verständnis der frühen Kaiserzeit dahingehend aktualisiert wird. Rom ist die Instanz, die fides nach außen reguliert. Dieses Wertekonzept prägt die Erinnerungskultur unter Tiberius. Neben einer gesamtrömischen fides, die als römisches Ideal nach außen absolut gesetzt wird, konnte auch der Figur des Scipio Africanus als Vertreter der summi viri ein zentraler Ort in der Memoria zugewiesen werden. Entsprechend der römischen Herrschaftsideologie ist er die figurale Entsprechung der gesamtrömischen fides. Scipio wird aufgrund seiner Stellung in der Erinnerungskultur gleichermaßen zur epistemologischen Instanz erhoben, welche exemplarisch die römische fides auch auf die innerrömischen Nahbeziehungen verlegt. Ein Blick auf die fides im Narrativ der späten Republik machte deutlich, dass das einstige Sendungsbewusstsein, das durch diesen Wert erkennbar war, ins Wanken gerät. Vielmehr wird der Wert zum Krisenmarker. Die Analyse des fides-Wissens in der Erzählung der Bürgerkriege legte offen, dass nicht nur eine generelle Verlagerung des Wertes in die sozialen Nahbeziehungen stattgefunden hat. Entscheidender ist der Befund, dass sich auch die Struktur dieser Beziehungen grundlegend ändert. Am Beispiel der Sklaven-Treue wurde gezeigt, dass in den letzten beiden vorchrist-

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lichen Jahrhunderten Sklaven das fides-Wissen zugewiesen wird. Sie werden damit zu den zentralen Protagonisten der Treueverhältnisse. Ihre Herren verbleiben als passive Rezipienten in der Position der Vertrauenden. Auch hier wird durch die Marginalisierung der vertrauenden Instanz die Reziprozität der fides umgedeutet, sodass Sklaven allein im Vordergrund des exemplarischen Interesses stehen. Diese Umdeutung der Wertestruktur hat einen starken Einfluss auf die Gestalt der Erzählung des Bürgerkriegs: Wenn die Sklaven nun zu Handlungs- und Wissensträgern erhoben werden, treten gleichzeitig die Herren in den Hintergrund oder werden gänzlich aus dem Narrativ verbannt. Dies legt einen weiteren ideologischen Reflex des tiberianischen Herrschaftsdiskurses offen. Ideologeme wie das fides-Postulat stehen hier stellvertretend für die moralische Autorität des Tiberius, der bei Valerius kaum selbst in Erscheinung tritt. Einerseits schlägt sich auf diese Weise das moralische Programm des Kaisers in den Exempla nieder. Andererseits vermeidet diese literarische Ausgestaltung der tiberianischen Autorität einen offenen Konflikt des Kaisers mit seinen Widersachern. In allen Fällen treten mit den Herren der Sklaven Figuren in den Hintergrund, die im Widerspruch zur caesarischen Herrschaftsideologie stehen. Sowohl die von den Triumvirn proskribierten Männer der 40er-Jahre sowie C. Cassius versteht Valerius als Widersacher der Caesares. Die Konzentration der fides auf deren Sklaven dient als erzählerisches Mittel, das Narrativ zu entschärfen und so den Konflikt dieser eigentlich konfliktreichen Zeit der Bürgerkriege weitgehend auszublenden. Wie in den Exempla der Punischen Kriege wird der fides eine Bedeutung zugewiesen, die sich aus dem Selbstverständnis römischer Herrschaft in tiberianischer Zeit ergibt. In beiden Narrativen werden Vertrauensverhältnisse geschaffen, in denen die Instanz des Vertrauenden marginalisiert wird. Sämtliches moralisches Wissen liegt in der Hand von Protagonisten mit ideologischer Nähe zum julisch-claudischen Herrscherhaus und wird den hierarchisch unterlegenen Widersachern aberkannt.

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Vertrauen und Verbrechen. Die fides in der Tradition der römischen Epik Markus Kersten 1. Einleitung: Vertrauen, Bürgerkrieg und epische Expositionen Vom Vertrauen ist häufig die Rede im römischen Epos, und der Streit innerhalb einer eigentlich vertrauensbegründeten Gemeinschaft gehört zu seinen konstitutiven Elementen. Diese Tendenz, Konflikte darzustellen, die entweder innerhalb desselben politischen bzw. sozialen Gefüges auftreten oder sonst in suggestiver Weise an die römischen Bürgerkriege erinnern, zeigt sich spätestens seit der Neubelebung der epischen Form durch die Aeneis: Wenn Anchises in der Unterwelt die zukünftigen Kontrahenten Caesar und Pompeius vor dem Krieg warnt, scheint ihr Schatten verstörend auch auf die Kämpfe seines Sohnes in Italien zu fallen.1 Dem pius Aeneas, der den Willen des Schicksals bejaht, mag es dann im Ganzen zwar noch gelingen, durch sein Handeln eine exemplarische Moralität zu repräsentieren; im nachvergilischen, kaiserzeitlichen Epos jedoch sind die synekdochischen Helden, also Figuren, die gemeinschaftsstiftend sind und ihre Gemeinschaft selbst verkörpern, entweder verschwunden oder existieren nur noch als hypertrophe Galaporträts:2 Bei Statius wird der archaische Kampf zwischen Eteocles und Polynices zum Spiegel der zerbrechlichen sozialen Beziehungen und der latenten Bürgerkriegsgefahr in Rom;3 bei Valerius Flaccus sind in den Schlachten, die auf dem Weg zur Erfüllung von Jupiters Weltenplan zu schlagen sind, die Bürgerkriegserinnerungen unverkennbar;4 und wenn Silius Italicus besingt, wie Rom im Punischen Krieg unter der Führung des Idealhelden Scipio seinen größten Triumph errungen hat, so muss darin auch das

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Den Herausgebern danke ich für die Anregung, mich der fides zu widmen, sowie für die Einladung nach Rauischholzhausen; Lars Mielke (Rostock) und Anke Walter (Newcastle) bin ich sehr dankbar für hilfreiche Hinweise und stimulierende Kritik zum vorliegenden Beitrag, Claire Stocks (Newcastle) dafür, dass sie mir zur Fertigstellung des Aufsatzes das Manuskript des von ihr mitherausgegebenen Sammelbandes überlassen hat. Einen Teil meiner Überlegungen habe ich zudem im Zürcher Forschungskolloquium vortragen dürfen; Ulrich Eigler danke ich für die Einladung und den Teilnehmern für eine sehr anregende Diskussion.

Verg. Aen. 6,826–835. Zur Verarbeitung des Bürgerkriegstraumas in Rom siehe den Sammelband von Breed u. a. 2010; zur Literatur: Rossi 2010; Walde 2011. Traditionelle epische Motive sind in Rom sogar topisch mit dem Bürgerkrieg verbunden, etwa die Erzählung von den Sparten, die aus den Zähnen der von Cadmus getöteten Schlange erwachsen, vgl. Ov. met. 3,99–130; Lucan. 4,552–556; ferner Val. Fl. 7,638. Theben ist ein klassisches mythologisches Exemplum des Bürgerkrieges, vgl. Ambühl 2015, S. 99–108. 2 Zum Verlust des synekdochischen Helden bei Lucan und Statius siehe Hardie 1993, S. 3–10. 3 Vgl. Dominik 1994; McGuire 1997; McNelis 2008. 4 Vgl. McGuire 1997; Stover 2012; Lovatt 2019.

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unrühmliche Ende der Republik anklingen.5 Am deutlichsten ist freilich Lucan, der den Bürgerkrieg direkt zum Thema macht und den Kampf zwischen Schwiegervater und Schwiegersohn als Umkehrung aller natürlichen und sozialen Verhältnisse erzählt. Wenn es um die umstrittene Frage geht, wie die Bürgerkriege und ihre Folgen historisch, politisch und religiös in der römischen Epik verarbeitet und beurteilt wurden, und wenn hierbei jeweils über Ambiguität und Agitation, über Engagement und Spiel oder über Moralismus und Nihilismus der einzelnen Autoren zu sprechen ist, bietet sich Lucans Werk, das literarhistorisch auf halbem Wege zwischen augusteischer und flavischer Zeit liegt,6 als zentraler Vergleichstext an. Das gilt im Besonderen für das Vertrauen, das bei Lucan nicht schlechthin skandalös gebrochen, sondern als Wert fast völlig eliminiert wird. Die Einleitung des Gedichts, das die historische Rolle von Schicksal und Göttern so ostentativ im Unklaren lässt, endet mit dem Vers: „Und das Vertrauen war erschüttert und vielen kam der Krieg nur gelegen.“7 Lapidar und schonungslos, geradezu unepisch wird hier der Grund des Krieges benannt. Allerdings wird hierdurch möglicherweise mehr verrätselt als erklärt. Der Dichter spricht zwar kurz zuvor auch in topischer Weise von Gier und Korruption, aber anders als der moralistisch argumentierende Sallust, zu dessen Ausführungen über die Ursachen der Verschwörung des Catilina hier auffällige Parallelen gesehen werden können,8 vermeidet er einen eindeutigen Kausalzusammenhang, der das politische Vertrauen von der auaritia abhängig macht und Luxuskritik als wohlfeiles Narrativ impliziert. Lucan bringt nämlich auch die alte Vorstellung vom Neid der Götter ins Spiel,9 und so ist in seinem Gedicht ein buchstäblich verhängnisvoller Sittenverfall in an sich günstigen Zeiten die Ursache für Verschwendungssucht, die Geringschätzung von Freiheit und Frieden und ein schwindendes Rechtsempfinden.10 Alle Maßstäbe sind auf einmal verloren, und es ist schwer auszumachen, wie sie wiederhergestellt werden könnten. Historisch betrachtet, mögen sich zuerst ökonomische Verwerfungen offenbart haben; die Erwähnung des erschütterten Vertrauens folgt in der Tat auf den Vers „Daher das gefräßige Profitstreben und der immer gierigere Wucher.“11 Was aber die Bedeutung der concussa fides anlangt, so kann es hier kaum, wie einige gemeint haben, nur um vertragstechnische oder gar pekuniäre Beziehungen zwischen den Bürgern

5 Vgl. Cowan 2009; Tipping 2010; Syré 2017; Walter 2018. 6 Zur fides in der Zeit der Flavier siehe Augoustakis u. a. 2019. 7 Lucan. 1,182: et concussa fides et multis utile bellum. Alle Übersetzungen stammen vom Verfasser. 8 Sall. Cat. 10,4, vgl. hierzu Aricò 1971; zu Lucans Übersteigerung sallustischer Narrative siehe Gärtner 2009. 9 Lucan. 1,70: inuida fatorum series; vgl. Kersten 2018, S. 286 Anm. 239. 10 Lucan. 1,160–182, besonders Lucan. 1,161: „Und in guten Zeiten verschwanden die guten Sitten“ (et rebus mores cessere secundis). Insofern die res secundae gerade die Degenerierung der Vision des Aeneas (Verg. Aen. 1,207) darstellen könnten, fordert der lucanische „Pessimismus“ auch hier die Auseinandersetzung mit den augusteischen Idealen. 11 Lucan. 1,181: hinc usura uorax auidumque in tempora fenus.

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gehen.12 Denn seine narrative Wirkung tut der Vers als einprägsames Monostichon, indem er die Einleitung auf eine Formel bringt: Der umfassende Vertrauensverlust wird, insofern er Movens der entscheidenden Handlung ist, zum epischen Gegenstand – vergleichbar der homerischen μῆνις, dem Zorn des Achill. In der Dramaturgie des lucanischen Proöms ist der Umstand, dass keiner dem anderen mehr traut, das entscheidende Moment, damit der Bürgerkrieg den Römern als nützliches Mittel legitimiert erscheint. Kaum ist das Wort bellum solchermaßen gefallen, hat Lucans Caesar bereits die Alpen überquert und die Verbrechen nehmen ihren Lauf.13 In der Aeneis steht ein Vertrauensbegriff an ähnlich prominenter Stelle im ersten Buch, und zwar in der Prophezeiung Jupiters. Der Gott sagt das Ende der Kriege voraus und nennt als Kennzeichen der neuen Ordnung das Walten der Fides;14 hier erscheint Vertrauen bzw. Vertrauenswürdigkeit in der Gestalt einer alten Göttin zusammen mit Vesta und (die Kriege zwischen Angehörigen werden überwunden sein) den einträchtig handelnden Brüdern Romulus und Remus. In der verheißenen augusteischen Zukunft wird der Janustempel geschlossen sein, und der impius Furor, der als Verkörperung des Bürgerkrieges gelten kann, bezwungen und gefesselt.15 – Am Ende des Werks jedoch steht die bindende Kraft der fides bedeutungsvoll in Frage, und zwar für Aeneas selbst. Pallas, der junge Sohn des Königs Euander, ist von Turnus erschlagen worden; Aeneas erkennt, dass er auf dem Weg zur neuen Heimat entgegen seinem Wort nicht gut auf Pallas geachtet hat, und fragt sich: „Ist dies meine berühmte Treue?“16 Der düstere Schluss des Gedichts, Aeneas’ Gnadenlosigkeit gegenüber Turnus, ruft dieses Versagen noch einmal schmerzlich in Erinnerung. Diese beiden Beobachtungen zur leitmotivischen Bedeutung von Vertrauenskonzeption bzw. -erosion möchte ich zum Anlass nehmen, um werkübergreifend nach der Rolle der fides im römischen Epos zu fragen: Welchen Gehalt und welche Bedeutung haben Vertrauen, Treue und Glauben für die handelnden Personen, wie werden also diese gesellschaftlichen Phänomene – oder die mit ihnen verbundenen Begriffe – jeweils reflektiert?17 Wenn der Bürgerkrieg, wie von Vergil angedeutet und 12 Es ist insbesondere nicht nötig, fides hier mit Coffee 2009, S. 118, und Roche 2009 ad loc. auf den technischen Aspekt der Kreditwürdigkeit beschränkt zu sehen. In Lucan. 1,92 steht fides im Zusammenhang mit geteilter Herrschaft, das wirkt hier nach. Zudem ähnelt Lucans Darstellung in Lucan. 1,182 derjenigen Ciceros, der eine Bemerkung über den Kredit (Cic. off. 2,84) letztlich auf das politische Ganze ausdehnt, vgl. TLL 6.1.678.4 s.v. fides (Fraenkel 1916). 13 Die Junktur vom „erschütterten Vertrauen“ scheint Lucan übrigens erst geprägt zu haben, vgl. auch Lucan. 1,119: discussa fides; Tacitus greift den Ausdruck auf (Tac. hist. 5,25,1). Zur ähnlichen Wendung fidem rumpere vgl. etwa Verg. georg. 4,213; Liv. 9,40,18; 24,29,5. 14 Verg. Aen. 1,292. 15 Verg. Aen. 1,293–295; vgl. etwa Ganiban 2009 ad loc. 16 Verg. Aen. 11,55: haec mea magna fides? Siehe Horsfall 2003 ad loc. vergleichend zu Aen. 4,596: „here, Aeneas’ self-questioning displays humanity, not treachery.“ Die Frage mag für Aeneas sprechen, auf die fides bezogen reflektiert sie aber auch das Ideal an sich und seine mögliche Unsicherheit. 17 Die vereinfachende Beschränkung auf die fides, die hierbei vorgenommen wird, kann freilich nur vorübergehend sinnvoll sein, ist doch die fides von anderen literarisierten Begriffen wie pietas, uirtus, pax, iustitia und honos nicht immer streng zu trennen (siehe z. B. Cic. carm.

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wie von Lucan expliziert, poetisch auf erschütterte fides zurückgeführt wird, welche positiven Werte, welche Mittel zur „Vertrauensbildung“ können dem womöglich entgegengesetzt werden? Wenn ich im Folgenden dem Reflexionspotential nachspüre, wie es sich in Erzählungen findet, die in verschiedener Weise von Vertrauen handeln, stelle ich die genannten Fragen bewusst als philologische. Mir geht es hier also zunächst um literarische Techniken und Strukturen. Die politischen Intentionen des jeweiligen Werks sollen (und können) an dieser Stelle nicht im Einzelnen behandelt werden.18 Aber im Allgemeinen wird der Blick auf literarische Motive und rhetorische Konventionen zeigen, dass die Möglichkeit und Unmöglichkeit von Vertrauen und Treue im literarischen Rom der frühen Kaiserzeit sehr scharfsinnig und kritisch, aber doch nicht dekonstruktiv bedacht worden sind. Die Schwierigkeit einer Untersuchung zur fides besteht vor allem darin, dass der Ausdruck als ein zentraler Begriff römischen Rechtsdenkens und der politischen Sprache gilt, aber nicht als genuin poetisches Wort;19 nach Richard Heinze ist fides „das im Menschen, was seine gegenüber einem anderen eingegangene Bindung oder Verpflichtung zu einer sittlichen Bindung macht und so das Vertrauen des anderen begründet“.20 Andererseits lässt sich aber zeigen, dass fides seit Ennius in der Dichtung kontinuierlich verwendet wird und insofern wohl auch mit den Konventionen und Strukturen epischen Erzählens in Verbindung zu setzen ist.21 In seinen poetischen Erscheinungsformen ist das Wort zudem nicht immer scharf von anderen „Wertbegriffen“ geschieden;22 seine Bedeutung reicht dort von der altrömischen Vertrauenswürdigkeit bis zum Glauben, in dem sich bereits der Gehalt abzeichnet, den das Wort später in christlichen Kontexten hat.23 Sowohl für die Interpretation einzelner Stellen als auch allgemein für die Frage nach der literarischen Reflexion von Vertrauen sind also mehrere Dimensionen zu betrachten. In der Zusammenschau zeigt sich, dass die römische Epik in Hinsicht auf Wert und Wirkung politischen oder individuellen Vertrauens keinen topisch moralistischen und überhaupt gar keinen eindeutig normativen Standpunkt vertritt, obwohl man vielleicht gerade dies von ihr erwarten könnte.24 In allen uns überlieferten Werken werden Vertrauen und Vertrauensbrüche vielmehr

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fr. 6,68 Blänsdorf; Hor. carm. saec. 57–60; Lucan. 10,407; Stat. Theb. 11,98). Dazu Marks 2019 mit Blick auf Silius Italicus. Dazu beispielsweise Kersten 2018, S. 265–267. Siehe Fraenkel 1916; Heinze 1929; Pöschl 1980; Freyburger 1986. Heinze 1929, S. 149. Vgl. Enn. ann. 32 Skutsch (vgl. dazu Verg. Aen. 8,150) sowie ann. 102 Sk; 335 Sk. Mit Blick auf Silius Italicus wurde auf die Notwendigkeit hingewiesen, historische und poetische Zugänge zur epischen fides miteinander zu verknüpfen, vgl. Pomeroy 2010. Allgemein zur Rechtssprache in der augusteischen Dichtung vgl. Gebhardt 2009. Siehe oben (Anm. 19). Zu römischen Wertediskursen und der Rolle von „Werten“ in der römischen Literatur siehe Haltenhoff 2000; zum Begriff (und den Schwierigkeiten) der „Wert­ begriffe“ siehe Schmidt 2005; Rebenich 2005. Vgl. Albrecht 1964, S. 60. Siehe etwa Mutschler 2000 zur frühen römischen Epik und Geschichtsschreibung.

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recht subtil ausgewertet, wenn auch mit je unterschiedlichen Akzentuierungen. Das liegt meiner Ansicht nach unter anderem daran, dass für die literarische Rede vom Vertrauen, die sowohl fundamentale gesellschaftliche Phänomene als auch literarische Topoi betreffen kann, vor allem in Rom verschieden begründete Referenzmöglichkeiten in Betracht kommen. So werden durchaus ambivalente oder gar inkonsistente Aussagen möglich.25 Ein einfaches mythologisches Beispiel, auf das Gail Trimble hingewiesen hat, kann das verdeutlichen: Theseus ist sowohl für seine Treue gegenüber Peririthoos als auch seine Untreue gegenüber Ariadne berühmt. Eine Referenz auf Theseus’ fides hat damit notwendig das Potential zur Ambiguität;26 und die literarische Erfahrung, die die Leser mit einer solchen Referenz machen können, ist wesentlich davon bestimmt, ob sie diese Ambiguität übersehen, aushalten oder auflösen.27 Während Treue als allgemeines Thema für die gesamte Literatur bestimmend ist – was wäre die Liebesdichtung ohne diese Motivik?28 –, nimmt im Epos und in der Tragödie der Vertrauensverlust traditionell eine besondere Stellung ein. Der Bruch einer Treueverpflichtung und, potentiell damit verbunden, ihre Bestätigung ex negativo gehören zu den zentralen Gegenständen des Erzählens; oft liegt darin überhaupt die Begründung eines epischen Narrativs. Durch die Eigenschaft, Handlungen initiieren zu können, kommt Vertrauensbrüchen eine wichtige strukturelle Bedeutung zu: Paradigmatisch ist der Raub der Helena als Ursache eines Konflikts zwischen Göttern, Helden und Menschen. Der Bruch der Treue stellt damit, wenn auch nicht im strengen Sinne, eine epische Bauform dar.29 Im Folgenden sollen zunächst der Bauformencharakter epischer Treubrüche und ihr moralistisches Potential dargestellt werden. In einem zweiten Schritt sind dann einige Referenzmöglichkeiten der fides zu betrachten; damit lässt sich zeigen, wie die römischen Autoren die Schwierigkeit einer ‚naiven‘ Vertrauenskonzeption gerade mittels der literarischen Vielgestaltigkeit der fides herausstellen; hier verdient Lucan besondere Aufmerksamkeit. Ein Aufsatz ist für dieses Thema zugegebener25 Dieser innerliterarische Zugang ist freilich eine Verengung; für eine umfassende phänomenologische, historische und kulturelle Einordnung literarischer Manifestationen von fides siehe Wittchow 2009. 26 Siehe Trimble 2010 unter anderem mit Ov. Pont. 4,10,78; trist. 1,3,66. Sen. Phaedr. 91 macht explizit ironischen Gebrauch von Theseus’ Treue. 27 Für eine instruktive Darstellung der zum Umgang mit Ambivalenz angewendeten hermeneutischen Strategien sowie deren Voraussetzungen und Folgen siehe Bauer 2018. 28 Vgl. Heldmann 2019. 29 Zu epischen Strukturelementen bzw. Bauformen siehe Reitz/Finkmann 2019; epische Bauformen sind sowohl auf der Handlungs- wie der Diskursebene der Gedichte zu verfolgen und erlauben die strukturierte Beschreibung von Form und Inhalt und Intertextualität eines Epos. Treubrüche können, was die Organisation des Erzählens betrifft, als Beinahe-Episoden (siehe Anm. 34) bzw. Vertragsbrüche aufgefasst werden (vgl. Roche 2019, S. 404–407); sie korrespondieren freilich auch mit Reden; insofern lassen sie sich narratologisch weniger auf der Ebene des Erzählens als vor allem auf der des Erzählten abgrenzen. Die Verwendung epischer Bauformen erlaubt dem Autor insbesondere auch die „Kreuzung der Gattungen“ (man denke etwa an treubrüchige Liebhaber); zu Treubrüchen im epischen Kyklos siehe Gladhill 2009, S. 8–11.

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maßen zwar nicht das geeignetste Genre. Aber auch wenn ich mich hier nur auf wenige exemplarische Stellen beziehen kann (auf Ovids Metamorphosen etwa werde ich wegen ihrer strukturellen Besonderheiten nicht weiter eingehen),30 lassen sich daran doch ein paar wesentliche Beobachtungen machen.

2. Tradition und Reflexion: Epische Treubrüche Wenn Statius in der Achilleis en passant den Beginn des Trojanischen Krieges erwähnt, so braucht er dafür einen einzigen suggestiven Vers: „Recht, Vertrauen und Götter – alles ward durch diesen einen Raub zertreten.“31 Alles begann, daran wird hier erinnert, mit einem Treubruch, dem Raub der Helena. Die Schuldigen stehen fest und verdienen Strafe. Zwar stellt der homerische Erzähler selbst diese Verletzung des Gastrechts und der Ehe gerade nicht direkt dar,32 aber ein wesentlicher Teil der Ilias-Handlung ist durch eine ähnliche Transgression motiviert. Mit dem Pfeil, den der Trojaner Pandaros, entgegen dem unter Eid vereinbarten Waffenstillstand, auf Menelaos schießt, endet eine „Beinahe-Episode“: Die Handlung nimmt einen vollständig anderen Verlauf,33 nachdem alle epischen Figuren geglaubt haben34 – und gewissermaßen mit ihnen auch das Publikum, trotz dem von Anfang an feststehenden „Willen des Zeus“35 –, dass der Krieg durch ein Duell beendet werden würde. Es geschieht infolge dieser Verletzung des gegebenen Wortes, dass Agamemnon sich veranlasst sieht, das Ende Trojas zu beschwören.36 Das Skandalon eines solchen ‚altepischen‘ Treubruchs suggeriert einen grundsätzlichen Konsens darüber, was Treue ist sowie

30 Hier sind aber grundsätzlich ähnliche Beobachtungen zu machen, vgl. etwa Stocks 2019, S. 26 f. 31 Stat. Ach. 1,403: iura, fidem, superos una calcata rapina. Freilich wird hier durch Agamemnon fokalisiert; dazu und zur Intertextualität der Zeile siehe Kozák 2019, S. 149–153. 32 Hektor benennt allerdings die Verfehlung und ihre Folgen direkt (Hom. Il. 3,47–50). Antenor fordert später, Helena samt den Schätzen zurückzugeben, und nimmt dabei direkt Bezug auf den Eidbruch (Hom. Il. 7,351–353). Zur antiken Einschätzung der Verfehlung der Trojaner vgl. etwa Hdt. 2,120,5; bemerkenswerterweise hätten nach einer anderen Überlieferung die Trojaner unter Eid und zu Recht behauptet, Helena sei nicht in der Stadt, damit aber – offenbar wegen des vormaligen Vertrauensbruchs – keinen Glauben gefunden (Hdt. 2,118,3 f.). Zum Parisurteil und zu seiner Bedeutung für das Werkganze der Ilias siehe Reinhardt 1938. Der Eidbruch des Laomedon (vgl. Hom. Il. 5,635–654; 21,441–460) erfüllt, wenn auch in geringerem Maß, eine ähnliche Funktion. 33 Für den Begriff siehe Nesselrath 1992 (zur Stelle ebd., S. 19 f.) sowie Nesselrath 2019. Auch die erste Vereitelung des Zweikampfes, Paris’ Entrückung durch Aphrodite, kann als „Wiederholung“ des Treubruchmotivs aufgefasst werden, vgl. Reinhardt 1938, S. 19. 34 Das zuvor gefasste Vertrauen der Parteien wird (durch das Plusquamperfekt ἐπέπιθμεν) eigens hervorgehoben: „Aber niemals ist ein Eid wertlos und das Blut der Schafe und der ungemischte Wein und die Hände, mit den wir Treue schlossen.“ (οὐ μέν πως ἅλιον πέλει ὅρκιον αἷμά τε ἀρνῶν | σπονδαί τ᾽ ἄκρητοι καὶ δεξιαὶ ᾗς ἐπέπιθμεν); Hom. Il. 4,158 f. 35 Διὸς δ᾽ ἐτελείετο βουλή; Hom. Il. 1,5. 36 Hom. Il. 4,164.

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wem und wann sie zu gelten hat;37 und für Homers Publikum eröffnet es überhaupt die Möglichkeit, auch über das Epos hinaus über Treue zu reden.38 Gleichzeitig markiert der Treubruch aber auch sinnfällig die Unversöhnlichkeit der Gegner: Da zwischen Griechen und Trojanern von Anfang an kein stabiles Vertrauensverhältnis mehr besteht und sich, trotz zeitweilig anders lautenden Hoffnungen, auch nicht wiederherstellen lässt,39 bleibt in der Ilias kein Ausweg, als den Konflikt ‚heroisch‘ auszufechten. Darin liegt nichts an sich Verbrecherisches.40 Hektor und Achill und ihre jeweiligen Gefolgsleute gehören nicht derselben, auf gegenseitigem Vertrauen begründeten Gemeinschaft an; sie führen keinen Bürgerkrieg. Wenn sich Glaukos und Diomedes überraschend als Gastfreunde erkennen und eine Treueverpflichtung eingehen, wird dies nur vielsagend unterstrichen.41 Etwas anders verhält es sich mit dem Streit zwischen Agamemnon und Achill.42 Zwar geht es hier in erster Linie um Ehre,43 es gibt keinen beeideten Vertrag, der Briseis dem Achill zusicherte. Und dennoch wird auch hier Vertrauen zerstört, nämlich der Glaube an die Gültigkeit sozialer Praktiken und an die Autorität des Heerführers.44 Wenn sich Achill nach dem Streit zurückzieht, begeht er mit seinem tödlichen Groll (de facto einem Treubruch gegenüber Agamemnon) eine grandiose Verfehlung und setzt das epische Geschehen in Gang. Der Reiz des Gedichts besteht nicht zuletzt darin, dass, anders als der ursprüngliche Auslöser des Krieges, der tatsächliche Auslöser der Ilias selbst weniger leicht zu beurteilen ist. Während beim Raub der Helena selbst für die Trojaner der Fall eindeutig ist, gibt es beim Raub der Briseis individuell sehr unterschiedliche Ansichten darüber, wer wem Treue schuldet. Von hier muss der Blick nach Rom gehen. 37 Auch in der Odyssee steht eine Eidverletzungen an prominenter Stelle, und zwar das Verhalten der Gefährten auf Thrinakia (vgl. Hom. Od. 1,7–9; 12,298–307) bzw. ihr Öffnen des Windschlauches (Hom. Od. 10,26–75). Auch wenn diese Vertrauensbrüche die Handlung des Gedichts nicht selbst bewirken, so hat sie doch für den Verlauf des Geschehens einige Bedeutung. Die Mägde (Hom. Od. 19,154: „die Hündinnen, die sich nicht sorgen“; κύνες οὐκ ἀλέγουσαι) begehen einen Treubruch, indem sie Penelopes List verraten; damit setzen sie die Telemachie in Gang (vgl. Hom. Od. 2,106–110). 38 Vgl. etwa Schol. b Hom. Δ 104. 39 Prägnant sind die Worte Achills nach dem Tode des Patroklos: „Hektor, du, dem ich nie vergeben werde, sprich mir nicht von Verständigung! Wie es zwischen Löwen und Menschen keine Eide geben kann […]“ ( Ἕκτορ μή μοι ἄλαστε συνημοσύνας ἀγόρευε· | ὡς οὐκ ἔστι λέουσι καὶ ἀνδράσιν ὅρκια πιστά [κτλ.]); Hom. Il. 22, 261 f. 40 Hierzu vgl. Aristot. poet. 1453 b 14–21. 41 Hom. Il. 6,224–233: „sie gaben sich die Hand und schworen sich Treue“ (χεῖράς τ᾽ ἀλλήλων λαβέτην καὶ πιστώσαντο); vgl. dazu Stoevesandt 2008, S. 83–85. 42 Hom. Il. 1,98–430. 43 Vgl. etwa Hom. Il. 1,152–162; 1,355 f. Achills Beziehung zu Agamemnon ist ein „auf Freundschaft basierendes freiwilliges Gefolgschaftsverhältnis“; Latacz u. a. 2009 ad Il. 1,158. 44 So äußert sich jedenfalls Achill: „Es ziemt sich nicht, dass das Volk die Beutedinge wieder einsammeln soll.“ (λαοὺς δ᾽ οὐκ ἐπέοικε παλίλλογα ταῦτ᾽ ἐπαγείρειν); Hom. Il. 1,126. Vgl. auch die Bemerkung zu Gehorsam und Vertrauen Il. 1,150 f.: „Wie soll denn noch ein vernünftiger Achaier deinen Worten gehorchen, sei es voran zu marschieren oder mit den Männern zu kämpfen?“ (πῶς τίς τοι πρόφρων ἔπεσιν πείθηται [!] Ἀχαιῶν | ἢ ὁδὸν ἐλθέμεναι ἢ ἀνδράσιν ἶφι μάχεσθαι;).

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Initiierende Treubrüche sind im römischen Epos durchgängig präsent;45 und grundsätzlich suggerieren sie auch hier eine altepisch-eindeutige Moralität. Oft wird diese Suggestion jedoch konterkariert. In der Aeneis zeigt sich das zunächst an einem Unterschied in der Art, wie von Treue erzählt wird – und zwar einerseits von Aeneas selbst und andererseits von Vergils Erzähler:46 In dem ‚Epos‘, das Aeneas am Hof von Karthago vorträgt, erfüllt der griechische Agent Sinon eine ähnliche Funktion wie Pandaros.47 Gerade als Laocoon Zweifel am Danaergeschenk, dem Trojanischen Pferd, geweckt hat, führt man den Gefangenen vor, der unter Berufung auf die trojanische fides seine Geschichte verbreitet und die Trojaner dazu bringt, das Pferd in die Stadt zu holen.48 Die Frontlinien der Ilias sind durch diesen Meineid fortgeführt, wenngleich aus anderer Perspektive: Die Griechen sind verbrecherisch, die Trojaner ehrenhaft; jene sind im Unrecht, diesen gilt das Mitleid der Zuhörer. Aeneas selbst erzählt sozusagen altepisch. Der zweite handlungsbestimmende Treubruch der Aeneis ist demgegenüber provozierend anders geartet und ereignet sich innerhalb der eigentlichen Handlung. Aeneas, der treue Beschützer der Penaten, vergisst beinahe, Didos Ufer wieder zu verlassen. Als er dann schließlich doch geht, kommentiert die punische Königin dies mit den bitteren Worten: „Nirgends dauert die Treue.“49 Indem Aeneas nun selbst solchermaßen des Treubruchs beschuldigt wird, stellt der Dichter seine Leser vor eben jene interpretative Herausforderung,50 die bis zum Ende des Gedichts immer wieder für Verunsicherung sorgt: Verstößt Aeneas gegen seine eigenen Prinzipien, verhält er sich unrömisch? Didos Vertrauen betrifft sowohl eine politische Entscheidung – sie hat den Flüchtling zum Mitregenten gemacht und erhofft die Ehe mit ihm51 – als auch eine intime Empfindung. Der von ihr de iure zu Unrecht 45 Möglicherweise beziehen sich die Fragmente Enn. ann. 216 f. und Enn. ann. 225 f. Sk aus Ennius’ siebtem Annalen-Buch auf einen Treubruch, vielleicht sogar in einem gewissen Zusammenhang mit der sprichwörtlichen Punica perfidia. Zum Zusammenhang von Kriegserklärung und fides siehe Varro ling. 5,86 mit (freilich unsicherem) Bezug auf Ennius. 46 Zur Bedeutung von Aeneas’ Selbstdarstellung siehe Casali 1999; ähnlich Wittchow 2009, S. 241–243. 47 Sinon ist die Verkörperung epischer Peripetie. Er ermöglicht es, die Trojaner niederzuwerfen; insofern ist sein Name sprechend (von griech. σίνεσθαι – ‚schädigen‘). In der Beinahe-Episode der Aeneis ist sein Name, wenn auch prosodisch nicht ganz korrekt, möglicherweise sogar als ultimatives Symbol der Bedingtheit – si non … – und ihres rhetorischen Potentials aufzufassen, gewissermaßen als Illustration des einleitenden Verses: „Wenn unser Verstand nicht irre gewesen wäre“ (si mens non laeua fuisset); Aen. 2,54. Dazu Casali 2017 ad 2,79 mit Hexter 1990, 113: „Sinon continues to speak the truth he promised, because the ‚truth‘ of a conditional does not depend on the truth of either premise or conclusion but only on the logical relation between them.“ 48 Verg. Aen. 2,142.161. Siehe etwa Horsfall 2008 ad locc. zur subtilen sprachlichen Gestaltung des Pathos, mit dem Sinon hier fides einfordert. Zur „Beinahe“-Struktur siehe Nesselrath 1994, S. 79. 49 Verg. Aen. 4,373: nusquam tuta fides. 50 Vgl. etwa Monti 1981; Starks 1999. 51 Verg. Aen. 4,307–330.373 f. Im Nachhinein bewertet Dido Aeneas’ Taten, namentlich den Umstand, dass er Troja (wie später Karthago) unrühmlich verlassen und dies als pietas stilisiert hat, vgl. Casali 1999.

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unterstellte Vertrauensbruch motiviert einerseits die Feindschaft zwischen Puniern und Dardanern und, sozusagen, die Handlung eines (in der Aeneis freilich nicht ausbuchstabierten) Epos über Rom und Karthago – in dem übrigens Aeneas’ Entscheidung infolge des römisches Sieges über die treulosen (!) Punier nachträglich legitimiert werden kann.52 Andererseits dokumentiert der Vertrauensbruch zweifelsfrei, dass eine Frau durch die Untreue ihres Geliebten ins persönliche Unglück gestürzt wird. Diese Verbindung von Altepischem und Neoterischem ist gattungstechnisch bedeutend:53 Um dem fatum treu sein zu können, muss Aeneas Dido untreu werden. Die perfidia coniugis hat vor allem einen elegischen oder erotischen, also jedenfalls nichtöffentlichen Gehalt.54 Wenn auch sie zum Gegenstand eines epischen Geschehens wird, vermag sie das Politische und Überindividuelle des heroischen Epos zu kontrastieren und sogar in Frage zu stellen.55 Ebenfalls unmöglich ist es, eine einfache Moral aus dem Treubruch des Tolumnius abzuleiten.56 Der rutulische Augur wirft eine Lanze und ermuntert damit die Anhänger des Turnus, den zwischen Aeneas und Latinus geschlossenen Vertrag zu übertreten. Der Akt der Rechtsverletzung ist dem Schuss des Pandaros auffallend ähnlich:57 Die Rutuler sind eidbrüchig, die Kämpfe brechen dadurch von neuem los und werden besonders von Turnus sehr grausam geführt. Die Norm bestätigt sich ex negativo. Aber auch wenn die Schuld eindeutig feststeht,58 werden doch durch die Erzählung nicht etwa nur die Rutuler delegitimiert, sondern auch die Trojaner, die deren Provokation sofort und äußerst bereitwillig annehmen.59 Wenn Aeneas den Seinen hilflos zuruft: „Was für eine Zwietracht bricht hier wieder los?“60, klingt es, als spräche er über den römischen Bürgerkrieg. Man kann die fides noch verletzen, selbst wenn der Gegner seine Eide schon gebrochen hat. Dass der von irgendwo plötzlich abgeschossene Pfeil, der den mahnenden Aeneas zum Schweigen bringt,

52 Silius beginnt seine Erzählung mit einer Anspielung auf die vererbte Feindschaft, vgl. Sil. 1,81– 112. 53 Zur elegischen perfidia siehe Burck 1952, zum foedus amoris und zu seinen zahlreichen Erscheinungsformen in der Dichtung seit Catull siehe Gebhardt 2009, S. 137–148. Zur Relevanz der perfidia coniugis als Referenzgröße siehe etwa Trimble 2010. 54 Das Motiv erscheint bei zentralen Figuren in allen der hier betrachteten Epen: Ariadne/Theseus (Catull), Pompeius/Cornelia (Lucan), Iason/Medea (Valerius Flaccus) bzw. Iason/Hypsipyle (Statius), Achill/Deidamia (Statius), Regulus/Marcia (Silius Italicus). In der römischen Liebeselegie sind allerdings zumeist die Frauen untreu, vgl. Heldmann 2019, S. 303. 55 Siehe Wittchow 2009, S. 238–248, zum Komplex der „elegischen List“ in der Aeneis. 56 Verg. Aen. 12,257–288. 57 Vgl. Serv. Aen. 12,176. 58 Hierzu Glei 1991, S. 225 f., 254, der freilich die Schuld der Rutuler stark gewichtet und hier deswegen eine (zu?) klare moralische Implikation sieht. 59 Es ist auffallend, dass durch den Zwischenfall nichts erreicht wird. Keine Wendung in der Handlung wird initiiert, es war alles vollkommen unnötig, denn schließlich kommt es ja doch zum verabredeten Zweikampf, siehe die auktoriale Metalepse Verg. Aen. 12,500–504. 60 Verg. Aen. 12,313: quaeue ista repens discordia surgit?

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nicht zurückverfolgt werden kann und namentlich kein Rutuler das Lob für sich will, muss Unbehagen erregen.61 Dies setzt sich in den flavischen Epen fort. Vor allem bei Statius treten Charaktere auf, die entweder überhaupt gar keine Treue kennen oder, im Gegenteil, vor Treue geradezu blind sind.62 In der Thebais steht ein mustergültig handlungsentscheidender Treubruch am Anfang: Der Vertrag, der gebrochen wird, sollte gerade den Konflikt zwischen den Ödipussöhnen verhindern. Die Möglichkeit eines alternativen Handlungsverlaufs ist hier aber nur Staffage; es ist nicht spektakulär, sondern auffällig vorhersehbar, wenn Eteocles nicht, wie verabredet, die Herrschaft an seinen Bruder übergeben will. Tydeus, der als Gesandter von Polynices auftritt, beginnt seine Rede mit den Worten: „Wenn deine Vertrauenswürdigkeit echt ist …“63 Selbstverständlich hat Eteocles aber keine fides,64 mehr noch: Er kann es, um dies zu demonstrieren, kaum erwarten, dass man sie von ihm fordert.65 Er bricht also den Vertrag; und zwar indem er seinerseits, nicht unbegründet, Tydeus die Treue zu Polynices vorwirft: Wenn ich die Streitlust des Bruders nur aus zweifelhaften Zeichen hätte schließen können, wenn mir sein geheimer Hass nicht klar gewesen wäre, so hätte allein die Treue genügt, mit der du grimmig sein Denken übernimmst und hier an seiner Stelle wütest […].66

So kann das Verhängnis seinen Lauf nehmen. Bei Statius ist die fides grundsätzlich erschüttert, wie bei Lucan.67 Die Furie Tisiphone darf sich sicher sein, dass die Macht der Göttin Fides nichts gegen sie ausrichten wird.68 Wenn am Ende des Gedichts Antigone aus Treue gegenüber ihrem Bruder ihrem Onkel die Gesetzestreue verweigert, scheint sich am Schluss der einen Handlung bereits die nächste tragisch anzukündigen.69 Hier lässt sich gut die kompositorische Relevanz von Treubrüchen beobachten. Bei Statius ist, auffällig anders als in der sophokleischen Tragödie, 61 Verg. Aen. 12,318–323. Verg. Aen. 12,815 scheint anzudeuten, dass Iuturna geschossen hat (siehe aber die Diskussion bei Serv. Aen. 12,320); das ändert allerdings nichts daran, dass der Schuss vielen gelegen kam und von keinem verdammt wird. Denkbar ist also auch der Zufall (Verg. Aen. 12,321: casusne deusne), dass es sich um einen Pfeil aus den eigenen, längst kampfbegierigen Reihen handelt. Hierzu Gladhill 2009, S. 7. 62 Zu fatalen Treue von Statius’ Argia siehe Keith 2019; Augoustakis 2019, S. 141–144. 63 Stat. Theb. 2,393: si tibi plana fides. 64 Der Vertragsbruch scheint in der literarischen Tradition angelegt zu sein, vgl. Eur. Phoen. 482; Sen. Phoen. 280: „Man verachtet die Vertragstreue“ (spernitur pacti fides) sowie Augoustakis 2019 mit Soph. Oid. K. 607–615. 65 Stat. Theb. 2,388. 66 Stat. Theb. 2,415–420: cognita si dubiis fratris mihi iurgia signis | ante forent nec clara odiorum arcana paterent, | sufficeret uel sola fides, qua toruus et illum | mente gerens […] praefuris. 67 Deutlich wird das insbesondere in der Rede der Antigone (Stat. Theb. 11,365 f.), vgl. auch Augoustakis 2019. 68 Stat. Theb. 11,98. Hierzu Keith 2019, S. 110. 69 Stat. Theb. 12,374–380.

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die Bestattung des Polinices kein problematischer Akt mangelnder Gesetzestreue. Indem schließlich Theseus als „Wahrer der Bindungen“ Antigones Tat legitimiert und Creon, den Tyrannen, bekämpft,70 ist eine Erweiterung der erzählerischen Struktur nicht zwingend nötig. Es wird kein neuer Handlungsstrang initiiert; das Epos kann ruhig ausschwingen.71 Valerius Flaccus verzichtet zwar darauf, einen initialen Treubruch auszubreiten, aber sein Pelias, der durch eine List den Argonautenzug ins Werk setzt, ist ein Tyrann ohne fides.72 Auffallen muss allerdings auch die Untreue Jasons; dass er die Ehe mit Medea löst, ist zwar vom Schicksal verhängt, und es ist nicht mehr festzustellen, wie dies die Schlusshandlung des unvollendet vorliegenden Werks determinieren sollte, aber offensichtlich wird hierdurch, entsprechend der literarischen Tradition, die spätere Rache der Kolcherin provoziert.73 Wie die Thebais enden die Argonautica mit einem ‚schwachen‘ Treubruch, der durch eine literarische Fußnote die relative Unabgeschlossenheit der Handlung betont: Der Schrecken ist längst nicht auserzählt. Der in größerem Ausmaß Fragment gebliebenen Achilleis des Statius fehlt eine erkennbare Handlung ebenso wie ein handlungsinitiierender Treubruch; Untreue und Trug finden sich aber auf Schritt und Tritt.74 Ein dubioses Treueversprechen, das prominent am Ende des ersten Buches steht, verdient hier besondere Aufmerksamkeit: Als Achill von Skyros abreist, um gegen Troja zu ziehen, gelobt er Deidamia, nachdem er sie zuvor getäuscht und vergewaltigt hat,75 nicht mit einer Barbarenfrau ein Kind zu zeugen,76 und er verspricht, nach dem Sieg mit vielen Schätzen zurück auf die Insel zu kommen. Der Erzähler konstatiert im Schlussvers des Buches: „Der Wind wehte die vergeblichen Worte davon.“77 Für das Gedicht, über dessen intendierte Form nur gemutmaßt werden könnte, ist der bevorstehende Treubruch mög70 Vgl. Stat. Theb. 12,642. 71 Der Autor betont freilich, dass eine Fortsetzung der Erzählung prinzipiell möglich wäre, vgl. Theb. 12,797–809. 72 Val. Fl. 1,22–63, namentlich 1,39: fictis dictis, 1,64: doli. Junos Rede qualifiziert das Verhalten des Herrschers als Perfidie (Val. Fl. 5,289 f.) und Jason kommt zum selben Urteil, wenn er Pelias und Aietes vergleicht (Val. Fl. 7,91–102). Bei Apollonius Rhodius geht es nicht um Vertrauen oder List, auch wenn Alkimede den Auftrag als bösen Befehl bezeichnet (Apoll. Rhod. 1,279: κακὴ βασιλῆος ἐφετμή). Ein uneigentlicher Treubruch ereignet sich in der Cyzicus-Episode, die Vertrauenswürdigkeit der Argonauten wird nämlich gleichzeitig gerühmt und problematisiert. Cyzicus lobt die fides der Ankommenden, um danach infolge einer verhängnisvollen Verwechselung in einer Nyktomachie von ihnen getötet zu werden (Val. Fl. 2,646). Zwar handelt es sich hier nicht um einen bewussten Vertrauensbruch, die Episode dient aber auch dem Fortgang der Handlung. 73 Val. Fl. 8,249. Siehe Lovatt 2019, S. 101, zu Val. Fl. 8,412. Ein ähnliches erzählerisches Arrangement wäre für den Aufenthalt der Argonauten auf Lemnos denkbar gewesen, hier verwendet Valerius Flaccus – anders als Statius (Stat. Theb. 5,474) – allerdings kein Treubruchmotiv. 74 Siehe Kozák 2019 zur Entführung der Helena in der Hintergrundhandlung (Stat. Ach. 1,403), zu der Entführung Achills durch Thetis (Stat. Ach. 1,141), bei Achills Verkleidung (Stat. Ach. 1,663) und schließlich bei der Aufgabe der Verkleidung (Stat. Ach. 1,862). 75 Stat. Ach. 1,662 f.; vgl. Davis 2006; Kozák 2019, S. 159. 76 Stat. Ach. 1,957: iurat fidem. 77 Stat. Ach. 1,960: inrita uentosae rapiebant uerba procellae.

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licherweise gar nicht ausschlaggebend, zumal unklar bleibt, ob das Versprechen absichtlich falsch oder schicksalhaft unerfüllbar ist.78 Eines ist aber zu sehen: Das ganze Pathos der Ilias-Handlung, der Zorn des Achill und alles, was aus ihm folgt, ist in dieser statianischen Lesart von der perfidia coniugis abhängig gemacht. Wäre Achill seiner Deidamia treu geblieben, hätte ihm Briseis womöglich nichts bedeutet. Der Streit zwischen Agamemnon und Achill erscheint, so betrachtet, noch verwickelter, und die Legitimation dafür, dass die Griechen überhaupt auf Eidestreue insistieren können, wird fraglich. Silius Italicus scheint demgegenüber wieder besonders konservativ zu erzählen; er erwähnt einen initialen und durchaus altepisch anmutenden, moralistisch klar auszudeutenden Treubruch direkt im Proöm: „Gib mir, Muse, den Ruhm Hesperiens zu künden und die Männer, die Rom in den Krieg sandte, als das eidvergessene Karthago zum Kampf rüstete […].“79 Hannibal ist geradezu die (getreue80) Verkörperung der Perfidie.81 Der eigentliche Beginn der Handlung ist der Bruch des Friedensvertrages nach dem ersten Punischen Krieg:82 Zur Eröffnung der Kampfhandlungen schleudert Hannibal seinen Speer gegen einen Saguntiner – die Parallele zum homerischen Pandaros liegt auf der Hand.83 Freilich lässt sich auch beobachten, dass er, der solchermaßen die Verträge verletzt, dennoch auch der fides verpflichtet ist, nur eben nicht der ‚positiven‘ fides der Römer, sondern derjenigen zu seinem Haus, dem Geschlecht der von dem ‚Römer‘ Aeneas betrogenen Dido.84 Und so erhält denn auch bei Silius der Begriff einen gewissen Kontrapunkt. Lucans proömiales Monostichon mit den markanten Worten: „und vielen kam der Krieg gelegen“85, gehört einerseits in die Tradition des handlungsinitiierenden Treubruches, andererseits muss es jedoch auffallen, dass hier überhaupt kein Schuldiger benannt wird und dass es auch in der weiteren Handlung keinen wirklichen, überraschenden Moment des Vertrauensbruchs gibt: nicht bei Caesars Rubicon­ übertritt und nicht in Pharsalos, als die beiden Heere aufeinandertreffen.86 Vertrauen, 78 Die Parallele zu Catull. 64,59 ist offensichtlich und legt Eidbruch nahe, vgl. Davis 2006. Zum Problem der straflosen (weil ohnehin nicht glaubhaften) Liebesschwüre siehe aber Heldmann 2019. Die mythologische Tradition kennt keine weiteren Nachkommen Achills, und so wird wenigstens der unmittelbare Wortlaut des Versprechens eingehalten; zur Analyse der Passage und ihrer Stellung im Werk siehe Bitto 2016, S. 330–337. 79 Sil. 1,3–6: da, Musa, decus memorare laborum | antiquae Hesperiae, quantosque ad bella crearit | et quot Roma uiros, sacri cum perfida pacti | gens Cadmea super regno certamina mouit. 80 Sil. 13,749. Die punische Perfidie ist topisch, vgl. etwa Liv. 21,4,9. 81 Sil. 1,56. 82 Sil. 1,296: abrupto foedere. Dazu Marks 2019. 83 Vgl. Marks 2019, S. 174. 84 Vgl. Fucecchi 2019. 85 Lucan. 1,182: et multis utile bellum. 86 Zwar markiert das Auftreten der Patria vorm Rubikon einen sittlichen Widerstand, den Caesar überwinden muss (vgl. Heyke 1970, S. 11–34), aber fides oder pietas werden hier nicht thematisiert, Caesar weist die Patria zurück, indem er Roma anruft. Wenn er schließlich erklärt: „Fort nun mit allen Verträgen“ (procul hinc iam foedera sunto; Lucan. 1,226), was man formal als Treubruchmotiv auffassen kann, bestätigt er nur das proömiale Monostichon bzw. die Kriegsabsicht, mit der er in die Szene eingetreten war, vgl. Lucan. 1,184 f.

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das verletzt werden könnte, ist offenbar nicht mehr vorhanden. Hierin besteht eine wichtige Innovation von Lucans historischem Erzählen. Für das Bellum Ciuile als Ganzes wird auch formal die traditionelle Konstellation vermieden, wonach die ‚Guten‘, sozusagen die Treuen, wider die ‚Bösen‘, die Treubrüchigen, streiten.

3. Verschiedene Dimensionen der fides im römischen Epos Treubrüche strukturieren, wie gesagt, die epische Handlung und suggerieren dabei die Existenz einer objektiven Konzeption von Vertrauen und Treue, die nicht nur erlaubt, die Schuldigen zu finden, sondern auch grundlegende ethische Schlussfolgerungen aus der Handlung zu ziehen. Es war allerdings zu sehen, dass im römischen Epos die moralistische Suggestion nicht selten durch einige innere Widersprüche der jeweiligen Handlung unterlaufen wird: sei es, wie im Fall der Aeneis, durch die Spannung zwischen Treue gegenüber dem Schicksal und Untreue gegenüber den Menschen; sei es, wie in der Thebais, durch den Anschein, dass fast allen Handlungsträgern eine Vertrauenskonzeption generell fehlt. Problematisch ist in all diesen Fällen der Schritt vom Besonderen zum Allgemeinen; zwar kann über fides anhand exemplarischer Episoden sinnvoll gesprochen werden, aber einzelne Exempla zum konsistenten Begriff zu synthetisieren, ist nicht möglich. Dies lässt sich auch daran beobachten, dass die römischen Epiker (bzw. ihre Figuren) in einer Weise über fides sprechen, die zur Akzentuierung und, vor allem in der nachvergilischen Dichtung, zur grundsätzlichen Problematisierung dieses Sinnkonzepts beitragen kann. Ich wähle, um das zu zeigen, vier Gesichtspunkte aus, nämlich (1) Recht, (2) Rhetorik, (3) Theologie und (4) Metapoetik. 3.1 Rechtliches: Identität und Exemplarität Ein Epos erzählt in der Regel von der individuellen Bindung an göttliches Recht, von der Treue bzw. Untreue von Kampfgenossen oder Freunden87 und, vor allem in epischen Spielen, vom Zustand einzelner Vertrauensverhältnisse innerhalb der Gemeinschaft.88 In der römischen Dichtung lässt sich für all dies das Wort fides bzw. seine Negation finden, womit der Begriff weit über seinen ursprünglichen Gehalt hinaus gedehnt wird. Wenn Vergils Aeneas erzählt, dass Achill die Gebote der Götter befolgt und Priamus den Leichnam Hektors herausgegeben hat,89 legt er Priamus diese Worte in den Mund: „[…] das Recht und der Glaube des Bittflehenden 87 Vgl. z. B. Hom. Il. 15,437; 16,147; emblematisch sind der ennianische „good companion“ (Enn. ann. 279–285 Sk) oder Vergils fidus Achates. 88 Vgl. z. B. Hom. Il. 23,700–739; Verg. Aen. 5,461–472; Stat. Theb. 6,454–468.614–630. Dazu Lovatt 2005, S. 4–10, 80–100. 89 Hom. Il. 24,570 f.: „dass ich nicht gegen Zeus’ Befehle verstoße.“ (μή […] Διὸς δ’ ἀλίτωμαι ἐφετμάς). Bemerkenswert im Vergleich mit der vergilischen Darstellung ist auch, dass Hekabe Achill zuvor als „treulosen Mann“ (ἄπιστος ἀνήρ) bezeichnet hatte, vgl. Hom. Il. 24,207.

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bewegten ihn.“90 Was hier am Verhalten Achills gelobt wird, also die Schonung des Besiegten, ist „römisch“.91 Während allgemein das Phänomen „Treue“ als konventioneller Teil der epischen Narration betrachtet werden kann, besitzt das Wort fides an dieser Stelle ein besonderes Potential zum Anachronismus, weil es das römische Recht evoziert.92 Das lateinische Wort dient hier der Selbstvergewisserung Roms; das macht es nicht nur politisch interessant, sondern ermöglicht auch Abstraktion. Epische Treue- und Vertrauensverhältnisse betreffen zumeist die Ebene einzelner Beziehungen. Kollektives Vertrauen bzw. kollektive Treue haben traditionell eine weit untergeordnete Bedeutung, wie überhaupt die anonyme Masse keine tragende Rolle spielt.93 Lucan bricht mit dieser Konvention, nimmt die ‚handelnde Menge‘ in das epische Personal auf und verleiht damit der kollektiven fides eine größere Bedeutung,94 nämlich das allgemeine Bekenntnis zu bestimmten kulturellen und rechtlichen Standards. Hier besteht eine wichtige Beziehung zur fides populi Romani, die für Rom, seinem völkerrechtlichen Selbstverständnis nach, so charakteristisch gewesen ist.95 Wenn Livius darüber berichtet, dass man in Rom die fides bewahren oder aber gegen sie verstoßen kann, dann steht, sehr pauschal gesagt, weder ihr Gehalt in Frage noch die Situation, in der man sie prinzipiell erwarten darf.96 Wenn aber, wie im Proöm des Bellum Ciuile bekundet, die Treue innerhalb einer Gruppe und auch die allgemeine Vertrauenswürdigkeit der Gruppe insgesamt erschüttert ist, wenn der Treubruch nicht als Ausnahme, sondern als Regel erscheint, so ist die Vorstellung eines tragfähigen exemplarischen Wertekonzepts aufgehoben und die Exempla sowie die auf sie gegründete Identität müssen wieder zum Gegenstand der 90 Verg. Aen. 2,541 f.: iura fidemque | supplicis erubuit. Die Formulierung, dass Achill von Priamus’ fides, also seinem Vertrauen auf die Sittlichkeit des Siegers, berührt wird, ist besonders auffällig; nach römischer Vorstellung hat sich nämlich Priamus in die fides Achills begeben; zur Kapitulation und ihren moralischen Implikationen vgl. Merten 1964, S. 39–47; überdies Wittchow 2009, S. 123–134. 91 Vgl. Verg. Aen. 6,551–553: „Du, Römer, gedenke die Völker durch deine Herrschaft zu führen (dies wird deine Kunst sein), dem Frieden Sittlichkeit zu verleihen, die Unterworfenen zu schonen und die Hochmütigen zu bezwingen.“ (tu regere imperio populos, Romane, memento | (hae tibi erunt artes), pacique imponere morem, | parcere subiectis et debellare superbos). 92 Dies begründet unter anderem die Schwierigkeit der vergilischen Dido-Episode, vgl. Monti 1981, S. 30–69. 93 Der homerische Odysseus erwähnt zwar das Versprechen der Achaier an Agamemnon (Hom. Il. 2,285 f., „Fahneneid“), die Menge wird allerdings durch Einzelne beeinflusst und repräsentiert; siehe Brügger u. a. 2003, S. 88 f., zu Odysseus’ Geschick und Agamemnons möglichem Versagen. Gruppen wie die Argonauten können sinnvollerweise auch ein kollektives Empfinden von Treue bzw. Gehorsam haben, vgl. Apoll. Rhod. 1,364; 2,413; Val. Fl. 3,598 mit der einprägsamen Wendung der „unbewegten Treue“ (immota fides). 94 Zur Rolle der Massen bei Lucan siehe Schmitt 1995; Gall 2005; Blaschka 2015, S. 265–368. Zur fides der silianischen Saguntiner siehe unten. 95 Vgl. Liv. 1,21,4; dazu Merten 1964. Die fides populi betrifft nicht nur die Beziehung anderer Völker zu Rom, sondern auch die Beziehung des einzelnen Bürgers zum Volk; Liv. 3,56,8. 96 Livius berichtet zwar von innerrömischen Verstößen gegen die fides, gleichwohl ist generell die Tendenz zu beobachten, dass bei ihm „die Entscheidung für das sittlich Gute zugleich die Entscheidung für das politisch Vorteilhafte bedeutet“; Merten 1964, S. 103; siehe aber auch Wittchow 2009, S. 123–180.

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Diskussion werden. In der Tat lässt Lucan die fides auch als traditionell-römische, positive bestimmte und moralisch verbindliche Idee in Erscheinung treten – nur eben nicht bei den Römern.97 Als Caesar auf dem Weg nach Spanien an der, jedenfalls nach Lucans Darstellung, neutralen Stadt Massilia vorbeikommt, erklärt der Erzähler: „Während alle anderen ängstlich vor Caesars Ruf zitterten, wagten es die Phoker [sc. die phokische Kolonie Massilia], ganz ohne griechische Unzuverlässigkeit, trotz widrigen Umständen die fides zu wahren.“98 Die Massilioten berufen sich auf ihr bestehendes Bündnis mit Rom und bitten Caesar, ihre Neutralität in seinem innerrömischen Konflikt mit Pompeius zu respektieren.99 Sie als einzige sind damit in der Lage, einen überzeugenden moralischen Grundsatz zu vertreten: „Der Bürgerkrieg ist beendet, wenn ihr nicht jedem Waffen gebt, der das Recht hat, welche zu tragen.“100 Die Massilioten werden zwar für diesen moralischen Heroismus mit dem Leben bezahlen müssen. Dabei erringen sie aber, wie der Erzähler sagt, das Verdienst, Caesar wenigstens für einen Moment aufgehalten zu haben. Um noch einmal daran zu erinnern, auf welche Moral sie sich beziehen, formulieren sie eine sehr suggestive Selbstdarstellung: „An diesem fremden Ufer hier schützen uns unsere niedrigen Mauern und allein unsere fides zeichnet uns aus.“101 Das könnte auch ein Bild der idealisierten römischen Frühzeit sein.102 Diese Anspielung auf römisches Selbstverständnis deutet subtil darauf hin, dass es hier, streng genommen, nicht um die Vertrauenswürdigkeit Massilias geht, sondern um die Roms, dessen Repräsentanten ein bestehendes Bündnis ignorieren.103 Caesar geht freilich auf das Ansinnen der Massilioten nicht ein, er scheint die Treue der Griechen sogar zu verspotten, wenn er seine Erwiderung mit den Worten beginnt: „Sinnlos ist das Vertrauen, das die Griechen unseren Angelegenheiten entgegenbringen.“104 Die Griechen hatten argumentiert, sie wollten als treue Bündnispartner Caesar gar nicht bei seinem Bürgerkrieg im Wege stehen. Er kontert (durchaus irrational, wie sich erweisen wird),105 die Zeit für die Zerstörung habe er in jedem Fall. Er sucht also den Kampf und führt ihn auf die denkbar grausamste Weise – als Seeschlacht.106 97 Andererseits wird mit der Treulosigkeit der Ägypter gegenüber Pompeius (vgl. etwa Lucan. 8,485) auch ein sehr konventionelles römisches Vorurteil bestätigt – um desto schwerer auf die Römer, namentlich Caesar, zurückzufallen. 98 Lucan. 3,300–302: cumque alii famae populi terrore pauerent | Phocais in dubiis ausa est seruare iuuentus | non Graia leuitate fidem. Das besonders in Ciceros Rede Pro Flacco prominente Stereotyp besagt, dass die Griechen keine fides haben, vgl. Hunink 1992 ad loc. 99 Der Gegensatz zu Caesars Darstellung (Caes. civ. 2,14,1) könnte stärker nicht sein. Zur fidesRhetorik des lucanischen gegenüber der des historischen Caesar siehe Stock 2019, S. 28 f. 100 Lucan. 3,328 f.: finis adest scelerum, si non committitis ullis | arma quibus fas est. 101 Lucan. 3,341 f.: moenibus exiguis alieno in litore tuti, | inlustrat quos sola fides. 102 Vgl. Rowland 1969. 103 Ähnlich wirkt auch der Selbstvergleich mit Sagunt, der andeutet, dass die Massilioten dem idealischen Rom gegen seinen Feind, Caesar, die Treue halten werden, vgl. Lucan. 3,349 f. 104 Lucan. 3,358: uana mouet Graios nostri fiducia cursus. 105 Vgl. Lucan. 3,453–455. 106 Opelt 1957; Nill 2018, S. 154–256.

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Dass die Massilioten die alleinigen Vertreter wahrer römischer fides im Bellum Ciuile sind, ist provozierend. Denn ein wichtiger Kandidat hätte doch auch Cato sein können, der exemplarische Streiter für die verlorene Sache. Das vielleicht wirkmächtigste Exemplum für die altrepublikanische Treue zum gegebenen Wort ist das wesentlich durch Cicero geprägte Narrativ des Marcus Atilius Regulus, der aus karthagischer Gefangenschaft nach Rom gesandt wird, um einen Friedensschluss zu verhandeln, die von ihm für unwürdig gehaltene Mission jedoch absichtlich scheitern lässt und sich daraufhin, getreu seinem Eid, wieder in die Hände der Karthager begibt, um zu sterben.107 Rhetorisch liegt es nahe, Cato und Regulus zu vergleichen;108 Lucans Leser hätten eine entsprechende Anspielung gewiss leicht verstanden. Cato, der sich immerhin auf Decius beruft, hätte ihn anführen können. Er tut es nicht.109 Das ist desto auffälliger, als die fides in Catos Umkreis in der Tat eine Rolle zu spielen scheint. Brutus erwähnt sie, als er seinen Onkel in der festen Erwartung aufsucht, dass dieser sich dem Bürgerkrieg entziehen werde. In seiner Anrede an Cato gebraucht er einen geradezu hyperbolischen Treuebegriff: „Die Tugend ist aus aller Welt längst vertrieben und verjagt, du allein hältst ihr die Treue.“110 Anschließend bekräftigt Brutus das Leitmotiv des Erzählers, das Verschwinden der fides aus Rom: „Die einen trieb ein Hunger in die Schlacht, der nur noch mit einem Schwert zu stillen ist, die andern ihre fides, die sie zusammen mit der ganzen Welt begraben wollen.“111 Cato jedoch beabsichtigt ganz und gar nicht, sich aus dem Krieg herauszuhalten, er will für Pompeius Partei ergreifen. Die Begründung, die er gibt, ist, wie fast alles am lucanischen Cato, notorisch umstritten.112 Ihr Gehalt und ihre Plausibilität brauchen an dieser Stelle allerdings gar nicht untersucht zu werden. Es genügt zu sehen, dass der Dichter den Mann, der im neronischen Rom längst eine Legende war, sich zwar auf uirtus, fatum und libertas berufen lässt, aber ihm nicht erlaubt, etwas Substantielles über die Treue zum Gesetz oder über den Glauben an die Republik und ihre Institutionen zu sagen. Dieser Cato hat im Gedicht kaum eine andere Aufgabe, als bedeutsam dem Tod entgegenzugehen.113

107 Cic. off. 3,99 f.; fin. 5,82; zur Regulus-Legende siehe etwa Walter 2018. 108 Vgl. etwa Sen. dial. 1,3,4; epist. 67,7. 109 Lucan. 2,308. Silius’ Regulus kann, verglichen mit dem lucanischen Cato, in mancher Hinsicht als ein besserer „Heiliger“ verstanden werden. Ein wichtiger Bezugspunkt zwischen beiden Gestalten besteht im Namen ihrer Gattin, Marcia (Sil. 6,403–409, von Silius womöglich in Anlehnung an Lucan frei erfunden); zum Vergleich der Figuren siehe Fröhlich 2000, S. 404; Syré 2017, S. 222. 110 Lucan. 2,242 f.: [sc. tu] omnibus expulsae terris olimque fugatae | uirtutis iam sola fides. Die Junktur uirtutis fides ist einzigartig in der römischen Dichtung. 111 Lucan. 2,253 f.: hos ferro fugienda fames mundique ruinae | permiscenda fides. 112 Siehe hierzu z. B. den Überblick bei Fantham 1992, S. 122–139. 113 Und dies tut er auf alles andere als exemplarische Weise, vgl. Hömke 2015.

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3.2 Rhetorisches: Interpretation und Propaganda Der Haltung des lucanischen Cato kommt durchaus keine uneingeschränkte Autorität zu. Er weckt, so sagt der Erzähler, mit seiner Erwiderung in Brutus ein „allzu großes Verlangen nach dem Bürgerkrieg“.114 Diese auktoriale Distanzierung lenkt die Aufmerksamkeit darauf, in welcher Weise sich Lucans Figuren römischer Sinnkonzepte bedienen und wie sie diese – absichtlich oder nicht – missdeuten. Dass moralische Begriffe zu Unrecht instrumentalisiert werden, wäre im Bellum Ciuile keineswegs neu. Im siebten Buch der Aeneis tadelt die von der Furie Tisiphone besessene Amata ihren Gatten Latinus, weil der seine Tochter, die eigentlich dem Rutulerfürsten Turnus gehören sollte, mit dem Ankömmling Aeneas verheiraten will. „Was bedeutet deine heilige Vertrauenswürdigkeit?“, fragt sie.115 Und um dem verletzten Vertrauen als Rechtfertigungsgrund für den kommenden Krieg die nötige Autorität zu verleihen, verweist Amata auf das Urbild aller Perfidie, den Raub der Helena. Die Argumentation ist rhetorisch geschickt, dennoch ist sie falsch.116 Lavinia hat nach dem Willen der Götter nie die Ehefrau des Turnus werden sollen; vor allem hatte Latinus sie ihm nie versprochen. Hätte er das getan, wäre der Vorwurf freilich gerechtfertigt. Amata und Latinus scheinen prinzipiell denselben Begriff von Treue zu haben. Tisiphone lässt Amata die Fakten allerdings rhetorisch anders auswerten. Lucan geht darüber hinaus und führt vor, wie der Bürgerkrieg die Rede von Vertrauen und Treue zur beliebigen Phrase macht. Hierzu dient ihm ein Ereignis, das er zu einer epischen Beinahe-Episode zuspitzt: die Verbrüderung vor Ilerda.117 Als sich Pompeianer und Caesarianer vor der hispanischen Stadt begegnen, werden sie plötzlich von einem Gefühl der Liebe übermannt und fallen sich in die Arme, essen und trinken gemeinsam und sind im Begriff, den Bürgerkrieg zu beenden und zu vergessen. Der Erzähler erklärt: „Die Armen erneuern ihre Verbundenheit“, dann fügt er proleptisch hinzu: „und das spätere Verbrechen wuchs nur durch diese Liebe.“118 Der pompeianische General Petreius beendet die Fraternisierung, tadelt seine Soldaten und erinnert sie – an ihre fides.119 Bezeichnenderweise ist sein Argument aber undeutlich. Lucan lässt ihn sagen: „Aber euch erscheint euer Treueid billiger [uilior], weil ihr, die ihr für die gerechte Sache kämpft, noch auf Gnade hoffen wollt.“120 Doch der Satz ist ambivalent. Fides braucht nicht nur die Treue zu Pom114 Lucan. 2,325: in nimios belli ciuilis amores. Für einen Überblick über die Forschung zur Stelle siehe Kersten 2018, S. 191. 115 Verg. Aen. 7,365: quid tua sancta fides? 116 Siehe z. B. Heinze 1914, S. 422 f. mit Verweis auf die zeitgenössische Rhetorik. 117 Zu dem historischen Hintergrund der Episode siehe Leigh 1997, S. 41–68; Radicke 2004, S. 264–290. 118 Lucan. 4,204 f.: est miseris renouata fides, atque omne futurum | creuit amore nefas. 119 Zur „Beinahe“-Struktur siehe Nesselrath 1994, S. 96 f.; formal ließe sich auch hier von einem Treubruch sprechen, freilich wird das Motiv durch die divergierenden fides-Referenzen ad absurdum geführt. 120 Lucan. 4,229–231: at uobis uilior hoc est | uestra fides, quod pro causa pugnantibus aequa | et ueniam sperare licet.

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peius zu bedeuten, die die Soldaten, so lautete dann der Vorwurf, verkaufen; auch die eben erneuerte und staatsrechtlich weit bedeutendere Treue zu den Mitbürgern und Verwandten könnte hiermit gemeint sein. Diese erschiene den Pompeianern dann billiger, angemessener als ihr Treueeid (sacramentum). Ob der lucanische Petreius solchermaßen einen Mangel oder einen Überschuss an fides beklagt, ist nicht festzustellen. Die Leser werden hierdurch daran erinnert, dass man im Bürgerkrieg kaum sinnvoll über die Treueverpflichtung gegen eine bestimmte Partei sprechen kann – selbst wenn eine Partei der Staat zu sein scheint.121 Lucan gestaltet also die thukydideische Feststellung aus, wonach die Worte in der Stasis ihre Bedeutung verlieren.122 Ahnt Petreius womöglich selbst, dass er einen fundamentalen Begriff ad absurdum führt, indem er entweder die Treue schlechthin verhöhnt oder aber sie um den Preis der Perfidie einfordert? Es bleibt unklar.123 Klar ist allerdings, dass es für ihn, der mit Gewalt gegen die Friedensbewegten vorgeht, aber auch gar nichts bedeuten muss, ob er mit dem, was er sagt, moralisch überzeugend ist. Der Erfolg gibt ihm einstweilen recht, denn die Pompeianer, sei es aus Angst oder Einsicht, legen die Becher aus der Hand und erschlagen ihre Brüder, mit denen sie sich eben verbrüdert hatten.124 Der Erzähler kommentiert: „Sie begingen jedes Verbrechen; die Schändlichkeiten, die durch den Neid der Götter in finsterer Kriegsnacht das Schicksal verhängen würde, die vollbrachte hier die Treue.“125 Die fides, die hier mordet, ist aber wohl nicht nur die von Petreius eingeforderte Disziplin, sondern, schlimmer noch, die nunmehr völlig gestörte Empfindung gegenüber den Angehörigen auf der anderen Seite: „als sie zustoßen, hassen sie ihre Verwandten, und die Zweifel in ihrem Innern beseitigen sie durch die Schwerthiebe.“126 Gerade weil die Soldaten ein Treueempfinden haben, morden sie umso grausamer.127 Zu Recht hat man gesagt, vor Ilerda ereigne sich der ganze Bürgerkrieg in nuce.128 121 Das Dilemma, zwischen zwei Treueverpflichtungen zu wählen, könnte freilich dadurch gelöst werden, die zivilen Bindungen höher einzuschätzen. Das scheint die Auffassung des Erzählers zu sein (Lucan. 5,297–299), der, wenn er mit dieser Ansicht in die epische Handlung einzudringen versucht, freilich kein Gehör findet. Zu dem Problem der geradezu „verliebten“ Hingabe an einen Feldherrn vgl. Galtier 2018, S. 223–245. 122 Vgl. Thuk. 3,82,4: „und den gewohnten Gebrauch der Worte änderten sie nach ihrem Gutdünken.“ (καὶ τὴν εἰωθυῖαν ἀξίωσιν τῶν ὀνομάτων ἐς τὰ ἔργα ἀντήλλαξαν τῇ δικαιώσει). Lucan. 1,667 f.: „grausame Verbrechen wird man tugendhaft nennen.“ (scelerique nefando | nomen erit uirtus). Dazu Ambühl 2015, S. 44 f. 123 Zu Petreius’ allgemeiner Missachtung römischer Wertbegriffe siehe Kersten 2018, S. 104–121. 124 Instruktiv ist die Parallele zwischen dem Motiv der concussa fides und der auktorialen Ausführung zur Wirkung von Petreius’ Rede: „So sprach er und erschütterte allen das Gemüt.“ (sic fatur et omnis | concussit mentes); Lucan. 4,236 f. 125 Lucan. 4,243–245: itur in omne nefas, et, quae fortuna deorum | inuidia caeca bellorum in nocte tulisset, | fecit monstra fides. 126 Lucan. 4,249 f.: dum feriunt, odere suos, animosque labantis | confirmant ictu. 127 Pointiert sagt der Erzähler an anderer Stelle: „So sei es, Götter: Wenn Treue und Glauben verfallen und man nur noch auf schlechte Sitten hoffen kann, soll die Zwietracht dem Bürgerkrieg ein Ende machen.“ (sic eat, o superi: quando pietasque fidesque | destituunt moresque malos sperare relictum est, | finem ciuili faciat discordia bello); Lucan. 5,297–299. 128 Vgl. Groß 2013, S. 121.

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Indem das, was ihn eigentlich hätte verhindern sollen, das Gefühl der Treue, hier zum Exzess führt, aus dem es kein Entkommen gibt, ist seine perverse Dynamik auf schreckliche Weise verdeutlicht.129 Bei Statius erscheint die beliebige Vereinnahmung des fides-Konzepts bereits ganz selbstverständlich. Wenn Eteocles, wie erwähnt, den Vertrag mit seinem Bruder bricht, so tut er das unter Verweis auf das mangelnde Vertrauen des Bruders: „Ohne Vertrauen und ohne friedliche Absicht fordert ihr das Szepter.“130 Hier exemplifiziert der Begriff nur noch die Hohlheit der Kriegsrhetorik.131 3.3 Theologisches: die Gottheit Fides (und die anderen Götter) An dieser Stelle kann ein Zwischenfazit gezogen werden. Lucan hat seinem Publikum in der Nachfolge Vergils, aber in bisher ungekannter Schonungslosigkeit vor Augen geführt, wie der fides-Begriff (und jeder Wertbegriff überhaupt132), sofern er ideologisch beliebig zu vereinnahmen ist und nicht durch objektive oder mehrheitsfähige Kriterien irgendwie gerechtfertigt werden kann, leer werden muss. Zwar sollte man wohl nicht so weit gehen, Lucan deshalb als Nihilisten zu bezeichnen,133 in der Tat ist aber diese Dekonstruktion aus zwei Gründen äußerst provokativ: erstens, weil sie im Epos vollzogen wird, dem genus grande, dem für gewöhnlich eine sittliche Normativität zugemessen wird,134 und zweitens, weil hiermit wenigstens indirekt auch das römische Selbstverständnis berührt wird, in welchem fides sowohl abstrakt als auch als kultisch verehrte Gottheit eine feste Größe ist.135 Der Eingriff in die epische Tradition, den Lucan mit seiner concussa fides unternimmt, ist irreversibel.136 Insofern verdient Silius’ Umgang mit der von Lucan ermöglichten 129 Ähnliche Beobachtungen zur degenerierten fides können bei Lucans Vulteius gemacht werden, vgl. Lucan. 4,498.543. 130 Stat. Theb. 2,425 f.: nec sceptra fide nec pace sequestra | poscitis. Mulder 1954, S. 253, kommentiert Eteocles’ rhetorische Strategie in Stat. Theb. 2,417 mit Blick auf Stat. Theb. 2,425 als Figur der „res pro rei defectu“: Weil Polynices kein Vertrauen habe, sei eben auch die Treue des Tydeus problematisch: „Efficit igitur rex, ut crimen perfidiae a legato in se delatum recidat in Polynicem Tydeumque ipsos.“ Wichtiger als diese Beobachtung ist aber, dass die Möglichkeit solcher rhetorischer Finten hier vor allem die Erosion des Vertrauensbegriffes dokumentiert. 131 Siehe auch Augoustakis 2019. 132 Was etwa die uirtus betrifft, vgl. Lucan. 6,147 f. (in Bezug auf Scaeua): „zu jedem Verbrechen war er bereit und wusste nicht, was für ein großes Verbrechen es ist, im Bürgerkrieg tüchtig zu sein.“ (pronus ad omne nefas et qui nesciret in armis | quam magnum uirtus crimen ciuilibus esset). 133 So z. B. Sklenář 2003. 134 Silius macht genau davon Gebrauch, wenn er seinen Erzähler sagen lässt: „Hört, Völker! Brecht nicht den Bund des Friedens und stellt nicht die Treue der Herrschaft hintan.“ (audite, o gentes, neu rumpite foedera pacis | nec regnis postferte fidem); Sil. 2,700 f. Ganz ähnliche Worte spricht später auch Fides selbst, vgl. Sil. 13,284–291. 135 Vgl. Cic. nat. 2,23; 2,79; 3,47; leg. 2,19. Umfassend dazu Freyburger 1986, S. 229–330. 136 Auch die kultisch-praktische Bedeutung der fides wird von Lucan immer wieder problematisiert, vgl. z. B. Lucan. 1,635–637.

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Monstrosität der fides besondere Aufmerksamkeit. In den Punica stehen Treue und Perfidie von Anfang an stereotypisch einander gegenüber; was die ‚Helden‘ betrifft, scheinen die Fronten weitaus klarer zu sein als bei Lucan. Aber ganz so einfach ist es bei näherem Hinsehen nicht. Bei Silius tritt Fides, nachdem sie bis dahin in der Epik allenfalls nur kurz erwähnt wurde,137 zum ersten Mal tatsächlich als Personifikation auf.138 Im zweiten Buch wird ausführlich erzählt, wie Hercules im Olymp das Haus der Fides aufsucht und sie um Beistand für die belagerten Saguntiner bittet, welchen sie auch gewährt,139 freilich nicht ohne zuvor das vernichtende Urteil gesprochen zu haben: „Keiner ist unschuldig.“140 Dass sich die Saguntiner Hannibal widersetzen, obwohl keine Aussicht auf einen Sieg besteht, ist nicht nur ein Akt besonders engagierten Treueempfindens; insofern der Dichter die römische Gottheit bemüht, kann über die moralische Richtigkeit dieser Treue kein Zweifel bestehen. Neben dieser Fides, mag sie praktisch auch kaum etwas ausrichten,141 haben Lucans Petreius und seine Soldaten keinen Bestand. Allerdings schickt Silius der Gottheit eine bedeutungsschwere Metalepse voraus. Im ersten Buch heißt es, heute wirke Fides nicht mehr, sondern sei nur noch dem Namen nach bekannt: Ach, Fides, Gottheit der Alten, die du heute nur noch dem Namen nach bekannt bist. Da stehen die tapferen Kämpfer und sehen, dass sie der Flucht beraubt sind und dass ein Wall ihre Mauern umschließt – und sie glauben, dass es ein würdiges Ende für Sagunt sei, Ausonien bis zum Tode die Treue zu halten.142

Die Klage über die nur noch verbliebene Worthülse erinnert an den lucanischen Gedanken, dass die Freiheit bzw. eine fides libertatis nur noch als Wort existiere.143 Eine weitere schwierige Referenz auf das Bellum Ciuile mag man darin sehen, dass bereits Lucans Massilioten das Exemplum der Saguntiner gegenüber Caesar angeführt haben.144 So scheint die Frage unausweichlich, wie römisch diese Fides tatsächlich ist, wenn zwar die Saguntiner für Rom sterben, Rom ihnen aber nicht sofort zu Hilfe eilt.145 Auch wenn der Senat und Fabius Cunctator letztlich vom Vor137 Verg. Aen. 1,292; Stat. Theb. 11,98; überdies Petron. 124; 252. 138 Zur fides bei Silius, namentlich zu deren religiöser Dimension siehe Albrecht 1964, S. 55–86. 139 Sil. 2,475–525. 140 Sil. 2,506: nemo insons. 141 Fides vermag den Kannibalismus nur kurzfristig aufzuhalten, dazu Fucecchi 2019. 142 Sil. 1,329–333: heu priscis numen populis, at nomine solo | in terris iam nota Fides! stat dura iuuentus | ereptamque fugam et claudi uidet aggere muros, | sed dignam Ausonia mortem putat esse Sagunto | seruata cecidisse fide. 143 Lucan. 2,303; 7,433–436; 9,204–206. Zum Ausdruck fides libertatis siehe Wick 2004 ad loc. 144 Lucan. 3,349 f. 145 Rhetorisch liegt das, jedenfalls in späterer Zeit, durchaus nahe. Ausonius kennt die fides der Saguntiner als Exemplum der Ambiguität, vgl. Auson. ecl. 19,29 f. (Green): „Dass man Untreue meiden soll, lehren die drei Punischen Kriege, doch Treue zu wahren verbietet das zerstörte Sa­ gunt.“ (perfidiam uitare monent tria Punica bella | sed prohibet seruare fidem deleta Saguntos).

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wurf der Treulosigkeit freigesprochen werden können,146 so ist doch zu sehen, dass für den epischen Erzähler die von Lucan gesäten Zweifel nicht einfach zu ignorieren sind. Dies zeigt sich nicht zuletzt in einem auffälligen Detail: Der einzige Römer, der für seine Treulosigkeit angeklagt wird, ist gerade Regulus. Wie Theseus von Ariadne und wie Aeneas von Dido wird er von seiner Gattin mit dem „elegischen“ Vokativ perfide angesprochen147 – auch wenn sie selbst ihn, durchaus inkonsistent, als Inkarnation der Fides bezeichnet.148 Die Gottheit Fides als Repräsentantin des epischen Olymps wirft schließlich auch die historisch wichtige Frage auf, wie vertrauenswürdig die Götter sind und inwiefern die jeweiligen Dichter und ihre Leser an diese Götter, deren Gesetze, Garantien, Zeichen usw. „glauben“. Insofern die hiermit verbundenen theologischen Diskurse mehrere Bereiche umfassen – nach der bekannten Definition Varros den Mythos, die Wissenschaft und den Staatskult149 –, gehört diese Frage nicht in den vorliegenden Aufsatz.150 Um das zu unterstreichen und um zu zeigen, dass epische Strukturen für konzise Philosophie wenig geeignet sind, lohnt eine kurze Überlegung zur vielleicht spektakulärsten Antwortmöglichkeit, nämlich zum ‚Atheismus‘.151 Wiederum kann Lucan, weil er durch seine ‚Abschaffung des Götterapparats‘ 152 eine extreme Position bezieht, als Beispiel dienen. Die anthropomorphen Götter des Epos sind traditionell ‚neidisch‘. Diese Motivik ist bei Homer (und, über das Epos hinaus, bei Herodot) sehr präsent; und auch in späterer Zeit, selbst bei Lucan, der auf Anthropomorphismen weitgehend verzichtet, bleibt sie eine feste literarische Referenzgröße, sei es als Neid der Götter oder als Missgunst des Schicksals.153 Dieser Götterneid deutet nun nicht nur auf die condition humaine, sondern wirkt in seiner Metaphorik auch distanzmindernd. Indem das Verhältnis zwischen Gott und Mensch im Epos grundsätzlich auch ein Verhältnis handelnder Figuren zueinander ist, scheinen die epischen Götter zuweilen denselben Gesetzen zu unterliegen, die auch bei anderen interpersonalen Beziehungen gelten. Menschen, die sich von (menschlich handelnden oder menschlich gedachten) Göttern betrogen fühlen, können dann ihren Unmut äußern.154 Gottesverachtung gehört in die literarische Tradition wie Gottesverehrung; grundsätzliche philosophische Aussagen sind aus dem epischen Genre aber nicht ableitbar.155 Vor diesem Hintergrund ist es zu sehen, wenn 146 Vgl. Pomeroy 2010. 147 Vgl. Catull. 64,132 f.; Verg. Aen. 4,305; Sil. 6,518; dazu Pomeroy 2010, S. 70. 148 Sil. 6,579; siehe dazu Walter 2018, S. 209; Stocks 2019, S. 29. 149 Vgl. Varr. ant. div. Fr. 7 Cardauns; zur theologia tripartita siehe etwa Walde 2012. 150 Zur Rolle der Götter in der epischen Dichtung siehe Feeney 1991. 151 Das Phänomen ist grundsätzlich auch in antiken Gesellschaften zu beobachten gewesen, vgl. Whitmarsh 2016. 152 Zum Problem dieses akademischen Etiketts siehe Walde 2012, S. 62. 153 Vgl. etwa Hom. Il. 4,55; 24,33; Hdt. 1,32,1–9; ferner Lucan. 4,243 f., Sil. 7,60 f., siehe auch Kersten 2018, S. 286 Anm. 239. 154 Vgl. etwa Hom. Il. 22,299; Stat. Theb. 6,197–200. 155 Das Epos ist ein Genre eigenen Rechts; freilich kann eine bestimmte epische Bearbeitung des Mythos zum Ausgangspunkt für philosophische oder metapoetische Reflexion werden, das geschieht dann jedoch zumeist im Dienst der Narration, vgl. z. B. Reitz 2017.

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Lucans Erzähler angesichts der Schlacht von Pharsalos erklärt: „Wir lügen uns vor, dass Jupiter herrsche.“156 Hier geht es weniger um Konfession als um Moral. Lucan bezeugt durch seine schwierige Erzählung nämlich auch immer wieder eindringlich die Interpretationsbedürftigkeit des scheinbar Chaotischen bzw. die Unhintergehbarkeit sittlicher Kategorien. Zu Beginn des zweiten Buches bedient er sich hierfür der suggestiven Formel der fides superum. In ihrer Härte, die Menschen strafend sich selbst zu überlassen – oder anders gesagt: in ihrer Untreue einer untreuen Welt gegenüber –, sind die Götter offenbar beständig. Dadurch erscheinen sie freilich auch abstrakt und unzugänglich.157 Als der Bürgerkrieg sich ankündigt, heißt es über das Auftreten düsterer Vorzeichen: „Man sieht, mit wie großen Katastro­phen die Götter der Welt ihre Treue zeigen wollen.“158 Die Römer beten zwar daraufhin, jedoch ohne nachhaltigen Effekt für den Gang der Dinge.159 Dass die Handlungsträger nicht in der Lage sind, aus dem Wesen der Götter Schlüsse zu ziehen, sondern es vielmehr immer wieder für ihre Zwecke beliebig deuten, muss für den Erzähler des Bellum Ciuile unbegreiflich bleiben.160 Begreiflich ist aber dies: Die Götter, die nicht intervenieren, sind nicht schuld am Bürgerkrieg, der vielen nützlich schien.161 Es mag verständlich sein, sich von Jupiter auf die eine oder die andere Weise abzuwenden, weil er nicht aus der Maschine auftaucht und Caesars Sieg (und dessen spätere Divinisierung) verhindert – aber, ob ontologisch berechtigt oder nicht, eine Lösung für die sehr irdischen Verwerfungen ist es in keinem Fall. 3.4 Poetisches: Fiktion und Glaube Die personifizierte fides bei Silius bewirkt zwar eine gewisse Aufwertung und Objektivierung des Vertrauensbegriffs, dies geschieht aber auf dem Weg der Fiktionalisierung. Indem die Gottheit als sprechende Figur gleichsam auf der Bühne erscheint und damit also keinesfalls überzeugender oder glaubwürdiger zu sein braucht als 156 Lucan. 7,447: mentimur regnare Iouem. Hierüber ist viel geschrieben worden, für einen Überblick zur Stelle und zu ihrer Stellung im Werkganzen siehe Kersten 2018, S. 249–256. 157 Vgl. Fantham 1992, S. 77 f. und mit Blick auf Lucan. 2,16: „fides inverts the normal sense of a promise kept, to become a threat fulfilled.“ 158 Lucan. 2,16 f.: concipiunt quantis sit cladibus orbi | constatura fides superum. Ähnlich auch Lucan. 1,523 f. Während der Ausruf pro deum fidem, etwa „so wahr mir Gott helfe“, und seine Varianten fester Bestandteil unter anderem der Komikersprache sind, ist eine Verbindung wie deum fides im Epos vor Lucan nicht belegt. Statius lässt Juno den Gedanken als Parenthese in einer Rede anbringen: „Bin ich den meinen auf diese Weise treu?“ (sic ego fida meis?); Stat. Theb. 9,516. 159 Vgl. Lucan. 2,63 f.: talis pietas peritura querellas | egerit. 160 Vgl. etwa Lucan. 4,190–194; 5,228–230. Wenn Cato hingegen die naive Befragung der Götter mit der Begründung einer anderen Form von Religiosität ablehnt (Lucan. 9,566–584), kommentiert der Erzähler dies mit den Worten: „Indem er die Glaubwürdigkeit des Tempels erhalten hatte, verließ er den Altar“ (seruataque fide templi discedit ab aris); Lucan. 9,585. Cato wahrt die Vertrauenswürdigkeit der Gottheit (und seine eigene), ohne sie zu verwirrenden Orakelsprüchen zu zwingen, vgl. dazu Wick 2004 ad loc. 161 Pace Barrière 2016, S. 23 f.

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jede andere literarische Figur, wird in besonderem Maße das Vertrauen thematisiert, das das Publikum der epischen Erzählung entgegenbringen muss. Kann die Autorität der silianischen Fides größer sein als die des Dichters, der sie dirigiert?162 Was das Erzählen und dessen Glaubwürdigkeit betrifft, so ist dies spätestens seit der Odyssee, wo Odysseus zahlreiche Lügengeschichten erzählt, ein epischer Gegenstand;163 die Frage nach Vertrauen bzw. Misstrauen gegenüber der übergeordneten Erzählerinstanz muss für das Publikum zum Teil der Interpretation werden. Wenn dies bei Homer auch nur implizit ist, so wird dies doch in der späteren Dichtung immer deutlicher. In Rom finden wir ein solches selbstreferentielles Verhandeln des Fiktiven in einer ersten wichtigen Ausprägung bei Catull: Im Peleus-Epos heißt es über das Lied, das die Parzen singen: „Sie kündeten das Schicksal mit einem Lied, das keine ungläubige Nachwelt bestreiten wird.“164 Hier liegt die Pointe darin, dass das ungläubige Misstrauen gegenüber einer Erzählung mit der Welt der Eidbrüchigkeit assoziiert wird. Denn in dem verwickelten Gedicht, das der verlassenen Ariadne so breiten Raum gibt, ist ja gerade der Weg der menschlichen Geschichte vom Zeitalter der Treue zu dem der Treulosigkeit beschrieben.165 Für Catulls Leser, die in der Realität des späteren, ‚Eisernen‘ Zeitalters leben, besteht offensichtlich sehr wohl die Möglichkeit, die verheißungsvollen Worte, die der Dichter seine Parzen singen lässt, zu bezweifeln. Epische Dichter, zumal wenn sie sich auf musische Inspiration berufen, reklamieren für sich große Autorität. Ein zwar oft nützlicher, aber naiver hermeneutischer Zugang zur Epik besteht daher in der Annahme, dass wir Rezipienten einem Epiker grundsätzlich Vertrauen entgegenzubringen haben und er uns im Gegenzug, den Konventionen der Gattung gemäß, Wahres oder doch wenigstens Wahrscheinliches darbieten werde166 – und dass er seinen Erzähler überdies sagen lassen werde, was er tatsächlich selbst meint. Die Schwächen dieser Grundannahme beschäftigen die Literaturwissenschaft bekanntlich seit Platon.167 Wenn die Erzählerinstanz unzuverlässig oder böswillig ist,168 muss Vertrauen zum Verhängnis werden. 162 Zum Zusammenhang von fama und fides siehe Walter 2018, S. 207; zur potentiellen Parallelität von Göttermacht und poetischer Autorität im Epos siehe Lovatt 2019. 163 Vgl. Grethlein 2017. 164 Catull. 64,321 f.: talia diuino fuderunt carmine fata, | carmine, perfidiae quod post nulla arguet aetas. 165 Catull. 64,143 f., 397–408. Insofern das Epos gerade eine Erzählung von Eidbrüchen ist, hat die auktoriale Bemerkung auch eine interessante gattungstechnische und literaturhistorische Dimension. Zur Fiktionalität des Parzenauftritts und seiner Beziehung zum Werkganzen siehe Schmale 2004, S. 224–228. 166 Bei Hesiod erklären die Musen, sie wüssten „Falsches, das Wahrem ähnlich ist“, zu singen (Hes. theog. 22–34, hier: 27), siehe dazu West 1966, S. 158–163. Zum Wahrscheinlichen als poetischer Kategorie bei Aristoteles vgl. Schmitt 2008, S. 372–426. 167 Neben Plat. rep. 595 a 1–608 b 10 vgl. Plat. Ion 537 c 1–538 b 6; dazu Heitsch 2017 ad locc. 168 Ein berühmtes Beispiel für einen unzuverlässigen intradiegetischen Erzähler ist Lucans Pompeius als ein „kaum glaubhafter Bote“ (uix […] fidelis | auctor; Lucan. 8,17 f.), vgl. Ormand 1994. Unglaubwürdig wirkt auch Pompeius’ Bekenntnis Lucan. 2,550: Man „müsse ihm glauben“ (si qua fides), dass er sich Caesar nur ungern in den Weg stelle. Allgemein zum Konzept des unzuverlässigen Erzählers vgl. Kimmerle 2015. Nach Pompeius’ Ermordung stellt

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Diese poetische Vertrauensdimension, die ich abschließend betrachten möchte, impliziert aber keinesfalls das triviale Caveat, dass man schlechthin „nicht glauben soll, was die Dichter sagen“. Eine solche Aussage könnte innerhalb eines poetischen Textes auch gar nicht ernsthaft unternommen werden (denn sie würde ja ziemlich schnell auf das klassische Lügner-Paradoxon führen169). Wenn Vertrauen metapoetisch reflektiert wird, betrifft es vielmehr die Notwendigkeit, dass sowohl der Autor als auch sein Publikum immerhin irgendetwas glauben müssen, um der dargestellten Handlung einen Sinn abzugewinnen.170 Was die literarische Rolle kultureller und moralischer Standards anlangt, haben die Rezipienten mit ihrer Entscheidung, in welcher Weise sie der Autorität einer Erzählung vertrauen, sich auch zu fragen, was der Glaube an ein Konzept wie fides bedeuten muss. Verallgemeinert betrifft das den Kern der Sache: Wie wären verschiedene Instanzen des Vertrauens oder widersprüchliche Treuverpflichtungen zu hierarchisieren? Eine sprachliche Manifestation, an der sich dies gut beobachten lässt, ist erstaunlich unscheinbar und beinahe prosaisch, nämlich die Wendung si qua fides und ihre Varianten.171 Als eine übliche Beteuerung der Glaubwürdigkeit mag der Ausdruck formelhaft sein, vergleichbar dem bei uns etwas aus der Mode gekommenen „meiner Treu“.172 Um aber in den oft hintersinnigen Strukturen der römischen Dichtung stets nur eine relativ bedeutungslose Formel zu sein, kommt er zu oft vor und an zu wichtigen Stellen. Nimmt man die Wendung hier als das, was sie an sich ist – eine indefinite Bedingung, deren Zutreffen als überprüfbar vorgestellt wird –, so erhält sie eine gewisse hermeneutische Symbolkraft.173 der Erzähler fest, dass Fortuna ihn ein falsches Vertrauen habe schöpfen lassen: „In solcher Treue hat Fortuna Magnus’ günstiges Geschick bewirkt, mit solcher Treue hat sie ihn, ganz verwandelt, auf dem höchsten Gipfel angegriffen und alle Niederlagen, grausam, an einem Tag geschehen lassen.“ (hac Fortuna fide Magni tam prospera fata | pertulit, hac illum summo de culmine rerum | mota petit [morte p. Ω, praecipitat Bentley] cladesque omnis exegit in uno | saeua die); Lucan. 8,701–704. 169 Ein Dichter kann nicht sagen, dass alle Dichter immer lügen. Denn entweder ist die Behauptung richtig, dann lügt er selbst nicht. Wenn er jedoch seiner Rolle gemäß lügt, dann ist auch die Aussage über die Dichter falsch und es gibt Dichter, die immer die Wahrheit sagen. Die Dimension der selbstreferentiellen Lüge wurde wahrscheinlich seit dem Hellenismus diskutiert, vgl. das „Epimenides-Paradoxon“, Epim. fr. 1 Diels/Kranz = Tit 1,12, vgl. Kall. h. 1,8 f. 170 Beispielhaft hierfür sind Horaz’ Ausführungen über den Glauben der Rezipienten: Hor. ars 9–13, 333–340. 171 Vgl. TLL 6.1.683.09–684.49 (Fraenkel 1916). Bezüglich Verg. Aen. 2,142 f. kommentiert Casali 2017 ad loc.: „prosastico“, dagegen Horsfall 2008 ad loc. Zur dezidiert poetischen Formel nec uana fides („und der Glaube trog nicht“), die zwar nicht konditional formuliert ist, aber ebenfalls eine metapoetische Markierung bewirken kann, namentlich bei Valerius Flaccus, siehe Lovatt 2019. 172 Vgl. etwa Sen. contr.1,1,18; 7,5,1; in epischem Kontext etwa Ov. met. 9,55 f.371 f. Was die Bekräftigungsabsicht betrifft, so gibt es bereits bei Homer Wendungen, mit denen ein Sprecher Vertrauen einfordern kann, etwa αἴ κε πίθηαι in Hom. Il. 1,207; 21,293; 23,82; Hom. Od. 1,279; ähnlich Nestor in Hom. Il. 1,274. 173 Ein spätantikes Beispiel für die metaliterarische Dimension der Wendung ist Auson. epist. 4 (Green), wo die Worte si qua fides umquam est adhibenda poetis („Wenn man je den Dichtern glauben darf “) programmatisch am Anfang stehen. Insbesondere bei Lucan erscheint

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Wenn der lucanische Erzähler über das gruselige Waldheiligtum spricht, das Caesar abholzen lässt, um zu beweisen, dass die Götter ihm nicht zürnen, sagt er: „Wenn die Vorzeit, die die Götter verehrte, Glauben verdient.“174 Caesar glaubt nicht an das Überkommene, aber sollte er nicht vielleicht? Glaubt der Erzähler, glaubt gar der Autor daran? Es lässt sich nicht leicht entscheiden. Aber deutlich ist: Wenn die Tradition Unrecht hat, dann hätte man im Gegenzug an Caesars Rechtmäßigkeit zu glauben. Hier muss die Entscheidung, was man glaubt, nicht davon abhängen, was man für wahr hält. Wenn Aeneas Dido in der Unterwelt wiedersieht, sagt er: „Bei den Sternen schwöre ich und bei den Göttern und bei der fides, wenn sie unter der Erde noch gilt: Unfreiwillig, Königin, schied ich von deinem Ufer.“175 Mit denselben Worten, nämlich per si qua est […] fides, hat auch Sinon appelliert („Wenn ihr irgend Vertrauen schenken könnt, schenkt es mir!“), und so ähnlich appellieren in nichtepischer Dichtung Liebende, Schmeichler, Verführer.176 Die Intertextualität der fides adressiert also ganz ähnliche Vertrauensentscheidungen, wie sie in der Handlung von den Figuren zu fällen sind, an die Rezipienten. Was bedeutet es, wenn wir dem lucanischen Caesar glauben, was, wenn Vergils Aeneas? Was müsste es bedeuten, wenn wir die Interpretabilität einer epischen Erzählung oder eines politischen Narrativs grundsätzlich in Zweifel ziehen?

4. Zusammenfassung Als Teil des epischen Erzählens in Rom hat die Rede vom Vertrauen wenigstens seit der Aeneis verschiedene, nicht notwendig klar voneinander trennbare, aber potentiell widersprüchliche Dimensionen. Insofern Vertrauensbrüche zur Motivierung von Handlung und zur Strukturierung von Erzählung dienen, haben sie den Charakter einer epischen Bauform. Vor dem Hintergrund der homerischen Epik suggerieren sie einen objektiven und moralisch eindeutigen Wert, der nicht straflos verletzt werden darf. Allerdings stehen in den Erzählungen oft verschiedene Treueverpflichtungen, etwa „öffentliche“ und „private“, gegeneinander, so dass die eine nur um den Preis der Verletzung der anderen gehalten werden kann. Das moralistische fides immer wieder auch in solchem Zusammenhang, vgl. Lucan. 1,636; 2,186; 3,406; 7,192; 8,870. Die ovidische Parenthese fide maius (Ov. met. 3,106: „das ist mehr als man glauben könnte“; ähnlich Ov. met. 4,394) kann als Markierung der Fiktionalität verstanden werden. In den Metamorphosen fordern die Pieriden die Musen zum Wettstreit heraus, indem sie sie der Lüge bezichtigen: „Hört auf, die Ungelehrten mit leerem Genuss zu betrügen, kämpft mit uns, Thespiadische Göttinnen, wenn ihr irgend vertrauenswürdig seid.“ (desinite indoctum uana dulcedine uulgus | fallere; nobiscum, si qua est fiducia uobis, | Thespiades, certate, deae); Ov. met. 5,308–310. 174 Lucan. 3,406: si qua fidem meruit superos mirata uetustas. Zu der Hainepisode siehe Kersten 2018, S. 68–97. 175 Verg. Aen. 6,458–460: Per sidera iuro, | per superos et si qua fides tellure sub ima est, | inuitus, regina, tuo de litore cessi. 176 Verg. Aen. 2,142 f., vgl. z. B. Ov. am. 1,3,16; ars 3,791 f.; besonders elaboriert Mart. 5,19,1: si qua fides ueris: „Wenn man der Wahrheit Glauben schenken darf.“

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Potential von Treubrucherzählungen wird hierdurch entschieden problematisiert. Erschwerend hinzu treten die spezifischen Referenzmöglichkeiten, deren sich die Dichter betreffs der fides bedienen können (oder müssen). Nach Lucan erscheint der Unterschied zwischen hehren staatsrechtlichen oder theologischen Begriffen und pervertiertem politischem Jargon nur noch fließend. Im Ganzen betrachtet, erlauben die verschiedenen Dimensionen epischen Vertrauens seit Vergil, so unterschiedlich ausgeprägt sie in den betrachteten Werken auch sein mögen, jeweils keine grundsätzliche und vollgültige Aussage dazu, wem und was man glauben soll oder wem man treu zu sein hat – auch wenn manche (moderne) Leser noch so sehr auf den Moralismus der epischen Form vertrauen und die eidbrüchigen Rutuler oder Thebaner gern auf der einen und die Verlässlichen auf der anderen Seite sähen. Vor allem Lucan hat eine positive Bestimmung des fidesBegriffs entschieden und nachhaltig verunmöglicht. Was der Gehalt der fides sein müsste, bleibt im Bellum Ciuile fraglich, ihre wenigstens temporäre Erschütterung steht dagegen außer Frage. Die vielgestaltige Rede von der fides trägt somit dazu bei, die Literatur von der offiziellen Politik unterscheidbar zu halten; hier ist vor allem der Umstand bedeutend, dass die abstrakte Gottheit Fides eine starke außerepische Prominenz hat, die sowohl von Augustus als auch von den Flaviern im Rahmen ihrer Herrschaftsdarstellung genutzt wurde.177 Unter den hier betrachteten Beispielen war kein Fall zu finden, wo man verloren gegangenes Vertrauen konkret zurückgewonnen hätte. Dido antwortet nicht auf Aeneas’ späte Erklärung, sondern verschwindet. Lucans Erzähler schweigt darüber, ob die Soldaten des Petreius ihren Verwandten, nachdem sie sie verletzt haben, noch einmal unter die Augen treten.178 Die Leser werden durch diese ‚Tragödien‘ erschüttert, vermutlich weit mehr, als dass sie in ihren Auffassungen über Vertrauen oder Treue bestätigt werden. Die Rolle epischen Vertrauens besteht, wie ich zu zeigen versucht habe, vor allem darin, literarische Zeitdiagnosen (und insbesondere: Sprachdiagnosen) darzubieten. Ein Mittel gegen Vertrauenserosion kann von ihr naturgemäß nicht erwartet werden. Ob die poetische Initiierung moralischer Reflexion grundsätzlich selbst vertrauensbildend sein kann, mag man also bezweifeln. Es ist aber, darin liegt eine wichtige Pointe, auch nicht auszuschließen. Denn in der beiläufigen Formelhaftigkeit der Wendung si qua fides kommt, wenn wir sie metapoetisch betrachten, prägnant zum Ausdruck, was die Grundbedingungen literarischen Kommunizierens wie sozialen Interagierens sind: die Unabweisbarkeit der Interpretation, die Kon-

177 Vgl. etwa Hor. carm. saec. 56; R. Gest. div. Aug. 32. Zu flavischen Münzprägungen mit FidesDarstellungen siehe etwa RIC II 1 Nr. 1210–1214, 1256 (Vespasian) und Nr. 214 f., 533 f. (Domi­ tian). Zur flavischen Repräsentation überdies Reusser 1993, S. 90; zu Domitians Münzen siehe Bernstein 2008, S. 156; zum Verhältnis augusteischer zu flavischer fides-Instrumentalisierung und ihrer Reflexion in der Dichtung vgl. Stocks 2019. 178 Aber er schickt sie, auffällig genug, nach ihrer Begnadigung durch Caesar, ins Idyll, hierzu Kersten 2018, S. 125–137.

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tingenz des Glaubens und die Notwendigkeit begründeter Entscheidung darüber, wem wir vertrauen.179

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Auctoritate omnibus praestiti? Generalisiertes Vertrauen und seine Krisen im frühen Prinzipat Philipp Brockkötter Post id tempus auctoritate omnibus praestiti, potestatis autem nihilo amplius habui quam ceteri qui mihi quoque in magistratu conlegae fuerunt. Nach dieser Zeit übertraf ich zwar alle an auctoritas, hatte aber nicht mehr Macht als die Übrigen, die mir im Amt Kollegen waren (R. Gest. div. Aug. 341)

Mit diesem Satz beendet Augustus in seinem Tatenbericht den Absatz über die Ereignisse des Jahres 27 v. Chr., die gemeinhin als der Anfangspunkt seines Prinzipates gesehen werden. Besonders hervorgehoben wird dabei der Begriff der auctoritas, der als Grundlage seines Herrschaftsverständnisses und seiner Herrschaftsrepräsentation erscheint. Da der Begriff dabei jedoch chronisch unpräzise definiert bleibt und zudem erst durch die personelle Verbindung mit Augustus wirksam wird2, stellt sich erstens die Frage nach der genauen Bedeutung bzw. Wirkungsweise der auctoritas und zweitens nach der Übertragbarkeit dieser auf die Nachfolger des ersten Kaisers. Der vorliegende Aufsatz nähert sich diesen Fragestellungen unter der Berücksichtigung der bisher in diesem Kontext eher weniger beachteten Vertrauensforschung. Die grundsätzlich hohe Bedeutung der auctoritas bei gleichzeitiger Unsicherheit über die genauen Bedeutungszusammenhänge zeigt sich in der Forschung seit der ersten entsprechenden Lesung der Res gestae durch Anton von Premerstein und Richard Heinze3 in den 1920er-Jahren. Bis heute finden sich Kapitel zur auctoritas in zahlreichen Abhandlungen zu Augustus und dem Prinzipat4, aber auch eigene Untersuchungen5, in denen sie zum einen als eher transzendente „moralische Überlegenheit“ bzw. „Autorität“ bezeichnet6, zum anderen aber auch als ein alle Bereiche des Staates und der Kunst durchdringendes Prinzip7 gesehen wird. In neuerer Zeit mehren sich jedoch auch Gegenstimmen8, laut denen die auctoritas in der kaiserzeitlichen Literatur nie im Sinne der Bedeutungszuweisung (moral authority) der bis1 2 3 4

Die Übersetzungen wurden vom Autor selbst erstellt. Siehe dazu z. B. Stahl 2008. Premerstein 1924; Heinze 1925. Für den deutschsprachigen Raum siehe z. B. Kienast 2009, S. 84 f., und Bleicken 1998, S. 376 f.; 435 f.; im englischsprachigen siehe vor allem Galinsky 1996, S. 10–41. 5 Siehe z. B. Stahl 2008; Lacey 1998; Levi 1992; Galinsky 2015. 6 Siehe z. B. Reinhold 2002, 63 f., der auctoritas zudem als „fuzzy concept“ beschreibt. Siehe auch Cooley 2009, S. 271 f. 7 Galinsky 1996, S. 24–28. 8 Siehe dazu insbesondere Rowe 2013, erwidert von Galinsky 2015, der jedoch mehrheitlich auf die Res gestae eingeht und weniger die fehlende Erwähnung der auctoritas in der Literatur behandelt.

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herigen Forschung genutzt werde und ihre Verwendung in den Res gestae zudem eher einen Einzelfall und nicht die Grundlage der augusteischen Herrschaft beschreibe. Insgesamt unterblieb dabei bisher trotz der breiten Forschungslandschaft eine systematische Untersuchung der Nutzung des Begriffes in der Literatur.9 Der vorliegende Aufsatz soll dies in einem ersten Teil im Anschluss an eine Darstellung der theoretischen Grundlagen für die julisch-claudische Zeit leisten, wobei insbesondere nach der genauen Bedeutung (oder Bedeutungslosigkeit) der auctoritas sowie der Anwendbarkeit des zu erläuternden Theoriekonzeptes gefragt wird. Der darauf aufbauende Teil untersucht die Frage nach der Übertragbarkeit der auctoritas auf die Nachfolger des Augustus, wonach in einem letzten Teil nochmals explizit auf die Bedeutung und das Wirken von auctoritas in Vertrauenskrisen eingegangen wird.

1. Theoretische Vorbemerkungen Für eine theoretische Erfassung der auctoritas muss zunächst auf die verschie­­denen Bedeutungsebenen des Begriffes eingegangen werden10, die sich grob in zwei Kategorien einteilen lassen. Zum einen kann er – relativ eindeutig determiniert – in einer Art ‚republikanisch-staatsrechtlichem Sinne‘ als Vorschlagsrecht oder Willensbekundung des Senates verwendet werden. Zum anderen kann auctoritas in einer eher uneindeutigen Weise als persönliche Eigenschaft, Grundlage von Herrschaft oder Entscheidungsfindungen beschrieben werden, die im Folgenden weiter untersucht wird. Als Ausgangspunkt zur theoretischen Erfassung der auctoritas soll die althistorische Aufarbeitung der Vertrauensforschung durch Jan Timmer dienen, der den Bereich der auctoritas als Grundlage von Herrschaft mit dem Begriff der Autorität beschreibt, den er weiter als „Macht, die auf generalisiertem Vertrauen beruht“, definiert.11 Er erfasst damit eine wesentliche Wirkungsweise des Vertrauens als politischer Ressource der republikanischen Zeit und geht dabei zugleich bereits von einer grundsätzlichen Anwendbarkeit der These für das Prinzipat bzw. für Augustus im Besonderen aus, verfolgt dies aber nur in Ansätzen.12 Diese Art der Machtausübung bringt dabei den Vorteil mit sich, dass sie die Wahlmöglichkeiten der Vertrauenden nicht explizit einschränkt, sondern es vielmehr vermag, diese unbemerkt zu steuern und so Tatsachen zu schaffen.13 Autori9 Rowe 2013 spricht diesen Mangel an, behebt ihn aber nur teilweise, da er insbesondere auf Velleius Paterculus, Valerius Maximus und die Res gestae fokussiert ist und weitere Quellen nur streift bzw. solche, die auctoritas nicht direkt mit Augustus verbinden, komplett auslässt. Laut ihm hat der Begriff dabei vier Bedeutungsebenen: military leadership, legislative initia­ tive, Augustus als „auctor of peace and prosperity“, und auctoritas als „informal moral authority“ (was der Verwendung in den Res gestae am nächsten komme, diese aber auch nicht vollständig treffe). Die hier favorisierte Verbindung der auctoritas mit Autorität und Vertrauen erwähnt er nicht. 10 Siehe dazu auch Gizewski/Willvonseder 1997, Sp. 266 f. 11 Timmer 2017, S. 89, mit Bezug auf Tyler 2001, S. 288. 12 Timmer 2017, S. 100. 13 Ebd., S. 90, mit Bezug auf Baecker 2009, S. 37.

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tät kann dabei nur für sich beanspruchen, wer seine eigene Macht in Sach-, Sozialund Zeitverhältnisse einbetten kann bzw. in der Lage ist, glaubhaft zu machen, dass diese Macht über ihn haben.14 Da die Sachkompetenz als Möglichkeit der sachlichen Selbstbindung in der Republik eine eher untergeordnete Rolle spielte, standen insbesondere Sozial- und Zeitverhältnisse im Fokus. Für Ersteres waren die freiwillige Selbstbeschränkung von eigenen Handlungsoptionen, die Gleichbehandlung der Untergebenen zur Verdeckung des Machtgefälles und schließlich das Hervorheben der Verantwortung für das Wohl der Gemeinschaft entscheidend. Die „Treue an die erinnerte Vergangenheit“15 machte zudem, insbesondere im Kontext der römischen exempla- und Erinnerungskultur, die Handlungen der Autoritätsperson erwartbar und garantierte eine Orientierung am kollektiven Werte- und Normensystem, das seine Symbolisierung in der gemeinsamen Vergangenheit und den exempla fand. Auf diese Art und Weise fand eine moralische Aufladung der Autorität statt.

2. A  uctoritas und generalisiertes Vertrauen in den Quellen der julisch-claudischen Zeit Auf Basis dieses Theoriekonzeptes kann nun eine Untersuchung der grundsätzlichen Nutzung der auctoritas in den überlieferten Werken der julisch-claudischen Zeit (27 v. Chr.–68 n. Chr.) gemäß der oben genannten Fragestellung erfolgen, die chronologisch in die Herrschaftszeit der einzelnen Kaiser untergliedert ist. Für die augusteische Zeit sind, wie bereits erwähnt, die Res gestae eine der Hauptquellen. Hier wird die auctoritas viermal erwähnt, wobei jedoch drei Nennungen der oben genannten republikanisch-staatsrechtlichen Verwendungsweise entsprechen16. Lediglich im 34. Kapitel taucht auctoritas im Sinne der Bedeutungsebene „Autorität“ auf, wobei jedoch ein Zulaufen des gesamten Berichtes auf diese Stelle konstatiert werden kann:17 Bereits das erste Kapitel weist auf die Orientierung des Augustus am Gemeinwohl hin, für das er auch ein eigenes Kapitel reserviert.18 Der Beweis seiner sachlichen Befähigung führt dann zur Verleihung von Ämtern, deren Übernahme und korrekte Ausübung in der Folge seine Bindung an verfassungsgemäßes Handeln und damit eine erste Beschränkung seiner Handlungsoptionen bedeutet. Diese zeigt sich auch in Kapitel 5, in dem die Ablehnung von Diktatur und Konsulat zusammen mit der Übernahme der Verantwortung für die Getreideversorgung zum Allgemeinwohl hervorgehoben wird. In Kapitel 8 tritt dann, über den Hinweis auf die wieder eingeführten exempla maiorum und deren Erweiterung um eigene exempla, die Treue zur erinnerten Vergangen14 15 16 17

Timmer 2017, S. 90, mit Bezug zu Baecker 2009, S. 42. Timmer 2017, S. 91, mit Baecker 2009, S. 42. R. Gest. div. Aug. 12; 20; 28. Auch Cooley 2009, S. 256, und Lacey 1996, S. 98, begreifen die letzten beiden Kapitel als cap­ stone der Res gestae. Siehe auch die Verteidigung der These von 1996 bei Galinsky 2015. 18 R. Gest. div. Aug. 1 mit der Aufstellung eines Heeres aus eigenen Mitteln, um die dominatio einer Partei zu beenden.

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heit hinzu, die in Kapitel 19 und 20 durch die Restaurierung bedeutender Gebäude weiter gesteigert wird. Bis sein Bericht in Kapitel 34 zu einem vorläufigen Höhepunkt kommt, bestätigt Augustus fortwährend die bereits aufgeworfenen Topoi, wobei er ferner seine Verkörperung bestimmter Werte besonders hervorhebt. In Kapitel 34 unterstreicht er dann, über den Hinweis auf die Rückgabe der Macht an den Staat, nochmals seine Selbstbeschränkung der Macht. Auf diese folgt die Verleihung von Ehren, die seine Wertverkörperung betonen. Erst dann geht er, wie oben gezeigt, auf seine auctoritas ein. Gesteigert wird diese nur noch durch seine Ernennung zum pater patriae.19 Die Struktur der Res gestae zeigt also nicht nur eine starke Ausrichtung auf die auctoritas als Grundlage der augusteischen Herrschaft (womit Rowes These einer Einzelfallbedeutung widerlegt werden kann), sondern auch eine Anwendbarkeit der Deutung als Autorität. Bezüglich der Schriftsteller der augusteischen Zeit findet sich tatsächlich ein bemerkenswertes Schweigen in Bezug auf die auctoritas. Lediglich Cicero20, Livius und Vitruv verwenden den Begriff21, wobei nur Cicero ihn direkt mit Octavian verbindet. Dass Cicero die auctoritas dabei durchaus im Rahmen der Definition als Autorität nutzen konnte, wurde bereits von Timmer nachgewiesen.22 Die Frage lautet daher, wie Cicero Octavian in diesen Kontext einordnete, wobei einschränkend zu beachten ist23, dass letzterer bis zu Ciceros Tod noch nicht über Autorität in dem Maße verfügen konnte, die er zum Zeitpunkt des Erstellens der Res gestae innehatte. Dennoch weist Cicero dem jungen Octavian die Qualität achtmal zu, deren Funktion Rowe in allen Fällen als Ersatzwort für den Begriff des militärischen imperium fasst.24 Tatsächlich wird in allen acht Fällen die auctoritas mit dem Militärischen verbunden25, jedoch würde ein direkter Austausch des Wortes mit imperium meines Erachtens einige von Cicero intendierte Bedeutungsebenen ausschließen. Ein aussagekräftiges Beispiel findet sich in Phil. 3,5, wo Cicero formuliert: „Wir müssen ihm auctoritas erteilen, damit er den Staat nicht nur, weil er sich dazu bereit erklärt, sondern auch, weil er von uns den Auftrag erhalten hat, verteidigen kann.“26 Rowe deutet dies als Hinweis, dass Octavian ein formelles imperium verliehen werden sollte, was im Zeitraum um den 20. Dezember 44 v. Chr., als Cicero die Rede hielt, zur Diskussion stand. Tatsächlich erhielt er am 2. Januar 43 v. Chr. das imperium proconsulare, das Cicero jedoch wörtlich 19 Zur Verbindung zwischen patria postestas und Vertrauen siehe Timmer 2017, S. 118–133. 20 Cicero wird hier der Zeit des Augustus zugerechnet, da er zu dessen Lebzeiten schrieb, nicht, weil er als Vertreter der augusteischen Literatur betrachtet wird. 21 Die Nutzung des Begriffes auctor wurde nicht berücksichtigt. Untersucht wurden die Werke des Vergil, Livius, Horaz, Properz, Ovid und Vitruv. 22 Timmer 2017, S. 89–100. 23 Rowe 2013 differenziert dies nicht. 24 Rowe 2013, S. 6 f. mit Anm. 24. Die von ihm ebenfalls angeführten Instanzen des Octavian als auctor wurden hier ausgelassen. 25 Cic. Phil. 3,5; 3,7; 3,14; 3,38; 10,21; 11,37; 11,39; fam. 10,28. 26 Cic. Phil. 3,5: tribuenda est auctoritas, ut rem publicam non modo a se susceptam sed etiam a nobis commendatam possit defendere.

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als imperium in seiner 5. Philippischen Rede am Tag zuvor gefordert hatte.27 Dass hier direkt der Begriff imperium gesetzt wird, lässt vermuten, dass er auctoritas und imperium eben gerade nicht synonym nutzte, sondern die auctoritas weitere wichtige Bedeutungsebenen umfasste. So kann die oben genannte Stelle meines Erachtens auch als Aufforderung zur Schenkung von Vertrauen bzw. generalisiertem Vertrauen aufgefasst werden, für das dann der direkt im Anschluss erwähnte Einsatz für die Allgemeinheit ein weiteres Charakteristikum wäre. Insgesamt verbindet Cicero mit der auctoritas des Octavian somit keine moralische Überlegenheit, sehr wohl aber eine auf Vertrauen basierende Autorität. Livius erwähnt den Begriff in seinem Geschichtswerk Ab urbe condita insgesamt 179-mal, verbindet ihn aber niemals direkt mit Augustus, was aufgrund der fragmentarischen Überlieferung des Werkes nicht weiter verwunderlich ist. Sowohl in Hinsicht auf die Träger als auch auf die Funktion und die Möglichkeiten zur auctoritas-Generierung gibt er jedoch überaus diverse Nuancen wieder. Als Träger der auctoritas nennt er zumeist den Senat (auctoritas patrum/senatus)28, aber auch das römische Volk bzw. Staaten29, Einzelpersonen30, andere Gruppen31, Principes32 und Immaterielles.33 Die Funktion bzw. Bedeutung der auctoritas ist dabei bei der auctoritas patrum/senatus zumeist die Worterteilung bzw. die Beschlussermächtigung im Sinne der republikanischen Institution, während sie bei den anderen Bezugsgruppen in der Regel vom rechtlichen Rahmen losgelöst als impliziter Einfluss, Autorität oder moralische Leitlinie wirkt, mittels derer andere implizit oder direkt zu bestimmten Handlungen bewegt werden sollen. Zu Möglichkeiten der Generierung von auctoritas äußert sich Livius nur selten, jedoch lassen sich das Alter34, Sachkenntnisse35, ein bestimmter Lebensstil bzw. Werte-Verkörperungen36 und die Orientierung am Gemeinwohl37 als mögliche Faktoren isolieren. Auch Livius verknüpft somit wesent27 Cic. Phil. 5,45. 28 Liv. 2,56,4; 3,3,6; 21,1; 63,11; 4,26,7; 49,6; 56,10; 57,3.6; 5,9,4.6; 29,10; 6,19,4; 7,6,12; 11,4; 17,9; 19,10; 26,12; 31,1; 8,5,1; 17,3; 21,10; 22,8; 33,7; 9,46,7; 10,37,10; 45,7; 21,18,10 f.; 22,57,8; 24,7,10; 25,15,4; 26,2,1; 21,5; 27,6; 33,12; 27,5,7; 6,6; 11,8; 35,9; 30,40,10; 44,12; 32,7,12; 28,8; 31,6; 36,7; 33,24,4; 34,35,2; 55,4; 56,3; 57,1; 35,7,4; 36,1,6; 40,10; 37,19,2; 37,51,6; 38,36,8; 45,5; 47,5; 39,39,6.8; 40,19,11; 42,21,5.7; 27,5; 34,15; 45,1,8; 21,6; 35,4; 42,8; per. 31; 49,9; 121. 29 Liv. 3,7,8; 9,7,7; 38,12; 26,24,7; 29,12,4; 31,9,2; 29,4; 32,34,5; 33,29,11; 47,4; 35,46,13; 37,55,2; 38,3,7; 31,1; 32,9; 39,22,7; 41,24,9; 42,30,3; 43,22,11; 44,19,11; 29,8; 35,6. 30 Liv. 1,7,8; 50,1; 4,10,9; 24,9; 6,23,4; 8,33,15; 21,10,2.11; 23,7,4; 32,10; 25,37,5; 26,22,10; 33,6; 40,6; 28,43,1; 29,29,8.11; 30,42,13; 32,11,5; 27,1; 33,35,12; 34,5,2; 62,18; 35,13,10; 23,5; 25,7; 31,14; 36,12,8; 14,8; 31,8; 41,2; 37,12,8; 24,13; 37,9; 57,13; 38,54,11; 39,11,3; 40,12,17; 41,2,8; 42,3,3; 11,9; 12,3; 43,22,3; 44,33,4; 36,14; fr. 91,22,8; per. 112. 31 Liv. 2,27,12; 44,5; 3,25,2; 9,14,7; 12,25,17; 40,3; 23,6,5; 24,24,4; 28,6; 32,5; 26,22,15; 28,9,20; 11,9; 32,30,6; 32,4; 33,2,4; 34,1,5; 44,2; 35,33,1; 36,15,5; 38,13,2; 50,2; 42,45,3; 46,5; 43,14,4; 44,29,6; 45,12,7; 20,2; 31,8; 36,10. 32 Liv. 4,48,7; 42,2,2; 15,4. 33 Liv. 24,28,8; 25,12,4; 28,39,16; 33,34,9. 34 Siehe z. B. Liv. 32,30,6; 38,50,2. 35 Siehe z. B. Liv. 6,23,4, 28,43,1. 36 Siehe z. B. Liv. 4,10,9; 35,31,14. 37 Siehe z. B. Liv. 2,44,5.

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liche Punkte der oben beschriebenen Autoritäts-Generierung im Sinne des generalisierten Vertrauens mit dem Begriff der auctoritas. Hierzu passend verbindet er zudem viermal den Begriff der fides38 mit dem der auctoritas, wobei es scheint, dass fides als Vertrauen in einem spezifischen Fall bzw. als Treue zwischen zwei Völkern aus dem generalisierten Vertrauen der auctoritas entspringen bzw. durch diese gefördert werden kann.39 Ebenfalls mit der Kategorie des Vertrauens erklären lässt sich die Beobachtung, wonach der Begriff auctoritas zumeist fällt, wenn die auctoritas einer Gruppe nicht beachtet wurde oder sie in einem Legitimierungsdiskurs verwendet wird. Dies korreliert mit der Beobachtung Timmers, dass Vertrauen insbesondere dann expliziert wird, wenn es Gefahr läuft, gebrochen zu werden.40 Als besonders interessant im Rahmen der auctoritas als Herrschaftslegitimation erweisen sich ferner Stellen, in denen eine klare Trennlinie zwischen der Herrschaft de iure und mittels auctoritas bzw. zwischen imperium und auctoritas gezogen wird und somit ein Bild der auctoritas erschaffen wird, das dem des Augustus sehr ähnelt. Dass Livius bei diesen Erwähnungen mitunter vermutlich direkt auf Augustus anspielte41, lässt sich mit einem Beispiel aus dem ersten Buch verdeutlichen, in dem es heißt: „Über diese Gegend herrschte damals Euander, ein Flüchtling von der Peloponnes, mehr durch auctoritas als durch imperium.“42 Neben dieser klaren Bezugnahme auf Kapitel 34 der Res gestae lebte Euander, wie auch Augustus, auf dem Palatin und machte einen göttlichen Ursprung für sich geltend.43 Insgesamt lässt sich somit nicht nur davon ausgehen, dass Livius ein Verständnis der auctoritas im Sinne von ‚Autorität‘ hatte, sondern auch, dass er ihr eine besondere Rolle bei der Herrschaftslegitimation im Allgemeinen und für Augustus im Besonderen zuschrieb.44

38 Zur fides als Vertrauen siehe Timmer 2017, S. 86–89, der auf die Doppeldeutigkeit der fides als Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit hinweist. 39 Liv. 3,21,1; 26,24,7; 41,24,9 (der archaische Bund will fides und auctoritas in Rom, also Vertrauenswürdigkeit und generalisiertes Vertrauen). Besonders deutlich wird dies in 45,31,8. Hier soll die auctoritas führender romfreundlicher Männer verschiedener gentes gefördert werden, damit diese fides gegenüber Rom generieren. 40 Timmer 2017, S. 23. 41 Neben der als nächstes genannten Stelle siehe auch Liv. 41,2,8 und dazu Briscoe 2012, S. 43; Liv. 44,36,13 mit Briscoe 2012, S. 584; Liv. 26,40,6; 29,29,8. 42 Liv. 1,7,8: Euander tum ea profugus ex Peloponneso auctoritate magis quam imperio regebat loca. 43 Siehe dazu Petersen 1961, S. 441 f.; Ogilvie 1965, S. 58 f.; Leben auf dem Palatin: Liv. 1,7,3; göttlicher Ursprung: Liv. 1,7,8. 44 Dabei soll hier keine Aussage darüber getroffen werden, ob Livius diese Art der Herrschaft positiv oder negativ auffasste, wie z. B. bei Petersen 1961 geschehen (negative Sicht). In dieser Frage konnte sich bis heute keine communis opinio in der Forschung etablieren – siehe dazu z. B. auch Burck 1991; Badian 1993.

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Auch Vitruv nutzt in seinem Werk De architectura den Begriff der auctoritas 17-mal.45 Träger der Eigenschaft können dabei zum einen Architekten und Autoren sein, die sich auctoritas insbesondere durch Wissen und Sachkenntnisse verdienen46, und zum anderen Gebäude, bei denen eine prächtige Ausstattung, besondere Symmetrie oder sonstige herausgehobene Merkmale zu auctoritas führen, die zumeist auch eine gewisse Vorbildwirkung impliziert.47 Der Urheber dieser auctoritas ist dabei, wie Vitruv bereits zu Beginn betont, schlussendlich der Kaiser, der so zudem die Würde seiner anderen Errungenschaften in den Bauten spiegele.48 Vitruvs Definition der auctoritas liegt damit relativ nahe an der Definition von Karl Galinsky49, der ebenfalls eine Durchdringung von Kunst und Architektur mit der auctoritas sieht, Vitruv selbst jedoch nicht erwähnt.50 Insgesamt kann somit von einer Bedeutungslosigkeit der auctoritas außerhalb der Res gestae nicht die Rede sein. Wenngleich kaum direkte Bezüge zu Augustus erhalten sind, so zeigt sich doch ein Verständnis, das eindeutig an die Res gestae und die Definition des auctoritas-Begriffes als „Autorität“ erinnert. In der Zeit des Tiberius finden sich im literarischen Bereich Erwähnungen der auctoritas bei Velleius Paterculus und Valerius Maximus. Velleius Paterculus erwähnt den Begriff in seiner Historia Romana 22-mal.51 Die Träger sind neben dem Senat (viermal)52 auch andere Gruppen (viermal)53, Staaten (dreimal)54 und vor allem Einzelpersonen (elfmal)55, wobei die auctoritas des Senates, die entsprechend der erarbeiteten republikanischen Deutung beschrieben wird, nur im Narrativ vor der Etablierung der augusteischen Monarchie zu finden ist. Als Funktionen dominieren bei den anderen Gruppen die generalisierte Autorität ohne nähere Beschreibung und der Versuch, andere Personen zu einer bestimmten Handlung zu bewegen, wobei auch hier einschränkend Fälle auftreten, in denen dies nicht funktioniert.56 Dabei verweist Velleius auch mehrmals auf die Bedeutung der auctoritas für die Herrschaftserlangung und -legitimation57, was sie wiederum in die Nähe der auctoritas der Res gestae rückt. Von Bedeutung bei der Erlangung von auctoritas ist dabei vor 45 Zur auctoritas bei Vitruv siehe auch Gros 1989. 46 Vitr. 1,1,2.18; 2,5; 3 praef.1; 5 praef 1; 9 praef. 17. 47 Vitr. 1 praef. 2; 3,3,6.8 f.; 5,10; 5,1,10; 4,3; 6,8,9; 7 praef. 17; 5,4.7. 48 Vitr. 1 praef. 2. Hier ist es gar die maiestas des Imperiums, die durch die auctoritas der Gebäude gesteigert wird. 49 Galinsky 1996, S. 24–28. 50 Dies geschieht erst bei Galinsky 2015, S. 246 Anm. 16. 51 Bezüglich der Quantität ist hier einschränkend der fragmentarische Überlieferungszustand des ersten Buches zu beachten, aufgrund dessen die ursprüngliche Zahl nicht mehr zu ermitteln ist. Auch Rowe 2013, S. 5, nennt die Zahl, jedoch ohne die Stellen anzuführen. 52 Vell. 2,15,4; 20,3; 49,2; 68,2. 53 Vell. 2,20,5 (Personen mit Rang und Namen); 89,3 (Gerichte); 126,2 (Magistrate); 127,2 (Helfer des Kaisers). 54 Vell. 1,18,2; 2,62,3; 91,2. 55 Vell. 1,7,1; 2,7,6; 32,1; 39,3; 44,2; 54,1; 71,1; 80,1; 110,4; 111,4; 125,5. 56 Siehe z. B. Vell. 2,68,2. 57 Siehe z. B. Vell. 2,20,5; 44,2; 127,2.

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allem die Orientierung am Gemeinwohl58, aber auch Fachwissen.59 Eine Vergangenheitsbindung lässt sich jedoch nur implizit feststellen.60 Dreimal schreibt Velleius die auctoritas dabei den Kaisern zu. Octavians auctoritas wird in einer Szene aus dem Jahr 36 v. Chr., und damit lange vor seiner Selbstzuschreibung in den Res gestae, hervorgehoben. In einer Anklage gegen Lepidus schreibt Velleius, dass die Legionen des Pompeius nicht dessen, sondern Octavians auctoritas folgten.61 Die auctoritas ist hier die personalisierte Eigenschaft des Octavian, die auch in seiner Abwesenheit (er befand sich zu dieser Zeit noch in Naulochos62) wirkte. Interessant ist dabei die Verbindung des Begriffes der auctoritas mit der fides, die oft als Vertrauen verstanden wird, de facto aber im Sinne einer doppelten Bedeutung auch Vertrauenswürdigkeit bedeuten kann.63 Genau diese Bedeutungsebene liegt hier vor, zumal die Soldaten sich der Obhut des Octavian anvertrauten (und ihm damit Macht über sie zubilligten, die auf generalisiertem Vertrauen beruhte), weil sie ihn für vertrauenswürdig hielten. In diesem Zusammenhang kann zudem auf eine zweite Stelle verwiesen werden, in der Vertrauen und auctoritas direkt gegenübergestellt werden. Bei der Beschreibung des Antagonismus zwischen Caesar und Pompeius heißt es: „[…] Pompeius war mit der senatus auctoritas, Caesar mit dem Vertrauen der Soldaten in ihn bewaffnet.“64 Beide Begriffe weisen hier eine andere Bedeutungsebene auf als in dem gerade behandelten Fall. Die auctoritas ist nicht die personalisierte Eigenschaft des Pompeius, sondern die republikanisch-rechtliche Legitimierung seiner Akte durch den Senat. Diese ist, wie oben gezeigt, nicht mit der persönlichen Eigenschaft vergleichbar, weshalb sie in einen direkten Antagonismus zur fiducia, die hier nicht Vertrauenswürdigkeit, sondern direkt Vertrauen impliziert, gesetzt werden kann. Die erste Zuschreibung der auctoritas an Tiberius erfolgt im Rahmen der Beschreibung der Gründung der verschiedenen römischen Provinzen, in der es heißt: „Cappadocien machte er (Tiberius) dem römischen Volk durch seine auctoritas tributpflichtig.“65 Der Begriff ermöglicht Velleius die Verkürzung eines lang58 Vell. 2,7,6 (Zweifel an Gemeinwohlorientiertheit führt zu Problemen); 111,4; 127,2. 59 Dies wird deutlich durch die Nennung mit anderen Eigenschaften wie in Vell. 2,32,1 oder durch die lange Erläuterung von Sachkompetenz vor der Nennung der auctoritas wie bei Tiberius (z. B. 2,111,4). 60 Etwa durch den Bezug zur auctoritas von führenden Männern (Vell. 2,20,5), da die Nobilität in der Tradition der exempla stets einen Teil ihrer auctoritas aus der Vergangenheitsbindung zog. 61 Vell. 2,80,1: […] sequentem non ipsius, sed Caesaris auctoritatem ac fidem. 62 Woodman 1983, S. 203. 63 Zusammenfassend zur Forschung über fides siehe Timmer 2017, S. 86–89, mit Bezug auf Heinze 1960. 64 Vell. 2,49,2: Pompeium senatus auctoritas, Caesarem militum armavit fiducia. Die Begriffe fides und fiducia sind bedeutungsähnlich und besitzen einen gemeinsamen Wortstamm. Beide Termini gehen auf das Verb fidere zurück. Sie können mit Vertrauen übersetzt und mitunter synonym eingesetzt werden, doch ist der Begriff der fiducia etwas enger gefasst, als der weite Begriff der fides. Fiducia wird zuweilen mit der Tugend der Tapferkeit verbunden. Diese Bedeutungsebene schwingt auch hier deutlich mit. 65 Vell. 2,39,3: […] auctoritate Cappadociam populo Romano fecit stipendiariam.

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wierigen und politisch komplexen Unterfangens66 auf einen Satz. Dies ist jedoch nur möglich, wenn der Begriff in seiner Zeit ein allgemein anerkanntes Symbol kaiserlicher Herrschaftsausübung war. Zentral ist dabei in diesem Fall ferner das Ausbleiben von Gewalt, was zudem einen Punkt der erarbeiteten Definition der auctoritas als Macht, die auf generalisiertem Vertrauen beruht, darstellt. Zudem war Tiberius, ebenso wie Augustus im vorherigen Fall, nicht persönlich vor Ort.67 Interessanterweise holte der Kaiser für die Eingliederung Cappadociens extra einen Senatsbeschluss ein68, der hier aber nicht erwähnt wird. Das Ziel des Velleius war es, primär auf die Eigenschaft des Tiberius und nicht auf die konkrete ‚staatsrechtliche‘ Legitimation zu verweisen. Die zweite Zuschreibung der auctoritas an Tiberius erfolgt im Rahmen des Berichtes über den Pannonienkrieg, der unter anderem mit auctoritas imperatoria geführt wurde.69 Die auctoritas stellt hier erneut eine generalisierte Eigenschaft im militärischen Kontext dar, die mit der Anknüpfung an Wertbegriffe und mithin dem Allgemeinwohl verbunden ist – auch hier verweisen beide Faktoren auf die oben getroffene Definition. Neben diesen direkten Zuweisungen von auctoritas an die beiden Herrscherpersönlichkeiten ist jedoch auffällig, dass Velleius den Begriff in dem die zivilen Aspekte der Herrschaft der beiden Kaiser subsumierenden Kapiteln zwar erwähnt, ihn jedoch nicht den Kaisern zuschreibt. Stattdessen gibt Augustus dem Senat die auctoritas zurück und Tiberius den Magistraten.70 In beiden Fällen ist der Begriff dabei nicht im Sinne der republikanischen Definition, sondern eher im Sinne der „Autorität“ zu interpretieren. Dies ist jedoch nicht wie von Rowe als Zeichen der Negierung der Bedeutung der persönlichen auctoritas der beiden Kaiser zu sehen.71 Vielmehr bedeutet der durch die Verwendung von Verben mit dem Präfix re- hervorgehobene Akt der Restituierung der auctoritas durch die Kaiser implizit, dass diese Träger von noch größerer auctoritas sind, mittels derer sie die Rückgabe bewerkstelligen können. Ferner dürfte der Stil des Narrativs den Leser an die Res gestae des Augustus erinnern.72 Auch erscheint es meines Erachtens nicht sonderlich verwunderlich, dass Velleius die zivile auctoritas der Kaiser nicht weiter elaboriert, da der Fokus der Historia Romana klar auf dem militärischen Bereich liegt und die auctoritas in diesem bereits beschrieben wurde. Valerius Maximus erwähnt den Begriff der auctoritas in seinem Werk Facta et dicta memorabilia 37-mal.73 Die Träger der auctoritas sind überwiegend Einzel-

66 Siehe dazu z. B. Speidel 2009, S. 581–594. 67 Zwar orchestrierte er das Gerichtsverfahren gegen den Herrscher Kappadokiens in Rom, die konkrete Umsetzung der Beschlüsse vor Ort jedoch war unter anderem Aufgabe der Orientmission des Germanicus. 68 Strab. 22,1,4; Vell. 2,39; Tac. ann. 2,42; Suet. Tib. 37; Cass. Dio 57,17,7. 69 Vell. 2,111,4: Quanto cum temperamento simul civilitatis res auctoritate imperatoria agi vidimus. 70 Vell. 2,89,3; 126,2. 71 Rowe 2013, 5. 72 Siehe z. B. Kober 2000, S. 188–198. 73 Rowe 2013, S. 5, nennt zwar die Zahl, gibt jedoch keinen Hinweis, welche Stellen er meint.

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personen, die 26 der Beispiele ausmachen74, während auf den Senat nur zwei75, auf weitere Gruppen sechs76 und den Staat drei77 Beispiele entfallen. Auctoritas kann dabei als impliziter (moralischer) Leitfaden oder Legitimation wirken, wird jedoch im Großteil der Fälle direkt eingesetzt, um Personen zu einem bestimmten Akt zu bewegen. Auch zu Möglichkeiten der auctoritas-Generierung äußert sich Valerius nur spärlich, doch lassen sich sowohl Sach- als auch Sozial- und Vergangenheitsbindung nachweisen. Interessant in Bezug auf die Res gestae ist ferner die siebenmalige Erwähnung78 von Einzelpersonen, die alle anderen in ihrer auctoritas übertreffen, sodass sie als Vorläufer des Augustus gesehen werden können. Dieser wird selbst nur einmal indirekt mit der auctoritas verbunden79, und zwar im Falle eines Juristen, der von keiner gratia oder auctoritas eines Triumvirn zu einer Veränderung seiner Handlungen gebracht werden kann, dafür aber auch nicht bestraft wurde. Dies ist ebenso wie die Verbindung des Begriffes mit der gratia dahingehend interessant, dass anscheinend in Bezug auf beide Termini ein hoher gesellschaftlicher und normativer Druck für eine bestätigende Handlung vorlag, der Handelnde aber in beiden Fällen offenbar nicht dazu gezwungen war. Dies bestätigt die oben genannte Hypothese, wonach die auctoritas zwar die Wahrnehmung der Rezipienten beeinflusste, aber keine endgültige Restriktion der Handlungsmöglichkeiten darstellte. Auffällig bleibt dabei, dass weder die Herrschaftsführung des Augustus noch die des Tiberius, die immerhin achtzehn- bzw. siebenmal Erwähnung finden, mit der auctoritas verbunden werden. Es kann jedoch auch festgehalten werden, dass beide kaum als direkte Beispiele, sondern in der Regel nur als Nebenfiguren anderer exempla erwähnt werden. Zudem erhalten zum Beispiel auch die Tugenden des Tugendschildes eigene Kategorien, in denen weder Augustus noch Tiberius auftauchen, sodass auch andere vermeintlich zentrale Elemente der augusteischen Herrschaftsrepräsentation nicht aufgegriffen werden. Die der Konzeption des Augustus-Forums ähnelnde teleologische Ausrichtung des Gesamtwerkes auf die Kaiserzeit80 lässt in Verbindung mit der Angleichung zentraler Personen und Familien an die Kaiser81 ferner vermuten, dass die Nutzung der auctoritas bei anderen Personen implizit auch auf ihre Bedeutung unter Augustus und Tiberius verweist. Die Inschriften aus tiberischer Zeit zeichnen hingegen ein völlig differierendes Bild. Zwar lassen sich sechs Inschriften mit Verweis auf die auctoritas finden,

74 Val. Max. 1,1,8; 6,12; 2,2,4; 9,3; 10,5; 3,5,4; 7,3; 4,3,6; 5,4,5; 7 ext. 2; 6,2,3 f.12; 9,5; 7,2 ext. 17; 3,4; 3 ext. 10; 5,2; 7,2; 8,2,2; 5,2; 5,6; 12,1; 14 ext. 2; 9,2,1; 4,1. 75 Val. Max. 1,1,12; 8,15,1. 76 Val. Max. 1,1,1 (Auguren); 6 ext. 1 (generalisiert auswärtige Exempel); 2,2,7 (Magistrate); 2,9 (equites); 3,8,6 (maiores); 5,6 init. (Eltern). 77 Val. Max. 1,8,2; 2,2,2.8. 78 Auch hier nennt Rowe 2013, S. 5, die Zahl, ohne sie näher zu erläutern. 79 Val. Max. 6,2,12. 80 Siehe dazu z. B. Weileder 1998, S. 167 f. 81 Siehe dazu z. B. Val. Max. 2,1,10; Weileder 1998, S. 275.

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von denen vier direkt auf die auctoritas des Tiberius verweisen82, jedoch wird diese ausschließlich im republikanisch-staatsrechtlichen Sinne als Vorschlagsrecht oder Ersatz für den Senatsbeschluss und nicht im Sinne der Umschreibung in den Res gestae gesehen. Die einzige Ausnahme bildet eine Stelle aus dem Senatus consultum de Gnaeo Pisone Patre (SCPP), in dem die Steigerung der auctoritas der Heerführer durch die pietas und fides gegenüber dem Kaiserhaus beschrieben wird83, das heißt eine ähnliche Verbindung zwischen anderen Begriffen des Vertrauens und der auctoritas hergestellt wird wie bei Velleius Paterculus. Nichtsdestoweniger spiegeln die zeitgenössischen Quellen aus der Zeit des Tiberius dennoch eine fortlaufend hohe Bedeutung der auctoritas für die Herrschaftslegitimation und Repräsentation des Kaisers. Diese entspricht zudem der auch für die Res Gestae festgestellten Bedeutung der auctoritas als Autorität bzw. Macht, die auf generalisiertem Vertrauen beruht. Aus der Zeit Caligulas finden sich zwar grundsätzlich weniger literarische Quellen als aus der des Tiberius, doch lassen sich auch hier mit Seneca dem Älteren und Philo von Alexandria zwei Autoren mit entsprechenden Erwähnungen ausmachen.84 Die überlieferten Controversiae und Suasoriae des Seneca entstanden vermutlich nach 37 n. Chr. Nichtsdestoweniger behandeln sie größtenteils Redner aus der augusteischen Zeit und dienen dazu, die Erinnerung an diese Redner und die von ihnen vertretenen Argumente zu erhalten.85 Das zumeist in Gerichts­ verhandlungen zu findende setting ist dabei zugleich für die vermutete fortlaufende Bedeutung der behandelten Redner verantwortlich. Der Begriff auctoritas kommt in den Sua­soriae dabei gar nicht und in den Controversiae lediglich achtmal vor. Der Träger der Eigenschaft ist viermal ein Vater86 und jeweils einmal Scaurus87, Tabellen88, Legaten89 und schließlich die Öffentlichkeit (auctoritas publica)90. Eine funktionale Definition als ‚Autorität‘ ist außer bei der im republikanisch-­amtlichen Sinne zu deutenden auctoritas publica bei allen anderen sieben Beispielen möglich, was sich wiederum an verschiedenen oben angeführten Charakteristika ablesen 82 Ohne Tiberius: CIL 11, 3805 (ex auctoritate omnium permitti […]); SCPP, Z. 30 (Beschluss ex auctoritate senatus). Mit Tiberius: AE 1976, 121 (Amt ex auctoritate Tiberi); CIL 5, 4348 (ex s(enatus) c(onsulto) et ex auctorit[ate] | Ti(beri) […]) – anscheinend Vorschlagsrecht des Tiberius gegenüber dem Senat ähnlich dem, das der Senat gegenüber der Volksversammlung hatte; CIL 10, 5393 (ex auctor(itate) | Ti(beri) Caesaris Augusti et permissu eius); CIL 6, 40348 (ex auctoritate Ti(beri) …). – Rowe 2013, S. 6 f., verweist auf die tiberischen Inschriften, ohne diese einzeln zu nennen, geht aber nicht auf die augusteischen Inschriften ein. 83 SCPP, Z. 164. 84 Neben den genannten Autoren finden sich ferner noch drei Erwähnungen der auctoritas in der Schrift Ad Marciam de consolatione des jüngeren Seneca (Sen. ad Marc. 1,6; 2,1; 26,1), die zwar in der Zeit des Caligula entstand, jedoch im Abschnitt über Nero insgesamt abgehandelt werden soll. 85 Sen. contr. 1 praef. 86 Sen. contr. 2,1,38; 3,2; 7,7,3; 7,13. 87 Sen. contr. 10 praef. 2. 88 Sen. contr. 7,6,23. 89 Sen. contr. 7,7,16. 90 Sen. contr. 9,2,14.

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lässt. So hebt Seneca beispielsweise hervor, dass die auctoritas eines Vaters die Mitbewerber seines Sohnes im Amt vertreibe.91 Ein formelles Verbot mit einhergehender expliziter Beschränkung der Handlungsoptionen findet sich hier nicht, vielmehr verändert die auctoritas des Vaters die Wahrnehmung der Situation und mithin der Einschätzung der eigenen Chancen. Eine Tabelle wiederum scheint aufgrund ihres ordnenden und auflistenden Charakters über auctoritas zu verfügen, auch weil sie über jeden Zweifel erhabene sachliche Korrektheit verspricht, was dem Bereich der sachlichen Bindung zuzurechnen ist. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang auch das Beispiel des Scaurus, bei dem Vergangenheitsbindung (in Form antiker Redestile) und Demonstration von Sachkenntnis (in Form von Vokabular und Habitus) zur Generierung seiner auctoritas beitragen.92 Zudem verbindet auch Seneca der Ältere die auctoritas direkt mit der Frage nach Vertrauenswürdigkeit: In der Rede eines Vaters an seinen Sohn heißt es: „Folge meiner auctoritas. Ich empfehle nichts Schmähliches, ich begehre nichts Schäbiges. Vertraue dich meiner fides an […].“93 Wesentlich stärker als bei den anderen Beispielen beschreibt Seneca zudem die Möglichkeit, auctoritas gegen die tragende Instanz zu verwenden. Ein Sohn beispielsweise hätte die auctoritas, die sein Vater bei den hostes genoss, als Argument für dessen Hass gegen die res publica verwenden können, ein anderer sich selbst als Opfer der auctoritas des Vaters präsentieren können.94 Mit Philon von Alexandria soll zudem für die Zeit des Caligula ausnahmsweise auch ein griechischer Autor untersucht werden. Wenngleich er aus Ägypten stammte, zeichnete er mit seiner Legatio ad Gaium doch ein präzises Bild einer Gesandtschaft an den Kaiser, das zudem vermutlich nicht nur an Griechen und Juden in Alexandria, sondern auch an Claudius selbst gerichtet war.95 Daher kann hier zumindest ein den römischen Sehgewohnheiten der Zeit entsprechendes Bild erwartet werden. Den Begriff ἀξίωμα, der in den Res gestae als griechische Entsprechung der auctoritas genutzt wird, verwendet Philon in der Legatio viermal96, wobei alle Erwähnungen mit der Bedeutungsebene der ‚Autorität‘ übereingebracht werden können. Zweimal verbindet er diesen Begriff direkt mit den regierenden Personen, wobei gleich die erste Erwähnung die Vorrangstellung der römischen Kaiser vor den Ptolemäern in den Augen einiger Personen aufgrund von ἀξίωμα und τύχη97 hervorhebt. Die inhaltliche Nähe der von Philon genutzten Begrifflichkeit zur auctoritas der Res gestae spricht – ebenso wie Philons Einbindung in einen zeitgenössischen Diskurs unter Beteiligung des Kaisers – dafür, sein Werk ebenfalls als Bestätigung der fort91 Sen. contr. 7,7,13. 92 Vgl. Sen. contr. 10 praef. 2. 93 Sen. contr. 2,1,39: sequere auctoritatem meam: nihil turpiter suadeo, nihil sordide concupisco. crede fidei meae […]. 94 Sen. contr. 7,7,3 (erstes Beispiel); 3,2 (zweites Beispiel). 95 Siehe dazu Barraclough 1984, S. 449–451. 96 Phil. legat. ad Gaium 140 (mit tyche als Eigenschaft der römischen Kaiser); 276 (des Herren gegenüber den Sklaven); 286 (des Agrippa, der hier kaum jemandem nachsteht); 300 (mit τύχη als Eigenschaft eines Königs). 97 Phil. legat. ad Gaium 140: τὰ ἀξιώματα καὶ τὰς τύχας.

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laufenden Bedeutung der auctoritas im herrschaftslegitimierenden Kontext und aus dem Blickwinkel des Vertrauens zu sehen. Abschließend findet sich eine lateinische Inschrift aus der Zeit des Caligula98, die das Wort auctoritas enthält, dieses jedoch im republikanischen Sinne nutzt. Aus der Zeit des Claudius finden sich auf dem literarischen Feld lediglich in den Werken Senecas des Jüngeren Verweise auf die auctoritas99, die gemeinsam mit denen aus der Zeit Neros behandelt werden sollen. Daneben kommt der Begriff in sieben lateinische Inschriften vor100, die auctoritas jedoch wie unter Caligula lediglich im republikanischen Sinne als ‚auf Beschluss‘ des Kaisers einsetzen. Auch in der Literatur der neronischen Zeit ist Seneca überraschenderweise der einzige Autor, der den Begriff der auctoritas bemüht.101 Der Senat findet dabei als Träger keinerlei Erwähnung, an seine Stelle treten zumeist herausgehobene Einzelpersonen102 und Personengruppen103, aber auch immaterielle Dinge wie Strafen, consilia und praecepta.104 Ihre Wirkung kann in der Mehrheit der Fälle als Autorität bzw. Einfluss und als moralischer Leitfaden definiert werden, mittels derer andere Personen zu bestimmten Handlungen gebracht werden sollen. Auch Seneca äußert sich nur spärlich zu den Möglichkeiten der auctoritas-Generierung, nennt jedoch Sachkenntnisse105, Werteverkörperungen106 und eine Ähnlichkeit zwischen dem Träger und dem Rezipienten107 als mögliche Wege. Hervorzuheben ist ferner sein Bewusstsein, wonach die auctoritas die Wahrnehmungsmöglichkeiten des Vertrauenden einschränkt bzw. dessen Wahlmöglichkeiten implizit beeinflusst.108 Zudem ist er sich bewusst, dass auctoritas auch ohne probationes wirkt, es sich also um einen generalisierten und nicht einen situationsspezifischen Wert handelt.109 Beneficia erhalten ihre auctoritas vor allem dann, wenn auf die fides des Rezipienten geachtet wird und dessen Handlungsmöglichkeiten nicht eingeschränkt werden.110 In Bezug auf das Fortleben der auctoritas des Augustus ist zudem die Ansicht interessant, wonach die auctoritas einer Person offenbar auch nach deren Tod eine Wirksamkeit entfalten kann und insbesondere auch exempla eine auctoritas besitzen.111 Ferner ist Seneca der erste literarische Autor des Untersuchungszeitraumes, der den 98 CIL 6, 40372. 99 Sen. ad Helv. 1,1; ad Polyb. 14; ira 1,10,1; 3,39,3; const. sap. 3,1. 100 AE 1919, 1; CIL 7, 11; AE 1961, 345; AE 2013, 860, 883 f.; CIL 6, 31545. 101 Geprüft wurden neben Seneca auch Lucan, Petron und Calpurnius Siculus. Zu konstatieren ist ferner, dass keinerlei Inschriften mit Verweis auf die auctoritas existieren. 102 Sen. ad Marc. 2,1; 26,1; ad Helv. 1,1; ad Polyb. 14; ira 3,39,3; ot. 3,3; clem. 1,15,1: epist. 11,9; 25,6; 29,3; 30,7; 71,7; 94,27; 99,20; 115,3; nat. 4,3,2; 7,16,1. 103 Sen. ad Marc. 1,6; nat. 6,26,1. 104 Sen. benef. 3,14; ira 1,10,1; const. sap. 3,1; clem. 1,22,2; epist. 4,2; nat. 2,34,3; 39,1. 105 Siehe z. B. Sen. epist. 29,3; nat. 4,3,2; 6,16,1. 106 Siehe z. B. Sen. epist. 115,3. 107 Siehe z. B. Sen. ira 3,39,3. 108 Siehe z. B. Sen. ad Marc. 2,1. 109 Sen. epist. 94,27. 110 Sen. benef. 3,14,2. 111 Siehe z. B. Sen. ad Marc. 26,1.

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Begriff direkt mit Augustus verbindet:112 In De clementia hebt er hervor, dass selbst die auctoritas des ersten Kaisers den Ritter Tricho beinahe nicht vor einem wütenden Mob retten konnte, der in Erscheinung trat, als Tricho seinen Sohn zu hart bestrafte. Der Vater hatte seine patria potestas und die mit ihr verbundene auctoritas missbraucht, indem er nicht, wie erwartet (und von Seneca im Kapitel zuvor dargelegt), entsprechend der sozialen Norm der Milde gehandelt hatte, sondern gegen diese verstieß. Das generalisierte Vertrauen113 von Sohn und Gesellschaft war gebrochen, weshalb die civitas sich zum Eingreifen zwecks Normwahrung genötigt sah.114 Wenngleich Augustus’ auctoritas den Ritter anscheinend rettete und so letztlich das generalisierte Vertrauen in dessen Entscheidungskompetenz erhalten blieb, rückt Seneca dessen Handeln doch in ein negatives Licht und stellt so in Verbindung mit der gänzlich anderen Definition der Rolle der patria potestas im vorherigen Kapitel sogar die Repräsentation des Augustus als pater patriae in Zweifel. Verbunden mit der Teildekonstruktion des augusteischen exemplum auch in anderen Abschnitten des Werkes115 kann die Stelle somit auch als Angriff gegen ein zentrales Herrschaftsmerkmal des Augustus interpretiert werden, was einmal mehr die Rolle der auctoritas in diesem Kontext bestätigen würde. Wenngleich die Autoren der julisch-claudischen Zeit die auctoritas somit kaum direkt mit den Kaisern verbinden, zeigt sich doch eine fortlaufende Bedeutung des Begriffes im Sinne der oben getroffenen Definition. Eine Erklärung hierfür findet sich ebenfalls in der Interpretation mithilfe der Theoreme um das Vertrauen, da dieses – wie bereits angesprochen – in der Regel nur dann expliziert wird, wenn ein Ausbleiben registriert wird. Dies ist jedoch in den panegyrischen Kontexten der zeitgenössischen Literatur kaum zu erwarten.

3. Die Übernahme der auctoritas Wenn der auctoritas bis hierhin eine fortlaufende und legitimierende Wirkung unterstellt werden kann, stellt sich im nächsten Schritt die Frage, inwieweit die Nachfolger des Augustus diesen vor allem auf die Persönlichkeit des ersten Princeps ausgerichteten Wert überhaupt für sich beanspruchen konnten. Zusätzlich wird so das weite Feld der Fragen nach den Legitimationsgrundlagen der römischen Kaiserherrschaft angeschnitten, das in vielen unterschiedlichen Facetten bereits bearbeitet wurde. Dabei standen insbesondere Rollenerwartungen116, Werterepräsentationen117, 112 Sen. clem. 1,15,1. 113 Zum Zusammenhang zwischen patria potestas und Vertrauen siehe abermals Timmer 2017, S. 118–133. 114 Gaughan 2010, S. 45. 115 Sie dient eindeutig der Erhöhung Neros, siehe z. B. Sen. clem. 1,11. 116 Aufgrund der breiten Forschungslandschaft soll im Folgenden jeweils nur ein beispielhafter Exponent genannt werden. Zur kaiserlichen Rolle siehe z. B. Timpe 1994. 117 Siehe z. B. Noreña 2011.

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die Akzeptanz verschiedener sozialer Gruppen118, charismatische und traditionale Herrschaftsmodelle nach Max Weber119 oder gar eine komplette Negierung eines Legitimationsbedarfes120 im Fokus, während Vertrauen im Allgemeinen und aucto­ ritas im Besonderen als Ressource zur Rechtfertigung der Herrschaft des Princeps weitestgehend unbeachtet blieben. Dabei bietet gerade diese Definition eine Möglichkeit, die zuvor einzeln vorgebrachten Forschungsnarrative zu vereinen, ohne diese in ihrer Aussage grundsätzlich zu verändern. Die Frage, inwieweit das ursprünglich für Augustus personalisierte Konzept auch auf seine Nachfolger übertragen werden konnte, und die Frage nach den Möglichkeiten der auctoritas-Generierung gehen Hand in Hand. Ein primäres Beispiel muss dabei zunächst der erste Nachfolger Nachfolger des Augustus, Tiberius, sein, der zugleich der einzige Kaiser der julisch-claudischen Zeit war, der die Gelegenheit hatte, auctoritas vor seinem Herrschaftsantritt zu generieren. Dies erfolgte nicht nur durch die Sukzessionsvorsorge des Augustus, sondern auch durch seine Feldzüge und zeitweilige Partizipation an der Herrschaft des ersten Kaisers, die es ihm ermöglichten, seine zivilen bzw. administrativen und militärischen Fähigkeiten (Sachkenntnisse) unter Beweis zu stellen und seine Orientierung am Gemeinwohl zu verdeutlichen. Dennoch wurde seine auctoritas am Beginn seiner Herrschaft von ihm selbst und anderen (siehe Vertrauenskrisen) anscheinend als schwach eingeschätzt. Sein Herrschaftsantritt war dabei, zumindest laut der späteren Quellen, von einer bemerkenswerten Unsicherheit und einer auffälligen Bescheidenheit gegenüber dem Bild des idealisierten Augustus gekennzeichnet. In der ersten Senatssitzung nach dem Begräbnis des ersten Kaisers hatten die Senatoren Tiberius anscheinend die Herrschaft direkt angetragen, was dieser zunächst unter Verweis auf die consilia des Augustus sowie dessen unerreichbare Einzigartigkeit ablehnte, um dann eine Teilung der Verantwortung für das Reich vorzuschlagen. Erst nach einigen ungeduldigen und ärgerlichen Zwischenrufen der Senatoren wegen der in ihren Augen unverständlichen Hinauszögerung der Regierungsübernahme willigte Tiberius schließlich in diese ein.121 Allerdings übernahm er weder den Titel des imperator noch des pater patriae und zeigte sich auch beim Titel des Augustus unwillig.122 Er zog es vor, sich dem mos maiorum entsprechend princeps senatus zu nennen.123 Zudem verbot er den Schwur auf seine acta und schwor stattdessen mit den Senatoren gemeinsam auf jene des Augustus.124 Die aus senatorischer Sicht scheinbar übermäßig betonte recusatio imperii des Tiberius sorgte für Verärgerung, ergab aus Sicht der Vertrauensschaffung jedoch durchaus Sinn. So hatte sich auf118 Siehe z. B. Flaig 2019. 119 Siehe z. B. Stahl 2008. 120 Siehe z. B. Lendon 2006. 121 Tac. ann. 1,10–14; Suet. Tib. 24 f.; Cass. Dio 57,2–7 (Dio setzt, im Gegensatz zu den anderen, Unruhen bei den Heeren in Pannonien und Germanien vor die Herrschaftsübernahme des Tiberius.). 122 Tac. ann. 1,72,1; Suet. Tib. 27,2; Cass. Dio 57,8,1. 123 Cass. Dio 57,8,1. 124 Cass. Dio 57,8,4 f.

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grund der personalen Herrschaftsweise des Augustus und der Präzedenzlosigkeit des Wechsels des Princeps noch kein Institutionen- oder Ämter-Vertrauen entwickeln können, sodass das Vertrauen in die positive Fortführung des Prinzipates größtenteils auf der Person des Tiberius basieren musste. Dieser hatte zwar bereits zuvor seine Fähigkeiten als Herrscher unter Beweis gestellt, seine Taten jedoch stets auf Weisung oder an der Seite des Augustus vollbracht.125 Es lag somit stets eine gewisse Beschränkung seiner Macht vor, die mit dem Tod des Augustus wegfiel, was bedingte, dass Tiberius gemäß der obigen Theorie neue Faktoren der Beschränkung seiner nun theoretisch unbegrenzten Machtfülle glaubhaft machen musste. Zudem stellte der Vorgang der Herrschaftsübernahme einen besonders neuralgischen Punkt für die Frage nach dem Vertrauen in den Herrscher dar, da seitens der für die Akzeptanz der Herrschaft relevante Gruppen ein Vertrauensvorschuss geleistet wurde, dessen sich der Kaiser später als würdig erweisen musste. Mit seiner spezifischen Art der recusatio vereinte Tiberius anscheinend alle drei Arten der Demonstration von Selbstbeschränkung von Macht. Durch seine anfängliche Weigerung die Macht zu übernehmen, schuf er eine künstliche Atmosphäre der Bürgerkriegsgefahr126, die den Senatoren zwar einerseits die Alternativlosigkeit des Prinzipates vor Augen führte und so zu Unwillen gegenüber diesem Schauspiel beitrug, andererseits Tiberius jedoch die Möglichkeit bot, sich mit der dann dennoch erfolgenden Herrschaftsübernahme im Rahmen der „doppelbödigen Kommunikation“127 im Prinzipat auch als Friedensstifter zu inszenieren und so sowohl seine sachliche Eignung als auch seine Gemeinwohlorientierung zu symbolisieren. Zentral für die Kommunikation war dabei die nahezu originalgetreue Wiederaufführung des Handelns des Augustus im Jahr 27 v. Chr. in Verbindung mit dem stetigen Verweis auf diesen, der die starke Vergangenheitsbindung des Tiberius verdeutlicht.128 Durch den Rekurs auf das positiv empfundene Bild des Augustus und dessen Herrschaftsantritt ließ Tiberius seinerseits eine gute Herrschaft erwarten und reduzierte somit Komplexität, aber auch seine eigenen Handlungsmöglichkeiten, was durch die Übernahme der von Augustus geübten Selbstbeschränkung der eigenen Macht noch verstärkt wurde. Die Treue zur mit dem ersten Kaiser verbundenen erinnerten Vergangenheit wurde so zu einem der wichtigsten Faktoren der Vertrauensgenerierung und damit der Herrschaftslegitimation des Tiberius. Dies spiegelt sich auch in den zeitgenössischen Quellen, in der numismatischen Selbstrepräsentation und Literatur wider. So bestehen zum Beispiel die Reverse der Edelmetallprägung ausschließlich aus Typen, die bereits in den letzten Jahren

125 Dies wird interessanterweise sogar von Velleius Paterculus hervorgehoben: siehe unten. 126 Diese forcierte er ferner z. B. mit der Forderung nach militärischem Schutz für die Bestattung des Augustus: Tac. ann. 1,8,5; Cass. Dio 57,2,2. 127 Zum Begriff siehe Winterling 2003. 128 Zum Verweis auf Augustus siehe auch Ov. Pont. 4,13,27 f.; dazu Huttner 2004, S. 131. Zur recusatio des Tiberius siehe ferner Schrömbges 1986, S. 74–85; Flaig 1992, S. 213 f. Hinzu tritt natürlich auch eine Anbindung an die Zeit der Republik.

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des Augustus vorkamen oder diesen selbst zeigen.129 Zugleich verwiesen die Bilder jedoch bereits unter dem ersten Kaiser zum Teil auf die virtus des Tiberius130, sodass hier gleichsam die Anbindung an die Vergangenheit und die Sachkompetenz des zweiten Kaisers betont werden. Die Bronzeprägungen bieten zwar eine deutlich größere Bandbreite an Bildern, doch finden sich auch hier, neben eindeutig die Qualifikationen bzw. Sachkenntnisse des Tiberius betonenden Motiven131, zahlreiche Bilder, die Bezug auf Augustus nehmen und/oder die Leistungen des Tiberius in Einklang mit denen des Augustus sehen132 und so ein weiteres Mal dessen Vergangenheitsbindung betonen. Der Befund der zeitgenössischen literarischen Quellen, insbesondere der Historia Romana des Velleius Paterculus, erscheint hingegen zunächst als klare Betonung der Errungenschaften des Tiberius in Abgrenzung von Augustus. Obwohl das Narrativ über die Herrschaftszeit des Augustus von Kapitel 59 bis 123 des zweiten Buches reicht, berichtet Velleius ab den Eintritt des Tiberius in die Politik in Kapitel 94 nahezu ausschließlich über diesen. Zudem erscheint Tiberius als die höchste Verkörperung römischer Werte und als princeps optimus.133 Dennoch wird insgesamt eine intensive Anbindung des zweiten Kaisers an die Vergangenheit deutlich. Denn insbesondere am Beginn von Tiberius’ Laufbahn wird dessen Abhängigkeit von den Weisungen des Augustus betont, von denen er sich nur langsam emanzipiert.134 Zudem erscheinen die Werthaltungen der beiden Kaiser eher komplementär bzw. im Verhältnis des Begründers zu dem ihm verpflichteten Fortsetzer, als dass sie ein teleologisch rein auf Tiberius ausgerichtetes Set darstellen.135 Damit in Einklang wird der Herrschaftsantritt des Tiberius als Fortsetzung augusteischer Politik präsentiert, da der erste Kaiser seinem Nachfolger nicht nur mit seinen letzten Worten ihr gemeinsames Werk ans Herz legt136, sondern auch Tiberius die ersten 129 Bekannt sind die sitzende weibliche Figur (RIC I2 Tiberius Nr. 25–30), Tiberius in der Triumphalquadriga (RIC I2 Tiberius Nr. 1–4) und die Victoria auf dem Globus (RIC I2 Tiberius Nr. 5–22). Divus Augustus: RIC I2 Tiberius Nr. 23 f. 130 Siehe die Triumphalquadriga und die Victoria auf dem Globus, die unter Augustus in den Jahren 11/10 v. Chr.; 7/6 v. Chr. und 6–9 n. Chr. (RIC I2 Augustus Nr. 184 f., 202 f., 214–218) geprägt wurden. Diese Reihung könnte auf den Sieg des Tiberius in Pannonien, einen Triumph wegen seiner Erfolge in Germanien und die zweite pannonische Kampagne hinweisen. 131 Siehe z. B. die Prägungen für salus, pietas und iustitia: RIC I2 Tiberius Nr. 43, 46 f. 132 Siehe z. B. die DIVVS AVGVSTVS PATER-Prägungen (RIC I2 Tiberius Nr. 70–83). 133 Vell. 2,126,4. 134 Siehe z. B. Vell. 2,94,1: Erziehung auf Anweisung des Augustus; 94,3: erste Amtshandlungen als Quaestor mandatu vitrici; 94,4: erste Militärmission des Tiberius missus ab eodem vitrico; 95,1: Reversum inde Neronem Caesar haud mediocris belli mole experiri statuit; 96,2: Tiberius führt den Krieg zu Ende, den Agrippa aufgrund seines Todes nicht weiterführen konnte; 97, 2: Germanici belli delegata (jedoch ohne Nennung des Augustus). 135 Dies wird insbesondere im Vergleich der Kapitel 89 und 126 deutlich, in denen die Errungenschaften der Kaiser zusammengefasst werden. Wenngleich beide mittels Verben mit re-Präfix als Restitutoren dargestellt werden, bauen die Errungenschaften doch deutlich auf denen des Augustus auf, sodass Tiberius eine Rolle als Fortsetzer einnimmt. Siehe dazu z. B. Ramage 1982, S. 269. Vgl. jedoch Cowan 2009, S. 478. 136 Vell. 2,123,2.

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Amtshandlungen als Fortsetzung der augusteischen Politik versteht.137 Auch seine recusatio imperii wird ganz entsprechend der oben dargestellten Linie zunächst als Selbstbeschränkung und dann, bei der Annahme, als Akt für das Allgemeinwohl angesichts eines drohenden Bürgerkrieges präsentiert.138 Diese Selbstbeschränkung des Tiberius wird auch in den ihm zuerkannten Ehrungen deutlich, bei denen er peinlich genau darauf achtet, das Maß des Augustus nicht zu überschreiten.139 Da es dabei mitunter so scheint, als wolle Velleius dem Kaiser einen Weg zur aemulatio Augusti aufweisen bzw. als sehne er diese entsprechend der römischen exempla-­ Tradition herbei, kann meines Erachtens davon ausgegangen werden, dass die Beschreibungen auch hier auf die Selbstrepräsentation des Tiberius zurückgehen. Valerius Maximus hingegen übernimmt in seiner exempla-Sammlung zwar eindeutig das augusteische Geschichtsbild, bezieht jedoch 98 Prozent seiner exempla aus der Zeit vor 42 v. Chr.140 Augustus und Tiberius hingegen tauchen nur 18-mal respektive siebenmal auf, und auch Bezüge zwischen den beiden Kaisern sind eher selten. Da die geringe Anzahl der exempla Augusti nicht in einer Ablehnung des Prinzipates oder einem negativen Augustusbild begründet liegen kann141, liegt es nahe, eine Unsicherheit hinsichtlich ihrer Verwendbarkeit zu vermuten. Tatsächlich wurde in der Forschung bereits festgestellt, dass die exempla durch ihre sprachliche Ausformung als Rückgriff auf Allgemeinwissen gekennzeichnet sind.142 Sie hatten bereits unzweifelhaft und auf kanonische Weise positiv konnotiert ihren Weg in die kollektiven Gedächtnisse der intendierten Rezipienten gefunden. Dies verweist auf ein grundsätzliches Problem der politisierten bzw. legitimierenden Vertrauensgenerierung auf Basis einer Vergangenheitsbindung. Das zum exemplum gewordene Ereignis der Vergangenheit musste selbst vertrauenswürdig erscheinen bzw. positiv konnotiert in den kollektiven Gedächtnissen der Rezipienten gespeichert sein. Dies benötigte Zeit, und diese war seit dem Tod des Augustus kaum vergangen, sodass dessen exempla selbst stets Teil eines nicht formalisierten Aushandlungssystems

137 Vell. 2,124,3: Das erste seiner Werke als Princeps war die Ordnung der Comitien, welche der divus Augustus mit seiner eigenen Hand geschrieben aufgetragen hatte. (primum principalium eius operum fuit ordinatio comitiorum, quam manu sua scriptam divus Augustus reliquerat). 138 Vell. 2,124,1 f. 139 Ein schönes Beispiel dafür findet sich in Vell. 2,99,1, dem Punkt, ab dem sich Tiberius stärker von Augustus emanzipiert und an dem er bezüglich der zivilen Ämter bzw. der tribunicia potestas diesem gleichgestellt wird. Velleius folgert darauf: civium post unum, et hoc, quia volebat, eminentissimus, ducum maximus, fama fortunaque celeberrimus et vere alterum rei publicae lumen et caput („Der wichtigste der Bürger nach dem einen [scil. Augustus], und das, weil er [scil. Tiberius] es wollte, der größte Anführer, überaus begünstigt von Fama und Fortuna und wahrlich das zweite Licht und Haupt der res publica“). – Auch wenn hier implizit eine aemulatio möglich gewesen wäre, stellt der Autor klar heraus, dass Tiberius diese gar nicht wollte (siehe dazu auch Woodman 1977, S. 116 f.). 140 Lobur 2008, S. 184. 141 Zum oftmaligen Rekurs des Valerius Maximus auf Augustus und das augusteische Geschichtsbild siehe z. B. Weileder 1998, S. 167 f. 142 Lobur 2008, S. 184; Wardle 2000, S. 479.

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bzw. -prozesses waren.143 Dies zeigte sich unter Tiberius stets dann besonders deutlich, wenn andere Personen einforderten, den zunächst generalisierten Bezug zu Augustus und damit die Erwartbarkeit einer augusteischen Handlungsweise tatsächlich in Taten umzusetzen. Ein einprägsames Beispiel hierfür findet sich im Handeln des Hortalus, eines Enkels des Hortensius, der laut Tacitus den Kaiser zu einer Geldspende an ihn bzw. seine Söhne aufforderte, die er dadurch begründete, dass er nur auf Befehl des Kaisers (Augustus) eine Frau genommen habe und seine Söhne daher alumni des Augustus seien. Tiberius jedoch sah das exemplum Augusti als nicht bindend an, da dieser Hortalus zwar Geld gegeben habe, dies aber ohne ein Gesetz, dass er mit weiteren Zahlungen rechnen könne. Teile des Senates applaudierten daraufhin, ein Großteil brach jedoch in Murren aus, sodass Tiberius sich letzten Endes genötigt sah, jedem der Söhne wenigstens 200.000 Sesterzen zu schenken.144 Die Aussage des Hortalus setzte Tiberius dahingehend unter Zugzwang, die weithin als Grundlage seiner Herrschaft propagierte Bindung an die augusteische Vergangenheit auch umzusetzen, da ansonsten ein Vertrauensbruch gedroht hätte. Er versuchte der Situa­tion zunächst zu entgehen, indem er zu verstehen gab, Hortalus habe die Taten des Augustus missverstanden, wobei er zudem grundsätzlich zwischen den rechtlich bindenden und den nicht bindenden acta des Augustus unterschied. Er besetzte so im Aushandlungssystem die Rolle des besten Interpreten augusteischer Handlungen, was ihm, wie der partielle Beifall zeigt, auch teilweise gelang. Ein Großteil der Senatoren jedoch verweigerte die Affirmation und zwang ihn so zumindest teilweise zum Einlenken. Das Vorgehen des Tiberius zeigt auch, dass es innerhalb des Aushandlungssystems von besonderer Bedeutung war, nicht restriktiv in den Prozess einzugreifen. Das Gegenteil wird jedoch durch den Einsatz der maiestas-Gesetze zugunsten des Divus Augustus bei Tacitus suggeriert (und zum Teil in der Forschung aufgegriffen145) und auch direkt als Faktor des Vertrauensverlustes benannt.146 Eine genauere Betrachtung zeigt hier, dass von 116 maiestas-Verfahren147 lediglich sieben tatsächlich den ersten Kaiser betrafen148, weswegen keinesfalls die Rede von einer Klagewelle sein kann. Zudem lässt sich festhalten, dass zahlreiche Fälle gar

143 Während Timmer 2017, S. 42–46, den Begriff des nicht formalisierten Verhandlungssystems als eine Art konsensorientierten politischen Entscheidungsprozess mit „Vorabentscheidungen“ fasst, soll hier ein allseitig beeinflusster und zum Teil auch unbewusst verlaufender Interpretations- und Deutungsprozess um die exempla beschrieben werden, in dem verschiedene Individual- und Kollektivgedächtnisse Einfluss auf das Ergebnis nahmen. 144 Tac. ann. 2,38. 145 Siehe z. B. Baumann 1974, S. 77–80. 146 Tac. ann. 1,72,2 vermerkt, dass Tiberius trotz seiner durch die Ablehnung des pater patriaeTitels symbolisierten Selbstbeschränkung nicht das Vertrauen in seine bürgerliche Gesinnung (fidem civilis animi) stärken konnte, da er die maiestas-Gesetze wieder einführte. 147 Perné 2004, S. 49–53. 148 Unvollständige Auflistungen dazu bei Baumann 1974, S. 71–82.

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nicht zur Verhandlung gelangten149 und bei den anderen in der Regel andere Faktoren größeren Einfluss nahmen als der Verstoß gegen die maiestas des Augustus.150 Diese grundsätzliche Form der auctoritas-Generierung blieb in der julisch-­ claudischen Zeit und darüber hinaus erhalten. Für alle Kaiser war es besonders entscheidend, am Beginn ihrer Herrschaft eine Verbindung zu Augustus und damit zur Vergangenheit zu konstituieren. Dies wurde durch den Umstand verschärft, dass ein Bezug zum unmittelbaren Vorgänger aufgrund einer negativen Rezeption oftmals nicht möglich war. Dieser Umstand lässt sich am Beispiel des Caligula exemplifizieren, der vor seinem Herrschaftsantritt über keinerlei Erfahrungen in der militärischen oder zivilen bzw. administrativen Welt verfügte. Zudem fiel Tiberius als Bezugspunkt der Vergangenheitsbindung aus, da nicht nur dessen Testament annulliert wurde151, sondern auch seine von Caligula geforderte Divinisierung beim Senat auf Ablehnung stieß.152 Dass der dritte Kaiser in seiner ersten Rede in Rom die maiestas-Prozesse der tiberischen Zeit verdammte, zeigt dabei, dass auch die Negierung eines Bezuges auf die Vergangenheit eine freiwillige Einschränkung der eigenen Macht bzw. Handlungsoptionen darstellen konnte. Dies verstärkte sich in der Folge noch weiter, als die Senatoren Caligula nach seiner Rede die Macht geradezu antrugen. Dazu berichtet Dio, dass der Kaiser zunächst einen demokratischen Eindruck (δημοκρατικώτατος) gemacht und sogar die kaiserlichen Titel (τῶν ὀνομάτων τῶν ἀρχικῶν) nicht angenommen habe, nur um später als Autokrat (μοναρχικώτατος) zu erscheinen und dezidiert gegen das Beispiel des Augustus und des Tiberius alle Befugnisse und Titel auf einen Schlag anzunehmen.153 Auch Sueton berichtet, dass Caligula vom Senat die Verfügungs- und Entscheidungsgewalt über sämtliche Angelegenheiten (ius arbitriumque omnium rerum) erhielt154, wobei er jedoch keine Wartezeit einberechnet. Trotz dieser durchaus komplizierten Konstruktion lässt sich im Zusammenhang mit den Acta Fratrum Arvalium (AFA) vermuten, dass auch Caligula sich in der recusatio imperii übte (und so an die augusteische Vergangenheit anknüpfte), ohne jedoch einen Staatsnotstand zu inszenieren.155 Die 149 Z. B. Tac. ann. 1,73. 150 Siehe z. B. den Fall des Iunius Silanus (Tac. ann. 3,66–68), der vermutlich weniger wegen des crimen maiestatis belangt wurde, sondern mehr aufgrund seiner saevitia. 151 Cass. Dio 59,1,2 f. Welche rechtlichen Grundlagen für die Annullierung gewählt wurden (etwa eine Geisteskrankheit des Tiberius Gemellus, wie bei Dio vermerkt) und ob sie das gesamte Testament oder nur Teile betrafen, ist in der Forschung umstritten. Siehe dazu: Barrett 2015, S. 73 f.; Winterling 2003, S. 49 f. 152 Cass. Dio 59,3,7. 153 Cass. Dio 59,3,1. 154 Suet. Cal. 14,1. Zur Bedeutung siehe die Verknüpfung mit der Lex de imperio Vespasiani im Folgenden. 155 Zum Akt der recusatio durch Caligula siehe Jakobson/Cotton 1985, S. 497–503; Hurley 1993, S. 40; außerdem Barrett 2015, S. 77 f., der eher Wert auf die konstitutionelle Differenz zwischen der Ausrufung durch das Heer und der Ernennung durch den Senat legt. Unsicher äußert sich Huttner 2004, S. 153–155. Zur Interpretation unter Berücksichtigung von AFA 38c, 10; 15–17; 38e, 10 siehe Barrett 2015, 77 f.

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für die Ausübung des Prinzipats benötigten Amtsbefugnisse, die er im Gegensatz zu Tiberius noch nicht innegehabt hatte, bekam er im Anschluss en bloc verliehen, wobei der Senat anscheinend eine neue gesetzliche Grundlage schuf, welche die Urform der Lex de imperio Vespasiani darstellte. Dies ist insbesondere im Hinblick auf die Frage nach generalisiertem Vertrauen von Interesse, da die von Sueton verwendete Phrase ius arbitriumque omnium rerum sich auf die im sechsten Absatz der lex formulierte diskretionäre Klausel beziehen könnte, die je nach Deutung eine Entgrenzung kaiserlicher Macht, der sich der Princeps durch seine vorherige recusatio imperii als würdig erwiesen hatte, beinhaltet und somit als Festschreibung des generalisierten Vertrauens in die Person des Kaisers gesehen werden könnte.156 Die mangelnde Erfahrung Caligulas und seine Ämterlosigkeit sorgten schlussendlich dafür, dass der Senat seine mangelnde auctoritas durch das Gesetz ausglich und ihm gewissermaßen einen großen Vertrauensvorschuss aussprach. Dies kann zudem als ein erster Schritt in einer fortwährenden Entwicklung des Institutionsvertrauens in das Prinzipat begriffen werden, das sich in der Folge insbesondere im Falle von Verschwörungen gegen den Kaiser greifen lässt, bei denen niemals das Prinzipat selbst in Frage gestellt wurde, sondern stets eine auf dem idealisierten Bild des Augustus beruhende Vorstellung umgesetzt werden sollte.157

4. Auctoritas und Vertrauenskrisen Die Erwähnung von Verschwörungen leitet über zu der Frage, wie sich mögliche Vertrauenskrisen und/oder Vertrauensverluste äußern konnten. Dabei ist zunächst zu beachten, dass aufgrund des asymmetrischen Machtverhältnisses der Kaiserzeit ein Erkennen dieser Vorgänge schwerfällt, da direkte Missfallensäußerungen bzw. eine direkte Benennung eines möglichen Vertrauensverlustes gefährlich werden konnten. Daher erfuhr der Kaiser in der Regel insbesondere auf drei Arten von einem drohenden oder bereits eingetretenen Vertrauensbruch bzw. Verlust seiner auctoritas: Erstens konnten verschiedene Gruppen ihm die Affirmation zu bestimmten Handlungen versagen, wie es im Geschehen um Hortalus bereits deutlich wurde. Zweitens konnten Gerüchte ausgestreut werden und drittens konnte es zum direkten Aufstand gegen den Kaiser kommen. Zur Verdeutlichung des letzten Punktes bietet sich einmal mehr der Bericht des Tacitus über den Beginn der Herrschaftszeit des Tiberius mit den Unruhen bei den Legionen in Pannonien und Germanien als Beispiel an, die zudem zwei unterschiedliche Modi im Umgang mit Vertrauenskrisen darstellen. Der vordergründige Auslöser der Unruhen in Pannonien158 war die Forderung nach Auszahlung ausstehenden Soldes und nach fristgemäßer Entlassung aus dem

156 Siehe dazu Timpe 1962, S. 75; zurückhaltender Barrett 2015, S. 78–80. 157 Siehe dazu unten. 158 Tac. ann. 1,16–30.

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Dienst, jedoch gab es diese Probleme bereits länger.159 Viel konkreter schienen daher die Sorge der Soldaten über ihre Lage nach dem Tod des Augustus und die vermutete Schwäche des neuen Princeps die aktuelle Situation zu verursachen.160 Das generalisierte Vertrauen in Augustus hatte zuvor die Artikulation dieser Forderungen zurückgehalten, Tiberius jedoch verfügte noch nicht über die gleiche auctoritas. Zudem hatte der Tod des Augustus zu einer Komplexitätssteigerung der Situation geführt, was bei den Soldaten Unsicherheit verursachte. Die Situation eskalierte zunehmend, sodass Tiberius schließlich seinen Sohn Drusus nach Pannonien entsandte, um die Situation zu entspannen. Doch auch dieser traf zunächst auf wenig Unterstützung und wurde von den Soldaten festgesetzt, bis eine als ein Omen gedeutete Mondfinsternis diese zum Nachdenken anregte.161 Drusus nutzte die sich andeutende Änderung der Lage und fragte die Soldaten, ob sie wirklich eine andere Person als die Nerones und Drusi als Herrscher haben wollten162, was sie schließlich einlenken ließ. Seine Aussage bedeutet dabei letztlich nichts anderes als die Androhung einer weiteren Komplexitätssteigerung der Situation, bei einem gleichzeitigen Angebot einer auf Vergangenheitsbindung beruhenden Komplexitätsreduktion (die Leistungen der Nerones und Drusi der Vergangenheit machten gemäß der exempla-Tradition die Handlungen ihrer Nachkommen in der Zukunft kalkulierbar). Der drohende Komplettverlust des Vertrauens wird hier somit durch eine direkte Thematisierung der Konsequenzen (Komplexitätssteigerung) vermieden. Anders gestaltete sich die Situation in Germanien163, da die Soldaten hier zwar aus den gleichen Gründen rebellierten, mit Germanicus jedoch einen direkten Blutsverwandten des Augustus als Alternative zu Tiberius an der Hand hatten, der sich auf eine ähnliche Vergangenheitsbindung wie der Kaiser beziehen konnte. Germanicus weigerte sich jedoch, gegen Tiberius aufzubegehren, und versuchte die Soldaten zunächst mit einer Rede, in der er die Verbindung zwischen Tiberius und Augustus betonte,164 und dann mit Entgegenkommen bei zentralen Forderungen zu besänftigen.165 Erst als beides fehlschlug und die Situation weiter eskalierte, entschied er sich dazu, seine Frau, deren Abstammung von Augustus im Narrativ besonders betont wird, und seine Kinder aus dem Heerlager zu entfernen.166 Erst dieser demonstrative Entzug des Vertrauens seinerseits brachte die Soldaten zur Räson, insbesondere, weil sie die verwandtschaftliche Beziehung zu Augustus und damit die besondere Vertrauenswürdigkeit der Familie des Germanicus bedachten. 159 So schreibt z. B. Tac. ann. 1,16,1, der Aufstand sei nullis novis causis ausgebrochen. Eine der Ursachen für die Beschwerden lag vermutlich in der Verlängerung der Dienstzeit der Legionäre durch Augustus zehn Jahre zuvor. 160 Siehe Tac. ann. 1,16 f. 161 Tac. ann. 1,24–28. 162 Tac. ann. 1,28. 163 Tac. ann. 1,31–49. 164 Tac. ann. 1,34 f. 165 Tac. ann. 1,36 f. 166 Tac. ann. 1,40–44.

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Germanicus wandte dabei in gewisser Weise einen umgekehrten Wirkmechanismus zur Taktik des Vertrauensaufbaus durch Explikation an, die von Jan Timmer beschrieben wird.167 Die Frage nach der Vergangenheitsbindung spielte letzten Endes auch im Bereich der als Vertrauenskrisen gedeuteten Aufstände bzw. bei der Rückgewinnung von Vertrauen eine entscheidende Rolle. Dabei ist zudem bemerkenswert, dass nahezu alle Umsturzpläne in julisch-claudischer Zeit nicht auf eine Änderung der Regierungsform, sondern auf einen Ersatz des herrschenden Kaisers durch eine näher am Idealbild des Augustus operierende Person abzielten. Der Wunsch nach Komplexitätsreduktion bei der Wahl eines Nachfolgers und der Bewertung der von ihm zu erwartenden Herrschaftsweise sorgte dafür, dass die Vergangenheitsbindung an den ersten Kaiser eine das System des Prinzipates stabilisierende und damit zu Systemvertrauen äquivalente Funktion einnahm. Eine Schuld an der negativ rezipierten Situation hatte somit nicht das System, sondern die Person des Herrschers. Eine Voraussetzung für die offene Wendung gegen den Kaiser stellten hingegen gewissermaßen die Gerüchte bzw. der sogenannte Klatsch dar.168 Sie dienten der sozialen Kontrolle und waren eine Vorstufe zur Sanktion, wenn ein Abweichen von der Norm beobachtet wurde. Ihre potentiell rufschädigende Wirkung konnte dabei auch selbst bereits eine Sanktion bedeuten, insbesondere dann, wenn sich die Akteure zum Handeln gezwungen sahen. Zudem konnten Gerüchte eine gruppenintegrierende Wirkung besitzen, indem sie Normen festigten bzw. Konsens und die Zugehörigkeit zur Gruppe anzeigten. In asymmetrischen Machtgefügen boten sie ferner eine der wenigen Möglichkeiten zur Subversion. Zu beachten ist jedoch, dass Gerüchte auch ganz ohne gesellschaftliche Funktion, beispielsweise als Ausgleich für bzw. Reaktion auf fehlende Informationen, entstehen können.169 Über die Ausformungen und Auswirkungen von Gerüchten in der Kaiserzeit wurde bereits vielfach geforscht und insbesondere auch die Herrschaft des Nero behandelt.170 Da für die Zeit des Claudius und des Caligula kaum Gerüchte überliefert sind, soll an dieser Stelle einmal mehr Tiberius bzw. das Narrativ der tiberischen Zeit bei Tacitus als Fallstudie dienen. Insgesamt finden sich dort 31 Fälle, in denen mit dem Wort fama oder rumores gekennzeichnete Gerüchte auftreten, die sich in fünf Hauptkategorien einteilen lassen: Herrschaftsantritt, Ende des Germanicus, Sejan, die Herrschaftslegitimation des Tiberius und Sonstiges.171 Es fällt auf, dass die ersten vier Punkte besonders neuralgische Episoden der Frage nach Ver-

167 Timmer 2017, S. 252–254. 168 Zum Folgenden siehe ebd., S. 209–219. 169 In einem Informationsvakuum erhält jede Information einen hohen Wert – und sei es ein Gerücht. Auch hier kann jedoch ein Vertrauensverlust einen Weg zur Glaubwürdigkeit der Information geebnet haben. Siehe Kapferer 1996, S. 33–35. 170 Siehe vor allem Flaig 2003. 171 Unter die letztgenannte Kategorie fallen Gerüchte, die entweder rein aufgrund mangelnder Informationen entstanden sind (z. B. Tac. ann. 1,69), oder Gerüchte, die ein fremdes Volk betreffen (Tac. ann. 4,24) und daher für das Thema keine weitere Aussagekraft besitzen.

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trauen und auctoritas darstellen, sodass die Untersuchung der Kontrollfunktion von Gerüchten hier besonders ergiebig scheint. Beim Herrschaftsantritt des Tiberius beispielsweise verraten Gerüchte, die auf seine mangelnde Selbstbeschränkung hinweisen172, deutlich deren eine normative Divergenz anzeigende Funktion, die ihrerseits Auswirkungen auf die Frage der auctoritas nehmen konnte. Ein weiteres Gerücht dreht sich um die Frage, ob Augustus von Livia ermordet wurde, Gerede, das partiell aufgrund fehlender Informationen zustande kam173, aber auch ein Anzeichen für Zweifel an der tatsächlichen Berechtigung der auf Augustus bezogenen Vergangenheitsbindung des Tiberius sowie seiner moralischen Eignung für das Herrscheramt sein kann. Tiberius ging im Wesentlichen gegen diese Gerüchte vor, indem er betont herausstellte, den angesprochenen Werten sowie der pietas gegenüber Augustus verpflichtet zu sein. Das Verdeutlichen der Divergenz erfüllte hier also seinen Zweck. Auch der Tod des Germanicus zog zahlreiche Gerüchte nach sich. Wenngleich sich ein Großteil gegen Piso richtete und insbesondere den vermuteten Mord an Germanicus imaginierte174, fanden sich auch immer wieder Stimmen, die eine Beteiligung des Kaisers vermuteten.175 Diese vermochten es, Tiberius so stark unter Druck zu setzen, dass er trotz der Hoffnung, er könne sich über die Gerüchte hinwegsetzen, die Entscheidung in dem Fall an den Senat abtrat.176 Die Gerüchte gegen den Kaiser, angeheizt durch die Differenzen zwischen Tiberius und Germanicus und durch geringen Informationsfluss begünstigt, zeigen eine vermutete Divergenz des Tiberius von der pietas gegenüber der domus Augusta bzw. den Nachkommen des Augustus an.177 Angesichts der hohen Bedeutung der Vergangenheitsbindung allgemein und speziell der Bindung an Augustus konnte dies gravierende Konsequenzen für die auctoritas des Tiberius haben. Seine Antwort darauf war zum einen eine demonstrative Neutralität bei der Verhandlung, durch die er seine Verbindungen zu Piso negierte, und zum anderen eine wieder verstärkte Bezugnahme auf die augusteische Zeit, mittels derer er seine Vergangenheitsbindung stärkte.178 Trotz allem schaffte Tiberius es nicht, die Gerüchte endgültig zu beseitigen. Auch das Ende des Sejan wurde von vielen Gerüchten begleitet, die sich jedoch größtenteils gegen den Prätorianerpräfekten richteten.179 Dennoch wird klar, dass die Episode unabhängig von der Frage, ob Sejan tatsächlich einen Umsturz plante oder nicht, zu einem Kristallisationspunkt für die Unzufriedenheit mit dem nicht mehr in 172 Tac. ann. 1,4,3. 173 Tac. ann. 1,5,1. 174 Siehe z. B. Tac. ann. 2,76; 3,9,1; 3,14,5. 175 Siehe z. B. Tac. ann. 2,55; 3,10,2. 176 Tac. ann. 3,16 (ohne das Wort fama oder rumor). 177 Dies zeigt sich auch bei dem Vorwurf mangelnden Schmuckes beim Begräbnis des Germanicus (siehe Tac. ann. 3,4–6). 178 So verwies er etwa im Falle der ihm vorgeworfenen mangelnden Trauer um Germanicus auf Augustus’ zurückhaltende Trauer beim Tod seiner Enkel (siehe Tac. ann. 3,6). Vgl. auch die Bedeutung der moderatio im Senatus consultum de Gnaeo Pisone Patre. 179 Siehe z. B. Tac. ann. 4,41; 6,23,2.

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Rom weilenden Kaiser und zum Ausdruck seiner schwindenden auctoritas wurde. Dies wird nicht nur von Sueton angedeutet180, sondern auch in einem gegen Tiberius zielenden Gerücht deutlich181, gemäß dem Gaetulicus, sich auf seine Beliebtheit verlassend, Tiberius einen Brief schrieb, in dem er angab, sich nur auf Anweisung des Kaisers mit Sejan verschwägert zu haben. Da der Kaiser nun auch in Sejan geirrt habe, dürfe auch er (Gaetulicus) nur bestraft werden, wenn der Kaiser sich selbst bestrafe. Tatsächlich bestrafte Tiberius Gaetulicus nicht, auch weil er sich bewusst gewesen sei, dass seine Herrschaft mehr auf fama denn auf vis beruhe. Wenngleich hier ohne Zweifel die negative Sicht des Tacitus auf Tiberius durchschlägt, trifft der Geschichtsschreiber einen wunden Punkt: Das Fernbleiben des Tiberius aus Rom und die prinzipielle Verweigerung seiner Partizipation an der Kommunikation mit den Senatoren untergruben das Prinzip der vorgespiegelten Egalität und verstießen zugleich gegen die Grundlagen der augusteischen Herrschaftsführung. Dies musste Konsequenzen für die Perzeption der tiberischen Legitimationsstrategien und mithin für seine auctoritas haben. Dies schlägt sich auch in dem Gerücht um den in der gleichen Zeit auftretenden falschen Drusus nieder182, dessen Erfolg nur zu erklären ist, wenn er von verschiedenen Gruppen als positives Gegenbild zu Tiberius gesehen und mit seiner Person die Verheißung verbunden wurde, er werde die an den Princeps herangetragenen Wünsche erfüllen. Leider äußern sich die Quellen kaum zu Tiberius’ Reaktion auf das schwindende Vertrauen, wenngleich auffällig ist, dass Valerius Maximus in seiner Beschreibung der Machenschaften des Sejan deutlich auf Augustus verweist.183 Es liegt nahe, dass Tiberius hier ein weiteres Mal die Vergangenheitsbindung einsetzte. Insgesamt konnten Gerüchte folglich zur Anzeige von Vertrauensverlust dienen, wobei insbesondere die Rückbindung der eigenen Handlungen des Princeps an die Vergangenheit und an Augustus als ein wesentlicher Faktor zur Rückgewinnung des Vertrauens festgehalten werden kann.

5. Fazit Abschließend konnte eine fortlaufende Bedeutung der auctoritas in den zeitgenös­ sischen Quellen der julisch-claudischen Zeit herausgearbeitet werden. Sie äußerte sich zwar weniger in einer häufigen Verbindung der Eigenschaft mit dem Kaiser selbst, doch ist diese bei einer Deutung der auctoritas als Autorität und damit als Macht, die auf generalisiertem Vertrauen beruht, auch nicht zu erwarten. Gerade eine solche Bedeutung konnte jedoch insbesondere für die Fälle der Verbindung der aucto­ritas mit Einzelpersonen bestätigt werden, wobei in der diachronen Perspektive ein Rückgang der Erwähnungen der auctoritas senatus zugunsten der auctoritas 180 Suet. Tib. 65. 181 Tac. ann. 6,30. 182 Tac. ann. 5,10. 183 Val. Max. 9,11 ext.4.

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von Einzelpersonen zu konstatieren ist. Zur Gewinnung von auctoritas war es entscheidend, Beschränkungen der eigenen Macht durch Sach-, Sozial- und Vergangenheitsbindungen deutlich zu machen. Insbesondere Letztere spielten eine entscheidende Rolle bei der Generierung und Akkumulation von auctoritas durch die Kaiser nach Augustus. Am Beispiel des Tiberius konnte gezeigt werden, dass das junge System des Prinzipats noch über wenig Systemvertrauen verfügte, weshalb der Kaiser zunächst Vertrauen in seine Person und seine Herrschaftsführung etablieren musste. Die Vergangenheitsbindung hatte hierbei die größte Bedeutung, da eine Anbindung an Augustus im Rahmen der römischen exempla-Tradition eine gute Herrschaft erwarten ließ und Komplexität reduzierte. Der Kaiser übernahm somit nicht das Charisma oder die auctoritas von Augustus, sondern nutzte die Erinnerung an diesen zur Gewinnung eigener Autorität. Dies erhöhte die Bereitschaft, dem Kaiser einen Vertrauensvorschuss zu gewähren, der sich in der anfänglichen Akzeptanz seiner Herrschaft äußerte. Zugleich setzte es die Kaiser unter Druck, ihre Herrschaft tatsächlich nach dem Beispiel des Augustus zu führen, wobei ein Abweichen von der erwarteten Rolle eine Vertrauenskrise bzw. negative Reaktionen der Akzeptanz verleihenden Gruppen in Form von Affirmationsverweigerungen, Gerüchten oder sogar Verschwörungen nach sich ziehen konnte.184 Eine gängige Reaktion auf diese Formen der Anzeige von Vertrauensverlust stellte einmal mehr die Rückbindung an die Vergangenheit dar. Der geringe Abstand der eigenen Zeit zu der des Augustus bedingte dabei eine noch unvollständige Verankerung seiner Person im kollektiven Gedächtnis, weshalb die Rezeption und die Deutung der exempla Augusti stetig diskutiert wurden. Dies ließ die Frage der Vergangenheitsbindung zu einem Teil eines nicht formalisierten Aushandlungssystems werden, das den für die kaiserliche Akzeptanz maßgeblichen Gruppen Raum für Einflussnahmen auf die Regierung des Kaisers gab. In der Summe wurde das sich konstituierende Idealbild des Augustus schließlich zunehmend mit der optimalen Form des Prinzipats gleichgesetzt, sodass auch das Systemvertrauen in diese Herrschaftsform zu einem Gutteil auf den Mechanismen der Vergangenheitsbindung basierte. Insgesamt erweist sich somit die Analyse der auctoritas unter besonderer Berücksichtigung der Vertrauensforschung als ein überaus geeignetes Instrument der Erfassung von Herrschafts- und Legitimierungsstrukturen der frühen Kaiserzeit.

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Teil II: „Vertrauen auf dem Prüfstand und Skalierungen der Vertrauenserosion“

Gerüchte, Ruf und Vertrauen im Athen des 5. Jahrhunderts v. Chr. Christopher Degelmann Der Athener Kimon war einer der bedeutsamsten Politiker und Heerführer seiner Heimatpolis im 5. Jahrhundert v. Chr.1 Besonders die Zeit zwischen den Perserkriegen und dem sogenannten Ersten Peloponnesischen Krieg dominierte der Sohn des Marathonsiegers Miltiades, sodass die Forschung zuweilen von einer ‚kimo­ nischen Ära‘ spricht. Als Abkömmling der einflussreichen Philaiden wurde Kimon seit 478 immer wieder zum Strategen gewählt. Dabei befehligte er die Truppen des Attisch-Delischen Seebunds bei allen wichtigen Feldzügen in den folgenden Jahren.2 Eine durch innenpolitische Gegner Kimons forcierte Anklage wegen Bestechlichkeit wurde 463 noch abgewiesen.3 Auf sein Betreiben planten die Athener ein Jahr später, Sparta bei der Niederschlagung des Heloten-Aufstands zu unterstützen, doch die Lakedaimonier wiesen das Kontingent der Athener überraschend ab. Kimon verlor

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Der Beitrag ist ein erster Versuch, mein Habilitationsprojekt (freilich exemplarisch) zu skizzieren. Ich danke den Herausgebern ebenso wie den Organisatoren und Teilnehmern der diesem Band zugrundeliegenden Tagung für ihre Diskussionsfreude sowie Doris Fleischer, Christian Mann und Jan Meister für die Kommentierung früherer Versionen des Textes. Zudem bin ich den Mitgliedern des ERC-Grants Honour in Classical Greece (no. 741084) zu Dank verpflichtet, die mir während eines von der Alexander von Humboldt-Stiftung geförderten Aufenthalts in Edinburgh mit zahlreichen Hinweisen zur Seite standen. – Die griechischen Texte sind der Loeb Classical Library entnommen; alle Jahreszahlen beziehen sich auf die Jahrhunderte vor Christi Geburt.

Mit Ath. pol. 26,1 galt Kimon der Forschung lang als spartafreundlicher Konservativer, der die Interessen der Elite vehement gegen die Demokratie vertrat. Neuere Untersuchungen haben dieses Bild jedoch schon vor einigen Jahren gründlich revidiert; vgl. Stein-Hölkeskamp 1999; dies. 1989, S. 212–215, und nun Zaccarini 2017. Sie zeigen auf ganz unterschiedliche Weise, dass Kimons Status als Proxenos der Spartaner (Theop. BNJ 115 F 88) und seine persönlichen Beziehungen nach Lakedaimon seine politische Agenda nicht beeinflussten. Im Gegenteil zielte sein Verhalten auf eine Erweiterung des Seebundes und des athenischen Einflusses in die nördliche und östliche Ägäis ab; vgl. Steinbrecher 1985, speziell S. 155–163, sowie nun ‚slightly different‘ Zaccarini 2017. Die große Generosität gegenüber seinen Demengenossen (Theop. BNJ 115 F 89; vgl. F 135; Gorg. 82 B 20 Diels–Kranz; Plut. Kimon 10,1–9), öffentliche Bauten und ihre Motive (Plut. Kimon 4,5; 13,6 f.) ebenso wie die ostentative Überführung der angeblichen Gebeine des Theseus von Skyros nach Athen (Plut. Kimon 8,5 f.) sind explizit auf den Demos bezogen und schwerlich oligarchisch; zur ‚Volksnähe‘ auch Mann 2007, S. 112. Kimons Karriere ist demnach exemplarisch für das irreführende Raster der Athenaion Politeia, die einen strukturellen Gegensatzes zwischen Aristokraten und Demokraten in die athenische Geschichte des 5. Jahrhunderts projiziert; womöglich war diese Sicht durch Theop. BNJ 115 F 90 beeinflusst. 2 Thuk. 1,98–101; eine Liste bei Stein-Hölkeskamp 1999, S. 148; vgl. Steinbrecher 1985. 3 Demosth. or. 23,205; Plut. Kimon 14,3–15,1; vgl. Mann 2007, S. 48 f., und Zaccarini 2017, S. 174–177, der am Prozess zweifelt; eine interessante Mittelposition vertritt Oranges 2013.

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daraufhin das Vertrauen seiner Mitbürger,4 und seine Ostrakisierung für das Folgejahr war besiegelt.5 Als er vor Ablauf der üblichen zehn Jahre nach Athen zurückkehren durfte,6 vermittelte er einen Frieden mit Sparta und begleitete die Kampagne zur Rückeroberung Zyperns, ehe er dort überraschend starb.7 Offenkundig lernte Kimon die Klaviatur der attischen Demokratie zu spielen, durch die ein Aristokrat auch im demokratischen Athen eine herausragende Stellung erreichen konnte.8 Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass Kimon nicht allein politischen Attacken wie Anklage und Ostrakophorie ausgesetzt war. Durch seine Prominenz wurde auch sein Privatleben zum Gegenstand der öffentlichen Debatte, die zusätzlich von seinen politischen Gegnern geschürt wurde. Neben der angeblichen Lakonophilie Kimons ist vielleicht der Vorwurf des Inzests mit Elpinike am bekanntesten.9 Noch an der Wende vom 5. zum 4. Jahrhundert wird in der Andokides zugeschriebenen und für Übungszwecke konstruierten Rede gegen Alkibiades von dem Grund berichtet, der zur Verbannung Kimons geführt haben soll. Der Redner wendet sich dabei in der Volksversammlung mit den folgenden Worten an seine attischen Mitbürger: Erinnert euch auch an eure Vorfahren, wie trefflich und vernünftig sie waren, dass sie Kimon wegen unrechten Handelns ostrakisiert haben, weil er nämlich mit seiner Schwester geschlechtlichen Umgang pflegte (συνῴκησε).10

Der hier erhobene Inzest-Vorwurf gegenüber Kimon und seiner Schwester sei es gewesen, der die Athener dazu veranlasst habe, ihren erfolgreichsten Feldherren zu exilieren. Von der Forschung ist diese Begründung seit jeher zurückgewiesen worden; Unsittlichkeit sei keine hinlängliche Ursache einer Verbannung. Jedoch sollte man die Nachricht des anonymen Verfassers, der die letzte Ostrakophorie des

4 Thuk. 1,102; Plut. Kimon 16,8–17,2; vgl. Zaccarini 2017, S. 199–203 und Mann 2007, S. 47–74, zur allgemeinen politischen Lage jener Jahre; etwa dem sogenannten  – ausgesprochen unsicheren – ‚Sturz des Areopags‘. 5 Plat. Gorg. 516 d; Plut. Kimon 15,3; 17,3; vgl. Zaccarini 2017, S. 199–203. 6 Im Ersten Peloponnesischen Krieg soll Kimon bei Tanagra erschienen sein, um seine Landsleute beim Kampf gegen die Spartaner zu unterstützen. Obwohl man ihn abwies, kämpften seine prospartanischen hetairoi, so die Überlieferung, tapfer an der Seite der Athener. Ob er für seinen Einsatz mit einer vorzeitigen Rückberufung belohnt wurde, lässt sich aufgrund der literarischen Tradition nicht mit Sicherheit sagen; vgl. Theop. BNJ 115 F 88; Plut. Kimon 17,4–9; Perikles 10,1–6; vgl. Zaccarini 2017, S. 215–220. 7 Thuk. 1,112,4; And. 3,3; Aischin. leg. 172; vgl. Zaccarini 2017, S. 220–225. 8 Zur Rolle prominenter Vorfahren im demokratischen Athen vgl. Tiersch 2010, S. 79–83. 9 Zu Elpinike Davies 1971, Nr. 4578; schon Wilamowitz-Möllendorff 1877, S. 339 f., 363–365, und Beloch 1914, S. 159, halten das für üble Nachrede; vgl. Zaccarini 2017, S. 35 f., mit Literatur und Ramón Palerm 2007. 10 [And.] 4,33 (Übers. Heftner): ἀναμνήσθητε δὲ καὶ τοὺς προγόνους, ὡς ἀγαθοὶ καὶ σώφρονες ἦσαν, οἵτινες ἐξωστράκισαν Κίμωνα διὰ παρανομίαν, ὅτι τῇ ἀδελφῇ τῇ ἑαυτοῦ συνῴκησε. Zur Stelle und ihrer Datierung siehe ausführlich Heftner 2002, besonders S. 307–309.

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Hyperbolos miterlebt haben dürfte,11 nicht für Unkenntnis der politischen Praxis oder Ignoranz gesellschaftlicher Normen halten. Nimmt man die Notiz ernst, dann spiegelt sich darin die politische Bedeutung von Klatsch wider. Die ältere Forschung hat Klatsch als Hindernisse einer faktenorientierten Geschichtsschreibung verstanden; dazu widmete man sich ihm lediglich, um den wahren Kern eines Berichts freizulegen.12 Spätere Studien ordneten Gerede als Mittel der sozialen Kontrolle ein, das die Wertvorstellungen der Polis aufrechterhalte.13 Darauf aufbauend hat man bemerkt, dass gerade benachteiligte und unterdrückte Gruppen wie Sklaven oder Frauen durch Klatsch ein Mittel besaßen, das ihnen politischen Einfluss ermöglichte.14 Andere Ansätze verstehen Geschwätz als Spiegel antiker Mentalität: Was war denk- und sagbar im antiken Stadtstaat?15 Für die Art und Weise der Argumentation durch Gerüchte interessieren sich Studien zur politischen Kommunikation, nehmen aber vor allem das 4. Jahrhundert in den Blick.16 Der folgende Beitrag widmet sich daher Gerüchten und Klatsch in der politischen Kultur des 5. Jahrhunderts.17 Dort stößt (verleumderisches) Gerede in einer oral geprägten Gesellschaft ohne Massenkommunikationsmittel und bei hoher Bevölkerungsdichte auf besonders fruchtbaren Boden.18 Konkreter will der Beitrag den Zusammenhang von Hörensagen und politischer Deliberation in der ersten Demokratie der Weltgeschichte ergründen, und wie man sich gegen üble Nachrede zur Wehr setzen konnte. Nach ersten Überlegungen zu den Orten, an welchen Gerüchte im demokratischen Athen verbreitet wurden, wendet sich die Untersuchung dem Fallbeispiel Kimon und Elpinike zu. Es wird sich zeigen, dass Klatsch im klassischen Athen große politische Wirkmacht entfalten konnte. Beim Getratsche über einen so herausragenden Akteur wie Kimon berührte das Gerede den Ruf der Betroffenen und die öffentliche Meinung, somit aber auch den politischen Willensbildungsprozess, den die Protagonisten zu beeinflussen suchten. In einem Zwischenschritt werden kurz die Räume der Meinungsbildung vermessen. Daraus lässt sich dann ableiten, dass Gerüchte im klassischen Athen ein Indikator öffentlicher Meinung waren. Vor diesem Panorama wird diskutiert, welche Maßnahmen man gegen Verleumdung 11 Zur umstrittenen Datierung zwischen 416 und 413 v. Chr. siehe Heftner 2000a; ders. 2000b, S. 34 Anm. 10. 12 Dazu kritisch Lewis 1996; dies. 1995; ferner Vidal-Naquet 2001. 13 Hunter 1994, S. 96–119; dies. 1990; Schmitz 2004, S. 273–276. 14 McHardy 2018; Eidinow 2016; Gottesman 2014. 15 Vor allem mit Blick auf Rom Guastella 2017; Kyriakides 2016; Hardie 2012; ferner Neubauer 2009, S. 28–78. 16 Matuszewski 2019, S. 276–289; Gottesman 2014; Ober 1989; Gotteland 2001; dies. 1997; die Ausnahme zum 5. Jahrhundert bildet Mann 2007, der sich aber nicht explizit Gerüchten, sondern der „Imago“ einzelner Akteure widmet. 17 In vielen – auch klassisch gewordenen – Arbeiten wird das Thema gestreift; vgl. exemplarisch Cohen 1991; Dover 1974 und selbst Hansen 1995. Auch jüngere Studien haben die Bedeutung des Hörensagens betont, obwohl es nicht ihr Gegenstand ist; siehe beispielsweise Jordović/ Walter 2018, S. 12 f., oder Piepenbrink 2019, S. 63–65. 18 Ober 1989, S. 148, sieht Klatsch gerade als das Massenmedium jener Jahre an.

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ergreifen konnte; dabei wird sich Vertrauen durch Sichtbarkeit als das probateste Mittel gegen Gerüchte erweisen.

1. Zur Erforschung von Gerüchten und Klatsch im klassischen Athen Da ein Vorschlag in der Volksversammlung moralisch mit der Person verbunden war, die ihn einbrachte, wurde das Private in der attischen Anwesenheitsgesellschaft,19 in der die Exponenten einander kannten und gekannt wurden, rasend schnell politisch.20 Gespräche über politische Akteure waren an der Tagesordnung; das galt insbesondere für die Kampagnen im Vorfeld der Ostrakophorie. Man informierte sich über die Absichten eines Politikers oder hatte ihn seit jeher im Auge, und man konnte ihn auf dieser Grundlage gezielt diffamieren. Die Phase zwischen der sechsten Prytanie, in der man über die Notwendigkeit eines Ostrakismos befand, und der achten, in der über unerwünschte Personen abgestimmt wurde, war eine Zeit, in der man die gesamte schmutzige Wäsche, die man gegen Rivalen auffinden konnten, in Umlauf brachte. So streute Themistokles 483 wahrscheinlich genau in diesen Wochen gezielt Gerüchte (logoi) über Aristeides, der daraufhin das Vertrauen der Athener verlor und verbannt wurde.21 Auch die ländlichen Dionysien und die Lenäen mit ihren Komödienaufführungen fielen in diesen Zeitraum, sodass manche Invektive in den Stücken nicht verwundern mag, erhöhte sie doch Prominenz und Gefährdung unliebsamer Akteure.22 Reputation und Geschwätz waren demnach auf das Engste miteinander verzahnt. Wie dicht sich die Griechen den Zusammenhang zwischen persönlichem Prestige, Gerede und öffentlicher Wahrnehmung vorstellten, zeigt der Begriff pheme, denn dieser bezeichnete nicht nur das Gerücht, sondern auch das Renommee einer Person.23 So greift Andokides in seiner Rede über die Mysterien den Sohn des Hippo19 Vgl. grundlegend Schlögl 2011; zur Ablehnung einer face-to-face-society siehe Ober 1989, S. 31–33; nun Fraß 2018, S. 34–43; 211 f. und passim. 20 Zum Verhältnis privat-öffentlich, das in der Scheidung des Privaten vom Politischen anklingt, siehe Cohen 1991, speziell S. 70–97 und passim; bündig Piepenbrink 2013 sowie für Rom grundsätzlich Winterling 2005. 21 Plut. Aristeides 7,1: Aristeides strebe eine Tyrannis an und habe mit seiner ‚Gerechtigkeit‘ schon die Judikative suspendiert; die fragliche Anekdote wird vielleicht durch zwei Ostraka bestätigt; vgl. Brenne 2002, T1/37 f. 22 Vgl. Brenne 1994, S. 13, und nun mit Vehemenz Węcowski 2018, S. 159–213, 319 f.; einen Forschungsüberblick bietet Mann 2007, S. 58–73; zum Komödienspott Plat. apol. 18 d; Aristot. rhet. 2,6,20. 23 Pheme ist erstmals in dieser Doppelbedeutung (trotz Hom. Od. 2,34; 20,100; 105) bei Hes. erg. 760–763 belegt; ähnlich Aischyl. Choeph. 1045; vgl. Pind. O. 7,10; Hdt. 1,31,4; Thuk. 1,11,2; zudem Aischin. Tim. 127 als locus classicus; ferner Isokr. or. 1,43; 4,186; 5,78; 134; Plat. rep. 463 d; leg. 935 a; vgl. etwa Mann 2016; Alwine 2015, S. 108–111; Larran 2011, S. 12 und passim; Gotteland 1997, S. 91–95; dies. 2001, S. 268 f.; das ist auch jenseits der Altertumskunde gesehen worden: Froissart 2010, S. 47–61; Neubauer 2009, S. 13 f. Neben pheme stehen im 5. Jahrhundert vor allem phatis (Aischyl. Pers. 227; Suppl. 294; Ag. 9; 276; 611; 1132; Hdt. 1,60; Soph. Ai. 186; 826; 850; 977; Ant. 829; Oid. T. 151; 715; Hdt. 1,222; Eur. Hipp. 130; Hel. 251;

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nikos und Enkel der Elpinike, Kallias (III), heftig an, weil er trotz verwandtschaftlicher Beziehungen gegen ihn ausgesagt hatte. Dazu gehört eine Geschichte, die den 430er oder 420er Jahren angehören dürfte: Wenn ihr an die Zeit denkt (μέμνησθε), als […] Hipponikos der reichste Grieche war, so wisst ihr (πάντες ἴστε), dass damals bei den kleinsten Kindern und den Frauen in der ganzen Stadt ein Gerede herumging (κληδὼν κατεῖχεν): Hipponikos habe in seinem Haus einen bösen Geist, der sein Vermögen zugrunde richte. […] Was aber meinte diese pheme?24

Die Pointe war, dass der Sohn des Hausherrn den Dorn im Fleisch des oikos darstellte, denn Kallias galt als großer Verschwender. Noch über 20 Jahre danach sei den Bewohnern Athens diese pheme des Kallias geläufig (pantes iste) gewesen. Wichtiger scheint jedoch, dass klar zu erkennen ist, wie im Umlauf befindliches, informelles Wissen den Ruf einer Person konstituiert. Das Gerücht ist der unterstellte Glauben der anderen.25 Die schlechte pheme des Kallias wird durch das Bild allgemeiner Bekanntheit – selbst bei Kindern und Frauen – vermittelt. Der Zusammenhang von Gerede und Reputation macht es möglich, nicht den Wahrheitsgehalt eines Gerüchts zu untersuchen, sondern seine Verwendung, die in aller Regel auf die moralische Bewertung eines Akteurs abzielte. Gerade herausragende Akteure der ersten historisch greifbaren Demokratie waren ebenso von Gerüchten betroffen wie Nutznießer eines unentwegten Stadtgesprächs. Bei den attischen Rednern werden Vorwürfe gegen die eigene Person stets als üble Nachrede (diabole), Verunglimpfung (kakologia) oder Verleumdung (blasphemia) abgetan, während man den Gegnern Schmähung (loidoria) und die Verbreitung von Klatsch (logopoiia) unterstellt. Allerdings lässt sich pheme häufig nur kursorisch greifen. Mitunter versperren antike Termini sogar den Blick, denn sie müssen als Kampfbegriffe im politischen Diskurs gelten,26 während nicht selten logos27 oder andere

24

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Ion 225; Aristoph. Av. 924; ferner Pind. P. 1,96; 3,112), aber auch baxis (Aischyl. Ag. 10; 477; Soph. Ai. 494; 998; El. 638; 642; 1006; Eur. Suppl. 641; Hel. 224; 351) und kledon (Aischyl. Ag. 863; Choeph. 853; Hdt. 9,101; Soph. El. 1110; Oid. K. 258) für Gerücht, betonen aber je nach Kontext andere Facetten der Erscheinung – etwa Nachrichtenwert, Geschwindigkeit der Informationsübermittlung oder göttlichen Einfluss – und weniger den Doppelcharakter; zu den verschiedenen Nuancen umfassend Larran 2011, der auch ossa und kleos behandelt. And. 1,130 f. (Übers. Becker): εἰ γὰρ μέμνησθε, ὅτε […] Ἱππόνικος δὲ ἦν πλουσιώτατος τῶν Ἑλλήνων, τότε μέντοι πάντες ἴστε ὅτι παρὰ τοῖς παιδαρίοις τοῖς μικροτάτοις καὶ τοῖς γυναίοις κληδὼν ἐν ἁπάσῃ τῇ πόλει κατεῖχεν, ὅτι Ἱππόνικος ἐν τῇ οἰκίᾳ ἀλιτήριον τρέφει, ὃς αὐτοῦ τὴν τράπεζαν ἀνατρέπει. […] πῶς οὖν ἡ φήμη ἡ τότε οὖσα δοκεῖ ὑμῖν ἀποβῆναι; Zu Kallias (III) nun Marginesu 2016, speziell S. 93–101 zum Disput mit Andokides; vgl. ferner Pind. I. 4,22, der den Ruhm (phama) des Melissos von Theben verkündet. Vgl. Neubauer 2009, S. 11 f.: Gerücht ist, „was man solches bezeichnet“ und „von dem man sagt, dass es alle sagen“; ähnlich Froissart 2010, S. 23–46. Zum Kampf um Deutungshoheit durch den Begriff des ‚Gerüchts‘ siehe Froissart 2010, S. 7–20. Vgl. Hdt. 6,121,1 mit Hdt. 6,123 f. oder Thuk. 1,91,1 f.; ferner Plut. Aristeides 7,1.

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allgemeine Wendungen wie ‚ich habe gehört‘28, die kaum systematisch zu erfassen sind, Klatsch markieren.29 So findet sich bei Andokides neben der pheme auch die rhetorische Figur des ‚jeder weiß‘.30 Folglich sind Definitionen, denen das Paradigma des Informationsmangels oder Wissensaustauschs innewohnt, wenig zielführend, obwohl ein Nachrichtendefizit Gerede stets begünstigt.31 Klatsch ist vielmehr eine Form der Kommunikation über einander bekannte Personen, die sich stets auf eine von ihnen beziehe, die allen bekannt sei und gleichsam auch alle Beteiligten kennen müsse, während diese Person in der Situation, in der geklatscht werde, nicht anwesend sein dürfe.32 Der Nachrichtenwert ist eher Spielball des Geredes denn sein definitorisches Element, Aufmerksamkeit dagegen die eigentliche Währung – gerade im Politbetrieb. Für Gerüchte gilt diese Deutung umso mehr, weil sie nicht an Personen gebunden sind; sie stellen eine „Reproduktion von Kommunikation durch Kommunikation“ dar, „und dies umso stärker, je mehr Personen davon betroffen oder daran interessiert sind“.33 Das Wechselspiel zwischen sozialer Kontrolle, Gerede und Ansehen spiegelt sich auch in Luhmanns Verständnis öffentlicher Meinung wider: Sie sei die Beobachtung der Beobachtung innergesellschaftlicher Systemgrenzen – etwa der Politik durch die Medien und vice versa; die Bereiche eines Systems, von denen das System durch das Beobachten anderer Systeme annehme, dass sie von anderen Systemen beobachtet würden, gelten als relevant für die öffentliche Meinung. Daher

28 Vgl. etwa Thuk. 6,17,6 mit Thuk. 6,20,2, wo Alkibiades und Nikias jeweils das Gegenteilige über Sizilien ‚gehört haben‘ wollen; dazu auch bündig Degelmann 2020. 29 Dazu Hunter 1994, S. 102; weitere methodische Hürden, denen der begrenzte Rahmen dieses Beitrages leider Grenzen setzt, bespricht Besnier 2019 (z. B., wie man Gerüchte überhaupt identifizieren kann, wenn keine Signalwörter wie die eben genannten Begriffe und Wendungen erscheinen). 30 Aristot. rhet. 3,7,7 rät, auf diese Weise auf Gerüchte anzuspielen (Übers. Krapinger): „Einen gewissen Eindruck auf die Zuhörer machen auch Wendungen, die die Redenschreiber (λογογράφοι) bis zum Überdruss gebrauchen, wie: ‚Wer weiß denn nicht?‘ (τίς δ᾽ οὐκ οἶδεν;) und: ‚Alle wissen‘ (ἅπαντες ἴσασιν). Der Zuhörer stimmt aus Scham zu, um auch daran teilzuhaben, was alle anderen wissen.“ Vgl. zum ‚Jeder weiß‘-Argument zuletzt Canevaro 2019, speziell S. 151–155, aber auch schon Ober 1989, S. 149 f. 31 Vgl. Allport/Postman 1947 (mit der markanten Formel Gerüchte R ergeben sich aus dem Produkt von Relevanz I und Mehrdeutigkeit einer Situation A: R = I × A); Shibutani 1966 (improvised news); Kapferer 1997 und Neubauer 2009; ferner Bloch 1921; dagegen Froissart 2010 (‚Gerücht‘ als evaluativer Kampfbegriff). Zur Forschung und zu ihren Themen vgl. Merten 2009, S. 17–26; zum Klatsch basal Gluckman 1963 und Spacks 1986. 32 Vgl. Bergmann 1987, S. 67; siehe auch Kieserling 1998; Besnier 2009; einführend auch Besnier 2019. 33 Beides Merten 2009, S. 40 (kursiv im Original); Froissart 2010, S. 23–46, dagegen bezweifelt, ob man das Gerücht überhaupt positiv definieren kann, weil es nicht von anderen Formen der Kommunikation abzugrenzen sei. Daher werden im Folgenden ‚Gerede‘, ‚Geschwätz‘, ‚Klatsch‘ und ‚Tratsch‘ sowie ‚Gerücht‘ und ‚Hörensagen‘ auch nicht scharf voneinander geschieden, obwohl die beiden letzten Begriffe eher die unpersönliche Seite jener kommunikativen Erscheinung betonen; vgl. Bergmann 1987, S. 96.

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agiere man in jenen Bereichen so, dass die eigene Observation antizipiert werde.34 Das lässt sich auch in Athen beobachten. Aischylos etwa legte keiner geringeren Autorität als Agamemnon auf die Klage seiner Frau Klytaimnestra, er brauche als König keine Rücksicht auf anderer Befindlichkeiten nehmen, die vorsichtigen Worte in den Mund: „Die Stimme, die das Volk erhebt (φήμη δημόθρους), hat große Macht!“35 Um dem in der folgenden Zeile befürchteten Neid zu entgehen, so wäre fortzufahren, bedürfe es vielmehr des Vertrauens des Demos, der komplexe politische Konstellationen nicht durchschauen könne.36 Informationsdefizite, unzulänglicher Informationsfluss oder massive Normtransgressionen verursachen, dass immer bereits bestehendes Gerede neues Gerede hervorbringe und zum Gerücht anwächst, das Immunisierungsstrategien gegen seine Widerlegung und damit verbundene Entkräftungsversuche entwickelt, indem bei Bedrohungen seiner Gültigkeit z. B. Verschwörungen kolportiert werden.37 Zu den Sicherungsmechanismen von Gerüchten zählt zudem ihre geschützte Struktur; man erfährt von ihnen stets über ‚Freunde von Freunden‘, wodurch niemand – ähnlich dem Jeder-weiß-Topos – für Inhalte belangt werden kann. Dazu passt, dass die jeweilige Information in mehreren Varianten auftritt, Inhalte wie beteiligte Personen vage bleiben. Das eröffnet die Möglichkeit, dass das Gerücht die jeweilige Situation antizipiert, es sich bei Bedarf ihrer Kritik anschließt oder sie gar umschließt. Jedes Dementi verstärkt das Gerücht nicht nur, weil es wiederholt wird, sondern ermöglicht weitere Versionen, die es der Kontrolle noch mehr entgleiten lassen. Schließlich neigt es dazu, weder belegt noch belegbar zu sein, und betrifft in der Regel existenzielle Lebensbereiche, hat also im Gegensatz zum Klatsch eine besondere Relevanz.38 Die sozialwissenschaftliche Gerüchteforschung interessiert sich vor allem für gesellschaftliche Funktionen von Klatsch und Gerücht, ob und inwiefern sie der sozialen Kontrolle dienen. Dabei wird einerseits herausgearbeitet, dass sie Normen setzen und Mitglieder einer Gemeinschaft ebenso überwachen wie zusammenschweißen. Dadurch seien sie Fenster zum Wertekanon und zur Mentalität einer

34 Für die Konzeption von Öffentlichkeit braucht Luhmann eben keine modernen Massenmedien wie Zeitungen, die es in Athen natürlich nicht gab; das unterscheidet ihn von Habermas; vgl. Luhmann 2000, S. 274–318, implizit gegen Habermas 1995 [1962] gerichtet; explizit S. 282; 288 Anm. 27. Öffentliche Meinung ist gerade die Funktion von Öffentlichkeit im Subsystem ‚Politik‘. 35 Aischyl. Ag. 938 (Übers. Werner); vgl. Larran 2011, S. 48 f. und 61 f. mit Aischyl. Ag. 457 f. (φάτις δημοκράντου). Zudem Soph. Ant. 700 (Übers. Willige/Bayer): „So dunkle Rede (φάτις) läuft geheim umher beim Volk.“ Zur Anwendbarkeit der Systemtheorie auf das klassische Athen siehe Mann 2008. 36 Auf Grundlage von Luhmann vgl. Timmer 2017, speziell S. 89–91; auch Timmer 2016, S. 41–45 (besonders S. 44), zu ‚Vertrauen‘ in die Demokratie durch Reduktion von Komplexität; siehe auch Luhmann 2000, S. 169, 259. 37 Zu Verschwörungsdiskursen in Athen siehe Roisman 2006; überhaupt Butter/Knight 2020 zur Konspiration. 38 Zu diesen Eigenheiten des Gerüchts Merten 2009, der aber den Klatsch kategorisch vom Hörensagen trennt und letztlich trotz eines systemtheoretischen Ansatzes nicht auf das ‚Informationsparadigma‘ verzichten will.

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Gesellschaft.39 Andererseits eröffnen Gerüchte marginalisierten Gruppen die Möglichkeit, an Politik und Öffentlichkeit teilzuhaben, da sie nicht Teil eines durch Eliten autorisierten Diskurses seien, sondern diesem mitunter diametral gegenüberstünden.40 Das zeige die subversive Kraft von Gerüchten, bisweilen eine parallele Öffentlichkeit zu hegemonialen Meinungsplattformen zu produzieren. Vor diesem Hintergrund rückten Gerüchte, ihre Entstehung und Auswirkungen auch in den Fokus der Geschichtswissenschaften.41 Für das klassische Athen jedoch scheint die Unterscheidung in eine von der politischen Elite dominierte öffentliche Meinung und eine Gegenöffentlichkeit der einfachen Leute ungeeignet, denn es ist gerade ein Kennzeichen des Politischen, durch das wir die Athener klassischer Zeit spätestens seit Christian Meier42 zu betrachten pflegen, dass es sich öffentlich, für alle sichtbar und im kollektiven Austausch vollzieht.43 Im öffentlichen Raum waren Metöken, Sklaven, Fremde, Frauen und Kinder zugegen, die den politischen Diskurs durch den unablässigen Austausch mit dem politischen Souverän, der aus Walkern, Schustern, Tischlern, Schmieden, Bauern, Kauf- und Marktleuten bestand,44 zumindest indirekt mitbestimmten.45 Die ‚Stimme des Volkes‘ stellt somit die Gesamtheit dieser Diskurse dar.

2. Das Gerede über Kimon und Elpinike Durch zahlreiche Autoren ist fragmentarisch Gerede über die moralische Integrität der großen Akteure des 5. Jahrhunderts überliefert. Diese im Geschwätz transformierten Anfeindungen dürften teils auf deren Gegner, teils auf Eigenheiten des Informationsaustauschs in der Mega-Polis Athen zurückzuführen sein. Häufig mangelte es trotz aller Bemühungen, einen gläsernen Politiker abzugeben, an der Transparenz komplexer Vorgänge und an geeigneten Informationskanälen, die den Erfordernissen einer Polis von der Größe Athens gerecht wurden. Gerüchte hielten vielmehr Einzug in die attische Komödie und andere Genres. Die Viten des Plutarch 39 Ähnlich Bloch 1921, S. 19 f.; ders. 2002, S. 106; einen frühen Forschungsüberblick bietet Raulff 1990, S. 462–470. 40 So für die sogenannte ‚Volkskultur‘ Canevaro 2016; zur Macht der nichtbürgerlichen Schichten siehe darüber hinaus exemplarisch die Arbeiten von Farge 1993, S. 14 f., 100, sowie Scott 1985, speziell S. 283–285; die meisten Studien zur Neuzeit basieren auf Habermas 1995 [1962]. 41 Allein zum republikanischen und frühkaiserzeitlichen Rom vgl. beispielsweise Meister 2018; Rosillo-López 2017, S. 75–97; Courrier 2017; Pina Polo 2010; Flaig 2003; Laurence 1994. 42 Vgl. vor allem Meier 1980, S. 63, 87, 256, zur ‚Öffentlichkeit‘; ebd., S. 30–36, zum Begriff des ‚Politischen‘. 43 Mit knappem Bezug auf Habermas 1995 [1962] legt jetzt Piepenbrink 2019 eine kursorische Annäherung vor; ambivalent zu Habermas’ Öffentlichkeitsbegriff verhält sich Gottesman 2014, S. 4–7, 61; vgl. Azoulay 2011. 44 Xen. mem. 3,7,6; Mansouri 2010, Kap. 4–7; [Xen.] Ath. pol. 10 f. vermag Sklaven nicht von Bürgern zu trennen. 45 Vgl. Ober 1989; Lewis 1995; Vlassopoulos 2007; Mansouri 2010; Forsdyke 2012; Gottesman 2014; Beck 2016.

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leben geradezu von diesen Quellen und konservieren Debatten des 5. Jahrhunderts bis in unsere Tage,46 so auch im Fall der Inzest-Beschuldigungen gegen Kimon und Elpinike, die unterschiedliche Zeithorizonte aufweisen. Spannend ist dabei ein Ostrakon aus dem Kerameikos, das Kimon nicht nur auffordert, die Stadt zu verlassen, sondern zudem empfiehlt, er möge seine Elpinike gleich mitnehmen. Darin schlägt sich nicht nur die öffentliche Wahrnehmung und politische Rolle der Kimon-Schwester nieder, die man als Frau nicht ostrakisieren konnte, sondern darin manifestierte sich womöglich bereits im Ostrakismos von 471 das Hörensagen von der ungebührlichen Beziehung der Geschwister materiell in einem Zeitdokument, bevor sich die politische Situation für Kimon ab 463 zuspitzte.47 Für Elpinikes Zeitgenossen Stesimbrotos, der aus dem von Kimon belagerten Thasos stammte, diente das Gerede etwas später wohl als kleine Rache, indem er es in seine Schriften einfließen ließ, die Plutarch eifrig konsultierte.48 Laut Athenaios wusste auch der nachgeborene Antisthenes von der Sache.49 Etwa zeitgleich streute Eupolis den Stadtklatsch in eine seiner ebenfalls durch Plutarch bezeugten Komödien ein.50 Es folgt das bereits zitierte Zeugnis des Pseudo-Andokides. Während das Ostrakon noch sehr allgemein gehalten ist, präzisiert Stesimbrotos seine Anschuldigung bereits ebenso wie Eupolis, der zudem auf die Lakonophilie Kimons verweist. Antisthenes weiß dann schon von geheimen Abmachungen, die weit über die vorherigen Spekulationen hinausgehen, und der Verfasser der Rede gegen Alkibiades kann das Geschwätz bereits als Fakt darstellen. Allerdings ist das verwandtschaftliche Verhältnis von Kimon und Elpinike unklar. Beide galten als Kinder des Miltiades des Jüngeren, Kimon auch als Sohn der thrakischen Prinzessin Hegesipyle. Die Identität von Elpinikes Mutter hingegen bleibt dunkel, auch wenn man in den Quellen von einer zweiten, attischen Gattin des Miltiades erfährt.51 Im Anschluss an das Gerücht hat die antike Nachwelt 46 Zu Quellenwert und Ehrenrettung Plutarchs vgl. Mann 2007, S. 34–37, und Schmitt Pantel 2009, S. 175–196; Schmitt Pantel 2012, S. 125 mit weiteren Vertretern in Anm. 13 und S. 136– 139; zur Komödie ebenfalls Mann 2007, S. 41–43. 47 Brenne 2018, Nr. 1336: Κίμων | Mιλτιάδō | Ἐλπινίκην | λαβὼν | ἴτω; vgl. umfassend Brenne 2002, T1/67; eine Abbildung bei Brenne 1994, S. 14. 48 Stesimbrotos BNJ 107 F 4 (Übers. Ziegler): „Noch jung wurde er unerlaubten Verkehrs mit seiner Schwester bezichtigt.“ ἔτι δὲ νέος ὢν αἰτίαν ἔσχε πλησιάζειν τῇ ἀδελφῇ. Zeitzeugenschaft und Tendenz des Stesimbrotos sind umstritten; Mann 2007, S. 37 f., schätzt den Quellenwert für Klatsch hoch ein. 49 Antisth. frg. 35 Decleva Caizzi = Athen. deipn. 13,589 e–f (Übers. Friedrich): „Kimon ferner hat gesetzwidrig mit seiner Schwester geschlechtlich verkehrt. Als diese später dem Kallias zur Frau gegeben wurde und Kimon [sc. dafür?] verbannt worden war, nahm Perikles als Preis für dessen Rückkehr die Gunst, mit Elpinike ins Bett zu gehen.“ καὶ Κίμωνος δ᾽ Ἐλπινίκῃ τῇ ἀδελφῇ παρανόμως συνόντος, εἶθ᾽ ὕστερον ἐκδοθείσης Καλλίᾳ, καὶ φυγαδευθέντος μισθὸν ἔλαβε τῆς καθόδου αὐτοῦ ὁ Περικλῆς τὸ τῇ Ἐλπινίκῃ μιχθῆναι. 50 Eupolis F 221 Kassel–Austin (Übers. Weinreich): „Er war kein schlechter Mann, nur weinselig und faul; | Zuweilen legt’ er auch in Sparta sich zu Bett | Und ließ dann seine Elpinike allein.“ κακὸς μὲν οὐκ ἦν, φιλοπότης δὲ κἀμελής: | κἀνίοτ᾽ ἂν ἀπεκοιμᾶτ᾽ ἂν ἐν Λακεδαίμονι, | κἂν Ἐλπινίκην τήνδε καταλιπὼν μόνην. 51 Kimons Mutter in Hdt. 6,39,2; Plut. Kimon 4,1; vgl. Feretto 1986; die andere Gattin bei Hdt. 6,41,2.

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ebenso wie die Forschung immer wieder versucht, die Beziehung der Geschwister zu legitimieren. So argumentierte der Kimon wohlgesonnene Nepos, dass das klassische Athen Beziehungen zwischen Bruder und Schwester akzeptierte, hatten sie nur unterschiedliche Mütter.52 Plutarch berichtet gar von einem ehe(ähn)lichen Verhältnis.53 Ob das der Ehrenrettung diente oder die üble Nachrede des Stesimbrotos reproduzierte, ist schwer zu ermitteln.54 Hier zeigt sich jedoch einer der Immunisierungseffekte des Gerüchts: Wer nur ausreichend sucht, der findet auch rationale Lösungen für unerklärliche Ereignisse. Eine Kränkung bedeuteten solche ‚Geschichten‘ insbesondere, wenn sie nicht der Wahrheit entsprachen. Selbst wenn eine Halbgeschwisterehe legal war,55 galt sie doch als verpönt. Ehrabschneidend war allerdings auch, dass der Vorwurf die defizitäre ökonomische Potenz der hochadligen Familie offenlegte. Dem gemeinsamen Vater Miltiades waren nach seiner gescheiterten Paros-Expedition die Kosten des Abenteuers aufgebürdet worden. Nach dessen Tod ging die finanzielle Bürde auf Kimon über, der sie nicht zu tragen vermochte.56 Daher war die Tochter des Miltiades für ihre peer group keine sonderlich gute Partie, wie Plutarch schreibt. Elpinike brachte zwar familiales Prestige in eine Verbindung ein, jedoch versprach ihre Mitgift dürftig auszufallen. Aus diesem Grund lebte die erwachsene Schwester des Kimon wohl eine geraume Zeit unter dem Dach ihres Bruders.57 Das gab in der auf Sichtbarkeit angelegten Freilichtkultur des klassischen Athens Anlass zur Spekulation. Einfache Beobachter – und das geht weit über die regimentsfähigen Männer hinaus58 – mochten sich nicht vorstellen können, warum eine hochadlige Frau keinen Ehepartner fände. Den Gegnern Kimons spielte dieser Umstand über Jahre hinweg in die Hand. Sie nahmen das Geschwätz der Leute auf und wendeten es gegen ihn, indem sie den beiden Philaiden im Vorfeld jeder politischen Entscheidung eine unredliche Liai52 Nep. praef. 4 (Übers. Pfeiffer): „Deshalb war es für Kimon, einen angesehenen Athener, auch nicht verwerflich, seine Halbschwester zu heiraten (sororem germanam habere in matrimonio), weil diese Sitte bei seinen Mitbürgern durchaus üblich war.“ Zum Kimon-Bild des Nepos siehe Anselm 2004, S. 89–91; zur dort angelegten Episode über die Geschwister dagegen Stem 2012, S. 155–157. 53 Stesimbrotos BNJ 107 F 4 (Übers. Ziegler): „Einige sagen jedoch, Elpinike sei nicht Kimons heimliche Geliebte, sondern öffentlich seine Gemahlin gewesen […].“ εἰσὶ δ’ οἳ τὴν Ἐλπινίκην οὐ κρύφα τῷ Κίμωνι, φανερῶς δὲ γημαμένην συνοικῆσαι λέγουσιν […]. 54 Zu Plutarchs Kimon-Bild siehe auch Tröster 2014. 55 Weitere Belege neben Nepos bei Huebner 2007, S. 44. 56 Hdt. 6,139; Nep. Milt. 7 f.; zu Miltiades und der Paros-Katastrophe siehe zuletzt Meidani 2010. 57 Plut. Kimon 4,3 (Übers. Ziegler): „[Als Miltiades gestorben war], blieb Kimon als ganz junger Mann zurück mit seiner Schwester, die noch ein Mädchen und unverheiratet war, und war in der ersten Zeit wenig angesehen in der Stadt.“ Κίμων δὲ μειράκιον παντάπασιν ἀπολειφθεὶς μετὰ τῆς ἀδελφῆς ἔτι κόρης οὔσης καὶ ἀγάμου τὸν πρῶτον ἠδόξει χρόνον ἐν τῇ πόλει. Hdt. 5,70,1 zeigt, dass solche sexualisierten Gerüchte im 5. Jahrhundert omnipräsent waren (Übers. Feix): „Allerdings machte man dem Kleomenes zum Vorwurf, dass er bei der Frau des Isa­ goras ein- und ausgehe.“ 58 Für einen die agency subalterner Akteure betonenden Ansatz siehe Forsdyke 2012, vor allem S. 150–170, und besonders Vlassopoulos 2007; ferner Farge 1993 und Scott 1985. Ober 1989 dagegen bezieht Gruppen ohne das Bürgerrecht nur sporadisch ein.

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son unterstellten. Besonders während der intensiven Auseinandersetzungen um die Beziehungen zu Sparta und das Verhältnis zwischen Areopag und Ekklesia kochten diese Erzählungen hoch. Ob das Gerede wahr oder falsch war, spielte dabei gerade keine Rolle und zeichnete die pheme aus. Die Annahme einer inzestuösen Beziehung wurde dadurch bestärkt, dass Elpinike regelmäßig öffentlich für ihren Bruder auftrat. Als Kimon angeklagt wurde, Bestechungsgelder von Alexander I. von Makedonien angenommen zu haben, begab sie sich zu Perikles, der sich 463 erste Meriten als Ankläger des angesehenen Feldherrn verdiente. Laut Stesimbrotos wies Perikles die Schwester zwar mit Verweis auf ihr fortgeschrittenes Alter schroff zurück, indem er ihr ein unzüchtiges Angebot unterstellte;59 letztlich unterstützte er jedoch die Anklage gegen Kimon beim Prozess nur halbherzig und die Sache verlief im Sande.60 Schon hier zeigte sich die exponierte Stellung der Philaiden-Tochter, die nach den Quellen ihren Charme, tatsächlich eher Familienprestige und Bildung einzusetzen wusste. Nach Kimons Ostrakisierung soll Elpinike ein zweites Mal mit Perikles verhandelt haben, um die Verbannung aufzuheben.61 Auch nach Kimons Tod pflegte sie Perikles in der Öffentlichkeit zu kritisieren und ihr familiäres Gewicht in die politische Waagschale zu werfen. Nachdem Perikles etwa die Gefallenenrede auf die Toten aus dem Samischen Krieg gehalten hatte, trat er vom Rednerpodest, während ihm die athenischen Frauen huldigten; Elpinike attackierte ihn dagegen scharf, nicht nur den Tod Athener Männer, sondern auch den griechischer Bündner zu verschulden: Fürwahr, Perikles, was du getan, ist herrlich und vieler Kränze wert, hast du uns doch um so manchen wackeren Bürger gebracht, nicht im Kampf gegen Phoiniker und Meder wie mein Bruder Kimon, sondern durch Unterjochung einer verbündeten und verwandten Stadt.62

59 Vgl. zuletzt Lavelle 2014, S. 335 f.; zudem O’Higgins 2003, S. 111–113. 60 Stesimbrotos BNJ F 5 (Übers. Ziegler): „Wo Stesimbrotos von diesem Prozess spricht, erzählt er, Elpinike sei ins Haus des Perikles gegangen, um Fürbitte für Kimon bei ihm einzulegen; denn er war der schärfste Ankläger; und er habe lächelnd gesagt: ‚Du bist zu alt, Elpinike, du bist zu alt, um so große Dinge durchzusetzen.‘ Indes sei er dann bei der Verhandlung Kimon gegenüber sehr mild gewesen und habe sich nur einmal, um den Schein zu wahren, zur Anklage erhoben.“ Ähnlichen Inhalts ist Plut. Perikles 10,6; vgl. Demosth. or. 23,205. 61 Plut. Perikles 10,5 gibt vor, aus älteren Autoren zu schöpfen, nennt aber keine Namen (Übers. Ziegler): „Nach einigen Quellen brachte Perikles den Antrag auf Rückberufung des Kimon erst vor das Volk, als durch Vermittlung seiner Schwester Elpinike ein geheimer Vergleich zwischen ihm und seinem Rivalen zustande gekommen war.“ ἔνιοι δέ φασιν οὐ πρότερον γραφῆναι τῷ Κίμωνι τὴν κάθοδον ὑπὸ τοῦ Περικλέους ἢ συνθήκας αὐτοῖς ἀπορρήτους γενέσθαι δι᾽ Ἐλπινίκης, τῆς Κίμωνος ἀδελφῆς […] Vgl. Antisth. frg. 35 Decleva Caizzi, wo Perikles das Angebot der Elpinike, sich ihm sexuell dienstbar zu machen, annimmt oder es vielleicht sogar einfordert. 62 Plut. Perikles 28,5 f. (Übers. Ziegler): ἡ δ᾽ Ἐλπινίκη προσελθοῦσα πλησίον: ‘ταῦτ’ ἔφη, ‘θαυμαστά, Περίκλεις, καὶ ἄξια στεφάνων, ὃς ἡμῖν πολλοὺς καὶ ἀγαθοὺς ἀπώλεσας πολίτας οὐ Φοίνιξι πολεμῶν οὐδὲ Μήδοις, ὥσπερ οὑμὸς ἀδελφὸς Κίμων, ἀλλὰ σύμμαχον καὶ συγγενῆ πόλιν καταστρεφόμενος. Hier sind keine Authentifizierungsstrategien erkennbar. Vor allem irritiert ein misogynes Archilochos-Zitat, das Perikles erwidert haben soll, aber eher auf die

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Die Anekdote trägt zunächst der durch die Nachwelt konstruierten Figur eines mit den übrigen Hellenen auf Ausgleich bedachten Kimon Rechnung. Allerdings zeigt der Passus, welche Position die Überlieferung Elpinike im Perikleischen Zeitalter zuschrieb. Elpinikes exponierte Stellung kann zum Teil auf ihre Abstammung zurückgeführt werden, die die thrakische Königsfamilie mit der attischen Oberschicht verband, aber auch Schmähungen heraufbeschwor. Ihr eigenständiges Agieren jedoch mochte in der Zeit im Haus ihres Bruders begründet sein; hier verkehrten unentwegt große Persönlichkeiten der athenischen Gesellschaft und konnten von einer unverheirateten Frau studiert werden.63 Nachdem der reiche Kallias (II) sie zur Frau genommen hatte, bezichtigte man Elpinike, mit dem Maler Polygnotos eine Affäre zu haben.64 Der darin zum Ausdruck gebrachte Sexualtrieb einer Frau stellte die Geschlechterrollen auf den Kopf; dem Künstler jedenfalls wird die Liebelei nicht zur Last gelegt. Nun trafen Elpinike auch Angriffe, die nur indirekt mit ihrem Bruder zu tun hatten. Das ergab insgesamt das Bild einer femme fatale.65 Hier zeigt sich nicht nur, dass die an Kimon gerichteten Anfeindungen nun ihrerseits als Attacken auf seine Schwester dienten, sondern ein Normendiskurs über die Frage, was sich für eine attische Frau in der Mitte des 5. Jahrhunderts ziemte.66 Gleichwohl wird der einflussreiche Ehemann Kallias (II)

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unflätige Bemerkung in der oben genannten Kimon-Sache anspielen dürfte; Archil. 205 West (Übers. Ziegler): „Du, ein so altes Weib, bedienst dich noch der Salben.“ οὐκ ἂν μύροισι γραῦς ἐοῦσ᾽ ἠλείφεο. Vgl. Plut. Perikles 10,6, wo Perikles Elpinike ebenfalls als γραῦς bezeichnet. Zum Aufbau der zeitgenössischen Häuser, der Sichtbarkeit im Inneren und der Rolle der athenischen Frauen vgl. Nevett 2011, speziell S. 579–582, mit Lys. 1,9 f.; zum ‚Belauschen‘ etwa Eupolis F 194 Kassel–Austin; Men. Sam. 231–261. Zur Ehe Antisth. frg. 35 Decleva Caizzi; Nep. Cim. 1,3 f. (Übers. Pfeiffer): „Seine Frau (coniugii) begehrte ein gewisser Kallias, der nicht so vornehm, dafür aber sehr reich war und ein großes Vermögen durch die Erzgruben gewonnen hatte. Er verhandelte mit Kimon darüber, ihm Elpinike zur Frau zu geben: Wenn er das erreicht habe, bezahle er für ihn die Geldstrafe. Obwohl Kimon eine solche Abmachung ablehnte, machte Elpinike deutlich, sie werde es nicht zulassen, dass der Sohn des Miltiades im Gefängnis zugrunde gehe, zumal sie es ja verhindern könne. Sie werde Kallias heiraten, wenn er das erfüllt habe, was er versprochen habe.“ Zum Seitensprung siehe Plut. Kimon 4,5 f. (Übers. Ziegler): „Auch sonst soll Εlpinike nicht sehr sittsam gewesen sein, sondern sich auch mit dem Maler Polygnotos vergangen haben. Deswegen soll er auch, als er in der Halle, die damals die des Peisianax, heute Gemäldehalle heißt, die Tro­ erinnen malte, der Laodike die Porträtzüge der Elpinike gegeben haben.“ καὶ γὰρ οὐδ᾽ ἄλλως τὴν Ἐλπινίκην εὔτακτόν τινα γεγονέναι λέγουσιν, ἀλλὰ καὶ πρὸς Πολύγνωτον ἐξαμαρτεῖν τὸν ζῳγράφον: καὶ διὰ τοῦτό φασιν ἐν τῇ Πεισιανακτείῳ τότε καλουμένῃ, Ποικίλῃ δὲ νῦν στοᾷ, γράφοντα τὰς Τρῳάδας τὸ τῆς Λαοδίκης ποιῆσαι πρόσωπον ἐν εἰκόνι τῆς Ἐλπινίκης. Zu Kallias II, dem es keineswegs an Abstammung fehlte, siehe Davies 1971, Nr. 7825. Vgl. Walters 1993, S. 201 f., 208–210, wo die Verunglimpfungen gegen Elpinike gesammelt sind; siehe auch O’Higgins 2003, S. 111–113. Zu den Rollen der Frauen in der attischen Gesellschaft des 5. Jahrhunderts vgl. u. a. Hartmann 2002, die Elpinike aber nur für die Frau des Kimon hält und die Überlieferung auf den Kopf stellt (ebd., S. 69 Anm. 144); zu Gerüchten über Frauen umfassend Eidinow 2016, S. 170–260; vgl. McHardy 2018, die Klatsch als Waffe marginalisierter Akteure, vor allem Frauen (aber auch Sklaven), umreißt; ähnlich schon Osborne 1990 für Sykophanten.

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diskreditiert, der nicht nur Gegenstand des Komödienspotts wurde, sondern auch von der Ostrakisierung bedroht war.67 Cheryl A. Cox vermutet, dass die Generation des Eupolis und Antisthenes die Sache aufwärmte, um die nach wie vor einflussreiche Familie der Kerykes zu diffamieren – vor allem Elpinikes bereits oben erwähnten Enkel Kallias (III).68 Schon die spätere Überlieferung war sich jedenfalls des verleumderischen Charakters dieser Beschuldigungen bewusst. So vermerkt ein Scholiast zu Aelius Aristeides nicht nur, dass er den Inzest für unwahr hält, sondern zudem, wohin er den Vorwurf zurückzuverfolgen gedenkt: Didymos sagt, dass er [sc. Kimon] nicht zu den Spartanern hielt, aber dass er mit seiner Schwester Elpinike schlief. Verantwortlich für diese Verleumdungen (τῆς διαβολῆς) sind die Komiker, und allen voran Eupolis in seinem Werk Poleis.69

Wie Didymos wiederum auf Grundlage des Eupolis70 zu der Annahme kam, der Vorwurf der Lakonophilie sei falsch, der des Inzests aber wahr, bleibt verborgen. Sowohl bei Eupolis als auch Didymos wird aber jede Nähe zu Sparta gescholten, die den Nährboden für weitere Unterstellungen bereitete und insbesondere in der Zeit des Peloponnesischen Krieges virulent wurde. Nur in Verbindung miteinander wurde das Gerede aus seinem niederschwelligen in einen politischen Resonanzraum überführt und verdichtete sich zum politischen Gerücht.71

3. Die städtische Gerüchteküche Woher dieses Stadtgespräch rührte, lässt sich nicht mehr eruieren. Jedoch sollte man eine Wechselwirkung zwischen gestreuten Geschichten politischer Rivalen einerseits und den Erklärungsversuchen einfacher Bürger sowie subalterner Gruppen wie Sklaven oder Metöken für das lange Zusammenleben der Geschwister andererseits annehmen. Jenes „Wissen der Straße“72 ist in höchstem Maße auf die münd67 Kratinos F 12 Kassel–Austin (vgl. Aristodemos BNJ 104 F 1; Plut. Aristeides 5,6); Brenne 2018, Nr. 1081–1093. 68 Cox 1989; zu Kallias (III) s. o. Anm. 24; auch Hipponikos (Davies 1971, Nr. 7826) soll Ziel der Meinungsmache gewesen sein; er lebte allerdings zum Zeitpunkt der Schriften nicht mehr. 69 Aristeid. schol. 515 Dindorf (eigene Übers.): Δίδυμος δέ φησιν οὐκ ὅτι ἐλακώνιζεν, ἀλλ᾽ ὅτι Ἐλπινίκῃ τῇ ἀδελφῇ συνῆν. αἴτιοι δὲ τῆς διαβολῆς οἱ κωμικοὶ, καὶ μάλιστα Εὔπολις ἐν Πόλεσι. Die Stellung des οὐκ ist etwas undurchsichtig; es wird nicht ganz klar, ob es sich auf das von Didymos Gesagte oder den Vorwurf der Lakonophilie bezieht. Wäre das Erstere der Fall, so wäre Sparta bei ihm kein Thema gewesen, sondern nur der Inzest. Mit Bezug auf Eupolis wird aber wohl beides angesprochen sein. 70 Eupolis F 221 Kassel–Austin; s. o. Anm. 50. 71 Ein ähnlicher Ansatz zur Entstehung und Verbreitung von Gerüchten bei Shibutani 1966 und Flaig 2003. 72 Bei Meier 1980, S. 241, 339, 396, mit Max Weber als „nomologisches Wissen“ bezeichnet; vgl. Sobak 2015.

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liche Verbreitung von Informationen angewiesen, was nicht nur den Gebrauch, sondern gerade die Geburt von Gerüchten aus dem Geiste der Spekulation und Denunziation befördert. Einerseits sind es Kneipen, Schuster und Barbierstuben, von denen es heißt, sie seien neben der Agora die beliebtesten Plattformen des Austauschs über andere Personen.73 Dabei ist anzunehmen, dass antike Autoren diese Milieus gezielt als Horte von Unwahrheiten diffamierten, denn dort verkehrten nicht nur ehrbare Bürger.74 Es waren vor allem subalterne Angehörige der Polis, die sich an solchen Orten tummelten: Metöken, Sklaven und Fremde, denen man alles Schlechte zutraute und mit denen man nichts zu schaffen haben wollte. Das galt in erster Linie für die weit von der Agora entfernten Viertel, von denen Herakleides Kritikos andeutet, sie seien des berühmten Athens unwürdig: „Die Stadt ist allerdings ganz trocken, schlecht bewässert und aufgrund ihres Alters arg verwinkelt. Die meisten Häuser sind minderwertig, wenige von Nutzen.“75 Hans Beck hat auf dem Historikertag 2016 betont, wie engmaschig das soziale Informationsnetz dieser Kieze war76 und dazu ein spannendes Alltagszeugnis angeführt: Ich verfluche den Ladenbetreiber/Schankwirt Kallias, der einer meiner Nachbarn ist, und seine Frau, Thraitta; und die Kneipe (καπηλεῖον) des kahlköpfigen Mannes und die Kneipe des Anthemion nahe des [unleserlich] und den Ladenbetreiber/ Schankwirt Philon. […] Ich verfluche Sosimenes, seinen (?) Bruder; und seinen Sklaven Karpos, den Stoffverkäufer, und auch Glykanthis, die die Sanfte genannt wird, und auch den Sklaven des Sosimenes, Agathon, den Ladenbetreiber/Schankwirt. […] Ich verfluche meinen Nachbarn Kittos, den Holzrahmenhersteller […]. Ich verfluche die Schankwirtin Mania in der Nähe des Brunnens und die Kneipe des Aristandros aus Eleusis […] die Sklaven des Aristandros77 73 Dazu insbesondere Lewis 1995; dies. 1996, S. 15–18; nun auch Matuszewski 2019, S. 27–63; Gottesman 2014, S. 55–63; Mansouri 2010; Vlassopoulos 2007; ferner Sobak 2015, S. 682–697; 705 f. 74 Vgl. zu einzelnen Gewerben kritisch Matuszewski 2019, der einen Wandel der Akzeptanz solcher Örtlichkeiten ab den 390er Jahren feststellen will. 75 Vgl. Herakleides Kritikos 1,1 (Übers. Arenz): ἡ δὲ πόλις ξηρὰ πᾶσα, οὐκ εὔυδρος, κακῶς ἐρρυμοτομημένη διὰ τὴν ἀρχαιότητα. αἱ μὲν πολλαὶ τῶν οἰκιῶν εὐτελεῖς, ὀλίγαι δὲ χρήσιμαι […]. Siehe auch unten Lys. 24,20. 76 Vgl. Beck 2016; vgl. dazu auch Gottesman 2014, besonders S. 44–76, wo verschieden zusammengesetzte Clubs und Ladenlokale als Orte der Kommunikation subalterner Gruppen besprochen werden. Allerdings betont Gottesman Unterschiede zwischen institutionellem und extrainstitutionellem Wissen der Volksversammlung bzw. der ‚Straße‘ (ebd., S. 1–25), die kaum zu halten sind; vgl. die Rezension von M. Canevaro, Classical Review 67 (2017), S. 1–3. 77 Bleitafel aus Attika (spätes 4. Jahrhundert), 41 × 4 cm, in elegant ausgeführter Handschrift, gefaltet und mit einem Nagel durchstochen; Fundort unbekannt; SEG 37, 216 (eigene Übers.): (recto) Καταδῶ Καλλίαν: τὸν κάπηλον τὸν ἐγ γειτόνων καὶ τὴν γυναῖκα αὐτοῦ/Θρᾶιτταν: καὶ τὸ καπηλεῖον τὸ φαλακροῦ καὶ τὸ Ἀνθεμίωνος καπηλεῖον τὸ πλησίον Δ.Α. . Ο. Η | καὶ Φίλωνα τὸν κάπηλον· […] | Καταδῶ Σωσιμένην τ[ὸν] ἀδελφόν: καὶ Κάρπον τὸν οἰκότην αὐτοῦ τὸν σινδο[νο]πώλην καὶ Γλύκανθιν ἣν καλοῦσι Μαλθάκην: καὶ Ἀγάθωνα τ[ὸ]ν κάπηλον | [τ]ὸν Σωσιμένους οἰκότην: τούτων πάντων καταδῶ: […] | Καταδῶ Κίττον τὸν γείτονα τὸν

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In den wenigen Zeilen spannt sich ein dichtes Netz sozialer Beziehungen auf, das Licht auf die dunklen Zwischenräume bürgerlicher Existenz wirft.78 Nur ein Akteur wird qua Demotikon als Athener Bürger ausgewiesen; daneben kommen zahlreiche Metöken, die als persönlich frei und damit geschäftsfähig gelten, sowie deren Sklaven zu fragwürdigen Ehren. Sogar zwei Frauen, von den sich wohl eine prostituierte – der Name deutet darauf hin –, werden erwähnt. Die Machtlosigkeit jenes anonymen Autors gegenüber den Kiezbewohnern manifestiert sich im Fluch. Gegen einzelne Akteure, nicht aber gegen eine gesamte Nachbarschaft halfen verleumderische Beschuldigungen. Allerdings war diese Form der Genese von Gerüchten nicht auf verfemte Umgebungen beschränkt. In den Phratrien und Phylen, Demen, Komen und Oben (später zudem in den Vereinen) konnte man ähnliche Mechanismen beobachten, auch wenn sich die Quellenlage dürftig gestaltet. Dort kamen Menschen ständig zusammen, um sich auszutauschen.79 Einen Anhaltspunkt, welchen Stellenwert diese Organisationseinheiten einnahmen, bietet Lysias, dessen Sprecher sich unter den Angehörigen der Deme Dekeleia über die Identität des wegen Bürgerrechtsverletzung angeklagten Pankleon erkundigt: Ich ging aber und fragte bei dem Barbier in der Straße der Hermen nach, wo sich die Leute aus Dekeleia treffen, und befragte alle Dekeleier, die ich nur finden konnte, ob sie etwa einen Demen-Genossen aus Dekeleia namens Pankleon kannten.80

Jene Demenmitglieder hoffte er insbesondere beim Barbier anzutreffen, wo diese zu verkehren pflegten. In der Tat wussten die nichts Gutes über Pankleon zu berichten, so jedenfalls Lysias. In einem zweiten Schritt trat er an die Plataier heran, zu denen der Angeklagte zu zählen vorgab.81 Diese wiederum sammelten sich am letzten Tag eines jeden Monats am Käsemarkt. Wenn dort keiner etwas wisse, so einige Plataier, könne Pankleon keiner von ihnen sein.82 Inwiefern den Angaben des Lysias, der die

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καναβιο(υ)ργὸν καὶ τέχνην τὴν Κίττου […] | Καταδῶ Μανίαν τὴν κάπηλιν τὴν ἐπὶ κρήν(η)ι καὶ τὸ καπηλεῖον τὸ Ἀρίστανδρος Ἐλευσινίου καὶ ἐργασίαν αὐτοῖς […] | (verso) τοὺς Ἀριστάνδρου οἰκέτας. Vgl. Thesaurus Defixionum Magdeburgensis 202; Gager 1992, Nr. 62. Dazu nun Matuszewski 2019, passim; ein ganz anderes Bild von Öffentlichkeit skizziert Hölscher 1998. Vgl. Hölscher 1996, vor allem S. 173 f.; zum Gerede als Mittel der sozialen Kontrolle in kleinen Gemeinschaften siehe Schmitz 2004, S. 273–276, der die Arbeit von Schulte 1985 konsultiert, jedoch die produktive Kraft von Klatsch nicht berücksichtigt. Lys. 23,3 (Übers. Treu): ἐλθὼν ἐπὶ τὸ κουρεῖον τὸ παρὰ τοὺς Ἑρμᾶς, οἷ Δεκελειεῖς προσφοιτῶσιν, ἠρώτων, οὕς τε ἐξευρίσκοιμι Δεκελειέων ἐπυνθανόμην εἴ τινα γιγνώσκοιεν Δεκελειόθεν δημοτευόμενον Παγκλέωνα. Vgl. IG II2 1237, Z. 63 f. für alternative Treffpunkte der Demenangehörigen. Zu den Demen siehe zumindest Funke 2003, S. 214–219, oder umfassend Whitehead 1986; für Pankleon auch ebd., S. 85 und 226; Sobak 2015, S. 682–690. Die Plataier wurden während des Peloponnesischen Kriegs aus ihrer Heimatstadt vertrieben und erhielten aus Dank für ihre Treue das attische Bürgerrecht; vgl. Demosth. or. 59,104 f.; Isokr. or. 4,109; 13,94; 14,13. Lys. 23,5 f.; dazu auch Matuszewski 2019, S. 68 Anm. 288 mit weiterer Literatur; Fraß 2018, S. 208–211; Jones 1990, S. 83–86; Jones vermerkt auch, dass Vereine im 5. Jahrhundert noch keine politische Rolle spielten (ebd., S. 9).

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Sache seines Auftraggebers vertrat, zu trauen ist oder die Dekeleier und Plataier vielleicht eine eigene Agenda verfolgten, um Pankleon zu diffamieren, lässt sich kaum noch beurteilen. Wichtiger scheinen die Räume und Kreise zu sein, in denen man erwartete, Erzählungen über einzelne Akteure in Erfahrung zu bringen. Umgekehrt kann man sich gut vorstellen, wie Lysias’ Sprecher mit seinen Nachfragen gerade Zweifel am Status des Pankleon pflanzte und seinerseits Gerede befeuerte. Aber auch in der Volksversammlung, in den Gerichten und im Rat begegnete man unentwegt dem ‚Gerede der Leute‘83  – entweder aufgrund mangelnder Informationskanäle, da man den Redner schlecht verstand und sich das Argument selbst zurechtlegte, oder weil dieser gezielt auf Hörensagen abhob. Damit legte er den Grundstein einer Weitergabe jener Informationen an die Haushalte der Stadt, wo die Vollbürger ebenfalls besonders Gehör fanden. Von dort gelangte die Botschaft in die Gassen der subalternen Gruppen und mitunter auf ein Ostrakon wie das gegen Kimon und Elpinike. Eine Einbahnstraße war dieser Nachrichtenfluss nicht, denn aus diesen Räumen bezogen Gegner ihr Material, das sie in den politischen Institutionen, im Theater oder bei religiösen Festen einbrachten – und sei es durch die mit Wein gelockerte Zunge eines Sklaven, der seinen kyrios tagein, tagaus begleitete.84 So attackiert Eupolis in dem im Jahr 421 auf die Bühne gebrachten Marikas den Demagogen Hyperbolos, der im koureion durch stilles Dasitzen und Zuhören mehr gelernt habe als in der Volksversammlung.85 Ob schicklich oder nicht, scheint diese Praxis doch Erfolg gezeitigt zu haben. Das hier skizzierte Wechselspiel zwischen Gerüchten von ‚unten‘ und von ‚oben‘ sei nachdrücklich betont.86

4. Gerüchteprävention: Vertrauen durch Sichtbarkeit Vor den Verleumdungen der politischen Konkurrenten war man nie gefeit, denn sie gehörten nicht nur zum rhetorischen Standardrepertoire,87 sondern die Mittel, sich zur Wehr zu setzen, boten kaum Abhilfe. So war eine durch das attische Recht seit Solon vorgesehene Klage wegen Beleidigung (κακηγορία) zwar möglich, wärmte die Sache aber erneut und nun vor einer institutionalisierten Öffentlichkeit auf. Das

83 Zu einer gerüchthaften Diskussion in der Ekklesia vgl. skizzenhaft Degelmann 2020. 84 Bei Aristoph. Ran. 741–753 ergötzt sich ein Sklave an seinem Wissen über den Herrn und droht es auszuplaudern; vgl. Eidinow 2016, S. 188 Anm. 37; Lewis 1996, S. 21. 85 Eupolis F 194 Kassel–Austin (eigene Übers.): „Viel habe ich in den Barbierläden gelernt, | während ich wie abwesend dasaß und nichts wahrzunehmen schien.“ καὶ πόλλ᾽ ἔμαθον ἐν τοῖσι κουρείοις ἐγὼ | ἀτόπως καθίζων κοὐδὲ γιγνώσκειν δοκῶν. Vgl. Ober 1989, S. 148 f., und Sobak 2015, S. 695–697 mit Anm. 56, wo der Sklavenstatus des Marikas diskutiert wird; ‚Lauschen‘ auch bei Men. Sam. 231–261. 86 Vgl. Gottesman 2014, S. 153: „It is impossible to know which came first, the speech or the gossip.“ Das geht weit über das hinaus, was z. B. Farge 1993, oder Scott 1985, über die Verwendung von gossip durch nichthegemoniale Gruppen zu sagen haben. 87 Zur sog. ethopoiia vgl. umfassend Adamidis 2016, besonders S. 55–89 und S. 169–191.

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reproduzierte das Gerede nur, bot Anschlusskommunikation und konnte nicht im Interesse der Betroffenen sein.88 Allerdings konnte man versuchen, dem Klatsch in den Gassen präventiv beizukommen. Zahlreiche Redner klassischer Zeit heben darauf ab, dass ein anständiger Bürger den Austausch und die Öffentlichkeit suchte. Pseudo-Demosthenes attackiert Aristogeiton scharf dafür, dass dieser – anders als die übrigen Bürger – die Agora weder für private noch für öffentliche Angelegenheiten frequentiere. Er verbringe auch keine Zeit beim Barbier, in der Parfümerie oder irgendeinem anderen Geschäft, wo man mit ihm in Kontakt treten könne, sondern schlängele sich in der Absicht über die Agora, anderen zu schaden; das mache ihn asozial, unstet und unzivilisiert; daher kenne er auch weder Mitgefühl noch Freundschaft oder sonst eine menschliche Regung.89 Hätte sich Aristogeiton nach den Maßstäben der pseudo-demosthenischen Rede verhalten, so gäbe es keinen Anlass zur Beschwerde. Seine Verweigerung, an bürgerlicher Kommunikation zu partizipieren, so die implizite Botschaft, sei aber an und für sich verdächtig. Ein guter Bürger habe nichts zu verbergen und keine Geheimnisse, sei quasi transparent; alles an Nachricht teile er mit der Polis.90 Eine frühe Rede des Lysias (um 403) bestätigt diese Sicht: Jeder von euch pflegt zu irgendeinem zu gehen, der eine zur Parfümerie, der andere zum Barbier, der dritte zum Schuster, oder wohin er gerade geht und am meisten zu den Läden, die nahe bei der Agora aufgebaut sind, am wenigsten zu den am weitesten entfernten. […] ihr alle seid es doch gewohnt, irgendwo umherzugehen oder abzuhängen.91

88 Daher ist ein Dementi eine denkbar schlechte Strategie, einem Gerücht entgegenzutreten; vgl. Merten 2009, S. 39 f.; zur Option der Klage in Athen siehe Wallace 1994 mit Lys. 10 und Leão/ Rhodes 2016, S. 50–53, zu Solon. 89 Vgl. Demosth. or. 25,52: ἀλλὰ πορεύεται διὰ τῆς ἀγορᾶς, ὥσπερ ἔχις ἢ σκορπίος ἠρκὼς τὸ κέντρον, ᾁττων δεῦρο κἀκεῖσε, σκοπῶν τίνι συμφορὰν ἢ βλασφημίαν ἢ κακόν τι προστριψάμενος καὶ καταστήσας εἰς φόβον ἀργύριον εἰσπράξεται. οὐδὲ προσφοιτᾷ πρός τι τούτων τῶν ἐν τῇ πόλει κουρείων ἢ μυροπωλίων ἢ τῶν ἄλλων ἐργαστηρίων οὐδὲ πρὸς ἕν: ἀλλ᾽ ἄσπειστος, ἀνίδρυτος, ἄμεικτος, οὐ χάριν, οὐ φιλίαν, οὐκ ἄλλ᾽ οὐδὲν ὧν ἄνθρωπος μέτριος γιγνώσκων. Dazu Sobak 2015, S. 691–693; vgl. allein für Barbiere als Plattform des Meinungsaustausches Lys. 23,3; Aristoph. Av. 1439–1441; Plut. 335–342; Eupolis F 194 Kassel–Austin; Theop. BNJ 115 F 283b; Theophr. char. 11,8; Men. Sam. 510–513; ferner Charon von Lampsakos BNJ 262 F 1. 90 Vgl. Hunter 1994, S. 98, 106–108; dies. 1990, S. 312; zur Bürgeridentität durch Performanz jetzt Duplouy 2018. 91 Lys. 24,20 (mod. Übers. Treu): ἕκαστος γὰρ ὑμῶν εἴθισται προσφοιτᾶν ὁ μὲν πρὸς μυροπώλιον, ὁ δὲ πρὸς κουρεῖον, ὁ δὲ πρὸς σκυτοτομεῖον, ὁ δ᾿ ὅποι ἂν τύχῃ, καὶ πλεῖστοι μὲν ὡς τοὺς ἐγγυτάτω τῆς ἀγορᾶς κατεσκευασμένους, ἐλάχιστοι δὲ ὡς τοὺς πλεῖστον ἀπέχοντας αὐτῆς· […] ἅπαντες γὰρ εἴθισθε προσφοιτᾶν καὶ διατρίβειν ἁμοῦ γέ που. Vgl. Sobak 2015, S. 694 f.

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Sich zu zeigen und zugänglich zu sein, stiftete einen Teil der bürgerlichen Identität, die sich in Vertrauen niederschlug.92 Diese interpersonelle Facette von Vertrauen hilft vor dem Hintergrund geteilter Normen und Werte, Interaktion zu erleichtern, indem quasi präreflexiv angenommen wird, dass das Gegenüber keine bösen Absichten hege oder gar ähnliche Interessen verfolge. Diese sehr grobe Absicht dürfte ihren kleinsten gemeinsamen Nenner im Gemeinwohl der Polis gefunden haben. Insofern spielen auch überpersonelle Aspekte eine Rolle: einerseits, dass das Gemeinwesen den Einsatz des Individuums für die übergeordnete Sache verdiene, andererseits, dass einzelne Interessensgruppen – seien es Institutionen oder Hetairien – ihre Ziele nicht über die Sache der Polis stellten.93 Vertrauen aufzubauen und auch zu konservieren, indem man unablässig präsent war, gab das probateste Mittel gegen Tratsch ab. Wie tief diese Notwendigkeit in das Bewusstsein der politischen Klasse Einzug gehalten hatte, zeigt eine Anekdote, die Plutarch von Nikias berichtet.94 Der Feldherr und Politiker fürchtete sich vor Sykophanten95, die drohten, gegen ihn Klage zu erheben. Nach einem erfolgreich geführten Prozess konnten diese berufsmäßigen Ankläger hoffen, einen Teil der verhängten Geldstrafe oder gar des gesamten Vermögens des Verurteilten als Belohnung zu erhalten. Um Verleumdungen zu entgehen, soll Nikias Gastmähler mit Mitbürgern gemieden und dem geselligen Verkehr allgemein aus dem Weg gegangen sein. Als Magistrat hielt er sich vornehmlich in den Amtsräumen auf und wartete die Nacht für den Heimweg ab, um niemandem zu begegnen. Wenn er kein öffentliches Amt bekleidete, blieb er daheim und ließ sich verleugnen. Jedoch erregte gerade dieses Verhalten Verdacht. Daher sorgte Nikias dafür, dass seine Deutung der öffentlichen Abstinenz auch bekannt wurde: „Leute, welche an seine Tür kamen, empfingen die Freunde und baten, Nikias zu entschuldigen, weil er auch jetzt durch

92 Mann 2016 sieht dazu – mit Jon Hesk – eine rhetorische Minderung sozialer Distanz zwischen Demos und Redner am Werk (rhetoric of anti-rhetoric), nennt aber mit Alkibiades selbst das erfolgreiche Gegenbeispiel. 93 Zu jenen Aspekten der heuristischen Figur ‚Vertrauen‘ Timmer 2017, S. 9–30, besonders 20 f.; ders. 2016, S. 35 f., 41. Timmer nimmt auch an, dass das Vertrauen in Personen, Institutionen und die Demokratie insgesamt im 4. Jahrhundert aufgrund neuer Kontrollmechanismen (graphe paranomon etc.) sogar noch zunahm. 94 Vgl. Plut. Nikias 5 mit Geske 2005, S. 75–77; Marasco 1977, S. 75–84; ferner Mann 2007, S. 106 f. 95 Dazu grundlegend Osborne 1990, der einerseits herausarbeitet, dass die Sykophantie ein wichtiges Kontrollinstrument gegenüber wohlhabenden Familien war, um die Demokratie zu schützen. Andererseits betont er, dass die Bezeichnung ‚Sykophant‘ ein rhetorisches Kampfmittel darstellte und der Vorwurf der verleumderischen Anklage auch gegen Redner, Zeugen und rechtmäßige Kläger erhoben wurde, um sie zu diskreditieren; vgl. etwa Demosth. or. 55. Osborne (ebd., S. 88) sieht aber Nikias’ Angst vor Sykophanten kritisch; zumindest lassen sich aus Thukydides keine konkreten Anzeichen für die Zeit des Archidamischen Krieges entnehmen (Geske 2005, S. 10 Anm. 9), was nicht heißt, dass es die Furcht nicht gab oder die von Plutarch berichtete Episode nicht in die Zeit des Friedens fiel.

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gewisse amtliche Aufgaben und Geschäfte ganz in Anspruch genommen sei.“96 Insbesondere ein gewisser Hieron, ein im Haus des Nikias aufgewachsener Sklave mit höherer Bildung, verbreitete Geschichten (logoi), Nikias mühe sich ständig für das Gemeinwesen ab und werde selbst beim Bade oder beim Mahl immer mit öffentlichen Angelegenheiten überfallen. Darüber vernachlässige er seine Gesundheit und sein privates Umfeld, sodass er seine Freundschaften und sein Geld für die Politik hingebe, anstatt sich selbst zu bereichern. Nikias’ Plan, dem Gerede durch Unsichtbarkeit zu entgehen, ging nur bedingt auf. Zahlreiche von Plutarch zitierte Komiker-Stellen zeigen, dass Nikias’ Furcht vor Denunziation selbst Stadtgespräch war.97 Man hat es also mit Gerede über die Angst vor dem Gerede zu tun, wenn man erfährt, wie Nikias seinen Ruf zu schützen suchte.98 Interessant ist dabei die Figur des Hieron. Mehrere Redner berichten, wie politische Exponenten versuchten, Einfluss auf die öffentliche Meinung zu nehmen, indem sie logopoioi einsetzten; das waren Personen, die eine Geschichte – wahr oder falsch – in bestimmten Räumen und Zirkeln platzierten. Dazu suchten sie Agora und umliegende Geschäfte auf, wo sie reichlich Gesprächspartner antrafen. Über einen schlechten Leumund verfügten sie nicht nur, weil sie persönlich Abhängige waren und Befehle empfingen, sondern auch, weil ihre Dienste stets abgestritten und den politischen Kontrahenten unterstellt wurden. Deinarch etwa kritisiert Demosthenes dafür, in kritischer Lage ‚Geschichtenmacher‘ eingesetzt zu haben, um die Abstimmung in der Volksversammlung zu manipulieren, anstatt dort selbst zu erscheinen.99 Eine der negativen Charakterzeichnungen des Theophrast handelt bezeichnenderweise von einem logopoios, der zwar bei den der Elite angehörigen Autoren unserer Quellen einen schlechten Ruf genoss, aber auch den Austausch zwischen Institutionen und der ‚Straße‘ garantierte.100

96 Plut. Nikias 5,2 (Übers. Ziegler): οἱ δὲ φίλοι τοῖς ἐπὶ ταῖς θύραις φοιτῶσιν ἐνετύγχανον, καὶ παρῃτοῦντο συγγνώμην ἔχειν, ὡς καὶ τότε Νικίου πρὸς δημοσίας χρείας τινὰς καὶ ἀσχολίας ὄντος. 97 Telekleides F 44, Eupolis F 193 und Phrynichos F 62 Kassel–Austin sowie Aristoph. Equ. 358, die freilich alle bei Plut. Nikias 4,4–6 zitiert werden; vgl. Prandi 1978; ferner Plut. Nikias 2,2– 6; 4 und 5 insgesamt; Thuk. 7,86,5. 98 Sichtbarkeit als vorbeugende Maßnahme gegen Gerede auch bei Soph. Ai. 190 f. (Übers. Willige/Bayer): „[B]leib länger, Herr, nicht so im Gezelt an der See, | sonst bestärkst du nur das schlechte Gerede (κακὰν φάτιν).“ Siehe auch Wu u. a. 2016, S. 352–354. 99 Deinarch. 1,35 (eigene Übers.): „Du gingst umher, um Geschichtenerzähler anzustiften, und schriebst selbst einen Brief.“ ἀλλὰ περιῄεις κατασκευάζων λογοποιούς, καὶ παρ᾽ αὑτῷ γράφων ἐπιστολήν […]. Noch verwerflicher aber ist, dass Demosthenes einen Brief in Umlauf gebracht habe, ohne seine Sache selbst zu vertreten; vgl. Gottesman 2014, S. 150–152. Das verweist jedoch auf eine weitere, nicht orale Praxis, Gerede anzuschieben, und muss an anderer Stelle besprochen werden. Umgekehrt warf Demosth. or. 24,15 Timokrates und Androtion den Einsatz von logopoioi vor. 100 Theophr. char. 8; Gottesman 2014, S. 83–85, argumentiert, logopoioi seien durch die konservativ (-oligarchisch) eingestellten Autoren schlecht beleumundet, weil sie die Grenze zwischen dem kontrollierten Raum der Institutionen und den quasi anarchischen Raum der außerinstitutionellen Öffentlichkeit einrissen; vgl. Vlassopoulos 2007, S. 42 f.; Larran 2011, S. 191 f.

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Der Zusammenhang zwischen Hörensagen und Vertrauen schlägt sich insbesondere im Kontext der Kampagne für eine militärische Intervention auf Sizilien 415 und in der zunächst als Gerücht empfundenen Nachricht von der Niederlage vor Syrakus 413 nieder. Die Quellen verweisen darauf, dass die Entscheidung für eine Kampagne auf Grundlage einer Mischung aus Vertrauen (pistis) in Demagogen und Seher, Hoffnung (elpis) auf Reichtum und Gerede (logoi) über die allgemeine Lage auf der Insel gefällt worden sei. Auch um diese Abstimmung zu beeinflussen, bediente man sich der gezielten Meinungsmache, die einerseits an den Status der Redner erinnerte, andererseits dafür sorgte, dass die Debatte auch außerhalb der Volksversammlung geführt wurde. Gerade das entgegengebrachte Vertrauen sei jedoch bitter enttäuscht worden, wie Thukydides an prominenter Stelle vermerkt.101

5. Fazit und Ausblick: Gerüchte, Ruf und öffentliche Meinung Das Gerücht über die unsittliche Beziehung Kimons zu Elpinike ist in erster Linie mit Informationsmangel durch das Zusammenleben zweier Exponenten in einem nicht direkt zugänglichen bzw. einsehbaren oikos und Normtransgression durch den Inzestverdacht zu begründen; der Informationsfluss wird durch die Betroffenen nicht unbedingt gefördert worden sein. Im Gegenteil ist anzunehmen, dass die beiden alles daransetzten, kursierende Geschichten informell einzudämmen. Dass der Inhalt ad personam war und Leute betraf, die allen bekannt waren, verweist auf die sozial disziplinierende Funktion des Geredes. Moralische Urteile halfen dabei handfeste Politik zu machen. Zudem ist deutlich geworden, in welchen Räumen (free spaces) und Kreisen Gerüchte wie entstanden, wer Interesse daran hatte, vor allem jedoch, wie man sich den Austausch zwischen privilegierten und marginalisierten Akteuren qua Geschwätz vorstellen darf. Das Fallbeispiel illustrierte dabei, in welchen größeren Rahmen Klatsch eine Rolle spielen konnte; zum einen war er im politischen Diskurs eingebettet, der im Falle der Koinzidenz verschiedener Faktoren – etwa einer Ostrakophorie mit politischem Misserfolg – große Sprengkraft entfalten konnte; zum anderen verhandelte die öffentliche Debatte über Elpinike auch die Handlungsspielräume von Frauen in der Mitte des 5. Jahrhunderts. Demnach beeinflusste Klatsch über poli101 Vgl. Thuk. 8,1,1 f. (Übers. Landmann): „[A]ls aber die Nachricht (ἠγγέλθη) nach Athen kam, wollten sie es lange nicht glauben (μὲν ἠπίστουν), sogar als richtige Soldaten, vom Schlachtfeld selbst entronnen, genauen Bericht brachten (σαφῶς ἀγγέλλουσι); es werde doch nicht die ganze Macht gar so vernichtet und vertilgt sein. Nachdem sie dann zur Erkenntnis kamen, waren sie ergrimmt gegen die Redner (τῶν ῥητόρων), die sich für die Ausfahrt eingesetzt hatten – als hätten sie sie nicht selbst beschlossen – und zürnten den Sehern (τοῖς χρησμολόγοις) und Propheten (μάντεσι) und allen, die ihnen mit Weissagungen damals Hoffnung (ἐπήλπισαν) gemacht auf die Eroberung Siziliens.“ Zur politischen Einflussnahme auch Thuk. 6,17–20; Plut. Nikias 12,1; Alkibiades 17,1 (vgl. knapp Degelmann 2020); der Einfluss von Religion auch bei Plut. Nikias 13,1–7; Alkibiades 17,4 sowie in der Hermen- und Mysterienaffäre, die der Abstimmung aber nachgelagert war; vgl. Thuk. 6,27–29; 53; 60 f.; And. 1.

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tische Exponenten die öffentliche Meinung erheblich. Bei der pheme eines so prominenten Protagonisten wie Kimon betrafen Gerede und Ruf auch die öffentliche Meinung und damit die politische Deliberation, die durch die historischen Akteure und ihr Ansehen bestimmt wurde.102 Schutz vor übler Nachrede bot Vertrauen in Personen und kulturelle wie politische Institutionen, die mit einzelnen Namen verknüpft waren – so Nikias mit der Religion oder Kimon mit dem Areopag. Den als politischen Exponenten ohnehin vom Ostrakismos bedrohten Strategen brachten sein Misserfolg auf der Peloponnes sowie die Geschichten um Elpinike um seinen guten Ruf und das Vertrauen des Demos. Vertrauen und Gerücht sind zwei Seiten einer Medaille, auf der politische Kommunikation geschrieben steht; beide dienen nach Niklas Luhmann der „Reduktion von gesellschaftlicher Komplexität“; allein Vertrauen zeitigt positive, Hörensagen – trotz theoretischer Neutralität – in der Regel negative Folgen für Personen (oder Institutionen). Besonders im Vorfeld einer Situation wie der Ostrakophorie (oder anderer Entscheidungen) verdichtete sich der Klatsch um eine Person zur öffentlichen Meinung: Was über einen Akteur gesagt wurde, entsprach seiner Reputation und gab das allgemeine Wissen der Straße wieder. Bei Demosthenes und Aischines wurde pheme als Aussage des Volkes über Einzelne gebraucht.103 Platon hielt pheme für eine Instanz, die massiven öffentlichen Druck erzeuge.104 Doch schon im 5. Jahrhundert legte Andokides den Zusammenhang zwischen Gerücht und Reputation nahe, wenn er von der pheme des Kallias (III) sprach. Am deutlichsten wurde wohl Aischylos, der pheme selbst zur öffentlichen Meinung erklärte. Kurz zuvor errichteten die Athener gar einen Altar der Pheme, der bezeichnenderweise die Agora zierte.105 Trotzdem oder gerade deswegen scheint es, als ob ‚öffentliche Meinung‘ bislang nur selten explizit Gegenstand der Forschung zum klassischen Athen war. Freilich 102 Vgl. Gottesman 2014, S. 1–25; ähnlich auch die These von Besnier 2009, S. 120, 189–193. 103 Aischin. Tim. 125–130; 2,144 f.; Demosth. or. 19,243 f.; beide mit Bezug auf die göttliche Pheme bei Hes. erg. 759–763; vgl. Bultrighini 2014a; Bajnok 2013; zu Gerüchten bei den attischen Rednern allgemein Mann 2016; Gotteland 2001; dies. 1997; Hunter 1994, S. 96–119; dies. 1990. 104 Plat. leg. 838 c–d (Übers. Schöpsdau/Müller): „Du hast zumindest darin völlig recht, dass die öffentliche Meinung (pheme) eine geradezu wunderbare Macht erlangt hat, wenn keiner jemals auch nur einen einzigen Atemzug entgegen dem Gesetz zu tun wagt.“ ὀρθότατα λέγεις τό γε τοσοῦτον, ὅτι τὸ τῆς φήμης θαυμαστήν τινα δύναμιν εἴληχεν, ὅταν μηδεὶς μηδαμῶς ἄλλως ἀναπνεῖν ἐπιχειρήσῃ ποτὲ παρὰ τὸν νόμον. Vgl. Bultrighini 2014b; davon beeinflusst ist womöglich Aischin. Tim. 125–130. 105 Vgl. Aischin. Tim. 128 mit dem entsprechenden Scholion, wonach man die Stätte aufgrund der prompten Nachricht vom Sieg der Athener über die Perser in der Doppelschlacht am Eurymedon errichtete. Paus. 1,17,1 informiert über die ‚Gesellschaft‘ der Pheme, denn seine Formulierung legt nahe, dass sich in deren unmittelbarer Nachbarschaft jeweils ein Altar der Scham (Aidos) und des Begehrens (Horme) befanden. Wenn es keine Konstruktionen des Periegeten ist, spiegelt sich in diesem Dreigestirn die soziale Kontrollfunktion der pheme wider: Aidos wirke, weil es Pheme gebe, die verhindere, dass Horme überhandnehme und die Sitten verfielen; vgl. Bajnok 2013; Larran 2011, S. 28 f.; göttliche oder zumindest personifizierte Phama auch bei Soph. Oid. T. 158; ferner IG II2 1611, Z. 303, wo eine Triere nach Pheme benannt ist: Φήμη, Ἱεροκλέος ἔργο[ν].

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kommen Untersuchungen zur politischen Kommunikation und politischen Kultur, zum Gerichtswesen oder zum Ostrakismos kaum ohne diese Behelfsgröße aus. Als Entität geistert ‚öffentliche Meinung‘ durch zahlreiche Untersuchungen zum 5. und 4. Jahrhundert,106 doch bleibt sie dabei häufig vage. Ein Verständnis von ‚öffentlicher Meinung‘ zu umreißen, wie sie sich bildet und manifestiert, ist aber ein ganz zentraler Aspekt in der direkten Abstimmungsdemokratie des klassischen Athens, zu dem eine Untersuchung von Gerüchten beitragen kann.

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106 Dazu exemplarisch wie grundlegend Ober 1989, S. 148–151, 315–322; Cohen 1991, passim; Hansen 1995, S. 80–82; ferner Hölscher 1996; Mann 2007 sowie nun Alwine 2015, S. 35; Lanni 2016, S. 18 f., 22 f.

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Ein Herrschaftsdiskurs in 1 Sam 8 als Indikator einer politischen Vertrauenskrise? Stefan Fraß 1. Einleitung In der Altertumswissenschaft wird mitunter mit dem Begriff der Demokratie recht freizügig verfahren. Zu denken ist hier etwa an die Versuche, demokratische Ordnungen für die sumerischen Stadtstaaten des dritten Jahrtausends1 oder die phönizischen Stadtstaaten in der ersten Hälfte des ersten Jahrtausends v. Chr.2 zu postulieren. Ebenso konnte das Königreich Juda im 7. Jahrhundert v. Chr. so zu einer ‚Demokratie‘ werden.3 In diese Linie reihte sich in den letzten Jahren der Versuch 1

So Jacobsen 1943, besonders S. 165–172, der vor allem die Bedeutung der Versammlung betont: „[…], we find the ruler scrupulously refraining from action in the matter of peace or war until he obtains the consent of the assembly, in which, therefore, internal sovereignty of the state would seem to be vested“ (ebd., S. 165). Allerdings werden auch von Jacobsen die in der epischen Tradition klar vorhandenen ‚monarchischen‘ Anführer, wie etwa Gilgamesch, nicht geleugnet. Außerdem muss er zugestehen, dass eine klare Unterscheidung der ‚Verfassungsformen‘ aufgrund der Quellenlage für die frühsumerische Zeit kaum möglich ist: „‚Oligarchy‘, which so subtly merges into democracy and which so often functions in forms similar to it, can hardly, at the present stage of our knowledge of ancient Mesopotamia, be profitably distinguished“ (ebd., S. 159). 2 So Sommer 2005, S. 191–239, der vorhandene „kollektive Institutionen“ als demokratisch interpretiert, speziell das Vorhandensein einer Volksversammlung. Zwar kann man diese in der klassischen griechischen Mischverfassungstheorie tatsächlich als ‚demokratisches Element‘ verstehen, doch wie Sommer herausgearbeitet hat, waren die phönizischen Stadtstaaten Oligarchien, in denen es eine klare „Begrenzung der vollen politischen Rechte auf eine oligarchische Gruppe (Fernhändler und Grundbesitzer)“ (ebd., S. 223) gab. Man sollte hier also eher von partizipatorischen Strukturen sprechen, vor allem da man nicht wirklich erkennen kann, wer in den phönizischen Städten tatsächlich durch diese integriert wurde. Sollte jedenfalls der Analogieschluss von den karthagischen Verhältnissen auf die Levante richtig und sowohl die Handwerker also auch die gesamte Landbevölkerung von aller politischen Teilhabe ausgeschlossen gewesen sein, dann waren die als demokratisch beschriebenen Strukturen nicht nur nicht demokratisch, sondern auch nur in Ansätzen partizipatorisch. 3 Vgl. Crüsemann 1993, der speziell in den Ereignissen um die Hofrevolte gegen den König Amon (wohl 642–640 v. Chr.), die mit der Ermordung des Königs, einer Gegenrevolte des ‚Landvolkes‘ und der Einsetzung des minderjährigen Amon-Sohnes Josia endete (vgl. 2 Kön. 21,23 f.), Anzeichen für demokratische Strukturen sieht. Diese Vermutung betrachtet er auch als darin begründet, dass er die Entstehung des Deuteronomiums in die Zeit der Herrschaft des Josia datiert und darin eine demokratische Grundideologie ausmachen zu können glaubt: „Da das göttliche Gesetz und mit ihm die politische Macht dem im Deuteronomium angeredeten ‚Du‘ anvertraut wird, hinter dem sich das – noch stärker abzugrenzende – Volk im Ganzen verbirgt, spreche ich von ‚Demokratie‘“. Weiterhin gehe sowohl die „Einrichtung eines Königtums allein auf den Wunsch des Volkes zurück“ als auch stehe die Einsetzung von Richtern und Verwaltungsorganen dem ‚Du‘ und damit dem Volk zu, genauer den „landbesitzenden

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des Alttestamentlers Wolfgang Oswald, im ersten Buch Samuel einen politischstaatstheoretischen Diskurs auszumachen, welcher vom Ergebnis her der bekannten Verfassungsdebatte bei Herodot (Hdt. 3,80–82) gleichkomme.4 Er stellt dazu die diskussionswürdige These auf, dass beide „Verfassungsdebatten“ eigenständige Texte seien, welche erst später in die Gesamtwerke eingefügt worden seien. Ebenso werde in beiden Texten politisch abstrakt diskutiert und die konkreten historischen Rahmenhandlungen seien nur als erzählerische Mittel der jeweiligen Verfasser zu verstehen. Tatsächlich seien die historische Verortung der Verfassungsdebatte bei Herodot ins Persische Reich um 520 v. Chr. und die Verortung der „Verfassungsdebatte“ in 1 Sam 8 in das vormonarchische, früheisenzeitliche Israel aufgrund der theoretisch-politischen Inhalte der Texte vollständig anachronistisch.5 Vielmehr müsse man beide Texte im historischen Kontext ihrer Entstehungszeit in der Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. interpretieren. Dem ist sicherlich zuzustimmen. Pro­ blematischer ist allerdings die darauf aufbauende These von Oswald, dass es sich bei dem Diskurs im ersten Samuelbuch um ein „Votum für eine Art von Demokratie“ handele, welches Herodots Votum für eine demokratische Ordnung ähnele.6

freien israelitischen Männern“ (Crüsemann 1993, S. 201 f.). Allerdings muss auch Crüsemann einräumen, dass ein institutioneller Rahmen für die postulierten demokratischen Strukturen nicht einmal im Ansatz erkennbar wird: „Nirgends treten etwa Regeln zum Verfahren in Erscheinung. Wie Richter und Beamte gewählt wurden, wer bei der Einsetzung des Königs wie beteiligt war, ob es Volksversammlungen gab oder nicht“ (ebd., S. 204). 4 Siehe dazu grundlegend Oswald 2009, wobei es meines Erachtens allerdings fraglich ist, ob es sich bei diesen politischen Diskursen tatsächlich um ‚Staatstheorie‘ handelt. Wenn man allerdings die soziopolitische Organisation Israels ab der Herrschaft des David als eine staatliche betrachten will (vgl. dazu etwa Frevel 2012, S. 739–749), dann können Diskurse und Reflexionen über die Natur von Herrschaft und über die Organisation von Herrschaft durchaus in Richtung einer ‚Staatstheorie‘ interpretiert werden. 5 Vgl. Oswald 2013, S. 131. 6 Ebd., S. 144. Wie etwa Forsdyke 2001 zeigen konnte, war das Werk des Herodot durchdrungen von einer demokratischen Ideologie, welche bei einem athenischen Publikum Anklang finden würde. Doch muss dieser Umstand Herodot nicht notwendigerweise selber zum Demokraten machen. Dass nun Herodot in seiner ‚Verfassungsdebatte‘ eindeutig für die Demokratie votiert, ist zumindest diskutierbar. Siehe dazu etwa Lateiner 2013 [1984], S. 209: „One may conclude, first, that Herodotos shares Otanes’ views, not because he is a convinced democrat, much less a convinced Periclean democrat, but because Otanes’ proposal most clearly favours individual freedom and a government of institutions, or of undependable individuals“; außerdem Alonso-Núñez 1998, der zwar Herodot auch als konservativen Demokraten ansieht (vgl. ebd. S. 26), in der Verfassungsdebatte diesen aber als Verteidiger der Monarchie betrachtet, da Herodot diese „in diesem Wettstreit gewinnen läßt und Dareios tatsächlich der nächste persische König und Nachfolger von Kambyses wurde“ (ebd., S. 22). Pelling 2002 hingegen interpretiert die Verfassungsdebatte dahingehend, dass Herodot hier die verschiedenen und gemeinsamen Erfahrungen und Einstellungen von Griechen und Persern zu Formen der Alleinherrschaft darstellen will. Dewald 2003, S. 28–30, besonders Anm. 16, weist darauf hin, dass Herodot in seinem Werk der Demokratie nicht grundsätzlich positiv gegenübersteht und in der Verfassungsdebatte selber das Problem der besten Herrschaftsordnung auch gar nicht lösen will.

Ein Herrschaftsdiskurs in 1 Sam 8

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Im Folgenden soll nun aufgezeigt werden, dass man die Ausführungen im ersten Buch Samuel durchaus als Herrschaftsdiskurs deuten kann, jedoch nicht als eine Forderung nach ‚Demokratie‘ missverstehen sollte. Vielmehr spiegelt dieser politische Diskurs eine Vertrauenskrise innerhalb der judäischen Bevölkerung in die persische Herrschaft wider.7 Denn das Vertrauen in diese Herrschaft erfuhr im Verlauf der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr., zumindest im östlichen Mittelmeerraum, eine merkliche Schwächung. Der Grund dafür ist zum einen in den langwierigen Kriegen zuerst gegen den Hellenenbund und dann gegen den DelischAttischen Seebund zu suchen. Bedeutender jedoch wird für die Wahrnehmung in Judäa der ägyptische Aufstand gegen die persische Fremdherrschaft gewesen sein.

2. Vorüberlegungen zum Samueltext Die Entstehungszeit des ersten Samuelbuches, als Teil des sogenannten ‚Deuteronomistischen Geschichtswerkes‘,8 kann – zumindest in seiner jüngsten Schicht, zu welcher wohl 1 Sam 8 gehört – in der Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. verortet werden.9 Zwar ist die genaue Datierung des Textes umstritten,10 doch ist dies für die Frage, ob hier ein politischer Diskurs zu erkennen ist, erst einmal nicht von so großer Relevanz. Anders verhält es sich bei der Überlegung, dass in diesem Diskurs die Idee der Demokratie aufscheint, diese gar als Herrschaftsform gefordert würde. Dies gilt vor allem, wenn man für das 5. Jahrhundert v. Chr. eine solche ideengeschichtliche Entwicklung in der nachexilischen israelitischen Gemeinschaft postulieren will. Dessen ungeachtet scheinen aber doch zumindest die folgenden Überlegungen einen gewissen Konsens zu bilden. So besaß der Samueltext möglicherweise einen Ursprung in vorexilischer Zeit, vielleicht sogar in der vormonarchischen Epoche.11 Seine Überarbeitung und Endredaktion im nachexilischen Israel, zusammen mit den inhaltlich eine Einheit bildenden Königsbüchern, ist allerdings sehr wahr-

7 Zum ‚Vertrauen‘ und ‚Vertrauenverlust‘ in politische Institutionen unter soziologischer Per­ spektive siehe etwa die konzise Darstellung von Endreß 2002, S. 59–63, und unter altertumswissenschaftlicher Perspektive den Forschungsüberblick von Timmer 2017, S. 11–27, außerdem die Einleitung zu diesem Band. 8 Vgl. dazu etwa Braulik 2012, S. 237–256. Allerdings sollten die Texte dieses alttestamentlichen ‚Geschichtswerkes‘ nicht als Beginn einer tatsächlichen Geschichtsschreibung im Sinne der griechischen Historiographie missverstanden werden – siehe dazu Blum 2000. 9 Vgl. Oswald 2013, S. 130–133; anders etwa Crüsemann 1978, S. 60–73, der in 1 Sam 8 zwar auch eine „politische Kampfschrift“ (S. 70) sieht, aber eine, welche in die Phase des frühen Königtums zu datieren und als eine Polemik gegen die „ökonomischen Folgen des Königtums für die grundbesitzenden israelitischen Bauern“ (S. 73) zu verstehen sei. 10 Vgl. etwa Hentschel 2012, S. 294–298. 11 So könnte etwa der historische Kern des ersten Samuelbuches den Übergang von der „Nichtstaatlichkeit zur Staatlichkeit“ durch die Etablierung der monarchischen Zentralgewalt über die israelitischen Stämme widerspiegeln; vgl. dazu Dietrich 2011, S. 334–338.

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scheinlich.12 Dass ein politischer Herrschaftsdiskurs in eine eigentlich mythische Vergangenheit, also eine unverfügbare Epoche verlegt und an mythische und damit unverfügbare Kulturheroen gebunden wird, stellt ein häufig zu fassendes Phänomen dar. So wurde etwa im kulturellen Gedächtnis der Athener die demokratische Ordnung im 5. und 4. Jahrhundert bekanntlich an den Gesetzgeber Solon bzw. den mythischen König Theseus angeschlossen oder diese gleich mit dem athenischen Anspruch auf Autochthonie verbunden.13 Damit sollte die aktuelle politische Ordnung der alltäglichen Verfügbarkeit entzogen, also transzendiert und dadurch perpetuiert werden.14 Vordergründig handelt es sich bei dem ursprünglichen Samueltext aber nicht um einen rein politischen Diskurs, sondern um einen religiös-politischen. Die beiden Samuelbücher gehörten zu den deuteronomistischen Texten, welche klar königsfeindlich ausgerichtet sind. Diese königsfeindliche Tradition setzte frühestens nach der Vernichtung des Nordreiches im Jahr 722/21 v. Chr. ein und ist als eine Reaktion auf den Verlust der israelitischen Eigenstaatlichkeit und des damit verbundenen davidischen Königtums zu sehen. Dieses Narrativ ist damit also das Produkt einer massiven Vertrauenskrise der Israeliten in den ewigen Bund mit Jahwe, welcher den Untergang des davidischen Königtums nicht verhindert hat. Daher wird die Einrichtung dieses Königtums nachträglich als eine Handlung der Israeliten gegen den expliziten Willen Jahwes umgedeutet. Dadurch hatte nun das Volk Israel gegen den Bundesvertrag mit Jahwe verstoßen, und dieser ist deshalb nicht mehr verpflichtet, Israel zu bewahren.15 In den nun folgenden Überlegungen soll sich aber den relevanten Passagen des ersten Samuelbuches in seiner Redaktionsform aus der Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. zugewandt werden.

3. 1 Sam 8 als politischer Diskurs im nachexilischen Juda? Die in 1 Sam 8 erzählte Geschichte ist verortet in der Epoche vor der Etablierung der Monarchie in Israel, in der Zeit der ‚Richter‘. Im Narrativ fordern die ‚Ältesten Israels‘ von dem ‚Richter‘ Samuel die Einsetzung eines Königs. Hierbei ist zu beachten, dass in der Erzählung Samuel weniger als ein ‚Richter‘ im Sinne der vormonarchischen Anführer charakterisiert wird, sondern eher als ein Prophet im nachexilischen Verständnis. Dessen ungeachtet wird die Forderung nach der Ein12 Vgl. Gerstenberger 2005, S. 221–234, hier S. 231: „Samuel ist nicht mit dem Titel ‚Prophet‘ ausgezeichnet, aber er verhält sich nach dem Rollenbild eines Propheten im 5. Jh. v. Chr. […] Es mögen ältere Züge im Samuelbild zu entdecken sein, die eines Schamanen, Lokalpriesters oder Ombudsmannes, aber das dtr. Schrifttum reiht ihn unter die nachexilisch gefärbten Prophetengestalten ein, bzw. stellt ihn der Reihe voran.“ 13 Siehe dazu die konzise Zusammenstellung aller Zeugnisse bei Anderson 2007, S. 107–119. 14 Zur hier benutzten Idee der Transzendierung von (politischen) Ordnungen siehe Vorländer 2013. 15 Zur alttestamentlichen Königskritik siehe etwa Moenikes 1995, besonders S. 211–214, und speziell zur Kritik in 1 Sam 8 siehe ebd., S. 23–30; außerdem Jungbluth 2011, S. 289–295.

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setzung eines Königs vorgebracht, weil Samuel Teile seiner Herrschaftsbefugnis an seine Söhne übertragen hatte. Die Söhne des Samuel missbrauchen nun aber ihre Stellung zum eigenen Vorteil und führen so zu den politischen Forderungen: Als Samuel alt geworden war, setzte er seine Söhne als Richter Israels ein. Sein erstgeborener Sohn hieß Joël, sein zweiter Abija. Sie waren in Beerscheba Richter. Seine Söhne gingen nicht auf seinen Wegen, sondern waren auf ihren Vorteil aus, ließen sich bestechen und beugten das Recht. Deshalb versammelten sich alle Ältesten Israels und gingen zu Samuel nach Rama. Sie sagten zu ihm: Du bist nun alt und deine Söhne gehen nicht auf deinen Wegen. Darum setze jetzt einen König bei uns ein, der uns regieren soll, wie es bei allen Völkern der Fall ist.16

Ausgangspunkt für den folgenden Herrschaftsdiskurs ist im Narrativ also eine Vertrauenskrise in die Herrschaft Samuels und seiner Söhne.17 Die Situation ähnelt daher durchaus bis zu einem gewissen Grad dem Ausgangspunkt für die Verfassungsdebatte, welche Herodot dem Otanes, dem Megabyzos und dem Dareios in den Mund legte.18 Denn auch diese kommen ja nur in die Verlegenheit, über die richtige Herrschaftsform zu streiten, da es durch Usurpation und Bürgerkrieg zu einer Vertrauenskrise in die traditionelle persische Herrschaftsordnung gekommen war.19 Die drei persischen Potentaten lässt Herodot bekanntlich die Vor- und Nachteile von drei distinkten Herrschaftsformen mit einer ausgeprägten Begrifflichkeit diskutieren.20 So setzt sich zuerst Otanes für die ‚Herrschaft der Vielen‘ (πλῆθος δὲ ἄρχον), eben für die ‚Isonomia‘ (ἰσονομία), ein.21 Herodot meint damit mit Sicherheit die Demokratie,22 einen Begriff, den er kannte und welcher mit hoher Wahr16 Vgl. 1 Sam 8,1–5. Der Text stammt hier und im Folgenden aus der Einheitsübersetzung. 17 Vgl. etwa Buchholz 1988, S. 87 f., hier S. 88: „Erst die Korrumpiertheit der Richter [also der Söhne des Samuel] ließ die institutionelle Ordnung zerfallen und die Forderung nach einer neuen staatlichen Verfassung Israels laut werden.“ 18 Vgl. Hdt. 3,80–82. 19 Vgl. dazu grundlegend Wiesehöfer 1978. 20 Zur Verfassungsdebatte bei Herodot siehe grundlegend mit einem Überblick über die ältere Forschung Apffel 1957; außerdem Bleicken 1979; Alonso-Núñez 1998; Pelling 2002; Dewald 2003, S. 28–30; Lateiner 2013. 21 Vgl. Hdt. 3,80,2–6. 22 Später kommt Herodot (Hdt. 6,43,3) dann auch noch einmal auf Otanes’ Vorschlag zu sprechen, dass in einer demokratischen Ordnung zu leben (δημοκρατέεσθαι) für Persien das Beste wäre. Herodot gebraucht also wohl beide Begriffe weitestgehend synonym, auch wenn ἰσονομία möglicherweise ursprünglich nur ein politischer Kampfbegriff für die Gleichheit innerhalb der Elite, etwa gegen einen Tyrannen, gewesen ist (vgl. dazu Petzold 1990, S. 148– 160). Siehe dazu auch Meier 1970, S. 36–52, hier S. 50 f.: „Dabei ist das ‚Herrschen‘ des Demos im ganzen einfach als Ausdruck und Mittel der Isonomie verstanden, so daß das Subjekt dieser Herrschaft allgemein und wenig zugespitzt aufgefasst werden konnte“. Siehe dagegen aber Rosén 1998, S. 37 f., der auch eine Herleitung des Begriffes δημοκρατέεσθαι von δημοκρατία aus philologischen Gründen ablehnt. Allerdings weist er ebenso darauf hin, dass unmittelbar nach dem Hinweis auf Otanes das Wort δημοκρατίας auftaucht, welches „wohl die älteste Bezeugung diese Ausdruckes darstellt“; ebd. S. 37. Pelling 2002, S. 135–141, vertritt hingegen

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scheinlichkeit in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. nicht nur in Athen in Verwendung war.23 Vielleicht verzichtet Herodot hier auf die Benutzung des Begriffes δημοκρατία, da ihm die relative Neuheit des Begriffes bekannt ist24 und er ja ausdrücklich auf die Historizität der geschilderten Verfassungsdebatte großen Wert legt.25 Als zweiter spricht Megabyzos, und zwar für die Oligarchie (ὀλιγαρχία), in Herodots Diktion die Herrschaft der besten Männer (ἀρίστων ἀνδρῶν).26 Eine Unterscheidung zwischen Aristokratie und Oligarchie, welche sowieso nie als eine soziopolitische Wirklichkeit, sondern nur als ideologischer Anspruch existiert hat, kennt Herodot offenbar noch nicht.27 Der letzte Sprecher, Dareios, setzt sich dann bekanntlich für die Monarchie (μοναρχία), also die Herrschaft des besten Mannes (ἀνδρὸς γὰρ ἑνὸς τοῦ ἀρίστου), ein.28 Die Argumente der einzelnen Disputanten kreisen um die unterschiedlich ausgeprägte Befähigung der Menschen zur Herrschaft bzw. die Gefahren, welche mit den einzelnen Herrschaftsformen verbunden seien. Allein Dareios führt als zusätzliches Argument an, dass die Monarchie die althergebrachte Herrschaftsform in Persien sei und man diese daher beibehalten müsse.29 Soweit das Narrativ des Herodot. 1 Sam 8 hingegen kann zwar durchaus als ein politischer Diskurs gelesen werden. Eine Diskussion um eine wie auch immer geartete ‚Volksherrschaft‘ lässt sich allerdings nicht feststellen. Denn die Forderung ‚aller Ältesten von Israel‘ (yiś·rā·’êl; ziq·nê kōl), dass Samuel einen König einsetzen solle, wird von diesem erst einmal zurückgewiesen.30 Daraufhin interveniert aber Jahwe: Aber Samuel missfiel es, dass sie sagten: Gib uns einen König, der uns regieren soll. Samuel betete deshalb zum Herrn, und der Herr sagte zu Samuel: Hör auf die Stimme des Volkes in allem, was sie zu dir sagen. Denn nicht dich haben sie verworfen, son-

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die These, dass die Wahl von isonomia gegenüber dem Begriff demokratia bewusst erfolgte, da er offener sei, um als Gegenbegriff zu jeder Form von Alleinherrschaft auch eher oligarchische Ordnungen mit einzubeziehen. Im Selbstverständnis der Athener war die Herrschaftsordnung ihres Gemeinwesens demokratisch. Darüber hinaus existierten aber in dieser Zeit auch weitere Demokratien, zu denken sei etwa an Syrakus und Argos. Zu den Demokratien in der klassischen Epoche neben Athen siehe Robinson 2011. Hansen 1986, S. 35 f., glaubt, den Begriff ‚dēmokratía‘ bis 470 v. Chr. zurückverfolgen zu können, und sieht keine guten Gründe, warum dieser nicht auch schon eher in Verwendung gewesen sein könne. Allerdings räumt auch er ein, dass es keine eindeutige Belegung vor 430 v. Chr. gibt. Hdt. 3,80,1 (Übers. Feix): „und es wurden dabei Reden gehalten, die zwar einige Griechen für unglaubwürdig ansehen, die aber doch gesprochen worden sind.“ (καὶ ἐλέχθησαν λόγοι ἄπιστοι μὲν ἐνίοισι Ἑλλήνων, ἐλέχθησαν δ’ ὦν). Vgl. Hdt. 3,81,1–3. Vgl. Schulz 1981, S. 103 f. Vgl. Hdt. 3,82,1–5. Vgl. Hdt. 3,82,5. Der Text gehört damit in die Tradition der exilischen und nachexilischen deuteronomistischen Verfasser bzw. Überarbeiter biblischer Texte mit starker antimonarchischer Grundeinstellung – siehe dazu Dietrich/Naumann 1995, S. 28 f.

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dern mich haben sie verworfen: Ich soll nicht mehr ihr König sein. Das entspricht ganz ihren Taten, die sie (immer wieder) getan haben, seitdem ich sie aus Ägypten heraufgeführt habe, bis zum heutigen Tag; sie haben mich verlassen und anderen Göttern gedient. So machen sie es nun auch mit dir. Doch hör jetzt auf ihre Stimme, warne sie aber eindringlich und mach ihnen bekannt, welche Rechte der König hat, der über sie herrschen wird.31

Erstaunlicherweise fordert Jahwe hier nun in der Tat von Samuel, auf die Meinung des Volks zu hören. Er soll dieses aber auch vor den Konsequenzen einer Königsherrschaft warnen. Etwas befremdlich ist außerdem der Wechsel in der Bezeichnung der dritten Partei neben Samuel und Jahwe von den ‚Ältesten Israels‘ zum ‚Volk‘ (hā·‘ām). Die Ältesten spielen nun keine Rolle mehr. Dieser Wechsel wird von den Kommentatoren des Samuelbuches zwar angemerkt, aber nicht wirklich pro­blematisiert.32 Selbst wenn Kommentatoren auf dieses Problem eingehen, kann von ihnen nicht eindeutig geklärt werden, ob die Ältesten das Volk Israel repräsentieren oder aber als gesonderte Institution neben ihm stehen, um als eine herausgehobene Instanz die Warnung Samuels zu erhalten.33 Gemeinhin scheinen die ‚Ältesten von Israel‘ aber eine solche gesonderte Institution zu sein. In ihnen sollte man am ehesten die ursprünglichen „Vertreter der Familienverbände“ sehen, welche auf lokaler Ebene, also in den Dorfgemeinschaften, das Sagen hatten.34 Wie auch immer es sich mit den Ältesten nun verhalten haben wird, Jahwe weist Samuel an, die Entscheidung über eine mögliche Königseinsetzung an das Volk zu delegieren. Damit wird aber auch klar, dass die Souveränität nicht beim Volk oder bei Samuel liegt, sondern bei Jahwe. Dieser besitzt eben die Kompetenz und delegiert die Einrichtung einer monarchischen Herrschaftsordnung durch Samuel an das Volk Israel.35 Der Grund dafür scheint zu sein, dass Jahwe aufgrund des Ungehorsams des Volkes mit diesem die Geduld verliert und auch nicht mehr selbst König über Israel sein will.36 Zwar weist Jahwe Samuel an, ‚in allem‘ (lə·ḵōl) auf das Volk zu hören. Doch wird klar, dass dies nur für eine bestimmte, einmalige Entscheidung Gültigkeit haben kann. Denn selbst wenn das Volk in einer ‚demokratischen‘ Entscheidung für die Einsetzung eines Königs votieren würde, wäre als Ergebnis die ‚Demokratie‘ mit diesem einmaligen Herrschaftsakt schon wieder überwunden. Ein in irgendeiner Weise institutionalisiertes Verfahren, in welchem hier eine demokratische Entscheidung herbeigeführt werden sollte, ist nicht zu erkennen. Nicht einmal die politischen Akteure, also die Ältesten und das Volk 31 32 33 34

1 Sam 8,6–9. Vgl. etwa Mommer 1991, S. 55–68, und Bar-Efrat 2007, S. 141–150. Vgl. Dietrich 2011, S. 362. Vgl. Gerstenberger 2005, S. 88–91, hier S. 91. Es ist allerdings nicht ganz klar, ob ‚die Ältesten‘ der nachexilischen Epoche noch die gleiche Institution wie zur Zeit der Monarchie darstellten (vgl. Buchholz 1988, besonders S. 103–105). 35 Daraus folgt allerdings nicht die Vorstellung einer „Theokratie als Demokratie“, wie diese von Crüsemann 1993 für das Deuteronomium postuliert wurde. 36 Zum ‚Königtum‘ Jahwes im Alten Testament siehe Jungbluth 2011, S. 157–288.

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von Israel, sind klar bestimmbar und in ihren Kompetenzen zu unterscheiden. Es scheint sich bei dem politischen Diskurs in 1 Sam 8 also eher nicht um ein Votum für eine Art von Demokratie zu handeln. Interessant ist in diesem Narrativ aber, dass Jahwe selbst die Einschätzung des Samuel in Bezug auf die Königsherrschaft zu teilen scheint. Wohl daher überträgt er an Samuel die Kompetenz, die politische Entscheidung des Volkes durch eine politische Argumentation zu beeinflussen. Diese Argumentation wird nun in der Form eines politischen Diskurses über die Natur der monarchischen Herrschaftsordnung und den mit ihr verbundenen Nachteilen für das Volk Israel geführt: Samuel teilte dem Volk, das einen König von ihm verlangte, alle Worte des Herrn mit. Er sagte: Das werden die Rechte des Königs sein, der über euch herrschen wird: Er wird eure Söhne holen und sie für sich bei seinen Wagen und seinen Pferden verwenden und sie werden vor seinem Wagen herlaufen. Er wird sie zu Obersten über (Abteilungen von) Tausend und zu Führern über (Abteilungen von) Fünfzig machen. Sie müssen sein Ackerland pflügen und seine Ernte einbringen. Sie müssen seine Kriegsgeräte und die Ausrüstung seiner Streitwagen anfertigen. Eure Töchter wird er holen, damit sie ihm Salben zubereiten und kochen und backen. Eure besten Felder, Weinberge und Ölbäume wird er euch wegnehmen und seinen Beamten geben. Von euren Äckern und euren Weinbergen wird er den Zehnten erheben und ihn seinen Höflingen und Beamten geben. Eure Knechte und Mägde, eure besten jungen Leute und eure Esel wird er holen und für sich arbeiten lassen. Von euren Schafherden wird er den Zehnten erheben. Ihr selber werdet seine Sklaven sein. An jenem Tag werdet ihr wegen des Königs, den ihr euch erwählt habt, um Hilfe schreien, aber der Herr wird euch an jenem Tag nicht antworten.37

Eine bedrückende, willkürliche Herrschaft, welche mit einer hohen Steuerlast und vor allem mit einem unausweichlichen Krieg verbunden ist, sieht Samuel also auf das Volk Israel im Falle einer Königseinsetzung zukommen. Doch seine Argumentation fruchtet nicht, denn gerade die Möglichkeit der souveränen Kriegsführung scheint dem Volk wichtig zu sein: Doch das Volk wollte nicht auf Samuel hören, sondern sagte: Nein, ein König soll über uns herrschen. Auch wir wollen wie alle anderen Völker sein. Unser König soll uns Recht sprechen, er soll vor uns herziehen und soll unsere Kriege führen.38

Neben der Möglichkeit der Kriegsführung wird vom Volk in der Einsetzung eines eigenen Königs also auch die Schaffung einer eigenen Quelle der Rechtsprechung gesehen. Darüber hinaus scheint dem Volk auch wichtig zu sein, es den anderen Völkern gleichzutun. Darum weist es dann auch die Argumentation des Samuel

37 1 Sam 8,10–18. 38 1 Sam 8,19 f.

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zurück und bekräftigt seine Forderung. Samuel, der eigentlich ja schon eine klare Weisung von Jahwe erhalten hat, wendet sich aber noch einmal an diesen: Samuel hörte alles an, was das Volk sagte, und trug es dem Herrn vor. Und der Herr sagte zu Samuel: Hör auf ihre Stimme und setz ihnen einen König ein!39

Die Entscheidung über die Einführung einer Königsherrschaft wird also noch ein zweites Mal Jahwe vorgelegt und dieser bestätigt seine souveräne Entscheidung. Die Kompetenz zur Königseinsetzung wird damit wiederum an Samuel delegiert.40

4. 1 Sam 8 im (geo-)politischen Kontext des 5. Jahrhunderts v. Chr. Die Frage ist nun, ob sich der Text, wenn man ihn als einen politischen Diskurs liest, tatsächlich gegen eine spezielle Herrschaftsform richten muss. Denn der mögliche Bedeutungsgehalt eines solchen politischen Diskurses hängt entscheidend von der zeitlichen Verortung des Textes ab. Wenn man diesen in die Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. datieren und dem Diskurs damit eine tagespolitische Konnotation zuschreiben will, dann muss man diesen vor dem Hintergrund der persischen Fremdherrschaft über Judäa analysieren. Diese begann mit der Unterwerfung von Babylon im Jahr 539 v. Chr. durch Kyros II. Im Zuge dieses Eroberungsprozesses wurde wahrscheinlich das gesamte Gebiet des ehemaligen Neubabylonischen Reiches, also auch Syrien, Phönizien und Palästina, in einer Satrapie zusammengefasst.41 Bekanntlich soll Kyros den Judäern erlaubt haben, aus der Babylonischen Gefangenschaft heimzukehren, und ihnen sogar aufgetragen haben, den Tempel in Jerusalem wieder aufzubauen.42 Nachdem sich dann Dareios I. im Jahr 521 v. Chr. als neuer Herrscher des Persischen Reiches hatte durchsetzen können, kam es laut Herodot zu einer Reform der Provinzeinteilung.43 Spätestens von nun an bildeten die phöni­ zischen Gebiete, Syrien, Palästina und Zypern wohl eine eigenständige Provinz.44 Außerdem soll Dareios den Erlass des Kyros bestätigt haben, wonach die Judäer den Tempel wieder aufbauen sollten, nachdem die judäische Gemeinde deswegen mit dem lokalen persischen Statthalter aneinandergeraten war.45 All dies mag die Ursache 39 40 41 42

1 Sam 8,21 f. Für die erste Beauftragung Samuels durch Jahwe vgl. 1 Sam 8,7. Vgl. Rainey 1969, S. 52. Vgl. 2 Chr 36,22 f. und Esr 1,1–4. Allerdings ist diese Darstellung in der modernen Forschung nicht unumstritten, und es gibt gewisse Argumente dafür, dass die eigentliche Rückkehr der Juden aus dem babylonischen Exil erst unter Dareios I. und Artaxerxes I. erfolgte – siehe dazu van der Spek 2014, S. 235 f. 43 Vgl. Hdt. 3,89,1–3. 44 Vgl. Hdt. 3,91,5–7; siehe dazu Rainey 1969, S. 53–62. Allerdings ist die Einteilung des Per­ sischen Reiches in Verwaltungseinheiten kaum zu rekonstruieren und es ist von dem Nebeneinander und Gegeneinander verschiedenster Ordnungsrahmen auszugehen – siehe dazu konzise Wiesehöfer 2005, S. 94–98. 45 Vgl. Esr 5–6,12.

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dafür sein, dass nicht nur Kyros und Dareios, sondern die gesamte persische Herrschaft in der biblischen Überlieferung in einem relativ günstigen Licht erscheinen. Das Vertrauen in diese war bei den Autoren dieser biblischen Texte anscheinend vorhanden. Jedenfalls gab es in dieser Epoche keine Widerstandsbewegungen wie später gegen die Herrschaft der Seleukiden und der Römer.46 Vielmehr vermögen gewisse biblische Schriften, etwa die Bücher Esra und Nehemia, die persische Oberherrschaft sogar zu legitimieren, indem die besondere Rücksichtnahme auf die Interessen der judäischen Gemeinschaft seitens der Reichsregierung immer wieder betont wird.47 So wurde Esra – gemäß der biblischen Überlieferung – im Auftrag des Großkönigs im Jahr 458 v. Chr. aus Babylon nach Jerusalem geschickt.48 Er sollte angeblich die Gemeinschaft der Judäer neu ordnen und wohl vor allem Missstände in der Tempelverwaltung beseitigen.49 Weiter noch scheint die Mission des Nehemia gegangen zu sein, der im Jahr 445 v. Chr. als vormals persischer Hofbeamter nach Jerusalem entsandt worden sein soll. Dieser konnte angeblich eine verstärkte Autonomie für die Region Jerusalem erreichen und es zu der eigenständigen persischen Provinz Jehud formen, in der er selbst als neuer Statthalter fungierte.50 Beide Texte fordern von den Judäern, sich mit einer verstärkten Autonomie innerhalb des Persischen Reiches unter einem judäischen Dynasten zufriedenzugeben. In einer ähnlichen Weise, also als ein Werben um eine perpetuierte Akzeptanz der persischen Herrschaft bei der judäischen Gemeinschaft, kann man auch den politischen Diskurs im 8. Kapitel des ersten Samuelbuches deuten. Liest man nämlich die Forderung des Volkes von Israel nach einem eigenen König vor dem Hintergrund der persischen Fremdherrschaft im 5. Jahrhundert v. Chr., dann wird daraus eben nicht die Forderung nach einer spezifischen Herrschaftsform. Die judäische 46 Vielleicht deuten gewissen Aussagen in den Prophetenbüchern Haggai und Sacharja über den außerbiblisch nicht belegten Serubbabel darauf hin, dass es zumindest in Teilen der judäischen Gesellschaft früh in nachexilischer Zeit Hoffnungen auf eine erneute Eigenstaatlichkeit gab. Serubbabel soll, aus dem Hause Davids stammend, als persischer Amtsträger die Rückführung der Judäer aus dem babylonischen Exil organisiert und mit dem Wiederaufbau des Tempels in Jerusalem begonnen haben. Darüber hinaus wurde zumindest in den Büchern Haggai und Sacharja die Hoffnung gehegt, dass er als messianische Figur die Unabhängigkeit Israels wiederherstellen könnte; vgl. dazu Hensel 2013. 47 Vgl. etwa Gerstenberger 2005, S. 129–131. Die durch die Perser geschaffene politische Ordnung erschien stabil, da sie sich durch „Vorhersagbarkeit, Verlässlichkeit und Verständlichkeit“ zumindest für einen Teil der judäischen Gemeinschaft auszeichnete und so bei diesem Vertrauen generierte (vgl. Endreß 2002, S. 50). 48 Zur Person des Esra siehe etwa Kratz 2004, S. 111–118. 49 Vgl. Esr 7,11–28; siehe dazu auch Hieke 2005, Kap. 2.1.: „Esra hatte den Auftrag, hier Ordnung zu schaffen, was auch im Sinne der persischen Zentralregierung war, die ‚unsichere Verhältnisse‘ weder in sozialer, noch in politischer oder religiöser Hinsicht gebrauchen konnte. Insofern ist es historisch sehr plausibel, dass sowohl Esra als auch Nehemia im Auftrag und mit Ausstattung der persischen Oberhoheit Reformen durchführten.“ 50 So kann man zumindest Neh 1–7 deuten; siehe dazu etwa Willi 1995, S. 82–90; ob allerdings Jehud tatsächlich zu einer „selbständigen, reichsunmittelbaren Provinz“ (S. 88) wurde, soll dahingestellt bleiben. Zu den Schwierigkeiten und Möglichkeiten einer historischen Verortung des Nehemia siehe Kratz 2004, S. 93–106.

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Gemeinschaft wurde ja bereits von einem König beherrscht, eben dem persischen. Vielmehr erscheint die Forderung des Volkes eine andere zu sein. Denn es wird ein eigener, judäischer König verlangt, welcher als Quelle der obersten Rechtsprechung dienen solle und damit eben nicht mehr die Vertreter der persischen Zentralmacht oder gar der persische Großkönig selbst. Der eigene, judäische König soll das Volk Israel im Krieg anführen, und zwar für die eigenen Kriege und nicht die des per­ sischen Großkönigs. Damit will das Volk Israel (wieder) sein wie alle anderen Völker auch. Die Forderung des Volkes in 1 Sam 8 stellt sich so also nicht als die Forderung nach einer spezifischen Herrschaftsform dar. Vielmehr handelt es sich hierbei um den Anspruch auf eine Unabhängigkeit vom Persischen Reich, aufgrund der offensichtlichen Schwächung der persischen Herrschaft. Das daraus erwachsene poli­tische Selbstvertrauen zumindest eines Teils der judäischen Gesellschaft scheint dann sogar zu der Forderung nach einer Wiederherstellung der verlorenen judäischen Eigenstaatlichkeit geführt zu haben.51 Im Weiteren scheint diese Forderung jedoch vom Verfasser des Textes entschieden zurückgewiesen zu werden, indem er Samuel die Nachteile eines Abfalls von der persischen Herrschaft aufzählen lässt: So werde es unausweichlich zum Krieg kommen und alle würden kämpfen müssen. Die Steuerlast werde ansteigen, gerade auch weil nun eine eigene Bürokratie finanziert werden müsse. Und schlussendlich bedeute ein eigener König nicht Freiheit für das Volk, sondern er sei nur ein neuer Herr und das Volk Israel sein Sklave.52 Die Entscheidung dazu steht zwar in der Macht des Volkes, denn Jahwe will es nicht verhindern. Die Entscheidung für die Eigenstaatlichkeit, welche nur durch einen Aufstand gegen die persische Herrschaft hätte durchgesetzt werden können, wird aber von Jahwe eindeutig abgelehnt. Mehr noch, Jahwe missbilligt dieses Vorgehen nicht nur, sondern er setzt in seinem Gespräch mit Samuel die Etablierung eines eigenen Königs mit dem Abfall des Volkes Israel von seiner eigenen Herrschaft gleich.53 Analysiert man den Text im geopolitischen Kontext des 5. Jahrhunderts v. Chr., wird die Herrschaft der Per-

51 Ähnlich auch Müller 2004, S. 130–147, besonders S. 144–146, welcher den Text ebenfalls in die erste Hälfte der persischen Herrschaft über Juda verortet und hier die Forderung nach der Wiederherstellung des Königtums erkennen will, allerdings vornehmlich eines Königtums, welches von der persischen Macht nicht unabhängig sei, sondern eher als das eines abhängigen lokalen Dynasten. Die Zurückweisung eines solchen lokalen, semiautonomen Königtums, wie sie in 1 Sam 8 deutlich werde, sieht er vornehmlich durch die ökonomischen Interessen der lokalen Elite bedingt. Allerdings könnte, so Müller weiter, gerade die Forderung nach einer eigenständigen Kriegsführung auch radikaler gedeutet werden: „Derartige Wünsche können unter den von uns angenommenen historischen Bedingungen nur politische Hasardeure äußern, die die relative Sicherheit, die das neukonstituierte Gemeinwesen ohne eigene Obrigkeit erreicht hat, durch das Festhalten an längst überholten Vorstellungen politisch-militärischer Eigenständigkeit leichtfertig aufs Spiel setzen. Den Monarchisten würde damit zuletzt auch noch extreme außenpolitische Kurzsichtigkeit attestiert“; ebd., S. 145. 52 1 Sam 8,11–18. 53 1 Sam 8,7 f.

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ser bzw. des persischen Großkönigs gleichsam zur Herrschaft des Jahwe.54 Damit würde dieser Diskurs etwa an die Ausführungen in Jes 45,1–8 anschließen, in welchen Kyros als Messias bezeichnet wird, der seine Herrschaft von Jahwe erhalten hat.55 All dies kann das Volk Israel zwar zurückweisen, aber nur zu seinem eigenen Schaden. Im Kontext der Erhebung Sauls zum ersten König von Israel, in welchen dieser politische Diskurs eingebettet wurde,56 kann das Volk sich am Ende natürlich nicht gegen die Königserhebung entscheiden. Und schon im nächsten Kapitel des ersten Samuelbuches ist dann auch keine Rede mehr von einem Widerstand des Jahwe oder des Samuel gegen die Erhebung Sauls zum König.57 Vielmehr ist dieser, genau wie sein Nachfolger David, der durch Jahwe erwählte Herrscher.58 Die Frage ist nun, wieso es ausgerechnet in der Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. zu einem solchen politischen Diskurs gekommen ist, welcher durch die Einbettung in die Prophetenbücher des Tanach sogar transzendiert wurde. Die Antwort darauf lautet, dass es zur Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. hin zu einer Vertrauenskrise in die Herrschaft der Perser im östlichen Mittelmeerraum gekommen war. Diese Krise wurde ausgelöst durch die persischen Niederlagen in den Kämpfen gegen die Griechen zwischen 490 und 478 v. Chr. und den Verlust der westkleinasiatischen Gebiete. Des Weiteren ging der Delisch-Attische Seebund ab dem Jahr 477 v. Chr. in die Offensive über und brachte die Herrschaft der Perser im gesamten östlichen Mittelmeerraum ins Wanken. So verlor das Achämenidenreich zeitweise die Kontrolle über Zypern und die Athener begannen im Jahr 460 v. Chr. in Ägypten zu intervenieren, wo ein Unabhängigkeitskampf gegen die persische Fremdherrschaft ausgebrochen war. Diese Vertrauenskrise bestand also wohl primär darin, dass kein ‚Vertrauen‘ mehr in die persischen Herren bestand, dass diese noch in der Lage wären, regionale Autonomiebestrebungen effektiv zu sanktionieren.59 Die Krise 54 Eine gänzlich andere Interpretation bietet etwa Crüsemann 1978, S. 73 f., der auf die Fremdheit des Königtums Jahwes in 1 Sam 8,7 und 12,12 innerhalb der deuteronomischen Texte hinweist. Er sieht darin eine vordeuteronomische Tradition, deren Entstehung in die Frühzeit des israelitischen Königtums bzw. seine Formierungsphase und den damit verbundenen Übergang von einer vorstaatlichen zu einer staatlichen Ordnung zu datieren ist; vgl. ebd., S. 73–84. 55 Allerdings warnt Williamson 1998 davor, dem Messias-Titel bereits die spätere Bedeutung zuzuschreiben. Vielmehr meint er: „it does not seem necessary to conclude further than that Cyrus is here said to be commissioned by God for a specific task“ (S. 239). 56 Dieser klare Bruch in der Erzählung ist es dann auch gewesen, welcher zu der Überlegung geführt hat, hierin einen späteren Einschub zu sehen. Vor allem Veijola 1977, S. 53–72, hat diesen Text daher als Produkt einer nachmonarchischen Endredaktion der beiden Samuelbücher gesehen. 57 Siehe etwa 1 Sam 9,17: „Als Samuel Saul sah, sagte der Herr zu ihm: Das ist der Mann, von dem ich dir gesagt habe: Der wird über mein Volk herrschen.“ 58 Vgl. etwa Jungbluth 2011, S. 19–21. 59 So hält etwa Endreß 2002, S. 60, fest, dass für eine politische Institution – hier wäre dies die persische Zentralregierung – „deren faktische Sanktionskraft entscheidend für die Stabilisierung des Institutionenvertrauens, also die Konsequenz, mit denen sie ihren Leitideen und Normen zuwiderlaufendes Handeln von Personen (inhaltlich umfassend, zeitlich angemessen und ohne Ansehen der Person) sanktionieren“, ist.

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der persischen Herrschaft wurde also von den Judäern zugleich als eine Chance zur Gewinnung der politischen Selbstständigkeit wahrgenommen. So war es wohl aber vor allem der ägyptische Aufstand zwischen 460 und 454 v. Chr., welcher die bereits bestehende Vertrauenskrise in die persische Herrschaft in Judäa verschärfte. Zwar war es bereits seit 486 v. Chr. immer wieder zu Unruhen in Ägypten gekommen, aber erst der Aufstand von 460 v. Chr.,60 mit der Erhebung des Inaros zum mehr oder weniger einheimischen Pharao,61 brachte die persische Herrschaft in Ägypten ernsthaft in Bedrängnis.62 Dies geschah wohl nicht zuletzt auch deswegen, weil sich die Athener – wie bereits erwähnt – in die Auseinandersetzung hineinziehen ließen.63 Dennoch scheiterte der Aufstand am Ende, Inaros wurde gekreuzigt und die Athener verloren fast ihre gesamte Expeditionsflotte.64 Möglicherweise waren es die Ereignisse in Ägypten, welche – besonders aufgrund der Anfangserfolge der ägyptischen Aufständischen – ähnliche Aspirationen auch in Teilen der judäischen Gesellschaft ausgelöst haben könnten. Denn auch in Teilen der judäischen Bevölkerung wurde diese Vertrauenskrise in die Durchsetzungsmacht der Perser als eine Chance wahrgenommen. Die Entsendung des Esra nach Jerusalem ist dann naheliegenderweise als mögliche Gegenmaßnahme der persischen Zentralregierung gedeutet worden, um eine ähnliche Abfallbewegung wie in Ägypten im Keim zu ersticken65 und von Seiten der Perser das Vertrauen in die Stabilität und Dauerhaftigkeit ihrer Herrschaft zu bekräftigen. Gegebenenfalls musste verlorenes Vertrauen auch durch politische Zugeständnisse zurückgewonnen werden. Auf diese Weise ließe sich der mit entsprechenden Kontrollmaßnahmen verbundene Auftrag des Esra zu Reformen in Judäa plausibel in diese

60 Siehe dagegen aber Kahn 2008, S. 435 f., welcher sich für eine andere Chronologie der Ereignisse ausspricht. Nach seiner Rekonstruktion war es bereits im Jahr 463/62 v. Chr. zu einem Aufstand unter der Führung des Inaros in Ägypten gekommen. Dieser entsandte ein Hilfegesuch an die Athener, welche daraufhin ihre auf einem Kriegszug nach Zypern befindliche Flotte nach Ägypten umleiteten. Der Aufstand endete, so Kahn, mit der Niederlage der ägyptischen und athenischen Kräfte bereits im Jahre 457 v. Chr., die Niederlage sei aber von Thukydides aus kompositorischen Gründen überzeichnet worden. Daher konnten die Athener bereits im Jahr 450 v. Chr. einen erneuten Angriff auf Zypern starten, welcher einen erneuten Aufstand in Ägypten auslöste, nun unter der Führung des Amyrtaios. Anders als in der Darstellung des Thukydides (Thuk. 1,104; 109 f.) handelte es sich also, folgt man Kahn, um zwei verschiedene Aufstände. 61 Herodot (Hdt. 3,12,4) bezeichnet ihn jedenfalls als „Inaros den Libyer“ ( Ἰνάρως ὁ Λίβυς) und Thukydides (Thuk. 1,104,1) als „Inaros, Sohn des Psammetich, Libyer, König der Libyer bei Ägypten“ ( Ἰνάρως δὲ ὁ Ψαμμητίχου, Λίβυς, βασιλεὺς Λιβύων τῶν πρὸς Αἰγύπτῳ). 62 Siehe dazu etwa Ray 1988, S. 275–277. 63 Vgl. Thuk. 1,104; 109 f. 64 Siehe dazu etwa Robinson 1999, der zu Recht darauf hinweist, dass die Verluste nicht alleine Athen, sondern auch die anderen Mitglieder des Delisch-Attischen Seebundes betroffen haben werden. Robinson geht jedenfalls von schätzungsweise 70 bis 100 verlorenen Trieren aus und einer Verlustquote von 14.000 bis 20.000 Kombattanten, wovon 5000 bis 6000 athenische Bürger gewesen sein könnten. 65 Vgl. Rainey 1969, S. 63.

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Deutung einer Vertrauenskrise in die persische Herrschaft einfügen, die sich in 1 Sam 8 reflektiert findet.

5. Ergebnis Es ist also festzuhalten, dass im ersten Buch Samuel durchaus ein politischer Diskurs geführt wird. Dabei handelt es sich aber nicht um ein Argument für oder gegen eine spezifische Herrschaftsordnung, schon gar nicht um eine Forderung nach Demokratie. Vielmehr scheint sich in diesem biblischen Text eine politische Auseinandersetzung innerhalb der judäischen Gemeinschaft des 5. Jahrhunderts v. Chr. widerzuspiegeln. Konkret scheint sich die Argumentation in 1 Sam 8 ganz aktuell gegen eine judäische Unabhängigkeitsbestrebung gewandt zu haben. Denn in diesem Diskurs ging es darum, der Vertrauenskrise in die persische Herrschaft argumentativ zu begegnen. Das Ziel war es zu verhindern, dass Teile der judäischen Bevölkerung diese Krise als eine Chance begriffen, sich gegen die Fremdherrschaft der Perser gewaltsam aufzulehnen. Eine solche Aufstandsbewegung wäre sicherlich, wie in Ägypten, mit der Ausrufung eines eigenen Königs verbunden gewesen. Die Vertrauenskrise eskalierte dann auch nicht zu einer offenen Abfallbewegung, und der judäischen Gemeinschaft wurde unter dem judäischen Potentaten Nehemia ab 445 v. Chr. eine weitergehende Autonomie von der persischen Reichsregierung zugestanden. Dieser Prozess könnte durchaus als eine Belohnung für die letztendlich erwiesene Treue zur Zeit des ägyptischen Aufstandes gedeutet werden.

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Zur Artikulation von Misstrauen in der öffentlichen Rhetorik der attischen Demokratie und der späten römischen Republik Karen Piepenbrink 1. Einleitung Über die Artikulation von Vertrauen in öffentlichen Diskursen wie auch deren komplexe Beziehung zu realer Vertrauens-Praxis in gegenwärtigen und historischen Gesellschaften ist in den vergangenen Jahren mannigfach gehandelt worden.1 Ich möchte mich im Folgenden dem – auf den ersten Blick – umgekehrten Phänomen widmen, also der Verbalisierung von Misstrauen nachgehen,2 und zwar anhand der öffentlichen Rhetorik des klassischen Athen sowie des spätrepublikanischen Rom.3 Mein Ansatz ist ein kulturvergleichender; Intention des komparatistischen Vorgehens ist, die Spezifika beider Räume in Bezug auf jene Thematik präziser zu fassen und sie in Hinsicht auf ihre Voraussetzungen und Hintergründe genauer zu beleuchten, als es bei der Beschränkung auf nur einen Kulturkreis möglich wäre.4 Spezielle Aufmerksamkeit soll dabei den Differenzen in der Diskursivierung von Misstrauen und deren möglichen strukturellen Ursachen gelten. Dieses Interesse resultiert nicht allein aus dem Umstand, dass die Frage nach Kontrasten bei vergleichenden Arbeiten generell von besonderem heuristischen Wert ist,5 sondern ist zudem unmittelbar sachlich bedingt: So ist in der Forschung bereits demon­ striert worden, dass sich in der Handhabe von Vertrauen einschließlich der Thematisierung jenes Gegenstandes durch die Zeitgenossen fundamentale Unterschiede zwischen den beiden antiken Gesellschaften feststellen lassen. In Rom handelt 1 Dabei ist nicht zuletzt herausgearbeitet worden, dass aus entsprechenden Explikationen nicht pauschal Rückschlüsse auf die soziale Praxis gezogen werden können, die Diskursivierung des Sujets vielmehr gesondert zu studieren ist; so etwa Frevert 2014, besonders S. 46 f.; ähnlich Timmer 2018, S. 259. 2 Niklas Luhmann hat darauf hingewiesen, dass Misstrauen nicht lediglich die Abwesenheit von Vertrauen meine, sondern als „funktionales Äquivalent“ zu Vertrauen aufzufassen sei, insofern beides komplexitätsreduzierend wirke und mit diesem Ziel zum Einsatz gebracht werden könne; siehe Luhmann 2014, S. 92 f. 3 Dem Misstrauen ist in der Forschung bislang deutlich weniger Aufmerksamkeit zuteilgeworden als dem Vertrauen; vgl. Timmer 2018, S. 258, mit Hinweisen auf weitere Literatur, in der hier ein Desiderat ausgemacht wird. 4 Zu Konzeptionen und Zielsetzungen vergleichender Studien im Bereich der Geschichtswissenschaft Haupt/Kocka 1996, besonders S. 9–13; Borgolte 2003, S. 313 f.; speziell mit Blick auf die griechische und römische Antike Meier 1996; konkret zu attischer Demokratie und römischer Republik Martin 1997. 5 Vgl. Haupt/Kocka 1996, S. 11.

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es sich bekanntlich um eine zentrale Kategorie des sozialen Bindungswesen, die nahezu durchgängig auch expliziert wird,6 wohingegen es im griechischen Kulturraum, der in hohem Grade durch Agonalität gekennzeichnet ist, keine vergleichbar distinkte Stellung erlangt.7 Markant sind schließlich Unterschiede in Bedeutungsgehalt und Semantik von fides und πίστις. Für die attische Demokratie des 4. Jahrhunderts, der unser Hauptaugenmerk gelten wird, ist allerdings gezeigt worden, dass Vertrauen hier – verglichen mit der archaischen Zeit, aber auch gegenüber dem 5. Jahrhundert – an Wertschätzung gewinnt.8 Ausgehend hiervon dürfte es instruktiv sein zu betrachten, wie es sich diesbezüglich zum Misstrauen und dessen Verbalisierung verhält.

2. Zu den Befunden und ihrer historischen Kontextualisierung 2.1 Misstrauen in Gerichtsrhetorik und rhetorisch-theoretischem Schrifttum Sichtet man die tradierten Reden wie auch die theoretischen Kompendien zur Rhetorik im Hinblick auf einschlägige Beispiele zur Artikulation von Misstrauen, so fällt rasch auf, dass wir es allein in quantitativer Hinsicht mit signifikanten Unterschieden zu tun haben: In der attischen Rhetorik finden sich zahlreiche explizite Belege zu ἀπιστία, ἄπιστος, ἀπιστεῖν und verwandten Begriffen, im Römischen sind entsprechende zu diffidere und Ähnlichem eher rar. Die vergleichsweise wenigen Beispiele, die hier vorliegen, weisen zudem eine spezifische Perspektivierung auf: Das angesprochene Misstrauen richtet sich dort zumeist gegen die Handlungsfähigkeit eines Akteurs, leugnet bzw. hinterfragt diese.9 Gewöhnlich geschieht das in Gerichtskontexten, wobei in Sonderheit zwei Varianten begegnen: die Selbstaussage eines Beklagten, der auf seine missliche Situation verweist, um das Wohlwollen der Juroren zu evozieren, oder aber die Aussage eines Klägers respektive Verteidigers, welche sich gegen einen Kontrahenten wendet und darauf zielt, jenen nachhaltig zu diskreditieren. Subtext ist im zweiten Fall, dass das Gegenüber – in der Regel bedingt durch deviantes Verhalten und entsprechende Kritik seiner Umwelt – bereits so stark geschwächt sei, dass es das Vertrauen in seine eigene Handlungskompetenz eingebüßt habe, auf eine effektive Verteidigung verzichte und seine Schuld eingestehe. Bei beiden Varianten wird das Misstrauen durch den Sprecher bei einer Einzelperson verortet, das heißt in dessen realer respektive vermeintlicher Selbstreflexion,10 nicht in der Beziehung von ego und alter, wie es in der griechisch6 7 8 9

Hierzu u. a. Ganter 2015, besonders S. 35–37. Vgl. Timmer 2016, besonders S. 36–38. Siehe Timmer 2016, S. 46–49. Vgl. Cic. Quinct. 77; Cluent. 1; 20; 63; Manil. 23; Mur. 45; har. resp. 35; prov. 38; Pis. 89; inv. 2,61. 10 In dieser Weise begegnet das Motiv auch in philosophischen respektive philosophisch inspirierten Texten; siehe etwa Cic. div. 2,8; hierzu auch unten Kapitel 2.7.

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römischen Gerichtsrhetorik gewöhnlich geschieht, wenn Prozessierende Emotionen artikulieren.11 So ist seitens des Sprechers nicht intendiert, eigenes Misstrauen gegenüber dem Betreffenden zu explizieren und dieses auf die Juroren zu transferieren. Im Hinblick auf die soziale Interaktion einschlägiger sind der Terminus perfidia und das zugehörige Adjektiv.12 Letztere aber beziehen sich zumeist nicht auf Misstrauen im Sinne eines Zweifels, dass das jeweilige Gegenüber die in ihn gesetzten Erwartungen hinfort erfüllt; vielmehr geht es dort gewöhnlich um einen Mangel an Loyalität oder Verstöße gegen normative Vorgaben, die bereits als Faktum konstatiert werden. Der Fokus richtet sich dabei stärker auf die Bewertung vergangenen Verhaltens als auf die Antizipation möglichen künftigen Tuns. Bereits an dieser Stelle tun sich Divergenzen auf, die verwundern mögen angesichts der Tatsache, dass wir hinsichtlich der Ausgangsbedingungen der Redner – nachgerade in der Forensik – insgesamt durchaus zahlreiche Parallelen greifen können: In beiden Räumen ist es auf dem Feld der öffentlichen Rhetorik essentiell, das jeweilige Auditorium für sich zu gewinnen und zu einer wohlwollenden Haltung zu motivieren. Dazu ist es nicht zuletzt angezeigt, die Hörer von der Glaubwürdigkeit der eigenen Position sowie der Vertrauenswürdigkeit der eigenen Person zu überzeugen wie auch vom umgekehrten Befund in Bezug auf den Gegner. Zu dem Zweck wird von den Prozessierenden übereinstimmend mit dem Instrumentarium der Ethopoiie gearbeitet, welches in der attischen Rhetorik entwickelt und von der römischen in weiten Teilen rezipiert wurde.13 Nichtsdestoweniger sind auf dem Feld Unterschiede zwischen den beiden Gemeinwesen auszumachen, die teils kategorischer, teils gradueller Natur sind. Bereits bei oberflächlicher Sichtung der Reden ist festzustellen, dass die Frage nach der Wahrhaftigkeit einer Aussage in der attischen Rhetorik markant herausgestellt wird. Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit werden hier eng verbunden, so dass die Sprecher verbreitet betonen, wahrheitsgemäß zu sprechen, während sie dem Kontrahenten Unwahrheiten zu attestieren suchen, um dessen Glaubwürdigkeit zu erschüttern und ihn so auch als Person zu desavouieren.14 Im römischen Raum wird in derartigen Zusammenhängen stärker über Vertrauen respektive Vertrauenswürdigkeit gehandelt, die in höherem Grade an normkonformes Verhalten im Rahmen sozialer Bindungen geknüpft sind und in geringerem Umfang an verbalen Aussagen im Kontext öffentlicher Kommunikation festgemacht werden.15 Misstrauen zu 11 Dies entspricht der Zielsetzung des movere; dazu mit Blick auf die römische Rhetorik u. a. Cic. de orat. 2,178. 12 Siehe z. B. Cic. Quinct. 75; 94; S. Rosc. 109 f.; 113; 117; Q. Rosc. 46; Verr. 2,1,40; Mur. 14; Flacc. 6; 81; Rab. Post. 33; Phil. 2,79; 11,5. 13 Dazu grundsätzlich Naschert 1994; speziell mit Blick auf den griechischen Raum Russell 1990; mit Bezug auf den römischen May 1988, besonders S. 5–10; Riggsby 2004, besonders S. 169– 172. 14 Hierzu mit Belegen Hesk 2000, besonders S. 227–231. 15 Entsprechend setzt auch die Kritik, die wir in Gerichtsreden oder Invektiven greifen, gern auf diesem Feld an; dazu Craig 2004, besonders S. 187–190. Analog verhält es sich mit der Selbstdarstellung der Betreffenden innerhalb der aristokratischen Konkurrenz, in der die persönliche virtus stark akzentuiert wird; zu dem Phänomen Hölkeskamp 2011, besonders S. 26.

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erwecken, ist auf dieser Grundlage im Normalfall nicht angezeigt, nicht zuletzt, da es in solchen Zusammenhängen üblicherweise nicht darum geht, Zweifel zu säen: In Anbetracht der Tatsache, dass eine eindeutige Einschätzung des Kritisierten vorausgesetzt wird, besteht dazu keine Veranlassung. Freilich ist das Kriterium der Identifikation mit der Polis einschließlich der zuverlässigen Ausrichtung auf deren Werte auch vor attischen Gerichten bedeutsam und wird dort gleichfalls als Maßstab aufs Tapet gebracht, um den Kontrahenten zu attackieren. Signifikant aber ist, dass solches in Athen gern mit dem Komplex des Misstrauens oder Verdachts hinsichtlich der Glaubwürdigkeit assoziiert wird, was in Rom in der Form nicht geschieht. Die angesprochenen Diskrepanzen lassen sich nicht nur anhand der erhaltenen Reden verifizieren, sondern auch aufgrund des rhetorisch-theoretischen Schrifttums. Einschlägig ist hier ein Vergleich zwischen den entsprechenden Arbeiten Aristoteles’ und M. Tullius Ciceros.16 Der Stagirite kapriziert sich stark auf das Phänomen der πίστις,17 wobei er bekanntlich drei Dimensionen unterscheidet: das ἦθος des Redners, das πάθος der Zuhörer und das Moment des λόγος, das er vor allem in systematischen, enthymematischen Argumentationen verwirklicht sieht.18 Seinem Verständnis nach hat der Rhetor alle drei Ebenen zu bedienen, um erfolgreich wirken zu können. Er persönlich präferiert dabei das dritte Moment, attestiert aber mit Rücksicht auf die Erwartungen der Mehrzahl der Bürger auch den beiden anderen Berechtigung und gelangt so zu der genannten Trias. Bei Cicero hingegen, der mit jenen Überlegungen offenkundig vertraut ist,19 tritt das argumentative Moment signifikant in den Hintergrund. Darüber hinaus problematisiert er die Glaubwürdigkeit des Redners bzw. die Frage, inwieweit eine Aussage als wahrhaftig anzusehen ist, nicht in vergleichbarem Umfang.20 Wenn er solches tut bzw. Akteure in Verteidigungsreden zu derartiger Skepsis anzuhalten sucht, dann unter Bezugnahme auf deren soziale Verpflichtung als Anwälte, ihre Mandanten auf diesem Weg vor unangemessen agierenden Anklägern zu schützen.21 Die Evokation von Misstrauen bezüglich des Gehalts von Aussagen des Betreffenden ist dabei nicht vorrangig 16 Das meint insbesondere Aristoteles’ Rhetorik und Ciceros Schrift De oratore. Ciceros rhetorisches Frühwerk De inventione ebenso wie die Rhetorica ad Herennium, deren Autorschaft bis heute umstritten ist, sind hier noch nicht einschlägig. Beide Schriften orientieren sich – unter anderem im Hinblick auf die Gestaltung der Beweismittel – stark an griechischen Vorbildern und adaptieren diese erst in Ansätzen an den römischen Kontext. Infolgedessen sind sie in ihren Instruktionen zur Formulierung von Argumenten dem griechischen Kulturraum stärker verpflichtet als die erhaltenen Reden. Zu den Quellen jener Schriften und ihrer Prägung durch griechisch-hellenistische Elemente Kennedy 1972, S. 114–148. 17 Vgl. Johnstone 2018, S. 387. 18 Zur Kombination jener Beweisgründe Aristot. rhet. 1356 a 1–7; zu seiner Konzeption von ‚Enthymemen‘ und seiner Haltung hierzu unter anderem Burnyeat 1994. 19 Siehe besonders Cic. de orat. 2,115. Nach wir vor umstritten ist allerdings, ob bzw. in welchem Umfang Cicero die aristotelische ‚Rhetorik‘ kannte respektive über welche Zeugnisse er mit den rhetorischen Überlegungen des Philosophen in Berührung gekommen ist; zu dem Komplex Fortenbaugh 1989, S. 43; Barnes 1997, S. 52 f. 20 Zu jener ‚Schwerpunktverlagerung‘ gegenüber Aristoteles Schweinfurth-Walla 1986, besonders S. 217; Kirby 1997, S. 16; Arena 2013, S. 195; mit Blick auf Cicero auch Manuwald 2019, S. 280. 21 Vgl. Cic. off. 2,51; dazu Riggsby 1999, S. 10 f.

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intendiert – anders bei Aristoteles, der voraussetzt, dass ein Redner in eben diesem Sinne agiert.22 Ähnlich dem Philosophen verfährt etwa zeitgleich Anaximenes von Lampsakos in seiner Rhetorica ad Alexandrum, der zudem auf die mangelnde Vertrauenswürdigkeit der verschiedenen Typen von Zeugen und ihrer jeweiligen Aussagen abhebt.23 Mangel an Vertrauen berücksichtigt in seinem rhetorisch-­ theoretischen Schrifttum durchaus auch Cicero, expliziert es aber vorrangig als Gegenstück zum Vertrauen, und das bezeichnenderweise in einem Kontext, in dem er über virtutes und deren antithetische Entsprechungen, also über vitia, handelt.24 2.2 Differenzen in sozialen Werten Die Ursachen für jene Unterschiede zwischen attischem und römischem Raum sind vielschichtig. Insgesamt gestaltet sich die – aus Sicht des jeweiligen Umfeldes – adäquate Einschätzung der Akteure vor Gericht in Athen diffiziler als in Rom. Dies hat zunächst einmal damit zu tun, dass die normativen Kriterien in der griechischen Polis heterogener sind. Römische Redner operieren mit einem – von den Zeitgenossen als weitgehend homogen begriffenen – Wertekanon, der sich insbesondere auf den mos maiorum gründet und einer vergleichsweise klaren Differenzierung von virtutes und vitia folgt.25 In Athen begegnen manifestere Wertekonflikte, aber auch Irritationen im Hinblick auf adäquate Werte und Werthaltungen.26 Dort bestehen in geringerem Maße als in Rom fixe Bezugspunkte;27 vielmehr handelt es sich beim Terrain der Werte in der Polis der Athener um ein Feld, das diskursiv verhandelt werden kann. Dies betrifft namentlich das Streben nach Ehre (φιλοτιμία) oder das Moment der Freigebigkeit (εὐεργεσία), die je nach personeller Konstellation und situativen Merkmalen skeptisch betrachtet oder aber affirmiert zu werden vermögen.28 Mahnungen zu Misstrauen können hier unmittelbar anknüpfen – so betreffs der Intention, mit der ein Bürger sich als Wohltäter betätigt.29

22 23 24 25 26 27 28 29

Aristot. rhet. 1398 a 10. Anaximen. rhet. 1431 b 23; 1431 b 32; 1432 a 20; 1438 b 10 f.; 1443 b 28; 1444 a 4. Cic. inv. 2,165; ähnlich Rhet. Her. 1,13. Diesbezüglich zu Cicero unter anderem Blösel 2000, S. 68–85; Hammar 2013, besonders S. 44–48; 329–331; grundsätzlich auch Keller 2005, besonders S. 201–208. Dies geht einher mit Konflikten zwischen den Bezugsebenen, darunter der ‚Loyalität‘ gegenüber Freunden und deren Verhältnis zur Treue zur Polis. Auch in dem Sinne kann mit dem Begriff der ἀπιστία gearbeitet werden; dazu Mitchell 2014, besonders S. 73–75. Zum Nexus von Vertrauen und gesellschaftlichen Werten in Rom Timmer 2018, S. 81–88. Dazu unter anderem Hakkarainen 1997, besonders S. 13–19; Ferrucci 2013, besonders S. 130– 133. Siehe z. B. Demosth. or. 23,184; zu dem Komplex grundsätzlich Gauthier 1985, besonders S. 11 f.

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2.3 Unterschiede in der Haltung zur Rednertätigkeit sowie in den Erwartungen an Erkenntnis und Wissen Hinzu kommt die ambivalente Bewertung der Redner in Athen,30 die mit verbreiteter Skepsis gegenüber den πολιτευόμενοι einhergeht. Ein Grundproblem, das hier regelmäßig thematisiert wird, ist die Wirkmächtigkeit der Rhetorik respektive δεινότης des Redners.31 Sie schließt an den Diskurs über die Sophistik an,32 die in den tradierten Reden konstant negativ gezeichnet wird – gewöhnlich mit der Intention, den Gegner als σοφιστής zu diskreditieren, der sein rhetorisches Können instrumentalisiere, um die Hörer zu irritieren und zu Entscheidungen zu motivieren, die Partikularinteressen dienten und dem Gemeinwohl zuwiderliefen.33 Dies bietet einen weiteren Ansatzpunkt, um – eingebettet in den rhetorischen Agon – Misstrauen zu evozieren.34 Verstärkt wird jene Problematik noch durch epistemologische Debatten in philosophischen Kontexten,35 die teils auch die Rhetorik affizieren. Markant ist dabei speziell die für die Sophistik zentrale Vorstellung, dass sich zu jeder Position eine Gegenposition formulieren lasse.36 Zuverlässige Indikatoren zur Bewertung der Aussagen – gerade solche, die nicht ihrerseits von der Redekunst geprägt sind – lassen sich nur schwer generieren, geschweige denn zur Anwendung bringen. Daneben begegnen gleichsam prekäre traditionelle Motive wie das der klugen Täuschung, das bereits mit Odysseus verbunden wird,37 oder auch die Vorstellung von der ‚edlen Lüge‘, bei der vorgeblich zum Vorteil des Gegenüber die Unwahrheit gesagt wird.38

30 Dazu unter anderem Ober 1989, S. 105–108; Arthurs 1994, S. 6 f. 31 So etwa Lys. 12,86; 14,38; Demosth. or. 18,277; 22,66; Aischin. Ctes. 215; für weitere Belege siehe Dover 1974, S. 25 f.; Ober 1989, S. 106; prinzipiell zu dem Gegenstand Powell 2007, S. 5 f. 32 Ein wichtiger Referenzpunkt sind dabei die einschlägigen Positionen des Gorgias zur Rede als „großer Bewirkerin“ (δυνάστης μέγας) (DK 82 B 11,8); zu dem Phänomen und seiner Rezeption unter anderem de Romilly 1975, S. 1–22; Verdenius 1981, besonders S. 116; Wardy 1996, S. 40 f. 33 Siehe z. B. Demosth. or. 18,276; 19,246.250; 29,13.32.35.39 f.; Aischin. Tim. 125; 175; leg. 112; Ctes. 202; zu dem Vorwurf mit weiteren Belegen Dreßler 2014, S. 77–79. 34 Den in dem Zusammenhang in attischen rhetorischen Kompendien formulierten Gedanken, dass der Zuhörer die Kunst nicht bemerken solle (vgl. Aristot. rhet. 1404 b 18 f.), expliziert auch Cicero (Cic. de orat. 2,156; 2,177; dazu Andersen 2001, S. 8), gleichwohl eher unter rezeptionsästhetischen Gesichtspunkten und ohne die kritischen politischen Implikationen, die dem in attischen Reden zugrunde liegen. Zur zentralen Rolle des Komplexes in der attischen Rhetorik Johnstone 2011, S. 149–153. 35 Dazu mit Belegen aus Platons Phaidros Murray 1988, besonders S. 280, 284. 36 Am prägnantesten manifestiert sich dies in den Δισσοὶ λόγοι (DK 90); zu dem Komplex Yunis 1998. 37 Dazu Hesk 2000, besonders S. 7–12. 38 Dazu Hesk 2000, besonders S. 2–4.

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2.4 Diskrepanzen im Rechts- und Gerichtswesen Zusätzlich zu den schon genannten Faktoren sind in dem Zusammenhang Spezifika des Rechts- und Gerichtswesens virulent: So wird Misstrauen in Athen auch im Hinblick auf den Umgang mit dem Recht thematisiert. Dazu wird – stärker als in Rom üblich – angemerkt, dass Gesetze uneindeutig formuliert seien oder zu sehr generalisierten, als dass eine adäquate Anwendung auf den Einzelfall durchgängig gewährleistet sei.39 Diese Problematik, die unter anderem aus dem Fehlen einer systematischen Gesetzesexegese resultiert,40 lässt sich seitens der Redner als Ansatzpunkt für Missbrauch zeichnen, in Anbetracht dessen die Juroren Aufmerksamkeit walten lassen sollten.41 Nun ist jene Schwierigkeit auch in Rom, nachgerade in der republikanischen Ära, als der Professionalisierungsgrad im Bereich der Rechtsprechung noch vergleichsweise niedrig ist, keineswegs unbekannt;42 jedoch wird dort anders damit verfahren: Gängig ist der Verweis auf soziale Normen bzw. Werte und deren Nexus mit dem verschrifteten Recht bzw. mit aequitas oder bona fides.43 In Athen existiert seinerseits die Vorstellung, dass die verschrifteten νόμοι mit den Werthaltungen sowie den politischen Prämissen der Polis eine Einheit bildeten, so dass bei Rechtsstreitigkeiten mit dem gesamten Komplex argumentiert zu werden vermag. Dessen ungeachtet werden in dem Bereich aber auch Spannungen angenommen, etwa indem kompetitive Werte und Gesetze konfligieren oder Verweise auf Billigkeit als heikel gelten, weil sie als Plädoyers zugunsten ungeschriebener Gesetze verstanden werden können und als nicht uneingeschränkt demokratieaffin gelten.44 Hinzu gesellen sich weitere relevante Differenzen betreffs des Gerichtswesens: In Rom gehören die Akteure – die Prozessierenden wie die Juroren – mehrheitlich den privilegierten Ständen an.45 Misstrauensvorwürfe, die gegen den Gegner erhoben und an die Richter adressiert werden, wobei mehr oder weniger explizit an deren grundlegende Skepsis gegenüber Angehörigen der gehobenen sozialen 39 Zu dem Phänomen unter anderem Sickinger 2008. 40 Zu dieser viel diskutierten Problematik beispielsweise Todd 1993, S. 61 f. 41 Zu derartigen Argumentationen unter anderem Arnaoutoglou 2019, besonders S. 194 f.; Harris 2019, besonders S. 52. 42 Gängig ist auch hier etwa die Frage, inwieweit eine Orientierung am Buchstaben des Gesetzes postuliert wird und in welchen Zusammenhängen bzw. auf welcher Grundlage gegebenenfalls davon abgewichen werden darf; dazu Cic. de orat. 1,244. Dispute um Zweideutigkeit von Begriffen u. a. scheinen Cicero hingegen rechtspraktisch wenig relevant; vgl. Cic. de orat. 2,111. 43 Zu den unterschiedlichen normativen Bezugspunkten, die in römischen Prozessen angeführt werden können, Bleicken 1975, S. 236; Kirov 2005, S. 14; Lundgreen 2014, besonders S. 130– 142; konkret zu entsprechenden Argumentationen Ciceros Harries 2006, S. 68–70. 44 Zu dem Sujet mit Quellen- und Literaturhinweisen Piepenbrink 2017, besonders S. 16. 45 Dazu Lintott 2004, S. 74–77. In Athen gilt dies für einen Großteil der Kläger und Beklagten ebenfalls; zwischen Prozessierenden und Juroren herrscht hier jedoch vielfach eine soziale Diskrepanz. Um Problemen, die hieraus resultieren könnten, vorzubeugen, sind beide Parteien gewöhnlich bestrebt, ihren Respekt vor dem Gericht zu dokumentieren, der aus dessen politischer Stellung hergeleitet wird; zu dem Komplex Martin 2006, besonders S. 86 f.; Serafim 2017, S. 32–37.

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Schichten appelliert wird,46 haben hier im Unterschied zu Athen keinen Platz. Die im ciceronischen Corpus überlieferten Reden betreffen fast ausnahmslos bekannte Persönlichkeiten; für die aus Athen erhaltenen Reden gilt dies – speziell bei Privatprozessen – nicht im gleichen Umfang, was indes nicht allein Unterschieden im Gerichtswesen, sondern auch der Kontingenz der Überlieferung geschuldet ist. In vielen der aus Athen bezeugten privaten Prozesse sind weder alle beteiligten Personen noch sämtliche Tathintergründe stadtbekannt, was Raum für Appelle an Misstrauen und Zweifel bietet. Überdies sind die Prozessierenden ihrerseits dort nicht in jedem Fall miteinander vertraut, beispielsweise in Handelsangelegenheiten, in die auch Personen involviert sein können, welche nicht in Athen ansässig sind.47 In Anbetracht dessen lässt sich seitens der Akteure anmerken, dass sie bedingt durch Misstrauen einen schriftlichen Vertrag über das betreffende Geschäft abgeschlossen hätten – nicht zuletzt, um den Juroren zu signalisieren, dass sie nicht etwa aus Mangel an Misstrauen leichtfertig gehandelt hätten.48 Relevant für den römischen Befund ist schließlich die Existenz eines Gerichtspatronats,49 der Argumentationen begünstigt, welche den sozialen Status und die einschlägigen sozialen Bindungen der Beteiligten akzentuiert.50 Selbstdarstellungen wie auch Darstellungen des jeweiligen Kontrahenten sind dort in hohem Grade durch soziale Rollen affiziert,51 darunter solche, die auf festen amicitia/inimicitiaVerhältnissen gründen,52 die in Athen nicht in vergleichbarer Form existieren. Spezifika des je aktuellen Falles und deren Verbalisierung treten weniger in den Vordergrund, als es in Athen üblich ist.

46 Zu jener Skepsis Ober 1989, S. 182–187; 217–219. 47 Siehe etwa Demosth. or. 32,16; 34,32. Zu dem Phänomen, das wir besonders ab der Mitte des 4. Jahrhunderts greifen, Cohen 1973, S. 129–136. 48 Zu dem Komplex etwa Demosth. or. 27,55; 29,47; 32,16; 34,32; zum historischen Hintergrund Thomas 1989, S. 41 f.; Cohen 2003, S. 92–96. Dass in Rom bei bestimmten Typen von Geschäften gleichfalls schriftliche Verträge an der Tagesordnung sind, ist unstrittig. Entscheidend für uns ist, dass in dem Zusammenhang nicht vergleichbar markant auf Misstrauen verwiesen wird. 49 Hierzu unter anderem David 1992, besonders S. 107–126, 407–457; ders. 1997, besonders S. 28–32; Ganter 2015, S. 31–38. 50 Zu der Frage, von welcher Bedeutung der Verweis auf Wahrhaftigkeit bzw. tatsächliche Wahrhaftigkeit auf dieser Grundlage sind, Riggsby 1999, besonders S. 5 f.; Alexander 2007, S. 104; Gildenhard 2011, S. 171. 51 Hierzu Swarney 1993, S. 137 f.; Jehne 2000, besonders S. 174. 52 Dazu unter anderem Epstein 1987, S. 90–126; David 1992, S. 171–226; Flaig 2003, S. 137–154; Rollinger 2014, besonders S. 122–132.

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2.5 Unterschiede in Demegorien: Differenzen in der Rolle der Volksversammlungen und der rhetorischen Konturierung des außenpolitischen Handlungsfeldes Für unsere Thematik essentielle Unterschiede sind nicht nur in dikanischen, sondern auch in demegorischen Reden auszumachen. Ein Spezifikum der attischen Demokratie ist im Vorwurf der ‚Täuschung des Volkes‘ (ἀπάτη τοῦ δήμου) zu sehen, der sich nachgerade auf Redebeiträge vor der Volksversammlung einschließlich dortiger Anträge bezieht und sich bis zu einem juristischen Tatbestand auswachsen kann.53 Ein probates Mittel im rhetorischen Schlagabtausch bildet dabei weniger der profunde Nachweis einer bereits vollzogenen Täuschung als vielmehr die Andeutung, dass ein Redner eine Täuschungsabsicht hege und entsprechend Misstrauen angezeigt sei. Umgekehrt sucht ein Rhetor Verdachtsmomenten dieser Art vorzubeugen bzw. solche abzuwenden, indem er betont, mit seinen Vorschlägen tatsächlich das Gemeinwohl zu fokussieren, so dass ihm Täuschungsintentionen, die gewöhnlich mit nur vorgeblicher Ausrichtung auf gemeinsame Belange assoziiert werden, fernliegen.54 Beteuerungen dieser Art korrespondieren mit Grundelementen der attischen Demokratie, die in Rom nicht in vergleichbarer Weise existieren: der offenen Debatte vor beschlussfassenden Volksversammlungen oder auch dem rednerischen Agon, der mit dem Umstand einhergeht, dass die Akteure gewöhnlich nicht den Status von Amtsträgern besitzen bzw. keine Amtsautorität für sich reklamieren und somit keine vorgängige Autorität ins Feld führen können.55 Auch die Bewertung von Misstrauen ist in Athen vor Gericht wie in der Volksversammlung durch den rhetorischen Wettbewerb geprägt: Positiv gewürdigt wird Misstrauen – im Sinne einer adäquaten Skepsis – gegenüber der Gegenseite; negativ bewertet wird es, wenn es der eigenen Position entgegenschlägt und so die Chancen drastisch mindert, in Abstimmungen als Sieger hervorzugehen. Dabei wird seitens der Betreffenden stets insinuiert, dass der eigene Vorschlag dem Wohl des Volkes entspreche. Gleichfalls negiert wird Misstrauen als Charakteristikum des bürgerlichen Miteinanders.56 Hier wird in Sonderheit an die Tyrannentopik angeschlossen, wobei Misstrauen sowohl als typische Haltung des Tyrannen selbst wie auch als tyrannisches Herrschaftsinstrument gezeichnet wird, indem ein derartiger Regent auf die Erosion von Ver-

53 Zu dem Phänomen Hesk 2000, S. 51–64; Kremmydas 2013, S. 51 f. 54 Zu dem Themenfeld mit Belegen aus den attischen Rednern Kirner 2001, besonders S. 46 f.; Kremmydas 2013, S. 54–64. 55 Dazu Finley 1962, S. 15; anders verhält es sich in Rom; hierzu Hölkeskamp 1995, besonders S. 34 f.; ders. 2013b, S. 22. 56 In dem Sinne zum Beispiel Demosth. or. 10,45.52.

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trauen unter den Bürgern hinwirke und so nicht zuletzt die politische Interaktion in der Stadt unterminiere.57 Relevant im Hinblick auf die attische Ekklesie ist weiterhin, dass dort die zen­ tralen politischen Fragen verbalisiert, kontrovers diskutiert und entsprechend dem Majoritätsprinzip entschieden werden.58 Für Skepsis gegenüber dem gesprochenen Wort bestehen bei einem solchen Setting zahlreiche Ansatzpunkte, die in römischen Volksversammlungen nicht gegeben sind: Dort haben wir es mit einer weitgehenden Trennung von beschlussfassenden Versammlungen und solchen, in denen politische Themen öffentlich artikuliert werden, zu tun.59 Selbst in letzteren, den contiones, aber begegnen diskursive Praktiken nur eingeschränkt.60 Verbale Attacken auf Kontrahenten haben hier nicht den Charakter offener Auseinandersetzungen und reflektieren abermals stärker den sozialen Status der Beteiligten und ihre Stellung im Rahmen des römischen Bindungswesens als konkrete Vorschläge und deren Motivation.61 Mit gewissen Einschränkungen gilt dies selbst für Senatsdebatten.62 Verschiedenheit besteht weiterhin darin, dass in Athen in der Ekklesie intensiv auch über außenpolitische Entscheidungsfragen disputiert wird, wie sie sich in Rom in spätrepublikanischer Zeit überhaupt nur noch reduziert stellen. Misstrauen wird an der Stelle in Athen nicht nur mit Blick auf einzelne Redner artikuliert – besonders beliebt sind dabei Korruptionsvorwürfe63 –, sondern auch in Hinsicht auf Sachfragen der zwischenstaatlichen Politik. Paradigmatisch ist an der Stelle Demosthenes: Zunächst einmal konstatiert er ein Übermaß an Misstrauen unter den griechischen Poleis, das mit einem Mangel an Kooperationsbereitschaft und Skepsis gegenüber Bündnissen einhergehe und den Aufstieg Philipps erst möglich 57 Siehe etwa Demosth or. 18,47. Der Nexus von Gemeinwohl, Fehlen von Misstrauen und ökonomischer Prosperität, wie ihn etwa der sogenannte Anonymus Iamblichi herstellt (dazu Faraguna 2012, S. 360 f.), spielt in Reden keine zentrale Rolle. In der öffentlichen Rhetorik können Aussagen dieser Art leicht zu Irritationen führen, indem sie Interessen des Oikos in den Vordergrund rücken. Der Vorwurf, Belange des Oikos zu präferieren, aber kann eine Quelle für weiteres Misstrauen darstellen; hierzu Kirner 2001, S. 33 f. Zur Propagierung des Gemeinwohls in der attischen Rhetorik des 4. Jahrhunderts auch Timmer 2016, besonders S. 46–49. 58 Zu dem Sujet, seinen kulturellen Implikationen und politischen Konsequenzen Flaig 2013, besonders S. X; Stein-Hölkeskamp 2014, besonders S. 126; 130; 134 f. 59 Zu dem Gegenstand Morstein-Marx 2004, S. 34–42; 160–203; Alexander 2007, besonders S. 99 f. Offene Kontroversen über Sachfragen finden am ehesten im Senat statt; dazu Ramsey 2007, S. 128. 60 Zu den zugrundeliegenden Bedingungen der Kommunikation in den contiones etwa Fantham 1997, S. 113; Hölkeskamp 1995, besonders S. 27–29; ders. 2013a, besonders S. 106 f.; MorsteinMarx 2013, besonders S. 30 f.; Flaig 2017, besonders S. 526 f. 61 Dazu unter anderem Pina Polo 2018, besonders S. 108–113. 122; Yakobson 1999, S. 148–155; Steel 2011, besonders S. 36–68; Tatum 2013, besonders S. 146 f.; van der Blom 2017, besonders S. 325; Lushkov 2018, besonders S. 230. 62 Zur Bedeutung des Konsenses auch im Senat Graeber 2001, S. 157 f.; Timmer 2009, besonders S. 395. Selbst die altercationes, die hier praktiziert werden können, fokussieren stark personale Momente, die nur eingeschränkt durch die je aktuelle Streitfrage bestimmt sind; zu dem Phänomen van der Blom 2016, S. 41. 63 So Demosthenes in der Auseinandersetzung mit Aischines; siehe zum Beispiel Demosth. or. 19,27.53.302.

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gemacht habe.64 In dem Zusammenhang fordert er seine Mitbürger auf, eine aktive Rolle im Abwehrkampf gegen die Makedonen einzunehmen. Er ermahnt sie, im Sinne ihrer Worte zu handeln, um bei möglichen Bündnispartnern kein Misstrauen betreffs ihrer Vertrauenswürdigkeit und Zuverlässigkeit zu verbreiten.65 Daneben attestiert er seinen politischen Widersachern, die sich einem offensiven Vorgehen gegen Philipp gegenüber zögerlich zeigen, ein Defizit an Misstrauen gegenüber dem Makedonenkönig.66 In der Relation zwischen der Poliswelt und der makedonischen Monarchie macht er einen fundamentalen Konflikt aus, angesichts dessen seinem Dafürhalten nach mit Misstrauen operiert werden sollte.67 Hier stoßen wir auf einen Vorläufer zur Artikulation von Misstrauen im Kontext von Systemkonflikten, wie sie seitens der politologischen und soziologischen Forschung – freilich unter anderen Prämissen – auch in Diskursen des 20. und 21. Jahrhunderts beobachtet worden ist.68 Insgesamt diagnostiziert Demosthenes – speziell im Vergleich zum 5. Jahrhundert v. Chr. – einen Mangel an transparenten Strukturen, klaren Konstellationen und kalkulierbaren Verhältnissen,69 die sich nicht zuletzt im Umgang mit Misstrauen niederschlagen: einem Zuviel auf der einen, einem Zuwenig auf der anderen Seite.70 2.6 Misstrauen gegenüber Institutionen? Kehren wir noch einmal zum Bereich der inneren Politik zurück. Misstrauen im Hinblick auf Institutionen findet sich – anders als aktuell mit Blick auf gegenwärtige politische Konfigurationen diskutiert – in beiden antiken Gesellschaften in der öffentlichen Rhetorik nicht bzw. wird dort ausdrücklich nicht goutiert. Aus Athen haben wir Beispiele, dass Angeklagte eigens betonen, kein Misstrauen gegen die Richter zu hegen.71 Zweifel an deren Gesetzesobservanz anzudeuten, würde seitens der Juroren als massive Respektlosigkeit ausgelegt. Solches wird in Reden auf dem Hintergrund thematisiert, dass zumindest bis ins frühe 4. Jahrhundert Gegenbeispiele vorgekommen sind – speziell bei Personen mit aristokratischem Habi-

64 So etwa Demosth. or. 1,22; 8,15; grundsätzlich zu der Problematik Osmers 2015, besonders S. 46–48; zum Aufstieg Philipps Demosth. or. 9,21. 65 Zu dem Komplex Demosth. or. 2,12; 9,50; vgl. Demosth. or. 18,176.188. 66 Verstärktes Misstrauen gegenüber Philipp schiene ihm hingegen angezeigt, um den Mangel an Vertrauen untereinander zu überwinden; vgl. Demosth. or. 10,50. 67 Zu dem Themenfeld etwa Demosth. or. 1,5; 2,5; vgl. Demosth. or. 2,13; 6,24; 9,38. Er knüpft hier teils an das Motiv der (adäquaten) Furcht gegenüber Tyrannen an, das auch in innergriechischen Kontexten begegnet; ähnlich Isokr. or. 8,112; 10,33. 68 Dazu Hardin 2004, S. 9–12; zur positiven Konnotation von Misstrauen in derartigen Kon­ stella­tionen auch Larson 2004, besonders S. 38–42; 54 f. 69 Demosth. or. 10,51 f. 70 Die Poleis hegten Misstrauen gegeneinander statt gegen den, der ihnen gemeinsam Unrecht zufüge; so Demosth. or. 9,35. 71 Siehe etwa Demosth. or. 18,6 f.

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tus, die teils in Verdacht gerieten, der Demokratie feindlich gesonnen zu sein.72 Beteuerungen von Angeklagten, den jeweiligen Richtern nicht zu misstrauen, begegnen auch im ciceronischen Corpus, jedoch weniger stark markiert und eher im Sinne einer captatio benevolentiae, so in der Verteidigung des Sextus Roscius. Er äußert dort seine Sorge, den Anschein zu erwecken, dem Verstand der Richter zu misstrauen (ingeniis vestris videar diffidere), wenn er noch länger über durchsichtige Dinge spreche.73 Misstrauen angesichts der realen Bedrohungen, mit denen er in dem Prozess in der nachsullanischen Ära konfrontiert ist, expliziert er nicht. Heutige Befunde zu dem Gegenstand, die eine kritische Haltung gegenüber staatlichem Handeln insinuieren, gehen von anderen Voraussetzungen aus: Sie stehen in einer liberalen Tradition, die Freiheitsrechte des Einzelnen gegenüber dem Staat proklamiert, und operieren mit einem Konzept von Bürgergesellschaft, welche als politisch aktiv verstanden wird, sich aber bevorzugt außerhalb etablierter Institutionen engagiert und zu jenen kritisch Distanz bezieht.74 In Athen wie Rom besteht hingegen eher die Sorge, dass Einzelpersonen Institutionen paralysieren, als dass die Institutionen als solche ein Gefahrenpotential bergen. 2.7 Epistolographie und Verbalisierung von Misstrauen in Rom Aus den bisherigen Ausführungen folgt freilich nicht, dass im spätrepublikanischen Rom über Vertrauensverluste oder die Abwesenheit von Vertrauen nicht gehandelt würde. Es geschieht gleichwohl in anderen Medien: Bezogen auf das ciceronische Werk findet sich die Mehrzahl der Belege in philosophischen Schriften bzw. in Briefen. In den Tusculanen etwa gibt er eine Definition von Misstrauen im Sinne einer Angst im Hinblick auf ein erwartetes bzw. drohendes Unheil,75 stellt hier aber keinen Bezug zum öffentlichen Leben her, sondern kapriziert sich auf das Problem der Einstellungen und Leidenschaften des Einzelnen. In Briefen werden Vertrauenserosionen zuvorderst mit Blick auf persönliche Bindungen innerhalb der politischen Elite vermerkt, beispielsweise in Kontexten gescheiterter Versöhnungsversuche.76 Zudem lässt sich in Kommendationsschreiben das Ansinnen formulieren, etwaigem Argwohn hinsichtlich der Loyalität der anempfohlenen Person entgegenzuwirken.77 Mit Blick auf den incestum–Prozess gegen P. Clodius Pulcher im Anschluss an den Bona-Dea-Skandal moniert Cicero unter anderem die Arbeit des für den Fall 72 Beispiele hierfür finden sich im antiphontischen Corpus; dazu mit Belegen Piepenbrink 2019, besonders S. 119–126. 73 Cic. S. Rosc. 82. 74 Hierzu etwa Hardin 2004, S. 23; Ullman-Margalit 2004, S. 75–79. 75 Cic. Tusc. 4,80. 76 Siehe etwa Cic. Att. 1,11,1. Dabei geht es auch um persönliche Zurückweisungen und Verweigerung von Kooperation in Verbindung mit Misstrauensbekundungen; dazu am Beispiel des ciceronischen Briefkorpus Hall 2009, besonders S. 111–117. 77 Siehe zum Beispiel Cic. fam. 3,10,6–11; zu Intention und historischem Kontext Schneider 1998, S. 410–418.

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installierten Gerichts, bemerkt, dass sämtliche honorige Männer das Vertrauen in jene Einrichtung verloren hätten, wobei die Kritik auf die Person des Clodius und die von ihm veranlasste Zusammensetzung der Juroren zielt.78 Überhaupt kann in Briefen – anders als in Reden – angesichts problematischer Personen als Träger hoher Ämter die Frage aufgeworfen werden, inwieweit nicht den Einrichtungen selbst mit Misstrauen begegnet werden müsse.79 In Episteln besteht ferner die Möglichkeit, Misstrauen bezüglich brisanter politischer Situationen zu äußern.80 Ein weiteres Problem in der Endphase der Republik, das wiederum Cicero in Briefen zur Sprache bringt, ist die Haltung der Angehörigen der Nobilität gegenüber C. Iulius Caesar, darunter die Sorge, dessen Misstrauen hinsichtlich der eigenen Loyalität zu erregen.81 An der Stelle sind wir freilich bereits mit einem veränderten Handlungsrahmen konfrontiert, der für herkömmliche rhetorische Praktiken a priori keinen Raum mehr lässt. Insgesamt ist zu beobachten, dass Misstrauen in den römischen Zeugnissen, wenn es denn verbalisiert wird, durchgängig mit negativer Konnotation belegt und mit dem Verlust essentieller sozialer Beziehungen in Verbindung gebracht wird.

3. Zusammenfassung Wir haben gesehen, dass in der Artikulation von Misstrauen signifikante Unterschiede zwischen den beiden Gemeinwesen auszumachen sind, die vorrangig mit Divergenzen in der Konturierung eines politischen Raumes gegenüber sozialen Handlungsfeldern sowie der Ausgestaltung politischer Institutionen und deren Konsequenzen für die öffentliche Kommunikation in Zusammenhang zu bringen sind. Hinzu treten vorgängige kulturelle Differenzen, die etwa die Haltung zu kooperativen respektive kompetitiven Werten, aber auch die Einstellung zu Konflikten und deren adäquater Austragung betreffen. Schließlich sind epistemologische Unterschiede auszumachen, die sich nicht zuletzt in dem Umstand manifestieren, wie mit Wahrheit, Zweifeln oder Unsicherheit verfahren und in welcher Manier darüber gesprochen wird. Markant sind Korrelationen zwischen der Thematisierung von Misstrauen und dem Umgang mit Vertrauen einschließlich zugehöriger ausdrücklicher Aussagen. 78 Cic. Att. 1,16,3. Hinzu kommt die Bestechung der Richter durch M. Licinius Crassus; zu dem Fall Spielvogel 1993, S. 46 f. 79 Cicero selbst distanziert sich von dieser Einschätzung, kolportiert aber entsprechende Auffassungen; vgl. Cic. ad Brut. 2,1,1. Zum Phänomen des Mangels an Systemvertrauen in der Endphase der Republik Timmer 2017, S. 12 f. 80 Dies gilt selbst für Phasen unmittelbar vor einem Bürgerkrieg oder währenddessen; vgl. Cic. fam. 4,7,2; 5,13,3. 81 Siehe zum Beispiel Cic. fam. 7,10,3. Cicero bemerkt hier seinem Freund C. Trebatius Testa gegenüber, er habe mehrfach in dessen Interesse an Caesar geschrieben, wolle diese Bemühungen aber nun für eine Weile aussetzen, damit bei Caesar nicht der Eindruck entstehe, er (Cicero) misstraue dessen Wohlwollen ihm gegenüber; zum Hintergrund Spielvogel 1993, S. 153.

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Hier bestätigt sich zunächst einmal die Basisannahme, dass an Orten, an denen Vertrauen großgeschrieben wird und auch entsprechende Diskurse existieren, man sich tendenziell schwertut, Misstrauen zu artikulieren, geschweige denn zu würdigen vice versa. Bei genauerer Betrachtung gestalten sich die Verhältnisse gleichwohl komplexer: Verstöße gegen den sozialen Comment, darunter die Nichtbeachtung von Loyalitätserwartungen, werden auch in Rom entschieden zur Sprache gebracht, selbst in der öffentlichen Rhetorik. Maßgeblich für die Tatsache, inwieweit dabei mit Misstrauen operiert wird, scheint an der Stelle zu sein, welches Maß an Eindeutigkeit jeder Comment aufweist und in welchem Umfang hierüber Konsens vorausgesetzt werden kann. Auf das Ausmaß an real empfundenem Misstrauen ist aus den besprochenen Diskursivierungen nur eingeschränkt zu schließen: Im Hinblick auf das Athen des 4. Jahrhunderts v Chr. ist diesbezüglich zwischen externer und interner Politik zu unterscheiden. Die äußere Lage wird zumindest phasenweise als intransparent und schwer kalkulierbar wahrgenommen, was in Reden offen problematisiert zu werden vermag, selbstredend nicht um Irritationen zu provozieren, sondern um entschieden für realistisch scheinende Handlungsoptionen zu werben. Die inneren Verhältnisse gelten hingegen als vergleichsweise stabil. Die Artikulation von Misstrauen fungiert hier vorrangig als Instrument im rhetorischen Schlagabtausch, speziell vor Gericht, und zielt letztlich auf die Integration der Bürgergemeinschaft.82 In Rom sind für die Endphase der Republik demgegenüber nicht nur eine massive Erosion von Vertrauen, sondern auch ein gesteigertes Misstrauen innerhalb der politischen Elite zu postulieren,83 das aufgrund der spezifischen Handlungsbedingungen allerdings nicht in öffentlicher Rhetorik verargumentiert zu werden vermag.

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82 Dies korreliert mit dem Phänomen der Institutionalisierung von Misstrauen im Bereich des Gerichtswesens, das letztlich das Vertrauen befördert; zu dem Gegenstand Endreß 2002, S. 78. 83 Hierzu nachdrücklich Timmer 2018, S. 257–284.

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Dem Volkstribunen vertrauen. Das tribunizische Veto im ‚Interesse‘ anderer Akteure in der mittleren Republik Frank Görne In diesem Beitrag werden die Kategorien ‚Vertrauen‘ und ‚Misstrauen‘ zur Analyse von Handlungsspielräumen interzedierender Volkstribunen im zweiten vorchristlichen Jahrhundert zur Anwendung gebracht. Nach kurzen Ausführungen zu den von mir zur Untersuchung herangezogenen Kategorien (1) nehme ich nacheinander mehrere Interzessionsfälle aus dem dritten und zweiten vorchristlichen Jahrhundert in den Blick (2–4). Allen Fällen ist gemein, dass in ihnen jeweils einer oder mehrere der Volkstribunen mit ihrer Vetoankündigung im ‚Interesse‘ anderer Akteure den in sie gesetzten Erwartungen nicht gerecht wurden bzw. mit ihrem Handeln überraschten. Gemäß der Prämisse, dass Handlungsspielräume für den Historiker am ehesten dann sichtbar werden, wenn sie überschritten werden1, dienen mir diese Beispielfälle dazu, eine Skizze der Handlungsspielräume interzedierender Volkstribunen in der mittleren Republik zu zeichnen (5). Die im Folgenden vorzustellenden Kategorien aus der Vertrauensforschung werde ich in den Abschnitten 2–5 als heuristische Hilfsmittel verwenden.

1. Kategorien und Konzepte zur Analyse von Vertrauens- und Misstrauensfällen Für Niklas Luhmann ist eine der wesentlichen Funktionen von Vertrauen die „Reduktion von Komplexität“ in sozialen Interaktionen.2 Dank dieses „sozialen Schmiermittels“ werden die „Transaktionskosten“ zwischen den Akteuren gesenkt, weil die Vertrauensgeber freiwillig darauf verzichten, die Redlichkeit der Vertrauensnehmer, sofern überhaupt möglich, zu prüfen. Damit gewinnen sie Zeit und Energie für andere Vorhaben.3 Der Verlust des Vertrauens ist in der Regel die Folge enttäuschter Erwartungen, denn für den Vertrauensgeber bedeutet zu vertrauen ein Risiko einzugehen, weil „ich mein Handeln an meinen Erwartungen über zukünftige günstige Reaktionen anderer ausrichte, die ich weder erzwingen, noch ‚kaufen‘, noch sicher prognostizieren kann, und deren Ausbleiben mir Nachteile und Verluste eintragen kann“.4 Vertrauen ist also eine „Form des sozialen Kapitals“, das dem Vertrauensnehmer einen „Kredit“ einräumt, der ihm vom Vertrauensgeber gewährt 1 2 3 4

Flaig 2013, S. 315. Vgl. Luhmann 2014, S. 8 f. Frevert 2003, S. 41 f. Offe 2001, S. 250.

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wird.5 Werden die Erwartungen eines Vertrauensgebers freilich enttäuscht, dann führt dies gewöhnlich dazu, dass dieser gegenüber dem ‚schuldigen‘ Vertrauensnehmer misstrauisch und bei künftigen Interaktionen mit ihm vorsichtiger sein wird; der Kredit wird belastet und womöglich ganz aufgebraucht. Im Folgenden werde ich die von mir verwendeten Kategorien Vertrauen und Misstrauen näher definieren und mich dabei im Wesentlichen auf die Arbeiten von Martin Endreß und Piotr Sztompka stützen. Von Endreß übernehme ich die Begriffe fungierendes Vertrauen und reflexives Vertrauen. Der Akt des Vertrauens geht in der Regel nicht mit einer bewussten Entscheidung zu vertrauen einher, sondern stellt sich „präreflexiv“ mit der Zeit ein (fungierendes Vertrauen), während erst einsetzendes Misstrauen dazu führt, dass die vorhandene Vertrauensbeziehung auf den Prüfstand gestellt wird (reflexives Vertrauen).6 Fungierendes Vertrauen stellt also den Normalfall dar und wirkt so lange bedenkenlos, wie keinem der Akteure Zweifel kommen. Reflexives Vertrauen hat hingegen seinen Ort dort, wo von einem „subjektiven Risikobewusstsein auf Seiten der beteiligten Akteure“7 ausgegangen werden muss. Misstrauen beginnt entsprechend schon dann einzusetzen, wenn über Vertrauen reflektiert wird. Aus dem Grund ist das Thematisieren von Vertrauen auch ein Indikator dafür, dass das Vertrauensverhältnis möglicherweise Risse bekommen hat.8 Des Weiteren verwende ich die Kategorie des institutionalisierten Misstrauens, die Piotr Sztompka eingeführt hat. Zwar hat er sein Konzept zur Analyse von Vertrauen in modernen Demokratien entwickelt, aber es lässt sich im Grunde genommen auf alle Gemeinwesen anwenden, in denen es öffentliche Entscheidungsprozesse gibt. Sztompka hat auf ein vermeintliches Paradoxon im Zusammenhang mit Vertrauen hingewiesen. Durch das Vorhandensein institutionalisierter Kontrollmechanismen erhalten Akteure einen zusätzlichen Anreiz, zu vertrauen, weil mögliche Fälle von Vertrauensmissbrauch geahndet werden könnten.9 Misstrauen kann als institutionalisiertes Misstrauen folglich selbst vertrauensförderlich sein. Dabei nehmen solche öffentlichen „Misstrauensagenturen“10 ganz unterschiedliche Formen an: Sie können als Institutionen, Ämter, Gerichte und gesetzliche Bestimmungen, aber auch in Form regelmäßiger öffentlicher Kommunikations- und Informationsprozesse Vertrauen verstärken. Damit das institutionalisierte Misstrauen positive Effekte erzielen kann, darf die Kontrolle jedoch nicht 5 6 7 8

Endreß 2001, S. 166. Vgl. Endreß 2002, S. 68–72. Ebd., S. 69. Lagerspetz 2001, S. 92: „Die Situation ist jetzt eine andere. Die unreflektierte Selbstverständlichkeit ist dahin. Ein neuer Gedanke ist entstanden, neue Fragen haben sich gestellt. Ist es vernünftig, diesem Mann zu vertrauen? Ist er wohlgesonnen? Ist er gesund? Das Wort ‚Vertrauen‘ ist nun gefordert. So wird deutlich, dass der Begriff des Vertrauens an vorstellbare Gründe des Misstrauens gekoppelt ist. […] Über Vertrauen zu sprechen heißt, die Möglichkeit des Verrats in Erwägung zu ziehen.“ 9 Sztompka 1998, S. 25–27. Zu verschiedenen Formen der Institutionalisierung von Misstrauen in der römischen Republik vgl. Timmer 2017, S. 219–244. 10 Endreß 2002, S. 78.

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überhandnehmen: „Institutionalized distrust breeds spontaneous trust most effectively as long as it remains latent, at the level of normative institutionalization, and does not turn into actual, routine practice.“11

2. Das tribunizische Veto im Auftrag eines Konsuls Den zehn jährlich gewählten Tribunen der römischen plebs waren erstaunlich weitreichende Kompetenzen anvertraut, mit denen sie das politische Entscheiden in der res publica maßgeblich beeinflussen konnten. Dank der sacrosanctitas, ihrer durch einen Eid der Plebejer garantierten Unverletzlichkeit, waren sie in besonderer Weise vor möglichen Eingriffen anderer Akteure in ihre Amtsführung geschützt, und seit der lex Hortensia des Jahres 287 v. Chr. hatten sie das Recht, das concilium plebis über gesamtgemeinschaftlich verbindliche Beschlüsse entscheiden zu lassen. Daher konnte ein eigenwilliger Volkstribun theoretisch den Senat, das Lenkungsgremium der Republik, übergehen und Gesetzesinitiativen auch gegen den mehrheitlichen Willen seiner Standesgenossen über die Versammlung der plebs durchsetzen. Wusste er die versammelte plebs mehrheitlich hinter sich, konnte ihn nur das Veto eines Kollegen im Volkstribunenamt noch stoppen. Dem ius intercessionis der Volkstribunen, also ihrer Befugnis, Abstimmungen der Volksversammlungen und Beschlüsse des Senats sowie Handlungen anderer Amtsträger, selbst ihrer Kollegen im Volkstribunat, mit ihrem ‚Dazwischentreten‘ zu unterbinden, waren kaum formale Grenzen gesetzt.12 Daher genügte im Prinzip einer der jährlich gewählten zehn Volkstribunen, um den gesamten politischen Entscheidungsprozess der res publica zum Erliegen zu bringen. Mit anderen Worten: Die römische Gemeinschaft vertraute ihren Volkstribunen grundsätzlich dahingehend, dass sie mit der tribunicia potestas sehr große „Risiken“ auf geeignete Weise „verwalten“ würden, weshalb es nicht verwundert, dass ihre Handlungen bei wichtigen Angelegenheiten unter besonderer Beobachtung standen.13 Über einen langen Zeitraum der römischen Geschichte schien dieses Vertrauen gerechtfertigt, denn weder der regelmäßige Einsatz der popularen Methode14 noch die totale Blockade des politischen Entscheidens traten vor 133 v. Chr. auf.15 Dies 11 Sztompka 1998, S. 29. 12 Die Interzession erfolgte persönlich und wurde zumindest in der späten Republik dadurch formal begrenzt, „daß sie nicht gegen den fertigen Volksbeschluß, nicht gegen den ausgeführten magistratischen Akt, nicht gegen die Promulgation, nicht gegen eine Contio gerichtet und darüber hinaus auch durch spezielle gesetzliche Regelungen aufgehoben werden konnte“ (Rilinger 1989, S. 489). Zu den formalen Bestimmungen der tribunizischen Interzession vgl. vor allem Kunkel/Wittmann 1995, S. 582–607. 13 Frevert 2003, S. 65: „Je mehr und je größere Risiken eine Institution verwaltet, desto wichtiger wird dieses Vertrauen, desto notwendiger ist aber auch institutionalisiertes Misstrauen in Gestalt offener Kommunikation und transparenter Kontrolle.“ 14 Vgl. zur popularen Methode besonders Meier 1965 sowie Martin 2009. 15 Im Jahr 137 v. Chr. wäre es allerdings beinahe so weit gewesen. Erst dank des Eingreifens von P. Cornelius Scipio Aemilianus konnte der interzedierende Volkstribun zum Nachgeben bewegt werden. Vgl. Cic. Brut. 97; 106; leg. 3,35–37; Sest. 103.

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war freilich nicht einfach ein glücklicher Zufall. Nimmt man die für das späte dritte und zweite Jahrhundert v. Chr. überlieferten Interzessionsfälle in den Blick, dann fällt auf, dass in diesem Zeitraum Interzedenten ihr angedrohtes Veto für gewöhnlich dann zurückzogen, wenn sie im Senat oder vor der Volksversammlung auf entschiedenen Widerstand stießen. Christian Meier hat plausibel dafür argumentiert, dass der Ausgang tribunizischer Interzessionen bis 133 v. Chr. von den jeweiligen Kräfteverhältnissen im Senat oder vor den Volksversammlungen abhängig war, weil die Volkstribunen in diesen Auseinandersetzungen die Präferenzen der anderen Akteure genau im Blick hatten.16 Anstatt auf ihrem formalen Verhinderungsrecht zu beharren, waren die Volkstribunen über einen langen Zeitraum dazu bereit, angesichts starker Widerstände nachzugeben. Dass tribunizische Interzessionen das Potenzial hatten, positive Effekte für das politische Entscheiden in der römischen Republik zu erzielen, indem sie schwierige Debatten im Senat und vor der Volksversammlung entschleunigten, habe ich an anderer Stelle dargelegt.17 Voraussetzung dafür war die Bereitschaft der Volkstribunen, angesichts klarer Mehrheiten im Senat oder innerhalb der plebs nachzugeben. Um jedoch diese Disposition der Volkstribunen zum Nachgeben zu kultivieren18, mussten die Normen im Umgang mit dem Vetorecht stets aktualisiert und mögliche Transgressionen interzedierender Volkstribunen von den maßgeblichen Akteuren innerhalb der res publica thematisiert und notfalls geahndet werden. Anders ausgedrückt: Wenn Volkstribunen interzedierten, verließen sie den Bereich des fungierenden Vertrauens und begaben sich in den des reflexiven Vertrauens. Insofern waren die Kommunikationsprozesse, die sich an ihren bewussten Eingriff in den normalen Verfahrensablauf anschlossen, eine Form des institutionalisierten Misstrauens. Die anderen Akteure prüften, ob die Gründe des Interzedenten sachlich angemessen waren. Ein Beispiel dafür ist der folgende Fall aus dem Jahr 187 v. Chr. Im Senat wurde für den Prokonsul M. Fulvius Nobilior vom Praetor Ser. Sulpicius die Verleihung eines Triumphes für seine Siege über die Aetoler und über Kephallania beantragt.19 Daraufhin kündigte der Volkstribun M. Aburius seine Absicht an, gegen ein senatus consultum in dieser Angelegenheit interzedieren zu wollen, sollte der Senat mit seiner Beratung nicht bis zur Ankunft des abwesenden Konsuls M. Aemilius Lepidus warten.20 Dieser habe ihn nämlich darum gebeten. Beschwichtigend fügte er jedoch hinzu, „Fulvius verliere nur Zeit; der Senat werde auch in Anwesenheit des

16 Vgl. Meier 1968; ders. 1984. 17 Vgl. Görne 2020, S. 79–153. 18 Unter dieser Disposition versteht Giovanni Sartori den „Mechanismus der zeitverschobenen gegenseitigen Kompensation“ (Sartori 1992, S. 229), der besonders in Gremien zur Geltung komme und hier zuverlässig Positivsummenspiele erzeuge; vgl. Sartori 1984. Egon Flaig hat diese Kategorie in den althistorischen Diskurs eingeführt; vgl. unter anderem Flaig 1992, S. 117–121; ders. 1994; ders. 2019, S. 150 mit Anm. 53. 19 Vgl. Liv. 39,4,1–5,10. 20 Vgl. zu diesem Fall besonders Flaig 2005, S. 214–216, und ders. 2017.

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Konsuls beschließen, was er wolle“21. Nachdem Nobilior den anwesenden Senatoren noch einmal in Erinnerung gerufen hatte, dass der Konsul Lepidus und er verfeindet waren und dieser bereits zu Beginn seines Konsulats auf verschiedene Weise versucht hatte, Nobiliors Triumphchancen zu schmälern22, baten viele Senatoren Aburius, das Veto zurückzuziehen, und machten ihm für seine Ankündigung Vorwürfe.23 Ti. Sempronius Gracchus, von Livius wahrscheinlich zu Unrecht als Kollege des Aburius bezeichnet24, habe sich mit seiner Rede in dieser Angelegenheit besonders hervorgetan.25 Wer sich in eine bestehende Feindschaft einmische, sich zum Vertreter fremder Interessen mache und Aufträge eines Konsuls ausführe, sei des Tribunenkollegiums nicht würdig. Vielmehr müsse jeder „nach seiner eigenen Entscheidung die Menschen hassen oder lieben und Tatsachen billigen oder verwerfen“26. Das Volkstribunat sei ein Mandat des römischen Volkes, und zwar „zur Hilfe und zum Schutz der Freiheit von Privatleuten, nicht für die uneingeschränkte Machtstellung eines Konsuls“27. Schließlich habe Aburius angesichts der Vorwürfe im Senat eingelenkt und die Sitzung verlassen, so dass der Senat den Triumph beschließen konnte. Folgende Punkte sind an diesem Fall interessant: 1. Der Volkstribun begründete sein Veto vor den Senatoren. Dies ist nicht ungewöhnlich. Bei vielen der überlieferten Interzessionsfälle kennen wir die offen vorgetragenen Begründungen der Volkstribunen. Offenbar reichte der Hinweis auf das ius intercessionis den beteiligten Akteuren nicht aus, sondern Interzedenten mussten ihr Handeln mit Argumenten untermauern. 2. Die Notwendigkeit, die Blockade zu begründen, wird verständlich, wenn man die Reaktionen der anderen Akteure in diesem Fall berücksichtigt. Die Interzessionsankündigung wurde mitnichten einfach akzeptiert, sondern die Mehrheit der versammelten Senatoren ging dazu über, Druck auf den Interzedenten auszuüben. 3. Die nun einsetzende Debatte verschob sich von der Frage nach der Bewilligung des Triumphes für Nobilior hin zu der Frage, ob der auf diese Weise begründete 21 Liv. 39,4,4 (Übers. Hillen): Fulvium temporis iacturam facere: senatum etiam praesente consule, quod vellet, decreturum. 22 Vgl. Liv. 38,42,8–13; 43,1–44,6. 23 Vgl. Liv. 39,4,5–5,1. 24 Livius lässt die Scipionenprozesse, bei denen der Volkstribun Ti. Sempronius Gracchus eine nicht unbedeutende Rolle spielte, im selben Jahr stattfinden wie die Debatte über den Triumph des Fulvius Nobilior. Er folgt damit dem Bericht des Valerius Antias. An der Chronologie der Prozesse bei Livius sind berechtigte Zweifel geäußert worden. Meines Erachtens ist die Datierung der Prozesse und damit des Volkstribunats des älteren Ti. Gracchus auf das Jahr 184 v. Chr. aufgrund der parallelen Überlieferung zu den Prozessen überzeugender (vgl. Broughton 1951, S. 370, Anm. 3 f.; 377 f., Anm. 2–4). Daraus muss jedoch nicht geschlossen werden, dass die Episode erfunden sei, denn „nothing […] that he does depends on his power as Tribune“ (Broughton 1951, S. 378, Anm. 4). 25 Vgl. Liv. 39,5,1–5. 26 Liv. 39,5,3 (Übers. Hillen): Suo quemque iudicio et homines odisse aut diligere et res probare aut improbare debere. 27 Liv. 39,5,4 (Übers. Hillen): pro auxilio ac libertate privatorum, non pro consulari regno. Die Folgen dieser Behauptung eines mandatum populi Romani durch den älteren Ti. Gracchus werden ausführlich von Flaig 2017 diskutiert.

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Einspruch des Aburius mit den Normen im Bereich des Interzedierens vereinbar war.28 Wieso der Grund für das Veto nach Einschätzung der meisten anderen Akteure nicht angemessen war, wird an den Ermahnungen des Gracchus deutlich. 4. Neben der Ermahnung, dass man sich nicht für eine der beteiligten Seiten in eine Feindschaft einmischen dürfe29, werden zwei wesentliche Erwartungshaltungen gegenüber Volkstribunen formuliert, denen Aburius mit seinem Verhalten nicht gerecht geworden sei. Erstens müsse der Volkstribun mit seinem Handeln unabhängig sein und dürfe nicht die Befehle anderer Amtsträger ausführen. Zweitens sei er an ein Mandat des römischen Volkes gebunden, das für die Hilfe und die Freiheit von Privatleuten verliehen worden sei.30 Der Vorfall des Jahres 187 v. Chr. zeigt, dass die Volkstribunen seit dem Anfang des dritten Jahrhunderts mit unterschiedlichen Erwartungshaltungen verschiedener Akteure des politischen Feldes konfrontiert waren und mitunter abwägen mussten, welche Akteure jeweils maßgeblich waren, also wessen Erwartungen sie gerecht werden mussten. Gracchus hatte mit dem Verweis auf das ‚Mandat‘ den Volkstribunen daran erinnert, dass er sich als tribunus plebis in einem besonderen Beziehungsverhältnis zum römischen Volk befinde und primär dessen Interessen im Blick haben müsse. Damit hatte er auf die nach römischer Vorstellung ursprüngliche Aufgabe des Volkstribunats Bezug genommen. Das Amt mit seinen weitreichenden Kompetenzen sei demnach das Ergebnis eines über zwei Jahrhunderte zäh geführten Kampfes des plebejischen Teils der römischen Gemeinschaft mit dem alten Adel der frühen Republik, dem Patriziat, um die soziale Absicherung der Plebs und die politische Gleichberechtigung der plebejischen Oberschicht gewesen. Zwischen dem vorläufigen Ausgleich der Stände Mitte des vierten und dem endgültigen Ende der Ständekämpfe zu Beginn des dritten vorchristlichen Jahrhunderts hatten sich die Zusammensetzung des römischen Adels und die Rolle des Volkstribunats dann aber stark verändert.31 Der ursprünglich gentilizische Adel der Patrizier hatte sich in eine patrizisch-plebejische Aristokratie transformiert, deren Rekrutierungspraxis sich im Wesentlichen nach dem Leistungsprinzip richtete.32 Damit ging eine Veränderung der Rolle des Volkstribunats einher, das sich zunehmend von seiner ursprünglichen Aufgabe als reiner Interessenvertretung der plebs gegen den patrizischen Senat entfernte und sich zu einem Amt entwickelte, das in vielen Fragen eng mit dem patrizisch-plebejischen Senat zusammenarbeitete.33 Weil das Volkstribunenamt zu einer möglichen Stufe 28 Vgl. Liv. 39,5,1–5. 29 Zu senatorischen inimicitiae vgl. Flaig 2003, S. 151–154; Gotter 1996, S. 345; Rollinger 2014, S. 122–132. 30 Vgl. Liv. 39,5,4. 31 Zur veränderten Rolle des Volkstribunats in der Endphase der Ständekämpfe vgl. Hölkeskamp 2011, S. 90–108; 140–170, und ders. 1988. 32 Vgl. Hölkeskamp 1993 und ders. 2006. 33 Vgl. Bleicken 1968, S. 46–63; 83–94.

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auf der Karriereleiter eines Plebejers wurde, erweiterte sich für Volkstribunen der Kreis der für sie relevanten Akteure. Wenn sie eine weitere politische Karriere anstrebten, benötigten sie für die kommenden Wahlkämpfe auch die Unterstützung einflussreicher Standesgenossen im Senat. Aburius hatte sich dazu entschieden, dem Konsul Lepidus einen Gefallen zu tun, womöglich in der Hoffnung, dieser werde ihn als Konsular bei seinen weiteren Karriereplänen unterstützen. Dass er jedoch bei seinem beabsichtigten Eingriff in die Triumphdebatte unumwunden zugab, er handle im Auftrag des Lepidus, um diesem eine persönliche Teilnahme an der Senatsentscheidung über den Triumph zu gewährleisten, war offenkundig ein strategischer Fehler. Seinem Veto fehlte damit die sachliche Notwendigkeit, zumal ja eine bekannte Feindschaft zwischen Lepidus und Nobilior bestand, also abzusehen war, dass Lepidus seine Amtsgewalt als Konsul gegen seinen Feind einsetzen würde34, statt lediglich an der Senatsdebatte teilzunehmen. Stattdessen machte er mit seiner Begründung auf ein Risiko aufmerksam, das in dem Vetorecht der Volkstribunen enthalten war. Das tribunizische Veto konnte zu einer Waffe in der Hand einflussreicher nobiles werden, wenn es ihnen gelang, sich die Unterstützung von Volkstribunen zu sichern. Daher reagierten die anderen Akteure sofort und setzten den Volkstribunen unter Druck, woraufhin der junge Gracchus die günstige Gelegenheit ergriff, mit seiner Rede im Senat auf sich aufmerksam zu machen. Er thematisierte, was sicherlich auch schon bei den anderen Senatoren, die sich zuvor an Aburius gewandt hatten, zur Sprache gekommen sein wird: Das Veto der Volkstribunen musste unabhängig bleiben und durfte nicht ohne Weiteres im Interesse eines Konsuls eingesetzt werden.35 Es ist sicherlich kein Zufall, dass die Kritik des Gracchus nun einen Zusammenhang zwischen dem Veto des Aburius und dem ius auxilii, dem Recht der Volkstribunen, einzelnen bedrohten Bürgern zu Hilfe zu kommen, herstellte. Unter bestimmten Voraussetzungen akzeptierte die römische Gemeinschaft nämlich den Einsatz des Vetos im Interesse von Einzelpersonen, selbst wenn es sich bei ihnen um hochrangige nobiles handelte. Doch dazu musste zum einen eine Bedrohungslage bestehen, zum anderen musste der Volkstribun nachvollziehbare Gründe anführen können, warum er sein Veto zu Gunsten der bedrohten Person einsetzte. Beides war in diesem Fall nicht gegeben, weshalb die anderen Akteure so lange auf Aburius einwirkten, bis dieser schließlich nachgab und der Senat den Triumph für Nobilior beschließen konnte.

34 Da auch Konsuln dazu berechtigt waren, gegen Amtshandlungen anderer Amtsträger, mit Ausnahme der von Volkstribunen, zu interzedieren, hätte Lepidus die pompa triumphalis am Tage des Triumphes verbieten können. Diese Befürchtung veranlasste Nobilior dazu, den Triumphzug nach der Bewilligung schnellstmöglich durchzuführen; vgl. Liv. 39,5,11 f. 35 Vgl. Liv. 39,5,4.

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3. Das ius auxilii zur Inszenierung der eigenen Gemeinwohlorientierung Drei Jahre später bekleidete Ti. Gracchus selbst das Volkstribunat und machte während seiner Amtszeit zweimal in Aufsehen erregender Weise Gebrauch vom ius auxilii. Während der Prozesse gegen die Scipionen P. Cornelius Scipio Africanus und seinen Bruder L. Cornelius Scipio Asiaticus wegen der Unterschlagung von Kriegsbeute im Krieg gegen Antiochus III. (192–188 v. Chr.) wurde zweimal an das Kollegium der Volkstribunen appelliert. Die erste appellatio erfolgte durch L. Scipio, weil sein Bruder P. Scipio aufgrund einer schweren Krankheit nicht vor dem Gericht erschienen war und die Ankläger forderten, man solle ihn mit Gewalt dem Gericht vorführen.36 Daraufhin zog sich das Tribunenkollegium zurück und alle mit der Ausnahme des Ti. Gracchus ließen eine Erklärung veröffentlichen, dass sie die Vorführung vor Gericht verhindern würden. Gracchus ließ eine eigene Erklärung veröffentlichen, dass er eine Anklage gegen P. Scipio verbieten werde, bis dieser nach Rom zurückgekehrt sei. Und wenn dieser dann an ihn appelliere, werde er auch weiterhin verhindern, dass ein Prozess gegen ihn stattfände. Nach der Veröffentlichung beklagte er sich zudem öffentlich in einer contio, dass überhaupt ein Prozess gegen einen Mann wie P. Scipio angestrengt werde, obwohl dieser so viel für die res publica geleistet habe. Dafür wurde er dann später in einer Senatssitzung von allen gelobt, weil er so gehandelt habe, obwohl er mit Scipio Africanus verfeindet war.37 Nachdem später das Urteil des Gerichtes gegen L. Scipio verkündet worden war und dieser die geforderte Summe nicht hatte aufbringen können, beantragten die Ankläger, er solle ins Gefängnis geführt werden. Dieses Mal appellierte P. Cornelius Scipio Nasica an die Volkstribunen, dass sein Cousin nicht ins Gefängnis geführt werde.38 Daraufhin verkündete das Kollegium der Volkstribunen erneut mit Ausnahme des Gracchus, dass sie es ablehnten einzuschreiten. Gracchus hingegen verbot, L. Scipio abzuführen, weil dieser aufgrund seiner Leistungen für die res publica eine solche Behandlung nicht verdiene, und ließ stattdessen erklären, der verantwortliche Praetor und die Quaestoren sollten den Besitz von Scipio konfiszieren, den sie vorfänden.39 Folgende Gesichtspunkte fallen hierbei auf: 1. Die Volkstribunen wurden jeweils mittels einer appellatio angesprochen. Damit wurden sie dazu aufgefordert, zum Hilfegesuch öffentlich Stellung zu beziehen. Die Frage, ob sie im Interesse des Appellanten in das reguläre Verfahren eingreifen würden, wurde also vor aller Augen gestellt. 2. Es fand jeweils innerhalb des Tribunenkollegiums eine Beratung statt und das Ergebnis der Beratung wurde öffentlich bekannt gegeben. Dank der cognitio im 36 37 38 39

Vgl. Liv. 38,52,1–53,7. Vgl. Liv. 38,53,6. Vgl. Liv. 38,60,1–8; Cic. prov. 18; Val. Max. 4,1,8; Cass. Dio fr. 65,1; Vir. ill. 57,1. Vgl. Liv. 38,60,4–8.

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Anschluss an eine appellatio kannten alle maßgeblichen Akteure die Gründe, warum die Volkstribunen so handelten, wie sie es taten.40 3. Die Volkstribunen konnten bei Uneinigkeit innerhalb des Kollegiums eigene Stellungnahmen abgeben.41 Gab es also möglicherweise individuelle Gründe, warum einer oder mehrere Volkstribunen anders entschieden als ihre Kollegen, konnten sie dies entsprechend darlegen. 4. Im ersten Fall lobten die Senatoren ausdrücklich das Verhalten des Ti. Gracchus. Daran wird deutlich, dass die anderen Akteure sehr aufmerksam verfolgten, aus welchen Motiven heraus die Volkstribunen vom ius auxilii Gebrauch machten. Gerade die vermeintliche Überparteilichkeit beim Einsatz für die Interessen eines bedrohten Bürgers wurde dabei als eine lobenswerte Tugend betrachtet. Das ius auxilii der Volkstribunen war neben der provocatio die bekannteste Variante institutionellen Misstrauens innerhalb der römischen Republik. Jeder römische Bürger konnte im Falle einer vermeintlichen Bedrohung durch eine magistratische Amtshandlung an die Volkstribunen appellieren. Aus dem Grund durften diese Amtsträger während ihrer Amtszeit im Normalfall nicht länger als einen vollen Tag vom Stadtgebiet Roms fernbleiben. Ihr Haus musste auch nachts jedem Bürger zugänglich sein. Außerdem hielt sich das Kollegium der Volkstribunen tagsüber auf seinen Tribunenbänken auf dem Forum Romanum auf.42 Damit symbolisierten die Tribunen tagtäglich, dass die römische Bürgerschaft trotz der umfänglichen Machtbefugnisse ihrer regulären Amtsträger einen stets verfügbaren Schutz vor willkürlichen Übergriffen hatte. Das Volkstribunat war dank seines ius auxilii dazu in der Lage, ganz im Sinne Sztompkas, als latenter Schutz im Hintergrund zu wirken.43 Es gewährleistete also in besonderer Weise, dass, mit Endreß gesprochen, ein fungierendes Vertrauen einzelner Bürger in die römischen Institutionen entstehen und aufrechterhalten werden konnte. Doch dazu mussten die Volkstribunen die Berechtigung haben, in den ordentlichen Verfahrensablauf mittels der Interzession eingreifen zu können. Damit dieses Interzedieren im Interesse einzelner Personen oder Personengruppen wiederum nicht mit dem Gerechtigkeitsempfinden der römischen Bürgerschaft kollidierte und ihr Vertrauen erschütterte, bedurfte es einer weiteren Kontrollinstanz. Mit anderen Worten: Wenn im Falle einer appellatio, deren grundsätzliche Existenz bereits fungierendes Vertrauen förderte, sich die Aufmerksamkeit aller Akteure auf die cognitio der Volkstribunen richtete, traten sie damit in 40 Zum Verfahren bei einer appellatio mit weiteren Belegstellen vgl. Kunkel/Wittmann 1995, S. 589. 41 Kunkel zieht aus Liv. 4,53,2–7 den Schluss, dass für die auxilii latio das Kollegium einstimmig entscheiden und die Hilfestellung einzelner Volkstribunen unterbleiben musste, wenn sich seine Kollegen ausdrücklich dagegenstellten. Dies lässt sich jedoch aus diesem Fall, der eine Episode aus dem spätrepublikanischen Ständekampf-Narrativ darstellt, meines Erachtens nicht folgern. Zur Rolle von tribunizischen Interzessionen im Ständekampf-Narrativ vgl. Görne 2019. 42 Vgl. dazu mit den Belegstellen Kunkel/Wittmann 1995, S. 580 f. 43 Vgl. Sztompka 1998, S. 29.

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einen Zustand reflexiven Vertrauens, denn sie konnten anhand der vorgebrachten Argumente für oder gegen die Interzession überprüfen, ob die Interzedenten dem in sie gesetzten Vertrauen gerecht wurden und ihr Amt gut führten. Appellatio und cognitio waren also ebenfalls eine Variante institutionalisierten Misstrauens, das dazu diente, das Vertrauen der Bürgerschaft in die senatorisch geführte res publica zu festigen. Das Überprüfen der Einhaltung von Normen entlang der gemeinschaftlichen Werte im Einzelfall stabilisierte den gemeinschaftlichen Konsens darüber, dass die außerordentlichen Kompetenzen der Volkstribunen zum Schutz der Bürgerschaft notwendig waren. Die beiden Anwendungen des ius auxilii durch Ti. Gracchus waren geschickte Inszenierungen des Volkstribunen. Gracchus verstand es, eine aus seiner Sicht günstige Gelegenheit zu nutzen, seine Gemeinwohlorientierung vor aller Augen zur Schau zu stellen. Gerade weil niemand von ihm, dem inimicus des P. Scipio, erwartete, dass er zu Gunsten der Scipionen interzedierte, konnte er mit seiner Hilfeleistung weitergehen als seine Kollegen, ohne sich in diesem höchst umstrittenen Gerichtsprozess dem Verdacht auszusetzen, sich der einflussreichsten gens anzudienen oder gar von ihr instrumentalisiert worden zu sein. Gracchus handelte also mutmaßlich nicht im Eigeninteresse. Beide Male ließ er die Gelegenheit nicht ungenutzt, sein Einschreiten exklusiv mit den Leistungen der beiden Imperatoren für die res publica zu begründen, und inszenierte sich damit als Persönlichkeit, der die Gemeinschaft künftig die höheren Ämter ruhigen Gewissens anvertrauen konnte. Seine Strategie ging auf und er wurde für seine Handlungen ausdrücklich im Senat gelobt. Gleichzeitig beendete er damit nicht nur eine Feindschaft, sondern ebnete den Weg für eine Heiratsverbindung zwischen den gentes Cornelia und Sempronia: Er heiratete später eine der Töchter des P. Scipio Africanus.44

4. Grenzfälle der Appellation In anderen Appellationsfällen waren die Interzedenten weniger erfolgreich. Im Jahr 212 v. Chr. hoffte der wegen Korruption angeklagte publicanus M. Postumius auf das auxilium seines nahen Verwandten, des Volkstribunen C. Servilius Casca. Doch das versammelte Volk schüchterte Casca mit seinen zornigen Rufen so stark ein, dass er die Interzession nicht wagte. Schließlich sprengte eine Gruppe publicani die Versammlung gewaltsam.45 Im Jahr 169 v. Chr. erlitt der Volkstribun P. Rutilius eine bittere Niederlage vor der Volksversammlung. Die Zensoren hatten einen Freigelassenen dazu aufgefordert, eine Mauer auf seinem Grundstück an der Via Sacra niederzureißen, da diese vermutlich gegenüber von aedes publica lag und den Blick darauf versperrte.46 Daraufhin hatte dieser an das Kollegium der Volkstribunen appelliert, doch nur P. Rutilius, 44 Vgl. Liv. 38,57,2. 45 Vgl. Liv. 25,3,12–19. 46 Vgl. Liv. 43,16,4 mit Briscoe 2012, S. 440.

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der sein Patron war, hatte eine Interzession gegen die Entscheidung der Zensoren angekündigt. Der Zensor Ti. Sempronius Gracchus ignorierte daraufhin nicht nur die Interzession, er berief sogar eine contio ein und erlegte dem Freigelassenen eine Geldstrafe auf. Auffälligerweise ergaben sich daraus für Gracchus keine unmittelbaren Konsequenzen.47 Der Zensor konnte in dem Fall, der von der Öffentlichkeit als res privata wahrgenommen wurde, anscheinend ohne Probleme die Interzession vor dem versammelten Volk beiseiteschieben, da der Volkstribun offenkundig nicht im Interesse des Gemeinwohls handelte. Erst zu einem späteren Zeitpunkt, nachdem der Zensor C. Claudius demselben Volkstribunen in einer anderen Angelegenheit die Leitung einer contio aus der Hand genommen und damit dessen sacrosanctitas verletzt hatte, sollte sich neben Claudius auch Gracchus vor einem Volksgericht verantworten, weil dieser zuvor die Interzession übergangen hatte. Zu dem Prozess kam es dann aber nicht mehr, nachdem bereits Claudius zuvor, wenn auch knapp, freigesprochen worden war.48 In beiden Fällen bestand zwischen den gescheiterten Interzedenten und den Personen, in deren Interesse sie ihr Veto einlegen wollten, ein enges soziales Band. Die pietas gegenüber nahen Verwandten und die fides des patronus gegenüber seinem cliens gehörten zu den zentralen römischen Werten, denen Vertreter der Senatsaristokratie in ihren verschiedenen öffentlichen Rollen besonders gerecht werden sollten.49 Im Normalfall erwartete die römische Gemeinschaft dann einen besonderen Einsatz des Senators für den Verwandten oder Klienten. Bekleidete er jedoch die Rolle eines Volkstribunen, dann mussten seine Verpflichtungen ihnen gegenüber im Zweifel ruhen, wenn deren Interessen dem Gerechtigkeitsempfinden oder den Interessen der plebs entgegenstanden. Die Kommunikationsprozesse im Anschluss an eine appellatio schufen hier Klarheit, wer für wen und warum interzedierte. Sie gaben der versammelten plebs als maßgeblicher Akteursgruppe eine Entscheidungshilfe, ob sie die Gründe des Eingreifens mehrheitlich akzeptierte oder nicht. Insofern verwundert es nicht, dass die Volkstribunen für gewöhnlich in den Fällen, in denen sie durch eine appellatio zur Aussage genötigt wurden, die Präferenzen der plebs im Blick hatten. Als im Jahr 211 v. Chr. der Konsul Cn. Fulvius Centumalus sich für eine verheerende Niederlage unter seinen Auspizien vor einem Volksgericht verantworten musste, brachte dieser mit seinem arroganten Auftreten und Schuldzuweisungen gegen seine Soldaten die versammelte plebs gegen sich auf. Obwohl der ihn anklagende Volkstribun C. Sempronius Blaesus lediglich eine Geldstrafe beantragen wollte, forderte das Volk nun lautstark von ihm die Beantragung der Todesstrafe, woraufhin an die anderen Volkstribunen appelliert wurde. Diese beantworteten die appellatio negativ und gaben die Entscheidung über den Strafmaßantrag an 47 Vgl. Liv. 43,16,2–6. 48 Vgl. Liv. 43,16,1–16; 44,16,8; Cic. rep. 6,2 (= Gell. 7,16,11); Val. Max. 6,5,3; Vir. ill. 57,3. Der Fall ist im Hinblick auf die Grenzen des tribunizischen Vetorechts äußerst aufschlussreich: Vgl. dazu Meier 2015, S. 679. Eine ausführliche Analyse des Falles habe ich an anderer Stelle geboten: Vgl. Görne 2020, S. 144–151. 49 Zur Bedeutung von Rollen für die römisch-republikanische Senatsaristokratie siehe Beck 2009.

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ihren Kollegen zurück. Daraufhin beantragte Blaesus die von ihm nicht gewünschte Todesstrafe, woraufhin Centumalus ins Exil floh.50 Auffälligerweise handelten die anderen Volkstribunen in dieser Situation sehr vorsichtig und überließen die Entscheidung lieber ihrem Kollegen, der sich ja bereits als Ankläger exponiert hatte. Auch in anderen Fällen vermieden die Volkstribunen eine Konfrontation mit dem Volk, indem sie die Entscheidung über appellationes wegen Aushebungen dem Senat überließen, der dann anstelle der Volkstribunen prüfte, ob die Aushebungen der Imperatoren berechtigt waren.51 Die Präferenzen der versammelten plebs setzten in der mittleren Republik offenbar dem Veto der Volkstribunen Grenzen, ohne dass es dafür formaler Einschränkungen bedurft hätte. Die hohe Transparenz von appellatio und cognitio halfen der Gemeinschaft dabei, in Grenzfällen abwägen zu können, ob der beabsichtigte Einsatz der tribunizischen Vetomacht im Interesse von Einzelpersonen gerechtfertigt war oder ob er einem Missbrauch dieser außerordentlichen Verhinderungsmacht gleichkam. Das fungierende Vertrauen der Bürgerschaft in die Institutionen der res publica im Allgemeinen sowie der Institution Volkstribunat im Speziellen konnte dank dieser spezifischen Formen des institutionalisierten Misstrauens gefestigt werden. Denn durch die öffentlichen Verfahren im Anschluss an eine Appellation wurde das fungierende Vertrauen vorübergehend durch eine Phase reflexiven Vertrauens abgelöst, in der die Gemeinschaft sich von dem korrekten Einsatz der außerordentlichen Befugnisse der Volkstribunen überzeugen konnte. Solange die handelnden Akteure in solchen Grenzfällen den Erwartungshaltungen eines möglichst großen Teils der Gemeinschaft gerecht wurden, konnte das gemeinschaftliche Vertrauen in die Institutionen gefestigt werden. Anders sah dies freilich aus, wenn die Gemeinschaft in grundsätzlichen Fragen gespalten war, wie dies in der späten Republik der Fall war. Hier konnten auch die in der mittleren Republik durchaus wirksamen Mechanismen der Vertrauensgenerierung keine Abhilfe schaffen.

5. Das Ende der Vertrauensgenerierung Claus Offe unterscheidet zwischen vier Vertrauensbeziehungen im öffentlichen Bereich. Vertrauen könne (A) von Bürgern zu ihren Mitbürgern bzw. Teilen der Bürgerschaft, (B) von Bürgern in politische und andere „sektorale Eliten“, (C) von Vertretern der verschiedenen Eliten zu anderen Vertretern der verschiedenen Eliten und (D) von Vertretern der verschiedenen Eliten in die oder in Teile der Bürgerschaft entstehen.52 Das Vetorecht der Volkstribunen generierte auf jeweils unterschied50 Vgl. Liv. 26,2,7–3,12. 51 So in den Jahren 209 v. Chr. (Liv. 27,8,1–5), 193 v. Chr. (Liv. 34,56,9–11), 191 v. Chr. (Liv. 36,3,4–6) und 181 v. Chr. (Liv. 40,29,3–14). 52 Offe 2001, S. 244. Die kategoriale Unterscheidung zwischen sozialem Vertrauen, das sich auf „das Verhältnis zwischen Individuen“ beziehe, und politischem Vertrauen, das sich auf das Verhältnis „zwischen Individuen und politischen Autoritäten und Institutionen“ beziehe, wie es sich unter anderem bei Christian Schnaudt findet (Schnaudt 2013, S. 299), teile ich nicht,

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liche Weise Vertrauen zwischen ‚der Masse‘ und ‚den Eliten‘ bzw. innerhalb dieser Großgruppen der römischen Republik. Für den römischen Bürger konnten die stets verfügbaren Volkstribunen, die mit ihrem ius auxilii im Zweifel gegen ungerechte Amtshandlungen und Gerichtsurteile einschritten, das fungierende Vertrauen in die grundsätzliche Gerechtigkeit der römischen Institutionen stärken. Die Senatoren mochten im Sinne von Jochen Bleicken in der grundsätzlichen Möglichkeit der Volkstribunen, gegen jegliche Amtshandlungen und Volksabstimmungen zu interzedieren, ein Mittel „zur Inter- und Intraorgankontrolle“ erblicken53, das ebenfalls für das fungierende Vertrauen der politischen Elite sowohl zu ihren Amtsträgern als auch zu den Volksversammlungen förderlich war, weil es die Senatsherrschaft gegen einzelne Abweichler abzusichern vermochte. Beide Vertrauensarten basierten auf der Annahme, dass das Vetorecht der durch die sacrosanctitas geschützten Volkstribunen absolute Gültigkeit besaß, der interzedierende Volkstribun also formal immer in der stärkeren Position war. Damit diese formale Unüberwindbarkeit jedoch für den populus sowie die Senatorenschaft erträglich blieb und weiterhin Vertrauen generieren konnte, mussten interzedierende Volkstribunen in der konkreten Situation dazu bereit sein nachzugeben, wenn die für sie maßgeblichen Akteure mehrheitlich die Interzession für falsch hielten. Das institutionalisierte Misstrauen in Form der Kommunikationsprozesse im Anschluss an die Vetoankündigung war hierfür entscheidend. In der Rede des Gracchus aus dem Jahr 187 v. Chr. war im Grunde genommen das Programm dafür formuliert: Der tribunus plebis führte die tribunicia potestas im Auftrag des römischen Volkes und durfte sich in dem Fall, dass eine Initiative bereits vor das Volk gelangt war, nicht gegen den mehrheitlichen Willen der plebs stellen. Zwar hat Jochen Bleicken damit recht, dass der „Volkstribun […] seit den ersten Jahrzehnten des 3. Jahrhunderts doch nicht mehr nur ein Vertreter der Plebs, sondern des Gesamtstaates“ war, doch ist es meines Erachtens im konkreten Konfliktfall mitnichten „absurd, den Tribunen des 2. Jahrhunderts als Vertreter der Volksinteressen zu sehen“54. Polybios hat es sehr wohl so gesehen55, und wohl auch mit Recht. Denn in dieser Ansicht drückt sich eine Erwartungshaltung der plebs gegenüber ihren Amtsträgern aus, die zwar durchaus mit der einiger Senatoren oder sogar einer Senatsmehrheit kollidieren konnte, die aber gleichzeitig die Grundlage des gesamtgemeinschaftlichen Konsenses war, der regelmäßig vor den Volksversammlungen bekräftigt wurde. Die Macht lag ihr zufolge beim Volk, dieses richtete sich aber üblicherweise nach dem Rat der Senatoren.56 Der Erfolg einer Interzession hing im hohen Maße davon ab, dass die jeweils maßgeblichen Akteure sie auch akzeptierten. Wollte also ein Volkstribun eine Entscheidung verhindern, dann musste er eine ausreichend große Menge der maß-

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denn es greift bei der Analyse politischer Prozesse zu kurz. Ein wesentlicher Vorteil der Definition von Offe besteht darin, dass sie auch die Dispositionen der beteiligten Amtsträger und Mitglieder von politischen Gremien mitberücksichtigt. Vgl. Bleicken 1975, S. 445. Bleicken 1988, S. 287. Vgl. Pol. 6,16,5. Vgl. Cic. leg. 3,28.

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geblichen Akteure davon überzeugen, dass er damit kein Partikularinteresse, sondern das Allgemeinwohl im Blick hatte. Die Quellen zur Geschichte der mittleren Republik lassen vermuten, dass das Veto der Volkstribunen zumindest bis zum Epochenjahr 133 v. Chr. nicht dieselbe Bedeutung wie ein modernes Veto hatte. Letzteres entspricht im Grunde genommen einem Verhandlungsabbruch eines Verhandlungsteilnehmers, dem das Recht zum Einspruch eingeräumt wird.57 Die moderne Vorstellung von einem zuverlässigen System der checks and balances, in dem die in Rom zweifellos vorhandenen „starken Möglichkeiten der gegenseitigen Blockade […] eigentlich die Austragung von Konflikten bis zum bitteren Ende sinnlos machen und damit die Kommunikation unter den Beteiligten erzwingen“58 sollten, muss zumindest insoweit relativiert werden, als insbesondere bei umstrittenen Angelegenheiten, die ihren Weg bereits vor die Volksversammlung gefunden hatten, das Veto nur dann zu einer Verhinderung der Abstimmung führte, wenn das versammelte Volk mehrheitlich die Gründe für den Einspruch akzeptierte. Mit anderen Worten: Der Interzedent musste das Volk von seinem Veto überzeugen und nicht das Volk den Interzedenten davon überzeugen, das Veto zurückzunehmen, denn die Volkstribunen waren die gewählten Amtsträger der plebs. Zwar mochten manche der Senatoren tatsächlich auf die Idee kommen, dass aufgrund seiner formalen Kompetenzen ein Volkstribun genüge, um populäre und potenziell bedrohliche Entscheidungen des Volkes zu verhindern59, aber als im Jahr 133 v. Chr. erstmals mit M. Octavius ein Volkstribun auf seinem Vetorecht beharrte und seinen Einspruch auch angesichts einer sehr hohen Unterstützung für die promulgierte lex agraria seines Kollegen Ti. Sempronius Gracchus nicht zurückzog, eskalierte der Konflikt.60 Die Verabsolutierung des Vetos61 führte schließlich zu seiner Absetzung62 und mittelfristig zu einer Relativierung der tribunizischen Interzession.63 Die Bedeutung der Kommunikationsprozesse im Rahmen von Interzessionskonflikten nahm in der Folgezeit ab und die Fronten zwischen den Konfliktparteien verhärteten sich. Die Verfahren zur Generierung von Vertrauen scheiterten, weil der Öffentlichkeit regelmäßig der Missbrauch der tribunizischen Befugnisse durch die Konfliktparteien vor Augen geführt wurde. Ab dem Jahr 103 v. Chr. gingen einzelne Volkstribunen dazu 57 Solche Akteure werden von George Tsebelis als veto players bezeichnet, denn ihre Zustimmung ist für die Änderung des status quo notwendig; vgl. Tsebelis 2002, S. 17 f. 58 Linke 2005, S. 31. 59 So etwa die Überlegung der Senatsmehrheit angesichts der Gesetzesinitiativen des C. Gracchus im Jahr 122 v. Chr. (vgl. App. civ. 1,23). 60 Vgl. zu diesem Fall besonders den grundlegenden Aufsatz von Badian 1972. 61 Vgl. Meier 2015, S. 680, Anm. 183. 62 Egon Flaig hat mit Recht darauf hingewiesen, dass die Absetzung eines Volkstribunen, wie sie der Volkstribun Ti. Sempronius Gracchus beantragte, schon in dem im Jahr 187 v. Chr. von dessen Vater im Senat propagierten mandatum des populus Romanus als äußerster Fall mitgedacht worden war: „Si la légitimité du tribun ne réside pas uniquement dans l’élection mais plutôt dans l’obéissance au mandatum, ne cesse-t-il pas d’être tribun dès lors qu’il agit contre son mandatum? Pourquoi ne pas destituer alors un tel tribun par un simple vote du peuple?“ (Flaig 2017, S. 406). 63 Vgl. Meier 1980, S. 133 f., 145.

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über, die populare Methode in den Dienst übermächtiger Imperatoren zu stellen, weshalb ihre im Sinne der Senatsmehrheit interzedierenden Kollegen unverbrüchlich an ihrem Veto festhielten. Diese Blockaden ließen sich nur noch mit Gewalteinsatz lösen, weshalb fortan die physischen Kräfteverhältnisse über den Ausgang von Interzessionen entschieden. Von gegenseitigem Vertrauen zwischen den beteiligten Akteuren und Akteursgruppen sowie in die Zuverlässigkeit der Institutionen konnte spätestens ab diesem Zeitpunkt keine Rede mehr sein. So konnte nach dem Bürgerkrieg zwischen L. Cornelius Sulla Felix und den Anhängern des C. Marius sogar umgesetzt werden, was in der mittleren Republik undenkbar gewesen war: Die Kompetenzen des Volkstribunats wurden – wenn auch nur vorübergehend – deutlich beschnitten.

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Iugurthinisches Geld, Korruption und Marius’ erster Consulat – Eine Vertrauenskrise zwischen Plebs und Nobilität am Ende des 2. Jahrhunderts v. Chr. Fabian Knopf 1. Einleitung Auf dem Evangelischen Kirchentag im Juni 2019 wurde als Schwerpunkt die Frage nach Vertrauen als Grundlage internationaler Politik gesetzt. Die Veranstalter konnten eine prominent besetzte Runde gewinnen, denn neben Ellen Johnson-Sirleaf, der ehemaligen Präsidentin Liberias, trat auch Bundeskanzlerin Angela Merkel als Vortragende und Diskutantin in Erscheinung. Abgesehen von Vertrauen zwischen Völkern und Nationen thematisierte die Kanzlerin in ihrer Rede auch die Rolle von Vertrauen als Grundlage des Zusammenhalts in einer Familie, in einer Nachbarschaft oder innerhalb einer Gesellschaft. Allgemein, so formulierte Merkel, könne keine Beziehung, „nicht im Kleinen, nicht im Großen“, ohne Vertrauen gelingen.1 Interessanterweise erwähnte sie die Vertrauensbeziehung zwischen den Bürgern und ihrem politischen Führungspersonal nicht gesondert. Allerdings darf man vermuten, dass sie dies bei ihrer Formulierung „im Kleinen, im Großen“ wohl mitgedacht haben dürfte. Den gehobenen Stellenwert von Vertrauen in sozialen Beziehungen, insbesondere in einer ‚kleinen‘ wie der Freundschaft, hatte Cicero freilich schon erkannt. In seinem Laelius lässt er den gleichnamigen Interlocutor zum Ausdruck bringen, dass Freundschaften aufgrund der Suche nach stabilitas (Beständigkeit) und constantia (Dauer) geschlossen werden.2 Das Fundament dieser Unwandelbarkeit und Stabilität bildet wiederum die fides. Ohne Vertrauen, so der ciceronische Laelius, gebe es keine Stabilität in einer sozialen Beziehung wie der Freundschaft. Vom sozialen Ordnungsbezug Freundschaft auf das ‚Große‘ der res publica übertragen, bedeutet dies, dass das Vertrauen der Plebs in die Führungsqualitäten der herrschenden Nobilität für die Stabilität des Gemeinwesens unabdinglich war. Dieser Zusammenhang wurde auch von Jan Timmer kürzlich betont. Demnach sei das Vertrauen der Plebs eine wesentliche Grundlage der nobilitären Macht gewesen.3 Darüber hinaus weist Timmer darauf hin, dass aufgrund der Quellensituation dieses plebeische Vertrauen in die aristokratische Führungselite zwar vermutet, aber nur schlecht nachgewiesen werden kann. Trotzdem sei hier der Versuch unternommen, wobei sich im Wesentlichen auf Vorgänge im Zusammenhang mit dem Bellum Iurguthinum 1 Vgl. Merkel 2019. 2 Vgl. Cic. Lael. 65. 3 Vgl. Timmer 2017, S. 89–100.

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fokussiert werden soll, nicht zuletzt da hierzu dank Sallust detailliertere Informationen vorliegen. Mittels dieses Beispiels soll gezeigt werden, dass die oft attestierte Krise der späten Republik sich nicht nur durch inneraristokratische Verwerfungen offenbarte, sondern auch situativ anhand eines Vertrauensverlustes der Plebs in die Herrschaftsfähigkeit der Nobilität sichtbar wurde. Marius’ erster Consulat lässt sich direkt als Folge dieses Vertrauensverlustes beschreiben. Welche Umstände führten letztlich zum Entzug von Vertrauen seitens der Plebs? Und wie konnte die Plebs angesichts ihres begrenzten politischen Handlungsrahmens im republikanischen System einem Vertrauensverlust Nachdruck verleihen?

2. ‚Vertrauen‘: Theoretische und soziopolitische Vorbemerkungen Grundsätzlich kann nach Annette Baier unter Vertrauen ein „Sich-Verlassen auf die Fähigkeit und Bereitschaft eines anderen, sich um die Dinge zu kümmern […], die einem wichtig sind und die man der Sorge des anderen anvertraut hat“4, verstanden werden. Auch wenn diese Definition zirkuläre Züge trägt (Vertrauen über Dinge wird hier anvertraut), so lässt sich anhand dieser Überlegung verkürzt sagen, dass Vertrauen gegen Verlässlichkeit und damit letztlich in der Hoffnung auf soziale wie politische Stabilität gewährt wird. Logischerweise hat Baiers Definition für das vorliegende Thema nur Sinn, wenn die res publica der Plebs wirklich wichtig war und sie deren Fürsorge genau aus diesem Grunde der Nobilität überließ. Nur implizit kommt bei Baier indes zum Ausdruck, was Martin Hartmann anhand des fides-Begriffs als „Doppelseitigkeit“ von Vertrauensverhältnissen beschreibt.5 Hartmann unterstreicht damit, dass das Bedeutungsspektrum von fides mehr umfasst, als es die deutsche Übersetzung „Vertrauen“ suggeriert.6 Neben den Bedeutungsmöglichkeiten Treue oder Glauben drückt fides letztlich auch eine Eigenschaft aus, die man in sein Gegenüber hineinliest, mit anderen Worten: Vertrauenswürdigkeit.7 Die „Doppelseitigkeit“ beschreibt zum einen eben jene Vertrauenswürdigkeit, die der Vertrauensnehmer ausstrahlt, und zum anderen das aktive Gewähren von Vertrauen seitens des Vertrauensgebers. Ein Verlässlichkeitsglaube kann sich nur entfalten, wenn der Vertrauensnehmer überzeugend die Eigenschaft der Vertrauenswürdigkeit repräsentiert. Konkret bedeutet dies, dass die Aristokratie auf der Vertrauensnehmerseite Vertrauenswürdigkeit und den Eindruck der Verlässlichkeit stets (re-)produzieren musste. Nur so konnte die Plebs in ihrer vertrauensgebenden Rolle immerfort bestärkt werden. Generell besaß die fides eine tiefwurzelnde und alle Lebensbereiche umfassende Bedeutung in der römischen Werte- und Normenhierarchie.8 Ein Beleg für die hier 4 Baier 2001, S. 82. 5 Vgl. Hartmann 2011, S. 376–380. 6 Ebd., S. 402, betont allerdings auch – entgegen anders lautenden Versuchen –, dass sich fides kontextabhängig sehr wohl mit dem deutschen Wort „Vertrauen“ übersetzen lässt. 7 Vgl. dazu auch Fraenkel 1916, S. 188; ebenso Timmer 2017, S. 87. 8 Vgl. dazu Hölkeskamp 2000, S. 226–230.

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speziell angesprochene fides-Funktion innerhalb der asymmetrischen Beziehung zwischen Beherrschten und Herrschern findet sich bei Cicero, der, während er von den Pflichten unterschiedlicher Personengruppen spricht, auch die Aufgaben der Magistrate beschreibt, welche vor allem in der Bewahrung der Republik in all ihren Facetten und im rechtlichen Schutz jedes einzelnen beständen hätten. Gerade die Erfüllung dieser ihm anvertrauten Aufgaben sei in erheblichem Maße von der Verlässlichkeit bzw. Vertrauenswürdigkeit (fides) des jeweiligen Amtsinhabers abhängig gewesen.9 Wie bereits erwähnt, bedurfte der Glaube an die nobilitäre Vertrauenswürdigkeit sowie Verlässlichkeit – und damit auch an die Führungsbefähigung – einer stetigen Reproduktion. Dies gelang der Nobilität, die als Rekrutierungspool für Magistrate eine Art Expertengremium bildete, nicht zuletzt durch das römische Erziehungsmodell der imitatio patris oder maiorum10 (Nachahmung des Vaters bzw. der ‚Altvorderen‘) bzw. durch die generelle Lebensausrichtung auf das Politische.11 Für Cicero bestand jedenfalls kein Zweifel daran, dass diejenigen, die sich am gründlichsten in den res civiles (bürgerlichen Angelegenheiten) durch cognitio et prudentia (Wissen und Klugheit) auszeichneten, auch am geeignetsten waren, in diesen Dingen Entscheidungen zu treffen.12 Zu diesen Personen waren selbstredend die Mitglieder der Nobilität zu zählen. Der vielleicht bekannteste Beleg für die Akzeptanz der überlegenen nobilitären cognitio et prudentia durch die Plebs findet sich für das Jahr 138 v. Chr., als der Volkstribun C. Curiatius den Consul Scipio Nasica in seine contio vorlud, damit dieser vor einer aufgebrachten Volksmenge seine Sicht zum Ankauf von verbilligtem Getreide vortrage. Zweifelsohne hoffte er darauf, dass der Consul dem Wunsch zum Ankauf auf Druck der versammelten Masse nachkäme. Scipio jedoch beschloss, das aufgebrachte Volk mit einem Verweis darauf abzuspeisen, dass er als Consul und Angehöriger des nobilitären Führungsgremiums besser als die Plebs wüsste, was gut für die Republik sei. Überraschenderweise reagierte das Volk auf diese barschen Worte Scipios nicht empört, sondern einsichtig. Der Ankauf von Getreide auf Kosten des Gemeinwesens schien danach jedenfalls keine dringende Forderung mehr von Volkstribun und Volk gewesen zu sein.13 Laut Valerius Maximus vergaß die Plebs ihre eigenen Interessen aufgrund der auctoritas von Scipio Nasica. Der Consul dürfte in dieser Episode sicher von seiner Amtsautorität profitiert haben, doch weist Alexander Yakobson darauf hin, dass dies zumindest kein Automatismus war, da das Volk Nasicas ablehnende Haltung anfangs mit Schreien und Rufen quittierte. Seine Autorität war mit hoher Wahrscheinlichkeit direkt von seiner Persönlichkeit und damit von seinen erworbenen 9 Vgl. Cic. off. 1,124. 10 Vgl. Timmer 2017, S. 127 f. 11 Man denke hier nur an Christian Meiers (1966, S. 47) kondensierte, leicht tautologisch anmutende Aussage: „Wer Politik trieb, gehörte zum Adel, und wer zum Adel gehörte, trieb Politik.“ 12 Vgl. Cic. de orat. 160. 13 Vgl. Val. Max. 3,7,3. Vgl. auch Jehne 2011, S. 111 f.

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(rhetorischen) Kompetenzen sowie von seiner nobilitären Herkunft abhängig.14 Dass diese Episode wiederum kein Einzelfall für das Handeln einer exzentrischen Einzelperson war, gibt Cicero mehrfach zu verstehen. So sei es die dicendi facultas (die Fähigkeit zu reden) gewesen, die oftmals Consulwahlen entschieden hätte. Und Consuln hätten nun einmal ebenso die Aufgabe, dem furor tribunicius (tribunizischem ‚Wahnsinn‘), dem populus concitatus (dem erregten Volk) sowie dem Wunsch nach largitiones (der verschwenderischen Geschenkemacherei) durch ansprechende Reden zu widerstehen.15 In De oratore bekräftigte Cicero die Ansicht, dass ein großer Teil einer Rede darauf entfallen müsse, die Emotionen des Volks durch cohortatio et commemoratio (Ermahnung und Erinnerung) in die richtigen – das heißt nobilitätsgenehmen – Bahnen zu lenken.16 In Anbetracht dessen, dass die barschen Worte Nasicas keiner großen rhetorischen Ausbildung bedurften, kann man davon ausgehen, dass der Verweis auf sein besseres Wissen bezüglich des Gemeinwohls wirkmächtiger gewesen sein dürfte. Letztlich dürfte sich die Plebs sowohl durch rhetorische Fähigkeiten wie auch durch Scipios Vertretungsanspruch bezüglich des Gemeinwohls beeindrucken lassen haben. Das Vertrauen der Plebs in die Führungskompetenz, wie sie beispielsweise die auctoritas und der Gemeinwohlanspruch des Nasica repräsentieren, reduzierte in erheblichem Maße die Transaktionskosten und öffnete dem einzelnen Plebeier Raum für andere Aktivitäten – bei zeitgleicher Garantie, dass man sich bei der Verwaltung der öffentlichen Sache auf die führenden Männer verlassen könne. Angesichts der unangefochtenen Stellung, die die Nobilität in republikanischer Zeit über Jahrhunderte konservierte, kann davon ausgegangen werden, dass die Herrschaftsbeziehung zwischen Plebs und Nobilität, die eben auch auf Verlässlichkeit und Vertrauenswürdigkeit gründete, nie durch die Herrschaftsbeziehung zersetzendes Misstrauen belastet war, was nicht ausschließt, dass die Beziehung nicht schwerwiegende Vertrauenskrisen erlebt hätte. Das plebeische Vertrauen in die nobilitären Familien wurde wiederum durch eine Ästhetisierung von gemeinwohlfördernden Erfolgen mittels Monumenten, Reden und Geschichte(n) ständig gestärkt. Mit Hilfe dieser Medien gravierten die nobilitären Familien ihre Leistungen in die öffentliche Erinnerung ein – und damit auch in die Erinnerung der Plebs.17 Als Repräsentanten der Befähigung einer Familie dienten diese memorialen Entitäten auch dazu, die Eignung – und damit die Vertrauenswürdigkeit – aktueller Familienangehöriger innerhalb der breiteren Öffentlichkeit zu vergegenwärtigen.18 Davon abgesehen mussten Nobiles allerdings auch als unparteiliche, gemeinsinnige Förderer des Gemeinwohls auftreten, die ihre privaten Interessen immer dem Wohl der Republik nachordneten. Auch innerhalb politischer Konflikte versuchten konkurrierende Nobiles sich mit Verweisen auf 14 15 16 17 18

Vgl. Yakobson 2019, S. 548. Vgl. Cic. Mur. 24. Vgl. Cic. de orat. 2,337. Vgl. ferner Hölkeskamp 2004, S. 245 f. Vgl. Flower 2006, S. 53, 66. Vgl. z. B. das Beispiel der Caecilii Metelli; dazu Hölkeskamp 2017, S. 308 f.

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das Gemeinwohl gegenseitig zu überzeugen. Am Vorabend des Bürgerkrieges ließ Pompeius beispielsweise Caesar über den Mittelsmann L. Caesar ausrichten, dass er keinen persönlichen Groll gegen Caesar hege. Vielmehr habe er seine privatae necessitudines (persönlichen Verpflichtungen) immer den commoda rei publicae (dem Allgemeininteresse) untergeordnet. Caesar solle es ihm doch gleichtun und pro sua dignitate (für sein Ansehen) von seinem Streben und Zorn im Sinne der Repu­ blik ablassen.19 Für Cicero hingegen traten beide immer nur für die eigene dominatio und die eigenen domestica commoda (persönlichen Interessen) ein, zu Lasten von patriae salus et dignitas (Wohl und Ansehen der Heimat).20 Sowohl Pompeius’ Ratschlag an Caesar als auch Ciceros Generalabrechnung weisen deutlich darauf hin, dass ein vertrauenswürdiger römischer Politiker sein eigenes Interesse und die eigene Vorteilsnahme zurückzustellen hatte. Dies war offenkundig gleichfalls ein inneraristokratisches Ideal, aus dem sich gegebenenfalls bei unterstellter oder tatsächlicher Devianz ein Vorwurf an den jeweiligen politischen Kontrahenten kon­ struieren ließ. Es nimmt daher kaum wunder, dass sich der Senat als Summe der sich für die res publica ‚aufopfernden‘, führenden Männer – in der Diktion Martin Jehnes – als „Hüter des Gemeinsinns“ inszenierte.21

3. Das Bellum Iugurthinum und die Vertrauenskrise am Ende des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts Die Selbststilisierung als Hüter des Gemeinsinns konnte indessen auch zur Last werden, wenn der Eindruck (ob nun als bloßer Vorwurf oder gar mit Nachweis) entstand, dass die politisch aktiven Nobiles eher Hüter des Eigensinns waren. Hier öffneten sich für Politiker bzw. Magistrate argumentative Räume, die es auf Kosten von Standesgenossen erlaubten, die öffentliche Stimmung zu beeinflussen und so die eigene politische Agenda voranzutreiben: so geschehen im Jahre 123 v. Chr. als C. Gracchus gegen die lex Aufeia und für seine lex Sempronia de provincia Asia agitierte. Gemäß Gellius warf Gracchus den nobilitären Unterstützern der lex Aufeia in einer contio vor, Mietlinge der hellenistischen Könige Nikomedes III. und Mithridates V. zu sein. Auch wenn der genaue Problemzusammenhang unklar bleibt, so gehört diese Episode nach Claude Nicolet in den Kontext von Grenzstreitigkeiten zwischen den Königen22, welche daraufhin Rom als Schiedsrichter anriefen. Allerdings hätten sich, so legt es ein Redefragment des Gracchus bei Gellius nahe,23 einige Senatoren ihre Gunst für einen der Könige etwas kosten lassen. Die mutmaßliche Förderung der res familiares oder, anders formuliert, die Verfolgung partikularistischer Eigeninteressen in Form von Bestechlichkeit diente 19 Vgl. Caes. civ. 1,8,2 f. Siehe für eine solche Selbstdarstellung eines Politikers auch Cic. Manil. 71. 20 Vgl. Cic. Att. 10,4,4. 21 Siehe Jehne 2013. 22 Vgl. Nicolet 1965, S. 157. 23 Gell. 11,10,2–4.

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Gracchus dazu, sein Gesetz durchzubringen. Gracchus machte dabei keinen Hehl daraus, dass niemand sine pretio vor das Volk trete. Nur sei es ihm nach eigenem Bekunden um bonam existimationem atque honorem (guten Ruf und Ehre) bei der Plebs gegangen, wohingegen seine politischen Gegner es vorgeblich nur auf das Geld von Königen abgesehen hatten. Bedauerlicherweise bleibt die Reaktion von Gaius’ Zuhörerschaft im Verborgenen, aber der Fakt, dass Gracchus’ Steuerpachtsystem für Asia umgesetzt wurde, könnte darauf hindeuten, dass die Korrumpiertheit einiger hoher Nobiles, mag sie auch nur von vorgeblicher Natur gewesen sein, für ausreichend öffentliche Empörung und Risse in der öffentlichen Stimmung über die nobilitäre Verlässlichkeit sorgte. In jedem Fall argumentierte Gracchus damit, dass seine Kontrahenten ihre persönlichen Vorteile über die commoda des Volkes und das Allgemeinwohl stellten. Auch wenn die Quellen in diesem Zusammenhang keine genauere Auskunft über die psychologischen Auswirkungen dieses Bestechungsvorfalls geben, so ist die Vermutung doch zulässig, dass das Vertrauen seitens der Plebs in die gemeinwohlorientierte Verwaltung der res publica durch die Nobilität zumindest in Teilen zu bröckeln begann. Validere Informationen zu einem Verlust an den Glauben in die Verlässlichkeit und Vertrauenswürdigkeit als Symptom einer Vertrauenskrise liegen indes zu einem ‚Bestechungsskandal‘ einige Jahre später vor. Das Bellum Iugurthinum sorgte nicht nur für außenpolitischen Trubel, sondern wirbelte auch viel innenpolitischen Staub auf. Nichts zu sagen ist an dieser Stelle über Iugurthas lobenswerte Leistungen für die Römer im Numantinischen Krieg, seine Freundschaft zu Scipio Aemilianus oder seine beachtenswerte Fähigkeit, den Krieg zu verschleppen und ihn so zu einer außerordentlichen mehrjährigen Mühsal für die Römer werden zu lassen. Vertraut man Sallusts Darstellung, so hatte Iugurtha schon vor Beginn seiner Königsherrschaft im Lager vor Numantia von novi atque nobiles (politischen Aufsteigern und Angehörigen der Nobilität) gelernt, dass in Rom alles käuflich sei.24 In der Folge führte Iugurtha nach Micipsas Tod einen rücksichtslosen Kampf gegen seine Stiefbrüder Hiempsal und Adherbal, wobei der römische Senat anfangs dafür wenig Interesse gezeigt haben soll. Für Sallust hing dieses vorgebliche Wegsehen vor allem mit der Korrumpiertheit der Nobilität zusammen. In seiner Erzählfolge reihte er nahezu alle Faktoren einer vertrauenszerstörenden Herrschaft auf. Er beklagte die avaritia nobilitatis25 (Habgier der Nobilität), kritisierte die famosae largitiones regis26 (die allseits bekannten Bestechungsgelder des Königs) und konnte doch nur konstatieren, dass zu Anfang die pars senatu (der Teil des Senats) überwog, die pretium aut gratiam (Belohnung und Dankbarkeit) höher achtete als die Wahrheit.27 Grosso modo erinnert Sallusts Diagnose an C. Gracchus’ Argumentation gegen die lex Aufeia, echauffieren sich doch beide über die Bestechlichkeit der angesehenen Männer der Republik. Nachdem Iugurtha indessen den Vereinbarungen eines ersten Ver24 25 26 27

Sall. Iug. 8,1. Vgl. Sall. Iug. 13,5. Vgl. Sall. Iug. 15,5. Vgl. Sall. Iug. 16,1.

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mittlungsversuchs, vermittelt von einer römischen Zehnmännergesandtschaft um L. Opimius, zuwidergehandelt hatte, kam es zu neuerlichen Beratungen im Senat. Doch auch in dieser Situation habe man Gnade vor Recht im Umgang mit Iugurtha ergehen lassen, was Sallust zu der Feststellung brachte, dass das bonum publicum (Allgemeinwohl) der privata gratia (persönlicher Dankbarkeit) einmal mehr untergeordnet wurde.28 Mit anderen Worten: In jenen Tagen habe zumindest ein Teil der Senatoren seine persönliche Entscheidung am Eigenwohl ausgerichtet, anstatt sich am Gemeinwohl als oberstem Handlungsprinzip zu orientieren.29 Inzwischen hatte sich Iugurtha der Stadt Cirta bemächtigt, wo Adherbal Unterschlupf gefunden hatte. Iugurtha ließ nach der Einnahme nicht nur entgegen eigentlichen Absprachen Adherbal beseitigen, sondern hinderte seine Truppen auch nicht daran, dort ansässige italische negotiatores (Händler) niederzuschlagen. Als die Kunde davon Rom erreichte, versuchten Iugurthas Unterstützer zu beschwichtigen, doch dieses Mal nahm sich mit C. Memmius einer der designierten Volkstribune für 111 v. Chr. der Sache an. Dieser machte den Vorgang in Volksversammlungen (contiones) dem Volk bekannt und verursachte damit nach der Darstellung Sallusts eine Welle der öffentlichen Empörung. Erst jetzt, auf öffentlichen Druck, soll der Senat, der das aufgebrachte Volk regelrecht gefürchtet habe, Vorbereitungen für einen Krieg gegen Iugurtha getroffen haben.30 Allem Anschein nach waren bis dahin keinerlei Informationen über Iugurtha und seine Beziehungen zur römischen Nobilität publik geworden. Ähnlich wie im Falle des C. Gracchus war es mit C. Memmius ein Volkstribun, der die Vorgänge transparent machte. Nachdem dies aber geschehen war, schien es umgehend zu heftigen Unmutsäußerungen seitens der Plebs gekommen zu sein. Allerdings könnte die Plebs schon zuvor vage Informationen gehabt haben, die in Form von Gerüchten31 in den Straßen Roms kursierten. Ein bezeichnendes Beispiel für den Einfluss von Gerüchten auf die öffentliche Stimmung findet sich einige Jahrzehnte später, als der Volkstribun von 74 v. Chr., C. Quinctius, im Zuge des ersten Oppianicusprozesses in contiones die Bestechlichkeit der Richter anprangerte. Auch bei dieser Gelegenheit war es die vorgebliche Korrumpiertheit von Angehörigen aus der Nobilität, die für Aufregung sorgte. Jedoch baute Quinctius mutmaßlich auf bereits bestehenden Gerüchten auf; zumindest charakterisierte Cicero Quinctius als einen Mann, der sich gerne „all die Winde der städtischen Gerüchte und der Volksversammlungen“ (omnis rumorum et contionum ventos) zu Nutze machte.32 Cicero meint zugleich, dass Quinctius mit der Unbeliebtheit der sich aus der Nobilität zusammensetzenden Gerichte innerhalb des populus gerechnet habe. Auf diesem öffentlichen Stimmungsbild glaubte Quinctius aufbauen und seine politischen Ziele verwirklichen zu können. Dass auch Memmius bei seinen Agitationen auf schon bestehende Gerüchte 28 29 30 31 32

Vgl. Sall. Iug. 25,2 f. Vgl. auch Knopf 2013, S. 58–64. Vgl. Sall. Iug. 27,1–3. Vgl. zu Gerüchten in Roms politischem Alltag allgemein Rosillo-López 2017, S. 75–97. Cic. Cluent. 77.

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zurückgriff, kann folglich nicht kategorisch ausgeschlossen werden. Sollte es sich so verhalten haben, dann hätte auch Memmius seine Reden auf einem öffentlichen Stimmungsbild, das sich vor allem auf Grundlage von Gerüchten etabliert hatte, aufbauen können. Das Zirkulieren von Gerüchten mündete aber offenbar nicht zwangsläufig in öffentlicher Aufregung. Die drei angeführten Beispiele des Gracchus, Memmius und Quinctius zeigen, dass sich die Plebs nicht zwangsläufig von sich aus großflächig empörte, sondern es oftmals erst eines zündenden Funkens (meistens von Seiten eines Volkstribuns) bedurfte. Doch wird auch deutlich, dass, wenn die Wut der Plebs erst einmal entfacht war, der öffentliche Druck auf die betreffenden Senatoren große Wirkungskräfte entfalten konnte. Eine andere Frage ist, ob die Korruption tatsächlich derart um sich gegriffen hatte, wie Gracchus oder Sallust suggerierten. Bekanntermaßen sah Sallust die römische Republik und vor allem ihr nobilitäres Führungspersonal seit 146 v. Chr. in einem moralischen Verfallsprozess begriffen.33 Diese Verfallshypothese durchzieht Sallusts gesamtes Œuvre – mit gravierenden Auswirkungen auf seine Interpretation von historischen Ereignissen. Zudem ist noch das methodische Problem der Zurückprojektion zu berücksichtigen. Es ist nicht immer ohne Weiteres zu bestimmen, inwiefern die soziopolitischen Verwerfungen während seiner Lebenszeit seine Darstellung der (näheren) Vergangenheit beeinflusst haben. Inwiefern das politische Führungspersonal am Ende des 2. Jahrhunderts v. Chr. tatsächlich als bestechlich, korrupt und überhaupt moralisch verkommen zu charakterisieren ist, ist kaum ernsthaft zu bestimmen. Man darf Sallust wohl gemäß seiner historischen Leithypothese eine beträchtliche Verzerrung der historischen Realität unterstellen. Andererseits kann freilich auch nicht ausgeschlossen werden, dass zumindest einige nobiles bestechlich waren. Dies im Detail zu bestimmen ist allerdings auch gar nicht nötig. Denn wie bereits erwähnt, konnte der im öffentlichen Raum stehende Vorwurf der Bestechlichkeit – wie von Gracchus oder Quinctius erhoben – bereits ausreichen, um die öffentliche Stimmung maßgeblich zu beeinflussen. Dass dies auch im Vorfeld des Iugurthinischen Krieges passierte, zeigt die bereits angesprochene Rede des designierten Volkstribuns Memmius. Der Vorwurf der Bestechlichkeit, addressiert an die führenden Nobiles, hatte jedenfalls das Potential, einen Vertrauensverlust mit folgender Vertrauenskrise zwischen Beherrschten und Beherrschern zu bewirken. Schlussendlich war Korruption eine Chiffre dafür, dass die Nobilität ihren Pflichten gegenüber dem Gemeinwohl nicht mehr nachkam. Aus einer anderen Perspektive – nämlich der ‚dark side‘ des Vertrauens – betrachtet, lässt sich hier auch mit Timmer sagen, dass Korruption eine Folge von „allzu große[m] Vertrauen“, also sozusagen Folge eines aktiven Übervertrauens, ist.34 Man könnte der Plebs daher vorwerfen, dass diese Vertrauenskrise durchaus hausgemacht war. Es lohnt sich, weiter bei C. Memmius sowie dem Jahr seines Volkstribunats, 111 v. Chr., zu verweilen. Dem damaligen Consul L. Calpurnius Bestia war Africa als 33 Vgl. Sall. Iug. 41,2–5. Vgl. ferner Knopf 2013, S. 54–56. 34 Timmer 2017, S. 101.

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Kriegsschauplatz zugelost worden, doch anstelle eines Krieges entschied er sich, nach Sallust, anderweitig mit Iugurtha zu einer Einigung zu gelangen. Iugurtha unterwarf sich formal in deditionem und leistete einige wenige Reparationszahlungen in Form von Geld, Elefanten, Vieh und Pferden. Für Sallust stand der glimpfliche Umgang mit Iugurtha wieder mit der Zahlung von Bestechungsgeldern (vor allem an Calpurnius und Scaurus) in Zusammenhang.35 Auch hier muss man Sallust in seiner Korruptionsinterpretation sicherlich nicht folgen, denn Scaurus war Begleiter und Berater für alle Planungen (socius et administer omnium consiliorum) und als solcher könnte ihm durchaus daran gelegen gewesen sein, den Konflikt nicht eskalieren zu lassen – vor allem in Anbetracht der „difficulties of an African campaign“.36 Rechtlich war Iugurthas deditio jedenfalls keineswegs eine milde Regelung, immerhin gestattete dieser Vorgang den Römern, mit einem Gegner zu verfahren, wie es ihnen beliebte.37 Wie Sallust in diesem Fall ausdrücklich betont, gelangten Informationen über diese Vorgänge in Form von fama (Gerüchten) nach Rom, die schnell an allen Orten und in allen sozialen Zusammenkünften (per omnis locos et conventus) zum beherrschenden Stadtgespräch geworden sein sollen. Innerhalb der Plebs sei die Stimmung hin zu schwerwiegendem Groll (gravis invidia) umgeschlagen.38 An die Gerüchte anknüpfend habe Memmius in dieser aufgeladenen Situation das Volk in contiones um der res publica und libertas willen zur Rache an den Nobiles aufgerufen. Sallust zitiert eine Rede des Memmius, die jener nach der Rückkehr des Consuls Bestia aus Africa gehalten haben soll. Mit der Begründung, dass Memmius damals im Ruf gestanden habe, ein guter Redner zu sein, gibt Sallust vor, eine Originalrede des Memmius beizufügen.39 Wahrscheinlich ist, dass es sich bei der Rede um eine inventio des Historiographen Sallust handelt. Vor diesem Hintergrund kann diese auch als Ausweis mentaler Dispositionen zu Sallusts eigener Zeit, zumindest aber als „vehicle for his [sc. Sallust’s] own reflections on political life“,40 gelten. Doch das schließt nicht aus, dass die Rede auch einige Körnchen Wahrheit bezüglich der Zeit enthält, in der Memmius die Rede gehalten haben soll, zumal sich einige Reden (obschon oftmals nur fragmentarisch) aus dieser Zeit erhalten haben dürften.41 Es ist also nicht völlig ausgeschlossen, wenngleich direkte Belege fehlen, dass auch Reden des Memmius erhalten geblieben waren, die Sallust konsultiert haben könnte. Mit hoher Wahrscheinlichkeit aber nahm Sallust einige besorgniserregende 35 Sall. Iug. 29,1–6. 36 Paul 1984, S. 84. 37 Wie Hölkeskamp 2000, S. 237–240, eindrücklich betont, bedeutete die deditio letztlich die „rechtliche Selbstvernichtung“. Im konkreten Falle des Iugurtha hätte dies geheißen, dass er als König sowie sein Reich die Autonomie eingebüßt hätte. Vgl. auch von Fritz 1981, S. 187– 188; Paul 1984, S. 95. 38 Sall. Iug. 30,1. 39 Für die eingebauten Reden ließ sich Sallust von griechischen Historiographen inspirieren; vgl. dazu allgemein Nicols 1999. Zur Rede des Memmius als Nachahmung einer Periklesrede bei Thukydides im Besonderen vgl. Scanlon 1980, S. 152–156. 40 Paul 1984, S. 97. 41 Vgl. dazu ebd., S. 97.

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Kontinuitäten zwischen seiner Lebenszeit und der von ihm erzählten Zeit wahr. Dass der Vorwurf der Bestechlichkeit zumindest ein wiederkehrender Topos der öffentlichen Debatten gewesen war, belegen die zitierten Fälle des Gracchus und Quinctius. So gesehen stellt Memmius’ Vorwurf der Bestechlichkeit keine aus dem üblichen politischen Diskursrahmen fallende Ausnahme dar, sondern fügt sich in eine Reihe mehrerer bekannter Fälle ein. Man muss in diesem Punkt folglich nicht von einer Verzerrung der politischen Tagesrealität um 111 v. Chr. durch den Historiographen Sallust ausgehen. Nach Sallust soll Memmius jedenfalls seine Rede unter anderem mit einer Rüge des einfachen Volks begonnen haben, wobei er der Plebs patientia (Nachgiebigkeit) vorgeworfen habe.42 Im weiteren Verlauf habe Memmius, nicht ohne zuvor noch heftige Kritik am Gebaren der Nobilität zu äußern, das Volk daran erinnert, dass es der wahre Herrscher über alle Völker (imperator omnium gentium) sei. Gleichsam mahnte er die Quiriten, sich nicht aus misericordia (Mitgefühl), die nur ins Verderben führe, nachsichtig zu zeigen.43 Dann soll Memmius gar explizit gefragt haben: „Denn welche Hoffnung auf Vertrauen und Eintracht gibt es noch?“44 Misst man der Rede des Memmius ein Mindestmaß an Historizität zu, so spielte der Volkstribun dezidiert auf das Vertrauen in die Führungselite an. Mit seiner rhetorischen Frage danach, ob die Hoffnung auf Vertrauen noch gerechtfertigt sei, deutet der sallustische Memmius an, dass – neben concordia – Vertrauen zwischen Herrschaftssubjekten und den zu beherrschenden Subjekten ein wichtiger Pfeiler im Politischen der Republik darstellte. Und dieser Pfeiler geriete nun aufgrund der Habgier einiger Nobiles ins Wanken. Deutlicher wird an kaum einer anderen Stelle eine Beziehung zwischen plebeischem Vertrauen und nobilitärer Herrschaft konstatiert. In diesem Zusammenhang muss man wohl auch den eben angeführten Vorwurf der Nachgiebigkeit und des Mitleids einordnen. Patientia und misericordia waren letztlich Ausdruck eines Übervertrauens seitens der Plebs. Doch weist die Thematisierung dieses Vertrauensverhältnisses seitens Memmius bereits auf die Brüchigkeit hin. Denn das explizite Sprechen über Vertrauen indiziert in den allermeisten Fällen – und ganz sicher in diesem Kontext –, dass es bereits eine Vertrauenskrise gab.45 In den folgenden Jahren blieben die Umtriebe Iugurthas weiterhin ein Politikum ersten Ranges. 109 v. Chr. legte der Volkstribun C. Mamilius Limetanus eine rogatio vor, die eine Untersuchung zu den Bestechungsgeldern und -empfängern zum Ziel hatte. Trotz einiger Versuche, die Übertragung dieser rogatio in eine lex zu verhindern, habe sich die Plebs schließlich mit Nachdruck (intenta) für eine Annahme der rogatio entschieden.46 Die von Memmius geforderte Rache an der Aristokratie fand hier teilweise ihren Ausdruck. Die Untersuchungen seien nämlich ex rumore 42 43 44 45 46

Vgl. Sall. Iug. 31,1. Vgl. Sall. Iug. 31,21 f. Sall. Iug. 31,23: Nam fidei quidem aut concordiae quae spes est? Vgl. Timmer 2017, S. 23. Vgl. Sall. Iug. 40,1–3.

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et lubidine plebis (auf Grundlage von Gerüchten und übertriebener Leidenschaft der Plebs) hartnäckig geführt worden.47 Insbesondere die Formulierung ex rumore dürfte andeuten, dass viele lediglich aufgrund von Gerüchten angeklagt wurden und Denunziationen Tür und Tor geöffnet war.

4. Die Vertrauenskrise und Marius’ erster Consulat Die Einrichtung dieser Sonderuntersuchungen leitet zu der Frage über, welche Maßnahmen der Plebs insgesamt offenstanden, ihren Unmut über die Nobilität in einer Vertrauenskrise Ausdruck zu verleihen. Dass es einen Vertrauensverlust gab, ist durch die Worte des sallustischen Memmius und die allseits aufgeladene öffentliche Stimmung seit dem Ende des Jahres 112 v. Chr., als selbiger noch als tribunis plebis designatus die avaritia nobilitatis in einer contio angeprangert hat, begründet zu vermuten. Es ist eben auch offenkundig, dass das Volk nicht aus Eigeninitiative tätig wurde.48 Sowohl mit Memmius als auch mit Mamilius bedurfte es zweier Amtsträger, um die Empörung der Plebs zu entfachen und zu lenken, wobei das Entfachen vor allem im weiteren Emotionalisieren der Thematik im Rahmen von contiones (und damit jenseits von Straßengerüchten) lag. Ungeachtet dessen ist es augenfällig, dass der Vorwurf der Bestechlichkeit das Potential besaß, für reichlich Verärgerung innerhalb der Plebs zu sorgen. Wenngleich es auch einer externen Entfachung in contiones bedurfte und wenngleich Memmius und Mamilius wohl eine eigene politische Agenda verfolgten, so ist es doch unstrittig, dass die Plebs ein korrumpiertes Führungsgremium keineswegs teilnahmslos oder gar gleichgültig hinnahm.49 Und genau dies dürften die beiden Volkstribune gewusst und für sich (aus-)genutzt haben. Die Empörung war demnach wohl nicht gespielt oder gekauft. Im Übrigen konnte die Verärgerung auch einen amtlichen ‚Volksbeschützer‘ treffen, wie der Volkstribun C. Baebius leidvoll erfahren musste, als er 111 v. Chr. sein Veto gegen die Vorladung des Iugurtha in eine contio des Memmius einlegte.50 Auch bei dieser Gelegenheit sollen Bestechungsgelder geflossen sein, und die anwesende multitudo reagierte auf Baebius’ Veto vehement mit clamor, voltus und impetus.51 In 47 Vgl. Sall. Iug. 40,5. 48 Siehe für unabhängige, politische Aktivitäten der Plebs, die man als „unverfasste“ Partizipationsformen erfassen kann, Knopf 2019. 49 In den Worten von Yakobson 2014, S. 285: „[…] deference to nobility was […] dependant on public opinion rather than public opinion itself being shaped […] by deference to nobility.“ Yakobson gibt hier zu erkennen, dass er auch davon ausgeht, dass die öffentliche Meinung, repräsentiert durch die Plebs, durchaus abweichen konnte von der Auffassung (von Teilen) der Nobilität. Die Plebs war also durchaus kein willfähriges Organ, dessen Hauptaufgabe im bedingungslosen Folgen bestanden hätte. 50 Schon die Vorladung des Nichtrömers Iugurtha ist ein bemerkenswerter Vorgang, der wohl auf das aufgeheizte Klima der damaligen Tage zurückzuführen ist bzw. der Aufklärung des ‚Bestechungsskandals‘ dienen sollte. Das Erteilen des Wortes an einen Fremden in einer contio war ein sehr seltener Vorgang; vgl. Pina Polo 2018, S. 112. 51 Vgl. Sall. Iug. 34,1.

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den Jahren um 110 v. Chr. hatte sich die empörte öffentliche Stimmung der Plebs allem Anschein nach kaum gelegt. Wie die Einrichtung der Untersuchung durch Mamilius zwei Jahre nach Bekanntwerden der vorgeblichen Bestechlichkeit einiger Senatoren zeigt, war der ‚Skandal‘ aus der Tagespolitik nie ganz verschwunden. Man kann die nachhaltige (emotionale) Begleitung der Untersuchung durch die Plebs sicher als eine Konsequenz von verlustig gegangenem Vertrauen werten. Doch von der (letztlich folgenlosen) Ausübung öffentlichen Drucks wie im Fall des Baebius abgesehen, stand der Plebs noch eine andere Möglichkeit offen, ihren Verlust an Vertrauen in die Verlässlichkeit der Nobilität zu untermauern. In den Jahren 109–108 v. Chr. war Q. Caecilius Metellus, zuerst als Consul, dann als Proconsul mit der Kriegsführung gegen Iugurtha betraut, ohne aber den Konflikt zu einem schnellen und erfolgreichen Ende bringen zu können. In seinem Gefolge machte sich C. Marius einen Namen, der nun darauf drang, sich um den Consulat für 107 v. Chr. bewerben zu dürfen. In seinen vorhergehenden Ämtern, allen voran in seinem Volkstribunat, hatte sich Marius nach Plutarch als integrer Staatsmann ausgezeichnet. So brachte Marius als Volkstribun 119 v. Chr. ein Gesetz durch, infolge dessen die pontes dergestalt verengt wurden, dass die Wähler nur noch einzeln zu den Urnen gelangen konnten, wodurch die Möglichkeiten zur aktiven Einflussnahme auf die Stimmabgebenden eingeschränkt wurden. Damit provozierte er den Widerstand der Nobilität, der aber letztlich ohne Erfolg blieb, nicht zuletzt, weil er allen Widerständlern, inklusive dem Consul L. Aurelius Cotta und seinem Gönner Q. Caecilius Metellus, mit dem Gefängnis drohte. Auf der anderen Seite opponierte Marius gegen ein proplebeisches Getreidegesetz und verhinderte dessen Umsetzung, was es politischen Kontrahenten schwer gemacht haben dürfte, ihn ohne Weiteres als ‚Volksfreund‘ zu diffamieren. Kurzum: Marius konnte, zumindest wenn man Plutarch vertraut, glaubhaft machen, dass es ihm nicht um eine persönliche Agenda, Vorteilsnahme oder politische Seilschaften ging, sondern immer nur um das Gemeinwohl (τὸ συμφέρον).52 Durch die Art und Weise seiner Amtsführung zu Zeiten seines Volkstribunats förderte Marius letztlich ein Bild von sich, das ihn als vertrauenswürdigen Politiker auswies. Damit erfüllte er die Erwartungen, die für gewöhnlich an Angehörige der Nobilität gestellt wurden, einmal abgesehen von seinen unbestrittenen militärischen Fähigkeiten.53 Seine grundsätzliche Eignung für die Bekleidung des Consulats hatte Marius also nachgewiesen. Nach Sallust habe ihm letzthin nur die vetustas familiae (alteingesessene Familie) – das heißt Nobilität – gefehlt. Obzwar Caecilius seinem ehemaligen Protegé die Abreise nach Rom 108 v. Chr. nur widerwillig gestattet hatte, verhinderte er nicht, dass sich Marius um den Consulat bewerben konnte, mit dem bekannten Ende, dass dieser tatsächlich zum Consul gewählt wurde. Sallust kommentiert die Wahl mit den Worten, dass man nach vielen Jahren wieder einen homo novus mit der Consulatswürde geehrt habe.54 In der Regel sprach das Wahlvolk demnach den Angehörigen der Nobilität sein Ver52 Vgl. Plut. Marius 4,1–4. 53 Vgl. Yakobson 2014, S. 293. 54 Vgl. Sall. Iug. 73,7.

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trauen aus.55 Nun soll Marius schon während seiner Zeit in Africa für sich geworben haben, indem er equites Romani, milites und negotiatores anhielt, in ihren Briefen nach Hause seine Tugenden zu preisen und zugleich Metellus’ Laster zu monieren.56 Aber auch in Rom selbst hätten seditiosi magistratus Stimmung beim volgus für Marius gemacht. Allen voran aus den Reihen der opifices und agrestes soll Marius eine Unterstützerwelle entgegengeschwappt sein.57 Obendrein wies man ihm nach seiner Wahl noch den Aufgabenbereich Africa per Plebiszit zu und hebelte so das übliche Losverfahren aus. Indes ist aufgrund des Aufbaus der comitia centuriata keineswegs sicher, dass die aus Handwerkern und Bauern bestehende Personengruppe tatsächlich die Möglichkeit zur Abstimmung hatte. Wenn sich die ersten Centurien einig waren, so war die Aussicht der restlichen auf Stimmabgabe bekanntlich gering. Sallust selbst behauptet auch, dass bis zu diesem Zeitpunkt der Consulat durch die Nobilität inter se per manus vergeben wurde, was man so deuten kann, dass sich die ersten Stimmklassen überwiegend einig waren, wem sie die höchste aller Würden anvertrauten.58 Ohne dass hier die Entwicklung und der Aufbau der Centuriatscomitien in voller Länge referiert wird, kann doch gesagt werden, dass die erste Klasse nicht „‚elitist‘ or ‚oligarchic‘ in any real sense“59 gewesen sein kann, also durchaus auch wohlhabende Plebeier (was oder wer auch immer das genau war) umfasste. Das Votum eines (marginalen) Teils der Plebs dürfte folglich immer durch die Stimmabgabe der gesamten ersten Klasse erfolgt sein. Mutmaßlich zählten aber opifices und agrestes, ganz zu schweigen von Sallusts eher abwertender Bezeichnung volgus, nicht zu diesen wohlhabenden Plebeiern der ersten Klasse.60 Yakobson hat viele Belege für die Abstimmung auch unterer Klassen – und somit durchschnittlicher Plebeier – zusammengetragen.61 Dass Marius nach Sallust auf dringendes Verlangen der Plebs hin zum Consul gewählt wurde, dürfte folglich keine bloße Übertreibung des Historiographen sein.62 Wenngleich keine konkreten Aussagen zum Wahlverlauf in den Centuriatscomitien gemacht werden, so besteht keine Notwendigkeit, den sozialen Hintergrund der eigentlichen Wähler disjunktiv zu denken. Dass Marius ebenso mit den Stimmen der Plebs (jenseits der Plebeier der ersten Klasse) gewählt wurde, ist demnach wahrscheinlich, ganz zu schweigen von den Rittern, die Marius in jedem Fall als Unterstützer hinter sich wusste. Aber selbst wenn auch in diesem Fall nur wieder die ersten Klassen abgestimmt haben sollten, so könnten diese mög55 Vgl. zu dieser ‚Regel‘ auch Liv. 1,43,11. 56 Vgl. Sall. Iug. 65,4. Auf ganz ähnliche Weise wurde auch die öffentliche Stimmung zu Gunsten von Scipio Aemilianus während des dritten Punischen Krieges beeinflusst; vgl. App. Lib. 112. 57 Vgl. Sall. Iug. 73, 4–6. 58 Vgl. Sall. Iug. 63,6 f. 59 Yakobson 1999, S. 48. 60 Vgl. zur Semantik dieser Bezeichnungen Knopf 2018, S. 23–53. 61 Vgl. Yakobson 1999, S. 48–54; Stern 2011, S. 42 f. 62 Vgl. Sall. Iug. 84,1. Vgl. auch von Ungern-Sternberg 1998, S. 621, der „die fortdauernde Obstruktionspolitik der Optimaten“ dafür verantwortlich sah, dass es zu einem stetigen Vertrauensverlust innerhalb der römischen Gesellschaft kam. Er sieht die Consulwahlen von 105–100 v. Chr., also Marius’ mehrfache Wahl ins Consulat, als direkte Folge der Vertrauenserosion.

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licherweise aufgrund des erheblichen öffentlichen Drucks durch die Plebs ebenfalls für Marius gestimmt haben. Für Sallust war die damalige Zeit jedenfalls, wie er in einem anderen Kontext zu erkennen gibt, dadurch bestimmt, dass die Plebs homines novi mit aller Macht in den Consulat hieven wollte und die Nobilität in ihren Entscheidungen durch das Damoklesschwert der bereits erwähnten lex Mamilia arg verunsichert wurde.63

5. Fazit: Korruption und Consulat Cicero hat sich einige Jahre nach den skizzierten Ereignissen einmal beklagt, dass den Nobiles die beneficia populi Romani (die Wohltaten des römischen Volkes) quasi im Schlafe zufielen, wohingegen für einen homo novus ganz andere Regeln galten.64 Die Wahl des homo novus Marius war also in vielerlei Hinsicht ein Sonderfall, der ohne die damaligen politischen Nebengeräusche freilich nicht zu verstehen ist. Insbesondere der Vorwurf der Korrumpiertheit an einige Nobiles, selbst wenn es sich nur um Einzelfälle oder Gerüchte handelte, und auch unabhängig davon, ob Sallust die damalige Sachlage überdramatisiert wiedergibt oder nicht, bereitete den Nährboden für einen homo novus als Consul. Durch die mutmaßlichen Korruptionsskandale entstand letztlich der Eindruck, dass die Nobilität in Teilen ihren persönlichen Vorteil über die Belange der res publica stellte. Damit wurde das Vertrauen in den Grundkonsens, der im Wesentlichen darauf beruhte, dass die Nobilität die Belange der Republik immer voranstellte, erschüttert. Vor diesem Hintergrund entzog das Volk in dieser krisenhaften Situation der Nobilität das Vertrauen, indem es die rogatio Mamilia unterstützte, vor allem aber, indem es Marius, ob nun direkt oder indirekt, zum Consul machte. Marius dürfte aufgrund seiner Amtsführung im Jahr 119 v. Chr., mit der er signalisiert hatte, dass es ihm immer nur um das Gemeinwohl gehen würde, aber auch aufgrund seiner Erfolge in Africa unter Metellus als aussichtsreiches Versprechen im Interesse der Wahrung und Förderung des allgemeinen Wohls gegolten haben. Letztlich war seine Wahl aber nur Ausdruck eines episodenhaften Vertrauensverlusts inklusive einer Vertrauenskrise, die die Nobilität an ihre gemeinwohlfördernden Pflichten erinnern sollte, nicht aber eines generellen Misstrauens der Plebs in die Herrschaftsfähigkeit der Nobilität. Es kam zu keiner Zeit vor, während oder nach diesem ‚Skandal‘ um den Iugurthinischen Krieg zu revolutionsartigen Umstürzen. Im Ganzen blieb die Nobilität in ihrer gesellschaftlichen Vorrangstellung unangetastet. Anders gewendet heißt dies, dass die Plebs – sicherlich zu diesem Zeitpunkt auch noch in Ermangelung von Alternativen – bereit war, das Vertrauen in die Legitimität der nobilitären Herrschaft erneut aufzubringen.65 Die 63 Vgl. Sall. Iug. 65,5. 64 Vgl. Cic. Verr. 2,5,180. 65 Von Ungern-Sternberg 1998, S. 622–624, sieht eine Legitimitätskrise des Senats und seiner Politik, die 133 v. Chr. ihren Ausgang nahm und 88 v. Chr. mit Sullas Marsch auf Rom ihren ersten Höhepunkt fand. Nur so sei erklärlich, warum die Soldaten bereitwillig gegen die eigene Stadt marschierten. Damit war jedenfalls ein Präzedenzfall geschaffen, der letztlich zum

Iugurthinisches Geld, Korruption und Marius’ erster Consulat 

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Ereignisse um Iugurtha zeigen allerdings, wie wichtig ein solides Vertrauensverhältnis der zu regierenden Bürger zum jeweiligen politischen Führungsgremium war. Dass Angela Merkel in ihrer Rede auf dem Kirchentag dieses nicht explizit in ihrer Aufzählung erwähnte, darf daher sicherlich als Versehen gewertet werden.

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Untergang der Republik geführt habe, als mit Caesar eine Persönlichkeit die öffentliche Bühne betrat, die für die althergebrachte Ordnung – im Gegensatz zu Sulla – vor allem Verachtung empfunden habe. Vgl. zur Legitimitätskrise auch Walter 2019, S. 183, der die „Alternative“ zur bekannten Ordnung spätestens mit Pompeius’ Einzelconsulat 52 v. Chr. am Horizont aufziehen sieht. Man kann Marius’ ersten Consulat 107 v. Chr. sowohl als Ausdruck einer Vertrauens- wie auch Legitimitätskrise lesen. Insgesamt verlief der Auflösungsprozess der vertrauten Ordnung freilich schleppend. Davon unangetastet bleibt auch der Umstand, dass die Plebs nicht von sich aus einen alternativen Gegenentwurf oder-kandidaten präsentierte, sondern dieser auch wieder aus den Reihen der alten Ordnung heraus geboren werden musste. Marius selbst hätte sicherlich das Potential gehabt, eine „Alternative“ zu sein. Doch war er zeitlebens bestrebt, von den Vertretern der alten Ordnung akzeptiert, ja assimiliert zu werden – eine Zielsetzung, die Caesar wohl fremd gewesen sein dürfte. Aufgrund dessen war Marius jedenfalls ungeeignet, aus einer Vertrauens- oder Legitimitätskrise eine Neuordnung zu initiieren. Seine Wahl 107 v. Chr. bleibt damit letztlich ein Ausdruck einer situativen Krise, die aber in der Rückschau sicherlich als Etappe eines längeren Niedergangsprozesses verstanden werden kann.

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Erwartung und Enttäuschung in der späten römischen Republik Jan Timmer 1. Erwartung und Enttäuschung „Aber hier, wie überhaupt, kommt es anders, als man glaubt.“ Das, was Wilhelm Busch in der Geschichte von „Plisch und Plum“ in Worte (und Bilder) fasst,1 ist eine Grunderfahrung menschlicher Existenz: das Auseinandertreten von Erwartung und Erfahrung, eine Differenz zwischen dem, was man glaubte, das eintreffen werde, und dem, was schließlich geschehen ist. Es geschieht nie alles so, wie man es vorausgesehen hat. Erwartungen sind nichts anderes als Selektionen möglicher Zukünfte, und als Selektionen reduzieren sie zwar Komplexität, sind aber gleichzeitig anfällig für ihre Nicht-Erfüllung.2 Auf dieses Auseinandertreten kann ein Akteur in unterschiedlicher Weise reagieren: Kognition wäre die erste Möglichkeit, das heißt, der Mensch reflektiert die Differenz und passt seine Erwartung der Realität an. Er lernt. Das ist vor allem dort der Fall, wo die Differenz kein Einzelfall ist, wo sich regelmäßig Abweichungen zum Erwarteten einstellen. Dort liegt es nahe, seine Erwartungshaltung zu überprüfen.3 Notwendig ist dieses Lernen aber nicht. Menschen wären einander noch ähnlicher, als sie es sind, wenn aus der Abweichung von der Erwartung stets gelernt und die Erwartung als Folge des Lernprozesses der Realität angepasst würde. Zur Individualität gehört es, nicht alles zu lernen.4 Erwartungen lassen sich kontrafaktisch durchhalten. Dies kann auf der Ebene des Individuums und seiner Erwartungen an andere Individuen, Gruppen oder Institutionen geschehen, es kann aber auch von Kollektiven oder ganzen Systemen ausgehen und mit Sanktionen für diejenigen verbunden werden, die den Erwartungen nicht entsprechen. Normen sind aus dieser Perspektive nichts anderes als Erwartungen, die trotz Enttäuschung durchgehalten werden.5 1 2 3 4 5

Busch 1959, Bd. 2, S. 454. Luhmann 2008, S. 42–45. Luhmann 2015, S. 362 f.; Muraitis 2016, S. 45–50. Luhmann 2015, S. 429 f. Luhmann 2008, S. 40–53. Der Begriff „Enttäuschung“ wird innerhalb der Soziologie in doppeltem Sinne gebraucht. Er bezeichnet zunächst einmal jedwede Form der Reaktion auf die Wahrnehmung der Differenz von Erwartung und Erfahrung. Enttäuschung ist hier der Ausgangspunkt für alle drei beschriebenen Reaktionen, das Lernen, das kontrafaktische Erwarten und auch für die emotionale Reaktion als Folge des Fehlens eines Programms zur Enttäuschungsverarbeitung. Ein solch weiter Enttäuschungsbegriff ist vor allem dort geeignet, wo es um die Entwicklung von Funktionssystemen geht, die auf einer Form der Reaktion auf die NichtErfüllung/Enttäuschung fußen, wie bei Luhmann die Entwicklung des Erziehungssystems als funktionales System, das die Fähigkeit, Erwartungen anzupassen, also zu lernen, zum Gegenstand hat, oder des Rechtssystems als Ort, der sich durch kontrafaktisches Erwarten

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Quer zu diesen beiden Möglichkeiten existiert eine dritte. Man kann auf die Nicht-Erfüllung der Erwartung emotional reagieren, bei positiven Überraschungen mit Freude, bei negativen mit Angst, Wut oder Enttäuschung.6 Eine solche emotionale Reaktion ist besonders bei zwei Gelegenheiten zu erwarten: zum einen dort, wo Erwartungen im Vorfeld nicht reflektiert werden.7 Das bedeutet nicht, dass solche Erwartungen weniger verbindlich wären. Sie müssen von selbst beachtet werden und sind in der Regel erst dort beobachtbar, wo man sie missachtet. Da die Erwartungen unreflektiert bleiben, lassen sich keine Vorbereitungen für den Fall ihres Nicht-Eintretens treffen. Wer etwas als selbstverständlich erwartet, der wird vom Nicht-Eintreten überrascht, und mit dieser Überraschung ist dann häufig eine entsprechende emotionale Reaktion verbunden.8 Zum anderen reagieren Akteure dort emotional, wo Erwartungen zu Ansprüchen gerinnen, wo also Akteure grundsätzlich nicht mehr bereit sind, ihre Erwartungen den gemachten Erfahrungen anzupassen.9 Hier verbindet sich kontrafaktisches Erwarten personaler Systeme mit Enttäuschung. Dabei ist der Begriff der Enttäuschung auch dort mehrdeutig, wo es um die emotionale Komponente geht: Umgangssprachlich wird er weit gefasst, so weit, dass sich ein solches Verständnis nur schwerlich operationalisieren lässt. Gegebenenfalls findet der Begriff selbst dort Verwendung, wo das eigentlich bereits Erwartete eintritt oder auf ein Umweltphänomen Bezug genommen wird. Enttäuscht ist man dann auch vom schlechten Wetter im November. Im Folgenden soll der Begriff enger gefasst werden: Unter Enttäuschung soll eine emotionale Reaktion auf das Auseinandertreten von Erwartung und Erfahrung verstanden werden, die sich dadurch auszeichnet, dass eine bislang bestehende Kooperationsbereitschaft zur Disposition gestellt wird. Diese Form der Enttäuschung beruht wesentlich darauf, dass erstens mit der Differenz ein Schaden verbunden ist (da, wo man einen unerwarteten Gewinn macht, stellt man die Kooperation in der Regel nicht ein) und dieser Schaden zweitens der Entscheidung eines anderen Akteurs zugerechnet wird.10 Im Folgenden soll das Konzept für die Untersuchung der Desintegration der römischen Elite in der Zeit der späten Republik nutzbar gemacht werden und damit

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auszeichnet. Dagegen kann der Begriff aber auch in engem Sinne für die emotionale Reaktion, die auf das Auseinandertreten von Erwartung und Erfahrung folgt, gebraucht werden. Zu Emotionen als Folge des Auseinandertretens Baecker 2004; Luhmann 2008, S. 54 f. Muraitis 2016, S. 57–64. Ebd. S. 63; zu diffusen Erwartungen auch Luhmann 2015, S. 436 f.; vgl. Delquié/Cillo 2006, S. 197–215, die noch einen Schritt weitergehen und annehmen, dass Erwartungen nicht nur im Vorfeld nicht reflektiert werden, sondern vorgelagerte Erwartungen gar nicht existieren müssen, damit es zu Enttäuschung kommen kann. Muraitis 2016, S. 63. Luhmann 2015, S. 363 f.; Baecker 2004, S. 16: „Ansprüche dienen dazu, die Individualität zu markieren, die sich als Korrelat von Erwartungen ergibt, die man so leicht nicht aufzugeben bereit ist.“ Hellmann 1994, S. 146 f.

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Untersuchungen zur politischen Kultur der späten Republik ergänzen.11 Deren nichtformalisiertes Verhandlungssystem war auf Kooperation unter den unabhängigen Akteuren, die die Geschicke der res publica lenkten, angewiesen.12 Kollektiv verbindliche Entscheidungen wurden dadurch getroffen, dass die Akteure so lange miteinander verhandelten, bis es gegen die ausgewählte Handlungsoption keinen – jedenfalls keinen signifikanten – Widerstand mehr gab. Gelang es dabei nicht, Entscheidungen über Verhandlungen, die mit Einmütigkeit endeten, herzustellen, so blieben nur das Nicht-Entscheiden oder die gewaltsame Durchsetzung als Möglichkeiten der Entscheidungsfindung übrig. Besondere Relevanz kam unter den Handlungsdispositionen, die vorhanden sein mussten, um unter diesen Bedingungen kollektiv verbindliche Entscheidungen zu treffen, dem Vertrauen der Akteure zu. Verhandlungen ohne Vertrauen zumindest darin zu führen, dass alter wahrheitsgemäße Angaben zu eigenen Optionen und Präferenzen macht, ist in der Regel schlicht müßig.13 In dem relativ kleinen Kreis der römischen Aristokratie steht zudem zu erwarten, dass im Rahmen von amicitia-Beziehungen Vertrauen weiter reichte und die Erwartung einschloss, alter werde keine Handlungsoption wählen, die ego Schaden zufügen würde, sondern dessen Interessen mitberücksichtigen.14 Vertrauen spielte aber nicht nur im Rahmen der Interaktion der Akteure, sondern auch auf der Systemebene eine wichtige Rolle. So ist auf ein Problem zu verweisen, das sich als Verhandlungsdilemma beschreiben lässt:15 Grundsätzlich lässt sich bei Verhandlungssystemen eine Produktions- von einer Verteilungsdimension trennen.16 Die Beteiligten bemühen sich darum, dass möglichst viel zu verteilen ist, und verteilen es dann. Die Schwierigkeit besteht nun nicht nur darin, dass empirisch nicht immer der, der sich am intensivsten um eine gute Lösung bemüht hat, auch bei der Verteilung entsprechend berücksichtigt wird, sondern dass die Handlungsdispositionen der Akteure in beiden Dimensionen unvereinbar sind. Auf der Ebene der Produktion braucht es Kooperations- und Kommunikationsbereit11 Aus der Fülle der Literatur vgl. als Überblick: Jehne 2006; Walter 2017, S. 72–79; S. 213–221; vgl. daneben: Flaig 2003; Flower 2010; Hölkeskamp 2004; Hölkeskamp 2006; Meier 2017. 12 Zum Konzept Scharpf 2000, S. 197–249; Coleman 1994, S. 244–250; zur Anwendung bei der Untersuchung der späten Republik Timmer 2014; Timmer 2017, S. 73–79. Die Konzeption der Republik als nicht-formalisiertes Verhandlungssystem schließt dabei an die Beschreibung als „Konsenssystem“ an, die von Egon Flaig in die Diskussion eingebracht worden ist (Flaig 1995; Flaig 2003), hebt aber hervor, dass das Fehlen von Widerspruch am Ende des Entscheidungsprozesses nicht als Übereinstimmung von Präferenzen zu interpretieren ist. Zudem besteht bei der mittlerweile verbreiteten Verwendung des Begriffes Konsens bei Untersuchungen zur politischen Kultur der späten Republik das Problem, dass dieser unterschiedlich gebraucht wird, teils im obigen Sinn als Verfahren, Entscheidungen herzustellen, teils als besonders ausgeprägter Verfahrenskonsens wie in den Arbeiten von Karl-Joachim Hölkeskamp; vgl. Anm. 11. 13 Zur Rolle von Vertrauen in nicht-formalisierten Verhandlungssystemen Timmer 2017, S. 80–86. 14 Zur Unterscheidung von schwachem und starkem Vertrauen Scharpf 2000, S. 234; Freundschaft als Institution, die dezidiert der Bereitstellung einer Sphäre des Vertrauens dient, Eisenstadt 1974. 15 Zum Konzept Lax/Sebelius 1986, besonders S. 29–45. 16 Scharpf 2000, S. 211–229.

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schaft. Beim Verteilungskampf sind hingegen andere Eigenschaften gefragt: Hier geht es um kompetitive Interaktionsorientierungen. Verschärft wird das Problem des Auseinandertretens der beiden Dimensionen, wenn die Beteiligung an der Produktionsdimension hochgradig differiert, aber Chancengleichheit bei der Verteilung knapper Güter angestrebt bzw. vom System benötigt wird, wie dies für die römische Republik galt. Die Inhaber der außerordentlichen Imperien in der späten Republik trugen in einem Maß zur Verteilungsmasse bei, dass es gar nicht möglich war, sie entsprechend ihrem Beitrag zu beteiligen, wenn man die Homogenität der Elite, die die Grundlage des politischen Systems der Republik darstellte, nicht in Frage stellen mochte. Vertrauen in die Leistungsfähigkeit des politischen Systems milderte dieses Auseinandertreten. Nun zeigt sich in der späten Republik ein Verlust des benötigten Vertrauens, und zwar sowohl auf der Ebene der Interaktion einzelner Akteure oder von Gruppen als auch auf der Ebene des politischen Systems, und dies mit allen den Folgen, die bei der Erosion von Vertrauen zu erwarten sind: häufigen Blockaden des politischen Systems, Gewalt als Alternative zu geregelten Verfahren, Reduktion des Zukunftshorizontes, Korruption als strukturellem Äquivalent zu Vertrauen etc.17 Schwierig ist aber bei herkömmlichen Untersuchungen zum Vertrauen der Punkt festzustellen, an dem Vertrauen erodiert, an dem die Vertrauenskultur sich aufzulösen beginnt, Vertrauen gegebenenfalls sogar in Misstrauen umschlägt, und hier soll die Untersuchung von Enttäuschung helfen.18 Gefragt werden soll also, auf welche Anlässe Akteure mit Enttäuschung, das heißt mit der Zur-Disposition-Stellung ihrer Kooperationsbereitschaft reagierten, welche Strategien der Restabilisierung kooperativen Verhaltens es gab und welche Folgen ein Fehlschlag dieser Restabilisierung zeitigte. Ziel der Untersuchung ist es, einen genaueren Blick auf die Phase zu gewinnen, in der, nachdem sich Vertrauen als unberechtigt erwiesen hat, sich die Situation noch in der Schwebe befindet, die Aufkündigung von Kooperation naheliegt, aber noch nicht vollzogen ist. Damit soll die Untersuchung 17 Zu den Folgen, die mit der Erosion von Vertrauen in der Regel einhergehen: Endreß 2012; Sztompka 1995, S. 261 f.; Sitkin/Sickel 1996; zu den Auswirkungen auf die römische Republik Timmer 2017, S. 267–279. 18 Vertrauen mit Enttäuschung zu koppeln, ist nicht neu: Bernhard Gotto hat dies etwa für seine Untersuchungen der Geschichte der Bundesrepublik getan und dabei drei Verbindungen hervorgehoben: a.) Beide Begriffe richten sich auf ein spezifisches Verhältnis von Erfahrung und Erwartung. Vertrauen koppelt beide, indem vorhandene Informationen überzogen und aus bisheriger Kooperationsbereitschaft auf zukünftige geschlossen wird. Die Enttäuschung hingegen ist die Folge des Auseinandertretens von Erfahrung und Erwartung. b.) Beide Begriffe richten sich auf Kooperation: einmal in dem Sinne, dass aufgrund positiver Zukunftserwartung in der Gegenwart kooperiert wird, einmal indem als Folge negativer Zukunftserwartung in der Vergangenheit aufgebaute Kooperation zur Disposition gestellt wird. c.) Beide Begriffe richten sich auf Entscheidungen (die Entscheidung in der Zukunft, von der man annimmt, dass sie eigene Interessen berücksichtigen wird, oder die vergangene Entscheidung, die anders ausgefallen ist, als man das erwartet hat). Zudem steht schließlich zu erwarten, dass Vertrauen als häufig unreflektierte und in der Regel moralisch überhöhte (und das heißt zum Anspruch geronnene) Handlungsdisposition bei Defektion Enttäuschungen hervorbringt; vgl. Gotto 2018.

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von Enttäuschung diejenige der Erosion von Vertrauen oder gar der Entstehung von Misstrauen ergänzen: mit Blick auf den zeitlichen Verlauf, indem der Anfang dieser Prozesse berücksichtigt wird, mit Blick auf die Ebene der Untersuchung (also der Systemreferenz), indem die Interaktion von Akteuren stärker in den Fokus gerät.

2. Anlässe von Enttäuschungen Zunächst zu den Anlässen für Enttäuschungen im politischen Raum, also der Frage: Wie musste die Differenz von Erwartung und Erfahrung beschaffen sein, dass es zu einer emotionalen Reaktion kam? Eine der bekanntesten Feindschaften der römischen Republik war diejenige zwischen Q. Pompeius und C. Laelius. Das ist erstaunlich, weil Laelius eigentlich das exemplum schlechthin war, wenn es in der späten Republik um Freundschaft ging. Diejenige zu Scipio verewigte Cicero in seinem gleichnamigen Dialog.19 Diese Feindschaft war nun nicht nur ungewöhnlich, sondern auch problematisch, weil sie nicht auf die beiden beschränkt blieb, sondern weitere Kreise zog. Zumindest in Ciceros Dialog (und es spricht einiges dafür, dass es sich nicht um eine ciceronische Erfindung handelte) führt sie auch zum Ende der Freundschaft zwischen Scipio und Pompeius.20 Sie besaß also potentiell systemgefährdende Kraft, auch wenn in den 140er-Jahren die tatsächlichen Folgen begrenzt blieben.21 So wichtig war Laelius dann doch nicht, und die Republik war noch stabil genug, die Differenzen zweier ihrer Protagonisten verschmerzen zu können. Über den Wahlkampf für das Konsulat des Jahres 141 v. Chr. berichtet Plutarch: Er [sc. Scipio Aemilianus] suchte den Caius Laelius, seinen besten Freund, bei seiner Bewerbung um das Konsulat zu unterstützen, und fragte deshalb den Pompeius, ob auch er um das Konsulat sich bewerbe. Als nun dieser, der als der Sohn eines Flötenspielers galt, das Gegenteil versicherte und überdem den Laelius zu begleiten und seine Wahl zu unterstützen versprach, so trauten sie ihm und warteten auf ihn, sahen sich aber gänzlich getäuscht; denn sie hörten, dass er selbst auf dem Markte herumgehe und die Bürger für sich zu gewinnen suche.22

Pompeius verstieß also gegen ein Wahlbündnis, und er war erfolgreich. Er wurde 141 v. Chr. Konsul. Laelius verlor die Wahl. Allerdings scheint die Feindschaft nicht 19 20 21 22

Zu Ciceros Laelius vgl. Gotter 1996; Fürst 1999. Cic. Lael. 77; vgl. Cic. Lael. 2. Astin 1967, S. 121–123, dort auch zu den politischen Hintergründen des Wahlkampfes. Plut. mor. 200 b–c (Übers. Osiander/Schwab): Γαΐῳ δὲ Λαιλίῳ τῷ φιλτάτῳ τῶν ἑταίρων ὑπατείαν μετιόντι συμπράττων ἐπηρώτησε Πομπήιον εἰ καὶ αὐτὸς ὑπατείαν μέτεισιν· ἐδόκει δ’ ὁ Πομπήιος υἱὸς αὐλητοῦ γεγονέναι· τοῦ δὲ φήσαντος μὴ μετιέναι, ἀλλὰ καὶ τὸν Λαίλιον ἐπαγγελλομένου συμπεριάξειν καὶ συναρχαιρεσιάσειν, πιστεύσαντες καὶ περιμένοντες ἐκεῖνον ἐξηπατήθησαν· ἀπηγγέλλετο γὰρ αὐτὸς ἐν ἀγορᾷ περιιὼν καὶ δεξιούμενος τοὺς πολίτας. Vgl. Russell 2019, S. 137, die vor allem die Möglichkeit des Laelius und des Scipio betont, ihre überlegene virtus hervorzuheben.

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allein auf den Umstand der Wahlniederlage zurückzuführen zu sein.23 Der Schaden hielt sich in Grenzen. Laelius kandidierte im Folgejahr erneut und war diesmal erfolgreich. Zudem waren Wahlniederlagen zwar lästig – und vor allem waren sie teuer –, aber sie waren nicht unbedingt ehrenrührig.24 Zudem ging man, so man sich zur Wahl stellte, stets das Risiko ein, nicht gewählt zu werden. Die Möglichkeit des Scheiterns bei einer Wahl gehört in einer Republik nun einmal dazu.25 Was also führte zur Enttäuschung des Laelius, wenn nicht allein der bloße Umstand der Wahlniederlage? Man wird wohl nicht fehlgehen, wenn man zwei Besonderheiten hervorhebt: Zum einen standen Scipio und Pompeius in einer amicitia-Beziehung. Scipio bat seinen Freund, und der sagte ihm als Freund zu, selbst keinen Wahlkampf machen zu wollen. Freundschaft ist aber eine moralisch aufgeladene Form der Beziehung. Das galt auch in Rom, wo der Begriff sicherlich weiter gefasst wurde als heutzutage,26 und es galt auch schon im 2. Jahrhundert v. Chr., auch wenn sich gerade beim Freundschaftsbegriff eine zunehmende moralische Aufladung im Verlauf der späten Republik zeigt.27 Der Verstoß gegen ihre Regeln ist somit sittlich schlecht. Gleiches gilt im Übrigen auch in Bezug auf das enttäuschte Vertrauen: Auch dieses ist moralisch aufgeladen.28 Vertrauen zu missbrauchen ist nicht irgendein Akt der Defektion. Beide Institutionen, die Freundschaft und das Vertrauen, wurden mit Blick auf die moralische Bindekraft in der Republik auch durchaus verglichen.29 23 Zu Feindschaften in der römischen Republik Epstein 1987, speziell zu Feindschaften, die durch die Enttäuschung von Vertrauen begründet wurden, ebd. S. 40–42. In dem spezifischen Fall ging es dabei um mehr als nur den Bruch eines Wahlbündnisses. Erschwerend kam hinzu, dass Pompeius als homo novus seinen Aufstieg wesentlich Scipio verdankte. Er bewies also auch nicht die gratia, die hierfür von seinen Standesgenossen erwartet wurde. Deren Unwillen zeigte sich besonders in dem Prozess gegen Pompeius vermutlich 138 v. Chr.; vgl. Epstein 1987, S. 157; anders Gruen 1968, S. 36 f., der annimmt, dass jener von den Metellern ausgegangen sei, um damit Scipio zu treffen. 24 Cic. har. resp. 56; dass Niederlagen bei Wahlen nicht automatisch einen Ehrverlust bedeuteten, hat Pina Polo 2016 hervorgehoben. Zu den Wahlniederlagen jetzt grundlegend Hölkeskamp 2019; zu den finanziellen Folgen von Wahlniederlagen auch Jehne 2016; zur Ökonomisierung des politischen Wettbewerbs im 2. Jahrhundert v. Chr. Beck 2019. 25 Flaig 2019, S. 55 f. 26 Zum Konzept der amicitia und zu ihrer Entwicklung vgl. Gotter 1996; Rollinger 2014, 43–52; zu den daraus folgenden Verhaltensregeln ebd. S. 101–121. 27 Gotter 1996; anders Verboven 2011, S. 418, der die Kontinuität römischer Freundschaftsvorstellungen hervorhebt. 28 Timmer 2017; Timmer 2018a. 29 Cic. S. Rosc. 112 (Übers. Fuhrmann): „Deshalb also ist ein Verschulden dieser Art schimpflich, weil es zwei sehr ehrwürdige Dinge verletzt: die Freundschaft und die Treue. Denn fast niemand gibt einem anderen Aufträge als seinem Freunde, noch traut er jemandem, es sei denn, er hält ihn für treu. Nur ein ganz verworfener Mensch ist somit fähig, zugleich die Freundschaft aufzulösen und den zu täuschen, der nicht geschädigt worden wäre, hätte er nicht jemandem sein Vertrauen geschenkt.“ (Ergo idcirco turpis haec culpa est, quod duas res sanctissimas violat, amicitiam et fidem. Nam neque mandat quisquam fere nisi amico neque credit nisi ei quem fidelem putat. Perditissimi est igitur hominis simul et amicitiam dissolvere et fallere eum qui laesus non esset, nisi credidisset.)

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Gegen diese Institutionen zu verstoßen, war ein Grund, enttäuscht zu reagieren und weitere Kooperation zur Disposition zu stellen. Hinzu tritt aber ein weiteres Problem, nämlich die Selbstverständlichkeit, mit der Scipio und Laelius offensichtlich erwarteten, dass sich Pompeius an seine Zusagen auch halten werde. Sie irrten – das kann passieren –, aber die Selbstverständlichkeit, mit der die beiden annahmen, dass der Freund sein Versprechen einhalten werde, die hier sichtbar werdende Vertrauensroutine, verhinderte, dass es ein Programm der Enttäuschungsabwicklung geben konnte. Die Folge war der irreparable Bruch der Beziehung.30 Jenseits dieses spezifischen Falls des Wahlkampfes um das Konsulat des Jahres 141 v. Chr. sind Wahlkämpfe ohnehin ein Ort, an dem man enttäuschte Wahlverlierer erwarten kann, zumindest, wenn man von der umgangssprachlichen Verwendung des Wortes ausgeht. Kaum eine Wahlberichterstattung im Fernsehen kommt ohne Verweis auf die Enttäuschung der unterlegenen Kandidaten aus. Im engen Sinn des Begriffes ist es hingegen nicht leicht zu begründen, warum die Akteure enttäuscht sein sollten. Normalerweise sind sie es wohl auch gar nicht; jedenfalls ist es nicht die Regel, dass infolge einer Niederlage die Zusammenarbeit mit dem Konkurrenten eingestellt wird, und das war auch in Rom nicht der Fall. Allerdings zeigen sich bei Wahlverlierern durchaus manchmal Formen der Verbitterung, die zum einen eine Gefahr für das Funktionieren des politischen Systems darstellen, zudem aber auch insofern erklärungsbedürftig sind, als – wie bereits angesprochen – in einer Republik, in der über die Vergabe von Ämtern das Volk entscheidet, eigentlich jedem Bewerber klar sein müsste, dass er bei der Wahl auch unterliegen kann.31 Ein Beispiel für einen offenkundig enttäuschten Wahlverlierer bietet der Fall der Augurwahlen des Jahres 50 v. Chr., von denen Caelius Cicero in einem der vielen Briefe unterrichtet, die er, um Cicero auf dem Laufenden zu halten, nach Kilikien schickte: So viel wäre nicht einmal die Gefangennahme des Arsaces und die Eroberung von Seleucea wert gewesen, um darüber das Schauspiel der hiesigen Ereignisse zu versäumen; niemals hätten Dir Deine Augen leidgetan, wenn Du Domitius’ Gesicht bei seiner Niederlage gesehen hättest! Es war ein schwerer Wahlkampf, und je nach Gesinnung der Parteien zeigte sich deutlich Zu- und Abneigung; nur ganz wenige ließen ihre freundschaftlichen Beziehungen sprechen und taten ihre Pflicht. Daher ist mir Domitius spinnefeind, so dass er keinen seiner Freunde so hasst wie mich, und um so mehr, weil er meint, das Augurat sei ihm zu Unrecht versagt geblieben, und ich sei es, der dahinterstecke. Jetzt rast er, dass die Leute sich so über seinen 30 Timmer 2017, S. 108 f.; zu Vertrauen, das auf Routine ruht und in der Regel unreflektiert bleibt, vgl. Möllering 2005; Möllering 2006, S. 95; zur gefährlichen Wirkung von Vertrauensroutinen, die die Überprüfung, ob das Vertrauen zu Recht besteht, verhindern und damit anfällig für den mit der Defektion des Vertrauensnehmers verbundenen Schaden machen, Luhmann 2000, S. 119. 31 Die Verbitterung des Wahlverlierers als Form des Umgangs mit der Wahlniederlage hat jüngst Russell 2019, S. 136–141, hervorgehoben.

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Kummer gefreut haben, und dass ein jeder sich mehr für Antonius eingesetzt habe. Den jungen Cn. Saturninus hat Cn. Domitius selbst vor Gericht gezogen, der ihm schon von jungen Jahren her überaus verhasst ist.32

Zunächst einmal zeigt sich die Verbitterung des Verlierers, eine Verbitterung, die sich ähnlich wie beim Beispiel des Laelius nicht zuletzt daran entzündete, dass die Freunde nicht das taten, was sie eigentlich tun sollten, nämlich bei der Wahl helfen,33 eine Verbitterung, die wie bei Laelius Folgen für das Zusammenwirken der Senatsaristokratie besaß, da es als Ergebnis der Wahl zu politischen Prozessen kam, eine Verbitterung, die aber offenkundig auch darauf beruhte, dass Domitius glaubte, einen Anspruch auf das zu vergebende Amt zu besitzen.34 Es scheint für ihn selbstverständlich gewesen zu sein, als Gewinner aus der Wahl hervorzugehen. Ein Programm zur Enttäuschungsabwicklung brauchte es da nicht.35 Das ist ein Bild, das sich auch sonst in den Quellen zeigt. Es gibt Gelegenheiten, an denen Wahlchancen abgewogen werden. Am deutlichsten kann man das wohl bei Cicero nachverfolgen, der im Juli 65 v. Chr. in einem Brief an Atticus die eigene Kandidatur für das Konsulat ankündigte und dieser Mitteilung Überlegungen zu den wahrscheinlichen Konkurrenten zur Seite stellte.36 Aber es fehlen Vorstellungen, wie man mit einer Wahlniederlage umgehen solle. Und dieses Bild, dass die Möglichkeit der Niederlage ausgeblendet oder jedenfalls erstaunlich wenig reflektiert wird, bleibt, weitet man den Blick über Cicero als Kandidaten hinaus, bestehen. Vielmehr es verstärkt sich sogar noch: Du hast es gut. Täglich erhältst Du so viele erstaunliche Nachrichten! Zunächst die, dass Messala freigesprochen ist, dann die, dass er nun doch verurteilt worden ist, dass C. Marcellus Konsul geworden ist, dass M. Calidius nach seiner Niederlage von den beiden Gallii belangt worden ist, dass P. Dolabella Quindecimvir geworden ist. Um eins aber beneide ich Dich nicht: dass Du das herrliche Schauspiel versäumt und das dumme Gesicht des durchgefallenen Lentulus Crus nicht gesehen hast.

32 Cic. fam. 8,14,1 (Übers. Kasten): Tanti non fuit Arsacen capere et Seleuceam expugnare, ut earum rerum, quae hic gestae sunt, spectaculo careres; numquam tibi oculi doluissent, si in repulsa Domiti vultum vidisses. magna illa comitia fuerunt, et plane studia ex partium sensu apparu­ erunt; perpauci necessitudinem secuti officium praestiterunt. itaque mihi est Domitius inimicissimus, ut ne familiarem quidem suum quemquam tam oderit quam me, atque eo magis, quod per iniuriam sibi putat ereptum auguratum, quoius ego auctor fuerim. nunc furit tam gavisos homines suum dolorem, unumquemque studiosiorem Antoni; nam Cn. Saturninum adulescentem ipse Cn. Domitius reum fecit sane quam superiore a vita invidiosum. 33 Zur Hilfe bei Wahlen als Aufgabe von Freunden etwa Rollinger 2014, S. 82–84; Verboven 2011, S. 414 f. Die Rolle von Freundschaftsbeziehungen wird etwa im Commentariolum petitionis explizit hervorgehoben, vgl. Q. Cic. pet. 16. 34 Zur Wahlniederlage des Domitius und zur Reaktion des Caelius Russell 2019, S. 129. 35 Timmer 2018b. 36 Cic. Att. 1,10.

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Und mit welchen Hoffnungen, welchen sicheren Erwartungen war er in den Wahlkampf gegangen.37

Wahlniederlagen überraschten. Und dies galt wohl umso mehr, wenn der Kandidat Angehöriger einer Familie der Nobilität und politisch erfolgreich war. Im vorliegenden Fall scheiterte L. Cornelius Lentulus Crus, Mitglied der patrizischen gens der Cornelier, gewesener Praetor, der sich als Ankläger des Clodius und durch seinen Einsatz für Ciceros Rückberufung aus dem Exil einen Namen gemacht hatte, überraschend bei der Wahl zum XVvir sacris faciundis.38 Die Sicherheit, mit der einige Angehörige der alten Familien davon ausgingen, dass die Dinge zu einem guten Ende kommen würden, ist wohl, wie Uwe Walter jüngst betont hat, ein Kennzeichen des republikanischen Adels.39 Und für diese Sicherheit gab es auch gute Gründe, die in der Forschung unter der Überschrift „Abschließung der Nobilität“ diskutiert worden sind. Man konnte als Mitglied der Elite einigermaßen sicher davon ausgehen, auch selbst Karriere zu machen. Problematisch war nun, wenn aus der Erwartung, ein bestimmtes Amt zu erhalten, ein Anspruch wurde, der mit der republikanischen Ordnung nur noch schwer zu verbinden war. Noch problematischer war, dass in den letzten Jahren der Republik offenkundig einzelne „große Männer“ – sei es, weil sie aus alten gentes stammten, sei es, weil sie meinten, es stünde ihnen aufgrund ihrer Leistungen zu – nicht nur erwarteten, Ämter bekleiden zu können, sondern auch darüber hinaus Ansprüche entwickelten, als privatus besonders geehrt und – bei den entsprechenden Gelegenheiten – mit außerordentlichen Imperien ausgestattet zu werden: Es kränkte ihn [sc. Pompeius] einesteils das Verhalten des Clodius, am meisten aber die Tatsache, dass er auch von den anderen, denen er doch überlegen war, geringschätzig behandelt wurde; und er fühlte sich in seinem Ansehen und in seinen Hoff-

37 Cic. fam. 8,5,1 (Übers. Kasten): Invideo tibi. tam multa cottidie quae mirer istoc perferuntur. primum illud, absolutum Messallam, deinde eundem condemnatum; C. Marcellum consulem factum, M. Calidium ab repulsa postulatum a Gallis duobus, P. Dolabellam XV virum factum. hoc tibi non invideo, caruisse te pulcherrimo spectaculo et Lentuli Cruris repulsi vultum non vidisse. at qua spe, quam certa opinione descenderat. 38 Timmer 2018b, S. 73 f. Dabei folgten Wahlen zu Priesterämtern eigenen Gesetzmäßigkeiten, die regelmäßig überraschende Ergebnisse zeitigten bzw. Wahlgewinner hervorbrachten, die nach den üblichen Regeln der Statuskonstitution ihren Konkurrenten eigentlich unterlegen waren. Das bekannteste Beispiel ist wohl Caesars Wahl zum pontifex maximus, aber bereits dessen Vorgänger war unter vergleichbaren Bedingungen ins Amt gelangt. Zur Wahl Caesars Sall. Catil. 49,2; Vell. 2,43,1–3; Suet. Iul. 13; 43; Plut. Caesar 7,1–3; zur Bewertung der Wahl etwa Jehne 2009, S. 47–58; zu Caesars Vorgänger Q. Metellus Pius vgl. Vir. ill. 63; grundsätzlich zu den Priesterkarrieren Rüpke 2005; Szemler 1972. 39 Walter 2017.

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nungen verkürzt, derentwegen er auch als Privatmann höher als alle anderen eingestuft zu werden erwartete.40

Dass die Ansprüche Caesars nicht geringer waren, bedarf wohl keiner weiteren Ausführung.41 Das Phänomen, dass offensichtlich viele Aristokraten kein Programm der Enttäuschungsabwicklung für den Fall einer Wahlniederlage bereithielten und die Bereitschaft zu lernen wenig ausgeprägt war, lag aber nicht nur in der unglaublichen Sicherheit begründet, die Senatoren an den Tag zu legen pflegten, sondern auch an den Erwartungen, die die Wähler hegten.42 Selbstvertrauen und die nach außen getragene Gewissheit, die Wahl, zu der man angetreten war, auch zu gewinnen, waren wichtig, um überhaupt für das Volk wählbar zu sein. In seiner Verteidigungsrede für Murena beschäftigte sich Cicero detailliert mit den Gründen, die dazu geführt hatten, dass dieser und nicht sein Kontrahent Servius Sulpicius Rufus zum Konsul des Jahres 62 v. Chr. gewählt worden war: Ich verlange zumal von einem Konsulatsbewerber, dass er sich, seines Erfolges sicher und selbstbewusst, von zahlreichem Anhang auf das Forum und das Marsfeld geleiten lässt. […] zumal ja jetzt nach neuer Gepflogenheit fast jedermann jedermanns Haus aufsucht und aus der Miene der Kandidaten Schlüsse zieht, wie viel Zuversicht und Selbstvertrauen ein jeder zu haben scheint. ‚Siehst du, wie betrübt und niedergeschlagen der ist? Er liegt am Boden, er ist ohne Hoffnung, er hat das Rennen aufgegeben.‘ Diese Kunde breitet sich aus.43

Die Möglichkeit der Niederlage in Betracht zu ziehen und dementsprechend die Enttäuschung der Erwartung vorzubereiten, wurde also auch durch die Erwartung der Wähler, dass ein geeigneter Kandidat sich seiner Erwartungen sicher sein solle, beschränkt.44 Eine Gelegenheit, die ebenso wie die Situation der Wahlniederlage vermuten lässt, dass sich hier Enttäuschungen im Detail beobachten lassen, ist das Exil Cice-

40 Cass. Dio 39,24,3 (Übers. Veh): ἐλύπει μὲν γὰρ αὐτὸν καὶ τὰ ὑπὸ τοῦ Κλωδίου γιγνόμενα, καὶ μάλισθ’ ὅτι καὶ ὑπὸ τῶν ἄλλων ὑπερεωρᾶτο ὧν διέφερε, διά τε τὸ ἀξίωμα καὶ διὰ τὰς ἐλπίδας ἀφ’ ὧν καὶ ἰδιωτεύων ὑπὲρ πάντας αὐτοὺς τιμηθήσεσθαι προσεδόκησεν ὑβριζόμενος. 41 Hierzu besonders Raaflaub 1974; vgl., die Übereinstimmung Caesars mit römischen Vorstellungen betonend, auch Morstein-Marx 2009. 42 Selbstverständlich sind bereits aufgrund der Quellenlage die Erwartungen der Wähler nur schwer zu rekonstruieren, da diese nur aus den Erwartungserwartungen der Elite rekonstruiert werden können. Vgl. Morstein-Marx 2004, S. 119–159; Knopf 2018; Laser 1997. 43 Cic. Mur. 44 f. (Übers. Fuhrmann): Petitorem ego, praesertim consulatus, magna spe, magno animo, magnis copiis et in forum et in campum deduci volo. […] praesertim cum iam hoc novo more omnes fere domos omnium concursent et ex voltu candidatorum coniecturam faciant quantum quisque animi et facultatis habere videatur. ‚Videsne tu illum tristem, demissum? iacet, diffidit, abiecit hastas.‘ Serpit hic rumor. 44 Yakobson 1999, S. 95.

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ros. Wer die Briefe zwischen März 58 v. Chr. und August 57 v. Chr. liest,45 gewinnt schnell den Eindruck eines zutiefst verbitterten Mannes:46 Ich hasse belebte Stätten, fliehe den Umgang mit Menschen und mag kaum das Sonnenlicht sehen, und somit würde mir die Einsamkeit dort, zumal in so vertrauter Umgebung, nicht unangenehm sein. […] Wenn Du mich ins Leben zurückrufst, so erreichst Du damit höchstens das eine, dass ich nicht Hand an mich lege; dass ich meinen Entschluss bereue und das Leben mich anekelt, daran änderst Du nichts. […] Ich will Dir eine Aufzählung all meiner Leiden ersparen, die über mich gekommen sind durch das himmelschreiende Unrecht weniger meiner Feinde als meiner Neider: ich würde damit nur meinem Kummer neue Nahrung geben und Dich in die gleiche trostlose Stimmung versetzen; aber das sage ich Dir: noch nie ist jemand so schwer vom Unglück betroffen worden, niemandem der Tod so wünschenswert erschienen.47

Ist nun aber auch der bloße Umstand, dass Cicero in dieser Zeit offenkundig enttäuscht war, wohlbekannt und nicht weiter nachweisbedürftig, so verwundert, gerade wenn man auch die Briefe der Folgezeit und die nach der Rückkehr aus dem Exil gehaltenen Reden berücksichtigt, was denn in den Exilbriefen den Anlass zu den Tiraden liefert, woran sich Ciceros Verbitterung also entzündet. Es läge nahe anzunehmen, dass neben der Klage vor allem diejenigen Personen im Mittelpunkt ständen, die für das Exil verantwortlich waren: Gabinius, Piso und selbstverständlich allen voran Clodius. Das waren jedenfalls diejenigen, gegen die sich Ciceros Zorn nach seiner Rückkehr richtete.48 Das ist aber nicht der Fall. Clodius spielt in den Exilbriefen lediglich eine untergeordnete Rolle und erscheint vor allem dort nicht, wo es um Enttäuschung im hier gebrauchten Sinne geht.49 Cicero ist enttäuscht, aber vor allem von seinen Freunden: Mein ganzes Vergehen besteht darin, dass ich mich auf Leute verlassen habe, denen ich am wenigsten die Ruchlosigkeit zugetraut hätte, mich zu hintergehen, oder die meiner Ansicht nach auch nur ein Interesse daran haben konnten. Gerade meine 45 Tatsächlich sind aus den letzten Monaten des Exils keine Briefe erhalten, vor allem da Atticus sich wieder in Epirus aufhielt. Die Entwicklung bis zur Rückberufung lässt sich daher nicht nachvollziehen. 46 Zu den Briefen aus dem Exil Hutchinson 1998, S. 25–48; zu der Phase zwischen März 58 v. Chr. und August 57 v. Chr. vgl. Gelzer 1969, S. 135–150; zur Enttäuschung Ciceros Christ 1979, S. 304. 47 Cic. Att. 3,7,1 f. (Übers. Kasten): odi enim celebritatem, fugio homines, lucem aspicere vix possum, esset mihi ista solitudo, praesertim tam familiari in loco, non amara; […] Quod me ad vitam vocas, unum efficis ut a me manus abstineam, alterum non potes ut me non nostri consili vitaeque paeniteat. […] non faciam ut enumerem miserias omnis in quas incidi per summam iniuriam et scelus non tam inimicorum meorum quam invidorum, ne et meum maerorem ex­ agitem et te in eundem luctum vocem; hoc adfirmo, neminem umquam tanta calamitate esse adfectum, nemini mortem magis optandam fuisse. 48 Lintott 2008, S. 175–183. 49 Das zeigt sich besonders deutlich in der Rückschau Ciceros auf die Gründe für sein Exil im August 58 v. Chr. Cic. ad Q. fr. 1,4,4.

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engsten, vertrautesten, liebsten Freunde fürchteten für ihre eigene Person oder waren neidisch auf mich. So hat es mir Ärmsten nur an der Treue meiner Freunde und der nötigen Vorsicht in meinen Entschlüssen gefehlt.50

Die Enttäuschung wird also auch hier nicht – jedenfalls nicht primär – durch die Höhe des Schadens begründet, sondern hängt zum einen am Anspruch, dass in moralisch aufgeladenen Beziehungen besondere Handlungsdispositionen gelten sollen. Zum anderen erscheint relevant, dass, weil in dieser Form von Beziehung Defektion nicht zu erwarten ist – bzw. faktisch nicht erwartet worden ist –, keine Vorbereitung zur Verarbeitung der Enttäuschung getroffen werden konnte. Cicero vertraute also seinen Freunden aufgrund der besonderen Form der Sozialbeziehung ganz selbstverständlich. Freundschaften vertragen keine Institutionalisierung von Misstrauen oder andere Unterbrechungen von Vertrauensroutinen. Das macht sie gleichzeitig stabil und – im Falle des Vertrauensbruches – anfällig für Enttäuschungen. Alle diese Beispiele für Anlässe von Enttäuschungen sind nachvollziehbar: Von einem Freund hintergangen zu werden, eine Wahl zu verlieren, in die Verbannung gehen zu müssen, das kann zu Enttäuschungen führen. Abschließend soll gezeigt werden, dass es in der ehrenwerten Gesellschaft der späten Republik keiner solch relevanten Anlässe bedurfte, um emotional zu reagieren. Manchmal reichten auch Kleinigkeiten, um den Abbruch kooperativen Verhaltens zu bewirken. Ein Beispiel dafür wäre das Verhältnis von Cicero und Dionysios, dem Lehrer seines Sohnes und seines Neffen, mit dem Cicero über Jahre hinweg befreundet war. Dies änderte sich nach dem Ausbruch des Bürgerkriegs. Cicero war als Pompeianer, der sich nicht getraut hatte, sich Pompeius anzuschließen, kaltgestellt, und Dionysios verhielt sich dementsprechend und stellte den Unterricht bei den beiden Cicerones ein: Mein Gott, was für einen Brief habe ich ihm geschrieben! Welche Ehrerbietung, welche Liebe sprach aus ihm! Einen Dicaearch oder Aristoxenus engagiert man so, könnte man mit Fug und Recht sagen, nicht aber solch einen Oberschwätzer, dem es an jeglichem Lehrtalent mangelt. ‚Aber er hat ein gutes Gedächtnis!‘ Meines, das wird er bald merken, ist besser!51

Dass ein Freigelassener auf eine Bitte auch mit „Nein“ antworten könnte, hatte Cicero nicht erwartet, und zu lernen war er in dieser Sache ganz bestimmt nicht bereit. 50 Cic. ad Q. fr. 1,4,1 (Übers. Kasten): nullum est meum peccatum nisi quod iis credidi a quibus nefas putarem esse me decipi aut etiam quibus ne id expedire quidem arbitrabar. intimus, proximus, familiarissimus quisque aut sibi pertimuit aut mihi invidit. ita mihi nihil misero praeter fidem amicorum, cautum meum consilium, fuit; vgl. Cic. Att. 3,8,4. 51 Cic. Att. 8,5,1 (Übers. Kasten): ad quem ego quas litteras, di immortales, miseram, quantum honoris significantis, quantum amoris! Dicaearchum mehercule aut Aristoxenum diceres arcessi, non unum hominem omnium loquacissimum et minime aptum ad docendum. sed sit memoria bona: me dicet esse meliore.

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Noch seltsamer erscheint ein Streit zwischen Atticus und Lucceius, der zum Abbruch ihrer Geschäftsbeziehungen führte.52 Bereits im ersten Brief, den wir an Atticus überliefert haben, wird von diesem Streit berichtet: Lucceius sei „furchtbar verstimmt“.53 Und so geht es in den folgenden Briefen auch weiter: Er ist „sehr schwer beleidigt“,54 „gekränkt“55 und ist „furchtbar böse“.56 Aber warum, das weiß auch Cicero nicht: Aber trotz aller Bemühungen ist es mir nicht gelungen, ihn in das frühere Verhältnis zu Dir zu bringen, ja, auch nur der wahren Ursache seiner Sinnesänderung auf den Grund zu kommen.57

Eine heftige emotionale Reaktion, der Abbruch aller Kooperation, und niemand weiß warum. Manchmal brauchte es in Rom nicht viel, um enttäuscht zu reagieren.

3. Programme der Enttäuschungsabwicklung Enttäuschung bedeutet die Zur-Disposition-Stellung von zuvor bestehender Kooperationsbereitschaft. Das ist ein gefährlicher Schwebezustand, vor allem, wenn es in der Folge wirklich zum Ende auf Kooperation beruhender Beziehungen kommt, und das in einem politischen System, das auf der persönlichen Interaktion einer kleinen Elite ruht. Wenn aber Enttäuschungen in diesem Sinne gefährlich sind, dann ist davon auszugehen, dass es Verfahren gibt, um die Enttäuschten wieder zurück in die Gemeinschaft zu holen und die Fortsetzung kooperativen Verhaltens zu bewirken.58 Am Anfang steht dabei die Möglichkeit, auf die Situationsdefinition einzuwirken: Allem Handeln geht die Bestimmung der vorliegenden Situation voraus, wobei die Frage „Welche Situation liegt vor?“ in der Regel dadurch beantwortet wird, dass Akteure unreflektiert auf vorliegende, im Prozess der Sozialisation internalisierte Modelle zurückgreifen.59 Die Reflexion der Situation ist möglich, genauso wie die Orientierung an einem definierten Nutzen, aber beides sind Ausnahme52 Zu dem Konflikt und der Identifikation der beteiligten Personen vgl. McDermott 1969, S. 235 f. 53 Cic. Att. 1,1,5: Quod scribis etiam, si cuius animus in te esset offensior, a me recolligi oportere, video, quid dicas, neque id neglexi, sed est miro quodam modo adfectus. 54 Cic. Att. 1,6,2: hoc te intellegere volo, pergraviter illum esse offensum. 55 Cic. Att. 1,7,1: tametsi iactat ille quidem illud suum arbitrium et ea, quae iam tum, cum aderas, offendere eius animum intellegebam, tamen habet quiddam profecto, quod magis in animo eius insederit, quod neque epistulae tuae neque nostra legatio tam potest facile delere, quam tu praesens non modo oratione sed tuo vultu illo familiari tolles, si modo tanti putaris, id quod, si me audies et si humanitati tuae constare voles, certe putabis. 56 Cic. Att. 1,8,3: Quod ad me saepe scripsisti de nostro amico placando, feci et expertus sum omnia, sed mirandum in modum est animo abalienato. 57 Cic. Att. 1,7,1 (Übers. Kasten): sed cum omnia fecissem, non modo eam voluntatem eius, quae fuerat erga te, recuperare non potui, verum ne causam quidem elicere immutatae voluntatis. 58 Zum Folgenden vgl. Goffman 2008. 59 Goffman 1974; Esser 2001; Kroneberg 2005; Kroneberg 2007; Schulz-Schaeffer 2008.

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erscheinungen. In der Regel wählt der Akteur präreflexiv aus den zur Verfügung stehenden Modellen, Frames genannt, dasjenige aus, das am festesten verankert ist und zur vorliegenden Situation am besten passt.60 Dabei stehen allerdings gegebenenfalls mehrere Frames für ein und dieselbe Situation zur Verfügung, unterschiedliche Deutungen, mit denen dann wiederum unterschiedliche Handlungsprogramme verbunden sind, und genau um diese Mehrdeutigkeit geht es.61 Enttäuschung ist deshalb eine emotionale Reaktion auf das Auseinandertreten von Erwartung und Erfahrung, weil ego einen erlittenen Schaden einer unerwarteten Entscheidung von alter zurechnet oder – anders formuliert – einen Frame auswählt, in dem ein Schaden auf eine Entscheidung zurückgeführt wird, wobei die Enttäuschung dann das damit verbundene Skript bzw. Teil dieses Skriptes wäre.62 Daraus folgt, dass die Enttäuschung ausbleiben oder gemindert werden könnte, wenn man die Kopplung von Entscheidung und Schaden löste, wenn also ein Frame gewählt würde, bei dem der Schaden nicht auf eine Entscheidung zurückgeführt wird. Grundsätzlich lassen sich Wahlen als Entscheidungen des Wählers verstehen. Dieser hat verschiedene Optionen und wählt eine davon aus. Das entspricht auch durchaus den Vorstellungen, die man in Rom von Wahlen hatte. In Ciceros Rede über den Oberbefehl des Cn. Pompeius etwa ist es das Volk, das Pompeius wählt bzw. die lex Manilia annehmen wird, und dies zu Recht und rational, denn Pompeius ist der beste Mann für die anstehende Aufgabe.63 Das Volk weiß sogar besser, wer den Oberbefehl führen soll, als einige Mitglieder der Nobilität. Die ratio des Volkes wird der des Catulus und des Hortensius gegenübergestellt und für höherwertig befunden.64 Und auch wenn Cicero über andere ihm genehme Wahlausgänge spricht, dann erscheint das Volk als rationaler Entscheider: Es ist frei, es ist gemeinwohlorientiert, es wägt Argumente ab, und am Ende entscheidet es. Manchmal aber wählt das Volk keinen Cicero, sondern vielleicht einen A. Gabinius oder einen L. Calpurnius Piso. Die Volksversammlung wählt. Allerdings wählt sie nicht immer den Richtigen.65 Mit dieser Einschränkung ist eine Möglichkeit eröffnet, die Enttäuschung über die Wahlniederlage zu heilen, und zwar dadurch, dass man dem Volk – so es denn falsch gewählt hat – die Vernunft und der Wahl damit den Entscheidungscharakter abspricht. Das Volk hat gewählt, aber es hat nicht mehr im eigentlichen Sinn des Wortes entschieden: 60 Esser 2001, S. 263; Kroneberg 2005, S. 346. Die Differenz der beiden Ansätze liegt in der Bedeutung, die die Passförmigkeit und Verankerung des Frames im Vergleich zum ModellNutzen besitzen. Während Esser für die Wahl des Frames das Produkt von Passförmigkeit und Modell-Nutzen verantwortlich gemacht hat, betont Kroneberg 2005, S. 350 f., in der Tradition klassischer soziologischer Handlungstheorie die zentrale Bedeutung der Passung, also des Vorhandenseins von eindeutigen Zeichen, die eine bestimmte Situation markieren, und des Maßes, in dem der Frame im Prozess der Sozialisation verankert worden ist. 61 Kroneberg 2005, S. 346. 62 Zu Emotionen als Teil von Skripten vgl. Kroneberg 2005, S. 359. 63 Cic. Manil. 44; zur Rede vgl. Lintott 2008, S. 427–430; Steel 2001, S. 140–156. 64 Cic. Manil. 53; 64; vgl. Classen 1985, S. 295–297, 300 f. 65 Cic. Planc. 8; zu Ciceros Rede Pro Plancio als Beispiel für die Erklärung einer Wahlniederlage vgl. Russell 2019, S. 132–134.

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Denn bei Wahlen gibt das Volk nicht immer ein Urteil ab; vielmehr folgt es gewöhnlich seiner Neigung, es hört auf Bitten, es wählt diejenigen, die es am meisten umworben haben, und schließlich: auch wenn es ein Urteil abgibt, dann lässt es sich dabei nicht nur von einer bewussten Wahl oder von Einsicht leiten, sondern mitunter auch von einer plötzlichen Eingebung und sogar von Willkür. Denn die Menge ist ohne Überblick, ohne Vernunft, ohne Unterscheidungsvermögen, ohne Umsicht, und die Weisen sagen, man müsse, was das Volk tut, immer hinnehmen, aber nicht immer gutheißen.66

Konzipiert man das Gesagte entlang der Unterscheidung von Risiko und Gefahr (Risiko als die Zurechnung eines erlittenen Schadens auf eine Entscheidung, Gefahr als die Zurechnung auf ein Umweltphänomen),67 dann zeigt sich hier, dass aus dem Risiko, sich der Wahl zu stellen, eine Gefahr wird, aus dem Volk eine Masse.68 Deren Kennzeichen besteht nun gerade darin, dass sie unvernünftig und damit einer rationalen Entscheidung gar nicht fähig ist.69 Nun ist es sicherlich immer noch unangenehm, wenn man eine Wahl verliert, weil der Akteur, der die Auswahl trifft, nicht über die ratio verfügt, eine sinnvolle Entscheidung zu treffen, aber damit ist kein Urteil über die eigene Person verbunden. Eigene Ansprüche werden nicht verletzt. Die Enttäuschung darf sich somit in Grenzen halten. Dieser Wechsel des Frames, also die Umwertung des Volkes und das Aberkennen der Entscheidungsqualität der Wahl, wird auch durch Metaphern zum Ausdruck gebracht, die unglücklich verlaufende Wahlen beschreiben.70 Dem Frame-Wechsel entspricht ein Sprachwechsel. Aus der Wahl wird in der Beschreibung durch die Zeitgenossen, so denn eine Wahlniederlage beschrieben werden muss, ein Naturereignis: Strömungen und Winde, Wellen und Wirbel sind es, die dazu führten, dass man nicht gewählt wurde.71 66 Cic. Planc. 9 (Übers. Fuhrmann): Non enim comitiis iudicat semper populus, sed movetur plerumque gratia, cedit precibus, facit eos a quibus est maxime ambitus, denique, etiam si iudicat, non dilectu aliquo aut sapientia ducitur ad iudicandum, sed impetu non numquam et quadam etiam temeritate. Non est enim consilium in volgo, non ratio, non discrimen, non diligentia, semperque sapientes ea quae populus fecisset ferenda, non semper laudanda dixerunt. Vgl. Russell 2019, S. 134. 67 Die Unterscheidung folgt der Differenz, die Niklas Luhmann konzipiert hat (Luhmann 2003, besonders S. 9–40), der das Entscheidungsbewusstsein für das Kennzeichen moderner Gesellschaften hält und potentiellen Schaden als Folge eigener Entscheidung (Risiko) von Schaden als Folge der Umwelt (Gefahr) trennt. 68 Der Mechanismus funktioniert ähnlich wie in der Moderne die Bewertung eines Schadens als „Unfall“, eine Semantik, die Erwartungen gegen Lernzumutungen schützt, mit dem Unterschied, dass die Bewertung des Schadens als Gefahr das Ausweichen auf eine gleichwertige Ersatzerwartung bedeutet, während „Unfall“ den Ausnahmecharakter bei fehlender Ersatzerwartung betont; vgl. Luhmann 2015, S. 454 f. 69 Zur Beschreibung des Volkes als Masse Knopf 2018, 23–53; Laser 1997, S. 17–25. 70 Zur Semantik von Wahlniederlagen Russell 2019. 71 Walter 2017, S. 374 f.; vgl. zum Einsatz von rhetorischen Elementen in Ciceros Reden Jackob 2005; Steel 2001; zur Verwendung von Naturmetaphern in der politischen Semantik Peil 1983, S. 744–759.

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Die Besonderheit in Rom bestand nun darin, dass man den Frame ex post ändern konnte, und zwar deswegen, weil die bereitstehenden Situationsdefinitionen gleichwertig waren.72 War man gewählt, dann hatte das Volk richtig, und das heißt vernünftig, entschieden, verlor man, dann handelte es sich um das Wirken der stürmischen Masse, an dem man (ohne eigenes Verschulden) gescheitert war: „Doch unsere Sache ist es, ja die unsere, die wir von diesem Sturm der Volksmeinung und ihren Fluten hin- und hergeworfen werden, die Launen des Volkes gelassen zu ertragen.“73 Gelassen im Angesicht der Wahlniederlage zu sein und eben nicht enttäuscht, das ist hier die Aufforderung Ciceros in der Rede Pro Murena: Denn wie sich Stürme oft nach einem bestimmten Himmelszeichen erheben, oft aber unversehens ohne erkennbaren Grund aus einer verborgenen Ursache aufbrausen, ebenso kann man bei diesen stürmischen Willensbekundungen des Volkes oft erkennen, welches Zeichen sie erregt hat, oft ist der Anlass so unklar, dass man glaubt, der Zufall habe sie hervorgerufen.74

Jedenfalls ist man nicht selbst schuld, und das ist doch irgendwie beruhigend. Gegen den Zufall kann man nichts ausrichten, und selbst das Volk versteht ja eigentlich gar nicht, was es gerade getan hat: Denn welche Meerenge, welcher Euripos, glaubt ihr, hat so viele Strömungen, so erhebliche, so vielfältige Schwankungen und Veränderungen der Fluten, wie sich bei Ämterwahlen Wirbel und Wallungen einstellen? Die Zwischenfrist eines Tages oder einer Nacht bringt oft alles durcheinander, und bisweilen verwandelt der leise Hauch eines Gerüchts die gesamte öffentliche Meinung. Oft geschieht auch ohne erkennbare Ursache etwas anderes, als man erwartet hat, so dass sich mitunter sogar das Volk über den Ausgang wundert, als ob es ihn nicht selbst herbeigeführt hätte.75

Dort, wo selbst der Wähler nicht mehr weiß, wie das Wahlergebnis zustande gekommen ist, da muss auch der Nicht-Gewählte über die Niederlage nicht enttäuscht sein. Er darf die Wahl für falsch halten, aber die Möglichkeit der Nicht-Erfüllung 72 Zur Möglichkeit, Erwartungen nachträglich anzupassen, vgl. Luhmann 2008, S. 45 f. 73 Cic. Planc. 11 (Übers. Fuhrmann): nostrum est autem, nostrum qui in hac tempestate populi iactemur et fluctibus ferre modice populi voluntates. 74 Cic. Mur. 36 (Übers. Fuhrmann): Nam, ut tempestates saepe certo aliquo caeli signo commoventur, saepe improviso nulla ex certa ratione obscura aliqua ex causa concitantur, sic in hac comitiorum tempestate populari saepe intellegas quo signo commota sit, saepe ita obscura causa est ut casu excitata esse videatur; zur Sprache in Pro Murena Leeman 1982, zu den zitierten Abschnitten ebd. S. 212 f. 75 Cic. Mur. 35 (Übers. Fuhrmann): Quod enim fretum, quem Euripum tot motus, tantas, tam varias habere putatis agitationes commutationesque fluctuum, quantas perturbationes et quantos aestus habet ratio comitiorum? Dies intermissus aut nox interposita saepe perturbat omnia, et totam opinionem parva non numquam commutat aura rumoris. Saepe etiam sine ulla aperta causa fit aliud atque existimaris, ut non numquam ita factum esse etiam populus admiretur, quasi vero non ipse fecerit.

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der Erwartung wird nachträglich in das Erwartungsspektrum eingeschrieben. Die Ansprüche des einzelnen Kandidaten und der Elite insgesamt bleiben gewahrt. Nun ist es nicht immer möglich, den Entscheidungscharakter bei der Auswahl aus Handlungsoptionen auf diese Weise zu verschleiern. Manchmal ist doch entschieden worden, wenn Erwartung und Erfahrung auseinandertreten, und hier setzt dann eine zweite Möglichkeit der Frameselektion an: Systemgefährdend sind, wie in der Einleitung ausgeführt, die emotionalen Reaktionen auf dieses Auseinandertreten dort, wo die Entscheidung beim anderen gesehen und die vorher bestehende Kooperation in der Folge beendet wird. Das Problem lässt sich dementsprechend verringern, wenn der durch die Nicht-Erfüllung verursachte Schaden nicht der Entscheidung des anderen, sondern einer eigenen zugerechnet wird, wenn also der Akteur von dem Auseinandertreten von Erwartung und Erfahrung nicht enttäuscht wäre, sondern dieses bedauerte. Hat er selbst falsch erwartet, dann entlastet dies sein Verhältnis zum jeweils anderen.76 Gerade die ersten Briefe Ciceros aus dem Exil bieten nun nicht nur einen reichen Fundus an Stellen, an denen er sich enttäuscht über die falschen Freunde zeigt, sondern den erlittenen Schaden eigenen Entscheidungen zuschreibt: Aus dem Durcheinander in meinen Briefen kannst Du Dir wohl ein Bild davon machen, wie mir zumute ist; aber wenn ich auch von ganz unglaublichem, nie dagewesenem Unglück verfolgt werde, so ist meine Stimmung doch nicht so sehr von meinem Elend an sich bestimmt als von dem Gedanken, dass ich es selbst verschuldet habe.77

Diese monotonen Klagen, von denen es eine ganze Reihe gibt,78 können dabei auch durchaus konkretisiert werden. Fehler werden benannt, die zur augenblicklichen Situation geführt haben. Das gilt für Ciceros Verhalten nach dem ersten Gesetz des Clodius,79 es gilt aber zum Beispiel auch für die Ablehnung der Legatenstelle, die Caesar ihm angeboten hatte.80 Dabei, aber das soll an dieser Stelle nicht weiterverfolgt werden, entsteht allerdings ein Folgeproblem: Dort, wo die Differenz zwischen der Erwartung und dem Eingetretenen bzw. der damit verbundene Schaden regelmäßig eigenem Handeln zugeschrieben wird, wird zwar die Auswirkung auf die Kooperation mit ande76 Zur Unterscheidung von regret (Bedauern) und disappointment (Enttäuschung) vgl. grundsätzlich Zeelenberg u. a. 2000; Martinez u. a. 2011; wobei Zeelenberg Enttäuschung über niedrigen outcome bei richtiger Entscheidung bestimmt, aber nicht auf die Entscheidung von alter als Ursache abzielt; Bedauern als potentiell prosoziales Verhalten Martinez u. a. 2011, S. 353. 77 Cic. Att. 3,8,4 (Übers. Kasten): Ex epistularum mearum inconstantia puto te mentis meae motum videre, qui, etsi incredibili et singulari calamitate adflictus sum, tamen non tam est ex miseria quam ex culpae nostrae recordatione commotus. 78 Cic. Att. 3,13,1; 3,15,4; vgl. mit ähnlichen Argumentationsstrukturen jenseits der Briefe aus der Verbannung auch: Cic. Att. 11,9,1; 11,10,1; 11,21,1; 10,9,5. 79 Cic. Att. 3,15,5. 80 Cic. fam. 14,4,1.

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ren Akteuren reduziert, aber es bleibt nicht ohne Rückwirkungen für den Akteur selbst. Dauernd hat man selbst etwas falsch gemacht, und es steht zumindest zu vermuten, dass dies die Selbstwahrnehmung langfristig prägt. Zu überlegen wäre daher, ob nicht einige in den Briefen Ciceros auftretende Besonderheiten, gerade die Argumentationsfigur des „Ich-habe-es-doch-schon-immer-gewusst!“, nicht letztlich die notwendige Kehrseite des Switches von Enttäuschung auf Bedauern bei der Bestimmung der Situationsdefinition darstellen. Am Anfang des Jahres 45 v. Chr. schrieb Cicero an Toranius, den Vormund des C. Octavius: Dies schreibe ich nicht, um von mir selbst zu reden, sondern damit Du, der Du in Auffassungen und Bestrebungen mir besonders eng verbunden gewesen bist, Dich mit den gleichen Gedanken vertraut machst. Es liegt doch ein starker Trost darin, wenn man sich, auch wenn’s schiefgegangen ist, trotzdem sagen kann, das rechte, wahre Gefühl gehabt zu haben.81

„Das rechte, wahre Gefühl gehabt zu haben“, hilft. Durchaus dem ersten beschriebenen Mechanismus, der nachträglichen Frameselektion eines erlittenen Schadens als Folge von Umwelteinflüssen, vergleichbar, wird auch hier ex post die Erwartung geändert. Wer eigentlich richtig erwartet hat, der wird nicht enttäuscht und hat auch nichts zu bedauern.82 Schon der Auszug aus dem Brief Ciceros an Toranius zeigt dabei, dass diese Umdeutung der vergangenen Erwartung auch von außen an den Enttäuschten herangetragen werden kann. Beratung ist für die Bewältigung von Enttäuschungen gleich in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung.83 Sie gestattet es nach D. Baecker, Enttäuschungen zu verarbeiten, die Folge des Umstandes sind, dass man „Spiele der Gesellschaft, Statusspiele, Schichtspiele, Funktionssystemspiele oder Netzwerkspiele nicht so mitspielen zu können entdeckt, wie man geglaubt hat“.84 Dabei richtet sich die Beratung auf der einen Seite darauf zu verhindern, dass aus der Enttäuschung und der folgenden Zur-­ Disposition-Stellung der Kooperationsbereitschaft Schaden für die Gesellschaft entsteht, auf der anderen Seite aber – wie auch im gerade präsentierten Beispiel – das Opfer selbst vor negativen Konsequenzen bewahrt wird. Beratung muss den Eindruck verhindern, betrogen worden zu sein, und das Gefühl insoweit umformen, dass der Geschädigte einen Eindruck von dem ihm angemessenen Platz in der Gesellschaft gewinnt.85 Dabei kann die Initiative sowohl vom Geschädigten ausgehen als auch von einem Außenstehenden, wobei in funktional unvollkommen differenzierten Gesellschaften zu vermuten steht, dass Freunden hier eine besondere Bedeutung zukommt, anders 81 Cic. fam. 6,20,2 (Übers. Kasten): Haec scripsi, non ut de me ipse dicerem, sed ut tu, qui coniunctissima fuisti mecum et sententia et voluntate, eadem cogitares. magna enim consolatio est cum recordare, etiam si secus acciderit, te tamen recte vereque sensisse; vgl. Cic. fam. 7,3,4. 82 Einen Schritt weiter geht es dann, wenn man noch nicht einmal mehr das rechte Gefühl gehabt, aber es zumindest gut gemeint hat; vgl. Cic. fam. 6,3,2. 83 Goffman 2008; Baecker 2007. 84 Baecker 2007, S. 158. 85 So bereits Goffman 2008; Baecker 2007, S. 157.

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als dies in funktional differenzierten Systemen ist, in denen eigene Institutionen mit der Aufgabe der Beratung existieren: Priester, Ärzte oder Consulting-Firmen.86 Die an Freunde gerichtete Bitte darum, beraten zu werden, spielt im ciceronischen Briefcorpus, und zwar sowohl in den Briefen Ciceros an seine Freunde als auch in den an ihn gerichteten Briefen, eine nicht unerhebliche Rolle. Dabei muss die folgende Beratung nicht originell sein – das sind Berater auch heute nicht –, häufig geht es um Dinge, die der zu Beratende selbst wissen könnte oder eigentlich wissen sollte.87 Eine Besonderheit ist jedoch, dass dort, wo der Beratene dann tut, was der Berater geraten hat – und sei es noch so naheliegend und ohnehin schon die präferierte Option gewesen –, diese Entscheidung dem Berater zugerechnet werden kann, und das verhindert zukünftige Enttäuschung. Dass man es so gemacht hat, wie der andere riet, ist in den ciceronischen Briefen ein wiederkehrendes Motiv.88 Angewiesen ist die Beziehung zwischen Berater und zu Beratendem dabei auf ein Mindestmaß an Vertrauen. Allerdings wird es im Zuge der Ausdifferenzierung der Rolle des Beraters zunehmend möglich, Sicherungen einzubauen, Vertrauensroutinen zu unterbrechen und Misstrauen zu institutionalisieren, was das Risiko emotionaler Reaktionen auf unzureichende Beratung im Vergleich zur Beratung durch Freunde reduziert. Wie kann eine solche Beratung nun aussehen? Erving Goffman hat in seinen Überlegungen On Cooling the Mark Out eine Reihe von typischen Mustern zusammengestellt: Danach kann die Beratung dazu dienen, den zu Beratenden mit neuen Entschuldigungen für sein Scheitern zu versorgen, ihm alternative Ziele – meist Kompromisse im Vergleich zum eigentlich angestrebten Ziel – oder eine zweite Chance, sein Ziel doch noch zu erreichen, in Aussicht stellen. Hilfreich kann es gegebenenfalls auch sein, dem Opfer einen emotionalen Ausbruch unter kontrollierten Umständen zu gestatten. Möglich wäre schließlich, den zu Beratenden so lange zu beraten – also de facto hinzuhalten –, bis sich dieser von selbst an seine Situation gewöhnt hat.89 Vorstellbar ist in diesem Kontext auch, dass man versucht, den anderen von der grundsätzlichen Richtigkeit seiner Entscheidung zu überzeugen.90 Was aber, wenn die Beratung zu spät kommt oder nicht fruchtet, wenn Kooperation bereits abgebrochen worden ist? Selten geschah das nicht. Die römische Aristokratie, diese Gesellschaft von Ehrenmännern, war – wie ausgeführt – leicht zu verärgern. Was es dann brauchte, war eine Möglichkeit, Kooperation nicht nur zu stabilisieren, sondern dort auch wiederherzustellen, wo sie bereits beendet war. Die beiden Interaktionspartner konnten das dann nicht mehr, und so brauchte es einen Dritten.91 Die Versöhnung über Dritte gehört – jedenfalls in ihrem Aus86 Mit der expliziten Bitte um Beratung: Cic. ad Brut. 18,2; Cic. fam. 4,2,2; 6,6,2; Beratung als Aufgabe des Freundes etwa Cic. fam. 8,17; Cic. Lael. 44; 88 f.; 91 f. 87 Vgl. etwa Cic. Att. 4,10,4; Cic. fam. 4,2,2; 6,6,2. 88 Cic. fam. 4,11,1; 11,31,1. 89 Goffman 2008, S. 11–13. 90 Goffman 2008. 91 Die Versöhnung durch Dritte hat bereits Georg Simmel 1908 in seiner Soziologie im Kapitel über „Die Quantitative Bestimmtheit der Gruppe“ als eine der grundlegenden Formen der Streitschlichtung beschrieben (Simmel 1968, S. 32–100). Der Einbezug des Dritten erweitert

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maß und dem Grad ihrer Institutionalisierung – zu den Besonderheiten der römischen Republik.92 Dort, wo zwei Akteure nicht mehr miteinander sprachen, da vermittelten „Freunde“, und sie waren häufig erfolgreich.93 Es gibt die berühmten Versöhnungen über Dritte: Caesar etwa versöhnt bei Plutarch Pompeius mit Crassus und wird so zum Wegbereiter des ersten Triumvirats,94 aber wichtig ist, dass es sich hierbei nicht um einen Sonderfall handelte, sondern der Mechanismus zur Überwindung abgebrochener Beziehungen bzw. zur Stabilisierung von Interaktionen nach Enttäuschungen in der späten Republik üblich war. Im einfachsten Fall ging es nur darum, Missverständnisse, die gleichwohl als Beleidigung aufgefasst worden waren, aus der Welt zu schaffen, dies aber nicht selbst machen zu müssen, da dies als Zeichen der Schwäche oder sozialer Inferiorität hätte aufgefasst werden können. Ehrenmänner haben es schwer, auf den anderen zuzugehen. Ein Beispiel wäre eine Spannung zwischen Vettienus und Cicero, die Atticus beseitigen sollte: Dass Vettienus nichts gegen mich hat, glaube ich Dir gern. Er hatte mir wegen des Zahlungstermins einen schroffen Brief geschrieben, worauf ich ihn dann ziemlich sarkastisch angeulkt habe. Hat er das anders aufgenommen, als es gemeint war, so begütige ihn doch bitte! ‚Münzmeister‘ habe ich hinzugesetzt, weil er mich mit ‚Prokonsul‘ tituliert hatte.95

Das war eine kleine Sache, die leicht ins Reine zu bringen war, wie in einer Nebenbemerkung kurze Zeit später berichtet wird.96 Man fragte also jemanden, der beide Seiten kannte, dieser bemühte sich dann, die Beziehung zu kitten, meist unter Hinweis darauf, der andere habe es doch gar nicht so gemeint und sei eigentlich ein feiner Kerl. Der Enttäuschte gab dann nach – die Fähigkeit nachzugeben war eine

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die Grundstruktur der Dyade, und zwar in zwei Richtungen: Zum einen wird die Frage nach der Schuld in einer dyadischen Beziehung um die Orientierung an zusätzlichen gesellschaftlichen Zusammenhängen erweitert, zum anderen erfolgt durch den Einbezug des Dritten eine Objektivierung des Konflikts; Vgl. auch Bühl 1973, S. 44–48; Aubert 1973, S. 192–202. Gotter 1996, 345; Epstein 1987, S. 5–7. Dies gilt jedenfalls für den eigentlichen Akt der Versöhnung. Zwei Aspekte sind dabei allerdings zu betonen: Einerseits bedeutet Versöhnung in diesem Kontext nur die Wiederherstellung kooperativen Verhaltens, über die Wahrnehmung des anderen sagt der Begriff nichts; zu vermeiden sind daher Assoziationen, die durch die religiöse Prägung des Begriffes hervorgerufen werden können. Andererseits war – und das ist die Folge dieser Einschränkung – die Dauerhaftigkeit der Versöhnung in Rom gegebenenfalls beschränkt; so Epstein 1987, S. 6. Plut. Pompeius 47; vgl. Cic. Att. 2,3,4. Cic. Att. 10,12,5 (Übers. Kasten): Vettienum mihi amicum, ut scribis, ita puto esse. cum eo, quod ἀποτόμως ad me scripserat de nummis curandis, θυμικώτερον eram iocatus. id tu, si ille aliter acceperit ac debuit, lenies. ‚monetali‘ autem adscripsi, quod ille ad me ‚pro cos.‘. Cic. Att. 10,15,2.

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in Rom gern gesehene Disposition –, und die auf Kooperation hin ausgerichtete Beziehung war wiederhergestellt.97 Nun gestalteten sich nicht alle Fälle so einfach wie derjenige des Vettienus: Der Einsatz war höher, die Abneigung saß tiefer. Manchmal war es aber auch dann wichtig, dass politische Gegner zusammenarbeiteten, weil – wie eingangs erwähnt – das nicht-formalisierte Verhandlungssystem der römischen Republik zu Blockaden neigte und auf Kooperation innerhalb der Senatsaristokratie angewiesen war. Eine Möglichkeit, auch unwillige Akteure miteinander zu versöhnen, bestand in Auswahl und Einsatz des Dritten: Genügte im einfachen Fall irgendjemand, der beide Seiten kannte, so konnte man den Einsatz erhöhen und ein Familienmitglied auswählen. So versöhnte P. Servilius Vatia Isauricus den Q. Metellus mit Cicero, und dies auch noch unter Einsatz all dessen, was man an ritualisierten Formen in der römischen Republik aufbieten konnte.98 Zurückgegriffen wurde auf die gemeinsamen Vorfahren, Metellus Numidicus diente als besonders herausgehobenes exemplum, so dass sich Metellus dem Ansinnen nicht verweigern konnte und so reagierte, wie man das in Rom dann machte. Er fing an zu weinen und gab nach.99 Das ging ohne Ehrverlust, weil die Fähigkeit nachzugeben in Rom angesehen war, und zwar besonders dann, wenn es gesellschaftlich akzeptierte gute Gründe gab, es zu tun, wobei gute Gründe darin liegen konnten, dass man so handelte, wie es familiärer Tradition entsprach, oder so, dass es der res publica nutzte.100 Wichtig ist bei der Wiederherstellung von Kooperationsbereitschaft, dass sich die Akteure dieser nicht verweigern konnten, sei es, weil die gebrauchten Argumente einen moralischen Folgezwang enthielten101 oder der Dritte als Garant wirken konnte, entweder weil er unabhängig oder weil er mächtig war.102 Es ist kein Zufall, dass der größte Versöhner der späten Republik Pompeius war, wohl weniger wegen seines ausgleichenden oder gewinnenden Wesens als eher, weil man sich einer Versöhnung, wenn sie von Pompeius ausging, kaum verweigern konnte. Pompeius

97 Die hohe Bedeutung der Disposition, nachgeben zu können, ist vor allem von Egon Flaig immer wieder hervorgehoben worden: Flaig 1993, S. 140 f.; Flaig 2013, S. 42 f.; vgl. auch Flower 2006; Lundgreen 2011, besonders S. 282 f. 98 Eine spezifische Form für Versöhnungen gab es nicht. Letztlich handelte es sich um ein Bittbzw. Trauerritual des Dritten, und dessen Formen fanden Verwendung; vgl. Flaig 2005; jetzt auch mit einer detaillierten Untersuchung römischer Trauerrituale und ihrer politischen Instrumentalisierung Degelmann 2018. 99 Cic. Sest. 130; Cic. p. red. in sen. 25; eine alternative Darstellung bietet Cassius Dio, der die Versöhnung auf das Eingreifen des Lentulus und des Pompeius zurückführt (Cass. Dio 39,8,2); eine Versöhnung durch Familienangehörige zeigt sich auch bei der Aussöhnung von Crassus sen. und Cicero durch Crassus iun. (Plut. Cicero 33); zur Rolle des Weinens vgl. Flaig 2003; de Libero 2009. 100 Zu familialer Tradition als Handlungsimpuls Walter 2004, S. 109–112; zur Rolle des Gemeinwohls Flaig 2005, besonders S. 215; Jehne 2013a. 101 Zum Folgezwang solcher Rituale Flaig 2005. 102 Die Vertrauenswürdigkeit des Dritten steigt dann an, wenn ihm unterstellt wird, in der fraglichen Angelegenheit keine Eigeninteressen zu verfolgen (vgl. Scharpf 2000, S. 247).

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versöhnte Cicero mit Vatinius, er versöhnte ihn mit Crassus und er versöhnte ihn mit Gabinius.103 Gerade bei Letzterem wird es einiger guter Worte bedurft haben. Damit ist aber auch klar, warum die Enttäuschungen am Ende der Republik nicht mehr dadurch zu heilen waren, dass ein Dritter die Konfliktparteien miteinander versöhnt hätte. Ein dritter Akteur, der Pompeius und Caesar hätte aussöhnen können, war nicht vorhanden. Es gab niemanden, der mächtig genug war, die beiden zur Kooperation zu zwingen, und es gab vor allem keinen unabhängigen Akteur, der plausibel mit dem Gemeinwohl hätte argumentieren können. Der Senat war in diesem Streit Partei und kam somit für diese Rolle nicht mehr in Frage, und dies galt besonders, wie Martin Jehne hervorgehoben hat, für seine Spitze.104

4. Die Folgen der Enttäuschung Es gab viele Gelegenheiten, römische Aristokraten zu enttäuschen. In einer Gesellschaft, in der Ehre einen zentralen Wert darstellte, gerannen Erwartungen leicht zu Ansprüchen. Das galt im Kleinen, es galt aber auch in politischen Fragen. Man erwartete als Mitglied der Nobilität nicht einfach, ein Amt bekleiden zu können. Man ging ganz selbstverständlich davon aus, dass man ein Amt bekleiden werde. Gefährlich war die große Bedeutung von Freundschaften für das Zusammenspiel der Aristokratie. Wie alle moralisch aufgeladenen Formen von Sozialbeziehungen tendierte nun auch die amicitia dazu, im Falle des Nicht-Eintretens des Erwarteten, Enttäuschungen zu generieren, also Emotionen hervorzubringen, die mit der ZurDisposition-Stellung bisherigen kooperativen Verhaltens einhergingen. Da diese Enttäuschungen in einem Umfeld auftraten, das auf Kooperation einzelner Aristokraten angewiesen war, in dem es ausgesprochen leicht war, den Gang der Entscheidungsfindung zu blockieren, und in dem im äußersten Fall bereits ein einzelner enttäuschter Akteur verhindern konnte, was das Kollektiv wollte, entwickelte das System Formen, Enttäuschungen zu mildern, den Enttäuschten zu versöhnen und damit Kooperation aufrechtzuerhalten: Es gelang dort, wo der Enttäuschte glaubte, das Auseinandertreten sei nicht durch eine Entscheidung verursacht worden oder wenn, dann durch eine eigene, bzw. wo man, so er dies nicht glaubte, ihn in diese Richtung beraten konnte. Es gelang, wo sich Akteure über Dritte versöhnen ließen. Aber immer gelang es nicht, und wo es nicht gelang, da zeitigte die Enttäuschung Folgen. Diese konnten zunächst einmal in der Generalisierung der Erfahrung bestehen. Handelt es sich bei Enttäuschung um ein Zur-Disposition-Stellen von Kooperation als Folge negativer Zukunftserwartungen, die wiederum auf negativer Erfahrung in der 103 Zur Aussöhnung mit Vatinius Cic. fam. 1,10,19 f.; mit Crassus Cic. fam. 1,10,20; mit Gabinius Cic. Rab. Post. 19; 32; die Aussöhnung mit Gabinius wurde bei Valerius Maximus dabei zum exemplum für das richtige Nachgeben, Val. Max. 4,2,4; vgl. Lucarelli 2007, S. 276–278. Dass diese Aussöhnung auf Druck des Pompeius zustande kam, bezeugt Cic. ad Q. fr. 3,1,15. 104 Jehne 2015.

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Vergangenheit, eben einer schadenbehafteten Differenz von Erwartung und Erfahrung, beruhen, so gleicht die Bestimmung ganz offensichtlich derjenigen für Misstrauen.105 Die Differenz besteht im Grad der Generalisierung, wobei die Übergänge fließend sind. Misstrauen ist eher auf die aus Enttäuschungen geronnene Handlungsdisposition fokussiert, Enttäuschung auf die emotionale Folge des einzelnen Ereignisses. Dabei lassen sich Faktoren identifizieren, die dazu führten, dass aus der einzelnen Enttäuschung Misstrauen wurde, und die zum Teil in der Umwelt zu suchen sind, in die einzelne Interaktionen eingebettet waren:106 Unsicherheit gehörte hierzu, Unsicherheit, die auch durch die Erfahrung beschleunigten gesellschaftlichen Wandels hervorgerufen wurde, sowie Unsicherheit, die in sozialer Hinsicht dadurch geweckt wurde, dass Inhaber bestimmter sozialer Rollen die mit diesen Rollen verbundenen Handlungsdispositionen nicht länger erfüllten.107 Auch die Erfahrung des Auseinandertretens der Beteiligung an Produktions- und Verteilungsdimension eines Verhandlungssystems führte dazu, dass sich einzelne Enttäuschungen zu generalisiertem Misstrauen verdichteten und sich dieses Misstrauen nicht nur gegen Akteure richtete, sondern auch auf die Leistungsfähigkeit des politischen Systems bezog. Auf der Ebene der Interaktionen war es vor allem der Abbruch der Beziehung, der als Folge von Enttäuschung zu beobachten ist. Ein solcher Abbruch ist selbstverständlich in unterschiedlicher Form möglich: Eine Option ist, dass sich ein Akteur selbst exkludiert, zurückzieht, aussteigt. Das spielt durchaus auch in der späten Republik eine Rolle, wenn man etwa an Rutilius Rufus denkt.108 Rückzug als Folge der Enttäuschung über Dysfunktionalität innerhalb des politischen Systems thematisiert Cicero in seiner Rede für Flaccus explizit.109 Wichtiger aber erscheint mir der Verzicht auf Kommunikation unter denen zu sein, die in den letzten Jahren der Republik Politik machten, also sich gerade nicht selbst exkludierten. Zu besprechen gab es eigentlich vieles. Gerade für das Jahr 50 v. Chr. stellt Cicero fest, dass die Zahl der im Senat vertretenen Meinungen stark zugenommen habe.110 Die Bereitschaft zu Verhandlungen korrespondierte damit aber nicht.111 Das konnte sich vergleichsweise harmlos ausnehmen, wie dies im Oktober 50 v. Chr. zu beobachten ist, als Cicero noch vor seiner Rückkehr aus der Provinz Gründe suchte – und in dem noch nicht bewilligten Triumph auch fand –, um auf keinen Fall im Senat zum Konflikt zwischen Caesar und Pompeius Stellung nehmen zu müssen.112 Es konnte aber auch schwerwiegendere Folgen besitzen. Das 105 Vgl. Endreß 2010; Endreß 2012; Hardin 2004a; Hardin 2004b; Luhmann 2000, S. 82–89; Sztompka 1995. 106 Timmer 2017, S. 260–266. 107 Zu Unsicherheit als Grundlage von Misstrauen vgl. vor allem Sztompka 1995. 108 Zum Rückzug aus der Politik als Folge von Enttäuschungen und Rutilius Rufus als prominentem Beispiel vgl. Flaig 2019. 109 Cic. Flacc. 105. 110 Cic. Att. 7,16,3. 111 Cic. Att. 7,7,5. 112 Cic. Att. 7,1,5; vgl. Gelzer 1969, S. 238 f.

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erste Mal, dass wir von Cicero hören, dass am Beginn des Bürgerkrieges nun wirklich nicht mehr zu zweifeln sei – überraschend kam das zu diesem Zeitpunkt aber nicht mehr –, ist Anfang Dezember 50 v. Chr. Quelle war Pompeius, den Cicero in Capua getroffen hatte, und der begründete dies damit, dass Hirtius in Rom gewesen sei, ihn aber nicht besucht habe.113 Das klingt zunächst einmal kindisch und eingeschnappt, aber in einer Gesellschaft, in der Politik unter Anwesenden gemacht wurde, war Hirtius’ Fernbleiben, sein Verzicht auf Kommunikation, tatsächlich ein Zeichen.114 Das Nicht-mehr-miteinander-Sprechen ist wohl ein Kennzeichen der letzten Phase der Republik. Das lag sicherlich nicht nur an dem Grassieren von Enttäuschungen innerhalb der Senatsaristokratie: In Rom war es gefährlich, und so hielten sich viele Senatoren auf ihren Gütern auf, was sicherer war, aber der Kommunikation abträglich. Viele waren auch zur Kooperation nicht mehr bereit. Vielleicht gab es auch einfach nicht mehr viel zu beraten: Von Brutus ist der Kurier zurückgekommen und hat mir einen Brief von ihm und von Cassius gebracht. Sie bitten mich inständig um meinen Rat, Brutus zumal, welche der beiden Möglichkeiten ich ihnen empfehle. Eine dumme Geschichte! Ich weiß wirklich nicht, was ich antworten soll. So werde ich mich wohl in Schweigen hüllen.115

Auf das Schweigen folgte der Konflikt. Die Vertrauenskultur der römischen Republik war an ihr Ende gekommen. Die Erwartungen, die die Akteure nun an ihre Gegner richteten, waren enttäuschungsresistent, und vor allem neigten sie dazu, sich selbst zu bestätigen. Eine Grundlage für kooperatives Verhalten bildeten sie nicht mehr.

Literaturverzeichnis Astin 1967: Astin, A. E.: Scipio Aemilianus, Oxford 1967. Aubert 1973: Aubert, V.: Interessenkonflikt und Wertkonflikt: Zwei Typen des Konflikts und der Konfliktlösung, in: W. L. Bühl (Hg.): Konflikt und Konfliktstrategie. Ansätze zu einer soziologischen Konflikttheorie, 2. Aufl. München 1973 (Nymphenburger Texte zur Wissenschaft. Modelluniversität 1), S. 178–205. Baecker 2007: Baecker, D.: Wozu Gesellschaft?, Berlin 2007. Baecker 2004: Baecker, D.: Wozu Gefühle?, in: Soziale Systeme 10 (2004), S. 5–20. Beck 2019: Beck, H.: Pecuniam inlargibo tibi. Wahlbestechung und Wahlniederlage in der mittleren römischen Republik, in: K.-J. Hölkeskamp/H. Beck (Hgg.): Verlierer und Aussteiger in der ‚Konkurrenz unter Anwesenden‘. Agonalität in der politischen Kultur des antiken Rom, Stuttgart 2019, S. 31–53.

113 Cic. Att. 7,4,2. 114 Zur Politik unter Anwesenden als Kennzeichen der politischen Kultur Roms vgl. zuletzt Hölkeskamp 2019a; zum Konzept Luhmann 1975. 115 Cic. Att. 15,9,1 (Übers. Kasten): A Bruto tabellarius rediit; attulit et ab eo et Cassio. consilium meum magno opere exquirunt, Brutus quidem utrum de duobus. o rem miseram! plane non habeo quid scribam. itaque silentio puto me usurum.

Erwartung und Enttäuschung in der späten römischen Republik

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Der Marsch auf Rom und die politischen Vertrauensverlagerungen in der späten Republik Katarina Nebelin Als im 1. Jahrhundert v. Chr. mehrfach römische Befehlshaber römische Soldaten gegen Rom führten, begingen sie damit einen bisher für undenkbar gehaltenen Tabubruch. „Die Wendung einer Armee gegen das eigene Regierungszentrum ist etwas Ungeheuerliches“, stellte Jürgen von Ungern-Sternberg in seinem Aufsatz zur Legitimitätskrise der römischen Republik fest.1 Diese Formulierung mag irritieren, weil sie auf den ersten Blick anachronistisch anmutet. Sie scheint eher auf moderne Staaten bezogen, in denen das Politische und das Militärische als funktional ausdifferenzierte, relativ autonome soziale Subsysteme verstanden werden können, deren Zuständigkeiten und Kompetenzen weitgehend verrechtlicht sind und die in einer klar definierten Hierarchie zueinander stehen: Oberste Befehlshaberin der Armee ist die Regierungschefin. Auf das republikanische Rom trafen diese Gegebenheiten nur bedingt zu. Zwar wurden die Sphären domi (‚daheim‘) und militiae (‚kriegerisches Draußen‘) als räumlich und symbolisch klar voneinander abgegrenzt verstanden,2 aber dennoch handelte es sich bei ihnen gewissermaßen um zwei unterschiedliche Aggregatzustände derselben hierarchisch strukturierten politischen Gemeinschaft: Als Milizsoldaten fungierten römische Bürger, befehligt von jenen Angehörigen der vermögenden Oberschicht, die auch innerhalb der entmilitarisierten Stadt als Senatoren die Leitung des Gemeinwesens innehatten. Das ‚Regierungszentrum‘ anzugreifen bedeutete in diesem Kontext, Soldaten gegen die Stadt Rom zu führen und dadurch das politische Gefüge – den politischen Leitungsanspruch des Senats unter Akzeptanz der Plebs – offensiv zu attackieren. Da römische Heere von Angehörigen der politischen Elite kommandiert wurden,3 konnte ein solcher Angriff nicht von außen erfolgen, sondern wurde stets von einem Mitglied der senatorischen Führungsschicht angeführt – was den damit verbundenen Normenbruch aber letztlich nur noch ‚ungeheuerlicher‘ machte. Obgleich die römische Republik also weder über eine ‚Regierung‘ im modernen Sinn noch über eine funktional ausdifferenzierte Trennung zwischen politischem und militärischem Bereich verfügte, stellten die Angriffe Roms durch Angehörige 1 Ungern-Sternberg 2006, S. 395. 2 Dies betont vor allem Rüpke 1990, besonders S. 29, 36, 91–93; im Anschluss daran UngernSternberg 2006, S. 395. 3 Der Begriff ‚politische Elite‘ wird hier in einem erweiterten Sinn verwendet; er umfasst auch Senatorensöhne wie Pompeius und Oktavian, die aufgrund ihrer Jugend selbst noch kein politisches Amt innehatten, aber außerordentliche militärische Kommanden erhielten, was geradezu zwangsläufig die – erfolgreiche – Forderung nach politischen Führungsämtern an der Spitze des cursus honorum nach sich zog.

258

Katarina Nebelin

der politischen Oberschicht an der Spitze römischer Truppen einen eklatanten Verstoß gegen die bisher geltenden politischen ‚Spielregeln‘ dar. Die Entscheidung, eine Armee in den entmilitarisierten Raum der Hauptstadt zu führen, um die eigenen politischen Ziele gewaltsam durchzusetzen und dabei bewusst den Ausbruch eines Bürgerkrieges zu riskieren, verstieß offenkundig gegen die etablierten und lang eingeübten Normen und Regeln des Konfliktaustrags und der Konsensfindung innerhalb der senatorischen Oberschicht.4 Wenn zuvor für ‚unmöglich‘ und ‚ungeheuerlich‘ Gehaltenes plötzlich zu einer realen Handlungsalternative wird, beeinflusst dies sowohl das Verhalten der Einzelnen als auch ihre Erwartungen an Mitmenschen und Institutionen. Dies gilt selbst dann, wenn der Normbruch als Ausnahmefall deklariert wird und faktisch nur selten auftritt, denn auch in diesem Fall bleibt er den Akteuren als Option präsent.5 Die Märsche auf Rom können daher als Anzeichen dafür betrachtet werden, dass die Angehörigen der senatorischen Oberschicht zunehmend das Vertrauen sowohl in die Bereitschaft ihrer politischen peers verloren, Auseinandersetzungen gewaltfrei auszutragen und möglichst einvernehmlich beizulegen, wie auch in die Verfahren, die genau dies gewährleisten sollten. Die Soldaten wiederum fühlten sich offenbar der Ordnung der res publica weder verpflichtet noch verbunden; nachdem sie „das hergebrachte, selbstverständliche Vertrauen in die politischen Vorgänge in Rom, oder anders: in die zivile Regierungsgewalt vollständig verloren hatten“,6 vertrauten sie vor allem ihrem Feldherrn, selbst wenn er von ihnen verlangte, Hochverrat zu begehen und gegen die eigenen Mitbürger zu kämpfen. Hinzu kam, dass wiederholte Versuche, gegen Rom zu marschieren, das Vertrauen in die politische Ordnung weiter untergraben mussten – schließlich demonstrierten diese Vorgänge in aller Deutlichkeit die Unzuverlässigkeit der Feldherren und Soldaten sowie die Unfähigkeit der überkommenen politischen Verfahren, den Ausbruch von Bürgerkriegen zu verhindern. Deshalb erscheinen die Märsche auf Rom in der geschichtlichen longue durée zugleich als Symptom wie als besonders drastische Folge einer weitreichenden politischen Destabilisierung, die letztlich zum Untergang der Republik und zur Etablierung der kaiserlichen Alleinherrschaft führte. Doch wie schwer-

4

Nebelin 2014a entwickelt das Konzept eines ‚Möglichkeitsraumes der Konkurrenz‘ als „Bereich aller legitimen Konkurrenzpraktiken“ in der römischen Republik (Zitat S. 149). Auf die zentrale Bedeutung der Gewaltfreiheit von Konkurrenz und generell Konfliktaustrag für die Legitimität der republikanischen Ordnung hat Flower 2010, S. 75, hingewiesen. 5 So marschierte Pompeius zwar niemals auf Rom, setzte seine Mitbürger aber mehrmals mit der mehr oder weniger expliziten Drohung unter Druck, einen solchen Marsch zu unternehmen, zuerst 80/79 v. Chr., als er sich die Proteste seiner Truppen in Africa zunutze machte, um die Fortsetzung seines Kommandos zu erreichen (Plut. Pompeius 13 f.), dann bei der Erzwingung seines Einsatzes gegen Sertorius 77 v. Chr. (Plut. Pompeius 17,3), bei der Forderung weiterer Gelder für den Krieg in Spanien (Sall. hist. frg. 2,98 [epist. Pomp.] 10 M; Plut. Pompeius 20) und beim Antritt seines ersten Konsulats 70 v. Chr. (Plut. Pompeius 21; App. civ. 1,121). Auch bei Pompeius’ Rückkehr aus dem Osten 62 v. Chr. wurde befürchtet, er werde mit seinem Heer auf Rom marschieren (Vell. 2,40,2 f.; Plut. Pompeius 43; App. Mithr. 116; Cass. Dio 37,20,4–6; 37,44,3). 6 Ungern-Sternberg 2006, S. 395.

259

Der Marsch auf Rom und die politischen Vertrauensverlagerungen

wiegend war diese Krise, und inwiefern handelte es sich dabei um eine Vertrauenskrise? Genauer: Wessen Vertrauen in wen oder was wurde konkret erschüttert?

1. Der Marsch auf Rom als wiederholter Ausnahmefall Der Überblick über sämtliche bekannten Märsche auf Rom in republikanischer Zeit (vgl. Tabelle unten) zeigt zunächst, dass sie – bezogen auf die jahrhundertelange relative Stabilität der römischen Republik – sehr selten stattfanden. Zudem konzentrierten sich alle Fälle innerhalb eines Zeitraumes von nicht einmal fünfzig Jahren und dort wiederum auf zwei klar voneinander abgegrenzte Phasen: zum einen die Bürgerkriegsphase unmittelbar im Anschluss an den Bundesgenossenkrieg und Sullas ersten Marsch auf Rom, in der Angehörige beider Bürgerkriegsparteien den militärischen Angriff auf die Hauptstadt als Kampfmittel nutzten, und zum anderen die zweite Bürgerkriegsphase im Anschluss an Caesars Marsch auf Rom, in der zunächst dieser selbst und danach sein politischer ‚Erbe‘ Oktavian dieses Mittel einsetzten.7 Tabelle: Märsche auf Rom unter römischer Führung Jahr (v. Chr.)

Feldherr

politische Stellung des Feldherrn

hostisErklärung

SCU

Marsch erfolgreich?

Erste Bürgerkriegsphase: 88

Sulla (1)

amtierender Konsul + (abgesetzter?) Mitkonsul Pompeius Rufus

nein

nein

ja

87

Cinna

abgesetzter Konsul + abgesetzter, zum hostis erklärter Prokonsul Marius

(Marius)8

nein

ja

83/82

Sulla (2)

abgesetzter, zum hostis erklärter Prokonsul + diverse Unterstützer

ja

ja

ja

78/77

Lepidus

Konsul/Prokonsul

(ja)9

ja

nein

7 Weitere Märsche auf Rom gab es in republikanischer Zeit nicht: Der aus Rom verbannte Coriolan hatte der legendenhaft überzeichneten Überlieferung zufolge in der republikanischen Frühzeit Raub- und Plünderungszüge gegen Rom durchgeführt, dabei allerdings keine Römer, sondern Volsker befehligt (Liv. 2,34,7–40,12; Plut. Coriolan 26–39; App. civ. 1,1 f.). Catilina wiederum wandte sich im Jahr 63 v. Chr. mit seiner Armee nicht gegen Rom, sondern versuchte, die Alpen zu überqueren (Sall. Catil. 57,1–5; App. civ. 2,7; Cass. Dio 37,33,3). 8 Marius’ Deklarierung zum hostis war keine Reaktion auf seinen Marsch auf Rom mit Cinna, sondern erfolgte vorher auf Betreiben der Konsuln Sulla und Pompeius Rufus im Anschluss an deren Marsch auf Rom: Cic. Brut. 168; Liv. per. 77; Val. Max. 3,8,5; Vell. 2,19,1; Plut. Sulla 10,1; App. civ. 1,60. 9 Erst nachdem er besiegt worden war: Flor. epit. 2,11,7.

260 Jahr (v. Chr.)

Katarina Nebelin Feldherr

politische Stellung des Feldherrn

hostisErklärung

SCU

Marsch erfolgreich?

Zweite Bürgerkriegsphase: 49

Caesar

Prokonsul (Kommando abgelaufen)

nein

ja

ja

44

Oktavian (1)

privatus

nein

nein

nein

43

Oktavian (2)

Proprätor

nein

ja

ja

Schon aufgrund dieser relativen Seltenheit vermögen die gerade in der älteren Forschungsliteratur verbreiteten Generaldeutungen nicht zu überzeugen: Wenn tatsächlich ein grassierender moralischer Niedergang, die angebliche ‚Proletarisierung‘ der Armee seit Marius’ Heeresreformen, die alleinige Ausrichtung der Soldaten auf materielle Gewinne oder ihre ausschließliche Bindung an ihren Feldherrn die Hauptursachen für die Märsche auf Rom gewesen wären, hätten diese sehr viel häufiger auftreten müssen. Auffällig sind zudem die relativ hohen Erfolgsquoten – fünf von sieben Märschen verliefen erfolgreich, führten also zur Einnahme Roms – und vor allem die hohe Unterstützungsbereitschaft der Soldaten. Gescheitert sind nur Lepidus sowie Oktavian bei seinem ersten Versuch; letzterer war zudem der einzige Marsch auf Rom, bei dem die Soldaten ihrem Befehlshaber die Gefolgschaft verweigerten, allerdings erst nachdem sie sich bereits innerhalb von Roms Stadtmauern befanden. Diese Bilanz lässt vermuten, dass Märsche auf Rom weder leichtfertig unternommen noch als alltägliches politisches Kampfmittel angesehen, sondern stets sorgfältig vorbereitet wurden. Zum einen musste sich der Befehlshaber bewusst dafür entscheiden, auf Rom zu marschieren.10 Aber auch die Soldaten stellten keineswegs ein passives Element dar: Überall dort, wo es die Quellenlage erlaubt, ist eine Reihe von komplexen Kommunikationsprozessen und -praktiken erkennbar, die dem Marsch auf Rom vorausgingen (2. Das Vertrauensverhältnis zwischen Feldherren und Soldaten beim Beschluss zum Marsch auf Rom: Die militärische contio). Offenbar erforderte er bei den maßgeblichen Beteiligten – dem Feldherrn, seinem Stab und vor allem seinen Soldaten – ein spezifisches Set von Dispositionen, die sich nicht auf eine allgemeine Erosion des Vertrauens in die politische Ordnung und deren Institutionen reduzieren lassen. Für den Feldherrn kam es letztlich darauf an, ein besonderes Vertrauensverhältnis zu seinen Soldaten aufzubauen, unter anderem indem er ihnen plausibel machte, 10 Neben Pompeius, der seinen Mitbürgern mehrmals Anlass zu der Befürchtung gab, er werde auf Rom marschieren, es jedoch nie tat (vgl. Anm. 5), ist hier vor allem Oktavian zu nennen, der unmittelbar nach Caesars Ermordung die Option, mit den in Makedonien stationierten Soldaten nach Rom zu marschieren, ablehnte, obwohl sie ihm von seinen Freunden (App. civ. 3,10) bzw. den Soldaten (Nik. Dam. vit. Caes. 17,46) oder deren Zenturionen (Vell. 2,59,5) nahelegt worden sein soll.

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dass ihre Anliegen mit dem Wohl der gesamten res publica identisch seien, dass er und die Soldaten also eine Gemeinschaft bildeten, die in der Verfolgung ihrer wohlverstandenen Eigeninteressen zugleich auch für das Allgemeinwohl kämpfte. Eine grundlegende Rolle spielte dabei die Überzeugung, dass die eigene Ehre ungerechterweise und gegen die herrschenden Normen verletzt worden sei (3. Ehre und enttäuschtes Systemvertrauen: Die Motive der Soldaten). Aus diesem Befund lassen sich schließlich auch Rückschlüsse auf die spezifische Vertrauenskrise der späten Republik ziehen (4. Der Marsch auf Rom und die Legitimationskrise der res publica).

2. Das Vertrauensverhältnis zwischen Feldherren und Soldaten beim Beschluss zum Marsch auf Rom: Die militärische contio Sämtliche Märsche auf Rom unter römischer Führung wurden von Befehlshabern angeführt, deren imperium mindestens umstritten war.11 Politisches Amt und militärisches Kommando waren den meisten von ihnen schon im Vorfeld aberkannt worden, häufig verbunden mit einer formalen Deklarierung als Staatsfeind (hostis) oder der Notstandserklärung des Senats (senatus consultum ultimum = SCU). In dieser prekären Situation konnte sich der einzelne Feldherr nicht darauf verlassen, dass die Soldaten ihm schon aufgrund seiner institutionellen Stellung folgen würden. Er musste daher erreichen, dass sie sich so stark mit ihm solidarisierten und seine Anliegen und Ziele in einem solchen Ausmaß als die ihren betrachteten, dass sie dazu bereit waren, zu deren Durchsetzung den Ausbruch eines Bürgerkriegs zu riskieren. Das war nur möglich, wenn die Soldaten ihm rückhaltlos vertrauten, also sowohl sein Vorgehen als gerechtfertigt bewerteten als auch davon überzeugt waren, dass seine militärischen Fähigkeiten das Unternehmen nicht zu einem Fiasko machen würden. Umgekehrt musste sich der Feldherr darauf verlassen können, dass seine Truppen hinter ihm standen, wenn er sie gegen die eigene Hauptstadt, die politischen Institutionen und deren Vertreter, also letztlich gegen die herrschende Ordnung und damit direkt in einen potentiellen Loyalitätskonflikt hineinführte. Es war daher für ihn unerlässlich, vorab zu eruieren, wie weit die Unterstützung der Soldaten tatsächlich ging, ob sie also für ihn zum Äußersten bereit waren – und dies in einer Art und Weise, dass die soldatische Willensäußerung im Idealfall so verbindlich wie möglich erfolgte, also ein Moment der Selbstverpflichtung enthielt, den Feldherrn bei seinen unerhörten Taten nicht im Stich zu lassen. All dies erforderte im Vorfeld eine intensive Kommunikation, und der geeignete Ort dafür war die Heeresversammlung (contio).12 Die erhaltenen Quellenberichte über die militärischen contiones vor Sullas erstem Marsch, vor Cinnas, Caesars und Oktavians beiden Märschen erwecken denn auch den Eindruck einer sehr spezifischen Kommunikationssituation, die auf eine bewusste Entscheidung der Soldaten für ihren Feldherrn – und dessen 11 Vgl. dazu erneut die Tabelle oben. 12 Allgemein zu Ablauf und Funktion militärischer contiones vgl. Pina Polo 1995, S. 213–216.

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Agenda – zulief. Dabei ist selbstverständlich zu berücksichtigen, dass Reden in antiken Geschichtswerken immer „ein Produkt literarischer Stilisierung sind“.13 Als wichtiger Bestandteil des historiographischen ‚Marsch-auf-Rom-Narrativs‘ boten die Reden des Feldherrn im Angesicht seines versammelten Heeres den antiken Autoren die Gelegenheit, eine dramatisch zugespitzte, nicht völlig kontrollierbare und damit relativ offene, also spannende Entscheidungssituation plastisch darzustellen, dabei die Kernziele und -argumente des jeweiligen Feldherrn für seinen Marsch auf Rom prägnant auszuformulieren und die Haltung der Soldaten zu ihm und seiner Agenda sinnfällig zu machen. Die dramaturgische Bedeutung der ‚entscheidenden‘ Heeresversammlung für die antiken Historiographen ist jedoch kein hinreichender Grund dafür, ihre Schilderungen als rein fiktiv abzutun. Schließlich befanden sich die Feldherren vor dem Marsch auf Rom in der Tat in einer Lage, in der die Einberufung einer Heeresversammlung und das Bemühen um das Vertrauen und die aktive Zustimmung der Soldaten nicht nur naheliegend, sondern letzten Endes lebensnotwendig erscheinen mussten. Dies galt vor allem dann, wenn sich der Feldherr an ein Heer wandte, zu dem sich noch kein auf gemeinsamen Erfahrungen basierendes Vertrauensverhältnis hatte entwickeln können. Einfacher war es für ihn, wenn er sich auf Soldaten stützen konnte, die schon längere Zeit erfolgreich unter ihm gedient hatten und daher mit ihm ein ‚eingeschweißtes Team‘ bildeten, wie dies bei Sullas beiden Märschen auf Rom oder bei Caesars Einfall in Italien der Fall war.14 Das entgegengesetzte Extrem stellte Cinna dar, der sich nach seiner Absetzung als Konsul (87 v. Chr.) direkt an die Überreste jenes Heeres wandte, das im Jahr zuvor mit Sulla gegen Rom marschiert war, also an Soldaten, die ihn bisher noch nicht als ihren Befehlshaber erlebt und daher keine persönliche Beziehung zu ihm aufgebaut hatten. Um das Fehlen einer bestehenden Nahbeziehung zu den Soldaten zu kompensieren, stützte sich Cinna laut Appians Bericht bei seinem Auftritt vor der Heeresversammlung auf das reiche Repertoire Nähe und Zugehörigkeit stiftender symbolischer Kommunikationsmittel, welches römischen Magistraten zur Verfügung stand: Niederlegen der fasces, squalor, Tränen und Sich-auf-den-Boden-Werfen.15 Auf diese Weise inszenierte er sich als Bittsteller, dessen weiteres Schicksal völlig von der Bereitschaft der Soldaten abhing, ihn zu unterstützen – was sie dann auch taten. Cinnas massiver Einsatz von „Selbstminderungsriten“16 führt plastisch vor Augen, welch symbolischer, performativer und sicher auch rhetorischer Aufwand als 13 Zitat nach Jehne 2006, S. 265 Anm. 98. 14 Zu Sullas Verhältnis zu seinen Soldaten vgl. Sall. Catil. 11,5–8; Iug. 96; zu Caesar Suet. Iul. 67–70. Dass sowohl Sullas (Plut. Sulla 27,3) als auch Caesars (Suet. Iul. 68,1) Soldaten ihrem Befehlshaber angeboten haben sollen, seinen Feldzug finanziell mitzutragen und zunächst unentgeltlich zu kämpfen, kann als ultimatives Zeichen ihrer bedingungslosen Loyalität und Überzeugtheit von der Richtigkeit des Krieges angesehen werden. 15 App. civ. 1,65 f. 16 Degelmann 2018, S. 142–151, ordnet Cinnas Zerreißen seiner Kleider in eine Reihe ähnlicher Fälle ein, in denen römische Politiker solche „Selbstminderungsriten“ (ebd., S. 149) anwandten, um ihren Bittgesten gegenüber dem Volk beziehungsweise den Soldaten Nachdruck zu verleihen.

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notwendig angesehen wurde, um römische Soldaten dazu zu bringen, gegen Rom zu marschieren. Bezeichnenderweise kommt Appians dichte Beschreibung von Cinnas contio gänzlich ohne Hinweise auf Bestechungen aus;17 sie erscheinen unnötig, da auch ohne sie hinreichend deutlich wird, warum die Soldaten bereit waren, sich Cinna anzuschließen.18 Andere Feldherren stützten sich den antiken Berichten zufolge nicht im selben Ausmaß wie Cinna auf symbolische Kommunikationsmittel, doch auch sie wandten komplexe Überzeugungsstrategien an, wie Appians Bericht über Sullas ersten Marsch auf Rom (88 v. Chr.) exemplarisch zeigt. Sullas Ausgangslage war deutlich günstiger als die Cinnas im Jahr darauf. Immerhin war Sulla lediglich der Oberbefehl im anstehenden Krieg gegen Mithridates, nicht aber sein Konsulat entzogen worden, als er vor seine bei Nola stationierten Truppen trat – und damit vor Soldaten, die zuvor bereits erfolgreich unter ihm gekämpft und ihn als fähigen und selbst gegenüber schwerwiegenden Disziplinverstößen großzügigen Befehlshaber erlebt hatten.19 Dennoch erweckt Appians kurzer Bericht den Eindruck, dass Sulla in der ‚entscheidenden‘ Heeresversammlung ausgesprochen vorsichtig vorging: Obwohl er sich Appian zufolge bereits im Vorfeld dazu entschieden hatte, gegen den Entzug seines Kommandos im Krieg gegen Mithridates mit Waffengewalt vorzugehen und ‚auf kriegerischem Wege eine Entscheidung herbeizuführen‘, sprach Sulla weder offen von seinen Plänen, noch erteilte er den Soldaten direkte Befehle, sondern hielt eine doppelbödige Rede, die sie ihrerseits dazu brachte, als erste explizit zu werden und offen auszusprechen, was er nur verhüllt anzudeuten gewagt hatte: Als Sulla von den Vorgängen hörte, entschloß er sich, auf kriegerischem Wege eine Entscheidung herbeizuführen. Er berief deshalb sein Heer, das, seinerseits auf den Feldzug gegen Mithridates als ein gewinnbringendes Unternehmen begierig, die Befürchtung hegte, Marius könnte an ihrer Stelle andere Soldaten dafür auswählen, zu einer Versammlung zusammen und sprach von der ihm durch Sulpicius und Marius widerfahrenen Hybris. Im übrigen gab er sonst keinen deutlichen Hinweis – wagte er doch noch nicht über einen derartigen Krieg zu sprechen –, sondern forderte seine Leute nur auf, sich für seine Anordnungen bereit zu halten. Diese aber verstanden den Sinn seiner Worte, und aus Sorge für sich, sie möchten des Feldzugs verlustig gehen, enthüllten sie selbst Sullas Absicht und forderten ihn auf, nur guten Muts zu sein und sie nach Rom zu führen.20 17 Anders Liv. per. 79, wonach Cinna die Soldaten bestochen haben soll; bei Vell. 2,20,2 ist allgemein die Rede davon, dass er sie ‚korrumpiert‘ habe. Bei Appian wird hingegen nur Cinna selbst bestochen, und zwar bereits bei seinem Amtsantritt als Konsul durch die von Sulla als hostes Verbannten, um ihn auf ihre Seite zu ziehen: App. civ. 1,64. 18 Lovano 2002, S. 37; Keaveney 2007, S. 39. 19 Plut. Sulla 6,9; Oros. 5,18,23. Zeichen soldatischer Wertschätzung ist auch die Verleihung der corona obsidionalis oder graminea an Sulla; dazu Plin. nat. 22,12. 20 App. civ. 1,57 (Übers. Veh): πυθόμενος δ᾽ ὁ Σύλλας καὶ πολέμῳ κρίνας διακριθῆναι συνήγαγε τὸν στρατὸν εἰς ἐκκλησίαν, καὶ τόνδε τῆς ἐπὶ τὸν Μιθριδάτην στρατείας ὀρεγόμενόν τε ὡς ἐπικερδοῦς καὶ νομίζοντα Μάριον ἐς αὐτὴν ἑτέρους καταλέξειν ἀνθ᾽ ἑαυτῶν. τὴν δ᾽ ὕβριν ὁ

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Indem die Soldaten Sulla freiwillig und lautstark ihr Vertrauen aussprachen, ihn also als ihren Anführer regelrecht akklamierten, legitimierten sie das gemeinsame Vorgehen zwar nicht in rechtlicher Hinsicht – das war unmöglich –, aber sie machten deutlich, dass sie die Entscheidung, gegen Rom zu marschieren, nicht nur passiv hinnahmen, sondern befürworteten und aktiv mittrugen. Ihre Aufforderung an Sulla, ‚nur guten Muts zu sein und sie nach Rom zu führen‘, entspricht der ganz ähnlich gehaltenen Aufforderung, die Appian den Soldaten nach Cinnas Auftritt in der Heeresversammlung im Jahr darauf in den Mund legt; er lässt sie sagen, Cinna solle „guten Mutes“ sein und sie „führen, wohin auch immer er wolle“.21 Diese Aufforderung ist durchaus ambivalent zu beurteilen. Vordergründig sprachen die Soldaten ihrem Feldherrn damit ihren totalen Rückhalt aus, zugleich aber machten sie dadurch auch etwas explizit, was eigentlich selbstverständlich sein sollte, nämlich ihre professionelle, institutionell verankerte Bereitschaft, ihrem Befehlshaber zu gehorchen. Diese schien nun plötzlich zur Disposition gestellt und offen hinterfragbar – allen Beteiligten war bewusst, dass ihr Unternehmen den Rahmen des Überkommenen und Erlaubten sprengte, dass sie sich also in einem Bereich bewegten, in dem weder auf etablierte Normen und Verfahren noch auf die eigene Redlichkeit Verlass war. Die Soldaten unterstellten sich aus freien Stücken einem Befehlshaber, der formal abgesetzt und damit gar nicht mehr berechtigt war, sie anzuführen. Damit setzten sie sich bewusst über die in Rom getroffenen politischen Entscheidungen hinweg und beanspruchten, letztinstanzlich darüber entscheiden zu können, wer ihr Kommandant und was ihr Ziel sein sollte. Dabei sprachen sie ihrem Befehlshaber offen die Gefolgschaft bei dem von ihm geplanten Hochverrat aus. Angesichts der Ungeheuerlichkeit dieses Vorhabens hätte es offensichtlich nicht genügt, den Gehorsam der Soldaten einfach vorauszusetzen; vielmehr führten sowohl Sulla als auch Cinna eine Situation herbei, in der die versammelten Truppen akklamationsartig die Einmütigkeit und Unerschütterlichkeit demonstΣύλλας τὴν ἐς αὑτὸν εἰπὼν Σουλπικίου τε καὶ Μαρίου καὶ σαφὲς οὐδὲν ἄλλο ἐπενεγκών (οὐ γὰρ ἐτόλμα πω λέγειν περὶ τοιοῦδε πολέμου), παρῄνεσεν ἑτοίμοις ἐς τὸ παραγγελλόμενον εἶναι. οἱ δὲ συνιέντες τε ὧν ἐπενόει καὶ περὶ σφῶν δεδιότες, μὴ τῆς στρατείας ἀποτύχοιεν, ἀπεγύμνουν αὐτοὶ τὸ ἐνθύμημα τοῦ Σύλλα καὶ ἐς Ῥώμην σφᾶς ἄγειν θαρροῦντα ἐκέλευον. 21 App. civ. 1,66 (Übers. Veh): καὶ θαρρεῖν οἷα ὕπατον ἐκέλευον καὶ σφᾶς ἄγειν ἐφ᾽ ὅ τι χρῄζοι. Ähnliche Formulierungen wurden von griechischsprachigen Historiographen gern genutzt, um die Soldaten ihre Folgebereitschaft in heiklen Situationen eigens artikulieren zu lassen: Bereits um die Zeitenwende lässt Nikolaos von Damaskus die caesarianischen Veteranen auf der contio vor Oktavians erstem Marsch auf Rom (44 v. Chr.) damit ihre Bereitschaft ausdrücken, sich evozieren und nach Rom führen zu lassen: „oft riefen sie ihm zu, guten Mutes zu sein: Denn sie würden ihm bei allem helfen und keine Mühe scheuen, bis er in seine väterliche Ehrenstellung eingesetzt sei“ (Nik. Dam. vit. Caes. 31,136: ἐπεβόων πολλάκις θαρρεῖν· εἰς ἅπαν γὰρ συλλήψεσθαι αὐτῶι καὶ οὐ περιόψεσθαι, ἄχρι ἂν ἐν τῆι πατρώιαι καταστήσηι τιμῆι; Übers. Malitz). Ungefähr zeitgleich lässt Dionysios von Halikarnassos in einer Episode aus der römischen Frühzeit die Soldaten auf die aufmunternde Rede des Konsuls Marcus Fabius Vibulanus, der befürchtet hatte, sie könnten ihm die Gefolgschaft in der bevorstehenden Schlacht gegen Veji versagen, mit den Worten reagieren, er solle ‚guten Mutes sein und sie in die Schlacht führen‘ (Dion. Hal. ant. 9,10,1: θαρρεῖν τε παρακελευομένων καὶ ἄγειν ἐπὶ τὸν ἀγῶνα ἀξιούντων).

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rierten, mit der sie hinter ihrem Feldherrn standen.22 Welche Geltung konnten das Vertrauen in und die Bindung an die res publica unter solchen Umständen überhaupt noch besitzen?

3. Ehre und enttäuschtes Systemvertrauen: Die Motive der Soldaten Anton von Premerstein hat die Frage nach dem Vertrauen von Feldherren und Soldaten in die Republik radikalstmöglich beantwortet: Seiner Einschätzung zufolge tendierte es gegen Null. Während „[d]ie staatsrechtlichen Feinheiten und Bedenken […] bestenfalls von den führenden Kreisen beachtet und ausgenützt [wurden], sofern sie als Deckmantel für ihre Maßnahmen gegen den Parteigegner dienen konnten“, hätten sich die Soldaten aus materiellem Eigeninteresse ausschließlich der „Person des Führers“ verbunden geglaubt, der „im Falle des Sieges Beförderung und Auszeichnung sowie andere greifbare Vorteile in Aussicht stellte“.23 Diese Darstellung ist in doppelter Hinsicht in sich widersprüchlich: Zum einen ist schwer verständlich, wie rein materielle Motive zu einer engen Bindung an eine bestimmte Führungspersönlichkeit hätten führen können; zu erwarten wäre eher eine kaltblütig kalkulierende Söldnermentalität. Zum anderen ist unklar, welche symbolischen Profite die ‚führenden Kreise‘ aus der Bezugnahme auf die republikanische Ordnung ziehen konnten, wenn diese doch keinem mehr etwas bedeutete. Trotz dieser Inkonsistenzen entsprach Premersteins Sicht lange Zeit dem Grundtenor der althistorischen Forschung, gerade in Hinblick auf seine Bewertung der soldatischen Geld- und Beutegier.24 Das lag auch daran, dass sie durch bestimmte Aussagen in den antiken Quellen gestützt wird.25 So hatte Sulla laut Appians Bericht in den Soldaten, die „auf den Feldzug gegen Mithridates als ein gewinnbringendes Unternehmen begierig“ waren, die „Befürchtung“ geweckt, „Marius könnte an ihrer Stelle andere Soldaten dafür auswählen“, sodass sie „aus Sorge für sich, sie möchten des Feldzugs verlustig gehen“, zum Marsch auf Rom bereit waren.26 Doch steht diese Sorge automatisch im Widerspruch zu gemeinwohl- und republikbezogenen Normen und Werten? Robert Morstein-Marx hat dies verneint. Ausgehend von der 22 Allgemein zu den Implikationen von Akklamationen vgl. Flaig 2013, S. 396: „Das Akklamieren taugt vortrefflich dazu, die einmütige Meinung eines Kollektivs gegenüber einem Adressaten auszudrücken“; zu den Voraussetzungen und Folgen akklamierenden Entscheidens ebd., S. 396–399. 23 Premerstein 1937, S. 25; derselbe Widerspruch auch bei Gabba 1976, S. 23–29. 24 Vgl. etwa Wiehn 1926, besonders S. 90–95; Brunt 1962, S. 76–79; Erdmann 1972, S. 14; Aigner 1974, S. 132–134 (mit direkter Gleichsetzung der Soldaten mit rein instinktgesteuerten Raubtieren); Gabba 1976, S. 35; Christ 1979, S. 188; Meier 1997, S. 237; Lovano 2002, S. 21; weitere Literatur bei Morstein-Marx 2011, S. 268 Anm. 43, der sich gegen diese Sicht der soldatischen Motivation wendet. 25 Vgl. zur Käuflichkeit der Soldaten zur Zeit Sullas etwa Plut. Sulla 12,7–9. 26 App. civ. 1,57 (oben zitiert). Sall. Catil. 11,5 zufolge bemühte sich Sulla dann später auf dem Feldzug gegen Mithridates tatsächlich nach Kräften, die Beutehoffnungen seiner Soldaten zu befriedigen.

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Prämisse, dass menschliches Handeln im Normalfall nicht von einem einzigen Motiv angetrieben wird, konstatiert er, dass der Wunsch von Sullas Soldaten nach materieller Bereicherung nicht im Widerspruch zu ihrer Selbstrechtfertigung gestanden habe, zum Wohle der res publica zu handeln; vielmehr hätten beide Motive einander ergänzt.27 Dies sei auch gar nichts Neues, sondern entspräche der üblichen Doppelmotivation römischer Soldaten, in den Krieg zu ziehen.28 Dass die Soldaten davon ausgingen, mit ihrem Marsch auf Rom zum Wohle der res publica zu handeln, beruhte laut Morstein-Marx auf der Vorstellung, durch Sullas Kommandoentzug seien sowohl seine eigene ‚Ehre‘ (dignitas) als Konsul als auch die ‚Ehre‘ des populus Romanus als dignitas zumessende, weil den Konsul wählende Instanz angegriffen worden.29 Demnach betrachteten sich die Soldaten vor allem als Bürger, die in der unrechtmäßigen Entehrung eines Leistungsträgers der römischen Gesellschaft keine ‚Privatsache‘,30 sondern einen Angriff auf das herrschende Normensystem sahen, demzufolge es sich lohnen musste, sein Leben in den Dienst der res publica zu stellen.31 Entsprechend wird der Entzug von Sullas Kommando in den antiken Quellen überwiegend moralisch als ‚Entehrung‘, ‚Anmaßung‘ (hybris)32 oder ‚Unrecht‘33 gedeutet, auf den die Soldaten mit Empörung (indignatio) reagierten.34 In der Tat war der Volksbeschluss, mit dem Sullas Kommando auf Marius transferiert wurde, in mehrerer Hinsicht problematisch: Zum einen konnte argumentiert werden, dass er unter Einsatz von Gewalt verabschiedet worden war,35 zum anderen war ein solcher Eingriff eines Volkstribunen in die außenpolitischen Kompetenzen eines Konsuls äußerst unüblich.36 Aber dass der Volkstribun Sulpicius und der von ihm begünstigte Marius gegen das Herkommen verstoßen hatten, war das eine; dass Sulla und seine Soldaten darauf nicht mit herkömmlichen Formen 27 Morstein-Marx 2011, S. 275, geht von einer „double-determination“ aufseiten der sullanischen Soldaten aus: „patriotic self-justifications coincided with hopes for material benefit.“ 28 Ebd. Vgl. auch Keaveney 2007, S. 94; Morstein-Marx 2009, S. 133. 29 Morstein-Marx 2011, S. 264; 271–276. Ebd., S. 264–271, überträgt Morstein-Marx diese Überlegungen auf Cinna; bereits Morstein-Marx 2009 hatte sie mit Blick auf Caesar ausgearbeitet. 30 De Blois 1987, S. 59, spricht ausschließlich von der Verletzung der „personal dignity“ Sullas (und später Caesars); ähnlich Meier 1997, S. 261. 31 Hölkeskamp 2011, S. 212, zufolge konnte sich dignitas als „abstrakte Summierung aller öffentlichen Anerkennungen und Ehrungen“ einer Person nur „über den Dienst und in der Leistung für die ‚Allgemeinheit‘ verwirklichen, weil diese ‚Allgemeinheit‘, nämlich der populus Romanus, durch die Verleihung von Ämtern und Ehren die dignitas eines Mannes überhaupt erst schuf “; vgl. auch ebd., S. 205–207, 231 f. Zur Verbindung von dignitas und res publica über den populus Romanus als vermittelnde Instanz auch Morstein-Marx 2009 (besonders sein Fazit S. 135) sowie Morstein-Marx 2011, S. 264. 32 App. civ. 1,57 (oben zitiert). 33 Flor. epit. 2,9,6 (iniuria). Vgl. auch Vell. 2,18,6; Plut. Sulla 8,2. 34 Val. Max. 9,7,1. 35 Er wurde verabschiedet, nachdem die beiden Konsuln, die gegen weitere Gesetzesvorhaben des Sulpicius obnuntiiert hatten, gewaltsam aus der Stadt vertrieben worden waren: App. civ. 1,55 f. 36 Diod. 37,29,2; dazu auch Meier 1997, S. 139; Morstein-Marx 2011, S. 263.

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politischer Gewalt reagierten, sondern erstmals professionalisierte militärische Gewalt im befriedeten Innenraum der Stadt Rom einsetzten, war das andere. Um dieses Vorgehen zu erklären, genügt es meines Erachtens nicht, auf ‚bürgerliche‘, ‚zivile‘ dignitas-Vorstellungen zu rekurrieren, wie Morstein-Marx es getan hat. Vielmehr macht ein genauerer Blick auf die Lage der Soldaten die Annahme plausibel, dass es vor allem die soldatischen Ehrvorstellungen waren, die ihre aktive, persönliche Involvierung in Sullas Kampf um seine dignitas und das Wohl der res publica bedingten.37 Dabei stand die Hoffnung der Soldaten auf Beute keineswegs unverbunden neben dem Gemeinwohlbezug, sondern war unmittelbar mit den spezifisch soldatischen Ehrvorstellungen verknüpft. Seit Monaten hatten sie ihre früheren Bundesgenossen in Nola belagert: eine wenig attraktive Form der Kriegführung, bei der es kaum zu direkten Gefechten kam, in denen sich der einzelne Soldat bewähren konnte; stattdessen standen sich Belagerer und Belagerte in einem zähen, langwierigen Zermürbungskrieg gegenüber.38 Der Feldzug gegen Mithridates erschien demgegenüber als ehrenvolles, Ruhm und Beute versprechendes Unternehmen, und da ihr bisheriger Befehlshaber Sulla damit betraut worden war, rechneten die Soldaten damit, dass er sie mitnehmen würde. Vor diesem Hintergrund erschien ihnen die erhoffte reiche Beute im Osten offenbar weniger als Selbstzweck denn als manifestes Zeichen für die ehrenvolle Wertschätzung, die ihnen ihrer eigenen Ansicht nach ‚eigentlich‘ zukommen sollte, weil sie davon ausgingen, sie aufgrund ihrer Leistungen ‚verdient‘ zu haben – der Grundgedanke des meritokratischen Systems in Rom.39 Als dann jedoch das Oberkommando von Sulla auf Marius transferiert wurde, hegten die Soldaten laut Appian die nicht unplausible Befürchtung, dass der neue Befehlshaber mit einem anderen Heer in den Osten ziehen und sie in Nola zurücklassen werde. Da Marius offensichtlich nicht erkannte, in welch prekärer Lage sich die Soldaten dadurch befanden, unterließ er es, persönlich bei ihnen im Heereslager zu erscheinen und ihnen Klarheit über seine weiteren Pläne zu verschaffen.40 Die Soldaten hingen nun gewissermaßen in der Luft; nachdem sie sich bereits auf ihren Kampfeinsatz im Osten eingestellt hatten, befanden sie sich plötzlich und unerwartet in einem Zustand der Unsicherheit – und je länger dieser anhielt und durch Sullas geschicktes Agieren noch verstärkt wurde, desto größer wurde ihre Ablehnung gegenüber Marius, den sie für diese missliche Situation verantwortlich machten. Die Folgen waren drastisch: Auf Sullas contio forderten ihn die Soldaten auf, sie nach Rom zu führen, und als später nicht Marius selbst, sondern zwei 37 Vgl. oben (2. Das Vertrauensverhältnis zwischen Feldherren und Soldaten beim Beschluss zum Marsch auf Rom: Die militärische contio). 38 Flaig 1999, S. 60–62. 39 So betont Tiersch 2009, S. 48, dass die Verteilung „der konkreten Beute aus Eroberungen […] eine sichtbare Rechtfertigung der Ideologie des Dienstes und der Hingabe für die Größe der res publica bedeutete“. Den Begriff der ‚Meritokratie‘ für die Selbstsicht und -darstellung der politischen Führungsschicht der Republik hat Karl-Joachim Hölkeskamp geprägt; vgl. Hölkeskamp 2011, S. XXVIII Anm. 62 mit weiteren Belegen. 40 So auch Christ 1979, S. 188.

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von ihm abgesandte Legaten im Heereslager erschienen, wurden diese gesteinigt; danach marschierte das Heer gegen Rom.41 Die bereits ausgeübte sowie die mit dem Marsch auf Rom offen angedrohte Gewalt richtete sich letztlich gegen diejenigen, die Sulla als seine Feinde identifiziert hatte, da sie die politischen Institutionen und Verfahren benutzten, um ihm zu schaden und ihn zu entehren. Konkret handelte es sich dabei um den Volkstribunen Sulpicius und das Plebiszit, mit dem dieser die Übertragung von Sullas Kommando auf Marius durchgesetzt hatte, um Marius selbst und dessen Legaten als seine Vertreter. Es scheint also gerechtfertigt, hier von einer „Krise der Fügsamkeit […] gegenüber den politischen Institutionen und Verfahren“ zu sprechen; diese kann mit Marian Nebelin in Anlehnung an Jürgen Habermas’ Definition als ‚Legitimationskrise‘ bezeichnet werden.42 Durch diese Form der Krise wird „die bestehende Ordnung“ keineswegs zwangsläufig „obsolet […]; sie generiert vielmehr ein grundlegendes Unbehagen und die grundsätzliche Bereitschaft, mit etablierten Normen und Verfahren zu brechen – aber nicht notwendig auch eine (positive) Alternative zum bestehenden System“.43 Erschüttert wird in einer solchen Krise also das, was Jan Timmer „Systemvertrauen“ genannt hat, ohne dass deshalb gleich das gesamte System zusammenbrechen muss.44 Habermas zufolge entsteht eine Legitimationskrise, „sobald die Ansprüche auf systemkonforme Entschädigungen schneller steigen als die disponible Wertmasse, oder wenn Erwartungen entstehen, die mit systemkonformen Entschädigungen nicht befriedigt werden können“.45 Bei Sulla und seinen Soldaten war diese Konstellation in etwas abgewandelter Form gegeben: Augenscheinlich hatten sich beide zu der Erwartung berechtigt gefühlt, nach den im Bundesgenossenkrieg zum Wohle der res publica ausgestandenen Strapazen eine Art Anrecht auf einen nach soldatischen Maßstäben ‚guten‘ Krieg zu haben – und auf die damit verbundene Gelegenheit, sich auf ehrenvolle Weise materiell zu bereichern. Diese verdiente, ‚systemkonforme‘ Belohnung und Entschädigung drohte ihnen jedoch durch die von Sulpicius durchgesetzte Aberkennung von Sullas Oberkommando genommen zu werden, ohne dass dafür irgendeine Kompensation in Aussicht gestellt wurde. Es handelte sich also gewissermaßen um ein Nullsummenspiel, bei dem Sulla (mitsamt seinen Soldaten) alles verlor, was Marius gewann. In dieser Situation gelang es Sulla, den Soldaten die gemeinsame Interessenlage plausibel darzulegen und diese mit dem militärischen Ehrenkodex und einer Vor-

41 Val. Max. 9,7,1; Plut. Marius 35,4; Sulla 9,1; App. civ. 1,57. 42 Nebelin 2014b, S. 250–252, Zitat S. 251; dazu auch ders. 2019, S. 173–176. Maschek 2009, S. 61, nutzt den Begriff ebenfalls mit Bezug auf Habermas, allerdings in anderer Bedeutung (vgl. ebd. Anm. 14). 43 Nebelin 2021, S. 174; siehe auch ders. 2014b, S. 252. Vgl. zudem Ungern-Sternberg 2006, S. 402 Anm. 55. 44 Timmer 2017, S. 13, 20, 86, 262, 286 f. 45 Habermas 1973, S. 104; dazu Nebelin 2021, S. 174.

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stellung von Gemeinwohlorientierung zu verknüpfen.46 Das Motiv der Ehre verklammerte dabei die Erwartungen und Ansprüche der einzelnen Akteure mit der übergeordneten politischen Ordnung. Dieses erfolgreiche Muster sollte sich wiederholen: Wie die antiken Berichte nahelegen, fanden auch die späteren Märsche auf Rom in einer Situation statt, in der argumentiert werden konnte, dass der drohende oder bereits erfolgte Ehrverlust des Feldherrn auch die Soldaten direkt betreffe und zugleich einen Angriff auf die Ordnung der res publica darstelle.47 So sprach Cinna laut Appian auf der bereits erwähnten contio in Nola mit keinem Wort von den Sachfragen, die zu seinem Zerwürfnis mit seinem Amtskollegen geführt hatten. Stattdessen argumentierte er ganz grundsätzlich, dass mit seiner Amtsenthebung auch das Volk, das ihn ins Konsulat gewählt hatte, entehrt und entmachtet worden sei: „Gleichwohl gräme ich mich, obschon mir so etwas widerfahren ist, in meinen eigenen Leiden ebenso um euere Sache“.48 Cinna sprach die Soldaten als Bürger und Mitglieder des populus Romanus an, dessen politische Macht und Bedeutung durch das eigenmächtige Vorgehen des Senats direkt angegriffen worden sei, als dieser Cinna auf Betreiben seines Amtskollegen abgesetzt hatte.49 Ebenso wie Sulla zog er also eine direkte Verbindung zwischen seiner eigenen Entehrung und Entmachtung und derjenigen der Soldaten als Mitglieder des populus Romanus, wobei Cinna die verbale Botschaft noch durch demonstrative Akte der Selbsterniedrigung verstärkte.50 Auch Caesar verknüpfte seine persönliche Lage mit derjenigen seiner Soldaten und mit dem allgemeinen Zustand der res publica. In einer contio anlässlich seines Einmarschs in Italien erinnerte er die Soldaten an die gemeinsam errungenen Siege und appellierte an sie, die entehrende und regelwidrige Behandlung der in seinem Auftrag agierenden Volkstribunen durch seine Feinde im Senat nicht tatenlos hinzunehmen.51 Kurt Raaflaub spricht in diesem Kontext von der „Interessenidentität zwischen Caesar und dem Volk: indem er für seine Interessen eintrat, verteidigte er zugleich die libertas des Volkes“.52 Besonders brisant, so Caesar, sei seine schimpf46 Dasselbe Argumentationsmuster fand sich auch in den zivilen contiones in Rom, wo laut Tiersch 2009, S. 49, die „nobilitäre[n] Redner“ auf ihre „Interessenidentität“ mit den Bürgern im Publikum rekurrierten. 47 Aufgrund der Überlieferungslage ist unklar, womit Marcus Aemilius Lepidus, Konsul des Jahres 78 v. Chr., um Unterstützung für seinen Marsch auf Rom warb. Seine Ausgangslage hätte es ihm aber ermöglicht, ähnlich wie die anderen Feldherren eine Parallele zwischen seiner eigenen Ausbremsung durch seinen Amtskollegen und der Enteignung, Entmachtung und Entrechtung der Bürger – speziell außerhalb der Stadt Rom – durch Sulla zu ziehen; vgl. dazu etwa die Argumentation in Sall. hist. frg. 1,55 (or. Lep.) 16 f. M. 48 App. civ. 1,65 (Übers. Veh): καὶ τάδε παθὼν ἐν οἰκείοις κακοῖς ὑπὲρ ὑμῶν ὅμως ἀγανακτῶ. 49 Vgl. Lovano 2002, S. 36; Morstein-Marx 2011, S. 267–271. 50 Eine ähnliche Kombination aus symbolisch aufgeladenen Kommunikationsformen und inhaltlichen Argumenten findet sich auch bei Marius, der nach seiner Rückkehr nach Italien im selben Jahr zunächst eine eigene Privatarmee rekrutierte, indem er langhaarig und schmutzstarrend durch die etrurischen Städte zog, wo er den Einwohnern versprach, sich für ihre gleichmäßige Verteilung auf die römischen tribus einzusetzen: App. civ. 1,67; vgl. auch Plut. Marius 41,3 f. Zu Marius’ squalor siehe auch Degelmann 2018, S. 108. 51 Vgl. Caesars eigenen Bericht von seiner Rede in Caes. civ. 1,7,1–8; siehe auch App. civ. 2,33. 52 Raaflaub 1974, S. 172.

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liche Behandlung durch den Senat, weil dadurch einem (militärischen) Leistungsträger die systemkonforme Anerkennung seiner Lebensleistung verweigert werde.53 Dieser Angriff auf Caesars dignitas traf auch die Soldaten; gegen Ende seiner Rede forderte Caesar sie daher auf, „den ruhmreichen Namen ihres Feldherren gegen die Gegner zu schützen, unter dessen Führung sie während neun Jahren den Staat in glücklichster Weise geführt, zahllose glückliche Schlachten geliefert und ganz Gallien und Germanien unterworfen hätten“.54 Ebenso wie Sulla erhob Caesar also den Vorwurf, dass er und seine Soldaten für ihre militärischen Leistungen nicht die gebührende Ehre erhielten. Die „Verweigerung von Anerkennung“ und die „unfaire Verteilung von Lasten“ gehörten nach Timmer zu jenen Faktoren, die in spätrepublikanischer Zeit das Systemvertrauen nachhaltig unterminierten.55 Timmer legt hierbei den Fokus vor allem auf den bekannten Systemwiderspruch zwischen der immensen, jedes Maß sprengenden Akkumulation ökonomischer und symbolischer Ressourcen durch die Inhaber außerordentlicher Imperien und der Unmöglichkeit, sie „entsprechend ihres Beitrags zu beteiligen“, weil „man die Homogenität der Elite, die die Grundlage des politischen Systems der Republik darstellte, nicht in Frage stellen mochte“.56 Ebendieser Mechanismus führte jedoch auch dazu, dass die Soldaten für die Risiken, die sie für die res publica auf sich nahmen, nicht angemessen entlohnt wurden. Die Senatsmehrheit fürchtete stets, dass die Verteilung von Ackerland oder hohen Belohnungssummen die Macht derjenigen Politiker exponentiell steigern würde, die für die Interessen der Soldaten eingetreten waren.57 Ihre sture Verweigerungshaltung sorgte dann allerdings für eine fortschreitende Enttäuschung und Erschütterung des Systemvertrauens gerade bei jenen Akteuren, die aus römischer Sicht die Hauptverantwortung für den Erfolg der Republik trugen – und ungünstigerweise auch über die Mittel und technischen Skills verfügten, um das System gewaltsam anzugreifen.

4. Der Marsch auf Rom und die Legitimationskrise der res publica Die Märsche auf Rom trugen eine Form von Gewalt in den öffentlichen Raum der Stadt, die es dort vorher nicht gegeben hatte: die militarisierte, quasi professionalisierte Gewalt gegen äußere Feinde, die sich nun erstmals gegen Römerinnen und Römer richtete. Es ist bezeichnend, dass damit einhergehend der Begriff des hostis populi 53 Dazu Morstein-Marx 2009, S. 122–135. 54 Caes. civ. 1,7,7 (Übers. Dorminger): hortatur, cuius imperatoris ductu VIIII annis rem publicam felicissime gesserint plurimaque proelia secunda fecerint, omnem Galliam Germaniamque pacaverint, ut eius existimationem dignitatemque ab inimicis defendant. Die direkte Verknüpfung von Caesars dignitas mit der libertas der Soldaten wird in Caes. civ. 3,91,2 formuliert; zu dieser Stelle siehe Morstein-Marx 2009, S. 124 f. 55 Timmer 2017, S. 262. 56 Ebd., S. 77–80, Zitat S. 80. 57 Vgl. zu diesem breit erforschten Komplex nur Meier 1997, S. 101–103; Ungern-Sternberg 2006, S. 396–402; Tiersch 2009, S. 63 f.

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Romani, der ursprünglich auf auswärtige Feinde angewandt worden war, explizit auf Gegner innerhalb der Bürgerschaft übertragen wurde.58 Doch wie sind diese Veränderungen einzuordnen? Inwiefern bewirkten sie politische Transformationen, und können sie als Zeichen dafür angesehen werden, dass sich die späte Republik in einer Legitimationskrise befand, in der das Systemvertrauen nachhaltig erschüttert wurde? Die modernen Forschungsmeinungen zu Legitimität und Legalität der Märsche auf Rom gehen weit auseinander,59 und ebenso kontrovers wird die Frage diskutiert, ob überhaupt eine schwindende Gehorsamsbereitschaft gegenüber den republikanischen Institutionen und generell gegenüber der republikanischen Ordnung erkennbar sei, ob also das Systemvertrauen der römischen Bürger im Laufe des 1. Jahrhunderts v. Chr. tatsächlich abnahm.60 Gerade diese Unklarheiten und Uneindeutigkeiten belegen jedoch, dass sowohl aus Sicht der Zeitgenossen als auch aus der Retrospektive kein Konsens mehr darüber existierte, wie diese Ordnung eigentlich konkret aussah, welches Verhalten sie beförderte und welches ihr zuwiderlief. Schon in den zeitgenössischen Quellen wurde das Vorgehen der Feldherren und Soldaten, die gegen Rom marschierten, durchaus ambivalent bewertet. Besonders instruktiv sind hier die Äußerungen des Zeitzeugen Cicero, der dazu tendierte, den Anliegen der Anführer der ersten Bürgerkriegsphase eine gewisse Berechtigung zuzugestehen, ihre Vorgehensweise aber zugleich nachdrücklich als grausam und für die res publica verderblich abzulehnen.61 Caesars Marsch auf Rom dagegen wird von Cicero ausdrücklich ausgeklammert aus der Reihe jener (Bürger-)Kriege, deren Ursache ein „Streit um die res publica“ gewesen sei.62 Die Kontextgebundenheit von Ciceros Urteil ist offensichtlich, aber dennoch scheint die Annahme plausibel, dass er damit eine Einschätzung vertrat, der sich auch die Zeitgenossen anschließen konnten.63 58 Zur Bedeutung dieser Anwendung des hostis-Begriffs siehe Flower 2010, S. 78; Walter 2019, S. 184. 59 So deklariert etwa Meier 1997, S. 224, Sullas ersten Marsch auf Rom als „zunächst nur eine Polizeiaktion“; direkt dagegen Linke 2005, S. 113. Die fehlende Legitimität und Legalität betont auch Ungern-Sternberg 2006, S. 402; anders Morstein-Marx 2009, S. 135–139, und besonders ders. 2011. 60 Dafür plädieren etwa Schmitthenner 1960, S. 2; Ungern-Sternberg 2006, S. 401–404, dagegen Morstein-Marx 2009, S. 139; ders. 2011, S. 277. Beachte auch Walter 2019, S. 189: „Keine Gewalthandlung richtete sich gegen die Existenz einer bestehenden Institution“, daher „wurde die Systemfrage nicht gestellt“. Tiersch 2009, S. 59, betont jedoch, dass zwar nicht der Senat als Institution, aber „die Legitimität der gegenwärtig amtierenden Senatoren“ in Zweifel gezogen worden sei. Timmer 2017, S. 285–287, konstatiert, dass die endgültige Erosion des Vertrauens spätestens in den 50er-Jahren des 1. Jahrhunderts v. Chr. stattgefunden habe. 61 Vgl. etwa Cic. Phil. 8,7; 13,1; Att. 9,11(10),3. 62 Cic. Phil. 8,7 (eigene Übers.): ceteris enim bellis maximeque civilibus contentionem rei publicae causa faciebat; diese These bekräftigt Cicero nach Aufzählung aller Fälle noch einmal, um dann hinzuzufügen: „Über den letzten Bürgerkrieg [= Caesars Marsch auf Rom; KN] will ich nichts sagen; die Ursache kenne ich nicht, das Ende verabscheue ich“ (de proximo bello civili non libet dicere: ignoro causam, detestor exitum; Übers. Fuhrmann). Vgl. auch die negative Bewertung von Caesars Motiven in Cic. Phil. 2,53 sowie Cic. Att. 8,11,2. 63 Der Kontext von Ciceros Urteil ist seine Polemik gegen Marcus Antonius, dessen Bekämpfung Cicero als gerechtfertigten und notwendigen Krieg ansah, weshalb er ihn von den bisherigen Bürgerkriegen absetzte. Dabei ging er offenbar davon aus, dass seine ambivalente Charakte-

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Aber auch die Reden der gegen Rom marschierenden Feldherren bestätigen Ciceros Ansicht, dass dem ‚Streit um die res publica‘, das heißt der legitimierenden Bezugnahme auf deren Rettung, in der ersten Bürgerkriegsphase (88 bis 77 v. Chr.) eine wesentlich höhere Bedeutung als in der zweiten (49 bis 30 v. Chr.) zukam. So sprach beispielsweise Cinna die Soldaten ausdrücklich als Bürger an, deren maiestas mit der Absetzung des von ihnen gewählten Konsuls durch den Senat direkt angegriffen werde. Ähnlich hatte zuvor Sulla die Empörung darüber geschürt, dass einem Konsul durch einen tyrannischen Volkstribunen und dessen Clique das rechtmäßig übertragene Oberkommando entzogen worden sei. Dies änderte sich jedoch in der zweiten Bürgerkriegsphase; hier lässt sich bei Caesar eine deutliche Akzentverschiebung und bei Oktavian die weitgehende Preisgabe des res publica-Bezugs erkennen. Caesar ging seiner eigenen Darstellung zufolge zwar ausführlich auf die angebliche Missachtung der tribunizischen Rechte ein und stellte diese als Grundsatzproblem dar,64 sprach dabei aber seine Zuhörer primär als Soldaten an, die nach ihren zahllosen militärischen Verdiensten für die res publica ein Anrecht auf Ruhm und Dankbarkeit hätten.65 Bei Appian wird diese Akzentverschiebung noch deutlicher; hier kritisiert Caesar die Behandlung der beiden Volkstribunen vor allem deshalb, weil diese in seinem und damit auch im Interesse der Soldaten gehandelt hätten.66 Es sei schmählich, so Appians Caesar, dass man die Soldaten „nach so gewaltigen Taten nun als Landesfeinde betrachte und wackere Männer wie diese [= die beiden Volkstribunen Marcus Antonius und Quintus Cassius, die zugunsten Caesars agiert hatten; KN], die ein Wort für sie eingelegt hätten, so schändlich ausstoße“.67 Noch radikaler wurden alle Bezüge auf die res publica dann von Oktavian gekappt. Schon bei seinem ersten, gescheiterten Marsch auf Rom im Herbst 44 v. Chr. berief er sich bei der Soldatenanwerbung vor allem auf seine prekäre Stellung als Adoptivsohn und ‚wahrer Erbe‘ Caesars, wobei er eine Parallele zur gleichfalls ungesicherten Lage der caesarianischen Veteranen zog.68 Dass Oktavian den Soldaten gegenüber nicht auf die res publica rekurrierte, lässt sich auch damit erklären, dass er als einziger aller gegen Rom marschierenden Feldherren zuvor kein reguläres Amt innegehabt hatte und sein Heer als privatus anwarb.69 Allerdings bezog

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risierung dieser Auseinandersetzungen von seinem anvisierten Publikum geteilt wurde oder zumindest nachvollzogen werden konnte. Caes. civ. 1,7,1–8. Caes civ. 1,7,8 (oben zitiert). Anders Morstein-Marx 2009, S. 122–126, der diese Akzentverschiebung nicht thematisiert, sondern Caesars Soldaten als Bürger betrachtet, die auf die Missachtung der tribunizischen und damit plebejischen Freiheitsrechte reagierten. App. civ. 2,33 (Übers. Veh): ὅτι καὶ σφᾶς τοσάδε ἐργασαμένους ἡγοῦνται πολεμίους καὶ τοιούσδε ἄνδρας ὑπὲρ αὐτῶν τι φθεγξαμένους οὕτως ἐξελαύνουσιν αἰσχρῶς. Nik. Dam. vit. Caes. 31,136. Appian schildert lediglich die hohen Donative, mit denen Oktavian die Soldaten nach der Anwerbung beschenkte, ohne auf seine Argumentation vor ihnen einzugehen: App. civ. 3,40. Auch Pompeius hatte als junger privatus drei Legionen angeworben, aber er unterstellte sich Sulla auf dessen zweitem Marsch auf Rom (Cic. Manil. 61 f.; Liv. per. 85; Val. Max. 5,2,9; Vell. 2,29,1; Plut. Pompeius 6,1–8,3; App. civ. 1,80; Cass. Dio frg. 107,1).

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sich Oktavian auch vor seinem zweiten, diesmal erfolgreichen Marsch auf Rom (43 v. Chr.) nicht auf die Republik, obwohl er zu diesem Zeitpunkt noch ein vom Senat verliehenes außerordentliches Kommando als Proprätor innehatte. Stattdessen verwies er Appian zufolge ausschließlich auf die besondere Beziehung zwischen sich und seinen Soldaten. So lässt Appian den jungen Caesar in einer Rede, für die ihm in der modernen Forschungsliteratur bescheinigt wird, Oktavians Argumentation im Vorfeld seines zweiten Marsches auf Rom „treffend rekonstruiert“70 zu haben, die Interessengemeinschaft zwischen sich und seinen Soldaten zu einer wahren Schicksalsgemeinschaft steigern. Diese stelle für beide Partner nicht nur die einzige Möglichkeit dar, ihre Ziele zu erreichen, sondern überhaupt die einzige Hoffnung auf Überleben: „Ich sehe jetzt für uns beide nur noch einen einzigen sicheren Ausweg – wenn ich mit euerer Hilfe das Konsulat erlangte“.71 Oktavian trat somit als ein politischer Heilsbringer vor seine Armee, dessen Wirken jedoch allein auf die Soldaten beschränkt blieb, die ihm persönlich verbunden waren. Bezugnahmen auf die Rettung der res publica und generell auf das übergeordnete Gemeinwohl der politischen Gemeinschaft tauchten hingegen nicht auf. An ihre Stelle war die rechtfertigende Bezugnahme auf Caesar getreten.72 Dass Oktavian in seiner politischen Anfangsphase vor dem Abschluss des Zweiten Triumvirats stark von der Berufung auf Caesar abhängig war, ist offenkundig.73 Allerdings weist der Umstand, dass er mit dieser Legitimationsstrategie Erfolg hatte, auf tiefgreifende Wandlungsprozesse im politischen Raum hin. Das völlige Fehlen aller Republikbezüge in Oktavians Reden gegenüber seinen Soldaten markierte den Tiefpunkt einer Entwicklung, die dazu geführt hatte, dass sich das Vertrauen der maßgeblichen Akteure weg von bestimmten Institutionen und Regeln verlagerte, die bisher für das Bestehen der politischen Ordnung zentral gewesen waren. Besonders frappierend war dies schon bei Oktavians erstem Marsch auf Rom zutage getreten, als er sich auf Einladung eines mit Antonius verfeindeten Volkstribunen in einer contio auf dem Forum im Beisein seiner Soldaten an das römische Volk wandte.74 Anders als bei der Anwerbung der Soldaten bezog er sich bei dieser Gelegenheit auf

70 So Gotter 1996, S. 191 Anm. 127. Auch Botermann 1968, S. 149, geht davon aus, dass Appians Rede „wohl den Kern seiner [= Oktavians; KN] Propaganda richtig trifft“. 71 App. civ. 3,87 (Übers. Veh): ἓν δὲ μόνον ὁρῶ νῦν ἀμφοτέροις σωτήριον, εἰ δι᾽ ὑμῶν ὕπατος ἀποδειχθείην. 72 Nach App. civ. 3,87 betonte Oktavian, er nehme sein vorherbestimmtes Schicksal an, denn schließlich sei es „doch ehrenvoll, etwas im Dienst eines Vaters erdulden zu müssen“ (καλὸν γάρ τι καὶ παθεῖν πατρὶ ἐπικουροῦντα); die Soldaten handelten ihm zufolge ausschließlich „mir und meinem Vater zuliebe“ (καὶ τοῦ πατρὸς χάριν). Diese Formulierungen weisen darauf hin, dass Appian sich hier auf eine zeitnahe Quelle gestützt hat, die nicht von Augustus’ späterer Selbstdarstellung geprägt war. In dieser trat der Caesarbezug zugunsten der Berufung auf die Rettung der res publica zurück, wie der programmatische erste Satz der Res Gestae zeigt (R. Gest. div. Aug. 1,1). Zu diesem zentralen Wandel in Oktavian-Augustus’ Selbstdarstellung vgl. Havener 2016, S. 151–192. 73 Dazu Ramage 1985. 74 App. civ. 3,40 f.; Cass. Dio 45,12,4; 45,14,4.

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eine übergeordnete politische Gemeinschaft, die er vor Antonius schützen wolle;75 sein Ziel bestand offenkundig darin, zu diesem Zweck vom Senat ein außerordentliches Kommando zu erhalten und seine privaten Anwerbungen nachträglich zu legalisieren.76 Die anwesenden Soldaten reagierten jedoch ablehnend; direkt im Anschluss verließ ihn die Mehrzahl von ihnen und kehrte nach Hause zurück, laut Appian „über die feindseligen Erklärungen gegen Antonius, ihren einstigen General und derzeitigen Konsul, empört“.77 Aus Sicht dieser Soldaten war die Gemeinschaft, auf die es wirklich ankam und deren innere Geschlossenheit sie erhalten wollten, jene der Caesarianer; sie waren bereit, zusammen mit Oktavian gegen die Caesarmörder zu kämpfen, aber nicht dazu, sich dem Senat zu unterstellen und ‚im Namen des Vaterlands‘ gegen Antonius vorzugehen.78 Die Reaktion der Soldaten zeigt, dass ‚der Senat‘, ‚die Caesarmörder‘ und ‚die Pompeianer‘ für sie letztlich miteinander identisch waren – eine feindliche factio, auf deren Konto die Ermordung ihres verehrten Befehlshabers ging und die auch im Folgenden alles tun würde, um den Soldaten zu schaden.79 Diese Episode kann sinnbildlich für die wichtigste und folgenreichste Vertrauensverlagerung der Zeit stehen: das „abgrundtiefe Mißtrauen der Soldaten“ gegen den Senat.80 Oktavians Soldaten waren nicht empfänglich für die Argumentation des Senats, sie sollten „ihre Hoffnungen nicht auf eine einzelne Persönlichkeit, vielmehr auf den Senat setzen, der allein über eine dauernde Macht verfüge“.81 Im Gegenteil: Oktavians Suggestionen, sie sollten sich gerade auf eine einzelne Person stützen, die unmittelbar von ihnen abhängig war und zudem ein enges, persönliches Verhältnis zu ihnen hatte, entsprachen weitgehend ihren eigenen Erfahrungen und Erwartungen.82 Dies war aber nicht allein der konkreten Situation nach Caesars 75 App. civ. 3,41 zufolge erklärte Oktavian, „daß er in allen Dingen seinem Vaterland gehorsam dienen wolle und in der augenblicklichen Notlage zum Widerstand gegen Antonius entschlossen sei“ (ἐς πάντα τῆς πατρίδος ὑπηρέτης καὶ κατήκοος ἔσεσθαι καὶ ἐς τὰ νὺν πρὸς Ἀντώνιον ἕτοιμος; Übers. Veh); laut Cass. Dio 45,12,5 verkündete er, er sei mit seinen Soldaten „freiwillig gekommen, um der Stadt zu helfen“ (ἐθελοντὶ πρὸς ἐπικουρίαν τῆς πόλεως; Übers. Veh). 76 Botermann 1968, S. 39, 43; Gotter 1996, S. 99–102. 77 App. civ. 3,42 (Übers. Veh): ἤχθοντο τῇ κατ᾽ Ἀντωνίου προαγορεύσει, στρατηγοῦ τε σφῶν γεγονότος καὶ ὄντος ὑπάτου. 78 App. civ. 3,42. 79 Vor seinem zweiten Marsch auf Rom bezog sich Oktavian direkt auf diese Verknüpfungen, als er den Soldaten erklärte, sie könnten dem Senat nicht vertrauen, da er von den ‚Pompeianern‘ und Caesarmördern dominiert werde: App. civ. 3,87. 80 Botermann 1968, S. 4; ähnlich ebd., S. 145. Dies betraf nicht nur die Soldaten: Meier 1997, S. 128, spricht von der „seit Mitte des zweiten Jahrhunderts [v. Chr.; KN] einsetzende[n] Vertrauenskrise zwischen Senat und Volk“; dazu auch Tiersch 2009, S. 58 f., 64. 81 App. civ. 3,86 (Übers. Veh): μὴ ἐφ᾽ ἑνὶ ποιεῖσθαι τὰς ἐλπίδας, ἀλλ᾽ ἐπὶ τῇ βουλῇ τὸ κράτος ἀθάνατον ἐχούσῃ μόνῃ; so die Gesandten des Senats an Oktavians Soldaten nach der Schlacht bei Mutina. 82 Die Politik des Senats nach der Schlacht bei Mutina trug dazu bei, das Misstrauen der Soldaten zu schüren; vgl. App. civ. 3,86; Cass. Dio 46,40, dazu Botermann 1968, S. 144–147; Gotter 1996, S. 187 f.

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Ermordung geschuldet. Dass Oktavian mit solcher Selbstverständlichkeit Bezug nehmen konnte auf die Denkfigur des ‚Einzelnen‘, der explizit von der Unzuverlässigkeit der Senatoren als Gruppe abgesetzt wurde, war auch die Folge langfristiger Veränderungsprozesse, die letztlich jene Monarchisierungstendenzen verstärkten, die in der soziopolitischen Struktur der römischen Republik immer schon angelegt waren.83 Gerade die Auswirkungen des Bundesgenossenkrieges können kaum überschätzt werden; sie waren der Hauptgrund dafür, dass die Soldaten im Gefüge der späten Republik ein außerordentlich dynamisches Element darstellten.84 Ein signifikanter Prozentsatz jener Soldaten, die im 1.  Jahrhundert v. Chr. gegen Rom marschierten, hatte erst vor Kurzem und infolge eines schonungslos geführten ‚inneritalischen Bürgerkrieges‘ (Bernhard Linke) das römische Bürgerrecht erhalten.85 Ihre Haltung gegenüber Rom wird vermutlich stark geschwankt und zwischen den Extrempolen einer völligen Identifikation mit Rom auf der einen und der Selbstwahrnehmung als Besiegte und (weiterhin) Unterdrückte auf der anderen Seite oszilliert haben. Die Märsche auf Rom und der damit verbundene Bürgerkrieg sowie Sullas Proskriptionen und Enteignungen hatten sich regional sehr unterschiedlich ausgewirkt und trugen noch dazu bei, die Situation in Italien uneinheitlich und unübersichtlich zu machen.86 Was die Soldaten miteinander verband, waren daher kaum gemeinsame politische Erfahrungen, denn aufgrund der unverändert stadtstaatlichen Organisationsund Verfahrensformen konnten nur die wenigsten von ihnen direkt an den in Rom stattfindenden Wahlen und Abstimmungen partizipieren.87 Als einende Kraft wirkten vielmehr der Militärdienst und das durch ihn erzeugte unmittelbare Gemeinschaftsgefühl, das sich in einem geteilten soldatischen Ethos niederschlug.88 Die res publica verkörperte sich für diese Soldaten vor allem in ihrem Feldherrn, auf den sie persönlich vereidigt waren, mit dem sie in persönlichem Kontakt standen und der sie offensichtlich schätzte und brauchte. Galt dies schon unter ‚gewöhnlichen‘ Umständen, steigerten sich die Abhängigkeit des Feldherrn und seine Wertschätzung noch in jenen Krisenmomenten, in denen er verzweifelt an sein Heer appellierte, 83 Siehe hierzu etwa Walter 2019, S. 182, besonders Anm. 11, mit Belegen. 84 Flower 2010 betont zu Recht, dass die Auswirkungen der Verleihung des römischen Bürgerrechts an nahezu alle italischen Bundesgenossen oft nicht hinreichend beachtet werden; sie selbst bezeichnet diesen Vorgang ebd., S. 82, als „a political revolution for a city-state like Rome“. Konkret zu den mit dem Bundesgenossenkrieg verbundenen Gewalterfahrungen Maschek 2018, S. 64–108. 85 Vgl. Linke 2005, S. 112. Grundlegend zur Bedeutung der italischen Landbevölkerung für die Armee Brunt 1962. 86 Maschek 2009 betont die regionalen Unterschiede im (Mittel-)Italien des 1. Jahrhunderts v. Chr. in den ökonomischen, politischen und kulturellen Diversifizierungsprozessen nach dem Bundesgenossenkrieg. Ausführlicher zu den vielfältigen Erscheinungsformen dieser Prozesse jetzt Maschek 2018. 87 Vgl. die Berechnungen der politischen Partizipationsraten bei Scheidel 2006, S. 212–223. 88 Scheidel betont ebd., S. 220, dass „[m]ilitary operations provided a much more significant venue for civic participation and integration“ als die politische Partizipation; dazu auch ebd., S. 224–226, sowie im selben Band Jehne 2006, S. 256 f.

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seine Ehre zu verteidigen und die Gemeinschaft zu retten. Die Erfahrungen mit anderen römischen Amtsträgern waren dagegen für den überwiegenden Teil der italischen Landbevölkerung eher rar und im Zweifelsfall negativ; so wurden beispielsweise die Prätoren häufig als erbarmungslos richtende, arrogant auftretende Abgesandte des Zentrums wahrgenommen.89 Damit einhergehend kam es im militärischen Bereich zu einer Entwicklung, die in Anlehnung an eine von Uwe Walter in Hinblick auf einen etwas anderen Kontext geprägte Formulierung als ‚Professionalisierung ohne Ausdifferenzierung‘ bezeichnet werden kann.90 Die fortschreitende Professionalisierung des republikanischen Milizheeres führte nämlich nicht dazu, dass dieses zu einem regelrechten ‚Staat im Staate‘ wurde. So ist den antiken Quellen, wie Elisabeth Erdmann betont hat, kaum ein Hinweis dafür zu entnehmen, „daß die Soldaten das Bewußtsein hatten, etwas anderes als Bürger zu sein“.91 Allerdings sahen sie sich primär als „Bürger im Krieg“,92 deren Bürgerstatus sich wesentlich im Feld verwirklichte und durch ehrenvolles Kriegführen bestimmt wurde.93 Gerade weil dieses Selbstverständnis durchaus tiefverwurzelten bürgerlichen Idealvorstellungen entsprach, konnte es zur Grundlage für den soldatischen Anspruch werden, im Sinne traditioneller bürgerlicher Selbsthilfe zur Rettung der res publica verpflichtet zu sein – und zwar mit ihren eigenen, professionellen militärischen Mitteln und Kampfformen. Schon der erste Marsch auf Rom belegte – und die anderen bestätigten es –, dass die Soldaten mehr als nur eine unmittelbar vom Ausgang der politischen Auseinandersetzung betroffene Konfliktpartei waren; sie beanspruchten nicht bloß ein Mitentscheidungsrecht, sondern sahen sich als letzte Instanz, die einen bereits ergangenen und von ihnen selbst für illegitim, wenn nicht gar für illegal befundenen politischen Beschluss umstoßen konnte. Die Legitimation dazu verschaffte ihnen die eigene Empörung und das dahinterstehende, von zunehmend professionalisierten soldatischen Werten und Normen bestimmte Bewusstsein, unrecht behandelt worden zu sein, verbunden mit der Überzeugung, dass auch die Person ihres Feldherrn und damit die Fundamente der res publica angegriffen worden seien. Angetrieben 89 Vgl. etwa Sall. Catil. 33,2; beachte in diesem Kontext auch die Erschlagung des Prätors Q. Servilius durch die Einwohner von Asculum als unmittelbaren Anlass des Bundesgenossenkrieges (Liv. per. 72; App. civ. 1,39). Zur Problematik des ‚römischen Italien‘ siehe auch Hölkeskamp 2009, S. 10 Anm. 25 mit weiteren Literaturangaben. 90 In seiner Bilanz einer von Wolfgang Blösel und Karl-Joachim Hölkeskamp veranstalteten Tagung zum Wandel der Karrierefelder in der römischen Republik betont Walter 2011, S. 228, dass die „‚Herausbildung von distinkten Karrierefeldern‘ in der späten Republik […] nichts mit einer funktionalen Ausdifferenzierung im Luhmann’schen Sinn zu tun“ habe, erkennt aber mit Blick auf den „Bereich der Ökonomie […] eine Art von Professionalisierung“, die er ebd., S. 229–233, auch im militärischen Bereich gegeben sieht. Vgl. bereits Meier 1997, S. 155: „Der Militärdienst war weitgehend Sache von Spezialisten geworden.“ 91 Erdmann 1972, S. 13; der einzige anderslautende Hinweis ist ihr zufolge die „Meuterei von Campanien“ unter Caesar 47 v. Chr., die dieser dadurch beendete, dass er die Soldaten als Quiriten ansprach. 92 Fündling 2010, S. 70. 93 Flaig 1999, S. 25; siehe auch Keaveney 2007, S. 37.

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von dieser indignatio, agierten die auf Rom marschierenden Soldaten gleichsam als eine Art antiker Wutbürger, die mit ihrem Versuch, die res publica und deren Werte zu verteidigen, die politische Ordnung ebenso gewaltsam wie nachhaltig veränderten. Der Senat hingegen wurde zu einem Akteur unter anderen, die miteinander um die „Alleinvertretung der res publica“ rangen, wie Kurt Raaflaub es formuliert hat.94 Zum einen versuchten bestimmte Akteure und Gruppen, die res publica zu monopolisieren, zum anderen setzten ihnen konkurrierende Akteure und Gruppen ihre eigenen Monopolisierungsversuche entgegen. Das führte zu einer Aufsplitterung der res publica in sich selbst und ihre Ziele und Ansichten absolut setzende Einzelne.95 Dieser Verlust an innerer Geschlossenheit sowie die Verhärtung politischer Fronten und der damit einhergehende ‚semantische Extremismus‘ in der Abwertung der Gegner sind in der Forschungsliteratur wiederholt thematisiert worden.96 In der Folge kam es dazu, dass die res publica zwar noch als positive Bezugsgröße erhalten blieb, aber zunehmend unklar wurde, was damit eigentlich konkret gemeint sein sollte, da sich konkurrierende, sogar offen gegeneinander kämpfende Gruppen jeweils auf sie beriefen. Jede Konfliktpartei stellte die Legitimität des Gegners in Zweifel, behauptete, gegen die dominatio feindlicher factiones zu kämpfen und erhob dabei den Anspruch, im Namen und zum Wohle der gesamten res publica zu handeln. Die Verabsolutierung von Partikularinteressen und die Vereinnahmung der res publica durch Einzelne waren zum ersten Mal in aller Konsequenz von den gegen Rom marschierenden Feldherren und Soldaten in praktisches Handeln umgesetzt worden. Diese Haltung war jedoch keineswegs auf sie beschränkt. Besonders klar wurde sie von Cicero ausformuliert: In einer Rede, die er Ende Februar 43 v. Chr. vor dem Senat hielt, erhob er die Rettung der res publica in den Rang eines göttlichen Gebots, das jedes Mittel rechtfertigte.97 Es sei nicht etwa illegal, sondern im Gegenteil lobenswert, wenn so herausragende Einzelne wie Marcus Brutus und Cassius, die sich eigenmächtig in den Besitz der Provinzen Macedonia beziehungsweise Syria und der dort stationierten Truppen gesetzt hatten, „sich […] selber Senat“ waren,98 also nicht erst irgendwelche Beschlüsse dieses Gremiums abwarteten, sondern sich direkt daran machten, das umzusetzen, was der Senat ohnehin beschlossen hätte. Schließlich war ja laut Cicero von vornherein klar, welches Handeln das einzig richtige, göttlich gewollte war; Diskussions- oder auch nur Beschlussbedarf bestand da keiner mehr. Wer mit Cicero nicht übereinstimmte, konnte nur ein Feind der res publica sein. Dabei darf selbstverständlich nicht außer Acht gelassen werden, dass Cicero diese Argumentation in einer bestimmten Situation vorbrachte, nämlich in jener Senatssitzung, in der er den Senat zur nachträglichen Legalisierung von Brutus’ und Cassius’ Vorgehen im Osten bringen wollte. Und es ist bezeichnend, dass er in einer 94 Raaflaub 1974, S. 239. 95 Siehe hierzu die Analyse von Meier 1997, S. 155 f. Die Desintegration der Republik hat auch Schmitthenner 1960, S. 3, konstatiert. 96 Siehe dazu jetzt den Sammelband Nebelin/Tiersch 2021. 97 Cic. Phil. 11,28. 98 Cic. Phil. 11,27 (Übers. Fuhrmann): sibi senatus fuit. Vgl. Vell. 2,62,3 (mit deutlich kritischer Konnotation).

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solchen Lage, in der man sich „mehr nach dem Gebot der Stunde […] als nach dem Herkommen“ richten müsse,99 zu denselben Argumenten griff, die auch ein Feldherr anwenden konnte, der seine Soldaten von der Notwendigkeit überzeugen wollte, auf Rom zu marschieren: Wer zur Rettung der res publica handelte, dem war jedes Mittel erlaubt. Politische Institutionen wie der Senat und politische Verfahren wie die Vergabe von Provinzkommanden und Imperien waren aus dieser Sicht zweitrangig; im Zweifel kam es auf beherzte Persönlichkeiten an, denen der Senat nun im Nachhinein das Vertrauen aussprechen und damit ihr eigenmächtiges Handeln legalisieren sollte. Diese Argumentationsfigur war so unabhängig von den konkreten Ausformungen der politischen Ordnung, auf deren Rettung sie sich bezog, dass sie problemlos von Oktavian übernommen werden konnte, als er sich im Krieg gegen Antonius als Vorkämpfer Italiens und Verteidiger der res publica inszenierte und die darauffolgende Etablierung seiner Alleinherrschaft als Rückgabe der Macht an Senat und Volk stilisierte.100 Diese Entwicklung markierte den Abschluss jener Legitimationskrise des politischen Systems, die gewissermaßen von den Rändern des Politischen in dessen Zentrum getragen worden war. Die gegen Rom marschierenden Feldherren und Soldaten hatten daran einen signifikanten Anteil gehabt; es waren ihre Vorstellungen und Selbstrechtfertigungen, die nun im politischen Zentrum aufgegriffen und nachgeahmt wurden. Die res publica war dabei zu einer zunehmend abstrakten Bezugsgröße geworden, in deren Namen und zu deren Rettung die etablierten Regeln gebrochen wurden.

Literaturverzeichnis Aigner 1974: Aigner, H.: Die Soldaten als Machtfaktor in der ausgehenden römischen Republik, Innsbruck 1974 (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft. Sonderheft 35). de Blois 1987: Blois, L. de: The Roman Army and Politics in the First Century Before Christ, Amsterdam 1987. Botermann 1968: Botermann, H.: Die Soldaten und die römische Politik in der Zeit von Caesars Tod bis zur Begründung des Zweiten Triumvirats, München 1968 (Zetemata 46). Brunt 1962: Brunt, P. A.: The Army and the Land in the Roman Revolution, in: The Journal of Roman Studies 52 (1962), S. 69–86. Christ 1979: Christ, K.: Krise und Untergang der römischen Republik, Darmstadt 1979. Degelmann 2018: Degelmann, C.: Squalor. Symbolisches Trauern in der Politischen Kommunikation der Römischen Republik und der Frühen Kaiserzeit, Stuttgart 2018 (Potsdamer altertumswissenschaftliche Beiträge 61).

99 Cic. Phil. 11,27 (Übers. Fuhrmann): omnium rerum temporibus potius parere quam moribus. 100 Erleichtert wurde diese Übernahme durch Cicero selbst, der dieselbe Argumentationsfigur nicht nur zur Rechtfertigung von Brutus’, sondern auch von Oktavians illegalen Heereswerbungen angewandt hatte: Cic. Phil. 3,5 und 3,14; vgl. die Ähnlichkeit der Formulierungen in R. Gest. div. Aug. 1,1 f. Diese Übereinstimmungen sind in der Forschung häufig thematisiert worden; vgl. etwa Gotter 1996, S. 19 f. Anm. 40, sowie Havener 2016, S. 179 f. mit weiteren Belegen.

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Apparitor fidus? Die Vertrauensfrage im Verhältnis zwischen Iulian und Constantius II. Ulrich Lambrecht 1. Vertrauensfragen Im Jahre 3561 fand, wie schon in den beiden Jahren zuvor, ein römischer Feldzug gegen die Alemannen statt, diesmal in Form eines Zangenangriffs von Westen und von Süden. Dabei wurden die von Westen vorrückenden Truppen durch die für Gallien zuständigen Heermeister Marcellus und Ursicinus2 befehligt, das in Raetien von Süden Richtung Schwarzwald aufmarschierende Heer vom Augustus Constantius II. persönlich.3 Der erkennbar nach größerem Handlungsspielraum drängende,4 zu dieser Zeit offiziell aber noch auf repräsentative Aufgaben beschränkte5 Caesar Iulian hatte bei dieser Kampagne keine aktive militärische Funktion. Als Iulian gegen Ende des Jahres im Winterquartier zu Senonae von einer großen Alemannenschar belagert wurde und von dem nicht allzu weit entfernten Heermeister Marcellus keinerlei Hilfe erhielt,6 mochte der Caesar darin eine Quittung für eigenmächtiges Verhalten sehen, das er sich in den Augen des Marcellus gegenüber ihm als dem von Constantius mit der militärischen Verantwortung für Gallien betrauten Heerführer geleistet hatte. Nachdem Marcellus daher im Winter an den Mailänder Hof 1 Alle Jahresangaben beziehen sich auf die nachchristliche Zeit; daher unterbleibt generell die Kennzeichnung „n. Chr.“. 2 Amm. 16,2,8. Zu Marcellus vgl. PLRE 1, 1971, S. 550 f. (Marcellus 3), zu Ursicinus PLRE 1, 1971, S. 985 f. (Ursicinus 2). Zur Herausbildung und Entwicklung des gallischen Heermeisteramtes, unmittelbar bevor und während Iulian als Caesar für die gallische Präfektur zuständig war, vgl. Demandt 1970, Sp. 574 f. 3 Amm. 16,12,15 f.; Iul. or. 2 [Bidez],129 c. Vgl. Barceló 1982, S. 30 f.; Lorenz 1997, S. 34–38; Rosen 2006, S. 139 f.; Drinkwater 2007, S. 219–223, der S. 221 f. die konzertierte Aktion bezweifelt und zwei voneinander unabhängige Unternehmungen postuliert; Maraval 2013, S. 138 f. 4 Das zeigt der wohl mit Constantius’ Einverständnis, aber ohne Heermeister unternommene Feldzug Iulians, der im September 356 Truppen rheinabwärts führte und Köln zurückgewann; vgl. Iul. ad Ath. 279 b; Amm. 16,3,1 f.; zur Sache Rosen 2006, S. 141; Maraval 2013, S. 138. Anders noch Rosen 1968, S. 80, der in der Rückeroberung Kölns das Verdienst der Heermeister Marcellus und Ursicinus sieht; dieser Sichtweise folgen Barceló 1982, S. 34, und ders. 2004, S. 131. 5 Iul. ad Ath. 278 a–b; 282 a–b; Amm. 16,5,3; Blockley 1972, S. 446 f.; Vogler 1979, S. 95; Rosen 2006, S. 137; Drinkwater 2007, S. 221; Heather 2020, S. 69, 76; anders Bowersock 1978, S. 36, dem Bringmann 2004, S. 53 f., 211 Anm. 46, folgt. 6 Amm. 16,4,1–3. Senonae (genannt Amm. 16,3,3 und 16,7,1.3) wird nicht nur in der älteren Literatur meist mit Sens identifiziert, von Nicolle 1978, S. 147–154, dagegen mit Senon bei Verdun; dieser Ansicht schließen sich unter anderem Lorenz 1997, S. 39 mit Anm. 107, und Rosen 2006, S. 141, an.

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gereist war, um Bericht zu erstatten und sich womöglich über Iulian zu beschweren, schickte ihm der Caesar seinen Kammerherrn Eutherius7 hinterher, der dem Kaiser die Version Iulians nahebringen sollte. Die heikle Aufgabe meisterte der Kämmerer Ammian zufolge höchst effizient, indem er versicherte, Iulian werde sich Constantius gegenüber lebenslang als apparitor fidus, treuer Gehilfe, verstehen.8 Diese Aussage scheint in den Worten Ammians mit der zwar unausgesprochenen, aber doch vorhandenen großen Dankbarkeit Iulians gegenüber demjenigen, der ihn in seine jetzige Stellung befördert hatte (auctori suo), verbunden zu sein.9 Für die Folgezeit vergab der Augustus den militärischen Oberbefehl in Gallien und damit die Weisungsbefugnis gegenüber dem neuen gallischen Heermeister Severus10 endlich an den Caesar selbst;11 Marcellus war zuvor entlassen worden.12 Es wirkt so, als habe die Rückeroberung Kölns und auch die ohne Hilfe von außen mit geringen Mitteln erfolgreiche Abwehr der Belagerung von Senonae durch die Barbaren das Vertrauen des Constantius in die inzwischen offensichtlich erprobte militärische Leistungskraft Iulians erhöht,13 zumal der Caesar sich seinerseits mit der ihm von Ammian zugelegten Bezeichnung eines stets folgsamen apparitor zu einem untergeordneten Treueverhältnis gegenüber dem ihm vorgesetzten Augustus zu 7 Vgl. PLRE 1, 1971, S. 314 f. (Eutherius 1), und Barnes 1998, S. 128. 8 Amm. 16,7,1–3, insbesondere 16,7,3 (Übers. Veh): „Denn obschon der General absichtlich, wie man glaubte, mit seiner Hilfe gezögert habe, habe doch der Cäsar tätig und wachsam während der Belagerung in Senonae lange Zeit die Barbaren zurückgeschlagen, und er werde zeitlebens seinem Gönner ein treuer Gehilfe sein.“ (magistro enim armorum [Marcello], ut credebatur, cessante consulto industria vigili Caesarem obsessum apud Senonas diu barbaros reppulisse apparitoremque fidum auctori suo, quoad vixerit, fore.). Vgl. dazu auch Matthews 1989, S. 93 f. 9 Die mit der Anwendung des Begriffes auctor verbundene Konnotation der pflichtschuldigen Dankbarkeit wird gerade auch darin deutlich, dass Constantius II. als auctor seiner beiden Caesares beschworen wird, als diese sich vom Augustus abzuwenden schienen; vgl. Amm. 14,1,1 über Gallus (Übers. Veh): „Denn die Verwandtschaft mit der kaiserlichen Familie und dazu noch die Ehre, damals den Namen Constantius führen zu dürfen, machten ihn derart übermütig, daß er bei größerer Macht wahrscheinlich sogar gegen den Urheber seines Glückes Feindseligkeiten gewagt hätte.“ [propinquitate enim regiae stirpis gentilitateque etiamtum Constantii nominis efferebatur in fastus, si plus valuisset, ausurus hostilia in auctorem suae felicitatis (ut videbatur).]; ferner Amm. 21,10,7 als Stellungnahme des römischen Senates zu einem Brief Iulians in der Phase des bereits vollzogenen Bruchs mit Constantius (Übers. Veh): „[D]enn wie aus einem Munde erscholl der allgemeine Ruf: ‚Wir bitten um Ehrfurcht gegenüber deinem Schöpfer.‘“ (exclamatum est enim in unum cunctorum sententia congruente „auctori tuo reverentiam rogamus“.); zu dieser Stelle Rosen 1969/1978, S. 422; Matthews 1989, S. 104; Szidat 1996, S. 110; Barceló 2004, S. 183; Bringmann 2004, S. 77; Lizzi Testa 2009, S. 92; Moser 2018, S. 310. – Zur Bedeutung des auctor für die hierarchische Ordnung im Herrscherkollegium vgl. Szidat 1997, S. 63–65. 10 Vgl. PLRE 1, 1971, S. 832 (Severus 8). 11 Iul. ad Ath. 278 d (Übers. Stöcklin-Kaldewey): „Nach all dem übergab mir Constantius […] zu Beginn des Frühlings das Kommando über die Truppen.“ (Ἐξ ὧν ὁ Κωνστάντιος […] δίδωσί μοι τῶν στρατοπέδων τὴν ἡγεμονίαν ἦρος ἀρχομένου); ferner Amm. 16,10,21–11,1. Vgl. auch Vogler 1979, S. 96, und Matthews 1989, S. 91. 12 Amm. 16,7,1; Iul. ad Ath. 278 b; Lib. or. 18,48. Zum Sachverhalt vgl. Selem 1971, S. 197–199. 13 Vgl. auch Müller-Seidel 1955, S. 228 f.

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bekennen schien. Ein bezeichnendes Licht fällt aber auf die Junktur apparitor fidus bei Ammian, als sich Iulian nach seiner Erhebung zum Augustus im Frühjahr 360 in der Phase der Verhandlungen mit Constantius zu der Aussage verstand: „[I]ch […] konnte als dein getreuer Diener (apparitor fidus) mit häufigen Nachrichten über glücklich abgelaufene Unternehmen dein Ohr erfreuen.“14 Dass dieses subalterne Treueverhältnis Iulians gegenüber Constantius II. nicht allein auf die Vergangenheit und die Stellung als Caesar zu beziehen ist, sondern auch auf die Projizierung der eigenen Zukunft als iunior Augustus, bekannte Iulian in dieser Situation nach Ammian unter Appellen an die bona fides des Kaisers15 mit den Worten, er werde den Anweisungen des Constantius auch weiterhin eifrig folgen.16 Bezeichnenderweise fällt das Bekenntnis zur Treue in beiden Fällen zu Zeitpunkten, in denen die Beteiligten Anlass zu der Sorge haben konnten, das Vertrauensverhältnis sei nachhaltig erschüttert. Im ersten Fall befürchtete Iulian, Marcellus werde ihn bei Constantius denunzieren und dieser womöglich eher dem seinerzeit von dem Augustus selbst eingesetzten Heermeister als dem Caesar Glauben schenken. Im zweiten Fall war er noch im Unklaren über Constantius’ Reaktion und befürchtete angesichts dessen Umgangs mit früheren Erhebungen negative Folgen.17 Daher sicherte er nach der Usurpation dem senior Augustus auf eine Weise seine Loyalität zu, die den um Anerkennung werbenden neuerhobenen iunior Augustus nur geringfügig über den bisherigen Caesar zu stellen schien. Zu diesem Eindruck trägt auch das einen Subalternbeamten bezeichnende Substantiv apparitor18 bei. Ammian veranschaulicht mit diesem Begriff die Ansicht des Constantius über das Verhältnis eines Caesars zu seinem Augustus,19 mit der der Augustus 14 Amm. 20,8,6 (Übers. Veh): currentium ex voto prosperitatum nuntiis crebris ut apparitor fidus tuas aures implevi. Ähnlich Iul. ad Ath. 280 d, wo Iulian an seine erprobte πίστις gegenüber Constantius erinnert und sein Verhältnis zu ihm in einen Vater-Sohn-Vergleich kleidet. Zu der hierin zum Ausdruck kommenden Hierarchie zwischen dem Augustus und dem Caesar vgl. auch Hartke 1951/1972, S. 167. Einen ähnlichen Vergleich [Übers. Veh: „wie wenn er [Constantius] einen Stiefsohn auf die hohe Schule schickte“ (Constantius ut privignum ad studia mittens)] wendet Amm. 16,5,3 ins Negative, indem er ihn mit den generösen Regularien in Zusammenhang bringt, die der Augustus seinem Caesar für den Aufwand bei Banketten zugestand und die diesen wegen seiner Bedürfnislosigkeit gar nicht interessierten; vgl. dazu Vogler 1979, S. 96 f. 15 Amm. 20,8,11. 16 Amm. 20,8,12: avide tua praecepta deinde quoque suscepturus. Ähnlich wiederum Iul. ad Ath. 281 b–c in Hinsicht auf die Phase der Verhandlungen mit Constantius nach der Erhebung zum Augustus und vor dem Entschluss zum Bürgerkrieg, indem Iulian auf Folgendes hinweist (Übers. Stöcklin-Kaldewey): „Aus dem, was ich geschrieben habe, könnt ihr erkennen, welche Dienstbereitschaft ich ihm sogar noch als Herrscher entgegenbrachte.“ (Σκοπεῖτε δὲ ὅπως καὶ γενόμενος αὐτοκράτωρ ἔτι θεραπευτικῶς αὐτῷ προσηνέχθην ἐξ ὧν ἐπέστειλα.). 17 Vgl. Amm. 20,8,2; auch unten Abschnitt 6 mit Anm. 182. 18 Vgl. Mommsen 1887/1963, S. 332–346. 19 Amm. 14,11,10 (Übers. Veh): „Er [Constantius] fügte diesem Hinweis ein Beispiel aus ziemlich junger Vergangenheit an, daß nämlich die Cäsaren dem Diokletian und seinem Mitkaiser als Helfer, nicht von einem festen Wohnsitz aus, sondern hin und her eilend, zu Diensten standen.“ (quibus subserebat [Constantius] non adeo vetus exemplum, quod Diocletiano et eius col-

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in Briefen an seinen Caesar Gallus seinerzeit das Ziel verfolgt hatte, den über die Stränge schlagenden, ihm nachgeordneten Mitkaiser zur Raison zu rufen. Auch den Caesar Iulian sah Constantius Ammian zufolge eher als einen zu Gehorsam verpflichteten Beamten, der über jeden seiner Schritte Rechenschaft abzulegen hatte,20 denn als wirklichen Mitkaiser an. Allerdings dürften zwischen der Rechtslage im Verhältnis der an der Kaiserherrschaft Beteiligten untereinander, die eine Mitregentschaft des Caesars vorsah, und den eigentlichen Beweggründen des Constantius für seine engmaschigen Aufsichtsbemühungen dem Caesar gegenüber sowie Iulians, diesen zu entgehen, deutliche Diskrepanzen bestanden haben.21 Hier mochten Auffassungsunterschiede zutage treten, die Misstrauen im Verhältnis beider zueinander aufkeimen ließen. Daher schien Iulian mit Ammians Worten vor und nach der eigenmächtigen Erhebung zum Augustus bei bestimmten Gelegenheiten mit Begriffen, die der Constantius unterstellten Auffassung entsprachen, Entgegenkommen signalisieren zu wollen, indem er sich selbst als apparitor bezeichnete und sich in dieser Funktion zur Treue des Untergebenen bekannte. Hierauf sollte Constantius, so die Erwartung, seinerseits mit Vertrauen in den Willen Iulians zur effizienten Zuarbeit im Sinne der politisch-militärischen Ziele des Kaisers oder sogar der als gemeinsam ausgegebenen, wenn auch vom Augustus formulierten Absichten reagieren. Dem Verhältnis zwischen Iulian und Constantius II. wirklich näherzukommen, setzt das – reichhaltige – Quellenmaterial enge Grenzen. Der Geschichtsschreiber Ammian favorisiert Iulian gegenüber Constantius,22 und auch ein Rhetor wie Libanius sympathisiert offen mit Iulian, ebenso wie der neuplatonische Philosoph Eunap, um nur einige Beispiele von Autoren zu nennen, die ihren Leser- und Hörerkreisen ein aus ihrer Sicht plausibles Bild vermitteln wollten. Zudem urteilt Iulian in seinem umfangreichen Œuvre höchst einseitig. Ferner sind die positiven Stellungnahmen zu Iulian oftmals durch religiöse Dispositionen vorgeprägt, denen Hoffnungen in die nach dem Bruch mit Constantius offenbar werdende Rückkehr Iulians zu den alten Göttern23 zugrunde lagen; genau umgekehrt wirkte das von christlichem Den-

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legae ut apparitores Caesares non resides, sed ultro citroque discurrentes obtemperabant.). Zur Rolle der Caesares in der Tetrarchie vgl. auch Blockley 1972, S. 455 f. Vgl. ferner Amm. 26,4,3 zum Subalternverhältnis des Valens gegenüber seinem auctor imperii Valentinian I. Amm. 17,11,1 (Übers. Veh): „[D]er Cäsar mußte ja wie ein niederer Beamter über alle Vorkommnisse an den Augustus Bericht erstatten“ (erat enim necesse tamquam apparitorem Caesarem super omnibus gestis ad Augusti referre scientiam). Vgl. auch Straub 1939/1964, S. 55–58. Auch wenn Ammian in seinem Gesamturteil Constantius II. partiell durchaus Gerechtigkeit widerfahren lässt; vgl. etwa Maier 2019, S. 106–125, zur Außenpolitik des Constantius bei Ammian. Ganz offensichtlich wurden Iulians Bruch mit dem Christentum und seine Hinwendung zu den alten Göttern erst seit dem Tod des Constantius. Rosen 1997 (zum Beispiel S. 129, 143–146) datiert daher die Apostasie Iulians in diesem Sinne konsequent in das zu Ende gehende Jahr 361 und nicht – gemäß den späteren Angaben Iulians (vgl. etwa Iul. epist. 111 [Bidez],434 d–435 a), denen die Literatur überwiegend folgt – als zunächst verheimlichte Abwendung vom Christentum ein Jahrzehnt zuvor; vgl. auch Rosen 2006, S. 205–207, 229–232; ferner Nesselrath 2013, S. 24–28. Vor November 361 datiert Bleckmann 2020, S. 121, die religiöse Wende Iulians und stellt in dessen Religionspolitik seit diesem Zeitpunkt eine zunehmende Aggressivität fest.

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ken beeinflusste Urteil über Iulian.24 Vergleichbaren Voraussetzungen unterliegt das Constantiusbild, vor allem seitens des nizänisch orientierten Christentums,25 aber gerade auch seitens der Iulianfreunde.26 Nicht selten folgen auch moderne Darstellungen den in den Quellen vorgeprägten Einschätzungen.27 Angesichts der naheliegenden Diskrepanz zwischen dem literarischen Diskurs und der historischen Realität scheint es schwierig, wenn nicht unmöglich zu sein, sich aus den im Dienste bestimmter Intentionen stehenden Quellen über das tatsächliche Verhältnis von Iulian und Constantius II. in den rund sieben Jahren zwischen 354, als Iulian mit der Hinrichtung seines Halbbruders Gallus in das Blickfeld des Mailänder Hofes geriet, und 361, als Constantius II. starb, ein angemessenes Bild zu machen. Dennoch soll dieser Versuch im Folgenden unternommen werden, indem aus heuristischen Gründen mit dem Aspekt des Vertrauens eine etische Kategorie zur Erleichterung einer sachgerechten Erschließung des verfügbaren Quellenmaterials verwendet wird. Das Auf und Ab der Ausformungen und Facetten des Vertrauens in verschiedenen Abstufungen erlaubt einen Blick auf die Entwicklung des Verhältnisses zwischen den beiden Cousins und lässt zugleich diejenigen Bereiche in den Vordergrund treten, die für die Ausbildung von Vertrauen ebenso wie für Vertrauensschwund und Vertrauenskrisen oder für Vertrauenssurrogate wie zum Beispiel Skepsis, Misstrauen und Kontrollmaßnahmen verantwortlich waren. So soll mit der Behandlung dieser Frage anhand eines Urteils über die verschiedenen Stadien des Vertrauens und Misstrauens auf bestimmten Feldern und hinsichtlich ihrer Entfaltung im zeitlichen Verlauf ungeachtet der interessegeleiteten Deformationen des Bildes, das die Quellen bieten, größere Klarheit über das Verhältnis zwischen Iulian und Constantius II. ermöglicht werden. Zu diesem Zweck wird vor allem auf diejenigen Quellen zurückgegriffen, die dieses Verhältnis vergleichsweise ausführlich behandeln: das Geschichtswerk Ammians und darüber hinaus in dem untersuchten Zeitraum von 354 bis 361 entstandene Texte Iulians, wie seine beiden Lobreden auf Constantius II., die gratiarum actio auf dessen Ehefrau Eusebia und der Brief an die Athener. Die Analyse von Vertrauensfragen28 ist ein relativ neues Thema in der Geschichtswissenschaft, insbesondere der Alten Geschichte.29 Die Erfassung dieses zur Ein24 Vgl. beispielsweise die Ausführungen bei Stenger 2009, Elm 2012, Teitler 2017 und van Nuffelen 2020. 25 Zugunsten eines unvoreingenommeneren Constantiusbildes zurechtgerückt bereits von Klein 1977. Vgl. auch Teitler 1992; Barceló 2004; ferner Flower 2013. 26 Vgl. beispielsweise Seiler 1998 zum Constantiusbild des Libanius und zu dessen Veränderungen. 27 Vgl. etwa das außerordentlich positive Iulianbild bei Bidez 1930 oder Athanassiadi 1992. Zur Iulianrezeption seit der Aufklärung vgl. Rosen 2006, S. 421–462; jetzt auch Rebenich 2020, S. 407–418. 28 An soziologischer Grundlagenliteratur zu dieser Thematik sind Luhmann 2014 (besonders S. 1–9 und S. 27–38 über Vertrauen als Mittel der Komplexitätsreduktion; S. 92–101 über Misstrauen als Vertrauensersatz oder -äquivalent) und Endreß 2002 sowie ders. 2010, vor allem S. 31 f. zu den Gründen für das Entstehen von Misstrauen, zu nennen. 29 Diese Diskussion wurde durch Timmer 2017 eröffnet und scheint nach und nach weitere Kreise zu ziehen; vgl. etwa Görne/Künzer 2019 und die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes.

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schätzung menschlicher Interaktionsverhältnisse wichtigen Phänomens wird dadurch erschwert, dass Vertrauen begrifflich oft nicht eigens thematisiert wird, sondern erst zur Sprache kommt, wenn es gefährdet ist.30 Daher reicht es keineswegs aus, Begriffen wie fides oder πίστις in den Quellen zu folgen, sondern es gilt der Funktionalität von Vertrauen und den Strukturen für die Herstellung und das Schwinden von Vertrauen nachzugehen, gerade wenn es nicht direkt angesprochen wird. Nur so erscheint es möglich, mit Hilfe der Kategorie des Vertrauens und dessen graduellen Abstufungen in der Vertrauensgenese und Vertrauenserosion konkret das Verhältnis zwischen Iulian und Constantius II. und die es beeinflussenden Faktoren über die letzten sieben Lebensjahre des Constantius sachgerecht zu erfassen. Dabei sollen das Vertrauen und seine Äquivalente Skepsis, Misstrauen und Kontrolle nicht als einander ausschließend gegenübergestellt werden; vielmehr muss man immer wieder damit rechnen, dass das Verhalten der Beteiligten je nach Situation und Reaktion zwischen Vertrauen auf der einen und Kontrolle, Skepsis, Misstrauen auf der anderen Seite in unterschiedlichen Stufen und Anteilen oszilliert. Vertrauen wird also durch andere, zusätzliche Ressourcen abgesichert, um wahrgenommenes Störpotential im Verhältnis zwischen den Beteiligten abzufedern und auf diese Weise zu gewährleisten, dass ein Verhältnis, auf das es ankommt, stabil funktioniert. Dabei wird bewusst von den denkbaren Vertrauensfacetten im Verhältnis zwischen Constantius II. und Iulian ausgegangen, um dieses von einer eher ungewohnten Seite zu beleuchten. So soll verhindert werden, durch allzu rasches Einlenken auf überkommene Denkmuster nur vorgeprägte Erwartungshorizonte zu bedienen. Vielmehr gilt es auch hier Elementen des Vertrauens nachzuspüren, ohne diesen von vornherein zugunsten eines alles dominierenden Misstrauens den Boden zu entziehen. Im Sinne einer solcherart sachgerechten Untersuchung des Verhältnisses zwischen Iulian und Constantius II. sollen verschiedene Themenkreise zur Sprache kommen, und zwar unter speziellen Aspekten, die nähere Auskunft über genau diese Fragen versprechen: Ȥ zunächst die Erhebung Iulians zum Caesar durch Constantius II. und die damit verbundenen Erwartungen beider Beteiligter (Abschnitt 2), Ȥ anschließend die Versuche der Einflussnahme von Personen am Hof vor und im Gefolge der Caesarerhebung Iulians sowie, damit verbunden, die Rollen des Kaisers Constantius und seiner Ehefrau Eusebia im höfischen Beziehungsgeflecht und in ihrer Haltung gegenüber Iulian (Abschnitt 3), Ȥ sodann die Maßnahmen des Constantius zur Ausstattung Iulians mit Führungspersonal für die gallische Präfektur und die militärische Unterstützung des Augustus für Iulian zur erfolgreichen Absicherung der Rheingrenze (Abschnitt 4), Ȥ ferner die Haltung Iulians zu seinen Aufgaben in Gallien und zu Constantius II., wie sie beispielsweise auch in den Lobreden des Caesars auf Constantius und auf Eusebia zum Ausdruck kommt, sowie deren Veränderungen (Abschnitt 5), Ȥ und schließlich Iulians Erhebung zum Augustus, die daran anschließenden Verhandlungen mit Constantius und deren Folgen (Abschnitt 6). 30 Timmer 2017, S. 23 f.

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Anhand dieses Untersuchungsspektrums ergeben sich hinreichend genaue Aufschlüsse über das Verhältnis zwischen Iulian und Constantius  II. und dessen Entwicklung im untersuchten Zeitraum: Sie vermitteln Einsichten in potentielle Keime des Misstrauens im gegenseitigen Verhältnis, die die Genese von Vertrauen erschwerten, genauso wie in vertrauensbildende Maßnahmen beider Seiten, die die Bedeutung des Misstrauens und anderer Vertrauenssurrogate zeitweise zu relativieren – oder aber in ein besonderes Licht zu tauchen – vermochten, bis die völlige Vertrauenserosion mit und nach Iulians Erhebung zum Augustus nicht mehr aufzuhalten war. In einem weiteren Schritt wird anhand der chronologischen Entwicklung des Vertrauensverhältnisses zwischen Iulian und Constantius überlegt, wie Iulian dazu kam, sein Vertrauen dem Kaiser zu entziehen und einer anderen Instanz zuzuwenden (Abschnitt 7).

2. Iulians Erhebung zum Caesar Am 6. November 355 erhob Constantius II. seinen rund 15 Jahre jüngeren Cousin Iulian zum Caesar.31 In seiner Ansprache vor den versammelten Soldaten bei Ammian32 wirbt Constantius um Vertrauen für den ausgewählten neuen Mitkaiser; zugleich sucht er auf diese Weise eine Brücke des Vertrauens zu Iulian selbst zu errichten in der Erwartung, dass die Soldaten auf seinen Wunsch eingehen und ihm zustimmen. Er hebt das Band der Verwandtschaft,33 die Bescheidenheit34 ebenso wie die bemerkenswerte Energie35 und die herausragende – allerdings auf die Wissenschaften bezogene – Begabung des Kandidaten36 als seine Gründe für die Erhebung Iulians zum Caesar hervor. Dass dieser über keinerlei militärische Ausbildung verfügt, verschweigt Constantius, denn dieser Umstand müsste seine mit anderen Argumenten gespeisten Bemühungen um Vertrauen in diesen Vorschlag bei den Soldaten erheblich relativieren, auch wenn sie dies gewusst haben dürften. Nach der Zustimmung der Truppen und der Investitur Iulians folgte Constantius’ Ansprache 31 Zur Erhebung eines Kaisers im vierten Jahrhundert vgl. Straub 1939/1964, S. 7–75; stark formalisiert bei Kolb 2001, S. 93–99. Zur Caesarerhebung Iulians Rosen 2006, S. 133 f. 32 Amm. 15,8,5–8.10. 33 Durch die bei Amm. 15,8,8 (Übers. Veh, zweites Zitat leicht verändert) Constantius in den Mund gelegte Bezeichnung als „[d]iesen meinen Vetter“ (hunc fratrem meum patruelem) und die Wendung „den uns […] seine nahe Verwandtschaft lieb und wert macht“ (nobis […] necessitu­dine carus est). 34 Amm. 15,8,8: verecundia; Amm. 15,8,10: temperati mores. 35 Amm. 15,8,8: elucentis industriae iuvenem; Amm. 15,8,10: adolescens vigoris tranquilli. 36 Amm. 15,8,10 (Übers. Veh): „[s]ein in den Wissenschaften und Künsten ausgebildetes, vorzügliches Talent“ (cuius praeclaram indolem bonis artibus institutam). Dieser Gesichtspunkt wird auch von Lib. or. 18,31 f. als Grund für das Vertrauen des Constantius in Iulian angeführt (Übers. Fatouros/Krischer): „sein Umgang mit der Philosophie flößte sogar jenem Manne, der ihm das größte Unrecht angetan hatte, Vertrauen ein. […] Diese Berufung enttäuschte die Erwartungen des Kaisers nicht.“ (ἐξ αὐτοῦ τοῦ φιλοσοφεῖν παρέχων θαρρεῖν τῷ πλείστα ἠδικηκότι [Κωνσταντίῳ]. […] ὁ μὲν [Κωνστάντιος] οὖν καλῶν οὐ κακῶς ἤλπιζε.).

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an den neuen Caesar,37 die der Augustus dazu nutzte, das Band des Vertrauens jetzt direkt auf die Führungsaufgaben im römischen Reich und damit auf das Verhältnis zwischen ihm und Iulian zu beziehen. Die Verwandtschaft stellt er als erstes Argument in den Vordergrund38 und entfaltet von diesem Gedanken aus die Aufgaben des neuernannten Caesars, für die dieser auf ihn selbst, Constantius, als verlässlichen Partner zählen könne. Um die Wertschätzung Iulians zu unterstreichen und ihn das entgegengebrachte Vertrauen auch spüren zu lassen, gleicht der Redner in seiner Ansprache die Machtstellung des Caesars an die eigene an und hebt hervor: Mein Ruhm ist dadurch, wie ich offen bekenne, noch gestiegen; denn indem ich einem vornehmen Verwandten fast gleiche Herrschgewalt übertrage (in deferenda suppari potestate), scheine ich mit besserem Recht als durch den bisherigen Machtbesitz erhöht. So stehe mir denn von jetzt an als Gefährte in Mühen und Gefahren zur Seite!39

Dem entspricht gegen Ende der Ansprache Constantius’ Blick in die Zukunft: Zueinander (vicissim) stehen werden wir in starker und standhafter Zuneigung und gemeinsam (simul) kämpfen, um den befriedeten Erdkreis […] zusammen (una) mit gleicher (pari) Mäßigung und Verantwortung zu regieren.40

Diesen Worten zufolge ergibt sich aus „fast gleicher Herrschgewalt“ (suppari potestate), einer Redewendung, die den Unterschied zwischen dem Augustus und dem Caesar nicht ganz, aber beinahe einebnet, eine gleichberechtigte Teilhabe (particeps) an Mühen und Gefahren, also „gemeinsam [zu] kämpfen“, und die Vision, „zusammen“ die Welt zu lenken. Mit diesen Hinweisen auf sozusagen fast ebenbürtige Verantwortung für das Wohl des Reiches bei kaum vorhandenen Unterschieden in der Machtstellung appelliert Constantius öffentlich an die Soldaten, Iulian als Caesar vertrauensvoll zu akzeptieren, sowie an Iulian, sich den bevorstehenden Aufgaben in der ihm als Amtsbereich zugewiesenen gallischen Präfektur zu stellen und gleichzeitig in Constantius den jederzeit zuverlässigen Partner zu sehen. So wird der Eindruck wechselseitigen Aufeinanderangewiesenseins erweckt, der im Interesse der beschworenen allgemeinen gemeinsamen Ziele mit gegenseitigem Vertrauen gepaart ist, das insbesondere Iulian befähigen soll, seine neuen 37 Amm. 15,8,12–14. 38 Amm. 15,8,12 (Übers. Veh): „mein allerliebster Bruder“ (amantissime mihi omnium frater) und „einem vornehmen Verwandten“ (nobilitati mihi propinquae). Vgl. auch Ammians Einleitung zu dieser Rede (Amm. 15,8,11) mit dem Hinweis auf die Investitur (Übers. Veh): „legte er […] Julian den ererbten Purpur um“ (indutum avita purpura Iulianum). 39 Amm. 15,8,12 (Übers. Veh): aucta gloria mea, confiteor, qui iustius in deferenda suppari potestate nobilitati mihi propinquae quam ipsa potestate videor esse sublimis. Adesto igitur laborum periculorumque particeps. 40 Amm. 15,8,14 (eigene Übers.): aderimus nobis vicissim amoris robusta constantia, militabimus simul, una orbem pacatum […] pari moderatione pietateque recturi.

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Aufgaben zuversichtlich anzugehen – auf die er im Übrigen überhaupt nicht vorbereitet war. Dass sich die Soldaten aber trotz dieser Worte des Rangunterschiedes zwischen dem Augustus und dem Caesar sehr wohl bewusst waren, zeigten sie Ammian zufolge durch ihren angemessenen, nicht übertriebenen Beifall.41 Das versammelte Militär fasste, so kann man resümieren, ein gewisses Vertrauen in die Maßnahme des Constantius und damit in Iulian, war sich aber, so scheint es, der Grenzen bewusst, die der Augustus durch seine Ausdrucksweise im Interesse seiner Ziele, ein zuversichtliches Bild zu entwerfen, klar überschritten hatte. Erst recht skeptisch war Iulian, wenn er sich den Wünschen seines Cousins als „still und ernst in sich gekehrte[r]“42 nunmehriger Caesar zwar fügte, sich am Ende mit einem ihm von Ammian in den Mund gelegten Homerzitat aber auch die damit für ihn selbst verbundenen Gefahren bewusst machte.43 Die Reden, die Constantius II. bei Ammian anlässlich der Caesarerhebung Iulians hielt, können als – aus utilitaristischen Gründen manches beschönigende – Werbung um Vertrauen gegenüber der Öffentlichkeit, hier den Soldaten, und gegenüber Iulian verstanden werden. Das damit verbundene Ziel erreichte der Kaiser zwar, allerdings nicht einschränkungslos, weil er ein zu optimistisches Bild von der Samtherrschaft zweier Kaiser entwarf, zwischen denen in Wirklichkeit klare Rangunterschiede bestanden, und weil er verschweigen musste, dass Iulian auf seine militärischen Aufgaben in Gallien keineswegs vorbereitet war. Im späteren Blick zurück unterstrich Iulian selbst im Jahre 361 die skeptische Sicht auf die ihm bevorstehenden Aufgaben, indem er für die Zeit nach der Erhebung zum Caesar – völlig negativ – urteilte: „Die damit verbundene Knechtschaft aber und die Furcht, die entsprechend jeden Tag über Seele hing, bei Herakles, wie gross und wie war sie!“44 Damit negierte er ex eventu, dass er je Vertrauen in Constantius gefasst hätte. Es wird noch zu überprüfen sein, ob das wirklich richtig ist. Angelegt ist dieses mangelnde Vertrauen auch schon in der Reaktion Iulians auf die Caesarerhebung im Bericht Ammians, der natürlich ebenso im Wissen um die spätere Entwicklung formuliert ist. Allerdings fasst der Geschichtsschreiber Iulians Skepsis in weit vorsichtigere Worte, die nicht von vornherein auf eine gänzlich einseitige Interpretation ausgerichtet sind, der zufolge Constantius seinem Cousin mit der Rangerhöhung nach dem Leben getrachtet hätte, sondern auch andere Konnotationen zulassen. 41 Amm. 15,8,16 (Übers. Veh): „Und damit man dem Ranghöheren die nötige Achtung erwies, überstieg der Beifall für den Cäsar nicht das gebührende Maß und blieb auch nicht darunter.“ (eumque, ut potiori reverentia servaretur, nec supra modum laudabant nec infra, quam decebat.). Vgl. auch Rosen 2006, S. 133. 42 Amm. 15,8,11 (Übers. Veh): contractiore vultu submaestum. 43 Hom. Il. 5,83, zitiert bei Amm. 15,8,17 (Übers. Veh): „Purpurner Tod umfaßt ihn sodann und das mächtige Schicksal.“ (ἔλλαβε πορφύρεος θάνατος καὶ μοῖρα κραταιή.). 44 Iul. ad Ath. 277 a–b (Übers. Stöcklin-Kaldewey): ἡ δὲ ἐπὶ τούτῳ δουλεία καὶ τὸ καθ᾿ ἑκάστην ἡμέραν ὑπὲρ αὐτῆς τῆς ψυχῆς ἐπικρεμάμενον δέος, Ἡράκλεις, ὅσον καὶ οἷον; Vergleichbar urteilt Lib. or. 18,32 (Übers. Fatouros/Krischer): „Julian aber konnte durch nichts überzeugt werden, daß diese Ehre nicht auf einen hinterlistigen Anschlag hinauslaufen werde.” (τὸν δὲ [Ἰουλιανὸν] οὐδὲν ἦν ὃ πιστεύειν ἔπειθεν ὡς οὐκ εἰς ἐπιβουλὴν ἡ τιμὴ τελευτήσει.). Vgl. auch Iul. ad Ath. 273 c; dazu Caltabiano 1974, S. 127 f.

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In den folgenden Ausführungen über Iulians Aufbruch nach Gallien und seinen Einzug in Vienne45 weist Ammian auf die Diskrepanz zwischen den düsteren Empfindungen des Caesars und der gelösten Stimmung in der gallorömischen Bevölkerung hin, die ihm vertraute und in ihm einen Hoffnungsträger für „Rettung aus allgemeiner Trübsal“46 sah. Die Gefühlslage Iulians resultierte aus den deprimierenden Nachrichten von der Eroberung Kölns durch die Franken, mit der er erst nach seinem Aufbruch konfrontiert worden war, und verstärkte seine Befürchtung, er werde als Caesar wohl nur den Tod finden.47 Damit unterstreicht Ammian den Eindruck, dass Constantius’ vertrauensbildende Maßnahmen bei Iulian selbst nicht gefruchtet zu haben scheinen. Stattdessen steht unausgesprochen der Vorwurf des Vertrauensbruchs im Raum, weil Iulian nicht rechtzeitig vor der Erhebung zum Caesar über die wahre Gefahrenlage in Gallien informiert worden sei. Zugleich zeigt sich aber auch ein anderer Faktor, der den Gedanken an Constantius’ Absichten etwas in den Hintergrund treten lässt: die Hoffnungen und das Vertrauen einer gebeutelten Bevölkerung, die energisches Durchgreifen erwartete, allerdings nicht wusste, dass Iulian militärisch völlig unerfahren war, seinen Aufgaben also kaum würde gerecht werden können. Dennoch klingt hier bereits ein Thema an, das Ammian im Laufe der militärischen Bewährung Iulians in Gallien zu einem wichtigen Motiv für dessen engagierten Einsatz als Caesar48 ausgestaltet: die angemessene Behandlung der Einwohner seines Zuständigkeitsbereichs und der hier tätigen Soldaten und damit eine Vertrauensbildung diesen Kreisen gegenüber – eine Verantwortungsbewusstsein zeigende Identifikation mit seinen Aufgaben also, die zugleich auf sein Selbstvertrauen positiv einwirkte. Ammians Andeutungen und Ausführungen zu diesem Themenkomplex scheinen zugleich eine Misstrauenserklärung Iulians gegenüber Constantius II. zu enthalten, der, so der Eindruck, seinen Caesar geradezu in eine Falle gelockt hatte, aus der er sich nur durch eigene Leistung würde befreien können. Mit diesem Gedanken legt Ammian nahe, dass die Person des Constantius als Problem für Iulian zugunsten der ihm bevorstehenden Aufgaben etwas in den Hintergrund rückte. So aber hätte Constan­tius durch seine Versuche, das Vertrauen Iulians zu gewinnen, sein vordringlichstes Ziel erreicht, auch ohne dass dieser, wie es hier den Anschein hat, dem Augustus wirklich vertraute; denn Iulian stellte sich – wenn auch Ammian zufolge aus anderen Motiven als denjenigen, die Constantius in seinen Ansprachen an das Heer und an Iulian nahelegte – den Aufgaben, die in Gallien auf ihn zukamen. Das war es schließlich, 45 Amm. 15,8,18–22. 46 Amm. 15,8,21 (Übers. Veh): communiumque remedium aerumnarum. 47 Amm. 15,8,19 f. Vgl. auch Amm. 16,11,13 (hier als umlaufendes Gerücht über das mit der Caesarerhebung Iulians verfolgte Ziel des Constantius gekennzeichnet); Lib. or. 18,37; ferner Amm. 20,4,8 (Überlegungen Iulians im Brief an den Prätoriumspräfekten Florentius angesichts der Anforderung gallischer Truppenkontingente durch Constantius für den Perserkrieg; zu Iulians damit verbundenen Vorstellungen der verletzten Ehre vgl. den Boeft u. a. 1987, S. 71 f.). Vgl. ferner Iul. ad Ath. 274 d–275 a sowie Amm. 17,1,14 und 17,3,2. Zu der Aussicht, Iulian solle in Gallien zu Tode kommen, vgl. auch Rosen 2006, S. 138. 48 Vgl. auch ebd., S. 135.

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was Constantius in erster Linie von seinem Cousin erwartete, wenn er bei ihm mit seinen – aus der Sicht Iulians falschen? – Mitteln um Vertrauen warb, etwa indem er vor dem Hintergrund der Bedrohung Galliens durch Barbaren von jenseits des Rheins eine Samtherrschaft durch einander verwandtschaftlich Verpflichtete entwarf. Er benötigte seinen Cousin einfach als Caesar für den Westen, um sich selbst auf Dauer erfolgreich um andere Gefahrenherde kümmern zu können, um also den Rücken frei zu haben und nicht länger mit Usurpationen im Westen rechnen zu müssen.49 Zu diesem Zweck warb er vor den Soldaten, indem er Iulian als seinem Verwandten und angesichts der charakterlichen und intellektuellen Anlagen seines Cousins im Interesse prätendierter gemeinsamer Führung des römischen Reiches zwar Vertrauen zu schenken schien, in Wirklichkeit aber – natürlich unausgesprochen – die Kontrolle über das Gesamtreich nicht aus der Hand geben wollte, indem er von seinem Caesar die Treue des nachgeordneten Befehlsempfängers50 erwartete. So arbeitete Constantius II. in dieser Hinsicht von vornherein mit einem Vertrauenssurrogat, nämlich der Absicht engmaschiger Kontrolle des ihm untergebenen Caesars. Daher konnten sich auf die Dauer wohl auch Ansätze zu Streitigkeiten ergeben, obwohl Constantius gewiss ganz sachliche Gründe bewogen hatten,51 Iulian zum Caesar zu erheben. Die denkbaren Diskrepanzen lagen in den nicht genau zueinander passenden Motiven beider Beteiligter begründet, wie sie Ammian erkennen lässt, und zwar an einer verwandtschaftsbezogenen und herrschaftsbetonenden Vertrauenswerbung des Constantius, die bei Iulian den Gedanken an die gemeinsame Abkunft aus der constantinischen Dynastie und die in Aussicht stehende Herrschaftsbeteiligung nicht ganz ohne Grund mit Assoziationen persönlicher Lebensgefahr verknüpfen mochte. Bei beiden Cousins spielten aber zugleich Überlegungen eine Rolle, die die prekäre Lage in Gallien in Rechnung stellten, beim Augustus, weil er zielgerichtet dachte und sie mit einem geeigneten Helfer bewältigen wollte, beim Caesar, weil er nicht wusste, ob er dieser Aufgabe wirklich gewachsen war. Ganz widersprüchliche Vorstellungen spielten daher in diese Erhebung zum Caesar hinein, bei Iulian und ebenso bei Constantius. Eine wirklich gemeinsame Vertrauensbasis schien aber so – noch? – nicht hergestellt zu sein, zumindest wenn man sich auf Ammians Darstellung einlässt.

3. Das Beziehungsgeflecht am Hof Um den Widerspruch aufzulösen, der in der offenkundigen Diskrepanz zwischen der Vertrauenswerbung seitens des Constantius und der ausbleibenden Gewährung von Vertrauen durch Iulian liegt, ist es zunächst nötig, sich zu vergegenwärtigen, unter welchen Umständen Iulian im Jahre 354 die Aufmerksamkeit des Mailänder Kaiser49 Vgl. auch Barceló 2004, S. 120. 50 In diesem Sinne bezeichnet fides bei Ammian fast ausschließlich das Treueverhältnis des Untergeordneten gegenüber seinem Vorgesetzten. Die Beziehung Iulians zu Constantius II. bildet dabei keineswegs eine Ausnahme. Vgl. hierzu auch Brandt 1999, S. 229–236, besonders S. 233 f. 51 Vgl. Constantius’ einschlägige Hinweise in seinen Ansprachen an das Heer und an Iulian bei Amm. 15,8,6 f.13 f.

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hofes auf sich zog und im Jahr darauf die Entscheidung heranreifte, ihn zum Caesar zu erheben.52 Infolge der Hinrichtung seines Halbbruders Gallus geriet auch Iulian unter Verdacht und in das Visier der Verfolger, die jetzt mögliche Mitverschwörer suchten und ihnen den Prozess wegen Hochverrats machen wollten. Daher wurde Iulian aus dem Osten nach Italien bestellt und fühlte sich, am Hof angekommen, den hier wirksamen Kräften institutionalisierter und informeller Macht wehrlos ausgeliefert. Das Gefühl der Unsicherheit und damit fehlenden Vertrauens musste für ihn umso größer sein, als er die Verhältnisse am Hof nicht recht einzuschätzen wusste und man ihn warten ließ, wohl ohne dass er wirklich Zugang zu Informationen hatte.53 Ammian spricht von Verleumdungen gegen Iulian, die die Runde machten, und von Versuchen bestimmter Kreise, zu seinen Ungunsten durch Schmeicheleien auf Kaiser Constantius einzuwirken.54 Die damit einhergehenden negativen Werturteile Ammians, also eines außenstehenden Beobachters, beruhen auf dem bewusst erweckten Eindruck vom unberechenbaren und möglicherweise folgenschweren Wirken einer undurchschaubaren Hofkamarilla, gegen die man sich kaum zur Wehr setzen konnte und die somit der Entstehung von Vertrauen diametral entgegenwirkte. Um die Funktionsweise dieser Umtriebe auf eine sachliche Grundlage zu stellen, ist es nötig, sich den Prozess der Meinungsbildung am Hof und die Wirkungsweise des Einflusses möglicher Meinungsmacher – neutral ausgedrückt, Berater –, vor allem auf Kaiser Constantius II., zu vergegenwärtigen. Den Versuchen von Einzelpersonen oder Gruppen am Hof, den Kaiser zu beeinflussen, liegt die Konkurrenz ziviler und militärischer Amtsinhaber sowie des Hofpersonals, ja des ganzen kaiserlichen Berater- und Mitarbeiterstabs, in ihren Bemühungen zugrunde, sich das Gehör und damit die Gunst des Kaisers zu verschaffen und, unabhängig vom gesellschaftlichen Rang, auf diese Weise durch Prestigegewinn andere zu übertreffen oder sie gar – zum Beispiel durch Denunziation – auszubooten.55 Zugleich war dieser Wettbewerb um die Gunst des Kaisers für den Herrscher als die Entscheidungen treffende Instanz ein probates Mittel, gegenüber Einzelpersonen oder Gruppen, die um Einfluss rangen, die eigene Macht abzusichern, indem er gezielt seine Gunst und damit Signale des Vertrauens in verschiedene Richtungen streute. Deren Empfänger ließ er damit überdies absichtsvoll im Ungewissen über die Frage, 52 Zu den Ereignissen von Herbst 354 bis Herbst 355 vgl. die Darstellung bei Rosen 2006, S. 112– 116, 120 f., 130–133. 53 Vgl. auch Drinkwater 1983, S. 369 f. Es verbieten sich hierbei allerdings die Rückschlüsse Drinkwaters auf Iulians innere Verfassung anhand von Inhalten des Briefes an die Athener, der aus der Sicht des Jahres 361 im Rückblick Verhältnisse konstruiert, die 355 ganz und gar nicht gegeben gewesen sein müssen. 54 Amm. 15,2,7 (Übers. Veh): „Darauf wandten sich die ränkevollen Beschuldigungen gegen Julian […], der eben erst an den Kaiserhof entboten worden war.“ (Indeque ad Iulianum recens perductum calumniarum vertitur machina […].); 15,2,8 (Übers. Veh): „wäre er doch dem Andrang eines widerlichen Haufens von Schmeichlern erlegen“ (nefando assentatorum coetu perisset urgente); 15,8,2 (Übers. Veh): „jene gelernten Erzschmeichler“ (illi in assentationem nimiam eruditi). 55 Hierzu grundsätzlich Künzer 2016, S. 47–96; speziell zur Konkurrenz um Kaisernähe am römischen Hof des vierten Jahrhunderts dies. 2020. Vgl. ferner Rollinger 2020, S. 36–41.

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ob die Wertschätzung auf Dauer gegründet sei, so dass die Konkurrenz unter den Höflingen und Amtsinhabern fortbestand.56 Aus diesem Verhalten des Kaisers kann man bei Ammian speziell für Constantius den sachlich gewiss nicht ganz gerechtfertigten Eindruck gewinnen, dieser Herrscher sei generell überheblich, gegen entdeckte Feinde unerbittlich, in seinen Entscheidungen zögerlich und gegenüber den Höflingen hörig.57 Neutral betrachtet, mag man darin aber ebenso eine bewusste Strategie des Constantius sehen können, seine Herrschaft optimal abzusichern. In dieses Beziehungsgeflecht am Hof trat nun Iulian ein – und musste warten, ohne über die Meinungsbildung auf dem Laufenden gehalten zu werden und deren Ausgang abschätzen zu können. Im Geschichtswerk Ammians anonym bleibende Neider und Verleumder schienen gegen ihn aufzutreten, um sich so bei Constantius Einfluss zu verschaffen.58 Sie knüpften an die plausibel zu vermittelnden Beziehungen zwischen den Halbbrüdern Gallus und Iulian an, um nach der Hinrichtung des Älteren, in der man das Ergebnis eines fehlgeschlagenen Experiments mit einem Caesar sehen konnte, jetzt den Jüngeren der beiden zu diskreditieren. Diese Vorgehensweise am Hof ist gut nachvollziehbar, trat mit Iulian doch eine Person auf, die, sobald sie das Vertrauen des Constantius gewann, das bisherige Macht- und Beziehungsgeflecht am Hof durcheinanderbrachte. Aufgrund der verwandtschaftlichen Nähe zum Kaiser und erst recht, wenn diese Person für den Posten eines Caesars ausersehen werden sollte, überholte sie hinsichtlich der besonderen Beziehungen zu Constantius im Einfluss am Hof alle anderen und übertraf bei weitem diejenigen, die sich bisher im Wettbewerb um die Gunst des Kaisers gegenseitig auszustechen suchten. Infolgedessen wäre es unumgänglich, dieses Konkurrenzsystem im Falle der Herstellung einer Vertrauensbasis zwischen Constantius und Iulian mit unkalkulierbaren Folgen für alle, die hier schon länger im Wettstreit miteinander um die Gunst des Kaisers standen, völlig neu auszutarieren.59 Das Vertrauen in die gewohnte Funktionsweise dieses Systems wäre durch Iulian als Störfaktor also erschüttert und müsste unter veränderten Voraussetzungen mit großem Aufwand und unkalkulierbaren Ergebnissen neu aufgebaut werden. Einer solchen Notwendigkeit suchten einzelne Höflinge durch das planvolle Streuen von Misstrauen entgegenzuwirken, um einen potentiellen Konkurrenten, gegen den man Gefahr lief, im Falle der Herstellung einer tragfähigen Vertrauensbasis zu Constantius den Kürzeren zu ziehen, gar nicht erst aufkommen zu lassen. In dieser unübersichtlichen Situation ergriff Constantius’ Ehefrau Eusebia60 die Initiative, so schien es, und warb um das Vertrauen Iulians und zugleich bei anderen Instanzen, vor allem bei ihrem Ehemann, um Vertrauen für Iulian.61 Im Beziehungs56 57 58 59 60 61

Künzer 2020, S. 19 f. (mit weiterer Literatur) und S. 31 f. Vgl. beispielsweise Amm. 14,5,1–5; 15,1,3; 15,8,1.3; 16,12,68 f.; 21,16,16. Amm. 15,2,7 f. und 15,8,2. Vgl. Künzer 2020, S. 18. Vgl. PLRE 1, 1971, S. 300 f. Amm. 15,2,8 und 15,8,3. Unter anderer Fragestellung – im Spannungsfeld von Matronage und Konkurrenz – wird das Eintreten Eusebias zugunsten Iulians untersucht von Wieber-Scariot 1998, S. 104–114; ähnlich dies. 1999, S. 209–231.

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geflecht am Hof hatte es Eusebia als Tochter des im Reichsdienst bis zum Konsul aufgestiegenen Eusebius, die noch keinen potentiellen Thronfolger zur Welt gebracht hatte, nicht leicht, ihren Platz zu behaupten. Nun nutzte sie die Gelegenheit, die eigene Kaisernähe so auszuspielen, dass die Wettbewerber um die Gunst des Herrschers, dessen berufene und unberufene Berater, darunter wohl vor allem der praepositus sacri cubiculi Eusebius,62 im Falle Iulians das Nachsehen hatten. Sieht man von dieser Einordnung Eusebias in das Konkurrenzsystem am Hof ab, so ist darüber hinaus und vor allem damit zu rechnen, dass Eusebias Vorgehen in dem Bemühen, Iulians Vertrauen zu gewinnen, mit ihrem Ehemann sehr wohl abgesprochen war:63 Constantius musste wegen der Septembermorde von 337 und der Hinrichtung des Gallus gegen Ende 354 damit rechnen, dass es ihm schwerfallen würde, selbst eine tragfähige Vertrauensbasis zu Iulian aufzubauen, und bediente sich geschickt der Vermittlung seiner Ehefrau, die nebenbei daraus den Vorteil zog, ihrer eigenen informellen Macht am Hof ein schärferes Profil zu verleihen. Eusebia konnte unvoreingenommen und unverdächtig einen Kontakt zu Iulian aufbauen und so grund62 Vgl. PLRE 1, 1971, S. 302 f. (Eusebius 11). Sein Name fällt in diesem Zusammenhang bei Ammian nicht; allerdings weist Iulian selbst auf das für ihn nachteilige Einwirken des Oberkämmerers auf Kaiser Constantius in dieser Zeit hin; vgl. Iul. ad Ath. 274 a–b, eine Passage, die mit Iulians Worten ein bezeichnendes Licht auf die Konkurrenz um das Vertrauen des Kaisers wirft und diese am Beispiel der Verhaltensweise des Eusebius gegenüber Iulian exemplifiziert. Absichtsvoll unklar und nicht sicher auf Eusebius zu beziehen ist dagegen Iul. or. 2 [Bidez],118 c, im Sinne dieser Anspielung mit Aujoulat 1983, S. 90 f., aber interpretiert von Wieber-Scariot 1998, S. 107, ähnlich dies. 1999, S. 213. 63 Rosen 2006, S. 115, macht darauf aufmerksam, dass Eusebias Wohlwollen für Iulian im Gefolge der Usurpation Iulians abnahm und sie sich „unmißverständlich auf die Seite ihres Mannes“ (ebd.) stellte. Als Beleg für den Wandel verweist Rosen 2006, S. 473 Anm. 32, auf Iul. ad Ath. 273 a, eine Aussage, der zufolge Iulian dem Constantius zum Opfer gefallen wäre (Übers. Stöcklin-­Kaldewey), „[h]ätte nicht irgendeiner der Götter mich retten wollen, indem er dafür sorgte, dass mir Eusebia – die schöne und gute Ehefrau des  – zu der Zeit wohlwollend zugeneigt war“ (εἰ μὴ θεῶν τις ἐθελήσας με σωθῆναι τὴν καλὴν καὶ ἀγαθὴν τὸ τηνικαῦτά μοι παρέσχεν εὐμενῆ, τὴν τούτου γαμετήν, Εὐσεβίαν). Rosens Überlegung ist an und für sich naheliegend, doch dürfte er dem Adverb τηνικαῦτα zu viel Gewicht beimessen, wenn er über die reine Zeitangabe hinaus allein aus diesem Wort ableitet, später sei es mit dem Wohlwollen Eusebias für Iulian vorbei gewesen. Zudem steht der genaue Todeszeitpunkt Eusebias nicht fest. Sie ist vielleicht sogar schon vor der Augustuserhebung Iulians gestorben; vgl. dazu Müller-Seidel 1955, S. 242. – Als Beleg dafür, dass Eusebia strikt ihrem Mann folgte, eignet sich vielmehr ihr in der gratiarum actio Iulians untergebrachter Hinweis darauf, dass das Wohlwollen des Kaiserpaares von der – klar als untergeordnet erkennbaren – Loyalität Iulians abhängig sei (Iul. or. 2 [Bidez],123 b; Übers. Huttner): „‚Einen Teil hast du‘, so sagte sie, ‚von uns schon bekommen, den anderen Teil wirst du mit Gott noch bekommen, wenn du dich uns gegenüber nur treu und gerecht verhältst‘.“ („Τὰ μέν“, ἔφη, „παρ᾿ ἡμῶν ἤδη ἔχεις, τὰ δὲ καὶ ἕξεις σὺν θεῷ, μόνον εἰ πιστὸς καὶ δίκαιος εἰς ἡμᾶς γένοιο“.); vgl. ferner unten Anm. 73. Zum Verhältnis zwischen den Ehepartnern Constantius und Eusebia vgl. auch Iul. or. 2 [Bidez],121 b (eigene Übers.): Hier ist davon die Rede, dass Eusebia nach der positiven Meinungsänderung des Kaisers zugunsten Iulians „sich besonders freute und mit ihm [Constantius] harmonisch übereinstimmte“ (διαφερόντως ηὐφραίνετο καὶ συνεπήχει μουσικόν). Diese Darstellung entspricht natürlich dem, was von einer verheirateten Römerin, gerade auch einer Kaiserfrau, erwartet wurde.

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sätzliche Entscheidungen des Herrschers zugunsten des jungen kaiserlichen Cousins vorbereiten, indem sie über ihre eigene Person die Herstellung einer Vertrauensbasis zu Iulian förderte,64 von der Constantius im Interesse seiner nach und nach Konturen gewinnenden Pläne profitierte. Indem Iulian seinerseits zu Eusebia Vertrauen fasste, stellte er sich den hinter diesen Avancen stehenden politischen Absichten des Constantius zur Verfügung, zwar mit Sorgen angesichts der Lage in Gallien und wohl auch wegen der fehlenden eigenen Vorbereitung auf diese Aufgabe,65 aber doch aus Gründen der Staatsraison, die im Übrigen ebenso den Augustus in seinem Handeln bestimmten.66 Dabei wurde nicht gleich erkennbar, dass das wachsende Vertrauen Iulians Eusebia gegenüber auf sein persönliches Verhältnis zu Constantius abfärbte. Ein positiveres Bild in Bezug auf das Entstehen einer gegenüber Constantius begründeten Vertrauensbasis freilich ergibt sich, wenn man die panegyrischen Äußerungen Iulians in der gratiarum actio für Eusebia berücksichtigt.67 Dabei ist in Rechnung zu stellen, dass die Einladung des Constantius an Iulian, Eusebia einen Besuch abzustatten, durchaus ein beträchtliches Vertrauenspotential in den Cousin persönlich enthielt,68 mögen noch so subjektiv herrschaftsbedingte politische Absichten hinter dieser Aufforderung gestanden haben. Es ist daher durchaus ein Mehrwert erkennbar, wenn man das Verhältnis zwischen Iulian und Constantius II. in den Monaten von Ende 354 bis Ende 355 unter Kategorien des Vertrauens betrachtet und so Nachteile tendenziöser Berichterstattung zu neutralisieren sucht. Was Iulian betrifft, so hatte dieser gute Gründe, die es ihm erschweren mussten, zu Constantius wirklich Vertrauen zu fassen. Dazu zählen das Schicksal seines Familienzweiges im Vergleich zu dem der drei Constantinsöhne, die 337 das Reich unter ihre Herrschaft aufteilten, das Ende seines Halbbruders Gallus im Jahre 354,69 die durch umlaufende Gerüchte, unkalkulier64 Deutlich in den Vordergrund gestellt beispielsweise bei Iul. or. 2 [Bidez],121 a und 123 a–c. 65 Diesen Aspekt akzentuiert Huttner 2004, S. 249–252, unter dem Blickwinkel der – in der Regel zeremoniell zu verstehenden – recusatio imperii und ordnet ihn ein in „die Erkenntnis eigener Unzulänglichkeit“ (S. 251) durch Iulian angesichts „einer Rolle, der er nicht gewachsen ist“ (S. 252) und die ihn „sein Zögern in Szene“ (S. 249) setzen lasse, das Huttner daher als allgemeine Bedenken versteht, wie sie dem geeigneten Kandidaten vor der Übernahme des Amtes gut anstehen. Huttner bezieht sich dabei hauptsächlich auf Iul. or. 2 [Bidez],121 b–123 a. Der recusatio-Gedanke ist mit den konkreter auf Gallien und den eigenen Bildungsweg bezogenen Bedenken Iulians durchaus kompatibel. 66 Das nüchterne Kalkül, das hinter Eusebias Ratschlag an ihren Ehemann bei Zos. 3,1,3 steht, spricht für diese Überlegungen, auch wenn dieses Bild durch die proiulianische Propaganda negativ überformt sein dürfte. Zur Interpretation dieser Stelle vgl. Paschoud 1979, S. 61 f. Vgl. ferner Bringmann 2004, S. 44 f. 67 Dies kommt nach dem Angebot an Iulian, die Caesarwürde zu übernehmen, etwa darin zum Ausdruck, dass Iulians eigenen Worten zufolge Constantius seinen Cousin aufforderte, festes Vertrauen (τοῦ σφόδρα πιστεύειν) zu Eusebia zu fassen (Iul. or. 2 [Bidez],123 a), diese seine Bedenken zerstreute und ihn abschließend zur Loyalität und Rechtschaffenheit gegenüber dem Kaiserpaar aufforderte (ebd.; vgl. oben Anm. 63). 68 Vgl. auch Rosen 2006, S. 132. 69 Vgl. hierzu die späteren Vorwürfe Iulians an die Adresse des Constantius: Iul. ad Ath. 270 c–d; 271 d; 274 d–275 a; 281 b. Zum Stellenwert dieser Aussagen auch Heather 2020, S. 87.

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bare Einflussnahmen und den schwer einzuschätzenden Charakter des Constantius ungewohnte, auf Iulian unheimlich wirkende Hofatmosphäre, mangelnde Informationen und die Ungewissheit darüber, was ihn selbst erwartete,70 sowie, als sich ein Ergebnis abzeichnete, die Befürchtungen angesichts des zweifellos allen Beteiligten, nicht nur ihm, bewussten Sachverhalts, dass er auf seine Aufgaben als Caesar für die gallische Präfektur überhaupt nicht vorbereitet war.71 Natürlich ließ sich Constantius in dieser Zeit beraten, um Gesichtspunkte für die Entscheidungsfindung zu sammeln und auf diese Weise im Laufe eines sorgsamen Abwägungsprozesses zu einer – von ihm persönlich verantworteten – Lösung zu kommen. Der Umstand, dass die – oft keineswegs altruistisch agierenden – Bedenkenträger ihren Einfluss letztlich nicht geltend machen konnten und der Kaiser nach längerer Zeit zu dem Ergebnis fand, Iulian zum Caesar zu erheben, zeugt davon, dass er in ihn Vertrauen fasste,72 mögen dabei noch so sehr Gründe der Staatsraison hineingespielt haben. Unklar bleibt dabei, inwieweit dieser Vertrauensbildungsprozess anteilmäßig durch die sachliche Notlage in Gallien, das Verantwortungsbewusstsein für das Gesamtreich und die Einsicht in die potentielle Befähigung Iulians beziehungsweise die Tatsache, dass dieser der letzte überlebende männliche Verwandte des Constantius war, angestoßen wurde und zur Entscheidung führte. Umgekehrt erweist die Übernahme der Caesarwürde durch Iulian, dass in ihm – trotz aller nachvollziehbaren Bedenken – das Vertrauen gewachsen war, dieser Aufgabe gerecht zu werden, weil er die Unterstützung des Constantius zugesagt bekam und das vom Augustus ihm zur Verfügung gestellte Personal einschlägige administrative und militärische Erfahrung hatte. Vielleicht spielte dabei schon der unausgesprochene Gedanke eine Rolle, dass bei Bewährung in Gallien zukünftig ein Ausbau seiner Position nicht unvorstellbar sein musste.73 Sobald sich Iulian nach der Caesarerhebung Ende 355 mit der Lage in Gallien vertrauter hatte machen können, traten sachliche Gründe hinzu, die aus seiner eigenen Sicht sein Engagement sinnvoll erscheinen ließen, so dass sein Selbstvertrauen zunahm. Das war letztlich auf den Vertrauensvorschuss zurückzuführen, den ihm 70 Vgl. Amm. 15,2,7 f. und 15,8,2. 71 Vgl. Iul. or. 2 [Bidez],121 b–c; hierzu auch oben Anm. 65. 72 Vgl. Iul. or. 2 [Bidez],121 b (eigene Übers.): „als sich der Kaiser nämlich eben diese [gute] Meinung über mich bildete“ (κυρουμένης τε γὰρ ἐπ᾿ ἐμοὶ τοῦ βασιλέως ταυτησὶ τῆς γνώμης). 73 Vgl. auch die Andeutungen Eusebias im Gespräch mit Iulian bei Iul. or. 2 [Bidez],123 b, zitiert oben Anm. 63. Anders – konkret auf die unmittelbare Zukunft, nämlich die Verheiratung der Kaiserschwester Helena mit Iulian, bezogen – Rosen 2006, S. 133. Wiederum anders, und zwar sehr viel abstrakter auf den teilweise noch ausstehenden Beweis der Eigenschaft der σωφροσύνη durch Iulian bezogen, Huttner 2004, S. 252–254, der diese Szene in die Überwindung der an die recusatio imperii gemahnenden Zögerlichkeit Iulians, die Caesarwürde zu übernehmen, einordnet. Zu der Bedeutung des Gedankens der σωφροσύνη und deren Repräsentanz durch Eusebia vgl. auch García Ruiz 2012, besonders S. 75 f. über Eusebia als Personifikation dieser Eigenschaft in den Augen Iulians. Die von Huttner favorisierte Interpretation dieser Stelle schließt eine gleichzeitig denkbare konkretere Ebene im Sinne allgemeiner Zukunftsandeutungen Eusebias und folglich -erwartungen Iulians bei Einwilligung in die Übernahme der Caesarwürde keineswegs aus.

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Constantius gewährte und den dieser mit einer genauen Kontrolle seines neuen, politisch-militärisch völlig unerfahrenen Caesars zu flankieren gedachte. Diesen Konstellationen entgegnete Iulian also durch ein anderes, die eigene Selbständigkeit fundierendes Vertrauensäquivalent, das Selbstvertrauen, das einerseits für die Bewältigung der Aufgaben in Gallien nötig war, andererseits aber auch latentes Konfliktpotential mit den Kontrollmaßnahmen des Constantius barg. Es ist erkennbar, dass Constantius bei diesem Entscheidungsprozess äußerst geschickt vorging, um das Vertrauen Iulians zu gewinnen: Da er sich bewusst war, dass das über seine eigene Person schwierig sein musste, griff er auf eine Vermittlungsinstanz zurück, seine Ehefrau Eusebia.74 Die Kaisergattin konnte über gemeinsame geistige Interessen mit Iulian zu diesem ein wirksames Band des Vertrauens knüpfen, dessen Nutznießer Constantius mit seinen politischen Plänen war. An der Einladung des Constantius, Iulian möge vertrauensvoll in das persönliche Gespräch mit Eusebia gehen, ist zugleich erkennbar, dass der Kaiser in Iulian Vertrauen gefasst hatte, sich dabei aber mehr als unsicher zeigte, ob dies auch umgekehrt bei Iulian im Verhältnis ihm selbst gegenüber der Fall war. Der Weg über Eusebia führte Constantius aber zum Ziel. Ob dies auch für Iulian und sein wohl erst noch sehr zaghaftes Vertrauen in die Maßnahme des Kaisers – fühlte er sich vielleicht überrumpelt, ohne das Angebot ausschlagen zu können?75 – galt, würde sich wohl noch zeigen müssen.

4. Maßnahmen zur Unterstützung Iulians in Gallien In der Tat musste viel davon abhängen, wie die gallische Präfektur mit Führungspersonal und Truppen ausgestattet wurde, damit man den Herausforderungen durch die von Alemannen und Franken dem linksrheinischen Raum drohenden Gefahren erfolgreich begegnen und diese Stämme möglichst ganz über den Rhein zurückdrängen konnte.76 Eine wichtige Maßnahme betraf den neuen Caesar persönlich: 74 Vgl. auch Iul. or. 2 [Bidez],121 a–c und 123 a–c. 75 Vgl. auch die Einschätzung dieser Angelegenheit durch Iulian selbst: Iul. or. 2 [Bidez],121 b–c. – Spätere Drohungen Iulians mit Rücktritt von seinem Amt als Caesar (vgl. etwa Iul. ad Ath. 283 a; Amm. 20,4,8) dürften daher als Versuche, bestimmte Ziele durchzusetzen, ins Leere gelaufen sein; ein Rücktritt war nicht vorgesehen und hätte den Caesar gewiss das Leben gekostet. Folglich können derartige Drohungen wohl auch nicht ernst gemeint gewesen sein. Vgl. dazu auch Szidat 1977, S. 145 f., und Huttner 2004, S. 284–286. 76 Dieser Aufgabenbereich impliziert das – im Grundsatz defensive – Ziel, die Grenze am Rhein wiederherzustellen, wie es Constantius in seiner Ansprache anlässlich der Erhebung Iulians zum Caesar nach Amm. 15,8,7 (eigene Übers.) mit den Worten „und die Grenzen des Reiches werden unversehrt sein“ (et imperii fines erunt intacti) umreißt. Die Landnahme der Alemannen links des Rheins und die daran anschließende Zone, die mit Plünderungen überzogen wurde, beschreibt Iul. ad Ath. 279 a–b. Zur Umsetzung des Zieles, den vormaligen Status quo wiederherzustellen, durch Constantius II. und sodann Iulian angesichts einer realistischen Einschätzung der dem römischen Reich von den Alemannen drohenden Gefahren vgl. Heather 2020 (in Auseinandersetzung mit den seines Erachtens diese Gefahren unterschätzenden Positionen bei Drinkwater 2007).

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Er durfte den Oberbefehl über die im Gebiet der gallischen Präfektur stationierten Truppen nicht selbst wahrnehmen, sondern diese Funktion oblag dem zuständigen Heermeister Ursicinus und nach dessen Ablösung Marcellus.77 Iulian war auf rein repräsentative Aufgaben beschränkt, indem er vor Ort das Kaisertum zu vertreten hatte.78 Diese Regelung sollte potentiellen Usurpatoren – die im Übrigen meist aus der militärischen Führungsriege stammten – nach den schlechten Erfahrungen des Constantius mit Magnentius und Silvanus79 jegliche Ambitionen nehmen und die Soldaten mit der Anwesenheit eines Vertreters der Kaiserfamilie zufriedenstellen, ihnen dadurch sozusagen Vertrauen in die erfolgreiche Umsetzung der politischmilitärischen Grundsätze des römischen Reiches im Umgang mit den Barbaren einflößen. Angesichts der fehlenden Verwaltungskenntnisse und mangelnden Vertrautheit Iulians mit der Leitung von Truppen ist diese Vorsichtsmaßnahme des Constantius nur zu gut nachvollziehbar:80 Auf diese Weise konnte der Augustus dem Caesar das Vertrauen entgegenbringen, seinem – überschaubaren – Aufgabenbereich gewachsen zu sein, ihn vor Überforderung schützen, sich selbst aber in der Sicherheit wiegen, Gallien durch die neuen Maßnahmen besser als vorher kontrollieren zu können, sollte er persönlich verhindert sein, in diesem Bereich aktiv zu werden und Feldzüge anzuführen.81 Das Maßnahmenbündel schloss die Aufsicht des Kaisers über Iulian ebenso ein wie über dessen von Constantius gewiss sorgfältig ausgewähltes Führungspersonal,82 gerade indem der Kaiser die Aufgaben und die Verantwortung auf mehrere Schultern verteilte. Zunächst aber beteiligte sich Constantius durchaus persönlich an den Maßnahmen gegen die Alemannen, wenn man an die Feldzüge denkt, die im Jahre 356 von Westen und von Süden gegen diese unternommen wurden.83 Der Kaiser stand

77 Vgl. oben Anm. 2. 78 Vgl. Iul. ad Ath. 277 d–278 d mit der späteren Klage Iulians über diesen Zustand, die im Nachhinein Constantius’ Maßnahmen zum Schutz Iulians und zur Kontrolle der Entwicklung in Gallien als Schritte gegen den Caesar deutet (Iul. ad Ath. 277 d; eigene Übers.), „damit ich nicht etwa einen Umsturz planen sollte“ (ὡς ἂν μὴ νεώτερόν τι πράξαιμι); polemisierend auch Lib. or. 18,42. Zu den Repräsentationsaufgaben Iulians und deren sachgerechter Bewertung auch Müller-Seidel 1955, S. 228, sowie Rosen 2006, S. 137. 79 Vgl. PLRE 1, 1971, S. 532 (Magnus Magnentius) und S. 840 f. (Silvanus 2). 80 Vgl. auch Martin 2009, S. 46. 81 Vgl. auch Omissi 2018, S. 195. 82 Zu den Iulian beigegebenen hohen Beamten vgl. Vogler 1979, S. 97–109; allerdings scheint diese Darstellung eine Sichtweise zu vertreten, die Iulian („prisonnier de la pourpre“; Vogler 1979, S. 94, in Anlehnung an Elemente der Selbstdarstellung des Caesars im Schreiben an die Athener) nähersteht als Constantius II. – Es handelt sich um eine grobe Verzerrung ins Negative, dass Iulian sich im Rückblick als den für Gallien zuständigen Heermeistern untergeordnet charakterisiert; vgl. Iul. ad Ath. 277 d (Übers. Stöcklin-Kaldewey): „nicht als Befehlshaber der dortigen Legionen, sondern eher als Untergebener der dortigen Heerführer“ (οὐκ ἄρχοντα μᾶλλον τῶν ἐκεῖσε στρατοπέδων ἢ τοῖς ἐκεῖσε στρατηγοῖς ὑπακούοντα). – In der Tat erschwerte das Iulian beigegebene Personal allerdings die eigene Netzwerkbildung des Caesars; vgl. Heather 2020, S. 89. 83 Vgl. hierzu und zu den folgenden Ausführungen auch Abschnitt 1.

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mit dieser Kampagne und mit der Absetzung des Marcellus84 als des verantwortlichen Heermeisters wegen unterlassener Hilfeleistung für den in Senonae belagerten Iulian ganz auf der Seite seines Caesars85 und trug seinen Teil dazu bei, ihm zu helfen und die Lage in Gallien zu verbessern – das steht außer Frage. Constantius vertraute auf die Wirksamkeit seiner Initiativen für Gallien und damit auf Iulian ebenso wie auf das Personal, das er diesem zur Verfügung stellte, auf die Truppen und die Taktik gegenüber den Alemannen. Als sich dann in der ausgebliebenen Hilfe für den militärisch bedrängten Iulian die Illoyalität des Marcellus erwies – der als gallischer Oberbefehlshaber vielleicht eher Constantius und dessen Beratern, die vor einem Einsatz Iulians als Caesar in Gallien aus welchen Motiven auch immer gewarnt hatten, denn Iulian verpflichtet zu sein glaubte –, handelte Constantius konsequent. Und zwar tat er das ganz im Interesse der Anliegen seines Caesars, dem er also, wie dieser Fall zeigt, jetzt mehr vertraute als dem von ihm selbst eingesetzten und durch sein Verhalten inzwischen den Argwohn des Kaisers hervorrufenden Heermeister. Zugleich legte er Wert darauf, dass das Verhältnis zwischen dem Caesar und dem Heermeister im Interesse der in Gallien anstehenden Aufgaben in sich stimmig sein sollte. Umgekehrt erschien das Vertrauen Iulians auf Constantius in dieser Lage als nicht ganz so groß, das zeigt sein Auftrag für den Kammerherrn Eutherius, Iulians Sichtweise am Mailänder Hof zu vertreten. Im Ergebnis erweist sich an diesem Beispiel jedoch, dass eine gewisse gemeinsame Vertrauensbasis zwischen Constantius und Iulian vorhanden war, auch wenn sie mit Kontrollmaßnahmen auf beiden Seiten abgefedert wurde. Hierin zeigt sich die im Grunde von Anbeginn vorhandene immanente Instabilität des Vertrauens zwischen Constantius und Iulian: Der Augustus setzte aufgrund seiner schlechten Erfahrungen mit dem Führungspersonal in der Vergangenheit auf bürokratische Kontrolle, der Caesar aufgrund des Schicksals seines Familienzweiges und seines Halbbruders Gallus auf flankierende Selbstschutzmaßnahmen. Auf diese Weise wurden als zu schwach eingeschätzte oder schwindende Vertrauensgrundlagen auf beiden Seiten mit Vertrauensäquivalenten ergänzt, um ein weiterhin auskömmliches Verhältnis zwischen den aufeinander angewiesenen Partnern im Interesse der gemeinsamen Ziele dauerhaft abzusichern. Der von Ammian als Neider und Schmeichler diskreditierte Beraterkreis des Constantius86 arbeitete womöglich im Hintergrund, kam zu dieser Zeit allerdings überhaupt nicht zum Zuge, im Gegenteil: Constantius vertraute Iulian auch aufgrund der inzwischen gesammelten Kriegserfahrungen des Caesars so sehr, dass er ihn ab Frühjahr 357 mit dem militärischen Oberkommando ausstattete;87 daher unterstand nun auch der von Constantius entsandte neue gallische 84 Vgl. Amm. 16,7,1 und Iul. ad Ath. 278 b (Übers. Stöcklin-Kaldewey): „Als aber auch der Befehlshaber der Truppen unter Verdacht geriet, wurden ihm jene weggenommen, und die Herrschaft wurde ihm entzogen“ (ὡς δὲ καὶ ὁ τῶν στρατοπέδων ἄρχων ἐν ὑποψίᾳ γενόμενος αὐτῷ παρῃρέθη καὶ ἀπηλλάγη τῆς ἀρχῆς). Zu diesem Abschnitt auch Martin 2009, S. 45. 85 Vgl. auch Bowersock 1978, S. 39 f., und Heather 2020, S. 89. 86 Vgl. hierzu Abschnitt 3. 87 Vgl. Iul. ad Ath. 278 d, auch oben Anm. 11.

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Heermeister Severus, mit dem Iulian ein gutes Verhältnis verband,88 dem Befehl des Caesars. Das Beispiel des Heermeisters war durchaus kein Einzelfall, bei dem Constantius die Interessen Iulians berücksichtigte und Lösungen favorisierte, die sein Vertrauen in die Leistungskraft des Caesars und in dessen Kooperationsbereitschaft mit dem ihm vom Augustus zur Verfügung gestellten Personal bewiesen.89 Mit dem koordinierten Angriff auf die Alemannen von Westen und von Süden im Jahre 356 war die militärische Unterstützung des Constantius für Iulian im Interesse der Wiederherstellung einer intakten Rheingrenze gegen die germanischen Völkerschaften rechts des Stromes nicht beendet. Im Jahre 357 wurde der Zangenangriff wiederholt: Von Westen, aus dem gallischen Raum, rückte Iulian in Richtung Oberrhein vor, von Süden, aus Italien und durch Raetien, also dem von Constantius direkt verwalteten Reichsteil, ein stattliches Heer unter dem Oberbefehl des Heermeisters Barbatio;90 Constantius war durch seinen Besuch in Rom und den anschließenden Zug an die mittlere und untere Donau verhindert, dieses 88 Amm. 16,10,21–11,1 sowie Lib. or. 18,48. 89 Ein weiteres Beispiel: Im Winter 357/58 kam es zu Misshelligkeiten zwischen Iulian und dem Prätoriumspräfekten Florentius (vgl. PLRE 1, 1971, S. 365 [Florentius 10]) hinsichtlich des vor allem für die Unterhaltung des Heeres benötigten Steueraufkommens (Amm. 17,3; die unmittelbare Sichtweise Iulians ist in Iul. epist. 14 [Bidez],384 d–385 d zu erkennen). Angesichts der problematischen Lage der Bevölkerung Galliens, die unter den Folgen der germanischen Raubzüge und Landnahme links des Rheins zu leiden hatte, sprach sich Iulian strikt gegen eine Sondersteuer aus, die Florentius favorisierte, und stellte ihr einen eigenen Entwurf gegenüber, der die Landbevölkerung von Zusatzabgaben verschonte und dennoch auf eine auskömmliche Steuerschätzung kam. Mit den unterschiedlichen Lösungsansätzen konfrontiert, favorisierte Constantius einen Kompromiss, der darauf Rücksicht nahm, dass Iulian und Florentius auch künftig würden zusammenarbeiten müssen, suchte also einen Weg, der die Bemühungen beider honorierte, sie in ihrem Selbstwertgefühl schonte und die für beide Personen wichtige Brücke des Vertrauens zu ihm nicht beschädigte (so auch Rosen 2006, S. 154; vgl. Müller-Seidel 1955, S. 230; anders Blockley 1972, S. 448 f., Vogler 1979, S. 105, und Bringmann 2004, S. 61, denen zufolge sich Iulian gegen Florentius durchsetzte). Hier ging es eben nicht um das Fehlverhalten eines Beteiligten, das zu dessen Ablösung führen musste, sondern um gemeinsame Überlegungen, sinnvolle Entscheidungen zu treffen, eine Situation, in der Constantius die übergeordnete Vermittlungsinstanz darstellte, die ihre Richtlinienkompetenz gegenüber den beiden ihm Untergebenen nicht ausspielte, indem der Augustus einer Seite allein zustimmte und die andere ins Unrecht setzte. Auch in diesem Zusammenhang dürfte die Annahme einer gemeinsamen Vertrauensbasis sinnvoll sein, die durch Kontrollmaßnahmen des Kaisers die weitere Kooperation mit ihm und der Beteiligten untereinander absicherte. Insofern verhielt sich Constantius loyal und erwartete diese Haltung umgekehrt auch von anderen ihm gegenüber. Eine weitere Auseinandersetzung zwischen Florentius und Iulian scheint, ebenfalls unter Einschaltung des Constantius, klar zugunsten der Position Iulians ausgegangen zu sein; vgl. Iul. ad Ath. 280 a–c, dazu Bringmann 2004, S. 57; Rosen 2006, S. 163 f. Heather 2020, S. 89 f. und S. 91 f., stellt, anders als Matthews 1989, S. 89 f., zwischen den beiden Streitfällen inhaltliche Zusammenhänge her. 90 Vgl. PLRE 1, 1971, S. 146 f. Zu seiner Person und Stellung auch Demandt 1970, Sp. 568 f. Zusammenfassende Darstellungen der Ereignisgeschichte in diesem Zusammenhang finden sich bei Barceló 1982, S. 34 f.; Matthews 1989, S. 299 f.; Lorenz 1997, S. 40–42; Barceló 2004, S. 131 f.; Bringmann 2004, S. 55; Rosen 2006, S. 146; Drinkwater 2007, S. 225, 229–235; Maraval 2013, S. 149 f. Ausführlich und mit gut begründeter historischer Kritik Rosen 1968, S. 84–95.

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Kommando selbst zu übernehmen. Da Ammian – mit Sicherheit zu Unrecht – ein äußerst negatives Bild von der Person und vom militärischen Agieren Barbatios zeichnet und ihn für die Kampagne gegen die Alemannen zu Iulians Gegenspieler stilisiert, der angeblich Constantius II. auf seiner Seite wusste, erscheint die vom Augustus initiierte Hilfeleistung für Iulians Aufgabenbereich im Jahre 357, die gallische Reichsgrenze gegen die Alemannen abzusichern, anders als der Feldzug von 356 unter dem Kommando des Kaisers persönlich,91 in völlig negativem Licht.92 Im Zusammenhang mit dem auch von Ammian als wohlüberlegt angesehenen Angriffsplan93 wird die Handlungsweise Iulians hier als sinnvoll und angemessen dargestellt, die Barbatios als hinterhältig obstruktiv und feige,94 so dass ihm die Schuld am Scheitern der Operation zugewiesen wurde, obwohl Iulian mit seiner Reaktion auf den Raubzug der alemannischen Laeten nach Lyon einen ebenso großen Anteil daran hatte, dass der Zangenangriff nicht zustande kam.95 Vorbehalte gegeneinander können auf beiden Seiten nicht ganz ausgeschlossen werden und dürften die Tendenz der Berichterstattung Ammians nicht unerheblich beeinflusst haben: Iulian mochte an die Rolle Barbatios bei der Deportation seines Halbbruders Gallus denken;96 zudem könnte Barbatio ein möglicher Bedenkenträger im Beraterkreis des Kaisers gegen die seinerzeitige Aktivierung des jungen Iulian als Caesar für Gallien gewesen sein. Entgegen der als Gerücht wiedergegebenen Allianz zwischen Constantius und Barbatio zum Nachteil Iulians,97 die in die Motive der bei passenden Gelegenheiten immer wieder aufgenommenen Berichterstattung Ammians über die jahrelangen – in Wahrheit erfolglosen – Verleumdungen der Neider des jungen Caesars und deren Echo beim Kaiser98 eingeordnet werden kann und den Hinweis liefern soll, die Atmosphäre zwischen Constantius und Iulian sei von Grund auf vergiftet gewesen, änderte sich am Vertrauen des Constantius in die Sachkompetenz der beiden Feldherren aus guten Gründen nichts. Zwar mochte Iulian auf den Raubzug der Laeten etwas kurzsichtig zugunsten der Beruhigung Innergalliens und zu Lasten der Sicherung der Oberrheingrenze gegen die Alemannen und damit des vorbereiteten Zangenangriffs reagiert haben, doch ist von einer negativen Resonanz

91 Auch wenn dieser zugunsten der Herausstellung Iulians von Ammian nur beiläufig in anderem Zusammenhang erwähnt wird; vgl. Amm. 16,12,15 f., ferner oben Abschnitt 1 mit Anm. 3. 92 Vgl. Amm. 16,11. 93 Amm. 16,11,3 (Übers. Veh): „Man plante nämlich und hatte dementsprechend sorgfältige Vorkehrungen getroffen“ (Cogitatum est enim sollicite praestructum); Amm. 16,11,4 (Übers. Veh): „dieses klug ersonnene Unternehmen“ (haec tamen rite disposita). 94 Amm. 16,11,7 (Übers. Seyfarth): „der unfähige und Julians Ruhm beharrlich entgegenwirkende Befehlshaber der Fußtruppen“ (magister peditum ignavus et gloriarum Iuliani pervicax obtrectator). Vgl. auch Amm. 16,11,12 f.15. 95 Vgl. Amm. 16,11,4 f.; zum Sachverhalt Rosen 1968, S. 90 f. 96 Vgl. Amm. 14,11,19 f. 97 Amm. 16,11,12 f. Vgl. auch die ebenso verfälschende Wiedergabe der Ereignisse bei Lib. or. 18,49–51. 98 Wie sie auch die späteren Schriften Iulians und die Kommentare der Iuliananhänger durchziehen.

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bei Constantius nichts bekannt,99 ebenso wenig gegenüber Barbatio, dessen raetisches Kommando gegen die Alemannen verlängert wurde und 358 zu einem Sieg des Heermeisters über die Iuthungen führte.100 An den Maßnahmen des Constantius zur Unterstützung Iulians bei seinen Aufgaben in Gallien wird recht deutlich, dass neben dem anfänglich in auffälliger Weise gerade auch von dem Kaiser bekundeten Vertrauen Iulian gegenüber101 ein bestimmtes Vertrauenssurrogat eine wichtige Rolle spielte: die Kontrolltätigkeit des Constantius. Im Gegenzug zu den schriftlichen Direktiven des Augustus für seinen Caesar,102 um die Iulian allerdings auch selbst gebeten hatte, kam Iulian diesen Anforderungen mit regelmäßigen schriftlichen Berichten103 über seine Vorgehensweise und die Fortschritte in Gallien nach. Daran wird in der Tat erkennbar, dass Constantius seinen Caesar Iulian, ebenso wie das diesem beigegebene Führungspersonal, als ihm, dem Augustus, klar untergeordnet und zur Rechenschaft verpflichtet ansah, wozu der Vergleich mit dem apparitor durchaus passt. In bürokratischen Elementen wie diesen kann man durchaus jenseits der Einordnung in Kategorien des Vertrauens und der Kontrolle etablierte Verwaltungspraxis sehen, in die Constantius den Caesar einbezog, indem er ihn wie einen hohen Beamten behandelte, ohne auf dessen Wunsch nach „einer persönlichen Reichsführung“104 in seinem Verantwortungsbereich einzugehen. Insofern gilt es bei der Suche nach Elementen des Vertrauens und dessen Äquivalenten immer auch abzuwägen, inwiefern solche Beobachtungen unabhängig von interpersonalen Beziehungen auf das Konto bürokratischer Verwaltungsabläufe gehen. Nachdem Constantius mit seinen Bemühungen erfolgreich gewesen war, das Vertrauen Iulians so weit zu gewinnen, dass er ihn zum Caesar hatte erheben können, ergänzte er das von ihm selbst gewährte Vertrauen durch Kontrollmaßnahmen, mit denen er – misstrauisch aufgrund unangenehmer Erfahrungen in der Vergangenheit?  – unliebsamen Entwicklungen, gewiss auch Ungeschicklichkeiten des unerfahrenen Iulian oder gar denkbaren Unbotmäßigkeiten des Caesars entgegensteuern wollte.105 Hierzu verteilte er die Verantwortung auf mehrere ihm zur Rechenschaft verpflichtete Personen, selbst wenn er Iulian ab 357 mit dem militärischen Oberbefehl in Gallien betraute. Daher kann man auch die Beteiligung des Constantius an den Alemannenkampagnen der Jahre 356 und 357 genauso als vertrauensvolle Unterstützung zur Etablierung des Caesars Iulian in Gallien und 99 Ammian hätte darüber wohl berichtet, wenn er daran Spannungen zwischen Iulian und Constan­tius hätte illustrieren können. Denkbar ist auch, dass er die Kritik an Iulian verschweigt, um uneingeschränkt Barbatio die Schuld am Scheitern des Feldzugs zuweisen zu können. 100 Vgl. Amm. 17,6,1 f. Vgl. dazu auch Barceló 1982, S. 60–62. 101 Vgl. Abschnitt 2 und 3. 102 Amm. 16,5,3; Iul. ad Ath. 282 a–b. Vergleichbare Korrespondenz richtete Constantius auch an Iulians Führungspersonal; vgl. Iul. ad Ath. 277 d. Vgl. ferner Matthews 1989, S. 88, und Rosen 2006, S. 153. 103 Vgl. Amm. 16,12,67 und 17,11,1. 104 Müller-Seidel 1955, S. 230. 105 Vgl. auch Bringmann 2004, S. 45 f.

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seines Ansehens in der Bevölkerung und bei den Soldaten wie auch als Kontrollmaßnahme zur Absicherung militärischer Erfolge deuten. Die Auspizien für die Kriegszüge gegen die Stämme am Rhein verblieben natürlich bei dem Augustus, so dass die Klagen der proiulianischen Quellen über die Ruhmsucht des Constantius nach Iulians Erfolg in der Schlacht bei Straßburg völlig unangebracht sind.106 In der Tat arbeiten Ammian und Iulian mit ihren Äußerungen im Interesse einer nachvollziehbaren Entwicklung ihrer zur Usurpation des Caesars führenden Darstellung daran, den Eindruck zu erwecken, im Laufe der unerwartet überaus erfolgreichen Tätigkeit Iulians in Gallien vertiefe sich der – latent als seit jeher vorhanden vorausgesetzte – Gegensatz zwischen dem – angeblich Neid und Eifersucht entwickelnden107 – Augustus und seinem tüchtigen Caesar immer mehr. Eine nicht unerhebliche Rolle wird dabei den Schmeichlern am Hof des Constantius zugewiesen, denen der Kaiser – anders als Iulian in seinem Umkreis108 – bereitwillig sein Ohr geliehen habe, um dann für die unschuldigen Opfer nachteilige Entscheidungen zu treffen: ein Motiv, das bereits vor der Erhebung Iulians zum Caesar eine bedeutende Rolle spielt109 und die Berichterstattung Iulians und seiner Anhänger durchzieht.110 Dabei ist überhaupt nicht erkennbar, dass die angeblichen Einlassungen dieser Hofkreise irgendwelche negativen Folgen für Iulian gehabt hätten. Constantius musste vielmehr nach wie vor darauf vertrauen, dass Iulian seinem Auftrag, in Gallien die Rheingrenze zu sichern, erfolgreich nachkam und dass er selbst mit seinen Kontrollmaßnahmen jederzeit den Überblick über die Entwicklung im Westen behielt, um bei Bedarf schnell eingreifen zu können.111 Wegen der latenten Usurpationsgefahr durch Truppenkommandeure war er auf Iulian als seinen letzten lebenden männlichen Verwandten angewiesen, ebenso wie Iulian als im Militärwesen zunächst völlig Unerfahrener in seiner Funktion als Caesar von Constantius abhängig war. Beide Gesichtspunkte, Verwandtschaft und mangelnde Erfahrung Iulians, mögen Constantius zu der Erkenntnis bewogen haben, in Iulian über eine Person zu verfügen, der man einerseits vertrauen und die man anderer106 Amm. 16,12,69 f. (vom Geschichtsschreiber zum Nachteil des Constantius verzerrt dargestellt); Iul. ad Ath. 279 c–d (ebenso negativ über Constantius, der anstelle des eigentlichen Siegers Iulian den Ruhm für Sieg und Triumph für sich allein beanspruche); ähnlich Lib. or. 18,67. Vgl. auch Straub 1939/1964, S. 57; Rosen 1968, S. 129 f.; Blockley 1972, S. 452; Barceló 1982, S. 33; Bringmann 2004, S. 56; Rosen 2006, S. 151, mit Kritik an der tendenziösen, römischer Tradition nicht Rechnung tragenden Darstellung Ammians. 107 Zu diesem Motiv Szidat 1977, S. 135 (mit weiteren Quellenbelegen). – Demgegenüber hält Drinkwater 1983, S. 383–387, den Neid des Constantius auf die militärischen Erfolge Iulians für einen tatsächlich wesentlichen Aspekt, zu Unrecht, wenn man die Tendenz der proiulianischen Quellen berücksichtigt; vgl. auch unten Anm. 172. 108 Vgl. Amm. 16,2,2. 109 Vgl. oben Abschnitt 3. 110 Vgl. etwa Amm. 16,12,67 (Verunglimpfung Iulians als Victorinus; hierzu de Jonge 1972, S. 295) und 17,11,1 (Herabsetzung der militärischen Leistungen Iulians durch Bezeichnungen wie capella, loquax talpa, purpurata simia, littorio Graecus und die Zuschreibung von Eigenschaften wie segnis, timidus und umbratilis; zu diesen Benennungen de Jonge 1977, S. 266–268). 111 So urteilt auch Bringmann 1973, S. 52: „Prüft man die Tatsachen […], so wird man einräumen müssen, daß Constantius sich gerade gegenüber Iulian loyal verhalten hatte.“

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seits beaufsichtigen müsse und lenken könne.112 Weil sowohl Vertrauen als auch Vertrauensäquivalente im Verhältnis zwischen Constantius und Iulian eine Rolle spielten, konnte – und wollte? – sich keine der beteiligten Seiten darauf verlassen, dass diese Beziehung auf sicherer Grundlage dauerhaft Bestand hatte. Irritationen über Maßnahmen der anderen Seite mochten also schnell aufkommen, indem die eine Partei Entscheidungen der zweiten Partei kein Vertrauen entgegenbrachte, sondern als deren Gegenteil interpretierte – bis daraus Differenzen entstanden, die kaum mehr zu überbrücken waren.

5. Iulians Haltung zu seinen Aufgaben in Gallien und zu Constantius II. Ammian nutzt die mit dem Gegensatz zwischen Iulian und Barbatio von ihm vorbereitete, dem erfolgreichen Wirken des Caesars zur Verfügung stehende Bühne als Vorspiel für dessen Auftritt im Rahmen der Schlacht bei Straßburg.113 Mit diesem Ereignis hält der Historiograph – nicht ganz zu Recht, wenn man die Kampagnen der vorausgehenden Jahre114 und die Ratschläge von Soldaten und hohen Beamten aus der unmittelbaren Umgebung des Caesars kurz vor der Schlacht115 bedenkt – offensichtlich allein Iulian den entscheidenden Erfolg dafür zugute, die Alemannen vom römischen Territorium vertrieben und die Reichsgrenze am Rhein wiederhergestellt zu haben. Obwohl der Augustus und sein Caesar in der Sache offenkundig an einem Strang zogen, scheint Ammian einen Gegensatz zwischen einem mit aller Energie militärisch offensiv seinem Auftrag nachkommenden Iulian und einem gerade auch in der Politik gegenüber auswärtigen Feinden übervorsichtig erscheinenden, defensiv agierenden Constantius zu konstruieren.116 Genauer besehen dürfte aber eine größere Wahrscheinlichkeit für ein anderes Modell sprechen: Iulian erhielt mit Constantius’ Auftrag, die Rheingrenze wiederherzustellen und zu sichern,117 das Mandat für eine letztlich defensive politische Maßnahme, wie sie den schon lange praktizierten Grundsätzen des römischen Reiches und gerade 112 Vgl. auch Heather 2020, S. 88–90. 113 Vgl. Amm. 16,12. 114 Barceló 1982, S. 33, weist auf die Bedeutung der Alemannenfeldzüge des Constantius in den Jahren 354–356 als „Grundlage für die anschließenden Feldzüge Julians“ hin. 115 Vgl. Amm. 16,12,13 f.; dazu auch Vogler 1979, S. 104; Matthews 1989, S. 91 f.; Barnes 1998, S. 152 f. 116 Vgl. beispielsweise Müller-Seidel 1955, S. 225 f.; Lorenz 1997, S. 50 f.; Barceló 2004, S. 16, 137. Der Gegensatz zwischen Constantius und Iulian im Umgang mit auswärtigen Feinden wird unter Berufung auf Ammian und andere Quellen zum Programm erhoben und zu diametral einander gegenüberstehenden unterschiedlichen Auffassungen über die römische Außenpolitik erklärt von Maier 2019, S. 93–250, dazu Lambrecht 2019, S. 461–470, hier besonders S. 461 f., 466 f. Anders als Maier führt Bringmann 2004, S. 211 Anm. 45, dieses antithetische Bild aber plausibel auf eine Verzeichnung durch die proiulianische Überlieferung zurück. 117 Vgl. Constantius’ Ansprache an die Soldaten anlässlich der Erhebung Iulians zum Caesar: et imperii fines erunt intacti (Amm. 15,8,7).

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auch der Politik des Kaisers Constantius im Umgang mit auswärtigen Feinden entsprach. Selbst bei zu bestimmten Gelegenheiten offensiv erscheinendem Vorgehen auf dem Boden Galliens – den Maßnahmen zur Wiederherstellung der alten Grenze,118 bevor deren Sicherung in den Mittelpunkt der politisch-­militärischen Bemühungen treten konnte – hielt sich Iulian an die Direktive der Vorsicht, die Constantius ihm mitgegeben hatte. Das geschah nicht zuletzt deshalb, weil er selbst anfangs keine militärischen Erfahrungen besaß, sich infolgedessen kooperativ in bewährte außenpolitische Prämissen Roms einfügte und gleichzeitig seinen älteren Cousin als Repräsentanten dieser Politik anerkannte, was für das Vorhandensein grundsätzlichen Vertrauens Iulians in die militärischen Erfahrungen des Constantius119 spricht und die Orientierung an dessen Maßgaben plausibel erscheinen lässt. Umgekehrt gaben der generelle Auftrag an Iulian und die Kontrolltätigkeit des Augustus dem Caesar und dessen militärischen Bemühungen einen festen Rahmen vor, innerhalb dessen Constantius ihm vertrauen konnte und freie Hand ließ. Zu Anfang musste der Caesar für allzu offensives Verhalten Lehrgeld bezahlen, was ihn dazu brachte, mit zunehmender Erfahrung sich mehr und mehr auf das Vorbild

118 Es ging also zunächst darum, die Alemannen aus dem Gebiet links des Rheins zu verdrängen, das sie seit Jahren nutzten; vgl. Amm. 16,12,3 und – genauer – Lib. or. 18,52, dazu die Interpretation bei Rosen 1968, S. 105–108. 119 Amm. 14,10 berichtet vom friedensorientierten Umgang des Constantius mit den Alemannen im Jahre 354, einer Vorgehensweise, die der Kaiser seinen Soldaten in einer Ansprache vermittelt, in der er sich selbst gemäß den Worten, die der Geschichtsschreiber dem Herrscher in den Mund legt (Amm. 14,10,14; Übers. Veh), als „[n]ach meiner Art zurückhaltend und vorsichtig“ (quam ut cunctator et cautus) bezeichnet. Ähnliches gilt im Jahre 358 beispielsweise für die Behandlung der Limiganten, indem Constantius vor den römischen Truppen die Ereignisse unter anderem mit den Worten Revue passieren lässt (Amm. 17,13,30; Übers. Veh): „[N]un war der rechte Augenblick für zeitgemäße Milde gekommen“ (lenitatis tempus aderat tempestivae), und resümierend daran erinnert (Amm. 17,13,32; Übers. Veh): „Wir selbst sehen darin großen Reichtum und gewaltige Schätze, wenn unsere Anstrengungen und unsere Tapferkeit den Besitz aller unversehrt bewahrt haben“ (nobis amplae facultates opumque sunt magni thesauri, si integra omnium patrimonia nostri labores et fortitudo servarint). Vgl. hierzu Maier 2019, S. 106–125, der herausstellt, „dass Ammian seinen Constantius […] präsentiert […] als einen Feldherrn, der die Eskalation der Gewalt nur dann einsetzt, wenn es die Sachlage erfordert“ (S. 123 f.). Das ist gewiss richtig und trifft als grundsätzliches Handlungsprinzip der römischen Kaiser ebenso gut auf Iulian zu – was Maier allerdings in Abrede stellt; vgl. dagegen Heather 2020, S. 81: „Constantius employed broadly the same policy mix as Julian.“ Es ist jedenfalls zu unterscheiden zwischen Schlussfolgerungen aus historischer Perspektive, die es Iulian ratsam erscheinen ließen, den politisch-militärischen Leitlinien des Constantius zu folgen, und einer rein an sprachlichen Befunden erörterten grundsätzlich positiven Sichtweise Ammians auf Iulian gegenüber dem insgesamt negativeren Urteil dieses Historiographen über Constantius: Auf diesem Feld arbeitet Marcos 2015, der mit vornehmlich intratextuellen Beobachtungen über die dem Augustus von Ammian zugeschriebenen militärischen Eigenschaften im Vergleich zu denen seines Caesars Iulian (vor allem Amm. 14,10,14 f. und 16,12,9 f.18) Ergebnisse formuliert, denen man teilweise skeptisch gegenüberstehen muss, sobald man unter historischen Kategorien urteilt. Zu den Grundsätzen der Außenpolitik des Constantius auch Rosen 1968, S. 217; Barceló 1982, S. 25 f., 70–72; ders. 2004, S. 122.

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des Constantius zu besinnen, also „vorsichtig und behutsam“120 zu handeln. Diese Maxime bestimmte Iulian letztlich auch vor der Schlacht bei Straßburg, indem er Ammian zufolge die Soldaten mahnt, sie sollten „lieber den Weg der Vorsicht einschlagen“,121 und, als dennoch die Entscheidung zur Schlacht – nicht zuletzt durch das Verhalten und die Siegesgewissheit der Soldaten122, keineswegs aber aufgrund der Vorgaben Iulians – gefallen ist, auch das aktive Kampfgeschehen dem Grundsatz unterwirft, „mit gehöriger Mäßigung und Vorsicht“123 vorzugehen. Der Erfolg rechtfertigte die Entscheidung zur Schlacht; glaubt man Ammian, waren die römischen Verluste gering.124 Insofern entsprach die Vorgehensweise Iulians in Gallien durchweg der defensiv orientierten Außenpolitik des Constantius im Sinne effizienter Grenzsicherung und der Leitlinie, zur Schonung der römischen Ressourcen Gewalt nur bei Bedarf und günstiger Gelegenheit einzusetzen. Diese Voraussetzung war mit der Schlacht bei Straßburg gegeben, und Iulian hätte das aus lauter Vorsicht beinahe nicht erkannt. Der Eindruck offensiven Draufgängertums war anfangs Iulians mangelnder Erfahrung geschuldet, schließlich dem Willen, die Barbaren links des Rheins zu vertreiben und rechts des Rheins so einzuschüchtern, dass das Defensivziel der Wiederherstellung einer intakten römischen Grenze erreicht und für die Zukunft gesichert wurde,125 darüber hinaus der tendenziösen Absicht der proiulianischen 120 Amm. 16,2,11 (Übers. Veh): erat providus et cunctator. Diese Eigenschaft Iulians kann Maier 2019, S. 177 f. mit Anm. 299, wegen des Bildes, das er von der defensiven militärischen Vorgehensweise des Constantius im Gegensatz zu dem offensiven Haudegen Iulian entwirft, nicht ganz befriedigend erklären. Er harmonisiert seine Deutung im Interesse einer grundsätzlich und seines Erachtens von vornherein bestehenden Dichotomie zwischen der militärischen Strategie des Constantius und der Iulians. Im Sinne desselben Zieles argumentiert Marcos 2015, hier S. 693 f. Plausibler urteilt Rosen 1968, S. 75. – Dass diese vorsichtige Verhaltensweise Iulians keineswegs ein Einzelfall war, sondern Ammian als generellen Zug des Caesars herausstellt, zeigt die diesem anlässlich der Truppenansprache im April 361 vor dem Marsch gegen Constantius in den Mund gelegte Aussage (Amm. 21,5,5; Übers. Veh mit kleinen Veränderungen), „daß ich mich gegenüber dem Heere […] im Heimatland maßvoll und zurückhaltend, in den vielen Kriegen aber mit den Massen ganzer Stammesverbände bedachtsam und vorsichtig zeigte“ (quod exercitui […] domi moderatus visus sum et tranquillus et in crebritate bellorum contra conspiratas gentium copias consideratus et cautus; zu dieser Stelle auch Szidat 1996, S. 40). Es scheint, als habe Iulian in dieser Situation das Heer, auf das er angewiesen war, davon überzeugen wollen, er werde diese Prinzipien auch im Bürgerkrieg anwenden, indem er versprach (Amm. 21,5,7; Übers. Veh), „nichts unüberlegt oder nachlässig zu unternehmen“ (ne quid agatur inconsultum et segne). – Als weiterer Beleg für die Herausstellung des – sachlich aber höchst zweifelhaften – militärtaktischen Gegensatzes zwischen Iulian und Constantius durch den Geschichtsschreiber wird die Diktion bei Amm. 21,5,5 dagegen von Marcos 2015, S. 686 f., 694, in Anspruch genommen; ähnlich auch O’Brien 2013, S. 229 f., 249. 121 Amm. 16,12,9 (Übers. Veh): cautiorem viam potius eligamus. Vgl. hierzu auch Rosen 1968, S. 97 f.; Blockley 1977, S. 222 f., 226 f.; Kelly 2008, S. 314. 122 Vgl. hierzu die Interpretation der Schlacht bei Straßburg in der Darstellung Ammians unter genau diesem Gesichtspunkt bei Ross 2016, S. 141–159. 123 Amm. 16,12,33 (Übers. Veh): pensatione moderata […] et cauta. 124 Vgl. Amm. 16,12,63; zu den Gefallenenzahlen die Kritik von Rosen 1968, S. 111. 125 Vgl. auch Lorenz 1997, S. 57, 63.

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Quellen, einen sich vertiefenden Gegensatz zwischen dem Augustus und dem Caesar zu konstruieren, um die Plausibilität für den Weg zur Usurpation Iulians zu erhöhen. Hinzu kommt das Bemühen, im Bericht über die Schlacht bei Straßburg die überlegte römische Vorgehensweise mit der ungestümen barbarischen Kampfestaktik zu kontrastieren. Insofern gehen Überlegungen fehl, die im Vertrauen auf den Inhalt der proiulianischen Quellen in der militärischen Vorgehensweise des Caesars in Gallien das Ideal eines aktiven Kriegerkaisers repräsentiert sehen, im Vergleich zu dem Constantius als defensiv taktierender Feldherr im Wesentlichen negativ konnotiert sei.126 Vielmehr dürfte sich Iulian während seines Aufenthalts in Gallien mit seinen gewiss hier und da auch ungestümen Aktionen durchweg in den Dienst des von Constantius vorgegebenen Defensivziels der Wiederherstellung und Sicherung der Rheingrenze gestellt haben – auch um durch die Identifikation mit diesem Auftrag das in ihn gesetzte Vertrauen zu rechtfertigen und sich womöglich stillschweigend für weitergehende Aufgaben zu empfehlen.127 Im Grundsatz ansprechender als die Herausstellung des Kriegerkaisers Iulian wirkt demgegenüber das Bild vom Wandel eines in Gallien angesichts einer begrenzten und präzise formulierten Aufgabe – imperii fines erunt intacti128 – zunächst unter anderem, aber nicht nur mit offensiver Taktik vorgehenden Caesars zu einem Kaiser, der im weiteren Zeitverlauf und im Gefolge seiner Usurpationsvorbereitungen zu einer militärischen Vorgehensweise fand, die die Belange des Gesamtreichs berücksichtigte und infolgedessen für eine defensive Außenpolitik stand.129 Für die Übereinstimmung zwischen Constantius 126 Dieses dichotomische Bild vertritt Maier 2019, zusammenfassend S. 207 f., 250. – Iulian gelang es allerdings bei Ammian (16,12,9–12) trotz rhetorischen Aufwandes nicht, die Soldaten – Amm. 16,12,13 (Übers. Veh): „Dabei bauten sie auf die hilfreiche Gnade eines himmlischen Gottes, auf ihr Selbstvertrauen und auf die erprobten Fähigkeiten ihres glückhaften Führers“ (caelitis dei favore fiduciaque sui et fortunati rectoris expertis virtutibus freti) – wenigstens für den Augenblick von der Schlacht bei Straßburg abzuhalten (dazu Ross 2016, S. 144 f., 153–155), anders übrigens als Constantius in vergleichbaren Fällen (vgl. oben Anm. 119). Bei Straßburg trafen also übergeordnete Gesichtspunkte zu, die zur Schlacht bei günstiger Gelegenheit rieten, was die Soldaten, aber auch Iulians Beraterstab (vgl. oben mit Anm. 115), weniger der Caesar selbst erkannten; vgl. hierzu unten Abschnitt 7 mit Anm. 220. 127 Zu solchen Ambitionen Iulians vgl. auch Heather 2020, S. 93, der diese bis auf die Zeit der Ernennung zum Caesar zurückführt. Vgl. dazu ferner oben Abschnitt 3 mit Anm. 73. 128 Amm. 15,8,7. Das Prinzip, „to maintain territorial integrity and frontier security“, wird von Marcos 2015, S. 691, als politische Leitlinie lediglich des Constantius, nicht aber Iulians verstanden. 129 Das ist die Grundthese der Erörterungen Müller-Seidels 1955, mit deren Hilfe die Autorin die von langer Hand vorbereitete Planung der Usurpation durch Iulian wahrscheinlich zu machen sucht. Dabei stellt sie – zu Recht – in Frage, „ob Julians und Konstantius’ Politik gegenüber den Germanen sich in Wahrheit grundsätzlich unterschieden“ (S. 226). Antworten finden sich ebd., S. 231, 234, 236 f., 241 f. Im Grundsatz ähnliche Ansichten vertreten beispielsweise Barceló 1982, S. 47 f.; Seager 1999, S. 594; Heather 2020, S. 82, 87. – Gegenteiliger Meinung ist Marcos 2015, S. 694 f., der im Kontext einer philologisch orientierten Untersuchung historische Schlussfolgerungen formuliert und mit Belegen ausstattet (in Anm. 81 nennt er Paneg. 3[11],3,1; Lib. or. 18,90; Eutr. 10,14,2), die zwar eine proiulianische Sicht vertreten mögen, aber die vom Autor wie folgt formulierten Konsequenzen expressis verbis gerade nicht ziehen: „Julian actually surpassed his mandate by re-extending Roman boundaries in Gaul and

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und Iulian in der Politik gegenüber den germanischen Stämmen am Rhein sprechen die Übertragung der Aufgabe an den Caesar und deren Übernahme durch ihn, vor allem auch sein unbedingter Wille, diesem Auftrag gerecht zu werden. Damit fügte er sich offenbar zunächst voll und ganz in die ihm zugedachte Rolle als apparitor fidus.130 Später dann schien Iulian die ihm von Constantius mitgegebene Orientierung an den politischen Richtlinien zur Erhaltung des Reiches in den bestehenden Grenzen für die Absicherung des römischen Machtbereichs am Rhein auch als Maxime zunehmend eigenständiger Politik übernommen zu haben;131 das zeigen beispielsweise die durch Verträge mit dem Ziel der „Bindung an das Imperium“ abgeschlossenen Expeditionen ins rechtsrheinische Gebiet, die „eine dauernde Abhängigkeit“,132 aber keine Unterwerfung sicherstellen sollten, und andere Feldzüge, die er durch von ihm beauftragte Feldherren durchführen ließ.133 Angesichts solcher Maßnahmen aber stimmten Constantius und Iulian in den Leitlinien der Reichspolitik überein; auf diesem Gebiet gab es also eine gemeinsame politische Grundüberzeugung und keine Differenzen, auch wenn die spätere proiulianische Publizistik einen gegenteiligen Eindruck erweckt und Constantius für seine Verhandlungspolitik zur Grenzsicherung gegenüber auswärtigen Stämmen Feigheit unterstellt.134 Ungeachtet dieses Befundes wäre allerdings zu fragen, ob das Vertrauen Germany back to their former limits under the High Empire of the Antonines.“ Zu derartigen Schlussfolgerungen berechtigen gelegentliche Vergleiche Iulians mit Traian (dazu Marcos 2015, S. 683) und anderen römischen Kaisern des zweiten Jahrhunderts bei Ammian (16,1,4; 17,1,11) keineswegs. Im Übrigen ist nicht zu erkennen, dass die Aussagen bei Amm. 15,8,7 (eigene Übers.): „[U]nd die Grenzen des Reiches werden unversehrt sein“ (et imperii fines erunt intacti) sowie bei Eutr. 10,14,2 (Übers. Bleckmann/Groß): „Später wurde[…] von […] Julian […] das römische Reich in seinen Grenzen wiederhergestellt“ (postea per […] Iulianum […] finibus suis Romanum imperium restitutum) substantiell voneinander abweichen. 130 Vgl. Abschnitt 1. 131 Vgl. auch Müller-Seidel 1955, S. 231–234, 236 f.; diesen Argumenten folgt Rosen 1968, S. 109; ders. 1969/1978, S. 432. Vgl. ferner Blockley 1972, S. 448 f.; Matthews 1989, S. 95; Bleckmann 2020, S. 110, mit Hinweis auf „[t]he increasing independence of Julian’s position as Caesar, more or less tolerated by Constantius“. – Vgl. ferner die gegenüber den römischen Soldaten in der Schlacht bei Straßburg ganz staatsmännisch anmutende Ansicht Iulians (Amm. 16,12,31; Übers. Veh): „‚Seht ihr, meine Waffengefährten, der langerhoffte Tag ist nun da! Er heißt uns alle früheren Schandmale tilgen und der Majestät Roms ihren gebührenden Glanz zurückgeben!‘“ („en“, inquit, „commilitones, diu speratus praesto est dies compellens nos omnes elutis pristinis maculis Romanae maiestati reddere proprium decus“). 132 Müller-Seidel 1955, S. 232 (beide Zitate). 133 Dabei kann man an die Expedition nach Britannien gegen die Scoten und Picten denken, mit der Iulian den Heermeister Lupicinus (vgl. PLRE 1, 1971, S. 520 f. [Lupicinus 6], und den Boeft u. a. 1987, S. 5 f.) beauftragte (vgl. Amm. 20,1,1 f.), und an den Feldzug gegen die Alemannen Vadomars (vgl. PLRE 1, 1971, S. 928 [Vadomarius]), den der Comes Libino (vgl. PLRE 1, 1971, S. 508) befehligte (vgl. Amm. 21,3,1–3). Für beide Unternehmungen wurden übrigens Verhandlungslösungen in Aussicht genommen (Amm. 20,1,2: ratione vel vi; Amm. 21,3,2: ut poscebat ratio), wie sie auch Constantius seit jeher favorisierte. Zu dieser Vorgehensweise Iulians vgl. Müller-Seidel 1955, S. 233 f., 236 f. 134 Vgl. etwa Iul. ad Ath. 280 b (Übers. Stöcklin-Kaldewey): „Constantius […], der es sehr gewohnt war, den Barbaren aufzuwarten“ (Κωνσταντίῳ […] λίαν εἰωθότι θεραπεύειν τοὺς βαρβάρους). Vgl. auch Müller-Seidel 1955, S. 236 f.

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Iulians Ende der 350er-Jahre überhaupt noch Constantius persönlich galt oder ob er im Laufe gewonnener Erfahrungen die außenpolitischen Grundsätze des Kaisers unabhängig von dessen Person als sachlich richtig und weiterführend anerkannte. Indes funktionierte die Vertrauensbeziehung zwischen Iulian und Constantius keineswegs reibungslos und stabil, sondern ließ beide Parteien immer wieder zu Ersatzmaßnahmen greifen, mit denen diese das Verhältnis zu stabilisieren gedachten, damit der Caesar erfolgreich seinen Aufgaben nachkommen konnte und die persönliche Präsenz des Augustus im Westen entbehrlich wurde. Als besondere Bemühungen Iulians, die Vertrauensbildung zu intensivieren, können die Lobreden gelten, die er in Gallien auf Constantius und auf dessen Ehefrau Eusebia verfasste.135 Mit dem literarischen Sujet der Panegyrik knüpfte der Caesar zunächst an die eigene rhetorische und philosophische Bildung an, die er erworben hatte und die ihn neben der Verwandtschaft mit Constantius anfangs möglicherweise für die Caesarwürde so geeignet erscheinen ließ, weil die mangelnde militärische Erfahrung unliebsame Ambitionen auf diesem Gebiet zu verhindern und Constantius’ Vormachtstellung zu schützen schien.136 Mit den panegyrischen Reden vermochte Iulian auf einem Gebiet Vertrauenswerbung zu betreiben, auf dem er sich zunächst sicherer als in den Aufgabenbereichen fühlen durfte, die ihm als Caesar anvertraut waren und bei denen er vielleicht – zu Anfang mehr als später – den Eindruck hatte, ihnen nicht in vollem Umfang gerecht werden zu können, so dass er es daher womöglich als sinnvoll erachtete, zu ergänzenden Maßnahmen zu greifen. Sieht man also in diesen Reden von Iulian planvoll eingesetzte Mittel der Vertrauensbildung, die vor allem auf Constantius zielten, bei dem Philosophie und Bildung bekanntermaßen ebenfalls einen hohen Stellenwert einnahmen,137 so geht es nicht an, diese Panegyrik als doppelbödige Abrechnung mit dem Augustus zu deuten,138 sondern ist es erforderlich, die affirmative Ausrichtung der von den Reden ausgehenden Botschaften Iulians ernst zu nehmen. Kaiserkritik kann hier also keine nennenswerte Rolle gespielt haben und hätte das ohnehin nicht unumstrittene Ansehen Iulians am Hofe des Constantius vollends untergraben. Das wäre den Absichten Iulians völlig zuwidergelaufen; er wollte doch mit der Panegyrik um Vertrauen für die eigene Person und damit um das Vertrauen anderer in seine Bemühungen werben, er werde sich mit Zuversicht und mit Aussicht auf Erfolg den Aufgaben stellen, mit denen er in Gallien konfrontiert sei.139 135 Iul. or. 1–3. 136 Vgl. die Ausführungen in den Abschnitten 2 und 3. 137 Als nicht in jeder Hinsicht gerecht erscheint das Urteil bei Amm. 21,16,4; vgl. dagegen Aur. Vict. 42,1–4. Vgl. hierzu Sehlmeyer 2009, S. 140–143; ferner etwa Drinkwater 1983, S. 356; Teitler 1992, S. 119 f.; Seiler 1998, S. 174 f.; Vatsend 2000, S. 75 f.; O’Brien 2013, S. 227. 138 So aber die Tendenz etwa von Bringmann 2004, S. 49–51, und durchweg von Maier 2019, S. 186–207; kritisch demgegenüber Lambrecht 2019, S. 467 f. 139 Vgl. auch Bowersock 1978, S. 37, der in Iulians erster Rede „a vivid proof of the cordial relations which Julian was anxious to maintain with Constantius“ sieht und urteilt: „It would be wrong to conclude that Julian’s policy at this time was necessarily calculating and Machiavellian.“ Demgegenüber setzt etwa Tougher 2012 auf eine doppelbödige Botschaft Iulians.

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Ein passender Ansatz für das Verständnis der wohl Ende 356 oder spätestens 357 entstandenen ersten Lobrede Iulians auf Constantius140 liegt in ihrer Interpretation als Hervorhebung der Verdienste des Kaisers um den Westen des römischen Reiches.141 In diesem Sinne spielen hier die Usurpation des Magnentius142 und deren erfolgreiche Bewältigung durch Constantius eine zentrale Rolle.143 Die Ereignisse im Zusammenhang mit dem Bürgerkrieg gegen Magnentius brachten Constantius nach dem Tod seines Bruders Constans die Alleinherrschaft über das römische Reich ein, so dass sich der Kaiser ab 353 im Westen um die Bereinigung der längerfristigen Usurpationsfolgen kümmern musste. Dabei kam dann bald Iulian selbst ins Spiel, der die vom Augustus zu diesem Zweck im gallischen Raum begonnenen Maßnahmen als Caesar zu Ende führen sollte und auf diese Weise angesichts der Nachbarschaft Galliens und Italiens144 eine Schlüsselstellung für das reibungslose Funktionieren des römischen Reiches übernahm,145 das nicht zuletzt von der guten Kooperation zwischen Constantius und ihm abhing. So enthält das Lob für Constantius in dieser Rede immanent zugleich die Versicherung, dass sich Iulian der mit der Caesarwürde und der Zuständigkeit für die gallische Präfektur verbundenen Verantwortung bewusst war; er richtete auf diese Weise, ohne es allzu deutlich aussprechen zu müssen, mit seinen Worten über Constantius zugleich den Blick auf seine eigene – keineswegs unbedeutende – Rolle.146 Daher verbinden dieser Bürger140 Bowersock 1978, S. 37, plädiert für 356, Tantillo 1997, S. 37, für 357, Tougher 2012, S. 21, für 356, Rosen 2006, S. 143, für Winter 356/57. 141 Darauf beruht die Deutung von Ross 2018, der damit zugleich doppelbödige Kritik Iulians an Constantius für diesen Panegyricus in Abrede stellt; vgl. Ross 2018, S. 183–185. Die von Ross neben den historischen Aspekten vor allem untersuchten literarischen Gesichtspunkte (Auseinandersetzung Iulians mit Them. or. 1 und besonders Lib. or. 59, Reden, die Constantius’ Wirken im Osten in den Mittelpunkt stellen) können hier außer Betracht bleiben. 142 Unter Berücksichtigung der gesamten Überlieferung interpretiert von Omissi 2018, S. 170– 180. 143 Vgl. Iul. or. 1,21 c; 33 d–40 b; 41 d–42 c. Im Zusammenhang mit der Bewältigung dieser Usurpation setzt Iulian anhand des Vergleichs zwischen Constantius II. und dessen Vater (Beseitigung des Maxentius und Einzug in Rom 312) panegyrische Überbietungstopik in Szene; vgl. Iul. or. 1,9 b; 10 a; 37 b; ferner Them. or. 3,44 a–b. Zu diesem Aspekt vgl. Moser 2018, S. 303–311, besonders S. 306–308. 144 Dabei ist an die Gefährdung Italiens durch Magnentius zu denken. Angesichts dieses Blickwinkels ist es kaum gerechtfertigt, hinter dem Lob für Constantius im Umgang mit dem Usurpator Magnentius eine Herabsetzung des Kaisers durch Iulian zu sehen; so aber Maier 2019, S. 192 f. Dasselbe gilt für den Umgang mit dem Usurpator Vetranio (vgl. Iul. or. 1,30 d–33 c): Hier wurde durch die Macht der Worte des Constantius ein Bürgerkrieg vermieden. Darin ist, anders als Maier 2019, S. 190 f., meint, keine hintergründige Kritik am Kaiser zu erkennen, zumal sich Iulian mit dem Panegyricus auf eine ähnliche Ebene begab, die auf den Einfluss der Worte baute, um hierdurch die Vertrauensbasis zwischen dem Augustus und dem Caesar zu vertiefen; Iulians Ausruf (or. 1,33 a; eigene Übers.): „Welche Wortgewalt muss das gewesen sein!“ (τίς οὖν ἡ ῥώμη γέγονε τῶν λόγων;), weist zugleich auf seine eigenen Hoffnungen hin, die er mit der Lobrede auf Constantius verband. 145 Vgl. Ross 2018, S. 201, unter Hinweis auf Iul. or. 1,35 a. 146 Vgl. Iul. or. 1,44 d–45 b mit sorgsam gewählten Worten der Bescheidenheit über die eigene Funktion in Gallien.

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krieg und seine Folgen für Gallien geradezu das Schicksal des Augustus und seines jungen Caesars. Infolgedessen schlug Iulian auf dem Weg über das Lob für Constantius eine gedankliche Brücke zu sich selbst147 und stellte indirekt mit der Interessengemeinschaft, die den Augustus und den Caesar vereinte, zugleich die Vertrauensbasis zwischen den beiden Herrschaftsträgern heraus, die sie in ihren jeweiligen Rollen in den Stand versetzte, zum Vorteil des Reichsganzen zusammenzuwirken. Rechnet man mit der antiken Auffassung, dass die gute Ehefrau eines Römers mit ihrem Ehemann harmonisch übereinstimmte,148 so fällt auch in der gratiarum actio, mit der Iulian wohl in den Anfangsjahren seiner Tätigkeit in Gallien seine Gönnerin Eusebia bedachte,149 ein bezeichnendes Licht zugleich auf Constantius150 als den Nutznießer der von ihm angebahnten und geförderten Entwicklung.151 In diesem Pendant zu seiner ersten Lobrede auf Constantius152 setzte sich das dem Kaiser zugedachte Lob und damit die Werbung um Vertrauen auf dem Umweg über dessen Gattin fort. Dazu zählt unter anderem der Dank Iulians für die ihm zur Verfügung gestellte Bibliothek,153 welcher einerseits den Gleichklang der geistigen Interessen zwischen dem Kaiserpaar – vor allem Constantius – und Iulian erkennen lässt.154 Andererseits gab diese Literatur dem Caesar im Sinne der didaktisch-pragmatischen Zielsetzung gerade antiker Geschichtsschreibung die Möglichkeit, sich am Vorbild der Strategie und Taktik vergangener Zeiten auszurichten.155 Also dankte Iulian zugleich auch für die Aushändigung grundlegender Literatur mit Beispielen praktischen Vorgehens als Wegweisern für angebrachtes politisches und militärisches Handeln – formal wohl Eusebia, unausgesprochen aber gewiss vor allem dem hinter seiner Ehefrau stehenden Constantius. Der Kaiser traute seinem Caesar insoweit also zu, sich mit Hilfe der ihm zur Verfügung gestellten Literatur in den Stand zu versetzen, die hier vorgefundenen Anwendungsbeispiele auf 147 An dem unverfänglichen Beispiel wechselseitigen Wohlwollens durch Iulian beispielsweise angesprochen im Zusammenhang mit der vom Redner gelieferten epideiktischen Ansprache; vgl. Iul. or. 1,3 b (eigene Übers.): „Wenn ich nun etwa einer von denen wäre, die Prunkreden besonders schätzten, müsste ich mein Vorhaben daher beginnen, indem ich von dir dasselbe Wohlwollen einfordere, das dir bereits von mir entgegengebracht wird, und dich bitte, dich als gewogener Zuhörer meiner Worte zu erweisen.“ (Εἰ μὲν οὖν καὶ αὐτὸς εἷς ὢν ἐτύγχανον τῶν τοὺς ἐπιδεικτικοὺς ἀγαπώντων λόγους, ἐχρῆν ἐντεῦθεν ἄρχεσθαι τῆς ὑποθέσεως, τὴν ἴσην εὔνοιαν ἀπαιτήσαντα τῆς ὑπαρχούσης ἤδη σοι παρ᾿ ἡμῶν καὶ δεηθέντα τῶν λόγων ἀκροατὴν εὐμενῆ γενέσθαι.). 148 Vgl. Iul. or. 2 [Bidez],121 b; dazu auch oben Anm. 63. 149 Tougher 1998a, S. 107, 122, plädiert für 356, Vatsend 2000, S. 11–13, Wieber 2010, S. 257, und García Ruiz 2012, S. 71, für 356/57; James 2012, S. 47, für 355/56. Weitere Zeitansätze sind zusammengestellt bei Washington 2020, S. 94 mit Anm. 7. 150 Vgl. Tougher 1998a, S. 112, 116; dens. 1998b, S. 597; Vatsend 2000, S. 85 f., 97–100; Wieber 2010, S. 274; James 2012, S. 49 f., 52; Washington 2020, S. 107 f., 112. 151 Vgl. hierzu die Ausführungen in Abschnitt 3. 152 Vgl. Tougher 1998a, S. 109 f. 153 Iul. or. 2 [Bidez],123 d–124 a. 154 Vgl. die Ausführungen oben mit Anm. 137. 155 Iul. or. 2 [Bidez],124 b–d, ferner Lib. or. 18,72. Vgl. hierzu Filippo/Ugenti 2016, S. 158, ferner Bowersock 1978, S. 36; Bringmann 2004, S. 52, 58; Rosen 2006, S. 135 f.

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die eigene politisch-militärische Praxis zu übertragen, und so die nötige Erfahrung zu sammeln. Auch darin kann ein Hinweis auf das kaiserliche Vertrauen gesehen werden; insofern erinnert dieser Aspekt des Dankes an das Argument der intellektuellen Leistung, die Constantius laut Ammian als Grund für die Erhebung Iulians zum Caesar anführt156 und die einmal mehr mit den an Eusebia gerichteten Worten Iulian selbst in den Mittelpunkt rückt. Weniger klar als in der ersten Lobrede auf Constantius scheinen die gedankliche Linien im zweiten dem Kaiser gewidmeten Panegyricus entwickelt zu sein, den Iulian im Jahre 358 oder 359 verfaßt haben dürfte.157 Es ist durchaus zu erkennen, dass das Selbstbewusstsein Iulians gegenüber dem ersten Panegyricus auf Constantius zugenommen hat,158 wenn er mit Achill und Agamemnon auf das nicht unbedingt immer konfliktfreie Verhältnis zwischen ihm selbst und Constantius anspielen sollte,159 auch ohne dass man sich an Spekulationen über die Bedeutung der Inhalte dieser Rede beteiligt,160 die durch die Kenntnis der späteren Usurpation Iulians und ihrer Folgen gespeist sein dürften. Wahrscheinlich war zur Zeit der Abfassung dieser Lobrede die Schlacht bei Straßburg längst geschlagen und Iulian dabei, die ihm in Gallien gestellten Aufgaben abzuschließen sowie die Rheingrenze für das römische Reich endgültig zu sichern. Diese Entwicklung ließ ihn hoffen oder sogar erwarten, Constantius werde dies honorieren; denn Iulian ließ am Beispiel der Usurpation des Magnentius, die ja gerade auch Gallien in Mitleidenschaft gezogen hatte, abermals deutlich erkennen, dass er sich mit den Anliegen des Augustus identifizierte und sich insofern loyal hinter ihn stellte, was die Reichspolitik und den Umgang mit Usurpationen betraf.161 Damit beschwor er zugleich – immer noch – die gemeinsame Vertrauensbasis herauf, die beide, so der zumindest äußere Eindruck, in der Reichspolitik am gleichen Strang ziehen ließ.162 Ebenso gab Iulian aber auch zu erkennen, dass er nicht nur bereit war, zu seiner Verantwortung im derzeitigen Betätigungsfeld zu stehen, sondern auch Verantwortung für das ganze Reich zu übernehmen, und empfahl sich so für weitergehende Aufgaben.163 Insofern mag hinter dem Philosophenkönig, dem er im Panegyricus lange Erörterungen widmet,164 durchaus Constantius II. stehen; genauso gut dürfte Iulian dieses Bild aber auch für sich selbst als zutreffend beanspruchen. Daher ist an dieser Rede nicht genau auszumachen, was 156 Vgl. Amm. 15,8,8.10; dazu die Ausführungen im Abschnitt 2. 157 Bowersock 1978, S. 43, datiert diese Rede in das Jahr 358, Rosen 1969/1978, S. 426, 431, in die Jahreswende 358/59, Curta 1995, S. 196, 210, in das Jahr 359, unentschieden Drake 2012, S. 39: „the more rebellious the oration sounds, the later a date it requires.“ 158 Vgl. Bleckmann 2020, S. 109 f. 159 Vgl. auch Rosen 2006, S. 168. 160 Diese führen so weit, dass man nicht ausschließt, bei diesem Panegyricus handle es sich um eine Parodie; vgl. Curta 1995, S. 209, sowie Drake 2012, S. 41, 43. 161 So spricht Iulian (or. 3 [Bidez],58 a; eigene Übers.) davon, mit Magnentius sei die Gefahr einhergegangen, dass „er uns unserer Würde beraube“ (ἀφελέσθαι τοῦ γέρως ἡμᾶς). 162 Vgl. auch Bowersock 1978, S. 43. 163 Vgl. die Ausführungen oben Abschnitt 3 mit Anm. 73 und im laufenden Abschnitt mit Anm. 127. 164 Vgl. vor allem Iul. or. 3 [Bidez],78 c–92 d.

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bei diesem unausgesprochenen Vergleich – wenn nicht Vexierbild – vertrauensvolle Übereinstimmung und was inzwischen Konkurrenz um die Rolle des Besten – mit ihren denkbaren negativen Begleiterscheinungen – sein mochte.165

6. Iulians Erhebung zum Augustus und ihre Folgen Brüche im Vertrauen zu und im Verhältnis mit Constantius aber mochten sich nach dem Sieg bei Straßburg und der endgültigen Sicherung der Rheingrenze auf Dauer aus dem zunehmenden Drang Iulians nach mehr Entscheidungsfreiheit und Selbständigkeit ergeben, ohne dass sie zunächst offenkundig wurden; der Erfolg dürfte in ihm das Bewusstsein gestärkt haben, dem ihm gestellten Auftrag voll und ganz gerecht geworden und deshalb zu höheren Aufgaben berufen zu sein166 – von denen Constantius freilich nichts wissen wollte.167 Zwar gab sich Iulian nach der Schlacht bei Straßburg trotz der – vergeblichen – Versuche der Soldaten, ihn bei dieser Gelegenheit zum Augustus auszurufen, nach außen mit seiner Rolle als Caesar zufrieden und konnte sich so öffentlich zu den mit Constantius gemeinsamen Vertrauensgrundlagen bekennen.168 Es ist aber mehr als wahrscheinlich, dass er – äußerlich Constantius gegenüber loyal – im Hintergrund die Rangerhöhung vorbereitete und zu diesem Zweck eine Usurpation bei günstiger Gelegenheit nicht ausschloss.169 Neben Ursachen, die in der Konstruktion einer dem Augustus untergeordneten Herrschaftsbeteiligung Iulians mit territorialer Zuständigkeit liegen dürften,170 bildete schließlich Anfang des Jahres 360 die an den Heermeister Lupicinus171 gerichtete Anforderung gallischer Truppen durch Constantius für den Feldzug gegen die Perser den Anlass zur Usurpation. Dieses Ansinnen war in Anbetracht der von Iulian erfolgreich zum Abschluss gebrachten Grenzsicherung am Rhein keineswegs ein

165 Vgl. auch Athanassiadi 1992, S. 63–66, und Drake 2012, S. 38 f. 166 Vgl. auch die Argumentation bei Heather 2020, S. 90–94: Die Zustimmung des Constantius zu größerer Selbständigkeit Iulians gegenüber dem ihn umgebenden Personal bedeute zugleich eine größere Gefährdung des Caesars, die dessen Risikobereitschaft wachsen lasse; der Ehrgeiz Iulians hinsichtlich einer Verbesserung seiner Stellung im Machtgefüge sei bereits seit seiner Erhebung zum Caesar geweckt; hinzu komme seine religiös gestützte Überzeugung, zu Höherem bestimmt zu sein. Der letzte Gesichtspunkt wirkt allerdings wenig überzeugend, da er von der erst später (im Jahre 362) geäußerten Behauptung Iulians abhängt, bereits seit ca. 351 Anhänger der alten Götter zu sein; vgl. dazu oben Anm. 23. 167 Die klare Subordination des Caesars Iulian unter den Augustus Constantius zeigen auch gewisse Äußerlichkeiten an, wie das fehlende Recht des Caesars, ein Diadem zu tragen; dazu Chantraine 1985, S. 24, mit Bezug auf Amm. 20,4,17 f. Vgl. auch Szidat 1977, S. 164. 168 Vgl. Amm. 16,12,64. Zur Bewertung dieses Handelns als Taktik im Lichte der späteren Usurpation Iulians von 360 vgl. Huttner 2004, S. 284 f. Vgl. auch Rosen 2006, S. 151 f. 169 Vgl. das Resümee bei Müller-Seidel 1955, S. 241–244, hier besonders S. 241, 244, außerdem auch Szidat 1977, S. 83 f. 170 Vgl. hierzu Heather 2020, S. 90, und Bleckmann 2020, S. 98. 171 Vgl. oben Anm. 133.

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Zeichen fehlender Loyalität gegenüber dem Caesar,172 der Kaiser vielmehr zu dieser Maßnahme aus wohlerwogenen Sachgründen völlig berechtigt;173 es lag darin also mitnichten ein Vertrauensbruch von seiner Seite vor. Um den Schein aufrechtzuerhalten, er selbst sei von der – in Wirklichkeit sorgfältig vorbereiteten – Erhebung zum Augustus völlig überrascht worden, stilisierte sich Iulian „zum gänzlich machtlosen Objekt, das sich der Gewalt des Militärs einerseits und dem Willen der Götter andrerseits ausgeliefert sieht“.174 So suchte Iulian den von ihm selbst ausgehenden Vertrauensbruch gegenüber Constantius zu kaschieren, stattdessen späterhin an der loyalen Haltung seines Cousins ihm gegenüber mit bekannten Argumenten, die sich im Grunde rückwirkend auf die gesamte Zeitspanne seines Wirkens als Caesar in Gallien bezogen, Zweifel zu säen und dem Augustus zugleich mit der geplanten Verlegung gallischer Truppen an die Ostgrenze des römischen Reiches einen eklatanten Vertrauensbruch gegenüber seinem Caesar in die Schuhe zu schieben. Die auffällige Intensität, mit der Iulian im Rückblick anlässlich seiner eigenen Erhebung zum Augustus in dem Schreiben an die Athener auf das Verhältnis zu Constantius eingeht,175 offenbart nur zu deutlich, dass er – spätestens zum Zeitpunkt des unmittelbar drohenden Bürgerkrieges – Rechtfertigungsbedarf gegenüber der Öffentlichkeit verspürte und diese von seiner Position überzeugen wollte. Ein bezeichnender Satz zeigt Iulians Deutung des Vertrauensbruchs durch eine Vertrauensverlagerung an, die das bisherige Vertrauen auf den Kaiser durch das Vertrauen auf die höhere, übermenschliche 172 Iulian selbst und die seiner Version folgenden Quellen führen die Truppenanforderung allerdings auf Constantius’ Eifersucht und Neid gegenüber dem erfolgreichen Caesar und auf Intri­ gen der Iulian vom Augustus beigegebenen und angeblich allein diesem, nicht dem Caesar treuen hohen Beamten zurück; vgl. Iul. ad Ath. 282 c–d; Lib. or. 18,90–92; Amm. 20,4,1 f.; Paneg. 3(11),4,5; Zos. 3,8,3. Dieser – tendenziösen Quellen entstammenden – Sichtweise schließt sich Drinkwater 1983, S. 384, an, indem er in Abrede stellt, Constantius habe diese Truppen für den Perserfeldzug benötigt, und stattdessen politische Argumente in Reaktion auf eine Verbesserung der Reputation Iulians zu Constantius’ Nachteil als ausschlaggebend ansieht; vgl. auch oben Anm. 107. – Auf die Bedeutung des sich verschlechternden Verhältnisses zu den Beamten, mit denen Constantius Iulian ausgestattet hatte, für die Erhöhung der Bereitschaft des Caesars zur Usurpation macht Szidat 1977, S. 81–84, 136 f., aufmerksam. In diesem Zusammenhang weist Szidat insbesondere auf den Stellenwert der – angeblich auf Veranlassung hoher Beamter Iulians im Jahre 359 erfolgten (vgl. Iul. ad Ath. 282 c; Lib. or. 18,85) – Abberufung des quaestor sacri palatii Saturninius Secundus Salutius (vgl. PLRE 1, 1971, S. 814–817 [Secundus 3]) durch Constantius hin, eines Beamten, mit dem Iulian bestens zusammenarbeitete und im Laufe der Zeit eine enge Freundschaft verband (vgl. Iul. or. 4 [Bidez],241 c–d); hierzu auch Vogler 1979, S. 97, 101 f. Zu Salutius und der Trostschrift Iulians anlässlich seiner Abberufung vgl. auch Lössl 2012; Bringmann 2004, S. 64 f.; Rosen 2006, S. 166 f. 173 Vgl. Müller-Seidel 1955, S. 227, 230; Szidat 1977, S. 140; Matthews 1989, S. 94 f.; Bringmann 2004, S. 67. 174 Zur Augustuserhebung Iulians vgl. Huttner 2004, S. 267–295 (das Zitat S. 268), mit Diskussion der relevanten Quellenstellen und Literatur. Zu den Formalien dieser Augustuserhebung vgl. Straub 1939/1964, S. 58–66, und Rosen 1969/1978. 175 Iul. ad Ath. 285 a und 285 d–286 d.

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Instanz Gottes beziehungsweise der Götter ersetzte176 und so sein Handeln immanent legitimieren sollte: „Ich hätte zweifellos zuversichtlich sein (θαρρεῖν) sollen im Vertrauen (πιστεύοντα) auf den Gott, der mir ein Zeichen offenbart hatte.“177 Iulians anschließende Aussage bekundet die mit diesem Vertrauenswechsel vorgeblich verbundenen Gewissensbisse: „[D]och ich war furchtbar beschämt und wollte im Boden versinken, schien ich doch dem Constantius nicht treu (πιστῶς) bis zum Ende Gehorsam zu leisten.“178 Angesichts der Feststellung, dass das Argument einer Einflussnahme Gottes beziehungsweise der Götter zugunsten Iulians179 in dessen Schriften immer wieder als indirekte Rechtfertigungsstrategie für sein faktisch zur Usurpation führendes Handeln Verwendung findet,180 muss man den offenen Vertrauensbruch gegenüber Constantius für mit der Erhebung des Caesars zum Augustus vollzogen und das schlechte Gewissen für ein bloßes Lippenbekenntnis halten. Davon zeugt nicht zuletzt die allmählich immer deutlicher hervortretende – wenn auch mit der offenen Abwendung Iulians vom Christentum wohl bewusst zurückverlegte – Berufung auf die Götter als Legitimationsstrategie Iulians,181 der gegenüber die Abstammung aus dem christlichen Hause Constantins und damit die Verwandtschaft mit Constantius anscheinend keine nennenswerte Rolle mehr zu spielen vermochte. Aus Iulians Äußerungen geht nur zu deutlich hervor, dass der Vertrauensbruch von ihm selbst und keineswegs, wie an anderen Stellen insinuiert, von Constantius ausging. Durch die Erhebung seiner Person zum Augustus zertrennte Iulian nämlich mutwillig das von seiner Seite aus brüchig gewordene Band des Vertrauens zwischen ihm und Constantius. In diesem Vertrauen mag seitens 176 Vgl. dazu des Näheren die Ausführungen unten in Abschnitt 7. 177 Iul. ad Ath. 285 a (Übers. Stöcklin-Kaldewey): Καίτοι χρῆν δήπουθεν πιστεύοντα τῷ φήναντι θεῷ τὸ τέρας θαρρεῖν· Vgl. auch die vorausgehende Ermutigung durch Zeus bei Iul. ad Ath. 284 c und die Erscheinung des Genius publicus bei Amm. 20,5,10; zu dieser Stelle Straub 1939/1964, S. 60; den Boeft u. a. 1987, S. 130 f.; Huttner 2004, S. 289 f. 178 Iul. ad Ath. 285 a (Übers. Stöcklin-Kaldewey): ἀλλ᾿ ᾐσχυνόμην δεινῶς καὶ κατεδυόμην, εἰ δόξαιμι μὴ πιστῶς ἄχρι τέλους ὑπακοῦσαι Κωνσταντίῳ. Zur Einordnung des damit angesprochenen Loyalitätsproblems in die Inszenierung der recusatio imperii durch Iulian vgl. Huttner 2004, S. 270 f. 179 So spricht Iulian im Brief an die Athener wenige Zeilen nach dem Bekenntnis des schlechten Gewissens (Iul. ad Ath. 285 d; Übers. Stöcklin-Kaldewey) über „den mir von den Göttern verliehenen Titel“ (τῇ δοθείσῃ μοι παρὰ τῶν θεῶν ἐπωνυμίᾳ). Vgl. die kommentierende Zusammenstellung der einschlägigen Passagen in dieser Quelle bei Huttner 2004, S. 267–271. Vgl. ferner Rosen 1969/1978, S. 427. 180 Vgl. zum Beispiel auch Iul. or. 4 [Bidez],249 a–c. Zur Bewertung vgl. Szidat 1977, S. 83 f. Vgl. ferner Iul. epist. 28 [Bidez] und 26 [Bidez],414 b sowie den ‚Mustermythos‘ Iul. or. 7,227 c–234 c; zu diesen Quellenpassagen Huttner 2004, S. 273–276, zum ‚Mustermythos‘ in Iul. or. 7 auch Rosen 1969/1978, S. 425, und ders. 2006, S. 54–69. Zur nachträglichen Veränderung der Argumentationsgrundlage Iulians im Brief an die Athener gegenüber der Eusebia gewidmeten gratiarum actio zugunsten der Einbeziehung göttlicher Kräfte auch im Vorfeld seiner Erhebung zum Caesar vgl. Huttner 2004, S. 256–259. Entsprechend urteilt beispielsweise auch Lib. or. 12,37 f. zur Caesarerhebung Iulians. Die Libanius-Stellen zum Einwirken der Götter im Kontext der Augustuserhebung Iulians sind zusammengestellt und kommentiert bei Huttner 2004, S. 277–284. 181 Vgl. auch oben Abschnitt 1 mit Anm. 23.

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des Constantius während der Jahre Iulians als Caesar in Gallien durchaus etwas Geschäftsmäßiges gelegen haben, da es durch zahlreiche Kontrollmaßnahmen unterfüttert wurde. Das Vertrauen war allerdings bei Iulian schon länger einem schleichenden Erosionsprozess ausgesetzt, nicht allerdings bei Constantius, obwohl genau dies ihm gerne und oft unterstellt wird. Der Vertrauensschwund bei Iulian wurde in dessen Erhebung zum Augustus endgültig offenbar und ist auf den wachsenden Ehrgeiz und die Ungeduld Iulians angesichts seiner militärischen Erfolge in Gallien zurückzuführen, auf Eigenschaften also, denen Constantius nicht nachzugeben bereit war, weil er aufgrund seiner schlechten Erfahrungen in der Vergangenheit und wohl auch in der Hoffnung auf eigenen männlichen Nachwuchs die eindeutige Unterordnung seines Caesars beibehalten wollte. Den aus seiner Erhebung zum Augustus sich ergebenden Konsequenzen musste sich Iulian nun stellen. Er wusste, wie Constantius mit Usurpatoren und mit einem unbotmäßigen Caesar in der Vergangenheit umgegangen war, und konnte sich daher die wahrscheinlichen Folgen seines Handelns ausmalen.182 Mit seinen Bemühungen, die Augustuserhebung als ihm durch die Soldaten aufgezwungen erscheinen zu lassen, nutzte Iulian eine letzte Chance, die Anerkennung der Rangerhöhung durch Verhandlungen mit Constantius nachträglich doch noch auf friedlichem Wege durchzusetzen.183 Dazu waren neue vertrauensbildende Maßnahmen von Seiten Iulians erforderlich.184 An diesen versuchte sich Iulian mit einem Brief an Constantius, dessen sinngemäßen Inhalt185 Ammian in wörtliche Rede kleidet und mit dem der neuerhobene Augustus die Übernahme dieser Würde rechtfertigt.186 Als einen wichtigen Aspekt stellt Iulian dabei mit der Selbstbezeichnung als apparitor fidus 182 Amm. 20,8,2 (Übers. Veh mit eigenen Veränderungen): „Inzwischen schwebte Julian in seinem Winterquartier zu Paris in Angst und Sorge, wie sein ganzes Unternehmen enden werde; denn bei seinen vielen Überlegungen mußte er sich sagen, daß Constantius […] sich niemals mit seinem Vorgehen einverstanden erklären werde.“ (Inter quae Iulianus apud Parisios hibernis locatis, summa coeptorum quorsum evaderet, pertimescens haeserat anxius numquam assensurum Constantium factis multa volendo considerans […]). 183 Die aus diesen Versuchen immer noch ersichtliche Anerkennung des Constantius als auctor durch Iulian führt Szidat 1997, besonders S. 65 f., 68, als das entscheidende Argument an, in der Augustuserhebung Iulians den Sonderfall einer Usurpation zu sehen. Es sei ihm darum gegangen, die Nachfolgefrage endgültig zu seinen Gunsten zu klären. Erst der nach dem Scheitern der Verhandlungen im April 361 zu Kaiseraugst vor dem Aufbruch Richtung Osten vollzogene offene Bruch Iulians mit Constantius (vgl. Amm. 21,5) qualifiziere Iulians Rangerhöhung endgültig als Usurpation; dazu auch Szidat 1996, S. 21, 31–33; ferner ders. 2010, S. 212. 184 Von den Hoffnungen auf Verhandlungserfolge kündet indirekt auch die Münzprägung Iulians aus dem Jahr 360 in Lyon und Arles, die, abgesehen von den neu einsetzenden Münzen für den Augustus Iulian, die Prägungen für den Augustus Constantius und weiterhin auch die gemeinsame Darstellung beider Kaiser fortsetzten; vgl. RIC 8, S. 45, 174 f., 201 (einführende Erläuterungen), sowie RIC 8 Lugdunum Nr. 205–225 und Arelate Nr. 280–302. Vgl. hierzu Kent 1959/1978, S. 258–260; Rosen 2006, S. 193 f.; Beyeler 2011, S. 141; López Sánchez 2012, S. 171; García Ruiz 2018, S. 209 f. Abwegig urteilt Maier 2019, S. 237 f., dazu Lambrecht 2019, S. 469 f. 185 Vgl. hierzu Szidat 1981, S. 25; Huttner 2004, S. 272; Rosen 2006, S. 192. 186 Amm. 20,8,5–17.

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heraus, dass sich durch die Erhebung zum iunior Augustus an der ihm durch Constantius bisher vorgegebenen Auffassung von der Unterordnung unter den senior Augustus sozusagen nichts geändert habe.187 Damit kommt er dem tatsächlichen Verständnis des Constantius von der Stellung des Caesars im Verhältnis zum Augustus entgegen und interpretiert die von ihm angenommene Würde als gegenüber dem dienstälteren Kaiser gleichermaßen nachgeordnet.188 Nach außen hin dokumentiert Iulian dies dadurch, dass er im Schriftverkehr mit Constantius den Augustustitel nicht verwendet, sondern sich zunächst – wohl bis zur Anerkennung der Rangerhöhung durch Constantius – bescheiden als Caesar bezeichnet.189 Als Grund für die Augustuserhebung führt er bei Ammian die Unzufriedenheit der Soldaten mit einem „Führer zweiten Ranges“ an und sucht im gleichen Kontext die mutmaßliche Ansicht des Constantius abzuwehren, bei diesem Unternehmen habe es sich um eine Usurpation gehandelt,190 indem er seine Version der Ereignisse wiedergibt.191 Dabei zieht Iulian Ammian zufolge alle Register, die für sein Verhältnis zu Constantius von Belang sein könnten: Er warnt recht unverhohlen vor dem Einfluss der Zwietracht säenden Schmeichler, erinnert an den Stellenwert der iustitia, mahnt die „Blutsbande und die Erhabenheit unserer hohen Stellung“ an, bittet um Verzeihung, plädiert für rationales Handeln und führt die große Bedeutung der zwischenkaiserlichen Eintracht an.192 Diese Aufzählung wirkt recht heterogen: Constantius so ungeschminkt mit den Schmeichlern zu konfrontieren kommt einem Affront gleich; dem wird die Aufforderung gegenübergestellt, die Herrschertugend der Gerechtigkeit zu üben, aus der die bona fides des Constantius erwachsen soll; mit den „Blutsbanden“ greift Iulian zudem das dynastische Argument auf, das seinerzeit ein wichtiges Kriterium für seine Erhebung zum Caesar war193 und unausgesprochen mit der Erhebung zum iunior Augustus jetzt auch die Lösung der Nachfolgefrage impliziert.194 Will er Constantius zugleich an die bei der Verleihung der Caesarwürde gefallene Aussage von der Übertragung fast gleicher Macht195 und 187 Vgl. die Ausführungen zu Amm. 20,8,6 in Verbindung mit Amm. 20,8,12; dazu Näheres in Abschnitt 1. 188 Dies geht auch daraus hervor, dass Iulian Constantius das Recht zugesteht, den Prätoriums­ präfekten für Gallien zu ernennen, während er, anders als bisher, die übrigen hohen Beamten selbst bestimmen will; vgl. Amm. 20,8,14. 189 Vgl. Iul. ad Ath. 285 d. Dass aus der Sicht Iulians im Schreiben an die Athener die Anerkennung des ihm von den Göttern verliehenen Augustus-Titels durch Constantius allerdings gar nicht gefragt gewesen sei (so Caltabiano 1974, S. 134), dürfte etwas zu weit gehen, wenn man den Kontext bedenkt, in den die Aussage eingebettet ist. 190 Vgl. Amm. 20,8,7, das Zitat ebd. (Übers. Veh; secundi[…] loci rectorem). 191 Vgl. Amm. 20,8,8–10. 192 Vgl. Amm. 20,8,11 f.17, das Zitat Amm. 20,8,11 (Übers. Veh; caritate sanguinis et fortunae superioris); hierzu auch Rosen 1969/1978, S. 426. 193 Vgl. Amm. 15,8,3.8.12; dazu die Ausführungen in Abschnitt 2. 194 Hierzu Szidat 1996, S. 16 f., und ders. 1997, S. 66 f., auch oben Anm. 183. Damit hätte sich Iulian in Anbetracht der Hoffnungen des Constantius auf einen eigenen Sohn von der fatalen Rolle „as a stop-gap“ (Blockley 1972, S. 446) befreien und selbst eine größere persönliche Sicherheit bietende Zukunftsperspektive gewinnen können. 195 Amm. 15,8,12: in deferenda suppari potestate.

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damit an enttäuschte Erwartungen erinnern, den Vertrauensbruch also seinem Cousin in die Schuhe schieben? Werbung um Vertrauen ist in diesem Brief durchaus vorhanden, aber sie ist mit Aussagen garniert, die erkennen lassen, dass dieses Vertrauen durch klar benannte Störfaktoren, die der Verantwortung des Constantius zugewiesen werden, gefährdet ist. Das hier von Iulian vorgestellte Verhältnis zwischen den beiden oszilliert in dem weiten Raum zwischen Zwietracht und Eintracht, ohne dass klar zu erkennen wäre, wie sich in dieser Situation mit Hilfe eines brauchbaren Kompromisses die erwünschte Stabilität einfinden könnte. Die Aussagen wirken so, als habe Iulian das Seine getan, verlorenes Vertrauen wiederherzustellen, und als erwarte er nun entscheidende Schritte zum Wiederaufbau des Vertrauens von der anderen Seite, von Constantius. So ermuntert er ihn etwa mit der Aufforderung, bona fides zu üben, zum Vertrauen seinem bisherigen Caesar gegenüber, als habe Constantius und nicht er selbst das früher als vorhanden vorausgesetzte Vertrauen gebrochen. Hinzu kommt das bei aller Bescheidenheit und Unterordnung in bestimmten Äußerlichkeiten erkennbare Selbstbewusstsein Iulians, dem er mit der Annahme des Augustustitels, mit dem Anspruch auf Ernennung hoher Beamter für die Präfektur Gallien und mit der Weigerung Ausdruck verleiht, Truppen für den Perserkrieg abzustellen.196 Iulian musste mehr als unsicher sein, ob Constantius auf die hier vorgetragenen Vorstellungen eingehen würde.197 Andererseits ist nicht ohne weiteres zu eruieren, ob Iulians Verhandlungsangebot ernst gemeint war oder nur dazu diente, Zeit für einen unausweichlich erscheinenden Bürgerkrieg zu gewinnen.198 Erwartungsgemäß beharrte Constantius auf dem Status quo derjenigen Rechtsstellung, die er seinem Cousin im Jahre 355 hatte verleihen lassen, und richtete ein entsprechendes Antwortschreiben an Iulian.199 Auch er versuchte es also mit Verhandlungen, um Zeit zu gewinnen und sich nicht unbedacht auf einen Bürgerkrieg einzulassen. Den Inhalten seines ersten Briefes entsprechend antwortete Iulian, nachdem er zuvor durch ein Votum von Heer und Bürgern seine Stellung als Augustus hatte bestätigen lassen.200 Dass Iulian aber ungeachtet dessen die Chancen auf eine Einigung mit Constantius in seinem Sinne und damit auf die Herstellung einer Vertrauensbasis, wie er sie sich vorstellte, für gering hielt, vielmehr mit einem Scheitern der Verhandlungen rechnen musste, zeigen seine militärischen Unternehmungen der Zeit 196 Vgl. Amm. 20,8,14–16. 197 Vgl. Amm. 20,8,2 (oben Anm. 182). 198 Vgl. Szidat 1981, S. 26. 199 Vgl. Amm. 20,9,4. 200 Vgl. Amm. 20,9,6–8. Szidat 1977, S. 46, und ders. 1981, S. 34, plädieren unter Berufung auf Zonar. 13,10,28 und Verweis auf Rosen 1969/1978, S. 439 f. Anm. 62, dafür, den bereits bei Amm. 20,8,18 erwähnten Schmähbrief Iulians an Constantius erst in diesen zeitlichen Kontext einzuordnen; vgl. auch den Boeft u. a. 1987, S. 212, und Bleckmann 2020, S. 115 f. Von einem noch späteren, separaten Schmähbrief geht Rosen 2006, S. 484 Anm. 30, aus, der das bei Amm. 20,8,18 erwähnte Schreiben für einen „[g]egen Ende des Winters“ (ebd., S. 199) 360/61 an Constantius gerichteten Brief hält, der an Deutlichkeit nichts zu wünschen übriggelassen habe und so ein Ende der Verhandlungsphase anzuzeigen schien. Bowersock 1978, S. 52, hält den von Ammian erwähnten Schmähbrief dagegen für eine Fiktion.

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vor seinem Aufbruch Richtung Osten: Er vergewisserte sich der Funktionsfähigkeit der Rheingrenze gegenüber Franken und Alemannen201 und schaltete sodann den Alemannenfürsten Vadomar aus,202 der „eine gefährliche Machtposition“ zwischen der gallischen und der italischen Präfektur innehatte und in dieser komfortablen Position Iulian und Constantius gegeneinander auszuspielen vermochte.203 Vom Hochrhein aus konnte Iulian überraschend schnell in Constantius’ Machtbereich bis tief nach Illyrien vordringen. Mit dem Ausgreifen auf das Gebiet der italischen Präfektur beendete Iulian die Verhandlungsphase und setzte offen auf Konfrontation;204 nur noch eine gewaltsame Lösung schien die Frage nach der Herrschaft im römischen Reich klären zu können, eine vertrauensvolle Vereinbarung nicht mehr in Frage zu kommen. In der Konsequenz dieses Schrittes lag es, dass Iulian nun auch selbst einen neuen Prätoriumspräfekten für Gallien ernannte und dieses Vorrecht nicht mehr Constantius überließ.205 Von Naïssus aus suchte Iulian im Sommer 361 in verschiedene Richtungen schriftliche Überzeugungsarbeit zu leisten und richtete Briefe an mehrere Städte des römischen Reiches, darunter einen an die Athener, der als einziger erhalten ist. Hierdurch beabsichtigte er sein Handeln zu rechtfertigen, indem er sich zum Opfer stilisierte und Constantius vom Beginn seines Umgangs mit Iulian an ins Unrecht setzte.206 Die früheren Ansätze von Vertrauen waren dahin, auch die Versuche der Verhandlungsphase;207 tiefes Misstrauen ohne Kompromissbereitschaft war an deren Stelle getreten, alles sprach für eine Entscheidung der Herrschaftsfrage im Bürgerkrieg. Mit dem unerwarteten Tod des Constantius am 3. November 361 schließlich fiel Iulian die Alleinherrschaft sozusagen in den Schoß.208 201 Vgl. Amm. 20,10; dazu Müller-Seidel 1955, S. 235, und Drinkwater 2007, S. 254. 202 Vgl. Amm. 21,3 f. 203 Vgl. Müller-Seidel 1955, S. 236–240 (das Zitat S. 240). Zu den Ereignissen vgl. auch Lorenz 1997, S. 67–70, und Drinkwater 2007, S. 255–263. 204 Vgl. Amm. 21,5, besonders 21,5,1 (Übers. Veh): „glaubte er, sicherer zu gehen, wenn er offen mit dem Kaiser breche“ (professa palam defectione se tutiorem fore existimavit). Zu dieser Stelle Szidat 1996, S. 33; vgl. auch oben Anm. 183. 205 Amm. 21,8,1. Vgl. hierzu auch Szidat 1996, S. 73 f., und Rosen 2006, S. 212 f. 206 Vgl. auch Szidat 1996, S. 106–108; Rosen 2006, S. 216–218; zu Iul. ad Ath. Caltabiano 1974 und Humphries 2012; zum Brief an den römischen Senat Amm. 21,10,7 f., hierzu oben Anm. 9. Zu den Motiven Iulians für die hierin enthaltenen Anklagen gegen Constantius vgl. Klein 1986, S. 282: „wohl aus einem tiefen Schuldgefühl heraus“; diese Phase (vgl. Amm. 20,8,2, zitiert oben Anm. 182) dürfte allerdings mit dem mittlerweile erfolgten offenen Abfall Iulians von Constantius überwunden sein, wenn man an das zunehmende Selbstvertrauen des Usurpators denkt, wie es aus Amm. 21,10,7 (Übers. Veh mit kleinen Veränderungen) spricht: „Und schon erhob Julian immer selbstsicherer sein Haupt und war überzeugt, daß sich Constantius doch niemals für eine gütliche Übereinkunft gewinnen lasse.“ (iamque altius semet extollens et numquam credens ad concordiam provocari posse Constantium). – Vgl. ferner Bowersock 1978, S. 60, der diese Schreiben in den Herbst 361 datiert. 207 Den letzten Versuch des Constantius, eine friedliche Einigung zu seinen Konditionen zu erzielen, mochte die römische Senatsdelegation darstellen, die auf der Rückreise aus dem Osten Iulian in Naïssus aufsuchte; vgl. Amm. 21,12,24, dazu Rosen 2006, S. 219; anders Matthews 1989, S. 104. Vgl. auch Szidat 1996, S. 142–145. 208 Von Zos. 3,11,2 als „Gottesgeschenk“ (τὸ παρὰ τοῦ θείου δεδωρημένον) bezeichnet.

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7. Vertrauensverlagerungen Bei den Versuchen, sich anhand geeigneter Belege einen Überblick über die Qualität der Vertrauensbasis zwischen Iulian und Constantius zu verschaffen, schält sich eine Kernfrage heraus: Zu welchem Zeitpunkt und aus welchen Gründen war es mit Iulians Vertrauen in den Augustus ein für alle Mal vorbei? Es gibt Stimmen, die behaupten, Iulian habe nie Vertrauen in seinen älteren Cousin gefasst.209 Dieses Urteil erscheint zu pauschal; hier gilt es etwas genauer zu differenzieren. Man kann wohl mit Fug und Recht davon ausgehen, dass der Aufbau eines Verhältnisses zwischen Iulian und Constantius II., für das im Hinblick auf eine Beteiligung Iulians an Leitungsaufgaben des römischen Reiches eine Art Grundvertrauen zustande kommen sollte, äußerst schwierig war. Vorbehalte auf beiden Seiten mochten in der Hypothek des Umgangs mit demjenigen Zweig der constantinischen Dynastie begründet liegen, dem Iulian angehörte: Zahlreiche Familienmitglieder, die Nachkommen aus der Ehe von Constantius I. mit der Kaisertochter Theodora210 nämlich, waren 337 mit Ausnahme von Gallus und Iulian ausgelöscht und Gallus selbst als Constantius II. dienender Caesar 354 hingerichtet worden.211 Die damit verbundenen Hemmungen bei Constantius II., Iulian in den Dienst zu nehmen, und bei Iulian, sich hierfür zur Verfügung zu stellen, mussten zunächst überwunden werden. Dies gelang Constantius mit Hilfe seiner Ehefrau Eusebia, und Iulian fand sich dazu bereit, weil er sich letztlich den dynastischen Verpflichtungen nicht entziehen konnte und wollte.212 Selbst wenn man für diesen Schritt primär Gründe der Staatsraison verantwortlich macht, muss Constantius ein gewisses – auch persönliches – Vertrauen gefasst haben, Iulian werde aufgrund der Verwandtschaft mit ihm und aufgrund seiner Anlagen den Aufgaben, die auf ihn zukämen, gerecht werden können, und auf der anderen Seite Iulian sich mit gewissen Bedenken ebenfalls zugetraut haben, diese zu übernehmen. Der Sachlage, die fortan bei Constantius im Vordergrund stand, wurde der Augustus gerecht, indem er Iulian zunächst lediglich mit Repräsentationsaufgaben betraute, ihn dann aber aufgrund militärischer Bewährung mit größerem Handlungsspielraum und höherer Verantwortung ausstattete, ohne an der grundsätzlichen Unterordnung und Weisungsgebundenheit des Caesars etwas zu ändern. Relativ stabil war die Vertrauensgrundlage am ehesten auf Seiten des Constantius, sobald er sah, dass der Caesar seine Aufgabe beherzt anging und ihr gerecht wurde, auch wenn gelegentlich im Umgang Iulians mit seinen hohen Beamten die Ver209 Vgl. Szidat 1977, S. 84: „Zu Constantius war auch während der Jahre in Gallien niemals ein Vertrauensverhältnis entstanden.“ Dieses Resultat scheint aber unter anderem darauf zurückzuführen zu sein, dass Szidat unter den Quellen den späteren Stellungnahmen Iulians und seiner Anhänger ein großes Gewicht beimisst. 210 Vgl. PLRE 1, 1971, S. 895 (Theodora 1). 211 Vgl. oben Abschnitt 3 mit Anm. 69. 212 Vgl. hierzu oben Abschnitt 2 und 3, auch zu den folgenden Ausführungen.

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mittlung des Augustus erforderlich war.213 Diese Vertrauensbasis konnte sich längere Zeit einigermaßen gleichförmig halten, allerdings nicht auf allzu hohem Niveau, vor allem wenn man neben der sachlichen Grundlage die persönliche Ebene einbezieht, auf der gerade an Iulian deutlich wird, dass Vorbehalte eine Rolle spielten, hinter denen Elemente des Misstrauens stehen mochten. Constantius wusste seinen Caesar nämlich wie einen hohen Beamten recht genau zu kontrollieren und ihn damit in ein geradezu bürokratisch geregeltes Unterordnungsverhältnis einzubinden, das nach sachlichen und nicht so sehr persönlichen Kriterien funktionierte. So ergänzte er zur Stabilisierung des Verhältnisses die Vertrauensgrundlage durch ein Vertrauensäquivalent, die engmaschige Kontrolle. Auf der sachlichen Ebene gab es Vertrauenselemente ebenso bei Iulian: Im Rahmen der Kontrollmaßnahmen des Augustus konnte sich der Caesar einerseits auf die Hilfestellung durch Constantius verlassen.214 Andererseits identifizierte sich Iulian recht schnell mit seinen Aufgaben in Gallien, gewann an Selbstvertrauen215 – ebenfalls einem Vertrauensäquivalent – und wurde seinem Auftrag zu seiner eigenen Zufriedenheit und zu der des Constantius gerecht; beide stimmten also in den politischen Grundsätzen der Sicherung des römischen Reiches innerhalb der bestehenden Grenzen ohne wirklich expansive Politik überein.216 Insofern gab es ganz sachliche Gründe für die wechselseitige Abhängigkeit des Augustus und seines Caesars,217 die auch jenseits der Vertrauensfragen die Stabilität der Beziehungen zwischen Iulian und Constantius garantierte. Iulian aber suchte, ebenso wie zumindest anfangs Constantius im Zusammenhang mit der Erhebung seines Cousins zum Caesar, zeitweise auch die persönliche Ebene des Vertrauens von wiederkehrenden Misshelligkeiten freizuhalten und so zu stabilisieren. Solcherlei Irritationen mochten in Diskrepanzen begründet liegen, die aus Unterschieden in der Feinabstimmung als erforderlich angesehener politisch-militärischer Maßnahmen in Gallien resultierten, bei denen Constantius mit seinem aufs Reichsganze gerichteten Blick in Einzelheiten zu anderen Einschätzungen kam als Iulian, der zunächst vornehmlich auf die gallische Präfektur und deren Bedürfnisse schaute. Zur Vertrauensbildung setzte der Caesar nicht zuletzt die Panegyrik ein, mit der er Constantius in Bereichen auch jenseits seines eigentlichen Aufgabenbereichs zu beeindrucken trachtete.218 Es erweckt insgesamt den Anschein, als habe Iulian weit eher als der nüchtern kalkulierende Constantius die sachliche und die persönliche Ebene miteinander verquickt, so dass das Vertrauen auf Seiten des Caesars deutlich mehr als beim 213 Vgl. beispielsweise oben Abschnitt 4 mit Anm. 89. 214 Vgl. oben Abschnitt 4. 215 Dazu oben Abschnitt 3. 216 Vgl. dazu oben Abschnitt 5. 217 Vgl. dazu auch die Aussagen des Constantius in der an Iulian gerichteten Ansprache anlässlich seiner Erhebung zum Caesar, vor allem Amm. 15,8,14; dazu oben Abschnitt 2 mit Anm. 40. Indirekt wird dieser Gesichtspunkt auch in den Constantius gewidmeten panegyrischen Aussagen Iulians angesprochen; dazu oben Abschnitt 5. 218 Vgl. oben Abschnitt 5.

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Augustus von einem ständigen Auf und Ab gekennzeichnet war. Hierzu mag das bewusste oder unbewusste Bemühen Iulians beigetragen haben, mit der Hypothek umzugehen, die die Verwandtenmorde von 337 und die Hinrichtung des Gallus 17 Jahre später für ihn bedeuteten. So sehr er sich einerseits mit seinen Aufgaben in Gallien identifizierte und insofern mit Constantius über Jahre hinweg an einem Strang zog, so sehr ließ ihn sein von zunehmendem Selbstvertrauen gespeister Ehrgeiz späterhin mit der Beschränkung auf diesen Aufgabenbereich und obendrein auf die Funktion des Platzhalters für einen – noch ungeborenen – Sohn des Constantius unzufrieden werden.219 Die Untersuchung des Vertrauensverhältnisses zwischen Iulian und Constantius wird daher von einem bestimmten Zeitpunkt an auf der diskursiven Ebene durch die Konstruktion eines Gegensatzes zwischen dem Caesar und dem Augustus beeinflusst, der den überwiegend weit eher iulian- als constantiusfreundlichen Quellenbestand durchzieht, die totale Zerrüttung des Vertrauensverhältnisses chronologisch zurückverlegt und als von Anbeginn bestehend voraussetzt. Gleichzeitig wird die grundsätzliche Veränderung der Beziehung Iulians zu Constantius durch Vertrauenserosion, während er in Gallien als Caesar amtierte, negiert und zugunsten eines einförmigen, eher statisch-linearen, gelegentlich an Verfolgungswahn gemahnenden abgrundtiefen Misstrauens Iulians und auch in umgekehrter Richtung des Constantius eingeebnet. Diesen Zielen dienen bestimmte, immer wiederkehrende, geradezu topische Vorwürfe: die Herausstellung gravierender Unterschiede in der militärischen Taktik gegenüber Feinden bei Iulian und Constantius, Neid und Eifersucht des Augustus auf die Erfolge des Caesars, das Einwirken bestimmter Gruppen am Hof des Constantius zum Nachteil Iulians, das teils als latent, teils als offen dargestellte Gegeneinander hoher Beamter, die dem Caesar zur Verfügung standen, aber nicht ihm, sondern Constantius treu ergeben waren, auf der einen und Iulians auf der anderen Seite, der sich dadurch in der Effizienz seiner Arbeit behindert sah. Daher schien das persönliche Vertrauen zwischen Iulian und Constantius recht bald zunächst auf eine ganz sachliche Ebene zugunsten der als gemeinsam anerkannten politisch-militärischen Ziele in Gallien verschoben zu sein, bei Constantius gespeist durch Kontrolle, bei Iulian durch eine von der Person des Constantius unabhängige Analyse der Lage in Gallien und das wachsende Selbstvertrauen, sachdienliche Maßnahmen ergreifen und durchsetzen zu können. Allerdings kam vor allem bei Iulian immer wieder eine persönliche Komponente zum Vorschein, wie sie dem Selbstvertrauen innewohnt. Diese persönliche Seite wirkte sich mit wachsender Unzufriedenheit gerade auf sein Verhältnis zu Constantius aus, das sich von einem bestimmten Zeitpunkt an verschlechterte. So kann festgestellt werden, dass sich das Vertrauen, auf dessen Grundlage Iulian arbeitete, von der Person des Constantius fortentwickelte und zu einer anderen Institution hinbewegte. Die von Ammian nicht nur zu diesem Zweck in Szene gesetzte Schlüsselpassage ist die Darstellung der Schlacht bei Straßburg, in der sich zwar noch nicht 219 Vgl. auch Barceló 2004, S. 179 f.

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Iulian, aber doch schon seine Soldaten göttlicher Unterstützung sicher waren.220 Damit markiert die Schlacht bei Straßburg – in dieser und in anderer Hinsicht – eine gewisse Peripetie im Verhältnis Iulians zu Constantius: Sein Selbstvertrauen wuchs, sein Ehrgeiz ebenfalls, und spätestens im Umfeld seiner Usurpation gab sich Iulian sicher, er sei von einer höheren Macht zum Augustus des römischen Reiches berufen.221 Späterhin wurde dieses Argument zu einer allumfassenden Begründung ausgebaut, die Iulian von vornherein als unter dem Schutz der Götter stehend und von ihnen zu Höherem berufen darstellte.222 Angesichts dessen musste die christliche Verwandtschaft Iulians aus dem constantinischen Kaiserhaus einem negativen Urteil verfallen;223 so verlor letztlich auch die von Constantius anfangs beanspruchte, allerdings zugleich schwer belastete dynastische Begründung für die Heranziehung Iulians als Caesar ihre Legitimation an die Götter224 und konnte der Urheber der Stellung Iulians als zu jeder Zeit gegen dessen von den Göttern begünstigten Aufstieg arbeitender Neider verunglimpft werden. Der wichtigste Grund hierfür liegt in einer nachträglich von Iulian inszenierten Verlagerung des Vertrauens von der Instanz des Augustus Constantius über das wachsende eigene Selbstvertrauen zur übergeordneten Instanz der Götter,225 als deren auserwähltes Werkzeug er sich schließlich sah.226 So ungern Iulian angesichts des Verständnisses seines Cousins vom Amt des Caesars dessen apparitor fidus war, auch wenn er sich in Vertrauenskrisen emphatisch dazu bekannte,227 so gern war er letztlich apparitor fidus der Götter. Diese Verlagerung soll sich, hält man sich an Ammian und andere proiulianische Quellen, stufenweise vollzogen haben und lässt sich an der Schlacht bei Straßburg, an der Usurpation Iulians und, schließlich den Ausschlag gebend, am Tod des Constantius nachvollziehen,228 der 220 Amm. 16,12,13 (Übers. Veh): „Dabei bauten sie [die Soldaten] auf die hilfreiche Gnade eines himmlischen Gottes, auf ihr Selbstvertrauen und auf die erprobten Fähigkeiten ihres glückhaften Führers. Und es war tatsächlich ein heilbringender Genius, der, wie der Erfolg bewies, bei ihnen weilte und die Soldaten zum Kampfe anstachelte […].“ (caelitis dei favore fiduciaque sui et fortunati rectoris expertis virtutibus freti atque, ut exitus docuit, salutaris quidam genius praesens ad dimicandum eos […] incitabat); ferner Amm. 16,12,18.62. Vgl. hierzu Ross 2016, S. 148–150, 153. Vgl. auch oben Abschnitt 5 mit Anm. 126. 221 Vgl. oben Abschnitt 6 mit Anm. 177 und 179 f. 222 Vgl. dazu oben Abschnitt 1 mit Anm. 23. 223 Vgl. auch oben Abschnitt 6. 224 Zur Ablösung Iulians von der dynastischen Legitimität als ideologischer Herrschaftsgrundlage vgl. auch Rosen 1969/1978, S. 425–427. 225 Dies wird prägnant zum Ausdruck gebracht bei Zos. 3,9,4 (Übers. Veh) als Aussage Iulians, „er wolle sich und sein Leben lieber den Göttern als den Worten eines Constantius anheimgeben“ (ὡς τοῖς θεοῖς ἄμεινον ἢ τοῖς Κωνσταντίου λόγοις ἑαυτόν τε καὶ τὸν ἑαυτοῦ βίον ἐκδοῦναι). 226 Vgl. den ‚Mustermythos‘ in Iul. or. 7,227 b–234 c, dazu Rosen 2006, S. 54–69. Zum Zeitpunkt der endgültigen Abkehr Iulians vom Christentum vgl. oben Anm. 23. Vgl. ferner oben Abschnitt 6 mit Anm. 180. 227 Dazu oben Abschnitt 1. 228 Hierzu Rosen 1997, S. 129, 143–146, sowie ders. 2006, S. 229–232. – Ein anderes Bild als das Rosens von der endgültig gegen Ende 361 vollzogenen offenen Apostasie Iulians entwickelt Drinkwater 1983, der von einer Abwendung Iulians vom Christentum im Jahre 351 ausgeht

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Iulian – gerade wegen seiner dynastischen Legitimation229 – ohne langwierige Auseinandersetzungen die Alleinherrschaft einbrachte. Betrachtet man die Entwicklung des Verhältnisses zwischen Iulian und Constantius II., so schien in der Caesarphase das Vertrauen zunächst im Prinzip auf der Basis der Vorstellungen des Augustus, unterfüttert durch Aspekte der Staatsraison, zu funktionieren. Darauf ließ sich Iulian ein, gewann sachliches Interesse an seinen Aufgaben und zeigte sich ihnen gewachsen. Dieses Modell scheiterte nicht sofort, aber im Laufe der Zeit, und zwar vornehmlich an Iulian, seinem wachsenden Selbstvertrauen und Ehrgeiz, so dass er sich mit dem, was Constantius ihm zu bieten bereit war, nicht mehr zufriedengab. Die usurpationsbedingte Augustusphase war im Umgang mit Constantius zuerst von Vertrauensbemühungen aufgrund der Vorstellungen Iulians bestimmt. Dieses Modell war allerdings zum Scheitern verurteilt, und zwar wegen Constantius’ Herrschaftsverständnis, wobei fraglich bleibt, ob es Iulian mit den Verhandlungsversuchen wirklich ernst meinte, denn er konnte sich angesichts der ihm bekannten Haltung des Constantius die Konsequenzen ausrechnen.230 Bei alledem funktionierte das Vertrauen in den Caesarjahren Iulians – latent instabil – auf bescheidenem Niveau, weil es auf beiden Seiten durch verschiedene Vertrauensäquivalente abgefedert wurde, nach der Erhebung Iulians zum Augustus aber eigentlich gar nicht mehr, weil die von der Staatsraison des Constantius diktierte Kooperationsgrundlage nicht länger gegeben war. Daher vollzog Iulian im Nachhinein eine Trennung von seinem auctor Constantius, indem er seine eigene Berufung zur Herrschaft über das römische Reich göttlichen Kräften zuschrieb, die sich obendrein dazu eigneten, die Aufmerksamkeit von der letztlich doch noch eingetretenen dynastisch orientierten Nachfolge des Constantius durch dessen Cousin mit Hilfe der Berufung auf die höheren Mächte abzulenken. So erhob Iulian das Vertrauen, das im zwischenmenschlichen Verhältnis mit Constantius II. nicht mehr gegeben war, für seine Person in eine Sphäre, die er auf diese Weise der Kontrolle und Kritik entzog und die ihm zugleich dazu diente, das Scheitern der Vertrauensgrundlagen im menschlichen Bereich zu überspielen oder gar zu rechtfertigen.

(S. 348) und in dem Caesar bereits seit 355 (S. 370) „a belief in his own destiny“ (S. 372) wirken sieht, was ihn neben der in Gallien bewiesenen politisch-militärischen Befähigung die Usurpation habe wagen lassen. Gegenüber dieser Ansicht ist Skepsis angebracht, weil Drinkwater den im Brief an die Athener von Iulian rückwirkend konstruierten Blick auf die Jahre in Gallien für dieses Urteil zugrunde legt. 229 Vgl. auch Szidat 1996, S. 19. 230 Vgl. Amm. 20,8,2 (dazu oben Abschnitt 6 mit Anm. 182) und 21,10,7 (dazu oben Anm. 206).

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Teil III: „Vertrauensverlust als Herausforderung“

Der oligarchische Verfassungsumsturz 411 v. Chr. und die Frage nach der Abhängigkeit Athens vom laurischen Silber Sven-Philipp Brandt 1. Die Sizilienexpedition und das Vertrauen in demokratische Institutionen Als sich die attische Demokratie im Jahre 411 v. Chr. in einem bis dahin beispiellosen Akt selbst abschaffte, war das der vorläufige Endpunkt einer Entwicklung, die zu Beginn des 6. Jahrhunderts v. Chr. mit Solon begonnen hatte. Diese wurde mit den Reformen des Kleisthenes am Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr. entscheidend vorangebracht und schließlich durch Initiativen des Ephialtes und Perikles verstetigt.1 Erst zu Beginn des Dekeleischen Kriegs fand sie nach einer missglückten Wiederaufnahme der Kriegshandlungen in der Abschaffung der demokratischen Strukturen ihr vorläufiges Ende. In der Forschungsliteratur wird für diesen Akt der Selbstentmachtung meist die Sizilienexpedition als Auslöser genannt. Neben den innenpolitischen Verwerfungen aufgrund des Hermenfrevels führte diese militärische Niederlage zu einer demographischen Katastrophe für Athen, da eine ganze Generation entweder gefallen war oder in sizilischen Bergwerken Sklavenarbeit verrichten musste.2 Dieser Umstand habe den Versuch der vermögenden, aristokratisch gesinnten Athener erst ermöglicht, „die ihnen verhasste Volksherrschaft perikleischer Prägung“3 zu beenden, indem sie ein Klima des Terrors und der Angst schufen und die Volksversammlung von der Selbstentrechtung zu Gunsten einer wohlhabenden Elite überzeugten.4 Auf den ersten Blick scheinen diese Ereignisse auszureichen, um einen Vertrauensverlust in die Idee der athenischen Volksherrschaft aufzuzeigen und den Impetus zu erklären, die als nun dysfunktional empfundenen demokratischen Institutionen durch oligarchische zu ersetzen. Doch stellt sich die Frage, worin genau der Vertrauensverlust gelegen haben soll. Dem genannten Ansatz liegt in erster 1 Aristot. pol. 1274 a 8–11. 2 Vgl. zum Hermenfrevel Thuk. 6,27–29 und zu dessen Auswirkungen auf die Gesellschaft Thuk. 6,53; 61 sowie IG I3 421; 426 f.; 430 (= ML 79 = HGIÜ I 132 = OR 172). Zur Sizilienexpedition vgl. Thuk. 7,72–87 sowie IG I3 93 (= ML 78 = HGIÜ I 131 = OR 171). 3 Heftner 2001, S. 1. 4 So setzen u. a. Raaflaub 1992, S. 7 f., Heftner 2001, S. 4–6, und Ober 2016, S. 312 f., den Fokus auf die Sizilienexpedition und bringen die verheerende Niederlage mit dem oligarchischen Umsturz in unmittelbare Verbindung. Leppin 1999, S. 41, spricht neben der Sizilienexpedition zumindest noch von „ersten Rückschlägen im Dekeleischen Krieg“ als mögliche Ursachen für den oligarchischen Umsturz im Jahre 411 v. Chr.

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Linie die Annahme eines politischen Antagonismus zwischen Demokraten und Oligarchen zugrunde, der aus den bekannten Quellen zu den Ereignissen von Thukydides und der aristotelischen Athenaion politeia mit ihren Verfassungsexkursen abgeleitet wird.5 Da sich in der altertumswissenschaftlichen Forschung die Tendenz beobachten lässt, dass es im Athen des 6. und 5. Jahrhunderts v. Chr. keine gezielte Entwicklung hin zu einer Demokratie gegeben habe, sondern diese eher als „Kollateralschaden von Aushandlungsprozessen rivalisierender aristokratischer Parteien“6 anzusehen sei, lässt sich in diesem Zusammenhang auch die Frage stellen, ob ein Vertrauensverlust in ‚die demokratischen Institutionen‘ anzunehmen wäre. Denn diese Institutionen boten erst einmal – im Verhältnis zu vielen anderen Poleis der Zeit – lediglich sehr gute Partizipationschancen jedes einzelnen Bürgers an politischen Entscheidungen der Polis, die aus jenen vorherigen Aushandlungsprozessen aristokratischer Athener resultierten.7 Darüber hinaus lassen sich historische Anhaltspunkte finden, die einen unmittelbaren Zusammenhang der verlustreichen Sizilienexpedition mit dem oligarchischen Umsturz in Frage stellen. Athen hat bereits im unmittelbaren Anschluss an die verheerende Niederlage große Anstrengungen unternommen, um die Streitkräfte wieder aufzurüsten.8 Der von Thukydides berichtete Schock war also bereits überwunden und hatte sich in eine intensive Wiederaufrüstung umgekehrt, die durch eine grundlegende Reorganisation der militärischen Ausgaben ermöglicht wurde.9 Zwar sind Rüstungsbemühungen per se kein eindeutiger Beleg für intakte demokratische Strukturen. Doch zeigt sich an diesem Flottenbauprogramm, dass Athen als kriegführende Polis zunächst in diesem Bereich weiterhin handlungsfähig war. Die Annahme eines Vertrauensverlustes in demokratische Institutionen in direkter Folge zur Sizilienexpedition greift demnach etwas zu kurz. Daher soll im Folgenden der oligarchische Umsturz von 411 v. Chr. eher als ein vielschichtiges Phänomen betrachtet und neben der politisch-militärischen Per­ spektive auch die wirtschaftliche miteinbezogen werden, um hieraus eine mögliche Vertrauenserosion in die politischen Institutionen jener Zeit abzuleiten. Dazu 5 Aristot. Ath. pol. 29–33. 6 Timmer 2014, S. 95. 7 Vgl. hierzu auch Bleicken 1985, S. 45; Cartledge 2008, S. 19, 30–32; Timmer 2014, S. 97–99. Anders jedoch nach wie vor Josiah Ober, vgl. u. a. Ober 2016, S. 233–240. 8 Thuk. 8,4 (Übers. Weißenberger): „Es rüsteten sich auch die Athener, wie geplant, während dieses selben Winters: zum einen für den Schiffsbau durch die Beschaffung von Holz, zum anderen durch Befestigung von Sunion, um für ihre Korntransportschiffe die sichere Umfahrung des Kaps zu gewährleisten, sowie durch Aufgabe des Forts im lakonischen Land, das sie während ihrer Vorbeifahrt Richtung Sizilien dort hinein gebaut hatten, und überhaupt Rückführung aller unnütz erscheinenden Ausgaben auf ein bescheidenes Maß.“ – Παρεσκευάζοντο δὲ καὶ Ἀθηναῖοι, ὥσπερ διενοήθησαν, ἐν τῷ αὐτῷ χειμῶνι τούτῳ τήν τε ναυπηγίαν, ξύλα ξυμπορισάμενοι, καὶ Σούνιον τειχίσαντες, ὅπως αὐτοῖς  ἀσφάλεια ταῖς σιταγωγοῖς ναυσὶν εἴη τοῦ περίπλου, καὶ τό τε ἐν τῇ Λακωνικῇ τείχισμα ἐκλιπόντες ὃ ἐνῳκοδόμησαν παραπλέοντες ἐς Σικελίαν, καὶ τἆλλα, εἴ πού τι ἐδόκει χρεῖον ἀναλίσκεσθαι, ξυστελλόμενοι ἐς εὐτέλειαν. Vgl. ebenso Thuk. 8,1,3. 9 Kallet 2001, S. 234–236; Flament 2006, S. 166; Will 2019, S. 200.

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sollen, nach der Klärung methodischer Fragen, die beiden zentralen Quellen, also Thukydides und die aristotelische Athenaion politeia, einerseits auf ihre Widersprüchlichkeit hin untersucht, andererseits aber auch unter wirtschaftshistorischen Aspekten betrachtet werden. Hierbei steht insbesondere die Besetzung Dekeleias durch die Spartaner im Vordergrund, deren Auswirkungen sich in vielen Bereichen des alltäglichen Lebens bemerkbar machten und einen Prozess des Vertrauensverlustes erklären können. Wenn man dem oben dargelegten Ansatz des Kollateralschadens „Demokratie“ folgt, stellt sich zunächst die Frage, inwieweit im Zusammenhang mit dem oligarchischen Umsturz von einem Vertrauensverlust in ‚die‘ Demokratie die Rede sein kann, dessen sich ‚die‘ Oligarchen zu Nutze gemacht haben. Es deutet einiges darauf hin, dass die Gruppierungen in Athen in jener Zeit weniger fest und offenbar für einzelne Bürger durchlässig waren.10 So befanden sich unter jenen hundert Umstürzlern des oligarchischen Umsturzes mit Bürgern wie Peisandros oder Theramenes eben auch solche, die bis dato als Verfechter der breiten, demokratischen Partizipationsmöglichkeiten anzutreffen waren.11 Und auch zeitgenössische Autoren wie Aristophanes oder der Anonymus Iamblichi kritisieren lediglich oligarchische Verhaltensweisen bestimmter Bürger, ohne diese als Gruppe zu benennen, was ein geringes Gruppenzugehörigkeitsgefühl in jener Zeit vermuten lässt.12 Auf 10 Die Kategorisierung in Oligarchie und Demokratie bzw. Aristokratie und Politie lässt sich in dieser ausdifferenzierten Form ohnehin erst in Aristoteles’ Politik finden, vgl. Aristot. pol. 3,6–8, zeichnet sich aber bereits in der sogenannten Verfassungsdebatte bei Herodot ab, in der die persischen Adeligen Otanes, Megabyzos I. und Dareios I. über die Vorteile von Volksherrschaft, Oligarchie und Alleinherrschaft debattieren, vgl. Hdt. 3,80–82, wobei Herodot an dieser Stelle auch nur von ἰσονομία und eben nicht von δημοκρατία spricht, obwohl er dies an späterer Stelle im Zusammenhang mit Kleisthenes durchaus tut, vgl. Hdt. 6,131,1. Die Varianz könnte auf eine unterschiedliche Konnotation der beiden Begriffe zurückzuführen sein, vgl. Cartledge 2008, S. 16 f., veranschaulicht aber auch die sich erst entwickelnde Begrifflichkeit für die partizipatorische Teilhabe an den politischen Institutionen. Ähnlich umschreibend bleibt aber auch Pind. Pyth. 2,86–88. 11 Mann 2007, S. 271; Sebastiani 2018, S. 494. 12 So wettert Aristophanes lediglich gegen den ‚Klubmänner-Filz‘, der sich für die Ämterbesetzung verschwört, vgl. Aristoph. Lys. 574–578. Auch der Anonymus Iamblichi zeugt von einer zunehmend kritischen Auseinandersetzung mit dem Streben nach Geld, ohne hierbei die Gruppe der Oligarchen explizit zu nennen: Anonymus Iamblichi DK 3,4 (Übers. Laks/ Most): „For if someone does a good deed to his neighbors by giving them money, he will be obliged to be wicked again in turn when he collects the money.“ – εἰ μέν τις χρήματα διδοὺς εὐεργετήσει τοὺς πλησίον, ἀναγκασθήσεται κακὸς εἶναι πάλιν αὖ συλλέγων τὰ χρήματα· Besonders eindeutig aber Anonymus Iamblichi DK 4,5 (Übers. Laks/Most): „And there are some other reasons that, no less than the ones I have mentioned, drive people to moneymaking: rivalries with each other, jealousies, political powers, because of which they attach great importance to money, because it makes a contribution in situations of this sort.“ – καὶ ἄλλ’ ἄττα δέ ἐστιν ἅπερ οὐχ ἧσσον ἢ τὰ προειρημένα ἐξορμᾷ τοὺς ἀνθρώπους ἐπὶ τὸν χρηματισμόν, αἱ πρὸς ἀλλήλους φιλοτιμίαι καὶ οἱ ζῆλοι καὶ αἱ δυναστεῖαι, δι’ ἃς τὰ χρήματα περὶ πολλοῦ ποιοῦνται, ὅτι συμβάλλεται εἰς τὰ τοιαῦτα. Neben den moralischen Kritikpunkten erklärt der Anonymus Iamblichi jedoch auch negative Auswirkungen, die durch das Horten von Geld entstehen, da diese so der Gemeinschaft entzogen und dieser damit schaden würden; vgl. Ano-

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eine solche Unschärfe deutet zudem ein Fragment des Redners Thrasymachos vom Ende des Peloponnesischen Kriegs hin, in dem deutlich wird, dass sich nicht nur demokratisch, sondern auch oligarchisch gesinnte Bürger gleichermaßen auf die lediglich mündlich tradierten Verfassungsansätze Solons beriefen.13 Somit ist ein Vertrauensverlust im Kontext des oligarchischen Umsturzes in erster Linie darin zu suchen, ob sich die Chancen der Partizipationsmöglichkeiten eines athenischen Bürgers an den politischen Institutionen infolge der sizilischen Expedition merklich verschlechtert hätten oder erst durch Umstände in späterer Zeit. Doch wie lässt sich Vertrauensverlust in den Quellen jener Zeit erkennen? Eine grundlegende Folge von Vertrauensverlust ist, dass eine gemeinsame Entscheidungsfindung sowie kooperatives Handeln zunehmend erschwert werden. Die betroffenen Personen konzentrieren sich daher darauf, kurzfristige Lösungen für gegenwärtige Probleme zu finden, während langfristige Perspektiven in den Hintergrund treten.14 Der Grund hierfür liegt in der steigenden gesellschaftlichen Komplexität, die in der Folge einer Vertrauenserosion entsteht und die erfolgreiche Aushandlungsprozesse zwischen Personen oder auch zwischen Gruppen erschwert. Um diese Komplexität wieder zu reduzieren, entwickeln Menschen „funktional äquivalente Mechanismen“15, um in der Folge des Vertrauensverlustes handlungsfähig zu bleiben. Hierfür lassen sich drei Verhaltensoptionen ausmachen, nämlich die Ausübung von Kontrolle, Korruption oder Misstrauen.16 Allen diesen Verhaltensoptionen ist gemein, dass sie solche „funktional äquivalente Mechanismen“17 sind, die in einer erheblich weniger kooperativen Art und Weise funktionieren als bisher. Kooperation war aber gerade für die politischen Institutionen der attischen Demokratie und deren Funktionalität die entscheidende Grundlage,18 sodass gerade ein Vertrauensverlust in die demokratisch-partizipatorischen Strukturen Athens besonders problematisch war. Für den hier behandelten oligarchischen Umsturz lassen sich von den genannten Verhaltensoptionen zwei sehr deutlich erkennen, nämlich das Agieren derjenigen Personen, die mit wenigen anderen die Kontrolle über die Polis zu erlangen versuchten, und die Haltung derjenigen Akteure wiederum, die mit Misstrauen reagierten und ihre Chancen auf politische Partizipationsmöglichkeiten zu Gunsten der sozialen Reduktion zurückstellten. Da, wie oben gezeigt wurde, ein Gruppenzugehörigkeitsgefühl zu Demokratie und Oligarchie offensichtlich eine untergeordnete

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nymus Iamblichi DK 7,8 (Übers. Laks/Most): „and they hoard their money out of a lack of trust and interconnection and do not share it in common, and in this way it becomes scarce, even if it is abundant.“ – τά τε χρήματα δι’ ἀπιστίαν καὶ ἀμιξίαν ἀποθησαυρίζουσιν ἀλλ’ οὐ κοινοῦνται, καὶ οὕτως σπάνια γίγνεται, ἐὰν καὶ πολλὰ ᾖ. Thrasymachos DK 85 B 1. Diese Ambivalenz der solonischen Gesetzgebung thematisiert auch Aristoteles in seiner Politik, vgl. Aristot. pol. 1273 b 35–1274 a 12. Timmer 2017, S. 257. Zitiert aus Timmer 2017, S. 257 f. Timmer 2017, S. 258. Timmer beruft sich hierbei auf die Ansätze des Soziologen Piotr Sztompka (Sztompka 1995). Zitiert aus Timmer 2017, S. 257 f. Ausführlich hierzu Osborne 2010, S. 27 f.

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Rolle spielte, soll im Folgenden auf dieser Grundlage geklärt werden, welche Umstände die Vertrauenserosion auslösten, die mit Hilfe der Verhaltensoptionen Misstrauen und Kontrolle in den oligarchischen Umsturz mündeten.

2. Historischer Kontext und widersprüchliche Quellenlage Zunächst soll ein Blick auf die Ereignisse selbst geworfen werden. Der letzte größere Schritt, durch den sich die Partizipationschancen der athenischen Bürger noch einmal erheblich vergrößerten, waren die Reformen des Ephialtes.19 Der genaue Ablauf dieser in den Quellen nur sehr vage beschriebenen Zeit des Umbruchs ist schwer zu greifen.20 Er lässt sich aber zumindest dahingehend zusammenfassen, dass durch jüngere Aristokraten aus dem Gefolge des Ephialtes mehrere Prozesse gegen Mitglieder des Areopags angestrebt wurden21 und am Ende trotz der Ermordung des Ephialtes offenbar eine Verschiebung einiger Kompetenzen hin zu demokratischen Institutionen stand.22 In der Folge konnte sich, gerade unter dem Einfluss des Perikles, die demokratische Ordnung verstetigen. Sie überstand verheerende militärische Niederlagen, wie die Ägyptenexpedition ebenso wie den Seuchenausbruch zu Beginn des Peloponnesischen Krieges.23 Außerdem scheinen sowohl die erste wechselhafte Kriegsphase des Peloponnesischen Krieges als auch der von verschiedenen Seiten attackierte Nikiasfrieden ebenfalls keine ernstzunehmenden Versuche einer Beschränkung der politischen Partizipationsmöglichkeiten breiter Teile der Bürgerschaft nach sich gezogen zu haben. Erst in jenem Jahr 411 v. Chr. wurde die Bürgerschaft in ihrer Teilhabe eingeschränkt. Der Umsturzversuch ging laut Thukydides von oligarchisch gesinnten Trierarchen der auf Samos stationierten Flotte aus. Es waren also vor allem diejenigen athenischen Bürger, die durch ihren Wohlstand für eine Trierarchie in Frage

19 Timmer 2014, S. 95 f. 20 Bleicken 1985, S. 37. Die Ereignisse werden erst in der aristotelischen Athenaion politeia aufgegriffen und ausführlich dargelegt; vgl. Aristot. Ath. pol. 25, während sie in früheren Quellen nicht thematisiert wurden. 21 Aristot. pol. 1274 a 6–8. 22 Timmer 2014, S. 95 f. Rhodes 2007, S. 28, führt die gesamte Entwicklung im Kontext der Aktivitäten auf Provokationen zurück, die eine entsprechende Reaktion der Theten zu Gunsten des Ephialtes evozierten und damit dessen Ansinnen auch langfristig stützten. 23 Aristot. Ath. pol. 27,1 (Übers. Dreher): „Danach gelangte Perikles in die Position des Volksführers; er hatte seinen guten Ruf begründet, als er, noch ein junger Mann, nach Ablauf der Strategie Kimons gegen dessen Rechenschaftslegung Klage erhob; nun kam es dazu, daß die Verfassung noch demokratischer wurde.“ – μετὰ δὲ ταῦτα πρὸς τὸ δημαγωγεῖν ἐλθόντος Περικλέους, καὶ πρῶτον εὐδοκιμήσαντος, ὅτε κατηγόρησε τὰς εὐθύνας Κίμωνος στρατηγοῦντος νέος ὤν, δημοτικωτέραν ἔτι συνέβη γενέσθαι τὴν πολιτείαν.

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kamen und große finanzielle Belastungen zu tragen hatten,24 die den politischen Einfluss auf wenige wohlhabende Athener beschränken wollten.25 Mit dieser Absicht hätten die Trierarchen durch den Strategen Peisandros Kontakt zu den Hetairien in Athen aufgenommen und diese ebenfalls eher oligarchisch gesinnten Gruppen ermutigt, ihr Ansinnen vorzubereiten.26 In Athen machten sich daraufhin jene Mitglieder der Hetairien auf, die Revolte sorgfältig zu planen und entsprechende Vorkehrungen zu treffen.27 In diesem Umfeld argumentierte Peisandros in der Volksversammlung, dass die gegenwärtige politische Ordnung den Anforderungen des Krieges nicht genüge und einer Überarbeitung bedürfe. Die Demokratie sei daher abzuschaffen, Alkibiades zurückzuholen und dadurch ein Bündnis mit den Persern zu schließen.28 Von diesen Vorschlägen fanden nur die letzten beiden breitere Akzeptanz,29 zu deren Umsetzung Peisandros mit einer Delegation entsandt wurde. Nachdem Peisandros erfolglos von diesem Vorhaben zurückgekehrt war, stimmte die Volksversammlung schließlich dem Verzicht auf ihre politischen Kompetenzen zu.30 Die Mitbestimmung der Bürger wurde dahin24 Thuk. 7,71,6. Bereits hier wird die Bedeutung der wirtschaftlichen Komponente deutlich. Zwar wog der Verlust eines Großteils der Flotte für Athen auch militärstrategisch schwer, da hiermit der Verlust zahlreicher athenischer Bürger und entsprechender militärischer Fähigkeiten einherging, vgl. Mann 2007, S. 268. Besonders schwerwiegend dürfte jedoch auch die Nachrüstung und die daraus resultierende enorme finanzielle Belastung gewesen sein, die zwar grundlegend von der Polis selbst geleistet wurde, im Hinblick auf die kostspielige Ausstattung jedoch von den Trierarchen getragen werden musste. So zeigt die zuerst durch Lysias (Lys. 32,24) für 408 bzw. 406 v. Chr. belegte Syntrierarchie, dass die enormen Kosten einer Trierarchie von bis zu einem Talent pro Schiff und Jahr besonders in der Phase des Dekeleischen Krieg immer schwieriger für einzelne Bürger zu stemmen waren, vgl. hierzu auch Thuk. 8,4; ferner Flament 2007, S. 187. 25 Thuk. 8,63,3 (Übers. Weißenberger): „Denn um diese Zeit und noch früher vollzog sich in Athen die Zersetzung der Demokratie: Als nämlich die Gesandten um Peisandros von Tissa­ phernes her nach Samos gekommen waren, nahmen sie sowohl im Heer selbst die Zügel noch fester in die Hand und ermutigten auch die Mächtigen auf Samos selbst zu dem Versuch, im Bunde mit ihnen eine Oligarchie zu etablieren, obwohl die Samier doch selbst sich gegen ihre Landsleute erhoben hatten, um nicht oligarchisch regiert zu werden.“ – ὑπὸ γὰρ τοῦτον τὸν χρόνον καὶ ἔτι πρότερον ἡ ἐν ταῖς Ἀθήναις δημοκρατία κατελέλυτο. ἐπειδὴ γὰρ οἱ περὶ τὸν Πείσανδρον πρέσβεις παρὰ τοῦ Τισσαφέρνους ἐς τὴν Σάμον ἦλθον, τά τε ἐν αὐτῷ τῷ στρατεύματι ἔτι βεβαιότερον κατέλαβον καὶ αὐτῶν τῶν Σαμίων προυτρέψαντο τοὺς δυνατωτάτους ὥστε πειρᾶσθαι μετὰ σφῶν ὀλιγαρχηθῆναι, καίπερ ἐπαναστάντας αὐτοὺς ἀλλήλοις ἵνα μὴ ὀλιγαρχῶνται. 26 Thuk. 8,64,1; Mann 2007, S. 271 f. 27 Thuk. 8,63,4–64,1; 8,65,2 f. 28 Thuk. 8,53 f. 29 Mann 2007, S. 271. 30 Thuk. 8,66,2–5. Aristot. Ath. pol. 29,5 (Übers. Dreher): „Danach organisierten sie die Verfassung folgendermaßen. Die Einkünfte durften für keinen anderen Zweck als für den Krieg verwendet werden; alle Amtsträger sollten ohne Bezahlung amtieren, solange der Krieg dauern würde, mit Ausnahme der neun Archonten und der jeweiligen Prytanen. Von diesen sollte jeder drei Obolen täglich erhalten. Die gesamte übrige Staatsverwaltung sollte man, solange der Krieg dauern würde, denjenigen Athenern übertragen, die am besten dazu im Stande seien, mit ihrer Person und ihren Geldmitteln dem Staat zu dienen; nicht weniger als Fünftausend

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gehend marginalisiert, dass ein Rat der 400 den Rat der 500 ersetzte, der sich durch Kooptation und nicht mehr durch das Los zusammensetzte.31 Darüber hinaus sollte die politische Partizipation fortan auf die reichsten 5000 Athener beschränkt bleiben. Zwar wird hier einerseits deutlich, dass „in dieser Fähigkeit zur Selbstentmachtung die definitive Bestätigung der Souveränität des athenischen Volkes“32 lag. Andererseits stellt sich die Frage, weshalb ebenjene Volksversammlung bereit war, in der Zukunft auf die politische Herrschaft zu verzichten und zudem auf die Möglichkeit, über politische Teilhabe Einkommen zu generieren.33 Dass die Antwort auf diese Frage nicht durch die gescheiterte Sizilienexpedition allein zu erklären ist, zeigt auch die unterschiedliche Darstellung der Ereignisse bei Thukydides und der späteren aristotelischen Athenaion politeia. So berichtet Thukydides von einem Klima der Angst, das sich in Athen bereits vor der Ankunft des Peisandros ausgebreitet habe und den Nährboden für die Überwältigung der Volksversammlung bereitet habe.34 Demgegenüber scheint die Athenaion politeia von diesem Klima der Angst nichts mehr zu wissen und hebt einen anderen Aspekt hervor: „Die Masse ließ sich vor allem deswegen überreden, weil sie in dem Glauben war, der Perserkönig werde eher auf ihrer Seite kämpfen, wenn sie die Verfassung oligarchisch umbildeten.“35 Somit wären es vor allem außenpolitische Ziele gewesen, die die athenische Volksversammlung zur Selbstentmachtung getrieben hätten. Die Vermutung, dass sich die Oligarchen die Abwesenheit zahlreicher Theten im Zuge ihres Flottendienstes auf Samos zu Nutze gemacht hätten, erwähnt wiederum keine der beiden Quellen. Dies dürfte aber auch ein nicht zu unterschätzender Faktor im Hinblick auf

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sollten es sein. Diese sollten auch befugt sein, Verträge abzuschließen, mit wem sie wollten.“ – μετὰ δὲ ταῦτα τὴν πολιτείαν διέταξαν τόνδε τὸν τρόπον. τὰ μὲν χρήματα τὰ προσιόντα μὴ ἐξεῖναι ἄλλοσε δαπανῆσαι ἢ εἰς τὸν πόλεμον, τὰς δ᾽ ἀρχὰς ἀμίσθους ἄρχειν ἁπάσας ἕως ἂν ὁ πόλεμος ᾖ, πλὴν τῶν ἐννέα ἀρχόντων καὶ τῶν πρυτάνεων οἳ ἂν ὦσιν: τούτους δὲ φέρειν τρεῖς ὀβολοὺς ἕκαστον τῆς ἡμέρας. τὴν δ᾽ ἄλλην πολιτείαν ἐπιτρέψαι πᾶσαν Ἀθηναίων τοῖς δυνατωτάτοις καὶ τοῖς σώμασιν καὶ τοῖς χρήμασιν λῃτουργεῖν, μὴ ἔλαττον ἢ πεντακισχιλίοις, ἕως ἂν ὁ πόλεμος ᾖ. κυρίους δ᾽ εἶναι τούτους καὶ συνθήκας συντίθεσθαι πρὸς οὓς ἂν ἐθέλωσιν. Heftner 2001, S. 164. Raaflaub 1992, S. 6 f. Anm. 6. Aristot. Ath. pol. 27,1–4; Aristot. pol. 1274 a 8–11; pol. 1320 a 17 f.; Plut. Perikles 9,2–3. Thuk. 8,66,2 (Übers. Weißenberger): „Es widersprach auch keiner mehr von den anderen, weil man Angst hatte und sah, dass die Verschwörergruppe zahlreich war; sooft aber doch einer widersprach, war er ganz schnell auf irgendeine bequeme Weise aus dem Leben geschieden, und es gab weder eine Fahndung nach den Tätern noch ein Rechtsverfahren gegen etwaige Verdächtige, sondern Friedhofsruhe und Einschüchterung beherrschten das Volk in solchem Ausmaß, dass, wer nicht Opfer von Gewalttat wurde, sich schon glücklich schätzte, auch wenn er den Mund halten musste.“ – ἀντέλεγέ τε οὐδεὶς ἔτι τῶν ἄλλων, δεδιὼς καὶ ὁρῶν πολὺ τὸ ξυνεστηκός· εἰ δέ τις καὶ ἀντείποι, εὐθὺς ἐκ τρόπου τινὸς ἐπιτηδείου ἐτεθνήκει, καὶ τῶν δρασάντων οὔτε ζήτησις οὔτ’ εἰ ὑποπτεύοιντο δικαίωσις ἐγίγνετο, ἀλλ’ ἡσυχίαν εἶχεν ὁ δῆμος καὶ κατάπληξιν τοιαύτην ὥστε κέρδος ὁ μὴ πάσχων τι βίαιον, εἰ καὶ σιγῴη, ἐνόμιζεν. Aristot. Ath. pol. 29,1 (Übers. Chambers): μάλιστα δὲ συμπεισθέντων τῶν πολλῶν διὰ τὸ νομίζειν βασιλέα μᾶλλον ἑαυτοῖς συμπολεμήσειν, ἐὰν δι᾽ ὀλίγων ποιήσωνται τὴν πολιτείαν. Thukydides erwähnt diese Hoffnung lediglich an anderer Stelle in Bezug auf die erste Rede des Peisandros, als es noch nicht um die Umwälzungen ging, sondern um die Gesandtschaft zu Alkibiades und Tissaphernes; vgl. Thuk. 8,54,2.

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die erfolgreichen Umwälzungen gewesen sein. Auch wenn die Anzahl der Theten aufgrund der Quellenlage sehr spekulativ bleibt, geht etwa Herbert Heftner in seiner vorsichtigen Kalkulation, die verschiedene Aspekte, wie die nichtathenischen Besatzungsmitglieder der Trieren, mit einbezieht, von ca. 3000 Theten zu dieser Zeit auf Samos aus.36 Doch nicht nur das Umfeld, sondern auch die Selbstentmachtung an sich wird von beiden Autoren unterschiedlich dargestellt. Thukydides beschreibt nämlich, dass auf der Grundlage der Streichung sämtlicher Entschädigungen für politische Betätigungen37 die Bürger für den neuen Rat lediglich fünf Bürger auswählen durften, die wiederum per Kooptation 95 zusätzliche Mitglieder beriefen. Von diesen nun 100 Bürgern durfte schließlich jeder drei weitere auswählen.38 Die Versammlung der 5000 reichsten Athener müssten die Mitglieder dieses neuen Rates wiederum nur einberufen, wenn sie es für notwendig erachteten.39 In der Athenaion politeia wird hingegen von einem gänzlich anderen Weg zur Verfassungsänderung berichtet. Hierbei sollten die 5000 vermögendsten Athener eine Gruppe von 100 Bürgern aus ihrer Mitte auswählen, die eine neue Verfassung ausarbeiten sollten.40 Für die Zeit bis zur abgeschlossenen Ausarbeitung der Verfassung sollte wiederum ein Rat von 400 Bürgern eingesetzt werden, der die Polis bis dahin regieren solle.41 Es stellt sich an dieser Stelle die Frage, welcher Überlieferung eher zu folgen ist.42 Für die thukydideische Überlieferung spricht die zeitliche Nähe sowie die trotz aller Einschränkungen43 recht sorgfältige Quellenarbeit des Thukydides. Jedoch führt der 36 Heftner 2001, S. 37–39. 37 Thuk. 8,67,3. 38 Thuk. 8,67,3 (Übers. Weißenberger): „Und an diesem Punkt wurde nun endlich in triumphierender Direktheit vorgetragen, dass niemand mehr auf Grundlage der bisher geltenden Ordnung ein Amt führen oder staatliche Gelder erhalten solle; und fünf Männer sollten zu Vorsitzenden gewählt werden, diese wiederum hundert Männer wählen und von diesen hundert jeder einzelne zu sich selbst drei hinzunehmen; dieses Gremium, vierhundert Mann stark, solle dann ins Ratsgebäude einziehen und die Regierung nach eigenem Gutdünken führen.“ – ἐνταῦθα δὴ λαμπρῶς ἐλέγετο ἤδη μήτε ἀρχὴν ἄρχειν μηδεμίαν ἔτι ἐκ τοῦ αὐτοῦ κόσμου μήτε μισθοφορεῖν προέδρους τε ἑλέσθαι πέντε ἄνδρας, τούτους δὲ ἑλέσθαι ἑκατὸν ἄνδρας, καὶ τῶν ἑκατὸν ἕκαστον πρὸς ἑαυτὸν τρεῖς· ἐλθόντας δὲ αὐτοὺς τετρακοσίους ὄντας ἐς τὸ βουλευτήριον ἄρχειν ὅπῃ ἂν ἄριστα γιγνώσκωσιν αὐτοκράτορας. 39 Thuk. 8,67,3 (Übers. Weißenberger): „sowie die Fünftausend versammeln, wann immer es ihnen richtig erscheine“ – καὶ τοὺς πεντακισχιλίους δὲ ξυλλέγειν ὁπόταν αὐτοῖς δοκῇ. 40 Aristot. Ath. pol. 30,1 (Übers. Chambers): „Die Gewählten schlugen also diese Maßnahmen vor. Als sie rechtskräftig geworden waren, wählten die Fünftausend aus ihren eigenen Reihen die 100 Männer, die die Verfassung entwerfen sollten.“ – οἱ μὲν οὖν αἱρεθέντες ταῦτα συνέγραψαν. κυρωθέντων δὲ τούτων, εἵλοντο σφῶν αὐτῶν οἱ πεντακισχίλιοι τοὺς ἀναγράψοντας τὴν πολιτείαν ἑκατὸν ἄνδρας. 41 Aristot. Ath. pol. 31. 42 Eine ausführliche Diskussion dieser widersprüchlichen Passage und einen guten Überblick über die Forschungsdiskussion bietet Heftner 2001, S. 177–210. 43 Als exemplarische Beispiele für die dezidierte Auseinandersetzung mit der Autorenintention seien hier im Hinblick auf Perikles Will 2003 und im Hinblick auf die Reden Scardino 2007, insbesondere S. 648–701, genannt.

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Autor der Athenaion politeia in den Kapiteln 30 und 31 zwei Verfassungsurkunden ins Feld, die eine Rezeption einer entsprechenden schriftlichen Quelle zu diesem Sachverhalt nahelegen. Eine Erklärung für diesen Widerspruch könnte eine Art Rotationsprinzips der 5000 gewesen sein, das vorsah, dass diese 5000 durch die 100 Männer in vier Gruppen aufgeteilt wurden, die dann turnusmäßig die Verwaltung der Polis ausführen sollten.44 Gerade dieser jährliche Wechsel hat aber die Frage nach der Praktikabilität dieser Prozedur in den Vordergrund rücken lassen. Die Passage der Athenaion politeia ließe sich mit Thukydides bestenfalls dahingehend harmonisieren, dass die 5000 lediglich als täuschendes Konstrukt erdacht wurden, das nie hätte institutionalisiert werden sollen, jedoch in die deutlich spätere Athenaion politeia „aus der Propaganda oligarchischer Theorien“45 heraus als tatsächlich umgesetzt Einzug fand.46 Thukydides scheint den Entwicklungen jener Zeit in seinen Darstellungen demnach insgesamt näher zu kommen. Einig sind sich Thukydides und Aristoteles wiederum in zwei wesentlichen Aspekten zu Beginn des Umsturzes, die sich unmittelbar auf die partizipatorischen Möglichkeiten beziehen. Einerseits wurde demnach der ‚Verfassungsschutz‘, die γραφὴ παρανόμων,47 abgeschafft, andererseits wurden die Aufwandsentschädigungen und das Erlosen der meisten Ämter aufgehoben.48 Beides waren entscheidende Präventivmaßnahmen, um die anschließenden politischen Umwälzungen zu Gunsten der 400 zu sichern. Zunächst wurde durch das Außerkraftsetzen der γραφὴ παρανόμων eine Art Immunität geschaffen, um die vorher undenkbaren Gesetzesvorschläge zur Etablierung einer oligarchischen Ordnung überhaupt vorbringen zu können. Zudem wurde gemäß Thukydides der Vorschlag zur Aussetzung der γραφὴ παρανόμων mit der Androhung von schweren Strafen verbunden, sofern 44 Aristot. Ath. pol. 30,3 f. 45 Zitiert aus Schubert 2011, S. 179. 46 Vgl. hierzu Chambers 1990, S. 284; Heftner 2001, S. 209 f.; Schubert 2011, S. 179. Anders hingegen Lehmann 1997, S. 42 Anm. 47, der mit dem Verweis auf Hell. Oxy. ed. Chambers c. 19,2 f. und die erfolgreiche Umsetzung des Prinzips in Böotien die Praktikabilität dieses „meritokratische[n] Prinzip[s]“ hervorhebt. Vgl. hierzu auch Thuk. 8,66,1 (Übers. Weißenberger): „Tatsächlich war das aber eine für die Mehrheit bestimmte Beschönigung, denn wirklich in der Hand haben sollten den Staat diejenigen, die dabei waren, ihn umzubauen.“ – ἦν δὲ τοῦτο εὐπρεπὲς πρὸς τοὺς πλείους, ἐπεὶ ἕξειν γε τὴν πόλιν οἵπερ καὶ μεθίστασαν ἔμελλον. 47 Thuk. 8,67,2 sowie Aristot. Ath. pol. 29,4; ferner Chambers 1990, S. 278 f., der hervorhebt, dass Aristoteles’ Schweigen zur γραφὴ παρανόμων darauf hindeutet, dass dieser das Instrument zur Sicherung der bestehenden Grundordnung als radikaldemokratisch ansah, deshalb ablehnte und es außer an dieser Stelle komplett übergeht. Rhodes 2017, S. 286 f., ist hinsichtlich der Autorenintention vorsichtiger, sieht hier aber dennoch eine entscheidende Präventivmaßnahme zur Umsetzung des Plans; ebenso Hornblower 2010, S. 951. Die erste Nennung der γραφὴ παρανόμων in den Quellen findet sich bei Andok. 1,17 etwa zwei Jahre vor dem Umsturz und war vermutlich die Antwort auf den zunehmend dysfunktionalen Ostrakismos, der auf diese Weise durch die γραφὴ παρανόμων als „the state’s strongest weapon against its political leaders“ abgelöst wurde; Hornblower 2010, S. 951. 48 Thuk. 8,67,3; Aristot. Ath. pol. 29,5; 33,1. Insgesamt lässt sich hier auch der Selbstanspruch der Oligarchen erkennen, dass der Dienst an der Polis ehrenamtlich im Sinne eines ἄριστος zu leisten sei, vgl. hierzu auch Ps.-Xen. Ath. pol. 1,13; 16.

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ein Bürger einen anderen auch nur daran hindere (βλάπτειν), einen Reformvorschlag einzubringen.49 So wäre nicht nur die Möglichkeit geschaffen worden, ein solches Anliegen überhaupt einzubringen, sondern auch etwaige Gegenreden von vornherein zu unterdrücken. Als letzter Punkt ist auch der Ort der Versammlung beachtenswert. So berichtet zumindest Thukydides, dass die Versammlung auf dem Hügel Kolonos nördlich der Stadtmauern stattgefunden haben soll.50 Sowohl Peter J. Rhodes und Mortimer Chambers als auch Simon Hornblower sehen hier einen Versuch der Verschwörer, neben den auf Samos stationierten Theten auch die ärmeren Bürger von einer Teilnahme abzuhalten. Denn die Lage des Hügels außerhalb der Stadtmauern habe gerade die ärmeren, nicht schwer bewaffneten Bürger davon abgehalten, an der Versammlung teilzunehmen. Sie wären bei einem Angriff der Spartaner schutzund wehrlos gewesen.51 Thukydides legt jedoch mit der Verwendung des Verbs συγκλείειν eher das Gegenteil nahe, nämlich dass der Platz dort für die Teilnehmer nicht ausreichend war, also die Nachfrage an der Teilnahme nicht gering gewesen sein kann.52 Zudem erläutert Thukydides, dass sich an dieser Stelle, knapp 1,7 Kilometer vor den Stadttoren, ein Poseidonheiligtum befunden habe.53 Einen Angriff der Spartaner aus dem über 10 Kilometer entfernten Dekeleia hätte man also von diesem Hügel lange im Voraus sehen und entsprechend zurück hinter die Mauern fliehen können.54 Es müssen demzufolge andere Gründe für die Verlegung des Versammlungsplatzes nach Kolonos eine Rolle gespielt haben, wie auch Rhodes vermutet.55 Hornblower bringt hier mit dem Verweis auf den Namen Kolonos Hippios einen solchen anderen Grund ins Spiel. So könne die Verlegung der Versammlung zum Poseidon Hippios erfolgt sein, um durch den für die Reiterei zentralen Ort ebendiese für die Pläne zu erwärmen und einzubinden.56 Viel entscheidender dürfte bei der Verlegung des Versammlungsortes jedoch die bereits erwähnte Sichtweite zu Dekeleia gewesen sein.57 Denn während die Pnyx südwestlich der Akropolis den Blick auf Dekeleia nur bedingt und aus weiter Entfernung ermöglichte, war der neue Ver49 Thuk. 8,67,2; Aristot. Ath. pol. 29,4 spricht sogar von einer Androhung der Todesstrafe durch die Strategen: Τοὺς δὲ στρατηγοὺς παραδοῦναι τοῖς ἕνδεκα θανάτῳ ζημιῶσαι. 50 Thuk. 8,67,2. Die aristotelische Athenaion politeia schweigt hierzu hingegen, was Chambers 1990, S. 278, zu der Schlussfolgerung bringt, dass Aristoteles’ Quelle auf diese Weise „offensichtlich die Ungesetzlichkeit der Umwälzung verschleiern“ wollte. 51 Chambers 1990, S. 278; Rhodes 2017, S. 286; Hornblower 2010, S. 949. 52 Wobei auch auf der Pnyx lediglich knapp 6000 Bürger teilnehmen konnten und auch Will 2019, S. 205–209, in jener Zeit eine „Stadt- und Weltflucht“ ausmacht, sodass sich insgesamt die Frage stellt, ob derartige Ausgrenzungsmanöver überhaupt notwendig waren. 53 Thuk. 8,67,2: ἔστι δὲ ἱερὸν Ποσειδῶνος ἔξω πόλεως πέχον σταδίους μάλιστα δέκα. 54 Dass Dekeleia in Sichtweite war, betont Thukydides mehrfach, unter anderem in Thuk. 7,19,2. 55 Rhodes 2017, S. 286: „With the countryside of Attica in the hands of the Spartans, that may have deterred some poorer citizens from attending, but some more innocent reasons must have been given for the decision.“ 56 Hornblower 2010, S. 949 f. 57 Thuk. 7,19,2.

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sammlungsort nicht nur näher, sondern bot auch ein uneingeschränktes Sichtfeld auf Dekeleia. So lenkte die Teilnehmer keine Akropolis und keine befestigte Stadt ab, sondern führte ihnen während der gesamten Versammlung vor Augen, dass sich der Feind seit nahezu zwei Jahren auf attischem Kerngebiet verschanzt hatte und es in dieser langen Zeit nicht gelungen war, an diesem Zustand etwas zu ändern. Mit diesem psychologischen Kniff wurde den Teilnehmern seitens der Umstürzler die Dysfunktionalität der bestehenden Institutionen vor Augen geführt und damit unausgesprochen deren Legitimität in Frage gestellt. Die Verlegung des Versammlungsortes dürfte also seitens der Initiatoren darauf abgezielt haben, einen Vertrauensverlust der Teilnehmer in die bestehende Ordnung zu verstärken und damit die Bereitschaft zu erhöhen, auf die demokratische Mitbestimmung zu verzichten, um durch eine Neuordnung der politischen Verhältnisse diesen sichtbaren Missstand endlich zu beheben. Es zeigt sich also bereits bei der Betrachtung der unmittelbaren Ereignisse, dass sowohl die Rahmenbedingungen als auch der Umsturzversuch selbst in klassischer Zeit sehr unterschiedlich interpretiert und dargelegt wurden. Schon unter den Zeitgenossen gab es unterschiedliche Auslegungen darüber, was in diesem Kontext Theorie war und was tatsächlich geschah. Die Ursachen, die die politischen Umwälzungen ermöglichten, scheinen also vielschichtiger gewesen zu sein. Sie lassen sich nicht bloß auf Geheimabsprachen und Einschüchterungsversuche reduzieren. Daher lohnt sich im Folgenden ein genauerer Blick auf die Besetzung Dekeleias und deren Folgen für die attische Bevölkerung.

3. Dekeleia und die Folgen für die athenische Wirtschaft Gemäß der Darstellung des Thukydides hatte der nach Sparta übergelaufene Alkibiades dort empfohlen, die Ortschaft Dekeleia einzunehmen und zu befestigen, um Athen empfindlich zu schaden: Was ihr durch diese Festsetzung im Land bei eigenem Vorteil dem Gegner an Problemen schaffen werdet, da will ich vieles übergehen und nur das Wichtigste zusammenfassen: Hab und Gut, mit denen das ländliche Attika ausgestattet ist, wird großenteils zu euch wandern, teils erbeutet, teils ganz von selbst; die Einkünfte aus den Silberminen in Laureion und was ihnen an Erträgnissen aus dem Land und von den Gerichtshöfen jetzt zufließt, werden sie auf der Stelle verlieren, insbesondere aber die Bundesbeiträge, die spärlicher fließen werden, weil die Verbündeten, überzeugt, dass von eurer Seite der Krieg nunmehr kraftvoll geführt wird, es mit ihren Verpflichtungen nicht mehr so genau nehmen werden.58

58 Thuk. 6,91,7 (Übers. Weißenberger): ἃ δ’ ἐν τῇ ἐπιτειχίσει αὐτοὶ ὠφελούμενοι τοὺς ἐναντίους κωλύσετε, πολλὰ παρεὶς τὰ μέγιστα κεφαλαιώσω. οἷς τε γὰρ ἡ χώρα κατεσκεύασται, τὰ πολλὰ πρὸς ὑμᾶς τὰ μὲν ληφθέντα, τὰ δ’ αὐτόματα ἥξει· καὶ τὰς τοῦ Λαυρείου τῶν ἀργυρείων

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In dieser kurzen Passage lassen sich vier Konsequenzen erkennen, die Athen aus einem Verlust Dekeleias nach Prognose des Alkibiades erwachsen sollten: 1. Da Dekeleia an einem wichtigen Handelsstraßenknotenpunkt lag, sollte auf diese Weise die Nahrungsmitteleinfuhr aus Euboia unterbunden werden, wo u. a. die großen Tierherden Athens weideten. 2. Das fruchtbare Umland Dekeleias sollte für die Athener nicht mehr landwirtschaftlich nutzbar gemacht werden. 3. Die Einkünfte aus dem Silberbergbau sollten unterbunden werden. 4. Die Bündner des Attisch-Delischen Seebunds sollten durch die Schwäche Athens zum Abfall oder zumindest zum säumigen Begleichen der Tribute bewegt werden. Aufgrund der Kürze der Passage sowie der von Thukydides selbst eingeräumten freien Konzeption der Reden erscheinen einige Punkte etwas widersprüchlich. Denn es ist unklar, wie die Einnahme Dekeleias im Nordosten Attikas den Silberbergbau im äußersten Südosten einschränken sollte.59 Darüber hinaus scheint auch der vierte Punkt recht spekulativ, dass sich die Bündner Athens durch die Besetzung Dekeleias zum Abfall bewegen ließen.60 Eine Erklärung, weshalb diese beiden Konsequenzen in der Rede auftauchen, dürfte die Retrospektive sein, in der Thukydides die Reden formuliert hat. Wie Thukydides in seinem Methodenkapitel selbst erwähnt,61 schrieb er die Reden so, wie sie seiner Meinung nach gehalten worden sein müssten. Dies bedeutet aber auch, dass Thukydides das Wissen um die späteren Ereignisse in den Entwurf dieser Reden mit einbezogen hat. Deutlich wird das durch den Einschub im folgenden Satz, nämlich: „und die Zukunft, denke ich, wird zeigen, dass ich mich nicht täusche.“62 Dieser – Alkibiades in den Mund gelegte – Satz weist auf genau diesen Umstand hin, da alle Vorhersagen auch so eintrafen. Tatsächlich nutzten in der Folge einige Bündner die militärische Situation aufgrund der spartanischen Besetzung Dekeleias aus, um vom Seebund abzufallen. Hier dürfte besonders der Abfall Euboias schwer ins Gewicht gefallen sein, da diese Insel für Athen von jeher wirtschaftlich von großer Bedeutung war.63 Eine noch deutlich größere Belastung dürfte Athen jedoch erst zeitlich versetzt und nur indirekt durch die Besetzung Dekeleias getroffen haben, nämlich der Ein-

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μετάλλων προσόδους καὶ ὅσα ἀπὸ γῆς καὶ δικαστηρίων νῦν ὠφελοῦνται εὐθὺς ποστερήσονται, μάλιστα δὲ τῆς ἀπὸ τῶν ξυμμάχων προσόδου ἧσσον διαφορουμένης, οἳ τὰ παρ’ ὑμῶν νομίσαντες ἤδη κατὰ κράτος πολεμεῖσθαι ὀλιγωρήσουσιν. Hornblower 2010, S. 515, stellt dazu fest, dass es sich hierbei neben Thuk. 2,55,1 um die einzige Stelle im gesamten Werk handelt, in der die Lauriotike benannt wird. Zumal die Lage am Hellespont auch noch bis 411 v. Chr. ruhig blieb; vgl. Mann 2007, S. 269. Thuk. 1,22,1. Thuk. 6,92,1 (Übers. Weißenberger): καὶ οὐχ ἁμαρτήσεσθαι οἶμαι γνώμης. Thuk. 8,94. Neben den von Thukydides beschriebenen Nahrungsmitteln dürften aber auch die reichhaltigen Kupfervorkommen, die für die Herstellung von Bronze benötigt wurden, sowie Holz als Energieträger und Bauholz eine Rolle gespielt haben. Weitere abgefallene Bündner waren Chios (Thuk. 8,14), Milet (Thuk. 8,17), Lesbos (Thuk. 8,22 f.; 32) sowie später einige Städte am Hellespont (Thuk. 8,62; 107,1). Zwar hatte Athen die φόροι in eine fünfprozentige

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bruch des attischen Silberbergbaus. Das wird besonders aus der grundlegenden Bedeutung des Silberbergbaus für den athenischen Alltag deutlich. Die steigende Silberförderung und die daran anschließende Etablierung des Münzsystems hatte enorme Auswirkungen auf das politische Leben in klassischer Zeit. Nicht nur die Entlohnung der öffentlichen Ämter, die μισθοφορία, konnte durch das mit laurischem Silber beförderte Münzsystem gewährleistet werden,64 sondern auch der ‚Luxus‘ einer – im Vergleich zur Landstreitmacht – kostspieligen Seestreitkraft. Das Silber der Lauriotike musste nicht nur für den Bau und Erhalt der Flotte eingesetzt werden, da für Bau und Instandhaltung Tannenholz aus dem thrakischen und makedonischen Norden importiert werden musste,65 sondern auch die Besoldung und Verpflegung der Schiffsbesatzungen verursachten enorme Kosten.66 Zwar wurden die Soldkosten sowie ein großer Teil der Instandhaltungskosten von den Trierarchen getragen, die Polis musste jedoch die Infrastruktur wie Bootshäuser sowie den Materialnachschub gewährleisten oder einen Teil dieser Kosten durch Ausgleichszahlungen an die Trierarchen begleichen.67 Somit wurden nicht nur für die Besoldung von Mandats- und Amtsträgern sowie der Richter Erträge aus dem attischen Silberbergbau benötigt, sondern auch für Kriegs- und Übungseinsätze auf den Trieren. Darüber hinaus waren die Produktion des Silbers und die Prägung der beliebten, da hochwertigen attischen Tetradrachmen ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Der Handel wurde gestützt, indem Luxuswaren wie Olivenöl oder Keramik exportiert und Rohstoffe wie Holz oder Getreide wiederum importiert werden konnten.68 Zudem war der gesamtwirtschaftliche Vorteil des Silberbergbaus schon mehrere Jahrzehnte eine Stütze der Polis, da er den Bau einer schlagkräftigen athenischen Flotte in den Perserkriegen ermöglichte und die anschließende wirtschaftliche Blütezeit begünstigte.

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Steuer, die εἰκοστή, auf den Seehandel umgewandelt (vgl. Thuk. 7,28,4), doch waren im Hinblick auf die Rentabilität dieser Umwandlung gerade hierfür die größeren und daher im Handel aktiveren Poleis wichtig; vgl. Kallet 2001, S. 201–205. Rohde 2019, S. 41, geht zu späterer Zeit von einem jährlichen Aufwand von 16 Talenten aus. Dieser Wert eignet sich zumindest als Näherungswert auch für die Zeit des Peloponnesischen Krieges, da beispielsweise auch die Richterbesoldung seit der Erhöhung durch Kleon im Jahre 425 v. Chr. bis zum Ende der klassischen Zeit unverändert blieb; vgl. Schol. Aristoph. Vesp. 88 a; 300 b; Schol. Aristoph. Ran. 140. Tannenholz für Trieren: Theophr. h. plant. 5,7,1; Regionen für Schiffsbauholz: Theophr. h. plant. 4,5,5 (Übers. Hort): „Again it is only a narrow extent of country which produces wood fit for shipbuilding at all, namely in Europe the Macedonian region, and certain parts of Thrace and Italy.“ – Βραχὺς δ᾽ ἐστὶ τόπος ὃς ἒχει καὶ ὅλως τὴν ναυπηγήσιμον ὕλην· τῆς μὲν γὰρ Εὐρώπης δοκεῖ τὰ περὶ τὴν Μακεδονίαν καὶ ὅσα τῆς Θράκης καὶ περὶ Ἰταλίαν. Pro Triere lassen sich zumindest im 4. Jahrhundert die Materialkosten auf knapp über 7000 Drachmen pro Schiff kalkulieren; vgl. Rohde 2019, 135 f. Jedoch müssen gerade in Zeiten von Versorgungsengpässen durch kriegerische Auseinandersetzungen noch höhere Kosten für importiertes Schiffsmaterial angenommen werden. Die Finanzierung einer Triere betrug in der Mitte des 4. Jahrhunderts pro Trierarch ca. 1 Talent pro Saison; vgl. Rohde 2019, S. 208. Ausführlich hierzu Bissa 2009, S. 211–236.

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Besonders hart traf die Athener daher die Besetzung Dekeleias durch die Spartaner im Frühjahr 413 v. Chr. Zunächst konnte die fruchtbare Ebene nordöstlich von Athen nicht mehr zur Lebensmittelherstellung genutzt werden. Schwerer wog aber, dass die Versorgung Athens mit Nahrungsmitteln aus Euboia über den Landweg nördlich von Attika nicht mehr möglich war. Fortan mussten alle Lebensmittel aus Euboia, gemäß Thukydides, kostspielig per Schiff um die athenische Halbinsel in den Piräus eingeschifft werden.69 Neben der starken Erhöhung der Kosten für diese essentielle Nahrungsversorgung der athenischen Bevölkerung dürfte es zudem bis zur Organisation der maritimen Ausweichroute zu einem Engpass in der Versorgung mit Lebensmitteln gekommen sein. Denn besonders viele Frachtschiffe konnten kurzfristig nicht verfügbar gewesen sein.70 Doch stellt sich nun die Frage, wie diese Versorgungsschwierigkeiten mit dem Erliegen des Silberbergbaus und einer daran anschließenden Vertrauenserosion in Verbindung zu setzen sind. Dass die Besetzung Dekeleias Athens Zugang zu den Silberminen der Lauriotike vollständig und dauerhaft unterbrochen hat, wie Thukydides suggeriert und dies in der Forschung häufiger übernommen wird, scheint nicht plausibel.71 Denn die 69 Thuk. 7,28,1 (Übers. Weißenberger): „Auch die Einfuhr von Nahrungsmitteln aus Euboia, die früher von Oropos aus auf dem Landweg über Dekeleia in kürzerer Zeit stattfinden konnte, erfolgte jetzt um Sounion herum übers Meer und wurde kostspielig; einfach alles, was man brauchte, musste jetzt in gleicher Weise eingeführt werden, und Athen war aus einer Stadt zu einer Festung geworden.“ – ἥ τε τῶν ἐπιτηδείων παρακομιδὴ ἐκ τῆς Εὐβοίας, πρότερον ἐκ τοῦ Ὠρωποῦ κατὰ γῆν διὰ τῆς Δεκελείας θάσσων οὖσα, περὶ Σούνιον κατὰ θάλασσαν πολυτελὴς ἐγίγνετο· τῶν τε πάντων ὁμοίως ἐπακτῶν ἐδεῖτο ἡ πόλις, καὶ ἀντὶ τοῦ πόλις εἶναι φρούριον κατέστη. Da der Landtransport in der Antike generell als deutlich kostspieliger angesehen wird als der Transport zur See, verwundert die Aussage des Thukydides an dieser Stelle. Moreno 2007, S. 118, vermutet, dass hierfür der in Kriegszeiten höhere Kostenaufwand für den Schutz der Händlerschiffe ausschlaggebend war. Der Ansatz von Mann 2007, S. 268, sieht wiederum eine starke Einschränkung der attischen Landwirtschaft als Ursache, da Attika fortan komplett auf importiertes Getreide angewiesen gewesen sei. Allerdings weist Thukydides selbst darauf hin, dass die Nahrung bereits vorher über Oropos auf dem Landweg importiert worden sei, sodass der Kostenmehraufwand eher auf den Wechsel von Land- zu Seetransport zu beziehen ist und der Geschwindigkeitsverlust des Handels – angezeigt durch den Komparativ θάσσων – sich zumindest in den Augen des Thukydides tatsächlich aus der veränderten Importsituation ergeben haben muss. 70 Hinzu kommt die von Thukydides mehrfach betonte Problematik, die Schiffe nicht bemannen zu können, da es an Schiffsbesatzungen mangelte; vgl. Thuk. 7,77,7; 8,1,2. 71 So u. a. Howgego 2011, S. 128; Ganschow 2007, S. 129; Van Alfen 2011, S. 56, der jedoch einräumt, dass es keine Quellenbelege für einen direkten Einfluss, also eine direkte Unterbindung der Landroute zwischen der Stadt Athen und der Lauriotike gegeben hat. Es lassen sich jedoch in der Tat zwei Quellenstellen finden, die zumindest indirekt für eine zumindest zeitweise Unterbindung des Landweges in diesem Bereich sprechen könnten: zunächst Thuk. 2,55,1, wo der Autor im Zuge der ersten Einfälle der Spartaner berichtet, diese seien brandschatzend bis in die πάραλος-Gegend, also die Küstentrittyen vorgestoßen, aber nicht in das Bergbaugebiet selbst gelangt; dazu Kalcyk 1982, S. 8. Zwar ist der Hinweis auf die πάραλοςGegend unscharf, doch zeigen die Hinweise des Thukydides, die Spartaner seien erst bis zur westlichen Küste und dann noch einmal zur östlichen Küste vorgestoßen, dass sie sich südlich des Hymettos befunden haben müssen. Allerdings handelte es sich hier um keine Kontrolle der Gegend, sondern einen kurzen Raubzug, der dementsprechend auch die lokale

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Distanz zwischen Dekeleia und dem Silberbergbaurevier dürfte zu groß gewesen sein, um von den Spartanern effektiv kontrolliert worden sein zu können – zumal Thukydides an anderer Stelle von einem recht passiven spartanischen Vorgehen außerhalb der Festung berichtet.72 Doch unabhängig davon dürften das Terrain und die gute Infrastruktur im Umfeld des Hymettos und der Mesogeia einen problemlosen Zugang zur Lauriotike ermöglicht haben.73 Der Zusammenhang scheint vielmehr indirekter Natur gewesen zu sein, sodass die Einnahme Dekeleias, wie bereits erläutert, zunächst eine Behinderung der wichtigen Lebensmitteleinfuhr über die

Landwirtschaft eben nicht nachhaltig beeinträchtigt hat, sondern nur für den Zeitraum des Raubzugs. Die zweite Belegstelle findet sich bei Thuk. 7,27,5 (Übers. Weißenberger): „Denn ihres gesamten Landgebietes waren sie jetzt beraubt.“ – τῆς τε γὰρ χώρας ἁπάσης ἐστέρηντο. Weder Andrew W. Gomme noch Simon Hornblower gehen in ihren Kommentaren auf diese Stelle ein, was bemerkenswert ist, da es sich hierbei um eine Stelle handelt, die mit den übrigen Stellenangaben und den späteren Angaben von eher passiven Spartanern (siehe unten) im Widerspruch steht. Es stellt sich jedoch die Frage, inwieweit die Übersetzung von χώρα ἅπασα mit ‚gesamtes Land‘ dem Sinn des Geschriebenen wirklich nahekommt, da Thukydides hiermit auch durchaus das gesamte Umland aus der Position Dekeleias meint; vgl. LSJ s.v. χώρα, I 3, mit den Parallelstellen Thuk. 2,87; 4,126. Dem widerspricht auch nicht LSJ s.v. χώρα, II 3, mit der Belegstelle Thuk. 2,5,7, da auch dort χώρα lediglich unspezifisch als Gegensatz zum Stadtgebiet genutzt wird, von wo aus man Dinge in Sicherheit brachte. Die Stelle lässt sich demnach gemäß LSJ s.v. χώρα, I 3, auch sinnvoll mit dem Fokus auf Dekeleia übersetzen, dessen gesamtes Umland ja in der Tat an die Spartaner verloren wurde, was somit auch das Attribut ἅπασα nachvollziehbar macht. Zudem deutet auch Thuk. 7,19,2 darauf hin, dass es um die fruchtbare und zugleich aus infrastrukturellen Gründen wichtige Ebene um Dekeleia ging (Übers. Weißenberger): „In feindlicher Absicht gegen die Ebene und die besten Teile des Landes, um Schaden anzurichten, erfolgte der Bau dieser Befestigung.“ – ἐπὶ δὲ τῷ πεδίῳ καὶ τῆς χώρας τοῖς κρατίστοις ἐς τὸ κακουργεῖν ᾠκοδομεῖτο τὸ τεῖχος. Auch wenn Gomme und Hornblower ebenfalls zu dieser Stelle schweigen, so verbindet zumindest Tack 2012, S. 172, die Beschreibung von Thuk. 7,19,2 und Thuk. 7,27,5 miteinander. 72 Hanson 1998, S. 126 und 161, geht davon aus, dass sich die Raubzüge eher auf das Plündern und weniger auf das Zerstören bezogen haben, was impliziert, dass auch weiterhin Athener in der Chora Landwirtschaft betrieben und dementsprechend auch nicht das gesamte Gebiet außerhalb der Stadtmauern, also auch das Gebiet bis in die Lauriotike, verlassen gewesen sei. Im Gegenteil patrouillierte die athenische Kavallerie täglich außerhalb der Stadtmauern, was ebenfalls dafür spricht, dass auch weiterhin das südliche Attika bis auf vereinzelte Einfälle der Spartaner passierbar war. Bestätigt wird dies dadurch, dass sowohl Thukydides als auch Xenophon von recht passiven Spartanern in Dekeleia berichten, die sich überwiegend hinter die Mauern zurückgezogen hätten und nur vereinzelt ausgerückt seien; Thuk. 8,71; Xen. Hell. 1,1,33. So ließen die Spartaner ja auch nördlich der Stadtmauern die oben besprochene Versammlung auf dem Kolonos zu, ohne einzugreifen, obwohl dieser Ort ja sogar deutlich näher an Dekeleia lag. Auch die Auswertungen archäologischer Funde geben keine Indizien für eine größere Präsenz spartanischer Streitkräfte außerhalb Dekeleias, vgl. Brüsewitz 2013, S. 69, 72. Im Gegenteil lässt sich in den meisten untersuchten ländlichen Gebieten eine kontinuierliche Besiedlung und sogar Kultpraxis erkennen, vgl. Brüsewitz 2013, S. 74 f., auch wenn durch die Einrichtung der διωβελία, also der Unterstützung der Evakuierten mit täglich zwei Obolen, im Jahre 410 v. Chr. eindeutig ist, dass ein gewisser Teil der athenischen Bevölkerung langfristig evakuiert wurde; vgl. IG I3 375 (ML 84 = HGIÜ I 140 = OR 180); Rohde 2019, S. 39. 73 Langdon 2007, S. 71; Tomlinson 2007, S. 35–41.

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Oropos-Dekeleia-Route74 sowie die Einschränkung der landwirtschaftlichen Nutzung des Gebiets um Dekeleia bedeutete.75 Die Kombination dieser beiden Einschränkungen sorgte bereits kurz nach dem Verlust der Ortschaft dafür, dass in Attika eine Versorgungskrise mit Nahrungsmitteln einsetzte. Gleichzeitig bedeutete dies aber auch, dass die Grubenpächter, die häufig mit geliehenem Geld und mit großen Risiken die Gruben betrieben,76 unerwartet deutlich mehr Geld für die Ernährung der Bergwerkssklaven veranschlagen mussten. Dass dies viele Grubenpächter offensichtlich vor größere Probleme stellte, zeigt die große Sklavenflucht, von der Thukydides berichtet.77 Thukydides beziffert die Zahl der übergelaufenen Sklaven auf mehr als 20.000, was einen Großteil der Arbeiter bedeutet hätte.78 Es gibt zwar bei der Hochrechnung hinsichtlich der Anzahl der Bergwerkssklaven im 5. Jahrhundert große Unterschiede, doch kann man mit ca. 30.000 Bergwerkssklaven zu dieser Zeit rechnen.79 Da sich nun mit dem spartanisch besetzten Dekeleia ein naher Fluchtpunkt angeboten hatte, trat ein beträchtlicher Teil der attischen Bergwerkssklaven den Weg nach Norden an.80 Insbesondere der Hinweis καὶ τούτων τὸ πολὺ μέρος χειροτέχναι81, also dass zum größten Teil Handwerker geflohen seien, weist auf einen wichtigen Umstand hin. Bei den Geflohenen handelte es sich offensichtlich vor 74 75 76 77 78 79

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Will 2019, S. 204. Mann 2007, S. 268. Eich 2006, S. 409. Thuk. 7,27,5 (Übers. Weißenberger): „Und von den Sklaven waren mehr als zwanzigtausend übergelaufen, ein großer Teil davon Handwerker.“ – Καὶ ἀνδραπόδων πλέον ἢ δύο μυριάδες ηὐτομολήκεσαν, καὶ τούτων τὸ πολὺ μέρος χειροτέχναι. Die Zahl sollte eher als grober Orientierungswert angesehen werden, da unklar ist, wie Thukydides auf diese Zahl kommt; vgl. Hornblower 2010, S. 591. Konophagos 1980, S. 348, rechnet mit insgesamt nur 11.000 Bergwerkssklaven, während Lauffer, der sich am intensivsten mit den Bergwerkssklaven auseinandergesetzt hat, von 10.000 bis 30.000 für die Bergbauaktivitäten im 5. Jahrhundert ausgeht und damit am großzügigsten kalkuliert. Erst im 4. Jahrhundert hält er einen Anstieg der Zahl der Sklaven in Bergwerken auf bis zu 100.000 für möglich; vgl. Lauffer 1979, S. 161, Tab. 10. Kalcyk 1982, S. 161–164, kalkuliert jedoch im Gegensatz zu allen anderen Hochrechnungen, dass im 5. Jahrhundert, als die meisten Schachtsysteme überhaupt erst mühsam angelegt werden mussten, auch die meisten Sklaven in der Lauriotike benötigt wurden, und geht auf dieser Grundlage von bis zu 60.000 versklavten Personen in diesem Bereich aus. Communis opinio ist zwar bis heute die Annahme, dass in der Blütephase des Silberbergbaus ab der Mitte des 4. Jahrhunderts v. Chr. die größte Anzahl an Sklaven benötigt wurde, wofür auch die archäologischen Funde sprechen; vgl. hierzu die aktuellen Berichte zu den Grabungen in Thorikos bei Docter/Webster 2018, doch sollte Hansjörg Kalcyks durchaus plausible Argumentation zumindest dahingehend mit einbezogen werden, dass man sich zumindest an der Höchstzahl der 30.000 Sklaven von Siegfried Lauffer orientieren sollte. Somit wäre eine Flucht von 20.000 Sklaven, die ja gemäß Thuk. 7,27,5 besonders von χειροτέχναι, also Handwerkssklaven, in Angriff genommen wurde und damit größtenteils von den qualifizierteren Bergwerkssklaven, ein empfindlicher Verlust. Die Bergwerkssklaven der Lauriotike konnten sich verhältnismäßig frei bewegen, waren gesetzlich vor Übergriffen ihrer Herren geschützt und wurden sogar in geringem Maße entlohnt; vgl. Lauffer 1979, S. 59–61, 77–117, 171–176. Vgl. Thuk. 7,27,5.

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allem um besser ausgebildete Sklaven, die zentrale Aufgaben im Prozess der Silbergewinnung übernahmen.82 Hierzu sind die Prospektionen, das Waschen sowie das Brennen bzw. die Kupellation, mit der das Silber aus dem Bleierz gewonnen wurde, zu zählen.83 Diese Vermutung deckt sich zudem mit der Interpretation eines auf der Agora gefundenen Briefes,84 der das Ausbildungsverhältnis eines jungen Sklaven belegen soll und in dem es heißt: Lesis is sending (a letter) to Xenocles and his mother (asking) that they by no means overlook that he is perishing in the foundry but that they come to his masters and that they have something better found for him. For I have been handed over to a thoroughly wicked man; I am perishing from being whipped; I am tied up; I am treated like dirt – more and more!85

Es handelt sich hierbei, wenn man Edward Harris und Tracey Rihll folgt,86 um einen jungen Sklaven, der in einer Gießerei angelernt wurde, um später als Mietsklave im Kupellationsprozess eingesetzt zu werden, und der dementsprechend 82 Ob es sich hierbei ausschließlich um Bergwerkssklaven gehandelt hat, ist fragwürdig, da auch im Bereich der Landwirtschaft und auf den Gehöften klare Hierarchien im Hinblick auf die Tätigkeiten und Fähigkeiten unter den Sklaven herrschten; vgl. Hornblower 2010, S. 591 f. Dennoch dürfte aufgrund der großen Anzahl von Bergwerkssklaven und der Situation, dass sich hier viele Sklaven auf engem Raum begegneten, der Nährboden für eine Revolte und große Sklavenflucht besser gegeben gewesen sein als auf den teils weit verstreuten Gehöften. Demnach wird es sich bei einem Großteil der geflohenen Sklaven sicher um Sklaven aus der Lauriotike gehandelt haben, denen sich auch andere Sklaven anschlossen. Hinzu kommt, dass es neben den Bergwerkssklaven auch einige Lohnarbeiter gab, die in einem neuen Revier ihr Wissen über den Bergbau gewinnbringender einsetzen konnten; vgl. Lauffer 1979, S. 8–13. 83 Wie ausdifferenziert die einzelnen Arbeitsschritte bereits waren, veranschaulicht Van Liefferinge 2018, insbesondere S. 536–544. Nach wie vor maßgebend hierfür aufgrund der Verbindung von archäologischer, historischer und metallurgischer Fachkenntnis auch weiterhin Konophagos 1980, insbesondere S. 155–330; ferner auch Lauffer 1979, S. 14–46. 84 Erstedition mit Kommentar Jordan 2000. 85 Ediert und übersetzt von Harris 2004, S. 157: Λῆσις {ις} ἐπιστέλλει Ξενοκλεῖ καὶ τῆι μητρὶ μηδαμῶς περιιδεν | αὐτὸν ἀπολόμενον ἐν τῶι χαλκείωι, ἀλλὰ πρὸς τὸς δεσπότας αὐτο ἐλθεν | καὶ ἐνευρέσθαι τι βέλτιον αὐτῶι. Ἀνθρώπωι γὰρ παραδέδομαι πάνυ πονηρῶι, | μαστιγόμενος ἀπόλλυμαι · δέδεμαι · προπηλακίζομαι·μᾶλλον μᾶ[λ]λον. 86 Harris 2004, S. 158–164, begründet seine Vermutung mit der Personenkonstellation und dem Begriff δεσπότης. Seine Mutter und sein Besitzer Xenocles sollen Lesis aus der Gießerei holen, in die er offensichtlich geschickt wurde, um für eine Tätigkeit in der Metallverarbeitung ausgebildet zu werden. Jordan 2000, S. 98, meint mit Verweis auf LSJ, dass Lesis hier die δεσπόται als „‚master‘, usually in the sense of ‚owner‘“, anspricht und demnach kein Sklave sei, sondern ein gewöhnlicher Handwerker. Harris wiederum konnte nach einer Wortanalyse des Begriffs δεσπότης bei Aristophanes sowie einigen attischen Rednern, die er am nächsten an der Alltagssprache vermutet, dies widerlegen, da er für Jordans Auslegung in den Quellen wiederum keine Belegstelle finden konnte. Dieser Begriff wird laut Harris bei den untersuchten Autoren hingegen ausschließlich im Abhängigkeitsverhältnis eines Sklaven zu seinem Herrn verwendet oder in ganz anderem Kontext, vgl. Harris 2004, S. 158 f. Wenn es sich im Falle des Gießereibesitzers nur um einen Lehrer gehandelt hätte, wären wohl auch eher Begriffe wie διδάσκαλος oder ἐπιστάτης zu erwarten gewesen; vgl. Rihll 2010, S. 204.

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höherpreisig an Grubenpächter vermietet werden konnte. Das bedeutet aber gleichzeitig, dass Sklaven eben nicht einfach nachgekauft werden konnten, sondern eine große Zahl der für den reibungslosen Ablauf des Silberbergbaus zentralen Bergwerkssklaven erst wieder ausgebildet werden musste. Eine Sklavenflucht, die sich gemäß Thukydides vor allem aus χειροτέχναι, also Handwerkern, zusammensetzte, unterbrach diese Kette qualifizierter Arbeitskräfte und dadurch die Abläufe des bereits damals hochspezialisierten Silberbergbaus.87 So kam der Silberbergbau für mehrere Jahrzehnte zum Erliegen, nachdem die fachlich ausgebildeten Sklaven ihren Dienst quittiert hatten, und erreichte erst Mitte des 4. Jahrhunderts v. Chr. wieder das alte Niveau.88 Der von Alkibiades prophezeite Zusammenbruch des Silberbergbaus trat demnach tatsächlich ein, allerdings erst in der Folge der pro­ blematischen Nahrungsmittel­versorgung und der daran anschließenden Flucht der unfreien Fachkräfte.89 Nachdem der Silberbergbau infolge der Nahrungsmittelknappheit zusammengebrochen war, sollte der Blick auf die Folgen des darniederliegenden Silberbergbaus geworfen werden: Zunächst einmal entgingen der Polis zahlreiche Einnahmen aus dem Silberbergbau. Hier sind einerseits die Pachten für die Gruben zu nennen, die allerdings einen kaum überschaubaren Umfang hatten.90 Wesentlich schwerer ins Gewicht fielen die Steuereinnahmen aus den vermieteten Sklaven, auf deren Bedeutung für die Polisfinanzen wiederum Xenophon noch knapp 50 Jahre später

87 Van Liefferinge 2018, S. 546; Rihll 2010, S. 214 f. 88 Rohde 2019, S. 56. 89 Hinzu kommt, dass insbesondere die χειροτέχναι bessergestellt waren und teils sogar Lohn erhielten, weshalb diese besser als unfreie Facharbeiter bezeichnet werden sollten; vgl. zur Diskussion Ismard 2019, S. 24–26, auch wenn beispielsweise Aristot. rhet. 1361 a1 4 seinerzeit ebenfalls keine Trennung vornahm. Zu den Privilegien vgl. Ismard 2019, S. 80 f.; Ismard 2015, S. 100–103. Jedoch dürfte auch das Privileg der Verdienstmöglichkeit infolge der wirtschaftlich angespannten Situation eingeschränkt und ein weiterer Impetus zur Sklavenflucht gewesen sein. Hierfür sprechen überdies die erst im 4. Jahrhundert v. Chr. begonnenen Befestigungsanlagen nördlich der Lauriotike, die durch ihre Lage im Herzen Attikas eher eine erneute Sklavenflucht Richtung Norden als einen gegnerischen Einfall verhindern sollten; vgl. Kalcyk 1982, S. 14. Bemerkenswert ist, dass diese Maßnahme erst im 4. Jahrhundert v. Chr. umgesetzt wurde, obwohl ein beträchtlicher Teil der ausgebildeten Arbeiter seine Wurzeln in Thrakien hatte und eine Sklavenflucht im 5. Jahrhundert v. Chr. offensichtlich kein größeres Problem darstellte; vgl. Van Liefferinge 2018, S. 546 Anm. 17; Lauffer 1979, S. 52–56. 90 Crosby 1950, S. 201, berichtet, dass die Schürflizenzen in der Regel von 20 bis 150 Drachmen pro Jahr schwankten, in der Spitze im Jahr 367/366 v. Chr. jedoch sogar kurzzeitig 1550 Drachmen betragen haben. Im Vergleich zu den Kosten, die der laufende Betrieb verursachte, waren also die jährlichen Pachtgebühren überschaubar. Van Liefferinge 2018, S. 544, geht hier jedoch von substanziellen Einnahmen für den Staat aus, was sich jedoch erst ergibt, wenn man die gesamten Verpachtungsmöglichkeiten, also auch Waschanlagen und Öfen, als Pachtkomplex mit hinzuzieht, die bis zu 9000 Drachmen einbringen konnten; vgl. Demosth. or. 37,5 und dazu Rohde 2019, S. 56 f.; Eich 2006, S. 403.

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in seinen Poroi verweist.91 Hinzu kommen noch zahlreiche weitere Einnahmen, die sich aus importierten Gütern wie Metallen und Holz für Werkzeuge, für den Brennprozess benötigte Holzkohle oder auch importierter Nahrung für die Bergwerkssklaven ergaben.92 Athen hatte hierfür bereits verschiedene Wege gefunden, um von solchen Importen auf unterschiedliche Weise finanziell zu profitieren. So berichtet Aristophanes in den Wespen unter anderem von einer Art Gewerbesteuer, Hafenzöllen und Marktgebühren, die auch auf indirekte Weise den Silberbergbau für die athenischen Finanzen bedeutsam machten.93 Darüber hinaus sorgte das Ausbleiben des Silbers dafür, dass auch das Münzsystem selbst unter Druck geriet.94 Die Prägung einer Notwährung konnte zwar noch bis ins Jahr 407/406 v. Chr. hinausgezögert werden, als schließlich das Gold von sieben der acht Nikestatuen im Parthenon eingeschmolzen und als Notgeld geprägt wurde.95 Dennoch ergibt sich daraus, dass das herkömmliche Geldsystem Athens bereits ca. vier Jahre nach der Versammlung auf dem Kolonos gänzlich zusammenbrach und alternativ gestützt werden musste. Noch deutlicher tritt dies im Folgejahr 406/405 v. Chr. zu Tage, als nach der Goldprägung versilberte Kupfermünzen ausgegeben werden mussten.96 Es ist also offensichtlich, wie schwerwiegend nach den Ereignissen von Dekeleia die Krise des attischen Geldsystems war, dessen Silbermünzen bis dato wegen ihres hohen Silbergehalts im gesamten östlichen Mittelmeerraum geschätzt und offensichtlich sogar als Handelsgut angesehen wurden, wie zumindest Xenophon behauptet.97 Dass dies bereits vier Jahre zuvor während jener Volksversammlung auf dem Kolonos merklich zu spüren gewesen sein musste, zeigt sich durch die Vielzahl der finanziellen Umstrukturierungsmaßnahmen in der Folge der Besetzung Dekeleias.98 91 Xen. vect. 4,25 (Übers. Schütrumpf): „Daß (die Stadt) ein Vielfaches davon einnehmen wird, das könnte man mir bestätigen, falls noch einige derer leben, die sich daran erinnern, was für eine Summe die Sklavensteuer vor den Ereignissen von Dekeleia erbrachte.“ – ὅτι δὲ δέξεται πολλαπλάσια τούτων μαρτυρήσαιεν ἄν μοι εἴ τινες ἔτι εἰσὶ τῶν μεμνημένων ὅσον τὸ τέλος ηὕρισκε τῶν ἀνδραπόδων πρὸ τῶν ἐν Δεκελείᾳ. 92 And. 1,133 f. spricht von Zolleinnahmen für ganz Athen in Höhe von 30 bzw. 36 Talenten in den Jahren 402/401 v. Chr., also kurz nach dem Ende des Peloponnesischen Krieges, als der Handel sicher seinen Tiefpunkt erreicht hatte. Doch selbst dieser Tiefpunkt bei den Zolleinnahmen in späterer Zeit lässt immer noch die Bedeutung eines vollständigen Einnahmeausfalles aus dem Zoll für die öffentlichen Finanzen des athenischen Gemeinwesens erahnen. 93 Aristoph. Vesp. 658 f. 94 Flament 2007, S. 285. 95 IG I3 379, Z. 54–60, 76; Van Alfen 2011, S. 56; Flament 2007, S. 187. 96 Van Alfen 2011, S. 56. 97 Xen. vect. 3,2 (Übers. Schütrumpf 1982): „In Athen steht zwar auch das meiste von dem, was immer Menschen brauchen, zur Verfügung, aber wenn die Händler keine Rückfracht laden wollen, so führen sie, wenn sie Silbergeld mitnehmen, ebenfalls eine gute Ware aus. Denn wo immer sie es verkaufen, überall bekommen sie dafür mehr als den ursprünglichen Wert.“ – ἐν δὲ ταῖς Ἀθήναις πλεῖστα μὲν ἔστιν ἀντεξάγειν ὧν ἂν δέωνται ἄνθρωποι, ἢν δὲ μὴ βούλωνται ἀντιφορτίζεσθαι, καὶ οἱ ἀργύριον ἐξάγοντες καλὴν ἐμπορίαν ἐξάγουσιν. ὅπου γὰρ ἂν πωλῶσιν αὐτό, πανταχοῦ πλέον τοῦ ἀρχαίου λαμβάνουσιν. 98 Ausführlich hierzu Flament 2006, S. 166–172.

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Neben der bereits angesprochenen Umwandlung der φόροι in εἰκοσταί hatte die Ekklesia bereits im Sommer 412 v. Chr. nach der Niederlage und dem Abfall von Chios beschlossen, auf die finanziellen Bündnisreserven zurückzugreifen, die ursprünglich unter Strafe im gesamten Krieg nicht angerührt werden sollten: In Athen aber trifft rasch Nachricht über Chios ein; und da man zu der Auffassung gelangte, dass dies nun schon eine ernsthafte und unübersehbare Bedrohung sei und die übrigen Verbündeten nach einem Seitenwechsel der größten Stadt nicht bereit sein würden, ruhig zu bleiben, wurden bezüglich der tausend Talente, die nicht anzurühren sie während des gesamten Krieges peinlich genau befolgt hatten, die denjenigen, der einen Antrag stellen oder eine Beschlussvorlage zur Abstimmung zulassen würde, bedrohenden Strafen aufgehoben im Schrecken des Augenblicks, und man beschloss, die Gelder einzusetzen und Schiffe zu bemannen in nicht geringer Zahl.99

Somit lässt sich gerade unter den wirtschaftlichen Gesichtspunkten eine breite Basis für einen Vertrauensverlust größerer Teile der Athener Bürgerschaft in die bestehenden partizipatorischen politischen Institutionen erkennen, der schließlich die kompensatorischen Verhaltensoptionen Misstrauen und Kontrolle und damit den oligarchischen Umsturz begünstigten. Denn die Einnahme Dekeleias führte zu einer Krise in der Nahrungsmittelversorgung, welche wiederum zum Zusammenbruch des Silberbergbaus führte. Dieser Prozess hatte in seiner Vielschichtigkeit massive Auswirkungen auf die Finanzen Athens, die sich bereits vor dem oligarchischen Umsturzversuch in verschiedenen Gegenmaßnahmen greifen lassen. In diesem Kontext ist sicher auch der Hinweis des Alkibiades in der thukydideischen Rede auf das Ausbleiben der Einnahmen aus den δικαστήρια zu interpretieren,100 der damit bereits auf die spätere Streichung der μισθοφορία insgesamt vorausgreift. Die von Thukydides rekonstruierte Rede des Alkibiades, die auch die später einsetzende Konsequenz des Einbrechens des Silberbergbaus zu bedenken vorgibt, wirft dahingehend eine neue Frage auf. Denn Thukydides setzt das Aussetzen der μισθοφορία nicht mit dem oligarchischen Umsturz, sondern ebenfalls mit den finanziellen Verwerfungen infolge des Verlusts Dekeleias ins Verhältnis. Demnach dürfte auch das Aussetzen der μισθοφορία durch die Umstürzler von den Zeitgenossen weniger als Entmachtungsmaßnahme, sondern eher als Konsequenz der zunehmend dysfunktionalen Institutionen betrachtet worden sein, die die finanzielle – und freilich auch militärische – Schieflage der Polis nicht hatten verhindern können. Die μισθοφορία als institutionelle Voraus99 Thuk. 8,15,1 (Übers. Weißenberger): ἐς δὲ τὰς Ἀθήνας ταχὺ ἀγγελία τῆς Χίου ἀφικνεῖται· καὶ νομίσαντες μέγαν ἤδη καὶ σαφῆ τὸν κίνδυνον σφᾶς περιεστάναι, καὶ τοὺς λοιποὺς ξυμμάχους οὐκ ἐθελήσειν τῆς μεγίστης πόλεως μεθεστηκυίας ἡσυχάζειν, τά τε χίλια τάλαντα, ὧν διὰ παντὸς τοῦ πολέμου ἐγλίχοντο μὴ ἅψασθαι, εὐθὺς ἔλυσαν τὰς ἐπικειμένας ζημίας τῷ εἰπόντι ἢ ἐπιψηφίσαντι ὑπὸ τῆς παρούσης ἐκπλήξεως, καὶ ἐψηφίσαντο κινεῖν καὶ ναῦς πληροῦν οὐκ ὀλίγας. 100 Thuk. 6,91,7.

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setzung der politischen Partizipation brei­terer Bürgerschichten war demnach ohnehin ihrer finanziellen Grundlage beraubt, sodass deren Abschaffung weniger als eine Selbstentmachtung, sondern als eine finanzielle Zwangsläufigkeit angesehen werden kann. Diese Korrelation zwischen politischen und wirtschaftlichen Dysfunktionalitäten zeigt, dass nach den Ereignissen um Dekeleia und den daraus erwachsenden wirtschaftlichen Problemen die athenische Volksversammlung eben nicht nur in einer Atmosphäre von Angst und Einschüchterung der neuen Verfassung und einem Verzicht auf eigene politische Mitbestimmung zustimmte, sondern dass zahlreiche Institutionen schlicht und ergreifend nicht mehr funktionierten, da die finanzielle Liquidität der Polis zunehmend eingeschränkt war.101 Somit ist gerade der befremdlich wirkende Schritt der finanziellen Selbstentmachtung durch den Verzicht auf Diäten und Entschädigungen, die infolge des oligarchischen Umsturzes nicht mehr gezahlt werden sollten,102 nachvollziehbar. Denn die μισθοφορία blieb bezeichnenderweise auch nach der Restituierung ausgesetzt.103 Es lässt sich also vermuten, dass unabhängig vom ökonomischen Status des einzelnen Bürgers das Vertrauen in die bestehenden Institutionen massiv gestört gewesen ist. Zwar bedurfte es eines gründlich geplanten Vorgehens seitens der Oligarchen, aber im Endeffekt dürfte keine allzu große Einschüchterung nötig gewesen sein, um die Volksversammlung zur Selbstentmachtung zu bewegen. Das Vertrauen in die bestehenden Verhältnisse war auch bei ihnen nicht mehr vorhanden, da das Zusammenspiel aus der verstetigten Besetzung Dekeleias, Nahrungsmittelknappheit, Sklavenflucht und Einbruch des Silberbergbaus mit anschließender Einschränkung der μισθοφορία zu einer starken Vertrauenserosion führte. Die Unmittelbarkeit dieser Umstände dürfte hierfür ein viel entscheidenderer Faktor gewesen sein, aus dem sich für den Großteil der athenischen Bürger die kompensatorische Haltung des ‚Misstrauens‘ gegenüber den bestehenden Institutionen entwickelte, als die gescheiterte Sizilienexpedition. Ein kleinerer Teil wählte hingegen die Handlungsoption ‚Kontrolle‘ und setzte diese mit dem oligarchischen Umsturz 101 Auffallend ist, dass auch ehemalige Verfechter der großen Partizipationsmöglichkeiten aller Bürger, wie Peisandros oder Theramenes, zu den führenden Umstürzlern gehörten; vgl. Sebastiani 2018, S. 494. 102 Thuk. 8,67,3; Aristot. Ath. pol. 29,5. 103 Wenn auch zu Gunsten der ab dem Jahr 410 v. Chr. gezahlten διωβελία für die durch die Besetzung Dekeleias Vertriebenen, was je nach Prytanie zwei bis acht Talente an zusätzlichen Kosten verursachte; vgl. IG I3 375 (= ML 84 = HGIÜ I 140 = OR 180). Ein kontinuierliches Misstrauen war zudem auch nach der Überwindung der oligarchischen Verfassung ein steter Begleiter; vgl. Lehmann 1997, S. 43 Anm. 49. Schließlich wurden innerhalb des Jahres noch zwei weitere, vorübergehend erfolgreiche Versuche unterschiedlicher Gruppen unternommen, die Partizipationsmöglichkeiten zu modifizieren; vgl. Raaflaub 1992, S. 9. Dieses Klima der Unsicherheit lässt sich auch inschriftlich anhand von IG I3 118 (= ML 87 = HGIÜ I 146 = OR 185) greifen. Aus der Inschrift geht hervor, dass unter der Federführung des Alkibiades der Polis Selymbria unter anderem zugestanden wird, ihre Verfassung autonom und ohne athenische Einflussnahme zu gestalten; vgl. ebd., Z. 10 f. Vgl. hierzu auch die Ausführungen bei OR 185.

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bei der ausgelagerten Ekklesia am Kolonos – in Sichtweite Dekeleias – ohne größere Widerstände durch. Bemerkenswert ist zudem, dass bereits Thukydides dieses Misstrauen als gesellschaftliches Phänomen beschreibt: Beteiligt waren nämlich Leute, bei denen nie jemand eine Parteinahme für die Oligarchie vermutet hätte, und eben diese bewirkten, dass das Misstrauen unter den Volksmassen solche Ausmaße annahm, und trugen am meisten zur Sicherheit der Oligarchen bei, da sie im Volk den Mangel an Vertrauen zu sich selbst als verlässliche Größe etablierten.104

Zwar sieht Thukydides die Ursache des Misstrauens weniger in den dysfunktionalen Institutionen, sondern in erster Linie in der Wankelmütigkeit ehemals demokratisch-partizipatorisch handelnder Bürger. Doch ist gerade der Hinweis auf diese Wankelmütigkeit derjenigen Personen, „bei denen nie jemand eine Parteinahme für die Oligarchie vermutet hätte“, ein Hinweis dafür, dass die oben skizzierten Ereignisse den Nährboden für den Umsturz bildeten. Denn immerhin war auch ein gewisser Teil der demokratisch gesinnten Bürger dafür, dass diese langfristige und identitätsstiftende Idee der Demokratie für die kurzfristige Handlungsfähigkeit geopfert werden müsste. Somit lässt sich auch losgelöst von der Frage der Gruppenzugehörigkeit bei demokratisch orientierten Bürgern ein Vertrauensverlust in die vorherrschenden Institutionen erkennen, dem die einen mit Kontrolle als Handlungsoption und die anderen mit Misstrauen und damit einhergehender Passivität begegneten.

4. Fazit Die wirtschaftshistorische Perspektive zeigt, dass die Ereignisse um den Verfassungsumsturz der Oligarchen im Jahr 411 v. Chr. in geringerem Maße unter dem Einfluss der Sizilienexpedition zu betrachten sind. Die Einnahme Dekeleias mit ihren Auswirkungen auf die Lebensmittelversorgung und den Silberbergbau ist nicht nur zeitlich unmittelbarer an die Ereignisse rund um die ausgelagerte Ekklesia am Kolonos angeschlossen. Diese unmittelbaren Folgen lassen sich auch bei genauerer Betrachtung der Quellenlage als offensichtliche Einflussfaktoren auf die politischen Umwälzungen ansehen. Durch die Besetzung Dekeleias war das Wirtschaftsleben mit seinen Transaktionen auf verschiedenen Ebenen massiv beeinträchtigt. Es konnte im verhältnismäßig fruchtbaren Nordosten Attikas keine Landwirtschaft mehr betrieben werden und auch die überlebenswichtige 104 Thuk. 8,66,5 (Übers. Weißenberger): ἐνῆσαν γὰρ καὶ οὓς οὐκ ἄν ποτέ τις ᾤετο ἐς ὀλιγαρχίαν τραπέσθαι· καὶ τὸ ἄπιστον οὗτοι μέγιστον πρὸς τοὺς πολλοὺς ἐποίησαν καὶ πλεῖστα ἐς τὴν τῶν ὀλίγων ἀσφάλειαν ὠφέλησαν, βέβαιον τὴν ἀπιστίαν τῷ δήμῳ πρὸς ἑαυτὸν καταστήσαντες.

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Transportroute über Oropos war abgeschnitten, sodass die Lebensmitteleinfuhr erschwert wurde und sich die Subsistenzgüter massiv verteuerten. Bereits hier ist eine massive Einschränkung des alltäglichen Lebens zu erkennen, die einen Vertrauensverlust in die herrschenden Institutionen mit ihren für Athen typischen Partizipationschancen jedes einzelnen Bürgers bedeuteten. Intensiviert wurde dieser Prozess schließlich, als die große Zahl an qualifizierten Bergwerkssklaven flüchtete und nicht direkt ersetzt werden konnte, sodass der Silberbergbau und damit das Geldsystem als Institution ebenso unter Druck gerieten wie die finanziellen Mittel der Polis selbst. Dies konnten auch Umstrukturierungsmaßnahmen der Finanzen, wie die Umwandlung der φόροι in εἰκοσταί oder auch der Zugriff auf die verbotenen Bündnisreserven, nicht ändern, sodass die bedrohliche Lage und die Einschränkungen durch die Besetzung Dekeleias allgegenwärtig blieben. Somit blieben die verschiedenen Institutionen dysfunktional, verstärkten den Prozess des Vertrauensverlusts immer weiter und stellten damit die Legitimität der staatlichen Institutionen in Frage. Am Ende dieses Prozesses stand schließlich der einigermaßen freiwillige Verzicht auf die Partizipationschancen der breiten Bürgerschaft durch den Versammlungsbeschluss. Hierbei griffen zwei kompensatorische Verhaltensweisen infolge von Vertrauenserosion ineinander: einerseits die wenigen Bürger, die mit Hilfe des Verfassungsumsturzes versuchten, die Kontrolle über die Polis zu erlangen und diese Kontrolle fortan in den Händen weniger zu bündeln, andererseits die Gruppe von Bürgern, die mit ihrem zunehmenden Misstrauen gegenüber der Funktionalität der bisherigen politischen Institutionen und ihren Partizipationschancen infolge der wirtschaftlichen und finanziellen Probleme der Polis bereit war, auf eben jene Partizipationsmöglichkeiten zu Gunsten kurzfristiger Problemlösungen zu verzichten. Abschließend gilt es nun, auf die Ausgangsfrage des Artikels zurückzukommen: Eine Abhängigkeit vom laurischen Silber bestand gewiss darin, dass die grundlegenden Institutionen durch die μισθοφορία auf der finanziellen Liquidität der Polis beruhten. Als die Produktion des Geldes notgedrungen einbrach, setzte schließlich auch ein Prozess des Vertrauensverlusts in die partizipatorischen Institutionen ein, was vor allem eine Abhängigkeit der attischen Demokratie und deren Partizipationsmöglichkeiten vom attischen Silber offenlegt. Der Umsturz selbst sollte aber auf das ungünstige Zusammenspiel militärischer, politischer und eben auch wirtschaftlicher Konstellationen zurückgeführt werden, die einen Prozess des Vertrauensverlusts in Gang setzten, sich gegenseitig beschleunigten und schließlich einen massiven Eingriff in das – lange Zeit bewährte – politische Institutionengefüge zu legitimieren schienen.

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Abkürzungsverzeichnis DK

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Die Selbsttötung als Kampfansage an das Vertrauen – Praktiken der Kontingenzbewältigung und der Restabilisierung verlorenen Vertrauens im antiken Griechenland Isabelle Künzer In Milet soll es einst unter jungen Frauen zu einer Reihe von Selbstmorden durch Erhängen gekommen sein, die den Zeitgenossen als unerklärlich galten. Plutarch berichtet in seinen Moralia über diese Vorfälle; sie werden ebenfalls bei Aulus Gellius in den Noctes Atticae sowie bei Polyainos in den Strategemata thematisiert.1 Keine Maßnahme schien geeignet, die Suizidwelle zu beenden. Zunächst hatte man das Verlangen vieler junger Mädchen, sich das Leben zu nehmen, mit einer Krankheit in Verbindung gebracht. Schließlich sei man darauf gekommen, eine göttliche Strafe zu vermuten.2 Nach einiger Zeit wurde im Stadtrat der Vorschlag eingebracht, die toten Körper der Mädchen, die sich erhängt hatten, nackt über den Markt zur Begräbnisstätte zu bringen. Mit Hilfe eines solchen Ratsbeschlusses gelang es schließlich, die Milesierinnen von weiteren Suiziden abzuhalten.3 Demnach konnte also durch die Art und Weise, wie mit den Leichen der Suizidentinnen verfahren wurde, sowohl die Todessehnsucht regelrecht kuriert als auch das immense Ausmaß des Phänomens ein für alle Mal bewältigt werden. Die drei antiken Autoren, bei denen die Suizidneigung der jungen Milesierinnen überliefert ist, erklären in diesem Zusammenhang übereinstimmend, die Furcht vor der Schande, der die Leichen durch die spezielle Behandlung anheimfielen, sei für den Stimmungswandel unter den jungen Frauen ausschlaggebend gewesen. Eine Selbsttötung durch Erhängen habe diese nicht zu Sorgen veranlasst. Aber einer Schmähung nach dem Tode hätten sie sich nicht ausgesetzt sehen wollen.4 Der Bericht über die Ereignisse in Milet ist für den Umgang mit Selbstmördern im antiken Griechenland signifikant. Die Maßnahmen, die man am Körper der Suizidentinnen vornahm, hatten mehrere Funktionen. Zum einen sollten potentielle Nachahmer abgeschreckt und dadurch die Suizidwelle zu einem Ende gebracht werden. Dies war zum anderen wiederum Voraussetzung dafür, abermals Stabilität zu 1 Plut. mor. 249 b–c; Gell. 15,10; Polyain. 8,63. Auf der Grundlage der Überlieferung erscheint es als reine Spekulation, mögliche Ursachen für das suizidale Verhalten der jungen Milesierinnen konkretisieren zu wollen; entsprechende Ambitionen aber bei Kangulumba Munzenza 2016, S. 73–77. 2 Plut. mor. 249 b–c; Gell. 15,10; Polyain. 8,63. 3 Plut. mor. 249 b–c; Polyain. 8,63; Gell. 15,10,2. Gellius betont in diesem Zusammenhang, dass die Mädchen nicht nur unbekleidet zum Bestattungsplatz geschafft wurden, sondern an dem Strick dorthin geschleift wurden, mit dem sie sich erhängt hatten. 4 Plut. mor. 249 c; Polyain. 8,63; Gell. 15,10,2.

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stiften, indem man Kontingenzen bewältigte.5 Bestattet werden durften die Mädchen sehr wohl, die sich das Leben genommen hatten. Allerdings griff man zu einem drastischen Umgang mit den Leichnamen, der auf den ersten Blick erklärungsbedürftig erscheint. Es ist daher zunächst erforderlich, sich zu verdeutlichen, was die Selbsttötung der jungen Frauen für ihre Familien, aber auch für die Polisgemeinschaft bedeutete. Vor diesem Hintergrund erscheint es möglich, die spezifischen Reaktionen der Milesier angemessen zu bewerten. Außerdem soll das Verfahren in Milet zu Maßnahmen gegen Suizidenten in anderen Städten in Bezug gesetzt und auf diesem Wege erklärt werden, weshalb es für die Verantwortlichen der Polis in diesem konkreten Fall unbedingt notwendig war, zu handeln. Es wird dabei mit Hilfe eines praxeologischen Ansatzes zu zeigen sein, dass Vertrauensfragen für das Phänomen des Umgangs mit den Körpern von Suizidenten im antiken Griechenland eine nicht zu unterschätzende Rolle spielten. In der Forschung wurde der Umgang mit Suizidenten im antiken Griechenland bislang zwar gelegentlich thematisiert, beispielsweise bei der Frage nach der Haltung gegenüber dem Selbstmord in der griechischen Antike oder im Rahmen von Untersuchungen zu Toten- und Jenseitsvorstellungen6 oder auch im Zusammenhang mit Kultgesetzen, die zuweilen dezidierte Regelungen zur Behandlung von Selbstmördern enthalten.7 Eine systematische Betrachtung des Phänomens ist jedoch ein Desiderat. Insbesondere wurde bislang nicht hinreichend deutlich, welche konkreten Motive ausschlaggebend dafür waren, wie mit den Leichnamen von Suizidenten verfahren wurde. Außerdem ist nicht in ausreichendem Maße differenziert worden, wie die folgenden Betrachtungen zeigen werden. Vielmehr wurde pauschal unterstellt, dass entsprechende Praktiken gegenüber sämtlichen Suizidenten vor deren Bestattung zur Anwendung kamen.8 Das Paradigma des Vertrauens besitzt in diesem Zusammenhang als ein etischer Zugriff auf ein antikes Phänomen das besondere heuristische Potential, Erklärungen für Verfahrensfragen und in antiken Gemeinwesen verbreitete Praktiken zu bieten.

1. Moralische Reziprozitätsverpflichtung in der griechischen Polis und die Selbsttötung als doppelter Vertrauensverlust Die Milesierinnen waren zunächst weder durch Mahnungen aus dem Kreis ihrer Familien noch durch die städtische Administration von ihrem Verlangen abzubringen, sich das Leben zu nehmen.9 Demnach gaben sie sich unzugänglich gegenüber allen Versuchen der Instanzen, durch die das Leben eines Polisbürgers seine wesentliche Definition erfuhr: einerseits gegenüber dem oikos, andererseits gegen5 Mit primärem Fokus auf die kathartische Funktion der betreffenden Sanktionen, wobei deren apotropäischer Charakter unberücksichtigt bleibt, vgl. Kangulumba Munzenza 2016, S. 79 f. 6 Garrison 1991; Johnston 1999, S. 36–81, 127–160. 7 Vgl. beispielsweise Parker 2004, S. 64 f.; ders. 1983, S. 52. 8 Ebd., S. 42. 9 Plut. mor. 249 b–c; Gell. 15,10; Polyain. 8,63.

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über der Polisgemeinschaft insgesamt. Vielmehr entzogen sie sich ja gerade durch ihren selbstgewählten Tod eben jenen Institutionen. Ein jeder Polisbürger war durch reziproke Verpflichtungen zum einen mit seiner eigenen Hausgemeinschaft und zum anderen mit dem Gemeinwesen verbunden.10 Die spezifische Ordnung, in der ein Individuum lebte, implizierte dabei nicht nur Bindungen und Verpflichtungen für den Einzelnen, sondern auch die Perspektive, dass andere ebenfalls an diese Verpflichtungen gebunden waren.11 In die Erfüllung einer entsprechenden Verhaltenserwartung wurde daher Vertrauen gesetzt. Nicht zuletzt auf diesem Wege konnten für die tägliche Interaktion Stabilität und Erwartbarkeit gewährleistet werden.12 Vertrauen ist somit als die Überzeugung vom Handeln der anderen zu verstehen.13 Die Einschätzung bezieht sich in diesem Zusammenhang auf eine Handlungswahrscheinlichkeit. Demnach beruht Vertrauen also auf einer Erwartung und bietet letztlich keine Sicherheit. Es ist aufgrund der prinzipiellen Unberechenbarkeit der Mitmenschen stets riskant, darauf zu bauen, wie das Handeln anderer in der Zukunft aussieht. Zugleich besteht jedoch die Notwendigkeit, die eigenen Erwartungen am künftigen Agieren der Mitmenschen auszurichten.14 Allerdings kann man in diesem Rahmen regelrecht von einer Art „moralische[r] Reziprozitätsverpflichtung sprechen, an die der Adressat des Vertrauens durch die Vorleistung des Spenders von Vertrauen gebunden ist“.15 Ein gemeinsames Normengefüge wirkt integrativ auf die Gruppenzugehörigkeit und macht die Wahrscheinlichkeit einer Defektion durch einen Mitmenschen berechenbar.16 Recht anschaulich führt Claus Offe die Problematik weiter aus: Erwiesenes Vertrauen verpflichtet, und die Enttäuschung eines gewährten Vertrauens ist mit moralischem Stigma belegt. Deswegen sind es nicht nur die in der Vergangenheit kumulierten Erfahrungen dessen, der vertraut, sondern auch die moralischen Verpflichtungen desjenigen, dem vertraut wird, worauf sich der Vertrauende im 10 Zur griechischen Polis als Netzwerk von philia-Beziehungen oder Reziprozitätsrelationen vgl. Mitchell 2014, S. 61–63; Herman 2006, S. 30–38; ders. 1998; Konstan 1998. Zur Autothanasie als Bruch von philia-Relationen vgl. Kangulumba Munzenza 2016, S. 79. Zu interpersonalen Verhältnissen, die auf Vertrauensroutinen und Bewährung beruhen, vgl. bereits Aristot. eth. Nic. 1157 a. 11 Offe 2001, S. 248; Mitchell 2014, S. 61–63; Timmer 2017, S. 252. Zur Relevanz gemeinsamer Interessen für die Ausbildung von Vertrauen vgl. Hardin 2002, S. 3–7, der in diesem Zusammenhang von „encapsulated interests“ (ebd. S. 4) spricht. 12 Bereits Niklas Luhmann stellte heraus, dass Vertrauen eine „Form der Reduktion von Komplexität“ sei; Luhmann 2014, S. 9; ferner ebd., S. 27–38; Endreß 2002, S. 11. 13 Offe 2001, S. 245, 248 f.; zur Bedeutung der Erwartungssicherheit und des Vertrauens in einen beständigen Willen des Gegenübers, nicht anders, sondern gerade erwartbar zu handeln, vgl. Pfannkuche 2012, S. 47 f., 52; zur moralischen Dimension personalen Vertrauens vgl. Timmer 2018, S. 90. 14 Offe 2001, S. 249 f.; Niklas Luhmann bezeichnet Vertrauen daher als „riskante Vorleistung“; Luhmann 2014, S. 27. 15 Offe 2001, S. 254; das Zitat ebd.; ferner Mitchell 2014, S. 61–63; Timmer 2017, S. 252. 16 Ebd., S. 190, 193–196.

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Hinblick auf die Kontinuität der Vertrauensbeziehung und das zukünftige Handeln des Empfängers von Vertrauen verlassen kann.17

Das Vertrauen in die Mitmenschen war in antiken Poleis unerlässlich. Die Angst vor mangelnder Vertrauenswürdigkeit und vor der daraus nur allzu leicht resultierenden Fragilität interpersonaler Bindungen wird daher immer wieder thematisiert.18 Zuweilen wurde sogar der Zorn der Götter herausbeschworen, um einen potentiellen Treuebruch durch einen Mitmenschen zu verhindern.19 Da Vertrauen für das menschliche Zusammenleben von großer Bedeutung war, gaben Zeichen schwindenden Vertrauens Anlass zu Reaktionen. Man kann erkennen, dass es akzeptiert und erwartet wurde, einen Vertrauensbruch zu sanktionieren, schließlich hatte eine Person, die dem in sie gesetzten Vertrauen nicht gerecht wurde, mit der Erwartung in ihr Wohlverhalten gebrochen. Deviantes Verhalten, also letztlich die Enttäuschung von gewährtem Vertrauen, und die Kooperationsverweigerung wurden daher auch geahndet, um Vertrauenskulturen zu stabilisieren.20 So wurde beispielsweise eine Person, die den Sohn eines proxenos getötet hatte, ihrerseits umgehend mit der Tötung der eigenen Söhne bestraft.21 In familiären Beziehungen herrschte in der Regel größere Sicherheit über die Zuverlässigkeit und Vertrauenswürdigkeit der anderen Mitglieder des oikos.22 In diesem Bereich bestand generalisierte Reziprozität, das heißt, eine unmittelbare Vergeltung von Gaben durch Gegenleistungen wurde, anders als in der Interaktion mit weniger bekannten Personen, nicht zwingend erwartet. Im familiären Umfeld gab es nämlich – anders als auf der Ebene der Polis – nicht zuletzt aufgrund der Verwandtschaft und der täglichen Interaktionsfrequenz andere Ressourcen, um die Beziehung abzusichern und somit Stabilität herzustellen und potentielle Kontingenzen zu bewältigen.23 Vertrauenswürdigkeit und Zuverlässigkeit wurden zwar erwartet, doch als Selbstverständlichkeiten nicht permanent einer Bewährungsprobe unterzogen. Im Bereich des Hauses war ein noch wesentlich intensiver gepflegtes, gewissermaßen habitualisiertes Vertrauen etabliert als in der Polis. Diese spezielle Form des Vertrauens stützte sich auf gewohnheitsmäßige und fraglos akzeptierte Vorstellungen und Handlungen.24 Die persönliche Vertrautheit erhöhte die Wahr17 Offe 2001, S. 254 (Kursivierungen im Original); zur Verknüpfung von Vertrauen und Moral in Sozialbeziehungen vgl. Fuhse 2002, S. 421; Pfannkuche 2012; Timmer 2017, S. 193–196, 201–203; ders. 2018, S. 88 f. 18 Vgl. beispielsweise Is. 1,6 f.; Thgn. 73 f., 77–81, 415–418, 449–452, 831 f.; Soph. Ai. 682 f.; Thuk. 3,43; 3,82,5–7; Ain. Takt. 3,3; 17,1; 20,1; 22,16 f.; Aristot. pol. 1313 b 2; ferner Mitchell 2014, S. 61 f.; grundsätzlich zum Vertrauen als interpersonaler Ressource in griechischen Poleis vgl. Johnstone 2018. 19 Alk. frg. 129; Eur. Med. 731–740, 746–753; ferner Mitchell 2014, S. 68 f. 20 Luhmann 2014, S. 41 f., 46; Pfannkuche 2012, S. 51. 21 Eur. Hec. 787–805, 1023–1033, 1247–1251; ferner Mitchell 2014, S. 63 f. 22 Timmer 2017, S. 171. 23 Mitchell 2014, S. 72. Zur Kontaktfrequenz und deren Bedeutung für die Genese von Vertrauensbeziehungen vgl. Timmer 2017, S. 110, 178, 180. 24 Zum Begriff des habitualisierten Vertrauens vgl. Endreß 2002, S. 68–72; ders. 2010, S. 33.

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scheinlichkeit dafür, das künftige Verhalten anderer Angehöriger richtig einschätzen zu können. Es bestanden in gewisser Weise Vertrauensroutinen.25 Zugleich kann der oikos aber gewissermaßen auch als Hort der Harmonie betrachtet werden, an dem Ideale und Wertvorstellungen am ehesten noch verwirklicht waren und fortdauernde Geltung besaßen. Unter solchen Strukturen wirkte sich ein Vertrauensbruch allerdings besonders gravierend aus, weil man in der Regel auf der Ebene des oikos mit Stabilität und Erwartungssicherheit rechnete.26 Unter diesen Bedingungen erschütterte die Autothanasie eines Familienangehörigen die jeweilige Hausgemeinschaft im Kern. Besonders markant ist in diesem Zusammenhang, dass neben der Trauer über den Verlust eines eigenen Angehörigen nach außen hin der innerfamiliäre Vertrauensverlust allgemein sichtbar wurde.27 Die enge Verknüpfung der Selbsttötung mit dem Phänomen des Vertrauensverlustes wurde freilich bereits in der Antike gesehen, wenngleich dieser Zusammenhang nur immanent und nicht explizit thematisiert wird. So definiert schon Platon den Selbstmord als einen Akt, bei dem der Selbstmörder das töte, was ihm am vertrautesten (οἰκειότατον) sei, nämlich das eigene Selbst.28 Die Autothanasie kann somit als Dokument des offenkundigen Zweifels an der Stabilität einer Beziehung, an den soziopolitischen Rahmenbedingungen für Handlungen und Interaktionen oder aber gegenüber der Kontinuität der Ordnung betrachtet werden. Unter diesen Bedingungen bedeutete daher ein Suizid sozusagen einen doppelten nachhaltigen Vertrauensverlust: einerseits des Suizidenten in die Stabilität der jeweiligen Ordnung und spezifischen Situation sowie in die generelle Resilienzfähigkeit, andererseits der Hinterbliebenen des oikos und der Polisgemeinschaft in die Stabilität der jeweiligen interpersonalen Beziehung und die Verpflichtung des Individuums auf allgemeine Ordnungsvorstellungen, denen sich der betreffende Polite durch seine Selbsttötung ja entzogen hatte. Eine Person, die sich selbst getötet hatte, richtete sich mit ihrer Tat daher auch gegen jene oben im Zusammenhang mit Vertrauensrelationen beschriebene moralische Reziprozitätsverpflichtung in Bezug auf das ihr gegenüber erwiesene Vertrauen durch oikos und Polis. Ein solcher Akteur brach auf besonders eindringliche Weise mit den Erwartungen in sein künftiges Handeln, ja er enttäuschte gleichsam genau diese Erwartungen, indem er zeigte, dass er nicht vertrauenswürdig war.29 Es war geradezu eine „Diskrepanz zwischen Versprechen/ Verpflichtung/Wort einerseits und Tat andererseits“30 zu erkennen. Der individuelle Vertrauensverlust, der sich als ein Bruch mit Vertrauensroutinen darstellt, besaß somit eine allgemeine soziopolitische Dimension und Relevanz. 25 Zur Bedeutung von Vertrautheit für Sozialbeziehungen vgl. Luhmann 2014, S. 20–27; Timmer 2017, S. 105–108, 178. 26 Mitchell 2014, S. 72, 75; zur Vertrautheit und Vertrauenswürdigkeit in einem solchen Verhältnis vgl. Timmer 2017, S. 105–108, 133–137. 27 Zur Rolle der Öffentlichkeit bei Defektionen vgl. Timmer 2017, S. 169, 203 f. 28 Plat. leg. 873 c. 29 Zur Rolle von Enttäuschungen für das Phänomen der Vertrauenserosion vgl. Timmer 2017, S. 261 f. 30 Chaniotis 1997, S. 156.

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Zugleich musste sich auf Seiten der Polis eine grundsätzliche Skepsis gegenüber der vormaligen Identifikation des Suizidenten mit den Anliegen der Gemeinschaft sowie gegenüber dessen Solidarität mit der Gruppe etablieren. Ein solcher doppelter Vertrauensverlust verlangt von allen Seiten Reaktionen im Sinne problemlösender Entscheidungen.31 Für den Suizidenten bestand diese Lösung in der Autothanasie. Für die Polisgemeinschaft war es angesichts eines solchen offenkundigen Misstrauensbeweises und der latenten Gefahr von Chaos und Unordnung nötig, adäquate Maßnahmen zu ergreifen, nicht zuletzt um Vertrauensverhältnisse wieder zu stabilisieren.32 Jan Timmer resümiert angesichts einer solchen Gemengelage recht treffend: „Misstrauen ist keine Eigenschaft, die innerhalb der Bürgerschaft eine Rolle spielen soll.“33 Unter der Bedingung, dass Vertrauen im gesellschaftlichen Zusammenleben gleichermaßen relevant wie gefährdet ist, sind Verfahren erforderlich, die dazu imstande sind, Vertrauen zu erzeugen und zu stabilisieren und zugleich Misstrauen zu beschränken.34

2. Suizidale Körper im antiken Griechenland Dieses Misstrauen gegenüber dem allgemeine Ordnungsvorstellungen erschütternden Tod ist für eine bestimmte Haltung im antiken Griechenland verantwortlich, mit der man Leichnamen begegnete. Der Tod wurde als ein Akt betrachtet, der per se mit einer Befleckung oder Verunreinigung, einem sogenannten Miasma, einherging.35 Das Miasma vermochte sich dabei durchaus von seinem Urheber auf andere Mitglieder der Gemeinschaft auszudehnen und diese sozusagen ebenfalls zu belasten, wenn nicht adäquate Reaktionen stattfanden.36 Der Befleckungsgedanke hatte die Funktion, das Außergewöhnliche oder Außerordentliche und letztlich damit Störungen der Normalität zu markieren.37 Der Bruch mit dem Gewöhnlichen war zugleich immer mit Ängsten verbunden, Ordnung und Kontrolle zu verlieren. Die Sorge vor einer Befleckung war dementsprechend auf solchen Gebieten außerordentlich groß, die in einem besonderen gesellschaftlichen Fokus standen oder aber wenn allgemeine gesellschaftliche Ordnungsmuster überschritten worden waren: 31 Kangulumba Munzenza 2016, S. 78–81. 32 Ebd. 33 Timmer 2016, S. 49. 34 Ders. 2018, S. 76; zur wechselseitigen Bedingtheit von Vertrauen und Moral in solchen Situationen vgl. ebd., S. 88 f.; zur prinzipiellen Aufgabe sozialer Systeme, Vertrauen zu festigen und aufrechtzuerhalten, vgl. ders. 2017, S. 21 f. 35 So spricht beispielsweise das wohl ins späte 4. Jahrhundert v. Chr. zu datierende Kultgesetz aus Kyrene wie selbstverständlich von einer Verunreinigung, die mit dem Vorgang des Versterbens verbunden sei; vgl. Rhodes/Osborne 2003, S. 97, 106 f.; ferner zum Beispiel Eur. Iph. T. 380–384; Theophr. char. 16,9; Johnston 1999, S. 38; Parker 1983, S. 32–48; Garland 2001, S. 41–47. Zur Persistenz der Miasma-Vorstellungen in klassischer und hellenistischer Zeit vgl. Harris 2015a, S. 13–22. 36 Eur. Iph. T. 380–384; Berti 2017, S. 49, 56, 62. 37 Berti 2017, S. 53–55, 62–65.

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„Dem Gedanken der Befleckung liegt also ein Zustand der sozialen Unordnung zugrunde.“38 Mit Hilfe bestimmter Handlungen und Maßnahmen sollten in der Folge Kontrolle und Ordnung wiedererlangt werden. Derartige problemlösende Strategien hatten nicht zuletzt die Funktion, öffentlich wirksam zu dokumentieren, dass man sich der Bedrohung angenommen hatte, die an sich nicht sichtbar war.39 Die Befleckung kann mithin als ein Zuschreibungsakt gedeutet werden,40 der als Phänomen den Bereich des Rechts, der Ehre und der Schande ergänzte.41 Das Denken an eine Verunreinigung vermochte Verhaltens- und Gesellschaftsbereiche zu erreichen, die das Recht allein nicht in jedem Fall abdeckte und für die Scham als Sanktion nicht mehr genügte oder aber einen nicht ausreichend inhibitorischen Charakter besaß.42 Dabei drückten die verschiedenen Grade der Befleckung und die unterschiedliche Schärfe der getroffenen Maßnahmen divergierende Grade von Schuld und moralischer Verantwortung aus.43 Letzten Endes stand dabei das Ziel im Vordergrund, als ein Gemeinwesen selbstständig regulatorisch tätig zu werden und in diesem Zusammenhang sich als die Instanz zu profilieren, die die Bewahrung der öffentlichen Ordnung für sich monopolisiert hatte und das Vertrauen des Kollektivs in diese Ordnung garantieren konnte.44 War mit jedem toten Körper schon eine Befleckung verbunden, so wurde der Körper eines Suizidenten im antiken Griechenland wohl auch angesichts des ungewöhnlichen Todes als besonders belastet empfunden, als eine Bürde, der aufgrund der von dem Leichnam potentiell ausgehenden Gefahren nur durch besondere Maßnahmen zu begegnen war: „the displeasure of the dead might make itself felt not only against those immediately responsible but against the entire group.“45 Aus diversen Poleis des antiken Griechenland sind deshalb Praktiken zum Umgang mit den Leichen von Suizidenten überliefert. Bei den Suizidentinnen in Milet waren es die Körper der Selbstmörderinnen, an denen mittels des Transports der nackten Leichen durch die Stadt Sanktionen vorgenommen wurden. Lediglich bei Aulus Gellius ist erwähnt, dass die Mädchen mitsamt dem Strick, an dem sie sich erhängt 38 Berti 2017, S. 65; ferner Osborne 2011, S. 162 f.; Parker 1983, S. 31, 64, 120, 124; Harris 2015a, S. 14; Douglas 1966, S. 35, 112, 138, 157; Bendlin 2007, S. 182; Bremmer 1994, S. 5 f. 39 Osborne 2011, S. 165, 181; Berti 2017, S. 49, 56, 62; Harris 2015a, S. 22, 25, 27. 40 Osborne 2011, S. 163; Parker 1983, S. 31. 41 Berti 2017, S. 53–55, 62; Harris 2015a, S. 13–22, 28; Osborne 2011, S. 170–172, 176–178; Parker 1983, S. 115, 120; anders Douglas 1966, S. 92, und Bremmer 1994, S. 6, die beide den Miasma-Glauben mit primitiven, juristisch unterentwickelten Gesellschaften in Verbindung bringen und daher postulieren, dass der Gedanke an ein Miasma mit der Institutionalisierung des Gerichtswesens an Bedeutung verlor. 42 Osborne 2011, S. 180. 43 Harris 2015a, S. 20–22. 44 Osborne 2011, S. 180; Harris 2015a, S. 14, 25, 27. 45 Johnston 1999, S. 80; ferner ebd., S. 38, 149; Parker 1983, S. 42; daher ist Garrison 1991, S. 1 f., zu widersprechen, die davon ausgeht, dass suizidale Körper als „normale“ Tote betrachtet wurden. Gleichwohl gilt es hier, qualitativ zu differenzieren. Denn nicht unter allen Umständen konnte der Suizid als ein gewöhnlicher Tod angesehen werden, wie die folgenden Ausführungen zeigen.

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hatten, zur Begräbnisstätte verbracht wurden.46 Der Strang als das Objekt, das den Akt der Selbsttötung erst ermöglicht hatte, wurde auf diese Weise – zumindest im Bericht des Gellius – ebenfalls aus der Stadt entfernt. In Milet erfolgten somit Maßnahmen sowohl gegen den Leichnam als den Täter wie auch gegen das Tatwerkzeug. Ein solches kombiniertes Vorgehen ist wiederum nicht vielerorts bekannt. Ein Kultgesetz aus Kos, das aus dem frühen 3. Jahrhundert v. Chr. stammt, legte fest, dass jemand, der einen Suizidenten fand, der sich mit einem Seil erhängt hatte, den Leichnam abnehmen und mit Stoff bedecken solle. Außerdem habe der Ast des Baumes, an dem die Person hing, entfernt und der Strick verbrannt zu werden.47 Nach Harpokration sind Bäume, an denen sich jemand erhängt hatte, gefällt, jenseits der Grenzen der Polis gebracht und verbrannt worden. Derartige Bäume seien als ὀξυθύμια bezeichnet worden – eine Benennung, die auch für die Plätze neben Bildsäulen der Hekate begegne, an die man Reste von Sühne- und Reinigungsopfern gebracht habe, um sie mit Hilfe von Thymianreisig zu verbrennen.48 Plutarch berichtet in seiner Biographie des Themistokles, in Athen habe es ein bestimmtes Areal gegeben, an dem die Kleidung und die Seile derjenigen deponiert wurden, die sich erhängt oder auf andere Weise umgebracht hatten. An dieser Stelle seien ebenfalls die Körper von Personen abgelegt worden, die hingerichtet worden waren.49 Die Maßnahmen sind also in diesen Fällen eindeutig auf die den Suizid ausführenden Objekte – Strick und Ast oder aber ganze Bäume – bezogen. Aischines macht deutlich, dass unbelebte Dinge, wie Holz, Steine oder Eisen, wenn sie auf einen Menschen herabfallen und dadurch dessen Tod verursachen, außerhalb der Stadtgrenze verbracht würden.50 Seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. ist zudem in Athen der Brauch bekannt, vor einem eigenen Gerichtshof solche Gegenstände anzuklagen, die den Tod eines Menschen verursacht hatten.51 Es richteten sich also gegen die Objekte, die für den Tod eines Menschen verantwortlich gemacht wurden, dezidierte Sanktionen, weil es genau diese Dinge waren, die als Träger der Befleckung angesehen wurden.52 Dies konnte, folgt man Aischines weiter, auch die Hand eines Suizidenten sein, die separat vom Körper des Toten zu 46 Gell. 15,10,2; vgl. auch Anm. 3. 47 LSCG 154 b 33–36. Zu derartigen sogenannten Leges sacrae und deren Charakter vgl. Parker 2004; Carbon/Pirenne-Delforge 2012; Harris 2015b. 48 Harp. s.v. ὀξυθύμια. 49 Plut. Themistokles 22,2. Garrison 1991, S. 6, nimmt hingegen an, Plutarch rekurriere in dieser Passage auf zwei unterschiedliche Orte. Demnach seien die Leichname hingerichteter Krimineller und die Objekte, die bei einer Autothanasie eine Rolle spielten, nicht an denselben Ort verbracht worden. Aus dem Wortlaut bei Plutarch geht jedoch eindeutig hervor, dass es sich in beiden Fällen um den identischen Ort handelt. 50 Aischin. Ctes. 244. 51 Demosth. or. 23,76; Poll. 8,120; Aischin. Ctes. 244; Aristot. Ath. pol. 57,4; Paus. 6,11,6–8; ferner Berti 2017, S. 64; MacDowell 1963, S. 85–89; Parker 1983, S. 117 mit Anm. 54; Chaniotis 1997, S. 169. 52 Ähnlich Aristot. Ath. pol. 57,4, wo im Falle von Tötungsdelikten Untersuchungen gegen den Täter, Objekte oder aber Tiere als Urheber der Tötung benannt werden. Zu dieser Thematik vgl. Garrison 1991, S. 5, 7.

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bestatten sei.53 Das von Aischines und Flavius Josephus für Athen berichtete Beispiel, wie man gegen den Leichnam eines Suizidenten vorging, ist in dieser Art einzigartig. Freilich ist nicht bekannt, inwiefern hier die Norm – also eine Abtrennung der Hand vom Körper eines Suizidenten – und die konkrete Bestattungspraxis nach derartigen Todesfällen miteinander übereinstimmen. Flavius Josephus erklärt diesen athenischen Brauch damit, dass die Entfremdung zwischen Leib und Seele, die durch die Selbsttötung zum Ausdruck komme, sich auch im Verhältnis der Hand zum Körper nach dem Tode dokumentieren müsse.54 Die Hand als der die Tat ausführende Teil steht jedoch in diesem Zusammenhang eher als eine pars pro toto für den gesamten Körper.55 In diesem Verständnis ist es dann aber – neben Gegenständen – auch der Suizident selbst, der seinen Tod eigenständig und freiwillig bewirkt hatte und damit unter bestimmten Umständen Anlass für Sanktionen bot.56 Anhand der vorgestellten Beispiele könnte nun die Vermutung aufkommen, dass ausschließlich eine Selbsttötung durch Erhängen Anlass zu besonderen Maßnahmen gegen den Auslöser der Tat – Objekte oder Körper des Suizidenten – gab.57 So finden sich entsprechende Sanktionen bei den jungen Frauen in Milet, im Kultgesetz aus Kos, bei Harpokration und in der Themistokles-Biographie des Plutarch.58 Demnach liegt die Annahme nahe, dass der modus moriendi des Erhängens möglicherweise als besonders befleckend angesehen und daher eigens sanktioniert wurde, nicht zuletzt weil der Körper eines Suizidenten infolge dieser Todesart besonders entstellt war.59 Der oben beschriebene Brauch, den Aischines und Flavius Josephus aus Athen berichten, widerspricht allerdings dieser Schlussfolgerung.60 Da es das Ziel solcher Regelungen war, gegen den unmittelbar todbringenden Urheber der Selbsttötung vorzugehen, kann eine Abtrennung der Hand vom Körper des Suizidenten eindeutig nicht mit dem Erhängen als Form der Selbsttötung in Verbindung gebracht werden. Vielmehr spricht dies ja dafür, dass es dabei um eine Form der Autothanasie ging, bei der die Hand eine besondere Bedeutung für die Ausführung der Handlung hatte. Hier ist beispielsweise an das Führen eines Schwertes zu denken, das als Waffe für die Selbsttötung in der Antike häufig belegt ist.61 Demnach war es nicht der konkrete modus moriendi, der Anlass für bestimmte Maßnahmen bot. Diese Argumentation wird zudem dadurch bestätigt, dass weitere Suizidfälle 53 Aischin. Ctes. 244; ähnlich Ios. bell. Iud. 3,378. 54 Ios. bell. Iud. 3,378. Als Interpretationsansatz auch bei Naiden 2015, S. 92, 94, der suizidale Handlungen als Vergehen des Betroffenen gegen seine eigene Seele betrachtet. In den entsprechenden Maßnahmen drücke sich somit eine Sorge um die Seelen der Selbstmörder aus. 55 Berti 2017, S. 58, 60; Chaniotis 1997, S. 150 mit Anm. 13. 56 Anders Garrison 1991, S. 5, die einzig Tatwerkzeuge für Träger des Miasmas hält. 57 Grisé 1982, S. 131, 157. 58 Plut. mor. 249 b–c; Gell. 15,10; Polyain. 8,63; LSCG 154 b 33–36; Harp. s.v. ὀξυθύμια; Plut. Themistokles 22,2. 59 Grisé 1982, S. 146 f.; Loraux 1984, S. 195–198; zu einer gerade im antiken Rom weit verbreiteten ablehnenden Haltung gegenüber dem Erhängen als Form der Selbsttötung vgl. Grisé 1982, S. 143–149. 60 Aischin. Ctes. 244; Ios. bell. Iud. 3,378. 61 Hirzel 1908, S. 264–266; van Hooff 1990, S. 47–54, 235; Wacke 1980, S. 47 Anm. 97.

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bekannt sind, bei denen Objekte als Urheber benannt oder gar Maßnahmen gegen diese in Erwägung gezogen wurden: Nachdem sich Aias in sein Schwert gestürzt hatte, beschuldigte Teukros, der Halbbruder des Aias, die Waffe als den Verantwortlichen für die Selbsttötung.62 Bei Philostrat ist sogar überliefert, dass Teukros nach der Verfluchung der Waffen des Aias es außerdem abgelehnt habe, diese mit dem Leichnam gemeinsam zu bestatten.63 Allerdings zeigt die Überlieferungslage auch eindeutig, dass nicht grundsätzlich jeder Suizid Anlass gab, bestimmte Maßnahmen gegen den Körper des Suizidenten oder mögliche Tatwerkzeuge zu treffen. Grundsätzlich war ein Begräbnis auch nach einem Selbstmord im antiken Griechenland vorgesehen. Die ausdrücklich ehrlose Bestattung wird lediglich im Zusammenhang mit der Suizidwelle der jungen Milesierinnen sowie aus Theben und aus Zypern überliefert.64 Für Milet ist zudem davon auszugehen, dass die jungen Selbstmörderinnen zunächst regulär bestattet worden waren, bevor von Seiten der städtischen Administration Maßnahmen beschlossen wurden, die dann aber erst spätere Suizidentinnen trafen.65 Flavius Josephus betont darüber hinaus, dass die Körper von Suizidenten unbestattet bis zum Sonnenuntergang liegen gelassen wurden, während man sogar die Leichen von Feinden vorher beigesetzt habe.66 Eine Bestattung fand aber sowohl bei den Frauen aus Milet als auch in dem Fall statt, den Flavius Josephus erwähnt. Es wird im Gegenteil sogar ausdrücklich hervorgehoben, dass die 30 Tyrannen in Athen Menschen geradezu willkürlich in den Selbstmord getrieben und diesen Leuten sodann eine gewöhnliche Bestattung verweigert hätten.67 Auch die Regelung aus Theben kann nicht als gesetzliches und allgemein bekanntes Selbstmordverbot angesehen werden. Kebes – einem der Dialogpartner in Platons Phaidon – ist diese Maßnahme als Thebaner nicht bekannt und er weiß nur vom Hörensagen davon.68 Wenn es in Theben ein generelles gesetzliches Suizidverbot gegeben hätte, so hätte erwartet werden können, dass dies einem Thebaner wie Kebes genauer bekannt gewesen wäre.69 Demzufolge kann die Autothanasie im antiken Griechenland nicht als eine Todesform angesehen werden, die per se verurteilt und in besonderer Weise mit dem Entzug von Ehre und Rechten sanktioniert oder gleichsam bestraft wurde, was sich unter anderem in bestimmten Bestattungspraktiken dokumentiert hätte, wie dies beispielsweise für die Frühe Neuzeit überliefert ist.70 Vielmehr kann es als Recht 62 Soph. Ai. 1024–1026, 1032 f. 63 Philostr. her. 188. 64 Plut. mor. 249 b–c; Gell. 15,10; Polyain. 8,63; für Theben vgl. Zenob. 6,17; für Zypern vgl. Dion Chrys. 64,3 f. 65 Kangulumba Munzenza 2016, S. 79. 66 Ios. bell. Iud. 3,377. 67 Lys. 12,96. Zu dieser Passage vgl. auch Garrison 1991, S. 8 f. 68 Plat. Phaid. 61 d. 69 Hirzel 1908, S. 268 Anm. 5. 70 Ebd., S. 264 f.; anders Parker 1983, S. 42, der eine im antiken griechischen Denken weit verbreitete grundsätzlich ablehnende Haltung gegenüber der Autothanasie für den spezifischen Umgang mit Selbstmördern verantwortlich macht; für die entsprechenden Praktiken in der Frühen Neuzeit vgl. zum Beispiel van Dülmen 1999, S. 83–95, 112–114; Kästner 2013; Kästner/Luef 2015.

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gerade auch für Suizidenten angesehen werden, nach dem Tode ein Begräbnis zu erhalten.71 Die Mehrzahl der Personen im antiken Griechenland, die durch einen Selbstmord ihr Leben beendet hatten, dürften auf gewöhnliche Weise wie bei einem natürlichen Todesfall bestattet worden sein.72 Unter bestimmten Umständen stellte ein Suizid im antiken Griechenland sogar ein gebilligtes Verhalten dar. In Platons Nomoi werden ausdrücklich drei Gründe benannt, unter denen eine Selbsttötung eine legitime Handlung darstellte: wenn der Selbstmord als Strafe durch den Staat angeordnet wurde oder eine schmerzvolle und ausweglose Zwangslage oder aber eine schwerwiegende Schande vorlag. Für diejenigen allerdings, die aus keinem der aufgeführten Gründe ihr Leben vorzeitig gewaltsam beendeten, sei eine ruhm- und ehrlose Bestattung vorgesehen.73

3. Praxeologie, Kontingenz und Sanktionierung – Die Selbsttötung und der soziopolitische Handlungsdruck Vor dem Hintergrund, dass eben nicht die spezifische Form der Autothanasie und auch nicht die Tatsache des Suizids eo ipso Anlass zu Reaktionen gaben, zugleich jedoch sämtliche suizidalen Körper durch ein Miasma belastet waren, gilt es umso eindringlicher zu fragen, auf welche Weise die beschriebenen Praktiken im antiken Griechenland zu erklären sind und in welchen Fällen man sich genötigt sah, gegen den Körper eines Selbstmörders oder aber den Gegenstand vorzugehen, den man für den Tod verantwortlich machen konnte. Ein praxeologischer Ansatz erscheint in diesem Zusammenhang besonders geeignet, die gleichsam anthropologische Ebene der Maßnahmen gegen suizidale Körper mit der soziopolitischen Dimension der Selbsttötung zu verbinden. In diesem Rahmen hat Elise Garrison vorgeschlagen, dass das vorgestellte Phänomen nur auf Suizide zu beziehen sei, die als feige oder unehrenhaft galten.74 Hier ist aber zunächst zu fragen, was in einem solchen Fall Feigheit als Handlungsmuster charakterisiert. Geht es um eine feige Form, sich selbst zu töten, oder ist die Feigheit auf die Bewertung der Situation zu beziehen, in der eine Person sich zur Autothanasie entschied? Bei einer solchen Deutung stellt sich zudem die Frage, auf welche Weise das Miasma zu erklären ist, dem sämtliche Körper von Suizidenten wie alle Toten im antiken Griechenland verfielen. Feigheit und unehrenhaftes Verhalten sind ansonsten nicht als Ursprünge oder Anlässe für rituelle Unreinheit oder Befleckung belegt. Demnach scheidet der Erklärungsansatz, dass lediglich gegen mutmaßlich feige Formen der Autothanasie mittels bestimmter Maßnahmen oder Sanktionen vorgegangen wurde, ganz offensichtlich aus. 71 Naiden 2015, S. 87 f. mit Verweis auf weitere Quellenstellen; ferner Grisé 1982, S. 142, 150–157. 72 Garrison 1991, S. 10, 28. 73 Plat. leg. 873 c–d. Die Suizidenten sollten außerhalb der Polisgrenze und anonym beigesetzt werden. Zu dieser Form der Memorialstrafe vgl. Geiger 1888, S. 60; Naiden 2015, S. 93 f. 74 Garrison 1991, S. 9 f., 16–18, 33 f.

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An dem Deutungsversuch durch Elise Garrison ist allerdings positiv hervorzuheben, dass er sich ausdrücklich auf bestimmte Praktiken oder Eigenschaften im Zusammenhang mit spezifischen Situationen der Selbsttötung bezieht. Es gilt also einen Blick darauf zu werfen, unter welchen Umständen sich die Polis bei einem Suizid genötigt sah, Maßnahmen zu ergreifen oder Sanktionen zu treffen, und in welchen Fällen darauf verzichtet wurde. Gerade jene Selbstmorde zu betrachten, die ausdrücklich nicht Anlass gaben, irgendwelche Schritte gegen den Körper des Suizidenten oder aber gegen ein Tatwerkzeug auszuführen, obwohl ja mit jeglichem Tod ein Miasma verbunden war, könnte im Umkehrschluss einiges zur Analyse der Hintergründe beitragen, die für die Sanktionierung von speziellen Fällen der Autothanasie ausschlaggebend waren. Es ist also ganz entscheidend, gewöhnliche Suizide, die als rituell belastend markiert wurden, aber keinen Anlass zu irgendwelchen Maßnahmen gegen den Suizidenten oder aber den Gegenstand boten, der den Tod herbeigeführt hatte, von solchen selbstmörderischen Praktiken abzugrenzen, die Sanktionen nach sich zogen. Der Suizid des Aias ist in diesem Zusammenhang ein anschauliches Beispiel dafür, dass Maßnahmen gegen einen Selbstmörder zwar im Raum standen, es aber durch Verhandlungen der Hinterbliebenen mit anderen relevanten Akteuren der Szenerie ermöglicht wurde, eine ehrenhafte Bestattung durchzuführen. Teukros, der Halbbruder des Aias, beschuldigte das Schwert, das der Verstorbene einst von Hektor erhalten hatte, als den Urheber allen Unheils.75 Hier ist es also das Tatwerkzeug, dem die Verantwortung zugeschrieben wird. Menelaos und Agamemnon waren noch für eine ehrlose Bestattung des späteren athenischen Phylenheroen eingetreten. Erst die Vermittlung des Odysseus machte es möglich, für Aias ein reguläres Begräbnis auszurichten.76 Aias selbst hatte sich zuvor mit seiner Tat im Wahn der Heeresgemeinschaft vor Troja entzogen: Er hatte, mit einem Fluch der Athena belastet, das Beutevieh der Achaier vor Troja abgeschlachtet, weil er dieses für die Anführer auf griechischer Seite gehalten hatte. Nachdem er wieder bei Sinnen war, kam seine Selbsttötung dem Vollzug logischer Konsequenzen gleich. Infolge seines unehrenhaften Verhaltens gegenüber seinen Mitkämpfern unter den Achaiern hatte Aias den sozialen Tod erlitten. Der selbstgewählte physische Tod war dazu angetan, notwendige Schlussfolgerungen aus dieser Situation zu ziehen. Der Schuldzuspruch an das Schwert als Tatwaffe des Aias – sowohl für sein Massaker unter dem Beutevieh als auch für seine Autothanasie – bedeutete in einer Situation, in der es Verantwortlichkeiten zu benennen galt, ein eindeutig negativ belastetes Objekt zu klassifizieren. So war es nicht nur die Tat des Aias im Wahn, sondern vor allem der Aspekt, dass er sich durch seine Handlungen gegenüber den anderen Hellenen vor Troja isolierte, welche den Diskurs um das Miasma und Maßnahmen entweder gegen den suizidalen Körper oder aber den Urheber des Todes virulent werden ließen. Eine Reintegration des Aias in das Heer der Achaier und ein ehren-

75 Soph. Ai. 1024–1026, 1032 f. 76 Soph. Ai. 1052–1090, 1131 f., 1141, 1163–1167, 1326 f., 1332–1335, 1402–1408.

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haftes Begräbnis waren dann nach der eindeutigen Identifikation des belasteten Tatwerkzeuges möglich.77 Ähnlich gelagert ist der Fall des Euxitheos, den Demosthenes in seiner 57. Rede thematisiert. Euxitheos musste befürchten, das athenische Bürgerrecht zu verlieren. Er kündigte daraufhin seinen Suizid an, damit er auf diese Weise wenigstens die Möglichkeit habe, in heimatlicher Erde bestattet zu werden.78 Für Euxitheos kann demnach ein gewöhnliches und reguläres Begräbnis angenommen werden. Er ging offensichtlich nicht davon aus, dass nach seinem Suizid gegen seinen Körper Sanktionen gerichtet sein könnten. Vielmehr erschien ihm ja gerade die Autothanasie als ein attraktiver Ausweg, seiner Heimat weiterhin verbunden zu bleiben, wenn er dort schon nicht länger als Bürger leben dürfe. Mit der Androhung, sich selbst das Leben zu nehmen, lag für Euxitheos allerdings – anders als im Falle des Aias – kein Verstoß gegen allgemeine und verbindliche Ordnungsmuster vor. Er brachte mit seiner Ankündigung ja gerade seine persönliche Identifikation mit der Polis Athen zum Ausdruck. Es ist daher nur folgerichtig, dass für diesen Fall keine Sanktionen gegen einen potentiellen suizidalen Körper im Raum zu stehen schienen. Auf andere Weise stellt sich der Fall einer Person dar, von der Artemidor von Daldis in seinen Oneirokritika berichtet. Ein Mann, dessen Sohn verstorben war und der sich zudem vor Gericht in diversen Prozessen, unter anderem wegen Vergehens gegen die Polis, verantworten musste, verlor infolgedessen sein Vermögen und ging ins Exil. Dort tötete er sich schließlich durch Erhängen. In der Folge sei sein Name im Rahmen des Totenkultes durch die Familienangehörigen in seiner früheren Heimatpolis nicht mehr genannt worden.79 Die betreffende Person war bereits durch ihre Taten zu Lebzeiten aufgrund der Vergehen gegen die öffentliche Ordnung regelrecht stigmatisiert. Deutlich wird dies in der Bezeichnung als ἄτιμος.80 In dieser Situation waren Maßnahmen nach dem Tod dieses Mannes durch Autothanasie konsequent. Da jedoch weder gegen den suizidalen Körper noch gegen das Tatwerkzeug vorgegangen werden konnte – der Suizid war ja in der Ferne erfolgt –, war die Memorialstrafe unter diesen gegebenen konkreten Umständen eine adäquate Option, in diesem Fall Sanktionen zu vollziehen.81 77 Dieser Aspekt wird auch in der Komposition der sophokleischen Tragödie besonders deutlich. Zunächst benennt Teukros mit dem Schwert einen Schuldigen; vgl. Soph. Ai. 1024–1026, 1032 f. Als Menelaos in der Folge während der Debatte mit Teukros dem Aias die Bestattung verweigern will, warnt der Halbbruder des Aias davor, sich an einem Toten auf solche Weise zu vergehen, denn eine derartige Freveltat werde Menelaos büßen müssen; vgl. Soph. Ai. 1154 f. Für die Reintegrationsthematik im Falle des Aias vgl. zum Beispiel Belfiore 2000, S. 111–116; Sicherl 1970, S. 30, 36; Meier 1988, S. 198 f.; Lansky 1996, S. 785; Garrison 1995, S. 46; Gasti 1997, S. 31–37; Faber 1970, S. 17 f., 20; Vidal-Naquet 1988, S. 481. 78 Demosth. or. 57,70. 79 Artem. 1,4. 80 Artem. 1,4. 81 Es kann hingegen nicht davon ausgegangen werden, dass die Namen von Suizidenten grundsätzlich nicht im Rahmen des Totenkultes erwähnt wurden, wie Artemidors recht generalisierende Bemerkung nahezulegen scheint, wonach Personen, die auf diese Weise zu Tode gekommen seien, bei den Mahlzeiten zu Ehren der Toten durch die Verwandten nicht mehr

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Dass das Verhalten und die Positionierung eines Suizidenten gegenüber der Polis offensichtlich einen entscheidenden Faktor für die Frage darstellte, auf welche Weise mit einem Selbstmörder zu verfahren sei, wird auch anhand einer besonderen Tradition auf Keos deutlich. Dort hielt die städtische Administration einen Vorrat an Schierling bereit und stellte das Gift denjenigen zur Verfügung, die gegenüber den Behörden plausible Gründe darlegen konnten, weshalb ein Suizid für sie erstrebenswert sei. Um eine gleichsam legitimierte Selbsttötung vollziehen zu können, die somit in Übereinstimmung mit den Vorstellungen der Polis stand, war also die ausdrückliche Zustimmung durch die Obrigkeit erforderlich.82 Besonders aufschlussreich ist in diesem Kontext eine Bemerkung aus der Nikomachischen Ethik des Aristoteles. Dort heißt es, die Stadt strafe jemanden, der sich selbst getötet hat, mit Ehrlosigkeit, als jemanden, der sich gegen die Polis vergangen habe.83 Ein Suizid wird dabei in seinen Auswirkungen mit Verbrechen gegen die staatliche Ordnung gleichgesetzt. Nun gilt allerdings besagtes Diktum des Aristoteles nicht für sämtliche Selbstmorde. Nicht jeglicher Fall von Autothanasie ist demnach verurteilungswürdig, sondern nur diejenigen suizidalen Handlungen werden hier angeklagt und geben Anlass zur Missbilligung, die unter bestimmten Umständen erfolgen – nämlich, wenn sich eine Person im Zorn selbst tötet.84 Der Sanktionierungsgrund ist aber, dass es gesetzlich nicht vorgesehen oder angeordnet sei, sich selbst zu töten. Wer aber etwas tue, was die Gesetze nicht vorschrieben, verübe letztlich Dinge, die das Gesetz verbiete. Eine Autothanasie im Zorn ist damit eine Auflehnung oder ein Verstoß gegen die gesetzlich fixierte Ordnung der Polis.85 Dass eine solche Handlung im Verständnis antiker griechischer Gemeinwesen konkreten Anlass gab, besondere Maßnahmen zu erlassen, ist wiederum konsequent. Das Miasma markierte in einer solchen Situation eine spezifische Form der Störung der sozialen und göttlichen Ordnung und wies somit auf eine Handlungsnotwendigkeit hin.86 Wenn mit der Autothanasie ein derartiges Signal verbunden war, dann ist ein solcher Suizid in der Wahrnehmung der Zeitgenossen als eine grundsätzliche Beeinträchtigung eben jener Ordnungsstrukturen bewertet worden. Die Grundlage für diese Auffassung ist wiederum die im antiken griechischen Denken

82 83 84 85 86

genannt würden (τούτους γὰρ μόνους ἐν νεκρῶν δείπνοις οὐ καλοῦσιν οἱ προσήκοντες; Artem. 1,4). Zur Widerlegung einer prinzipiellen Sanktionierung der Autothanasie im antiken Griechenland vgl. die Ausführungen oben. Val. Max. 2,6,7 f. Aristot. eth. Nic. 1138 a: διὸ καὶ ἡ πόλις ζημιοῖ, καί τις ἀτιμία πρόσεστιν τῷ ἑαυτὸν διαφθείραντι ὡς τὴν πόλιν ἀδικοῦντι. Aristot. eth. Nic. 1138 a: ὁ δὲ δι᾽ ὀργὴν ἑαυτὸν σφάττων. Aristot eth. Nic. 1138 a: οἷον οὐ κελεύει ἀποκτιννύναι ἑαυτὸν ὁ νόμος. ἃ δὲ μὴ κελεύει, ἀπαγορεύει. Harris 2015a, S. 13–28. In diesem Zusammenhang lässt sich der Umgang mit Suizidenten allerdings kaum mit einer kathartischen Wirkung der getroffenen Maßnahmen erklären; so jedoch Kangulumba Munzenza 2016, S. 79 f. Es waren allerdings sämtliche Verstorbenen und nicht ausschließlich Selbstmörder mit einem Miasma belastet, das es mit Hilfe ritueller Praktiken zu kompensieren galt. Die religiös-rituelle Dimension der Katharsis vermag somit die Wirkung der Sanktionen nicht hinreichend zu erklären.

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tief verwurzelte Vorstellung, dass „die Taten und die Verhaltensweisen eines Menschen der wahre Spiegel seines Charakters sind, die äußere Manifestation innerer Qualitäten“.87 Der Hintergrund für Sanktionen gegen bestimmte Suizidfälle liegt somit nicht darin, dass sich eine Person gleichsam selbst ermächtigt und mit ihrem Selbstmord der Polis einen Bürger geraubt hätte.88 In einem solchen Fall hätten nämlich sämtliche Selbstmorde mit Sanktionen belegt und unterschiedslos als Vergehen gegen den Staat angesehen worden sein müssen.89 Die Markierung mit einem Miasma und die deutlichen Parallelen zu jedweden Handlungen, die sich gegen die staatlich-­ religiösen Strukturen richteten und ihren Niederschlag in bestimmten normierenden Regelungen, wie den sogenannten leges sacrae, fanden, widersprechen dem eindeutig. Sanktionen oder deren Androhungen sind in Kultgesetzen verhältnismäßig selten anzutreffen und nur bei solchen Fällen oder Praktiken aufgenommen, die das Gemeinwesen, dessen Fortbestand oder generellen Zustand prinzipiell und existenziell gefährdeten.90 Falls ein solchermaßen besonderes Gefährdungsmoment nicht zur Debatte stand, waren auch keinerlei Auflagen oder Strafen vorgesehen. Dieser Befund lässt sich auf eine bestimmte Gruppe suizidaler Handlungen übertragen, die mit Sanktionen gegen den Körper des Suizidenten oder aber gegen den Urheber des suizidalen Geschehens aus dem Grunde geahndet wurden, dass diese Vorfälle die staatliche Autorität und die Unterordnung des Individuums unter diese staatlichen Strukturen sowie die Dominanz staatlicher Ordnungsvorstellungen infrage stellten. Diese Schlussfolgerung erweist sich als umso gebotener angesichts der im antiken Griechenland verbreiteten Vorstellung, dass Handlungen eines Individuums als der Ausdruck einer inneren Haltung galten. Mit dem eigenen Agieren offenbarte eine Person ihre Auffassung von und ihre Einstellung gegenüber der Welt.91 Das Vertrauen des Individuums in die staatlichen Strukturen gewährleistete jedoch die Stabilität des gemeinschaftlichen Zusammenlebens. Einen hierauf bezogenen Ver87 Chaniotis 1997, S. 143; ferner Halliwell 1990, S. 42–56; Goldhill 1990, S. 118–125. 88 So aber Geiger 1888, S. 58–63; zum Aspekt eines beschränkten Rechts von Individuen am eigenen Leben vgl. Hirzel 1908, S. 270 f. Bereits Burnet 1900, S. 245, stellte jedoch heraus, dass das Vergehen nicht darin bestand, dem Staat einen Bürger entzogen zu haben, sondern dem Staate ein Miasma auferlegt zu haben. Dieser Erklärung steht allerdings entgegen, dass ja sämtliche Todesfälle mit einer solchen rituellen Verunreinigung einhergingen und daher die besonderen Maßnahmen gegen bestimmte Suizide nicht einzig mit den Folgen des Miasmas zu erklären sind. 89 Eine solchermaßen pauschale Verurteilung der Autothanasie ist aber für das antike Griechenland nicht bekannt; vgl. Hirzel 1908, S. 264 f. 90 Naiden 2008, S. 126 f. Aus diesem Grunde greift in diesem Fall die Kritik, die Martin Dreher gegenüber der Interpretation Naidens übt, nicht, dass nämlich eine Quantifizierung bei einer Verknüpfung der Schwere eines bestimmten Vergehens mit dem potentiellen Schaden für die Gemeinschaft schwierig sei; vgl. Dreher 2008, S. 140–142. Sobald ein Individuum die Ordnung der Polis negierte oder grundsätzlich in ihrer Bedeutung relativierte, war ein immenser Schaden für die notwendige Stabilität staatlicher Ordnungsstrukturen ja bereits eingetreten. 91 Chaniotis 1997, S. 143; Halliwell 1990, S. 42–56; Goldhill 1990, S. 118–125.

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trauensbruch musste man sanktionieren, um auf diese Weise das staatliche Monopol über die Deutung von Ordnungsvorstellungen und deren Relevanz für das Individuum zu reklamieren. Das durch einen Suizidenten zerstörte Vertrauen in die staatliche Ordnungsmacht bedurfte bestimmter Maßnahmen zur Restabilisierung.92 Das Ziel musste es sein, mit durchaus abschreckender Wirkung auf potentielle Nachahmer das Gemeinwesen gegen die Konsequenzen oder die Folgen individuellen Fehlverhaltens abzuschirmen.93 Eine Autothanasie wurde nicht sanktioniert, wenn diese nicht gleichsam gegen die Polis gerichtet war, vielmehr war unter diesen Umständen eine reguläre Bestattung vorgesehen. Es sind also die Situationsspezifik des Suizids und die konkreten Bedingungen, unter denen eine Selbsttötung erfolgte, die es in Rechnung zu stellen gilt, wenn man die Praxis des Umgangs mit Selbstmördern im antiken Griechenland erklären möchte. Vertrauen und die Erosion von Vertrauen sind in diesem Zusammenhang wichtige Kategorien, um die spezifische Dimension der Autothanasie zu beleuchten, die einen Impetus für Handlungen gegen suizidale Körper darstellte.

4. Sanktionierte Körper oder Werkzeuge – Keine Frage von Alternativen Bislang ist in diesem Zusammenhang die Frage unbeantwortet geblieben, unter welchen Umständen Maßnahmen gegen den Körper des Suizidenten erfolgten und unter welchen Bedingungen sich die Sanktionen ausschließlich gegen das Tatwerkzeug richteten. Fred Naiden stellt heraus, dass der Körper zum Gegenstand des Vorgehens wurde, wenn sich das Objekt, mit dessen Hilfe die Selbsttötung herbeigeführt wurde, nicht zur Verantwortung ziehen ließ. Dies sei beispielsweise bei bestimmten Varianten der Selbsttötung, wie dem freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit oder aber einer selbstgewählten Vergiftung, grundsätzlich der Fall gewesen.94 Dem steht jedoch entgegen, dass bei einer mutmaßlich durch das Schwert erfolgten Selbsttötung die Hand des Suizidenten getrennt vom Körper bestattet werden sollte.95 In einem solchen Fall dürfte sich allerdings in der Regel die Waffe noch vor Ort – also in der Nähe des Leichnams – befunden haben. Träfe Naidens Inter92 Für eine zu einseitige Konzentration auf die kathartische Wirkung derartiger Maßnahmen für die Polis vgl. Kangulumba Munzenza 2016, S. 79 f. Zum Zusammenhang zwischen Autothanasie und Vertrauen und zu einem dabei gleichsam erfolgenden doppelten Vertrauensbruch vgl. oben. Gerade in dieser Problematik liegen die Gründe für ein von Seiten der Polis aus bestehendes Interesse an Sanktionen gegenüber bestimmten Selbsttötungen. Die Notwendigkeit, einem staatlichen Gewaltmonopol zur Durchsetzung zu verhelfen, wie Harris 2015a, S. 13–28, im Zusammenhang mit Mordfällen postuliert, ist hingegen als Hintergrund für Maßnahmen gegen suizidale Körper zurückzuweisen – abgesehen davon, dass in antiken Gemeinwesen kein wie auch immer geartetes staatliches Gewaltmonopol existierte. 93 Naiden 2008, S. 130. 94 Naiden 2015, S. 92–94; ähnlich bereits bei Garrison 1991, S. 5, 7. 95 Aischin. Ctes. 244; Ios. bell. Iud. 3,378; für einen Bezug zur Autothanasie durch das Schwert vgl. Hirzel 1908, S. 264–266; van Hooff 1990, S. 47–54, 235; Wacke 1980, S. 47 Anm. 97.

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pretation zu, so hätten sich Maßnahmen unter diesen Umständen demnach gegen das Schwert und gerade nicht gegen den Körper des Suizidenten richten müssen. Allerdings war es geradezu eine Frage der militärischen Disziplin, gegen die Hand vorzugehen, die sich mit einer Waffe gegen den eigenen Körper gerichtet hatte, mit welcher diese eigentlich die Polis hätte verteidigen sollen.96 Unter diesen Umständen war der Bruch mit staatlichen Ordnungsvorstellungen also höchst evident. Daher wurden in einem solchen Fall auch besondere Mittel benötigt. Zugleich kommt mit der Tatsache, dass sich die Hand gleichsam gegen den eigenen Körper richtete, zum Ausdruck, dass der Suizident damit eindeutig Urheber seiner eigenen Tat ist.97 Die Maßnahmen, die man gegenüber Gegenständen einleitete, die zu einer Selbsttötung genutzt worden waren, hatten allerdings kaum die Funktion, ein Individuum von jeglicher Verantwortung freizusprechen, indem man die Schuld sozusagen auf ein Tatwerkzeug übertragen hätte. Kritisch zu bewerten ist ebenfalls die Ansicht, es sei auf diese Weise letzten Endes ermöglicht worden, den Leichnam eines Suizidenten unbelastet von einem Miasma und ohne rituelle Reinigungspraktiken zu bestatten.98 Dem widerspricht nämlich eindeutig ein Auszug aus der sogenannten Lex sacra von Kos. Dort heißt es: Wer einen Suizidenten findet, der sich mit einem Seil erhängt hat, soll den Leichnam abnehmen und mit Stoff bedecken. Die Teile des Astes aber, an dem sich die Person erhängte, soll er entfernen sowie den Strick verbrennen.99 Die im Griechischen verwendete Verbform ἀπάγξηται ist als dritte Person Singular des Konjunktivs Aorist im Medium (von ἀπάγχεσθαι, sich erhängen) zu bestimmen und lässt somit in dieser grammatikalischen Form nicht zu, den Strick als Tatwerkzeug zum Urheber der Handlung zu machen. Es ist

96 Hirzel 1908, S. 266; Garrison 1991, S. 9. Es ist hingegen wenig wahrscheinlich, dass eine Art maschalismos auf diese Weise an den suizidalen Körpern vollzogen wurde und damit dem Totengeist gleichsam seine Macht genommen werden sollte, auf die Welt der Lebenden einzuwirken; so aber Grisé 1982, S. 127–141, und Garland 2001, S. 98. In einem solchen Fall hätten allerdings sämtliche Suizidenten in dieser Weise behandelt worden sein müssen, da ja eine mögliche die Lebenden schädigende Wirkung von den Totengeistern aller Suizidenten hätte ausgehen müssen. Die Mehrzahl der Selbstmörder im antiken Griechenland wurde jedoch auf gewöhnliche Weise und ohne Sanktionen bestattet. Für einen erfolgreichen maschalismos wäre es in einem solchen Fall darüber hinaus erforderlich gewesen, nicht nur eine Hand, sondern auch Arme und Beine vom Leichnam abzutrennen. Ein maschalismos gegenüber Suizidenten ist jedoch im antiken Griechenland nicht belegt; zu dieser Praxis vgl. Johnston 1999, S. 156–159; Kittredge 1885. Berücksichtigt man den Kontext in der Rede des Aischines, so wird zudem deutlich, dass es bei den Maßnahmen gegenüber den Suizidenten explizit um die Weigerung geht, Verantwortung für die Polis zu übernehmen; vgl. Aischin. Ctes. 243–246. 97 Soph. Ant. 1175, 1315; Eur. Or. 947, 1040; Naiden 2015, S. 92; Daube 1972, S. 401 f. mit weiteren Quellenstellen für dieses Phänomen; anders Garrison 1991, S. 9, die den Suizidenten gleichsam zum Opfer seiner gegen ihn gerichteten Hand erklärt. 98 So aber Naiden 2015, S. 89–91, besonders S. 91; immanent bei Garrison 1991, S. 5, 9. 99 LSCG 154 b 33–36. Relevant ist hier zunächst der Passus in Zeile 34: [… τὸ] δὲ ξύλον ἐξ οὗ κα ἀπάγξηται.

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hier im Gegenteil der Suizident selbst, der sich erhängte und somit verantwortlich für seine Handlung ist.100 Demnach scheint sich in der Sanktionierung gegenüber den Objekten oder aber gegenüber dem suizidalen Körper das Erfordernis eines eindeutigen Schuldzuspruchs zu dokumentieren. Es wurde regelrecht eine die Verantwortung tragende Instanz benötigt.101 Nur auf diesem Wege erschien es möglich, Maßnahmen zu einer Bewältigung der Kontingenzen und zur rituellen Bereinigung der Situation durchzuführen und damit die Stabilität staatlicher Ordnungsstrukturen zu garantieren, die ja durch individuelles Handeln infrage gestellt worden war. Dazu musste zum einen dokumentiert werden, dass eine Bestrafung des Verantwortlichen – sei dies ein Objekt oder eine Person – erfolgte.102 Zum anderen musste signalisiert werden, dass man sich eines die gesamte Gemeinschaft gefährdenden Miasmas annahm. In diesem Zusammenhang konnte die weitere Präsenz von Gegenständen in der Gemeinschaft, die bei einer Selbsttötung eine Rolle gespielt hatten, das Gemeinwesen als Ganzes belasten, ja geradezu beflecken.103 Demgemäß war es erforderlich, einem Tatwerkzeug seine potentiell verunreinigende Wirkung zu nehmen, sofern es bei einer Autothanasie ausgemacht werden konnte.104 Ein möglichst nachhaltiges Vorgehen war in diesem Zusammenhang beabsichtigt, indem man den Gegenstand ein für alle Mal beispielsweise durch Verbrennung zerstörte, was im Zusammenhang mit dem Erhängen als Form der Autothanasie praktiziert wurde. War die endgültige Beseitigung nicht möglich, 100 Trifft die Ergänzung durch Franciszek Sokolowski, den Herausgeber der betreffenden Inschrift, zu, müsste das Seil als der von Naiden 2015, S. 89 f., postulierte für die Selbsttötung Verantwortliche in Zeile 33 der Inschrift das Subjekt des Satzes sein; vgl. LSCG 154 b 33. Auch in diesem Fall ist dies aber der Suizident (τίς): [αἰ δέ τίς κα ἔν τινι δάμωι ἀπάγξηται σχοι]νιδίωι. Selbst wenn die plausible Ergänzung des fehlenden Teiles der Inschrift sich als nicht haltbar erweisen sollte, so ist doch in jedem Falle das Seil, für das eine grammatikalische Bestimmung als Dativ Singular ([σχοι]νιδίωι) aufgrund der erhaltenen Buchstaben des Wortes eindeutig ist, keinesfalls zum Handlungsverantwortlichen zu machen. Der Dativ kann hier in der Verbindung mit dem ergänzten Prädikat ἀπάγξηται ausschließlich die syntaktische Funktion eines Dativus instrumentalis erfüllen. Somit gestattet es auch die syntaktische Komposition dieser Passage der Inschrift nicht, das hier beschriebene Vorgehen mit einer Entlastung des Suizidenten durch einen Transfer der Schuld auf das die Tat ausführende Objekt zu erklären. 101 Naiden 2015, S. 85, 89 f., 93. 102 Zu Parallelen dieses eindeutige Verantwortlichkeiten zwecks Situationsbewältigung zuschrei­ ben­den Verfahrens zum Umgang mit einem Mörder, der, nachdem ihm die Tat nachgewiesen worden war, um die Gemeinschaft nicht rituell zu belasten, isoliert und dann bestraft wurde, vgl. Soph. Oid. T. 107; Naiden 2015, S. 90; zu diesem Phänomen, das sich sogar auf die terminologische Bezeichnung des Suizids im antiken Griechenland auswirkte, vgl. Daube 1972, S. 399– 405, besonders S. 399–401, und umfassend Hiscock 2007. In diesem Rahmen war es ebenfalls eine Option, die Erinnerung an eine Person geradezu zu tilgen und auf diese Weise den Suizidenten postum sozusagen durch eine Form des Statusentzugs zu bestrafen, vgl. Plat. leg. 873 d; Artem. 1,4; Geiger 1888, S. 60; Naiden 2015, S. 93 f.; zum Miasma in diesem Zusammenhang vgl. Parker 1983, S. 104–137. 103 Zu dieser Vorstellung und Praxis vgl. Chaniotis 1997, S. 169; Naiden 2015, S. 90; Garrison 1991, S. 5–7. 104 Naiden 2015, S. 91.

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weil das benutzte Tatwerkzeug nur unter großem Aufwand zu vernichten war, galt es, dem betreffenden Objekt den Einfluss auf die Gemeinschaft der Lebenden dauerhaft zu verwehren, indem dieser Gegenstand entweder jenseits der Stadtgrenzen verbracht wurde oder aber ein Schwert wie der Leichnam des Suizidenten bestattet und damit vergraben wurde.105 Ein alternatives Vorgehen stellte es in diesem Zusammenhang dar, einen solchen Gegenstand an einem bestimmten Platz der Stadt zu isolieren. So wurden in Athen die Kleidung von Personen, die sich erhängt hatten, ebenso wie der Strick zu einer als Barathron bezeichneten Stätte verbracht, wo auch die Körper Hingerichteter deponiert wurden, welche ebenfalls zuvor mit ihren Vergehen die Ordnung der Polis gestört hatten.106 War also infolge einer Selbsttötung ein Tatwerkzeug vorhanden, galt es in jedem Falle Maßnahmen gegen dieses Objekt zu ergreifen, unabhängig von der Tatsache, ob der Suizident sich mit seiner Handlung gegen die Ordnungsstrukturen der Polis gerichtet hatte. Wie jeder Tote trug auch jeder solchermaßen genutzte Gegenstand ein Miasma, das nach Bewältigung verlangte.107 Besonders auffällig ist in diesem Zusammenhang das Verfahren bei einem Suizid durch Erhängen in einem Heiligtum, von dem in der sogenannten Anagraphe von Lindos berichtet wird, die um die Mitte des 4. Jahrhunderts v. Chr. zu datieren ist. Eine Person hatte sich nachts in einem Tempel einschließen lassen und sich am Gebälk unmittelbar hinter der Kultstatue erhängt. Nach Auffindung der Leiche beabsichtigten die Einwohner von Lindos, das Orakel von Delphi zu befragen. Einem Priester erschien jedoch die im betroffenen Tempel verehrte Göttin im Traum und gab konkrete Handlungsanweisungen. Sie ordnete an, das Dach des Heiligtums oberhalb der Kultstatue zu entfernen und für drei Tage geöffnet zu lassen. Nach einem von Zeus gesandten reinigenden Regen sollten das Dach wieder verschlossen und der Tempel auf übliche Weise gereinigt sowie Opfer dargebracht werden.108 In dem Bericht werden ausdrücklich keine Maßnahmen am Körper des Suizidenten oder aber gegenüber dem Strick erwähnt, mit dem sich die Person erhängt hatte. Außerdem schien die Autothanasie in einer Kultstätte in diesem Fall offensichtlich kein besonderes Sakrileg dargestellt zu haben, das deshalb mit einer exzeptionellen Form ritueller Verunreinigung verbunden gewesen wäre.109 Man könnte nun mutmaßen, dass die Dachkonstruktion sozusagen die Verantwortung trug und daher ja entfernt wurde. Allerdings war für die Öffnung des Daches ausschlaggebend, dass ein göttlicher Regen Einlass finden musste, der das 105 Zum Verbrennen von Stricken und Ästen, die zum Erhängen genutzt worden waren, vgl. LSCG 154 b 33–36; Harp. s.v. ὀξυθύμια; zur Deponierung von Gegenständen außerhalb der Polisgrenze vgl. Aischin. Ctes. 244; Harp. s.v. ὀξυθύμια; für das Vergraben des Schwertes vgl. Soph. Ai. 1024–1026, 1032 f.; Philostr. her. 188. 106 Zu dieser Praxis vgl. Plut. Themistokles 22,2; Naiden 2015, S. 89 f. 107 Berti 2017, S. 49, 53–56, 62 f., 65; Osborne 2011, S. 162 f., 165, 181; Parker 1983, S. 31, 64; Harris 2015a, S. 14, 22–27; Douglas 1966, S. 35, 112, 138, 157; Bendlin 2007, S. 182; Bremmer 1994, S. 5 f. 108 FGrH 532 D(2). 109 Garrison 1991, S. 7 Anm. 22.

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Heiligtum reinigte. Die Zuschreibung von Verantwortung an den Suizidenten oder aber ein Objekt scheint in dem vorgestellten Fall offenkundig keine Rolle gespielt zu haben. Maßnahmen gegen den suizidalen Körper oder aber Gegenstände, die an dessen Tötung beteiligt waren, als selbstverständlich vorauszusetzen und daher einer Erwähnung nicht für nötig zu befinden, scheint hingegen keine befriedigende Lösung für diesen Fall darzustellen. Robert Parker bietet gleichwohl einen Erklärungsansatz für diese Episode, bei der sich signifikante Parallelen zu Suiziden erkennen lassen, die eindeutig von Schutzflehenden in Heiligtümern verübt oder aber angekündigt wurden. In sämtlichen dieser Fälle seien Maßnahmen gegenüber den suizidalen Körpern oder aber Tatwerkzeugen ausgeblieben, da Schutzflehende als unverletzlich galten.110 Eine Übertragung dieses Phänomens auf den Sachverhalt in Lindos muss als Interpretation freilich hypothetisch bleiben. Es erscheint aber als durchaus plausibel, den Suizidenten im Heiligtum von Lindos für einen Schutzflehenden zu halten und damit zu erklären, aus welchem Grunde in diesem Falle keinerlei Sanktionen gegen den suizidalen Körper oder aber gegen Tatwerkzeuge stattfanden. Bestimmte Wertvorstellungen waren demnach dazu angetan, die Notwendigkeit zu überlagern, politische Ordnungsstrukturen zu stabilisieren. Die Wiederherstellung von Vertrauen in bestimmte Strukturen durfte somit keinesfalls um den Preis der Erosion des Vertrauens in andere Ordnungsmuster der griechischen Gesellschaft erfolgen.

5. Fazit Abschließend konnte somit das Problem gelöst werden, in welchen Situationen sich im antiken Griechenland Maßnahmen gegen den Körper eines Suizidenten richteten und unter welchen konkreten Umständen es die Gegenstände waren, die den Suizid herbeigeführt hatten und gegen die man mit Sanktionen glaubte vorgehen zu müssen. Als Hintergrund für diese Praxis allgemein konnte hingegen die Notwendigkeit für die Polis herausgestellt werden, einen spezifischen Vertrauensbruch durch das Individuum zu sanktionieren, das sich mit seiner Selbsttötung der auf einer Reziprozitätsverpflichtung beruhenden Bindung an die Ordnungsstrukturen der Polis entzogen hatte. Maßnahmen gegen Suizidenten im antiken Griechenland hatten damit eine die bestehende Ordnung stabilisierende und gezielt Kontingenzen bewältigende Funktion. Es galt nach einem Akt, mit dem ein Polite sein Vertrauen auf und damit zugleich seine Unterordnung unter staatliche Ordnungsstrukturen infrage gestellt hatte, Deutungshoheit und Kontrolle wiederzuerlangen. Der Suizid kann letzten Endes als ein doppelter Vertrauensverlust beschrieben werden. Zum einen hatte ein Akteur offenkundig das Vertrauen in seine Mitmenschen aus oikos und Polisgemeinschaft sowie grundsätzlicher in die allgemeine Resilienzfähigkeit verloren und sich dazu entschlossen, sein Leben freiwillig zu 110 Parker 1983, S. 185 f. mit Verweis auf Thuk. 3,81,3; Aischyl. Suppl. 459–479; vgl. ferner Paus. 7,25,1: ἱκέται δ᾽ ἱεροί τε καὶ ἁγνοί. Zum Phänomen der Hikesie vgl. Parker 1983, 181–186; Sinn 1993; Gödde 1998.

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beenden. Zum anderen erfolgte – ausgelöst durch die Autothanasie – eine abrupte Vertrauenserosion der Angehörigen des Suizidenten wie auch der Polisgemeinschaft gegenüber der Tragfähigkeit der Beziehungsstrukturen, die diese zu dem Selbstmörder unterhalten hatten. Diese wechselseitigen Relationen und Bindungen nicht zuletzt moralischer Art bestimmten zugleich in hohem Maße die Ordnungsvorstellungen in den Gemeinwesen des antiken Griechenland. Auf die Anerkennung dieser Ordnungsvorstellungen durch jeden einzelnen Politen musste die Gemeinschaft vertrauen. Die Erwartung in die Stabilität und Reziprozität hatte jedoch die Autothanasie auf radikale Weise zunichtegemacht. Verhaltenserwartung und Realität divergierten auf größtmögliche Art und Weise. Dementsprechend brach ein Selbstmörder aufgrund seiner suizidalen Handlung mit dem ihm gegenüber erwiesenen Vertrauen. Eine solche Handlung verlangte nach Konsequenzen. Verlorenes Vertrauen in die Stabilität und Dominanz staatlicher Ordnungskonzepte gegenüber individuellen wie individualistischen Vorstellungen und in die Beständigkeit interpersonaler Beziehungen sowie zugleich Vertrauen in die Bindung des Individuums an diese Strukturen mussten wiederhergestellt werden. Zu diesem Zwecke war es erforderlich, öffentlichkeitswirksam bestehenden Kontingenzmanifestationen den Nährboden zu entziehen und auf diese Weise soziale Komplexität zu reduzieren. Eine gewisse Konstanz sozialer Ordnungen und interpersonaler Beziehungen konnte letzten Endes nur mit Hilfe von Vertrauen realisiert werden.111

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Vertrauen dank Vertreibung. Annäherungen an den Anlass des zweiten claudischen Judenediktes Karl Matthias Schmidt Die Politik des Kaisers Claudius in Auseinandersetzung mit jüdischen Gemeinden des Imperiums hat in der Vergangenheit sehr unterschiedliche Einschätzungen erfahren, nicht zuletzt im Kontext der neutestamentlichen Exegese und der Judaistik. Auf der einen Seite begegnet man einer vermeintlich „judenfreundlichen Haltung des Claudius in den Anfangsjahren seiner Regierung“1, die sich auch der engen Verbindung zum jüdischen Klientelkönig Agrippa I. verdankt habe. Dieses Bild stützte sich vor allem auf die von Flavius Josephus angeführten Edikte, insbesondere auf das sogenannte „Ökumene-Edikt“, dem zufolge Claudius den Mitgliedern der Gemeinden reichsweit umfassende Privilegien eingeräumt haben soll.2 Auf der anderen Seite tritt einem ein Kaiser entgegen, der geradezu als Judenfeind erscheint und einem frühen Antijudaismus das Wort redete.3 Diesen Eindruck konnte neben dem Umstand, dass Claudius die Juden mehrfach in die Schranken wies,4 der als Papyrusabschrift überlieferte Brief des Prinzeps an die Stadt Alexandria erwecken, insbesondere der Vermerk: „Wenn aber nicht, werde ich auf jede Weise gegen sie vorgehen, wie wenn sie eine allgemeine, über den Erdkreis ausgespannte Krankheit erwecken.“5 Inzwischen setzt sich eine nüchternere Bewertung der claudischen Politik in Auseinandersetzung mit dem Judentum durch.6 Etwas verkürzt könnte man sagen, dass Claudius trotz der Bekanntschaft mit Agrippa I. kein persönliches Verhältnis zu dessen Volk entwickelte. Er war den Juden weder besonders gewogen noch hegte er eine spezifische Abneigung gegen sie und ihre religio, die ohnehin nicht im Zentrum seiner Aufmerksamkeit stand. Zur Reglementierung jüdischen Gemeindelebens veranlasste Claudius das, was ihm aus seiner Sicht zur Stabilisierung des Gemeinwesens und der eigenen Regentschaft geboten schien, und zwar jeweils im 1 Solin 1983, S. 689. Vgl. auch etwa Riesner 1994, S. 87; Cook 2011, S. 11–14. 2 Vgl. Ios. ant. Iud. 19,280–285.287–291, außerdem Ios. ant. Iud. 19,303–311. Zur berechtigten Kritik an der Historizität der Edikte vgl. Hennig 1975, S. 326–330, außerdem etwa Botermann 1996, S. 108–111; Slingerland 1997, S. 12–16; Schimanowski 2006, S. 176–182. 3 Vgl. etwa Slingerland 1997, S. 149 f. 4 Cassius Dio zufolge verhängte Claudius zu Beginn seiner Regentschaft – wohl nur zeitweise – ein gesondertes Versammlungsverbot für die Juden Roms (Cass. Dio 60,6,6), das unter dem Eindruck der Unruhen in Alexandria veranlasst worden sein dürfte, weshalb die beiden Ereignisse ursächlich nicht unmittelbar miteinander in Verbindung stehen. Vgl. dagegen etwa Cook 2011, S. 14. Diese Anordnung wird hier als erstes Judenedikt gezählt. 5 P. Lond. 1912 (= CPJ 153), Z. 98 f.: εἰ δὲ μή, πάντα τρόπον αὐτοὺς ἐπεξελεύσομαι καθάπερ κοινήν τεινα τῆς οἰκουμένης νόσον ἐξεγείροντας. Übersetzungen in diesem Beitrag sind eigene Übersetzungen. 6 Vgl. etwa Botermann 1996, S. 112 f.; Schimanowski 2006, S. 170–175.

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Hinblick auf die aktuelle politische Lage. Der Umgang mit jüdischen Gemeinden konnte während der Regentschaft also divergieren. Setzt man eine solche vergleichsweise neutrale Haltung des Kaisers gegenüber dem Judentum voraus, bleibt nicht anders als bei der Stilisierung eines zeitweiligen „Judenfreundes“ erklärungsbedürftig, warum Claudius im Jahr 49 n. Chr. ein Edikt erließ, das Jüdinnen und Juden einen Aufenthalt in Rom untersagte. Dieser Beitrag geht den Hintergründen der Maßnahme nach und beschreibt sie als Folge eines Vertrauensverlustes, aufgrund dessen die Unschädlichkeit auswärtiger Kulte in der frühen Kaiserzeit verstärkt infrage gestellt wurde. Dazu sollen zunächst die spärlichen Quellen, die den Vorgang ausdrücklich erwähnen, kurz gesichtet werden – auch wenn sie unmittelbar keine Angaben zu den Ursachen des Aufenthaltsverbotes respektive der Vertreibung machen. Denn eine Einlassung bei Orosius über eine heute verlorene Darstellung des Josephus legt in Verbindung mit einer Notiz Suetons eine Beteiligung der Christen7 Roms am Eklat nahe. Im Anschluss daran ist zu fragen, ob sich repressive Maßnahmen gegen religiöse Vollzüge, die im Osten des Reiches wurzelten, leichter plausibilisieren lassen, wenn man sie vor dem Hintergrund eines Vertrauensverlustes beschreibt, der durch die Rezeption des Bacchanalien-Skandals forciert wurde. Abschließend soll zunächst in aller Kürze die Vertreibung der Juden unter Tiberius in diesen Kontext eingeordnet werden, um von dieser Warte aus in aller Vorläufigkeit die Hintergründe des zweiten claudischen Judenediktes zu skizzieren.8

1. Quellen zum zweiten claudischen Judenedikt Die älteste erhaltene Quelle, die das claudische Edikt zum Aufenthaltsverbot der Juden erwähnt, ist die Apostelgeschichte, die um 100  n. Chr. nach dem Lukasevangelium als zweites Buch des sogenannten lukanischen Doppelwerks verfasst wurde. Dort heißt es über den Apostel Paulus: Als er einen Juden mit Namen Aquila, einen Pontier dem Geschlecht nach, und Priszilla, seine Frau, fand, unlängst gekommen von der Italia wegen der Anordnung des Claudius, dass alle Juden von Rom entfernt würden, ging er zu ihnen.9

Da man dem Evangelisten hinsichtlich historischer Details, die er allein überliefert, nicht immer trauen kann, ist eine kurze Notiz Suetons umso wertvoller, die ihrer7

‚Christen‘ beschreibt hier schlicht die Gruppe derjenigen, die sich der Gemeinschaft des Herrenmahls zugehörig fühlten. Eine Trennung jüdischer Christen von der jüdischen Gemeinde ist damit nicht vorausgesetzt. 8 An dieser Stelle sei für die Einladung zur Tagung und für hilfreiche Anregungen des Auditoriums sowie der Herausgeberin und der Herausgeber gedankt. 9 Apg 18,2: καὶ εὑρών τινα Ἰουδαῖον ὀνόματι Ἀκύλαν, Ποντικὸν τῷ γένει προσφάτως ἐληλυθότα ἀπὸ τῆς Ἰταλίας καὶ Πρίσκιλλαν γυναῖκα αὐτοῦ, διὰ τὸ διατεταχέναι Κλαύδιον χωρίζεσθαι πάντας τοὺς Ἰουδαίους ἀπὸ τῆς Ῥώμης, προσῆλθεν αὐτοῖς.

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seits auf das Edikt zurückblickt, dabei aber offenbar unabhängig von der Apostelgeschichte entstand: „Die Juden, die auf Veranlassung des Chrestos ständig Aufruhre erregten, vertrieb er aus Rom.“10 Die Annahme, dass hier von einem sonst unbekannten Aufrührer die Rede ist,11 kann zwar nicht gänzlich ausgeschlossen werden. Plausibler erscheint jedoch, dass Sueton, der selbst fraglos um die Existenz der Christen wusste (Suet. Nero 16,2), eine Quelle referierte, deren Urheber weder die neue Gruppe innerhalb des Judentums noch ihre Identifikationsfigur kannte oder einzuordnen vermochte.12 Dieser Urheber führte ohne genauere Kenntnis der inneren Zusammenhänge die Vertreibung, bei der das Bekenntnis zu Jesus Christus eine Rolle gespielt haben dürfte, auf das Unwesen eines ihm nicht weiter bekannten Chrestus zurück. Für die Datierung des Ediktes sind wir leider bereits auf Orosius angewiesen, dessen Hauptwerk, die Historiae adversum paganos, zu Beginn des 5. Jahrhunderts n. Chr. entstand. Der christliche Historiograph datierte die Maßnahme in Claudius’ neuntes Regierungsjahr, also in das Jahr 49 n. Chr. oder die ersten Tage des Jahres 50 n. Chr., was sich gut zur Chronologie des paulinischen Wirkens fügt. Eine entsprechende Datierung lässt sich jedoch nur auf Basis einer Reihe von Annahmen aus der Apostelgeschichte ableiten, weshalb es nahliegend erscheint, dass Orosius auf eine von Lukas unabhängige Quelle zurückgreifen konnte:13 Josephus berichtet, dass die Juden von Claudius in seinem neunten Jahr aus der Hauptstadt hinausgeworfen wurden. Mich beeindruckt aber Sueton mehr, der folgendermaßen spricht: ‚Claudius vertrieb die Juden, die wegen Christus ständig Aufruhre erregten, aus Rom.‘ Hinsichtlich der Frage, ob er befahl, dass die gegen Christus Aufruhre erregenden Juden gezügelt und niedergehalten werden, oder ob er zugleich auch Christen, gleichsam Menschen einer verwandten Religion, hinauswerfen wollte, wird keineswegs entschieden.14

Da sich Orosius für die Datierung ausdrücklich auf Josephus bezieht, ist anzunehmen, dass er die zeitliche Einordnung der Maßnahme aus einer Quelle bezog, 10 Suet. Claud. 25,4: Iudaeos impulsore Chresto assidue tumultuantis Roma expulit. 11 Solin 1983, S. 659 Anm. 171, erscheint die Voraussetzung eines jüdischen Aufrührers als „die einzig mögliche Auslegung“. Er folgt Koestermann 1967, dem zufolge der jüdische Aufrührer auch hinter Tac. ann. 15,44 zu suchen ist. Slingerland 1997, S. 167, findet den Aufrührer im Umfeld des Kaisers und übersetzt: „Chrestus caused Claudius to expel from Rome the continuously rebelling Jews“. 12 Vgl. dazu Botermann 1996, S. 57–102, außerdem etwa Riesner 1994, S. 139–148, oder Alvarez Cineira 1999, S. 201–205. Zum Handschriftenbefund, der an der Lesart „Chresto“ keinen Zweifel lässt, vgl. Boman 2011. 13 Vgl. auch etwa Omerzu 2002, S. 233. 14 Oros. 7,6,15 f.: Anno eiusdem nono expulsos per Claudium Vrbe Iudaeos Iosephus refert; sed me magis Suetonius mouet qui ait hoc modo: „Claudius Iudaeos inpulsore Christo adsidue tumultuantes Roma expulit“, quod, utrum contra Christum tumultuantes Iudaeos coherceri et conprimi iusserit, an etiam Christianos simul uelut cognatae religionis homines uoluerit expelli, nequaquam discernitur.

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die das angegebene Regierungsjahr aus dem fortlaufenden Bericht der Antiquitates Iudaicae erschlossen hatte. In den auf uns gekommenen Manuskripten findet sich zwar keine Erwähnung des Ediktes.15 Das schließt aber nicht aus, dass Orosius’ Angabe mittelbar auf ein Exemplar zurückgeht, in dem das Ereignis Erwähnung fand. Denn das sogenannte Testimonium Flavianum, auf das wegen der Frage nach der Erwähnung der Christen im Œuvre des Josephus im Folgenden kurz eingegangen werden muss,16 lässt erkennen, dass die Antiquitates Iudaicae im Zuge des Überlieferungsprozesses eine christliche Überarbeitung erfahren haben. Die Annahme, die Ausführungen über Jesus von Nazareth in Ios. ant. Iud. 18,63 f. gingen in der überlieferten Form vollumfänglich auf Josephus zurück, lässt sich nicht halten. Ganz offensichtlich ist Josephus’ Werk durch eine unumwunden prochristliche Redaktion überarbeitet worden.17 Daraus folgt jedoch nicht notwendig, dass diese Redaktion im Anschluss an Ios. ant. Iud. 18,62 eine Notiz des Josephus über Jesus vorfand. Denkbar wäre auch, dass eine ältere, an den Stil des jüdischen Historiographen angepasste Interpolation später tendenziöser überarbeitet wurde. Im Rahmen dieses Beitrags wird dagegen vorausgesetzt, dass das sogenannte Testimonium Flavianum in einem Zug in das 18. Buch der Antiquitates Iudaicae eingetragen wurde, vermutlich in der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts n. Chr.18 Die Wendung „etwas anderes Schreckliches“19, mit der die Vertreibung der Juden aus Rom unter Tiberius angebunden wird, nimmt nämlich unmittelbar Bezug auf den Aufruhr aufgrund der Finanzierung eines Aquäduktes aus Geldern des Jerusalemer Tempels. Diese στάσις (Aufstand) wurde, nachdem Proteste in Cäsarea wegen der von Pilatus nach Jerusalem verbrachten Feldzeichen glimpflich verlaufen

15 Zum Handschriftenbefund für die zweite Hälfte der Antiquitates Iudaicae, der für die griechischen Manuskripte nicht vor das 9. Jahrhundert n. Chr. hinausreicht, vgl. die Problemanzeige bei Leoni 2016, S. 313 f. 16 Zur Forschungsgeschichte vgl. Whealey 2003 sowie Paget 2001 und Elledge 2014, 692–710; zur älteren Skepsis seit dem 16. Jahrhundert, angefangen bei Hubert von Giffen, auch immer noch Eisler 1929–1930, Bd. 1, S. 19–45. 17 Zu den Textbestandteilen, die sich dem Juden Josephus in keiner Weise zuzuordnen lassen, vgl. etwa Goetz 1913, S. 288–292. 18 Eine Darstellung der erst bei Eusebius greifbaren und bereits als Zeugnis des Josephus ausgewiesenen (Eus. HE 1,11,7 f.; Dem. Ev. 3,5,104–106; De theophania 5,43 f.), bei Augustinus und folglich auch im Umfeld des Orosius aber (noch) nicht aufscheinenden Rezeption des Testimonium Flavianum bietet Whealey 2003, S. 18–43; vgl. auch Whealey 2016, 346. Zur von Olson 1999 unterstützten Annahme, Eusebius selbst habe das Testimonium Flavianum verfasst, vgl. die Kritik bei Whealey 2007. Die ältere Diskussion findet sich bei Eisler 1929–1930, Bd. 1, S. 134–137. Eusebius’ Argumentation macht den Rückgriff auf eine vermeintlich verlässliche Quelle wahrscheinlich. Deswegen muss die Interpolation nicht viel älter sein. Man darf zumindest fragen, inwieweit sich das angesichts der Wendung „ein weiser Mann, wenn es überhaupt gestattet ist, ihn einen Mann zu nennen“ (σοφὸς ἀνήρ, εἴγε ἄνδρα αὐτὸν λέγειν χρή; Ios. ant. Iud. 18,63) auf unterschiedliche Weise anschlussfähige Zeugnis zu christologischen Debatten im zeitlichen Umfeld fügt. 19 Ios. ant. Iud. 18,65: ἕτερόν τι δεινόν.

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waren, gewaltsam unterdrückt.20 In der Folge des Widerstandes waren eine Reihe von Todesopfern und zahlreiche Verletzte zu beklagen.21 Die Kreuzigung Jesu, die für Juden außerhalb seiner Anhängerschaft keine negativen Konsequenzen nach sich zog und erst in späteren antijüdischen Darstellungen christlicher Autoren als Grund für ein göttliches Strafgericht angeführt wurde,22 ließ sich aus Sicht des jüdischen Historiographen dagegen kaum als δεινός beschreiben.23 Natürlich kann man behaupten, Josephus habe eine Parenthese über Jesus von Nazareth einfügt, bevor er im Zusammenhang fortfuhr. Diese wäre aber unvermittelt und ohne erkennbare Motivation erfolgt. Ein eigenes Interesse an der Darstellung Jesu oder der Christen hegte der jüdische Historiograph nicht. Die στάσις (Aufstand) aus ant. Iud. 18,62 wird in ant. Iud. 18,65 zudem auch über das Verb θορυβέω (Aufruhr erregen) aufgenommen, das sich hier auf die Unruhe bezieht, die im Zusammenhang mit dem Aufenthaltsverbot unter Tiberius entstand. In ant. Iud. 18,62 gilt die Aufmerksamkeit dagegen jenen θορυβοῦντας (Aufruhr Erregenden), die den Konflikt mit den Soldaten des Pilatus durch Schmähungen zusätzlich anheizten.24 Die Reihe von insgesamt vier Aufruhren (θόρυβοι)25 wird durch die Interpolation über Jesus folglich gestört.26 Josephus erlaubte sich fraglos mancherlei Abschweifung. Da die übrigen Begebenheiten im Zusammenhang mit Pontius Pilatus, dem Präfekten Judäas, stehen, bilden in der Auflistung verschiedener Unruhen zur Zeit des Tiberius allerdings bereits die Ereignisse in Rom einen Einschub,27 der mit der Wendung „etwa zu denselben Zeiten“28 kaschiert wird. Ursprünglich schloss der 20 Vgl. Ios. ant. Iud. 18,55–62. 21 Vgl. Ios. ant. Iud. 18,60–62.65; „etwas anderes Schreckliches“ (ἕτερόν τι δεινόν; Ios. ant. Iud. 18,65) bezieht sich auf „viele von ihnen kamen dadurch um, andere aber gingen als Verwundete weg“ (πολλοὶ μὲν αὐτῶν ταύτῃ καὶ ἀπέθνησκον, οἱ δὲ καὶ τραυματίαι ἀνεχώρησαν; Ios. ant. Iud. 18,62); vgl. dazu „er ordnete an, wegzugehen“ (ἐκέλευσεν ἀναχωρεῖν; Ios. ant. Iud. 18,61). 22 Vgl. exemplarisch Eus. HE 3,5,2–4. 23 Vgl. dagegen etwa Theißen/Merz 2011, S. 80. 24 Vgl. Ios. ant. Iud. 18,60 f. 25 Vgl. Ios. ant. Iud. 18,58.62.65.85.88. 26 Die Spannungen im Text sind detailliert von Norden 1913, S. 640–645, dargestellt worden, der für die enge Verbindung von στάσις (Aufstand) und δεινός (schrecklich) auf Ios. ant. Iud. 4,59 und ant. Iud. 5,135 verwies (vgl. auch Ios. ant. Iud. 1,164; 6,13; 19,184; Ios. vita 100). Der Hinweis auf den gestörten Zusammenhang fand sich offenbar schon bei einem Rabbi Lusitanus, dessen Argumentation Müller 1644, S. 1103, zum Zweck der Widerlegung referierte. Vgl. dazu Eisler 1929–1930, Bd. 1, S. 20–24. 27 Norden 1913, S. 641 f., hat zu Recht vermerkt, dass das Schema der vier Aufruhre (θόρυβοι) die anachronistische Einbindung der Vertreibung aus Rom in den Bericht über Pilatus’ Amtszeit begründet. Der Einschub wird entsprechend vermittelt. Die Abschweifung in Ios. ant. Iud. 18,63 erfolgt dagegen unvermittelt und ist daher anders gelagert als etwa jene in Ios. ant. Iud. 16,325, die Teil der Thronfolgeerzählung ist. In Ios. ant. Iud. 18,85 knüpfen τὸ Σαμαρέων ἔθνος („das Volk der Samaritaner“) und dessen ἀνήρ (Mann) an ἀνὴρ Ἰουδαῖος („ein jüdischer Mann“) in Ios. ant. Iud. 18,81 an. 28 Ios. ant. Iud. 18,65: ὑπὸ τοὺς αὐτοὺς χρόνους. Der Ausdruck κατὰ τοῦτον τὸν χρόνον („zu dieser Zeit“; Ios. ant. Iud. 18,63) drückt dagegen vorrangig Gleichzeitigkeit im unmittelbaren Kontext aus (vgl. Ios. ant. Iud. 13,46; 17,19; 18,80) und nicht die zeitliche Parallelisierung unter-

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Text aus ant. Iud. 18,65 daher unmittelbar an jenen in ant. Iud. 18,62 an. Für Ausführungen über Jesus boten die vier zu einer Reihe gefügten θόρυβοι keinen Platz.29 Im Bericht über die Hinrichtung des Herrenbruders Jakobus setzte Josephus allerdings eine vorherige Erwähnung „Jesu, des Christus genannten,“30 voraus. Mit Blick auf das Zeugnis des Orosius liegt daher die Annahme nahe, dass der jüdische Historiograph den Nazarener dort vorstellte, wo er auf die Christen zu sprechen kam, nämlich in Auseinandersetzung mit den Vorfällen, die zum zweiten Judenedikt des Claudius führten und in die Christen involviert gewesen sein dürften. Josephus erwähnte Jesus folglich in dem Zusammenhang, in dem er für die Geschichte des jüdischen Volkes erstmalig relevant wurde, nämlich bei der Vertreibung der Juden aus Rom aufgrund der Agitation der Christen. Innerhalb des 20. Buches war der schlichte Rückverweis Jesus auch leichter handhabbar als bei einer Vorstellung Jesu im 18. Buch. Vermutlich vermerkte Josephus die Vertreibung der Juden aus Rom im Anschluss an die Erbfolgeregelung nach dem Tod des Herodes von Chalkis, mit der er auf eine Entscheidung des Kaisers zu sprechen kam.31 Da in diesem Zusammenhang vom achten Regierungsjahr die Rede ist, führte auch eine unkonkrete Zeitangabe im weiteren Verlauf der Darstellung zum von Orosius erwähnten neunten Jahr.32 Im Anschluss an die Notiz über die von Claudius unternommene Neuordnung fährt der erhaltene Text wie folgt fort: „Als aber in der Stadt der Jerusalemer ein Aufstand losbrach, während Cumanus die Angelegenheiten für die Iudaea besorgte, wurden

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schiedlicher Ereignisse. Das gilt zwar nicht in gleicher Weise für Ios. ant. Iud. 18,39, dort wird aber nicht ein enger Zusammenhang unterbrochen. Einen analogen Fall bietet in gewisser Weise Ios. ant. Iud. 13,171, wo die Abschweifung jedoch durch den Hinweis auf Gottes Vorsehung (προνοίᾳ θεοῦ) in ant. Iud. 13,163 motiviert ist. Vgl. dagegen Eisler 1929–1930, Bd. 1, S. 30 f., der einen Text mit Verweis auf einen durch Jesus bzw. die Christen verursachten θόρυβος rekonstruiert. Ios. ant. Iud. 20,200: Ἰησοῦ τοῦ λεγομένου Χριστοῦ. Vgl. auch etwa Eisler 1929–1930, Bd. 1, S. 33–37. Vgl. Ios. ant. Iud. 20,104. Da die Darstellung zum Jahr 41 n. Chr. in Tacitus’ Annales verloren ist und auf der anderen Seite Cassius Dios Schilderungen des Jahres 49 n. Chr. nur in Epitomen erhalten geblieben sind, hat der Umstand, dass Tacitus die Vertreibung unter Claudius überging, bisweilen – zumal angesichts eines vermeintlichen Schweigens des Josephus – dazu geführt, beide Notizen auf ein Ereignis zurückzuführen; vgl. etwa Lüdemann 1980–1983, Bd. 1, S. 85–195, sowie Lüdemann 1991, S. 292 f. Das Fehlen eines Hinweises bei Tacitus ist allerdings nicht mehr als ein argumentum e silentio. Eigentümlich genug ist, dass Tacitus die Vereinigung des Herrschaftsgebietes von Agrippa I. mit der Provinz Syria unter dem Konsulat des C. Pompeius und des Q. Veranius im Jahr 49 n. Chr. anführt; vgl. Tac. ann. 12,23,1. Möglicherweise liegt der Einordnung eine Verwechselung von Agrippa I. und dessen 48 n. Chr. verstorbenem Bruders Herodes von Chalkis zugrunde. Vielleicht verdankt sich die Einbindung Agrippas an dieser Stelle aber auch schlicht dem Tod des Sohaemus. Die Erwähnung des 44 n. Chr. verstorbenen jüdischen Klientelkönigs könnte jedenfalls dazu geführt haben, dass Informationen zur Vertreibung der Juden, die zeitlich in Spannung zu dessen Regentschaft standen, entfallen sind, insbesondere dann, wenn die Quellen das Aufenthaltsverbot in Beziehung zum zeitlich vorausgegangenen Ableben des dem Kaiser vertrauten Agrippa gesetzt hatten.

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bei diesem viele der Juden umgebracht.“33 Sofern der Darstellung eine Schilderung der Vertreibung aus Rom vorausging, lenkte der Text mit adversativem δέ (aber) den Blick von Rom nach Jerusalem zurück, weshalb vermutlich auch die Vorgänge bei der Vertreibung der Juden als στάσις (Aufstand) gekennzeichnet waren. Im Gegensatz zu dem Aufruhr in Rom hatte derjenige in Jerusalem um den Tempel herum jedoch nicht nur ein Aufenthaltsverbot, sondern für viele den Tod zur Folge. Die Verbindung über die jeweilige στάσις dürfte die durch einen Redaktor veranlasste Einbindung der Christus-Notiz im Anschluss an Ios. ant. Iud. 18,62 begünstigt haben, zumal sich dort der Bericht über das frühere, von Tiberius verhängte Aufenthaltsverbot für Juden anschloss. Josephus selbst beurteilte die Rolle der Christen vermutlich kritisch. Diese Kritik klingt vielleicht noch in Orosius’ Distanz gegenüber dem jüdischen Historiographen nach, den der Christ zwar für die Datierung des Ediktes heranzog, dann aber sogleich fallen ließ, um sich an der äußerst kurzen Notiz Suetons zu orientieren. Diesem Zeugnis sei – möglicherweise im Gegensatz zu dem zuvor angeführten – nicht zu entnehmen, ob neben den Juden, die seiner Interpretation des inpulsore Christo zufolge gegen Christus Front machten, auch die Christen als Anhänger einer verwandten religio vertrieben wurden.34 Dabei machte Orosius sich die Beobachtung zunutze, dass Sueton in Übereinstimmung mit seiner Quelle Juden und Christen an dieser Stelle nicht unterschied und nur von Juden sprach.35 Mit der Notiz über die Vertriebenen verband Orosius indirekt die Schuldfrage. Indem er offenließ, ob auch Christen von dem Edikt betroffen waren, nährte er den Zweifel daran, dass neben den vermeintlich rebellierenden Juden auch die Christen zur Eskalation beitrugen. Das dürfte aber gerade der Tenor bei Josephus gewesen sein, der vielleicht nicht ausschloss, dass Juden gegen Christen opponierten, aber vermutlich zugleich kenntlich machte, dass die Unruhen auf eine Initiative von Christen zurückgingen, die folglich einen Teil, wenn nicht einen Großteil der Vertreibung zu verantworten hatten. Dieser Text wurde aus dem Œuvre getilgt,36 als das Testimonium Flavianum interpoliert wurde. Im Zusammenhang mit dem Edikt dürfte Josephus auch grundlegende Informationen über den sogenannten Christus geboten haben. Nach der Tilgung der unrühmlichen Einlassung über die Christen war eine Erwähnung Jesu im Kontext der claudischen Regentschaft angesichts der fehlenden Bezugnahme auf die Chris33 Ios. ant. Iud. 20,105: Στάσεως δ᾽ ἐμπεσούσης τῇ τῶν Ἱεροσολυμιτῶν πόλει Κουμανοῦ τὰ κατὰ τὴν Ἰουδαίαν πράγματα διοικοῦντος ἐφθάρησαν ὑπὸ ταύτης πολλοὶ τῶν Ἰουδαίων. 34 Vgl. Oros. 7,6,15 f. 35 Vgl. Suet. Claud. 25,4. 36 So schon Eisler 1929–1930, Bd. 1, S. 132–134, der allerdings einen Bericht über eine historische Figur voraussetzte, die als endzeitlicher Pseudochristus die christliche Gemeinde aufgewiegelt habe. Dezidiert äußert sich Riesner 1994, S. 161 Anm. 149, zu diesen Überlegungen, wenn auch ohne Angabe von Ausschlussgründen: „Unhaltbar ist die Annahme von R. Eisler […], eine entsprechende Bemerkung in Jos, Bell II oder Jos, Ant XX sei christlicher Zensur zum Opfer gefallen.“ Vgl. auch etwa Slingerland 1992–1993, S. 136–142, der die Datierung für eine Erfindung des Orosius hält. Zur Debatte über die Grundlage der bei Orosius angeführten Datierung vgl. Riesner 1994, S. 159–166.

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ten Roms schwer möglich, weshalb die christliche Redaktion die Informationen über Jesus mit den Ereignissen zur Zeit des Pilatus verband. Die Ausführungen des jüdischen Historiographen über den Nazarener können sich zwar in Versatzstücken im Testimonium Flavianum erhalten haben, allerdings dürfte im Zuge der Interpolation wenig vom ursprünglichen Text übernommen worden sein. Wenn Josephus auf die Jesusanhänger als „Christen“ zu sprechen kam und Jesus selbst nur in diesem Zusammenhang erwähnte, dürfte er insbesondere die Ableitung der Gruppenbezeichnung vom Titel „Christus“ thematisiert haben, sodass er in ant. Iud. 20,200 auf diesen Titel zurückkommen konnte.37 Daher wird das auf den Zweig der Christen bezogene ἀπὸ τοῦδε ὠνομασμένον38 auf einen Anknüpfungspunkt im ursprünglichen Text zurückgehen. Josephus dürfte darüber hinaus die Kreuzigung, mit der er vielleicht auch an die Kreuzigung in Ios. ant. Iud. 20,102 anknüpfte, in Verbindung mit dem Fortbestehen der Gruppierung über das schmähliche Ende ihres Gründers hinaus erwähnt haben, weshalb die Formulierung „obschon ihn Pilatus […] für das Kreuz bestimmte, hörten die ihn zuerst Liebenden nicht auf “39 dem Ausgangstext nahekommen könnte. Die „Liebenden“ müssen sich nicht christlicher Diktion verdanken.40 Ursprünglich könnte οὐκ ἐπαύσαντο („sie hörten nicht auf “) in Ios. ant. Iud. 18,64 mit einem Objekt verbunden gewesen sein, das die vehemente Bereitschaft der Jesusanhänger umschrieb, ihre Positionen zu vertreten. Denkbar ist aber auch, dass in Verbindung mit οἱ τὸ πρῶτον ἀγαπήσαντες („die ihn zuerst Liebenden“) an gleicher Stelle eine unbeirrbare Sturheit trotz des offensichtlichen Scheiterns der Bewegung zum Ausdruck gebracht wurde,41 eine Haltung, die Josephus zufolge mittelbar zum Konflikt mit der jüdischen Gemeinde Roms und zu deren Ausweisung führte. Im Ergebnis ist festzuhalten, dass Claudius ein Edikt zum Aufenthaltsverbot der Juden erließ und die Datierung dieses Ediktes, die Orosius angibt, auf Josephus zurückgehen dürfte, der vermutlich auch den Christen eine Verantwortung für die Ereignisse zuwies.42 37 Vermutlich stellte Josephus im Kontext der claudischen Vertreibung ausdrücklich klar, dass die Bezeichnung Jesu als „Christus“, also als Messias, verfehlt sei. Einen Anhaltspunkt dafür bietet das Zeugnis des Origenes; vgl. Orig. c. Cels. 1,47; Orig. in Mt. comm. 10 c. 17 (463). 38 Ios. ant. Iud. 18,64: „der nach diesem benannt wird“. 39 Ios. ant. Iud. 18,64: αὐτὸν […] σταυρῷ ἐπιτετιμηκότος Πιλάτου οὐκ ἐπαύσαντο οἱ τὸ πρῶτον ἀγαπήσαντες. 40 Vgl. nur Ios. vita 24: οἱ τὸν πόλεμον ἀγαπήσαντες („die den Krieg Liebenden“). 41 In beiden Fällen könnte das οὐκ ἐπαύσαντο („sie hörten nicht auf “) oder ein vergleichbarer Ausdruck in Verbindung mit dem Verweis auf den angeblichen Christus mittelbar mit Suetons assidue tumultuantis (Suet. Claud. 25,4) in Verbindung stehen, insbesondere dann, wenn Josephus auch im Zusammenhang mit der Vertreibung unter Claudius das Verb θορυβέω („Aufruhr erregen“) verwandte. Aber auch für die Informationen über die Christen und Christus in Tac. ann. 15,44,3, die Tacitus durch das Übergehen des Claudius-Ediktes leichter mit den Prozessen unter Nero verbinden konnte, hätte eine solche Schilderung des Josephus die Grundlage bieten können. 42 Da sich Eusebius auf einen Text der Antiquitates Iudaicae stützte, der das Testimonium Flavianum bereits inkludierte, ist plausibel, dass er seine Angaben zur Vertreibung (Eus. HE 2,18,9) offenbar ausschließlich aus der Apostelgeschichte gewann.

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2. Die Rezeption des Bacchanalien-Skandals Die Quellenlage zum Bacchanalien-Skandal ist deutlich besser als jene zum zweiten claudischen Judenedikt und lässt dennoch viele Fragen offen. Wir besitzen bekanntlich nicht nur eine umfassende Darstellung des Livius,43 sondern auch die TirioloInschrift,44 die mit einem Abschnitt der Schilderung im 39. Buch von Ab urbe condita45 inhaltlich kongruent ist und folglich einen Abgleich des historiographischen Zeugnisses mit dem Inschriftenbefund für dieses Element des Berichteten erlaubt. „Auf den ersten Blick liegt eine ungewöhnlich gute Quellenlage vor. Doch der Anschein trügt.“46 Längst ist vermerkt worden, dass Ab urbe condita kein historisches Gesamtbild der Ereignisse bietet. Mit Blick auf die Begebenheiten im 2. Jahrhundert v. Chr. müssen besondere Vorbehalte an eingefügte Reden oder Figurendialoge herangetragen werden, also jene Abschnitte, in denen Livius mit den Freiheiten des Historiographen die Befragungen durch den Konsul Sp. Postumius Albinus, die in Ab urbe condita federführende Figur auf Seiten des Senats, und die Ansprache eines Konsuls vor der contio skizzierte, Abschnitte, die für die vorliegende Fragestellung von besonderem Interesse sind. Aber auch davon abgesehen bildet die Darstellung nicht nur die Zeit der Republik ab.47 Bei aller Skandalisierung der Vorgänge sowie der damit verbundenen Auflistung der zu beklagenden Verbrechen und trotz der romanesken Beschreibung der Liaison von P. Aebutius und der Freigelassenen Hispala Faecenia48 dürfte Livius vielleicht weniger das grundsätzliche Problem, aber doch die zu dessen Bekämpfung ergriffenen Maßnahmen sowie die wesentlichen Abläufe im Kern zutreffend wiedergegeben haben. Die Aufarbeitung des republikanischen Skandals49 ist hier allerdings insofern von untergeordneter Bedeutung, als die frühe Kaiserzeit im Blickpunkt steht, weshalb nicht so sehr der Eklat in der Zeit der Republik selbst interessiert, sondern vor allem der Skandal, den Literaten, allen voran Livius, daraus mach43 Vgl. Liv. 39,8,1–19,7, außerdem Liv. 39,41,6 f.; 40,19,9 f. 44 Kunsthistorisches Museum Wien, Antikensammlung III 168 (CIL I2 581 = ILLRP2 511). Livius spricht von einem Senatsbeschluss (vgl. Liv. 39,18,8). Die seit langem diskutierte Frage, ob und inwieweit die Tiriolo-Inschrift ein senatus consultum de Bacchanalibus wiedergibt, muss hier nicht verhandelt werden. Vgl. nur etwa Fraenkel 1932; Krause 1936; Dihle 1962. Unlängst hat sich Perri [2015], S. 77–107, erneut mit der Frage auseinandergesetzt. 45 Vgl. Liv. 39,18,7–9. 46 Nippel 1997, S. 65. 47 Cumont 1975, S. 195–196, mahnte zur Zurückhaltung angesichts „des Mißtrauens, das die romanhafte Erzählung des Livius erweckt“. Vgl. auch die Einschränkungen in Münzer 1953, Sp. 922, sowie etwa Cova 1974; Gruen 1990, S. 61–65; Cancik-Lindemaier 1996, S. 86–94; Kowalewski 2002, S. 252–282; Šterbenc Erker 2013, S. 231–244. Perri [2015], S. 198–267, lässt kaum noch Raum für die historische Rückfrage. 48 Vgl. dazu Kowalewski 2002, S. 257–263, 281 f. 49 Vgl. dazu die umfassende Analyse von Pailler 1988, der auch einen Überblick über die Forschung bis zur Edition bietet; vgl. Pailler 1988, S. 61–122. Zur jüngeren Debatte vgl. etwa Perri [2015].

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ten. Damit sollen die Vorgänge im 2. Jahrhundert v. Chr. nicht relativiert werden, aber die Wirkungsgeschichte der Begebenheiten wird nicht nur durch diese selbst, sondern eben auch durch die je früheren Rezeptionen bestimmt. Von Relevanz ist daher auch der Bacchanalien-Skandal, den Livius unter den Voraussetzungen seiner eigenen Zeit aus den Vorgaben machte. 2.1 Der Bacchanalien-Skandal als Vertrauenskrise Liest man die betreffende Passage in Ab urbe condita unter Absehung von den historischen Ereignissen in republikanischer Zeit, fällt zunächst auf, dass Livius sich auf ein Vabanquespiel einließ. Denn er beschrieb die Gefährdung des Gemeinwesens durch die Machenschaften der pervertierten Bacchanalien derart, dass man den Eindruck gewinnen konnte, der Staat habe 186 v. Chr. am Rande des Abgrundes gestanden und wäre von den Umtrieben beinahe in die Tiefen eines moralischen Sumpfes voll Verkommenheit gerissen worden.50 Vermittelt wird dieser Eindruck zuvorderst durch die Rede des vor der contio sprechenden Konsuls, die einerseits ein Schreckensszenario entwirft, andererseits aber deutlich macht, dass die Regierung der coniuratio, die Livius zufolge wie eine Krankheit um sich griff,51 noch Herr werden könne, wenn ihr das nötige Vertrauen bei der Durchsetzung der gebotenen Gegenmaßnahmen entgegengebracht werde. Würde man dem anfänglich noch beherrschbaren Gegner nicht Einhalt gebieten, könne dieser dagegen bald den Staat unterminieren.52 Die mit Nachdruck behauptete Gefährdung des Staatswesens gipfelt in der Aussage, von dem zuvor nie da gewesenen Übel habe jedes Verbrechen der vergangenen Jahre seinen Ausgang genommen. Bisher seien die Machenschaften nur deswegen allein gegen Privatpersonen gerichtet gewesen, weil dem Gegner noch die Möglichkeiten fehlten, um den Staat zu vernichten, wenngleich er, stetig im Wachsen begriffen, bereits auf das Gemeinwesen auszugreifen drohe.53 Die Bacchanalien schienen folglich auf dem besten Wege zu sein, gleichsam einen Staat im Staate zu begründen. Die rhetorische Strategie wird schon eingangs der Rede erkennbar. Zu beklagen sei, so die Warnung, dass die Anhängerschaft bereits mehrere tausend Mitglieder umfasse. Dabei handele es sich allerdings vorwiegend um Frauen, daneben um feminine Männer. Mit der Konkretisierung unterstreicht Livius’ Konsul die noch eingeschränkte Schlagkraft der Gruppe, um anschließend sogleich anzufügen, dass diese zwar noch keine größere Macht ausübe, aber stetig an Einfluss gewinne, weil sie Tag um Tag zunehme.54 Angesichts der von den Bacchantinnen und Bacchanten 50 Vgl. auch Cancik-Lindemaier 1996, S. 90–93. 51 Vgl. Liv. 39,9,1 sowie 40,19,9 f. 52 Ob im Hintergrund Verschwörungen konkreter Einzelpersonen gegen Augustus stehen (vgl. Suet. Aug. 19,1 f.), wie Šterbenc Erker 2013, S. 237 f., meint, darf hier offengelassen werden. 53 Vgl. Liv. 39,16,2 f. 54 Vgl. Liv. 39,15,8–10.

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verstärkt umworbenen Jugend stelle sich zudem die Frage, was es bedeuten könne, wenn die Armee von solchen Rekruten unterwandert würde.55 Der Konsul zeichnet die Chimäre einer Militärmacht, die künftig gleichsam von durch Perversion und Gewalttat deformierten Soldaten bedroht sein könnte. Der Staat hätte demnach in der Gefahr gestanden, die Kontrolle über das Gemeinwesen zu verlieren.56 Die Schilderung der Lage fußt auf den Angaben der Hispala Faecenia, die in Livius’ Inszenierung des Verhörs nicht nur darauf hinwies, dass man niemanden von mehr als zwanzig Jahren zur Einweihung zuließ, sondern auch erklärte, dass es sich um eine gewaltige Menge, ja geradezu ein zweites Volk handele, unter dem sich auch Mitglieder der Nobilität fänden.57 An diese Qualifizierung knüpft die Behauptung an, im Senat habe man sich nicht nur um das Wohlergehen des Staates gesorgt, sondern auch darum, dass eigene Angehörige betroffen sein könnten. Man beschloss gegen die Bacchanalien vorzugehen.58 Als der Konsul vor die contio tritt, muss er diesen Beschluss rechtfertigen. Im Erzählverlauf wird das Szenario eines immensen Gefährdungspotentials notwendig, weil der Staat plant, eine religio zu beseitigen, und das eine Verunsicherung der Bevölkerung nach sich ziehen kann. Es geht darum, das im Kult grundsätzlich den Göttern entgegengebrachte Vertrauen auf den Staat in seinem Vorgehen gegen eine religio zu übertragen. Livius’ Konsul erschüttert gewissermaßen das Vertrauen in eine dauerhafte Wehrhaftigkeit des Gemeinwesens, um das Vertrauen in ein handlungsfähige und mit entsprechenden Kompetenzen ausgestattete Regierung zu stärken. Unter dem Stichwort fides wurde das Problem von Livius im Kontext des Verhöres verhandelt, und zwar zunächst mit Blick auf formale vertrauensbildende Maßnahmen. Die Freigelassene verlangte ihrem Geliebten die fides ab, dass er sich von diesen Weihen fernhalte.59 Sie selbst wird aufgefordert, die fides von Sulpicia, der Schwiegermutter des Konsuls, in deren Haus sie zu Gast ist, oder vom Konsul selbst anzunehmen, um sicherzugehen, dass sie nichts zu befürchten habe, sofern sie nur die Wahrheit sage.60 Nach ihrem Bekenntnis, dass sie einst eingeweiht worden sei, solle sie et cetera eadem fide61 entfalten. Der Ausdruck beschreibt hier vielleicht weniger die wahrheitsgemäße Aussage als das Zutrauen, dass Hispala fassen muss, um überhaupt über die Vorfälle berichten zu können. Das Werben des Konsuls um Vertrauen kommt jedenfalls auch in dem Zuspruch, „guten Mutes“62 zu berichten, zum Ausdruck. Die Freigelassene darf zuversichtlich sein, künftig in Rom in Sicherheit leben zu können. Erst auf diese Zusicherung hin beginnt sie, von den geheimen Weihen zu erzählen. Hispala wird folglich aufgefordert, ihr Vertrauen in die Vertreter des Staates zu setzen, statt auf einen Kult zu bauen, der die Götter diskreditiert und 55 56 57 58 59 60 61 62

Vgl. Liv. 39,15,13 f.; dazu auch Liv. 39,10,6; 39,13,14. Vgl. auch etwa Šterbenc Erker 2013, S. 237. Vgl. Liv. 39,13,14. Vgl. Liv. 39,14,4–8. Vgl. Liv. 39,10,9. Vgl. Liv. 39,12,4. Liv. 39,12,7. Liv. 39,13,7: bono animo; vgl. auch Liv. 39,13,3.

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sie nicht etwa für sich einnimmt. Das Ergebnis gibt der verängstigten Freigelassenen Recht: Ab dem Moment, in dem sie sich dem Konsul anvertraut, nehmen die Dinge ihren Lauf zum Besten des Gemeinwesens und ihrer selbst. Der dafür zu entrichtende Preis ist ein vermeintliches Sakrileg. Denn Hispala erbat angeblich schon zuvor Beistand und Nachsicht von den Göttern, weil sie die Arkandisziplin um der Liebe willen verletzte.63 Genährt wurden solche Skrupel, so der Bericht, von den Mitgliedern der Gemeinschaft selbst, die im Fall des P. Aebutius in Person der Anverwandten nicht nur den Respekt gegenüber den Eltern, sondern auch gegenüber den Göttern einforderten, um die Verpflichtung zur Einweihung zu begründen.64 Die Pervertierung der Bacchanalien erfolgte angeblich wie auf göttliche Anordnung.65 Die Furcht vor einer Zuwiderhandlung gegen den Willen einer Gottheit prägt daher auch die Rede des Konsuls,66 der konstatiert, die Zerstörung der Kultstätten erfolge mit „Beipflichtungen und Zustimmungen von den Göttern“67. Das dient auch dem Zweck, die Sorge zu zerstreuen, ein Vorgehen gegen die Gottheit werde üble Konsequenzen nach sich ziehen. Livius verhandelte die Bacchanalien vor einem literarischen Hintergrund, der von Euripides in den Bakchen entfaltet worden war und etwa von Ovid in den Metamorphosen68 koloriert werden sollte: Wer sich wie Pentheus gegen den fremden Gott auflehnte, musste mit Konsequenzen rechnen. Der Konsul in Ab urbe condita vermeidet es, Dionysos überhaupt beim Namen zu nennen. Stattdessen macht er geltend, dass die Götter selbst die Umtriebe ans Licht gebracht hätten, weil sie ihr numen besudelt sahen.69 Angesprochen sind jedoch numen und Eingreifen der römischen Götter, nicht etwa der in den Bacchanalien angerufenen Gottheiten. An den Beginn seiner Rede rückt der Konsul nämlich die Feststellung, dass es überhaupt nur die Götter gebe, deren Verehrung nach den Anordnungen der maiores geboten sei, nicht aber solche, die in verkehrten und auswärtigen Kulten verehrt würden, mit einem Geheul, das irrtümlich für eine Verehrung der Götter angesehen werde.70 Gottheit und religio sind hier kaum voneinander zu trennen. Die referierten Bestimmungen des Senats lassen dagegen erkennen, dass sich die Restriktionen ursprünglich offenbar gegen spezifische Gruppen richteten, die eine nicht geduldete religio praktizierten, nicht aber gegen die Götter selbst.71 Das zeigt auch die in der Tiriolo-Inschrift dokumentierte Ausnahme „außer, wenn dort

63 64 65 66 67 68

Vgl. Liv. 39,10,5; vgl. auch 39,11,7. Vgl. Liv. 39,11,2. Vgl. Liv. 39,13,9. Vgl. Liv. 39,16,7–11. Liv. 39,16,11: dis propitiis uolentibusque. Vgl. Ov. met. 3,513–733. Zur Neuheit des Kultes respektive des vermeintlich kraftlosen Gottes vgl. Ov. met. 3,520.559 f.581.732. 69 Vgl. Liv. 39,16,11. 70 Vgl. Liv. 39,15,3.6 f. 71 Vgl. Liv. 39,17,5–18,7.

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ein Heiligtum ist“72. Für den Konsul in Ab urbe condita gibt es dagegen ausschließlich die nach althergebrachtem Brauch verehrten Götter Roms; und diese heißen das rigide Vorgehen gegen den pervertierten Kult gut, weil so das Gemeinwesen geschützt wird. Wie fehlgeleitet die betriebene religio erschien, wird bei Livius schon daran ersichtlich, dass seine Hispala die Menschen zuletzt mehr als die Götter fürchtet und daher ihr Heil in einem Leben außerhalb Italiens erblickt. Doch nicht die Freigelassene soll Rom verlassen.73 Die Lösung des Dilemmas, das Hispala quält, besteht in der Zurückdrängung der Bacchanalien. Die Maßnahmen in der Repu­ blik betrafen wohl nur „den unmittelbaren Herrschaftsbereich Roms“74. Bei Livius gilt es jedoch, ganz Italien von einer solchen religio freizuhalten. Es geht um die Kontrolle von Stadt und Land. In der Rede des Konsuls rückt folglich die Einschränkung der Versammlungsfreiheit als erforderliche Maßnahme neben das Aufenthaltsverbot. Deutlich vernehmbar wird die Zurückweisung der fehlgeleiteten religiösen Praxis:75 „Nichts hat nämlich einen so trügerischen Schein wie der falsche Kult.“76 Der Konsul zerstreut die Sorge, gegen Gottheiten vorzugehen, wo man nur Verbrechen der Menschen verfolge, mit dem Hinweis auf die Zeit der Väter, in der „externe Rituale“77 wiederholt verboten worden seien. Ausdrücklich erinnert er daran, dass man „Opferpriester und Weissager“78 von Forum, Circus und Stadt fernhielt und „jede Einrichtung für das Opfern außer der römischen Sitte“ abzuschaffen suchte.79 Mindestens die Generalisierung dürfte anachronistisch sein, weil erst das Vorgehen gegen die Bacchanalien für die Folgezeit beispielhaft wurde. Die propagierte Lösung bestand jedoch in der Ausweisung der auswärtigen religio aus Rom. Als „Opferpriester und Weissager“80 hatte Livius nämlich zuvor jenen Griechen einfacher Abstammung bezeichnet, auf den er die Anfänge der Mysterien in Etrurien zurückführte. Der Kult war demnach wegen seiner Fremdheit von Beginn an fragwürdig, im Gegensatz zu anderen Errungenschaften Griechenlands. Problematisiert werden zwar auch die schon von Cicero angeprangerten geheimen Feiern während der Nacht, weil auf diesem Nährboden Ausschweifungen und Verbrechen gedeihen konnten. Abzulehnen war der Kult nach Livius aber nicht nur deswegen. Denn auch die alternative Möglichkeit einer 72 Kunsthistorisches Museum Wien, Antikensammlung III 168 (CIL I2 581), Z. 28: EXTRAD QUAM SEI IBEI QUID SACRI EST. Darauf beziehen sich die zu Beginn der Verfügung angesprochene Notwendigkeit eines Bacchanals (Z. 4) und die im Anschluss für diese Ausnahme getroffenen Regelungen. In Ab urbe condita findet sich stattdessen „außer, wenn dort ein alter Altar oder ein geweihtes Bildnis ist“ (extra quam si qua ibi uetusta ara aut signum consecratum esset; Liv. 39,18,7). 73 Vgl. Liv. 39,13,5–7. 74 Galsterer 1976, S. 169. 75 Vgl. dazu auch Šterbenc Erker 2013, S. 210–217. 76 Liv. 39,16,6: Nihil enim in speciem fallacius est quam praua religio. Vgl. Liv. 39,15,11; 39,16,7–9. 77 Liv. 39,16,8: sacra externa; vgl. auch Cancik-Lindemaier 1996, S. 90 f. 78 Liv. 39,16,8: sacrificulos uatesque. 79 Liv. 39,16,8: omnem disciplinam sacrificandi praeterquam more Romano. 80 Liv. 39,8,3: sacrificulus et uates.

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von außen eingeführten, aber in aller Öffentlichkeit praktizierten Kulthandlung „machte die Gemüter mit Irrtum vertraut“81. Diese Skepsis gegenüber auswärtigen Kulten spiegelt nicht nur das Interesse, nach dem bei der Abfassung des Werkes nicht lange zurückliegenden Bürgerkrieg das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des Staates zu untermauern, sondern auch eine augusteische Reserve gegenüber den Kulten des Ostens, die nicht zuletzt Ergebnis des Konfliktes mit Antonius und Kleopatra war.82 Dennoch adaptierte Livius mit seinem Bacchanalien-Skandal auch Vorstellungen, die bereits bei Cicero begegnen. 2.2 Das fehlende Vertrauen in die fremde religio In der Zeit der Republik stand vermutlich nicht ein Vorgehen gegen auswärtige Kulte im Vordergrund, der Kampf galt „geheimen Vereinigungen“83. Inwieweit damit die Sorge um die Sittlichkeit verbunden war, darf an dieser Stelle offenbleiben.84 Das Problem bestand mindestens vordergründig in geheimen Zusammenkünften. Dieses Moment wird auch in der Tiriolo-Inschrift greifbar, die sich gegen „Rituale im Verborgenen“85 wendet. Bei Livius wurde der Grieche, der die Mysterien in Etrurien einführte, entsprechend als „Vorsteher verborgener und nächtlicher Rituale“ gekennzeichnet.86 Die in dieser Diktion als Versammlungen während der Nacht kritisierten Feiern wurden in Ab urbe condita vom Senat als Indiz für verbrecherische Umtriebe gewertet.87 Was im Schutze der Dunkelheit vollzogen wurde oder vermeintlich vollzogen werden musste, war dubios. Als Bedrohung für den Staat wurde diese Fehl81 Liv. 39,8,4: animos errore imbueret. 82 Vgl. etwa Prop. 3,11,41–43; 4,6,1–68. In Vergils Aeneis obsiegt der augusteische Apollo bekanntlich über Ägyptens Götter; vgl. Verg. Aen. 8,671–719. Sueton schrieb Augustus hinsichtlich der auswärtigen Kulte eine ambivalente Haltung zu, die althergebrachten habe er in Ehren gehalten, die anderen, für welche die angeführten Beispiele allerdings wenig aussagekräftig sind, verachtet (Suet. Aug. 93). Vgl. außerdem die differenzierten Angaben bei Cass. Dio 51,16,5; 53,2,4. Das Verbot der ägyptischen Kulte innerhalb des pomerium (Val. Max. 1,3,5; Cass. Dio 53,2,4; 54,6,6) belegt allein noch keine besonders feindliche Einstellung des Kaisers, zumal man schon in der Republik gegen ägyptische Gottheiten vorging (vgl. nur Cass. Dio. 40,47,3; 42,26,2), wohl aber eine Differenzierung; vgl. dazu Orlin 2008. Vorbehalte gegen die Kulte des Ostens wurden weniger durch den Kaiser selbst bzw. konkrete politische Maßnahmen als durch Propaganda und Panegyrik genährt, die allerdings durch die Protektion römischer Götter forciert wurden. 83 Liv. 39,8,3: clandestinis coniurationibus. 84 Pfiffig 1975, S. 294, schrieb zu den tatsächlichen Ursachen: „Daß aber nicht religiöse Beweggründe den Ausschlag gaben, und daß man keineswegs darauf ausging, den Kult als solchen und vor allem wegen der angeblichen sittlichen Ausschweifungen zu verbieten […], ergibt sich aus der Aufnahme einer Gewissensklausel in das Senatus consultum de Bacchanlibus.“ Pointierter noch urteilt Takács 2000, S. 303: „The Senate’s refusal had nothing to do with religious or moral scruples despite Livy’s insistence.“ 85 Kunsthistorisches Museum Wien, Antikensammlung III 168 (CIL I2 581), Z. 15: SACRA IN OQUOLTOD (CIL I2 581 liest DQUOLTOD). 86 Liv. 39,8,4: occultorum et nocturnorum antistes sacrorum. 87 Vgl. Liv. 39,14,4.

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steuerung von Livius daher auch dort beschrieben, wo er den Konsul im Rahmen der am Tage abgehaltenen contio vor einer analogen nächtlichen contio warnen ließ, die bald schon die Kontrolle übernehmen könnte.88 Zu den drei verderblichen Änderungen, die dem Bericht der Hispala zufolge an den ihr bekannten Mysterien Roms von der Priesterin Paculla Annia vorgenommen wurden, gehörte neben der Verlegung der Feiern vom Tag auf die Nacht die Zulassung von Männern und die weitaus häufigere Durchführung der Bacchanalien, bei denen dadurch nicht mehr der sakrale Vollzug, sondern das eigene Interesse an fragwürdigen oder gar verbrecherischen Vergnügungen im Vordergrund zu stehen schien.89 Wo Männer und Frauen nachts zusammentrafen, durfte man nichts Gutes erwarten.90 Bereits in der Tiriolo-Inschrift finden sich Vorgaben, die neben der Gruppengröße das Miteinander von Männern und Frauen und deren Kompetenzen regulieren, allerdings ohne dass Wertungen vorgenommen oder sittliche Verfehlungen benannt würden.91 Für Livius war die Unzucht mit Freigeborenen und Frauen der Anfang allen Übels, der Ausgangspunkt von weiteren, schwerwiegenderen Verbrechen.92 Aber schon Cicero rückte in De legibus dort, wo er im zweiten Buch auf den Bacchanalien-­ Skandal zu sprechen kam, die Sorge um die Sittlichkeit in den Vordergrund. Vergleichbares galt nach Ausweis von Tertullian und Augustinus auch für Varro.93 Von staatszersetzenden Tendenzen ist noch nichts zu lesen, wohl aber von der Skepsis gegenüber geheimen Zusammenkünften während der Nacht. Cicero erwähnt den Vorfall in Auseinandersetzung mit einem Gesetzesentwurf, der nächtliche Kultfeiern von Frauen unterbinden soll, sofern diese nicht „ordnungsgemäß für das Volk“ (pro populo rite94) durchgeführt werden. Ausdrücklich heißt es sodann, dass man sich nicht einweihen lassen solle,95 abgesehen von der althergebrachten 88 Vgl. Liv. 39,16,4. Auf eine in der Declamatio in Lucium Sergium Catilinam 19 (65 f.) für das Zwölftafelgesetz vorausgesetzte Bestimmung rekurrieren weder Cicero noch Livius. Vgl. auch Dig. 47,22,4. 89 Vgl. Liv. 39,13,8 f. 90 Vgl. Liv. 39,15,12. 91 Vgl. Kunsthistorisches Museum Wien, Antikensammlung III 168 (CIL I2 581), Z. 7–12, 19–22. 92 Vgl. Liv. 39,8,7. In der Tiriolo-Inschrift könnten diese allenfalls im Eidverbot einen Anhaltspunkt haben; vgl. Kunsthistorisches Museum Wien, Antikensammlung III 168 (CIL I2 581) Z. 13 f. Livius spricht von einer rituellen Formel (carmine sacro; Liv. 39,18,3) sowie von einem Eid (sacramento; Liv. 39,15,13), mit dem sich die Mitglieder angeblich als Vereinigung (coniuratio; vgl. Liv. 39,8,1.3; 39,14,4; 39,15,10; 39,16,3; 39,17,6) zu Verbrechen zusammenschworen (vgl. Liv. 39,13,13; 39,14,8; 39,16,3.5; 39,17,5). Der Eid könnte allerdings als Spezifikum wahrgenommen worden sein, das schon deswegen suspekt erscheinen durfte: „nothing suggests that the Mysteries of the imperial period contained an oath, which anyway seems alien to the Greek Mysteries tradition as a whole“, Bremmer 2014, 105. In Anlehnung an Livius interessiert sich noch Plinius der Jüngere für carmen und sacramentum der Christen, mit dem sie sich aber gerade nicht zu Verbrechen verpflichteten; vgl. Plin. epist. 10,96,7. 93 Vgl. Tert. nat. 1,10,16–17 sowie Aug. civ. 6,9, außerdem Tert. apol. 6,7–10; Aug. civ. 18,13. 94 Cic. leg. 2,21. 95 Mit der Einschränkung waren fraglos gesellschaftspolitische Implikationen verbunden; vgl. dazu Meyer 2006, S. 145–147, und die dort angeführte Literatur.

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Einweihung in den Kult der „griechischen“ Ceres.96 Damit ist in der Figurenwelt die Grundlage gelegt für eine kurze Präzisierung im Gespräch zwischen Cicero und Atticus, der bekanntlich Athen zeitweise zu seiner Wahlheimat erkoren hatte.97 Von Interesse ist die Darlegung hier insbesondere deswegen, weil im Zusammenhang mit dem Verbot nächtlicher Feiern von Frauen die besondere Sittentreue Roms in Auseinandersetzung mit den auswärtigen Kulten betont wird. Fraglich scheint, ob der Gesetzesentwurf in diesem Punkt angesichts der vorgesehenen Einschränkungen für den Freund zustimmungsfähig ist. Atticus signalisiert zunächst sein Einverständnis, weil „dem jährlichen, offiziellen Opfer“98 ja ein Vorrecht beschieden sei. Auf Nachfrage des Freundes, was denn aus den eleusinischen Mysterien werden solle, da Rom für alle Völker Gesetze erlasse, erkundigt er sich sodann, ob nicht auch für Eleusis eine Ausnahme vorgesehen sei. Daraufhin räumt Cicero ein, er wolle diese Mysterien tatsächlich ausnehmen.99 Allerdings verweist er im Anschluss zwar auf die moralische Integrität der eleusinischen Mysterien, „durch die man aus einem bäurischen und ungeschlachten Leben zur Menschlichkeit herangezogen und geleitet wird“100. Er verleiht aber gleichwohl oder gerade deswegen seinen Vorbehalten gegenüber nächtlichen Feiern Ausdruck. Der in die Argumentation eingeführte Hinweis auf die Thematisierung des Problems bei den Komödiendichtern ist nicht spezifiziert. Man darf wegen Ceres an Plautus denken.101 Die Vergangenheit zeigte, dass Restriktionen auch in diesem Bereich sinnvoll sein konnten. Zugleich bereitet die Erwähnung der Nacht jedoch bereits den Verweis auf Aristophanes vor, der sich Cicero zufolge seinerseits gegen nächtliche Feiern wandte.102 Der im Zusammenhang erwähnte Vorfall um P. Clodius Pulcher bei den nächtlichen Feiern zu Ehren der Bona Dea zeigt, dass in Rom eine solche licentia – der Ausdruck blickt bereits auf den von Cicero so verbrämten templum Licentiae des Clodius voraus – nicht geduldet werden durfte.103 Obschon die Gesetze für alle zivilisierten Völker gelten sollten, war in Abgrenzung zum Sondertatbestand in Eleusis für Rom demnach eine

96 Cic. leg. 2,21: nisi ut adsolet Cereri Graeco sacro. Zur Beschreibung als griechischen Kult vgl. Šterbenc Erker 2013, S. 51, 53, 67–83, 158–164. 97 Vgl. Cic. leg. 2,34–37. 98 Cic. leg. 2,35: sollemni sacrificio ac publico. 99 Ego vero excipiam („Ich werde wahrlich ausnehmen“) in Cic. leg. 2,36 nimmt dabei die von Atticus in Cic. leg. 2,35 vorausgeschickte Zustimmung auf: Ego vero adsentior („Ich stimme wahrlich zu“). 100 Cic. leg. 2,36: quibus ex agresti immanique vita exculti ad humanitatem et mitigati sumus. 101 Vgl. exemplarisch den Hinweis auf Plaut. Aul. 35 f. bei Dyck 2004, S. 353. 102 Vgl. Cic. leg. 2,36 f. 103 Zum templum Licentiae des Clodius vgl. Cic. leg. 2,42. Zum Bona Dea-Skandal vgl. Cic. Att. 1,12,3; 1,13,3; 1,14,1 f.; Cic. dom. 105; Cic. har. resp. 8 f.;37 f.; Cic. Mil. 72 f.;87; Cic. parad. 32; Cass. Dio 37,45,1 f.; Iuv. 6,336–345; Plut. Caesar 9 f.; Sen. epist. 97,1–11; Suet. Iul. 6; 74,2; Val. Max. 8,5,5; Vell. 2,45,1 sowie Iuv. 2,83–90; 9,117; Ov. ars 3,637 f.; Ov. fast. 5,149–158; Plut. qu. R. 20 (268 d–e); Prop. 4,9,23–70; Tib. 1,6,21–24 sowie Šterbenc Erker 2013, S. 58–62 und die dort angegebene Literatur.

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besondere Achtsamkeit gefordert. Cicero wies folglich der römischen Seite eine besondere Sittsamkeit zu.104 Indem Atticus dem Freund zugesteht, er könne das Gesetz für Rom beantragen, zugleich aber darum bittet, dieser möge „die unsrigen nicht wegnehmen“105, billigt er die regionale Differenzierung und verteidigt die Praxis der Mysterien von Eleusis. „Ich kehre daher zu den unsrigen zurück“106 beschreibt daher, nach dem Seitenblick auf das Fest der Bona Dea, Ciceros Rückwendung zu den eleusinischen Mysterien.107 Für diese wird Frauen nun aber das Tageslicht und die Einweihung nach dem in Rom gepflegten Ritus vorgeschrieben. Cicero rückt den Kult der „griechischen“ Ceres, der in der Hauptstadt gepflegt werden soll und seinerseits einer Arkandisziplin unterliegt, folglich in das Umfeld der eleusinischen Mysterien,108 unterscheidet ihn aber zugleich von diesen. Eine Einweihung von römischen Frauen während der Nacht, wie es in Eleusis üblich ist, soll es nicht geben. Die Ausnahme für Eleusis wird für Rom ausdrücklich problematisiert. Dem Gesetzesentwurf zufolge geht es Cicero zwar um eine Feier für die griechische Ceres, die Einweihung sollte aber nach der in Rom gepflegten Praxis erfolgen.109 Damit verbunden ist die Forderung, dass Frauen ihre Feiern am Tag begehen. Von Beginn an gilt die Sorge den nächtlichen Opfern der Frauen.110 104 Nicht ganz deutlich wird, ob sich das Verbot der nächtlichen Feiern nur auf Rom erstrecken soll. Da die Gesetze Roms nach Cic. leg. 2,35 „für alle wohlgesinnten und beständigen Völker“ (omnibus bonis firmisque populis) gelten sollten, müsste das Gegenteil der Fall sein. Andererseits legt in Cic. leg. 2,36 Atticus’ Einlassung „du sollst dieses Gesetz für Rom beantragen“ (istam Romae legem rogato) im unmittelbaren Anschluss an Ciceros ausdrückliche Zurückweisung der Zügellosigkeit für Rom die Annahme nahe, es dürfe ein Sondertatbestand für Rom erlassen werden: „Sofern die Zügellosigkeit in Rom gegeben wäre, was hätte denn jener getan […]?“ (qua licentia Romae data quidnam egisset ille […]?). 105 Cic leg. 2,36: nobis nostras ne ademeris. 106 Cic leg. 2,37: Ad nostras igitur revertor. 107 In Cic. leg. 2,35 hatte Cicero sie als Eumolpidaeque nostri („unsere Eumolpiden“) bezeichnet, weil beide in die Mysterien eingeweiht waren: ipsi initiati sumus; Cic. leg. 2,36. Vgl. dagegen etwa Dyck 2004, S. 354, der das anschließende Pronomen auf die römischen Gesetze bezieht. Griechische Gesetze, die eine Rückwendung zu den römischen Gesetzen plausibel machen würden, werden allerdings erst in Cic. leg. 2,37 thematisiert. Šterbenc Erker 2013, S. 85–89, geht von zwei Ausnahmen vom Verbot der nächtlichen Feiern aus und vermerkt, dass „beide Rituale für die politische Gemeinschaft pro populo vollzogen wurden“; Šterbenc Erker 2013, S. 85 f. Es mag zwar richtig sein, dass der „Ausdruck, mit dem das weibliche Ceresritual bezeichnet wird, ‚für die Bürger‘ (pro civibus), […] identisch mit der Benennung des nächtlichen Bona Dea-Festes: ‚für das römische Volk‘ (pro populo)“ ist; Šterbenc Erker 2013, S. 63. Cicero weist die Ausnahme vom Verbot nächtlicher Feiern jedoch ausschließlich dem Opfer pro populo zu, mit dem er offenbar nur das Fest zu Ehren der Bona Dea bezeichnet (vgl. Cic. Att. 1,12,3; 1,13,3; Cic. har. resp. 37, außerdem Sen. epist. 97,2; Iuv. 9,117), wohingegen die Ceres-Feier, wie von Šterbenc Erker angegeben, pro civibus (Cic. Balb. 55) erfolgt. 108 Entsprechend konnte Augustus, in die eleusinischen Mysterien eingeweiht, als Richter in Rom die Priester der „griechischen“ Ceres anhören, als sie über geheime Elemente des Kultes Angaben machen mussten (Suet. Aug. 93). 109 Vgl. Cic. leg. 2,21; 2,37. 110 Vgl. Cic. leg. 2,35.

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Obschon Cicero im eigenen Gesetzesentwurf die aufgrund der Tradition unvermeidliche Ausnahme pro populo rite unangetastet lässt, kommentiert er im Zusammenhang mit dem Ceres-Kult die Gefahren der nächtlichen Zusammenkünfte kritisch. Der vermeintliche Schutz des geheimen Kultes durch die Nacht wird unter Verweis auf die Machenschaften des Clodius hinterfragt. Dessen Frevel dient als warnendes Beispiel für die Risiken nächtlicher Feiern. Daher steht das helle Tageslicht, das den guten Ruf der römischen Frauen vor „vielen Augen“111 bewacht, im Gegensatz zum Frevel des Clodius, der die nächtliche Feier stören konnte, „obschon die Vorschrift war, dass auf sie nicht einmal die absichtslosen Augen geworfen werden durften“112. Cicero will zwar am Kult für die Bona Dea nicht rütteln, er nutzt den Skandal in dessen Umfeld jedoch, um für sein Verbot der darüber hinausgehenden nächtlichen Feiern der Frauen zu werben. Als ein die Sittlichkeit kontrastierendes exemplum dient der Bacchanalien-Skandal, der so als Musterbeispiel für das verwerfliche Gebaren nächtlicher Kultfeiern erscheint. Cicero zufolge erging ein Senatsbeschluss, im Anschluss erfolgten Untersuchung und Bestrafung durch die Konsuln. Naheliegend scheint, dass diese Skizze, die von Livius verwendet worden sein kann, historisch sachgerecht ist.113 Der durch die Tiriolo-Inschrift bezeugte Beschluss zur Neuordnung der Bacchanalien nach der Durchführung der unmittelbaren Krisenintervention wird nicht eigens erwähnt. Als Prototyp für einen angemessenen Umgang mit den nächtlichen Feiern wird der Vorgang insbesondere dann verständlich, wenn schon Cicero voraussetzte, dass die bei Livius kritisierte Vermischung der Geschlechter zur Nachtzeit ein Problem darstellte. Um seinen Gesetzesentwurf, der die beim Bacchanalien-Skandal geübte Strenge der Vorfahren aufnimmt,114 gegen den Vorwurf einer allzu großen römischen Härte abzusichern, führt Cicero auch mit Blick auf Eleusis zwei griechische exempla für vergleichbare Vorgehensweisen an. Er bildet so zwar eine Klammer zwischen Rom und Athen, aber nach den im Zusammenhang mit dem Bacchanalien-Skandal gepriesenen strengen Vorstellungen der römischen Vorväter. Das zweite exemplum ist für die vorliegende Fragestellung von Bedeutung, weil der Römer ein von Aristophanes in seiner Dichtung vorgestelltes Verhalten als beispielgebend anführt: Die „neuartigen Götter und nächtlichen Feiern zum Dienst an ihnen“115 seien dort insofern zurückgedrängt geworden, als Sabazius und andere fremde Götter gerichtlich verurteilt und anschließend der civitas verwiesen worden seien. Die Einlassung ist hier aus zwei Gründen von Interesse. Zum einen machte schon Cicero deutlich, dass weder neue respektive fremde Gottheiten noch nächtliche 111 Cic. leg. 2,37: multorum oculis. 112 Cic. leg. 2,36: quo ne imprudentiam quidem oculorum adici fas fuit. 113 Vgl. Cic. leg. 2,37. Wenn Cicero als exercitus retrospektiv das Kollektiv der wehrfähigen Bürger bezeichnete (vgl. Varro ling. 6,88), umschrieb er womöglich die Volksversammlung, die Livius im Anschluss an die Übertragung der Untersuchung an die Konsuln durch den Senat als contio führte. Dann hätte er in etwa den Ablauf geschildert, der sich in Liv. 39,14,6–8; 39,15,1 findet. 114 Vgl. Cic. leg. 2,37; außerdem Val. Max. 6,3,7. 115 Cic. leg. 2,37: Novos […] deos et in his colendis nocturnas pervigilationes.

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Feiern das Vertrauen des Staates genießen durften. Gegen diese sei vielmehr durch Einschränkungen vorzugehen. Darin zeigt sich nicht zuletzt die auch im Rekurs auf den Bacchanalien-Skandal vernehmbare konservative Grundausrichtung im Blick auf die zu pflegende religio.116 Cicero konkretisierte folglich eine einleitende Bestimmung seines Gesetzesentwurfes,117 thematisierte seine Reserve gegenüber den auswärtigen Kulten aber im Rahmen einer Zurückweisung nächtlicher Feiern unter Beteiligung von Frauen. Zum anderen hielt er im Rückgriff auf Aristophanes auch eine Lösung für das Problem bereit: Man tat gut daran, die fremden Götter aus der Stadt zu vertreiben. In diesem Kontext steht der Hinweis auf den Bacchanalien-Skandal, der als mahnendes Beispiel eines rigorosen Vorgehens gegen Auswüchse der Unsittlichkeit dient.118 Es wird deutlich, dass man Cicero zufolge der fremden religio kein Vertrauen entgegenbringen durfte, wenn man die civitas keinem Risiko aussetzen wollte. Livius lag später ganz auf dieser Linie, als er nicht nur ein ums andere Mal verwerfliche Ausschweifungen hervorhob,119 sondern seinen Konsul als Helden der Krise daran erinnern ließ, wie oft die Vorfahren zum Wohle des Staates auswärtige Kulte aus der Stadt verbannt hatten.120 Angesichts der kurzen Einlassung in De legibus, die im Rückgriff auf die Be­ kämpfung der Bacchanalien eine Vertreibung auswärtiger Kulte propagierte, und Livius’ dramatischer Darstellung, die den Bacchanalien einen Einfluss zusprach, der man nur noch Herr zu werden vermochte, wenn man die Ausübung des Kultes so stark einschränkte, dass er weitgehend zum Erliegen kommen musste, überrascht nicht, dass der Bacchanalien-Skandal in tiberischer Zeit bei Valerius Maximus zum Signum für die Bedrohung durch eine fehlgeleitete religio avancieren konnte. Im ersten Buch verhandelte der Schriftsteller fünf Maßnahmen, die jeweils einer religiösen Praxis galten. Sie sind zwar nur in zwei Epitomen erhalten geblieben, von denen die des Julius Paris hier den Referenztext bildet, die Zusammenstellung dürfte aber ursprünglich sein. Valerius rückte demnach den Bacchanalien-­Skandal, den er offenbar als „neuartige, eingeführte Sitte“121 kennzeichnete, außerhalb der chronologischen Ordnung an den Beginn des Abschnitts, der bei Januarius Nepotianus mit De superstitionibus (Über Abergläubisches) überschrieben ist. Im Anschluss daran notierte er, dass der Senat C. Lutatius Catulus eine Befragung der Fortuna von Praeneste untersagte (ca. 241 v. Chr.). Zwei Ereignisse fallen in das Jahr 139 v. Chr., 116 Vgl. nur Cic. leg. 2,23; 2,40. 117 Cic. leg. 2,19: „Niemand soll abgesondert Götter haben, weder die neuartigen noch zugereiste, außer den offiziell angenommenen. Privat sollen sie die Dienste pflegen, die sie ordnungsgemäß von den Vätern empfangen haben.“ (Separatim nemo habessit deos, neve novos neve advenas, nisi publice adscitos. Privatim colunto quos rite a patribus ); vgl. außerdem Cic. leg. 2,25 f. 118 Als Zeugnis besonderer Sittenlosigkeit fungiert der Vorfall noch bei Iuv. 2,3. 119 Vgl. Liv. 39,8,7 f.; 39,10,7; 39,13,10.13 f.; 39,14,8; 39,15,9.14; 39,18,4; außerdem Liv. 39,11,7; 39,13,11; 39,15,13; 39,16,1.3.5; 39,17,7; 39,18,3. 120 Vgl. Liv. 39,16,7–9. Vgl. auch Šterbenc Erker 2013, S. 213. 121 Val. Max. 1,3,1: mos novus institutus.

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nämlich das Edikt zur Vertreibung der Chaldäer aus Rom und Italien binnen zehn Tagen, wobei die Zielsetzung erkennen lässt, dass die Astrologen gemeint sind, sowie die Vertreibung der Juden. Den Abschluss der Reihe bildet die Zerstörung des Isis- und Serapistempels in Rom im Jahr 50 v. Chr.122 Die Aufzählung ist nicht nur bemerkenswert, weil hier die Vertreibung der Juden in republikanischer Zeit in Zusammenhang mit dem Bacchanalien-Skandal verhandelt wird, sondern vor allem deswegen, weil alle Vorfälle außer dem ersten mit religionspolitischen Maßnahmen des Kaisers korrespondieren.123 Tiberius unterband den Isis-Kult in Rom, vertrieb die Astrologen, nämlich die mathematicos, und die Juden aus Rom, und versuchte, wenn auch auf Dauer erfolglos, das Orakel von Praeneste zu unterbinden.124 Eine Analogie zum Bacchanalien-Skandal ist für seine Regentschaft dagegen nicht belegt, weshalb bei Valerius die Entgleisungen der Bacchan­tinnen und Bacchanten am Beginn der Reihung gleichsam als prototypisches Muster für das Vorgehen gegen einzudämmende religiöse Vollzüge erscheinen.

3. Aufenthaltsverbote für Juden in der frühen Kaiserzeit In der Rezeption markierte der Bacchanalien-Skandal gewissermaßen eine Zäsur im Verhältnis Roms zu den nicht öffentlichen auswärtigen Kulten. Spätestens seit Cicero ließen sich die Vorgänge als Präzedenzfall verstehen, der als Referenzpunkt im Umgang mit auswärtigen Kulten herangezogen werden konnte. Der Staat durfte und musste sich von den Kulten des Ostens distanzieren, wo dies notwendig wurde. Das führte freilich nicht per se zur Abwertung auswärtiger Gottheiten. Die Verehrung der Magna Mater war nicht revidierbar.125 Unterschiedliche Kulturen brachten notwendig auch ihre Götter mit nach Rom, die oft in das bestehende System integriert wurden. Isis sollte ein beispielloser Aufstieg bevorstehen, der nicht erst begann, als die Flavier sie protegierten. Dennoch zog die für die Zeit der Republik unterstellte 122 Vgl. Val. Max. 1,3,1–4. 123 Botermann 1996, S. 54 f. Anm. 144, erinnert mit Verweis auf Suetons Rubrizierung daran, dass die Juden als Volk wahrgenommen wurden und die Vertreibung nicht unter den religiösen Maßnahmen angeführt werde: „Nach antiken Maßstäben ist es nicht sachgerecht, das Claudiusedikt unter die ‚Religionspolitik‘ des Claudius zu subsumieren, wie es regelmäßig in der Fachliteratur geschieht“ (Botermann 1996, S. 55). Schon die Reihung des Valerius Maximus zeigt allerdings, dass sich eine zu strikte Trennung von Volk und religio nicht regelmäßig empfiehlt. „Jedes Volk hat seinen Kult“ (Sua cuique civitati religio […] est; Cic. Flacc. 69). Angesichts dieses Diktums ist nicht ausgeschlossen, dass die jüdische religio den Anlass für die Vertreibung bildete. Die Annahme, die religiösen Hintergründe hätten den Staat nicht interessiert (Botermann 1996, S. 55 Anm. 144), lässt sich schon mit Blick auf die Darstellung der Vertreibung unter Tiberius bei Sueton und Seneca relativieren; Suet. Tib. 36; Sen. epist. 108,22 f. Auch im Fall des Claudius-Ediktes dürfte die religio eine zentrale Rolle gespielt haben. Suetons Rubrizierung erfolgte jeweils mit Blick auf das weitere Material, daher lassen sich ihr Informationen über die Hintergründe kaum entnehmen. 124 Vgl. Sen. epist. 108,22 f.; Tac. ann. 2,32,3; 2,85,4; Suet. Tib. 36; 63,1; Cass. Dio 57,18,5a. 125 Vgl. nur Cic. leg. 2,22; 2,40.

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Pervertierung des Dionysos-Kultes einen Vertrauensverlust im Umgang mit auswärtigen Kulten nach sich, der noch in der frühen Kaiserzeit nachwirken sollte. Vor dem Hintergrund der ausgerollten Folie ließ sich in der Zeit des Prinzipats die Erwartung formulieren, der Kaiser dürfe und müsse zum Wohle des Staates die Präsenz auswärtiger Kulte in der Stadt regulieren, um die innere Sicherheit zu gewährleisten.126 Damit soll nicht behauptet werden, dass Cicero oder Livius unmittelbar als Maßstab für die Wahrnehmung der kaiserlichen tutela angelegt wurden. Die Texte bildeten keine Fürstenspiegel. Die angeführten Stimmen dokumentieren aber nicht nur Einschätzungen zum Bacchanalien-Skandal, sie bieten auch Stellungnahmen, die Positionen zum Umgang mit auswärtigen Kulten repräsentieren. Mittelbar nahmen solche Positionen notgedrungen auch Einfluss auf die kaiserliche Politik im Umgang mit Kulten aus dem Osten. Legt man die oben angeführten Stimmen nebeneinander, zeigt sich eine Reserve gegenüber diesen Kulten insbesondere dort, wo der Verdacht frevelhafter Praktiken bestand, denen nächtliche Zusammenkünfte Vorschub leisten konnten. Die Zerrüttung der Gesellschaft war zu fürchten, wenn es zu skandalösen Entgleisungen der Sittlichkeit kam. Die Fürsorge für das Gemeinwesen und die Wehrhaftigkeit der Regierung brachte man der Literatur zufolge dagegen zuvorderst durch die Ausweisung solcher Gruppierungen aus der Hauptstadt zum Ausdruck. Sofern man sich an Vorstellungen wie denen des Livius orientierte, galt es zudem, schon den Anfängen solcher Entwicklungen zu begegnen, bevor das Übel größere Ausmaße annehmen konnte. Die Vertreibung einer durch Promiskuitätsvorwürfe desavouierten auswärtigen religio ließ sich dabei nicht nur als Bewahrung des mos maiorum, sondern auch als Verteidigung eines augusteischen Erbes inszenieren. Mindestens einzelne religionspolitische Maßnahmen unter Tiberius gingen denn auch mit dem Vorwurf der Anrüchigkeit konkreter Vorfälle einher.127 3.1 Der Anlass des Aufenthaltsverbotes für Juden zur Zeit des Tiberius Josephus’ Bericht über den Isis-Skandal in Rom verdankt sich mit seinen romanesken Zügen128 in dieser Form zwar dem jüdischen Historiographen oder seiner Quelle. Im Kern zutreffend dürfte jedoch sein, dass während der Regentschaft des Tiberius im Umfeld des Isis-Kultes der Vorwurf eines sexuellen Übergriffs erhoben wurde. Nicht von ungefähr werden Sueton und Tacitus die Beratung über die Zurückdrängung der ägyptischen und jüdischen Kulte im Kontext der Entscheidungen, 126 Vgl. auch Šterbenc Erker 2013, S. 213 f. 127 Sarolta A. Takács erblickt in der Wahrung der Moral ein nachgeordnetes Motiv und verweist auf Germanicus’ nicht genehmigten Besuch der Provinz Ägypten 19 n. Chr. (Tac. ann. 2,59), der als politische Agitation verstanden worden sein könne. Durch das Vorgehen gegen in Alexan­ dria stark vertretene Gruppen habe der Kaiser seine Macht unterstrichen; vgl. Takács 1998, Sp. 1129. Sollte in diesem Vorfall das eigentliche Motiv zu suchen sein, wäre damit jedoch nicht ausgeschlossen, dass man vordergründig eine Verletzung der Sittsamkeit zum Anlass nahm. 128 Vgl. die Parallele im Alexanderroman (4–10), außerdem Moehring 1959.

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die das ungebührliche Verhalten von Frauen, insbesondere die vermeintliche Prostitution von Angehörigen der höheren ordines, eindämmen sollten, sowie der Wahl einer neuen Vestalin erwähnt haben.129 Der Vorfall, der laut Josephus unter Tiberius zum Aufenthaltsverbot für Juden in Rom führte, war zwar nicht unmittelbar sexuell konnotiert, berührte aber seinerseits den Bereich der Verführung. Angeblich hatten vier Männer eine reiche Römerin dazu bewogen, für den Tempel in Jerusalem zu spenden, die Mittel dann aber nicht weitergeleitet.130 Wo man den Vorfall im Hinblick auf die etwa von Cicero vorgetragene Sorge um das Wohlergehen römischer Frauen bewertete, lag eine Vorsorgemaßnahme gegen solche Umtriebe nicht fern. Das galt insbesondere dann, wenn es zu dem Betrugsfall im zeitlichen Zusammenhang des sexuellen Übergriffs im Umfeld der Isis gekommen sein sollte. Solche Vorfälle wurden zunehmend von der Sorge begleitet, dass meist als colle­ gia respektive hetaeriae organisierte Gruppen zur Brutstätte eines Aufruhrs werden könnten. Philo von Alexandria zeigte sich etwa unter dem Eindruck des claudischen Versammlungsverbotes131 bemüht, die jüdischen Zusammenkünfte von Trinkgelagen abzugrenzen: „Diese sind nämlich keine Zusammenkünfte von Rausch und Trunkenheit, Aufstände, gleichsam zur Beseitigung des dem Frieden Dienenden.“132 Derlei Zusammenkünfte (σύνοδοι), die von ihm an anderer Stelle auch als 129 Vgl. Tac. ann. 2,85,1–86,2; Suet. Tib. 35. Vgl. auch etwa Botermann 2003, S. 421–424; Lennon 2014, S. 66. Bevor Decius Mundus als vermeintlicher Anubis sein Ziel erlangte, versuchte er Ios. ant. Iud. 18,67 zufolge, Paulina durch Zahlung einer größeren Summe zum Koitus zu bewegen. 130 Vgl. Ios. ant. Iud. 18,81–84. Die bei römischen Historikern vernehmbare Annahme, man habe eine hinsichtlich der Anhängerschaft prosperierende religio bekämpft (Tac. ann. 2,85,4; Suet. Tib. 36; Cass. Dio 57,18,5a), lässt sich möglicherweise als eine im Hinblick auf solche Einzelfälle vorgenommene Verallgemeinerung verstehen. Schon die zu Josephus’ Interessen (vgl. nur Ios. ant. Iud. 16,166–173; 19,303–311) tendenzwidrige Diskreditierung der Sammlung von Tempelabgaben lässt ein historisches Substrat plausibel erscheinen. Vgl. dagegen Williams 2013, S. 72–74. Folgt man der Epitome zu Val. Max. 1,3,3, wurden die Astrologen im Jahr 139 v. Chr. vertrieben, weil sie die Leute um ihr Geld brachten. Überträgt man diese Begründung wegen der oben skizzierten Vergleichbarkeit der Vorfälle auf die Maßnahmen zur Zeit des Tiberius, fügt sich das Vorgehen gut zu den Unregelmäßigkeiten in Zusammenhang mit der jüdischen Tempelsteuer. In flavischer Zeit können die Dinge anders gelegen haben. Unter Vespasian (Cass. Dio 65,12,1–13,3) und Domitian (Plin. epist. 3,11,2 f.; Gell. 15,11,4 f.; Cass. Dio 67,13,3 f.) rückten im Hinblick auf politische Proteste (Plin. paneg. 47,1; Tac. Agr. 2,2–3,1; Suet. Vesp. 15; Suet. Dom. 10,3; Cass. Dio. 65,12,2 f.) offenbar die Philosophen in den Fokus, die schon 161 v. Chr. und 92 v. Chr. zurückgedrängt worden waren (Suet. gramm. 25,2–5; Gell 15,11,1 f.), zuletzt angeblich wegen Gefährdung der Jugend (Cic. de orat. 3,93 f.), und sich keiner religio unmittelbar zuordnen ließen. Wenngleich die Verbannung einzelner Akteure gesondert zu bewerten ist, findet sich bei Dion von Prusa auch der zeitgenössische Reflex eines Betroffenen (Dion Chrys. 13; 19,1; 36,1; 45,1 f.). Sowohl Vespasian (Cass. Dio 65,9,2) als auch Domitian sollen im Laufe der Regentschaft aber auch Astrologen vertrieben haben. Für Letzteren gilt das, sofern man Hieronymus’ Chronik des Eusebius folgt, der zufolge im achten wie im fünfzehnten Regierungsjahr neben den Philosophen auch die Mathematiker, also die Astrologen, ausgewiesen wurden (Hier. chron. a. 2104; a. 2111). 131 Vgl. Cass. Dio 60,6,6. 132 Phil. legat. ad Gaium 312: μὴ γὰρ εἶναι ταῦτα συνόδους ἐκ μέθης καὶ παροινίας ἐπισυστάσας, ὡς λυμαίνεσθαι τὰ τῆς εἰρήνης.

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κλῖναι bezeichnet und als θίασοι geführt wurden,133 konnten offenbar eine Gefahr für die Friedensordnung darstellen. Im Kontext wird die von Augustus gebilligte Praxis thematisiert, Gelder für den Tempel in Jerusalem im Rahmen jüdischer Versammlungen entgegenzunehmen, die der Kaiser folglich von „der gewöhnlichen Art der Zusammenkünfte“134 abgrenzte. Bemerkenswert ist das wegen einer Notiz im Kontext. Denn die Juden „trugen jährliche Erstlinge zusammen, aus denen sie Opfergaben zum Heiligtum in Jerusalem hinaufführten, indem sie heilige Gesandte ausrüsteten“135. Damit nahm Philo einen Hinweis auf die Sammlung der Tempelsteuer aus einer Passage zuvor auf: „Sie führten heilige Gelder zusammen von den Erstlingen und sandten sie nach Jerusalem durch die Opfergaben Hinaufführenden.“136 Im unmittelbaren Anschluss kam er auf die Möglichkeit der Vertreibung zu sprechen, die er mit Blick auf Tiberius’ Regentschaft anführte.137 Dabei ist in der dem Kaiser zugeschriebenen Parteinahme für die Juden unterstellt, dass die Maßnahmen gegen die Juden Roms nur auf eine kleine Gruppe von Übeltätern zurückgingen.138 Wahrscheinlich wusste demnach auch Philo darum, dass das Einsammeln der Tempelsteuer, das in der Asia schon zu Zeiten Ciceros vorübergehend unterbunden worden war,139 Widerstände gegen die jüdische Gemeinde provozieren und ein Aufenthaltsverbot nach sich ziehen konnte. Unter Tiberius dürfte jedoch nicht die Abgabe an sich, sondern ein damit verbundener Betrug Einzelner den Auslöser gebildet haben. Angesichts des Umstandes, dass Juden Rom verlassen mussten, wohingegen der Isis-Kult, der offenbar weitaus enger mit unsittlichen Verfehlungen verbunden war, ohne die Vertreibung der Anhängerschaft bekämpft wurde,140 kann man bezweifeln, dass die partiell gleichsam prototypischen Inszenierungen des Bacchanalien-Skandals Einfluss auf die Religionspolitik des Tiberius genommen haben. Doch die Zwangsmaßnahmen korrespondierten mit den jeweiligen Vorfällen. Da am Isis-Tempel in Rom vorrangig Priester des Kultes in die Übergriffe involviert waren, wurden sie genötigt, ihre Gewänder und Gerätschaften zu vernichten, möglicherweise wurde

133 Vgl. Phil. Flacc. 136. 134 Phil. legat. ad Gaium 316: τῷ κοινῷ τύπῳ τῶν συνόδων. 135 Phil. legat. ad Gaium 312: ἀπαρχὰς δὲ ἐτησίους συμφερόντων ἐξ ὧν ἀνάγουσι θυσίας στέλλοντες ἱεροπομποὺς εἰς τὸ ἐν Ἱεροσολύμοις ἱερόν. 136 Phil. legat. ad Gaium 156: χρήματα συνάγοντας ἀπὸ τῶν ἀπαρχῶν ἱερὰ καὶ πέμποντας εἰς Ἱεροσόλυμα διὰ τῶν τὰς θυσίας ἀναξόντων. Vgl. auch Phil. legat. ad Gaium 216; 291. 137 Vgl. Phil. legat. ad Gaium 157. 138 Vgl. Phil. legat. ad Gaium 159–161. 139 Vgl. Cic. Flacc. 67. Augustus garantierte die Übersendung der Tempelsteuer nach Jerusalem für die Provinz Asia und eventuell für weitere Provinzen. Da die Gelder im Rahmen der Synagogenversammlungen eingezogen wurden, konnte man die Regelung jüdischerseits als Garantie der Versammlungsfreiheit auffassen; vgl. Phil. legat. ad Gaium 291; 311–316; Ios. ant. Iud. 16,162–173. Hier dürfte der Anknüpfungspunkt für Darstellungen umfassender Zugeständnisse zu suchen sein. 140 Šterbenc Erker 2013, S. 213, generalisiert wohl zu sehr, wenn sie die Rekrutierung der 4000 Freigelassenen in Tac. ann. 2,85,4 auch auf die Anhänger der Isis-Kultes bezieht.

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auch das Heiligtum in Teilen zerstört.141 Juden hatten jedoch Gelder für einen Tempel außerhalb des Landes veruntreut. Dem konnte man am besten begegnen, wenn man die jüdischen Bewohner Roms der Stadt verwies, sodass sich Vergleichbares nicht ohne weiteres wiederholen ließ. In diesem Fall ist daher nicht abwegig, dass der Kaiser mindestens formal auf die Befolgung der Anordnung drängte und die Bestimmung verbreitete Vorbehalte gegen Juden nach sich zog.142 Tiberius zeigte sich offenbar bemüht, seine Fürsorge für den Staat zu demonstrieren.143 Möglicherweise darf man ähnliche Zusammenhänge wie für das Aufenthaltsverbot unter Tiberius auch für die Ausweisung der Juden unter Claudius voraussetzen. 3.2 Der Anlass des zweiten claudischen Judenedikts Claudius hatte von Beginn an Constantia zu einer Leittugend seines Prinzipats erhoben, die schon zu Beginn seiner Regentschaft auf Münzen begegnete.144 Nach Gaius’ Tod, der eine kurze Regentschaft voller Irritationen beendete, galt es, das Vertrauen in das Gemeinwesen durch ordnungspolitische Maßnahmen wiederherzustellen. Auch daher dürfte das dem Kaiser nachgesagte gesteigerte Interesse an Verordnungen rühren.145 Was Claudius nicht gebrauchen konnte, war das Aufbegehren einer religiösen Gruppierung, das die Handlungsfähigkeit des Staates auch nur dem Anschein nach infrage stellen konnte. Die Juden pflegten eine religio des Ostens, der wie anderen auswärtigen Kulten, aber verstärkt durch den jüdischen Monotheismus, in Teilen der konservativen Oberschicht eine Grundskepsis entgegengebracht wurde, die sich zum Widerstand verdichten konnte, sobald es zu Unregelmäßigkeiten kam. Schon Cicero erklärte die jüdischen Riten im Dienste des rhetorischen Zwecks zum „unkultivierten Aberglauben“146. Doch obschon auch die christliche religio später beinahe regelmäßig als superstitio diskreditiert wurde,147 dürfte das Vorgehen gegen die Juden Roms nicht schlicht der Bekämpfung einer solchen superstitio gegolten haben. Die adäquate Maßnahme für die Unterbindung eines missliebigen Kultes in Rom, die von Cicero wie von Livius im Zusammenhang mit dem Bacchanalien-Skandal diskutiert worden war, war die Ausweisung der jeweiligen Anhänger aus der Hauptstadt. Juden konnten unter Claudius allerdings lange Zeit gänzlich unbehelligt in 141 Vgl. Suet. Tib. 36; Ios. ant. Iud. 18,79. 142 Vgl. Suet. Tib. 36; Sen. epist. 108,22 f. 143 Anknüpfend an die bei Livius fassbare Angst vor der Unterwanderung des Militärs kann man fragen, ob die Entsendung jüdischer Rekruten nach Sardinien (Ios. ant. Iud. 18,84; Tac. ann. 2,85,4; Suet. Tib. 36) vorrangig auf eine Dezimierung der Bevölkerungszahl abzielte oder dem Bemühen geschuldet war, einer Einbindung solcher Kräfte in Truppenteile auf dem Festland entgegenzuwirken. 144 Vgl. RIC I2 Claudius Nr. 2, 13 f., 31 f., 42 f., 55 f., 65 f. sowie RIC I2 Claudius Nr. 95, 111. Zur Datierung der aes-Stücke vgl. Kaenel 1986, S. 5, 220–233. 145 Vgl. Suet. Claud. 16,4. 146 Cic. Flacc. 67: barbarae superstitioni. Vgl. auch Suet. Tib. 36. 147 Vgl. Plin. epist. 10,96,8 f.; Tac. ann. 15,44,3; Suet. Nero 16,2.

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Rom leben, auch nach dem über sie zeitweilig verhängten Versammlungsverbot. Daher muss es einen konkreten Anlass für die Maßnahme gegeben haben. Die Ausweisung lässt sich insbesondere dann plausibilisieren, wenn die Versammlungen der Gemeinde in Rom plötzlich anrüchig erschienen. Nimmt man angesichts des oben diskutierten Quellenbefundes hinzu, dass es zu den Kontroversen in jüdischen Gemeinden offenbar wegen Differenzen um Jesus von Nazareth kam, liegt die Annahme nahe, dass die christliche Völkermission den Ausgangspunkt für die Vertreibung bildete, weil Juden das ungeklärte Verhältnis jüdischer Christus-Anhänger zu den paganen Christus-Anhängern problematisierten.148 Juden beschrieben ihre Vorbehalte gegenüber auswärtigen Kulten nämlich ganz ähnlich wie römische Literaten dasjenige zur angeblich fremden religio. Aus jüdischer Sicht galt es, eine Vermischung mit Göttern respektive Götzen anderer Völker unbedingt zu vermeiden. Ein Einfallstor der Götzen bildete einer gängigen Überzeugung zufolge die Bindung an ausländische Frauen. Als Musterbeispiel des Eiferers, der die Sache Gottes verteidigte, galt Pinhas, weil er einen Israeliten samt der mit ihm liierten Midianiterin mit einer Lanze durchbohrt haben soll, um die Rechtgläubigkeit zu wahren. Vorausgegangen war angeblich eine Plage, die ausgebrochen war, weil die Israeliten mit den Moabiterinnen Unzucht trieben und in der Folge die Götter der Moabiter verehrten (Nm 25,1–15). Mit der Verbindung der Begriffe ‚Unzucht‘ und ‚Götzendienst‘ konnte die Gefahr eines durch die Verführung von Frauen anderer Völker veranlassten Abfalls vom Gott Israels gebrandmarkt werden. Die Wirkungsfolge ließ sich auch umgekehrt beschreiben. Aus dem Götzendienst folgte die Unzucht, eine Vorstellung, die durch Fruchtbarkeitsidole aus der Umwelt Israels und die Voraussetzung von Tempelprostitution gleichermaßen beflügelt werden konnte.149 Der Umstand, dass Paulus seine Tätigkeit als Verfolger der Gemeinde mit der Haltung eines Eiferers in Verbindung brachte,150 dürfte darin begründet sein, dass er selbst gegen die mangelnde Abgrenzung der Gruppierung von den Paganen vorgegangen war. Demnach wäre es im Osten schon früh, vermutlich vor 35 n. Chr., zur Verkündigung unter den Völkern gekommen, einer Verkündigung, die in der jüdischen Gemeinde das Vertrauen gegenüber den jüdischen Jesusanhängern untergrub, standen diese dadurch doch im Verdacht der Vermischung mit dem Fremden.151 148 Die „Verbreitung des Christenthums unter Juden und Heiden weckte natürlich in der starken Judengemeinde Roms denselben starken Widerspruch, den das Judenthum allenthalben gegen das Christenthum erhoben hat. Es kam zu leidenschaftlichen fortgesetzten Reibungen zwischen Christen und Juden, gegen welche Klaudius um so weniger gleichgültig bleiben konnte, weil er auch für Ruhe und Ordnung in der Hauptstadt […] thätig war, und weil er den Bewegungen der fremden Kulte ohnehin mit Missbehagen folgte“, vermerkte schon Keim 1881, S. 173. 149 Vgl. etwa Ex 34,15 f.; Lv 17,7; Nm 25,1 f.; Weish 14,12; Jes 57,3–9; Ez 6,4–13; 16,15–41; 23,2– 44; Hos 4,12–18; Mi 1,7. 150 Vgl. Gal 1,13 f.; Phil 3,6. 151 Sofern Josephus im Anschluss an Ios. ant. Iud. 20,104 die Agitation römischer Christen aufgrund der Völkermission thematisierte, bildete die Erzählung um Izates von Adiabene, der sich beschneiden ließ und sogar Roms Erzfeind, den Parthern, die Stirn bot (Ios. ant. Iud. 20,17–96), gewissermaßen einen vorausgeschickten Gegenentwurf.

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Ähnliche Vorwürfe dürften laut geworden sein, als in Rom jüdische mit paganen Christus-Anhängern Umgang pflegten. Man muss nicht notwendig von Mischehen ausgehen, welche die von Israel geforderte Endogamie infrage stellten.152 Wo man die Grenze zu anderen Völkern so sehr aufweichte, dass die Wahrung jüdischer Identität nicht gewährleistet schien, konnte man sich dem stereotyp vorgetragenen Vorwurf aussetzen, man verschreibe sich Unzucht und Götzendienst. Die Pointe lag darin, dass als ‚Götzen‘ nicht zuletzt die aus römischer Sicht legitimen Götter, als ‚Unzucht‘ auch reguläre Verbindungen mit römischen Frauen zurückgewiesen werden konnten. Aber dort, wo man im Umfeld einer religio des Ostens die Parole ‚Unzucht und Götzendienst‘ kolportierte, konnte auf Seiten der Magistrate schnell der Eindruck entstehen, hier bestehe Handlungsbedarf; und auch dort, wo man gewahr wurde, dass sich die Skepsis gegen die eigene religio und den mos maiorum richtete, lag eine Intervention nicht fern. Das galt insbesondere dort, wo man zu nächtlichen Feiern zusammenkam. Über die Terminierung der christlichen Mahle wissen wir wenig. Doch der spärliche neutestamentliche Befund deutet in die Richtung, dass man wie beim Symposion üblich gegen Abend zusammenkam. Die lukanische Darstellung in Apg 20,7–11 mag dem pointierten erzählerischen Duktus geschuldet sein, der von der Gemeindeversammlung zur Wundererzählung überleitete: Paulus predigte angeblich bis Mitternacht, weshalb ein Jüngling im offenen Fenster einschlief und aus dem dritten Stockwerk zu Tode stürzte. Die Erzählung setzt jedoch als sachgerecht voraus, dass man sich am ersten Tag der Woche abends versammelte.153 Das konnte auch mit Blick auf den Bacchanalien-Skandal als fragwürdig angesehen werden. Noch Plinius der Jüngere dürfte bei diesem von seinem Vorbild Cicero in De legibus aufgegriffenen, bei Livius entfalteten und in dieser Deutung für Verfahrensfragen geradezu mustergültigen Vorfall aus der Zeit der Republik angeknüpft haben,154 als er betonte, dass sich die Christen im Pontus nach Sonnenaufgang träfen, dass ihr Eid nicht zu Verführung und Gewaltverbrechen verleite, sondern geradezu ein gesetzliches und ethisches Verhalten einfordere.155 Plinius setzte die christlichen Versammlungen offenbar bewusst von den als problematisch eingestuften nächtlichen Feiern ab. Denn als er vage davon sprach, dass man später erneut zusammenkomme, ohne den Zeitpunkt zu präzisieren, dürfte er die abendlichen Mahlversammlungen angesprochen haben. Bei diesen nehme man allerdings nur herkömmliche Speise zu sich, versicherte er dem Prinzeps,156 was vielleicht auch 152 Vgl. dazu exemplarisch Tob 4,12 f.; 8,7. 153 In diese Richtung weisen auch jene Auferstehungserzählungen, die Begegnungen mit Jesus am Ostertag auf den Abend verlegen, nicht zuletzt auch jene Begegnung in Emmaus, die auf das Gemeindemahl verweist (Lk 24,29 f.36–41; Joh 20,19). Das Frühstück in Joh 21,12.15 bildet eine kontrastierende Ausnahme. Auch die Speisung der Menge in Mk 6,35 erfolgt gegen Ende des Tages. Ob diese zeitliche Ansetzung der Pragmatik, der Mahlkultur oder der Analogie zum letzten Abendmahl (Mk 14,17) geschuldet war, muss hier nicht diskutiert werden. 154 Vgl. dazu Freudenberger 1969, S. 165–170. 155 Vgl. Plin. epist. 10,96,7. 156 Vgl. Plin. epist. 10,96,7.

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deswegen erwähnenswert schien, weil während der christlichen Mahlfeiern ein Ritus vollzogen wurde, in dessen Zentrum neben zerrissenem Brot der Genuss von Wein stand, gedeutet als Körper und Blut des vermeintlichen Kultstifters Jesus.157 Bei Livius war immerhin der Vorwurf zu finden, wie Tiere hätten Bacchantinnen und Bacchanten einzelne Opfer zerrissen.158 Wein war ohnehin aufs Engste mit der Gottheit verbunden. Obschon Libationen und regelmäßiger Weinkonsum zum religiösen Alltag gehörten, konnte das im Zusammenhang mit der fremden religio Wahrgenommene in römischen Ohren leicht Anklänge an Mysterienfeiern wachrufen, zumal mit diesem Mahl quasi das Schicksal einer Gottheit vergegenwärtigt wurde. Die an Trajan gerichtete consultatio zeigt jedenfalls, wie sich der Bacchanalien-Skandal selbst und seine Rezeption in der Wirkungsgeschichte niederschlugen. Ergänzt man den oben skizzierten spärlichen Quellenbefund zum claudischen Aufenthaltsverbot um die seit 186 v. Chr. mehrfach propagierte Austreibung von auswärtigen Kulten, liegt daher die Annahme nahe, jüdische Gemeinden in Rom seien, als christliche Juden auch Pagane in die Jesus-Gemeinde einbanden,159 aufgrund ihrer eigenen Abgrenzungsbemühungen von der Regierung in den Zusammenhang von sexuellen Ausschweifungen und falscher religio gerückt worden.160 Als im Lichte vorausgehender Vertreibungen seiner Ansicht nach angemessene Reaktion ordnete Claudius daher an, dass Juden Rom und Italien zu verlassen hätten. Er reagierte damit auf einen Vertrauensverlust, der in der Rezeption des Bacchanalien-Skandals wurzelte und mit einer Skepsis gegenüber auswärtigen Kulten einherging. Das Aufenthaltsverbot für Juden lässt sich vor diesem Hintergrund daher als vertrauensbildende Maßnahme verstehen, mit der Claudius constantia in Rom als Umsetzung eines programmatischen Schlagwortes gewährleistete. Denn constantia schuf zwar Vertrauen, sie ließ sich aber auch nur dort etablieren, wo ein Grundvertrauen in die Funktionstüchtigkeit des Staates bestand. Teile der Nobilität hegten jedoch kein Vertrauen in die Integrierbarkeit und dauerhafte Kontrollierbarkeit einer fremd gebliebenen religio. Das dürfte die Ausweisung beflügelt haben. Dabei ist nicht entscheidend, ob man eine tatsächliche Gefährdung durch Juden voraussetzte. Mit seiner Symbolpolitik stellte sich der Kaiser in die Linie derer, die im Umgang mit auswärtigen Kulten hart durchgriffen, um das Gemeinwesen zu schützen oder neu zu ordnen. Claudius hegte allerdings keine besondere Abneigung gegen die Juden. Er reagierte auf einen konkreten Vorfall in der jüdischen Gemeinde, der aus der Verkündigung der christlichen Botschaft unter den Paganen Roms resultierte.

157 Vgl. 1 Kor 10,16; 11,24 f. 158 Vgl. Liv. 39,13,5.11.13. 159 Sofern Josephus den Vorgang schilderte, könnte auch der Anachronismus „er zog sowohl viele Juden als auch viele Griechen an sich“ (καὶ πολλοὺς μὲν Ἰουδαίους, πολλοὺς δὲ καὶ τοῦ Ἑλληνικοῦ ἐπηγάγετο; Ios. ant. Iud. 18,63) im Testimonium Flavianum an Kontur gewinnen. 160 Das hier favorisierte Szenario wird durch neutestamentliche Quellen gestützt. Ich hoffe, das Material an anderer Stelle zeitnah vorstellen zu können.

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Neros Machtverlust im Spannungsverhältnis von fides und parricidium Babett Edelmann-Singer 1. Einleitung Im Jahr 65 n. Chr. wurde durch seltsam anmutende Umstände eine Verschwörung höchster Kreise gegen Kaiser Nero aufgedeckt, die unter dem Namen ihres vermeintlichen Anführers C. Calpurnius Piso als Pisonische Verschwörung Eingang in die Überlieferung fand. Vielfach hat sich die Forschung mit diesem Ereignis und vor allem seiner Aufarbeitung bei Tacitus im 15. Buch der Annalen1 beschäftigt und dabei die starke literarische Überformung der Ereignisse herausgearbeitet.2 Hinsichtlich der Motive der Verschwörer wurde die Heterogenität der Motive als ein Charakteristikum jener Gruppe um Piso herausgestellt.3 Für viele der an der Verschwörung Beteiligten konstatierte man eher individuelle persönliche Motive als Antrieb und sah die Ursache weniger in einem gemeinsamen politischen Aufbegehren. Bei genauer Analyse des Textes allerdings erweist sich ein Motiv als deutlich herausgehoben, welches Tacitus in seinem Werk auch an anderer Stelle dazu benutzt, die zunehmende Ablehnung der neronischen Herrschaft zu verdeutlichen: schwindende fides. Als Kaiser Nero beispielsweise den Tribun Subrius Flavus nach jenen Motiven fragte, die ihn dazu bewogen hätten, sich der Pisonischen Verschwörung anzuschließen, antwortete dieser ihm: Ich haßte dich. Keiner von den Soldaten war dir treuer (fidelior), solange du es verdientest, geliebt zu werden: zu hassen begann ich dich, nachdem du zum Mörder



Dieser Beitrag entstand im Rahmen der mir von der DFG gewährten Förderung aus dem Heisen­berg-Programm an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Ich danke den Mitgliedern der Abteilung für Alte Geschichte an der LMU, insbesondere Martin Zimmermann, für die freundliche Aufnahme und Unterstützung. Ein ganz besonderer Dank gilt Christian Reitzenstein-Ronning für seine hilfreiche Kommentierung des Beitrags. Den Herausgebern des Bandes danke ich ebenfalls herzlich für ihre Hinweise und Anregungen.

1 Tac. ann. 15,48–74. Neben Tacitus erwähnen Sueton (Suet. Nero 36,1 f.) und Cassius Dio (Cass. Dio 62,24,1–27,4) die Ereignisse nur kurz, Plutarch äußert sich zur Aufdeckung der Verschwörung (Plut. mor. 505 c–d). 2 Vgl. u. a. die exzellente Darstellung bei Woodman 1993, S. 104–128, aktuell bei Lefebvre 2017, S. 187–190. Vgl. daneben Brunt 1975; Griffin 1984, S. 166–170; Raaflaub 1987; Timpe 1987; Rudich 1993, S. 87–131; Champlin 2003, S. 185 f.; 216–218; Ronning 2006; Waldherr 2005, S. 185–194; Sonnabend 2016, S. 208–210; Drinkwater 2019, S. 197–219. 3 In Anlehnung an Rudich 1993, S. 16, hat jüngst Drinkwater konstatiert: „The conspirator’s motives were, indeed, ‚contradictory and confused‘“ (Drinkwater 2019, S. 203).

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deiner Mutter und deiner Gattin, zum Wagenlenker und Schauspieler und Brandstifter geworden warst.4

Mit diesen Worten des Subrius Flavus in direkter Rede insinuiert Tacitus einen gravierenden Vertrauensverlust in die Person des Kaisers und seine herrscherliche Integrität.5 Zum Ausgangspunkt dieses Prozesses, an dessen Ende der Plan steht, Nero zu ermorden, wird an erster Stelle ein konkretes Ereignis erklärt: das parricidium matris, also der Mord an seiner Mutter Agrippina der Jüngeren. Neros Herrschaft erlebte einen Umschwung in der öffentlichen Bewertung zwischen den Jahren 59 und 62 n. Chr. Darin stimmen die literarischen Quellen überein6, und die moderne Forschung folgt dieser Einschätzung weitgehend.7 Der angeblich vom Kaiser selbst angeordnete und in höchster Theatralik durch ein Schiffsunglück arrangierte, dann aber mit brachialer Gewalt vollzogene Tod8 der in den Quellen oft selbst geschmähten Frau wird in der Konsequenz als Auslöser der ersten großen Krise im Prinzipat Neros und in einer längerfristigen Perspektive als Wendepunkt angesehen. Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, die Ereignisse um den Tod der Agrippina und ihre spätere literarische Überformung unter dem Aspekt der fides-Pflicht gegenüber dem Prinzeps und seinen Herrscherqualitäten bzw. der Infragestellung und Tac. ann. 15,67,2 (Übers. Heller): interrogatusque a Nerone, quibus causis ad oblivionem sacramenti processisset, „oderam te“ inquit. „nec quisquam tibi fidelior militum fuit, dum amari meruisti: odisse coepi, postquam parricida matris et uxoris, auriga et histrio et incendiarius extitisti“. 5 Das im vorliegenden Beitrag postulierte fides-Modell bzw. der darauf basierende Vertrauensverlust unterscheidet sich konzeptionell vom „Akzeptanzmodell“ (vgl. Flaig 2019, s. auch unten Anm. 81). Anders als der sehr schematische Versuch Flaigs, drei herrschaftsrelevante Gruppen und die Strategien des Prinzeps zur Erlangung von deren Akzeptanz aus den Quellen herauszulesen, betont das hier postulierte fides-Modell die Reziprozität innerhalb von Sozialbeziehungen. Damit wird es der Interaktionsstruktur zwischen den Akteuren, aber auch Herrschaftsverhältnissen eher gerecht. Für ihre wertvollen Hinweise danke ich in diesem Zusammenhang der Herausgeberin Isabelle Künzer. 6 Das von Aurelius Victor überlieferte und dem Trajan zugeschriebene Diktum vom quinquennium Neronis (Aur. Vict. 5,2) zeichnet diese Zäsur wohl am deutlichsten nach. Cassius Dio (62,11,1) sieht den Mord an Agrippina ebenfalls als klaren Wendepunkt. Bei Sueton beginnt die Wandlung bereits vor 59 v. Chr., erlebt aber mit dem Muttermord eine deutliche Dynamik (Suet. Nero 34). Für Tacitus brachte der Tod des Burrus 62 n. Chr. zwar die Wende (Tac. ann. 14,51,1), auch er sieht im Muttermord aber jenen Moment, ab dem sich Nero „in alle denkbaren Leidenschaften [stürzte], die, nur mit Mühe gebändigt, durch eine wie immer geartete Scheu vor seiner Mutter gehemmt worden waren.“ (Tac. ann. 14,13,2: seque in omnes libidines effudit, quas male coercitas qualiscumque matris reverentia tardaverat; Übers. Heller) Vgl. dazu auch Levick 1983, S. 214; Schubert 1998, S. 449 f.; Meier 2008, S. 583 mit Anm. 78. 7 Vgl. u. a. mit unterschiedlichen Akzentsetzungen Griffin 1984, S. 83–99; Rilinger 1996, S. 144; Champlin 2003, S. 103, 112; Flaig 2003, S. 352; Waldherr 2005, S. 63–106, 120; Flaig 2014, S. 273–275; Meier 2014, S. 583; Edelmann-Singer 2017, S. 127–130. Drinkwater setzt die Zäsur mit Tacitus erst 62, allerdings ist sie auch hier langfristige Folge des Muttermordes (Drink­ water 2019, S. 176–187). 8 Zur literarischen Konstruktion der Ereignisse vgl. Baltussen 2002; Piecha 2003; Champlin 2003, S. 84–111; Ginsburg 2006, S. 46–52. 4

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Auflösung dieser fides-Pflicht näher zu beleuchten. Im Mittelpunkt soll insbesondere die Frage stehen, wie, wann und aus welchem Grund das Konzept des Vertrauens im Sinne der fides als Argument aufgerufen und gegen den Herrscher umgedeutet wird.9 Dazu ist es nötig, zwischen der unmittelbaren Deutung der Ereignisse im Jahr 59 n. Chr. und ihrer später erfolgten literarischen Überformung durch Tacitus, aber auch Sueton10 und Cassius Dio11 zu unterscheiden.12 Allzu oft wird übersehen, dass wir für die Ereignisse im Frühjahr und Sommer des Jahres 59 n. Chr. zwei sich deutlich voneinander unterscheidende Überlieferungen besitzen: Neben dem postneronischen, vor allem von Tacitus geprägten Narrativ verfügen wir mit den Akten der fratres Arvales des Jahres 59 n. Chr. über ein zwar wesentlich enigmatischeres, aber dennoch in hohem Grad authentisches Zeugnis.13 Im Folgenden soll anhand des Konzeptes der fides die Argumentation beider Überlieferungen verknüpft und gezeigt werden, wie stark die postneronische Tradition mit dem Argument der Treue(pflicht) die Ereignisse umgedeutet hat.

2. fides als Ressource von Herrschaft im Prinzipat Zunächst muss die Frage geklärt werden, was Treue oder Vertrauen in diesem Kontext eigentlich bedeutet. Sprechen wir im modernen Sinn von Treue und Vertrauen, so meinen wir im Allgemeinen die Redlichkeit einer Person sowie eine subjektive Überzeugung von dieser Redlichkeit. Eine Vertrauenskrise ist demnach eine Erschütterung dieser Überzeugung, dieses Glaubens. Der lateinische Begriff der fides stellt aber ein weit stärker politisch und gesellschaftlich aufgeladenes Phänomen dar. Ohne hier die historischen Grundlagen seit frühester Zeit genau darstellten zu können14, muss man festhalten, dass fides ein allgegenwärtiges Konzept im Ethos und im Selbstbild der römischen Elite war: „Auf besondere Weise waren […] die komplexen Vorstellungen über die fides 9 Leider stellt eine explizit auf die Rolle des fides-Begriffes konzentrierte Untersuchung für das frühe Prinzipat ein Desiderat dar. Für fides als Begriff in der politischen Kultur vor allem in republikanischer Zeit vgl. Hölkeskamp 2004. Für die flavische Zeit vgl. aktuell Stocks 2019; Augoustakis 2019; Bartera 2019. 10 Suet. Nero 34. 11 Cass. Dio 61,11–16 (Epitome). 12 Die Ermordung Agrippinas wird auch im Historiendrama Octavia thematisiert, das wohl in flavischer Zeit entstand (Ps.-Sen. Oct. pr. 619 f.; 629–631). Vgl. Kragelund 1982; ders. 2007; Barnes 1982; Harris 2001; Wiseman 2008; Boyle 2008; Cardano 2012; Ginsberg 2017; Cordes 2017, S. 228 f. Zum flavischen Konzept der fides in der Octavia vgl. aktuell Buckley 2019 und Ginsberg 2019. 13 Neben dem Jahresprotokoll der Arvales fratres für 59 n. Chr. (ed. Scheid 1998, Nr. 28) stehen die Fragmente jenes Briefes zur Verfügung, den Nero in den Tagen nach dem Tod Agrippinas an den Senat sandte und der gemeinhin Senecas Autorschaft zugeschrieben wird. Daneben können einige rasierte Inschriften aus Rom herangezogen werden, deren Manipulationen sich auf das Jahr 59 n. Chr. zurückführen lassen (CIL 6,921; CIL 6,40307). 14 Vgl. dazu Otto 1909; Fraenkel 1926; Becker 1969; Freyburger 1986; Boyance 1972a; ders. 1972b; Hellegouarc’h 1963; Pöschl 1980; Hölkeskamp 2004, Timmer 2017.

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und eine feste Überzeugung von deren Gültigkeit in der kollektiven Mentalität der Nobilität und des ganzen populus verankert.“15 Innerhalb dieses Konzeptes umfasste fides auch zwei Dimensionen, die für die Thematik des vorliegenden Beitrags zentral sind und die daher ausführlicher beleuchtet werden sollen: die Dimension der Religion und des Rechts.16 Fides als kultisch verehrte Personifikation der Treue/des Vertrauens soll bereits von Numa einen Tempel auf dem Palatin erhalten haben.17 In historischer Zeit besaß die fides publica seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. einen Tempel auf dem Kapitol.18 Hier wurden völkerrechtliche Verträge und Militärdiplome für jeden sichtbar aufbewahrt. Die Verehrung der fides oblag den flamines maiores. Mit Beginn des Prinzipats wurde die traditionelle Gottheit zur Garantin des neuen Zeitalters proklamiert und erhielt damit einen höheren Stellenwert.19 Das aureum saeculum, das Augustus mit den Saecularspielen 17 v. Chr. ausrief, wurde nicht zuletzt durch die Rückkehr der Göttin Fides nach Rom gekennzeichnet. In engem Zusammenhang mit der religiösen Komponente steht die rechtliche. Fides galt den Römern als eine der wichtigsten Rechtsgrundlagen überhaupt, nach Cicero war sie das fundamentum iustitiae.20 Im Konzept der fides manifestierte sich die Beständigkeit des gegebenen Wortes, das Vertrauen zwischen zwei Personen. Ihre Wirkung entfaltete sie daher auch am stärksten in der wichtigsten Beziehung innerhalb des römischen Sozialgefüges, der Beziehung zwischen patronus und cliens. Der römische Antiquar Aulus Gellius hat dies mehrfach sehr deutlich formuliert.21 So heißt es unter anderen im 20. Buch der Noctes Atticae: 15 Hölkeskamp 2004, S. 112. 16 Vgl. auch die basale Definition bei Hölkeskamp 2004, S. 113: „Darin besteht der eigentliche Kern der immer mitgedachten Doppeldeutigkeit des Konzeptes der fides als eines Relationsbegriffes, die zwischen aktivem Vertrauen und passiver Vertrauenswürdigkeit, zwischen Einlösungserwartung (ja -verlangen) und Erfüllungspflicht (ja -zwang) schillert. Fides bezeichnet somit eine genuin soziale Qualität, die auf eine intensive und unmittelbare Reziprozität, eine verläßliche Gegenseitigkeit aller sozialer Beziehungen zielt. Fides umfaßt also eine überall wirksame Verschränkung von gegenseitiger Verpflichtung, officia und beneficia, Erfüllungserwartung und ebenso selbstverständlicher Erfüllungsbereitschaft der Personen, die in diese Beziehungen eingebunden bzw. an sozialen Interaktionen der fides-haltigen Art beteiligt sind. Deswegen muß fides durch konkrete Einlösung bestätigt und immer wieder neu begründet werden.“ 17 Plut. Numa 16,1,70 f.; Liv. 1,21,2; Dion. Hal. ant. 2,75,3. 18 Der Tempel wurde dem Atilius Calatinus zugeschrieben, der ihn 258 v. Chr. erbaut haben soll. Vgl. Reusser 1993. 19 Vgl. Hor. carm. saec. 57–59; Verg. Aen. 1,292; Sil. 1,634. Vgl. Hölkeskamp 2004, S. 111. 20 Cic. off. 1,23; Vgl. Hölkeskamp 2004, S. 108. 21 Gell. 5,13,2 (Übers. in Anlehnung an Weiss): Conveniebat autem facile constabatque ex moribus populi Romani primum iuxta parentes locum tenere pupillos debere fidei tutelaeque nostrae creditos; secundum eos proximum locum clientes habere, qui sese itidem in fidem patrociniumque nostrum dediderunt; tum in tertio loco esse hospites; postea esse cognatos adfinesque. „Es ergibt sich aber leicht und steht auch nach den Sitten des römischen Volkes fest, dass den ersten Platz neben den Eltern die unmündigen Kinder (pupilli) einnehmen müssen, die unserer Treue (fides) und Aufsicht (tutela) anvertraut sind; den zweiten Platz neben ihnen haben

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So hat das römische Volk selbst seine Konsuln, seine hervorragendsten ehrenwertesten Männer, zur Bestätigung seines gegebenen Wortes in Feindeshänden gelassen, und so erachtete es auch für dringend, dass man einen Klienten, den man in das Treueverhältnis (fides) aufgenommen habe, mehr schätzen müsse als die eigenen Verwandten und ihn sogar gegen die cognati zu schützen habe. Und man habe keine Tat als verwerflicher angesehen, als wenn man jemandem nachweisen konnte, er habe einen Klienten betrogen.22

Die gesellschaftsstabilisierende Wirkung dieses Systems bestand darin, dass beide Seiten gebunden waren. Patronus wie cliens mussten den Regeln der hier waltenden fides folgen. Als patronus offen gegen diese sozialen Regeln zu verstoßen, hätte gleichzeitig einen eklatanten Verstoß gegen die zentralen Grundsätze der römischen Gesellschaft bedeutet, die dieses soziale Verhalten überwachte und ein Fehlverhalten mit drakonischen Strafen bedachte. So steht bereits im Zwölftafelgesetz ausdrücklich: „Ein patronus, der seinen cliens betrügt, soll sacer sein.“23 Fraus wäre hier wohl am zutreffendsten als ‚Verstoß gegen die Gebote der fides‘ zu interpretieren, während die feierliche Verfluchungsformel ‚sacer esto‘ eine besonders schwere Form der Bestrafung, nämlich die soziale Exklusion meint.24 Mit dieser feierlichen Formulierung wurde der schuldige patronus symbolisch den Göttern der Unterwelt überantwortet und aus der Gemeinschaft des gesamten römischen Volkes ausgestoßen. Er wurde vogelfrei und verlor Rechte und Besitz. Die Androhung dieser drastischen Strafe stellte die Verletzung der wechselseitigen Treueverpflichtung durch den patronus mit einem Frevel gegen die Götter (sacrilegium) oder Hochverrat gleich. Mit Beginn des Prinzipats nun wurde das traditionelle patronus-cliens-Verhältnis25 auf die Beziehung der Kaiser zu den Bewohnern des Reiches übertragen und zielgerichtet eingesetzt. Territorien außerhalb des Reiches sowie Vertreter der provinzialen Oberschicht wurden über Klientelbeziehungen an die Principes persönlich gebunden.26 Für alle von Caesar und Augustus deduzierten coloniae veteranorum

22

23 24 25 26

die Klienten (clientes), die sich ebenfalls in unsere Treue und unseren Schutz (patrocinium) gegeben haben; dann an dritter Stelle stehen die Gäste (hospites); danach (erst) kommen die Verwandten (cognati adfinesque).“ Gell. 20,1,40 (Übers. in Anlehnung an Weiss): Sic consules, clarissimos viros, hostibus confirmandae fidei publicae causa dedidit, sic clientem in fidem acceptum cariorem haberi quam propinquos tuendumque esse contra cognatos censuit. Neque peius ullum facinus existimatum est, quam si cui probaretur clientem divisui habuisse. Serv. Aen. 6,609: Patronus, si clienti fraudem fecerit, sacer esto. Vgl. Flach 2004, S. 132. Die übliche Abgeltung durch Strafzahlung war in diesem Fall nicht möglich. Die Verletzung der fides gegenüber dem cliens durch den patronus zog die soziale Ausgrenzung, ja Vernichtung des schuldigen patronus nach sich. Vgl. zum Patron-Klient-Verhältnis Ganter 2015 mit weiterführender Literatur. Exemplarisch für die Klientelbeziehungen können hier die Fälle des Häduers C. Iulius Vercondaridubnus oder des milesischen Honoratioren und asianischen Archiereus C. Iulius Epikrates stehen. In beiden Fällen gehen die Klientelbeziehungen bereits auf Caesar zurück und wurden im Prinzipat auf das Kaiserhaus übertragen. Vgl. Edelmann-Singer 2015, 43–46; 90–93; 108; 158, mit weiterführender Literatur. Intensiv untersucht sind auch die Klientelbeziehungen zwischen Rom und der Dynastie der Herodier. Vgl. Baumann 1986; Wilker, 2006; Rocca 2008.

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fungierte Augustus als patronus27, was ihm einerseits den Zugriff auf ein Potential von Zehntausenden Soldatenfamilien und ihren Nachkommen gab, ihn andererseits aber auch im Sinne der clientela verpflichtete.28 Die Soldaten des Heeres und der Flotte sowie natürlich die Prätorianer gehörten zur kaiserlichen Klientel. Schließlich wurde auch die plebs urbana in eine clientela eingebunden, indem Augustus für sie einen Kult mit kollektiven Feiern einrichtete, dessen Inhalt die Verehrung der Lares Augusti und des Genius des Herrschers war. Damit agierten die Principes seit Augustus nahezu als alleinige patroni der plebs urbana.29 Mit dieser weitgehenden Monopolisierung wichtiger Klientel-Verbindungen war die gesellschaftliche Institution der clientela zum festen Baustein der sich entwickelnden Monarchie in Rom geworden. Unter dem Aspekt der fides verknüpften sich entsprechend gegenseitige Erwartungen mit einer solchen kultisch und rechtlich fixierten Beziehung zwischen dem Kaiser und seiner Klientel. Mit diesen Erwartungen nun spielen die römischen Autoren und spiegeln damit die Entwicklungen in den cliens-patronus-Beziehungen in der frühen Kaiserzeit wider. So sind die letzten Worte Neros bei Sueton ‚haec est fides‘ − „Das ist Treue!“30 auch als eine Anspielung auf die vom Kaiser erwartete, in der Todesszene aber eben nicht mehr geübte Treue seiner Leibgarde. Denn die von Nero in die Hilfe des Zenturio interpretierte Treue entpuppt sich als letzter Fehlschluss: Der Soldat will Neros Blutung nicht stillen, um seinen Kaiser zu retten, sondern weil er Befehl hat, ihn lebend zu fangen.31 Auch Cassius Dio deutet im Kontext der Herrschaft Neros bewusst die Anforderungen altrömischer fides-Traditionen im Patronus-Klienten-Verhältnis um. So wird Neros wichtigstem Feldherrn im Osten, Domitius Corbulo, gerade seine soldatische Treue zum Kaiser zum Vorwurf gemacht: Und der Feldherr trog in keinem Falle, enttäuschte freilich alle anderen nur in dem einen Punkte, dass er Nero die Treue hielt; denn das Volk wünschte ihn so sehr an Neros Stelle zum Kaiser zu bekommen, dass sein Verhalten in dieser Hinsicht ihm als einziger Fehler erschien.32

Aber nicht nur die fides des Patron-Klienten-Verhältnisses garantierte das antike Vertrauensverhältnis zwischen Kaiser und Untertanen. Auch der wiederum religiös aufgeladene Kaisereid33, den alle Untertanen leisten mussten34 und dessen voll27 28 29 30 31 32

Vgl. u. a. Levick 1967. Für Italien vgl. Keppie 1983. Vgl. Lott 2004. Suet. Nero 49,4 (Übers. Martinet). Suet. Nero 49,3 f. Cass. Dio 62,19,2–4 (Epitome; Übers. Veh): τοὺς μέντοι ἄλλους ἀνθρώπους καθ᾽ ἓν τοῦτο μόνον ὁ Κορβούλων ἐλύπησεν, ὅτι τὴν πρὸς τὸν Νέρωνα πίστιν ἐτήρησεν: οὕτω γὰρ αὐτὸν αὐτοκράτορα ἀντ᾽ ἐκείνου λαβεῖν ἤθελον ὥστε καὶ κακὸν τὸ μέρος τοῦτο γενέσθαι μόνον ἠξίουν. 33 Vgl. Herrmann 1968; Cancik 2003. 34 Tac. ann. 1,7,2.

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ständiger Vollzug – wie wir unter anderem aus den Briefen des jüngeren Plinius35 wissen – gemeldet wurde, garantierte diese Bindung.36 Als beredtes Beispiel dafür kann an dieser Stelle jener Eid, den die Einwohner der Stadt Aritium in der Lusitania 37 n. Chr. für Caligula schworen, angeführt werden: […] Aus freien Stücken schwöre ich, dass ich ein Feind derjenigen sein werde, die ich als Feinde des Gaius Caesar […] erkannt habe, und wenn jemand ihm oder seinem Wohlergehen Gefahr bringt oder bringen wird, so werde ich nicht ruhen, diesen mit Waffengewalt und vernichtendem Krieg zu Lande und zu Wasser zu verfolgen, bis er die (gerechte) Strafe erlitten hat; und weder mich (selbst) noch meine Kinder werde ich höher achten als sein [Caligulas] Wohlergehen. Wenn ich wissentlich den Schwur breche oder brechen werde, sollen mich und meine Kinder Jupiter, der Beste und Größte, und der vergöttlichte Augustus sowie alle anderen unsterblichen Götter heimatlos machen und mich meiner Gesundheit und jeglichen Vermögens berauben. […]37

Das Zwischenfazit, das ich an dieser Stelle formulieren und der folgenden Argumentation zugrunde legen möchte, lautet also: Fides in den Kaiser lässt sich einerseits aus der römischen Tradition ableiten und auf einer moralisch-ethischen Ebene behandeln, andererseits unterliegt es als gesellschaftliches Prinzip stets einem juristisch und religiös definierten Rahmen.

3. Neros Narrativ: Kaiserheil und Rettung des Staates Vor diesem Hintergrund des fides-Konzeptes im frühen Prinzipat soll im Folgenden zunächst das 59 n. Chr. lancierte Bild vom Ablauf der Ereignisse um die Ermordung Agrippinas betrachtet werden. Es wird zu fragen sein, ob eine Erosion der fidesBindung an den Kaiser hier eine Rolle spielte. Dieses zeitgenössische Narrativ war sicherlich von Nero und dem Hof gesteuert und tritt uns in der Hauptsache in zwei Quellen entgegen: zum ersten in den protokollartigen Aufzeichnungen der Arvalbrüder, die glücklicherweise für das Jahr 59 n. Chr. relativ gut erhalten sind und aufgrund ihrer Vergleichbarkeit mit weiteren Jahresprotokollen aus neronischer Zeit, aber auch mit anderen Zeremonien zu ähnlichen Anlässen einige Schlussfolgerungen zulassen. Zum zweiten muss auch ein von Tacitus, Cassius Dio und 35 Plin. epist. 10,35 f., 52 f., 88 f., 100–103. 36 Plin. epist. 10,52 f. 37 CIL 2,172 (Übers. Schumacher 1988, S. 88–90; Herrmann 1968, S. 122 f.): […] ex mei animi sententia ut ego iis inimicus | ero quos C(aio) Caesari Germanico inimicos esse | cognovero et si quis periculum ei salutiq(ue) eius | in[f]er[t] in[tul]erit[v]e armis bello internecivo | terra mariq(ue) persequi non desinam quo ad | poenas ei persolverit neq[u]e liberos meos | eius salute cariores habebo eosq(ue) qui in | eum hostili animo fuerint mihi hostes esse | ducam si s[cie]ns fa[ll]o fefellerove tum me | liberosq(ue) meos Iuppiter Optimus Maximus ac | divus Augustus ceteriq(ue) omnes di Immortales | expertem patria incolumitate fortunisque | omnibus faxint […].

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Quintilian zum Teil wörtlich zitierter Brief an den Senat, den Nero kurz nach den Ereignissen überstellen ließ und als dessen Verfasser gemeinhin Seneca gilt, Berücksichtigung finden.38 Dieser Brief an den Senat – um mit dieser Überlieferung zu beginnen – offenbart die Argumentationsstrategie des Kaisers und seiner Berater unmittelbar nach den Ereignissen: Man sei einem von der Kaisermutter geplanten Anschlag gegen das Leben des Prinzeps zuvorgekommen oder habe diesen verhindert, habe daraufhin Agrippina mit den Vorwürfen konfrontiert, woraufhin sie sich das Leben nahm.39 In dieser Version der Ereignisse gab es also einen Putschversuch gegen das Leben und die Herrschaft Neros aus der eigenen Familie und somit eine Bedrohung der Sicherheit des Prinzeps. Quintilian zitiert die Eingangsworte des Briefes folgendermaßen: „Dass ich gerettet bin, kann ich noch jetzt weder glauben noch mich darüber freuen.“40 Mit der Rettungsmetapher rief man bewusst das ideologische Ensemble des kaiserlichen Heils auf den Plan, das Nero als den Garanten von Wohlergehen und Bestehen des Staates, ja des ganzen Reiches ansah.41 War der Kaiser in Gefahr, war es auch das Reich. In einem solchen Fall waren die Reichsbewohner nach dem Kaisereid, wie er aus Aritium überliefert ist, durch ihre Eidleistung gezwungen zu handeln: Ich schwöre, dass ich ein Feind derjenigen sein werde, die ich als Feinde des [Gaius] Caesar […] erkannt habe, und wenn jemand ihm oder seinem Wohlergehen Gefahr bringt oder bringen wird, so werde ich nicht ruhen, diesen mit Waffengewalt und vernichtendem Krieg zu Lande und zu Wasser zu verfolgen, bis er die (gerechte) Strafe erlitten hat; und weder mich (selbst) noch meine Kinder werde ich höher achten als sein [Caligulas] Wohlergehen.42

Im Falle eines Putschversuches konnte also nur der Tod des Angreifers, in dem Fall Agrippinas, als gerechtfertigte Abwehr von Gefahren gegen den Kaiser zur notwendigen Stabilisierung des Reiches als Ganzes stehen.43 Folglich führte der 38 39 40 41

Tac. ann. 14,10,3–11,3; Cass. Dio 63,14,2–4. Tac. ann. 14,10,3. Sen. frg. 6: salvum me esse adhuc nec credo nec gaudeo; Quint. inst. 8,5,18 (Übers. Rahn). Vgl. auch die noch deutlichere Interdependenz der salus eines gegenwärtigen oder zukünftigen Kaisers und des Wohles des gesamten Vaterlandes beim Thronfolger Germanicus: Als sich im Oktober 19 n. Chr. in Rom fälschlicherweise das Gerücht verbreitete, Germanicus sei von seiner lebensbedrohlichen Erkrankung genesen, wurden die Rufe laut: salva Roma, salva patria, salvus est Germanicus! (Suet. Cal. 6,1: „Gerettet ist Rom, gerettet das Vaterland, wohlbehalten ist Germanicus.“ Übers. Martinet); vgl. auch Luke 2013, S. 215–217. 42 CIL 2,172 (Übers. Schumacher 1988, S. 88–90; Herrmann 1968, S. 122 f.), vgl. ferner Anm 37. 43 Für ein solches Vorgehen auch gegen Mitglieder der kaiserlichen Familie gab es 59 n. Chr. zwar einige Vorbilder, z. B. die Verurteilung der beiden Juliae durch Augustus oder der Messalina durch Claudius, allerdings wurden diese Fälle, in denen Frauen in Verschwörungen oder Putschversuche gegen die herrschenden Kaiser verwickelt waren, in der Regel unter dem Mantel der sexuellen Verfehlung behandelt und vom Kaiser in seiner Rolle als pater familias abgehandelt. Dafür, dass man diesen Weg hier ebenfalls in Betracht zog, könnten noch die bei Tacitus am Anfang der Muttermord-Episode eingeschobenen Vorwürfe des Inzests als Beleg gelten (Tac. ann. 14,2 f.).

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Muttermord (parricidium44) hier nicht zum Verlust von fides, sondern die Abwehr der Gefahr stärkte das Vertrauen in den bzw. die Treue zum Kaiser, da er damit das Reich gerettet hatte. Der Brief gipfelte dieser Logik folgend auch in dem Satz: „Für den Staat sei es ein Glück, dass sie umgekommen sei.“45 Diese öffentlich im Senat vorgetragene Argumentation wurde auch von der Priesterschaft der Arvales fratres übernommen, die als vom Kaiserhaus gesteuertes, öffentlichkeitswirksames Organ im Herrscherkult in Rom betrachtet werden muss.46 Im Jahr 29/28 v. Chr. hatte Augustus dieses archaische und etwas in Vergessenheit geratene Kollegium und seinen Kult im Zuge seiner religiösen Restaurationspolitik einer Rundumerneuerung unterzogen, was in der Folge zu einer entscheidenden Veränderung der kultischen Aktivitäten wie auch der sozialen Zusammensetzung der Bruderschaft führte. Die Arvalen und ihre Riten wurden von diesem Zeitpunkt an ganz auf die Regierung und die familiären Angelegenheiten des Kaisers und der domus Augusta abgestimmt. Die vom Kaiser handverlesenen Mitglieder des zwölfköpfigen Kollegiums gehörten der kaiserlichen Familie und den höchsten Kreisen des römischen Senats an. Entsprechend können die Treffen, Opferriten und Prozessionen dieser Priesterschaft als Spiegel und Sprachrohr kaiserlicher Willensbekundung betrachtet werden. Ihnen kommt in der öffentlichen Kommunikation in den Wochen nach dem Tod der Agrippina eine wichtige Rolle zu. Gemeinhin wird der Tod Agrippinas auf den Zeitraum zwischen dem 19. und 23. März 59 n. Chr. eingegrenzt. Nur wenige Tage später, am 28. März, kam es zu einem nichtregulären Treffen der Arvales fratres, an dem neun der zwölf Mitglieder teilnahmen, darunter einer der Konsuln (C. Vipstanus Apronianus) und ein consul designatus (T. Sextus Africanus). Das Treffen fand auf dem Kapitol statt, und es wurde im Jahresprotokoll ausdrücklich vermerkt, dass es kein Opfer gegeben habe (Hoc die non est immolatum).47 Man muss wohl davon ausgehen, dass dieses Treffen der internen Abstimmung zum Umgang mit den Ereignissen diente und eine Strategie beschlossen wurde, wie die Priesterschaft darauf in öffentlichen Verlautbarungen reagieren sollte. Die in den nachfolgenden Zeremonien sichtbare einheitliche Deutungs- und Sprachregelung lässt in jedem Fall auf eine solche Absprache schließen. Denn nur acht Tage nach jenem ersten Treffen fand unter Leitung des Magisters L. Calpurnius Piso auf dem Kapitol im Beisein von vier weiteren Arvalen – darunter wiederum der Konsul C. Vipstanus Apronianus – ein außerreguläres Opfer für Jupiter, Juno und Minerva sowie die Salus publica, die Providentia, den Genius des Kaisers und den Divus Augustus statt. Ausdrücklich wurde im Protokoll festgehalten, dass die Zeremonie „auf Beschluss des Senats wegen Dankfesten, die für das Heil (salus) Neros angekündigt wurden“, stattfand.48 Offensichtlich standen sowohl das Treffen am 28. März als auch die Opferzeremonie am 5. April in einem 44 Zu den rechtlichen, moralischen und historischen Aufladungen des Begriffs parricidium vgl. unten Kap. 5. 45 Tac. ann. 14,11,2 (Übers. Heller): publica fortuna exstinctam referens. 46 Vgl. Scheid 1990; ders. 1998; ders. 2019; Edelmann 2003. 47 AFA 28 a–c (ed. Scheid 1998). 48 AFA 28 a–c (ed. Scheid 1998): ex senatus consulto ob supplicationes indictas pro salute Neronis.

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Zusammenhang mit dem Tod der Agrippina und der Anschuldigung, sie habe ein Mordkomplott geplant, dem Nero dank göttlicher Fügung entgangen sei.49 Was wir hier sehen, ist die Argumentation des offiziellen Rom, mit der man der Krise begegnete: Es habe eine Bedrohung gegen das Leben des Kaisers gegeben, aber dank göttlicher Hilfe der Providentia und der Salus sei der Kaiser gerettet worden. Man habe im Sinne des geschworenen Eides gehandelt, der jeden Bewohner des Reiches verpflichtete, den Kaiser unter Einsatz des eigenen Lebens zu schützen. Eine solche diskursive Verhandlung eines Putschversuches hatte im frühen Prinzipat eine gewisse Tradition.50 Aber natürlich musste die Tatsache, dass die Kaisermutter selbst, die Nachfahrin des Augustus und Tochter des Germanicus, Schwester des Caligula, Ehefrau und Priesterin des vergöttlichten Claudius und nach Nero wichtigste Person in der domus Augusta, das Attentat geplant hatte, das Argument schwächen. Denn üblicherweise erstreckte sich die Salus publica auch auf das Wohlergehen der Mitglieder des kaiserlichen Hauses.51 Auf Kosten der seit Beginn des Prinzipats verankerten fides-Beziehung zur domus Augusta versuchte Nero also, die fides-­Bindung an seine Person zu stärken. Dabei griff der Kaiser nicht nur auf das religiöse Gewicht des Kollegiums der Arvalen zurück, sondern man veranstaltete in allen Tempeln Dankfeste und Opfer. Glaubt man der taciteischen Geschichtsschreibung, scheint dieser Ansatz zumindest im Jahr 59 n. Chr. gefruchtet zu haben. Denn selbst der Nero-Kritiker kann den Einzug des Kaisers in Rom nur in Anlehnung an das Ritual des Triumphes schildern: Und wirklich fanden sie mehr Bereitwilligkeit, als sie versprochen hatten: die Stadtbevölkerung zog ihm entgegen, im Festkleid der Senat, Scharen von Frauen und Kindern, nach Geschlecht und Alter geordnet; errichtet waren da, wo er einziehen sollte, Schautribünen wie die, von denen aus man bei Triumphen zusieht.52 49 Vgl. Scheid 1990, S. 394–400. 50 Vgl. die Opfer auf dem Kapitol anlässlich der Aufdeckung der Verschwörung des Lentulus Gaetulicus im Jahr 39 n. Chr. gegen Caligula AFA 13 f–h (ed. Scheid 1998) und Scheid 1990, S. 400–402; vgl. auch Blochmann 2017. 51 So waren die Familienmitglieder in den Kaisereid eingebunden. Ersichtlich wird dies wiederum an den Protokollen der Arvales fratres, die im Jahr 38 n. Chr. die Schwestern Caligulas in die jährlichen vota aufnahmen. (AFA 12 a–f; ed. Scheid 1998). Vgl. auch Tac. ann. 14,7,4. 52 Tac. ann. 14,13,2 (Übers. Heller): et promptiora quam promiserant inveniunt, obvias tribus, festo cultu senatum, coniugum ac liberorum agmina per sexum et aetatem disposita, exstructos, qua incederet, spectaculorum gradus, quo modo triumphi visuntur. Vgl. auch Champlin 2003, S. 219–221. Kritisch dagegen Stein-Hölkeskamp 2015, S. 134, die hier eher eine Pervertierung des Triumphrituals durch Nero sieht. Man sollte allerdings berücksichtigen, dass der Triumph als Ritual immer ein kulturelles Laboratorium darstellte, das Raum für die Verdichtung und Entfaltung politischer Entwicklungen bot. Besondere Beachtung verdient auch die Rolle von Ritualen wie Triumphzügen in literarischen Kontexten. Antike Autoren der Kaiserzeit nutzten Ritualbeschreibungen wegen ihrer allgemein bekannten Abläufe häufig, um deviantes Verhalten zu markieren. So manipulierten sie ihre Triumph-Berichte, um zu signalisieren, dass die Person im Zentrum des Rituals nicht den erwarteten Standards entsprach. Vgl. Beard 2007, S. 272, und Icks 2017.

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Dieses Bild bestätigen wiederum die Arvalakten: Am 23. Juni 59 n. Chr. zeichnet das Jahresprotokoll eine Zeremonie auf dem Kapitol „für das Heil und die Rückkehr Neros“ mit Opfern für Jupiter, Juno und Minerva sowie die Salus publica und die Felicitas (weitere Nennungen sind leider entfallen) auf. Darüber hinaus veranstaltete man an diesem Tag eine Prozession vom Kapitol zum Tempel des Divus Augustus, wo man dem vergöttlichten Augustus, dem vergöttlichten Claudius und der vergöttlichten Augusta Opfer darbrachte. Den Abschluss der Feierlichkeiten dieses Tages bildete eine Prozession auf das Forum Augusti, wo bezeichnenderweise dem Mars Ultor und dem Genius des Kaisers Stiere geopfert wurden. Am 11. September wiederholte sich diese Zeremonie „für das Heil und die Rückkehr Neros“ mit Opfern auf dem Augustusforum für die Göttin Salus, diesmal ergänzt um ein Opfer „vor der domus Domitiana für die Penaten“.53 Nicht nur die Opfer auf dem Augustusforum für Mars Ultor – einem öffentlichen und sakralen Raum, der extrem selten in den Akten der Arvalbrüder auftaucht –, auch der Einzug des Kaisers in Form einer pompa triumphalis verdeutlicht die militärische Aufladung der Ereignisse. Hier wurde der Sieg über Agrippina als Sieg über einen Feind proklamiert, bei dem die Sicherheit des Reiches wiedererrungen worden war. Die Strategie Neros und seiner Berater im Umgang mit dieser ernsthaften Krise, die sich aus dem Tod der Mutter zu entwickeln drohte, scheint in den Monaten unmittelbar nach Agrippinas Tod Erfolg gezeitigt zu haben, nicht zuletzt wohl auch, weil sie von flankierenden Maßnahmen des Senats wie der Verhängung einer damnatio memoriae unterstützt wurde.54 53 AFA 28 a–c (ed. Scheid 1998) [Isdem] | co(n)s(ulibus) | (ante diem nonum) k(alendas) Iulias | [L. Calpurnius L. f. Piso magis]ter collegi fratrum arvalium nómine immolavit | [in Capitolio pro salute et] reditu Neronis Claudi Caesaris August(i) Germanici{i} Iovi | [bovem marem, Iunoni vac]cam, Minervae vaccam, Saluti publicae vaccam, Felicitati | [vaccam −−− v]accam; item in templo novó divo Aug(usto) bovem marem di(v)ae | [Aug(ustae) vacc]am, [divo Claudio bo]vem marem; item in foro Aug(usto) Marti Ultori taurum, Genio | [ipsius ta]urum | In collegio adfu­ erunt M. Valerius Messalla Corvinus, P. Memmius Regulus, | [Sulpiciu]s Camerinus, L. Salvius Otho Titianus. | [T. Sex]tio Africano M. Ostorio Scapulá co(n)s(ulibus) | (ante diem tertium) idus Septembr(es) | [L. Piso L. f(ilius) ma]gister collegii fratrum arvalium nomine immolavit in Capitolio pro | [salute et r]editu Neronis Claudi Caesaris Aug(usti) Germanici Iovi bovem marem, Iunoni | [vaccam,] Minervae vaccam; item in foro Augusto Genio ipsius taurum, Saluti vaccam, | [ante dom]um Dom[it]ianam dis Penatibus vaccam. | In c[ol]legio adfuerunt P. Memmius Regulus, L. Salvius Otho Titianus, | [C. Vipstanus] Ap[ro]nianus, M. Aponius Satur­ninus, T. Sextius Africanus. – Das Opfer für die Penaten fand vor der domus des leiblichen Vaters Neros, Cn. Domitius Ahenobarbus, statt. 54 Vgl. Tac. ann. 14,12; Cass. Dio 62,16,2 (Epitome; Übers. Veh): „Als Nero in Rom einzog, stürzten sie die Standbilder Agrippinas um.“ (ὅτι εἰσιόντος Νέρωνος εἰς τὴν Ῥώμην τοὺς τῆς Ἀγριππίνης ἀνδριάντας καθεῖλον). Vgl. auch die Rasur auf der Ehreninschrift der Musikerkollegien für die julisch-claudische Familie in unmittelbarer Nähe der Meta Sudans (CIL 6,40307). Allerdings deuten die zahlreich erhaltenen Inschriften und Statuen Agrippinas darauf hin, dass es keine flächendeckende Vernichtung ihres Andenkens in Rom gab, geschweige denn im Reich. Beispielhaft seien an dieser Stelle nur das Bogenmonument des Claudius aus Rom zur Verherrlichung der julischen Familienmitglieder (CIL 6,921) oder jene Ehreninschrift aus Magnesia am Mäander für die erste Kaiserpriesterin Juliane, in der Agrippina göttliche Verehrung

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Zwar hören wir bei Cassius Dio und Tacitus vereinzelt von Zweifeln und (meist anonymem) Protest, eine allgemeine Ablehnung der Tat oder gar Unterstützung für Agrippina sucht man allerdings vergebens. Die Mehrheit des Volkes scheint dem Argument der Rettung55 gefolgt zu sein56, ebenso die Mehrheit des Senats. Lediglich von Thrasea Paetus, den Tacitus zum exemplum stilisiert und dessen Rolle im Folgenden noch näher untersucht werden soll, hören wir, er habe den Senat bei Verlesung des erwähnten kaiserlichen Schreibens verlassen.57 Auch die Prätorianer, denen man große Loyalität zur Germanicus-Tochter nachsagte, lassen im Jahr 59 n. Chr. keine Erschütterung der fides in die kaiserliche Herrschaft erkennen. Das Argument der Rettung und des Sieges mag hier ebenso Wirkung gezeitigt haben wie Neros üppiges Donativ.

4. Der postneronische Diskurs: Konstruktion einer Vertrauenskrise als Folge des Mordes an Agrippina Erst für das Jahr 65 n. Chr. wird Agrippinas Tod als Motiv des Vertrauensverlustes in der Prätorianergarde am Fall des Subrius Flavus wieder ins Spiel gebracht – allerdings erst in den nach 110 n. Chr. veröffentlichten Annalen des Tacitus. Die ausführlichste, wenn auch weder in sich stimmige noch mit den übrigen Überlieferungen bei Sueton und Cassius Dio kongruente Darstellung des Muttermordes und seiner Folgen findet sich bei Tacitus im 14. Buch der Annalen.58 Es besteht weitgehend Einigkeit darin, dass die taciteische Schilderung der Ereignisse keine historische Realität wiedergibt, sondern literarische Konstruktion und Deutung ist.59 Nero habe, so Tacitus, angestachelt von seiner neuen Geliebten Poppaea und zunehmend unwillig, sich die politische Einmischung seiner Mutter gefallen zu lassen, beschlossen, sie zu töten. Als Methode habe er auf Rat seines Vertrauten, des Flottenkommandanten Anicetus, einen Schiffsunfall bewusst herbeigeführt, bei dem Agrippina durch eine auseinanderbrechende Barke erschlagen werden oder ertrinken sollte. Der ganze Unfall findet in einem literarisch höchst aufwendig

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erfährt (IvMagnesia 158), genannt. Ebenso könnte man die Darstellungen aus dem Sebasteion von Aphrodisias, die Agrippina, Claudius und den Senat bzw. Agrippina und Nero zeigen, erwähnen oder die intakten Statuen der Kaisermutter aus dem Theater in Herculaneum (CIL 10,1418). Zum uneinheitlichen Umgang mit dem Andenken Agrippinas nach ihrem Tod in Italien und im Reich vgl. Flower 2006. Vgl. Luke 2013. Auch die „ungeheure Menschenmenge“ (Tac. ann. 14,8,1: ingens multitudo), die angeblich die kurzfristige Errettung der Agrippina in ihrer Villa in Baiae feierte, erscheint nicht wieder. Ronning 2006, S. 333. Hier ist gelegentlich auch ein persönliches Motiv hinter Thraseas Haltung vermutet worden, könnte der homo novus sein Konsulat im Jahr 56 n. Chr. doch Agrippinas Fürsprache verdankt und sich daher zu einer gewissen Loyalität verpflichtet gefühlt haben. Tac. ann. 14,1–13. Zumal Tacitus sich hier auch nicht explizit auf seine Gewährsmänner Cluvius Rufus und Fabius Rusticus beruft – was er in anderen Passagen zu Agrippina und ihrer Beziehung zu Nero tut. Vgl. u. a. Tac. ann. 14,2. Zuletzt dazu Drinkwater 2019, S. 176–187.

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inszenierten Setting statt, scheitert aber, da Agrippina sich schwimmend an Land retten kann. Aus Hilflosigkeit angesichts des gescheiterten Mordversuchs und Furcht vor ihrer Rache konstruiert Nero – so Tacitus – ein Komplott Agrippinas gegen ihn und lässt sie wiederum von Anicetus umbringen. In einem Brief an den Senat, verfasst von Seneca, beschuldigt Nero seine Mutter, einen Putschversuch gegen ihn unternommen zu haben. Dieser sei entdeckt worden und Agrippina habe sich daraufhin selbst das Leben genommen.60 Der Text des Tacitus insinuiert, dieser Brief des Kaisers, mit dem Nero die Ereignisse öffentlich machte, Erklärungen lieferte und Gerüchte – wie den Schiffsunfall als Attentatsversuch – dementierte, sei von Teilen des Senats, des Volkes und im Militär als Schuldeingeständnis gewertet worden.61 Der Muttermord – so Tacitus – stellte eine Zäsur dar und war verbunden mit einer Infragestellung der fides-Bindung an den Kaiser und letztlich dem Entzug des konzeptionell gedachten Vertrauens in seine Person. 4.1 Vertrauensverlust im Senat: das exemplum des Thrasea Paetus Exemplarisch62 für den Vertrauensverlust im Senat stellt Tacitus zunächst den Fall des Publius Clodius Thrasea Paetus vor. Thrasea, der aus dem oberitalischen Padua stammte, war im Jahr 56 n. Chr. für einige Monate Konsul gewesen und gehörte zum Kollegium der Quindecimviri. Tacitus stellt ihn als Anhänger der Stoa vor und stilisiert ihn zum Inbegriff eines konservativen, den mores maiorum verpflichteten Senators.63 Neros Tat und die Reaktionen im Senat darauf – nämlich der Beschluss von Dankfesten, die Feier von Spielen anlässlich der Errettung des Prinzeps, die damnatio memoriae der Agrippina – veranlassten Thrasea Paetus zum Verlassen des Senats und zum Rückzug in eine Art innere Emigration64: Thrasea Paetus, der mit Schweigen oder nur knapper Zustimmung schon bisher Fälle von Schmeichelei zu übergehen pflegte, verließ diesmal den Senat und brachte damit sich selbst in Gefahr, ohne damit den anderen einen Weg in die Freiheit zu eröffnen.65 60 Tac. ann. 14,10,1−3. 61 Tac. ann. 14, 1,2 f. 62 Zur exemplarischen Konstruktion der Figur des Thrasea Paetus bei Tacitus vgl. Heldmann 1991 und Devillers 2002. 63 Tac. ann. 14,12,1. Gerade in flavischer Zeit war die Stilisierung des Thrasea Paetus zum „Märtyrer“ der sogenannten „stoischen Opposition“ en vogue. So widmete Arulenus Rusticus dem Thrasea Paetus eine Biographie. Vgl. dazu Ronning 2006, S. 332 mit Anm. 10–12. 64 Vgl. Syme 1991, S. 568–587; Ronning 2006 mit weiterer Literatur zum Oppositionsbegriff und dessen Anwendbarkeit auf Thrasea Paetus; Rudich 1993, S. 38–39, 78–81; De Vivo 1980. 65 Tac. ann. 14,12,1 (Übers. Heller): Thrasea Paetus silentio vel brevi adsensu priores adulationes transmittere solitus exiit tum senatu, ac sibi causam periculi fecit, ceteris libertatis initium non praebuit. Vgl. auch Cass. Dio 62,5,1–4.

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Das von Tacitus im weiteren Verlauf der Annalen geschilderte Verhalten des Thrasea Paetus weist weitere Aspekte einer Vertrauenskrise auf – und zwar einer Vertrauenskrise, die sich zum einen auf die Person und das Umfeld Neros kaprizierte, die zum andern aber auch systemische Züge hatte: So verweigerte er die Teilnahme an der Konsekration der Poppaea, was als Nicht-Glauben an ihre Göttlichkeit interpretiert wurde; er verweigerte die Eide auf die acta des vergöttlichten Augustus und Caesar und auf die acta Neros selbst.66 Außerdem – und dies mag als gravierendstes Zeichen eines systemischen Vertrauensverlustes im Sinne eines fides-Verlustes gesehen werden – blieb er den vota für den Kaiser fern.67 Mehrfach brach Thrasea Paetus daneben aus der konsensualen Haltung des Senats aus und verletzte so die ungeschriebenen Normen im Verhalten zwischen Kaiser und Senat.68 Als Konsular, Priester und Bürger erfüllte er also seine Aufgaben nicht und stellte damit infolge eines massiven Vertrauensverlustes sowohl die herrscherlichen Qualitäten des Prinzeps als auch die Akzeptanz des Systems in Frage. 4.2 Vertrauensverlust beim Militär: das exemplum des Subrius Flavus Auch den Vertrauensverlust unter den Soldaten stellt Tacitus anhand eines exem­plum dar, das am Beginn des Beitrags bereits kurz angeklungen ist. Im Zuge der Pisonischen Verschwörung soll auch der Tribun der Prätorianergarde Subrius Flavus69 verhaftet und nach seinen Motiven befragt worden sein, aus denen heraus er seinen Fahneneid gebrochen habe. Seine Antwort lautete: Keiner von den Soldaten war dir treuer (fidelior), solange du es verdientest, geliebt zu werden: zu hassen begann ich dich, nachdem du zum Mörder deiner Mutter und deiner Gattin, zum Wagenlenker und Schauspieler und Brandstifter geworden warst.70

66 Tac. ann. 16,22,3. 67 Tac. ann. 16,22,1. 68 Vgl. Tac. ann. 14,48. Im Prozess vor dem Senat gegen den Praetor Antistius Sosianus wegen Schmähgedichten auf den Kaiser (62 n. Chr.) strebte Nero eine Verurteilung zum Tod an, um dann Milde walten zu lassen. Thrasea Paetus verließ die übliche Linie des Senats, dem Willen des Kaisers zu folgen, und plädierte stattdessen für die in diesen Fällen übliche Verbannung. Er nahm damit dem Kaiser die Möglichkeit, clementia zu zeigen und sich als princeps civilis zu präsentieren. Vgl. dazu Ronning 2006, S. 336–339. Außerdem argumentierte Thrasea Paetus wiederholt gegen eine provinzialenfreundliche Haltung des Senats und stellte sich so explizit gegen eine zunehmende Provinzialisierung des Senats. Vgl. beispielsweise den bei Tacitus geschilderten Prozess gegen den Kreter Claudius Timarchus: Tac. ann. 15,20–22; Ronning 2006, S. 339 f. 69 Vgl. Champlin 2005, S. 186. 70 Tac. ann. 15,67,2 (Übers. Heller): interrogatusque a Nerone, quibus causis ad oblivionem sacramenti processisset, „oderam te“ inquit. „nec quisquam tibi fidelior militum fuit, dum amari meruisti: odisse coepi, postquam parricida matris et uxoris, auriga et histrio et incendiarius extitisti“.

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Subrius Flavus verkörpert im taciteischen Werk als einer der wenigen ohne Einschränkungen den mos maiorum. Entsprechend stark wirkt seine Aufkündigung der fides-Beziehung als Anklage und Zeugnis gegen Nero. Zwei Aspekte fallen in dieser bemerkenswerten Aussage ins Auge: zum ersten der klare Hinweis auf den gebrochenen Fahneneid, das sacramentum. Er verdeutlicht, dass fides in den Kaiser nicht als persönliche oder individuelle Angelegenheit aufgefasst wurde, sondern immer einherging mit dem Bruch des jährlich zu leistenden Eides für das Wohlergehen des Kaisers, das verbunden war mit dem Heil des Staates. Die häufig in der Forschungsliteratur zu findende These, gerade in der Pisonischen Verschwörung seien persönliche Motive vorrangig gewesen71, muss folglich relativiert werden.72 Zum zweiten verdeutlicht die Aufzählung der vermeintlichen Schandtaten Neros, an deren Beginn der Mord an Agrippina steht, wie stark Tacitus hier auf die sich in flavischer Zeit entwickelnde Argumentationsstrategie bei der Verurteilung Neros zurückgreift. Muttermörder, Wagenlenker, Schauspieler und Brandstifter – dies sind die Devian­zen kaiserlichen Verhaltens, mit denen Nero seit den Flaviern charakterisiert wurde. Das Narrativ der Quellen zeichnet vor allem die Hinwendung zur Kunst parallel zur persönlichen Entwicklung des Kaisers, die als Fehlentwicklung und Entmenschlichung dargestellt wird. Dieser Prozess fand seinen scheinbaren Höhepunkt im apokalyptischen Szenario des Brandes im Sommer 64 n. Chr.73 Vielfach hat die Forschung inzwischen gezeigt, dass die künstlerische Betätigung Neros in einem größeren Kontext der inneraristokratischen Statuskonkurrenz betrachtet werden muss.74 Beginnend mit der späten römischen Republik, vor allem aber im Prinzipat erweiterte oder verlagerte sich der Raum inneradeliger Konkurrenz hin zu kulturellen Fähigkeiten wie Dichtung und Musik.75 Das Scheitern dieses Ansatzes geschah letztlich nicht, weil das Konkurrenzfeld der Kultur generell auf Ablehnung stieß, sondern weil Nero politisch scheiterte. Damit bot sich Neros Künstlertum 71 72 73 74 75

Vgl. u. a. Rudich 1993, S. 75−131; Drinkwater 2019, S. 203−209; Sonnabend 2016, S. 208−210. Vgl. dazu auch Edelmann-Singer 2017, S. 139−141. Vgl. Edelmann-Singer 2014. Vgl. Rilinger 1996; Champlin 2003; Malitz 2004; Meier 2008; Pausch 2013. Vgl. Pausch 2013, S. 62–70, mit zahlreichen Beispielen. „Neben die traditionell als standesgemäß geltenden Betätigungen als Redner und Historiker treten seit der späten Republik vielfältige literarische Formen, unter denen gerade auch die Dichtung eine wichtige Rolle spielt. Seit augusteischer Zeit wird daher nicht nur die Patronage von Literatur, sondern auch ihr aktives Verfassen sowie ihre Rezitation vor Publikum zu einem zentralen Element der Statusrepräsentation der politisch weitgehend entmachteten Nobilität. Die auf diese Weise zur Schau gestellte kulturelle Kompetenz dient zum einen zur Abgrenzung der alten Eliten von den zahlreichen Aufsteigern der frühen Kaiserzeit, sie ersetzt zum anderen aber auch den mit dem Ende der Republik weitgehend entfallenen Wettkampf um politische Ämter und die damit verbundene Distinktion innerhalb der Aristokratie. Der mit diesem Prozess verbundenen gesellschaftlichen Aufwertung des durch literarische Betätigung gewonnenen Prestiges konnten sich naturgemäß auch die Mitglieder des Kaiserhauses nicht entziehen, vielmehr waren sie häufig treibende Kräfte dieser Entwicklung.“ (Ebd. S. 63 f.). Vgl. daneben Künzer 2016, S. 80−85.

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ideal als Angriffsfläche für eine nachträgliche Abwertung an.76 Auch die Dekon­ struktion der Quellen zur neronischen Baupolitik kann klar zeigen, dass der negative Diskurs auf dem Feld der Architektur mit den Flaviern begann und erst mit ihrer hasserfüllten Ablehnung Neros dessen urbanistische Gestaltungsideen zum Symbol seiner Schreckensherrschaft mutierten.77 Der Topos des Brandstifters korrelierte mit der nachträglichen Verunglimpfung seiner Stadtgestaltung, die großen Widerstand im Senat erfuhr, da sie senatorische Rechte ökonomisch, politisch und sozial in Frage stellte.78 Sind also die Vorwürfe des Künstlertums und des Brandstiftertums in der uns bekannten Massivität und Deutlichkeit als klare nachträgliche Zuschreibungen erklärbar, wirft das auch ein anderes Licht auf den Vorwurf des Muttermordes, der als klare Zäsur in der Biographie Neros und Wende hin zum Schlechten kon­ struiert wird. Eine literarische Umdeutung aus politischen Gründen ist auch hier die wahrscheinlichste Erklärung. Es liegt also nahe, in Motiv und Darstellung des Subrius Flavus eher eine auf einer für uns kaum noch rekonstruierbaren historischen Realität beruhende literarische Fiktion anzunehmen79 – wie die gesamte Episode der Pisonischen Verschwörung so, wie sie uns von Tacitus beschrieben wird, schon aufgrund ihrer Personenkonstellation und ihres dem Caesar-Attentat nachempfundenen theatralischen Ablaufs samt Komik des Scheiterns als literarische Fiktion betrachtet werden muss.80

76 Vgl. Flower 2006, S. 209–211; Champlin 2003, S. 6–35. Diese nachträgliche Abwertung setzte nicht unmittelbar nach Neros Tod ein. Noch die Nachfolger im Vierkaiserjahr rekurrierten auf Neros Künstlertum. Vitellius beispielsweise ließ 69 n. Chr. Neros Totenfeier mit dessen eigenen Kompositionen untermalen und klatschte begeistert Beifall (Suet. Vit. 11,2; vgl. Pausch 2013, S. 70). Erst mit dem Beginn der flavischen Dynastie traten die Stereotype des schlechten Kaisers Nero ihren Siegeszug an. 77 Vgl. Edelmann-Singer 2014, S. 90. Auch in Bezug auf Neros Bauten lässt sich zeigen, dass mit Vespasian ein deutlicher Bruch mit der neronischen Architektur stattfand, der sich dann zunehmend auch im literarischen Diskurs niederschlug. Die unmittelbaren Nachfolger Neros schätzten dagegen seine Bauten, darunter auch die später so viel geschmähte domus aurea (vgl. u. a. Mart. spect. 2). Otho soll im Jahr 69 n. Chr. 50 Millionen Sesterzen bewilligt haben, um die domus aurea fertig zu stellen (Suet. Otho 7,1), und auch Vitellius soll den Palast bewohnt haben, allerdings waren er und seine Frau unzufrieden mit der Ausstattung und der räumlichen Gestaltung; Cass. Dio 64,4,1 (Epitome). Im Gegensatz zu Vespasian und Titus gestaltete sich unter Domitian das Verhältnis zu Nero gänzlich anders; vgl. dazu Nauta 2010. 78 Vgl. Edelmann-Singer 2014 zur ökonomischen und sozialen Dimension der neronischen Stadtgestaltung, zu den Widerständen aus den Senatskreisen sowie der dystopischen Überformung in flavischer Zeit. 79 Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass auch in der medialen Aufarbeitung der Ereignisse des Jahres 65 n. Chr. wiederum auf das Konzept der salus zurückgegriffen wurde und die Göttin Salus auf neronischen Münzen gemeinsam mit dem Kaiser abgebildet wurde (RIC I Nero Nr. 60, BMCRE 90). Ich danke den Herausgebern des Bandes für diesen Hinweis. 80 Vgl. u. a. Woodman 1993; Edelmann-Singer 2017, S. 139–142. Flaig schreibt der taciteischen Schilderung der Pisonischen Verschwörung dagegen Glaubwürdigkeit zu und nimmt an, bereits 65 n. Chr. sei der zunächst von vielen gebilligte Mord an Agrippina aufgrund der darauf-

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4.3 Vertrauensverlust in der plebs urbana Neben Senat und Militär konstruierte die spätere Geschichtsschreibung auch für die plebs urbana, die in der modernen Forschung mitunter als dritte herrschaftsrelevante Gruppe definiert wird81, einen Vertrauensverlust, dessen Ursprünge sie in der Ermordung der Mutter ansiedelte. Cassius Dio nahm diesen Vertrauensverlust explizit auf und versuchte, ihn anhand zahlreicher Beispiele zu belegen. So beschrieb er unter anderem, wie die plebs in subversiven Aktionen ihr Missfallen über den Muttermord ausgedrückt habe: Als Nero nach dem Mord an seiner Mutter Rom betrat, huldigte ihm das Volk in der Öffentlichkeit, im vertrauten Kreise jedoch, solange man wenigstens seine Gedanken ohne Gefahr aussprechen konnte, rissen ihn die Leute voll Erbitterung herunter. So hängten sie einmal nachts einen Ledersack an eines seiner Standbilder, um damit anzudeuten, daß er hineingesteckt zu werden verdiene. Dann wieder setzten sie auf dem Forum ein Kleinkind aus, an dem ein Täfelchen mit der Aufschrift befestigt war: ‚Ich will dich nicht groß ziehen, damit du deine Mutter nicht umbringst.‘82

Flaig postulierte 2003, es habe sich beim „Akzeptanzverlust“ im Volk um eine Entwicklung gehandelte, die nicht mit dem Mord an Agrippina einsetzte, aber später um diesen herum konstruiert wurde. Anders als die Autorin ging Flaig allerdings davon aus, dass sich die Sicht auf das Geschehen von 59 n. Chr. bereits zum Zeitpunkt der Pisonischen Verschwörung im Jahr 65 n. Chr. gewandelt hatte und der Tod Agrippinas nun zwar nachträglich, aber noch in neronischer Zeit zum Ausgangspunkt des sich verschlechternden Verhältnisses umgedeutet wurde. Maßgeblich für diese Umdeutung sei der Verstoß Neros „gegen römische moralische Normen“ gewesen.83 Gerade bei der Reaktion der stadtrömischen plebs haben wir es allerdings mit einem „bereits in der Antike geschaffenen Konstrukt [zu tun], das aus durchsichtigen folgenden negativen Entwicklung des kaiserlichen Verhaltens als Umschwung zum Schlechten interpretiert worden: „Ein politisch gebilligter Akt der Staatsräson, der zunächst breite Zustimmung gefunden hatte, wurde so nachträglich zum Verbrechen.“ (Flaig 2003, S. 352). 81 Flaig 2003; ders. 2014; Sünskes-Thompson 1993. Das bereits 1992 vorgestellte Akzeptanzmodell Flaigs ist umstritten (Flaig 2019), weil es die römische Gesellschaft zu unterkomplex und schematisch abbildet. Vgl. zu Kritik und Modifikationsvorschlägen u. a. Zimmermann 1999, S. 127−143, ders. 2011, S. 197−205, und Künzer 2012, S. 71 f. Vgl. auch Kröss 2017 und bereits Yavetz 1969. 82 Cass. Dio 62,16,1 f. (Epitome; Übers. Veh) Νέρωνα δὲ μετὰ τὸν τῆς μητρὸς φόνον ἐσιόντα ἐς τὴν Ῥώμην δημοσίᾳ μὲν ἐθεράπευον, ἰδίᾳ δέ, ἐν ᾧ γε καὶ παρρησιάσασθαί τινες ἀσφαλῶς ἐδύναντο, καὶ μάλα αὐτὸν ἐσπάραττον. τοῦτο μὲν γὰρ μολγόν τέ τινα ἀπ᾽ ἀνδριάντος αὐτοῦ νύκτωρ ἀπεκρέμασαν, ἐνδεικνύμενοι ὅτι ἐς ἐκεῖνον αὐτὸν δέοι ἐμβεβλῆσθαι· τοῦτο δὲ παιδίον ἐς τὴν ἀγορὰν ῥίψαντες προσέδησαν αὐτῷ πινάκιον λέγον „οὐκ ἀναιροῦμαί σε, ἵνα μὴ τὴν μητέρα ἀποσφάξῃς“. Bei Cassius Dio finden sich weitere Beispiele (Cass. Dio 62,16,2a [Epitome]; Cass. Dio 62,2,22–3 [Epitome]). 83 Flaig 2003, S. 352.

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Interessen vorgenommen wurde“84. Denn die plebs erfüllte im postneronischen Narrativ nicht selten die Funktion einer moralischen Instanz.85 Dabei wies die literarische Instrumentalisierung der plebs vor allem bei Tacitus unterschiedliche Zielrichtungen auf, und dies erforderte eine innere Differenzierung dieser Gruppe. Damit gelingt es Tacitus einerseits, den Kaiser über die plebs zu kritisieren, sie kann ihn in seinem Fehlverhalten aber auch bestärken und so sein moralisch-politisches Versagen im Text verstärken. Am deutlichsten tritt diese Ambivalenz der plebs am Beginn der Historien in jener Passage zutage, in der die Reaktionen auf Neros Tod beschrieben werden: Der integre und den großen Domus verbundene Teil des Populus (pars populi integra et magnis domibus adnexa), die Klienten und Freigelassenen der Verurteilten und Exilierten, waren von Hoffnung erfasst: die niedrige und an Circus sowie Theater gewöhnte Plebs (plebs sordida et circo ac theatris sueta), ebenso die schlimmsten Sklaven und auch die, die von Neros Schande lebten, nachdem sie ihren Besitz verprasst hatten, waren traurig und begierig auf Gerüchte.86

Jener zuerst genannte Teil der plebs ist dann wohl auch gemeint, wenn von den zunehmend kritischer werdenden Reaktionen der plebs in den Annalen nach 59 n. Chr. die Rede ist. Die pars populi integra et magnis domibus adnexa interveniert im taciteischen Werk immer in jenen Situationen, in denen Neros deviantes Verhalten verurteilt wird, so beispielsweise bei der Scheidung von Octavia87, der Heirat mit Poppaea88, beim Brand Roms89 oder bei seinen Auftritten als Künstler.90 Der postneronische Diskurs91, exemplarisch dargestellt an Tacitus, präsentiert uns also die Krise der neronischen Herrschaft als Vertrauenskrise, ausgelöst und befördert durch die Ermordung der Mutter 59 n. Chr. und alle herrschaftsrelevanten Gruppen betreffend.92

84 Zimmermann 2011, S. 203. 85 Vgl. Kröss 2017, S. 124–174. 86 Tac. hist. 1,4,3 (Übers. Kröss): pars populi integra et magnis domibus adnexa, clientes libertique damnatorum et exulum in spem erecti: plebs sordida et circo ac theatris sueta, simul deterrimi servorum, aut qui adesis bonis per dedecus Neronis alebantur, maesti et rumorum avidi. 87 Tac. ann. 14,60,5–61,4; Suet. Nero 35,2. 88 Tac. ann. 14,61,1; Suet. Nero 35,3. 89 Tac. ann. 15,44. 90 Tac. ann. 16,5. 91 Vgl. Schubert 1998. 92 Zur bereits in der Antike vorgenommenen Konstruktion dieser Gruppen − Heer, Senat und plebs urbana − vgl. u. a. Zimmermann 2011, 203–205; Kröss 2017.

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5. fides und parricidium Warum erklärte Tacitus nun gerade den Muttermord zur tieferen Ursache des Vertrauensverlustes?93 Im zweiten Teil des Beitrags94 habe ich dargelegt, welch starke Aufladung die fides als ein aus der römischen Tradition kommendes und im frühen Prinzipat neubelebtes Konzept besaß, das sowohl auf einer moralisch-ethischen Ebene aber auch in einem juristisch und religiös definierten Rahmen funktionierte. Dem Kaiser sein Vertrauen zu entziehen, implizierte nicht nur einen Verstoß gegen die mores maiorum, sondern stets auch den Bruch eines heiligen Eides oder eines religiös aufgeladenen Beziehungsverhältnisses.95 Eine Verletzung der fides stellte folglich Tabubrüche in mehrfacher Hinsicht dar. Dafür brauchte es triftige Gründe, ja mehr als das: Um einen Bruch dieses Verhältnisses zu rechtfertigen, brauchte es wiederum ein religiös behaftetes Verbrechen desjenigen, dem man Treue geschworen hatte und dem man durch die stärkste soziale Bindung, die die römische Gesellschaft außerhalb der Familie kannte, verbunden war. Ein solches Vergehen stellte ein parricidium dar.96 Parricidium bezeichnete spätestens seit der ausgehenden römischen Repu­ blik den Mord an einem nahen Verwandten und wurde seit ca. 50 v. Chr. durch ein eigenes Gesetz, die lex Pompeia de parricidiis97, aus den übrigen Tötungsdelikten herausgegriffen. Die Strafe für dieses Verbrechen bestand im Einnähen des Täters mit verschiedenen Tieren – einer Schlange, einem Affen, einem Hund und einem Hahn – in einen Sack, der dann ins Wasser geworfen wurde, so dass der Delinquent ertrank.98 Parricidium allerdings fand in der späten Republik und frühen Kaiserzeit nicht nur für Verbrechen innerhalb der Familie und Mord generell Anwendung, sondern wurde weiter gefasst und auf Mord am Staatsoberhaupt oder Verbrechen gegen

93 Folgt man Flaig, war diese Verbindung von Herrschaftskrise und Muttermord nicht zwingend notwendig. „Unter mehreren möglichen Zäsuren – der Brudermord hätte sich ebensogut angeboten wie der Muttermord –, welche das kulturelle Gedächtnis setzte, um die ‚gute‘ Ära von der ‚bösen‘ abzusondern, gewann diese die stärkste Beachtung […].“ (Flaig 2003, S. 352). 94 Vgl. Kap. 2 oben. 95 Vgl. Cancik 2003, S. 42: „Die Eidesleistung schafft durch ihre juristischen Folgen, die kultische und verbale Inszenierung eine Bindung (vinculum) zwischen Kaiser und Bürgern, der Bürger untereinander, im Osten des Reiches besonders zwischen Hellenen und Römern, die denselben Eid schwören. […] Im Vergleich zu anderen religiösen Texten der griechischen und römischen Antike ist mir das starke persönliche commitment auffällig, das in den Kaisereiden gefordert wird. Die Eigenliebe (conservatio sui), die Kinderliebe, die Bindung an die Sippe werden ausgerichtet auf den Caesar.“ 96 Vgl. Cic. S. Rosc. 70; Lassen 1992; Barton 1994, S. 55–57; Biscotti 2018, S. 14–15 mit weiterer Literatur. 97 Dig. 48,9. Vgl. Thomas 1981; Fanizza 1979. 98 Vgl. Cass. Dio 62,16,1. Neros Standbild wird mit einem Sack behängt, der andeuten soll, er verdiene die Strafe der Verwandtenmörder.

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den Staat selbst ausgedehnt.99 Cicero belegte Dolabella in seinen Philippika mit dem Vorwurf des patriae parricidium.100 Catilina wird ebenfalls mit diesem Vorwurf konfrontiert.101 Auch im Kontext der Ermordung Caesars wird der Begriff von Cicero diskutiert und offenbar von den Anhängern Caesars auf die Caesarmörder angewendet.102 Die Iden des März, so berichtet es Sueton später, wurden parricidium genannt.103 Der ultimative Staatsstreich also wurde in den Kontext des religiösen Tabubruchs schlechthin gestellt und mit dem Mord an Familienmitgliedern verbunden. Gleichzeitig haftete dem parricidium eine enorme moralische Aufladung an, da es das durch fides gesicherte Grundgerüst der römischen Gesellschaft zerstörte.104 Es zeichnet sich in der Verwendung des Begriffes also ab, dass er über den Tatbestand des Mordes an Eltern und nahen Verwandten hinaus einen Menschen charakterisierte, der römische Werte in ihren Grundfesten erschütterte.105

99 Vgl. Lassen 1992. Biscotti 2018, S. 16 f., weist explizit auf den Bürgerkrieg als Entstehungshintergrund der lex Pompeia de parricidiis hin: „In the middle of the first century BC, when social tension, proscriptions, civil wars, and the impoverishment of democratic arrangements had completely ruined the res publica, ‚sons were impregnated with paternal blood: it was harshly debated who was entitled to obtain the severed head of the parent‘ [Lucan. 2,150] and it was realized that even within the family realm ‚there is nothing so sacred which cannot be sometimes violated by audacity‘ [Cic. S. Rosc. 70].“ Nero also mit dem Vorwurf des parricidium zu belegen, ruft im kollektiven Gedächtnis die Erinnerung an die Bürgerkriege des 1. Jahrhunderts v. Chr. auf. 100 Vgl. Cic. Phil. 11,29, auch Cic. Phil. 2,27; 4,5; 11,27; 12,13; 14,27.32.35. 101 Vgl. Cic. Catil. 1,17,12 f. 102 Vgl. Cic. fam. 12,3; Phil. 1,14; 4,2; 2,31. 103 Suet. Iul. 88 (Übers. Martinet): Curiam, in qua occisus est, obstrui placuit Idusque Martias Parricidium nominari, ac ne umquam eo die senatus ageretur. („Man beschloß, das Rathaus, in dem er ermordet worden war, zu verriegeln und zu verrammeln und den fünfzehnten März ‚Vatermordtag‘ zu nennen, ferner sollte der Senat an diesem Tag niemals mehr tagen.“) 104 Vgl. Cic. Catil. 2,7. Zur antiken Diskussion um den Begriff vgl. Quint. inst. 8,6,34–36. Interessant ist der Fall Nero – Agrippina auch vor dem Hintergrund, dass der Muttermord in der Überlieferung deutlich seltener vorkommt als der Vatermord. Vgl. Biscotti 2018, S. 24: „Matricide, rare in Roman history, is rooted mainly in this kind of context: either the mother takes on the paternal role of control, deprivation, and abuse of power […], or, more frequently, there is an ambiguous relationship between mother and son, where the son’s incestuous desires remain frustrated.“ 105 Dass die Bewertung des Tabubruchs sich im Nachklang nicht nur auf die römischen Werte erstreckte, sondern in das größere kulturelle Programm des griechisch-lateinischen Kulturkreises eingebettet wurde, belegt Cass. Dio 62,16,2 (Epitome), der schon den Zeitgenossen den Bezug zu den Muttermördern der griechischen Tragödie, Orestes und Alkmaion, unterstellt. Vgl. Lefebvre 2017, S. 210–214.

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Indem Tacitus Nero des parricidium schuldig sprach106, ermöglichte er in seinem Narrativ den Senatoren, Soldaten und dem Volk die Loslösung von Nero, an den sie eidlich und durch die fides der clientela gebunden waren.

6. Fazit Vertrauen in den Prinzeps war in der Zeit des frühen Prinzipats eine institutionalisierte Größe. Durch die Eidleistung aller Untertanen und jährlich zelebrierte vota wurde eine Verletzung der fides dem Herrscher gegenüber zum Eidbruch. Beide von mir skizzierten Diskurse, die den Tod der Agrippina verhandeln, spiegeln die Existenz einer Vertrauenskrise. In der Konsequenz zeigen sie aber völlig unterschiedliche Ergebnisse: Der zeitgenössische Diskurs, wie wir ihn in Ansätzen noch zwischen März und September 59 n. Chr. aus den Arvalakten und Senecas Brief an den Senat rekonstruieren können, stilisierte den Tod Agrippinas zur Abwehr eines Putsches und forderte damit fides dem Prinzeps gegenüber ein. Die Krise wurde durch traditionelle Rituale zu einer heilsgeschichtlichen Errettung umgedeutet und Vertrauen so neu produziert. Ganz anders funktionierte das postneronische Narrativ. In ihm wurde eine Blaupause für die Deutung des Endes der julisch-claudischen Dynastie geliefert. Dieses Ende verknüpfte das moralische Versagen des Kaisers mit der Auflösung der fides-Pflicht. Der Muttermord gewann erst in der Geschichtsschreibung den Charakter einer Zäsur und markierte nun den Beginn eines systematisch um sich greifenden, sub­ stantiellen und alle herrschaftsrelevanten Gruppen betreffenden Vertrauensverlustes. Dieser wurde vor dem Hintergrund des spätrepublikanischen Normierungsbestrebens um den Straftatbestand des parricidium konstruiert. Durch die narrative Überhöhung des Schiffsunfalls zum bühnenhaft-theatralischen Ereignis, das sich allein aus dem subjektiven Empfinden Neros, sich seiner dominanten Mutter entledigen zu wollen, ergab, reduzierte die Geschichtsschreibung das Geschehen auf einen hinterlistigen, religiös tabuisierten Muttermord, ein Ereignis also, das die ethisch-moralische Schwäche Neros in den Fokus rückte. Vor allem der Bericht des Tacitus erweist sich als logisch gesetzter Baustein in der postneronischen Ausdeutung des Endes der julisch-claudischen Epoche als Abstieg. Zur Rekonstruktion zeitgenössischer Diskurse oder gar historischer Realität ist er indes nur mit großer Vorsicht heranzuziehen.

106 Tacitus verwendet den Terminus des parricidium mehrfach in den Annalen. So wird der Mord am Britannicus als parricidi exemplum (Tac. ann. 13,16,4) vorgestellt. Agrippinas Zweifel an Neros Befehl zu ihrer Ermordung wird mit non imperatum parricidium wiedergegeben (Tac. ann. 14,8,4). Subrius Flavus argumentiert ebenfalls: odisse coepi, postquam parricida matris et uxoris, auriga et histrio et incendiarius extitisti (Tac. ann. 15,67,2). Vgl. auch Cass. Dio 61,13,3. Vgl. Lefebvre 2017, S. 175 f.

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Vertrauen und Vertrauensverlust in antiken Gesellschaften – Abschließende Bemerkungen Philipp Brockkötter/Stefan Fraß Es soll an dieser Stelle keine redundante Diskussion der theoretischen Konzeptionen von Vertrauen oder von Vertrauensverlust und den möglicherweise daraus resultierenden politischen, ökonomischen, sozialen und religiösen Krisen erfolgen. Dies wurde bereits ausführlich in der Einleitung dieses Sammelbandes geleistet. Vielmehr sollen hier ein abschließendes Resümee gezogen werden und mögliche weiterführende Themenbereiche sowie Fragestellungen aufgezeigt werden, welche mit den Konzepten von Vertrauen und Vertrauensverlust in antiken Gesellschaften untersucht werden können. Auf diese Weise möchte der Sammelband auch Perspektiven für die weitere Erforschung der Thematik eröffnen. Die Beiträge im Sammelband stellen sehr eindrücklich die Bedeutung von Vertrauen sowohl in individuelle Akteure als auch in Institutionen als notwendige Voraussetzung für stabile soziale Systeme jeder Art heraus. Ein Verlust von Vertrauen wiederum führt zu Destabilisierungsprozessen und mitunter sogar zum Systemkollaps. Es ließe sich nun aber auch die Frage stellen, ob nicht ebenso ein zu großes Vertrauen sowohl in Institutionen als auch in Individuen ebenso destabilisierend wirken kann. Gerade wenn das Vertrauen zur Routine geworden ist und möglicherweise auch auf der Ignoranz oder den Hoffnungen der Vertrauenden beruht, kann dies gravierende Folgen für ein soziales System haben.1 Zur Verdeutlichung soll das Beispiel aus der Einleitung über Vergils Version zum Troianischen Pferd noch einmal aufgegriffen werden.2 Denn dieses ist nicht nur ein Exempel für die Ursachen von Vertrauen und Vertrauensverlust. Vielmehr zeigen die Fassung des Vergil und die ihr zugrundeliegenden mythischen Geschichten, wie in der Einleitung ausgeführt, ebenso deutlich auf, welches destruktive Potential ein zu großes Vertrauen in sich bergen kann. So entscheiden sich in der vergilischen Variante die Troianer dazu, mit Sinon einem gefangengenommenen Feind zu vertrauen.3 Dies geschieht just in dem Moment, in welchem die Gemeinschaft der Troianer die Frage diskutiert, ob man das hölzerne Pferd, welches von den abgezogenen Griechen zurückgelassen wurde, in die Stadt bringen oder vernichten solle.4 Sinon schafft es, das Vertrauen der Troianer aufgrund seiner rhetorischen Fähigkeiten zu gewinnen und diese davon zu überzeugen, das Pferd in die Stadt zu schaffen.5 Dem mahnenden Einspruch des troianischen Priesters Laokoon, der eigentlich 1 Zur Bedeutung von Vertrauensroutinen sowie deren Auswirkungen vgl. Möllering 2006, S. 51–76; Endreß 2002, S. 68–72, sowie ders. 2010a, S. 33 2 Verg. Aen. 2,1–267. 3 Zu Vergils Figur des Sinon und deren Wurzeln im Troianischen Sagenkreis vgl. Jones 1965. 4 Verg. Aen. 2,31–49. 5 Verg. Aen. 2,57–198.

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eine weitaus höhere Vertrauenswürdigkeit genießen müsste als der Kriegsgefangene Sinon, wird nicht vertraut.6 Sein grausamer Tod durch offenbar göttliches Eingreifen bestärkt die Troianer nur in ihrem zu Sinon gefassten Vertrauen.7 Der Untergang Troias ist damit besiegelt. Doch wie konnte es dazu kommen? Neben den narratologischen Notwendigkeiten spiegeln dieser Mythos und seine Bearbeitung durch Vergil sicherlich auch ein psychologisches Verständnis von Vertrauen wider. Denn, wie Vergil seinen Aeneas selbst sagen lässt, war es nicht nur das göttliche Schicksal, welches zur Vernichtung Troias führte, sondern auch die Verblendung der Troianer.8 Denn diese wollten Sinon glauben, dass die Griechen abgezogen seien und den zehnjährigen Krieg verloren gegeben hätten. Sie wollten glauben, dass es sich bei dem hölzernen Pferd um ein Weihegeschenk der Griechen handle. Den Warnungen des Laokoon wollten sie umgekehrt jedoch nicht glauben, obwohl er eigentlich als Priester ein höheres (institutionalisiertes) Vertrauen genießen müsste, als Sinon. Vielmehr waren sie gewillt, zu glauben, dass dessen Tod eine Strafe für seine Zweifel sei, da die Götter doch auf der eigenen Seite sein müssten. All dies glaubten sie, weil sie glauben wollten, dass ihr langes Leiden aufgrund des zehnjährigen Krieges endlich ein Ende gefunden habe.9 Hier führten also Hoffnung und Vertrauen, aber auch Vertrauensroutinen – etwa die Überzeugung, dass die Götter auf der eigenen Seite stehen müssten – zu einer systemgefährdenden Krise, da so die Griechen die troianischen Mauern überwinden können. Dies wiederum führt schließlich zum vollständigen Systemkollaps, da das troianische Gemeinwesen vollständig vernichtet wird. Nur ein gesundes Misstrauen der Troianer – nicht nur gegenüber anderen Akteuren, sondern auch gegenüber sich selbst – hätte ihr Gemeinwesen retten können. Auch im Sammelband wird daher das Misstrauen als systemstabilisierendes Moment selbstverständlich diskutiert. So hat etwa Frank Görne in seinem Beitrag die Kommunikationsprozesse in der Folge einer Vetoankündigung durch einen Volkstribunen als eine Variante institutionalisierten Misstrauens gedeutet. Karen Piepenbrink hat in ihrem Beitrag hingegen darauf hingewiesen, dass zwar das Misstrauen gegen individuelle Akteure sowohl im klassischen Athen als auch im republikanischen Rom durchaus im öffentlichen Diskurs artikuliert werden konnte. Ein generelles Misstrauen in politische und gesellschaftliche Institutionen sei aber nicht erkennbar und eher ein Phänomen der modernen liberalen Gesellschaften. Dem ist sicherlich weitestgehend zuzustimmen. So richten sich die für antike oligarchische wie demokratische Gemeinwesen typischen Machtbeschränkungen für die Magistrate, wie Annuität, Kollegialität und das Iterationsverbot, primär nicht gegen die

6 Zur Institutionalisierung von Vertrauensphänomenen und Vertrauensderivaten vgl. Endreß 2002, S. 77–80, Anm. 91 f. 7 Verg. Aen. 2,199–233. 8 Verg. Aen. 2,54: si fata deum, si mens non laeva fuisset. 9 Vgl. Verg. Aen. 2,26: ergo omnis longo solvit se Teucria luctu.

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Magistraturen als Institution selbst.10 Vielmehr zeugen diese eher von dem Misstrauen der Bürgerschaft bzw. der Eliten gegenüber den Inhabern bzw. wohl auch gegenüber den potenziellen Inhabern der Magistraturen. Dennoch verbirgt sich dahinter ebenso die Furcht vor Machtakkumulation und einem potenziellen Missbrauch der Kompetenzen, welche eine Magistratur nun einmal besitzen muss, um ihren Aufgaben gerecht zu werden. Neben der systemstabilisierenden Wirkung zeigten sich Misstrauen und der Prozess der Vertrauenserosion jedoch auch als wesentliche Triebkräfte in soziopolitischen Wandlungs- und Transformationsvorgängen. Dies konnte sich nicht nur im großen Rahmen auf ganze Systeme auswirken, wie zum Beispiel Katarina Nebelin für die späte Republik und Sven-Philipp Brandt für das demokratische Athen gezeigt haben, sondern auch erhebliche Folgen für einzelne in und für diese Systeme handelnde Personen mit sich bringen, wie zum Beispiel Christopher Degelmann anhand der Gerüchte im klassischen Athen verdeutlichte. Der durch Vertrauenskrisen ausgelöste Wandel wurde dabei in der Regel zunächst als Kontingenzsteigerung aufgefasst und daher zumeist negativ konnotiert, wobei möglichst zeitnah Gegenmaßnahmen ergriffen wurden, wie Isabelle Künzer anhand des Umgangs mit den Leichnamen bestimmter Suizidenten und Stefan Fraß anhand des Herrschaftsdiskurses in 1 Sam 8 zeigen konnten. Karl-Matthias Schmidt zeigte in diesem Zusammenhang in seinem Beitrag auf, dass Vertrauen nicht zur Gänze erodiert sein durfte, um ein Scheitern von stabilisierenden Maßnahmen zu verhindern. Dabei konnten spätere Vertrauensbrüche auch eine retrospektive Umdeutung von vormals vertrauens- oder legitimationsbildenden Maßnahmen bewirken, was Babett Edelmann-Singer für die Narrative zum graduellen Vertrauensverlust des Kaisers Nero feststellte. Solche diskursiven Versatzstücke geben zugleich Auskunft über die hohe Bedeutung der fides und damit von Vertrauensstrukturen in der Zeit des frühen Prinzipats. Die berühmte Münze des Nero mit einem Apollo Kitharödus auf dem Revers spiegelt diesen Befund auch in materiellen Zeugnissen wider.11 Obwohl das Bild in ähnlicher Weise bereits auf Münzen des Augustus zu finden12 und in neronischer Zeit sicherlich zur Vermittlung eines positiven Bildes des Herrschers gedacht war13, wird es von Sueton14 (und mit ihm vielleicht auch Zeitgenossen des Nero) gänzlich negativ als übersteigerter Ausdruck des Kaisers als Künstler gedeutet. Durch seinen Bruch der Erwartungen bezüglich des kaiserlichen Verhaltens und der Selbstdarstellung hatte Nero Teile des in ihn gesetzten Vertrauens verspielt, was in dieser Situation eine negative Deutung ambivalenter Bilder nach sich zog und wohl auch erst ermöglichte.15 10 Im griechischen Verständnis scheint das Kollegialitätsprinzip aber eher mit der demokratischen Ordnung verbunden zu sein (vgl. Hansen 1999, S. 237). 11 RIC I2 Nero Nr. 73–82. 12 Siehe zum Beispiel RIC I2 Augustus Nr. 180 und Nr. 190. 13 Wenngleich sicherlich auch eine ambivalente Ausdeutung bzw. eine Identifizierung des Bildes als Nero intendiert war. 14 Suet. 25,2. 15 Zur Deutung des Bildes siehe auch Perassi 2002, S. 50 f.

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Dieser Aspekt führt uns unmittelbar zur bereits mehrfach angeklungenen Betrachtung der Perzeption bzw. Kommunikation von und Reaktion auf Vertrauenskrisen in antiken Gesellschaften. Das Spektrum konnte in diesem Bereich von der direkten Explikation über das genannte Ergreifen von Gegenmaßnahmen bis hin zur Spiegelung in der Literatur als einer Art Zeitdiagnose reichen, was die Beiträge von Markus Kersten und Tim Helmke verdeutlichten. Beide untersuchten Vertrauensnarrative im Angesicht von Konfliktsituationen. Dabei wurden mittels der spezifischen Diskurse jedoch unterschiedliche Ziele verfolgt: die Untermauerung der tiberischen Herrschaftskonzeption, wie Helmke zeigte, und die komplette Dekonstruktion, wie Kersten veranschaulichte. Sven Günther geht in diesem Rahmen noch einen Schritt weiter, indem er demonstrierte, dass im Verständnis Xenophons Vertrauen (pistis) eine zentrale Voraussetzung für jede gute politische Ordnung dargestellt habe, Misstrauen zwischen den gesellschaftlichen Akteuren hingegen als ein klares Anzeichen für eine defizitäre Ordnung gesehen worden sei. Neben der negativen Ausdeutung von Diskursen über erodiertes oder bewusst gebrochenes Vertrauen sowie über die Bedeutung von Misstrauen finden sich in diesem Zusammenhang nur wenige positive oder neutrale Stimmen, die zumeist ihrerseits eingeschränkt und damit letztendlich doch negativ gemeint sind. Ein prägnantes Beispiel dafür findet sich mit dem von Plutarch dem Octavian/Augustus zugeschriebenen Ausspruch, „er liebe den Verrat, den Verräter aber hasse er“16. Der spätere Princeps soll sich auf diese Weise über den thrakischen König Rhoimetalkes geäußert haben. Diese Sentenz zeigt zum einen das Bewusstsein dafür, dass der Verrat des Thrakers an Marcus Antonius unter Umständen den Sieg des Octavian und damit die dauerhafte Profilierung von dessen Position erst ermöglicht hatte. Zum anderen wird im Narrativ des Plutarch aber ganz konkret mit pädagogischer Absicht geradezu pejorativ gegen den Verräter und seine Tat Stellung bezogen.17 Aus diesen Überlegungen ergibt sich die weiterführende Frage, ob die Menschen in der Antike möglicherweise ihren Institutionen vertrauten, selbst wenn sie nicht allen Akteuren vertrauten, welche diese Institutionen kontrollierten. Die soziologische Forschung oszilliert bezüglich dieser Thematik im Hinblick auf moderne Institutionen, wie in der Einleitung angesprochen, zwischen unterschiedlichen Positionen: erstens einer völligen Negierung der Möglichkeit eines Institutions- bzw. Systemvertrauens,18 zweitens der Definierung der handelnden Akteure als „Zugangspunkte“19, durch die ein System erfasst und Vertrauen in dieses ermöglicht wird, sowie drittens der Betrachtung als diffuses und bisweilen generalisiertes Vertrauen oder Form von Zuversicht in das Funktionieren eines Systems, das sich auf die jeweiligen Akteure beziehen kann, aber nicht muss.20 Hier 16 17 18 19 20

Plut. Rom. 17,3 (eigene Übers.): φιλεῖν μὲν προδοσίαν, προδότην δὲ μισεῖν. Zur Stelle siehe zum Beispiel Welch 2015, S. 261 f. Frevert 2003, S. 216–220; hingegen Offe 2001, S. 245, für das Vertrauen in Institutionen. Giddens 1995, S. 107–113. Siehe dazu zum Beispiel Luhmann 2014, S. 64–79.

Vertrauen und Vertrauensverlust in antiken Gesellschaften

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bieten die Sondagen des vorliegenden Bandes eine Möglichkeit, die verschiedenen Theorien zu prüfen, empirisch zu untermauern und gegebenenfalls zu erweitern. Eine Möglichkeit das Vertrauen in das System vom Vertrauen in die dieses System kontrollierenden Personen zu entkoppeln, zeigte etwa der Beitrag von Fabian Knopf. In diesem wurde aufgezeigt, dass die Iugurtha-Affäre zwar zu einem Vertrauensverlust der plebs gegenüber Teilen der Senatsaristokratie geführt habe, ohne jedoch die Institution des Senates zu betreffen. Noch genauer verdeutlichen sich die Grenzen und Auswirkungen dieser Überlegung im Beitrag von Katarina Nebelin sowie den dort wiedergegebenen Faktoren, die zur Erosion des Vertrauens in die Republik führten. Demnach wurde das Vertrauen der Soldaten in das System und in dessen Funktionieren durch enttäuschte Erwartungen fundamental erschüttert, was oft mit einer wahrgenommenen Überschreitung oder Verschiebung systeminhärenter Grenzen einherging. Diese Grenzen erscheinen jedoch ebenso wie die Definition des Systems keineswegs festgeschrieben, sondern von der spezifischen Perzeption der Vertrauenden abhängig, die ihrerseits wiederum die Art der Erwartungen definierte. Die Wahrnehmung konnte dabei von bestimmten Akteuren, wie Sulla oder Caesar, gelenkt werden, da sie für die Soldaten gewissermaßen den Zugangspunkt zum System der Republik darstellten und durch das ihnen entgegengebrachte Vertrauen die Auffassung vom System genuin zu lenken vermochten. Dass diese Zugangspunkte nicht unbedingt lebendige Personen sein mussten, zeigte der Beitrag von Philipp Brockkötter, in dem der verstorbene Augustus als Idealbild des Kaisers einen solchen Zugangspunkt zu einem antiken Gesellschaftssystem darstellt. In diesem Fall lenkte nicht der Zugangspunkt die Perzeption, sondern es waren die Vorstellungen und Wünsche der Vertrauenden, die in die Figur des Augustus als eine Art „weiße Leinwand“ hineinprojiziert wurden und die die Konstitution des Systems definierten. Dieser Prozess dürfte einen wesentlichen, wenngleich auch sicherlich nicht den einzigen21 Faktor für die Stabilität der Herrschaftsform dargestellt haben, in der einzelne Principes als schlecht rezipiert werden konnten, ohne einen Bruch des Vertrauens in das Gesamtsystem Prinzipat zu verursachen. Insgesamt zeigt sich somit, dass Systemvertrauen in der Antike zwar stark mit den institutionell handelnden Akteuren verbunden wurde, jedoch auch in gewisser Weise von diesen entkoppelt werden bzw. gleichsam auf nichtpersonale Zugangspunkte konzentriert werden konnte, z. B. indem einzelne Akteure regelrecht zu Idealbildern stilisiert und auf eine Metaebene gehoben wurden. Unter Umständen war es aber auch der Vertrauensverlust in einzelne Repräsentanten des Systems, der die Menschen im Zuge von Bewältigungsstrategien auf einer übergeordneten Ebene Halt suchen ließ und zu einer Identifikation mit Strukturen statt Personen Anlass gab. Gerade dadurch wird allerdings wiederum die besondere Bedeutung persönlicher Vertrauensstrukturen für antike Gesellschaftssysteme besonders nachdrücklich dokumentiert.

21 Eine Rolle spielten hier z. B. auch das stabilisierende Handeln anderer Personen, Gewöhnungseffekte und etablierte Vertrauensstrukturen.

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Philipp Brockkötter/Stefan Fraß

In diesem Zusammenhang wurde in den Beiträgen eine graduelle Abstufung sowohl der Genese von als auch der Reaktion auf Vertrauenskrisen deutlich. Daher wurden Vertrauen und die aus dessen Mangel resultierenden Erosionsvorgänge in der Einleitung als Skalierungsphänomene gedeutet. Bezüglich der Ursachen von Prozessen der Vertrauenserosion konnte Jan Timmer grundsätzlich die Rolle von enttäuschten Erwartungen hervorheben, aus denen unter anderem durch Kontingenzsteigerung und Fehlinformationen Misstrauen entstehen konnte. Dies konnte wiederum zur Einstellung der Kooperationsbereitschaft führen und schließlich einen Zusammenbruch des Systems begünstigen. Auch auf der personalen Ebene konnten sich erschüttertes Vertrauen oder aber seine Äquivalente in Form von möglicherweise manifesten Krisen der betreffenden Vertrauensrelationen niederschlagen.22 Dass dieser Vorgang ebenso wie seine Umkehr mit dem Ziel, Vertrauensstrukturen wieder zu etablieren, graduell vonstatten ging, zeigte Ulrich Lambrecht anhand der Beziehung zwischen Iulian und Constantius II. In dieser changierte das Vertrauen zwischen der Notwendigkeit zu vertrauen, dem Erfordernis Vertrauen gezielt mithilfe alternativer Ressourcen, wie Selbstvertrauen, abzusichern und regelmäßig auftretenden Prozessen der Vertrauenserosion. Die graduelle Abstufung der Folgen eines Vertrauensverlustes sowie deren Kommunikation im herrschaftslegitimato­ rischen Diskurs wurden im Beitrag von Philipp Brockkötter nachgezeichnet. Hierbei zeigte sich ein überaus vielfältiges Spektrum, das vom direkten Explizieren eines Vertrauensverlusts oder aber Vertrauensbruchs über die Kanalisierung anhand von Gerüchten und das Einstellen der Kooperationsbereitschaft bzw. der Verweigerung der Affirmation bis hin zu offener Feindschaft reichte. Der für die Welt der Antike zeitlich übergreifende Ansatz des Sammelbandes macht deutlich, dass bestimmte Elemente im Zusammenhang mit Vertrauen und Vertrauensverlust, aber auch Grundbegriffe der Genese, Kommunikation und Reaktion auf Vertrauenskrisen einen gewissermaßen universellen Status besitzen. Es werden jedoch auch Unterschiede deutlich, die einmal mehr auf die Verankerung des Verständnisses von Vertrauen und Misstrauen im Normen- und Wertegerüst einer spezifischen Gesellschaft sowie auf die Wechselwirkungen zwischen Gesellschaftskonstitution und Vertrauenskrisen verweisen.23 Neben einem gewissen epistemologischen Faktor beruhen diese Differenzierungen dabei, wie Karen Piepenbrink in ihrem Beitrag bemerkte, sowohl auf Divergenzen in der Konturierung des politischen Raumes sowie der öffentlichen Kommunikation als

22 Zu Ressourcen die mangelndes Vertrauen regelrecht kompensieren konnten, vgl. Luhmann 2014, S. 92–102; Endreß 2010a, S. 31, 38; Gambetta 2001, S. 214–217; Sztompka 1995, S. 261 f., 268. 23 An dieser Stelle ist zudem auf die Tagung „Vertrauen als ökonomische Ressource in der antiken Marktwirtschaft“ an der Universität Trier zu verweisen. Diese Konferenz fand im März 2019, fast zeitgleich mit der Tagung statt, aus welcher der hier vorliegende Sammelband hervorgegangen ist. Die Beiträge zu der Trierer Konferenz haben sich vornehmlich mit der Funktion von Vertrauen in sozioökonomischen Prozessen beschäftigt; vgl. dazu den Tagungsbericht von Ghetta 2019.

Vertrauen und Vertrauensverlust in antiken Gesellschaften

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auch auf kulturellen Unterschieden insbesondere auf der Ebene von Norm- und Wertekonstruktionen. Insgesamt hoffen wir mittels der in diesem Sammelband vereinigten Fallstudien das Potential, die Bandbreite aber auch mögliche Schwierigkeiten der Untersuchung des Phänomenkomplexes rund um Vertrauen und Vertrauensverlust für die altertumswissenschaftliche Forschung deutlich gemacht zu haben. So konnte aufgezeigt werden, dass verschiedene Konzeptionen von Vertrauen, Misstrauen und Vertrauensverlust eine wesentliche Rolle in der antiken Wahrnehmung spielten. Dies schlägt sich in den Quellen wiederum sowohl auf deskriptiver als auch auf diskursivnarrativer Ebene nieder. Im Bereich der Theorie wurde eine gute und vielfältige Anschlussfähigkeit an die soziologischen Ansätze zum Thema deutlich, welche empirisch untermauert, zum Teil widerlegt oder aber wesentlich erweitert werden konnten. Die besondere Rolle der Gesellschaftskonstitution für die Ausformung des gesamten Phänomenkomplexes dokumentiert dessen Wert als soziopolitische Analysekategorie, mit deren Hilfe die Genese, der Verlauf und die Begründung nicht nur von Krisensituationen, sondern auch von Gesellschafts-, Wirtschafts- und Herrschaftssystemen in einem weiteren und allgemeinen Sinne erfasst, beschrieben und interpretiert werden kann. Darauf aufbauende Untersuchungen bieten somit nicht nur die Möglichkeit, neue Themenfelder zu erschließen, sondern auch Altbekanntes in neuem Licht zu betrachten und einen anders akzentuierten heuristisch vielversprechenden Zugang zu diesen zu gewinnen. Dies lässt die Analyse von Vertrauensfragen in antiken Gesellschaften auch fortan besonders interessant werden.

Literaturverzeichnis Endreß 2010a: Endreß, M.: Vertrauenskrisen und Vertrauensverluste, in: Widerspruch. Münchner Zeitschrift für Philosophie 51 (2010), S. 27–40. Endreß 2002: Endreß, M.: Vertrauen, Bielefeld 2002. Gambetta 2001: Gambetta, D.: Können wir dem Vertrauen vertrauen?, in: M. Hartmann/C. Offe (Hgg.): Vertrauen. Die Grundlage sozialen Zusammenhalts, Frankfurt a. M./New York 2001 (Theorie und Gesellschaft 50), S. 204–237. Ghetta 2019: Ghetta, M.: Tagungsbericht zur Konferenz „Vertrauen als ökonomische Ressource in der antiken Marktwirtschaft“, 27.03.2019–29.03.2019, Trier, in: H-Soz-Kult, 05.06.2019, online unter: https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-8300, letzter Zugriff: 04.06.2021. Giddens 1995: Giddens A.: Konsequenzen der Moderne, Frankfurt am Main 1995 (SuhrkampTaschenbuch Wissenschaft 1295). Hansen 1999: Hansen, M. H.: The Athenian Democracy in the Age of Demosthenes, Bristol 1999. Jones 1965: Jones, J. W.: Trojan Legend: Who Is Sinon? In: The Classical Journal 61/3 (1965), S. 122–128. Luhmann 2014: Luhmann, N.: Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, 5. Aufl. Konstanz/München 2014. Möllering 2006: Möllering, G.: Trust. Reason, Routine, Reflexivity, Amsterdam u. a. 2006. Offe 2001: Offe, C.: Wie können wir unseren Mitbürgern vertrauen?, in: M. Hartmann/C. Offe (Hgg.): Vertrauen. Die Grundlage sozialen Zusammenhalts, Frankfurt a. M./New York 2001 (Theorie und Gesellschaft 50), S. 241–294.

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Philipp Brockkötter/Stefan Fraß

Perassi 2002: Perassi, C: Aspetti di rovesciamento della tematica monetale augustea nella monetazione di Nerone (zecche occidentali), in: L. Castagna (Hg.), Pervertere, Ästhetik der Verkehrung. Literatur und Kultur neronischer Zeit und ihre Rezeption, München, S. 29–57. Sztompka 1995: Sztompka, P.: Vertrauen: Die fehlende Ressource in der postkommunistischen Gesellschaft, in: B. Nedelmann (Hg.): Politische Institutionen im Wandel, Opladen 1995 (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Sonderhefte 35), S. 254–276. Welch 2015: Welch, T.: Tarpeia. Workings of a Roman Myth, Columbus 2015.

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Sven-Philipp Brandt studierte die Fächer Latein und Geschichte (M.Ed.) und Master Klassische Antike (M.A.) an der Universität Leipzig. Er ist mittlerweile wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Sondersammlung der Universitätsbibliothek Erfurt. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die antike Umwelt- und Wirtschaftsgeschichte, die Rezeption medizinischer Schriften der Antike im Mittelalter und Digital Classics. Philipp Brockkötter studierte den Bachelor „Antike Kulturen“ sowie den European Master in Classical Cultures in Münster und Perugia und schloss im Oktober 2020 seine Dissertation unter dem Titel „Die Imitatio Augusti in der frühen Kaiserzeit“ an der JLU Gießen ab. Seine Forschungsinteressen betreffen die Gesellschaft, Kultur und Politik im Prinzipat, politische Kommunikation und Legitimation sowie die Konstruktion und Instrumentalisierung von Vergangenheitsbezügen. Christopher Degelmann studierte die Fächer Geschichte, Religion und Literatur, zuletzt in Göttingen. Gegenwärtig ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Alte Geschichte I an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen neben dem klassischen Athen die politische Kultur der römischen Republik und frühen Kaiserzeit, die antike Geschlechter-, Körper- und Emotionsgeschichte, die Religionsgeschichte sowie die Fach- und Rezeptionsgeschichte. Babett Edelmann-Singer studierte Geschichte und Germanistik in Regensburg und Leicester/UK. Sie ist Inhaberin einer Heisenberg-Stelle an der LMU München und aktuell Gastprofessorin des SFB 933 „Materiale Textkulturen“ an der Universität Heidelberg, daneben außerplanmäßige Professorin an der Universität Regensburg. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen unter anderem in den Bereichen Politische Geschichte und Kulturgeschichte der Frühen Kaiserzeit, Griechische und Römische Religionsgeschichte, Geschichte der Provinzen des römischen Reiches (Schwerpunkt Provinziallandtage) sowie Materielle Kultur und Herrschaft in der Antike. Stefan Fraß studierte die Fächer Alte Geschichte, Mittelalterliche Geschichte und Philosophie an der TU Dresden. Gegenwärtig ist er Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Justus-Liebig-Universität Gießen und Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Ruhr-Universität Bochum. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören das Archaische und das Klassische Griechenland.

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Frank Görne studierte die Fächer Geschichte, Philosophie und Gräzistik an der Universität Rostock. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Alte Geschichte an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Deliberation und kollektives Entscheiden in der römischen Republik und athenischen Demokratie, Eliten und Herrschaftsstrukturen sowie politisches Denken in antiken Gemeinwesen. Sven Günther studierte die Fächer Alte Geschichte, Mittlere und Neue Geschichte sowie Rechtswissenschaften/Öffentliches Recht an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Seit 2015 ist er Lehrstuhlinhaber für Classics am und Vizedirektor des Institute for the History of Ancient Civilizations (IHAC), Northeast Normal University, Changchun, Volksrepublik China. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören unter anderem die griechische-römische Wirtschafts-, Rechts- und Sozialgeschichte, insbesondere die Kommunikations- und Vermittlungsstrategien in den relevanten Quellen. Tim Helmke studierte Latein an der Universität Osnabrück. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt „Die Krise ist weiblich. Soziale Struktur und diskursive Macht als Gender-Problem im klassischen Altertum“. Derzeit ist er im Schuldienst tätig. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören die Literatur der frühen Kaiserzeit, insbesondere die Autoren Livius und Valerius Maximus, philologisch-textzentrierte Betrachtungen kulturwissenschaftlicher Fragen wie Performativität und Gender sowie die Didaktik der lateinischen Literatur und Sprache. Markus Kersten studierte Klassische Philologie und Mathematik in Rostock und Groningen. Er ist wissenschaftlicher Assistent im Fachbereich Latinistik an der Universität Basel. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die antike Epik und Bukolik, spätrömische Dichtung sowie moderne Bibliophilie. Fabian Knopf studierte die Fächer Alte Geschichte und Philosophie an der Technischen Universität Dresden. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Alte Geschichte an der Technischen Universität Braunschweig. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören unter anderem die Stellung der römischen Plebs im politischen System der späten Republik sowie deren Kultur und die Südlevante in hellenistischer Zeit. Isabelle Künzer studierte die Fächer Geschichte und Kunstwissenschaft an der Universität Koblenz. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Alte Geschichte der Justus-Liebig-Universität Gießen. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören neben der Selbsttötung als soziokulturellem Phänomen in der griechischen Antike und dem gesamten Bereich von Tod und Jenseits im antiken Griechenland auch Fragen aus dem Themenfeld der Gesellschaft, Politik und Kultur der römischen Kaiserzeit sowie der antiken Emotions- und Körpergeschichte.

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

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Ulrich Lambrecht studierte Geschichte, Germanistik und Lateinische Philologie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Er war Dozent für Alte Geschichte am Institut für Geschichte der Universität Koblenz-Landau. Zu seinen Forschungsinteressen gehören die römische Historiographie, die Panegyrik und das Kaisertum im dritten und vierten Jahrhundert. Katarina Nebelin hat Alte Geschichte, Politikwissenschaft und Philosophie in Greifswald und Dresden studiert und war an den Universitäten Münster und Rostock als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fach Alte Geschichte tätig. Seit Oktober 2020 ist sie Senior Lecturer für Alte Geschichte am Institut für Geschichte der Universität Klagenfurt. Sie beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit antiker Philosophiegeschichte sowie politischer Theorie und Praxis vor allem der athenischen Demokratie und der römischen Republik. Ihr Habilitationsprojekt befasst sich mit den spätrepublikanischen Märschen auf Rom als Krisen- und Transformationsphänomen. Karen Piepenbrink studierte die Fächer Geschichte und Klassische Philologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Sie ist Professorin für Alte Geschichte an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen die Attische Demokratie, insbe-sondere die attische Rhetorik, und die Spätantike. Karl Matthias Schmidt studierte die Fächer Katholische Theologie und Germanistik in Frankfurt am Main und Tübingen. Er ist Professor für Bibelwissenschaft mit dem Schwerpunkt Neutestamentliche Exegese an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die neutestamentliche Erzählliteratur und die frühchristliche Pseudepigraphie. Jan Timmer studierte die Fächer Geschichtswissenschaft, Alte Geschichte und ev. Theologie an der Universität Bielefeld. Er ist Akademischer Rat a. Z. an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören In-/Exklusion in antiken politischen Systemen, politische Verfahren und Sklaverei in der Antike.